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Sachor Erinnere Dich Vergiss Nicht

Sachor Erinnere Dich Vergiss Nicht

זכור sachor erinnere dich vergiss nicht

NS-Terror in Rehlingen-Siersburg Impressum

Siersburg, im Frühjahr 2016

Herausgeber: Gemeinde Rehlingen-Siersburg Konzeption und Text: Dr. Werner Klemm, Hanno Krisam Gestaltung und Satz: Christian Malessa Gesetzt aus der Lato von Łukasz Dziedzic; gedruckt auf Soporset Premium Offset, The Navigator Company, Portugal Druck und Bindung: dietaschenschmie.de, Gailingen Umschlag: Zeichnung aus dem Internierungslager Gurs, Sammlung Elsbeth Kasser, Zürich Lagerfriedhof von Gurs Inhalt

Zum Geleit 4 Martin Silvanus, Bürgermeister von Rehlingen-Siersburg „Ein Mensch ist vergessen, wenn sein Name vergessen ist.“ 5 Hanno Krisam, Aktionsbündnis für Toleranz und Menschlichkeit Jüdische Mitbürger aus Niedaltdorf 7

Eli Fromm – erzwungene Flucht aus Deutschland und wissenschaftliche Ehren im Exil 11

Opfer des Nationalsozialismus aus Hemmersdorf – Jüdische Familien 12

Hemmersdorf – Zwangsarbeit 14

Das Schicksal der letzten Juden aus Siersburg 18

Siersburg – Euthanasie und Zwangssterilisation 22

Rehlingen – Opfer nationalsozialistischer Verfolgung aus religiösen oder politischen Gründen 25

Lothar Kahn – Emigration und Versöhnung 26

Handeln für die Zukunft – Lothar-Kahn-Schule 28

„Niemand darf bei so etwas wegschauen!“ 32

Die 17 Stolpersteine 33

Literatur 34

Dank 35 Zum Geleit

Martin Silvanus, Bürgermeister von Rehlingen-Siersburg

Diese Publikation dokumentiert in be- den Personen tief deren positive Emo- So verstehen sich Aufgabe, Botschaft eindruckender Weise, was in einem tionalität beeindruckt, die die echte und Wirken des Bündnisses für Toleranz ehrlichen, der Wahrhaftigkeit ver- innere Bewegtheit und Betroffenheit und Menschlichkeit. Ich danke diesem pflichteten und von starker innerer ob der menschlichen Schicksale zeigt und seinen Protagonisten für die ge- Überzeugung getragenen Prozess sehr und auch gar nicht verbergen will. leistete Arbeit. engagiert von zahlreichen Personen und Personengruppen aus und in un- So verkümmern geschichtliche Er- serer Gemeinde Rehlingen-Siersburg kenntnis und Wahrheit nicht zu ver- ins Werk gesetzt wurde, um aus dem gänglichen Relikten der Vergangen- ehrenvollen Gedenken an die Opfer heit, sondern sie entwickeln sich fort grausamer Vergangenheit die Aufgabe zu einem kostenbaren Gut für eine für unsere Gegenwart und für die Zu- wertvolle Zukunft unserer Erde und al- kunft nachfolgender Generationen an- ler Menschen in Frieden, Gerechtigkeit zunehmen und sich ihr zu verpflichten, und Menschlichkeit. Dieses Gut will nämlich für Toleranz, Menschlichkeit mit Sorgfalt bewahrt und stets ins Licht und allseitige Achtung der Menschen- gerückt sein. Es verträgt nicht histori- rechte mutig einzutreten. sche Verdunkelung, nicht Vertuschung, nicht Verleugnung, nicht Halbwahrheit. Dabei ist besonders zu schätzen, dass junge Menschen, allen voran die Schü- Es verträgt aber ebenso wenig die ler der Lothar-Kahn-Schule, ein beken- Beschwichtigung, das Abducken, die nendes Zeugnis der geschichtlichen Sorglosigkeit, das Wegschauen ge- Wahrheit leisten und dies nicht im Sin- genüber aktuellen Erscheinungen und ne nüchtern-distanzierter Erfüllung ei- Vorkommnissen, die gegen die Rech- Martin Silvanus (Mitte) bei der Gedenkfeier ner schulischen Pflicht. Es hat mich bei te und Würde der Menschen – gleich zum 70. Jahrestag der Deportation der diesen Jugendlichen wie auch durch- welcher Herkunft, Religion und Welt- saarländischen Juden in Gurs aus bei anderen ehrenvoll mitwirken- anschauung – gerichtet sind.

4 Hanno Krisam, „Ein Mensch ist vergessen, Aktionsbündnis für Toleranz wenn sein Name vergessen ist.“ (Talmud) und Menschlichkeit

Der verstorbene Rektor Alfons und die Beteiligung der Gemeinde Heitz hat in den 1980er Jahren an der Aktion „Stolpersteine“ des immer wieder darauf aufmerksam Kölner Künstlers Gunter Demnig in gemacht, dass man in unserer Ge- die Wege geleitet. meinde – zu Recht – zwar der Op- fer der beiden Weltkriege gedenke, „Ein Mensch ist vergessen, wenn aber nicht eine einzige öffentliche sein Name vergessen ist.“ Dieser Gedenkstätte erinnere an die Op- Satz aus dem Talmud liegt der Pro- fer des Nationalsozialismus. 1999 jektidee „Stolpersteine“ zugrunde. sprach dann der Saarbrücker Archi- Wir haben uns daran gewöhnt, über tekt Prof. Wolfgang Lorch vor zahl- die Opfer des nationalsozialisti- reichen Bürgern über die Möglich- schen Unrechtsregimes zu sprechen keiten, „durch Bauwerke Geschichte und an sie zu erinnern, ohne daran sichtbar zu machen“, und am 22. zu denken, dass sie in der Mitte der Oktober 2000 widmete der Ortsrat Gesellschaft lebten, dass sie Teil un- Siersburg zusammen mit der Ge- serer Dorfgemeinschaften waren. meinde Rehlingen-Siersburg eine Sie sind geächtet worden, nicht nur bedeutende Veranstaltung dem Ge- von den staatlichen Instanzen, son- denken an die Deportation der - dern auch von Nachbarn, von Freun- ländischen Juden ins Lager Gurs. den, die sich abwandten und weg- schauten, als sie abgeholt wurden. In den Jahren seit 2009 hat schließ- lich eine kleine Gruppe von Bürgern Ihnen, den Opfern der Verfolgung und Bürgerinnen aus Rehlingen- und Ächtung, wieder eine Herkunft Siersburg die Anregung des Orts- und ein Gesicht zu geben und sie Der Kölner Künstler Gunter Demnig verlegt vorstehers und heutigen Justizmi- wieder zu einem Teil unserer Ge- einen Stolperstein in Rehlingen-Siersburg. nisters Reinhold Jost aufgegriffen schichte werden zu lassen, ist das

5 Ziel des Projektes „Stolpersteine“. auf Spurensuche in den Ortsteilen denen das Recht zu leben abgespro- Aufbauend auf der Recherche von Siersburg, Rehlingen, Hemmersdorf chen wurde, weil sie an bestimmten Dr. Werner Klemm zur Geschichte der und Niedaltdorf gemacht. Dabei ha- Krankheiten litten; Opfer waren auch Siersburger Juden in der Zeit des Na- ben wir vielfältige Unterstützung Mitbürger, die sich politisch nicht in tionalsozialismus, hat sich eine Grup- durch ehemalige Nachbarn und ande- das verordnete Denken pressen lassen pe von Bürgern unserer Gemeinde re erfahren, die sich noch erinnerten. wollten.

Auf dem Friedhof An all diese Opfer zu erinnern und zu in Hemmersdorf ist verhindern, dass noch einmal Men- ein Grabstein zu se- schen aus unserer Gemeinschaft hen: „Hier ruhen fünf ausgegrenzt und sogar ermordet russische Soldaten“. werden, ist Ziel des Erinnerns. Wie Es waren nicht nur notwendig dies ist, zeigen zahlreiche Kriegsgefangene, die aktuelle Geschehnisse in Deutsch- hier begraben wur- land wie die Morde des „NSU“ (Na- den. Es waren auch tionalsozialistischer Untergrund), Zwangsarbeiter des die Angriffe auf Menschen, die vor Kalkwerks Hem- Terror und Verfolgung flüchten, die mersdorf der Dillin- Brandanschläge auf bewohnte und ger Hütte. Opfer der noch nicht bewohnte Unterkünfte für nationalsozialisti- Flüchtlinge. schen Rassenideolo- gie waren nicht allein Wir haben nicht allen Opfern ein Ge- jüdische Mitbürger, sicht geben können, aber wir wollen sondern auch soge- unsere Erinnerung und unsere Auf- Friedhelm Neuendorf und Hanno Krisam im Gespräch mit Künstler Gunter Demnig nannte „Euthanasie- merksamkeit wach halten, um rechte Opfer“ – Mitbürger, Umtriebe jeder Art abzuwehren.

6 Jüdische Mitbürger aus Niedaltdorf

Um das Jahr 1830 wurden erste jüdi- wirte. Sie handelten mit Vieh oder dem deutsch-französischen Krieg sche Familien in Niedaltdorf ansässig. betrieben kleine Kaufhäuser, in de- 1870/71 bis 1918 keine Grenzen zu Fast alle gehörten sie zur Großfamilie nen es alles zu kaufen gab, was man Frankreich gab, war ihr Tätigkeitsra- Michel. Sie waren Metzger und Gast- auf dem Lande benötigte. Da es nach dius wie der aller Bewohner des heu- tigen Grenzraums auch nach Westen hin weit ausgedehnt. Im Ersten Welt- krieg kämpften sie für Deutschland – zum Teil, wie Leo Michel, hochdeko- riert.

Allen jüdischen Familien war es wich- tig, dass ihre Kinder eine bestmögli- che Ausbildung erhielten. Das führte Familie Michel vor dem Guerstlinger Bahnhof, links Sally Michel mit Tochter Ruth dazu, dass viele von ihnen das Dillinger Gymnasium besuchten.

7 Das Leben der Juden änderte sich dramatisch, nachdem die Bevölke- Sally Michel (rechts) auf dem Weg rung des Saargebietes am 13. Januar in die Bergungsgebiete 1935 (Saarabstimmung) für den An- schluss an das Deutsche Reich votiert hatte. (Einige hatten schon vorher die Zeichen der Zeit erkannt und waren ausgewandert.) Die Zurückgebliebe- nen litten unter Ausgrenzung, Hetze und dem Boykott jüdischer Händler durch ihre ehemaligen Kunden. Nur noch heimlich schlich der eine oder andere bei Dunkelheit zu den jüdi- schen Geschäften, um etwas zu kau- fen.

Mit der Pogromnacht am 9. Novem- ber 1938, im Nazi-Jargon „Reichs- kristallnacht“, begann dann die sys- tematische Verfolgung der jüdischen der Hausrat und die Möbel auf die In den nächsten Tagen begannen ei- Bevölkerung und die Zerstörung Straße geworfen. Vor dem Geschäft nige Familien ihre Flucht vorzuberei- ihres Eigentums. Der neue Wagen Isaac sah es besonders schlimm aus. ten. Die Mitglieder der Familie von von Sigmund „Sally“ Michel, ein Opel Schuhe und Stoffballen waren über Leo Michel flohen nacheinander über Laubfrosch, wurde total demoliert die Straße verteilt und dann mit Öl den Sermlinger Hof und Leidingen und dann in die Nied gestoßen. An übergossen worden, ein Klavier aus nach Südfrankreich. Familie Salomon allen Häusern von Juden wurden die der Wirtschaft lag zertrümmert vor Michel emigrierte zuletzt nach Ame- Türen und Fenster eingeschlagen, dem Eingang. rika. Sigmund „Sally“ Michel schickte

8 seine Frau Rosa und seine Tochter Ruth Michel wurde am 14. November schen besetzten Gebiet und dem freien Ruth nach Arlon in Belgien. Er selbst 1926 als Tochter der Eheleute Rosa Teil Frankreichs durch einen Schleuser blieb noch und wurde im September und Sigmund Michel geboren. Im Jahr verraten und verhaftet. Zunächst wur- 1939 im Zuge der Evakuierung der 1935 flüchtete sie zusammen mit ihrer de er in Beaune-la-Rolande inhaftiert „Roten Zone“ nach Thüringen ge- Mutter zu Verwandten nach Belgien. und später nach Dachau deportiert, bracht. Nach seiner Rückkehr aus den Sie wurde dort von Parteileuten auf- wo er am 5. September 1942 sogenannten Bergungsgebieten soll gegriffen und im Lager Westerbork in ermordet wurde. er zunächst bei Ittersdorf zwangs- Holland interniert. Im Jahr 1942 wurde weise im Straßenbau tätig gewesen sie nach Auschwitz deportiert. Danach sein. Noch einmal kam er nach Nied- verliert sich ihre Spur. Ruth Michel wur- altdorf zurück, um in seinem Haus de am Kriegsende (8. Mai 1945) für tot nach zuvor vergrabenen Wertgegen- erklärt. ständen zu suchen, bevor er ebenfalls Sigmund Michel, genannt Sally, wurde nach Belgien floh. am 31. März 1892 geboren. Nach sei- ner Frau Rosa und seiner Tochter Ruth Für folgende Opfer der Shoah wur- flüchtete er im Jahr 1941 zu Verwand- den am 7. April 2011 Stolpersteine ten nach Arlon in Belgien. Er wurde verlegt: ebenfalls im Lager Westerbork in Hol- land interniert, das er nicht überlebte. Rosa Michel, geborene Isaac, ge- nannt Rösi, wurde am 5. Juli 1899 Joseph Michel wurde am 2. April 1877 geboren. Sie flüchtete zusammen mit geboren. Die Familie von Joseph Michel ihrer Tochter Ruth im Jahr 1935 zu floh 1935 ins südliche Frankreich. Da- Verwandten nach Arlon in Belgien. bei wurde die Familie getrennt. Bei dem Nach ihrer Verhaftung wurde sie im Versuch, zu seiner Familie zu gelangen, Lager Westerbork in Holland inter- wurde Joseph Michel an der Demarka- Jüdischer Friedhof Dillingen- niert, wo sie auch umkam. tionslinie zwischen dem von den Deut-

9 Nachfahren der Familie Michel aus Frankreich, Luxemburg und der Schweiz vor den Stolpersteinen

10 Eli Fromm – erzwungene Flucht aus Deutschland und wissenschaftliche Ehren im Exil

Am 7. Mai 1939 wurde in Niedalt- über Frankreich nach England. Nach Für seine Verdienste dorf in der Wohnung des Salomon einem Jahr Aufenthalt dort gelangte um die Wissenschaf- Michel der Knabe Eli Fromm gebo- sie schließlich nach New Jersey in ten und die Lehre ren. Sein Start ins Leben stand unter den USA. erhielt Professor Eli keinem guten Stern. Seine jüdischen Fromm zahlreiche Eltern stammten aus Düren im Rhein- Eli Fromm studierte an der Drexel Ehrungen. Im Jahre land und waren auf der Flucht aus University (benannt nach ihrem 2002 wurde ihm als Deutschland. Gründer) in Philadelphia zunächst erstem Preisträger überhaupt der Elektrotechnik und promovierte Bernard M. Gordon Prize von der Uni- Sein Vater Siegfried „Israel“ Fromm, dann im Fach Bioingenieurwesen. ted States National Academy of En- ein Viehhändler, war in der soge- Seine Karriere setzte er zielstrebig geneering verliehen. Zweck der Aus- nannten „Reichskristallnacht“ verhaf- fort, unter anderem mit der Erfor- zeichnung ist es, Führungskräfte in tet und in das KZ Buchenwald ver- schung von Sonnenenergie einerseits der Wissenschaft für die Entwicklung schleppt worden. Er wurde aus dem und der Druckmessung im Auge bei von neuen pädagogischen Ansätzen KZ entlassen unter der Bedingung, Patienten mit Grünem Star mit Hilfe im Bereich Maschinenbau und Tech- dass er und seine Familie Deutsch- von Mikrosensoren andererseits. nik zu erkennen und auszuzeichnen. land schnellstmöglich verlassen Alle zwei Jahre wird der Bernard M. müssten. Auf dem Weg nach Frank- Seine pädagogischen Erfahrungen Gordon Prize mit einem Preisgeld in reich, kurz vor der Grenze, setzten als Professor an der Drexel Univer- Höhe von 500 000 US-Dollar verge- bei der Mutter, Helene „Sara“ Fromm, sity kombinierte er mit seinem tech- ben. Er gilt in den USA als Äquivalent starke Wehen ein. Die Familie fand nischen Wissen zu einem erfolgrei- zum Nobelpreis. Zuflucht bei Else Michel, einer Ver- chen Lernprogramm für Schüler der wandten in Niedaltdorf, die mit dem Oberstufe und für junge Studenten Eli Fromm steht in den USA noch Metzger Salomon Michel verheiratet auf der Basis von deren bisherigen in Kontakt zu Loni Michel, die auch war. Hier erblickte der kleine Eli das Erkenntnissen, deren Wissensdurst in Niedaltdorf geboren wurde und Licht der Welt. Einige Wochen später und altersentsprechender Lebenser- ebenfalls nur durch Flucht überleben setzte die Familie ihre Flucht fort – fahrung. konnte.

11 Opfer des Nationalsozialismus aus Hemmersdorf – Jüdische Familien

In Hemmersdorf lebten im Jahr Diejenigen, die zurückblieben, wur- 1927 laut einer Volkszählung noch den nach und nach deportiert und 61 Bürger jüdischen Glaubens in ermordet. Von den in Hemmersdorf neun Haushalten. Die Männer waren geborenen oder längere Zeit am Ort Viehhändler und Metzger, sie arbei- wohnhaften jüdischen Personen teten im Kalkwerk, als Schuster und sind in der NS-Zeit umgekommen: * als Schneider, die Frauen handelten Josef Hanau (1883), Benjamin Levy mit Nähmaterialien, Strickwaren und (1871), Edmund Michel (1904), Wolle, Süßigkeiten und Getränken. Irma Michel geb. Michel (1908), Isidor Michel (1895), Rosa Mi- Mit den Juden aus Niedaltdorf trafen chel geb. Michel (1863), Milli Salm sie sich am Sabbat zum Gebet in einer geb. Michel (1889), Clementine kleinen Synagoge, die in der heutigen Schwarz geb. Hanau (1880), Babet- Straße „Zum Wertchen“ stand. (Sie te Süsskind** (1866), Leo Süskind wurde 1939 im Rahmen des soge- (1905), Samuel Süsskind (1875), nannten Wiederaufbaus zusammen Sigmund Süskind (1870) und Wal- mit anderen Häusern abgerissen.) Bis ter Süskind (1906). zur Volksabstimmung am 13. Januar 1935 konnten alle friedlich ihrer Ar- Für folgende Opfer wurden Stolper- beit nachgehen. Die danach zuneh- steine verlegt: mende nationalsozialistische Aggres- ______sion veranlasste viele, noch in den * Angaben nach den Listen von Yad Vashem, Jahren 1935 und Anfang 1936 aus Jerusalem, und den Angaben des „Gedenk- Deutschland auszureisen. Sie ver- buch – Opfer der Verfolgung der Juden unter der nationalsozialistischen Gewalt- kauften ihre Häuser und Geschäfte Teile der Synagoge (Bogenfenster rechts) herrschaft in Deutschland 1933-1945“ in der heutigen Straße „Zum Wertchen“ an Mitbürger. Solche Notverkäufe er- ** Der Name Süskind/Süsskind wird in verschie- folgten in aller Regel weit unter Wert. denen Quellen unterschiedlich geschrieben.

12 Isidor Michel, geboren am 4. Januar Babette Süsskind wurde am 12. Au- 1895. Er floh im Jahr 1935 nach Frank- gust 1866 geboren. Sie betrieb ei- reich, wurde im Exil verhaftet und nach nen kleinen Laden mit Strickwaren. Auschwitz deportiert. Er wurde dort Am 23. Juli 1942 wurde sie nach am 26. Februar 1943 ermordet. Theresienstadt deportiert. Dort ist sie am 18. Oktober 1942 umgekom- Rosa Michel, geboren am 4. August men. 1863. Sie flüchtete 1938 nach Frank- reich. Dort wurde sie verhaftet, im Samuel Süsskind wurde am 10. Ja- berüchtigten Lager von Drancy inter- nuar 1875 geboren. Am 18. August niert und später nach Auschwitz de- 1942 wurde er nach Theresienstadt portiert, wo sie am 26. Februar 1943 deportiert, wo er am 23. September ermordet wurde. 1942 umgekommen ist.

13 Hemmersdorf – Zwangsarbeit

Nach Kriegsbeginn standen der deutschen Industrie, bedingt durch die Einberufungen zum Militär, nicht mehr ausreichend männliche Arbeitskräfte zur Verfügung. Ins- besondere die kriegswichtigen In- dustriezweige wie Kohle und Stahl waren dringend auf „Fremdarbeiter“ angewiesen. So wurden vor allem im besetzten Osten, aber auch in Frank- reich, Männer und Frauen gewalt- sam verschleppt und zu Arbeitsein- sätzen gezwungen. Sie waren in fast allen Wirtschaftsbereichen sowie beim Bau militärischer Anlagen be- schäftigt. Als Arbeitssklaven brach- ten sie die Ernten ein und sicherten den Nachschub für die Kriegsma- schinerie der Nazis.

Auf dem Gebiet unserer Gemeinde bestand ein Lager der „Deutschen Arbeitsfront“ mit sieben Baracken in Biringen. In Hemmersdorf besaß die Dillinger Hütte ein Kalkwerk. Der Kalk wurde zur Verhüttung von Eingang zum „2. Stammlager XII F“ Eisenerz benötigt. Ab 1942 standen

14 nicht mehr genügend saarländische Arbeiter zur Verfügung. Die Hüt- Kalkwerk Hemmersdorf tenleitung klagte: „Die Arbeitsein­ satzlage hat sich weiter verschlech- tert, weil immer mehr Gefangene und russische Zivilgefangene zum Einsatz kommen und die Stammbe- legschaft ständig abnimmt.“ Auch in Hemmersdorf wurde ein in der Be- völkerung so genanntes „Russenla- ger“ für Kriegsgefangene errichtet.

Auf einem amerikanischen Foto kann man noch die Kennzeichnung lesen: „2. Stammlager XII F“. Dieses Lager war eine Nebenstelle des berüchtig- ten Hauptlagers XII F „Ban St. Jean“ bei Boulay, von wo die Kriegsgefan- genen zu Arbeitseinsätzen verteilt wurden. In Boulay selbst starben über 22000 Gefangene, überwie- gend Ukrainer.

Am 23. März 1942 wurde der Werk- schutz der Dillinger Hütte angewie- sen, „gegen Kriegsgefangene, die auf Anruf des Wachmannes nicht sofort

15 16 stehen bleiben, von der Schußwaf- fe Gebrauch zu machen.“* In Hem- mersdorf sind zwei Opfer dieser Anweisung bekannt. Ein Gefangener soll am Kemmersbach erschossen worden sein, als er dort trinken woll- te. Ein weiterer Gefangener soll er- schossen worden sein, als er Fallobst unter einem Apfelbaum aufhob.

Die meisten Toten blieben namenlos. Sie liegen in einem anonymen Grab, das von dem ehrenamtlichen Bür- germeister Adolf Meguin errichtet wurde. Nur von Franz Chaloupka aus Dobra, katholisch, Jahrgang 1875, wissen wir, dass er am 27. Februar 1944, also fast 70-jährig, einen Schä- delbruch mit Gehirnblutung erlitt und verstarb.

______* Archiv der AG der Dillinger Hüttenwerke. Rundschreiben 1938 - 1944, Band 2

17 Das Schicksal der letzten Juden aus Siersburg

1938 lebten in Siersburg noch sieben Damalige Bewohner der heutigen Niedstraße; jüdische Mitbürger. Es waren alte im Hauseingang rechts Michel Troispieds mit seiner Frau Franziska Leute, bis auf eine junge Frau, die ihre Mutter versorgte. Sie hofften wohl darauf, dass der nationalsozialistische Rassenwahn sie verschonen würde. Doch in den frühen Morgenstunden des 22. Oktober 1940 wurden sie – wie alle Juden des Gaues Saar-Pfalz – von Hilfspolizisten verhaftet. Der ehrgeizige Gauleiter Josef Bürckel hatte die Deportation „aller Personen jüdischer Rasse, soweit sie transport- fähig sind“ angeordnet, um dem Füh- rer als erster einen „judenfreien Gau“ zu präsentieren. (Nur Johanna Süss- kind entging zunächst der Deportati- on, da sie erst am 20. November 1940 aus der Evakuierung zurückkehrte.)

Bei ihrer Verhaftung durften sie nur ganz wenig Gepäck zusammenpa- cken. Sie wurden brutal mit Schlä- gen und Tritten zur Eile angetrieben, auf einen LKW verladen und nach Saarbrücken abtransportiert. Dort mussten sie ihre Häuser vor einem

18 Notar dem deutschen Reich über- und ohne Stroh, nur mit zwei dünnen Rosa Hanau verstarb am 6. Dezem- schreiben, bevor sie in einen Zug Decken bedeckt. Als Nahrung erhal- ber 1940 in Gurs, 65 Jahre alt. verladen wurden, der sie nach ei- ten wir morgens ein Glas schwarzen Johanna Troispieds verstarb am 6. ner 70-stündigen Fahrt in das fran- Ersatzkaffee, mittags einen Teller Dezember 1940 in Gurs, 81 Jahre alt. zösische Konzentrationslager in dünne Suppe, in dem 20 bis 25 Erbsen Gurs im unbesetzten Südwesten oder ein paar Schnitten gelbe Rüben Michel Troispieds verstarb am 21. Frankreichs brachte. herumschwimmen, gänzlich fett- und Dezember 1941 in Gurs, 77 Jahre alt. geschmacklos, abends genau diesel- „Gurs war das Schreckenslager be Suppe und dazu etwa 350 g Brot.“ * Ihr Lebenswille war gebrochen. Sie Frankreichs!“* Es diente zunächst als Bald schwanden den Internierten die starben an mangelnder Ernährung Internierungslager für geflüchtete Kräfte, die ein Mensch braucht, um und Seuchen, infolge katastrophaler Soldaten der spanischen republika- die Verzweiflung auszuhalten. hygie­nischer Bedingungen und feh- nischen Armee, dann für ca. 6500 jü- dische Deutsche aus Baden, der Pfalz und dem Saargebiet. Die Zustände im Lager waren himmelschreiend. „Ehemals kräftige Männer sind durch Hunger und Kälte so geschwächt, dass sie ihr Antlitz verloren haben. Den Frauen fallen Haare und Zähne aus. Wir liegen bei 10 Grad Kälte auf bloßem Fußboden ohne Matratzen

Grabsteine von Siersburger Juden auf dem Lagerfriedhof Gurs; der Name Troispieds wurde in Dreyfuss eingedeutscht.

19 lender medizinischer Versorgung. Sie Metzger Marzen (links) starben schuldlos in völliger Entrech- mit Viehhändler Troispieds tung.

Rosa Levy und Franziska Troispieds überlebten das Lager, gebrochen an Leib und Seele. Klara Levy wurde am 12. August 1942 erneut abtransportiert. Über das berüchtigte Lager Drancy ging ihre letzte Reise über Saarbrücken und Homburg nach Auschwitz, wo sie vergast wurde. Ihr Todestag wurde auf den 31. Dezember 1942 festge- legt. Johanna Süsskind kehrte erst am 20. November 1940 aus dem soge- nannten Bergungsgebiet, der Eva- kuierung, zurück. Ihr Häuschen in der Brunnengasse war im Zuge des sogenannten Wiederaufbaus, einem nationalsozialistischen Dorferneue- rungsprogramm, bereits abgerissen worden. Sie musste sich in der Adolf- Hitler-Straße im leerstehenden Haus von Rosa Hanau Unterkunft suchen.

20 Ihre verspätete Rückkehr hatte sie sah man sie völlig verzweifelt aus dem rat von Saarlautern seinem Gauleiter zwar vorerst vor der Deportation ge- Rathaus in Siersburg kommen. Abends meldete. rettet, aber sie war jetzt die einzige Jü- hat ihr dann noch ein – ausländischer – ______din im ganzen Kreis Saarlautern (heute Nachbar die Absätze an den Schuhen wieder ). Was für ein Leben! gekürzt, „weil sie jetzt ja so weit laufen * Badische Presse (CH) vom 14. Februar 1941 Niemand durfte öffentlich mit ihr re- müsse“. Am nächsten Morgen war sie den, nirgends durfte sie einkaufen. Kein verschwunden. Radio, kein öffentliches Verkehrsmit- In der Meldekartei des Amtes Siersburg tel! Jeglicher Kontakt mit ihren Nach- heißt es nur noch lapidar: „22.04.42 barn war ihr untersagt, sie lebte in Iso- ausgewandert“. So lautete auch die lationshaft in der eigenen Gemeinde. von der Gestapo vorgeschriebene For- Selbst am Brunnen Wasser schöpfen mulierung in den Melderegistern der durfte sie nur, wenn sie keinen anderen Meldeämter. Sie galt für Personen, die Deutschen mit ihrem Anblick „störte“. am 26. April 1942 im Rahmen der so- Später musste sie den gelben Juden- genannten „Endlösung“ nach Izbica in stern tragen. Polen deportiert werden sollten. Zwei Tage vorher, am Freitag, dem 24. April, Ab September 1941 verpflichtete wurde in Karlsruhe ein Abwanderungs- eine Polizeiverordnung zum Tragen transport für Juden aus Baden, Pfalz des Judensterns, damit „dem Juden und dem Saargebiet zusammengestellt, die Möglichkeit genommen wird, sich der am Abend nach Stuttgart fuhr. zu tarnen und damit jene Bestimmun- Wahrscheinlich war dies auch der Weg gen zu durchbrechen, die dem deut- von Johanna Süsskind in die Vernich- schen Volksgenossen die Berührung tungslager des Ostens. mit dem Juden ersparen“. Doch auch Klara Levy (rechts) mit Lehrer Johanna Süsskind blieb die Deporta- Im bösartigen Jargon der Nazis war und Klassenkameradinnen tion nicht erspart. Am 21. April 1942 Siersburg „judenfrei“, wie der Land-

21 Siersburg – Euthanasie und Zwangssterilisation

„Psychiater haben in der Zeit des Nati- ten zwangssterilisieren und töten las- ten gegen den Willen der Patienten onalsozialismus Menschen verachtet, sen und auch selber getötet“ (Schnei- durchgeführt. die ihnen anvertrauten Patienten in ih- der 2010). rem Vertrauen getäuscht und belogen, Dem Verfasser sind aus unserer Ge- die Angehörigen hingehalten, Patien- Aufgabe des Arztes ist es, dem kran- meinde mindestens drei Patienten ken Menschen zu helfen, Schaden von bekannt, die sich dieser Prozedur un- ihm abzuwehren und ihn, wenn mög- terziehen mussten. Diese Opfer von lich, von Krankheiten zu heilen. Dieser nationalsozialistischen Unrechtsmaß- Grundsatz wurde während des Natio- nahmen wurden erst 1988 als solche nalsozialismus bei psychisch Kranken vom Staat anerkannt und konnten so und sogenannten Erbkranken ins Ge- eine kleine Entschädigung erhalten. genteil verkehrt. So wurde die Würde des Menschen abhängig gemacht von Ab 1939 wurden Patienten aus den seiner Nützlichkeit für die Gesellschaft. Heil- und Pflegeanstalten, die keine körperlichen Arbeiten mehr verrichten Durch das „Gesetz zur Verhütung konnten – für die Nazis also „lebensun- erbkranken Nachwuchses“ war seit wertes Leben“ – der sogenannten „Eu- 1934 eine zwangsweise Unfruchtbar- thanasie“ (griechisch: „schöner Tod“) machung für sogenannte „Erbkranke“ zugeführt. Diese „Ballastexistenzen“, zwingend vorgeschrieben. Als ver- „nutzlosen Esser“, „Volksschädlinge“ meintlich erbkrank galt, wer „an ange- oder „Defektmenschen“ wurden mit borenem Schwachsinn, Schizophrenie, Gas oder überdosierten Medikamen- Epilepsie und anderen Krankheiten“ ten ermordet, um, wie es hieß, jede litt. Im Saargebiet wurden fast 2 900 Form der „Beeinträchtigung des deut- Sterilisationsanträge gestellt, die Ste- schen Volkskörpers zu vermeiden“. Maria Magdalena Schnubel rilisation durch Operation oder Rönt- Teilweise wurden solche Patienten genbestrahlung wurde dann von Ärz- auch getötet, indem man sie gezielt

22 Denkmal von Eberhardt Killguss vor dem ehemaligen LKH Merzig zur Erinnerung an die Opfer der Nazi-Euthanasie

Stempel aus Hadamar auf einer Todesurkunde

23 verhungern ließ. Insgesamt wurden so anderen Einwohner der „Roten Zone“ leicht behinderten Kindes. Sie ahnte im „Dritten Reich“ mindestens 5 000 umgesiedelt, allerdings von ihren Fa- wohl, welch grausames Schicksal ihm Kleinkinder und mehr als 120 000 milien getrennt. Viele wurden in die drohte. Ihre Auflehnung war erfolg- kranke Menschen von medizinischem Vernichtungsanstalt Hadamar verlegt. reich, ihr Sohn überlebte. Personal umgebracht. Dort wurden Maria Magdalena Schnubel wurde Adam Dittlinger aus Fürweiler am 6. Juli 1896 geboren. Evakuiert am 5. Februar 1941 vergast, wurde sie am 1. September 1939. Im Anton Klein aus Rehlingen selben Jahr wurde sie in die Heil- und am 6. Februar 1941 vergast, Pflegeanstalt Bad Salzungen einge- wiesen, da sie wohl an einer Psychose Johann Jacob aus Itzbach litt. Maria Magdalena Schnubel wur- am 9. Juni 1941 vergast. de in Bad Salzungen am 30. Septem- Anna Hilt aus Niedaltdorf wurde in ber 1939 ermordet. die Landesheilanstalt Merxhausen verbracht. In diesem „Krankenhaus“ Karoline Wiesen wurde am 30. De- ließ man die Patienten einfach ver- zember 1892 geboren. Im Jahr 1939 hungern. Anna Hilt starb am 19. April wurde sie wegen einer erworbenen 1941. Lähmung in die „Heilanstalt“ Bad Sal- zungen eingewiesen. Dort wurde sie Dass individueller Widerstand gegen am 30. September 1939 ermordet. die „Euthanasie“ möglich war, zeigt das Beispiel von Heinrich Hoen aus Zahlreiche Patienten aus unserer Ge- Oberlimberg. Seine Mutter Anna, meinde waren in der Heil- und Pflege- geborene Rödelstürz, wehrte sich Grab von Karoline Wiesen anstalt Merzig untergebracht. Zu Be- lautstark und vehement gegen den in Bad Salzungen ginn des Krieges wurden sie wie alle bereits geplanten Abtransport des

24 Rehlingen – Opfer nationalsozialistischer Verfolgung aus religiösen oder politischen Gründen

Aus Rehlingen waren 1935 alle Juden überleben, weil mitleidige Nachbarn haftet, an die Gestapo ausgeliefert im Schutz des Römischen Abkom- ihnen immer wieder Nahrungsmittel und danach vom Volksgerichtshof mens geflohen bis auf das alte Ehe- zusteckten. in Berlin wegen Landesverrats zum paar Josef Isac und seine zehn Jahre Tode verurteilt. Johann Peter Wilbois ältere Frau Brünnette. Josef, genannt In der sogenannten „Reichskristall- wurde am 13. Mai 1944 im Zucht- der „Judenlehrer“, war ehemals Vor- nacht“ wurden Fenster und Türen ih- haus Berlin-Moabit hingerichtet. beter in der Synagoge von Rehlin- res kleinen Häuschens eingeschlagen gen und lebte jetzt mehr schlecht und ihr spärlicher Hausrat demoliert. Erhard Nikolaus Wolf, im Jahr 1922 als recht vom Verkauf von Wagen- Die Synagoge selbst blieb erhalten, geboren, war von Beruf Hüttenarbei- schmiere. Die beiden konnten nur da sie bereits vorher als „Waren- ter. Wegen „Arbeitsverweigerung“ bezugslager“ verkauft worden war. wurde er am 15. September 1943 Josef Isac überlebte seine Frau. Er verhaftet und in das Konzentrations- wurde deportiert und in Auschwitz lager Natzweiler gebracht. Von dort ermordet. wurde er nach Majdanek deportiert, wo er am 29. Februar 1944 ermordet Johann Peter Wilbois wurde am 13. wurde. Juli 1907 geboren. Neben seinem Be- ruf als Gipser war er Mitglied des Ge- meinderates und des Kreistages von Saarlouis. Er kämpfte im spanischen Bürgerkrieg von 1936 bis 1939 auf der Seite der internationalen Briga- den gegen den faschistischen Mili- tärputsch von General Franco. Nach dem Ende des Bürgerkrieges blieb Johann Peter Wilbois Johann Peter Wilbois in Frankreich. Er wurde 1943 von der Polizei ver-

25 Lothar Kahn – Emigration und Versöhnung

Lothar Kahn wurde 1922 als Sohn des jüdischen Kaufmanns Gustav Kahn und seiner Ehefrau Selma, geb. Kasel, in Rehlingen geboren. Hier verlebte er einen Großteil seiner Kindheit. Er besuchte hier auch die Volksschule, nur vom katholischen Religionsunterricht war er befreit. Später besuchte er drei Jahre lang das Dillinger Gymnasium.

Die Wende in seinem Leben kam 1935. Am 1. März 1935 kehrte das damalige Saargebiet zum Deut- schen Reich zurück. Für die Juden an der Saar begann die Zeit der Ver- folgung. Antisemitismus wurde von vielen ihrer Nachbarn offen gezeigt. Familie Kahn entschloss sich da- her notgedrungen auszuwandern, solange es noch möglich war. Mit großen Verlusten musste sie ihren Besitz – ein kleines Kaufhaus mit Kleidern und Dingen des täglichen Bedarfs – verkaufen, bevor sie am Lothar Kahn 4. Oktober 1935 aus Deutschland floh.

26 Zur gleichen Zeit flohen vor dem ere Sprachen und lehrte bis zu sei- Im Jahr 2001 erhielt das Gymnasium Zugriff der Nationalsozialisten aus nem Tod im Jahr 1990 an der Central in Dillingen einen Erweiterungsbau. Rehlingen auch die Familie Max Alex- Connecticut State University. Sein Seither wird dort auf einer Gedenkta- ander mit drei Kindern, Familie Isidor Hauptwerk „Between two worlds“ fel an den ehemaligen Schüler Lothar Günther mit zwei Kindern, Familie beschreibt das Dilemma jüdischer Kahn erinnert. Isidor Dreifuss mit zwei Kindern, Fa- Schriftsteller in und mit Deutschland. milie Otto Kasel mit Tochter und En- Mit seiner Arbeit wurde er zu einem Aber sein Name ist auch in Rehlingen keltochter, Frau Babette Alexander Vermittler der deutschen Kultur in nicht vergessen: Schüler der heuti- mit Tochter, Frau Hedwig Salomon Amerika. Seinen Studenten zeigte er gen Lothar-Kahn-Schule erforschten mit Tochter sowie die Witwe von Fer- auf Reisen seine alte Heimat, auch seine Biographie. Seine Ideale von dinand Kasel. Nur der etwa 60-jähri- Rehlingen. Lothar Kahn hatte auch Toleranz und friedlichem Zusammen- ge Josef Isac blieb mit seiner Ehefrau enge Kontakte zur Universität Frank- leben haben sie fasziniert. Brünnette zurück. Josef Isac wurde furt. Hubert Ivo, Professor für Ger- in Auschwitz ermordet. manistik in Frankfurt, beschreibt ihn als eine der Persönlichkeiten, Lothar Kahn und seiner Familie gelang „denen wir Deutsche es verdanken, über Luxemburg und Frankreich die dass wir nach dem Kriege im Aus- Flucht. 1937 erreichten sie die USA, land nicht ganz abgelehnt wurden wo sie sich in New York niederlassen und wieder Kontakt zur westlichen konnten. Sein Vater Gustav musste Welt bekamen.“ sein Geld zunächst unter anderem als Hausierer verdienen, Lothar und Für diese Arbeit der Versöhnung seine Schwester Liesel konnten aber wollte ihm die Universität Frankfurt wieder die Schule besuchen. Lothar mit der Verleihung der Ehrendok- studierte Deutsch, Französisch und torwürde ihre Hochachtung ausdrü- Projektgruppe der Lothar-Kahn-Schule Latein. Nach seiner Promotion wurde cken. Doch Lothar Kahn starb zwei mit dem heutigen Schulleiter Friedrich Müller er Professor für Literatur und neu- Wochen vor der akademischen Feier.

27 Handeln für die Zukunft – Lothar-Kahn-Schule

Als sich Schüler der Erweiterten Ihre Beschäftigung mit dem Thema Lothar Kahn ist Teil der Geschichte Realschule Rehlingen-Siersburg in fand 2008 Ausdruck in der Gestal- von Rehlingen-Siersburg. Er war Hu- einem Projekt mit der soeben er- tung der beeindruckenden Ausstel- manist und Vermittler zwischen den schienen Biografie von Lothar Kahn lung „Lothar Kahn – Jüdische Spu- Kulturen, der immer wieder für Ver- befassten, entstand der Wunsch, ren in Rehlingen“. Ihre Erkenntnis: söhnung warb. ihre Schule nach ihm zu benennen.

Doch zunächst wollten sie die schwierigen Lebensumstände für deutsche Juden um 1935 kennen- lernen. Sie befragten Zeitzeugen und machten sich auf den Weg durch Rehlingen zu den letzten Zeugnissen jüdischer Kultur wie den Fragmen- ten der ehemaligen Synagoge. Sie diskutierten mit anderen Jugend- lichen von der Christlichen Arbei- terjugend (CAJ) und dem Verband saarländischer Jugendzentren in Selbstverwaltung (JuZ-United) im- mer wieder die eine Frage:

Wie konnte sich die Stimmung nach der Saarabstimmung am 13. Januar 1935 innerhalb weniger Tage so ver- ändern, dass Freundschaften zerbra- Hermann Conrad erklärt Schülern die ehemalige Synagoge von Rehlingen. chen?

28 Die Lehren aus der Vergangenheit denen Stolpersteine verlegt wurden, Gunter Demnig von ihm persönlich nicht in Vergessenheit geraten zu las- nach den Biographien der Opfer. Be- zu erfahren. Aus all diesen Informa- sen, wurde für Schüler und Lehrer im sonders interessant für sie war es, die tionen entstand eine eindrucksvolle Sinne von Lothar Kahn ein wichtiges Gedanken und Motive des Künstlers Präsentation im Internet.* Ziel.

Als äußeres Zeichen dieser Bemü- hungen erhielt die Erweiterte Real- schule Rehlingen-Siersburg am 29. März 2009 den Namen Lothar-Kahn- Schule.

Für ihr Engagement um Toleranz und gegen Rassismus wurde die Schule 2010 auch mit dem Titel „Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage“ aus- gezeichnet. Diese Auszeichnung ist mehr als nur ein Schild an der Tür, sie ist auch eine Selbstverpflichtung für die Zukunft.

So engagierten sich die Schüler da- nach bei der Aktion „Stolpersteine“, die an die Opfer des nationalsozialis- tischen Terrors in unserer Gemeinde erinnert. Sie befragten die Organisa- Sohn, Schwiegertochter und Enkelkinder von Lothar Kahn vor dem neuen Schild der Schule toren und die Besitzer der Häuser, vor

29 Elie Wiesel, der Friedensnobelpreis- es sei, die Beschäftigung mit Ver- kunft zu verbinden: „Es ist falsch, von träger und Überlebende der Shoah, gangenem mit der Gestaltung einer der Vergangenheit zu reden, wenn hat darauf hingewiesen, wie wichtig demokratischen und friedlichen Zu- man nicht in der Zukunft handelt.“

In diesem Sinne handelt die Lothar- Kahn-Schule, denn ihre Schüler wol- len in einer Gesellschaft leben, in der alle Menschen sich frei und ohne Angst entfalten können und in der jeder im Rahmen des Grundgesetzes er selbst sein darf. Deutschland muss ein Land der Vielfalt bleiben!

Wie notwendig diese Arbeit in der Schule ist, zeigen unter anderem Vorfälle im Januar 2016. Die Lothar- Kahn-Schule wurde mit Hakenkreu- zen und anderen Nazi-Symbolen be- schmiert.

______Rektorin Angelika Feld (2. von rechts) erläutert Verwandten von Lothar Kahn das Projekt ihrer * Webseite des Projekts „Stolpersteine“ Schule; links neben ihr Lothar Kahns Tochter, rechts neben ihr seine Schwester, Liesel Stein. der Lothar-Kahn-Schule: www.stolpersteine-rehlingen-siersburg.de

30 Schülerinnen der Lothar-Kahn-Schule beim Interview mit Gunter Demnig

31 „Niemand darf bei so etwas wegschauen!“

Fremdenfeindliche Straftaten und Nazi-Symbole auch in unserer Zeit: Minister ruft Bevölkerung zu Wachsamkeit auf

„Sachor – erinnere dich, vergiss nicht!“ re der Vorfälle hervor: „Das sind keine 03.02.2016 Wie aktuell der Appell dieser Broschü- Streiche oder Mutproben, die als ju- re ist, zeigen drei Vorfälle mit frem- gendlicher Leichtsinn abgetan werden denfeindlichem Hintergrund, die sich können. Das sind handfeste Straftaten, allein im Januar 2016 in dichter Folge nämlich Sachbeschädigung und Ver- in Rehlingen-Siersburg ereigneten: wendung verfassungsfeindlicher Sym- Unbekannte Täter besprühten zwanzig bole.“ Der Minister betonte: „Wer weg- Wohncontainer für Flüchtlinge an der schaut, trägt zur Strafvereitelung bei Nordstraße in Rehlingen mit Nazi-Sym- und macht sich mitschuldig.“ Er rief die bolen und Hakenkreuzen. Die Lothar- Bevölkerung auf, „der Fratze von Ras- Kahn-Schule in der Beckinger Straße sismus, Fremdenhass und Rechtspopu- wurde ebenfalls mit Hakenkreuzen und lismus mit Zivilcourage zu begegnen“. SS-Runen beschmiert. Außerdem be- leidigten zwei Männer eine südländisch aussehende Spaziergängerin auf einem Feldweg mit den Worten: „Scheiß Aus- länder, Heil Hitler“ vom Auto aus. Reinhold Jost, Ortsvorsteher von Siersburg und saarländischer Justiz- minister, hob in der Presse die Schwe-

Nazi-Schmierereien an der Lothar-Kahn-Schule, die an der europäischen Jugendinitiative „Schule ohne Rassismus - Schule mit Courage“ mitwirkt.

32 Die 17 Stolpersteine

Niedaltdorf Joseph Michel Neunkircher Straße 54 Rosa Michel, Ruth Michel, Sigmund Michel Neunkircher Straße 57

Hemmersdorf Isidor Michel Niedaltdorfer Straße 1 Rosa Michel Lothringer Straße 131 Babette Süsskind, Samuel Süsskind An der Niedbrücke

Siersburg Rosa Hanau Hauptstraße 36 Klara Levy Dechant-Held-Straße 27 Maria Magdalena Schnubel Niedstraße 74 Johanna Süsskind Zum Campingplatz 16 Johanna Troispieds, Michel Troispieds Niedstraße 31 Karoline Wiesen Siersdorfer Straße 18

Rehlingen Johann Peter Wilbois Neustraße 22 Erhard Nikolaus Wolf Marxstraße 4

33 Literatur

Aktion 3. Welt Saar; Vereinigung für die Heimatkunde im Landkreis Saarlouis e.V.: Gegen das Vergessen. Orte des NS-Terrors und Widerstandes im Landkreis Saarlouis. Losheim, Saarlouis 2012 Best, Katharina: Die Geschichte der Rehlinger Judengemeinde. Rehlingen, um 1985, unveröffentlicht Braß, Christoph: Zwangssterilisation und „Euthanasie“ im 1933-1945. Paderborn 2004 Demnig, Gunter: Webseite www.stolpersteine.eu Eckert, Hans: Die Visionen des Aaron von Illingen. Ottweiler 1988 Elsbeth Kasser-Stiftung (Hrsg.): GURS. Ein Internierungslager. Südfrankreich 1939-1943, Aquarelle, Zeichnungen, Fotografien, Sammlung Elsbeth Kasser. Basel 2009 Gedenkbuch – Opfer der Verfolgung der Juden unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in Deutschland 1933-1945: Webseite www.bundesarchiv.de/gedenkbuch/ Glaser, Harald: Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter. In: AG der Dillinger Hüttenwerke (Hrsg.): 325 Jahre Dillinger Hütte. Band Menschen. Dillin- gen 2010 Grynberg, Anne: Les camps de la honte. Les internés juifs des camps français 1939-1944. Paris 1999 Herrmann, Hans-Walter: Beiträge zur Geschichte der saarländischen Emigration 1935-1939. Jahrbuch für westdeutsche Landesgeschichte 4 (1978) 357ff Kahn, Lothar: Between Two Worlds. Ames, Iowa 1993 Klemm, Werner: Das Schicksal der letzten Juden aus Siersburg. In: Unsere Heimat, 24 (1999) 171-179 Klemm, Werner (Hrsg.): Lothar Kahn, Der Weg ins Exil – Erinnerungen eines Rehlingers. Saarbrücken 2001 Krämer, Hans-Henning; Plettenberg, Inge: Feind schafft mit. Ausländische Arbeitskräfte im Saarland während des Zweiten Weltkrieges. Ottweiler 1992 Lothar-Kahn-Schule, Webseite der Multimedia-AG gegen Fremdenfeindlichkeit: www.stolpersteine-rehlingen-siersburg.de Mittag, Gabriele: „Es gibt Verdammte nur in Gurs“. Literatur, Kultur und Alltag in einem französischen Internierungslager 1940-1942. Tübingen 1996 Müller, Werner: Die jüdische Minderheit im Kreis Saarlouis. St. Ingbert 1993 Rudnick, Heinrich: Nachforschungen über das weitere Schicksal der am 22. 10.1940 aus dem Saarland nach Gurs verschickten Juden und der Träger des Judensterns im Saarland. In: Jahrbuch für westdeutsche Landesgeschichte 1 (1975) 337ff Schneider, Frank: Psychiatrie im Nationalsozialismus – Erinnerung und Verantwortung. Presse-Information DGPPN-Kongress, 24.-27.11.2010, Webseite: https://www.dgppn.de/en/dgppn/geschichte/nationalsozialismus/gedenkveranstaltung0/rede-schneider.html Suchfunktion nach Opfern der Shoa: Webseite: http://db.yadvashem.org/names/search.html?language=de Tascher, Inge: Staat, Macht und ärztliche Berufsausübung 1920-1956. Gesundheitswesen und Politik: Das Beispiel Saarland. Paderborn 2010 Tomic, Mirko: NS-Euthanasie im Saarland. „Ich wäre so gern heimgekommen“, Webseite: www.deutschlandradiokultur.de/ns-euthanasie-im-saarland- ich-waere-so-gern-heimgekommen.1001.de.html?dram:article_id=306362 Volk, Hermann: Heimatgeschichtlicher Wegweiser zu Stätten des Widerstandes und der Verfolgung 1933-145. Band 4. Saarland. Köln 1990 Wille , Wolfgang: Psychiatriemuseum Merzig „Unruhig, unreinlich und störend“, Webseite: www.magazin-forum.de/news/freizeit/%E2%80%9Eunruhig- unreinlich-und-st%C3%B6rend%E2%80%9C Zur Geschichte der jüdischen Gemeinde in Hemmersdorf: Webseite www.alemannia-judaica.de/hemmersdorf_synagoge.htm

34 Dank

Über einen Zeitraum von etwa 25 Jahren haben wir Informationen, Fotos, private Dokumente und Erinnerungsstücke gesammelt. Folgende Perso- nen – viele von ihnen sind in der Zwischenzeit verstorben – und Institutionen haben uns dabei unterstützt. Wir sind uns bewusst, dass wir über die Zeitläufte hinweg den einen oder anderen Mitarbeiter – unabsichtlich – vergessen haben. Wir danken allen, die uns geholfen haben, insbesondere: zu Niedaltdorf: Josefa Gansemer, Maria Gansemer, Helmut und Nikolaus Heisel, Erna Hilt, Mitglieder der Familie Michel aus ganz Europa, ... Günter Molitor, Rainer Petry; zu Hemmersdorf: Hans-Peter Klauck, Adolf Meguin, Albert Metzinger, Walter Steinhauer; ... zu Siersburg: Klara Bach, Maria Battiston, Anni Crauser, Katharina Diederich, Magdalena Gerard, Magdalena Hein, Klara Hetzler, ... Alfons Hoffmann, PHOTO-PHANT, Maria Pichl, Werner Remmel, Elfriede Schneider, Cornelia Silvanus; zu Rehlingen: Hermann Conrad, Katharina Best, Jörg Wilbois, Silvia und Herbert Reimer, Reinhard Seiwert sowie Mitglieder der Familien Kahn, ... Stein und Gunther aus der ganzen Welt.

Die Mitarbeiter des Arbeitskreises „Stolpersteine“: Erhard Grein, Rainer Heitz, Dr. Volker Heitz, Ferdinand Kappenberg, Dr. Werner Klemm, Hanno Krisam, Peter Metzdorf, Friedrich Müller, Kurt Remmel, Monika Silvanus, Gerd Zacher

Wir danken den Mitarbeitern der Gemeindeverwaltung Rehlingen-Siersburg, im Besonderen Herrn Friedhelm Neuendorf, für ihr großes Engage- ment sowie den Mitarbeitern des Bauhofs für die Hilfe beim Verlegen der Stolpersteine. Adolf-Bender-Zentrum e. V., Verein zur Förderung demokratischer Traditionen, St. Wendel Archiv der AG der Dillinger Hüttenwerke, Frau Dr. Antje Fuchs Lothar-Kahn-Schule Rehlingen-Siersburg Wir danken der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich, die uns publikationsfähige Reproduktionen von Zeichnungen aus dem Lager Gurs aus der Sammlung „Elsbeth Kasser“ zur Verfügung gestellt hat.

Beatrix und Fritz Rüdell haben wie immer Korrektur gelesen.

Die Herausgeber haben sich nach Kräften bemüht, die Inhaber von Rechten der gezeigten Abbildungen ausfindig zu machen. Leider ist es nicht in allen Fällen gelungen. Rechteinhaber, die sich in den Fotos wiederfinden, bitten wir, sich an die Herausgeber zu wenden.

Patenschaften für die Stolpersteine haben übernommen: Albert Becker, Bruno Dewald, Rolf Friedsam, Amanda Groß, Heimat-und-Verkehrsverein Siersburg, Dr. Volker Heitz, Ruth Helling, Jugendtreff Hem- mersdorf, Jugendtreff Niedaltdorf, Lothar-Kahn-Schule, Michael Monter, Werner Raber, Fritz Rüdell, Martin Silvanus, SPD Niedaltdorf, Jörg Wilbois

35 Gemeinde Rehlingen-Siersburg mit Unterstützung von Saartoto und Kreissparkasse Saarlouis