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Plenarprotokoll 13/58

Deutscher

Stenographischer Bericht

58. Sitzung

Bonn, Donnerstag, den 28. September 1995

Inhalt:

Benennung des Abgeordneten Dr. Max Zusatztagesordnungspunkt 2: Stadler als ordentliches Mitglied im Regu- lierungsrat beim Bundesministerium für Antrag der Gruppe der PDS: Sicherung Post und Telekommunikation 4819A der Aufgaben des Bundessozialhilfe- gesetzes bis zur Einführung einer be- darfsorientierten sozialen Grundsiche- 4819 B Erweiterung der Tagesordnung rung (Drucksache 13/2438)

Absetzung der Punkte 3 und 9 von der , Bundesminister BMG . . 4820 D Tagesordnung 4819C Hans Büttner (Ingolstadt) SPD . . . 4823 A

Nachträgliche Ausschußüberweisungen 4819D Jörg Tauss SPD 4824 B Herbert Lattmann CDU/CSU (zur GO) 4820A Franziska Eichstädt-Bohlig BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 4826A Begrüßung des Präsidenten des Südafri- Dr. Winfried Wolf PDS 4826D kanischen Senats, Senator Hendrik Jaco- Brigitte Lange SPD 4827C, 4847 B bus Coetsee 4857 B () BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 4830 D Tagesordnungspunkt 4: Dr. F.D.P 4832 C a) Erste Beratung des von der Bundesre- gierung eingebrachten Entwurfs eines Hans-Eberhard Urbaniak SPD 4833C Gesetzes zur Reform des Sozialhilfe- Dr. Gisela Babel F.D.P 4834 A rechts (Drucksache 13/2440) (Köln) BÜNDNIS 90/DIE b) Antrag der Abgeordneten B rigitte GRÜNEN 4835D Lange, Klaus Kirschner, weiterer Abge- Dr. Heidi Knake-Werner PDS . . . 4837B, 4839C ordneter und der Fraktion der SPD: Reform des Sozialhilferechts (Druck- Hannelore Rönsch (Wiesbaden) CDU/ sache 13/2442) CSU 4838A c) Antrag der Abgeordneten Andrea Hannelore Rönsch (Wiesbaden) CDU/CSU Fischer (Berlin), (Bre- 4839B, 4839D, 4840B, 4850C men), weiterer Abgeordneter und der Waltraud Lehn SPD . . . . 4840A, 4845A, 4851C Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Entlastung und Weiterentwicklung der CDU/CSU . 4840D, 4847D, 4850D, 4851D Sozialhilfe (Drucksache 13/2437) Klaus Kirschner SPD 4843 A in Verbindung mit Regina Schmidt-Zadel SPD 4848 B II Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 58. Sitzung. , Donnerstag, den 28. September 1995

Tagesordnungspunkt 5: men über die internationale Registrie rung von Marken (Drucksache 13/2415) Vereinbarte Debatte zur Luft- und Raumfahrtindustrie in Deutschland d) Erste Beratung des von der Bundes- (DASA) regierung eingebrachten Entwurfs ei- CDU/CSU 4852 C nes Vierten Gesetzes zur Änderung des Fünften Buches Sozialgesetzbuch Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk SPD 4855 A (Drucksache 13/2446) Simone Probst BÜNDNIS 90/DIE GRÜ e) Erste Beratung des von der Bundesre- NEN 4857 C gierung eingebrachten Entwurfs eines Dr. Otto Lambsdorff F.D.P. 4859B, 4862C, 4880C Gesetzes zu dem Beschluß des Ober- Jörg Tauss SPD 4860 D sten Rates des Europäischen Hoch- schulinstituts Nr. 8/93 vom 2. Dezem- Hans-Eberhard Urbaniak SPD . . . 4861 A ber 1993 und zu dem Beschluß der SPD 4862B, 4862 C Ständigen Kommission von Eurocon- Dr. Otto Graf Lambsdorff F.D.P. . . . 4862 D trol vom 28. Oktober 1994 (Druck- sache 13/2241) 4888 C Dr. Winfried Wolf PDS 4863A, 4887 A Dr. Günter Rexrodt, Bundesminister Zusatztagesordnungspunkt 3: BMWi 4864D, 4883 C Weitere Überweisungen im verein- Dietmar Schütz (Oldenburg) SPD . . . 4867 B fachten Verfahren Günther Bredehorn F.D.P. 4869 C Antrag der Abgeordneten Margareta Dr. Edmund Stoiber, Ministerpräsident Wolf (Frankfurt), Simone Probst und (Bayern) 4870 A der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- SPD 4871 D NEN: Kleine und mittlere Unternehmen stär- SPD 4872 D ken - Nachhaltiges Wirtschaften för- Dr. Peter Fischer, Minister (Niedersach dern (Drucksache 13/2436) 4889A sen) 4874 A Dr. Jürgen Rüttgers, Bundesminister Tagesordnungspunkt 18: BMBF 4876 B (Köln) SPD 4877 C Abschließende Beratungen ohne Aus- sprache Ingrid Matthäus-Maier SPD 4877 D a) Zweite Beratung und Schlußabstim- Manfred Opel SPD 4878 A mung des von der Bundesregierung SPD 4879 B eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes SPD 4881 A, 4884 B zu dem Vertrag vom 15. Februar 1993 zwischen der Bundesrepublik Deutsch- Dr. , Parl. Staatssekretär land und der Ukraine über die Förde- BMWi 4884C, 4888A rung und den gegenseitigen Schutz Manfred Opel SPD 4887 C von Kapitalanlagen (Drucksachen 13/ 1430, 13/2384) Tagesordnungspunkt 17: b) Zweite Beratung und Schlußabstim- Überweisungen im vereinfachten Verfah- mung des von der Bundesregierung ren eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 26. Juni 1991 zwi- a) Erste Beratung des vom Bundesrat ein- schen der Bundesrepublik Deutsch- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes - land und der Mongolischen Volksre- zur sozialverträglicheren Gestaltung publik über die Förderung und den ge- des Arbeitsplatzverlustes von Zivilbe- genseitigen Schutz von Kapitalanlagen schäftigten infolge des Truppenabbaus (Drucksachen 13/1431, 13/2385) der alliierten Streitkräfte (Drucksache 13/1056) c) Zweite Beratung und Schlußabstim- mung des von der Bundesregierung b) Erste Beratung des vom Bundesrat ein- eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 12. November zur Änderung der Verordnung über 1992 zwischen der Bundesrepublik die Tätigkeit von Notaren in eigener Deutschland und der Republik Estland Praxis (Drucksache 13/2023) über die Förderung und den gegen- seitigen Schutz von Kapitalanlagen c) Erste Beratung des von der Bundes- (Drucksachen 13/1432, 13/2386) regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Protokoll vom d) Zweite Beratung und Schlußabstim- 27. Juni 1989 zum Madrider Abkom mung des von der Bundesregierung Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1995 III

eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes g) Beschlußempfehlung und Bericht des zu der Vereinbarung vom 21. Juni 1994 Ausschusses für Wirtschaft zu der zur Durchführung des Abkommens Verordnung der Bundesregierung: Auf- vom 5. März 1993 zwischen der Bun- hebbare Einhundertachtundzwanzigste desrepublik Deutschland und der Re- Verordnung zur Änderung der Ein- publik Chile über Rentenversicherung fuhrliste - Anlage zum Außenwirt- (Drucksachen 13/1810, 13/2433) schaftsgesetz (Drucksachen 13/1663, 13/1787 Nr. 2.1, 13/2387) e) Beschlußempfehlung und Bericht des h) Beschlußempfehlung und Bericht des Finanzausschusses Ausschusses für Wirtschaft zu der Ver- - zu dem Antrag der Abgeordneten ordnung der Bundesregierung: Aufheb- Ursula Schönberger, Dr. Helmut Lip- bare Achtundachtzigste Verordnung pelt, Halo Saibold und der Fraktion zur Änderung der Ausfuhrliste - An- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Nicht- lage AL zur Außenwirtschaftsverord- bewilligung des EBRD-Kredites für nung (Drucksachen 13/1770, 13/1787 den Weiterbau des Atomkraftwer- Nr. 2.3, 13/2389) kes Mochovce/Slowakei i) Beschlußempfehlung und Bericht des - zu dem Antrag der Fraktion der SPD: Haushaltsausschusses zu dem Antrag Nichtbewilligung von Krediten für der Präsidentin des Bundesrechnungs- hofes: den Weiterbau des Atomkraftwer- Rechnung des Bundesrech- kes Mochovce in der Slowakischen nungshofes für das Haushaltsjahr 1994 Republik - Einzelplan 20 - § 101 BHO (Druck- sachen 13/1668, 13/2390) - zu dem Antrag der Abgeordneten j) Beschlußempfehlung und Bericht des Ursula Schönberger, Dr. Helmut Lip- Haushaltsausschusses zu der Unterrich- pelt, Halo Saibold, Michaele Hustedt tung durch die Bundesregierung: Über- und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE planmäßige Ausgaben bei Kapitel GRÜNEN: Nichtbewilligung des 15 02 Titel 685 13 - Beteiligung des EBRD-Kredites für den Weiterbau Bundes an einer Regelung für ange- des Atomkraftwerkes Mochovce/ messene Leistungen an HIV-Opfer von Slowakei Blut und Blutprodukten (Drucksachen - zu dem Antrag der Abgeordneten 13/2143, 13/2275 Nr. 1.8, 13/2391) Rolf Köhne, Dr. , k-m) Beschlußempfehlungen des Pe titions- Dr. und der weiteren ausschusses: Sammelübersichten 20, Abgeordneten der PDS: Kreditbewil- 60 und 62 zu Petitionen (Drucksa- ligung für die Fertigstellung des chen 13/818, 13/2380, 13/2382) . . 4889B Atomkraftwerkes Mochovce (Slo- wakische Republik) Zusatztagesordnungspunkt 4: (Drucksachen 13/309, 13/975, 13/738, Weitere abschließende Beratungen 13/656, 13/2175) ohne Aussprache f) Beschlußempfehlung und Bericht des Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Ernährung, Landwirt- Ausschusses für Wirtschaft zu der Ver- schaft und Forsten zu der Unterrich- ordnung der Bundesregierung: Ver- tung durch die Bundesregierung: Be- ordnung zur Verlängerung des Inve- richt über das Funktionieren der Bei- stitionsvorranggesetzes (Drucksachen hilferegelungen für Baumwolle (in An- 13/2242,13/2275 Nr. 2, 13/2447) . . . 4890D wendung von Artikel 5 der Verord- nung (EWG) Nr. 2052/92 des Rates) Tagesordnungspunkt 6: - Vorschlag für einen Beschluß des a) Erste Beratung des vom Bundesrat ein- Rates zur fünften Anpassung der mit gebrachten Entwurfs eines ... Gesetzes dem Protokoll Nr. 4 im Anhang zur zur Änderung des Heimgesetzes Akte über den Beitritt Griechen- (Drucksache 13/372) lands eingeführten Beihilferegelung für Baumwolle b) Erste Beratung des vom Bundesrat ein- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes - Vorschlag für einen Beschluß zur über die Berufe in der Altenpflege (Al- Festlegung der allgemeinen Vor- tenpflegegesetz) (Drucksache 13/ 1208) schriften der Beihilferegelung für c) Erste Beratung des von den Fraktionen Baumwolle und zur Aufhebung der der CDU/CSU und F.D.P. eingebrach- Verordnung (EWG) Nr. 2169/81 ten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes (Drucksachen 13/1234 Nr. 1.14, 13/ zur Änderung des Heimgesetzes 2305) (Drucksache 13/2347) IV Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1995 d) Antrag der Abgeordneten Irmingard Andrea Fischer (Berlin) BÜNDNIS 90/ Schewe-Gerigk, Andrea Fischer (Ber- DIE GRÜNEN 4918D lin), weiterer Abgeordneter und der Hans Büttner (Ingolstadt) SPD 4919C Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: 4921 B, 4926 D Neuorientierung der Politik für Altere Dr. Gisela Babel F.D.P Menschen — grundlegende Reform des Annelie Buntenbach BÜNDNIS 90/DIE Heimgesetzes (Drucksache 13/ 1322) GRÜNEN 4924 A CDU/CSU 4892 D SPD 4926 A Barbara Stolterfoht, Ministerin (Hessen) 4893 D Ulrich Irmer F.D.P 4927 B Irmingard Schewe-Gerigk BÜNDNIS 90/ Dr. Heidi Knake-Werner PDS 4927 C DIE GRÜNEN 4895 A Julius Louven CDU/CSU 4929 A Barbara Imhof SPD 4896B Renate Rennebach SPD 4930 B Uwe Lühr F.D.P 4897D Rainer Haungs CDU/CSU 4932 B Heidemarie Lüth PDS 4898C, 4903 D Dr. Gisela Babel F.D.P 4934 D Erika Reinhardt CDU/CSU 4899B Peter Dreßen SPD 4935 D Christa Lörcher SPD 4900 C Leyla Onur SPD 4936 C , Parl. Staatssekretärin Dr. Norbert Blüm CDU/CSU . . 4936D, 4937B BMFSFJ 4902A, 4904B Ernst Hinsken CDU/CSU 4939 A Tagesordnungspunkt 7: Dr. Norbert Blüm, Bundesminister BMA 4939 C Erste Beratung des von der Bundesre- Konrad Gilges SPD 4939 D gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Einordnung des Rechts Zusatztagesordnungspunkt 5: der gesetzlichen Unfallversicherung in Beschlußempfehlung und Bericht des das Sozialgesetzbuch (Unfallversiche- Ausschusses für Wahlprüfung, Immuni- rungs-Einordnungsgesetz) (Drucksa- tät und Geschäftsordnung zu dem chen 13/2204, 13/2333) Antrag der Fraktion der SPD: Einset- Rudolf Kraus, Parl. Staatssekretär BMA . 4904 C zung eines Untersuchungsausschusses Dr. Gisela Babel F.D.P 4905A (Drucksachen 13/1833, 13/2483) Konrad Gilges SPD 4906 B Friedhelm Julius Beucher SPD 4940 B Siegfried Hornung CDU/CSU . . . 4907 A Joachim Gres CDU/CSU 4941 A CDU/CSU 4907D BÜNDNIS 90/DIE GRÜ NEN 4942 C Annelie Buntenbach BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 4910C Dr. Klaus Röhl F.D.P 4943 A Dr. Gisela Babel F.D.P 4911D Wolfgang Bierstedt PDS 4943 C Peter Dreßen SPD 4913 A Volker Neumann (Bramsche) SPD . . . 4944 B Petra Bläss PDS 4913B Tagesordnungspunkt 10: Erika Lotz SPD 4914 A a) Erste Beratung des von der Bundesre- Tagesordnungspunkt 8: gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Übereinkommen vom a) Erste Beratung des von der Bundesre- 29. Juni 1994 über die Zusammenarbeit gierung eingebrachten Entwurfs eines zum Schutz und zur verträglichen Nut- Gesetzes über zwingende Arbeitsbe- - zung der Donau (Donauschutzüberein- dingungen bei grenzüberschreitenden kommen) (Drucksache 13/1884) Dienstleistungen (Arbeitnehmer-Ent- sendegesetz) (Drucksache 13/2414) b) Antrag der Abgeordneten Horst Ku- batschka, Brunhilde Irber, weiterer Ab- b) Erste Beratung des von den Abgeord- geordneter und der Fraktion der SPD: neten Ottmar Schreiner, Hans Büttner Ökologisch verantwortlicher Ausbau (Ingolstadt), weiteren Abgeordneten zwischen Straubing und der Donau und der Fraktion der SPD eingebrach- Vilshofen (Drucksache 13/1390) ten Entwurfs eines Gesetzes zur An- gleichung der Arbeitsbedingungen bei c) Antrag der Abgeordneten Dietmar der Entsendung von Arbeitnehmern Schütz (Oldenburg), Arne Fuhrmann, (Entsendegesetz) (Drucksache 13/2418) weiterer Abgeordneter und der Frak- Ökologisch und ökono- Dr. Norbert Blüm, Bundesminister BMA . 4915D tion der SPD: misch verantwortbarer Ausbau von Hans Büttner (Ingolstadt) SPD 4917B, 4933 B Elbe, Havel und Saale (Drucksache Konrad Gilges SPD 4917D, 4923 B 13/1331) Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1995 V in Verbindung mit Tagesordnungspunkt 12: Antrag der Abgeordneten Zusatztagesordnungspunkt 6: (Pforzheim), , weiterer Antrag der Abgeordneten Albert Abgeordneter und der Fraktion der wei- Schmidt (Hitzhofen), Halo Saibold, SPD: Beitrag der Bundesrepublik terer Abgeordneter und der Fraktion Deutschland für das Berufsbildungs- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Erhalt der projekt in Guernica, Baskenland freifliegenden Donau zwischen Strau- (Drucksache 13/2366) bing und Vilshofen (Drucksache 13/ Ute Vogt (Pforzheim) SPD 4970 A 2435) Dr. (München) CDU/CSU . 4971 B Ulrich Klinkert, Parl. Staatssekretär BMU 4946 B Dr. Helmut Lippelt BÜNDNIS 90/DIE Brunhilde Irber SPD 4947 B GRÜNEN 4972 B Ernst Hinsken CDU/CSU 4948B, 4957C, 4957 D F.D.P. 4973 B CDU/CSU 4949 B Helmut Schäfer, Staatsminister AA . . 4974 B Halo Saibold BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 4950 D Nächste Sitzung 4975 D Renate Blank CDU/CSU 4951 D

Lisa Peters F D P. 49528 Anlage 1 Halo Saibold BÜNDNIS 90/DIE GRÜ NEN 4954A, 4957 A Liste der entschuldigten Abgeordneten . 4977* A Eva Bulling-Schröter PDS 4954 C Anlage 2 Ernst Hinsken CDU/CSU 4955 D Horst Kubatschka SPD 4957 B Überwachung indonesischer Regimegeg- ner durch den deutschen bzw. indonesi- Bartholomäus Kalb CDU/CSU 4960 A schen Geheimdienst Horst Kubatschka SPD 4960B MdlAnfr 16 - Drs 13/2407 - Dr. Klaus Rose CDU/CSU 4960 D Manfred Such BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN Tagesordnungspunkt 11: SchrAntw StMin Helmut Schäfer AA . . 4977* D Antrag der Abgeordneten Franziska Eichstädt-Bohlig und der Fraktion Anlage 3 BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Haupt- stadtverkehrsplanung Berlin, Bundes- Entschädigung der tschechischen Opfer politisches Stoppsignal für den Lehrter nationalsozialistischen Unrechts; Rückga- Zentralbahnhof und den Tiergarten be der konfiszierten Vermögen der Sude- (Drucksache 13/365) -tunnel tendeutschen MdlAnfr 17, 18 - Drs 13/2407 - Franziska Eichstädt-Bohlig BÜNDNIS 90/ Dr. Egon Jüttner CDU/CSU DIE GRÜNEN 4962 C SchrAntw StMin Helmut Schäfer AA . . 4978* A CDU/CSU 4963 D Siegfried Scheffler SPD 4965 A Anlage 4 Franziska Eichstädt-Bohlig BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 4966 C Zu Protokoll gegebene Rede zu Tagesord- nungspunkt 12 (Antrag: Beitrag der Bun- Dr. Klaus Röhl F.D.P - 4967 B desrepublik Deutschland für das Berufs- Dr. Dagmar Enkelmann PDS 4968 B bildungsprojekt in Guernica, Baskenland) Johannes Nitsch, Parl. Staatssekretär BMV 4969 A PDS 4978* B

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58. Sitzung

Bonn, Donnerstag, den 28. September 1995

Beginn: 9.00 Uhr

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Liebe Kolleginnen 7. Beratung des Antrags der Abgeordneten Andrea Lede- und Kollegen, ich wünsche Ihnen einen guten Mor- rer, Gerhard Zwerenz, Heinrich Graf von Einsiedel, wei- terer Abgeordneter und der Gruppe der PDS: Neue eu- gen und eröffne die Sitzung. ropäische Friedensordnung und deutsch-französische Nuklearkooperation - Drucksache 13/2439 - Die Fraktion der F.D.P. teilt mit, daß der Abgeord- 8. Beratung des Antrags der Fraktion der SPD: Keine nete Dr. auf seine Mitgliedschaft Atomwaffentests durch China und Frankreich - Druck- im Regulierungsrat beim Bundesministerium für Post sache 13/2443 - und Telekommunikation verzichtet hat. Der Kollege 9. Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Antje Voll- Dr. wird daher als neues ordentliches mer, Oswald Metzger und der Fraktion BÜNDNIS 90/ Mitglied vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstan- DIE GRÜNEN: Verwaltungsreform ist Staatsreform - den? - Kein Widerspruch. Damit ist der Kollege Drucksache 13/2464 - Dr. Max Stadler als ordentliches Mitglied des Regu- Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, lierungsrates benannt. soweit erforderlich, abgewichen werden. Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbun- Darüber hinaus ist vereinbart worden, den Tages- dene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste ordnungspunkt 3, Regierungserklärung zur 4. Welt- vorliegenden Punkte zu erweitern: frauenkonferenz in Peking, zu dem ich gleich noch 1. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion BÜNDNIS 90/ etwas sagen werde, und den Tagesordnungspunkt 9, DIE GRÜNEN: Aktuelle Schwierigkeiten des europäi- Kindergesundheit und Umweltbelastungen, abzuset- schen Einigungsprozesses und die Haltung der Bundes- zen. Außerdem mache ich auf Änderungen von Aus- regierung (in der 57. Sitzung am 27. September 1995 schußüberweisungen im Anhang zur Zusatzpunktli- bereits erledigt) ste aufmerksam: 2. Beratung des Antrags der Gruppe der PDS: Sicherung Der in der 56. Sitzung des Deutschen Bundestages am der Aufgaben des Bundessozialhilfegesetzes bis zur 22. September 1995 überwiesene nachfolgende Antrag soll Einführung einer bedarfsorientierten sozialen Grundsi- nachträglich dem Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen cherung - Drucksache 13/2438 - und Jugend zur Mitberatung überwiesen werden. 3. Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren Antrag der Gruppe der PDS: Arbeitsmarktpolitische So- (Ergänzung zu TOP 17) fortmaßnahmen für 1996 - Drucksache 13/2263 - Beratung des Antrags der Abgeordneten Margareta Bei dem in der 55. Sitzung des Deutschen Bundestages Wolf (Frankfurt), Simone Probst, Christine Scheel und am 21. September 1995 überwiesenen nachfolgenden Ge- der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Kleine und setzentwurf entfällt die Mitberatung des Ausschusses für mittlere Unternehmen stärken - Nachhaltiges Wirt- Raumordnung, Bauwesen und Städtebau: schaften fördern - Drucksache 13/2436 - Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU, SPD und 4. Weitere abschließende Beratungen ohne Aussprache F.D.P.: Dienstrechtliches Begleitgesetz im Zusammenhang (Ergänzung zu TOP 18) mit dem Beschluß des Deutschen Bundestages vom 20. Juni 1991 zur Vollendung der Einheit Deutschlands (Dienst- Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des rechtliches Begleitgesetz - DBeglG) - Drucksache 13/2377 - Ausschusses für Wirtschaft (9. Ausschuß) zu der Verord- nung der Bundesregierung: Verordnung zur Verlänge- Sind Sie damit und mit den Änderungen der Ta- rung des Investitionsvorranggesetzes - Drucksachen gesordnung einverstanden? - Das ist der Fall. Wir 13/2242, 13/2275 Nr. 2, 13/2447 - verfahren so. 5. Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Ge- Bevor ich den ersten Tagesordnungspunkt aufrufe, schäftsordnung (1. Ausschuß) zu dem Antrag der Frak- möchte ich Ihnen noch folgendes mitteilen. Nach den tion der SPD: Einsetzung eines Untersuchungsausschus- Beschlüssen zur Parlamentsreform wird heute erst- ses - Drucksachen 13/1833, 13/ ... - mals die Donnerstags-Debatte durchgeführt. Wir 6. Beratung des Antrags der Abgeordneten Albe rt Schmidt hatten uns vorgenommen, zu Beginn der heutigen (Hitzhofen), Halo Saibold, Gila Altmann (Aurich), weite- Donnerstags-Debatte nach einer Regierungserklä- rer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Erhalt der freifließenden Donau zwischen rung eine ausführliche Aussprache zu den Ergebnis- Straubing und Vilshofen - Drucksache 13/2435 - sen der 4. Weltfrauenkonferenz in Peking und deren 4820 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1995

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth Bedeutung für Deutschland durchzuführen. Mit Überweisungsvorschlag: Schreiben vom 27. September 1995 hat die Bundesre- Ausschuß für Gesundheit (federführend) gierung mitgeteilt, daß Frau Bundesministerin Nolte, Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung die, wie Sie wissen, an dieser Konferenz teilgenom- Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend men hat, erkrankt ist. Deshalb haben wir dieses b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Thema von der heutigen Tagesordnung abgesetzt. Brigitte Lange, Klaus Kirschner, Rudolf Dreßler, weiterer Abgeordneter und der (Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Gute Fraktion der SPD Besserung!) Reform des Sozialhilferechts - Ja, von hier aus sollen die besten Genesungswün- sche an die Bundesministerin Nolte ergehen. - Drucksache 13/2442 — Überweisungsvorschlag: (Beifall im ganzen Hause - Abg. Herbert Ausschuß für Gesundheit (federführend) Lattmann [CDU/CSU] meldet sich zu Wort) Innenausschuß Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung - Herr Lattmann, ist es zur Tagesordnung? - Bitte. Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Herbert Lattmann (CDU/CSU): Frau Präsidentin, c) Beratung des Antrags der Abgeordneten nachdem heute verschiedene Änderungen unserer Andrea Fischer (Berlin), Marieluise Beck Arbeitsweise in Kraft treten, möchte ich, weil ich das (Bremen), , weiterer Ab- aus der Tagesordnung nicht erkennen kann, fragen, geordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ wann denn die Mittagspause vorgesehen ist. DIE GRÜNEN (Heiterkeit) Entlastung und Weiterentwicklung der So- Ich möchte jedenfalls nicht erleben, daß ich S trafe zialhilfe bezahlen muß, weil ein besonders abgeordneten- - Drucksache 13/2437 — freundlicher Sitzungsleiter wie der Kollege Hirsch, Überweisungsvorschlag: dem die Präsenz möglicherweise nicht ausreicht, Ausschuß für Gesundheit (federführend) eine namentliche Abstimmung durchführt, während Innenausschuß ich beim Essen bin. Ausschuß für Arbeit und SozialordnungAusschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Da in den letzten Tagen so viele Vergleiche ange- stellt wurden, möchte ich bei dieser Gelegenheit ZP2 Beratung des Antrags der Gruppe der PDS doch einmal sagen: Es gibt wohl keinen Arbeitneh- Sicherung der Aufgaben des Bundessozialhil- mer in Deutschland, der so lange arbeitet wie wir. fegesetzes bis zur Einführung einer bedarfs- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU orientierten sozialen Grundsicherung und der SPD) - Drucksache 13/2438 — Der Stundenlohn, den wir bekommen, ist nach einer Überweisungsvorschlag: Aussage des Gewerkschaftsvorsitzenden Issen so, Ausschuß für Gesundheit (federführend) daß sich kein Facharbeiter dafür hergeben würde. Ei- Innenausschuß Finanzausschuß nen 16-Stunden-Tag ohne Mittagspause würde sich Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung kein Arbeitnehmer in Deutschland gefallen lassen, Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend und - ich bin es langsam leid, den Deppen der Na- Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau tion zu spielen. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU für die gemeinsame Aussprache zwei Stunden vorge- und der SPD - Widerspruch bei der SPD - sehen. - Ich höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist Dr. Dagmar Enkelmann [PDS]: Uns kom es so beschlossen. men die Tränen!) Ich eröffne die Aussprache mit dem Bundesmi- nister für Gesundheit, Herrn Seehofer. - Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Lattmann, zu Ihrer Frage: Heute ist eine Mittagspause nicht vorge- Horst Seehofer, Bundesminister für Gesundheit: sehen. Wir haben uns bis zum Ende der Kernzeit um Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und 13.40 Uhr eine möglichst große Präsenz gewünscht Herren! Die Sozialhilfe bleibt neben den Sozialversi- und dies auch miteinander vereinbart. Wir werden cherungen und den Versorgungssystemen der Bun- im Ältestenrat erörtern, ob wir zukünftig eine Mit- desrepublik Deutschland die dritte Säule des sozia- tagspause einführen. len Netzes. Es bleibt bei einem Rechtsanspruch auf Sozialhilfe, einer großen sozialen Errungenschaft - Ich rufe die Tagesordnungspunkte 4 a bis 4 c sowie übrigens Anfang der 60er Jahre von der CDU/CSU Zusatzpunkt 2 auf: eingeführt. 4. a) Erste Beratung des von der Bundesregie- (Beifall bei der CDU/CSU) rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- Es wird, was auch immer in der Öffentlichkeit be- zes zur Reform des Sozialhilferechts hauptet wird, keine linearen Kürzungen geben. Das - Drucksache 13/2440 - Bedarfsdeckungsprinzip bleibt erhalten. Die Höhe Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1995 4821

Bundesminister Horst Seehofer der Sozialhilfe bleibt auch künftig so bemessen, daß Das heißt, meine Damen und Herren, auch Sie sind damit ein menschenwürdiges Leben ermöglicht wird. der Auffassung, daß Sozialhilfe gerade Armut verhin- Das Leistungsniveau der Sozialhilfe geht über das dert und nicht Armut schafft. physische Existenzminimum hinaus und ermöglicht auch künftig die Teilhabe am sozialen, kulturellen (Hans Klein [München] [CDU/CSU]: So ist und gesellschaftlichen Leben. es!) Meine Damen und Herren, ich möchte auch hier Ich möchte einige Beispiele nennen, die unsere noch einmal die Debatte über die Sozialhilfe zum An- These, daß dies eine Reform mit Augenmaß ist, laß nehmen, um vor dem falschen Schluß zu warnen, rechtfertigt. daß aus steigenden Sozialhilfeempfängerzahlen oder Erstens. Wer wi ll denn in Deutschland etwas dage- steigenden Sozialhilfeausgaben auf die angebliche gen haben, daß die sozialhilferechtlichen Bedarfs- neue Armut in Deutschland geschlossen werden sätze in den nächsten Jahren nicht stärker steigen als kann. Ein Drittel aller Sozialhilfeempfänger, ein Drit- die Nettolöhne der arbeitenden Bevölkerung in der tel aller Empfänger von Hilfe zum Lebensunterhalt, sind Zuwanderer in die Bundesrepublik Deutschland, Bundesrepublik Deutschland? sind Bürgerkriegsflüchtlinge, Asylbewerber, Auslän- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) der, die in die Bundesrepublik Deutschland gekom- men sind. Die Tatsache, daß wegen dieser Zuwande- Wer möchte etwas dagegen haben vor dem Hinter- rung die Zahl der Empfänger von Sozialhilfe gestie- grund, daß die Sozialhilferegelsätze in den letzten gen ist, ist Kennzeichen der Hilfsbereitschaft in der zehn Jahren um beinahe 50 % und die Nettoeinkom- deutschen Bevölkerung und nicht Kennzeichen einer men der arbeitenden Bevölkerung um 35 % gestie- neuen Armut in der Bundesrepublik Deutschland. gen sind? Meine Damen und Herren, wenn wir die Akzeptanz der Sozialhilfe in der Bevölkerung auf- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) rechterhalten wollen, müssen wir dafür Sorge tragen, Zwei Drittel aller Sozialhilfeausgaben sind Hilfen daß die Sozialhilferegelsätze nicht stärker steigen als in Einrichtungen. Die Kosten in diesen Einrichtun- die Einkommen der arbeitenden Bevölkerung in der gen betragen wegen der hohen Qualität, wegen der Bundesrepublik Deutschland. umfassenden Versorgung monatlich 5 000 DM und (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) mehr. Wer eine Einrichtung in Anspruch nimmt und zum Sozialamt geht, muß dies nicht wegen Einkom- Wenn wir das nicht tun, müßten im nächsten Jahr mensarmut machen, sondern wegen der Höhe der auf Grund der Lebenshaltungskosten in den letzten Kosten in den Heimen. Man darf die steigenden Aus- Jahren die Sozialhilferegelsätze ab 1. Juli 1996 um gaben für Hilfen in Behindertenwerkstätten und für 8 % gesteigert werden, während die Renten nächstes Hilfen in Pflegeeinrichtungen nicht gegen die Politik Jahr wahrscheinlich um 1 % steigen. Wer eine solche ummünzen, daß dies Ausdruck einer neuen Armut in Entwicklung will, soll es hier sagen. der Bundesrepublik Deutschl and sei. Lieber Kollege Dreßler, bis vor einem halben Jahr (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) waren wir in diesem Punkt völlig einer Meinung. Sie Meine Damen und Herren, die abenteuerlichste De- haben im „Focus" Nr. 50 von 1994 folgendes ausge- finition stammt von der nationalen Armutskonferenz: führt - ich kann das nur voll unterstreichen -: Weil es Arm seien diejenigen Menschen in der Bundesrepu- bei den Nettoeinkommen in den nächsten 10 Jahren blik Deutschland, deren Einkommen das Durch- keine Zuwächse geben wird, kann die Sozialhilfe schnittseinkommen um 50 % unterschreitet. Nach die- nicht immer weiter nach dem Bedarfsdeckungsprin- ser famosen Defini tion von Armut existierte in all den zip steigen. Es drängt sich auf, die Entwicklung der Ländern, in denen es ein niedriges Einkommensniveau Sozialhilfe an den Nettolohn zu koppeln. und keine Einkommensstreuung gibt, keine Armut. Wir folgen nicht immer der SPD, aber wenn so et- Nach dieser Defini ti on sind wir in Deutschland arm, was Vernünftiges zum Ausdruck gebracht wird, ma- und in Albanien und Kuba gibt es keine Armut. Des- chen wir das zu unserem eigenen Vorschlag. halb darf eine solche Definition nicht die Grundlage für die Armut in der Bundesrepublik Deutschl and sein. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) und der F.D.P.) Meine Damen und Herren, Sozialhilfe schafft nicht Armut, Sozialhilfe bekämpft und verhindert Armut. Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Gestatten Sie eine Deshalb wollen wir das Sozialhilferecht aufrechter- Zwischenfrage des Abgeordneten Wolf? halten. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. - Horst Seehofer, Bundesminister für Gesundheit: Widerspruch bei der SPD) Nein. Ganz offensichtlich sieht auch die SPD das so. (Beifall und Lachen bei Abgeordneten der Denn in dem Antrag, den sie heute vorlegt, heißt es CDU/CSU) wörtlich: Zweitens. Die Sozialhilfeämter werden immer Zur Verhinderung von Armut und Ausgrenzung stärker zur Vorschußkasse der Na tion. 300 000 So- steht das BSHG nicht zur Disposi tion. zialhilfeempfänger wären nicht nötig, wenn andere 4822 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1995 Bundesminister Horst Seehofer Sozialsysteme, insbesondere die Arbeitslosenversi- Ein Sozialhilfeempfänger, der beim Arbeitsamt cherung, sofort nach der Antragstellung, wenn der nicht mehr leistungsberechtigt ist, steht nicht im Mit- Antrag dem Grunde nach begründet ist, mit Vor- telpunkt der Vermittlungsbemühungen des Arbeits- schüssen und schneller arbeiten würden. amtes. Das ist ganz verständlich, weil angesichts der Knappheit des Gutes Arbeitsplatz seitens der Ar- Wenn ein Antrag auf Arbeitslosengeld oder Ar- beitsämter natürlich in erster Linie diejenigen Men- beitslosenhilfe gestellt wird, haben wir, da die Bear- schen vermittelt werden, die Leistungsbezieher sind beitung des Antrags einige Zeit dauert, die famose und die im Falle einer Vermittlung den Haushalt des Situation, daß der Betreffende, wenn er seinen Le- Arbeitsamtes entlasten. Das ist die Lebensrealität. bensunterhalt nicht selber sicherstellen kann, einen Deshalb haben wir mit dem Problem zu kämpfen, Sozialhilfeantrag stellen muß. Zwei Behörden arbei- daß Sozialhilfeempfänger, die nicht mehr beim Ar- ten parallel, ermitteln den Bedarf, das Einkommen. beitsamt leistungsberechtigt sind, aus dem Blickfeld Die ganze Bürokratie läuft, damit nach fünf oder der Vermittlungsbemühungen verschwinden. sechs Monaten das Sozialamt vom Arbeitsamt, das dann so weit ist, die ausgezahlte Sozialhilfe erstattet Wir dürfen diese Menschen nicht allein lassen; ir- bekommt. gend jemand muß sich um sie kümmern. Das sind nach dem Subsidiaritätsprinzip des Sozialhilferechts Meine Damen und Herren, diese Vorschußkassen- die Kommunen. funktion der Sozialämter muß beendet werden. Das nutzt den Menschen und schafft weniger Bürokratie. (Lachen bei Abgeordneten der SPD)

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge Wir können doch nicht sagen, daß wir, weil die Ar- ordneten der F.D.P.) beitsämter sich nicht um sie kümmern wollen und die Kommunen ebenfalls ablehnen, es zu tun, diese Drittens. Wer möchte etwas dagegen haben, daß mMenschen allein lassen. Nein, wir müssen die Ko die Pflegesätze in den Einrichtungen - sie machen munen über die Hilfe zur Arbeit stärker in die Ver- zwei Drittel der Sozialhilfeausgaben aus - in den antwortung für diese Menschen einbeziehen. nächsten Jahren nicht stärker steigen als die Brutto- löhne in der Bundesrepublik Deutschland? Den Maß- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge stab Bruttolöhne haben wir gewählt, damit die Per- ordneten der F.D.P. - Widerspruch bei der sonalkosten in diesen Einrichtungen einschließlich SPD) der Erhöhungen gewährleistet sind. Es gibt 2,5 Millionen Sozialhilfeempfänger, die von Wir haben das gleiche Prinzip in der Gesundheits- der Sozialhilfe eine Hilfe zum Lebensunterhalt be- reform für die Krankenhauspolitik gewählt. Vor drei kommen. Es sind schon 2 Millionen Menschen aus Jahren wurde prognostiziert, daß dies die deutsche diesem Empfängerkreis herausgerechnet worden, Krankenhauslandschaft zerschlagen und die hohe die aus unterschiedlichen Gründen - gesundheitli- Qualität der Krankenhausversorgung in der Bundes- che Handicaps, Behinderung, fortgeschrittenes Alter, republik Deutschland zerstören würde. Das Gegen- der Status als alleinerziehende Mutter - von vornher- teil ist passiert: Noch nie standen die Krankenhäuser ein für Hilfe zur Arbeit nicht in Frage kommen. Des- wirtschaftlich und finanziell so gut da wie seit dieser halb sage ich: Viele Sozialverbände sollen endlich Gesundheitsreform. 90 % der Krankenhäuser, die in damit aufhören, offensichtliche Unwahrheiten in der roten Zahlen waren, sind jetzt in schwarzen Zahlen Bevölkerung zu verbreiten. Nie und nimmer hatten und haben Gewinne. Deshalb sind all die Anfeindun- wir jemals die Absicht, einer alleinerziehenden Mut- gen, die Pflegesatzdeckelung führe in den Einrich- ter zuzumuten, über das Sozialamt zur Arbeit ge- tungen dazu, daß für Behinderte oder Pflegebedürf- zwungen zu werden. Die Kindererziehung geht vor. tige nicht mehr das Notwendige getan werden Auch wenn es noch tausendmal behauptet wird, ent- könne, falsch. gegne ich: Wir haben nicht vor, alleinerziehende Wir können es uns nicht mehr leisten, daß Jahr für Mütter über die Sozialhilfe zur Arbeit zu zwingen. Jahr die Pflegesätze in Einrichtungen um 10 % oder (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge 15 % steigen. - ordneten der F.D.P. - Zuruf vom BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der CDU/CSU) DIE GRÜNEN: Das hat doch niemand be hauptet! - Klaus Kirschner [SPD]: Wer be Deshalb war es höchste Zeit, daß wir die Pflegesätze hauptet denn das?) an die Bruttolohnentwicklung in der Bundesrepublik Deutschland ankoppeln. - Wer das behauptet, Herr Kirschner? An die 80 Wohlfahrtsorganisationen haben in der letzten Der vierte Punkt, einer der am meisten umstritte- Woche wieder bewußt die Unwahrheit verbreitet, in- nen, ist die Hilfe zur Arbeit. Es geht hier um Men- dem sie gesagt haben: Der Seehofer hat vor, daß al- schen, um die sich sonst kein anderes System in der leinerziehende Frauen vermittelt werden, daß bei Bundesrepublik Deutschland kümmert, um Sozialhil- Hilfen für die Kinder gekürzt wird, daß Familien be- feempfänger, die bestimmte Handicaps haben. Sie straft werden. werden deshalb von anderen Sozialsystemen auch in bezug auf eine Vermittlung nicht erfaßt, weil sie Meine Damen und Herren, ich versichere hier keine Hilfeempfänger mehr sind. Wir müssen hier noch einmal vor der Öffentlichkeit: Kein Mensch hat einfach der Lebensrealität ins Auge sehen. vor, die Sozialhilfesätze für Kinder zu kürzen, kein Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1995 4823 Bundesminister Horst Seehofer Mensch hat vor, den Familien bei der Sozialhilfe et- res, als das, was schon heute möglich ist, noch zu ver- was wegzunehmen, und kein Mensch hat vor, allein- feinern und zu verbessern. erziehenden Müttern die Sozialhilfe zu versagen. Das ist die Realität. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. - Ihre zweite Frage zur Arbeitslosenhilfe: Herr Kol- Klaus Kirschner [SPD]: Was ist mit dem lege Büttner, ich würde mich nicht nach den vielen Lohnabstandsgebot?) Falschmeldungen richten. Die Reform der Arbeitslo- senhilfe, die wir vorhaben, verwirklicht den Grund- satz: Es ist besser, Arbeit statt Arbeitslosenhilfe zu Herr Minister, ge- Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: bezahlen. Es wird nicht die Arbeitslosenhilfe ge- statten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten kürzt, sondern es werden die arbeitsmarktpolitischen Büttner? Maßnahmen für die Arbeitslosenhilfeempfänger so verbessert, daß ihnen Arbeit vermittelt werden kann. Horst Seehofer, Bundesminister für Gesundheit: Ja. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Herr Kollege Büttner, daß die originäre Arbeitslo- Hans Büttner (Ingolstadt) (SPD): Herr Minister See- senhilfe, die heute gewährt wird, ohne daß auch nur hofer, zwei kurze Anmerkungen bzw. Fragen. ein einziger Beitrag in die Arbeitslosenversicherung (Zurufe von der CDU/CSU: Fragen!) gezahlt wurde, abgeschafft wird, halte ich für richtig. Wir antworten darauf so, daß die dadurch möglicher- weise entstehende Belastung für die Kommunen Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Fragen. durch eine Gegenfinanzierung, die wir gleichzeitig vorlegen, ausgeglichen wird. Wir machen keinen Hans Büttner (Ingolstadt) (SPD): Erstens. Ihnen ist Verschiebebahnhof zwischen Bund und Kommunen, bekannt, daß die Zunahme der Zahl der Sozialhilfe- wie das von Ihnen immer behauptet wird. empfänger in erster Linie damit zu tun hat, daß diese Bundesregierung Arbeitslosenhilfeempfänger aus (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) der Arbeitslosenversicherung hinausgedrängt hat Wenn es nur gelänge, aus dem Personenkreis von und dies in einem neuen Gesetzentwurf nochmals 500 000 Sozialhilfeempfängern, die ich genannt habe tun will? und die für die Vermittlungen in Frage kommen, (Beifall bei der SPD) 100 000 in den ersten oder zweiten Arbeitsmarkt zu bringen, dann würde das, auf den Freistaat Bayern Der Bund tut also nichts anderes, als sich aus der bezogen, bedeuten, daß eine kreisfreie Stadt oder ein Verantwortung zu stehlen. Ich frage Sie: Ist das nicht Landkreis im Schnitt 66 Sozialhilfeempfänger zu ver- zutreffend? mitteln hätte. Mir kann beim besten Willen keiner sa- gen, daß wir mit diesem Projekt Sozialhilfeämter zu Horst Seehofer, Bundesminister für Gesundheit: Arbeitsämtern machen. Ich glaube, eine solche Grö- Nein. ßenordnung in Flächenstaaten ist eine zumutbare Aufgabe der Kommunen für Menschen, die anson- Hans Büttner (Ingolstadt) (SPD): Meine zweite sten keine Hilfe mehr von anderen Sozialsystemen Frage bezieht sich auf Ihre gerade gemachte Aus- erfahren. sage in bezug auf die Zumutbarkeit einer Arbeit. (Widerspruch bei der SPD) Sind nicht auch schon nach dem jetzigen Gesetz So- zialhilfeempfänger zur Arbeit verpflichtet? Können Ich wiederhole: 66 Menschen pro Stadt oder Land- nicht auch schon nach dem jetzigen Gesetz Kür- kreis in einem Flächenstaat wie Bayern. zungen vorgenommen werden? Werden diese nicht auch schon vorgenommen? Zwingen Sie nicht durch Viele Kommunen haben in den letzten Jahren Vor- das neue Gesetz, das eine fünfundzwanzigprozen- bildliches auf diesem Gebiet geleistet. Wir haben tige Kürzung vorschreibt und gleichzeitig zum Inhalt nach einer Umfrage des Deutschen Städtetages etwa hat, es solle vermieden werden, daß Angehörige da- 100 000 Fälle, die auf diesen Sektoren vermittelt wur- von betroffen werden, die Sachbearbeiter hinsicht- den, entweder in den normalen Arbeitsmarkt oder in lich der Sozialhilfe zu gesetzeswidrigen oder schwie- gemeinnützige Arbeiten. Unser Bestreben ist, aus rigen Entscheidungen, die sie gar nicht treffen kön- den 100 000 vielleicht das Doppelte, vielleicht sogar nen, einfach auf Grund der Tatsache, daß Sie hier ein 250 000, zu machen. Wenn uns dies gelänge, wäre es schlechtes Gesetz vorlegen? gemeinsam mit dem Langzeitarbeitsprogramm, das die Bundesregierung aufgelegt hat, immerhin eine zusätzliche Perspektive für 350 000 Menschen in der Horst Seehofer, Bundesminister für Gesundheit: Bundesrepublik Deutschland. Es kann doch nicht die Lieber Kollege Büttner, eine Diskussion in den letz- einzige Perspektive für einen 27jährigen Sozialhilfe- ten Wochen bis zu Ihrer Frage habe ich nie verstan- empfänger sein, daß er für den Rest seines Lebens den. Wenn schon heute Möglichkeiten im Gesetz ste- Sozialhilfe bezieht. Es ist eine gesamtgesellschaftli- hen und wir diese Möglichkeiten als Angebot für die che Verpflichtung, durch diese Maßnahmen wieder Kommunen erweitern, dann verstehe ich nicht, wie eine Brücke zum Arbeitsmarkt zu bauen. etwas, was schon heute möglich ist, von Ihnen immer als unsozial eingestuft wird. Wir machen nichts ande- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) 4824 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1995 Bundesminister Horst Seehofer Ich verstehe auch gar nicht, wieso die Kommunen der anderen Seite gerechtfertigt, ja sogar zwingend, dadurch zusätzlich finanziell belastet sein sollten. daß für den Fall einer Verweigerung von zumutbarer Wenn ein Arbeitgeber zwei Jahre lang Lohnkosten- Arbeit die Sozialhilfe künftig um 25 % gekürzt wird. zuschüsse in Höhe der Sozialhilfe vom Sozialamt er- Das erfordert die Gerechtigkeit in unserem Lande. hält und deshalb die Sozialhilfe entfällt, dann ist doch das Sozialamt nicht zusätzlich belastet. Viel- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) mehr wird die Sozialhilfe, die normalerweise in zwei Meine Damen und Herren, dazu ein Zitat von Ul- Jahren zu leisten gewesen wäre, genommen, um ei- rich Klose (SPD): nem Arbeitgeber einen Lohnkostenzuschuß oder um- gekehrt dem Arbeitnehmer einen Einarbeitungszu- Daß soziale Rechte, für die Sozialdemokraten schuß zu zahlen, wenn die Höhe des Stundenlohnes jahrzehntelang gekämpft haben, in Deutschland ein Hindernis ist, um eine Brücke zum Arbeitsmarkt heute vielfach mißbraucht werden, daß es inzwi- zu schlagen. schen Sozialhilfeempfänger in der dritten Gene- ration gibt, daß Sozialhilfe plus Schwarzarbeit Eine Qualifizierungsmaßnahme für einen Sozialhil- den Menschen heute vielfach besser ernährt als feempfänger wird eine Kommune naturgemäß nicht normale Erwerbsarbeit, auch diese Tatsachen las- für jemanden durchführen, der 53 Jahre alt ist und sen sich mit dem Hinweis auf Mißbrauch in ande- anschließend in den Vorruhestand gehen wird, son- ren Bereichen - zum Beispiel bei der Vergabe von dern für einen jüngeren Sozialhilfeempfänger. Alle Subventionen - bestenfalls relativieren, nicht Berechnungen, die wir von neutralen Instituten aber verdrängen. Es bleiben Tatsachen. durchführen ließen, haben ergeben, daß sich bei ei- ner Qualifizierungsmaßnahme die Sache für einen So Ulrich Klose in seinem Wahlkreis zu Sozialhilfe- Sozialhilfeträger schon nach wenigen Monaten rech- empfängern der dritten Generation. net, daß es für ihn günstiger ist, den Menschen wie- (Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: der Arbeit vermittelt zu haben, als jahrelang Sozial- Auch wieder „Focus"?) hilfe zu bezahlen. Wie bei allen Sozialsystemen so müssen wir auch (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) bei der Sozialhilfe auf der einen Seite darauf achten, daß wir den Menschen eine Hilfe für ein menschen- Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Minister, ge- würdiges Leben gewähren, auf der anderen Seite statten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten aber auf diejenigen achten, die mit ihrer Arbeit und Tauss? Leistung das hohe Sozialhilfeniveau von heute über- haupt erst ermöglichen. Nur dann haben wir die Ak- zeptanz für die Sozialhilfe von heute. Horst Seehofer, Bundesminister für Gesundheit: Ja. (Beifall bei der CDU/CSU) Es wird immer gefragt: Wo sind denn die Arbeits- Jörg Tauss (SPD): Herr Minister, ist Ihnen be- plätze? In der Bundesrepublik Deutschland erteilen kannt, daß in der von Ihnen zitierten Studie des Städ- wir jährlich zwischen 800 000 und 1 Million Arbeits- tetages die Städte sehr deutlich gemacht haben, daß erlaubnisse. Das sind alles Arbeitserlaubnisse an die Kommunen bereits am Ende ihrer Möglichkeiten Ausländer, weil manche Arbeitsplätze nicht mit deut- angelangt sind, weitere Vermittlungen zu leisten, schen Arbeitskräften zu besetzen sind. Das bet rifft z. B. die sozialen Dienstleistungsbereiche, Kranken- (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Sie haben häuser, die Gastronomie, das Handwerk, das Bauge- nicht zugehört!) werbe und die Landwirtschaft. Meine Damen und Herren, ich behaupte nicht, daß es möglich wäre, und eben aus diesem Grunde eine weitere Vermitt- diese 800 000 oder 1 Million Fälle Arbeitslosenhilfe- lung von Sozialhilfeempfängern in Tätigkeiten, die die Kommunen vermitteln, nicht möglich ist? empfänger oder Sozialhilfeempfänger umzupolen. Aber angesichts der hohen Arbeitslosigkeit bei uns im Lande muß es doch unsere gemeinsame Anstren- Horst Seehofer, Bundesminister für Gesundheit: gung sein, einen Teil dieser Arbeitserlaubnisse auf Wissen Sie, Herr Kollege, ich bin Ihnen für diese arbeitslose Sozialhilfeempfänger umzusteuern. Frage sehr dankbar. Es gibt in Berlin eine Sozialsena- torin, sie heißt Ingrid Stahmer. Wissen Sie, was Frau (Beifall bei der CDU/CSU) Stahmer zu diesem Teil des Gesetzentwurfes gesagt Wer möchte also etwas dagegen haben, daß die hat? Mehr Qualifizierung, Lohnkostenzuschuß und Regelsätze nicht stärker steigen als die Nettoeinkom- die Zusammenarbeit mit den Arbeitsämtern sind men der Arbeitnehmer? doch gut. Das hat sie im „Focus" Nr. 15/1995 gesagt. Frau Stahmer gehört der SPD an. Das beantwortet (Andrea Fischer [Berlin] [BÜNDNIS 90/DIE Ihre Frage. GRÜNEN]: Ich!) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P) Wer möchte etwas dagegen haben, daß die Pflege- sätze in den Einrichtungen genauso stark steigen wie Meine Damen und Herren, wir verpflichten die die Bruttolöhne? Wer möchte etwas dagegen haben, Städte und Gemeinden nicht. Aber wenn wir als An- daß wir einerseits die Hilfe zur Arbeit verstärken und gebot auf der einen Seite die Hilfe zur Arbeit verstär- andererseits eine Sanktion vorsehen, wenn zumut- ken, das Instrumentarium verbreitern, dann ist es auf bare Arbeit angeboten und abgelehnt wird? Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1995 4825

Bundesminister Horst Seehofer Wer kann als vernünftiger Mensch in dieser Repu- von 15 %. Ich glaube, es ist zwingend geboten, einen blik etwas dagegen haben, daß wir die Beschäfti- Unterschied zwischen der Höhe eines Erwerbsein- gung von Behinderten in Behindertenwerkstätten kommens und der Höhe eines Sozialeinkommens in künftig besser entlohnen, als dies in der Vergangen- der Bundesrepublik Deutschland zu machen. Wir heit der Fall war? Das ist doch ein sinnvolles Anlie- halten 15 % für richtig. gen. (Beifall bei der CDU/CSU) Die Verwirklichung der steuerlichen Freistellung des Existenzminimums und die höhere Familienför- Wer möchte etwas dagegen haben, daß wir in den derung, die wir hier gemeinsam beschlossen haben, neuen Ländern die Sozialhilfebestimmungen, die führen zur Einhaltung des Lohnabstandsgebots im noch nicht an die im Westen angeglichen sind, jetzt Westen der Republik von 15 %. Deshalb müssen die so angleichen, daß wir auf diesem Feld davon spre- Sozialverbände endlich einmal damit aufhören, den chen können, die soziale und die innere Einheit Eindruck zu vermitteln, das Lohnabstandsgebot von Deutschlands zu vollenden? Auch das ist beim Blin- 15 % würde im nächsten Jahr zu Kürzungen bei Lei- dengeld und beim Pflegegeld Bestandteil dieser So- stungen für Familien oder Kinder führen. Umgekehrt zialhilfereform, mit der wir die Niveaus zwischen Ost ist es richtig. Die Verstärkung der Familienförderung und West angleichen. Wer möchte eigentlich gegen in der Bundesrepublik Deutschland, die jetzt be- diese Reform mit Augenmaß etwas haben? schlossen worden ist, führt dazu, daß diese 15 % in der Bundesrepublik Deutschland eingehalten wer- Herr Kollege Büttner, Sie werden gleich wieder da- den. Überhaupt bin ich der Meinung, daß wir das von reden, daß die Bundesregierung die Lasten von Lohnabstandsgebot in der Bundesrepublik Deutsch- der Arbeitslosenhilfe in Richtung Sozialhilfe ver- land in erster Linie durch eine ordentliche Familien- schiebt. förderung zu gewährleisten haben. (Widerspruch bei der SPD) Meine Damen und Herren, der Gesetzentwurf ist fer- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) tig. In der Arbeitslosenhilfe werden dadurch Kosten eingespart, daß Arbeit bezahlt, nicht aber nur Ar- Was die neuen Länder bet rifft, so setzen wir das beitslosenhilfe gezahlt wird. Das ist das große Projekt Lohnabstandsgebot ohnehin erst 1999 in Kraft. Auch von Norbert Blüm. da wird der Eindruck vermittelt, ab dem nächsten Jahr komme der soziale Kahlschlag. Wir haben das (Lachen bei der SPD) Jahr 1999 gewählt, weil wir der Überzeugung sind, Die originäre Arbeitslosenhilfe, die fortfällt, wer- im zusammenwachsenden Deutschland würde es den wir gegenfinanzieren. Dazu befinden wir uns in- keinen Sinn machen, in einem wich tigen Bereich ein nerhalb der Regierung in sehr guten Gesprächen. in Ost und West unterschiedliches Recht 1996 in Kraft zu setzen. Da ist es besser, wir warten bis 1999 Natürlich bleibt es richtig, daß die wichtigste und ab und setzen es dann für Gesamtdeutschland in beste Maßnahme ist, Sozialhilfebedürftigkeit von Kraft, weil wir dann für Gesamtdeutschland eine ge- vornherein zu vermeiden. Da haben wir gerade in meinsame Einkommens- und Verbrauchsstatistik ha- den letzten Monaten vieles geleistet. Ab dem näch- ben. Soviel zum Lohnabstandsgebot. sten Jahr werden die Kommunen durch die Einfüh- rung der Pflegeversicherung brutto um 11 Milliarden Kein vernünftiger Mensch kann etwas dagegen DM entlastet, weil die Pflegeversicherung die Kosten haben. Ich möchte Ihnen ersparen, all die Äußerun- bei der Hilfe zur Pflege zum großen Teil übernimmt. gen aus der SPD zu zitieren, die dieses Lohnab- Wir haben gemeinsam die steuerliche Freistellung standsgebot im Kern begrüßen. des Existenzminimums und die Familienförderung beschlossen. Beides führt auch zu einer massiven Meine Damen und Herren, abschließend möchte Entlastung der Sozialhilfe. Gewerkschaften, Arbeit- ich folgendes sagen. Der Bund spa rt bei der Sozialhil- geber und Bundesregierung haben ein Programm für fereform keine Mark. Die Sozialhilfereform dient Langzeitarbeitslose mit 3 Milliarden DM beschlos- dazu, das Sozialhilferecht in sich gerechter zu gestal- sen, mit dem die Hoffnung und die Perspektive ver- ten, die Sozialhilfe auf Dauer finanziell zu stabilisie- bunden werden, daß wir 150 000 Arbeitslosenhilfe- ren und damit zu ermöglichen, daß wir Menschen, und Arbeitslosengeldempfänger wieder dem Arbeits- die Hilfe brauchen, auf hohem Niveau diese Hilfe markt zuführen können. Wir haben gesagt, daß wir auch gewähren. im Herbst des nächsten Jahres eine Wohngeldno- velle vorlegen. Die Sozialhilfereform dient auch dazu, die Länder und Kommunen in Zukunft finanziell zu entlasten. Diese Bundesregierung macht also durch ganz Wer die Sozialhilfereform verhindert, trägt dazu bei, konkrete Maßnahmen mit dem Grundsatz ernst: Ver- daß die Kommunen jährlich zwischen 2 und 3 Mil- meidung von Sozialhilfebedürftigkeit ist besser, als liarden DM mehr belastet sind. Eine Verhinderung Sozialhilfe zu bezahlen. dieser Reform würde bedeuten, daß die Kommunen Wer möchte etwas dagegen haben, daß wir das in den nächsten fünf Jahren bis zum Ende dieses Lohnabstandsgebot im Bundessozialhilfegesetz kla- Jahrhunderts in einer Größenordnung von 15 Mil rer definieren? Wir wollen zwischen den unteren-li Ein- arden DM mehr belastet werden. 15 Milliarden DM kommensgruppen und einem Sozialhilfehaushalt in waren die Ausgaben für die gesamte Sozialhilfe An- der Bundesrepublik Deutschland einen Lohnabstand fang der 80er Jahre. 4826 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1995

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Minister, ge- anderes mit uns vereinbart haben - einen Teil der La- statten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten sten für die Bürgerkriegsflüchtlinge und die Asylbe- Eichstädt-Bohlig? werber übernimmt. Dann sind wir bei 15 Milliarden DM.

Horst Seehofer, Bundesminister für Gesundheit: (Rudolf Scharping [SPD]: Das haben wir Ja. vereinbart!)

Franziska Eichstädt-Bohlig (BÜNDNIS 90/DIE Die Sozialdemokraten wollen, daß die versicherungs- GRÜNEN): Herr Minister, ich wüßte gerne, ob Sie fremden Leistungen nicht mehr von der Sozialversi- das Lohnabstandsgebot durch Senkung der Sozial- cherung bezahlt werden, sondern vom Bund - Mini- hilfe oder durch Anhebung der Mindestlöhne reali- mum über 30 Milliarden DM. sieren wollen, und ich wüßte gerne, ob Sie einen Zu- sammenhang zwischen der Debatte, die wir heute Ja, meine Damen und Herren, was soll man denn führen, dem Beitrag, den Sie heute leisten, und der von Vorschlägen halten, die eine große Verschie- Diätendiskussion in der letzten Sitzungswoche se- bung von Beträgen in einer Größenordnung von hen? 50 Milliarden DM vom Sozialsystem hin zum Bund wollen, ohne daß irgendein Finanzierungsvorschlag mitgeliefert wird? Was für mich das Wichtigste ist: Horst Seehofer, Bundesminister für Gesundheit: Wenn Sie Finanzen nur herumschieben, helfen Sie Das zweite ist so unsachlich, daß wir es jetzt nicht den betroffenen Sozialhilfeempfängern in keiner wiederholen müssen. Weise. Das ist für mich das Wichtigste. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Aber zum ersten. Ich habe doch deutlich zum Aus- druck gebracht, daß die Einhaltung des Lohnab- Letzter Punkt. Ich habe schon gesagt, daß bei aller standsgebots von 15 % in der Bundesrepublik durch Notwendigkeit von Sozialansprüchen noch viel wich- eine stärkere Familienförderung und die steuerliche tiger ist, daß die Quelle, aus der alles finanziert wird, Freistellung des Existenzminimums gewährleistet nämlich unsere Volkswirtschaft, sprudelt und daß wir ist. Denn diese beiden Maßnahmen führen dazu, daß darauf achten müssen, daß wir die Bereitschaft und jemand, der berufstätig ist, mehr Einkommen hat, die Akzeptanz bei der Bevölkerung erhalten, die mit und dazu, daß die Sozialhilfe entlastet wird. Damit ihrer Leistung und ihrer Arbeit erst ermöglicht, daß vergrößert sich der Abstand zwischen einer Familie dieses hohe Sozialhilfeniveau von heute finanziert mit Erwerbseinkommen und einer Familie mit Sozial- wird. hilfeeinkommen. Ich schließe mit einem Zitat des niedersächsischen Ich darf noch einmal etwas zum Lohnabstandsge- Ministerpräsidenten Gerhard Schröder, SPD: bot sagen, weil es immer als der soziale Kahlschlag bezeichnet wird; irgend jemand hat das jetzt „Spar- Wir sollten offen sagen: Wir sind bei dem, was in hysterie" genannt. Das Lohnabstandsgebot definie- dieser Gesellschaft zu verteilen ist, am Ende der ren und praktizieren wir bei einer Familie mit fünf Fahnenstange angekommen. Es kann nicht mehr Köpfen, d. h. zwei Erwachsenen und drei Kindern, um Zuwächse gehen, es geht nur noch um Konso- durch den Vergleich des Falles, daß die Familie in lidierung. Arbeit in den unteren Einkommensgruppen wäre, mit dem Fall, daß sie Sozialhilfe beziehen würde. Genau dies tun wir. Wir stellen eine Balance zwi- Diese „Modellfamilie" ist gemeinsam mit den Sozial- schen der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit in un- demokraten- 1993 im Föderalen Konsolidierungs serem Lande und der Höhe der Sozialleistungen her. und Wachstumsprogramm vereinbart worden. Es ist und bleibt nach wie vor die beste Sozialpolitik, wenn man auf die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit An dieser Defini tion des Vergleichsfalles ändern der arbeitenden Bevölkerung und der Unternehmen wir überhaupt nichts. Wir ersetzen einen Be trag von Rücksicht nimmt. Deshalb ist diese Sozialhilfereform derzeit bis zu 263 DM durch einen prozentualen Satz eine Voraussetzung, daß wir das hohe Sozialhilfeni- von 15 %. Jetzt stelle ich fest: Wenn m an das mit den veau in der Bundesrepublik Deutschland auch in der Sozialdemokraten macht, ist das ein Fortschritt in un- Zukunft finanzieren können. serem deutschen Sozialstaat, und wenn man das ge- gen die Sozialdemokraten macht, ist das ein sozialer (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Kahlschlag. Neinsagen und Jammern scheint mittler- weile das politische Programm der Sozialdemokratie geworden zu sein. Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Das Wort zu einer Kurzintervention hat der Abgeordnete Dr. Wolf. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Die einzigen Vorschläge, die im Kern wirk lich von unseren abweichen, sind: Die Sozialdemokraten wol- Dr. Winfried Wolf (PDS): Herr Kollege Minister See- len, daß die Eingliederungshilfe für Behinderte hofer, Sie haben eine erstaunliche Unsouveränität künftig nicht mehr von der Sozialhilfe, sondern vom bewiesen, indem Sie auf die Frage der Präsidentin, Bund bezahlt wird - ca. 13 Milliarden DM. Sie wol- ob Sie eine Zwischenfrage von mir zulassen würden, len, daß der Bund - obwohl sie beim Asylkompromiß zunächst sehr engagiert untersucht haben, aus wel- Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1995 4827

Dr. Winfried Wolf cher Kuchenschnitte des Raumes diese Frage kommt, Brigitte Lange (SPD): Frau Präsidentin! Meine Da- um dann nein zu sagen, während Sie die anderen men und Herren! Herr Minister Seehofer, ich kann Fragen aber zugelassen haben. verstehen, daß Sie sauer sind.

(Beifall bei der PDS - Beifall bei Abgeord (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Da kennen neten der CDU/CSU) Sie ihn aber schlecht!) Sie waren so zornig und erregt, daß eigentlich gar Ich möchte in dem Zusammenhang drei Punkte an- nicht so viel herübergekommen ist von dem, was Sie merken: Erstens. Bei dem Punkt Soziales denkt na- „Reform" nennen. türlich jeder - im Hinblick auf die Regierungsbank - zunächst an den Herz-Jesu-Marxisten Norbert Blüm. (Ulrich Irmer [F.D.P.]: Ich habe ihn als Daß er nicht dazu spricht und Sie inzwischen dieses fröhlich und gelassen empfunden, Frau Ressort haben, macht, meine ich, das Klima in die- Kollegin!) sem Hause sehr deutlich. Man kann den Kollegen Blüm sehr hart kritisieren, weil er selber am Sozialab- - Das mag vielleicht unterschiedlich gesehen wer- bau beteiligt war. Aber was aus Ihrer Rede den sozial den. - Ich kann das aber verstehen. Da läßt man sich Schwachen im Lande an Kälte entgegenschlägt, ist zunächst breitschlagen, ein Aufgabengebiet zu über- unaussprechlich und nicht mit der Tonart von Herrn nehmen, das im Gesundheitsministerium eigentlich Blüm vergleichbar. nichts zu suchen hat. Ich gebe auch zu, daß es im Fa- milienministerium nicht umbedingt sehr vernünftig (Beifall bei Abgeordneten der PDS - angesiedelt war. Aber, ich glaube, Sie verfluchen Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Das ist manchmal den Tag, an dem Sie da zugestimmt ha- keine Kurzintervention!) ben; denn Sie haben sich wahrscheinlich nicht vorge- stellt, wie schwierig und komplex dieses Gesetz ist - Zweitens. Es gibt eine ganz einfache mathemati- ein Meines Gesetz mit großen Auswirkungen. Inso- sche Erkenntnis: daß Prozentsätze und absolute Zah- fern finde ich es gut, daß wir die Debatte damit an len beachtliche Unterschiede darstellen. Sie operie- -fangen können. ren bei dem Verweis auf die Sozialhilfe immer mit Sie haben mit diesem Wo rt „Reform" natürlich Prozentsätzen. Wenn Sie davon sprechen, etwas sei große Hoffnungen geweckt. Jetzt sind Sie ent- um 10 oder 20 % angestiegen, ist das bei 500 oder täuscht, daß über hundert Organisationen von Wohl- 520 DM ein lächerlicher Be trag. Wenn Sie Prozent- fahrtsverbänden dagegen protestieren und sagen: sätze bei hohen Einkommen, gar bei Gewinnen, gar Ziehen Sie Ihr Gesetz zurück! bei unseren Diäten ansetzen, sind das riesige Be- träge. Die zweite Enttäuschung kam vom Bundesrat: Auch er war von Ihrem Gesetz absolut nicht begei- Sie haben die Zwischenfrage der Kollegin der Grü- stert. nen in bezug auf unsere Diäten abgetan. Ist es rich- tig, daß allein die Diätenerhöhung, die die Mehrheit (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Wie setzt sich des Hauses bisher genehmigt hat, in den Jahren der Bundesrat denn zusammen?) 1995 und 1996 mit mehr als 1 500 DM das Dreifache Das ist schon interessant. dessen ausmacht, was ein Haushaltsvorstand an So- zialhilfe bekommt? Vielleicht hätten Sie aus anderen Zeitungen zitie- ren müssen als nur immer aus dem „Focus". Der wird Drittens. Wenn Sie in Ihrer Kritik die nationale Ar- Ihnen dankbar sein; Sie müssen unheim lich viele mutskonferenz, alle Wohlfahrtsverbände der pau- Hefte kaufen. schalen Lüge bezichtigt haben, sollten Sie dabei auch die Kirchen einschließen, die Ähnliches, Ver- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) gleichbares zur Sozialhilfe gesagt haben. Es gibt aber auch noch andere Zeitungen, die ande- (Beifall bei Abgeordneten der PDS) res aussagen. - Reformhilfe, Bundessozialhilfegesetz, Sozialhilfe, das ist ein uraltes Thema. Hier im Parlament wurde Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Minister, das Gesetz vor rund 33 Jahren beschlossen, 1962. Es möchten Sie replizieren? löste das Fürsorgerecht ab, das von 1924 war. Ich habe in dem Bundestagsprotokoll nachgelesen Horst Seehofer, Bundesminister für Gesundheit: - das war sehr spannend -, was z. B. zum § 10 gesagt Nein. wurde; das empfehle ich der F.D.P. nachzulesen. (Klaus Kirschner [SPD]: Die können gar (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Das lohnt nicht lesen!) nicht! Man muß ja nicht auf jeden Käse ant worten!) Es war auch sehr spannend, die Gründe nachzule- sen, warum man einen Rechtsanspruch auf staatliche Hilfe einräumte und warum m an den bemerkenswer- Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als nächste hat die ten Satz hineinschrieb, daß jeder, der in Not ist, An- Frau Abgeordnete Lange das Wo rt. spruch auf ein menschenwürdiges Leben hat. Das ist 4828 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1995 Brigitte Lange ein Satz, der dieses Gesetz adelt, der so viel gute Wir- löst. Sehr viele falsche Versprechen und sehr viele kung gehabt hat und der es überhaupt erst ermög- falsche Botschaften sind eben von hier ausgegangen. licht hat, daß die Sozialhilfe ihre Aufgaben erfüllen konnte, obwohl diese sich völlig verändert haben. (Beifall bei der SPD) Ich will es mir ersparen - ich denke, das wird noch Der damalige Minister Schröder begründete, wie genug geschehen -, die Zahlen für die Sozialhilfe zu er sagte, „das Wesen staatlicher Verpflichtung zur nennen. Aber ich denke, das, was Sie gesagt haben, Hilfe für die Notleidenden" mit einem Zitat von muß noch einmal erläutert werden. Ich möchte des- Lorenz von Stein: halb die Vorurteile aufgreifen, die hier immer wieder produziert werden und die in der Bevölkerung so we- Not ist nicht bloß eine Gefahr, sondern sie ist eine nig Verständnis dafür wecken, daß wir dieses Sozial- Unfreiheit für den, der sie leidet. hilfegesetz in seinen Strukturen erhalten und aus- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne bauen müssen. ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Die landläufige Debatte, die wir seit Jahren erleben Die erste falsche Botschaft, die immer kommt, ist, und - so sage ich - auch erleiden müssen, über den daß die Ausgabensteigerungen darauf beruhten, daß Sozialstaatsumbau - oder viel lieber: -abbau - läßt die Leistungen für den einzelnen so angestiegen diesen Zusammenhang viel zu oft außer acht. seien, daß der einzelne soviel mehr bekomme. Meine Damen und Herren, in den letzten drei Jahren waren Die Diskussion um Sozialhilfe, die Diskussion um die Ausgaben für die Sozialhilfe gedeckelt; die Erhö- das, was wir Menschen in Not geben wollen, ist alt, hungen sind unter der Preissteigerungsrate geblie- älter als dieses Gesetz. Schon immer ist sie schwerge- ben. fallen. Schon vor 125 Jahren, als man den Vorläufer dieses Gesetzes einführte, stritt man sich darüber, Wir unterhalten uns heute über einen Be trag, der wer wieviel und unter welchen Umständen erhalten seit dem 1. Juli 526 DM im Monat be trägt. Das sind sollte. In unsere Beg riffe übersetzt, redete m an vom 17,50 DM pro Tag. Davon muß ein Sozialhilfeempfän- Regelsatz, vom. Lohnabstandsgebot und davon, daß ger sein Essen, seinen Haushalt, seine Körperpflege die Hilfe auf keinen Fall mehr sein dürfe, als der ärm- bestreiten, davon müssen Reparaturen und Fahrkar- ste Arbeiter verdient, aber bitte mehr als zum nack- ten bezahlt werden, davon muß er vielleicht, wenn es ten Überleben notwendig. Damals sagte man: Je- gerade noch geht, ins Kino gehen können. Ich mand, der Hilfe kriegt, soll wenigstens ein anständi- glaube, die Phantasie wird nicht übermäßig strapa- ges Begräbnis ausrichten können. ziert, wenn man sich vorstellt, was man sich für 17,50 DM leisten kann. Seit dieser Zeit streiten wir uns über die Höhe der Dann reden wir darüber, ob das zuviel sei und ob Regelsätze, werden ganze Wissenschaftlergeneratio- die Sozialhilfeempfänger sich nicht auch ein bißchen nen verbraucht, um herauszufinden, ob jemand an dem allgemeinen Sparprogramm beteiligen könn- 600 Gramm Reis oder 300 Gramm Nudeln und viel- ten. Wenn Ministerpräsident Schröder gesagt hat, leicht eine Fahrradklingel und einen halben Kinobe- daß es keine Zuwächse mehr zu verteilen gebe, dann such erhalten soll oder ob es nicht lieber 500 Gramm fallen mir andere Bereiche ein, wo ich die Zuwächse Mehl und 250 Gramm Zucker sein sollen. Meine Da- herabschneiden könnte. Aber wo nichts vorhanden men und Herren, manchmal erscheint mir diese De- ist, Herr Seehofer, kann ich nichts mehr wegnehmen. batte so absurd. Ich überlege oft, wieviel Geld in die- sen Bereich gesteckt worden ist und was m an damit (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE in der Sozialhilfe hätte machen können. GRÜNEN und der PDS)

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne Falsche Botschaft Nummer zwei. Mit dem Lohnab- ten der PDS) standsgebot wird immer herumgewedelt. Das fing damals an, als für das BSHG noch das Familienmi- Gerade in diesem Parlament hörten wir auch von nisterium zuständig war und als es darum ging, Ein- diesem Pult sehr viel Mißliches, sehr viel Beschämen- schneidungen in der Sozialhilfe vorzunehmen. Da- des, standen Fraktionssessel und Regierungsbank- mals wurde uns pausenlos erzählt, daß das Lohnab- den Stammtischen bedenklich nahe. standsgebot nicht mehr eingehalten würde. Nachdem wir nachgefragt haben, auf welchen Er- (Beifall bei der SPD - Dr. Gisela Babel kenntnissen das beruhe, wurde schließlich eine Stu- [F.D.P.]: Was haben Sie gegen Stamm die in Auftrag gegeben. Ich nehme an, daß Sie die tische?) Studie kennen. Sie beweist, daß das Abstandsgebot Minister Seehofer war zunächst etwas vorsichtiger, in der überwiegenden Zahl a ller Fälle eingehalten auch ein bißchen geschickter, und hat betont, daß er wird und daß es nur in bestimmten Konstellationen die Mißbrauchsdebatte nicht fortsetzen wolle. bei Familien mit mehreren Kindern Überschneidun- gen gibt. (Geit Willner [CDU/CSU]: Können Sie ein (Abg. Hannelore Rönsch [Wiesbaden] mal etwas zur Sache sagen?) [CDU/CSU] meldet sich zu einer Zwischen- frage) Aber mit dem, was wir heute gehört haben, Herr See hofer, haben Sie Ihr Versprechen leider nicht einge - Ich möchte jetzt keine Zwischenfrage beantworten. Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1995 4829

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Sie gestatten Herr Minister, Sie haben diesem Kapitel in Ihrem keine, gut. Entwurf sehr viele neue Regelungen gewidmet. Diese neuen Regelungen machen das Gesetz aber nicht besser. Sie wissen das auch. Sie wissen, daß die Brigitte Lange (SPD): Nur in diesen Fällen, in gro- Sozialhilfeträger alles Mögliche tun, was in ihrer ßen Familien, gab es Überschneidungen. Das - ich Macht steht, um Sozialhilfeempfängern wieder Ar- spreche einmal die ehemalige Familienministerin beit zu vermitteln. an - war im Sozialhilfegesetz gewollt, weil m an der Meinung war, daß eine größere Familie nicht darun- Wieso reflektieren Sie nicht einmal, daß es bei vier ter leiden sollte, daß sie einen größeren Verbrauch Millionen Arbeitslosen, bei annähernd sechs Millio- hat. Deren Unterstützung wollte m an nicht beschnei- nen fehlenden zukunftsträchtigen Arbeitsplätzen den und nicht vergleichen mit dem Einkommen ei- dem Sozialamt nicht gelingen kann, was unseren Ar- nes Arbeiters, der in dieser Situation möglicherweise beitsämtern nicht gelingt: Menschen in Arbeit zu weniger hatte. Also, es gab Ausnahmen, die zugelas- bringen und Massenarbeitslosigkeit zu beseitigen. sen waren. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Hier muß ich vielleicht noch einmal etwas erklä- und der PDS) ren: Sozialhilfe richtet sich nach dem Bedarf. Der Lohn richtet sich nach der Leistung. Da wird nicht Es ist lachhaft, zu behaupten, die Sozialhilfeemp- danach gefragt, ob einer davon leben kann. Der Ver fänger wären alle zu faul, ruhten sich in der sozialen gleich von Bedarf und Leistung ist immer schief. Hängematte aus und man brauchte Sanktionen. Wenn wir das aufheben wollen, wenn wir wirk lich garantieren wollen, daß jeder mit seinem Lohn seine (Dr. Gisela Babel [F.D.P.]: Wer sagt das Familie selber über die Runden bringen kann, dann denn? - Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Das muß man das Augenmerk auf die Systeme richten, sagt doch niemand!) die es den unteren Einkommensbeziehern heute un- - Natürlich, es ist im Vorfeld diskutiert worden, wir möglich machen, von ihrem eigenen Gehalt zu le- bräuchten Sanktionen für die Leute, die nicht gewillt ben. sind zu arbeiten. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Jawohl! Das ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN ist etwas ganz anderes!) und der PDS) Erstens ist es falsch, meine Damen und Herren; denn Herr Minister, Sie haben behauptet, daß die Löhne bereits heute steht im Gesetz, daß jeder erwerbsfä- geringer gestiegen seien als die Regelsätze. Auch hige Sozialhilfeempfänger verpflichtet ist, jede Ar- das ist immer wieder die gleiche falsche Botschaft. beit - ich betone noch einmal: jede Arbeit! - anzu- Sie ist halb falsch und halb richtig, aber halb falsch nehmen. ist auch falsch. (Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/ (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Halb richtig CSU]: Jede zumutbare Arbeit!) ist auch richtig!) - Sie wissen, daß die Zumutbarkeit in der Sozialhilfe weit unter der des AFG liegt. Denn Sie nehmen den Zeitraum, der Ihnen ange- nehm ist. Im Zeitraum von 1980 bis 1993 stimmt es (Beifall bei der SPD und der PDS) tatsächlich, daß die Löhne geringer gestiegen sind als die Sozialhilfe. Aber wenn Sie den Gesamtzeit- Er muß fast alles nehmen, egal, ob es zwei Mark raum von 1963 bis 1993 betrachten, dann ist es an- Stundenlohn sind, ob es Arbeit für wenige Stunden ders. Das hat auch seine Ursache. ist, egal, ob sie weit entfernt ist und ob sie seiner Qualifikation entspricht. Er ist in dieser Situa tion (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Da hat die schutzlos. SPD noch regiert!) Ich denke, die eigentliche Absicht dabei ist, die Ar- - Das liegt daran, daß sich die Sozialhilfe und die beitslosen nicht mehr an das Arbeitsamt abzugeben, Löhne so weit auseinanderentwickelt haben, daß sondern zu sagen: Sozialamt, mach Du das mal! man dann versucht hat, das wieder auszugleichen, Denn er hat dann nicht die Schutzrechte wie ein Ar- und höhere Steigungsraten für die Sozialhilfe vorsah. beitsloser, der über das Arbeitsamt vermittelt wird. Trotzdem war die Steigerung der Sozialhilfeleistun- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne gen über den gesamten Zeitraum immer niedriger als ten der PDS - Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: die der Löhne. Oh Gott, tut das weh!) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Ganz abgesehen davon, Herr Seehofer, steht auch heute bereits im Gesetz, daß derjenige, der Arbeit Die nächste falsche Botschaft, die immer wieder verweigert, keinen Anspruch - so heißt es wörtlich: verkündet wird, lautet: es lohne sich nicht mehr zu keinen Anspruch! - auf Sozialhilfe hat. arbeiten. Damit wird suggeriert, als gäbe es eine Wahlfreiheit zwischen Sozialhilfe und Arbeit. (Bundesminister Horst Seehofer: Was ist so schlimm daran, wenn man das dann kon (Beifall bei Abgeordneten der SPD) kretisiert?) 4830 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1995 Brigitte Lange - Das Schlimme ist, daß Sie das jetzt nicht begriffen Ich möchte hier auf den eigentlichen Mißbrauch hin- haben. weisen, der nicht sank tioniert wird: Es ist der Miß- brauch der Bundesregierung mit diesem Gesetz. (Beifall bei der SPD - Lachen bei der CDU/ CSU - Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Das sa (Beifall bei der SPD und beim BÜNDNIS 90/ gen ausgerechnet Siel) DIE GRÜNEN) Wenn Sie verlangen, daß um 25 % gekürzt werden Sie haben dieses Gesetz zu einem Reparaturbetrieb muß, dann hat der Sozialhilfeträger keine Möglich- verkommen lassen, indem für Notlagen keine Ge- keit mehr, danach zu sehen - was seine Aufgabe setze geschaffen wurden oder die vorhandenen Ge- wäre -, wer darunter leidet, wer mit dem Be troffenen setze verschlechtert wurden. Sie haben zugelassen, zusammenlebt und ob diese 25%ige Kürzung nicht daß die Sozialhilfe zum Ausfallbürgen wurde, wenn seine Familienangehörigen schädigt. andere vorrangige Leistungen nicht vorhanden wa- Damit Sie es vielleicht einmal verstehen, mache ich ren. es plastisch: Wenn z. B. ein Familienvater, der Alko- Sie haben das Sozialhilfegesetz als Verschiebe- holiker ist, die Arbeit verweigert und dann von der bahnhof genutzt, und Sie haben das weiter vor. Herr 25%igen Kürzung be troffen ist - das muß ja jetzt Blüm muß über 3 Milliarden DM einsparen. Sie dür- sein -, was glauben Sie denn, wer darunter leidet, er fen mal raten, wo die ankommen. Bei den Kommu- oder seine Kinder und seine Familie? nen! (Beifall bei der SPD, beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der PDS) Ich bitte Sie, und ich fordere Sie auf: Und deswegen steht das im Gesetz. (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Nein, Sie sind aufgefordert worden!) Haben Sie eigentlich den Satz 3 gestrichen, oder haben Sie ihn dringelassen? Denn dann widersp richt Ziehen Sie dieses Gesetz zurück! sich das. Entweder verlangen Sie ein Muß, dann kön- (Beifall bei der SPD und beim BÜNDNIS 90/ nen Sie den Satz 3 streichen, oder Sie nehmen das DIE GRÜNEN) Muß heraus, und dann können Sie es so lassen. (Abg. Horst Seehofer [CDU/CSU] meldet Schauen Sie nach den Ursachen, verbinden Sie es sich zu einer Zwischenfrage) mit einer Modernisierung! Wenn Sie an die Ursachen nicht herangehen, werden Sie weder den Betroffe- - Darf ich weitermachen? nen noch den Kommunen noch den Wohlfahrtver- bänden hellen. Wir warten auf eine echte Verbesse- (Horst Seehofer [CDU/CSU]: Ich hätte Sie rung. gern aufgeklärt!) Es gibt eine nächste falsche Botschaft. - Herr See- (Beifall bei der SPD und beim BÜNDNIS 90/ hofer, mir geht es sehr um die Semantik dieses Ge- DIE GRÜNEN) setzes, weil nach draußen immer wieder der falsche Eindruck vermittelt oder der Boden bereitet wird, Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Das Wort hat jetzt daß man da Kürzungen vornehmen könne. die Abgeordnete Frau Andrea Fischer. Sie reden von „Anreiz". „Anreiz" finde ich ja her- vorragend. Anreiz heißt ja etwa: Du darfst freiwillig Andrea Fischer (Berlin) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- etwas tun; ich reize dich an, Arbeit zu tun. Ich sehe NEN): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! schon die blühenden Arbeitslandschaften. Die So- Wir haben es heute morgen wieder gehört: Die So- zialhilfeempfänger brauchen bloß zu gucken, und zialhilfe ist offensichtlich der Problemfall des Sozial- dann können sie sagen: Ich nehme diesen Arbeits- staats. platz oder jenen. (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Soviel Ni Herr Minister Seehofer, Sie haben uns ausführlich veaulosigkeit habe ich noch nicht gehört!)- und treuherzig versichert, wie sehr Ihnen der Ausbau und der Erhalt dieses Systems am Herzen liege. Sie Es ist hervorragend. Und wenn sie diesen freiwilli- machen das so intensiv, daß Sie die Sozialhilfe gleich- gen Anreizen nicht folgen, dann werden sie sanktio- sam vor sich selber retten: Sie rupfen und zausen sie niert. Macht das einen Sinn? so lange, bis sie nur noch als Gerippe übrigbleibt. Der Regierungsentwurf stellt sich nach meiner Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Frau Lange, kom- Meinung der eigentlichen Herausforderung nicht. men Sie zum Schluß! Die Sozialhilfe und die vielen Menschen, die darauf angewiesen sind, teilen uns doch etwas darüber mit, Brigitte Lange (SPD): Sie reden immer von dem was in dieser Gesellschaft los ist und was in dieser Mißbrauch, und Sie haben jetzt wieder ein Zitat ge- Gesellschaft schiefläuft. In diesem Entwurf aber wird bracht. Herr Minister, Mißbrauch ist nirgendwo gut, es einfach nur als ein gesellschaftspolitischer Störfall, aber im Vergleich zu wirklichem Mißbrauch sind das dem man mit finanzieller Schadensbegrenzung be- hier Peanuts. gegnen müsse, behandelt. (Beifall bei der SPD) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1995 4831

Andrea Fischer (Berlin) Die Zunahme der Empfängerzahlen richtet die Wenn man aber wie Herr Seehofer eher im Geiste Frage an uns: Was ist da mit einem System passiert, der Armutspolizei darangeht, kann man diese Sache von dem sich seine Schöpfer vor 30 Jahren gedacht mit dem Angebot auch nicht ernsthaft unterbreiten. hatten, mit diesem letzten Meinen Stück das soziale Netz abzurunden? Wenn da plötzlich Millionen Men- Sie sagen immer, Sie wollten Angebote machen, schen hineinrutschen, muß da vorher etwas schiefge- damit die Sozialhilfebedürftigkeit überwunden wer- laufen sein. Wieso stellen wir uns dieser Frage nicht? den kann. Gleichzeitig wird immer davon geredet, Statt dessen leistet Herr Seehofer den sozialpoliti- sie nähmen es nicht an. Das ist die Botschaft „Bist du schen Offenbarungseid. Er stellt nämlich in der Be- nicht willig, so brauch ich Gewalt." gründung zu seinem Gesetzentwurf als erstes fest: Ich meine dagegen: Wenn man Angebote unter- „Der Eintritt von Sozialhilfebedürftigkeit ist kaum breiten will, setzt das voraus, daß man den Adressa- beeinflußbar. " ten dieses Angebots ernst nimmt. Ein Angebot macht Offensichtlich waltet hier die Macht des Schick- man auf gleicher Augenhöhe. Dann muß man außer- sals. Die Regierung resigniert schon, bevor sie über- dem noch den Mangel an Jobs zur Kenntnis neh- haupt anfängt zu reformieren. men, die Sie da alle vermitteln wollen. Deswegen stellt sich die Frage: Geht das eigentlich alles, was Andersherum wird ein Schuh daraus: Die Zu- Sie in Ihrer Reform da vorschlagen? nahme der Empfängerzahlen ist ein Zeichen dafür, daß bei den Systemen der sozialen Sicherung offen- (Dr. Gisela Babel [F.D.P.]: Gehen denn Ihre kundig etwas nicht mehr stimmt, daß sie zu den ver- Vorschläge?) änderten Lebensformen und zur Erwerbskrise der letzten zehn Jahre nicht passen. Die Städte und Gemeinden stöhnen seit langem unter der Last der Sozialhilfe. Sie denken, man (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) könnte das retten mit noch mehr finanziellem und or- Jahre der Erwerbslosigkeit haben Menschen aus der ganisatorischem Engagement der Gemeinden, Arbeitslosenversicherung herausfallen lassen, die (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Sie haben Bundesregierung hat das auch mit verschiedenen auch nicht zugehört oder nicht kapiert!) Kürzungen forciert. Die Ehe ist längst kein funktionierendes Siche- obwohl die Sozialhilfeträger längst an der Grenze ih- rungssystem mehr. Der Kinderlastenausgleich - wir rer Leistungsfähigkeit angekommen sind. Zudem haben das in diesem Haus schon reichlich diskutiert - macht das meines Erachtens auch ordnungspolitisch ist offensichtlich unzureichend, weswegen wir do rt nicht sehr viel Sinn. Wieso öffnen wir nicht das Ar- mit weitverbreiteter Armut zu tun haben. beitsförderungsgesetz, so daß die kompetenten Insti- tutionen, die kompetenten Behörden dafür zuständig (Dr. Gisela Babel [F.D.P.]: Sie sind doch gar sind, und unterstützen so die Leute beim Wiederfin- nicht da!) den von Arbeit? Statt dessen behandeln Sie das So- zialhilferecht und das Instrument der Hilfe zur Arbeit Es ist überhaupt nicht tauglich, wie es Herr Seeho- als eine krude Mischung aus Disziplinierungsinstru- fer heute morgen wieder versucht hat, Armut als Pro- ment und Ausfallbürgen für den Rückzug aus aktiver blem mit Definitionen - „man solle dieses und jenes Arbeitsförderungspolitik. nicht dazu sagen" - wegzureden. Es gibt diese Ar- mut. Die Bundesregierung sollte aufhören, das zu (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN leugnen. sowie bei Abgeordneten der SPD) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Meine Mängelliste ist allerdings noch länger. Noch Wir sollten die Provoka tion, die darin liegt, endlich einmal zu der leidigen Frage der linearen Kürzung: annehmen, anstatt - wie es die Regierung tut - die Sie sagen, es gibt sie nicht. Ich behaupte dagegen, alarmierenden Zahlen gegen die Be troffenen zu daß der vorgesehene Mechanismus der Anpassung wenden, denn letztlich ist die Vermutung des Miß- der Regelsätze ebenso wie die sogenannte Konkreti- brauchs ein Herzstück dieser Reform. sierung des Lohnabstandsgebotes letztlich zu einer systematischen Senkung des Leistungsniveaus füh- Immer wieder kommen diese paar hunderttausend ren. Wenn dem nicht so wäre, warum machen Sie es angeblich arbeitsfähigen, aber arbeitsunwilligen jun- dann? Sie sprechen doch die ganze Zeit davon, daß gen Menschen in die Debatte. Nun sei es dahinge- diese Maßnahmen notwendig sind, um die Kosten- stellt, wo Seehofer sie alle gefunden hat. Aber in der entwicklung zu bremsen. Sie können nicht behaup- Studie des Deutschen Städtetages, über die wir uns ten, daß das nicht zu Kürzungen führt; denn sonst hier schon mehrfach gestritten haben, ist zu lesen, wäre ja der Sinn der ganzen Opera tion weg. daß ein Drittel der Kommunen davon berichtet, daß es viele Sozialhilfeempfänger gibt, die angebotene Ich finde, daß das brisant ist und man deswegen Arbeit verweigern. vorsichtig sein muß. Der eigentliche Sinn der Sozial- hilfe ist doch genau der, einzugreifen, wenn das Ein- Ein beträchtlicher Teil der Kommunen berichtet in kommen aus vorgelagerten Systemen oder aus Er- derselben Studie aber, daß sie gar nicht so viel Arbeit werbstätigkeit nicht reicht für ein menschenwürdi- anbieten könnten, wie sie gerne wollten und wie die ges Leben. Diesen Sinn muß die Sozialhilfe behalten. Sozialhilfeempfänger nachfragten. Deswegen muß sie nach anderen Kriterien gestaltet (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) sein als die Einkommen auf dem Arbeitsmarkt. 4832 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1995

Andrea Fischer (Berlin) Herr Seehofer, Sie rechtfertigen die Tiefe dieses Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Gestatten Sie eine Schnitts mit der Kostenentwicklung. Der Gesetzent- Zwischenfrage der Kollegin Babel? - Bitte. wurf spricht davon, daß die Ausgabenentwicklung dramatisch sei. In den letzten 13 Jahren - sprich: zwi- schen 1980 und 1993 - seien die Ausgaben für die Dr. Gisela Babel (F.D.P.): Frau Kollegin Fischer, ist Sozialhilfe um 290 % gestiegen. Das allerdings ist Ihnen bewußt, daß das Subsidiaritätsprinzip nur be- eine wirklich eindrückliche Zahl. Dann haben vor ein inhaltet, daß der Staat nicht eigene, staatliche Ein- paar Wochen die Wohlfahrtsverbände gesagt: Herr richtungen bevorzugen sollte gegenüber den freige- Seehofer, die Zahl stimmt so nicht, das haut so nicht meinnützigen? Die Ergänzung „und anderer Träger" hin. meint ja keineswegs andere kommunale oder staatli- che Träger, sondern zum einen Träger, die sowohl Daraufhin habe ich eine Kleine Anfrage an das freigemeinnützig sein können, aber nicht bei den Haus Seehofer gerichtet, und siehe da: In der Ant- freigemeinnützigen Wohlfahrtsverbänden organisiert wort, die vor einigen Tagen gekommen ist, war fol- sind, und zum anderen gewerbliche Träger. Was ha- gendes zu lesen: Wenn man die Ausgabenentwick- ben Sie mit Ihrem Verständnis des freien Zugangs zu lung in diesem Zeitraum von 13 Jahren preisberei- sozialen Einrichtungen eigentlich dagegen, diese Re- nigt, dann sinkt die dramatische Zahl von 290 % auf gelung zu erweitern? 184 %. Das ist immer noch viel, zweifelsohne. Aber warum schreiben Sie nicht diese, sondern die höhere Zahl in Ihren Gesetzentwurf? Andrea Fischer (Berlin) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN): Selbstverständlich teile ich Ihre Auffassung, Aber es kommt noch besser: Im selben Zeitraum - daß „Subsidiaritätsprinzip" zunächst einmal nur das steht in der Antwort auf die Kleine Anfrage aus heißt, daß der Staat nicht für alles zuständig ist, son- dem Hause Seehofer, das sagt nicht einer der von Ih- dern dies an andere Träger übergibt. Ich bin aller- nen inzwischen so gehaßten Wohlfahrtsverbände - dings — anders als Sie — der Auffassung, daß die sind die Pro-Kopf-Ausgaben, die Ausgaben pro So- Träger der freien Wohlfahrtspflege eine besondere zialhilfeempfänger, um ganze 7 % gestiegen. Und da Konstruktion sind, die sie von dem unterscheidet, wollen Sie uns erzählen, wir geben zu viel für Sozial- was privatgewerbliche Anbieter in der sozialen Für- hilfeempfänger aus? sorge im weitesten Sinne leisten. Deswegen muß man den Trägern der freien Wohlfahrtspflege auch Wir müssen das Signal wahrnehmen, daß es so die Bedingungen schaffen, daß sie ihre besondere viele Menschen gibt, die Sozialhilfe beziehen. Da Funktion wahrnehmen können. Diese besondere stimmt etwas nicht. Wir geben nicht zu viel für den Funktion ist auch die anwaltliche Vertretung der Einzelnen aus, sondern zu viele Menschen sind in- ganz Schwachen, die besondere Funktion ist, ein zwischen auf dieses System verwiesen. Das ist nicht Netz für Ehrenamtlichkeit zu bieten, und die beson- der Fehler dieser Menschen, sondern der Fehler ei- dere Funktion der Träger der freien Wohlfahrtspflege ner Politik, die versäumt hat, rechtzeitig den Sozial- besteht vor allen Dingen darin, auch Menschen zu staat zu renovieren. versorgen, die aus eigener Kraft keine hohen Pflege- sätze zahlen können. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der SPD und der PDS) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der Auf den ersten Blick denkt die unbefangene Lese- PDS) rin dieses Gesetzentwurfes, es handele sich um eine Petitesse. In § 10 wird einfach von „die freien Wohl- Am Anfang, nach den Ankündigungen der Eck- fahrtsverbände und die andern Träger" gesprochen. werte, waren wir ja ganz op timistisch, daß es sich Damit werden die Wohlfahrtsverbände und die an- hier um wirkliche Verbesserungen für die Behinder- deren Träger gleichgestellt. In Wahrheit handelt es ten handeln würde. Von diesen Ankündigungen ist sich bei diesen drei Wörtern, die in den § 10 einge- kaum etwas geblieben. Insbesondere, finde ich, ist es fügt werden, urn einen der tiefsten Einschnitte, die ein wirklicher Skandal, daß es immer noch keinen man in unserem Sozialsystem machen kann. Ich Arbeitnehmerstatus für die Behinderten in Werkstät- hätte mir als Grüne nicht träumen lassen, daß ich- ein- ten gibt und daß das angemessene Arbeitsentgelt mal die Wohlfahrtsverbände gegen eine konservative auch noch nicht befriedigend geregelt ist. Regierung verteidigen muß. Aber es gibt noch etwas Schlimmeres dabei: Die (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS Verbindung zwischen § 3 und § 93 schränkt das SES 90/DIE GRÜNEN - Dr. Wolfgang Frei Recht der Behinderten drastisch ein, und zwar ihr herr von Stetten [CDU/CSU]: Wieso denn?) Recht auf eine freie Entscheidung darüber, wie sie behandelt und untergebracht werden wollen. Das ist Aber das, was bei Ihnen so schick-modern klingt - eine drastische Rücknahme der Rechte der Behinder- man stellt sich vor: alle haben gleiche Marktchancen ten, die langfristige Folgen haben wird. auf diesem Wohlfahrtsmarkt -, das ist tatsächlich der Abschied vom Subsidiaritätsprinzip. Der Vorrang der Der Bundesgesundheitsminister hat eben auf seine Träger der freien Wohlfahrtspflege ist ein ganz be- guten Erfahrungen mit der Gesundheitsreform ver- deutsamer Bestandteil eines Sozialsystems, das zur wiesen. Die Deckelung von Pflegesätzen, die für Grundlage hat, daß der Staat nicht für a lles zuständig Krankenhäuser Sinn machen mag, kann m an nicht sei. einfach ungeprüft für die Einrichtungen, in denen Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1995 4833

Andrea Fischer (Berlin) Behinderte leben, übernehmen. Behinderte leben oft wie es oft geschieht, als hoffnungslose und zu teure ihr Leben lang in Einrichtungen, und da muß man Fälle zu sehen. Darauf kann man nur die phantasie- ganz besondere Maßstäbe anlegen, was die Qualität lose Antwort geben, daß man kürzt, wo immer es und die Betreuungsformen anbelangt. geht.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Deswegen schlagen wir vor, den Entwurf zurück- sowie bei Abgeordneten der SPD und der zuziehen und einen neuen Versuch zu machen. Das, PDS) was hier als die größte Sozialreform der Legislaturpe- riode angekündigt war, geht nicht in die richtige Deswegen muß man sich überlegen, wie m an das mit Richtung. Im Gegenteil: Hier verhält man sich, als einer behutsamen Politik in den Griff bekommt. Ich stelle jemand bei Feueralarm den Feuermelder ab, verweise da noch einmal auf die Frage der Kosten anstatt das Feuer zu löschen. und auf die Antwort aus dem Hause Seehofer auf meine Anfrage. In dem Gesetzentwurf heißt es, daß (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN die Kosten in den Einrichtungen von 1980 bis 1993 sowie bei Abgeordneten der SPD und der um 208 % gestiegen sind. Wenn man diese Zahl PDS) preisbereinigt und pro Kopf der Hilfeempfänger nimmt, dann sind es nur noch 69 %. Gleichzeitig. hat sich aber in den Einrichtungen die Zahl der Pflegebe- Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Das Wort zu einer dürftigen verdoppelt. Das heißt: Der Pflegeaufwand Kurzintervention hat der Kollege Hans-Eberhard Ur- in den Einrichtungen ist viel höher geworden. Das baniak. muß man doch berücksichtigen, bevor man sagt: Es ist alles viel zu teuer, wir können es uns nicht mehr leisten, die Behinderten anständig zu behandeln. Hans-Eberhard Urbaniak (SPD): Frau Präsident! Meine Damen und Herren! Nachdem die Kollegin Es wäre viel besser gewesen, man hätte sich mit Lange Herrn Seehofer auf den Kernbereich der So- den Trägern zusammengesetzt und die Erfahrungen zialhilfe und ihre Gestaltung aufmerksam gemacht mit den erst vor kurzem eingeführten prospektiven hat und er in seinen Ausführungen erwähnt hat, daß Pflegesätzen ausgewertet, um zu sehen, ob dies nicht insbesondere die Gemeinden entlastet werden müß- auch weiterhin ein geeignetes Instrument gewesen ten und dies im Zusammenhang mit der Politik der wäre, Qualität und Wirtschaftlichkeit unter einen Hut Bundesregierung gesehen werden müsse, wissen zu bringen. wir, zumal Sie im Einzelplan 11 die Arbeitslosenhilfe um 3,4 Milliarden DM senken, daß diese Kosten auf Das Projekt Sozialhilfereform geht deswegen syste- die Gemeinden und Städte zulaufen. Damit bringt matisch in die falsche Richtung, weil es die eigentli- die Bundesregierung die Manövrier- und Investiti- che Frage und die eigentliche Herausforderung, die onsfähigkeit der Gemeinden sowie deren Fähigkeit darin liegt, nicht aufgegriffen hat. Statt dessen haben zur Daseinsvorsorge an den Rand des K.o. Das heißt, wir es damit zu tun, daß über eine Mißbrauchsde- die Bundesregierung wird dafür sorgen, daß durch batte und mit überzogenen Zahlen ein Problem kon- ihre Politik insbesondere die Gemeinden an den struiert wird, um sich danach als der Reformer, der Rand ihrer Existenzmöglichkeiten herankommen, dieses Problem löst, präsentieren zu können. während eine Einsparung überhaupt nicht erreicht wird. Wir müssen uns der Provoka tion stellen, daß es Millionen Sozialhilfebezieher gibt, was etwas dar- Der zweite Punkt: Es sollte Ihnen doch bekannt über aussagt, was in den letzten Jahren schief gelau- sein, daß insbesondere die Städte und die Länder fen ist. Nach unserer Auffassung kommt man diesem Programme „Arbeit statt Sozialhilfe" fahren, in die Problem nur bei, indem man an die vorgelagerten vor allem junge Menschen einbezogen werden, da- Sicherungssysteme herangeht, d. h. die Arbeitslosen- mit sie von der Sozialhilfe herunter- und in die Arbeit versicherung, die Rentenversicherung, den Kinder- hineinkommen. Allerdings können dies nur beschei- lastenausgleich, das Wohngeld, und diese Systeme dene Ansätze sein; denn das Grundübel, das diese so ausgestaltet, daß daraus eine bedarfsorientierte Regierung nicht beseitigt, ist die Dauerarbeitslosig- Grundsicherung wird. Dann kann man die Sozial- keit von Millionen von Menschen. Wenn Sie nicht an hilfe zu ihren Ursprüngen zurückführen, nämlich in dieses Problem herangehen, werden Sie nur an den individuellen Notsituationen ein allerletztes Netz zu Symptomen herumdoktern und das Grundübel nicht sein. beseitigen. Das wäre Ihre eigentliche Aufgabe, der Sie als Bundesregierung sich widmen müßten. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD) Eine bürgerrechtliche Armutspolitik zeichnet sich durch einen respektvollen Umgang mit den Sozialhil- Darum sage ich hier noch einmal: Wenn auf die- febezieherinnen und -beziehern aus. Sie muß die sem Feld keine Aktivitäten erfolgen, werden wir uns Menschen als Subjekte ihres eigenen Handelns se- immer in diesem Spannungsfeld befinden. Es wer- hen. Dann ist die Aufgabe der Sozialhilfe das Brük- den dann die Ärmsten der Armen ge troffen. Eine sol- kenbauen, die Unterstützung der vorhandenen che Politik gutzuheißen sollte eines Parlamentes un- Selbsthilfefähigkeiten und auch die Ermutigung. Das würdig sein. Fragt man die Leute, die sich mit der Si- ist das Gegenteil davon, die Sozialhilfeempfänger, tuation und Struktur der Arbeitlosigkeit beschäfti- 4834 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1995 Hans-Eberhard Urbaniak gen, dann sagen sie: Bei Ihrer Politik wird in diesem Grund mangelnder schulischer und beruflicher Qua- Jahrhundert keine Entlastung erfolgen. Das ist der lifikation keine Möglichkeit haben, in den regulären Kernvorwurf, den wir Ihnen machen. Sie spalten da- Arbeitsmarkt integriert zu werden. Es sind auch al- mit die Gesellschaft. tere Menschen, die seit längerem aus der Erwerbstä- tigkeit herausgefallen sind und den Kontakt zur Ar- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne beitswelt verloren haben. Immer mehr Familien, vor ten der PDS) allem in Ballungsgebieten, werden zu Sozialhilfebe- ziehern, da sie auf Grund der hohen Mieten und den Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als nächste hat die fehlenden bezahlbaren Wohnungen trotz eigenem Kollegin Dr. Babel das Wort. Erwerbseinkommen zumindest ergänzend auf So- zialhilfe angewiesen sind. Dr. Gisela Babel (F.D.P.): Frau Präsidentin! Meine Weiter gibt es die Gruppe der Älteren, den statio- Damen und Herren! Wir beraten heute in erster Le- när pflegebedürftigen Menschen. Sie werden sozial- sung den Regierungsentwurf eines Gesetzes zur Re- hilfeabhängig, da sie die hohen Pflegekosten aus ih- form des Sozialhilferechts. Ich begrüße die Vorlage ren Alterseinkünften nicht zahlen können. Für man- dieses Entwurfs. che Menschen - darauf ist schon hingewiesen wor- den - ist die Sozialhilfe eine A rt Durchgangsstation. (Klaus Kirschner [SPD]: Ja, das glauben Bei ihnen bestehen nämlich durchaus Ansprüche auf wir!) Leistungen, etwa nach dem Arbeitsförderungsgesetz Sie beruht auf der Koalitionsvereinbarung zwi- oder dem Rentengesetz, aber es vergeht so viel Zeit, schen CDU/CSU und F.D.P. für die 13. Legislatur- daß sie ohne Sozialhilfe in der Zwischenzeit verhun- periode. Dort haben wir schon festgehalten, daß das gern müßten. Alleinerziehende, vor allem Frauen, Ziel dieser Reform sein soll, Sozialhilfebedürftigkeit können mangels Möglichkeiten zur Be treuung ihrer zu verhindern und neue Wege aus der Sozialhilfe zu Kinder nicht arbeiten und werden deshalb zu Sozial- eröffnen. hilfebeziehern. Hinzu kommt in vielen Fällen der Entzug der wi rtschaftlichen Grundlage durch ge- (Klaus Kirschner [SPD]: Tun Sie es doch scheiterte Familienbeziehungen wie Trennung und mal!) Scheidung. In der Koalitionsvereinbarung wird bereits deutlich, Schließlich gibt es arbeitsfähige junge Leute, die daß es uns in erster Linie darum geht, Sozialhilfe- sich in der Sozialhilfe „häuslich" eingerichtet haben, empfängern etwa durch konkrete Arbeitsangebote vielleicht ergänzt durch gelegentliche Schwarzar- zur Selbständigkeit zu verhelfen und eine selbstver- beit, und bei denen ein gewisser Schubs aus der Für- antwortete Lebensgestaltung zu ermöglichen. sorge in die Eigenversorgung guttut. (Beifall bei der F.D.P.) Die öffentliche Diskussion über Sozialhilfe, die ge- Kosteneinsparungen sind nicht das Hauptmotiv, aber rade in den letzten Monaten sehr polemisch geführt sie sollen auch angestrebt und erreicht werden. wurde, hat sich an diese notwendige differenzierte Betrachtung nicht gehalten. Es gab nur Schwarz und Der Bundesgesundheitsminister hat bereits im Weiß, Gut und Böse. Die Reden, die hier gehalten Frühjahr den Koalitionsfraktionen die Eckpunkte sei- worden sind, sind ein Beispiel dafür. nes Entwurfs vorgelegt, und diese sind auch von den Koalitionspartnern angenommen worden. Die Eck- Meine Damen und Herren, die Sozialhilfe - das ha- punkte sind jetzt umgesetzt, und die FDP-Fraktion ben neueste Untersuchungen ergeben - ist besser als trägt den Gesetzentwurf grundsätzlich mit. Wir se- ihr Ruf. Sie leistet in vielen Fällen wertvolle und hen allerdings in einigen Punkten Änderungs- und wirksame Hilfe. Ihr Bezug ist in der Regel von kurzer Diskussionsbedarf. Dauer und stellt für viele Bezieher eine wich tige Brückenfunktion zur Überwindung von Notlagen Meine Damen und Herren, die Entwicklung der dar. Im gegliederten System der sozialen Sicherheit Sozialhilfe in den letzten Jahren ist dadurch geprägt, muß die Eigenverantwortung der Sozialhilfe erhalten daß sowohl die Zahl der Empfänger von Hilfe zum bleiben, wenn man nicht, wie es die F.D.P. vor- Lebensunterhalt als auch die Kosten erheblich- ange- schlägt, in ein umfassendes Konzept wie das Bürger- stiegen sind. Befindet sich aber deswegen unsere geldsystem umsteigt. Gesellschaft auf dem Weg in die Armut? Manche Äu- Erstes Ziel aller Bemühungen muß sein, den Ein- ßerungen in der letzten Zeit könnten das nahelegen. tritt von Sozialhilfebedürftigkeit zu verhindern. Aber gerade bei der Sozialhilfe muß man genauer hinsehen. Die Ursachen für Sozialhilfebedürfigkeit (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne sind vielfältig, so vielfältig wie die unterschiedlichen ten der CDU/CSU) Personen, die Sozialhilfe beziehen. Lassen Sie uns einmal einen Blick auf diese unterschiedlichen Perso- Meine Damen und Herren, dies kann nicht allein die nengruppen werfen. Sozialhilfe leisten. Dazu gehören auch andere Politik- felder: die Arbeitsmarkt-, die Familien-, die Steuer- 1993 gaben die Bezieher von Hilfe zum Lebensun- und die Wohnungsbaupolitik. Sie sind besser mitein- terhalt zu 30 % als Grund für die Abhängigkeit das ander zu verknüpfen. Die Koalition hat auch in dieser Fehlen einer Erwerbstätigkeit, also das Fehlen einer Legislaturperiode bereits einiges erreicht. Ich nenne bezahlten Arbeit, an. Diese Arbeitsuchenden sind einige Stichworte: die Steuerfreistellung des Exi- nochmals aufzuteilen. Es sind Jugendliche, die auf stenzminimums und der deutlich verbesserte Fami- Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1995 4835

Dr. Gisela Babel lienleistungsausgleich. Dies wird sich ab 1996 auf Meine Damen und Herren, ich komme nun zur das verfügbare Einkommen gerade in den unteren Prävention im Sozialhilferecht selbst. Der Gesetzent- und mittleren Einkommensschichten auswirken. In wurf sieht vor, daß zukünftig rückständige Mieten vielen Fällen wird es dazu führen, daß Familien, die von der Sozialhilfe übernommen werden, wenn sonst trotz Erwerbstätigkeit ergänzend Sozialhilfe bezogen Wohnungslosigkeit droht. Es ist vorgesehen, daß haben, nicht mehr auf Sozialhilfe angewiesen sein Räumungsklagen, die vor dem Amtsgericht landen, werden. den Sozialhilfeträgern mitgeteilt werden, damit sie sozusagen präventiv einsteigen können, bevor es zur (Beifall bei der F.D.P.) Katastrophe kommt. Das Lohnabstandsgebot wird durch diese Maß- (Arne Fuhrmann [SPD]: Nichts Neuesl) nahmen in diesen Feldern hergestellt, meine Damen und Herren. Insofern sage ich auch, daß wir die Pro- Das ist sehr sinnvoll. blematik des Lohnabstandsgebotes in diesem Ge- Ebenso sinnvoll ist es, daß die 400 000 Personen, setzentwurf gar nicht mehr in den Vordergrund zu die heute nur vorübergehend in der Sozialhilfe sozu- stellen brauchen. Wir haben heute schon einen Ab- sagen einen Parkplatz haben, um in den Leistungs- stand von 16 % zwischen Sozialhilfe und dem Lohn. bezug zu kommen, in Zukunft schneller zu ihren ei- Ich halte das für gut, denn ich glaube, es ist in unse- gentlichen Leistungsbezügen aus der Arbeitslosen- rer Gesellschaft wich tig - das sage ich auch an die oder Rentenversicherung kommen. Wenn wir davon Adresse der SPD -, den Anreiz zu erhalten und zu ausgehen können, daß dann 80 % von diesen 400 000 fördern, durch eigene Erwerbstätigkeit für sich selbst aus der Sozialhilfe herausfallen, halte ich das für eine zu sorgen und nicht auf Fürsorge angewiesen zu sehr wirksame und gute Maßnahme. sein. (Beifall bei der F.D.P.) (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne ten der CDU/CSU) Einer der Schwerpunkte des Entwurfs ist auch aus- drücklich die Verbesserung der Instrumentarien zur Die Maßnahmen der Koalition zur Schaffung von Förderung der Arbeitsaufnahme schwer vermittelba- mehr preiswertem Wohnraum, vor allem für Fami- rer Sozialhilfeempfänger. Hier denken wir an Zu- lien, halte ich für ein ganz wich tiges Präventionsmit- schüsse, an befristete Lohnkosten- und Einarbei- tel bei der Frage der Sozialhilfebedürftigkeit. tungszuschüsse. Das soll der Sozialhilfeträger selbst organisieren oder mit dem Arbeitsamt zusammenar- Der Mangel an Betreuungsmöglichkeiten für Kin- beiten. der darf auch nicht länger zur Sozialhilfeabhängig- keit von Alleinerziehenden führen. Es ist daher nicht Auch das ist sinnvoll, aber die F.D.P. hat darauf ge- akzeptabel, daß der zum 1. Januar 1996 verankerte drungen und durchgesetzt, daß das in der Finanzie- Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz ver- rung sauber bleibt. Es kann nicht angehen, daß sol- schoben oder aufgeweicht wird. che arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen auf Kosten des Beitragszahlers zur Arbeitslosenversicherung ge- (Beifall bei der F.D.P.) zahlt werden, d. h. die Tür zum Arbeitsamt geöffnet Die F.D.P.-Bundestagsfraktion lehnt die vom Bundes- wird. Das muß in der Finanzierung getrennt bleiben. rat geforderte Stichtagsregelung ab. (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.) Mit dem Rechtsanspruch auf einen Kindergarten- Verweigert der arbeitslose Sozialhilfeempfänger platz steht und fällt die Neuregelung zum Schw an zumutbare Arbeit, so sieht der Entwurf der Bundes- -gerschaftsabbruch. regierung eine Kürzung des Regelsatzes um 25 % (Jörg van Essen [F.D.P.]: Richtig!) zwingend vor. Aus der vorher bestehenden Kann- ist eine Muß-Regelung geworden. Ich halte dies für ge- Aber darüber hinaus das ist in diesem Zusammen- rechtfertigt, denn wir stellen dem Arbeitslosenhilfe- hang wichtig - finden gerade auch alleinerziehende bezieher, der arbeitslos ist und dem Arbeit zugemu- Mütter wieder zurück an ihren Arbeits- und Ausbil- tet werden kann, ein ganzes Instrumentarium von dungsplatz und werden von der Sozialhilfe unabhän- Fördermaßnahmen zur Verfügung. Verweigert er gig. dennoch zumutbare Arbeit, so ist die Kürzung auch berechtigt. Stationäre Pflege wird spätestens mit der Einfüh- rung der zweiten Stufe der Pflegeversicherung im Sommer 1996 nicht mehr regelmäßig zum Sozialhilfe- Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Frau Dr. Babel, ge- bezug führen. Nur noch in Ausnahmefällen werden statten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten das Alterseinkommen und die Leistungen der Pflege- Beck? versicherung nicht ausreichen, um Sozialhilfebezug zu verhindern. Dr. Gisela Babel (F.D.P.): Nein, ich möchte weiter- kommen. Eine wesentliche Maßnahme zur Verhinderung des Sozialhilfebezugs ist sicher auch eine Wi rt Wichtig für diesen Bereich ist auch - das betone -schaftspolitik, die Investoren in Deutschland ermu- ich für die F.D.P. -, daß die Kosten der Qualifizierung tigt, Arbeitsplätze zu schaffen, und die dazu führt, von den Trägern der Sozialhilfe übernommen wer- daß wir insgesamt die Arbeitsmarktsituation etwas den müssen. Aber auch hier wird eine langfristige verbessern können. Entlastung der Sozialhilfeträger erreicht werden, 4836 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1995 Dr. Gisela Babel wenn es gelingt, Sozialhilfeempfängern, wie Jugend- Die widerlegbare gesetzliche Vermutung, daß sich in lichen, die sozusagen aus ihrem normalen Leben her- einem Haushalt Angehörige in Notlagen helfen, soll ausgefallen sind, die Drop-outs, mit Maßnahmen also für alle Hausgemeinschaften, unabhängig von wieder eine Motivation zur Arbeit zu geben, damit dem Verwandtschaftsgrad, gelten. sie im Grunde aus der Sozialhilfe herausfinden. Es ist sicher im Blick auf den verfassungsmäßigen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit außerordentlich Den Anstieg der Ausgaben zu bremsen ist ein wei- zweifelhaft, ob wir das so machen können. Allein auf teres Ziel. Bei diesen Sparmaßnahmen stehen wir po- Grund der gemeinsamen Nutzung von Wohnungen - sitiv zu dem, was der Entwurf vorsieht, nämlich einer Sie wissen ja, daß die Zahl von Wohngemeinschaften neuen Struktur der Regelsätze, angelehnt an Netto- steigt - kann man nicht schon von Hilfegemeinschaf- einkommen, Verbraucherverhalten und Lebenshal- ten und von Hausgemeinschaften sprechen. Ich tungskosten. selbst halte diesen Eingriff für problematisch; es ist ein Eingriff in die allgemeinen Persönlichkeitsrechte. Wir halten es ebenfalls für richtig, daß es bis zu Besonders denke ich in diesem Zusammenhang auch dem Zeitpunkt, an dem die neue Erfassung greift, an das Auskunftsrecht, das es in bezug auf den Ar- eine pauschale Angleichung an den Anstieg des Net- beitgeber eines Mitbewohners geben soll, der sagen toarbeitsentgelts in den alten Bundesländern gibt. soll, wie hoch die Einkünfte sind. Ich glaube, so weit sollten wir nicht gehen. Wir werden diesen Paragra- Richtig ist es auch, daß man einmalige Leistungen phen sicher noch einmal überarbeiten. in der Sozialhilfe pauschaliert. Hier hat es eine aus- ufernde Rechtsprechung gegeben, die dazu führte, (Beifall bei der F.D.P. - Zuruf vom BÜND daß einmalige Leistungen sehr unterschiedlich ge- NIS 90/DIE GRÜNEN: Warum haben Sie währt werden. Ich glaube, es ist richtig, daß der Ge- denn nicht vorher mit Herrn Seehofer ge setzgeber mit einer Rechtsverordnung hier wieder sprochen? - Dr. Uwe Küster [SPD]: Die Ko Ordnung schafft. alition sollte sich vorher einigen! Was ist denn da los?) Und es ist ebenfalls richtig, daß wir versuchen, den Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zusam- Ausgabenanstieg in den Einrichtungen zu bremsen. menfassen. Das Sozialhilferecht bedarf der Reform. Nur, ich weiß nicht, ob der Bundesgesundheitsmi- Der vorgelegte Regierungsentwurf enthält dazu au- nister gut beraten ist zu glauben, daß er mit Fallpau- ßerordentlich brauchbare und richtige Vorschläge. schalen hier dasselbe Ziel erreicht, das er im Kran- Aber er läßt dem Parlament noch Raum für weitere kenhausbereich zu Recht propagiert hat, wo eben Verbesserungen. Machen wir uns an die Arbeit. gilt: Blinddarm ist gleich Blinddarm. Aber man kann Vielen Dank. nicht sagen: Behinderter ist gleich Behinderter. Wir werden in der Diskussion über diese Mechanik si- (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne cher noch einmal sprechen. ten der CDU/CSU)

Ich begrüße im Gegensatz zu den Grünen die Ver- Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Das Wort zu einer änderung des j 10 Abs. 2 BSHG, wonach Sozialhilfe- Kurzintervention hat der Kollege Volker Beck. träger künftig auch mit anderen Trägern zusammen- arbeiten können, mit privatgewerblichen und mit sonstigen, z. B. mit Selbsthilfegruppen. Wir sind der Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Meinung, daß es den Wettbewerb, das Kostenbe- Ich möchte an das anknüpfen, was Frau Babel zum wußtsein und wirtschaftliches Handeln unterstützt, Schluß sagte - ich dachte, es käme gar nicht mehr -; wenn wir das tun. Ich verstehe die Aufregung über es geht um den § 16 BSHG. Ich finde, daß er nicht diese Änderung überhaupt nicht; denn an der Unter- nur aus Gründen der Verhältnismäßigkeit besonders stützung, an der Vorzugsstellung der freien Wohl- problematisch ist. Er enthält ja zum einen die Beweis- fahrtsverbände ist überhaupt nicht gerüttelt. Die lastumkehr für eheähnliche Lebensgemeinschaften. Abs. 1, 3, 4 und 5 bleiben unverändert. Es wird nur Grundsätzlich soll danach in Zukunft von der Vermu- tung ausgegangen werden, daß sich Angehörige sol- die Möglichkeit einer solchen Zusammenarbeit- vor- gesehen, nämlich da, wo sie sich anbietet und wo sie cher Gemeinschaften gegenseitig Unterhalt gewäh- sinnvoll und kostenwirksam ist. Wir haben hier nur ren. Bislang mußte das Sozialamt ein gemeinsames nachvollzogen, was wir im Pflegegesetz schon ge- Wirtschaften nachweisen. macht haben und was wir in der zweiten Änderung Aber der eigentliche Hammer liegt woanders. Sie des Heimgesetzes, die wir heute noch bereden wer- beziehen damit erstmals schwule und lesbische Le- den, ebenfalls machen wollen, nämlich, daß der bensgemeinschaften, wie alle übrigen Wohngemein- Wettbewerb durch Öffnung für privatgewerbliche schaften, in die sozialrechtliche Subsidiarität ein. Träger möglich wird. Dies halte ich für in keiner Weise hinnehmbar. Wir haben in der letzten Woche hier im Bundestag eine Ein letzter Punkt. Erhebliche Diskussionen haben Diskussion zu später Stunde - wenige von Ihnen die Änderungen der §§ 16 und 116 BSHG ausgelöst. werden es mitbekommen haben - geführt über die Hier hat der Regierungsentwurf die Vermutung kon- Frage der Einbeziehung z. B. gleichgeschlechtlicher kretisiert, daß wer in einer Wohngemeinschaft lebt, Lebensgemeinschaften in das soziale Mietrecht. Da auch eine Hausgemeinschaft bildet. Das heißt, sie wurde mit Zähnen und Klauen daran festgehalten, wirtschaften aus einem Topf, aus einem Kühlschrank. daß hier nicht einmal die kleinstmögliche rechtliche Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1995 4837

Volker Beck (Köln) Änderung vorgenommen wird. Hier wollen Sie diese als verdoppelt und die Vermögen insgesamt fast ver- Lebensgemeinschaften in die Subsidiarität einbezie- dreifacht. Seit 1993 haben Sie den Selbständigen hen. Das ist das erste Mal, daß Sie solche Lebensge- und den Unternehmen dann noch 9,4 Milliarden DM meinschaften rechtlich zur Kenntnis nehmen, aber an Steuern geschenkt. Welche Schlußfolgerung zie- eben nur dort, wo es darum geht, daß auch sie zur hen Sie daraus? Ihre Schlußfolgerung ist, daß man Kasse gebeten werden. dann den Sozialhilfeempfängern dafür etwas weg- nehmen kann. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der Seit Jahren wird von Ihnen eine geradezu hysteri- PDS) sche Kampagne gegen Sozialmißbrauch geführt. Wenn diese Kampagne hier und da in der Öffentlich- Wir als Schwulen- und Lesbenbewegung haben keit auf offene Ohren trifft, dann nur deshalb, weil immer gesagt: Wir sind bereit, die gleichen Pflichten der wahre soziale Mißbrauch am Staatshaushalt im zu übernehmen, wenn wir die gleichen Rechte be- verborgenen blüht. Wer weiß denn schon, daß etwa kommen. Solange Sie uns aber auch nur die kleinste drei Millionen Menschen regelmäßig ihre Mahlzei- rechtliche Anerkennung verweigern, ist diese Ände ten als Geschäftsausgaben von der Steuer absetzen? rung nicht hinnehmbar. Wir fordern Sie von der Wer weiß denn schon, daß der Mißbrauch von Ge- zu blei- F.D.P. auf, bei dieser Frage tatsächlich ha rt schäftswagen als Privatautos bald die gesamten Jah- ben und nicht nur leicht zu überarbeiten, sondern resaufwendungen für die laufende Hilfe zum Le- diese Änderung rundweg zurückzuweisen. Solange bensunterhalt aufwiegt? Wer weiß denn schon, daß die Koalition nicht in der Lage ist, gleichgeschlechtli- dieses Land für seine Armen und Obdachlosen weni- che Lebensgemeinschaften wie auch nichteheliche ger zur Verfügung hat als für die Verlustabschrei- Lebensgemeinschaften steuerrechtlich und zivil- bung von Immobilienspekulanten? rechtlich angemessen anzuerkennen, kann es keine Einbeziehung in sozialrechtliche Regelungen geben, (Beifall bei der PDS) die zur Folge haben, daß diese Lebensgemeinschaf- ten bisher geltende Ansprüche verlieren. Herr Minister Seehofer, wollen Sie angesichts sol- cher Relationen wirklich ernsthaft behaupten, wir (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN seien am Ende der Fahnenstange angekommen, was sowie bei Abgeordneten der SPD und der die Verteilung sozialer Leistungen angeht? Das ist PDS) doch absolut unglaubwürdig. Herr Minister, wollen Sie sich angesichts solcher Relationen wirklich Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als nächste spricht trauen, die Armutsdefinition der nationalen Armuts- die Abgeordnete Frau Dr. Knake-Werner. konferenz anzuzweifeln? Es ist nicht allein deren De- finition; es ist auch die Defini tion des EG-Ministerra- tes. Das sollten Sie zur Kenntnis nehmen. Diese Defi- Dr. Heidi Knake-Werner (PDS): Frau Präsidentin! nition hat - das finde ich richtig - das soziokulturelle Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Babel und Niveau hier in der Bundesrepublik zur Grundlage Herr Minister Seehofer, wissen Sie, was die Leute, und nicht das in Afrika, in Kuba oder in Bangla- die uns heute zuhören, auf die Palme bringt? Sie desch. bringt auf die Palme, daß sie postwendend die Bestä- tigung dafür bekommen, was sie längst vermutet ha- (Beifall bei der PDS) ben: daß wir Wasser predigen und Wein saufen. Wir brauchen - das gebe ich gerne zu - dringend (Beifall bei der PDS) eine Reform der Sozialhilfe. Natürlich sind die Aus- gaben für Sozialhilfe immens gestiegen. Aber wissen Es ist erst eine Woche her, daß sich die Mehrheit Sie auch, daß der Ausgabenanstieg pro Person seit dieses Hauses dafür ausgesprochen hat, die Diäten 1980 in realer Kaufkraft gerechnet - das ist jetzt kein kräftig zu erhöhen. Und heute gehen Sie daran, die Vergleich von Äpfeln mit Birnen - ganze 0,2 % aus- Sozialhilfe zu beschneiden. macht? Auch das ist ein Grund dafür, daß die Sozial- (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Wo wird sie hilfe nicht einmal für das Nötigste ausreicht. Am beschnitten? Können Sie einen Fall nennen,- 21. des Monats ist für viele schon der letzte Pfennig wo sie beschnitten wird?) ausgegeben. Wir alle wissen auch, daß mit der ge- planten Novelle noch mehr Menschen ein Leben in Ich muß schon sagen: Ich finde es beschämend - das ärmlichsten Verhältnissen zugemutet wird. ist hier schon deutlich gesagt worden -, daß bei den Ärmsten der Armen um Pfennige gefeilscht wird und Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Gesetzent- Sie sich selber mit Tausendmarkscheinen bedienen. wurf der Bundesregierung fällt in eine Zeit zuneh- Dieses Mißverhältnis müßten Sie den Leuten drau- mender sozialer Verunsicherung. Die Erwerbslosen ßen einmal erklären. Das versteht kein Mensch mehr. zahlen bleiben auf dramatisch hohem Niveau. Die so- ziale Not nimmt vor allem bei sehr jungen Menschen Ich muß aber zugeben: Das ist nur die Spitze des zu. Kinderreichtum wird zu einem Armutsrisiko. Im- berühmten Eisberges. Es ist Ausdruck skandalöser mer mehr Gruppen sind ausgegrenzt und geraten in gesellschaftlicher Verhältnisse. Es ist ein exemplari- gesellschaftliche Isola tion. sches Beispiel für die Situa tion, daß die Armut in die- sem Land in gleichem Maße wächst, wie der Reich- Die Sicherungssysteme versagen vor dieser Ent- tum zunimmt. Seit 1980 haben sich die jährlichen wicklung zunehmend. Auch das ist ein Grund dafür, Vermögenseinnahmen der Besserverdienenden mehr daß der Sozialhilfebedarf steigt. 4838 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1995

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Frau Knake-Wer- Dr. Heidi Knake-Werner (PDS): Nein, jetzt würde ner, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeord- ich gerne meine Rede fortsetzen, wenn Sie erlauben. neten Hannelore Rönsch? (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist eine Di rektive vom Zentralkomitee!) Dr. Heidi Knake-Werner (PDS): Selbstverständlich. Minister Seehofer, ich habe Ihr demagogisches Zah- lenspiel bereits zur Kenntnis nehmen dürfen und Hannelore Rönsch (Wiesbaden) (CDU/CSU): Frau kann mir sehr gut denken, was Sie mir hier jetzt Kollegin, Sie zeichnen ein schlimmes Bild, auch über anzubieten hätten. Empfänger von Sozialhilfe. Können Sie mir z. B. die Summen nennen, die eine Alleinerziehende mit zwei Ich muß feststellen, daß wir es mit einer Entwick- Kindern in - ich komme Ihnen entgegen - Berlin- lung zu tun haben, in der Solidarität zunehmend der Hellersdorf bekommt? Ellenbogenmentalität unterlegen ist. Der vorgelegte Gesetzentwurf trägt dazu bei. Er bekämpft nicht die Ursachen von Sozialhilfebedürftigkeit. Zum wieder- Dr. Heidi Knake-Werner (PDS): Ich brauche Ihnen holten Male geht es darum, ausschließlich die Ausga- das nicht für Berlin-Hellersdorf zu sagen, sondern ben für Sozialleistungen zu senken. Menschen kom- könnte Ihnen das auch für Bremen - von dorther men in diesem Entwurf nicht vor, höchstens als Ko- komme ich, wie Sie möglicherweise noch nicht zur stenfaktoren, die nach unten korrigiert werden müs- Kenntnis genommen haben - sagen. Ich kenne die sen. Sozialhilfedebatte in diesem Lande, solange es die Sozialhilfe gibt. (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist dummes (Zuruf von der CDU/CSU: Antworten!) Zeug!) Ich weiß sehr wohl, wieviel Sozialhilfe eine alleiner- Einen Systembruch werfen Ihnen die von Ihnen so ziehende Mutter mit zwei Kindern bekommt. wenig geschätzten sozialen Verbände vor und for- dem eine Rücknahme der Novelle. Mit ihrem Vor- (Dr. Gisela Babel [F.D.P.]: Das ist ja nicht die wurf des Systembruchs haben sie recht, denn Sie ver- Frage!) abschieden sich einmal mehr aus Ihrer sozialstaatli- chen Verantwortung. Sie wollen nicht die Defizite Ih- Ihre eigene Studie - das wi ll ich Ihnen auch sagen - rer Politik übernehmen. Immer häufiger lassen Sie hat bereits belegt, daß die Grundlage für die Berech- die Folgen politischer Fehlentscheidungen andere nungen, die hier angestellt werden, nämlich die be- ausbaden, z. B. die Länder, die Kommunen oder ein- rühmte Fünf-Kopf-Familie, wie Herr Minister Seeho- zelne. fer sie nennt, unredlich ist. Sie ist einfach deshalb un- redlich, weil Sie sehr wohl wissen, daß das ein abso- (Zuruf von der F.D.P.: Sie haben auch nicht lut untypisches Beispiel ist, und auch wissen, zugehört!)

(Zuruf von der CDU/CSU: Antworten, nicht Die Sozialhilfenovelle widerspricht diesem Trend schwätzen!) nur scheinbar; das wissen Sie genau. Herr Minister daß eine Familie mit einem Alleinverdiener und drei Seehofer, Sie versprechen den Kommunen eine Ent- Kindern finanziell deshalb so schlecht ausgestattet lastung um 2,3 Milliarden DM, weil die Sozialhilfe- ausgaben verringert werden. Aber um welchen Preis ist, weil die Wohngeldregelungen und die Kinder- geschieht das? Sie verdonnern die Kommunen dazu, geldregelungen schlecht sind. daß sie arbeitsfähige Sozialhilfebezieher und Sozial- (Beifall bei der PDS) hilfebezieherinnen in Arbeit bringen - fürwahr ein umwerfender Gedanke. Bei 6 Millionen fehlenden Das hat überhaupt nichts damit zu tun, daß die So- Arbeitsplätzen sollen die Kommunen das fertigbrin- zialhilfesätze zu hoch sind. Natürlich weiß ich, daß gen, was der Arbeitsverwaltung zuvor nicht gelun- eine alleinstehende Mutter mit zwei Kindern - - gen ist. - (Zuruf von der CDU/CSU: Sie haben eben (Beifall bei der PDS) gesagt, die sind zu hoch, die Sozialhilfe sätze! - Lachen bei der CDU/CSU) Sozialämter mutieren unter der Hand zu Arbeits- ämtern zweiter Klasse. Das können Sie nun einmal - Ich habe gar nicht davon geredet, daß sie zu hoch nicht wegreden. sind. Für die Beschaffung sozial sicherer und nicht nur (Zuruf von der CDU/CSU: Das haben Sie kurzfristiger Beschäftigungsverhältnisse fehlt in die- gesagt!) sem Gesetzentwurf jede Idee. Aber darum soll es ja Wenn Sie gestatten, würde ich jetzt gerne fortfah- auch gar nicht gehen. Es geht um die Ausweitung ren. untertariflicher und prekärer Beschäftigung und um den verstärkten Einsatz bei sogenannten Pflicht- und Gemeinschaftsarbeiten gegen eine bescheidene Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Gestatten Sie eine Aufwandsentschädigung von 1,50 oder 3 DM. Zu- Zwischenfrage des Abgeordneten Seehofer? mutbarkeit spielt in Ihrem Gesetzentwurf keine Rolle Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1995 4839 Dr. Heidi Knake-Werner mehr. Jeder muß jede Arbeit annehmen. Das geht al- von 2 043 DM zur Verfügung. Ist ein Kind unter drei les natürlich nicht mehr freiwillig und auch nicht Jahren vorhanden und erhält diese Alleinerziehende durch gutes Zureden. Drastische Senkungen sollen Erziehungsgeld, kommen weitere 600 DM hinzu. nachhelfen. Ich denke, man muß diese Sätze einmal ganz deut- (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Das ist nicht lich aussprechen, um die Diskrepanz zwischen dem, zu glauben!) was Sie hier an Armut und Elend dargestellt haben, und dem, was in unserem Sozialstaat geleistet wird, - Ich kann mir gut vorstellen, daß das nicht in Ihr zu sehen. Weltbild paßt, aber Sie müssen es einfach ertragen. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Sie behaup ten wissentlich etwas Falsches!) Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Wollen Sie darauf So wird, wenn es nach der Regierung geht, zukünf- antworten? - Bitte. tig die Ablehnung eines Arbeitsangebots mit einer 25%igen Kürzung des Sozialhilfesatzes bestraft. Das (Joachim Hörster [CDU/CSU]: Die Dame ist schon mehrfach gesagt worden. will noch einmal nichts sagen! - Weiterer Zuruf von der CDU/CSU: Sie will noch ein Wenn Sie Sozialhilfebezieher und Sozialhilfebe- mal ihre Ahnungslosigkeit kundtun!) zieherinnen wirklich in den Arbeitsmarkt eingliedern wollen, dann müssen Sie ihnen den Zugang zum AFG eröffnen und ihre Förderung durch die Arbeits- Dr. Heidi Knake-Werner (PDS): Liebe Kollegin ämter wollen. Wenn Sie den Kommunen mehr Spiel- Rönsch, ich weiß nicht so genau, was Sie mit diesen räume für dezentrale Beschäftigungspolitik geben Zahlen sagen wollen. wollen, wofür ich sehr bin, dann müssen Sie ihre ma- terielle und personelle Handlungsfähigkeit stärken. (Lachen bei der CDU/CSU) Selbst wenn den Kommunen eine Reduzierung der Finden Sie es eigentlich nicht verwerflich, daß eine Sozialhilfeausgaben gelänge, erwartet sie mit dem alleinerziehende Mutter mit zwei Kindern mit dem Entwurf des Haushalts 1996 bereits eine neue Bela- Betrag, den Sie gerade genannt haben, also 2 030 stung. Den von Ihnen angekündigten Ausgleich da- DM, für haben Sie bisher offensichtlich erfolgreich ge- heimgehalten. (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: 2 043 DM!) Eine Verlagerung der Aufgaben hin zum Bund, immer noch unter dem durchschnittlichen Einkom- eine Stärkung der vorgelagerten sozialen Siche- men in dieser Gesellschaft liegt? rungssysteme, eine intelligente Arbeitsmarktpolitik - das wäre im Interesse der Kommunen und im Inter- Finden Sie es normal, daß eine Frau, die sozusagen esse der betroffenen Menschen. Der Regierungsent- gesellschaftlich notwendige Arbeit leistet, indem sie wurf aber setzt eine Spirale von Lohnsenkung und Kinder erzieht, nicht einmal die Chance hat, auf dem Abbau von sozialen Errungenschaften in Gang, de- durchschnittlichen soziokulturellen Niveau dieser ren Ende noch gar nicht abzusehen ist. Ich denke, Gesellschaft zu leben? das ist ein Grund dafür, daß fast alle namhaften So- zialverbände und -organisationen in einer an Deut- Ich finde das nicht normal, und ich finde es auch lichkeit nicht zu überbietenden Erklärung die Rück- ganz schön zynisch, wenn ausgerechnet wir als Ab- nahme der Novelle gefordert haben. Daß Sie, Herr geordnete mit unseren Diäten hier mit solchen Zah- Minister, dieses Papier als Horrormeldung abtun, lenspielereien manipulieren und demagogisch argu- zeigt schon, wie weit Sie sich von der Lebensrealität mentieren. der Menschen entfernt haben. (Beifall bei der PDS - Zuruf von der CDU/ Ich danke Ihnen. CSU: Das müssen Kommunisten sagen!) (Beifall bei der PDS) Frau Rönsch. - Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Das Wort zu einer Kurzintervention hat die Abgeordnete Hannelore Hannelore Rönsch (Wiesbaden) (CDU/CSU): Frau Rönsch. Kollegin, ich finde es verwerflich, daß jede dritte Al- leinerziehende in der Bundesrepublik Deutschl and vom Vater des Kindes oder der Kinder keinen Unter- Hannelore Rönsch (Wiesbaden) (CDU/CSU): Frau halt erhält. Wenn wir uns hier einig sind, daß wir ge- Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! meinsam etwas tun müssen, komme ich Ihnen entge- Die zwei Rednerinnen von SPD und PDS konnten lei- gen. Ich finde es aber eine erhebliche Leistung unse- der der Versuchung nicht widerstehen, mit Zahlen zu res Sozialstaates und unserer Solidargemeinschaft, manipulieren. Oder sie kennen die Zahlen vielleicht daß diejenigen, die sich selbst nicht helfen können, nicht; ich nehme einmal letzteres an. Ich habe Sie ge- mit den Beträgen, die ich eben genannt habe, ausge- fragt, was eine Alleinerziehende z. B. in Berlin-Hel- stattet werden, um an unserer Gesellschaft insge- lersdorf, Berlin-Marzahn, Berlin-Weißensee oder bei samt partizipieren zu können. Ihnen in Bremen, woher Sie kommen, erhält. Eine Al- leinerziehende mit zwei Kindern hat eine Sozialhilfe (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) 4840 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1995

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Eine Kurzinterven- Die Sozialhilfe übernimmt die Miete eines Sozial- tion der Abgeordneten Frau Lehn. hilfeempfängers komplett, wenn die Wohnung seiner Familiengröße entspricht. Wo wird bei einem norma- len Lohn- oder Gehaltsempfänger die Miete kom- Waltraud Lehn (SPD): Sehr geehrte Frau Rönsch, plett übernommen? In der Sozialhilfe ist dies aber der ich finde es verwerflich, wenn ein Mitglied des Bun- Fall. destages, von dem man annehmen darf, daß es ein wenig mehr Ahnung hat als diejenigen, die sich mit Ich würde Ihnen doch empfehlen: Gehen Sie in Ih- dem Thema überhaupt noch nicht beschäftigt haben, ren sozialdemokratisch regierten Kommunen einmal hier zu dem Mittel der völlig falschen Zahlendarstel- zum Leiter des Sozialamtes oder zu Ihren Bürgermei- lung greift, nur um Stimmung zu machen. Das ist stern und Oberbürgermeistern. Fragen Sie sich do rt nicht in Ordnung. schlau. Ich bin sicher, Sie stimmen dann hier im Par- lament anders ab. (Beifall bei der SPD und der PDS - Wider spruch bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Ich will Ihnen gerne sagen, an welchen Stellen Sie sich nicht nur irren, sondern auch Behauptungen auf- Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als nächster Red- stellen, die nicht haltbar sind. Eine Frau, die alleiner- ner der Abgeordnete Ulf Fink. ziehend ist und zwei Kinder hat, erhält nach den Re- gelsätzen knappe 1 200 DM. Eine solche Frau erhält zusätzlich Miete, und zwar in der Regel in der Grö- Ulf Fink (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine sehr ßenordnung, in der Miete anfällt. Eine Frau oder eine verehrten Damen und Herren! Wir diskutieren heute Familie, die arbeiten geht und über Einkommen ver- die umfassendste Reform der Sozialhilfe seit Schaf- fügt, und zwar über niedriges Einkommen, bekommt fung des Bundessozialhilfegesetzes im Jahr 1961. Es inzwischen mehr Kindergeld - dank der SPD -, ist nichts dagegen einzuwenden, daß die Diskussion darüber kritisch geführt wird; schließlich geht es um (Lachen bei der CDU/CSU und der F.D.P.) das Schicksal von Hunderttausenden von bedürfti- gen Menschen in diesem Land. das aber bei der Sozialhilfe angerechnet wird, und zwar in voller Höhe, und hat die Möglichkeit, Wohn- Ganz und gar nicht gut ist aber, daß diese Diskus- geld zu beantragen und zu erhalten. Ich sage zwar, sion von manchen mit Argumenten geführt wird, die das ist zu gering, aber gleichwohl gibt es diese Mög- mit dem Gesetzentwurf nichts, aber auch gar nichts lichkeit. Auch dies wird bei den Sozialhilfeempfän- zu tun haben. gern in voller Höhe angerechnet. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU (Beifall bei der SPD und der PDS sowie bei und der F.D.P.) Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE Politische Auseinandersetzung: ja. Aber wir sollten GRÜNEN) das Gebot der Sachlichkeit einhalten und auch be- denken, welche Wirkungen von unserer Diskussion Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Rückantwort, Frau auf die Betroffenen ausgehen. Rönsch. Der Text des Gesetzentwurfs liegt vor. Jeder kann sich Punkt für Punkt damit auseinandersetzen, was Hannelore Rönsch (Wiesbaden) (CDU/CSU): Frau wirklich verändert werden soll. Wer ein gerechtes Ur- Kollegin, mich erstaunt Ihre Tonlage. teil fällt, wird zu der Schlußfolgerung kommen, daß dieser Reformentwurf maßvoll, ausgewogen und fi- (Lachen bei der SPD und der PDS - Wal nanziell verantwortbar ist. Unser Ziel lautet: Wir wol- traud Lehn [SPD]: Nicht der Inhalt!) len den Annen wirksam und verläßlich helfen. Ge- rade deshalb müssen wir verändern, damit erhalten Ich kannte sie aus unserer Arbeit bisher nicht. bleiben kann, was erhalten bleiben soll.

Ein einfacher Blick in die Unterlagen oder- ein Wir wollen eine Anpassung des Sozialhilferechts Gang zum Sozialamt in Ihrem Wahlkreis an die geänderten wirtschaftlichen und sozialen Be- dingungen. In der Tat haben sie sich seit 1961 drama- (Lachen der Abg. Waltraud Lehn [SPD]) tisch verändert. Aber in diesem Gesetzentwurf wird - vielleicht haben Sie keinen - wird die Zahlen, die keine einzige Kürzung vorgeschlagen. ich Ihnen gerade genannt habe, bestätigen. Ich Zu den Grundlagen dieses Gesetzentwurfs gehört, stimme Ihnen in einem zu: Die Miete in diesem Be- daß die Prinzipien des Bundessozialhilfegesetzes voll trag ist pauschaliert. erhalten bleiben - ganz besonders das sich immer (Zurufe von der SPD: Aha! - Weiterer Zuruf wieder in der Diskussion befindliche Prinzip der von der SPD: Sagen Sie doch mal was zum Nachrangigkeit. Was heißt Nachrangigkeit? Das Lebensunterhalt!) heißt, daß die Sozialhilfe erst dann einspringen soll, wenn sich der einzelne und seine Familie nicht selbst - Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, ein Blick helfen können und auch die Sozialversicherung und in die Unterlagen hätte dieses „Aha" eben unnötig die anderen vorrangigen Leistungsträger ihnen nicht gemacht. ausreichend helfen können. Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1995 4841

Ulf Fink Wir, die Unionsparteien, waren es, die dieses verpflichtet werden - natürlich in der Erwartung, daß Nachrangigkeitsprinzip 1961 geschaffen und in das die Bundesanstalt für Arbeit dann die ganzen Ko- Bundessozialhilfegesetz eingefügt haben. Deshalb, sten, die ganzen Ausgaben für arbeitslose Sozialhil- meine Damen und Herren von der Opposi tion, brau- feempfänger übernimmt. chen wir keinerlei Belehrungen darüber, daß die So- (Dr. Gisela Babel [F.D.P.]: So ist es! Immer zialhilfe von Lasten befreit werden muß, für die sie auf die Beitragszahler!) nicht gedacht ist. Ich nenne die wichtigsten Punkte; denn wir reden nicht nur darüber, wir handeln da- Hat denn die SPD-Fraktion, die sonst immer so sehr nach. den Versicherungscharakter der Arbeitslosenversi- cherung betont und daraus zu Recht die Forderung Ich nenne die Pflegeversicherung. Wenn im näch- ableitet, bestimmte Ausgaben nicht länger über den sten Jahr die zweite Stufe der Pflegeversicherung Versicherungsbeitrag zu finanzieren, den wichtig- eingeführt wird, werden über 500 000 pflegebedürf- sten Grundsatz der Versicherung vergessen, nämlich tige Menschen nicht länger auf die Sozialhilfe ange- daß ein Risiko nur dann versichert werden kann, wiesen sein. Das ist ein Riesenfortschritt: 11 Mil- wenn es nicht bereits eingetreten ist? liarden DM Entlastung für die Gemeinden. Ist das nichts? (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU Das ist das eherne Prinzip jeder Versicherung. und der F.D.P.) Bei arbeitslosen Sozialhilfeempfängern ist aber ge- Ich nenne die Reform des Familienleistungsaus- nau das Gegenteil der Fall: Hier ist der Versiche- gleichs: Die Kindergelder werden ab dem nächsten rungsfall bereits eingetreten; das ist gerade der Jahr massiv erhöht. Grund für die Sozialhilfebedürftigkeit dieses Perso- nenkreises. Nein, meine Damen und Herren von der (Waltraud Lehn [SPD]: Dank der SPD!) Opposition, die Vorschläge sollten schon etwas durchdachter sein, als nur dem Bund tiefer in die Ta- Zehntausende von Familien werden dann nicht län- sche greifen zu wollen. ger wegen zu geringen Kindergeldes auf ergänzende Sozialhilfe angewiesen sein. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.) Ich nenne das Asylbewerberleistungsgesetz. Es bewirkt eine Entlastung der Gemeinden in Höhe von Wir brauchen Reformen in der Sozialhilfe selbst. über 300 Millionen DM. Wir müssen den Kostenauftrieb begrenzen. Denn - das wissen auch Sie; Professor Krupp hat das in sei- Ich nenne das Programm der Bundesregierung nem Aufsatz deutlich gemacht - zweistellige Steige- zum Kampf gegen die Langzeitarbeitslosigkeit. Bun- rungsraten kann sich kein System auf Dauer leisten, desminister Seehofer hat es bereits gesagt: Ja, bei wenn die Steigerungsraten der wi rtschaftlichen Lei- der beabsichtigten Reform der Arbeitslosenhilfe stungsfähigkeit allenfalls einstellig sind. wird es zu zusätzlichen Belastungen der Gemeinden Das betrifft ganz besonders die Kosten im Heimbe- kommen. Aber wir werden uns dafür einsetzen und reich. Dort sind die Kosten so stark angestiegen, daß dafür sorgen, daß diese Belastungen voll kompen- man es nicht auf Dauer so weiterlaufen lassen kann. siert werden. Deshalb schlagen wir eine vorübergehende Decke (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU lung der Erhöhung der Pflegesätze für die Heime in und der F.D.P.) Anlehnung an die Höhe der Bruttolohnsteigerungs- raten für die nächsten Jahre vor. Das ist wahrhaftig Wir wissen, was Nachrangigkeit der Sozialhilfe ein maßvoller Vorschlag. Ergänzend soll in den Jah- heißt. Nachrangigkeit, meine Damen und Herren ren danach dafür gesorgt werden, daß man sich nicht von der Opposition, kann doch nicht bedeuten, die mehr vorrangig an den Kosten, sondern mehr an den notwendigen Reformen im Sozialhilferecht zu unter- Leistungen orientiert, die ein Heim erbringt. Auch lassen, die Kosten der Sozialhilfe ungezügelt steigen - das ist doch ein Vorschlag in die richtige Richtung, zu lassen und lediglich dem Bund immer tiefer in die dient doch den wirtschaft lich arbeitenden und lei- Tasche greifen zu wollen. Das kann Nachrangigkeit stungsfähigen Heimen. Allein durch diese Maßnah- doch nicht bedeuten. men wird die Sozialhilfe zusätzlich um 1 Milliarde DM jährlich entlastet. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Das zweite Maßnahmenbündel: Durch die vor- Das sehen Ihre Vorschläge im Ke rn aber vor. übergehende Anbindung der Regelsatzerhöhung an die Nettolohnentwicklung wird noch einmal ein Ein (Vorsitz : Vizepräsident Hans Klein)-s parvolumen von rund 1 Milliarde DM erzielt - aller- dings immer nur im Verhältnis dazu, daß nichts ge- Zu welchen Blüten dieser Versuch führt, kann man schehen wäre. nachvollziehen, wenn man sich den SPD-Antrag, der heute auch zur Debatte steht, genau anschaut. Da Ich meine, daß diese beiden Maßnahmenbündel wird doch allen Ernstes vorgeschlagen, die Sozialhil- zur Verminderung des Kostenauftriebs vertretbar feträger sollten zur Beitragsleistung für arbeitslose sind, zumal sie auf den Zeitraum bis 1998 begrenzt Sozialhilfeempfänger an die Bundesanstalt für Arbeit sind. 4842 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1995 Ulf Fink Dem stehen nun aber erhebliche Verbesserungen Die Studien von Leibfried aus Bremen zeigen, daß gegenüber, um die wir Sozialpolitiker uns seit Jahren das Vorurteil vom arbeitsunwilligen Sozialhilfeemp- leider bisher vergeblich bemüht haben. Sie stehen fänger falsch ist. Gerade deshalb ist es notwendig, jetzt neu in diesem Gesetz. Umbau des Sozialstaates, den arbeitslosen Sozialhilfeempfängern alle Chance Sparen, um zu gestalten - das sind die Stichworte für zu geben, wieder in den Arbeitsmarkt zurückzukeh- eine moderne Sozialpolitik. ren.

Ich frage Sie: Wenn mit diesem Gesetzentwurf da- Dagegen den Einwand zu erheben, es gäbe nicht für gesorgt wird, daß über 300 000 Sozialhilfeemp- genügend Arbeitsplätze, ist geradezu zynisch. Natür- fänger nicht länger Sozialhilfeempfänger sind, weil lich sind die Arbeitsplätze knapp, aber was folgt die Arbeitsämter endlich die Arbeitslosengelder denn daraus? Soll das heißen, daß sich die Sozial- rechtzeitig auszahlen sollen, ist das ein Rückschritt, hilfeempfänger im Kampf um die knappen Arbeits- oder ist das ein Fortschritt? Ich sage, das ist ein er- plätze wie bisher ganz hinten in der Schlange einzu- heblicher Fortschritt. reihen haben? (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Das ist doch die Konsequenz Ihres Gedankenganges. Wenn wir jetzt dafür sorgen, daß die Gemeinden zur Vermeidung von Obdachlosigkeit im Regelfall Nein, arbeitslose Sozialhilfeempfänger müssen wie die rückständigen Mieten übernehmen, ist das ein jeder andere auch eine Chance im Kampf um die Ar- Rückschritt, oder ist das ein Fortschritt? Ich sage, das beitsplätze haben. ist ein deutlicher Fortschritt. Dann gibt es das - gelinde gesagt - nicht sehr durchdachte Argument, Sozialämter zu Ersatzarbeits- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) ämtern zu machen. Kann denn jemand im E rnst bestreiten, daß es ein (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Sehr höflich sehr großer Fortschritt ist, wenn die Rentner im ausgedrückt!) Osten unseres Vaterlandes endlich den Mehrbedarfs- zuschlag bekommen, den die Rentner im Westen Das will niemand. Aber umgekehrt: Die Arbeits- schon lange erhalten? 100 DM pro Monat mehr im ämter wären doch rettungslos überfordert, wenn Portemonnaie für einen Rentner im Osten, für einen man ihnen allein die Aufgabe zuweisen würde, die größte soziale Herausforderung in Deutschl an Erwerbsunfähigen - achten Sie das gering? d zu bewältigen, nämlich Arbeitslosigkeit zu bekämpfen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU Arbeitsämter zahlen Arbeitslosengeld, sorgen für und der F.D.P.) Qualifikationen, führen Arbeitsmarktmaßnahmen durch, und sie vermitteln Arbeit. Aber Arbeitsämter Meine Damen und Herren, nur 1,50 DM betrug oft schaffen keine Arbeit. der Stundenlohn, den ein Behinderter in einer Behin- (Beifall der Abg. Dr. Gisela Babel [F.D.P.]) dertenwerkstätte bekam. Seit Jahren fordern die Be- hindertenverbände - wie ich meine, völlig zu Recht -, Neue Arbeit zu schaffen ist die große Herausforde- daß diesen Menschen Verbesserungen zuteil wer- rung an die gesamte Gesellschaft. Es kann nicht an den. Das tun wir jetzt. Fortschritt oder Rückschritt? tige Institution wie die Gemein--gehen, eine so wich Ich sage, das ist ein ganz großer Fortschritt. den in der Bundesrepublik Deutschland, die einen ganz großen Einfluß haben, einfach draußen vor zu Ist es nicht wirklich ein großer Fortschritt für die lassen. Sie sind es doch, die die Probleme, aber auch Sozialhilfeempfänger, wenn durch eine neue Rechts- die Möglichkeiten vor Ort viel besser kennen als je- verordnung sichergestellt wird, daß man nicht mehr der andere. Sie sind es, die am ehesten Tätigkeitsfel- für jedes einzelne Hemd, nicht mehr für jeden einzel- der für den Personenkreis entdecken können, der nen Mantel zum Sozialamt laufen muß, daß nicht je- sonst auf Grund des wirtschaftlichen Wandels keine desmal ein neuer Antrag, jedesmal eine neue Einzel- Chance hat, wieder in den Arbeitsmarkt zurückzu- fallprüfung erfolgen muß? kehren. (Zuruf von der F.D.P.: Sehr gut!) Viel mehr als die mit großer Lautstärke vorgetrage- nen Forderungen zur Sozialhilfe dient dies der Tatsache ist: Viele Gemeinden verwirklichen das Würde und dem aufrechten Gang des Sozialhilfe- heute schon. Sie verdienen dafür Dank und Aner- empfängers. Das sind erhebliche Fortschritte. Das ist kennung. wichtig. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Aber es gibt andere Gemeinden, die sich noch sehr vornehm zurückhalten. Ich finde, das muß geändert Der wichtigste Fortschritt bei der Sozialhilfereform werden. sind die Brücken, die wir für arbeitslose Sozialhilfe- empfänger neu in den Arbeitsmarkt bauen. Einar- beitungszuschüsse, Lohnkostenzuschüsse und Quali- Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Fink, fikationsmaßnahmen sind das Herzstück der Sozial- gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen hilfereform. Kirschner? Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1995 4843

Ulf Fink (CDU/CSU): Ja, gerne. Etwas dafür zu leisten, daß die Gemeinschaft den notwendigen Lebensunterhalt sicherstellt, kann doch nicht zuviel verlangt sein. Klaus Kirschner (SPD): Herr Kollege Fink, wenn Sie hier darstellen, daß die Arbeitsämter die Vermitt- Und dann gibt es das Argument der Bedarfsdek- lung von arbeitslosen Sozialhilfeempfängern nicht kung. Es ist richtig, für die Jahre bis 1998 wird davon bewältigen können, wie kommen Sie dann auf die abgewichen, 1999 gilt wieder das Bedarfsdeckungs- Idee, zu glauben, daß dieses die Sozialämter können, prinzip. nachdem diese das bisher schon tun können, sie es Da gibt es Leute, die von Unterhöhlung des Sozial- teilweise auch tun, aber mit dem Problem nicht fertig staates und dem größten sozialen Anschlag spre- werden? chen. Ja, meine Damen und Herren von der SPD, wir ha- (CDU/CSU): Herr Kirschner, ich kann Ih- Ulf Fink ben jetzt einmal die Möglichkeit nachzuprüfen, ob nen eine ganz einfache Antwort geben. Ich war So- denn an Ihrem großen Geschrei etwas dran ist. Der zialsenator in Berlin und habe mich um das Thema Bundesrat hat ja am Freitag vergangener Woche zu gekümmert. Der Erfolg ist, daß meine Nachfolgerin dem Gesetzentwurf Stellung bezogen. Frau Stahmer heute darauf verweisen kann, daß in Berlin 70 000 Arbeitsgelegenheiten im gemeinnützi- (Klaus Kirschner [SPD]: Er hat den Gesetz gen und sozialversicherungspflichtigen Beschäfti- entwurf aber abgelehnt!) gungsfeld geschaffen worden sind. Was schlägt denn nun der Bundesrat vor? Wir kön- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) nen es ja einmal genau nachlesen. Wir wollen die Re- gelsätze entsprechend der Entwicklung der Netto- Das kann man schaffen, wenn man sich wirklich löhne erhöhen, der Bundesrat entsprechend der Ent- darum kümmert. Das ist unser Thema. wicklung der Preise. Allerdings sagt der Bundesrat, Ich sage Ihnen: Es hilft den Gemeinden. Wer ge- die Deckelung in den Jahren 1993 bis 1996 solle nau rechnet, stellt schnell fest, daß es die beste Inve- nicht wieder aufgeholt werden. Das ist der Vorschlag stition ist, die man überhaupt machen kann. Aber des Bundesrates. darüber brauchen wir vielleicht nicht im einzelnen Rechnet man diesen Vorschlag nun einmal durch, reden. dann kommt man zu erstaunlichen Feststellungen. Die Regelsätze würden sich nämlich nach dem Vor- Reden wir über das Thema Mißbrauch. Mißbrauch gibt es überall. Mißbrauch gibt es auch in der Sozial- schlag des Bundesrates um kein Jota mehr erhöhen hilfe. Wenn jemand auf Kosten des Steuerzahlers als nach dem Vorschlag der Bundesregierung. lebt, wenn er nicht alt ist, wenn er nicht krank ist, (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: So ist es, das wenn er keine Kinder und keine Pflegebedürftigen ist Mathematik!) zu versorgen hat und wenn er dann dennoch die ihm angebotene Arbeit ablehnt, dann ist es, wie ich Der Grund ist ganz einfach. Zwar fiele im nächsten meine, nicht mehr als recht und billig, daß ihm die Jahr die Erhöhung etwas höher aus, aber im Jahre Unterstützung des Staates zumindest teilweise entzo- 1997 kommt die Steigerungsrate der Nettolöhne aus gen wird. dem Jahre 1996 zum Zuge, und dann kommt der ganze Jahressteuereffekt, die Entlastung der Arbeit- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. - nehmer zum Vorschein. Mit einer über 3%igen Erhö- Zuruf von der SPD: Das steht doch im Ge hung wird im Jahre 1997 wieder aufgeholt. Ja, meine setz, dann brauchen wir es doch nicht hin Damen und Herren, wenn man einmal genau hin- einzuschreiben!) schaut, wird man feststellen: Über die Techniken der Regelsatzanpassung in diesen Jahren wird man sich - In den Studien des Deutschen Städtetages steht, verständigen können. Darüber können wir alle mit- daß jeder dritte Sozialhilfeempfänger die ihm ange- einander reden. Aber, meine Damen und Herren So- botene Arbeit verweigert hat. zialdemokraten, dann möchte ich Sie doch herzlich bitten, es etwas bescheidener zu machen, sonst geht (Andrea Fischer [Berlin] [BÜNDNIS 90/DIE- GRÜNEN]: Nur in einem Teil der Kommu es Ihnen wie in der Geschichte dem Kaiser mit den nen!) neuen Kleidern, nur daß die Leute merken, daß Sie nichts anhaben. Ich frage Sie aber: Wie sind die Konsequenzen ge- wesen? Sie waren von Gemeinde zu Gemeinde sehr Zu diesen unwahrhaftigen Vorwürfen gehört übri- unterschiedlich. Ich finde, da muß man etwas tun. gens auch der, die Bundesregierung wolle die Sozial- hilfe kürzen, obwohl doch nicht genügend Arbeits- Sie haben auch die Zumutbarkeit der Arbeit als plätze zur Verfügung stehen. Wenn das Sozialamt Argument genannt. Ich frage Sie: Fällt denn jeman- wegen des Mangels an Arbeitsplätzen dem Sozial- dem ein Zacken aus der Krone, wenn er Grünanla- hilfeempfänger keinen Arbeitsplatz anbieten kann, gen pflegt, Büroarbeiten macht oder Behinderte be- dann kann der Sozialhilfeempfänger die Arbeit auch gleitet? Das sind Arbeiten, die in Deutschland Millio- nicht verweigern, und dann kann ihm auch nichts nen von Menschen tun, aus deren Steuergeldern die gekürzt werden. So einfach ist das. Sozialhilfe finanziert wird. (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Ja, so einfach (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) ist das!) 4844 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1995 Ulf Fink Nein, meine Damen und Herren, im Interesse der Ich finde, wir brauchen ganz moderne Instrumen- Menschen, die auf unsere Hilfe angewiesen sind, tarien für die Sozialämter, damit sie ihrer Aufgabe müssen wir doch genau schauen, welche Wortwahl gerecht werden können, sich wirklich um die Armen wir benutzen. Der Grundkonsens in Sachen Sozial- zu kümmern, indem sie mit dem Thema, den Men- staat in Deutschland ist doch viel ausgeprägter, als es schen zu helfen, E rnst machen, indem sie sich nicht in den Debatten immer wieder zum Vorschein nur dafür einsetzen, für die Sozialhilfeberechtigten kommt. ein paar Mark mehr Regelsatz zu bekommen, son- dern vor allem die Hauptaufgabe bewältigen, dafür Schauen wir uns nur einmal die Entwicklung in zu sorgen, daß Menschen befähigt werden, wieder den Vereinigten Staaten von Amerika an. Auch dort aus eigener Kraft zu leben, daß sie eben nicht länger macht man eine Sozialhilfereform. Aber was ge- Sozialhilfeempfänger sein müssen. Das ist doch das schieht dort? Die Sozialhilfereform beinhaltet do rt, wichtige Ziel. Die Sozialämter müssen da einfach ei- daß die Betreffenden nach einem bestimmten Zeit- nen Modernisierungsschub durchmachen. raum - einem Jahr - keinerlei staatliche Unterstüt- zung mehr erhalten. Das ist nicht nur ein Vorschlag Die Armut in Deutschland ist nicht so offensicht- der Republikaner, das sagen auch die Demokraten. lich wie die Armut in der Dritten Welt. Deshalb fällt Darüber besteht Konsens in den Vereinigten Staaten es leichter, sie zu verdrängen. Aber auch in unserem von Amerika. Wenn so etwas hier vorgelegt worden reichen Land gibt es Menschen, die sich nicht aus ei- wäre, dann wäre ich mit Ihnen einer Meinung, und gener Kraft helfen können. Wir sind zur Solidarität wir gingen gemeinsam auf die Barrikaden. Aber sol- mit ihnen verpflichtet. che Vorwürfe beim Gesetzentwurf der Bundesregie- Der große Papst Johannes Paul II. spricht in seiner rung zu erheben ist doch einfach absurd. Enzyklika von der Option oder der vorrangigen Liebe für die Armen. Auch in dem gemeinsamen Pa- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) pier von evangelischer und katholischer Kirche zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland Meine Damen und Herren, wir sind zu Änderun- werden drei Optionen benannt, wobei die Option für gen des Gesetzentwurfs im Rahmen der parlamenta- die Schwächsten an erster Stelle steht. rischen Beratung bereit. Ich will auch schon gleich die ersten drei Änderungen nennen, die wir als Es ist wahr: Die christliche Botschaft lenkt den CDU/CSU-Bundestagsfraktion wollen. Blick auf die Empfindung der Menschen, auf Krän- kungen, auf Demütigungen, auf Benachteiligungen, Erstens. Um der besonderen Stellung der freien auf das Unzumutbare, das Menschenunwürdige, auf Wohlfahrtspflege gerecht zu werden, soll § 10 des strukturelle Benachteiligungen und Ungerechtigkei- Bundessozialhilfegesetzes in der geltenden Fassung ten. beibehalten werden. Ich denke, daß sich dieses Zu- sammenspiel von Staat und freien Wohlfahrtsverbän- Es war der spätere Bundespräsident Richard von den wohl bewährt hat. Das Problem, daß auch p ri Weizsäcker, der als Vorsitzender der Grundsatzpro- -vate Anbieter mit niedrigen Preisen zum Zuge kom- grammkommission der CDU eine wirklich wichtige men, wird nicht in § 10, sondern in § 93 geregelt. Debatte in den 70er Jahren über das Verständnis von Auch wir sind der Meinung, daß das so sein soll. Solidarität geführt hat. Es gibt ein sehr unterschiedliches Verständnis von (Beifall bei der CDU/CSU) Solidarität. Sozialdemokraten haben aus ihrer Tradi- tion heraus immer das Solidaritätsverständnis zu dem Zweitens. Wir wollen den Behinderten mehr ihren gemacht, das besagt: Solidarität wird letztlich Rechte in den Werkstätten zukommen lassen; denn nur von Gleichen empfunden. Deshalb haben sie das die Rechtsstellung der Behinderten in den Werkstät- Programm der Gleichheit nach vorne gebracht. ten ist ganz ungeklärt. Ich denke, auch sie haben ein Recht darauf, geschützte Rechte zu bekommen, Mit- Wir haben gesagt: Nein, Solidarität offenbart sich bestimmmungsrechte, Urlaubsrechte und derglei- erst recht darin, daß es Solidarität nicht nur zwischen chen mehr. Das muß auch den Behinderten zugute Gleichen, sondern auch zwischen Ungleichen gibt. kommen. Daß Reiche und Arme miteinander teilen, das ist un- ser christlich verstandener Solidaritätsbegriff. Das ist (Beifall des Abg. Wolfgang Zöller [CDU/ auch die eigentlich bewegende Idee des Bundesso- CSU]) zialhilfegesetzes. Drittens. Wir wollen, daß die Träger der Sozial- Wir, die Unionsparteien, waren es, die im Jahre hilfe ein möglichst umfassendes und effektives Spek- 1961 das Bundessozialhilfegesetz geschaffen haben. trum von Instrumenten zur Hand haben. Wir brauchten dazu keine Ermunterungen; denn wir haben damals allein die Regierung in der Bundesre- Solche Einrichtungen wie z. B. START in Nord- publik Deutschland getragen. rhein-Westfalen mit Leiharbeit sind erfolgreich. (Wolfgang Zöller [CDU/CSU): Das waren Warum sollten sich die Sozialämter nicht dieser Hil- noch Zeiten!) fen bedienen können? Ich nenne z. B. Beschäfti- gungsgesellschaften. Jedes Wirtschaftsamt in den Es muß doch nachdenklich stimmen, daß es in dem Städten und in den Gemeinden bedient sich solcher Zeitraum, in dem die Sozialdemokraten die Regie- Hilfestellung. Denken Sie an Wirtschaftsförderungs- rungsverantwortung in Bonn ge tragen haben, wie- gesellschaften und andere moderne Instrumentarien. derum ein Christlicher Demokrat war, nämlich Hei- Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1995 4845

Ulf Fink ner Geißler, der die Sozialdemokraten überhaupt erst sich Herr Seehofer heute morgen damit, daß wir ja darauf aufmerksam machen mußte, daß es noch Ar- nun Gott sei Dank inzwischen das Kindergeld erhöht mut in der Wohlfahrtsgesellschaft gibt. Das hatten sie haben und das Existenzminimum steuerlich freige- über ihrem Regieren völlig vergessen. stellt wurde - ich sage noch einmal: dank der SPD. (Klaus Kirschner [SPD]: Aber Sie auch!) (Beifall bei der SPD) Nein, meine Damen und Herren, unsere Überzeu- Er brüstet sich damit und meint, jetzt wäre das ja mit gung ist: Jeder Mensch hat - unabhängig von seiner dem Lohnabstandsgebot alles nicht mehr so beson- Leistung, unabhängig von seinen Mißerfolgen und ders schwierig. Der Beitrag von Herrn Seehofer ist so seinen Fehlern - ein unveräußerliches Recht: Das ist wie das Ergebnis, das herausgekommen ist: Tempo das Recht auf die Führung eines menschenwürdigen statt Inhalt. Lebens. Das ist unsere Grundüberzeugung. Grundlage muß jedoch eine ebenso sorgfältige wie Durch diese Sozialhilfereform sichern wir dieses umfassende Analyse sein. Unverzichtbar sind Stel- Grundrecht des Menschen verläßlich ab. lungnahmen der Sozialorganisationen, der freien Träger, der Kirchen, der Gewerkschaften. Unerläß- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) lich ist das vollständige Verarbeiten von Daten und Fakten des zuständigen Ministeriums, so spärlich diese auch sein mögen. Als hilfreich erweisen sich Vizepräsident Hans Klein: Frau Kollegin Lehn, Sie haben das Wort. zahlreiche wissenschaftliche Untersuchungen zu Einzelthemen.

Waltraud Lehn (SPD): Sehr geehrter Herr Präsi- (Die Rednerin hält ein Maßband hoch) dent! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen Die Sozialhilfeausgaben im Jahre 1994 betrugen und Kollegen! Wir reden hier heute nicht nur über knapp 50 Milliarden DM. Allein auf die Hilfe zum Le- die Sozialhilfe, wir debattieren weniger oder auch bensunterhalt entfiel nur ein solch geringer Teil - ein mehr, Herr Minister Seehofer, unzulänglich über Drittel -, während so viel - zwei Drittel - auf die Hilfe Menschen - Menschen, die nicht unbedingt zu unse- in besonderen Lebenslagen entfiel. Ich kann das rem Lebensalltag gehören, Menschen, denen wir auch andersherum zeigen. zwar immer öfter begegnen, we il es immer mehr von ihnen gibt, von denen wir aber immer weniger wis- sen. Dafür kennt aber jeder von uns jemanden, der Vizepräsident Hans Klein: Frau Kollegin, ich jemanden kennt, der von Sozialhilfe lebt - glaube, das langt jetzt an Darstellung für das Fernse- hen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) gut lebt, besser lebt als der Durchschnittsmensch. Waltraud Lehn (SPD): Das Fernsehen ist doch gar Wir sind alle miteinander mindestens gefährdet, nicht unbedingt präsent. manchmal schon geschädigt - nicht wahr, Frau Ba- bel, wollte ich eigentlich an dieser Stelle sagen; aber (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Gibt es kein ernsteres Thema? - Hannelore Rönsch sie ist im Moment leider nicht im Saal - dadurch, daß [Wiesbaden] [CDU/CSU]: Die Sozialhilfede wir zu weit weg von der Lebenswirklichkeit sind. batte verkommt!) Das ist einer der Gründe, weshalb ich meine Aus- führungen - wenn Sie gestatten, Herr Präsident - Vizepräsident Hans Klein: Frau Kollegin, darf ich ebenso anschaulich wie praktisch gestalten möchte. Sie noch einmal unterbrechen. - Der Beg riff „Parla- Es handelt sich bei diesem Gegenstand hier, wie Sie ment" kommt von „parlare", von sprechen. Wir über- sehen können, um ein Zentimetermaß. Mit diesem zeugen uns - oder auch nicht - mit Argumenten. Zentimetermaß läßt sich die Bandbreite der Sozial- Stellen Sie sich vor, jemand vertritt eine andere Mei- hilfe darstellen. Man könnte ja nun annehmen, daß nung als Sie und bringt einen mehrere Meter langen ein Gesetzentwurf zur Reform der Sozialhilfe 95 cm Stab mit, um zu beweisen, wieviel geschehen ist. dieses Maßbandes abdeckt und wenigstens- für einen großen Teil Lösungen aufzeigt. Lassen Sie mich Ih- (Heiterkeit bei der CDU/CSU - Zuruf von nen jetzt zeigen, wo die CDU/CSU und die F.D.P. ste- der SPD: Herr Seehofer hat schon Medika hengeblieben sind: nämlich hier, bei 20 cm. mente mitgebracht!) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne Also bitte, unterlassen Sie es jetzt! ten der PDS - Hannelore Rönsch [Wiesba (Widerspruch bei der SPD) den] [CDU/CSU]: Das ist lächerlich! - Wolf gang Zöller [CDU/CSU]: Können Sie mir das einmal erklären?) Waltraud Lehn (SPD): Ich will dem selbstverständ- lich folgen. Aber lassen Sie mich auch sagen: Ein Re- Diese 20 cm sind die Grundlage der angeblichen So- debeitrag ohne Gestik und Mimik scheint mir doch zialhilfereform. Kein Wo rt über Nachrangigkeit, eine stocksteife Angelegenheit zu werden. nichts über das Versagen der vorgelagerten Lei- stungssysteme, nichts über ein seit Jahren viel zu ge- (Beifall bei der SPD und der PDS sowie bei ringes Kindergeld, nichts über Mindestabsicherung Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE im Alter und bei Behinderung. Statt dessen brüstet GRÜNEN) 4846 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1995 Waltraud Lehn Aber inzwischen haben wir uns ja an das Maß ge- der Anspruchsmentalität versuchen sie Leistungs- wöhnt, kürzungen zu legitimieren. Denn je weniger sie Ur- sachen bekämpfen, um so bedeutender werden Ar- (Die Rednerin deutet das Maß mit ihren gumente für den Umbau des Sozialstaates, hinter Händen an) dem nichts anderes als Abbau steht. und der Gebrauch der Hände ist mir nicht untersagt (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne worden. ten der PDS) (Heiterkeit und Beifall bei der SPD sowie Hier hinein gehört auch Ihr Vorschlag, Sozialämter bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ sollten noch mehr als bisher Arbeitsmöglichkeiten DIE GRÜNEN und der PDS) anbieten. Einmal abgesehen davon, daß Sozialämter Wir könnten auch sagen: Soviel betrifft Hilfe in Ein- auch keine Arbeitsplätze zaubern können, einmal richtungen, und soviel betrifft Hilfe außerhalb von abgesehen davon, daß sich Sozialämter neben den Einrichtungen. Arbeitsämtern den Zugang zur Wi rtschaft erst noch erarbeiten müßten, einmal abgesehen davon, daß die (Heiterkeit und Beifall bei der SPD, beim in Sozialbehörden arbeitenden Kollegen und Kolle- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der PDS) ginnen durch den Anstieg der Fallzahlen ohnehin Und 50 % des Redebeitrags - Sie erinnern sich dieser schon völlig überlastet sind, einmal abgesehen da- 20 cm - entfällt auf soviel, von, daß den Sozialämtern - bislang jedenfalls - eine arbeitsmarktpolitische Kompetenz fehlt, einmal ab- (Zuruf von der CDU/CSU: Wir sind bei die gesehen von diesen Dingen verschieben Sie mit ei- sem Thema doch nicht im Kasperletheater!) nem Federstrich auch noch die Kosten für einen gro nämlich auf den Leistungsmißbrauch in der Sozial- en Teil der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit in die hilfe. Kommunen. Das ist die konsequente Fortsetzung Ih- rer Politik, meine Damen und Herren: (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Dr. Gisela Babel [F.D.P.]: Das glauben Sie doch selbst nicht!) Dabei sagen auch Sie gelegentlich - zu selten -, daß der inzwischen häufigste Grund für den Bezug Selbst nichts tun, Mißerfolg abwarten und sich dann von Sozialhilfe außerhalb von Einrichtungen die Ar- aus der Verantwortung stehlen. beitslosigkeit ist. Die Arbeitslosen sind die Gruppe (Beifall bei der SPD und der PDS) mit der bei weitem höchsten Steigerungsrate in den letzten Jahren. Die Sozialhilfeausgaben wegen Ar- Seit den achtziger Jahren wurden die Leistungen beitslosigkeit liegen zwischenzeitlich bei über für Arbeitslose wiederholt gesenkt. Auf diese A rt und 6 Milliarden DM. Die Möglichkeit, eigenständig das Weise haben Sie künstlich Sozialhilfebedürftigkeit Dasein zu sichern, hat sich verschlechtert, und zwar geschaffen. Auch Ihr Ansinnen, die Arbeitslosenhilfe nicht nur für Randgruppen, sondern auch für sozial auf zwei Jahre zu begrenzen, gehört in dieses Spek- unauffällige Menschen, die bis vor wenigen Jahren trum. Hören Sie endlich mit diesen unsinnigen Vor- noch als gesichert galten. schlägen auf. Keine weiteren Kürzungen bei der Ar- beitslosenhilfe. Keine zeitliche Bef ristung hilft weiter. Das macht deutlich, daß nicht die Sozialhilfe das Problem ist. Vielmehr ist die Zahl der Menschen, die Wir brauchen eine Arbeitslosenhilfe, die das Exi- von Sozialhilfe leben müssen, Indikator eines gesell- stenzminimum sichert, so daß diese Menschen nicht schaftlichen Problems. Besonders zu erwähnen ist mehr oft zusätzlich zu den Sozialämtern gehen müs- hier, daß ein Drittel der Haushalte allein deswegen sen. Wir brauchen ein modernes, den heutigen An- auf laufende Hilfe zum Lebensunterhalt angewiesen forderungen gerecht werdendes Arbeitsförderungs- ist, weil Menschen arbeitslos wurden. Das sind keine gesetz. Wir müssen die Arbeit und nicht die Arbeits- Drückeberger, keine Sozialhaie, die ihre Zeit damit losigkeit finanzieren. verbringen, die üppigen Mittel der Sozialhilfe zu ver- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne prassen. Das sind über fünfzigjährige Männer und ten der PDS) Frauen, die die Wirtschaft nicht mehr wi ll, das--ß sind junge Menschen, die keine Berufserfahrung, oft auch Der von der SPD-Fraktion vorgelegte Entwurf ei- keine Ausbildung haben, das sind Frauen, die keine nes Arbeits- und Strukturförderungsgesetzes ent- Betreuungsmöglichkeiten für ihre Kinder finden, das hält wertvolle Bausteine auch für eine echte Sozial- sind chronisch Erkrankte, die ihren erlernten Beruf hilfereform. Wir fordern Sie auf, alle arbeitsfähigen nicht mehr ausüben können. Meine Damen und Her- Sozialhilfeempfänger und Sozialhilfeempfängerin- ren, das sind nahezu 700 000 Haushalte in diesem nen in die aktive Arbeitsmarktpolitik einzubeziehen. Land. Herr Fink, das zu Ihrer Informa tion: Allein dadurch Die Bundesregierung, CDU/CSU und F.D.P. tun fallen bei den Sozialhilfeträgern Minderausgaben in wenig bis gar nichts, um Massenarbeitslosigkeit zu Höhe von rund 700 Millionen DM an. Zur Finanzie- bekämpfen. Statt dessen beklagen sie sich darüber, rung von Beiträgen zur Arbeitlosenversicherung, die daß die Ausgaben für die soziale Sicherung steigen, selbstverständlich Bestandteil des Vorschlages sind, daß die Menschen, die darauf angewiesen sind, die fallen 200 Millionen DM an, so daß es letztendlich Sozialhilfe auch tatsächlich in Anspruch nehmen. Mit noch zu einer Einsparung in der Größenordnung von der Verdächtigung des generellen Mißbrauchs und 500 Millionen DM kommt. Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1995 4847

Waltraud Lehn Wer fordert, muß auch fördern. Fördern müssen daran, daß Sie es zu simpel fänden, es miteinander Sie, damit die große Mehrheit der arbeitswilligen zu verknüpfen, sondern vor allem daran, daß Sie die Sozialhilfeempfänger überhaupt in die Lage versetzt Erfahrung der letzten Jahre haben, daß der Reallohn wird, ihren Lebensunterhalt selbst zu bestreiten. gefallen ist. Wenn Sie die Sozialhilfe an die Netto- Dazu bedarf es einer Erweiterung von Arbeitsbe- löhne anbinden und dazwischen einen Lohnabstand schaffungsmaßnahmen. Hierzu ist Kinderbetreuung haben müssen, dann hoffen Sie, daß der Regelsatz erforderlich, und zwar ganztägige Be treuung ge- nicht so ansteigt. nauso wie verläßliche Halbtags- und Ganztagsschu- len. Der Parameter ist ein günstiger für die Bundesre- gierung. Warum ist er nun ein günstiger für die Bun- Wir brauchen aber auch Teilzeitarbeitsplätze und desregierung? Weshalb wollen Sie bundeseinheitli- Arbeitsplätze für Ungelernte. Ein Blick in die Ver- che Regelsätze festsetzen, was neu ist? Bisher haben gangenheit zeigt, daß die Zahl der Arbeitsplätze für es die Länder getan. Herr Fink wird es wissen. Es gering qualifizierte Personen kontinuierlich abge- war auch vernünftig so, weil man damit tatsächlich nommen hat und weiter abnimmt. Kluge Verteilung auf die Situation der Region Rücksicht nehmen der vorhandenen Arbeit ist angesagt und nicht der konnte. Sie haben es deswegen vor, weil Sie genau Einstieg in eine neue Verdrängung. Subventionierte mwissen, daß der Regelsatz eine ganz wich tige Ko Sozialhilfeempfänger gegen bestehende Arbeitsver- ponente des Existenzminimums ist. Da Sie dieses hältnisse, Personalabbau in den Kommunen im Ar- Existenzminimum ab 1. Januar 1996 steuerfrei lassen beiterbereich und Pflege der Friedhöfe und Grünan- müssen, sind Sie natürlich eminent daran interes- lagen für 1,50 DM pro Stunde durch Sozialhilfeemp- siert, diesen Steuerausfall so gering wie möglich zu fänger - das ist keine Problemlösung. Zeigen Sie den halten. Insofern sind Sie eminent daran interessiert, Menschen, die Hilfe brauchen, Perspektiven auf! nicht den Ländern zu überlassen, die Regelsätze so Ich komme zum Schluß. zu gestalten, daß sie tatsächlich dem Bedarf des ein- zelnen entsprechen, sondern Sie machen einen Be- (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Ja, das ist darfssatz nach Kassenlage. gut! - Zuruf von der CDU/CSU: Es reicht!) Deswegen kann man nicht blauäugig sagen, das Meine Damen und Herren, wer ankündigt, er wolle Ergebnis, Herr Fink, ist möglicherweise in einem neue Schuhe anfertigen, damit er besser laufen Jahr bei der Nettolohnanbindung das gleiche, als kann, wer glaubt, daß es ausreiche, dafür die Länge wenn wir das Bedarfsdeckungsprinzip benutzt hät- der Zehen zu kennen, und die wohlmeinenden und ten, nämlich die Preissteigerungsrate genommen hilfreichen Vorschläge von Fachleuten auch noch hätten. Wir liefern uns einem System aus, was in die ignoriert, dem kann der fertige Schuh nicht passen. Ungerechtigkeit läuft. Deswegen lehnen wir es ab. Da wird er wohl noch einmal neu anfangen müssen. Frau Rönsch, was Sie vorhin gesagt haben, war un- Insoweit kann ich nur sagen, meine Damen und fair. Herren, Herr Minister Seehofer: Machen Sie sich mal an die Arbeit, arbeiten Sie - Sie erinnern sich - die- ses Stück von diesem Stück auf, und kommen Sie Vizepräsident Hans Klein: Frau Kollegin, die Zeit dann mit einem besseren Ergebnis wieder! für die Kurzintervention ist um. Wenn Sie einen sol- (Anhaltender Beifall bei der SPD - Beifall chen Fächerschuß abgeben, dann müßte ich alle, die bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ Sie ansprechen, zur Replik zulassen. Das möchte ich DIE GRÜNEN und der PDS) aber ungern tun. Ich nehme an, daß der Kollege Fink das jetzt für alle Angesprochenen tun kann. Bitte, Herr Kollege Fink, Sie haben das Wo rt zur Erwide- Vizepräsident Hans Klein: Die Kollegin Brigitte rung. Lange hatte sich vorhin zu einer Kurzintervention auf den Beitrag des Kollegen Fink gemeldet. Aber die Meldung kam ein paar Sekunden zu spät; da hatte Ulf Fink (CDU/CSU): Frau Abgeordnete, für nor- ich schon die nächste Rednerin aufgerufen. Deshalb, male Menschen ist es schwer, zu verstehen, wie es Frau Kollegin, nehmen Sie bitte jetzt das Wo-rt. mit den Regelsatzfestlegungen ist. Das ist ein sehr kompliziertes Verfahren, wie wir alle wissen. Des- Brigitte Lange (SPD): Die Koalitionsfraktionen ha- halb bitte ich Sie doch einfach, mit mir noch einmal ben Probleme, zu begreifen, warum wir vermuten nachzurechnen, ob es stimmt oder nicht stimmt, was müssen, ich sage. (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Wenn hier je Erstens. Für die Jahre 1993 bis 1996 ist mit Zustim- mand Probleme hat, ist es die Opposi tion!) mung der SPD-Fraktion und des Bundesrates von der bisherigen Methode der Festsetzung der Regelsätze daß die Regelsätze gekürzt werden. Sie haben vor al- abgewichen worden. Man hat eine Deckelung auf len Dingen Probleme, zu begreifen, was bisher im höchstens 2 % vorgenommen. Sozialhilfegesetz galt, nämlich das Bedarfsdeckungs- prinzip, Herr Minister. Der Bedarf eines Menschen in Zweitens. Wie soll es jetzt weitergehen? Wie sollen unserer Gesellschaft ist nicht an dem Anstieg oder ab dem 1. Juli 1996 die Regelsätze erhöht werden? der Senkung des Nettolohnes zu bemessen. Daß Sie Da sind die Grünen - das muß man denen zugeste- diesen Parameter gewählt haben, liegt nicht nur hen - konsequent. Denn Sie sagen: Wir wollen das 4848 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1995

Ulf Fink Bedarfsdeckungsprinzip haben. Demzufolge sollen gesetzt haben, hat Ihnen reichlich Respekt einge- ab dem 1. Juli 1996 die Regelsätze um rund 9 % er- bracht. höht werden. Das ist der Vorschlag der Grünen. Ob es finanziell verantwortlich ist, ist eine andere Frage. (Brigitte Baumeister [CDU/CSU]: Den hat er! - Dr. Gisela Babel [F.D.P.]: Mit der SPD, wenn ich recht entsinne!) Was sagen Sie aber nun mit Ihrer Mehrheit im Bun- desrat? Ich habe in Ihrem Antrag keine gegenteilige Auch bei der jetzt anstehenden sogenannten Meinung gelesen. Die möchte ich gegebenenfalls BSHG-Reform gerne von Ihnen hören. Da sagen Sie: Jawohl, wir wollen uns der Preisentwicklung anpassen, aber den (Beifall bei der CDU/CSU) Effekt der Deckelung aus den Jahren 1993 bis 1996 - ich freue mich nicht so sehr, wenn von Ihrer Seite nicht wieder aufholen. Was heißt das also? Da kön- Beifall kommt, aber es tut mir gut - nen Sie nachrechnen. Dann müssen Sie sehen, wie die Preise im Jahre 1995 gestiegen sind. Dann be- (Lachen bei der CDU/CSU) kommen Sie die Regelsatzerhöhung für 1996. Die muß man Ihnen, Herr Minister, wieder ein gehöriges letzte Preissteigerungsrate lag bei 1,7 %. Also kön- Maß an Schlitzohrigkeit attestieren. Es ist wirklich nen Sie in etwa in dieser Größenordnung mit einer beachtlich, wie Sie es fertigbringen, in der Öffent- Regelsatzanpassung nach Ihrem Vorschlag rechnen. lichkeit etwas als Reformwerk, gar als große Verbes- serung zu verkaufen, was in Wirklichkeit schamloses Im Jahr 1997 kommen die Preisentwicklung 1996 Kürzen und Zusammenstreichen sozialer Leistungen und die Nettolohnentwicklung 1997 zum Vorschein. ist, meine Damen und Herren. Jeder weiß, daß sich dann die Preise in etwa bei einer Größenordnung von 2 % - vielleicht etwas weniger (Beifall bei der SPD) oder etwas mehr, das weiß heute keiner - entwickeln Insofern, Herr Seehofer, haben Sie in der Tat die werden. Die Nettolöhne - das wissen wir bereits Erwartungen Ihres Chefs erfüllt. Sie haben Ihren Ge- heute - werden allein durch den Jahressteuereffekt setzentwurf zur BSHG-Nove lle trotz der massiven um 1 % bis 2% höher ausfallen als nach dem bisheri- Kritik ausnahmslos aller im Sozialbereich tätigen gen Verfahren. Das bedeutet, Sie bekommen eine Verbände und Organisationen in den Bundestag ein- Nettolohnerhöhung um vielleicht 3,5 % im Jahre gebracht und in vielen Fällen gegenüber dem Re- 1996. Das heißt aber, daß in 1997 die Regelsätze nach formentwurf sogar noch einmal verschlimmbessert. der Nettolohnentwicklung um 3,5 % angepaßt wer- den, während es nach Ihrem Vorschlag knapp 2 % (Bundesminister Horst Seehofer: Was ist sind. denn das?) - Das erkläre ich Ihnen. Sie bekommen den ganzen Effekt wieder hinein. Deswegen sage ich Ihnen: Lassen Sie uns lieber über Ob Ihnen, Herr Seehofer, diesmal auch wieder der die richtige Methode sprechen, wie wir 1999 die Re- Tapferkeitsorden für das Durchsetzen schwieriger gelsätze bemessen, miteinander streiten - darüber Gesetzesvorhaben verliehen wird, wage ich zu be- kann man auch streiten - als über die Methode der zweifeln. Nach Ihrer Rede heute morgen glaube ich Regelsatzanpassung bis dahin. Darüber werden wir aber, daß viele Stammtische in der Bundesrepublik uns immer einig werden. Sie für den Orden wider den tierischen E rnst vor- schlagen werden, Herr Minister. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Dafür ist Ihre ordneten der F.D.P.) Kollegin vorgesehen! Das Meter-Mädchen!) Hier geht es nämlich nicht darum, Ärzten, Zahn- Vizepräsident Hans Klein: Ich erteile der Kollegin ärzten und Apothekern Spitzeneinkommen von ei- Regina Schmidt-Zadel das Wort. nem sehr hohen Niveau herunterzudeckeln, hier geht es schlicht um das Existenzminimum, um das Nötigste zum Lebensunterhalt für dauerarbeitslose - Menschen und Behinderte, meine Damen und Her- Regina Schmidt-Zadel (SPD): Herr Präsident! ren. Meine Damen und Herren! Der Bundeskanzler, Herr Minister Seehofer, hat schon sehr genau gewußt, Frau Rönsch, nach Ihrem Vorschlag von heute mor- warum er Sie mit der Zuständigkeit für die Sozial- gen, der nicht ganz den Tatsachen und den Zahlen hilfe betraut hat. entsprach, mache ich Ihnen den Vorschlag, das zu tun, was kürzlich eine Journalistin getan hat, näm- (Zurufe von der CDU/CSU: Ja! Sehr rich lich vier Wochen von der Sozialhilfe zu leben. Ich tig!) glaube, daß Sie dann hier anders reden würden, als Sie es getan haben. - Hören Sie gut zu. Sie werden erfahren, was ich da- (Beifall bei der SPD sowie der Abg. mit meine. Dr. Barbara Höll [PDS]) Die Cleverneß, mit der Sie in der letzten Legislatur- Die Sozial- und Behindertenverbände haben Ih- periode das Gesundheitsstrukturgesetz gegen den nen Ihr Reformwerk nicht von ungefähr förmlich um erbitterten Widerstand der Interessengruppen durch die Ohren gehauen. Sie haben heute morgen viele Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1995 4849

Regina Schmidt-Zadel Zitate von unseren Parteifreunden gebracht. Ich will Ein weiterer zentraler Kritikpunkt der Behinder- Ihnen ein Zitat eines Ihrer Parteifreunde aus meinem tenverbände sind die neuen Regelungen im Bereich Wahlkreis nennen. Ein CDU-Landtagsabgeordneter, der Hilfsangebote der Einrichtungen für Behinderte. der Aufsichtsratsvorsitzender einer Werkstatt für Be- Auch hier klaffen Anspruch und Wirklichkeit weit hinderte ist, tritt vor die Presse und kündigt an, mit auseinander. Ich würde gern das Zentimetermaß der eigenen Regierung in Bonn ganz schonungslos meiner Kollegin auch jetzt noch einmal zeigen und ins Gericht zu gehen. Die sogenannte Reform, so demonstrieren, wie weit das auseinanderklafft. seine Kritik, werde die ohnehin schon schlechten Ar- beitsbedingungen der Mitarbeiter in Werkstätten für (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Noch ein lau Behinderte noch unwürdiger machen. Recht hat er, fender Meter!) dieser Kollege von Ihnen, meine Damen und Herren. Von Verbesserungen für die Behinderten, wie Sie, Ich denke, wir können ihm zustimmen. Herr Minister Seehofer, sie versprochen haben, kann (Beifall bei Abgeordneten der SPD) überhaupt keine Rede sein, jedenfalls nicht in dem Gesetzentwurf, den Sie heute vorgelegt haben. Im Herr Minister Seehofer, die vorliegende BSHG-No- Gegenteil, werden diese Pläne Gesetz, sind die Aus- velle bedeutet für die Behinderten und die Einrich- wirkungen auf die Einrichtungen für Behinderte ver- tungen eine Katastrophe, und das gleich in zweierlei heerend. Hinsicht. Die Behinderten stehen nach dieser No- velle finanziell schlechter da als vorher Es sind vor allem drei Maßnahmen, die in Zukunft zu erheblichen Problemen für die Einrichtungen füh- (Bundesminister Horst Seehofer: Das ist ren werden. falsch!) Da ist zum einen die geplante Deckelung der Pfle- - ich zeige Ihnen das an Beispielen; die können Sie gesätze in den Einrichtungen. Wie bei der Kranken- gerne haben, ich habe es schriftlich -, und die seit hausfinanzierung soll nun auch im Behindertenbe- langem geforderte Verbesserung der Rechtsstellung reich die Entwicklung der Pflegesätze an die Ent- der Behinderten, die im Referentenentwurf in weiten wicklung der Beitragseinnahmen der Krankenkassen Teilen noch enthalten war, ist immer noch nicht ver- gekoppelt werden. Von seiten der Verbände wird da- wirklicht. bei völlig zu Recht darauf hingewiesen, daß sich die sozialhilfefinanzierten Einrichtungen für Behinderte Punkt 1 ist vor allem die Folge des geplanten mit den Krankenhäusern überhaupt nicht verglei- neuen Verfahrens zur Regelsatzbestimmung und des chen lassen. Während wir es im Krankenhausbereich konkretisierten Lohnabstandsgebots und trifft nicht mit einem Überangebot an Betten zu tun haben, gibt nur die Behinderten, diese aber um so schlimmer, es bei den Einrichtungen im Behindertenbereich ei- meine Damen und Herren. nen riesigen Nachholbedarf. Das Netz an Wohnhei- men, Tagesstätten, Werkstätten und ambulanten Alle Verbände haben diese Pläne einmütig als Ver- Diensten ist bei weitem noch nicht ausreichend; von abschiedung vom Bedarfsdeckungsprinzip gegei- „flächendeckend" kann hier überhaupt keine Rede ßelt. Sie, Herr Minister, haben das, was die Verbände sein. Die vorgesehene Deckelung der Pflegesätze bei dazu gesagt haben, als Horrormeldungen bezeich- gleichzeitig steigenden Personalkosten wird die Ein- net. Dazu kann ich nur sagen: Hört! Hört! - Sie wer- richtungen mittel- und langfristig zu einem Abbau den doch wohl nicht ernsthaft bestreiten, daß Sie ihrer Angebote zwingen müssen. Pläne haben, die Regelsätze nach § 22 BSHG auch für 1996 bis 1999 strikt an die Entwicklung der Netto- Die Bundesvereinigung der Lebenshilfe bemerkt löhne zu koppeln, und daß ab 1999 zusätzlich ein in ihrer Stellungnahme zu Recht, daß die Behinder- starrer Abstand zu den durchschnittlichen Nettoar- ten schließlich lebenslang auf solche Hilfsangebote beitsentgelten der unteren Lohn- und Gehaltsgrup- angewiesen sind, während die Behandlung in den pen eingeführt wird. Das, Herr Minister und meine Krankenhäusern nur eine zeitlich begrenzte Maß- Damen und Herren, ist doch faktisch die Abkehr vom nahme ist. Ich denke, das ist der Unterschied. Prinzip der Bedarfsdeckung. Neben der Deckelung der Pflegesätze wird zudem (Zuruf von der SPD: So ist es!) - auch die geplante Pauschalierung der Hilfen die Versorgung der Behinderten mit Hilfsangeboten er- Bedarf ist schließlich das, was hilfsbedürftige Men- heblich beeinträchtigen. Ab 1999 sollen die Einrich- schen zur Sicherung ihres Existenzminimums und tungen die Verantwortung für die Gewährung indivi- zur Führung eines menschenwürdigen Lebens benö- dueller bedarfsdeckender Leistungen von den So- tigen. Wenn die Kosten für diesen Lebensunterhalt, zialhilfeträgern übernehmen. Dafür erhalten sie al- der wirklich alles andere als ein Leben in Saus und lerdings eine Vergütung, die gar nicht die Gewäh- Braus ist, nun stärker steigen als die Nettolöhne, rung einer solchen bedarfsdeckenden Hilfe ermög- dann ist das keinesfalls eine Ungerechtigkeit, wie die licht. Statt dessen wird eine pauschale Vergütung Bundesregierung auch heute in den Reden nicht eingeführt. müde wird zu suggerieren. Die Ungerechtigkeit be- ginnt, wenn die Bundesregierung mit Hilfe statisti- Während also die Einrichtungen von der Decke scher Taschenspielertricks, mit einer unsinnigen lung in ihrem finanziellen Spielraum beschnitten Deckelung und mit einem starren Abstandsgebot das werden, die Behinderten durch die Pauschalierung Existenzminimum zum Spielball der Politik macht. ihren Anspruch auf bedarfdeckende Leistungen ver- Das ist vorgesehen. lieren, werden beide zusammen - ich nenne es ein- 4850 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1995 Regina Schmidt-Zadel mal so - von der dritten Keule Seehofers getroffen, Hannelore Rönsch (Wiesbaden) (CDU/CSU): Herr der geplanten Rechtsgleichstellung von privatge- Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Ich werblichen Einrichtungen mit den Einrichtungen der hätte mich gefreut, wenn Sie, Frau Kollegin der So- freien Wohlfahrtspflege. zialdemokraten, die Zeit, die Sie verwandt haben, um hier Zentimetermaße abzuschneiden und damit Herr Fink, ich freue mich sehr, daß Sie heute ange- auch Sozialhilfediskussionen ein wenig zu diskrimi- kündigt haben, darüber noch einmal nachzudenken. nieren, einfach dafür verwandt hätten, einen Blick in Hören Sie gut zu; ich liefere Ihnen jetzt die Argu- Ihre Arbeitsunterlagen zu tun. mente, die vielleicht dann Ihr Gesetzesvorhaben noch beeinflussen können. Sie haben die Zahlen, die ich heute genannt habe, angezweifelt. Sie hatten recht damit, denn ich habe Sie ebnen einer Entwicklung den Weg, die für die die Zahlen vom zweiten Halbjahr 1994 genannt. Ich Versorgung behinderter Menschen unabsehbare Fol- will Ihnen jetzt noch einmal den aktuellen Stand seit gen haben wird. Die umfassende Versorgung aller dem 1. Juli 1995 mitteilen. Dieser hat sich tatsächlich Personengruppen, unabhängig vom Grad der Behin- verändert, d. h. verbessert. derung und auch unabhängig vom Aufwand für Pflege und Betreuung, war immer Ziel der am Ge- Nehmen wir wieder einmal die Alleinerziehende in meinwohl orientierten Träger der freien Wohlfahrts- Bremen mit zwei Kindern. Sie hat einen Sozialhilfe- pflege. Die zwangsläufig am Gewinn orientierte Aus- bedarf von 2 410 DM. Ist dabei ein Kind unter drei richtung privatgewerblicher Träger wird, wie es die Jahren, erhält sie weitere 600 DM netto Erziehungs- Bodelschwinghschen Anstalten in Bethel zu Recht geld. Das sind 3 010 DM Sozialhilfebedarf. formuliert haben, zu einer Aufteilung in gewinnver- Es wurde die Frage nach der Miete gestellt. Ich er- heißend zu versorgende Menschen einerseits und kläre es gerne noch einmal. Bei Sozialhilfeempfän- mit hohem Aufwand und schwierig zu versorgende gern wird die Miete komplett übernommen, sofern Personen andererseits führen. Eine solche Entwick- sie der Familiengröße quadratmetermäßig entspricht. lung kann doch nicht im Interesse der Behinderten und auch nicht in Ihrem Interesse sein. Sie sehen, ein Blick in diese Unterlagen, die Ihrer aller Arbeitsunterlagen sein sollten, erleichtert nach- (Beifall bei der SPD) her die Zustimmung zu unseren Anträgen. Lassen Sie mich aber zum Schluß noch auf einen (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. - Punkt eingehen, der diese BSHG-Nove lle aus Sicht Zurufe von der SPD) aller in der Behindertenarbeit Tätigen völlig diskredi- tiert: das Fehlen jeglicher Verbesserung der Rechts- Vizepräsident Hans Klein: Die Wortmeldung für stellung der Behinderten. Es war schon sehr verwun- diese Kurzintervention erfolgte auf Grund des Bei- derlich, daß im Regierungsentwurf die noch im Refe- trags der Kollegin Schmidt-Zadel, die jetzt Gelegen- rentenentwurf enthaltenen Regelungen plötzlich ver- heit erhält zu replizieren. Ich erteile ihr hiermit das schwunden waren. Ich denke, daß das wirklich ein Wort. ganz wichtiger Punkt ist, der seit Jahren von den Be- hindertenverbänden eingefordert wird, daß die Be- hinderten in den Werkstätten den Arbeitnehmern Regina Schmidt-Zadel (SPD): Frau Rönsch, Sie ha- rechtlich gleichgestellt werden. ben bei den Zahlen in Ihrer Kurzintervention u. a. vergessen, zu sagen, wie diese Berechnung zustande kommt. In Ihren Berechnungen ist die Miete enthal- Vizepräsident Hans Klein: Ihre Redezeit, Frau Kol- ten. Diese kann je nach Stadt und Kreis sehr unter- legin! schiedlich sein. Von daher, denke ich, können diese Zahlen nicht so stehenbleiben. Sie sollten wirklich die Regelsätze benennen, die eine alleinerziehende Regina Schmidt-Zadel (SPD): Ich komme zum Mutter mit zwei Kindern bekommt, die Miete dazu- Schluß. rechnen und dann sagen, daß auch das Wohngeld angerechnet wird. Das wäre eine richtige Interpreta- Wenn Sie das getan hätten, wäre das noch ein gu- - tion dessen, was Sie gesagt haben. ter Punkt in Ihrem Gesetzentwurf gewesen. Der vor- liegende Gesetzentwurf opfert die Interessen der Be- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) hinderten und vieler Menschen zugunsten einer kurzsichtigen und unvertretbaren Politik des sozialen Vizepräsident Hans Klein: Da wir die Debatte, in Kahlschlags. Das machen wir nicht mit. der das Instrument der Kurzintervention ohnehin überstrapaziert worden ist, nicht in Form von Kurzin- Vielen Dank. terventionen weiterführen wollen, nehme ich an, daß (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne der Kollege Fink, der jetzt das Wort bekomm, auf die- ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN sen Beitrag eingehen kann. und der PDS) (Zuruf von der CDU/CSU: Wer ist denn nun dran?) Vizepräsident Hans Klein: Zu einer Kurzinterven- tion erteile ich der Kollegin Hannelore Rönsch das Ulf Fink (CDU/CSU): Frau Kollegin, man ist schon Wort. darüber verwundert, daß Sie immer sagen, die Ver- Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1995 4851 Ulf Fink gleiche stimmten nicht, weil in die Zahlen die Miete nau 800 Arbeitsgelegenheiten geschaffen hat. Ich eingerechnet ist. wiederhole die Zahl für Berlin: Bei einer Einwohner- zahl von über drei Millionen sind es do rt 70 000 Ar- (Zuruf von der SPD: Ja, natürlich!) beitsgelegenheiten. Frau Abgeordnete, wissen Sie denn gar nicht, daß je- der normale Mensch aus seinem Einkommen seinen (Zuruf von der SPD: Bei geltendem Recht!) Lebensunterhalt zu bestreiten und die Miete zu zah- In Essen sind bei 627 000 Einwohnern genau len hat? Deshalb ist das der einzig richtige Ver- 577 Arbeitsverhältnisse geschaffen worden. In Bo- gleichsmaßstab. chum, meiner Heimatstadt, in der ich lange gearbei- (Beifall bei der CDU/CSU) tet habe, die jetzt leider falsch regiert wird, steht 400 000 Einwohnern die klägliche Zahl von Ich möchte noch kurz auf einige weitere Dinge ein- 242 Arbeitsverhältnissen gegenüber. gehen. Oft wird so getan, als hätten wir Probleme zu lösen, die erst durch den Gesetzentwurf entstünden. (Dr. Gisela Babel [F.D.P.]: Sehr mickrig!) Ich nehme den einen Hinweis auf, der da lautet: Gut, nur weil der Haushaltsvorstand eine ihm zumutbare Dann behaupten Sie, die Gemeinden würden Arbeit verweigert hat, kürzt ihr ihm die Sozialhilfe überfordert! Die müssen sich endlich auch einmal um 25 %. Aber was ist denn mit den Haushaltsange- darum kümmern, nicht nur das schönste neue Rat- hörigen? Auf wen wird . letztendlich die Kürzung ent- haus zu bauen, sondern arbeitslose Sozialhilfeemp- fallen? fänger in Arbeit zu bringen. Das muß für die Gemein- den ein wichtiges Ziel sein. Dieses Problem ist doch nicht neu, sondern damit haben sich die Sozialämter schon über Jahre hinweg (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) auseinandersetzen müssen. Dafür gibt es doch ein umfangreiches Instrumentarium. Die Sozialämter ge- währen in solchen Fällen beispielsweise Sachleistun- Vizepräsident Hans Klein: Bitte, Frau Kollegin gen, damit ein Mißbrauch der Barleistungen durch Lehn. den Haushaltsvorstand ausgeschlossen wird.

(Beifall bei der CDU/CSU) Waltraud Lehn (SPD): Herr Fink, von Ex-Kollegin Das ist nichts Neues. Damit haben sich die Sozialäm- zu Ex-Kollege. Ich war Sozialdezernentin in der Stadt ter schon seit Jahren beschäftigt. Marl. Oder ein weiteres Argument. Sie sagen immer: Die (Zuruf von der F.D.P.: Wieviel Gelegenhei armen Gemeinden sind überhaupt nicht in der Lage, ten?) auch nur einen zusätzlichen gemeinnützigen Ar- beitsplatz zu schaffen; das alles geht gar nicht. Auf dieser Grundlage frage ich Sie: Können Sie mir bitte sagen, wieviel dieser Arbeitsgelegenheiten so- Ich habe Ihnen doch vorhin schon eine Zahl ge- zialversicherungspflichtige Beschäftigungsmöglich- nannt, wiederhole sie aber, damit Sie sie wirk lich keiten sind? aufnehmen können: Seit meiner Zeit als Sozialsena- tor in Berlin haben wir - meine Nachfolgerin für Können Sie mir weiter sagen, in welchem Umfang Stahmer hat das fortgeführt - jährlich 70 000 Arbeits- im gleichen Zeitraum insbesondere kommunale Ar- gelegenheiten in Berlin geschaffen. 70 000 Arbeits- beitsplätze und Arbeitsplätze bei Einrichtungen der gelegenheiten bei einer Einwohnerzahl von über Kommune weggefallen sind? 3 Millionen! Vorher gab es das nicht.

Damit Sie wirklich erkennen, worüber wir reden, Ulf Fink (CDU/CSU): Das ist von Gemeinde zu Ge- sollten Sie einige Städte zum Vergleich heranziehen. meinde unterschiedlich. Nach den Untersuchungen Nehmen wir einmal Mannheim. Dort gibt es einen des Städtetages sind im Durchschnitt 80 % der ange- ordentlichen Sozialdezernenten. botenen Arbeitsplätze gemeinnützige und 20 % so- - (Klaus Kirschner (SPD]: Und einen ordentli zialversicherungspflichtige Arbeitsverhältnisse. So chen Oberbürgermeister!) haben wir es in Berlin auch gemacht, und das ist rich- tig so. Hunderttausend Leute kannst du nicht mit der - Aber der Sozialdezernent wird von der CDU ge Entgeltvariante beschäftigen. Das ist organisatorisch stellt. Sonst wäre dort nichts passiert. Bei einer Ein unmöglich. Deshalb mußt du erst schauen, ob es eini- wohnerzahl von etwas über 300 000 werden über germaßen klappt. Da kann es ein Aufbauprogramm 4 000 Arbeitsgelegenheiten geschaffen. mit gemeinnütziger Arbeit geben. Diejenigen, die Jetzt nehme ich einmal ein paar nordrhein-westfä- sich dann bewährt haben, werden in sozialversiche- lische Städte, damit auch deren Zahlen einmal auf rungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse über- den Tisch kommen, und wir wissen, worüber wir re- nommen. Die Wahrheit ist - und das ist doch toll -, den. ein Drittel bis zwei Drittel aller Sozialhilfeempfänger, die in solchen Arbeitsverhältnissen beschäftigt wor- Ausweislich der Studie des Deutschen Städtetages, den sind, haben am Ende einen Platz auf dem ersten der ja ein unverdächtiger Zeuge ist, den Sie auch Arbeitsmarkt gefunden. gerne zitieren, ist es so, daß Köln mit einer Einwoh- nerzahl von 960 000, also von fast einer Million, ge- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) 4852 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1995

Ulf Fink Das nenne ich eine wirklich rea listische Sozialpolitik. Ich rufe Tagesordnungspunkt 5 auf: Das andere, was erzählt wird, ist doch alles Kokolo- res, das muß ich einfach sagen. Es stimmt doch hin- Vereinbarte Debatte ten und vorne nicht, was Sie da erzählen. zur Luft- und Raumfahrtindustrie in Deutsch- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) land (DASA) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind Sie müssen sich mit Sozialhilfe in Gemeinden einmal für die Aussprache zwei Stunden vorgesehen. - Da- beschäftigen, damit Sie wissen, worüber Sie reden. gegen erhebt sich kein Widerspruch. Dann ist es so beschlossen. Noch einen letzten Hinweis, weil ein Weiteres im Raume steht. Es wird gesagt: „Zieht euren Gesetz- Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wo rt entwurf wieder zurück! " und: „Unsäglich!" usw. dem Kollegen Thomas Rachel. Wenn man sich die Sache genauer ansieht, ergibt sich etwas anderes. Auch wenn die na tionale Ar- mutskonferenz zusammengetreten ist und Herr Thomas Rachel (CDU/CSU): Sehr geehrter Herr Sengling da etwas verkündet, stellt man, wenn man Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die kri- genauer nachsieht, fest, daß der Deutsche Ca ritas senhafte Entwicklung bei Daimler-Benz Aerospace, verband und das Diakonische Werk nicht mit unter- DASA, bereitet uns Sorgen. Wir sorgen uns um die schrieben haben. Wenn man sich die Stellungnahme Arbeitsplätze von Tausenden von Menschen. Es geht der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohl- um den Erhalt der technologischen Kompetenz in ei- fahrtspflege, der Liga, ansieht und zwischen den Zei- nem wichtigen Feld. len liest, stellt man sehr viel mehr fest. Es stellt sich die Frage: Brauchen wir überhaupt Ich will noch etwas sagen. Im Bundesrat gab es be- eine Luft- und Raumfahrtindustrie in Deutschland? reits den ersten Durchgang dieses Gesetzentwurfs. Auch vor dem Hintergrund der Krise bei der DASA Damit Sie, Herr Struck, hier im Bundestag nicht wie- beantworten wir diese Frage eindeutig mit Ja. der eine Riesenschau abziehen, während die Sache im Bundesrat ganz anders aussieht, zitiere ich den (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. so Sozialminister von Rheinland-Pfalz, immerhin Mit- wie bei Abgeordneten der SPD) glied der SPD: Wir haben ein Interesse an einer Luft- und Raum- Ich weiß nicht, ob die Bundesregierung und ob fahrtindustrie, allerdings ohne Automatismus beim Sie, Herr Seehofer - obwohl ich es Ihnen immer Anspruch auf öffentliche Gelder. noch zutraue -, wirklich den Konsens suchen. Ich Im Vergleich zu anderen Branchen hat die Luft- betonte für unser Land und für die Ländermehr- und Raumfahrtindustrie nur einen relativ geringen heit ausdrücklich die Bereitschaft, miteinander Anteil am Bruttosozialprodukt und an den Arbeits- über eine Sozialhilfereform zu sprechen und ver- plätzen. Die Größe der Branche steht jedoch in einem tieft über einzelne Vorschläge zu verhandeln. umgekehrt proportionalen Verhältnis zu ihrer strate- gischen Bedeutung. Luft- und Raumfahrt ist eine Dann sagt er - jeder Kundige weiß, was das heißt -: Schlüsselindustrie gerade für den Wirtschaftsstand- ort Deutschland. Wir sind ein rohstoffarmes Land. Wir werden dann auch feststellen, daß es durch- Wir brauchen Überlegenheit der Technologie und aus Bewegungen und auch differenzie rte Mei- hochqualifizierte Beschäftigung. Luft- und Raum- nungen innerhalb der Gruppierungen gibt. Das fahrt strahlt in andere Wirtschaftsbereiche aus. Ein will ich gar nicht verschweigen. Natürlich gibt es Verzicht auf die Luft- und Raumfahrt wäre ein Ver- sie. zicht auf Zukunftsfähigkeit, ein Verzicht auf Techno- logiestandort und Industrienation. Das sagt Herr Gerster. Die Luft- und Raumfahrt ist in einer schwierigen Ich prophezeie Ihnen: Wir werden den Gesetzent-- Lage. Das hängt mit dem Einbruch der Nachfrage im wurf zur Sozialhilfe in Gesetzesform verabschiedet zivilen und im militärischen Sektor zusammen. Die bekommen, auch mit Zustimmung des Bundesrates. Industrie muß sich an eine veränderte Wettbewerbs- situation international anpassen. Schließlich muß die (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Industrie einerseits ihre Kosten überwiegend in D- Mark und andererseits ihre Erträge nahezu aus- schließlich in Dollar berechnen. Mit dieser komple- Vizepräsident Hans Klein: Ich schließe die Aus- xen Situation müssen wir uns gemeinsam auseinan- sprache. dersetzen.

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorla- In diesen Tagen rufen viele nach dem Staat. Des- gen auf den Drucksachen 13/2440, 13/2442, 13/2437 halb ist es wichtig, in Erinnerung zu rufen, daß wir und 13/2438 an die in der Tagesordnung aufgeführ- nicht bei Null anfangen. Vielmehr hat der Bund be- ten Ausschüsse vorgeschlagen. Ist das Haus damit reits Erhebliches für die Luft- und Raumfahrtindu- einverstanden? - Das ist offensichtlich der Fall. Dann strie geleistet. Seit 1967 hat das Wirtschaftsministe- sind die Überweisungen so beschlossen. rium für den Airbus rund 6,5 Milliarden DM ausge- Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1995 4853

Thomas Rachel geben. Mittlerweile hat der Airbus einen Marktanteil Drittens. Der Bund hat ein Luftfahrtforschungspro- von rund 30 %. Der Forschungsminister hat seit 1975 gramm für 1995 bis 1998 mit jeweils 600 Millionen rund 20 Milliarden DM zur Forschungsförderung DM von seiten des Bundes und der Industrie aufge- der Luft- und Raumfahrt investiert. legt. Ich sage, weil darüber diskutiert wird, auch deutlich: Es gibt kein anderes deutsches Forschungs- Ich sage ganz klar: Auch in diesem Bundeshaus- programm, das in seinem Volumen und in seinen halt sind die Mittel knapp. Trotzdem fördern wir auf Schwerpunkten so auf die Wünsche der Industrie ab- einem hohen Niveau weiter. Ich sage auch: Es kann gestimmt ist wie gerade dieses Programm. nicht sein, daß bei plötzlich auftretenden Schwierig- keiten der Ruf nach der Finanzspritze des Bundes er- (Zustimmung bei Abgeordneten der CDU/ tönt. Unternehmerische Entscheidungen und Risiken CSU) können nicht durch staatliche Subventionen kom- pensiert werden. Natürlich kann man über die Fortsetzung des Pro- gramms nach 1998 nachdenken. Aber ich sage auch (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. - ganz klar: Jetzt ist es erst einmal an der Zeit, die vor- Dr. Christian Ruck [CDU/CSU]: Bravo!) handenen Möglichkeiten zu nutzen, bevor der Ruf Ich denke, für beide Seiten, Staat und Industrie, nach neuen Geldern des Bundes laut wird. müssen die bisherigen finanziellen Aufwendungen Bei der Verteidigung ihrer Luft- und Raumfahrtin- und die technischen Erfolge eine Verpflichtung sein. teressen sind sich die Bundesländer einig, zumindest Der Staat, der mit Milliardenbeträgen geholfen und soweit es um die gemeinsame Inanspruchnahme der gefördert hat, kann von der be troffenen Industrie er- Bundeskasse geht. warten, daß der Gesichtspunkt des Erhalts hochwer- tiger Arbeitsplätze in Deutschland (Dr. Otto Graf Lambsdorff [F.D.P.]: So ist es!) (Zuruf von der SPD: Richtig!) Angesichts der Tatsache, daß der Bund hier schon ein entscheidendes Kriterium ist. eine ganze Menge erbracht hat, möchte ich die Bun- desländer schon einladen, eigene finanzielle Bei- (Beifall des Abg. Dr. Ch ristian Ruck [CDU/ träge zur Absicherung des Luftfahrtforschungspro- CSU] - Zuruf von der SPD: Das sagen auch gramms einzubringen. Dabei darf es keinen Stand- wir!) ortegoismus der Bundesländer zu Lasten des Ganzen Klar ist auch, daß die Wiederherstellung der Wettbe- geben. werbsfähigkeit in erster Linie Sache des Unterneh- (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Wie wollen Sie mens ist. Das Unternehmen muß über die angemes- das denn hinkriegen?) sene Standortstruktur entscheiden. Für den politischen Bereich stellt sich die Frage der Viertens. Der Staat ist ein wichtiger Abnehmer im politischen Rahmenbedingungen und der konkreten Bereich Luft- und Raumfahrt. Insofern hat die Indu- Beschaffungsentscheidungen: strie und haben die Menschen, die do rt beschäftigt sind, einen Anspruch auf langfristige Planungssi- Erstens. Wir müssen darüber sprechen, wie wir der cherheit und Berechenbarkeit. Wir müssen Klarheit deutschen Luft- und Raumfahrtindustrie eine faire bei den Beschaffungen haben. Chance im internationalen Wettbewerb geben kön- nen. So ist es ein Problem, daß die amerikanische Ich nenne das europäische Jagdflugzeug Eurofigh- Konkurrenz große militärische Aufträge kostenmin- ter 2000, für dessen Entwicklung durch Techniker dernd für die Zivilproduktion nutzen kann. und Ingenieure unserer Luftfahrtindustrie schon 5,6 Milliarden DM investiert wurden. Ich nenne Fu- Zweitens. Die Zeit nationaler Alleingänge ist vor- ture Large Aircraft, ich nenne den Hubschrauber Ti- bei. Um uns auf dem Weltmarkt mit hartem Wettbe- ger und den NATO-Hubschrauber 90. Darüber muß werb behaupten zu können, brauchen wir europä- das Parlament entscheiden. Luftfahrtpolitik bedarf ische Strukturen. Die Luft- und Raumfahrtindustrie keiner abstrakten Entscheidung, sondern einer sehr ist entweder europäisch, oder sie ist irrelevant. Die konkreten. Kooperationspartner, beispielsweise die Koreaner- oder die Chinesen, fragen nicht nach einem deut- Wenn man aus verteidigungspolitischen Gründen schen oder nach einem französischen Partner, nein, zu dem Ergebnis kommt, daß wir ein neues Jagdflug- sie wollen einen europäischen Kooperationspartner. zeug brauchen, dann sollten wir es kaufen, und zwar Deshalb kann das Motto für uns nur heißen: gemein- nicht im Ausland. sam entwickeln, gemeinsam produzieren, gemein- sam beschaffen, gemeinsam nutzen, gemeinsam ex- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU - portieren. Zurufe von der SPD: Bauen!) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge Aber was bietet uns die SPD? Schröder ist dafür, ordneten der F.D.P.) Matthäus dagegen und Scharping unentschieden. Die SPD ist auch in dieser Frage nicht handlungsfä- Als Unionsfraktion unterstützen wir die Bundesre- hig. gierung bei ihren Bemühungen, die Rahmenbedin- gungen bei der Förderung der Luftfahrt innerhalb (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU - der Europäischen Union zu verbessern. Das ist ein Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Wir warten auf wichtiges Anliegen. den Vorschlag des Verteidigungsministers!) 4854 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1995 Thomas Rachel Ich bin der Meinung, die Beschäftigten in der Indu- ein deutscher ESA-Astronaut, Thomas Reiter, zusam- strie und auch die Bundeswehrpiloten haben einen men mit russischen Kosmonauten in der Raumstation Anspruch darauf, klaren Wein eingeschenkt zu be- MIR und betreibt gemeinsam mit ihnen Schwerelo- kommen. Mit diesem müden Gebräu der SPD kann sigkeitsforschung. Ich finde, das ist eine hervorra- man keine Zukunft gestalten. gende Leistung. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU - Wenn man sich vor Augen führt, daß der Bundes- Lachen bei der SPD) forschungsminister allein in diesem Jahr 1,6 Mil- liarden DM für Weltraumforschung und -technik zur Meine Damen und Herren, die Forschungsminister Verfügung stellt, bleibt mir eigentlich nur noch ein werden im Oktober in Toulouse darüber entscheiden, Spruch übrig, den ich aus der Fernsehreklame ob wir als Europäer uns an der Internationalen Raum- kenne, der Spruch eines bekannten Autoherstellers station Alpha beteiligen. Statt getrennte na tionale in Deutschland: „Die tun was!" Wege zu gehen, wollen Amerikaner, Japaner, Kana- dier und Europäer erstmalig gemeinsam eine Raum- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU - station bauen, sie im Weltall stationieren und mit Zurufe von der SPD: Nicht einmal Ihre Astronauten Forschung be treiben. Das ist ein faszi- Fraktion ist davon überzeugt! - Die sind nierendes Projekt. Rund tausend Arbeitsplätze könn- nicht einmal zum Klatschen in der Lage!) ten damit im Bereich der deutschen Raumfahrt gesi- chert werden. Die Raumfahrtindustrie muß ihr Geld verstärkt auch auf den Märkten gewinnen und darf nicht nur Was sagen die Grünen? Sie lehnen die deutsche auf Aufträge des Staates hoffen. In den nächsten Jah- Beteiligung an Alpha und auch die bemannte Raum- ren wird es neue Nutzungsfelder geben: Satelliten- fahrt ab. navigation, neue Formen der Telekommunikation, (Zuruf von der SPD: Wir nicht!) Erderkundung zum Nutzen der Landwirtschaft, Ka- tastrophenschutz. Wir haben heute nur einen Anteil Bei den Haushaltsberatungen haben sie die Strei- von 2 % am Weltmarktvolumen von 43 Milliarden chung der Mittel beantragt. Ich kann nur sagen: Das DM. Es wird ein jährliches Wachstum von 16 % auf ist konkrete Zukunftsverweigerung. 186 Milliarden DM erwartet. Diese Märkte wollen er- orbert werden, und zwar zum Wohle deutscher Ar- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU beitsplätze. und der F.D.P.) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge Die in der Raumfahrt führenden Nationen der Welt ordneten der F.D.P.) werden in ungeahnter Kooperation einige hundert Kilometer von der Erdkugel entfernt über na tionale, Lassen Sie mich einen abschließenden Gedanken politische und sprachliche Grenzen hinweg zusam- formulieren: Raumfahrt ist jenseits a ller Nutzanwen- menarbeiten. Sollte Deutschl and da abseits stehen? dung und Wirtschaftlichkeitsbetrachtung auch eine Ich meine: Nein. Das ist ein einzigartiges Vorhaben, forschungspolitische Aufgabe, die das Selbstver- das wissenschaftliche und wirtschaft liche Nutzung ständnis der Wissenschaft im tiefsten berührt. In sowie außenpolitischen Nutzen miteinander verbin- neue, unbekannte Räume und Welten vorzudringen, det. Meiner Meinung nach sollten wir mitmachen. physisch und psychisch, ist seit jeher ein Streben der Die Raumfahrt hat eine tiefergehende Bedeutung, Menschen gewesen. Raumfahrt kann zu tieferem als es auf den ersten Blick vielleicht ersichtlich ist. Verständnis der Materie und auch der Geschichte Das Bild von der Erdkugel ist wahrscheinlich das unserer Welt beitragen. wertvollste Apollo-Vermächtnis, das es gibt. Die Auf- Was für uns vor Jahren noch Zukunft war, ist heute nahmen von der Erde aus dem Weltall haben die Gegenwart. Wir müssen jetzt gemeinsam die Gegen- Vorstellungen unserer Welt zutiefst verändert. Die wart von morgen erfinden. Einmaligkeit und die Verwundbarkeit unseres Erd- balls sind deutlich geworden. Herzlichen Dank. Raumfahrt leistet wich tige Beiträge zur Lösung (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) - von Zukunftsaufgaben. Das Abschmelzen der polaren Eiskappen und das Ansteigen der Ozeane als Folge des Treibhauseffektes werden mittels Ra- Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Rachel, Sie darsensoren aufgezeichnet. Satelliten messen Mee- gehören nicht der F.D.P.-Fraktion an, die ihre Erst- resströmungen, Wellenhöhen und auch Windge- lingsredner mit einem Blumenstrauß zu bedenken schwindigkeiten. Satelliten haben durch die kontinu- pflegt. ierliche Beobachtung des Ozonlochs dazu beigetra- (Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Die gen, einen entscheidenden Bewußtseinswandel in haben nicht so viele! Bei uns würde das zu der Öffentlichkeit zu bewirken. teuer!) Gleichzeitig gibt es auch eine wirtschaftliche Be- Dafür haben Sie heute die Genugtuung, in einer De- deutung. Die ARIANE-Rakete hat am zivilen Rake- batte, die in die erste Kernzeit nach unserer Reform ten- und Satellitenmarkt einen Anteil von 60 %. Der fällt, vor fast vollem Hause geredet zu haben. ROSAT Satellit, 1990 gestartet, hat im Universum 120 000 neue Röntgenquellen entdeckt. D1- und D2- (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, dem Missionen waren erfolgreich. In diesem Moment ist BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P.) Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1995 4855 Vizepräsident Hans Klein Ich erteile der Kollegin Dr. Sig rid Skarpelis-Sperk drei: die Lage auf dem Weltmarkt für zivile Luftfahr- das Wort. zeuge, die hausgemachten Probleme bei der DASA und die fehlende mittelfristige Planung bei der staat- lichen Nachfrage. Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk (SPD): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die deutsche Luft- Die internationalen Probleme sind dabei ohne und Raumfahrtindustrie befindet sich in einer Zweifel die gravierendsten. Die Deregulierung des schwierigen Lage, ihr größtes Unternehmen, die Luftverkehrs hat weltweit zu hohen Verlusten der in- Daimler-Benz Aerospace, in einer existentiellen ternationalen Luftverkehrsgesellschaften geführt. Krise. Im Halbjahresbericht bringt der DASA-Vor- Das hat bei den Flugzeugbauern zu Nachfrageein- stand der Öffentlichkeit einen Verlust von über brüchen und zu weltweiten Überkapazitäten ge- 1 1/2 Milliarden DM zur Kenntnis und rechnet mit wei- führt. Allein Airbus mußte seine Planung von 210 auf teren deutlichen Verlusten bis zum Jahresende. Etwa mittlerweile 120 Maschinen zurückführen. Das hat 46 000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter an etwa natürlich Konsequenzen für die Gewinne und die Ko- 40 Standorten in Deutschland sind zu Recht zutiefst stensituationen mit sich gebracht. über ihre Situation beunruhigt und fragen ihre Un- ternehmensführung, aber auch die Politik nach den Aber darüber hinaus ist die deutsche Indust rie Zukunftschancen ihres Unternehmens und der deut- auch in einer ungünstigeren Wettbewerbslage als an- schen Luft- und Raumfahrtindustrie. Ich meine, Ma- dere europäische Mitbewerber und erst recht als ihre nagement und Politik schulden den Menschen Of- US-Konkurrenten. Dazu muß man der Bundesregie- fenheit und Klarheit über ihre Zukunftschancen, rung sagen, daß die Europäische Union zusammen mit den USA im Rahmen des GATT im Juli 1992 ein (Beifall bei der SPD) bilaterales Abkommen geschlossen hat, das zu schlimmen Nachteilen für die deutsche und die euro- gerade weil dieser Bereich in einem nicht geringen Umfang von öffentlichen Aufträgen abhängt. päische Luft- und Raumfahrtindustrie geführt hat. Wir Sozialdemokraten meinen: Die Luft- und (Beifall bei der SPD) Raumfahrtindustrie ist ein unverzichtbares Element Es ist der US-Industrie gelungen, die in Europa der deutschen Industrie. Sie verfügt in hohem Aus- praktizierte direkte Förderung stark zu reduzieren maß über Zukunftstechnologien, deren Innovationen und die in den USA praktizierte indirekte Förderung auf andere Bereiche ausstrahlen. Schlüsseltechnolo- durch Militär- und Forschungsprogramme weitge- gien wie Mikro- und Optoelektronik, Softwaretech- hend unangetastet zu lassen. Das hätte sich voraus- nologie, neue Hochleistungswerkstoffe und neue sehen lassen. Energietechnologien kommen interdisziplinär zum Einsatz. Viele dieser Technologien werden in den Der vom DASA-Management als entscheidend nächsten Jahren auf weltweiten Wachstumsmärkten vorgetragene Verfall des Dollarkurses ist zwar wich- wie der zivilen kommerziellen Satellitenkommunika- tig, aber zumindest in diesem Jahr laut Halbjahres- tion eine wichtige Rolle spielen. bericht nicht entscheidend für die Höhe der Verluste. Herr Kollege Rachel, wir müssen aber auch dar- (Beifall bei der SPD und der F.D.P.) über reden, daß in den 46 000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der DASA über Jahrzehnte ein For- Nach uns vorliegenden Informationen be tragen die schungs-, Entwicklungs- und Produktionswissen ent- Rückstellungen für die sogenannten Drohverluste für standen ist, das in der deutschen Industrie seinesglei- einen Dollarrückgang auf DM 1,35 - der Dollar steht chen sucht. • übrigens heute auf 1,41 DM - etwa 220 Millionen DM. Das ist für ein Unternehmen eine ernst zu neh- (Beifall bei der SPD) mende Summe, aber nicht der Löwenanteil der Ver- Die hohe Qualifikation der Arbeitnehmerinnen und luste. Arbeitnehmer, ihr Know-how, ihre Produktionsfähig- (Beifall bei der SPD und der F.D.P.) keiten und ihre Arbeitsplätze gilt es unserem Land zu erhalten. Deswegen muß man sagen: Die hausgemachten Fehler der DASA haben zu größeren Verlusten ge- (Beifall bei der SPD) führt als die Dollarschwäche. Die Zukunft der Luft- und Raumfahrtindustrie wird (Beifall bei der SPD und der F.D.P. sowie bei im zivilen Bereich liegen, in dem die DASA schon Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE heute 70 % ihres gesamten Umsatzes erzielt. GRÜNEN) (Zuruf von der SPD: Wohl wahr!) Man kann dem Management von Daimler-Benz und Ihre internationale Wettbewerbsfähigkeit - da DASA nur raten, selbst einmal in den Spiegel zu se- stimme ich meinem Vorredner zu - läßt sich auf hen und sich zu fragen, ob sie nicht ihre eigenen Dauer nur in einer engen europäischen Kooperation Kaufentscheidungen bei Fokker und Dornier nun zu sichern. Lasten Dritter, nämlich ihrer Arbeitnehmer und des Staates sanieren müssen. Wer aber der deutschen Luft- und Raumfahrtindu- strie helfen will, muß sich über die Gründe der massi- (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE ven Krise im klaren sein. Das sind im wesentlichen GRÜNEN und der F.D.P.) 4856 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1995 Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk Betrachtet man nun die vom DASA-Vorstand lan- Auch bei den Schwierigkeiten bei Dornier handelt cierten und öffentlich gemachten Konzepte wie z. B. es sich nicht um ein Dollarproblem, wird doch bei der das Dolores-Programm, so drängt sich der Verdacht DO 328 schon zu über 80 % im Dollarraum produ- auf, als wolle man von eigenen Fehlern ablenken ziert. und die eigenen Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh- mer sowie die Politik massiv unter Druck setzen. (Zustimmung bei der SPD) (Beifall bei der SPD) Letztlich muß sich das DASA-Management stärker als bisher der Aufgabe zuwenden, Ersatzproduktio- Wir meinen, eine konzertierte Aktion zum Erhalt nen für die unvermeidlich geringer werdende militä- der deutschen Luft- und Raumfahrtindustrie zur Zu- rische Nachfrage zu finden, d. h. neue, innovative kunftssicherung der Arbeitsplätze war und ist schon Produkte zu entwickeln und zu vermarkten. lange überfällig. Ministerpräsidentengipfel sind da- (Zustimmung bei der SPD) für kein Ersatz, Wir alle wissen, wie verdammt schwer das in einer (Zuruf von der SPD: Sehr wahr !) Struktur ist, die nicht an Marketing auf harten Wett- weil sie zentrale Probleme gar nicht angehen kön- bewerbsmärkten gewöhnt, sondern auf staatliche nen. und speziell militärische Beschaffung getrimmt war. Hier kann und muß Politik, die sich gemeinsam und Die Bundesregierung muß deswegen mit den Be- aus vernünftigen Gründen nach dem Ende des Kal- teiligten gemeinsam ein industriepolitisches Konzept ten Krieges für Abrüstung als Priorität entschieden vorlegen. Aber davor muß das DASA-Management hat, den Übergang vom militärischen Entwicklungs- seine eigenen Hausaufgaben machen. Dafür gibt es und Beschaffungswesen in neue zivile Bereiche öff- vier Punkte: nen und ebnen helfen, auch finanziell. Die Dolores-Drohliste von 15 000 Entlassungen (Beifall bei der SPD) und der Schließung ganzer Standorte muß zunächst Und weil Sie nachgefragt haben: Das ist unsere einmal vom Tisch. Vorstellung von einer aktiven, sozialverträglichen (Beifall bei der SPD und der F.D.P. sowie bei Industriepolitik. Nicht am militärischen Produkt kle- Abgeordneten der CDU/CSU und des ben um jeden Preis, sondern sich überlegen, wie sich BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Wissen und Qualifikation sowie das hohe Produkti- ons-Know-how für weltweit absetzbare neue Ideen Denn es geht nicht, daß man sagt, alle Beteiligten und Produkte nutzen lassen. müßten sich an einen Tisch setzen, ihnen aber gleich- zeitig die Pistole auf die Brust setzt und mit Massen- Übrigens ist beim Dolores-Konzept nicht auszu- entlassungen und Standortschließungen droht. schließen, daß 15 000 Arbeitsplätze in Deutschland in der jetzigen Flaute der zivilen Luftfahrt zu Lasten der (Beifall bei der SPD) Arbeitnehmer und auf Kosten des Staates radikal ab- gebaut werden und dann, wenn die Weltnachfrage Wir erwarten dafür von der DASA ein neues und bei der zivilen Luft- und Raumfahrt wieder anspringt, mit den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern ab- die Arbeitsplätze im Ausland wieder hochgezogen gestimmtes Zukunftskonzept für das Unternehmen, werden. bei dem dessen Beiträge sowie diejenigen der Kon- zernmutter und der Arbeitnehmer zur Sicherung der (Beifall bei der SPD) Standorte darzustellen sind. Wir wissen, daß die Ar- Seien Sie sicher, wir werden darauf achten, daß bei beitnehmer dazu bereit sind. allen künftigen Staatsaufträgen sichergestellt wird, (Beifall bei der SPD) daß Produktion, Arbeitsplätze und Know-how in ei- nem garantierten Maß in Deutschland bleiben, auch In dieses Konzept gehören auch realistischere Eck- in einem unausweichlich enger werdenden europäi- daten für den Dollarkurs und die erwartete Kapital- schen Verbund. rendite. Meine Damen und Herren, niemand will Daimler-Benz angemessene Renditen verwehren.- (Beifall bei der SPD) Aber als Teilbegründung für die Notwendigkeit von Im dritten und wichtigsten Punkt für die Krise ist Massenentlassungen und Standortschließungen sind die Politik in der Verantwortung. Das sind nämlich sie eine Zumutung für die Arbeitnehmerinnen und die fehlenden Konzepte für die mittelfristige Ent- Arbeitnehmer und für die Politik. wicklung der Nachfrage in wich tigen Bereichen der (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne Luft- und Raumfahrtindustrie. Hier muß nicht die ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) DASA, hier muß die Bundesregierung endlich ihre Hausaufgaben machen, Wir erwarten, daß die DASA den hausgemachten (Beifall bei der SPD) Problemen ernsthaft zu Leibe rückt - die übrigens al- lesamt mehr kosten als der schwache Dollar - und sie zügig, aber auch sorgfältig, und dann dem Parlament nicht zu Lasten deutscher Standorte löst. Allein bei zur Entscheidung vorlegen. Ich sage Ihnen eines: Fokker entstand ein Verlust von 597 Millionen DM, Übers Knie brechen läßt sich da nichts; denn eine Be- und für das zweite halbe Jahr stehen weitere schaffungsentscheidung für ein System, ob nun im 0,8 Milliarden an. militärischen Bereich oder bei der Raumfahrt, bedeu- Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1995 4857

Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk tet ja notwendigerweise, daß ein anderes Projekt aus Wir richten auch jetzt, in der Zeit der rassischen Zu- dem Haushalt herausfliegt, wenn die Summe der Be- sammenarbeit, große Hoffnungen auf Sie. schaffungsaufträge begrenzt ist. Das hat dann auch (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) wirtschafts- und arbeitsmarktpolitische Konsequen- zen, möglicherweise sogar im selben Konzern. Ich erteile das Wort der Kollegin Simone Probst. Deshalb werden wir Sozialdemokraten darauf be- stehen, daß die Bundesregierung ihre Hausaufgaben Simone Probst (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr macht und endlich ein Konzept für die Luft- und Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Für Raumfahrt, auch ein haushaltsfähiges, tragbares wirklich tragfähige politische Konzepte ist die Krise Konzept für die militärischen Aufträge vorlegt, denn bei der DASA eine der größten Herausforderungen. das steht immer noch aus. Der drohende Wegfall von 15 000 Arbeitsplätzen (Beifall bei der SPD) ist alarmierend. Allerdings ist die S trategie der Kon- zernführung und auch die der Bundesregierung a lles Wir bedauern sehr, daß die Bundesregierung trotz andere als überzeugend. Auch die Debatte, die heute der hohen staatlichen Aufwendungen - allein in den und in den letzten Tagen geführt wurde, geht an den Airbus sind etwa zehn Milliarden DM geflossen - Kernpunkten vorbei. sich derzeit nicht in der Lage sieht, ein Konzept für die Luft- und Raumfahrtindustrie vorzulegen, son- Was soll die Diskussion um Eurofighter, ja oder dern - so hat es uns der geschätzte Kollege Lammert nein? Ich frage Sie wirklich: Was soll das? versprochen - auf die Jahreswende 1995/1996 vertrö- Sicherheitspolitische Entscheidungen müssen als stet. Ein Gutachten über die Luft- und Raumfahrtin- sicherheitspolitische Entscheidungen und nicht als dustrie wurde im Frühsommer 1995 vergeben und Beschäftigungsprogramme mit unklarer Wirkung ge- soll nun im Sommer 1996 vorliegen - fürwahr nicht troffen werden. gerade eine besonders eilige Behandlung, und Herr Lammert ist nun nicht der erste und nicht der zweite, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) sondern der dritte Koordinator für die Luft- und Raumfahrt. So, meine Damen und Herren, wird die Nutzen Sie doch nicht die bedrängte Situation der Bundesregierung ihrer Verantwortung gegenüber Beschäftigten, um umstrittene Entscheidungen jetzt dem Parlament, der Öffentlichkeit und der betroffe- hopplahopp salonfähig zu machen, vor allem, weil nen Luft- und Raumfahrtindustrie nicht gerecht. der militärische Sektor der DASA in den letzten Jah- ren von über der Hälfte auf nur noch gut ein Viertel (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne gesunken ist! ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Zwar ist uns auch dieser Anteil ein Do rn im Auge. Wir erwarten, daß der Koordinator der Bundesregie- Wir diskutieren aber nur ein Viertel der gesamten Pa- rung endlich aus seiner Moderatorenrolle herauskom- lette. Das heißt auch, mit der Entscheidung für oder men darf und dem Deutschen Bundestag ein indu- gegen den Eurofighter ist das Problem der DASA strie- und haushaltspolitisches Konzept vorlegt. Mein nicht gelöst und der Plan Dolores nicht vom Tisch. Kollege Schütz wird auf die Details näher eingehen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Die Menschen in der Luft- und Raumfahrtindustrie Zuruf von der SPD: Sehr richtig! - Beifall erwarten von der Bundesregierung und der Politik bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE Klarheit über ihre Ziele und Planungssicherheit für GRÜNEN) ihr Unternehmen. Da frage ich mich einfach, was dieser Zirkus der Mi- Deswegen, meine Herren von der Bundesregie- nisterpräsidenten verschiedenster Couleur in der rung: Machen Sie Ihre Hausaufgaben sorgfältig und letzten Woche sollte. zügig, damit das Parlament auch in der Lage ist, ver- Es ist zwar richtig, daß Rüstungsaufträge vorder- antwortlich zu entscheiden! gründig und kurzfristig Kapazitäten auffüllen kön- (Beifall bei der SPD) nen, aber es gehen doch von solchen Aufträgen keine Impulse für neue Produkte und Arbeitsplätze - aus. Vizepräsident Hans Klein: Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Auf der Besuchertribüne (Zuruf von der F.D.P.: Aber sicher!) hat Herr Senator Coetsee, der Präsident des Südafri- kanischen Senats, mit seiner Delega tion, mit der er Vielmehr zeigen neben allen unseren prinzipiellen hier zu Gast weilt, Platz genommen. Ich begrüße ihn Bedenken alle Untersuchungen, daß die versproche- namens des Hauses herzlich. nen Innovationseffekte der Militärproduktion für die zivile Fertigung längst nicht eingehalten werden (Beifall) können. Es hat sich im Gegenteil gezeigt, daß die Rü- stungsindustrie eher eine Sackgasse für technologi- Herr Senator und Kolleginnen und Kollegen aus sche Innovation und Kreativität im zivilen Bereich ist. dem Südafrikanischen Senat! Dieses Hohe Haus hat am Schicksal Ihres Landes immer aktiven Anteil ge- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) nommen. Nehmen Sie doch das Beispiel Dornier. Dornier (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ hat sich im Bereich der Medizintechnik engagiert DIE GRÜNEN]: Vor allem die CSU!) und einen Ultraschall-Nierensteinzertrümmerer ent- 4858 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1995

Simone Probst wickelt, sozusagen eines der vielbeschworenen Ab- ßenwahn geprägten Einverleibung von Dornier und fallprodukte. Allerdings konnte sich dieses soge- Fokker wäre die DASA vermutlich ein gut laufendes nannte Abfallprodukt nicht gegen andere Anbieter Unternehmen, und die Milliardenverluste müßten auf dem Markt durchsetzen, weil dem Konzern Dor- nicht von der Airbus wettgemacht werden. nier die nötige Infrastruktur wie beispielsweise Mar- keting und Vertrieb fehlt. Hier ist eine große struktu- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) relle Schwachstelle, die geschlossen werden muß, Es kann doch nicht angehen, daß das Management wenn Projekte zur Konversion Erfolg haben sollen. die Verantwortung und die Belegschaft das Risiko trägt, während der Staat durch Subventionen für die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Fehlentscheidungen des Managements einstehen und bei der PDS sowie bei Abgeordneten muß. der SPD) (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS Es müssen Strukturen geschaffen werden, die die SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD) Eigenständigkeit der zivilen Produktion sichern und damit Arbeitsplätze gerade in der Hochtechnologie Denn auch eine Veränderung des Dollarkurses fällt zu erhalten helfen. Warum gibt es hier so wenige Ak- ja nicht plötzlich vom Himmel. Hintergrund der jetzt tivitäten? Warum liegt hier nur ein Stellenabbaupro- betriebenen Rationalisierungsplane bei der DASA ist gramm und nur die Forderung nach neuen Subven- das Ziel, die Kapitalrendite bis zum Jahr 1998 auf tionen auf dem Tisch? 12 % und den Gewinn auf 1,1 Milliarden DM zu stei- gern sowie das Eigenkapital bis zum Jahre 2000 auf (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Sehr richtig!) 2,6 Milliarden DM zu verdoppeln, und das bei einem angenommenen Dollarkurs von 1,35 DM. Wir wissen, Warum findet in einer gerade für die Beschäftigten so daß er heute bei ungefähr 1,45 DM steht und daß die prekären Situa tion keine Marktanalyse statt, welche DASA Währungssicherungsgeschäfte vorgenommen Produkte mit welchem Know-how hergestellt werden hat, die den Dollarkurs bis 1998 absichern. können? Man muß gegenüber dem Konzernvorstand diese Aus technischer Sicht könnte die DASA viel Nütz- Ziele vehement bestreiten und sich nicht zu unver- liches produzieren: umweltfreundliche Antriebssy- nünftigen Entscheidungen verleiten lassen. steme, Motoren für Blockheizkraftwerke, die eine (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sparsame und dezentrale Energieversorgung erlau- sowie bei Abgeordneten der SPD) ben, wesentlich sparsamere Kraftfahrzeuge, Elektro- fahrzeuge für den Stadtverkehr, umweltfreundliche Die Politik darf nicht durch einzelne Konzerne er- Nutzfahrzeuge wie Busse und Lkw, weiterentwik- preßbar werden. Vielmehr müssen die politischen kelte Windenergieanlagen, Solarzellen, Techniken Rahmenbedingungen verläßlich gesetzt werden und zur Wiederverwertung von Werkstoffen, moderne staatliche Gelder an zukunftssichere Arbeitsplätze Meerwasserentsalzungsanlagen, neuartige Batterien und Projekte gebunden werden. und andere Speicher zur Nutzung von Überschuß- energien und zum Antrieb von Fahrzeugen, Systeme Unter dieser Voraussetzung ist es einfach grotesk, zur Umweltbeobachtung und zur Telekommunika- auf die geplante Raumstation Alpha zu setzen - ein tion. Projekt, das von großen Finanzierungslücken ge- kennzeichnet ist, ein Projekt, in der die A rt und Dies alles wird nicht vorangetrieben. Vielmehr soll Weise und der Umfang der Kooperation mit Frank- die Airbus AG nach den vorliegenden Plänen mit reich und Italien ungeklärt ist. Solch ein Projekt ver- 7 500 abzubauenden Stellen am stärksten be troffen körpert doch keine Zukunft, sondern nur neue Ab- sein. Das ist nicht nur angesichts der bisher allein für hängigkeiten und Unwägbarkeiten. Schaffen Sie die den Airbus geflossenen Subventionen in Höhe von politischen Rahmenbedingungen, daß die zivile Pro- 6,5 Milliarden DM ein Skandal. Es kann doch nicht duktion der DASA gestützt wird. Die Einführung ei- angehen, daß Unternehmen erst die Subven tion kas- ner Kerosinsteuer ist auch vor diesem Hintergrund sieren und dann Entscheidungen dieser Tragweite- längst überfällig. ausschließlich aus konzernstrategischen Erwägun- gen heraus treffen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Wir treten für eine drastische Reduzierung des Flug- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN verkehrs ein; allerdings müssen die Rahmenbedin- sowie des Abg. Dr. Winfried Wolf [PDS]) gungen so sein, daß die modernsten und umwelt- schonendsten Techniken auf dem Markt auch wirk- Vielmehr hat die DASA gerade auf Grund der um- lich Chancen haben, Fuß zu fassen. fangreichen öffentlichen Mittel, die sie in den letzten Jahren erhalten hat, eine standort- und beschäfti- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) gungspolitische Verantwortung, vor allem, weil die Deutsche Airbus AG keinesfalls vom Pleitegeier be- Eine Kerosinsteuer wird die Nachfrage nach treib- droht ist, sondern ein profitables Unternehmen in ei- stoffsparenden Flugzeugen, wie es der Airbus ist, nem wachsenden Markt ist. 1994 belief sich der stark erhöhen. Die technischen Möglichkeiten, die Überschuß auf 260 Millionen DM. Ohne die Fehlkal- wir haben, müssen doch für den ökologischen Um- kulation des Daimler-Managements bei der vom Grö bau genutzt werden. Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1995 4859

Simone Probst Da frage ich mich, warum, als die DASA das letzte Aber so ist das eben: Ein großes Unternehmen Solarzellenwerk geschlossen hat, das Management macht Verluste und kündigt in ziemlich drohender und die Belegschaft nicht an die Politik herangetre- Weise den Abbau von Arbeitsplätzen an. Und dann ten sind, wo wir doch wissen, daß das ein Bereich ist, beginnt das Schauspiel: Vom Frühstücksfernsehen wo wirklich Zukunftschancen der Technologie lie- bis zu den „Tagesthemen" wird uns die DASA darge- gen. Warum wurde da keine Unterstützung eingefor- boten, regionale und überregionale Zeitungen, von dert? Hier müssen Rahmenbedingungen geschaffen „FAZ" bis „Bild", erregen die Gemüter, die IG-Me- werden: mit einer Energiesteuer, mit einer kosten- tall organisiert Demons trationen. Sieben Ministerprä- deckenden Vergütung, damit diese Bereiche nicht sidenten eilen herbei und demonstrieren parteiüber- abwandern, sondern hier erhalten bleiben, greifend Einigkeit; Herr Rachel hat recht: möglichst zu Lasten der Bundeskasse. Wenn Sie, meine Herren, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ihre Arbeitsplätze in Ihren Regionen sichern wollen, damit die Arbeitsplätze erhalten bleiben und damit ist das völlig in Ordnung; aber bitte: zu Ihren Lasten. die Rahmenbedingungen verläßlich sind und nicht (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.) von Entscheidungen von einer Woche auf die andere abhängig gemacht werden. Ich bin sicher, Herr Ministerpräsident Stoiber, Sie und Ihre Kollegen haben den Ruf des Kollegen Ra- Wir unterstützen alle Bemühungen, das Wissen chel, Standortegoismus dürfe es nicht geben, mit viel und die Arbeitsplätze im Bereich der Hochtechnolo- Zuversicht und Zutrauen aufgenommen. gie zu erhalten. Das Wissen und das Know-how sind ein hohes Gut, das nicht unbedacht verspielt werden Meine Damen und Herren, wir verstehen die Sor- darf. gen der betroffenen Arbeitnehmer und ihrer Fami- Wir teilen die Sorge der Beschäftigten um ihre Ar- lien. Sie fürchten um ihre Arbeitsplätze in struktur- beitsplätze. Aber gerade deshalb muß jede weitere schwachen Regionen, in denen es schwierig ist, neue Mark an die DASA an glasklare Bedingungen und Arbeitsplätze zu finden. Das ist das Bittere daran. Spielregeln geknüpft werden. Es ist doch ein Ar- Aber das Unternehmen und die IG-Metall, die in ei- mutszeugnis, wenn wir unseren Gestaltungsspiel- nem mitbestimmten Unternehmen über erheblichen raum aufgeben, vor allen Dingen auf Grund der Fehl- Einfluß verfügt, machen es sich wohl zu leicht, ei- entscheidungen einzelner Konzerne. Es geht hier um gene Fehlentwicklungen einfach beim Steuerzahler Steuergelder, und ich denke, dies ist mitnichten mo- abzuladen. derne Wirtschaftspolitik. (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.) Vielen Dank. Wer kümmert sich eigentlich um die Schieflage eines (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Mittelständlers in vergleichbarer Lage? Wenn es sowie bei Abgeordneten der SPD) nicht 15 000 von 75 000, sondern 200 von 1 000 Ar- beitsplätzen sind, dann kommt allein der Bürgermei- ster und sonst nur der Gerichtsvollzieher oder der Vizepräsident Hans Klein: Ich erteile das Wo rt dem Konkursverwalter. Kollegen Dr. Otto Graf Lambsdorff. (Zurufe von der SPD)

Dr. Otto Graf Lambsdorff (F.D.P.): Herr Präsident! Das, meine Damen und Herren, ist der Wettbe- Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! In der werbsnachteil kleiner und mittlerer Unternehmen. vergangenen Woche haben alle Fraktionen mit herz- Ihnen kommen wir selten oder gar nicht zu Hilfe, bewegenden Worten ihre Mittelstandsfreundlichkeit über sie ergießt sich das Füllhorn staatlicher Ret- gepriesen. Es war richtig schön, sich das anzuhören. tungsmaßnahmen nicht. Sie dürfen zusehen, wie mit Heute behandeln wir in einem besonderen Tages- ihren Steuergeldern ihre großen Konkurrenten häu- ordnungspunkt die Probleme eines großen Unterneh- fig genug künstlich am Leben gehalten werden. mens, (Joseph Fischer [Frankfu rt] [BÜNDNIS 90/ (Zuruf von der CDU/CSU: Schwäbischer- DIE GRÜNEN]: So ist es!) Mittelstand!) Deshalb sage ich auch bei dieser Gelegenheit noch und prompt hagelt es Rufe nach Unterstützung und einmal in Richtung Mittelständler: Tretet ihr dafür nach Subventionen: Um die Zukunft einer Zukunfts- ein, daß die Steuern gesenkt werden, daß euch eure industrie in Deutschland gehe es. Können Sie sich Gewinne belassen werden! Wehrt euch gegen die vorstellen, daß wir bei Problemen eines mittelständi- Subventionswirtschaft! Ihr zahlt die Steuern, die Gro schen Unternehmens in gleicher Weise verfahren? -ßen kassieren die Subventionen. (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Wer hat die (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne Ausnahmegenehmigung gegeben?) ten der CDU/CSU) - Wir kommen auf dieses Thema noch zurück. Frau Matthäus, so vergeßlich bin ich doch nicht. Industriepolitik für Zukunftsindustrien, das ist offen- sichtlich nur die modische Umschreibung für einen Ich habe das in mehr als 20 Jahren Wirtschaftspoli- alten Mechanismus: von der Förderung der Zukunft tik nicht erlebt. über die Erhaltungssubvention zur Dauersubvention. 4860 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1995

Dr. Otto Graf Lambsdorff Übrigens, was heißt eigentlich Subventionsgewäh- Kauf von Fokker finanzieren? Nach gestrigen Presse- rung in großen Fällen für den Arbeitsmarkt? Die Poli- meldungen rechnet der neue Daimler-Benz-Vorsit- tik brüstet sich dann oft genug, sie habe Arbeits- zende Jürgen Schrempp bei seinem Neuerwerb mit plätze erhalten. Das Gegenteil ist richtig. Staatliche einem Verlust von 1 Milliarde holländische Gulden in Hilfszahlungen nehmen den Druck von Tarifver- diesem Jahr. handlungen. In der nächsten Tarifrunde kann fröh- lich weiter gefordert werden. Aber die dann verein- (Joseph Fischer [Frankfu rt] [BÜNDNIS 90/ barten Tarifsteigerungen sind unverdau lich für DIE GRÜNEN]: Hase, dein Name sei Otto, kleine und mittlere Unternehmen. Do rt wird dann und du weißt von nichts!) Produktion ins Ausland verlagert, wie wir es tagtäg- - Also, immer noch besser Otto als Joschka. lich erleben. (Heiterkeit und Beifall bei der F.D.P. sowie Die indirekte Subventionierung der Ergebnisse bei Abgeordneten der CDU/CSU - Joseph von Tarifverhandlungen macht große Unternehmen Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ gegen Kostensteigerungen unempfindlicher und zer- NEN]: Wer war denn da F.D.P.-Minister?) stört Arbeitsplätze in kleinen und mittleren Unter- nehmen. - Also ich nicht, Herr Fischer, falls Sie sich daran noch erinnern sollten. (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Oh Gott, oh Gott!) Meine Damen und Herren, gerade Entscheidun- gen wie die über den Kauf des Unternehmens Fok- Wirtschaftswissenschaftler schätzen, daß ein so er- ker werden übrigens in mitbestimmten Unternehmen haltener Arbeitsplatz wegen dieser Kausalkette mit nicht ohne Zustimmung des mitbestimmten Auf- ca. drei bis fünf verlorenen Arbeitsplätzen in kleinen sichtsrates getätigt. Wie geht das denn vor sich? und mittleren Unternehmen bezahlt wird. Kann die IG Metall jetzt alleine mit dem Zeigefinger die Verantwortlichen suchen, ohne zu sagen, wieviel Meine Damen und Herren, unser früherer Kollege sie selber dazu beigetragen hat? hat kürzlich zur Fusion Daimler- Benz/MBB im „Handelsblatt" geschrieben: (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne ten der CDU/CSU) Daß die Fusion volkswirtschaftlich falsch war, das wußten wir lange. Jetzt wissen wir, daß sie auch Ich maße mir im übrigen kein eigenes Urteil zum betriebswirtschaftlich falsch war. Thema Mißmanagement an. Er hat recht. Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege, gestatten (Zuruf von der SPD: Und wer hat das ge Sie eine Zwischenfrage? nehmigt?) - Wir haben genehmigt; ich weiß. Sie wissen, daß ich Dr. Otto Graf Lambsdorff (F.D.P.): Jawohl, Herr Prä- dagegen war. Trotzdem haben wir am Ende geneh- sident; ich möchte nur noch diesen Gedanken zu migt. Ende führen. Ich maße mir zum Thema Mißmanagement wahr- (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Ein F.D.P.- lich kein eigenes Urteil an. Es genügt völlig, auf die Minister! ) Äußerung von Herrn Schrempp zu verweisen, mit - Ja, das weiß ich auch. Aber Sie kennen doch alle der er die von seinem Vorgänger übernommene Erb- die Vorgeschichte, und Sie kennen auch alle den ein- last öffentlich beklagt hat. zigen wichtigen Grund: daß wir versuchten, insbe- Herr Präsident, bitte. sondere von den Wechselkurssubventionen beim Airbus zu Lasten der Bundeskasse davonzukommen. Aber so haben wir nun nicht gewettet, daß wir die Vizepräsident Hans Klein: Bitte, Herr Kollege Tauss. Fusion damals genehmigt haben und die Subven-- tionsforderung doch wieder auf den Tisch bekom- men. Jörg Tauss (SPD): Ist Ihnen bekannt, daß gerade (Beifall bei der F.D.P. - Joseph Fischer die Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat gegen [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: diese Fusionen gestimmt haben, von denen Sie hier Das war doch damals schon absehbar!) sprechen? Ist Ihnen weiter bekannt, daß diese Arbeit- nehmervertreter auf Grund eines Mitbestimmungs- Muß denn jetzt, meine Damen und Herren, der gesetzes überstimmt werden konnten, das den Ar- Steuerzahler für Mißmanagement geradestehen? beitnehmerinnen und Arbeitnehmern nicht die Mehrheit sichert, und daß das Mitbestimmungsge- (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ setz im Hinblick auf diese Situation im wesentlichen DIE GRÜNEN]: Da versucht jetzt einer, sich auf Ihre Intervention hin zustande gekommen ist? aus der Verantwortung zu stehlen!) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne Soll er für die Unfähigkeit zahlen, das Problem AEG ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN zu lösen? Soll der Steuerzahler den offenbar falschen und der PDS) Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1995 4861

Dr. Otto Graf Lambsdorff (F.D.P.): Erstens ist die zende Bischof verschweigt bei seiner Kritik, daß die Fusion von Daimler-Benz/MBB unter kräftiger Zu- Zeitverzögerung nicht nur, aber auch darauf beruht, stimmung, um nicht zu sagen kräftigem Druck auch daß der deutsche Fertigungsanteil von jetzt debat- der IG Metall zustandegekommen, die völlig auf der tierten 23 % möglichst erhöht werden soll. Der Herr Seite der Fusion stand. Verteidigungsminister nickt. Ich sehe das als Zustim- mung an. Ein schneller Abschluß, auf den manche Zweitens. Was das Mitbestimmungsrecht angeht, jetzt drängen, würde die Chancen für einen größeren so haben wir es seinerzeit in der sozialliberalen Ko- deutschen Arbeitsanteil verschlechtern und deutsche alition gemeinsam verabschiedet. Ich halte das, im Arbeitsplätze kosten. Auch das sollte man wissen. Gegensatz zu Ihnen, für ein vernünftiges Gesetz. (Beifall bei der F.D.P.) (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne ten der SPD) Meine Damen und Herren, was sagt denn eigent- lich der Großaktionär Deutsche Bank zu diesem Vor- Aber, meine Damen und Herren, was sollen eigent- gang? Die Verteidiger des industriellen Beteiligungs- lich DASA-Vorstand und Arbeitnehmer davon hal- besitzes der Banken dürften sich diesen Fall etwas ten, daß der rot-grüne Wahlkämpfer Spöri, unser frü- genauer ansehen. herer Kollege hier im Hause, in Baden-Württemberg die Beschaffung des Flugzeuges forde rt, die Fraktion der SPD aber am 19. September im Verteidigungs- Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege, der Kol- lege Urbaniak möchte auch eine Zwischenfrage stel- ausschuß beantragt hat, sogar die Entwicklung abzu- len. brechen? Die Meinungsbildung bei Ihnen ist so über- sichtlich wie der Blick auf einen Teller Spaghet ti.

Dr. Otto Graf Lambsdorff (F.D.P.): Bei Herrn Urba- (Heiterkeit und Beifall bei der F.D.P. und niak immer, Herr Präsident. der CDU/CSU - Zurufe von der SPD)

- Es ist nicht alles zum Besten bei der F.D.P., aber es Hans-Eberhard Urbaniak (SPD): Herr Kollege ist nicht so schlimm wie bei Ihnen. Lambsdorff, Sie wissen doch genau, daß wir bei der Mitbestimmungsregelung, die wir seinerzeit getrof- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU - fen haben, klare sozialdemokratische Vorstellungen Zuruf der Abg. Anke Fuchs [Köln] [SPD]) nicht aufgegeben haben und wir immer gesagt ha- ben, für uns gilt die Parität. Das gilt nicht für das Mit- - Liebe Frau Fuchs, ich habe vorhin auch die Debatte bestimmungsrecht, das Sie anführen. Das muß der zur Sozialpolitik verfolgt. Ich denke, Frau Lehn hat Redlichkeit wegen noch einmal festgehalten werden. heute eine soziale Tat vollbracht. Sie hat Herrn Scharping zum Lachen gebracht. Das ist in seiner Si- (Beifall bei der SPD) tuation als soziale Tat zu werten.

Dr. Otto Graf Lambsdorff (F.D.P.): Ich wiederhole: (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU - Dieses Gesetz ist auch mit den Stimmen der Sozial- Rudolf Scharping [SPD]: Das war jedenfalls demokraten verabschiedet worden. Aber ich wi ll Ih- interessanter und amüsanter als Ihre Rede!) nen gerne bestätigen, wir haben Sie an dem un- glaublichen volkswirtschaftlichen und eigentums- Meine Damen und Herren! Die Entscheidung für politischen Unsinn hindern können, die überparitäti- oder gegen den Eurofighter bleibt trotz Ihrer Koali- sche Mitbestimmung der Montanmitbestimmung auf tion, Herr Ministerpräsident Stoiber, mit dem Herrn die ganze Wirtschaft auszudehnen. Da haben Sie Ministerpräsidenten Schröder und anderen immer recht. noch eine verteidigungs-, eine sicherheitspolitische Entscheidung. Darin sind wir einig. Das ist gut. (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne ten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/ (Beifall bei der F.D.P.) DIE GRÜNEN) Sie kann ja, kann aber auch nein heißen. Eine Verga- - Wir werden uns die größte Mühe geben, Herr Urba- begarantie für die DASA hat es zu keinem Zeitpunkt, niak, das auch in Zukunft zu verhindern. auch nicht bei der Fusion von Daimler-Benz und (Beifall bei der F.D.P.) MBB gegeben. Die Hoffnungen einiger Herren sind noch längst keine Garantien und noch längst keine Meine Damen und Herren, die Fortsetzung der Zu- Wechsel, die man zum Verfall vorlegen kann. weisung von Forschungsmitteln, gegebenenfalls auch ihre Erhöhung, gegebenenfalls auch ihre Aus- (Beifall bei der F.D.P.) weitung auf die Raumfahrt, was Herr Rachel zu dem ganzen Komplex gesagt hat, findet meine, findet un- Für nicht erteilte Aufträge, für erwartete, aber nicht sere Zustimmung. Das wird von der F.D.P. unter- hereingeholte Aufträge muß jedes Unternehmen in stützt. Mehr zum gegenwärtigen Zeitpunkt aber dieser Wirtschaft selbst für Ersatz sorgen und kann auch nicht. sich nicht beim Staat schadlos halten. Den Wunsch nach Planungssicherheit, nach klarer (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne Entscheidung des Bundes zu dem Kampfflugzeug ten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/ kann ich durchaus verstehen. Aber der DASA-Vorsit DIE GRÜNEN) 4862 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1995 Dr. Otto Graf Lambsdorff Mit Wechselkursänderungen - die sind ärgerlich und spruch nehmen können. Wenn Sie das verantworten störend, das will ich gar nicht bestreiten - müssen an- wollen, dann tun Sie es. Wir nicht. dere auch fertig werden. Im übrigen haben Sie recht, es ist nicht der Löwenanteil der Verluste. (Beifall bei der SPD) Es wird in dem Zusammenhang - Sie haben das Vizepräsident Hans Klein: Zur Replik Graf auch getan - immer wieder auf die günstige Wettbe- Lambsdorff. werbssituation von Boeing hingewiesen. Immerhin hat Boeing von 166 000 Arbeitsplätzen in den letzten drei Jahren 50 000 abgebaut. So, daß dort das Land Dr. Otto Graf Lambsdorff (F.D.P.): Herr Kollege Kol- ist, wo Milch und Honig fließen, ist es in der amerika- bow, ich höre und ich staune, wie erbeten. nischen Flugzeugindustrie keineswegs. (Heiterkeit bei der CDU/CSU und der SPD) (Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk [SPD]: Ein Drit Würden Sie die Freundlichkeit haben, mir zu er- tel, wie die DASA auch!) klären, warum sich Ihr Kollege Spöri trotz des Feh- Unternehmerische Aufgaben können und dürfen lens eines verteidigungspolitischen Konzeptes im jedenfalls nicht beim Staat abgeladen werden. Was Wahlkampf in Baden-Württemberg landauf, landab sich hier abzeichnen könnte - ich will nicht sagen, dafür ausspricht, alsbald das Flugzeug zu bestellen? daß es sich schon abzeichnet -, nämlich Privatisie- (Heiterkeit bei der CDU/CSU - Ing rid rung der Gewinne und Sozialisierung der Verluste, Matthäus-Maier [SPD]: Fragen Sie mal das ist nicht die Vorstellung der F.D.P. von Marktwirt- Herrn Spöri!) schaft.

(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- Vizepräsident Hans Klein: Kollege Kolbow. Ganz ten der CDU/CSU, der SPD und des BÜND- kurz, bitte. Sonst wird eine Debatte der Kurzinter- NISSES 90/DIE GRÜNEN - Zurufe vom ventionen geführt. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Hoi! - Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Wacht auf, Verdammte dieser Erde!) Walter Kolbow (SPD): Den Kollegen Spöri verstehe ich gut. Dem ist das Hemd näher als der Rock,

Vizepräsident Hans Klein: Meine verehrten Kolle- (Lachen bei der CDU/CSU und der F.D.P.) ginnen und Kollegen! Den Mitgliedern des Ältesten so wie Herrn Stoiber, Herrn Schröder und allen, die rates habe ich mitzuteilen, daß die Sitzung nicht um davon betroffen sind, wenn sie Produktionsstätten 13 Uhr und auch nicht, wie vorübergehend angekün- haben. digt, um 13.40 Uhr, sondern vermutlich gegen 15.30 Uhr stattfinden wird. Aber, Herr Kollege Lambsdorff, dann müssen Sie auch alle miteinander in Ihren Parteien dafür wirken Zu einer Kurzintervention erteile ich jetzt dem Kol- - Herr Stoiber, Sie sind nachher noch dran -, daß legen Kolbow das Wort. vom Herrn Verteidigungsminister das verteidigungs- politische Konzept, über das wir entscheiden kön- nen, auf den Tisch gelegt wird. Das ist bisher nicht (SPD): Herr Kollege Lambsdorff, Sie Walter Kolbow geschehen, und deswegen kommen Sie in den Nach- waren so freundlich, auf den Spaghettiteller zu blik- teil vor Ort, mit uns den Arbeitnehmerinnen und Ar- ken, den Sie meinten, im Restaurant SPD einnehmen beitnehmern erklären zu müssen, warum es aus ver- zu müssen. teidigungspolitischer Sicht, auch der Opposi tion, im (Zuruf des Abg. Dr.-Ing. Dietmar Kansy Augenblick keine Entscheidung geben kann. [CDU/CSU]) (Beifall bei der SPD) Ich will der intellektuellen Redlichkeit wegen, der Sie sich immer verpflichtet fühlen, dartun, daß natür- - Vizepräsident Hans Klein: Das war eine Rede und lich hinter den Entscheidungen der SPD im Verteidi- keine Replik mehr. - Graf Lambsdorff noch einmal. gungsausschuß die Logik steckt, daß keinerlei vertei- digungspolitisches Konzept für die Luftverteidigung dieses Landes besteht. Das haben wir von Anfang an Dr. Otto Graf Lambsdorff (F.D.P.): Herr Abgeordne- gesagt und deswegen auch die Entwicklung nicht ter Kolbow, nach dieser Erklärung wi ll ich nur sagen mit unserer Zustimmung versehen. - Herr Struck bittet mich, mich kurz zu fassen, damit nicht so viel Zeit verlorengeht -: Ich werde auch in (Beifall bei der SPD) Zukunft gerne Spaghet ti essen, aber nicht in Ihrem SPD-Restaurant. Ich verrate Ihnen noch eines, wenn mein ge- schätzter Kollege Nolting aus dem Verteidigungs- (Zurufe von der SPD: Oh! - Zuruf von der ausschuß es Ihnen nicht gesagt hat: Wir haben sogar SPD: Das war Parmesankäse! - Joseph Fi - hören Sie und staunen Sie! - die versteckten Be- scher [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ schaffungsmittel von 110 Millionen DM im Verteidi- NEN]: Besser Spaghetti als Andreotti ! - gungsausschuß abgelehnt, weil wir ohne Luftvertei- [CDU/CSU]: Besser Spaghetti digungskonzeption den Steuerzahler nicht in An tion!) als Pizza bei der Pizza-Connec Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1995 4863

Vizepräsident Hans Klein: Das Wort hat der Kol- tivity-Car" in den USA fertigen läßt, finanziell noch lege Dr. Winfried Wolf. mehr zu unterstützen. Damit wahr bleibt, was wahr ist: Das größte Unternehmen in diesem L and ist zu- gleich der größte Subventionsempfänger. Ein Wi rt (PDS): Sehr geehrter Herr Präsi- Dr. Winfried Wolf -schaftsminister der liberalen Partei präsentiert sich dent! Sehr geehrte Damen und Herren! Um es vor- als Ritter der Marktwirtschaft in trauriger Gestalt - weg zu sagen - interessanterweise sagen es bis auf mit Ausnahmegesetzen für die ganz, ganz Großen. Herrn Lambsdorff ja auch Rednerinnen und Redner aller hier im Hause vertretenen Fraktionen und Zweitens. Es geht um Arbeitsplätze. Richtig. Daim- Gruppen -: Das Arbeitsplatzvernichtungsprogramm ler-Benz hat allein seit 1990 70 000 Arbeitsplätze ab- Dolores muß vom Tisch. Die bei Daimler und bei gebaut. Darunter befinden sich auch einige tausend DASA Beschäftigten kämpfen zu Recht um ihre Ar- Arbeitsplätze in den Bereichen Bahnbau und Bahn- beitsplätze und gegen Arbeitsintensivierung. Ihnen technik. Zusammengenommen wurden bei Daimler gehört in diesem Kampf unsere uneingeschränkte seit 1990 rund fünfmal mehr Arbeitsplätze abgebaut, Solidarität. Wir haben dies vor Ort durch Delegatio- als jetzt mit Dolores abgebaut werden sollen. Dazu nen, Grußadressen usw. deutlich gemacht und ma- gab es keine Parlamentsdebatte. chen es auch hier, im Deutschen Bundestag, deut- Es geht um Arbeitsplätze. Richtig. Die Deutsche lich. Bundesbahn, die Deutsche Reichsbahn und jetzt die Doch an diesem Punkt hören unsere Gemeinsam- Deutsche Bahn AG haben allein seit 1990, seit der keiten mit dem größten Teil dessen, was im Plenar- Wende, 300 000 Arbeitsplätze abgebaut. Die Deut- saal gesagt wurde, auf. Denn hier wird geheuchelt. sche Bahn AG baut pro Jahr 25 000 bis 30 000 Ar- Wir erleben eine Schmierenkomödie, eine höchst un- beitsplätze ab. Bis 1998 sollen weitere 100 000 abge- moralische Veranstaltung, wozu heute in der „WAZ", baut werden. Der Kollege Voscherau, der hier anwe- der „Westdeutschen Allgemeinen Zeitung", st and, send sein kann, hat damals, bei der Behandlung der daß versucht wird, den Staat mit Arbeitsplätzen zu Gesetze zur Bahnprivatisierung, gesagt: Das ist das erpressen. Ende der schönen Eisenbahn. - Dazu gab es keine Parlamentsdebatte. Wo bleiben die wackeren Ar- Halten wir doch ganz nüchtern drei Fakten fest. beitsplatzverteidiger? Erstens. Der DASA-Mutterkonzern ist die Daimler- Die im Bereich Post und Telekommunikation en- Benz Aktiengesellschaft. Daimler ist der größte Kon- gagierten Kolleginnen und Kollegen - so z. B. unsere zern in diesem Land. Der Umsatz der Daimler-Benz AG Kollegen Jüttemann und Bierstedt - haben mir die übersteigt in diesem Jahr 100 Milliarden DM. Selbst Zahlen der Arbeitsplätze genannt, die in diesem Be- die prognostizierten Verluste bei DASA von 1995 ein- reich abgebaut wurden und noch zum Abbau anste- gerechnet, wird der Gewinn des Daimler-Gesamt- hen: bisher mehr als 50 000, bis 1999 weitere 100 000. konzerns zwar nicht bei 1,2 Milliarden DM, aber im- merhin noch zwischen 100 und 200 Millionen DM Gestern war der Umweltausschuß in der Oberlau 1995 liegen. sitz. Dort steht nochmals ein Abbau von 15 000 Ar- beitsplätzen an. Wo ist die Oberlausitz-Debatte? Wo Wenn es denn weniger sein sollte, müßte die Bi- ist die Post/Telekommunikations-Debatte? lanz genauer durchleuchtet werden. Der neue Daim- ler-Chef Schrempp macht doch das - das weiß Herr Richtig: Es geht um Steuergelder und andere Gel- Lambsdorff ganz genau -, was alle neuen Topmana- der, die von Millionen Menschen in diesem Land in ger in einer solchen Lage tun: Er produziert am An- Kassen eingezahlt werden. fang seiner Karriere an der Spitze des Konzerns rote (Vorsitz: Dr. ) Zahlen. Ausgerechnet er, der den Milliarden-Flop Fokker drehte, klebt seinem Vorgänger Edzard Reu- Hier Subvention für Daimler. Doch warum reden ter das Etikett „Mißmanagement" ans Bein. diese Buchhalter der Na tion nicht über die anderen gemeinschaftlich aufgebrachten Gelder? Allein der Schrempp erpreßt auf diese Weise die Belegschaf- Arbeitsplatzabbau bei der Bahn, der seit 1990 statt- ten. Er will in den nächsten Jahren blendend daste- fand, kostet diejenigen, die in die Arbeitslosenversi- hen. Massenhafter Arbeitsplatzabbau plus mehr- Ar- cherung einzahlen, jährlich rund 9 Milliarden DM. beitsintensität plus mehr Subventionen gleich Super- Dazu kommen die Menschen, die durch Dolores zu- gewinne und gleich Superkarriere für die eigentliche sätzlich ihren Job verlieren sollen und die Gemein- Ära Schrempp. schaftskassen mit rund 240 Millionen DM jährlich be- Allein mit Dolores sollen für 1998 und 1999 1,1 bis lasten werden. 1,2 Milliarden DM Gewinne eingefahren werden. Drittens. In welchen Bereichen findet mit Dolores Just dieser Zielsetzung sieht sich Schrempp ver- denn auch Arbeitsplatzabbau statt? Wofür soll es pflichtet. Bei Antritt seines neuen Jobs sagte er ge- mehr Steuergelder und Staatsknete geben? Exakt genüber der „Wirtschaftswoche", er kenne nur eine seit 1982, seit Antritt der Regierung Kohl, betrieb der Philosophie, und sie heiße: „Profit, Pro fit, Profit." Daimler-Konzern, unterstützt von der Deutschen Bank, Herrn Herrhausen, dann Herrn Hilmar Kopper, Es geht der Regierung mit dieser Debatte also die Politik der Diversifizierung. darum, ihre eigenen Gesetze der Marktwirtschaft zu- gunsten des mächtigsten Konze rns auszusetzen. Es Ein Technologiekonzern sollte es werden. Daß es geht darum, dieses Unternehmen, das übrigens das auch ein Rüstungskonzern wurde, sollte nicht gesagt „Smart"-Auto in Frankreich und der neuen „All-Ac werden. Eine strikte Anweisung der Daimler-Lobby- 4864 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1995

Dr. Winfried Wolf isten hier in der Bonner Flußlandschaft lautete: Der Erstens. Die Subventionen, die an Daimler bzw. Sprachgebrauch „Technologiekonzern" ist durchzu- DASA direkt oder indirekt fließen, werden mit Wir- setzen, das Wort „Rüstungsunternehmen" zu tilgen. kung des Haushalts 1996 folgendermaßen zweckge- Dabei wurden seither mit MTU, mit MBB, mit Dor- bunden vergeben: Daimler bzw. DASA wird veran- nier, mit Teilen von AEG Unternehmen aufgekauft, laßt, seine Rüstungssparte gezielt in friedliche Pro- die in erster Linie Rüstungsgüter fertigen. Heute ist duktionen umzurüsten, zu konvergieren, z. B. in Daimler der größte deutsche Rüstungskonzern und Schienenverkehrstechnik, in neue Energien, im me- der größte Rüstungsexporteur in diesem von einer dizinischen Bereich, eben dort, wo Daimler gerade angeblich christlichen Partei maßgeblich regierten im Ausstieg begriffen ist. Darauf hat meine Kollegin Lande. Simone Probst hingewiesen. Exportiert wird auch in Länder, die aktiv Krieg füh- Zweitens. Daimler bzw. DASA wird auch im Be- ren, so in die Türkei. Exportiert wurde auch in Dikta reich der zivilen Luftfahrt verstärkt auferlegt, in um- turen, so in den Irak und nach Indonesien. Exportiert weltverträglichere Techniken zu investieren, etwa in wurden Waffensysteme, U-Boot-Systeme, u. a. an das die Entwicklung weniger lauter und weniger ener- rassistische Apartheidssystem in Kapstadt. Der ge- gieintensiver Triebwerke. schätzte Gast auf der Tribüne, für den auch ich ge- Drittens. Daimler erhält diese Subventionen in Zu- klatscht habe, weiß dies. kunft nur, wenn eine vertraglich vereinbarte ver- Die neuen Programme, für die jetzt zusätzliche pflichtende Arbeitsplatzgarantie gegeben wird. Subventionen fließen sollen, sind Programme für Wenn schon die Marktwirtschaft ausgehebelt ist, neue militärische Beschaffungen. Es sind Pro- dann richtig und im Interesse der Belegschaften. gramme, die sich hervorragend für Bundeswehrein- (Beifall bei der PDS) sätze out of area eignen werden. Da ist der Jäger, der ständig umgetauft werden muß, um zu verschleiern, Das sind übrigens Forderungen, wie sie im IG-Me- daß bereits 5 oder 7 Milliarden DM Steuergelder in tall-Grundsatzprogramm stehen. Das sind Forderun- ihn gepumpt wurden, der jetzt Eurofighter heißt und gen, wie sie unsere Gruppe in dem Antrag zum Ver- Kriege für das Konzept der Regierungskoalition für bot der Rüstungsexporte und zur Konversion der Rü- Europa führen soll. Da ist das Future Large Aircraft. stungsindustrie in den Bundestag einbrachte. Das Das heißt so, weil die „future", die Zukunft, im Füh- sind die Forderungen, die die kirchlichen Gruppen ren neuer Kriege gesehen wird. Es handelt sich um und die Abrüstungsgruppen aufgestellt haben. Das ein riesiges Militärflugzeug, das u. a. Raum für den sind die Forderungen, wie sie Jahr für Jahr bei den Transport von Panzern bietet. Da ist der Hubschrau- kritischen Aktionären auf den Hauptversammlungen ber Uhu, der so verniedlichend bezeichnet wird, um der Daimler-Benz AG vorgetragen werden. zu verhüllen, daß es sich um einen Kampfhubschrau- ber handelt, usw. Das sind die einzigen Forderungen, die gerade auch im Interesse der Kolleginnen und Kollegen bei Um diese todbringenden, um diese mörderischen der DASA Zukunft bieten. Programme zu puschen, um hierfür zusätzlich im Jahr 1 Milliarde DM Subventionen aus den Rippen Ja, Herr Rachel, ja, Herr Rexrodt, ja, Herr Rühe, es von Herrn Waigel herauszuleiern und an den größten geht um Zukunft - nicht in Kriegen, nicht für eine Konzern fließen zu lassen, wird diese Debatte funk- Raumfahrt im Himmel, nicht für Konzerninteressen. tionalisiert. Dazu sollen die Beschäftigten bei DASA Es geht um Zukunft und Frieden auf Erden, um Ar- beitsplätze für sinnvolle, dringend erforderliche Pro- in ihrer Notlage instrumentalisiert werden. duktionen und Dienstleistungen. Dafür muß Dolores Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und weg. Dafür brauchen wir ein Projekt DZZ: Daimlers Kollegen, besteht jetzt ein Widerspruch zwischen Zivile Zukunft. meinen letzten und meinen ersten Sätzen? Vielleicht Danke schön. für die Herren Schrempp, Rachel, Rexrodt und Rühe, die nur noch in Kategorien denken können, bei de- Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordne nen sich Arbeitsplätze auf Kriegführen und Waffen ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) produzieren zu beschränken scheint, in deren- Kon- zeptionen kaum Raum für weit sinnvollere Produkte und Dienstleistungen existiert. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Für die Bundes- regierung erhält jetzt das Wo rt Herr Minister Rex- (Brigitte Baumeister [CDU/CSU]: Da haben rodt. Sie ja Erfahrung!) - Sie wissen, ich bin immer für Zwischenanfragen an- Dr. Günter Rexrodt, Bundesminister für Wirtschaft: sprechbar, wenn die Zeit dafür nicht angerechnet Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und wird. Herren! Ich halte es zunächst einmal für wich tig, daß eine Bruchlandung der deutschen Luft- und Raum- Wir befinden uns in der Zeit zwischen der ersten fahrt vermieden wird. Wir müssen auf diesem Sektor und der zweiten bzw. dritten Lesung des Bundes- in der technologischen Tradition bleiben, in der wir haushalts. Das ist doch eine sehr gute Gelegenheit, uns befinden. Wir müssen Kompetenz in diesem den Kolleginnen und Kollegen bei DASA zu Hilfe zu High-Tech-Bereich bewahren. Was hier Facharbeiter, kommen und dem verbohrten Daimler-Vorstand wie Ingenieure und Wissenschaftler in vielen Bereichen folgt auf die Sprünge zu helfen. erforschen, wirkt auch in andere Bereiche unserer Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1995 4865

Bundesminister Dr. Günter Rexrodt Wirtschaft hinein. Denken Sie an ABS, den Airbag, Die Unternehmen müssen ihre Kostenprobleme in an medizinische Geräte sowie an neue Forschungs- den Griff bekommen. Wir können nicht dafür sorgen, und Entwicklungslinien, auch Produktionslinien in daß sie mit dem Dollar klarkommen. Es sind unter- der Energietechnik und in der Sensorik sowie an die nehmerische Entscheidungen zu treffen. Diese Haus- vielen anderen Bereiche. aufgaben liegen bei der DASA und nirgendwo an- ders. Erstens. Die Luft- und Raumfahrtindustrie ist eine Schlüsseltechnologie, genauso wie die Biotechnik Wir haben schließlich im Jahre 1989 der Fusion und die Gentechnik. Sie ist eine Zukunftsindustrie. von Daimler und MBB zugestimmt, damit die Luft- Einen Fadenriß in dieser Zukunftstechnologie kön- und Raumfahrtindustrie in Deutschland endlich pri- nen wir uns im Interesse des Standortes Deutschland vatwirtschaftlich-unternehmerisch geführt wird. nicht leisten. Meine Damen und Herren, über den Erwerb von (Beifall bei der F.D.P.) Dornier und Fokker wird viel gesprochen, und es wird vieles kritisiert. Ich bin auch nicht ganz sicher, Das war auch der Grund dafür, daß wir in diese In- ob die Verträge, die Daimler-Benz mit Fokker und dustrie erhebliche Forschungsmittel investiert haben, Dornier geschlossen hat, wirklich im Interesse der zweistellige Milliardensummen. Diese Linie haben Unternehmen und dieser Industrie und optimal wa- wir trotz schwieriger Gesamtsituation des Haushalts ren. Vielleicht sind sie weit davon entfernt. Der guten im Jahre 1995 fortgesetzt. Unser Luftfahrtforschungs- Ordnung und der Fairneß halber muß aber eines ge- programm für die Jahre 1995 bis 1998 hat ein Volu- sagt werden: Wir wollten mit dieser Fusion u. a. - men von 600 Millionen DM. Wir haben versucht, die Graf Lambsdorff ist darauf schon eingegangen -, daß betroffenen Länder ins Boot und damit in dieses Pro- in Deutschland ein gleichwertiger und gleichgewich- gramm zu holen. Außer Baye rn - das muß zugege- tiger Partner in der europäischen Luft- und Raum- ben werden - haben sich alle anderen Länder in vor- fahrtindustrie entsteht, einer, der mitspielen kann, nehmer Zurückhaltung geübt. wenn es um Entscheidungen, auch um Produktions- entscheidungen, auch um Arbeitsplätze in Deutsch- (Dr. Christian Ruck [CDU/CSU]: Hört! land geht. Hört!) Ich mache einmal ein Fragezeichen, ob wir, wenn wir eine auch in der Spitze in kleine Unternehmen Nun wünscht die Industrie eine Weiterführung die- zersplitterte Luft- und Raumfahrtindustrie in ser Förderung. Darüber müssen wir reden. Ich sage Deutschland hätten - als Zulieferer haben wir sie -, ausdrücklich: Darüber können wir auch reden. Ich im Wettbewerb mitspielen könnten. Vielleicht würde werde dieses Thema sowohl mit dem Kollegen Rütt- sich eine solche Debatte dann erübrigen, weil wir gar gers, der dazu hier heute noch sprechen wird, als keine leistungsfähige Luft- und Raumfahrtindustrie auch mit der EG-Kommission erörtern. mehr hätten.

(Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Jetzt erst? - Diet (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Das klingt fast mar Schütz [Oldenburg] [SPD]: Hätten Sie nach Industriepolitik!) das Konzept nicht schon haben müssen? - Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Aber Auch das muß man berücksichtigen. handeln tun Sie nicht!) Wir haben die Zustimmung zur Fusion damals aber - Wir reden immer mit der Luft- und Raumfahrtindu- nicht gegeben, um bei den ersten Turbulenzen doch strie. wieder an Bord gezerrt zu werden. Dies findet nicht statt. Noch einmal: Die Unternehmen und - Sie ge- (Heiterkeit bei der F.D.P.) statten das - auch die Ministerpräsidenten der Län- der müssen einsehen, daß wir diese Industrie nicht Wir veranstalten keine Show, sondern reden mit den ständig mit Subventionen in der Luft betanken kön- Leuten Tacheles und gerade über Forschung und nen. Entwicklung sehr konstruktiv. Erkundigen -Sie sich, meine Damen und Herren! Drittens. Die Bundesregierung wird sich weiter für schnelle, klare und verläßliche Entscheidungen in al- Zweitens. Wir wollen, daß die Luft- und Raum- len Beschaffungsfragen einsetzen, auch bei den mili- fahrtindustrie nicht kaputtgeredet wird. Wir haben tärischen Aufträgen. sehr erfolgreiche, sehr kompetente Unternehmen in (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Wie bisher Deutschland und Europa, die sich aus eigener Kraft etwa?) am Weltmarkt behaupten müssen. Wir dürfen nicht vergessen, daß die Krise, über die hier debattiert In der Vergangenheit war es auch nicht die Regie- wird, in erster Linie eine DASA-Krise ist. Es sind die rungsmehrheit, Frau Fuchs, sondern die Opposi tion Unternehmen, die Verantwortung für die Wettbe- und ihre Ministerpräsidenten in den Ländern, die mit werbsfähigkeit, für Gewinne und Verluste tragen. ihrem Zickzackkurs in diesen Fragen für Verwirrung Ich habe es wiederholt öffentlich und nichtöffentlich und Verunsicherung gesorgt haben. gesagt: Aus dieser Verantwortung können und wer- den wir die DASA nicht entlassen. Das weiß die (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Wir haben noch DASA auch. keine Vorlage!) 4866 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1995 Bundesminister Dr. Günter Rexrodt Ihre Partei war das. Wenn sich die Führung der Op- menarbeit fortsetzen und tragfähige Konzepte ent- position heute hinstellt und keinen Entscheidungsbe- wickeln, beispielsweise im Regionalflugzeugbau. Da darf sieht, wie Herr Scharping, der nicht mehr da ist, stehen Entscheidungen von großer Tragweite auch für die DASA an. (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Ihnen zuzuhören ist auch eine Zumutung!) (Manfred Opel [SPD]: Die Bundesrepublik kauft keine deutschen Flugzeuge, das finde dann beweist das nur, wie weit Anspruch und Wirk- ich toll!) lichkeit auseinanderklaffen, wenn es um klare Politik für die Arbeitsplätze in Deutschland geht. Meine Da- - Die Bundesregierung kauft Flugzeuge, so wie sie men und Herren, spielen Sie sich nicht auf, sondern das unter fiskalischen, technischen und Arbeitsplatz- treffen Sie Entscheidungen, die im Interesse der Ar- aspekten für richtig hält. Wir müssen abwägen. beitsplätze liegen. Wenn wir das nicht täten, dann würden wir von Ih- nen zu Recht vorgeführt. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU - (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Lachen bei der SPD) Die Bundesregierung wird sich dafür einsetzen, Wer blumenreich versichert, daß er sich für die Be- daß auf europäischer Ebene entsprechende Entschei- schäftigung in dieser Branche einsetzt, der muß nach dungen getroffen werden, und zwar bald. Ich sage Abwägung - auch wir sind mit diesem Diskussions- noch einmal: Es wird sich manches ändern, und man- prozeß noch nicht am Ende - zu schnellen und klaren ches wird sehr zu denken Anlaß geben, wenn wir ge- Beschaffungsentscheidungen ja sagen und sich hier rade im Zivilflugzeugbau einen großen wirklich eu- nicht aufspielen. ropäischen Konzern haben, bei dem ich nicht sicher bin, daß er aus Deutschland heraus geführt wird. (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Wo sind die Dennoch müssen wir diesen Weg gehen. denn? - Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Wer regiert denn hier in diesem Land?) Ich hoffe, daß es gelingt, über den europäischen Beitrag in der Zivilluftfahrt, bei der Raumstation und In Hamburg und in Hannover hat man diesen Zu auch bei den Ariane-Programmen noch im Oktober sammenhang eigentlich besser erkannt als bei Ihnen. Einigkeit herbeizuführen. Viertens. Die Beschaffungsaufträge sichern Tech- (Dr. Ingrid Skarpelis-Sperk [SPD]: Welchen nologie und Beschäftigung am Standort Deutschland Jahres?) vor allem auch in den vielen Ausrüstungs- und Zulie- ferbetrieben. Es sind vor allem die kleinen und inno- - Dieses Jahres. vativen, die mittelständischen Betriebe, die sich um Die Bundesregierung wird die legitimen Wirt ihre Existenz und die Existenz der Arbeitsplätze Sor- -schaftsinteressen der deutschen Unternehmen auf gen machen. Wenn ich das, was die Opposition, ins- den Märkten weltweit vertreten. Der DASA-Vorstand besondere Frau Probst von den Grünen, zu Technolo- bemüht sich, die Wettbewerbsfähigkeit des Unter- gie und Raumfahrt von sich gegeben hat, Revue pas- nehmens zu sichern. Dafür ist eine schonungslose sieren lasse, so sind diese Sorgen nur zu berechtigt. Analyse der Engpässe und auch der Kostensen- kungspotentiale unverzichtbar. Ebenso müssen die ( [SPD]: Sie ist Physikerin! Kooperationsformen untersucht werden. Anfang Ok- Vorsicht! - Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Sie tober dieses Jahres soll die Analyse abgeschlossen versteht mehr davon als Sie!) sein. Wir haben - Graf Lambsdorff hat das schon gesagt - Der DASA-Vorstand vermittelt immer wieder, daß vorige Woche eine Diskussion über den Mittelstand die Plane im Zusammenhang mit Dolores nie in der gehabt und ein Loblied auf den Mittelstand gesun- Unternehmensspitze besprochen, diskutiert oder be- gen. schlossen seien. Aber es bleibt dabei, daß die Pläne in dieser Phase in die Öffentlichkeit gelangen und (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Warum spielen daß sie in weiten Bereichen, insbesondere bei den Sie es dann nicht aus?) - Arbeitnehmern, für Unruhe sorgen. Das ist ein unver- Heute müssen Sie den Beweis antreten, daß Sie dies antwortlicher Vorgang. Wer auch immer ihn zu ver- nicht nur aus tagespolitischer Opportunität heraus antworten hat: Dies kann so nicht hingenommen tun. werden, gerade im Interesse der Ruhe in den Unter- nehmen und im Interesse der Arbeitnehmer selbst. (Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk [SPD]: Ablen kungsmanöver! - Wilhelm Schmidt [Salz (Beifall bei der F.D.P.) gitter] [SPD]: DASA als Mittelstand, das ist Ich möchte mich heute an Spekulationen über un- schon toll!) veröffentlichte Sanierungskonzepte nicht beteiligen. Ich kann nur den Rat geben, daß sich die Arbeitge- Fünftens. Die Zukunft der deutschen Luft- und ber und die Arbeitnehmer im Betrieb zusammenset- Raumfahrtindustrie erfordert tragfähige und lei- zen und ein vernünftiges Konzept erarbeiten. stungsfähige Kooperationen und Kooperationsstruk- turen in Europa. Das wird zu manchen Veränderun- Parallel zu den Bemühungen der DASA arbeitet gen führen. Die Unternehmen müssen ihre Bemü- Herr Lammert, der Koordinator für die deutsche hungen um eine möglichst enge europäische Zusam- Luft- und Raumfahrt in meinem Haus, an einem um- Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1995 4867 Bundesminister Dr. Günter Rexrodt fangreichen Bericht über die politischen Handlungs- der Staat diese Verantwortung abverlangen und si- felder, die es gibt und auf die ich in der zur Verfü- chern? gung stehenden Zeit natürlich nur kurz eingehen konnte. Lassen Sie mich diese Fragen exemplarisch für eine Standortregion stellen, die von Entscheidungen Die Arbeitsplätze in der Luft- und Raumfahrtindu- des Daimler-Konzerns schon nachhaltig be troffen strie werden auch in Zukunft weitgehend von staatli- wurde und der nach dem Dolores-Papier, wenn es chen Aufträgen abhängen, insbesondere im militäri- wahr wäre, der Garaus gemacht würde. Ich spreche schen Bereich, nur zu kleinen Teilen im zivilen Be- von der Küstenregion zwischen Wilhelmshaven, Va- reich. Ich füge hinzu: Um den zivilen Bereich mache rel, Nordenham, Lemwerder und Bremen. Ich ich mir mittel- und langfristig keine übergroßen Sor- glaube, auch im Süden gibt es ähnliche Struktursi- gen. Wenn es der DASA gelingt, die Kostenstruktu- tuationen, die dieses Beispiel untermauern können. ren zu verbessern und wenn wir den Prognosen über den Zuwachs in der Weltluftfahrt vertrauen, die alle Bisher hat das Unternehmen Daimler 1992 das realistisch sind und die in der Vergangenheit immer Olympia-Werk in Wilhelmshaven, das nicht zur Luft- übertroffen wurden, dann muß in absehbarer Zeit mit und Raumfahrtindustrie gehört, mit 2 000 Beschäftig- Sicherheit, mit Zwangsläufigkeit ein großer Nachfra- ten geschlossen, wovon nur noch 800 von Anschluß geschub auf die Unternehmen zukommen. Das wird firmen übernommen wurden. Das Werk Lemwerder, vieles erleichtern. Wir müssen die Krise, die Ober- das zur DASA gehörte, hatte zu Beginn des Arbeits- gangszeit, durch Schulaufgaben, die die DASA zu kampfes 1200 Beschäftigte. Ginge es nach der machen hat, aber auch durch Klarheit bei uns, ein- DASA, wären fast alle arbeitslos. Nach intensiven schließlich bei der Beschaffungsproblematik, mei- Bemühungen des Landes Niedersachsen werden stern. 790 Menschen weiterbeschäftigt.

Ich stehe wie in der Vergangenheit - das gilt auch Das Dolores-Papier sieht in diesem kurzen Küsten- für Herrn Lammert - für flankierende politische Ge- streifen weitere mögliche Entlassungen vor: 660 in spräche mit allen Be troffenen zur Verfügung. Für Varel, mit der eventuellen Schließung des Werkes den 13. Oktober 1995 habe ich zu einer weiteren Ge- insgesamt 1 150 Mitarbeiter - es sind also noch wel- sprächsrunde mit der Wirtschaft und den Minister- che in petto -, in Nordenham 250 und in Bremen wei- präsidenten nach Bonn eingeladen. Die Entschei- tere 100. Das ist ein weiterer Aderlaß. Die Arbeitslo- dungen über die innere Struktur und die Standorte senquote, die schon jetzt bei 18 % liegt, würde dann der DASA in Deutschland bleiben in der Verantwor- auf 21 oder 22 % steigen. tung der DASA, in der Verantwortung der Unterneh- mensleitung. Wenn Sie so wollen, sind die Ge- In dieser Situa tion, Herr Rexrodt und Herr Graf sprächspartner in diesem Feld primär die Minister- Lambsdorff, die Mittelstandsdebatte zu führen halte präsidenten. ich für sehr- kritisch. Sie wissen, daß wir gerade in den Küstenregionen früher Großstrukturen hatten. In diesem Sinne hoffe ich, daß das parteiübergrei- Wir müssen uns anstrengen, diese Strukturen zu hal- fende Bekenntnis zu einer leistungs- und wettbe- ten, weil der Mittelstand das gar nicht auffangen werbsfähigen Luft- und Raumfahrtindustrie in kann. Deutschland in privatwirtschaftlicher Verantwortung weiter Bestand hat und daß diese Zukunftsindustrie, (Beifall bei Abgeordneten der SPD) dieser High-Tech-Bereich, für unser Land erhalten bleibt. Deswegen ist dieses Gegeneinander von Mittelstand und Großstrukturen eigentlich überflüssig. Ich Schönen Dank. glaube, wir müssen beide Strukturen im Sinne haben (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) und fördern. (Beifall bei Abgeordneten der SPD - Lisa Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat Peters [F.D.P.]: Genau das hat er gesagt!) jetzt der Abgeordnete Dietmar Schütz. - - So deutlich ist das nicht gesagt worden.

Dietmar Schütz (Oldenburg) (SPD): Frau Präsiden- Ich erwähne ausdrücklich - das kommt noch tin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Die hinzu -, daß sich in allen diesen Werken eine sehr Krise der DASA als Strukturkrise der gesamten Luft- gut ausgebildete, technologisch kompetente Arbeit- und Raumfahrtindustrie hat für uns Sozialdemokra- nehmerschaft befindet und daß auch die Ausbil- ten folgende wichtige Aspekte: Wie sichern wir eine dungskapazitäten wegfallen, die gerade für eine sol- Schlüsseltechnologie mit s trategischer Bedeutung für che Region - auch für den Mittelstand - erforderlich den Industriestandort Deutschland? Das steht im Zu- sind. sammenhang mit den Fragen: Wie können wir lang- fristig und strukturell eine Luft- und Raumfahrtindu- Vor diesem Hintergrund und der Tatsache, daß der strie in Deutschland aufrechterhalten? Welche Ver- Bund für die Entwicklung des Airbus etwa 10 Mil- antwortung hat das Unternehmen für die Sicherung liarden DM bereitgestellt hat - 6,5 Milliarden DM di- der hochwertigen Arbeitsplätze in diesem Bereich? rekt und 1,9 Milliarden DM über Währungsaus- Hat das Unternehmen auch eine Verantwortung für gleichszahlungen und andere Zahlungen -, sowie die regionale Wirtschaftsstruktur? Inwieweit kann angesichts der Tatsache, daß wir im neuen Luftfahrt- 4868 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1995 Dietmar Schütz (Oldenburg) forschungsprogramm 600 Millionen DM staatliche auf eine solide Datengrundlage gestellt wird, damit Fördermittel für 1995 bis 1996 vorsehen, müssen wir die Industrie eine belastbare Grundlage für ihre un- fordern, daß von der DASA Arbeitsplatz- und Stand- ternehmerischen Entscheidungen hat. Nur so kann ortfragen berücksichtigt werden. eine langfristige Standortgarantie gegeben werden. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der Hier ist die Bundesrepublik im Obligo. Sie hat es F.D.P.) versäumt, rechtzeitig ein konsistentes Luftfahrtfor- schungsprogramm vorzulegen. Das nunmehr vorlie- Ich halte es angesichts dieser hohen - ich sage: gende Papier ist unzureichend ausgestattet und hat auch notwendigen - öffentlichen Zahlungen für Auf- eine viel zu kurze Laufzeit. Wir fordern die Bundesre- bau und Erhaltung der internationalen Wettbewerbs- gierung auf, diesen Mangel schnellstens zu beheben fähigkeit für politisch nicht hinnehmbar, daß nach und ein geschlossenes Konzept der zivilen und mili- dem Dolores-Papier Produktionsbereiche, die unter tärischen Luft- und Raumfahrt vorzulegen, das als den heutigen Marktbedingungen bereits interna tio- Diskussionsgrundlage tauglich ist für die Zustim- nal wettbewerbsfähig sind, verlagert werden sollen. mung einer breiten Mehrheit dieses Hauses. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Beifall bei der SPD) Das ist im Dolores-Papier enthalten. Damit würden Folgende Punkte müssen wesentliche Bestandteile ohne zwingende wirtschaftliche Notwendigkeit Ar- dieses Konzeptes sein: beitsplätze in Deutschland vernichtet und Standorte gefährdet. (Dr. Otto Graf Lambsdorff [F.D.P.]: Mehr Geld?) Es ist zwar zutreffend, daß wir als Parlament nicht in Managemententscheidungen eingreifen und sie In der zivilen Luftfahrt ist eine Aufstockung der For- nachträglich rückgängig machen können und wol- schungsmittel erforderlich. len. Es ist jedoch ebenso unstrittig, daß der Daimler Konzern nicht nur eine betriebswirtschaftliche, son- (Dr. Otto Graf Lambsdorff [F.D.P.]: Dek dern auch eine gesamtwirtschaftliche Verantwor- kung?) tung hat. Angesichts der investierten Steuergelder in Wir haben hier bereits 1994 in einem Antrag ein Luft- Milliardenhöhe - über 10 Milliarden DM - müssen fahrtforschungsprogramm mit den Schwerpunkten wir eine solche Verantwortung erwarten und einfor- Triebwerksforschung: Brennstoffeinsparung, Trag- dern, gerade für solche strukturschwachen Gebiete. flügelbau: Einsatz von Kohlefaserwerkstoffen und (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der ökologische Optimierung des Flugverkehrs gefor- F.D.P.) dert. Heute bewahrheitet sich zum wiederholten Mal (Dr. Christian Ruck [CDU/CSU]: Das ma die Kritik unseres damaligen Wirtschaftssprechers chen wir doch!) Wolfgang Roth an der Fusion Daimler/MBB, der Diese Forderungen sind immer noch aktuell. Ich Staat werde mit dieser Elefantenhochzeit erpressbar frage mich, was Herr Lammert gleich dazu sagen gemacht. Genau darum geht es bei diesem Dolores- wird. Bei den Beratungen für 1996 haben wir den Papier: um einen doppelten Pressionsversuch von gleichen Forderungskatalog aufgestellt. Beide Male Daimler gegenüber Arbeitnehmern sowie Politik in wurde er von der anderen Seite dieses Hauses abge- den Ländern und im Bund. lehnt, ohne daß bisher Alternativen vorgelegt wor- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) den wären. Das Dolores-Szenario ist keine seriöse Grundlage (Dr. Christian Ruck [CDU/CSU]: Stimmt für unsere Diskussion über die Zukunft der Luft- und nicht!) Raumfahrtindustrie in Deutschl and. Wir erwarten - Sie können dazu noch etwas sagen. vom DASA-Vorstand, daß die deutschen Arbeits- plätze wegen unseres großen finanziellen Engage- Meine Damen und Herren, in der Raumfahrt muß ments in dieser Schlüsselindustrie an den vorhande- die deutsche Beteiligung an Forschung, Entwicklung nen Standorten weitestgehend erhalten bleiben.- Der und Produktion gesichert werden. Dazu muß die deutsche Steuerzahler wird nicht Arbeitsplätze im Bundesregierung endlich auf die Verabschiedung ei- Ausland subventionieren. nes neuen ESA-Langzeitprogramms im Rahmen der festgelegten Obergrenze von 4 Milliarden DM bis (Beifall bei Abgeordneten der SPD) zum Jahre 2000 drängen und die Modalitäten der Es stellt sich für uns die Frage: Wie können wir im deutschen Beteiligung an der internationalen Raum- Parlament die strukturelle Produktionsfähigkeit und station klären. Intensiviert werden müssen die An- Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Luft- und strengungen auf dem Gebiet der Telekommunikation Raumfahrtindustrie sicherstellen, und was kann die und Satellitentechnik, da hier einer der wahrschein- deutsche Luft- und Raumfahrtindustrie, was können lich expansivsten und lukrativsten Zukunftsmärkte die Beschäftigten in dieser Branche von uns als Ge- liegen wird. setzgeber und Parlament erwarten? (Beifall bei der SPD - Dr. Otto Graf Lambs Erwarten können Sie - das wurde heute schon dorff [F.D.P.]: Mein Gott! Sie haben alle Li häufiger gesagt -, daß die öffentliche Beschaffung beralisierung bei der Telekommunikation und Förderung langfristig berechenbar gemacht und verhindert und die Postreform blockiert!) Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1995 4869

Dietmar Schütz (Oldenburg) Das technologisch reife Projekt eines europäischen wird, können wir uns nicht zu voreiligen Festlegun- Aufklärungssatellitensystems - Helios II und ERS I gen drängen lassen. und II - muß politisch zur Reife gebracht und dessen Finanzierung sichergestellt werden. Wir haben auch Ich will - Henning Voscherau ist hier - wiederho- das diskutiert. len, daß ich als richtig empfunden habe, was er ge- sagt hat, daß es nämlich ein Schildbürgerstreich In der militärischen Luftfahrt muß ein klarer wäre, ein Jagdflugzeug im Ausland zu kaufen, wenn Schwerpunkt der öffentlichen Förderung auf zivil ein verteidigungspolitischer Beschluß vorläge, den und kommerziell nutzbare Felder und Tr ansfer- wir unterstützten. Know-how gesetzt werden. Der Transfer von Spin- offs der Luft- und Raumfahrttechnologie muß ver- Es wäre ebenso ein Schildbürgerstreich - stärkt werden. Der Transall-Nachfolger "Future Large Aircraft" bzw. „Future Transpo rt Aircraft" Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Herr Kollege, kann hier meines Erachtens als positives Beispiel für gestatten Sie eine Zwischenfrage? solche möglichen technologischen Spin-offs in den zivilen Sektor gelten. Dietmar Schütz (Oldenburg) (SPD): - ich will eben

(Beifall des Abg. [SPD]) diesen Satz zu Ende bringen, Frau Präsidentin -, wenn ein Flugzeug beschafft wird, das nicht benötigt Dafür muß allerdings die deutsche Beteiligung an wird. Ich glaube, daß wir hier an vielen Stellen mit Entwicklung und Produktion langfristig sicherge- diesem Hause im Einvernehmen sind. stellt werden. Seit Mai dieses Jahres liegt die Mach- barkeitsstudie hierfür vor. Jetzt muß das „memor an (Beifall bei der SPD - Zuruf von der F.D.P.: -dum of understanding" mit den Partnerstaaten Haben Sie Sorgen, daß Herr Schröder das schleunigst abgeschlossen werden. Auch da gibt es fordern könnte?) noch Hausarbeiten zu erledigen. Die derzeit - leider auch hier und heute wieder - Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Bitte. geführte Eurofighter-Diskussion trifft meines Erach- tens nur einen Teil der Probleme der deutschen Luft- und Raumfahrtindustrie. Günther Bredehorn (F.D.P.): Herr Kollege Schütz, wie erklären Sie sich die Forderung des niedersächsi- (Dr. Otto Graf Lambsdorff [F.D.P.]: Vollkom schen Ministerpräsidenten gestern in Nordenham men richtig!) vor 8000 Menschen, die Entscheidung über den Eu- rofighter jetzt zu treffen? Es ist blanker Populismus, die dringend notwendige Debatte über die Zukunft Deutschlands als Standort (Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk [SPD]: Fragen für die Luft- und Raumfahrtindustrie auf die Forde- Sie doch Herrn Stoiber; er ist doch dal) rung nach schnellstmöglicher Beschaffung des Euro- fighters zu reduzieren. Dietmar Schütz (Oldenburg) (SPD): Ich glaube, (Beifall bei der SPD) auch Ministerpräsident Schröder sieht das in dieser Reihenfolge, daß nämlich erst eine Entscheidungs- Eine derartige Verengung der Diskussion erweist der grundlage dasein muß. Nur sieht er die Entschei- Branche und insbesondere allen ihren Beschäftigten dungsgrundlage möglicherweise wesentlich weiter einen Bärendienst. vorbereitet als ich. Aber ich glaube, sehr weit ausein- (Dr. Otto Graf Lambsdorff [F.D.P.]: Herr ander liegen unsere Meinungen nicht. Auch Herr Spöri! Herr Schröder!) Minister Fischer wird dazu noch reden, so daß er das für die niedersächsische Landesregierung klarstellen Sie verkürzt zudem die komplexen Aspekte dieser kann. Entscheidung. Ich weise auf einen guten Artikel in der „Süddeutschen Zeitung" von gestern hin, der Ich glaube, wir sind uns in diesem Hause sogar ei- das einmal deutlich gemacht hat. nig, daß wir zunächst einmal eine Grundlage haben - wollen, die wir bewe rten müssen. Darum geht es an Es ist meines Erachtens aberwitzig, eine Beschaf- erster Stelle. fungsentscheidung zu fordern, wenn noch nicht ein- mal eine Planungsunterlage vorliegt. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD - Dr. Otto Graf Lambs Ein Schlußsatz. dorff [F.D.P.]: Das habe ich doch gesagt! - Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Abg. Günther Bredehorn [F.D.P.] meldet sich zu einer Zwischenfrage) Dietmar Schütz (Oldenburg) (SPD): Meine Damen und Herren, wir müssen dazu kommen, daß wir die Luft- und Raumfahrtindustrie strukturell langfristig Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage? sichern. Deswegen müssen wir die entscheidungsof- fenen Positionen, die ich hier angedeutet habe, so- wohl im Luft- und Raumfahrtbereich als auch im mili- Dietmar Schütz (Oldenburg) (SPD): Bevor eine sol- tärischen Bereich stärker absichern und bald zu Ent- che Unterlage von der Bundesregierung vorgelegt scheidungen kommen. 4870 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1995 Dietmar Schütz (Oldenburg) Ich fordere die Bundesregierung auf, Daten und dieser Bereich natürlich ein spezifisches Problem. Termine vorzulegen, damit wir die Luft- und Raum- Die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die uns fahrtindustrie langfristig und strukturell in Deutsch- heute zuschauen, erwarten, daß wir ihnen Mut ma- land sichern können. chen und daß wir Dolores mit allen Mitteln und all den Möglichkeiten, die wir haben, verhindern. Ich danke Ihnen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge (Beifall bei der SPD) ordneten der SPD) Halten wir uns vor Augen: Wir haben 1990 noch Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat etwa 90 000 Arbeitsplätze in der Luft- und Raum- jetzt der bayerische Ministerpräsident Dr. Edmund fahrtindustrie gehabt, am Ende des letzten Jahres Stoiber, der, wie ich dem Handbuch des Bundesrates waren es noch 67 000. Auf die DASA bezogen, sind entnehme, heute Geburtstag hat. Deswegen herzli- wir Mitte 1995 auf unter 50 000 gefallen und liegen chen Glückwunsch! bei noch 49 000. Wenn weitere 15 000 wegfielen - (Beifall) das muß man sehen - , dann wären wir bei 34 000. Wenn man darüber hinaus im militärischen Beschaf- Ministerpräsident Dr. Edmund Stoiber (Baye rn): fungsbereich - ich werde darüber noch etwas sagen - zu der Entscheidung käme, daß der Eurofighter spät Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen! oder überhaupt nicht kommt, dann bedeutete das Meine sehr verehrten Herren! Herzlichen Dank für noch einmal - zumindest nach den unbestrittenen die Glückwünsche. Berechnungen der DASA - 8 000 Arbeitsplätze weni- Ich spreche hier als Ministerpräsident eines Lan- ger in der deutschen Luft- und Raumfahrtindustrie. des, in dem 40 % der Arbeitsplätze der Lu ft- und Die Zahl der Arbeitsplätze würde auf unter 30 000 Raumfahrtindustrie und 41 % der Arbeitsplätze der fallen. Dann können Sie die Luft- und Raumfahrtin- DASA beheimatet sind. Ich spreche, Herr Kollege dustrie als strategische Industrie für Deutschland ver- Lambsdorff, hier im Deutschen Bundestag, weil die gessen. Es werden andere dieses Geschäft be treiben, Verantwortung des Bundes und dessen Zuständig- in welcher Formation auch immer. Das ist die eigent- keit - ich glaube, das bestreitet keiner von uns - ein- liche Frage, die wir hier beantworten müssen. deutig ist. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Die Länder können ergänzende Beihilfen und er- Meine Damen, meine Herren, ich wi ll auch einmal gänzende Unterstützungen geben. Aber ob wir die deutlich sagen: Ich glaube, daß die Verfassungsor- Luft- und Raumfahrtindustrie generell als eine strate- gane mehr Verständnis füreinander haben sollten. gische Industrie in der Konkurrenz zu den Vereinig- ten Staaten von Amerika oder zu Japan unter den ge- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) gebenen Bedingungen politisch erhalten wollen, ist eine Angelegenheit der Bundesregierung, des Bun- Sie kennen meine Meinung; Sie wissen, worauf ich anspiele. Ich habe mein Verfassungsverständnis destages, des Bundesrates, eine Angelegenheit des deutlich gemacht. Ich will aber nicht auf ein Neben- Bundes schlechthin. Wir können nur ergänzende Bei- gleis kommen. hilfen geben. Ich wollte das sehr deutlich zum Aus- druck bringen. Mit den Problemen befassen sich auch die Mi- nisterpräsidenten. Das berührt doch die norddeut- Meine sehr verehrten Damen, meine Herren, ich schen Kolleginnen und Kollegen genauso; der Kol- halte nichts davon, in dieser Debatte Mittelstandsför- lege Voscherau ist heute hier. In Hamburg, in Nieder- derungen sozusagen als Gegensatz zu diesen indu- sachsen und in Bremen sind rund 20 000 Arbeits- striepolitischen Entscheidungen zu sehen. plätze betroffen. Wenn so etwas passiert, dann sind (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU so die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zunächst wie bei der SPD) einmal bei uns. Sie stehen vor den Rathäusern, sie stehen vor den Staatskanzleien, und sie sagen: Wir brauchen beides. Für bestimmte s trategische In- „Helft uns! Zuständigkeiten interessieren uns nicht. dustrien spielt der Verlust von Arbeitsplätzen eine - Ihr seid verantwortlich für die politischen Rahmenbe- enorme Rolle, weit über das persönliche Schicksal dingungen! Nun schaut auch mal, daß die Rahmen- des betroffenen Arbeitnehmers hinaus, weit über bedingungen so gesetzt werden, daß wir unsere Ar- unseren Industrie- und unseren Technologiestandort beitsplätze behalten können!" hinaus, wie einige deutlich zum Ausdruck gebracht haben. Deswegen ist es gut und richtig, daß sich auch die Ministerpräsidenten in dieser Frage miteinander un- Ich sehe z. B., daß auf vier Arbeitsplätze innerhalb terhalten und versuchen, aus ihrer spezifischen Ver- der DASA ein mittelständischer, zum Teil auch ein antwortung heraus einen schnelleren oder größeren kleinbetrieblicher Arbeitsplatz aus der Zulieferung Konsens zu finden, der in der parteipolitischen Aus- kommt. Ich muß allerdings auch sehen, Herr Lambs- einandersetzung nicht so ohne weiteres oder nicht so dorff, daß eine Verlagerung der industriellen Arbeits- schnell zu finden ist. plätze zu einem bestimmten Teil in den Dollarraum droht, weil die Luftfahrtindustrie im Gegensatz zur Die Ministerpräsidenten haben dazu bereits 1993 deutschen Industrie ihren Absatz zu rund 70 % in einen Beitrag geleistet, indem sie einmütig drei Dollar fakturiert, während die gesamte deutsche In- Dinge festgehalten haben: dustrie' zu 70 % in D-Mark fakturiert. Insoweit hat Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1995 4871

Ministerpräsident Dr. Edmund Stoiber (Bayern) Erstens. Wir sind uns einig, daß wir nicht Standort- Für mich ist die entscheidende Frage: Wie können interessen gegeneinander sozusagen ausreizen. Wir wir - wenn ich das so sagen darf - die Wettbewerbs- sehen die DASA als ein globales Unternehmen. Na- fähigkeit des deutschen Unternehmens DASA, das türlich hat jeder seine spezifischen Interessen. hoffentlich morgen oder übermorgen mit in ein euro- päisches Unternehmen integriert wird - auch dies ist (Joseph Fischer [Frankfu rt] [BÜNDNIS 90/ keine Frage -, gegenüber Boeing erhalten? DIE GRÜNEN]: „Global" würde ich nicht sagen!) Da muß ich deutlich sagen: Sie haben zu 65 % Staatsaufträge, bekommen natürlich enorme ver- - Ja, als ein deutschlandweites Unternehmen, wenn deckte Subventionen - das ist überhaupt keine ich es einmal so sagen darf. Frage. Aber es ist doch entscheidend, meine sehr verehr- (Rudolf Scharping [SPD]: Da hätten Sie lie- ten Damen und Herren, daß wir uns nicht mehr aus- ber etwas tun sollen! - Joseph Fischer einanderdividieren lassen. Wie war es noch vor vier [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: oder fünf Jahren? Da ist uns Baye rn noch vorgewor- Da müssen Sie auch einmal etwas zu den fen worden, wir hätten uns über den Tisch ziehen las- Dingen sagen, die Sie geschaffen haben!) sen, weil wir den Schwerpunkt der militärischen Pro- duktion jetzt in Bayern hätten. Die Klugen säßen - Natürlich, ich muß doch von den Realitäten ausge- doch in Norddeutschland, weil sie die zivile Produk- hen. tion hätten. Das ist lange diskutiert worden; aber Gott sei Dank gehört das - auch auf Grund der Dis- kussion unter den Ministerpräsidenten - der Vergan- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Herr Minister- genheit an. präsident, es besteht der Wunsch nach einer Zwi- schenfrage der Abgeordneten Zapf. Einverstanden? Wir wissen und sind uns einig, daß wir diese Dinge nur zusammen sehen können und müssen und daß (Bayern): natürlich die DASA ohne militärisches Standbein Ministerpräsident Dr. Edmund Stoiber letzten Endes die s trategische Bedeutung nicht erhal- Bitte sehr. ten kann. Bitte. Nun muß man doch fairerweise sagen, meine sehr Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: verehrten Damen und Herren: Ich kritisiere genauso wie Sie. Ich habe heute hier sehr viele Reden gehört, Uta Zapf (SPD): Herr Ministerpräsident, Sie haben die ich fast schon als Bewerbungen für den DASA- eben zum zweitenmal in Ihren Ausführungen auf die Vorstand angesehen habe; denn da sind ja wunder- Beschaffung des Eurofighters und die Dringlichkeit bare Vorstellungen entwickelt worden. dieser Entscheidung hingewiesen. Ich möchte Sie gerne fragen, ob Sie nicht wissen oder Ihren Kolle- Halten wir uns doch einmal vor Augen: 1990, also gen Rühe nicht gefragt haben, daß die Beschaffungs- noch vor knapp fünf Jahren, betrug der Anteil der entscheidung frühestens Mitte 1996, wenn nicht gar DASA an der militärischen Produktion über 60 %. erst Anfang 1997 fallen kann, und zwar von seiten (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ der Hardthöhe? DIE GRÜNEN]: Aber warum?) Dann möchte ich Sie in bezug auf die Erhaltung - Ich stelle das nur einmal fest. Ich will die Debatte von Arbeitsplätzen durch solch ein Rüstungsprojekt nicht bis zu Adam zurückführen. fragen, ob Ihnen die Aussage von Herrn Bischoff be- kannt ist, daß die Beschaffung des Eurofighters bzw. (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ dieser militärischen Projekte den Arbeitsplatzabbau DIE GRÜNEN]: Das ist nett!) allenfalls verzögern bzw. strecken könnte. Aber fünf Jahre später beträgt der Anteil der militäri- Sind Sie nicht der Meinung, daß es wich tiger wäre, schen Produktion bei der DASA noch ganze 26 %. im Bereich der zivilen Hochtechnologie alle Anstren- Möglicherweise geht er noch weiter zurück. gungen zu unternehmen, Arbeitsplätze zu erhalten? (Beifall des Abg. Joseph Fischer [Frankfurt] (Beifall bei der SPD) [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir müs- Ministerpräsident Dr. Edmund Stoiber (Bayern): sen uns nun klar fragen: Wenn wir die notwendigen Sehr verehrte Frau Abgeordnete, Sie können davon Beschaffungsentscheidungen politisch zu ha rt ge- ausgehen, daß ich a ll das weiß, was Sie hier sagen. gensätzlich diskutieren und wenn wir nicht zu einer Sie können weiter davon ausgehen, daß ich mich Entscheidung kommen - über die Beschaffungsent- schon ein bißchen bemühe, mich in einem Thema, scheidungen zu Jager 90 und Eurofighter ist in Spa- über das ich mich unterhalte oder über das ich Aus- nien, ist in Italien und ist in England bei weitem nicht sagen mache, auszukennen. eine solche Diskussion wie bei uns in Deutschland geführt worden -, führt das auch zu gewissen Unsi- (Beifall bei der CDU/CSU) cherheiten insgesamt. Das ist überhaupt nicht zu be- Ich sage das einmal in meiner zurückhaltenden Art. streiten. Diese Fragen und diese Diskussion bringt uns doch (Beifall bei der CDU/CSU) überhaupt nicht weiter. 4872 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1995 Ministerpräsident Dr. Edmund Stoiber (Bayern) Ich sage Ihnen: Wir, die Ministerpräsidenten, ha- Meine sehr verehrten Damen und Herren, in ei- ben einen Beitrag dafür zu leisten, den Stellenwert nem weiteren Punkt besteht Einigkeit zwischen den der Luft- und Raumfahrt, der 1990 und 1991 nicht so Ministerpräsidenten. Natürlich sagt der Herr Kollege hoch war, wie er vielleicht heute wieder ist, partei- Spöri, die sollen nicht so herumeiern, eine sofortige übergreifend aus Verantwortung gegenüber den Ar- Entscheidung muß her. Der Kollege Voscherau hat beitsplätzen nach vorne zu tragen. sich sehr differenziert ausgedrückt:

(Beifall bei der CDU/CSU) (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Das ist auch rich tig! Der kommt aus Hamburg!) Das ist uns zweifellos gelungen. Wenn es verteidigungspolitisch notwendig ist, dann muß die Produktion in Deutschland bleiben. Das Weiterhin sollten wir keine gegensätzlichen Stand- halte ich für eine gute Aussage. Ich gehe zwar noch ortinteressen austragen, und wir sollten einvernehm- weiter, aber selbst die Aussage, die der Kollege Vo- lich sagen: Wir brauchen das militärische Bein. Des- scherau gemacht hat, hat man vor zwei, drei Jahren wegen sind wir für eine schnellstmögliche militäri- in diesem Hause nicht unisono gehört. Wir wären ja sche verteidigungspolitische Entscheidung über a), froh gewesen, wenn diese Aussage von allen so un- b), c), über „Future Large Aircraft" und all die ande- terstützt worden wäre. ren, über „Tiger" und NH 90. Ich will das hier gar nicht alles aufführen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge ordneten der F.D.P.) Die Entscheidung über den Eurofighter hat einen Aber wollen wir nicht mehr Milch verschütten. Ich enormen Hintergrund. Wir diskutieren schon seit will nach vorne sehen und auf einen weiteren Punkt drei, vier, fünf Jahren über die Notwendigkeit. Diese aufmerksam machen, das Verhältnis von Europa zur Diskussion - darüber müssen Sie sich im klaren sein - Luft- und Raumfahrt. Europa muß sich do rt einbrin- führt nicht zu einer Stabilität des Unternehmens. gen, wo es wirklich notwendig ist, nicht bei den Richtlinien über Feuerwehranzüge. Sie kennen (Beifall bei der CDU/CSU) meine Position hierzu. Entscheidend ist nicht die Baustellensicherheitsrichtlinie, die 90 Seiten umfaßt, Ich will das nicht in eine Diskussion über den Euro- aber massive Vollzugsprobleme mit sich bringt. Wir fighter eskalieren lassen. Natürlich ist der Eurofigh- brauchen in Europa eine Zusammenarbeit der Deut- ter in erster Linie eine verteidigungspolitische Ent- schen mit den Engländern und vor allen Dingen den scheidung und nicht eine Beschaffungsentschei- Franzosen, um überhaupt mit Boeing konkurrieren dung. Das ist überhaupt keine Frage. Auch ich zu können. Da liegt der Hund begraben. würde nie die Hand für eine Entscheidung reichen, die militärisch nicht notwendig ist. Daß wir davon Die Förderung aus Europa für diesen Bereich ist im ausgehen und immer davon ausgegangen sind, daß Grunde genommen viel zu gering. sie notwendig ist, brauche ich hier nicht besonders (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge zu betonen. ordneten der F.D.P. und der SPD) Ich weiß - das sage ich an die Adresse aller -, daß Europa stellt für die deutsche Luft- und Raumfahrt- Dolores nichts mit Eurofighter zu tun hat. Wenn im forschung 15 Millionen ECU zur Verfügung. Das ist Zuge von Dolores die Entscheidung über den Euro- doch lächerlich. Das ist weniger, als der Freistaat fighter zu spät ge troffen wird, dann bedeutet das ei- Bayern dafür ausgibt. Wir stellen im Jahr 1995 nen enormen Schlag für die DASA, von dem sie sich 30 Millionen DM bereit. Das ist für einen Landes- möglicherweise nicht erholen wird. haushalt eine ganze Menge. (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ Für mich ist viel interessanter als die Frage, die Sie DIE GRÜNEN]: Und wieviel für die Land stellen - jetzt sage ich etwas, was man in dieser wirtschaft?) Breite vielleicht gar nicht ausführen sollte -: Wir müs- sen alles dazu tun, damit die DASA morgen oder Damit dokumentieren wir, für wie bedeutsam wir übermorgen nicht in ganz anderen Händen- ist. Es diese Luft- und Raumfahrtindustrie halten. dürfen sich keine unternehmerischen Initiativen in andere Richtungen entwickeln. Sie wissen ganz ge- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Herr Minister- nau, was ich sagen will: daß man möglicherweise präsident, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Ab- meint, man lasse sich die gute Bilanz der Autoindu- geordneten Barthel? strie nicht durch eine nega tive Bilanz aus der Luft- und Raumfahrt kaputtmachen. Wenn einmal eine Entscheidung in dieser Richtung ge troffen würde, Ministerpräsident Dr. Edmund Stoiber (Bayern): dann würden wir alle hier sauber ausschauen. Des- Ich will zwar den Gedankengang zu Ende führen, wegen müssen wir alles tun, damit diese Entschei- aber bitte. dung niemals so kommt; zumindest müssen wir die Grundlage dafür schaffen, daß sie sich überhaupt Klaus Barthel (SPD): Herr Ministerpräsident, ver- nicht trauen, eine solche Entscheidung zu treffen. stehe ich Sie richtig, daß auch ohne das Vorhanden- sein eines Luftverteidigungskonzepts auf Grund Ih- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge rer Sachkenntnis schon entschieden ist, daß wir den ordneten der F.D.P.) Eurofighter brauchen? Und habe ich Sie richtig ver- Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1995 4873

Klaus Barthel standen, daß Sie gerade ausgeführt haben, daß die beitsplätze, deren Wegfall 1993 von der DASA be- Zustimmung zum Kauf des Eurofighters notwendig schlossen worden ist, haben Sozialplankosten in der ist für die Existenz der deutschen Luft- und Raum- Größenordnung von 1,2 bis 1,3 Milliarden DM erfor- fahrtindustrie und der DASA? dert. Wir müssen einfach sehen, meine sehr verehrten Ministerpräsident Dr. Edmund Stoiber (Bayern): Damen und Herren: Wo können wir etwas für die Betrachten Sie diese Frage doch nicht permanent Wettbewerbsfähigkeit tun? Die Leute erwarten, daß durch die parteipolitische, ideologische Bri lle. wir die Fakten auf den Tisch legen und dann auch bestimmte Konsequenzen ziehen. (Beifall bei der CDU/CSU) Diese Konsequenzen heißen erstens - ich sage das Ich rede doch gar nicht über die unternehmerischen noch einmal -: Wir brauchen eine entsprechende Fehlentscheidungen; ich wi ll sie auch gar nicht im Förderung. Wir sind ja schon weit gekommen. Wir einzelnen bewerten. Vielmehr geht es darum, was brauchen eine Förderung, die mit Sicherheit über die die Politik dazu tun kann. Wenn der Anteil der militä- 600 Millionen DM hinausgeht. rischen Produktion noch weiter sinkt - er ist von 27 % (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ auf unter 20 % gefallen -, dann können Sie die strate- DIE GRÜNEN]: Auf wie lange?) gische Bedeutung der Luft- und Raumfahrtindustrie vergessen, dann fallen Tausende von Arbeitsplätzen - Befassen Sie sich einmal damit, Herr Kollege Fi- weg. scher. Es hat überhaupt keinen Sinn, meine Damen und Dann brauchen wir zumindest die Bereitschaft in Herren, wenn man auf der einen Seite Tränen über der Europäischen Union, daß die Förderung auch die Arbeitsplätze vergießt, auf der anderen Seite dann gegeben werden kann, wenn die Indust rie nur aber alles, was militärisch produziert wird, im 25 % beiträgt. Die Amerikaner geben 75 %, und Boe- Grunde genommen ablehnt. Diese Heuchelei akzep- ing hat nur 25 % aus Eigenmitteln zu tragen. Auf tiere ich nicht. Grund unserer Bestimmungen in Europa kann der Staat nur die Hälfte geben, die Unternehmen müssen (Beifall bei der CDU/CSU) die andere Hälfte tragen. Da liegen die Probleme. Das können wir nur europäisch lösen, und das erwar- Ich hoffe auf den ESA-Gipfel am 13./14. Oktober in Toulouse; Herr Kollege Rüttgers wird möglicher- ten wir. weise etwas dazu sagen. Ich hoffe, daß wir mit den (Beifall bei der CDU/CSU) Franzosen zusammenkommen. Aber ich bitte, das auch einmal in einem Zusammenhang zu sehen. Die Meine Damen und Herren, wir brauchen jetzt kein Neigung der Franzosen, die nicht das Währungspro- parteipolitisches Hickhack, sondern wir müssen ver- blem haben wie die Deutschen, weil der Franc nicht suchen, die Bedingungen zu verändern, den Schneid so stark ist wie die D-Mark, und die deswegen nicht aufzubringen, in Europa entscheidende Veränderun- das Problem mit Boeing haben, mit uns zusammen- gen zu erreichen und eine stärkere europäische zugehen, wird natürlich auch durch die Tonlage ge- Struktur aufzubauen, damit wir deutsche Arbeits- fördert oder nicht gefördert, wie wir mit den Franzo- plätze in diesen Bereichen erhalten können und auch sen in anderen Punkten umgehen - um mich vorsich- einen gewichtigen Part innerhalb Europas und der tig auszudrücken. europäischen Luft- und Raumfahrtindustrie spielen. Deswegen, meine sehr verehrten Damen und Her- (Beifall bei der CDU/CSU - Zurufe von der ren, meine ich, daß wir auf diesem Weg weitergehen SPD: Oho!) sollten: entscheidend die Priorität festlegen und dann Das ist doch gar keine Frage. Sie können doch nicht sowohl den Arbeitnehmern, den Industrievertretern den Franzosen ans Schienbein treten und ihnen als auch den Gewerkschaften die Sicherheit geben - gleichzeitig die Hand für eine engere Kooperation in sicherlich unterschiedlich bewertet -, daß die Politik der Luft- und Raumfahrt reichen, die wir dringend die notwendigen Rahmenbedingungen setzt, die sie setzen kann. brauchen. - Meine Damen und Herren, erlauben Sie mir, noch Wenn man sich die Berichterstattungen ansieht, einmal zusammenzufassen. Wir brauchen drei dann sieht man zunächst die Arbeitnehmerinnen und Punkte: Wir müssen erreichen, daß in Deutschland Arbeitnehmer, die in der Sorge um ihren Arbeitsplatz und in Europa genauso gefördert wird, wie es die vor irgendwelchen Gebäuden stehen. Dann macht Amerikaner gegenüber Boeing machen. Die indi man sich über die hohen Subventionen lus tig und rekte Förderung von 3 % des Branchenumsatzes oder vermischt Subventionen mit Beschaffungsentschei- 4 % des Unternehmens schöpfen wir leider nicht aus, dungen, die keine Subventionen sind. Das ist eine so daß wir automatisch einen gewissen Nachteil ge- falsche Darstellung. Man muß dieser Br anche und genüber Boeing haben. dieser Disziplin ein Stück mehr Gerechtigkeit und ein Stück mehr Sicherheit geben. Wenn die Verant- Wir haben eine andere Sozialstruktur. Herr Lambs- wortlichen die Sicherheit nicht haben, dann haben dorff, Sie haben von den 50 000 Arbeitsplätzen ge- wir morgen oder übermorgen - das ist für mich das sprochen, die in Amerika abgebaut worden sind. Bei Problem - die deutsche Luft- und Raumfahrtindustrie dem dortigen Sozialsystem - das ich nicht haben will - nicht mehr, die wir in den letzten 30 Jahren aufge- hat das fast nichts gekostet. Die 10 000, 15 000 Ar- baut haben. 4874 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1995

Ministerpräsident Dr. Edmund Stoiber (Bayern) Ich erinnere daran - Sie müßten sich daran auch heißt das, daß in Deutschland der Vorstand und das noch erinnern können, Graf Lambsdorff -, daß, als Sekretariat verbleiben. Kein Mensch - ich sage be- der Aufbau der Luft- und Raumfahrtindustrie in den wußt: auch nicht die Vorstände dieser Unternehmen - 60er Jahren in Deutschland vorangetrieben worden wird ein solches Szenario ernsthaft wollen können. ist, die Amerikaner schon gesagt haben: Wozu braucht ihr eigentlich eine Luft- und Raumfahrtindu- Ich will hervorheben, daß die niedersächsische strie? Wir haben doch alles; ihr könnt alles von uns Landesregierung die gegenwärtige Situa tion der kaufen. Diese Auffassung haben die Amerikaner nie deutschen Luft- und Raumfahrtindustrie durchaus abgelegt, und das ist aus deren Sicht ja auch legi tim. als dramatisch ansieht und deshalb auch anerkennt, Aber wir haben 30 Jahre lang eine Luft- und Raum- daß für die Unternehmensführung der DASA die fahrtindustrie aufgebaut, und deswegen dürfen wir Notwendigkeit besteht, die Unternehmensstrukturen es jetzt politisch nicht zulassen, daß diese Luft- und dem Weltmarktniveau anzugleichen. Dabei spielt Raumfahrtindustrie ihre Existenz verliert oder in aber auch die Frage eine Rolle, wer eigentlich die französischen oder sonstigen Industriebeteiligungen Verlustbringer im Unternehmen sind. Es muß sehr aufgeht, was bedeuten würde, daß die Entscheidun- ernsthaft der Frage nachgegangen werden, was mit gen nicht mehr hier ge troffen würden. Fokker und mit Dornier ist; Frau Skarpelis-Sperk hat schon darauf hingewiesen. Danke schön. (Zustimmung bei der SPD) (Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU - Es geht allerdings auch nicht darum - da möchte Beifall bei der F.D.P.) ich Herrn Stoiber in seiner Aussage unterstützen -, den einen gegen den anderen Standort auszuspielen, Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat ob er nun in Bayern oder in Niedersachsen liegt. jetzt für den Bundesrat der Minister für Wi rtschaft, Vielmehr geht es um die Herstellung von besseren Technologie und Verkehr des Landes Niedersachsen, Positionen eines jeden einzelnen Unternehmens- Dr. Peter Fischer. teiles. Die zu ergreifenden Maßnahmen müssen die Basis eines jeden einzelnen Standortes sinnvoll stär- ken. Minister Dr. Peter Fischer (Niedersachsen): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich spreche Das Dolores-Papier ist in meinen Augen ein wenig hier für Niedersachsen, weil in unserem Bundesland intelligentes Kahlschlagkonzept, und deshalb muß es drei bedeutende DASA-Standorte sind - Norden kritisch bewertet werden. ham, Varel und Stade - und weil an den Standorten Hamburg und Bremen die Hälfte der do rt Beschäftig- (Beifall bei Abgeordneten der SPD - Diet ten niedersächsische Bürger sind. Diese Beschäftig- mar Schütz [Oldenburg] [SPD]: Zurückge ten schauen - das hat Herr Stoiber eben schon deut- wiesen werden!) lich gemacht - in erster Linie auf die Landesregierun- In die Bewertung müssen vor allem die Bewe rtungen gen, wenn es um die Zukunft ihrer Arbeitsplätze der Betriebsräte und der Gewerkschaften einfließen. geht. Die haben ja bereits signalisiert, daß sie konstruktiv z. B. an neuen Arbeitszeitmodellen mitarbeiten wol- Worum geht es? Es geht um die Sicherung von in- len. Dies sollte von der Unternehmensleitung aufge- dustriellen Arbeitsplätzen am Standort Deutschl and, und zwar in einer Größenordnung, die die struk- griffen werden. turellen Schwierigkeiten des Industriestandortes (Beifall bei der SPD) Deutschland drastisch verschärfen wird, wenn es nicht gelingt, diese Arbeitsplätze zu erhalten. Die Wie so etwas geht, hat Volkswagen vorgemacht. Luft- und Raumfahrtindustrie ist ein Ke rn der indu- (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Die sind auch striellen Kompetenz in Deutschland und Europa und schon weiter!) damit Voraussetzung für Forschung, Entwicklung und auch Beschäftigung. Ich bin dankbar, daß der Meine Damen und Herren, natürlich muß ein Kon- Kollege Rexrodt dies zu Beginn seiner Ausführungen zernvorstand im Sinne seiner Aktionäre Entschei- noch einmal deutlich unterstrichen hat. - dungen treffen, die auch vor dem Markt zu verant- worten sind. Aber hier geht es um mehr. Hier geht es Meine Damen und Herren, die Dolores-Studie ist um Entscheidungen, ob Arbeitsplätze vernichtet und ein Konzept eines Unternehmensberaters, das auf- ins Ausland verlagert werden, und zwar geht es um zeigt, wie man nach dessen Vorstellungen die Kosten solche Arbeitsplätze - das ist heute schon mehrfach so reduzieren kann, daß Gewinne erreicht werden. hervorgehoben worden -, die mit hohen öffentlichen Das geht voll zu Lasten der Beschäftigten. Ich kriti- Subventionen geschaffen worden sind. Ich will diese siere bei einem solchen Vorgehen, daß eine umfas- Zahlen nicht wiederholen. Es sind hohe Summen. sende unternehmenspolitische Bewe rtung außer acht Deshalb geht dieses Thema auch die Politik etwas gelassen wurde. an. Ich erkenne an, daß in kurzer Zeit in Deutschland (Beifall bei der SPD) der Aufbau einer Luftfahrtkompetenz entstanden ist, an der der Daimler-Konze rn einen erheblichen Anteil Ich möchte es einmal überspitzt ausdrücken: Für je- hat. Ich fordere aber, daß bei den zu ergreifenden des Arbeitspaket findet man sicherlich irgendwo auf Maßnahmen alles unterlassen wird, was die Luft- der Welt ein Unternehmen, das kostengünstiger pro- fahrtkompetenz der deutschen Luft- und Raumfahrt- duzieren kann. Wenn man das zu Ende denkt, dann industrie und hier insbesondere die Luftfahrtkompe- Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1995 4875

Minister Dr. Peter Fischer (Niedersachsen) tenz von Airbus in Frage stellen könnte. Ganz im Ge- erzielt. Bei einer Bestellung von 75 Flugzeugen genteil, die norddeutschen Länder erwarten, daß der durch das Bundesverteidigungsministerium werden weitere Weg zu einer dauerhaften Festigung des Un- ab dem Jahr 2000 rund 3 000 Arbeitsplätze benötigt. ternehmens DASA und zu einer Festigung der deut- Diese Arbeitsplätze fehlen, wenn m an sie heute ab- schen Kompetenz der Luftfahrtindustrie in einem baut. Das muß sehr sorgfältig bedacht werden. europäischen Verbund führt. (Beifall bei der SPD und der F.D.P. sowie Meine Damen und Herren, ich sprach von der Ver- des Abg. Dr. Chris tian Ruck [CDU/CSU]) antwortung der Politik in diesem Zusammenhang. Eurofighters Am vergangenen Montag haben sich die Minister- Hinsichtlich der Beschaffung des sieht das anders aus. Darüber ist heute diskutiert präsidenten der be troffenen Bundesländer in Mün- worden. Ich bin allerdings der Auffassung, man sollte chen mit der Unternehmensführung, den Betriebsrä- dieses Thema nicht überstrapazieren. Es hat in die- ten und dem Luftfahrtkoordinator der Bundesregie- sem Gesamtzusammenhang nicht das Gewicht, wie rung an einen Tisch gesetzt und dabei auch an den Bund appelliert, tätig zu werden. Es bleiben für die es heute in der Diskussion erschien. Politik, so glaube ich, eine Menge von Handlungs- (Beifall bei der SPD) möglichkeiten zur Sicherung von Arbeitsplätzen, z. B. indem sie sich mit der Unternehmensleitung Die Italiener wollen ihn, die Briten wollen ihn, wir über weitere öffentliche Fördermaßnahmen unterhal- Deutsche tun uns - aus guten Gründen, glaube ich - ten. Ich finde, es ist müßig, Graf Lambsdorff, hier noch schwer. Es gibt in den Parteien und unter den über theoretische Lehrbuchweisheiten von Subven- Fachleuten eine Diskussion, ob die Beschaffung aus tionswirkungen zu streiten. Die Amerikaner tun es, militärischer Sicht vernünftig und notwendig ist oder und zwar in ungleich größerem Umfang gegenüber nicht. Es gibt auch die Diskussion, ob man schwedi- unserer Förderung der Luft- und Raumfahrtindustrie, sche oder amerikanische Produkte kaufen sollte, die die sich in weltweitem Wettbewerb behaupten muß. möglicherweise billiger sind. In diesem Falle - das Das GATT-Luftfahrtabkommen läßt auch bestimmte möchte ich hier allerdings betonen - wird es nicht Spielräume zu. Die Amerikaner nutzen das aus, wir ganz einfach, den Beschäftigten der DASA zu erklä- nicht. Im übrigen hängen - das muß man hier auch ren, nachdem Milliarden an Entwicklungsgeldern in erwähnen, und ist auch von Herrn Stoiber schon ge- den Eurofighter geflossen sind, warum im Falle einer sagt worden - viele mittelständische Unternehmen Kaufentscheidung und auf Grund militärischer Not- an diesem großen Unternehmen, an diesem Konzern wendigkeiten ein solches Flugzeug nicht bei uns ge- dran. Damit hängen auch mittelständische Arbeits- baut wird. plätze von der Lösung dieses Problemes ab. Wenn also die Bundesregierung eine Beschaf- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne fungsentscheidung fällt, die sie für militärisch sinn- ten der F.D.P.) voll und finanziell machbar hält, dann plädiere ich - wie mein Ministerpräsident - allerdings nachhaltig Wir müssen feststellen, daß in der Vergangenheit dafür, daß dieses Flugzeug auch in Deutschland pro- die Bundesregierung mit ihren Fördermaßnahmen duziert wird. geholfen hat, Unternehmensteile der DASA, insbe- sondere die norddeutschen Betriebsstätten, auf ein (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU Niveau zu heben, das erlaubt, zu Weltmarktbedin- und der F.D.P.) gungen zu produzieren. Für die Bundesregierung Nicht zuletzt will ich auch noch auf die Beschaf- stellt sich aus meiner Sicht die doppelte Frage: Er- fung der Hubschrauber hinweisen. Für sie gilt im stens: In welchem Umfang kann sie zur Sicherung Grundsatz das gleiche. Die norddeutschen Länder der internationalen Wettbewerbsfähigkeit der deut- Hamburg, Bremen und Niedersachsen sind natürlich schen Luft- und Raumfahrtindustrie weitere Finanz- in erster Linie von der zivilen Luftfahrtstrategie und hilfen im Rahmen der GATT-Richtlinien bereitstel- hier insbesondere von der Airbus-Zukunft berührt, len? Zweitens: Wie kann in diesem Zusammenhang und zwar im Gesamtzusammenhang mit Fokker und deutlich gemacht werden, daß es solche Mittel nur Dornier. Es wird immer deutlicher, daß bei der Luft- gibt, wenn damit die Arbeitsplätze bei uns gesichert fahrtindustrie zukünftig gesamteuropäische Struktu- werden? - ren entstehen müssen. Die Gründung von europä- (Beifall bei der SPD) ischen Kompetenzzentren, wie sie Herr Bischoff for- dert, ist notwendig. Aber dabei muß darauf geachtet Es gibt noch ein weiteres Problem, das nur hier in werden, daß die Airbus-Kompetenz zum Bau kom- Bonn gelöst werden kann und muß. Das ist die Ent- pletter Flugzeuge in Norddeutschland erhalten wird. scheidung über die Beschaffung von Militärflugzeu- Mit der Endlinie für die 321 und die 319 sind - so gen. Darüber ist schon sehr viel geredet worden. Ich glaube ich - gute Voraussetzungen dafür gegeben. glaube, es gibt hier eine relativ große Übereinstim- mung, was die Frage der Nachfolge der Transall be- Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zur trifft. Dieses future large aircraft ist für die norddeut- Raumfahrt und zu den Aufklärungssystemen Helios schen Standorte von besondere Relevanz, weil sie in und Horus noch einige allgemeine Ausführungen diesem Programm mit umfangreichen Arbeitspake- machen. Die süddeutschen Länder sind davon stär- ten vertreten sind, die langfristig die Ertragslage des ker betroffen. Die Entscheidungen der ESA zum Konzerns und damit hochqualifizierte Arbeitsplätze Raumlabor und zum Raumtransporter sind nach wie in Deutschland sichern. Über das future large aircraft vor nicht gesichert. Das ist hier auch schon mehrfach haben die acht WEU-Staaten grundsätzlich Einigung erwähnt worden. Ich finde, wenn dies nicht stattfin- 4876 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1995 Minister Dr. Peter Fischer (Niedersachsen) den würde, wäre es für die Industriepolitik in Meine Damen und Herren, in der Debatte über die Deutschland eine Katastrophe, und zwar nicht nur, DASA und über die Luft- und Raumfahrtindustrie ist weil rund tausend Arbeitsplätze in der Raumfahrt in den letzten Tagen mit Recht viel von Verantwor- verloren gehen, sondern weil es um den Verlust zu- tung geredet worden. Das war richtig. Aber ich finde, kunftsorientierter Potentiale geht. Die Raumfahrt- es wäre redlicher - ich glaube, daß es uns auch ein technologie ist eine Schlüsselindustrie in Deutsch- Stück weiterbringen würde -, wenn wir offen und land. ehrlich auch von Interessen reden würden. Natürlich hat die Unternehmensführung Interessen. Natürlich Meine Damen und Herren, lassen Sie mich ab- hat die Politik Interessen. Und insbesondere die Ar- schließend auf einen Punkt hinweisen: Die Länder beitnehmer der DASA haben ein Interesse, nämlich haben - es ist von Herrn Stoiber schon erwähnt wor- das Interesse, daß ihre Arbeitsplätze erhalten blei- den - bereits seit 1993 dem Bund Maßnahmen vorge- ben. Ich bin ganz sicher, daß sie mit Recht sehr auf- schlagen, die der Zukunftssicherung der Luft- und merksam zuhören werden, wer denn hier was zur Raumfahrtindustrie dienen sollen. Bis heute sind ei- Problemlösung gesagt hat. nige Maßnahmen davon eingeleitet worden. Aber, wie Sie wissen, reicht das nicht aus. Die Länder wer- Zum Interesse des Unternehmens: Ein Unterneh- den daher ihre eigenen Bemühungen fortsetzen, die men hat das Interesse, irgendwann einmal schwarze sie übrigens - Herr Rachel, das möchte ich auch noch Zahlen zu schreiben. Sonst wäre es nämlich kein Un- einmal betonen - im Rahmen ihrer Zuständigkeiten ternehmen. Aber schwarze Unternehmenszahlen und ihrer finanziellen Möglichkeiten auch in der Ver- müssen letztlich aus dem Geschäftsergebnis kom- gangenheit zur Förderung der Luft- und Raumfahrt- men und nicht aus öffentlichen Kassen. Das haben industrie unternommen haben. Sie erwarten aber einige, vor allen Dingen Kolleginnen und Kollegen von der Bundesregierung, dem aktuellen Geschehen von der SPD, nach meiner Ansicht, als ich das jetzt nicht länger bloß zuzusehen. gehört habe, nicht verstanden. Es muß im Interesse der Beschäftigten und im In- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU - teresse des Industriestandorts Deutschland endlich Anke Fuchs [Köln] [SPD]: So etwas Blödes! etwas geschehen. Es ist schon, so meine ich, zuviel Wer beschafft denn die Flugzeuge?) Zeit tatenlos verstrichen. H andeln Sie endlich. - Liebe Kolleginnen und Kollegen, es hat ja keinen Zweck. Jetzt brauchen Sie, Frau Fuchs, nicht anfan- Vielen Dank. gen zu stöhnen und Gott weiß ich was zu tun. Sie ha- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne ben wahrscheinlich übersehen, daß die DASA über- ten der F.D.P.) haupt kein Kapitalproblem hat, sondern ein Ertrags- problem und daß es überhaupt keine Lösung ist, sich hier hinzustellen und zu sagen: Jetzt verlängern wir Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat das Luftfahrtforschungsprogramm. - Das würde jetzt noch einmal für die Bundesregierung Herr Bun- nämlich bedeuten, daß die DASA selber Geld in die desminister Rüttgers. Hand nehmen muß. Insofern ist das überhaupt keine Lösung, auch unter ökonomischen Gesichtspunkten nicht. Dr. Jürgen Rüttgers, Bundesminister für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie: Frau Prä- Wir haben zusammen mit der DASA ein Luftfahrt- sidentin, werte Kolleginnen und Kollegen! forschungsprogramm entwickelt. Dies läuft bis 1998. Es hat das Ziel, auf die Entwicklungen auf den Flug- (Zuruf des Abgeordneten Joseph Fischer zeugmärkten zu reagieren. Ich will ausdrücklich sa- [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) gen: Ich bin bereit, mit der deutschen Luftfahrtindu- strie weiter darauf hinzuarbeiten, daß sie im interna- - Verehrter Herr Fischer, ich weiß nicht, auf welchem tionalen Wettbewerb mit modernen Produkten, die Stern oder in welchem Land Sie leben. Sie hatten re- sich auf dem Markt durchsetzen können, konkur- lativ vernünftige Passagen, aber Sie haben die Rede renzfähig bleibt. Wer sich einmal anschaut, wie die damit beendet, der Bundesregierung zu sagen, sie Marktlage ist, der wird feststellen, daß in den kom- solle etwas tun. Ich überreiche Ihnen jetzt erst einmal - menden 20 Jahren ein Beschaffungsvolumen von einen Bundeshaushalt. Dann lesen Sie den einmal zu 11 000 bis 12 000 Verkehrsflugzeugen ansteht. Bei ei- Hause in Ruhe und lassen das in Zukunft weg. nem Anteil von Airbus von 30 % könnten rund (Beifall bei der CDU/CSU - Joseph Fischer 90 Milliarden Dollar auf die deutsche Indust rie ent- fallen. Ähnlich positi [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: ve Prognosen gibt es auch für Hui!) die Bereiche Regionalflugzeuge, Hubschrauber und Flugantriebe. Insofern gibt es auch ein ökonomisches - Irgendwann reicht es auch. Interviews geben und Interesse daran, daß diese Industrie im Land bleibt. herumreden und in Wirklichkeit keine Mark im (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Haushalt haben für solche Sachen, das paßt irgend- wie nicht zusammen. Das Interesse der Politik ist es, den Standort Deutschland in der globalen Konkurrenz der Stand- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge orte wettbewerbsfähig zu erhalten. Dies bedeutet, ordneten der F.D.P. - Joseph Fischer daß wir europäische Lösungen brauchen; es bedeu- [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: tet, daß diese Schlüsselindustrie hier in Deutschland Jawohl, Herr Studienassessor!) bleiben muß. Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1995 4877

Bundesminister Dr. Jürgen Rüttgers Normalerweise hat ein Unternehmen in Deutsch- Dr. Jürgen Rüttgers, Bundesminister für Bildung, land im Verhältnis zum Umsatz etwa 3 % For- Wissenschaft, Forschung und Technologie: Aber schungs- und Entwicklungskosten. Das wird mit gerne. dem Begriff der Forschungsintensität bezeichnet. Wir sprechen von Spitzentechnik, wenn dieser Anteil auf Bitte. 8,5 % steigt. Bei der deutschen Luft- und Raumfahrt- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: industrie gibt es eine Forschungsintensität von 30 %. (Abg. Dr. Otto Graf Lambsdorff [F.D.P.] ver Deshalb sage ich: Wir können auf eine Branche mit zichtet) einem solchen Profil in Deutschl and nicht verzichten, wenn wir Deutschland für die Zukunft fit machen - Eine Kurzintervention? wollen. Dann möchte die Kollegin Fuchs eine Zwischen- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) frage stellen. Gestatten Sie die? - Ja. Der Staat ist der größte Auftraggeber der Luft- und Bitte, Frau Fuchs. Raumfahrtindustrie. Er muß seinen Bedarf anmelden, (Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Sagen und er muß sicherstellen, daß das Unternehmen eine Sie mal was zu Schröder!) vernünftige Planung erstellen kann. Die Bundesre- gierung sieht diese Notwendigkeit, und sie wird ihr entsprechen. Allerdings sage ich auch: Der Staat Anke Fuchs (Köln) (SPD): Herr Minister, sind Sie kann keine Bestandsgarantie für jeden Standort bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß der Verteidi- übernehmen. - Aber, Graf Lambsdorff, bei soviel gungsminister gesagt hat, der Eurofighter sei keine ökonomischem Sachverstand, den Sie nun wirklich Arbeitsbeschaffungsmaßnahme, und die Entschei- verkörpern, muß ich sagen: Ich fand es ökonomisch dung über das Projekt müsse sicherheitspolitisch und nicht überzeugend, zu versuchen, eine Schlüsselin- militärisch begründet sein, und stimmen Sie mit mir dustrie gegen den Mittelstand auszuspielen, nicht darin überein, daß wir erst einmal eine entschei- nur wegen der Zulieferindustrie. dungsreife Vorlage brauchen, bevor wir eine solche Entscheidung treffen können? (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD) Dr. Jürgen Rüttgers, Bundesminister für Bildung, Sie haben einen guten Namen als Marktgraf. Aber Wissenschaft, Forschung und Technologie: Liebe Ihre Vorstellung als Mittelstandspapst war nicht Frau Fuchs, Sie haben sich anscheinend immer noch überzeugend. nicht von den Klarsichthüllen Ihres vorletzten Frakti- (Hans-Eberhard Urbaniak [SPD]: Das macht onsvorsitzenden gelöst. Es geht doch nicht um die er doch immer, der Graf!) Frage, ob eine Vorlage vorhanden ist, sondern es geht um die Frage, ob die SPD sagt: Wir sind bereit, Wer jetzt über Zukunftsinvestitionen in diesem Be- ein Flugzeug zu bestellen, wenn die notwendigen reich redet, der muß auch dafür sorgen, daß der Staat Voraussetzungen gegeben sind. Kommen Sie hier die Rahmenbedingungen setzt. Dies heißt im Klar- hin, und sagen Sie das! Dann sind die DASA-Arbei- text: Wir müssen in bezug auf die Flugzeuge in ei- ter froh, weil sie dann eine Perspektive haben. nem geordneten Verfahren entscheiden. Das ist okay. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge Meine Damen und Herren von der SPD-Fraktion, ordneten der F.D.P. - Rudolf Scharping es tut mir leid: Die Eierei von Ihnen war im wahrsten [SPD]: Unglaublich! - Anke Fuchs [Köln] Sinne des Wortes nicht mehr zu ertragen. [SPD]: Eine entscheidungsunfähige Bundes regierung!) (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Machen Sie doch einen Vorschlag!) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Gestatten Sie Wir haben jahrelang in diesem Haus erlebt, daß Frau eine Zwischenfrage der Kollegin Matthäus-Maier? Matthäus-Maier den Verzicht auf den Eurofighter oder den Jäger 90 als Kompensation für jede- Maß- nahme in jeder Haushaltsdebatte angeboten hat. Dr. Jürgen Rüttgers, Bundesminister für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie: Ja, sie ist (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Fachfrau für den Jäger 90. Jetzt stellen Sie sich hier hin und sagen, die Bundes- regierung habe kein Konzept und deshalb könnten Ingrid Matthäus-Maier (SPD): Herr Minister, wollen Sie ja leider nicht zustimmen. Das ist eine Posi tion, Sie bitte bestätigen, daß ich für meine Fraktion in di- bei der ich sagen muß: Sie tun mir wirk lich nur noch versen Haushaltsreden nie das Geld für den Jäger 90 leid. an anderer Stelle ausgegeben habe, sondern gegen die Beschaffung geredet habe und wir auch Anträge (Dietmar Schütz [Oldenburg] [SPD]: Was gestellt haben, weil wir sagen: Wir haben für die Be- sagt Ihr eigener Verteidigungsminister?) schaffung kein Geld. Dies wäre ein Milliardenloch, wie es übrigens auch der Bundesrechnungshof sagt. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Herr Minister, Sie haben das nicht finanziert, weil Sie in Ihrer mit- gestatten Sie eine Zwischenfrage des Grafen Lambs- telfristigen Finanzplanung für die Beschaffung nichts dorff? vorgesehen haben. 4878 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1995

Dr. Jürgen Rüttgers, Bundesminister für Bildung, ausrüstung nicht mit einem amerikanischen Flugkör- Wissenschaft, Forschung und Technologie: Verehrte per getätigt werden muß, und daß die Bundesregie- Frau Kollegin Matthäus-Maier, ich finde es mutig, rung diesem nationalen Antrag der DASA bisher nicht zugestimmt hat? Diese Dinge stimmen nicht mit (Zuruf von der CDU/CSU: Dreist!) Ihren Forderungen überein. Die Bundesregierung und ich finde es ehrlich, daß Sie die Posi tion, die Sie hat hier versagt und das Falsche getan. Wie erklären in den Haushaltsdebatten vorgetragen haben, jetzt in Sie sich das? dieser Situa tion wiederholen. Dazu möchte ich Sie beglückwünschen. Sie stimmt nur nicht mehr mit (Beifall bei der SPD) dem überein, was Ihre Fraktion hier heute vorgetra- gen hat; denn diese hat den Eindruck erweckt, als ob man nur noch auf eine kleine Vorlage wa rte, und Dr. Jürgen Rüttgers, Bundesminister für Bildung, dann sei man bereit. Wissenschaft, Forschung und Technologie: Dazu werde ich jetzt keine Erklärung abgeben, Herr Kol- (Lachen bei der SPD) lege Opel. - Oder sind Sie etwa nicht bereit? Dann stellen Sie sich nicht hin und verdummteufeln die DASA- (Lachen bei der SPD - Dr. Sig rid Skarpelis Arbeitnehmer. Das ist eine Sache, die so nicht geht. Sperk [SPD]: Angreifen kann man, antwor ten nicht!) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge ordneten der F.D.P.) - Das ist ein bißchen billig.

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Herr Minister, (Rudolf Scharping [SPD]: Ihr Handeln wi gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten derspricht Ihren Worten! Ganz einfach!) Opel? - Herr Scharping, Sie wissen genauso wie ich, in wel- chem Verfahren im Bundestag die Beschaffungsent- Dr. Jürgen Rüttgers, Bundesminister für Bildung, scheidungen fallen. Ich sage Ihnen, daß ich davon Wissenschaft, Forschung und Technologie: Aber nicht genügend verstehe und weiß. Deshalb werde gerne. ich es jetzt nicht kommentieren, weil ich mir nicht Vorwürfe machen lassen will. Manfred Opel (SPD): Herr Minister, unterstellen wir, die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer bei (Zurufe von der SPD) der DASA freuen sich über jeden Auftrag. Herr Minister Rexrodt hat wörtlich gesagt: Beschaffungs- - Entschuldigen Sie. Ich sage hier, daß ich dazu aufträge sichern Technologie und Beschäftigung. Je- nichts sagen kann. Das ist eine ehrliche Aussage. Ich der stimmt dem zu. Wie erklären Sie sich unter die- werde nicht dafür bezahlt, über irgend etwas hin- sen Umständen, daß ausgerechnet für die Flugbereit- wegzureden. Wenn Ihnen das nicht paßt, dann ist es schaft der Bundesregierung jetzt nordamerikanische mir auch egal. Flugzeuge und nicht die DO 328 im ganz neuen Haushalt 1996 beschafft werden sollen? (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall der Abg. Ingrid Matthäus-Maier Jetzt kommen wú einmal zu den Bereichen, von [SPD]) denen ich Ahnung habe.

Wie erklären Sie sich, Herr Minister, daß, obwohl die (Zuruf von der SPD: Endlich!) Briten aus dem europäischen Programm Tiger ausge- stiegen sind und der zuständige Staatssekretär ge- Das ist z. B. die Abteilung Luft- und Raumfahrt und sagt hat, das würde Folgen haben, ausgerechnet konkret die Raumstation. Dazu habe ich in der ver- heute die Marine für 67 Millionen DM sieben briti- gangenen Woche im Ausschuß Debatten geführt. sche Hubschrauber und nicht die von Eurocopter be- Herr Ministerpräsident Stoiber hat gerade darauf schafft? - hingewiesen, daß wir jetzt im Oktober die europäi- (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Das kann nicht sche ESA-Konferenz in Toulouse haben. wahr sein! - Dr. Uwe Küster [SPD]: Doppel bödig wie immer!) Natürlich kann man sagen, daß der Sektor Raum- fahrt im Moment relativ wenig Probleme hat und mit Wie erklären Sie den Mitarbeitern und Mitarbeite- Dolores überhaupt nichts zu tun hat. Aber wahr ist rinnen der DASA, Herr Minister, daß diese Bundesre- auch, daß es um eine Gesamtperspektive für das Un- gierung noch kurz vor der Sommerpause für über ternehmen geht. Wahr ist auch, daß diese Entschei- 100 Millionen DM Ausrüstung und Bewaffnung be- dung noch nicht unter Dach und Fach ist. schafft hat, die in Amerika gekauft worden sind, ob- wohl es in Europa und in Deutschland Alternativen Es ist gar nicht so einfach, sie unter Dach und Fach gäbe? Wie erklären Sie sich, daß seit einigen Wochen zu bekommen, weil es dabei natürlich um einen im Bundesministerium der Verteidigung ein Vor- hochkomplizierten Interessenausgleich in Europa schlag der DASA liegt, einen Demons trator für eine geht. Ich bin optimistisch und hoffe, daß wir das hin- Flugzeugbewaffnung für eben jenes Flugzeug, das bekommen. Das wäre wieder ein Stück Planungssi- Sie angezogen haben, zu entwickeln, damit die Erst cherheit. Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1995 4879 Bundesminister Dr. Jürgen Rüttgers Aber ich sage Ihnen auch: Mir wäre leichter, wenn fahrt ohne eine erkennbare Grenze wächst und da- ich wüßte, bevor ich nach Toulouse fahre, daß nicht mit dann auch die Erfüllung und Durchführung wich- nur die Koalitionsfraktionen ein Ja zur internationa- tiger Forschungsaufgaben in anderen Technologie- len Raumstation sagen, sondern auch die SPD in ih- feldern unmöglich macht? rer Mehrheit, statt - wie dies in der Vergangenheit geschehen ist - diese dauernd zu bekämpfen. Ist es drittens zutreffend und wahr, daß die SPD- Fraktion diese Verabredung unterstützt hat, daß wir (Beifall bei der CDU/CSU - Anke Fuchs gleichzeitig darauf gedrungen und immer wieder [Köln] [SPD]: Tun wir doch überhaupt eingefordert haben, daß eine internationale Verab- nicht!) redung für den Bau einer Weltraumstation stattfin- det, weil wir der Meinung sind, daß diese Aufgaben Die Wahrheit ist, daß die SPD in den Ausschüssen nicht allein als europäisches Forschungsprogramm immer gegen die bemannte Raumfahrt angetreten durchgeführt werden können, ist, daß es Entscheidungen und Anträge im Haus- haltsausschuß gegeben hat. Von den Grünen wissen (Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Das ist wir das sowieso. Auch das gehört dazu. Die Wahrheit eine Frage!) ist eben nicht teilbar. sondern daß es unter forschungs- und industriepoliti- Meine Damen und Herren, was können wir kon- schen Gesichtspunkten wich tig und notwendig ist, kret tun? Ich will sieben Punkte ganz kurz anspre- dies als internationale Aufgabe zu begreifen und chen. durchzuführen? Erstens. Wenn die Luft- und Raumfahrtindustrie (Dr. Uwe Küster [SPD]: Sehr detaillie rte eine Schlüsselindustrie bleiben will, brauchen wir Frage! Gute Frau!) eine belastbare Strategie des Unternehmens, eine Ist es richtig, daß Sie diese Position in all den Jah- Strategie, die an marktwirtschaftlichen Zielen ausge- ren, in denen Sie in diesem Ausschuß tätig waren, richtet ist. Deshalb erwarte ich von der DASA, daß unterstützt und für richtig gehalten haben, daß die sie nicht nur Kostensenkungsprogramme vorstellt, SPD-Fraktion ebenfalls im Ausschuß darauf gedrun- sondern für die nächsten Jahre konkrete S trategien gen hat, daß wir endlich zu einer Ausfüllung und vorlegt. Nur dann können auch langfristige Beschaf- Neuformulierung des ESA-Langzeitprogramms kom- fungsentscheidungen ge troffen werden. men, (Zurufe von der CDU/CSU: Fragen! Fragen! Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Herr Minister, - Demonstrativer Beifall bei der CDU/CSU) gestatten Sie noch eine Zwischenfrage? damit wir uns nicht auch in Zukunft noch in der Si- tuation befinden, liebe Kolleginnen und Kollegen, Dr. Jürgen Rüttgers, Bundesminister für Bildung, Paper-work zu finanzieren, weil wir das Forschungs- Wissenschaft, Forschung und Technologie: Ja. und Technologie-Know-how, das es bei uns gibt, tat- sächlich effektiv einsetzen wollen?

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Bitte, Kollegin. (Beifall bei der SPD - Dietmar Schütz [Ol denburg] [SPD]: Das ist eine Kleistsche Frage!) Edelgard Bulmahn (SPD): Herr Minister Rüttgers, ist es zutreffend, daß Sie selber - als Sie von 1987 bis Bundesminister für Bildung, 1990 noch Mitglied des Ausschusses für Forschung Dr. Jürgen Rüttgers, Wissenschaft, Forschung und Technologie: Liebe und Technologie waren - gemeinsam mit Mitglie- Kolleginnen und Kollegen, keine Angst, ich hole das dern der SPD-Fraktion die Sorge geäußert haben wieder auf: Zur ersten Frage: Ja. Zur zweiten Frage: und auch in den Ausschußberatungen immer wieder Ja. Zur vierten Frage: Ja. Zur dritten Frage: Es ist thematisiert haben, daß das ESA-Langzeitprogramm richtig, daß Sie diese Auffassung vertreten. Es ist in seiner ursprünglichen Konzeption von den finan- aber auch richtig, daß andere Kollegen generell ge- ziellen Planungen der Bundesregierung erheblich- gen die bemannte Raumfahrt ins Feld gezogen sind. abwich und für jeden ersichtlich und erkennbar war, daß Programmplanung und Finanzplanung nicht (Heiterkeit bei der CDU/CSU) übereinstimmten, und daß es von daher sowohl Ihre wie z. B. auch meine Position war, dafür Sorge zu tra- Zweiter konkreter Vorschlag: europäische Unter- gen, daß wir eine Deckungsgleichheit zwischen Pro- nehmensstrukturen. Sie wissen, daß die Airbus-In- grammplanung und Finanzplanung erreichen? dustrie ein loser Zusammenschluß nationaler Luft- fahrtunternehmen ist. Wenn Europa mit seinem Air- Ist es zweitens zutreffend, daß Sie mit Ihrem fran- bus der amerikanischen Konkurrenz standhalten wi ll zösischen Kollegen eine Obergrenze für das Raum- - Ministerpräsident Stoiber hat davon gesprochen -, fahrtprogramm in Höhe von 2 Milliarden ECU bis brauchen wir eine europäische Unternehmensstruk- zum Jahre 2000 vereinbart haben, weil Sie die tur. Das heißt, die Produktion muß nach Kostenge- Schlußfolgerungen aus den Entwicklungen Ende der sichtspunkten ausverhandelt, nach Arbeitspaketen 80er und Anfang der 90er Jahre gezogen haben, daß organisiert werden, die sich an den Kosten orientie- es sowohl finanzpolitisch als auch forschungspoli- ren. Was für die Luftfahrt gilt, gilt auch für die Raum- tisch nicht verantwortbar ist, daß der Etat für Raum- fahrt. 4880 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1995 Bundesminister Dr. Jürgen Rüttgers Das führt mich zum dritten Punkt. Wir brauchen Ich kann hier nur für die Bundesregierung spre- für die deutsche Luftfahrtindustrie anspruchsvollere chen, aber soviel kann ich sagen: Wir stellen uns der Arbeitspakete. Die Endmontage und das Nieten von politischen Verantwortung. Rumpfteilen reichen für die Zukunft nicht aus. Des- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) halb haben wir das Luftfahrtforschungsprogramm auf den Weg gebracht, und wir sind bereit, hier wei- terzumachen. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort zu ei- ner Kurzintervention erteile ich dem Abgeordneten Der vierte Punkt heißt Kommerzialisierung der Graf Lambsdorff. Raumfahrt. Es gibt eine Vielzahl von Bereichen, in denen sich inzwischen eine Kommerzialisierung ab- zeichnet. Bei satellitengestützter Kommunikation, Dr. Otto Graf Lambsdorff (F.D.P.): Herr Rüttgers, Navigation und Erdbeobachtung gibt es mittlere ich möchte darauf aufmerksam machen, daß es der Wachstumsraten von 16 %. Deshalb ist es wich tig, reine Zufall ist, daß wir heute über ein Großunter- daß wir diese Wachstumsmärkte nutzen. nehmen sprechen, das auch ein Zukunftsunterneh- men ist. Die Frage der Subventionierung - wenn es Der fünfte Punkt - da wird es schon wieder S treit nicht um Forschungsmittel geht - laufender Betriebe, geben - heißt Dual-use. Eine leistungsfähige Luft- laufender Produktion oder laufender Verluste bei ei- fahrtindustrie ist auch für die Sicherheitspolitik un- nem großen Unternehmen in Beziehung zu dem Mit- verzichtbar. Deshalb werden wir uns in diesem telstand bleibt genauso problematisch, wie ich es Hause endlich einmal dazu durchringen müssen, die dargelegt habe. Diese generelle Problematik muß er- Synergien von militärischer und ziviler Forschung zu kannt werden. Die Sicherung von Arbeitsplätzen in nutzen. Ohne geht es nämlich nicht, weil die Konkur- großen Unternehmen führt über das Mittel des Tarif- renz es ähnlich macht. Deshalb darf es aus Effizienz vertrags sehr leicht dazu, daß die kleinen und mittle- gründen keine Barrieren geben. ren Unternehmen Arbeitsplätze in größerer Zahl ver- lieren. Dies ist ganz unabhängig von der Frage, ob Der sechste Bereich heißt Umweltschutz. Wir ha- das ein Zukunftsindustrieunternehmen ist oder nicht. ben hohe Zuwachsraten im Luftverkehr. Dies heißt im Klartext, wir brauchen umweltfreundliche Tech- (Beifall bei der F.D.P.) nologien. Das gilt für den Lärm auf den Flughäfen, das gilt für die Gefährdung der Atmosphäre. Deshalb Ich bin mit Herrn Stoiber - er ist offensichtlich ist es auch richtig, daß wir im Rahmen des Luftfahrt- nicht mehr hier - durchaus einig, daß die Luft- und forschungsprogramms die Emissionen der giftigen Raumfahrtindustrie erhalten werden soll. Wir haben und die Ozonschicht schädigenden Stickoxide um über Forschungsmittel und die Möglichkeit ihrer bis zu 85 % verringern wollen und daß wir den Treib- Weitergewährung und Erhöhung gesprochen. Wenn stoffbedarf pro Platz und Kilometer halbieren wollen. wir ein Verhältnis von unter 50:50 in Europa errei- Deshalb muß der Umweltschutz in Zukunft ein tra- chen wollen, müssen wir dafür - das wissen Sie - an gendes Element bei der Entwicklung neuer Flug- -dere Preise bezahlen. Das ist das übliche Geschäft in zeuggenerationen sein. Europa. Ein europäischer Luft- und Raumfahrtkonzern ist Siebter und letzter Punkt: Wir brauchen eine ein- durchaus wünschenswert. Aber die Bemerkung, die heitliche europäische Luftfahrtforschung; dies ist Herr Rüttgers soeben gemacht hat, wir brauchten jetzt ein wichtiger Punkt. Ich hoffe sehr, daß sich die dann anspruchsvollere Arbeitspakete, ist doch der Bundesländer, die auch in Brüssel vertreten sind, mit Hinweis auf die gesamte Problematik der internatio- engagieren. Wir brauchen ein Programm der nalen Zusammenarbeit, die wir bei Airbus Industries Europäischen Kommission, das zu Harmonisierungen über viele Jahre mitexerziert haben. Es war mühsam, führt und das auch die nationalen Programme in ei- nicht nur die Blechschmiedeanteile zu bekommen, nem ersten Schritt einbezieht. Ich bin dazu bereit, sondern die anspruchsvolleren High-Tech-Arbeitspa- das deutsche Luftfahrtforschungsprogramm in eine kete. europäische Kooperation einzubringen, denn nur auf europäischer Ebene werden wir langfristig Erfolg ha- Das wird auch in Zukunft nicht einfach sein, insbe- ben. - sondere dann nicht - hier möchte ich Herrn Stoiber ausdrücklich unterstützen -, wenn man den prospek- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) tiven Partner auf einem so wich tigen Gebiet auf an Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich biete aus- -deren Gebieten auf den Füßen herumtritt. Das wird drücklich dem Unternehmen, seinen Mitarbeiterin- die Bereitschaft zur Zusammenarbeit nicht erhöhen. nen und Mitarbeitern und allen Fraktionen des Hau- Letzte Bemerkung, meine Damen und Herren. ses die gemeinsame Arbeit an diesem Aktionsplan Herr Fischer, ich habe das mitgeschrieben: Es darf an. Ich erwarte dazu konstruktive Beiträge. Ich hoffe, nichts geschehen, was die Kompetenz für die Luft- daß die SPD in den nächsten Wochen wegen der exi- fahrtindustrie beeinträchtigt; die Standorte dürfen stentiellen Bedeutung der Rettung dieser Schlüssel- nicht aufgegeben werden; es darf nichts in den Dol- industrie zu einer einheitlichen Haltung findet. Ich larraum verlegt werden. empfinde es als tragisch, daß in der SPD mittlerweile fast jede politische Entscheidung von übergeordne- Unter solchen Auflagen ist eine privatwirtschaftli- ter wirtschaftlicher oder gesellschaftlicher Bedeu- che Lösung der Probleme durch die DASA nicht er- tung zu inneren Krisen führt. Ich hoffe, daß das we- reichbar. Wir müssen klar und deutlich sagen, daß nigstens in diesem Fall überwunden werden kann. die Probleme unter solchen Bedingungen durch ein Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1995 4881 Dr. Otto Graf Lambsdorff privatwirtschaftlich geführtes Unternehmen auf Insofern will ich hier für die sozialdemokratische Dauer nicht zu lösen sind. Jeder muß wissen, ob er Seite festhalten, daß wir die Betriebsräte, die die Konsequenzen, die daraus folgen, wirk lich tra- IG Metall sowie die Arbeitnehmerinnen und Arbeit- gen will. nehmer bei allen geeigneten Maßnahmen unterstüt- zen, in dieser strategischen Schlüsselindustrie Ar- Schließlich und endlich: Die Standortbedingungen beitsplätze zu erhalten, und zwar auf Dauer. der Bundesrepublik Deutschland erreichen nicht nur Grobschmieden, Blechschmieden oder Holzsäge- (Beifall bei der SPD) reien, sondern sie erreichen eben auch den High- Tech-Bereich, d. h. unsere Zukunftsindustrien. Mit Damit ist man dann bei der zweiten Frage, näm- dem schlichten Aufruf, Herr Fischer, es müsse etwas lich: Gibt es noch etwas mehr als unternehmerische geschehen, wir sollten handeln, ohne uns zu sagen, Verantwortung? Dies gibt es allerdings. Mir ist - der was das „etwas" ist und womit wir h andeln können, Kollege Stoiber kann aus guten Gründen nicht da ist uns nicht geholfen. Schöne Grüße an Herrn Schrö- sein - sehr wohl aufgefallen, daß der Kollege im Kern der! eine andere Konzeption verfolgt als die Bundesregie- rung. (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne ten der CDU/CSU) (Beifall bei der SPD)

Im Kern verfolgt er nämlich eine industriepolitische Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat Vorstellung, die im Bereich Forschung und Entwick- jetzt der Fraktionsvorsitzende der Sozialdemokrati- lung, im Bereich Beschaffung, im Bereich entspre- schen Partei, Rudolf Scharping. chender Quersubventionen aus der Beschaffung und durch die offene Ausweisung von Subventionen dar- Rudolf Scharping (SPD): Frau Präsidentin! Meine auf hinausläuft, in dieser s trategischen Schlüsselin- Damen und Herren! Es ist hier mehrfach gesagt wor- dustrie dauerhaftes öffentliches Engagement zu er- den - dem stimmen wir zu -, daß die Luft- und Raum- möglichen. fahrtindustrie in Deutschland und in Europa eine strategische Schlüsselindustrie ist. Das war schon die Darüber kann man streiten. Diesen S treit will ich Verständigung der Ministerpräsidenten im Jahr hier jetzt nicht führen. Aber wenn man hört, was 1993. Der Satz hat allerdings überhaupt keinen Wert, Herr Rexrodt gesagt hat - dazu muß man, wie Sie wenn er nicht durch konkretes Handeln ergänzt wissen, Herr Rexrodt, nicht unbedingt hier vorne wird. sitzen, sondern man kann auch einmal dahinten sit- zen -, und dann Revue passieren läßt, was Herr Rütt- Deshalb will ich zunächst sagen, daß das Konzept gers dazu gesagt hat, ist überdeutlich, daß nicht nur der DASA, bekannt unter dem Namen Dolores, ein eine Differenz besteht zu dem, was Herr Stoiber ge- unternehmerisch unverantwo rtliches Konzept ist. sagt hat, sondern daß auch zwischen den Mitglie- dern der Bundesregierung eine im Kern unterschied- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne liche Konzeption verfolgt wird. ten der PDS) (Beifall bei der SPD) Es ist aus mehreren Gründen unverantwortlich: Es unterstellt einen Dollarkurs, wie er Gott sei Dank in Da ist es nicht verwunderlich, daß Sie von diesem diesem Jahr bisher nicht erreicht worden ist und hof- und jenem ablenken wollen. Dafür haben Sie dann fentlich auch in Zukunft nicht erreicht wird; es unter- einen billigen Vorwand, wie leider häufig. Aber das stellt eine Kapitalrendite, wie sie in keinem deut- ändert gar nichts daran, daß hier von den Mitglie- schen Unternehmen üblich ist und schon gar nicht in dern der Bundesregierung und dem Ministerpräsi- einem Unternehmen üblich werden darf, das in ho- denten Stoiber drei unterschiedliche Varianten einer hem Umfang mit öffentlichen Mitteln gefördert wird; langfristigen Konzeption vertreten worden sind. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne (Beifall bei der SPD) ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN - und der PDS) Wie in einer solchen Situation das Versprechen ein- und es informiert die Öffentlichkeit nicht über den gelöst werden soll, man tue etwas für die Erhaltung banalen Umstand, daß jede verantwortliche Unter- dieser strategischen Schlüsselindustrie, bleibt aller- nehmensführung sich gegenüber Währungsrisiken dings rätselhaft. Nur dann wird auch verständlich, entsprechend absichert. Die Gewinne aus solchen wie sich die Bundesregierung in dem Punkt bisher Kurssicherungsgeschäften werden nicht erkennbar verhalten hat. gemacht. Sie können immer zur Opposi tion kommen und sa- Vor diesem Hintergrund beschleicht mich der Ver- gen: Teilen Sie uns mit, wie Sie sich verhalten wer- dacht, daß das Unternehmen hier und da den vor- den, wenn wir das und das auf den Tisch legen. Von handenen Druck vergrößern und jetzt zum Teil von uns werden Sie immer die Antwort hören: Wir sagen der Politik Wünsche erfüllt bekommen will, die sich Ihnen das, wenn es auf dem Tisch liegt; denn erst aus einer verantwortlichen zukunftsweisenden un- einmal wollen wir wissen, was auf dem Tisch liegt. ternehmerischen Konzeption nicht ergeben. (Beifall bei der SPD - Widerspruch bei der (Beifall bei der SPD) CDU/CSU) 4882 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1995 Rudolf Scharping Ihre Verantwortung ist mindestens die, gegenüber Ein Punkt bei den Rahmenbedingungen ist: Sie einem solchen Unternehmen - angesichts der Bedro- lassen ungleiche Wettbewerbsbedingungen zu. Sie hung von 15 000 Arbeitsplätzen, angesichts der Be- tragen Verantwortung dafür, daß es sie gibt; denn so deutung dieser Industrie für den Mittelstand, ange- alt sind die GATT-Abkommen noch nicht. sichts der Bedeutung dieser Industrie weit über die Jahre 1995 und 1996 hinaus, angesichts der Bedeu- Zweitens geht es um die europäische Koopera- tung für Umweltüberwachung, Nachrichtentechnik, tion. Alles, was wir hier über europäische Koopera- die nachgelagerten Industrien im Bereich der Tele- tion hören - namentlich mit Frankreich oder um euro- kommunikation usw. - klar dazu Stellung zu neh- päische Konzerne aufzubauen -, ist richtig und wird men, ob sie ihm langfristig verläßliche Rahmenbedin- von uns unterstützt werden. Es macht aber wenig gungen zur Verfügung stellen können. Sinn, die eigene Unfähigkeit hinter Vorwürfen an die Opposition zu verstecken. (Beifall bei der SPD) Das will ich an einem einzigen Beispiel deutlich Auch das tun Sie nicht. Das ist kein Wunder, wenn machen. Es mag sein - übrigens so wie bei Ihnen, es einen konzeptionellen S treit gibt, bei dem auf der Herr Rüttgers -, daß es innerhalb der Sozialdemokra- einen Seite ein Ministerpräsident sagt „Es muß ein tie zu Einzelfragen der bemannten Raumfahrt unter- dauerhaftes öffentliches Engagement geben" und schiedliche Auffassungen gibt. Im Ke rn allerdings auf der anderen Seite der Bundeswirtschaftsminister wollen wir, daß im Bereich des. Aufklärungssatelliten, verkündet „Die müssen sich im Markt behaupten". im Bereich der Raumfahrt - im Zweifel auch der be- mannten Raumfahrt -, der Luftfahrtforschung, der Wenn Sie als Bundesregierung eine solche Posi tion Frage nach neuen Antrieben, der Verwendung ande- vertreten - für die man durchaus Argumente finden rer Energiearten konsequent etwas gemacht wird. kann -, dann ist es Ihre verdammte Pflicht und Schul- Denn wenn Sie diese zunächst und vor allen Dingen digkeit, dafür zu sorgen, daß ein im internationalen zivilen Entwicklungsrichtungen nicht konsequent Wettbewerb stehendes Unternehmen gleiche Wett- fördern, dann können Sie Arbeitsplätze bei der bewerbsbedingungen wie andere vorfindet. Noch DASA gar nicht auf Dauer retten, auch nicht mit mili- nicht einmal das tun Sie. tärischen Beschaffungsvorhaben. Das ist völlig aus- geschlossen. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne Ich will Ihnen das jetzt an einigen wenigen Bei- ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) spielen, die mit den Rahmenbedingungen zu tun ha- ben, kurz demonstrieren. Sie haben in den GATT Drittens gibt es so etwas wie eine politische Ge- zugelassen, daß die direkte Förde--Verhandlungen samtverantwortung. Was wir hier vorgeführt beka- rung heruntergefahren und die Quersubvention men, war: Stoiber sagt a, Rexrodt sagt b, Rüttgers nicht vernünftig limitiert wurde. Auf gut deutsch: Sie sagt c. Ob Rühe d sagt, darüber konnte man heute haben zugelassen, daß die Vereinigten Staaten von etwas lesen; darauf komme ich gleich noch zurück. Nordamerika über den Rüstungshaushalt in erhebli- Was Sie an Wirtschafts- und Finanzpolitik be treiben, chem Umfang die zivile Luftfahrt, die zivile Raum- hat wegen des Bruchs in den Währungsrelationen fahrt subventionieren können. In Deutschland funk- Zehntausende von Arbeitsplätzen in Deutschland ge- tioniert das entweder mit dem Haushalt nicht oder ist kostet. nicht gewollt. Aus welchen Gründen auch immer: Sie haben ungleiche Wettbewerbsbedingungen zugelas- (Beifall bei der SPD sowie des Abg. sen. ÜDr. Manuel Kiper [BÜNDNIS 90/DIE GR NEN]) (Beifall bei der SPD) Das wird im Zusammenhang mit der DASA über- Ich finde es schon beachtlich: Da stellt sich ein Mit- deutlich bestätigt. Denn die ganze Konzeption Dolo- glied der Bundesregierung hier hin und weiß ganz res, unverantwortlich, wie sie ist, hat doch nur einen genau, welche Vorwürfe es an die SPD zu adressie- wirklichen Bezugspunkt, nämlich einen Dollarkurs, ren hat. Aber wenn man nach dem Verhalten- der von dem man, wenn Sie mit der internationalen Ko- Bundesregierung fragt - auf der Ebene der Beschaf- operation so weitermachen, befürchten kann - viel- fung, bei der Marine, bei der Munition, bei den Hub- leicht begründet -, daß er erreicht wird. Wenn Sie schraubern usw. - und hier über einen Luft- und weiter erlauben, daß die Amerikaner über die Wäh- Raumfahrtkonzern diskutiert, ist es schon an der rungsrelationen Industriepolitik machen, und nichts Grenze der Lächerlichkeit, daß ein Mitglied der Bun- Anständiges dagegensetzen, dann könnte das sogar desregierung Unwissenheit vorschützt, während die eintreten. Bundesregierung, der es angehört, gleichzeitig Be- schaffungsvorhaben durchzieht, die im Ke rn die Ar- Was Sie hier machen, ist keine Konzeption, son- beitsmöglichkeiten bei dem Unternehmen, über das dem Muddling-through mit diesem oder jenem. wir reden, beschädigen. Wenn Sie nämlich eine Konzeption hätten, dann wür- den Sie Ihre Beschaffungsentscheidungen auf die (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne Existenzfähigkeit des Unternehmens konzentrieren ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) und die Rahmenbedingungen entsprechend setzen.

Das ist die Tatsache. Dazu können Sie nichts sagen. (Beifall bei der SPD) Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1995 4883

Rudolf Scharping Ich will als vierten Punkt hinzufügen: Ein Land, Arbeitsplätze in Deutschland gefährlich. Die Arbeits- das Verteidigung braucht, braucht auch eine wehr- plätze, die Technologie und die zukünftige Entwick- technische Industrie; das ist unbestritten. Ein Land, lung sind wichtiger als dieser kleinkarierte, erbärmli- das Verteidigung braucht und eine wehrtechnische che, kümmerliche parteipolitische Streit. Industrie hat, wird klugerweise dafür sorgen, daß es auch aus dem eigenen Land entsprechende Beschaf- (Anhaltender Beifall bei der SPD - Beifall fungsaufträge gibt. Das hat etwas mit der Industrie beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) und ihrer Grundlage zu tun; das hat etwas mit Ar- beitsplätzen zu tun; es hat übrigens auch mit dem notwendigen Maß an Unabhängigkeit zu tun, a ller in Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Ich erteile jetzt Zukunft stattfindenden Integra tion zum Trotz. Mit all dem Abgeordneten Rexrodt das Wo rt zu einer Kurz- diesen Aspekten hat es zu tun. intervention. Folgerichtig wäre es klug - vielleicht reden Sie, (Josepf Fischer [Frankfu rt] [BÜNDNIS 90/ Herr Rüttgers, darüber einmal mit Ihrem Kollegen DIE GRÜNEN]: Jetzt kommt der Jäger Rühe oder anderen -, solche Beschaffungsentschei- light!) dungen voranzubringen. Sie werden in der SPD kei- nen Widerstand, sondern Unterstützung finden, wenn es um bestimmte Beschaffungsvorhaben geht - Dr. Günter Rexrodt (F.D.P.): Frau Präsidentin! nicht bei allen. Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kol- lege Scharping, in einem sind wir uns zunächst ein- Ich stimme dem Bundesverteidigungsminister aus- mal einig. Es ist parteiübergreifend gesagt worden, drücklich zu, wenn er sagt: Der Eurofighter ist keine daß alles daranzusetzen ist, daß die DASA ihre Un- Arbeitsbeschaffungsmaßnahme; die Entscheidung ternehmensprobleme löst und daß Arbeitsplätze in kann frühestens Mitte 1996 ge troffen werden. Es ist dieser Zukunftsindustrie in Deutschland erhalten richtig: Rüstung und wehrtechnische Industrie be- bleiben. Die Wege dahin sind allerdings - gerade deuten Arbeitsplätze. Aber niemals kann das auslö- durch Ihren Beitrag - in vieler Hinsicht unterschied- sende Motiv für Rüstung und Beschaffungsvorhaben lich zu bewerten. der Arbeitsplatz sein. Das ist vielmehr das notwen- dige Ergebnis. Herr Scharping, wie kommen Sie eigentlich zu der (Beifall bei der SPD) Aussage - bei aller Übereinstimmung, daß Wettbe- werbsbedingungen für vergleichbare Industrien Da offenkundig in bestimmten Fragen - ich nenne weltweit möglichst gleich sein sollten -, daß wir als das zukünftige große Transportflugzeug - gar keine Deutsche versäumt hätten, bei den GATT-Verhand- Differenzen bestehen, fragt man sich natürlich: Was lungen darauf hinzuwirken, daß es vergleichbare Be- bewegt die Mitglieder der Koalition, in diese Debatte dingungen gibt? jetzt diese eine Beschaffungsmaßnahme, den Euro- fighter, einzuführen? (Zuruf von der SPD: Das weiß doch jeder! - Rudolf Scharping [SPD]: Die anderen schla (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Ablenkung!) gen sich auf die Schenkel ob Ihrer Politik!) Die Vertreter der Bundesregierung sagen, daß frühe- stens 1996 über sie beschlossen werden könne. Wir Die GATT-Verhandlungen werden von der Europä- wissen, daß der Vorstand der DASA aber schon in ischen Union geführt. Wir haben im Vorfeld a lles dar- diesem Jahr bestimmte Entscheidungen treffen wi ll. angesetzt, daß die Bedingungen geschaffen werden, Auf gut deutsch: Der Verteidigungsminister bestätigt um die DASA nach Möglichkeit zu fördern und die uns öffentlich, daß die Debatte über dieses Flugzeug amerikanischen indirekten Subventionen abzu- überhaupt nichts mit der langfristigen Existenzfähig- bauen. keit der DASA zu tun hat. Die Erfolge, die wir dabei erzielt haben, mögen (Beifall bei der SPD) von vielen als nicht ausreichend be trachtet wer- - den, aber gemessen an dem, was erreichbar war, Ich komme zu meinem letzten Satz: Ich kann sehr hat die Bundesregierung über die Europäische gut verstehen, daß man über diese Frage diskutiert. Union das ihre getan. Wenn Sie das Gegenteil be- Ich halte die Position beispielsweise des Hamburger haupten, behaupten Sie die Unwahrheit, Herr Bürgermeisters Voscherau für eine absolut ra tionale. Scharping. Sie ist schriftlich niedergelegt; ich kann sie sehr gut nachvollziehen. Sie ist aus meiner Sicht politisch sehr (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) gut vertretbar. Aber ich warne davor, die schwerwie- genden Mängel in der Politik der Bundesregierung, Zweiter Aspekt. Welche Vorstellungen von Wech- was die Rahmenbedingungen angeht, was die euro- selkurspolitik und Wechselkursentwicklung haben päische Kooperation angeht und was das Beschaf- Sie eigentlich? Herr Scharping, Wechselkurse bilden fungswesen angeht, hinter einer einzelnen Frage zu sich auf Grund der ökonomischen Tatsachen und be- verstecken. stimmter Erwartungen in die wirtschaft liche Lei- stungskraft eines Landes, Kurzfristig ist das vielleicht parteipolitisch reizvoll; langfristig ist es für die industriellen, für die technolo- (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Wenn es so ein gischen Kapazitäten und die daraus entstehenden fach wäre!) 4884 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1995 Dr. Günter Rexrodt nicht aber durch Entwicklungen, die durch irgendein Verhandlungsstrategie der Bundesregierung im Rah- politisches Verhalten oder auch Fehlverhalten be- men der GATT-Verhandlungen regelrecht auf die dingt sind. Schenkel geschlagen haben, aus Freude darüber, wie dumm sich die Bundesregierung verhalten hat (Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk [SPD]: Wie war und welche Konsequenzen das in diesem Bereich es denn mit der Lira?) hat. Die Bundesregierung ist nicht in der Lage - das ist (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ gut so; im Unterschied zu dem, was von Ihnen immer DIE GRÜNEN) wieder gefordert wird -, unmittelbar auf Wechsel- kursentwicklungen Einfluß zu nehmen. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Für die Bundes- (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ regierung erhält jetzt das Wo rt der Staatssekretär DIE GRÜNEN]: Waigel! Sie müßten nur ein Lammert. mal sagen, welche Länder nicht teilnehmen, dann würden Sie sehen, welchen Einfluß auf den Wechselkurs Sie haben! - Zuruf Dr. Norbert Lammert, Parl. Staatssekretär beim von der SPD: Wie war das denn in dieser Bundesminister für Wirtschaft: Frau Präsidentin! Woche?) Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Debatte, die wir heute geführt haben, Meine Damen und Herren, Ihre Vorstellungen von hat deutlich gemacht, daß es bei einem ungewöhn- Wirtschaftspolitik und die Beiträge, die vom inzwi- lich komplizierten Thema manche Übereinstimmun schen abgelösten wirtschaftspoli tischen Sprecher gen, aber auch viele Kontroversen gibt. Es liegt Herrn Jens dazu immer wieder vorgetragen wurden, wahrscheinlich in der Natur jedenfalls dieses The- liefen darauf hinaus, daß man die Bundesbank ein- mas, daß die Übereinstimmungen eher im Grund- binden solle, um damit sicherzustellen, daß die sätzlichen liegen und da, wo es um konkrete Schluß- Wechselkursentwicklung einen Verlauf nimmt, den folgerungen aus diesen prinzipiellen Positionen geht, man sich wünscht. Das ist wirtschaftspoli tischer Di- die eigentlichen Schwierigkeiten beginnen. lettantismus par excellence. Ich will zum Schluß dieser Debatte den Versuch (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) unternehmen, ganz ohne Polemik ein paar der Sach- verhalte zu sortieren, bei denen wir hoffentlich in Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Herr Abgeord- dem einen Bereich eine möglichst breite Überein- neter Rexrodt, Ihre Redezeit ist leider abgelaufen. stimmung haben und uns in dem anderen Bereich, Kurzinterventionen dürfen nur genau drei Minuten wo wir sie noch nicht haben, jedenfalls gemeinsam umfassen. Es tut mir leid. um Klärungen bemühen sollten. Wenn wir hier über eine Branche, über einen Sektor unserer Volkswirt- (Dr. Günter Rexrodt [F.D.P.]: Zwischenrufe schaft reden, von dem wir übereinstimmend sagen, müssen Sie auch berücksichtigen!) daß wir auf ihn schwerlich verzichten können und - Nein, Kurzintervention ist Kurzintervention. schon gar nicht verzichten wollen, und von dem wir alle miteinander wissen, daß seine Wettbewerbs- (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ und Überlebensbedingungen ohne politische Flan- DIE GRÜNEN]: Das muß der Abgeordnete kierung gar nicht vorstellbar sind, dann lohnt sich noch üben!) schon das gemeinsame Bemühen, eine möglichst Das Wort zu einer Kurzintervention hat der Abge- breite Basis für das Maß an politischer Flankierung ordnete Scharping. zu suchen, das dieser Sektor ohne Zweifel braucht. Ich will deswegen, liebe Kolleginnen und Kolle- Rudolf Scharping (SPD): Herr Kollege Rexrodt, ich gen, aus gutem Grund mit der Bemerkung beginnen: möchte Ihnen erstens sagen: Sie wissen so gut wie Wenn wir über Luft- und Raumfahrt in Deutschland ich, daß es politischen Einfluß auf die Wechselkurse reden, dann reden wir nicht nur über ein Großunter- gibt. Herr Waigel hat das in den letzten Tagen über- nehmen, sondern wir reden auch über eine beachtli- deutlich gemacht. - che Anzahl an kleineren und mittleren Untemeh- men, die übrigens mit vollem Recht von der Politik (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne erwarten, daß ihre Interessen genau so wahrgenom- ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) men und politisch genau so berücksichtigt werden, Langfristigen Einfluß gibt es auch; denn sonst wäre wie es für das Unternehmen gilt, das heute nicht zu- das gemeinsame Bemühen der Notenbankchefs, die fällig im Mittelpunkt dieser Debatte gestanden hat. Wechselkurse zu korrigieren, nicht zu erklären - (Beifall bei der CDU/CSU) übrigens ein Vorgang, den Herr Waigel mit seinen fahrlässigen Äußerungen fast völlig wieder zerschla- Zweitens. Die Lage der Luft- und Raumfahrtindu- gen hat. strie ist schwierig, aber sie ist nicht dramatisch. Liebe (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne Kolleginnen und Kollegen, allein der Respekt gegen- ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) über vielen Branchen und Sektoren unserer Volks- wirtschaft, die sich auch ganz schwierigen Wettbe- Zweitens zu dem, was die Vereinigten Staaten an werbsbedingungen gegenübersehen und deren -geht: Gelegentlich könnte ich Ihnen unter vier Au- Überlebensaussichten und Wettbewerbsbedingun- gen ein paar Leute nennen, die sich angesichts der gen im alten Teil der Republik und schon gar in den Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1995 4885

Parl. Staatssekretär Dr. Norbert Lammert neuen Ländern mindestens so schwierig und be- ihrer ganz ausgeprägten Bereitschaft, sich der stimmt nicht einfacher sind als bei den Firmen, über schwierigen Situation, in der sich die Unternehmen die wir heute reden, gebietet, diese Relativierung der befinden, aufgeschlossen zu stellen und ausdrück- Debatte vorzunehmen, zumal es im übrigen nicht lich zu erklären, daß sie bereit sind, ihren Beitrag zu viele Sektoren gibt, für die man mit gleicher Plausibi- leisten, was die Überwindung dieser Schwierigkei- lität sagen kann, daß sie ganz sicher nicht zu den ten angeht. sterbenden Industrien gehören, sondern zu einem Das, was gelegentlich auch in dieser Debatte an Sektor, der unbestrittene Wachstumsperspektiven vordergründigem Bemühen zu erkennen war, den hat. Es ist übrigens gerade der zivile Bereich, von Schwarzen Peter irgend jemand anderem zuzuschie- dem zu Recht gesagt worden ist, daß er die Zukunft ben, wird ausgerechnet auf seiten der unmittelbar dieser Industrie darstellt. Sowohl mit Blick auf den offenen Belegschaft in einer bewundernswerten Flugzeugbereich wie mit Blick auf die Raumfahrt- betr Weise vermieden, die sich nämlich den Fragen stellt, technologien, bei denen wir gerade am Beginn der um die es tatsächlich geht. Kommerzialisierungsphase stehen, haben wir be- achtliche Wachstumsperspektiven. Meine Damen und Herren, zur Relativierung des Problems gehört auch, daß präzise die gleiche De- Von daher besteht überhaupt kein Anlaß, die un- batte, die wir hier führen, nicht nur in Deutschland, bestritten schwierige Situa tion, in der sich diese sondern gleichzeitig an jedem Luft- und Raumfahrt- Branche befindet, in einer Weise zu dramatisieren, standort in Europa und selbst in den Vereinigten die die Proportionen vollständig verkennen und ver- Staaten geführt wird. kehren würde. Wir befinden uns in einer gründlich veränderten (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ Welt. Überall gibt es massive Konsequenzen dieser DIE GRÜNEN]: Sehr gut! Das müssen Veränderungen, gerade im Bereich der Luft- und Sie dem bayerischen Ministerpräsidenten Raumfahrtindustrie. sagen!) Nun haben wir im Unterschied zu manchen ande- Das gebietet im übrigen auch, Herr Kollege ren Ländern diesen Bereich privatwirtschaftlich orga- Fischer, weil Sie das ja sicherlich meinen, eine ge- nisiert. Die Bundesregierung läßt auch keinen Zwei- wisse Relativierung mancher aufgeregten Erwartun- fel daran, daß es bei dieser privatwirtschaftlichen gen hinsichtlich politischer Interventionen. Das will Verfassung der Luft- und Raumfahrtindustrie in ich ausdrücklich auch an dieser Stelle festgehalten Deutschland bleiben soll. Dann heißt das aber im haben. Klartext: Daraus ergeben sich spezifische Verant- Wenn wir über die Luft- und Raumfahrtindustrie wortlichkeiten, die nicht beliebig, je nach Problem- am Standort Deutschland reden - und da geht die lage ausgewechselt werden können. Diskussion von der Abteilung Allgemeines in die Ab- Die Frage, welche Produkte an welchem Standort teilung Konkretes -, dann dürfen wir nicht nur allge- mit wie vielen Arbeitsplätzen hergestellt werden mein Sympathieerklärungen für einen Sektor unse- können und hergestellt werden sollen, ist eben nicht rer Volkswirtschaft abgeben, sondern dann muß je- von der Politik zu entscheiden, sondern von den be- der für sich, jede Partei für sich, jede politische Grup- troffenen Unternehmen. Dies war der ausdrückliche pierung für sich erklären, ob sie eigentlich Interesse Zweck der Opera tion Privatisierung. Wir täten weder an den Produkten hat, die an diesen Standorten her- der Politik noch der Industrie einen Gefallen, wenn gestellt werden. wir dann, wenn diese Frage konkret wird, in Umkeh- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) rung unserer eigenen Absichten die umgekehrten Empfehlungen hier vortragen würden. Jedenfalls ist es einigermaßen abenteuerlich, sich mit allgemeinen Generalerklärungen über die strate- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) gische Bedeutung dieser Industrie über Wasser hal- Deswegen halte ich es auch für vordergründig, ten zu wollen, aber bei jeder konkreten Frage nach wenn dann, wenn sich in einer solchen Situa tion die dem Produkt einen fundamentalistischen S treit dar- unmittelbar betroffenen Unternehmen um die unpo- über zu beginnen, ob denn ausgerechnet an diesem- puläre Klärung solcher offener Fragen bemühen, hier Produkt in unserer Volkswirtschaft ein Interesse be- mit der populären Forderung aufmarschiert wird, zu- stehen könne. nächst müsse das Unternehmen solche Planungen (Beifall bei der CDU/CSU) vom Tisch nehmen. Das registrieren im übrigen die be troffenen Beleg- Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, weswe- schaftsmitglieder mit großer Sensibilität. gen haben wir diesen Bereich denn privatwirtschaft- lich organisiert? Damit endlich die Antwort auf die (Vorsitz : Vizepräsident Dr. Burkhard Frage, was an welcher Stelle mit am ehesten gegebe- Hirsch) ner Aussicht auf Wettbewerbsfähigkeit hergestellt wird, nicht von dem Durchsetzungsvermögen von Ich will beim Stichwort Belegschaft - ich führe in Wahlkreismatadoren abhängig gemacht wird, son- diesen Wochen sehr viele und sehr intensive Gesprä- dern von der nüchternen Einschätzung der tatsächli- che an vielen Standorten - an dieser Stelle einmal chen Marktchancen und der Wettbewerbsfähigkeit. meinen großen Respekt nicht nur vor der ungewöhn- lichen Leistungsfähigkeit der Mitarbeiter in dieser (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge Branche zum Ausdruck bringen, sondern auch vor ordneten der F.D.P.) 4886 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1995

Parl. Staatssekretär Dr. Norbert Lammert Meine Damen und Herren von der Opposition, bei auch im Forschungs- und im Beschaffungsbereich. manchem meiner Standortbesuche habe ich tatsäch- Diese Inkonsistenzen gibt es nicht nur bei den Fran- lich den Eindruck gehabt, daß die Belegschaften in zosen, den Niederländern oder den Briten. Die ganze der Einsicht in diese Zusammenhänge schon erheb- Wahrheit ist: Es gibt sie gelegentlich auch bei uns. lich weiter sind, als es mancher Diskussionsbeitrag heute morgen erkennen ließ. (Manfred Opel [SPD]: Viel zu häufig!) Allerdings sollte man nicht einerseits die Beschaf- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) fungspolitik der Bundesregierung deswegen kritisie- ren, weil sie nicht in Deutschland kauft, Es hat keinen Sinn, nun Durchhalteparolen zu for- mulieren: Wir halten die Luft- und Raumfahrtindu- (Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk [SPD]: Uns ha strie, koste es, was es wolle. Die Wahrheit ist: Wir hal- ben Sie das doch vorgeworfen!) ten sie nicht, koste es, was es wolle. Entweder wird und andererseits die Erwartung zurückweisen, daß sie an diesem Standort wettbewerbsfähig, oder es zur Sicherung von Beschäftigungschancen eine be- wird sie nicht geben. stimmte Entscheidung zugunsten deutscher Unter- nehmen getroffen werden müßte. Hier muß man sich In dem Zusammenhang können wir an einer Ein- auch entschließen, welche Art der Argumentation sicht nicht vorbei, die allerdings erhebliche Verände- man sich nun wirklich zu eigen machen will. rungen auf seiten der Politik erfordert, der Einsicht nämlich, daß die Zeiten vorbei sind, in denen das in (Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk [SPD]: Aber Sie nationaler Kompetenz oder in der Kompetenz einzel- auch!) ner Unternehmen bewältigt werden konnte. Wahr ist - deswegen habe ich das vorgetragen -: Es gibt Inkonsistenzen, und darüber müssen wir reden. Entweder wird die Luft- und Raumfahrt europä- Wenn wir in dieser Branche nur mit einer europä- isch, oder sie wird irrelevant. Es wird sie nicht mehr ischen Perspektive überleben können, dann muß geben, wenn wir nicht zu ganz neuen, sehr viel diese europäische Perspektive Forschung, Entwick- intensiveren Konzepten europäischer Zusammen- lung, Beschaffung, Nutzung und zunehmend übri- arbeit kommen. gens auch Wartung einschließen. Sonst werden wir das gar nicht durchhalten können. Wenn hier - auch von der Opposition - gesagt wird, wir seien ja bereit, an allem mitzuwirken, dann Der zweite unverzichtbar anstehende Klärungsbe- lade ich Sie herzlich ein, bei zwei ganz konkreten darf - ich sage das nur noch stichwortartig - betrifft Fragen mitzuwirken, die wir in kürzester Zeit poli- die Exportregelung, die wir in der Bundesrepublik tisch klären müssen, weil nämlich keine Klärungs- Deutschland haben. Herr Scharping, unter den gege- möglichkeit für die Unternehmen gegeben ist, son- benen gesetzlichen Bestimmungen sind Unterneh- dern es sich um eine originäre Entscheidungskompe- men in der Bundesrepublik Deutschland nur be- tenz der Politik handelt. grenzt kooperationsfähig. Die gesamte Debatte über notwendige europäische Perspektiven bleibt eine Erstens. So lange, wie es Luft- und Raumfahrt gibt, pure Sympathieerklärung, wenn wir nicht bereit hat es einen engen Zusammenhang zwischen ziviler sind, uns ganz nüchtern, ganz unvoreingenommen, und militärischer Nutzung gegeben. Das muß einem aber eben auch ganz konkret mit der Frage zu be- nicht unbedingt gefallen, aber zur Kenntnis nehmen schäftigen: Wo schaffen wir selber durch unsere ge- sollte man es schon. setzlichen Bestimmungen, die aus der Vergangen- heit stammen und damals vielleicht gut begründet Zu den Realitäten, über die wir reden, gehört, daß waren, Verzerrungen von Wettbewerbsbedingun- der Versuch einer sauberen Trennung zwischen zivi- gen, die eine der wesentlichen Hürden für die Lei- len und militärischen Forschungen, Entwicklungen stungsfähigkeit unserer eigenen Unternehmen dar- und Nutzungen immer realitätsfremder wird. Jeder stellen? Ich stelle mit Sympathie fest, daß es, jeden- muß wissen, daß dann, wenn er auf einer solchen falls in den Ländern, eine beachtliche Neigung gibt, sauberen Trennung besteht, dies für die Luft- und sich dieser Frage ganz nüchtern und unvoreinge- Raumfahrtindustrie am Standort Deutschland- bedeu- nommen zu widmen. Wir werden das hoffentlich ge- tet, daß sie sich von genau solchen Entwicklungen meinsam in diesem Hause tun. und solchen Produkten verabschieden muß, die tat- Meine Damen und Herren, die Indust rie weiß sehr sächlich Marktchancen für die Zukunft haben. Dies wohl, daß die Bundesregierung keineswegs als ist eine Klärung, die die Politik für die Indust rie lei- Adressat beliebiger Anforderungen an öffentliche sten muß. Herr Kollege Scharping, ich sehe mit gro- Kassen zur Verfügung steht. Ganz gewiß können die ßem Interesse der Diskussion mit der Opposition ent- Renditeerwartungen von Unternehmen nicht durch gegen, die wir an dieser Stelle führen müssen. einen Griff in öffentliche Kassen gedeckt werden. Wenn sie diese Rentabilitätsziele erreichen, à la Ich will unter dem Stichwort „Klärungsbedarf" ei- bonne heure, aber dies darf ganz sicher nicht unter nen zweiten Punkt nennen - wirklich ohne jeden An- Rückgriff auf öffentliche Kassen geschehen. flug von Polemik -, den Sie, wie nahezu jeder in die- ser Debatte, völlig zu Recht angemerkt haben: Wir Umgekehrt muß klar sein: Die Politik muß in den brauchen ganz andere, neue Formen europäischer Funktionen, in denen sie originär allein entscheiden Zusammenarbeit. Im übrigen ist es wahr: Es gibt In- muß und das Unternehmen aus guten Gründen gar konsistenzen sowohl im Entwicklungsbereich als keine Entscheidungskompetenz hat, ihren eigenen Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1995 4887

Parl. Staatssekretär Dr. Norbert Lammert Aufgaben tatsächlich auch nachkommen. In genau anderen Bereichen bedeutend mehr Arbeitsplätze diesem Sinne, mit genau dieser Perspektive wird die schaffen als in den Bereichen, in denen sie jetzt aus- Bundesregierung für die Luft- und Raumfahrtindu- gegeben werden sollen. Das heißt: Es wäre insge- strie sicher kein bequemer, aber ganz gewiß ein ver- samt ein größeres Arbeitsbeschaffungsprogramm. läßlicher Partner sein. Zum Schluß: Über dieser Diskussion liegt ein (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Hauch von Vaterland, liegt ein Hauch von „Ich kenne keine Parteien mehr" .

Vizepräsident Dr. : Zu einer Kurz- (Zurufe von der CDU/CSU: Oho!) intervention erteile ich dem Abgeordneten Dr. Wolf Zu der Panzerkreuzer-Diskussion vor dem Ersten das Wort. Weltkrieg haben wir hier ein Korrelat „Eurofighter Anschaffung". Ich bedauere, daß auch in Bereichen der SPD zum Teil so diskutiert worden ist, daß primär Dr. Winfried Wolf (PDS): Meine Damen und Her- ren, drei Anmerkungen zur Debatte. Erstens. Ich Arbeitsplätze im Mittelpunkt stehen und nicht die habe in meinem Beitrag klarzumachen versucht, bei stoffliche Form. Ich stelle fest, daß wir für eine solche welcher Art von Arbeitsplätzen dieses Parlament be- Diskussion nicht zu haben sind. reit ist, solche Debatten zu führen, und bei welcher (Beifall bei der PDS) Art von Arbeitsplätzen nicht. Ich stelle fest, daß dar- auf nicht eingegangen wurde. Es bleibt im Raum ste- hen: Wenn es um andere Arbeitsplätze geht, sei es Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Ich erteile das von Unternehmen in der Oberlausitz, sei es in Berei- Wort zu einer zweiten Kurzintervention dem Abge- chen wie der Deutschen Bahn AG oder Telekommu- ordneten Manfred Opel. nikation und Post, gibt es keine Debatte. Aber bei Debatten, in denen es um Bereiche geht, wo auch mi- litärisch produziert wird, wird eine solche Diskussion Manfred Opel (SPD): Herr Dr. Lammert, ich möchte geführt. auf Ihren Beitrag eingehen. Sie sagten, die Lage der deutschen Luft- und Raumfahrtindustrie sei nicht Manche vertreten die Meinung, es gebe im Streit dramatisch. Ich weiß jetzt im Moment nicht, ob ich um Subventionen für Boeing/McDonald auf der ei- darüber zornig oder enttäuscht sein soll. Wir haben nen Seite und DASA auf der anderen Seite eine Ver- ein Programm Dolores, mit dem 15 000 Hochtechno- zerrung der Wettbewerbsgrundsätze. Diese Leute logie-Arbeitsplätze gefährdet werden, und Sie sa- schreien sehr laut auf, wenn es um Subventionen für gen: Die Lage ist nicht dramatisch. die deutsche Steinkohle geht, während sie beim Eurofighter für Subventionen sind. (Beifall bei der SPD) Zweitens. Ich bin auf die stoffliche Form dessen, Herr Bischoff spricht in der „Süddeutschen Zei- was produziert wird, eingegangen und habe Vor- tung" vom 25. September - Herr Staatssekretär, Sie schläge gemacht, welche anderen Produkte herge- sind der Koordinator der Bundesregierung für die stellt werden könnten. deutsche Luft- und Raumfahrt - von einem extremen Einbruch auf dem zivilen Flugzeugmarkt und vom ( [CDU/CSU]: Das ist ja unfaß extremen Verfall des Dollars. Er verwendet zweimal bar!) das Wort „extrem", aber Sie sagen: Die Lage der deutschen Luft- und Raumfahrtindustrie ist nicht dra- Auf die Frage, welche Militärprojekte damit ver- matisch. bunden sind, sind sehr wenige Rednerinnen und Redner eingegangen - sehr offensiv Herr Stoiber, der Was sagen Sie als der Beauftragte der Bundesre- all dies eindeutig gerechtfertigt hat. Da es sich in bei- gierung diesen Menschen draußen, deren Ausbil- den Bereichen um Industrien handelt, bei denen der dung sehr viel Geld gekostet hat, unter dem Aspekt Staat interveniert, verlange ich noch einmal, zu ver- der Zukunftshoffnung und Zukunftssicherheit? Ihre gleichen, was im Bereich der Deutschen Bahn- AG, Aufgabe, Herr Staatssekretär, wäre es, hier ein Kon- der Post und Telekommunikation auf der einen Seite zept vorzulegen, und wenn es ein vorläufiges wäre. und im Bereich der Militärausgaben für den Euro- Dies haben Sie bisher nicht geschafft. fighter auf der anderen Seite getan wird. Auf der ei- nen Seite sinnvolle Formen des Transpo rts, auf der Wir haben ja am Montag vor acht Tagen drüben im anderen Seite zerstörerische Produkte und Dienstlei- Wasserwerk eine große Veranstaltung gehabt. Do rt stungen. hat die ganze deutsche Luft- und Raumfahrtindustrie geklagt, daß die Bundesregierung untätig war, und Dritter Punkt: Ich bitte Sie, auch volkswirtschaft- gefordert, endlich etwas zu tun. Insofern war das, lich zu vergleichen, daß es sich in den Bereichen, um was Herr Minister Dr. Fischer gesagt hat, richtig. die es hier geht, nämlich Weltraumfahrt und Rü- Herr Stoiber hat hier sehr deutlich gemacht - übri- stung, um extrem kapitalintensive Produktionen han- gens hat das auch Minister Rüttgers wiederholt -, delt und umgekehrt in den anderen Bereichen und wieviel an Bedarf eigentlich da ist. Aber glauben Sie Dienstleistungssektoren wie Bahn und Post um ex- denn, daß der Bedarf automatisch auf die DASA und trem arbeitsintensive Bereiche. Das heißt: Wenn die auf Airbus zuläuft? Glauben Sie, daß Sie da nichts Gelder für Rüstung da sind, dann würden sie in den tun müssen? Glauben Sie denn an das Wo rt, das Sie 4888 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1995

Manfred Opel hier gerade gesagt haben: Entweder wird die deut- sagt: Diese Bundesregierung ist fest entschlossen, sche Luft- und Raumfahrtindustrie wettbewerbsfähig sich weiter um eine Industrie zu kümmern, die wir an diesem Standort sein, oder es wird sie nicht ge- sowohl für die Sicherung der Wachstumspotentiale ben? unserer Volkswirtschaft als auch im Hinblick auf die Sicherheitsinteressen unseres Landes für unverzicht- Ihre Aufgabe ist doch nicht, sie zu vernichten oder bar halten. Aber wir werden nicht den Status quo un- einfach wegrationalisieren zu lassen, sondern Ihre ter Denkmalschutz stellen, sondern wir werden dar- Aufgabe ist es doch, diese deutsche Luft- und Raum- auf bestehen, daß jetzt die Anpassung an die verän- fahrtindustrie mit den Arbeitsplätzen, mit der Tech- derten Realitäten erfolgt, die wir nicht nur zur Kennt- nologie, mit allem, was sie kann, als Schlüsselindu- nis nehmen müssen, sondern aus denen wir auch strie zu erhalten. Dies wäre Ihre Aufgabe hier gewe- Schlußfolgerungen ziehen müssen. sen. Sie hätten sagen müssen, Herr Dr. Lammert, wie man das tut. Dann hätte man Ihnen das abgenom- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) men. Sie sind eine Tu-nix-Regierung. Sie haben hier nichts geschafft. Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Ich schließe (Beifall bei der SPD) damit diese Aussprache und rufe die Tagesord- nungspunkte 17 a bis 17 e sowie Zusatzpunkt 3 auf: Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Herr Staatsse- 17. Überweisungen im vereinfachten Verfahren kretär, Sie haben die Möglichkeit, darauf zu antwor- ten. Sie haben das Wo rt. a) Erste Beratung des vom Bundesrat einge- brachten Entwurfs eines Gesetzes zur so- Dr. Norbert Lammert, Parl. Staatssekretär beim zialverträglicheren Gestaltung des Arbeits- Bundesminister für Wi rtschaft: Herr Kollege Opel, platzverlustes von Zivilbeschäftigten infol- die Lage der Luft- und Raumfahrtindustrie ist ge des Truppenabbaus der alliierten S treit- schwierig, aber nicht dramatisch. Eine der sichersten kräfte Methoden, daß Politik ihrer Verantwortung nicht - Drucksache 13/1056 — nachkommt, besteht da rin, daß man den Blick für Proportionen verliert. Im übrigen sind ja viele, zu Überweisungsvorschlag: viele, unterwegs, die das erkennbare Bemühen Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung (federführend) treibt, uns den Blick für die Proportionen zu verne- Verteidigungsausschuß beln. b) Erste Beratung des vom Bundesrat einge- Deswegen sage ich noch einmal: Es gebietet allein brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Än- schon der Respekt gegenüber vielen anderen Sekto- derung der Verordnung über die Tätigkeit ren und Branchen unserer Volkswirtschaft, die sich von Notaren in eigener Praxis ebenfalls unter schwierigen Wettbewerbsbedingun- - Drucksache 13/2023 — gen auf gründlich veränderte Marktverhältnisse ein- stellen müssen und über die wir nicht drei- oder drei- Überweisungsvorschlag: einhalbstündige Debatten hier im Deutschen Bun- Rechtsausschuß destag führen, c) Erste Beratung des von der Bundesregie- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zu dem Protokoll vom 27. Juni 1989 daß wir das festhalten, was ich gerade gesagt habe. zum Madrider Abkommen über die inter- Ich würde es nicht für einen besonderen Intelligenz- nationale Registrierung von Marken nachweis des Koordinators für Luft- und Raumfahrt halten, wenn er pausenlos durch die Landschaft liefe - Drucksache 13/2415 — und den Eindruck vermittelte, daß er den Blick für Überweisungsvorschlag: genau diese Propo rtionen nicht hat. Rechtsausschuß Zweite Bemerkung: Wenn im übrigen irgendeine Branche in Deutschland sich nicht darüber beklagen d) Erste Beratung des von der Bundesregie- kann, über Jahre und Jahrzehnte hinweg genau die rung eingebrachten Entwurfs eines Vierten politische Begleitung und Flankierung erhalten zu Gesetzes zur Änderung des Fünften Buches haben, die sie brauchte, dann ist es die Luft- und Sozialgesetzbuch (4. SGBV-Änderungs- Raumfahrtindustrie. gesetz - 4. SGB-V-ÄndG) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) - Drucksache 13/2446 - Überweisungsvorschlag: Seit Mitte der 70er Jahre sind für diese Branche für die unterschiedlichsten Zwecke, für Beschaffungen, Ausschuß für Gesundheit (federführend) Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung für Forschungen, für Entwicklungen, für Absatzhil- Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend fen, für Finanzierungsaktivitäten, etwa 150 Mil- Haushaltsausschuß gemäß § 96 GO liarden DM aufgewendet worden. e) Erste Beratung des von der Bundesregie- Drittens schließlich: Aus vielerlei Gründen kann rung eingebrachten Entwurfs eines Ge- nicht alles so bleiben, wie es jetzt ist. Es ist ein Gebot setzes zu dem Beschluß des Obersten Ra- der Fairneß gegenüber allen Beteiligten, daß man tes des Europäischen Hochschulinstituts Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1995 4889

Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch Nr. 8/93 vom 2. Dezember 1993 und zu dem Beschlußempfehlung und Bericht des Aus- Beschluß der Ständigen Kommission von Eu- schusses für Wirtschaft (9. Ausschuß) rocontrol vom 28. Oktober 1994 - Drucksache 13/2385 - - Drucksache 13/2241- Berichterstattung: Überweisungsvorschlag: Abgeordneter Herbert Meißner Innenausschuß c) Zweite Beratung und Schlußabstimmung ZP3 Weitere Überweisungen im vereinfachten des von der Bundesregierung eingebrachten Verfahren Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 12. November 1992 zwischen der Bun- Beratung des Antrags der Abgeordneten Mar- desrepublik Deutschland und der Republik gareta Wolf, Simone Probst, Christine Scheel Estland über die Förderung und den gegen- und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN seitigen Schutz von Kapitalanlagen Kleine und mittlere Unternehmen stärken - - Drucksache 13/1432 - Nachhaltiges Wirtschaften fördern (Erste Beratung 44. Sitzung) - Drucksache 13/2436 - Beschlußempfehlung und Bericht des Aus- Überweisungsvorschlag: schusses für Wirtschaft (9. Ausschuß) Ausschuß für Wirtschaft (federführend) Rechtsausschuß - Drucksache 13/2386 - Finanzausschuß Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Berichterstattung: Ausschuß für Verkehr Abgeordnete Elke Wülfing Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuß für Post und Telekommunikation d) Zweite Beratung und Schlußabstimmung des Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau von der Bundesregierung eingebrachten Ausschuß für Bildung, Wissenschaft, Forschung, Technolo- Entwurfs eines Gesetzes zu der Vereinba- gie und Technikfolgenabschätzung rung vom 21. Juni 1994 zur Durchführung Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen des Abkommens vom 5. März 1993 zwischen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse der Bundesrepublik Deutschland und der zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich Republik Chile über Rentenversicherung sehe und höre keinen Widerspruch. Dann sind diese - Drucksache 13/1810 - Überweisungen so beschlossen. (Erste Beratung 47. Sitzung) Ich rufe die Tagesordnungspunkte 18a bis 18 m so- Beschlußempfehlung und Bericht des Aus- wie Zusatzpunkt 4 auf: schusses für Arbeit und Sozialordnung (11. Ausschuß) 18. Abschließende Beratungen ohne Aussprache - Drucksache 13/2433 - a) Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrach- Berichterstattung: ten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ver- Abgeordnete Pe tra Bläss trag vom 15. Februar 1993 zwischen der e) Beratung der Beschlußempfehlung und des Bundesrepublik Deutschland und der Berichts des Finanzausschusses (7. Aus- Ukraine über die Förderung und den ge- schuß) genseitigen Schutz von Kapitalanlagen - zu dem Antrag der Abgeordneten Ursu- - Drucksache 13/1430 - la Schönberger, Dr. Helmut Lippelt, Ha- (Erste Beratung 44. Sitzung) lo Saibold und der Fraktion BÜNDNIS 90/ Beschlußempfehlung und Bericht des Aus- DIE GRÜNEN schusses für Wirtschaft (9. Ausschuß) Nichtbewilligung des EBRD-Kredites - Drucksache 13/2384 - für den Weiterbau des Atomkraftwer- kes Mochovce/Slowakei Berichterstattung: - zu dem Antrag der Fraktion der SPD Abgeordnete Elke Wülfing Nichtbewilligung von Krediten für den b) Zweite Beratung und Schlußabstimmung Weiterbau des Atomkraftwerkes Mo- des von der Bundesregierung eingebrach- chovce in der Slowakischen Republik ten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ver- trag vom 26. Juni 1991 zwischen der Bun- - zu dem Antrag der Abgeordneten Ursu- desrepublik Deutschland und der Mongoli- la Schönberger, Dr. Helmut Lippelt, Ha- schen Volksrepublik über die Förderung lo Saibold, Michaele Hustedt und der und den gegenseitigen Schutz von Kapital- Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN anlagen Nichtbewilligung des EBRD-Kredites - Drucksache 13/1431 - für den Weiterbau des Atomkraftwer- (Erste Beratung 44. Sitzung) kes Mochovce/Slowakei 4890 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1995 Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch - zu dem Antrag der Abgeordneten Rolf i) Beratung der Beschlußempfehlung und Köhne, Dr. Dagmar Enkelmann, des Berichts des Haushaltsausschusses Dr. Gregor Gysi und der weiteren Abge- (8. Ausschuß) zu dem Antrag der Präsiden- ordneten der PDS tin des Bundesrechnungshofes Kreditbewilligung für die Fertigstel- Rechnung des Bundesrechnungshofes für lung des Atomkraftwerkes Mochovce das Haushaltsjahr 1994 - Einzelplan 20 - (Slowakische Republik) § 101 BHO - Drucksachen 13/309, 13/975, 13/738, 13/ - Drucksachen 13/1668, 13/2390 - 656, 13/2175 - Berichterstattung: Berichterstattung: Abgeordnete Abgeordnete Detlev von Larcher Wilfried Seibel Wolfgang Steiger Oswald Metzger Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen) f) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, j) Beratung der Beschlußempfehlung und Landwirtschaft und Forsten (10. Ausschuß des Berichts des Haushaltsausschusses zu der Unterrichtung durch die Bundesre- (8. Ausschuß) zu der Unterrichtung durch gierung die Bundesregierung Bericht über das Funktionieren der Beihil- Überplanmäßige Ausgaben bei Kapitel feregelungen für Baumwolle (in Anwen- 15 02 Titel 685 13 Beteiligung des Bundes dung von Artikel 5 der Verordnung [EWG] an einer Regelung für angemessene Lei- Nr. 2052/92 des Rates) stungen an HIV-Opfer von Blut und Blut-

produkten - - Vorschlag für einen Beschluß des Rates zur fünften Anpassung der mit dem Pro- - Drucksachen 13/2143, 13/2275 Nr. 1.8, 13/ tokoll Nr. 4 im Anhang zur Akte über 2391 - den Beitritt Griechenlands eingeführ- Berichterstattung: ten Beihilferegelung für Baumwolle Abgeordnete Kristin Heyne - Vorschlag für einen Beschluß zur Fest- Roland Sauer (Stuttgart) legung der allgemeinen Vorschriften Gerhard Rübenkönig der Beihilferegelung für Baumwolle Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen) und zur Aufhebung der Verordnung k) Beratung der Beschlußempfehlung des Peti- (EWG) Nr. 2169/81 tionsausschusses (2. Ausschuß) - Drucksachen 13/1234 Nr. 1.14, 13/2305 - Sammelübersicht 20 zu Petitionen Berichterstattung: (hier nur Beschlußempfehlung 8 lfd. Nr. 24) Abgeordneter Siegf ried Hornung - Drucksache 13/818 - g) Beratung der Beschlußempfehlung und des 1) Beratung der Beschlußempfehlung des Peti- Berichts des Ausschusses für Wirtschaft tionsausschusses (2. Ausschuß) (9. Ausschuß) zu der Verordnung der Bun- desregierung Sammelübersicht 60 zu Petitionen Aufhebbare Einhundertachtundzwanzigste - Drucksache 13/2380 - Verordnung zur Änderung der Einfuhrliste m) Beratung der Beschlußempfehlung des Peti- - Anlage zum Außenwirtschaftsgesetz - tionsausschusses (2. Ausschuß) - Drucksachen 13/1663, 13/1787 Nr. 2.1, 13/ 2387 - Sammelübersicht 62 zu Petitionen - Drucksache 13/2382 - Berichterstattung: Abgeordneter E rich Fritz ZP4 Weitere abschließende Beratungen ohne Aus- sprache h) Beratung der Beschlußempfehlung und des Beratung der Beschlußempfehlung und des Be- Berichts des Ausschusses für Wirtschaft richts des Ausschusses für Wirtschaft (9. Aus- (9. Ausschuß) zu der Verordnung der Bun- schuß) zu der Verordnung der Bundesregierung desregierung Verordnung zur Verlängerung des Investiti- Aufhebbare Achtundachtzigste Verord- onsvorranggesetzes nung zur Änderung der Ausfuhrliste - An- lage AL zur Außenwirtschaftsverordung - -Drucksachen 13/2242, 13/2275 Nr. 2, 13/2447 - - Drucksachen 13/1770, 13/1787 Nr. 2.3, 13/ Berichterstattung: 2389 - Abgeordneter Christian Müller (Zittau) Berichterstattung: Es handelt sich um die Beschlußfassung zu Vorla- Abgeordneter E rich Fritz gen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist. Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1995 4891

Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch Bei den Tagesordnungspunkten 18a bis c handelt nes Kredites für den Weiterbau eines Atomkraftwer- es sich um Gesetzentwürfe zu den Verträgen mit der kes in der Slowakischen Republik auf Drucksache Ukraine, der Mongolischen Volksrepublik und der 13/2175 unter Nr. 3 ab. Der Ausschuß empfiehlt, den Republik Estland über die Förderung und den ge- Antrag auf Drucksache 13/738 abzulehnen. genseitigen Schutz von Kapitalanlagen, Drucksa- chen 13/1430 bis 13/1432. Der Ausschuß für Wi rt Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Ge- -schaft empfiehlt auf den Drucksachen 13/2384 bis genprobe? - Stimmenthaltungen? - Dann stelle ich fest, daß die Beschlußempfehlung mit den Stimmen 13/2386, die Gesetzentwürfe unverände rt anzuneh- tion an- men. der Koalition gegen die Stimmen der Opposi genommen ist. Wenn Sie damit einverstanden sind, lasse ich über Jetzt stimmen wir über die Beschlußempfehlung die drei Gesetzentwürfe gemeinsam abstimmen. - des Finanzausschusses zu dem Antrag der Gruppe Ich sehe keinen Widerspruch. Dann verfahren wir so. der PDS zur Kreditbewilligung für die Fertigstellung Ich bitte diejenigen, die den drei aufgerufenen Ge- eines Atomkraftwerkes in der Slowakischen Repu- setzentwürfen zustimmen wollen, sich zu erheben. - blik auf Drucksache 13/2175 unter Nr. 4 ab. Der Aus- Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Dann stelle ich schuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 13/656 fest, daß die Gesetzentwürfe einstimmig angenom- abzulehnen. men worden sind. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Ge- genprobe! - Stimmenthaltungen? - Dann stelle ich Dann kommen wir zur Abstimmung über den von fest, daß die Beschlußempfehlung mit demselben der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf Stimmenverhältnis wie zuvor angenommen ist. zu dem Abkommen mit der Republik China über Rentenversicherung, Drucksache 13/1810. Der Aus- schuß für Arbeit und Sozialordnung empfiehlt auf Tagesordnungspunkt 18f: Wir stimmen über die Drucksache 13/2433, den Gesetzentwurf unverän- Beschlußempfehlung des Ausschusses für Ernäh- dert anzunehmen. rung, Landwirtschaft und Forsten zu Beschlußvor- schlägen der Europäischen Union zu Beihilferegelun- Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zu- gen für Baumwolle auf Drucksache 13/2305 ab. stimmen wollen, sich zu erheben. - Die Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Dann stelle ich fest, daß Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Ge- auch dieser Gesetzentwurf einstimmig angenommen genprobe! - Stimmenthaltungen? - Dann stelle ich worden ist. fest, daß diese Beschlußempfehlung mit den Stim- men der Koalition und der Fraktion der SPD bei Dann kommt der Tagesordnungspunkt 18e: Be- Stimmenthaltungen der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE schlußempfehlung des Finanzausschusses zu dem GRÜNEN und der Gruppe der PDS angenommen ist. Antrag der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zur Dann stimmen wir über die Tagesordnungs- Nichtbewilligung eines Kredites für den Weiterbau punkte 18g und h ab. Es h andelt sich um die Be- eines Atomkraftwerkes in der Slowakischen Repu- schlußempfehlungen des Ausschusses für Wirtschaft blik auf Drucksache 13/2175 unter Nr. 1. Der Aus- zur Änderung der Ein- und Ausfuhrliste auf den schuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 13/309 Drucksachen 13/2387 und 13/2389. für erledigt zu erklären. Wer für diese Beschlußempfehlungen stimmt, gebe Wer für diese Beschlußempfehlung stimmen bitte ein Handzeichen. - Gegenprobe! - Stimment- möchte, den bitte ich um das Handzeichen. - Gegen- haltungen? - Dann stelle ich fest, daß die Beschluß- probe! - Stimmenthaltungen? - Dann stelle ich fest, empfehlungen mit den Stimmen des Hauses bei daß die Beschlußempfehlung mit den Stimmen der Stimmenthaltung der Gruppe der PDS angenommen Koalition gegen die Stimmen der Fraktionen BÜND- ist. NIS 90/DIE GRÜNEN und SPD sowie der Gruppe der PDS angenommen worden ist. Wir stimmen nun über den Tagesordnungspunkt 18i ab. Es handelt sich um die Beschlußempfehlung des Wir stimmen nun über die Beschlußempfehlung Haushaltsausschusses zu dem Antrag der Präsiden- des Finanzausschusses zu dem Antrag der Fraktion tin des Bundesrechnungshofes zur Rechnung für das der SPD zur Nichtbewilligung von Krediten für den Haushaltsjahr 1994 auf der Drucksache 13/2390. Weiterbau eines Atomkraftwerkes in der Slowaki- schen Republik auf Drucksache 13/2175 unter Nr. 2 Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Ge- ab. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf Druck- genprobe! - Stimmenthaltungen? - Darm stelle ich sache 13/975 abzulehnen. fest, daß auch diese Beschlußempfehlung mit den Stimmen des Hauses bei Stimmenthaltung der Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Ge- Gruppe der PDS angenommen ist. genprobe! - Stimmenthaltungen? - Dann stelle ich fest, daß diese Beschlußempfehlung mit dem glei- Dann stimmen wir über den Tagesordnungs- chen Stimmenverhältnis, aber bei Stimmenthaltung punkt 18j ab. Es handelt sich um die Beschlußemp- der Gruppe der PDS angenommen ist. fehlung des Haushaltsausschusses zu einer über- planmäßigen Ausgabe im Haushaltsjahr 1995 zur Be- Dann stimmen wir über die Beschlußempfehlung teiligung des Bundes an einer Regelung für ange- des Finanzausschusses zu dem Antrag der Fraktion messene Leistungen an HIV-Opfer von Blut und Blut- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zur Nichtbewilligung ei- produkten, Drucksachen 13/2143 und 13/2391. 4892 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1995 Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Ge- c) Erste Beratung des von den Fraktionen der genprobe! - Stimmenthaltungen? - Dann stelle ich CDU/CSU und F.D.P. eingebrachten Ent- fest, daß diese Beschlußempfehlung einstimmig an- wurfs eines Zweiten Gesetzes zur Ände genommen worden ist. rung des Heimgesetzes

Wir stimmen nun über den Tagesordnungs- - Drucksache 13/2347 - punkt 18k ab. Es handelt sich um die Beschlußem- pfehlungen des Petitionsausschusses auf Drucksache Überweisungsvorschlag: 13/818. Das ist die Sammelübersicht 20. Aus dieser Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Sammelübersicht müssen wir nur noch über die Be- (federführend) schlußempfehlung 8, laufende Nummer 24 - Abfall- Rechtsausschuß Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung beseitigung und Abfallvermeidung - abstimmen. Ausschuß für Gesundheit Über die übrigen Nummern haben wir in einer frühe- Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau ren Sitzung abgestimmt. d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Wer stimmt für die Beschlußempfehlung 8, laufende Irmingard Schewe-Gerigk, Andrea Fischer Nummer 24 der Sammelübersicht 20? - Gegenprobe! - (Berlin), Marieluise Beck (Bremen), weiterer Stimmenthaltungen? - Dann stelle ich fest, daß diese Abgeordneter und der Fraktion BÜND- Beschlußempfehlung gegen die Stimmen der Fraktion NIS 90/DIE GRÜNEN der SPD und bei Stimmenthaltung der Fraktion Neuorientierung der Politik für ältere BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN angenommen worden ist. Menschen - grundlegende Reform des Dann kommen wir zur Abstimmung über die Tages- Heimgesetzes ordnungspunkte 181 und 18m: Beschlußempfehlun- gen des Petitionsausschusses auf den Drucksachen 13/ - Drucksache 13/1322 - 2380 und 13/2382. Das sind die Sammelübersichten 60 Überweisungsvorschlag: und 62. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlungen? Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend - Gegenprobe? - Stimmenthaltungen! - Dann stelle ich (federführend) fest, daß diese Beschlußempfehlungen mit den Stim- Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung men des Hauses bei Stimmenthaltungen der Fraktion Ausschuß für Gesundheit BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der Gruppe der PDS angenommen worden sind. Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die gemeinsame Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Wir stimmen jetzt über den Zusatzpunkt 4 der Ta- Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann ist so gesordnung ab: Beschlußempfehlung des Ausschus- beschlossen. ses für Wirtschaft zur Verlängerung des Investitions- vorranggesetzes, Drucksachen 13/2242 und 13/2447. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegen- der Abgeordneten Anke Eymer. stimmen? - Stimmenthaltungen? - Dann stelle ich fest, daß diese Beschlußempfehlung einstimmig an- genommen worden ist. Anke Eymer (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kollegen Dann rufe ich die Punkte 6a bis 6d der Tagesord- und Kolleginnen! Wir beraten heute in erster Lesung nung auf: über den von den Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. eingebrachten Entwurf eines Zweiten Geset- a) Erste Beratung des vom Bundesrat einge- zes zur Änderung des Heimgesetzes, über die Ent- brachten Entwurfs eines ... Gesetzes zur würfe des Bundesrates zur Änderung des Heimgeset- Änderung des Heimgesetzes zes und zum Altenpflegegesetz sowie über einen An- trag der Bündnisgrünen über eine Neuorientierung - Drucksache 13/372 - der Politik für ältere Menschen. Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Bei meinen Ausführungen beschränke ich mich (federführend) - auf das Heimgesetz. Wichtigster Punkt bei der ge- Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Gesundheit planten Änderung ist, daß die Kurzzeitpflege in den Schutzbereich des Heimgesetzes einbezogen werden b) Erste Beratung des vom Bundesrat einge- soll. Dies halte ich für wichtig und richtig. Egal ob je- brachten Entwurfs eines Gesetzes über die mand nur kurze Zeit gepflegt wird oder auf Dauer, Berufe in der Altenpflege (Altenpflegege- der Schutz des älteren Menschen muß immer ge- setz - AltPflG) währleistet sein.

- Drucksache 13/1208 - (Beifall bei der CDU/CSU) Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Kurzzeitpflegeeinrichtungen sind wich tig, um pfle- (federführend) gende Familienangehörige zu entlasten, z. B. dann, Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung wenn die Pflegeperson Urlaub macht oder gar selbst Ausschuß für Gesundheit Ausschuß für Bildung, Wissenschaft, Forschung, Tech- erkrankt. In solchen Fällen ist es oft in kürzester Zeit nologie und Technikfolgenabschätzung erforderlich, den pflegebedürftigen Menschen in ei- Haushaltsausschuß gemäß § 96 GO ner Einrichtung unterzubringen. Die Einbeziehung Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1995 4893 Anke Eymer der Kurzzeitpflege in das Heimgesetz gibt den Ange- Heimgesetz genannten Voraussetzungen vorliegen. hörigen die Sicherheit, daß Mindeststandards einge- Die Untersagungsvoraussetzungen dieser Vorschrift halten werden. Ich kann deshalb die Kurzzeitpflege entsprechen den alten Tatbeständen, die zur Versa- nicht als Vorstufe zur Heimeinweisung sehen. gung der Erlaubnis geführt haben, so daß der Schutz der Heimbewohner vor mangelnder Ausstattung, (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) schlecht ausgebildetem Personal oder unverhältnis- Wer, wie die Bündnisgrünen in ihrem Antrag, mäßig hohen Entgelten auch weiterhin im vollen Kurzzeitpflege mit Rehabilitation verwechselt, ver- Umfang bestehen bleibt. kennt die Hauptaufgabe von Kurzzeitpflegeeinrich- Die angestrebte Beratung soll dafür sorgen, daß tungen. Gerade we il diese in Krisensituationen hel- schon frühzeitig auf mögliche Mängel in der Planung fen sollen, halte ich eine Einbeziehung in das Heim- hingewiesen werden kann und somit das Risiko von gesetz für erforderlich. Wir sollten vor diesem Hinter- Fehlinvestitionen und späteren Rechtsstreitigkeiten grund in den anstehenden Ausschußberatungen al- minimiert wird. Eine Heimaufsicht, die nach diesen lerdings überlegen, ob wir die derzeit vorgesehene Regeln handelt, respektiert auf der einen Seite die Frist von vier Wochen für die Kurzzeitpflege nicht auf Selbständigkeit der Heimträger, auf der anderen acht Wochen verlängern sollten. Dabei denke ich be- Seite aber auch die Selbstverwaltungskompetenzen sonders an Fälle, in denen eine Pflegeperson, die die der Kostenträger. häusliche Pflege übernommen hat, schwer erkrankt und nach vier Wochen nicht schon wieder in der Gerade deshalb ist auch zu begrüßen, daß kirchli- Lage ist, diese schwere Arbeit zu leisten. che und frei-gemeinnützige Träger, ebenso wie die Auch wenn für Dauerpflegeeinrichtungen die staatlichen, z. B. kommunale, in die Beratungspflicht mit einbezogen werden. Der Umfang der Möglichkeit zum Abschluß befristeter Heimverträge Beratung geschaffen wird, so kann dieses Instrument den An- ist je nach Sachlage dosierbar. Bei Trägern, die in der Alten- und Behindertenhilfe Erfahrung haben und gehörigen von Pflegebedürftigen im Krisenfall nur wirt begrenzt helfen. Dauerpflegeeinrichtungen werden schaftlich leistungsfähig sind, kann sich die Bera- solche befristeten Verträge nur in Ausnahmefällen tung auf Null reduzieren. Trotzdem werden wir bei den Beratungen darauf achten müssen, daß p abschließen, da sie immer an längerfristiger Bele- rivate, gung interessiert sind. Wir sollten hei den weiteren frei-gemeinnützige und staatliche Be treiber bei der Beratungspflicht gleich behandelt werden. Es kann Beratungen deshalb auch überlege i, welche Min- nämlich nicht angehen, daß z. B. frei-gemeinnützige destanforderungen an solche Kurzzeitpflegeeinrich- Träger in allen Kommunen als bewährte Träger ein- tungen zu stellen sind. Wir müssen dabei ein ver- gestuft werden, p ri nünftiges Maß finden; denn es kann nicht sein, daß vate Träger aber, wenn sie ihr Be- wir auf der einen Seite den Betreibern von Pflegeein- tätigungsfeld auf andere Kommunen ausweiten wol- richtungen ständig Wirtschaftlichkeit und Sparsam- len, als „Newcomer" eingestuft werden. Sicherstel- keit abverlangen, sie auf der anderen Seite aber mit len sollten wir auch, daß sich die Ämter ihrer verän- derten Aufgabe bewußt sind. Forderungen überfrachten, die zwangsläufig die Ko- sten in die Höhe schnellen lassen. Zusammenfassend stelle ich fest, daß wir mit dem Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich von uns vorgelegten Gesetzentwurf ein funktionsfä- in diesem Zusammenhang noch auf etwas anderes higes Instrumentarium zur Verfügung stellen, das die hinweisen. Auch in der häuslichen Pflege werden Durchsetzung von Mindestvoraussetzungen sichert Milliardenbeträge aus den Sozialkassen gezahlt, und und damit den Schutz unserer Senioren verbessert. dies, obwohl es an jeder Kontrolle fehlt. Ich möchte Wir verhindern, daß Dauerpflegebedürftige nur nicht mißverstanden werden: Es geht nicht darum, Kurzzeitverträge erhalten und damit dem Schutz des die häusliche Pflege zu beschneiden. Aber man muß Heimgesetzes entzogen werden. Wir verhindern au- auch einmal die Relationen sehen. Ich glaube, daß ßerdem, daß die Heimaufsicht an den Kurzzeitpflege- keiner hier im Hause ernsthaft bestreiten wird, daß einrichtungen vorbeigeht - und dies, obwohl der Be- es auch im Bereich der häuslichen Pflege Mißstände darf an diesen Einrichtungen immer weiter steigen geben kann, die die Würde des älteren Menschen wird. verletzen. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. Ich halte es auch für richtig, daß die Genehmi- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) gungspflicht durch eine Beratungspflicht ersetzt wer- den soll. Die Umwandlung der Genehmigungs- pflicht in eine Beratungspflicht entspricht dem ver- Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Ich erteile nun änderten Verständnis von Verwaltung. Wer mehr der Staatsministerin für Frauen, Arbeit und Sozial- Aufgaben an Private abgeben will, muß diese als ordnung des Landes Hessen, Frau Stolterfoht, das Partner und nicht als Bittsteller behandeln. Wort. (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Dr. Gisela Babel [F.D.P.]) Staatsministerin Barbara Stolterfoht (Hessen): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Rege- Heimrechtliche Eingriffe sind damit nur noch das lungen der einzelnen Bundesländer zur Ausbildung, letzte Mittel; im Vordergrund steht die Prävention. Prüfung und staatlichen Anerkennung von Alten- Die Sicherheit für das Wohl der Heimbewohner pflegerinnen und Altenpflegern sind ein deutsch- bleibt dadurch gewahrt, daß die Heimaufsicht den landweiter Flickenteppich. In den Ländern gibt es Betrieb untersagen muß, wenn die in § 16 Abs. 1 höchst unterschiedliche Regelungen für dieses Be- 4894 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1995 Staatsministerin Barbara Stolterfoht (Hessen) rufsbild. Das reicht von der betrieblichen Ausbildung Europapolitisch ergibt sich die Notwendigkeit des im dualen System nach dem Berufsbildungsgesetz Gesetzentwurfes aus der schlichten Tatsache, daß wie in Hamburg über die Zuordnung der Ausbildung wir uns im Zeichen von Europa bundesdeutsche zum Schulrecht der Länder wie in Baye rn bis hin zur Kleinstaaterei einfach nicht mehr leisten können und Entwicklung der Ausbildungsstätten eigener A rt au- nicht mehr leisten sollten. ßerhalb des Berufsbildungsgesetzes und des Schul- rechts der Länder analog der Krankenpflegeausbil- (Beifall bei der SPD) dung wie in Hessen. Das stellt ein Problem dar: Finanzpolitisch schließlich ist ein Bundesgesetz er- Erstens. Strukturen, Ziele, Inhalte und Dauer der forderlich, weil die Finanzierung der Ausbildungs- Ausbildung sind so unterschiedlich, daß von einem vergütung und damit die soziale Absicherung der Al- einheitlichen Berufsbild kaum gesprochen werden tenpflegeschülerinnen und -schüler nur bundes- kann. Zweitens. Nur in wenigen Ländern, z. B. in rechtlich wirksam abgesichert werden kann, und Hessen, wird eine Ausbildungsvergütung gezahlt, zwar über die Pflegesätze der Heimeinrichtungen so- die allerdings rechtlich auch nicht hinreichend abge- wie die Entgelte häuslicher Pflege. sichert ist. Drittens. Selbst Schulgeldfreiheit ist noch nicht in allen Ländern völlig hergestellt. Daß diese Kosten dem Leistungsbereich der ge- setzlichen Pflegeversicherung zuzuordnen sind, Alle Versuche der Vereinheitlichung, so 1984 und steht nach überwiegender Rechtsauffassung der Mit- 1985 durch die Kultusministerkonferenz und die glieder des Bundesrates außer Frage. Notfalls, meine Konferenz der Arbeits- und Sozialministerinnen und Damen und Herren, muß das Pflegeversicherungs- -minister, sind fehlgeschlagen. Eine bundeseinheitli- gesetz eben entsprechend geändert werden. che Regelung ist das Gebot der Stunde. Der Gesetz- entwurf des Bundesrates, Drucksache 13/1208, den Die Tatsache, daß der Bundesrat diesen Gesetzent- vorzustellen ich die Ehre und das Vergnügen habe, wurf vorlegt und nicht die Bundesregierung, hat na- bietet eine Problemlösung an, die praktikabel ist. türlich eine Vorgeschichte. Dabei hat die Frage nach der Gesetzgebungszuständigkeit des Bundes eine Es ist schlechthin unerträglich, daß es in einem ge- große - nach meiner persönlichen Meinung eine viel sellschaftlich so wich tigen, überwiegend von Frauen zu große - Rolle gespielt. ausgeübten Beruf bis heute keine bundesweite Aner- kennung und Absicherung gibt und daß eine berufs- (Dr. Gisela Babel [F.D.P.]: Reden Sie doch politische Aufwertung seit Jahren verhindert wird. einmal mit Baye rn !)

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE Der Bundesrat hat nach zugegebenermaßen GRÜNEN und der PDS) schwierigen Beratungen diesem Gesetzentwurf mehrheitlich zugestimmt. Die Posi tionen waren da- Eine bundeseinheitliche Problemlösung ist durch bei durchweg nicht parteipolitisch, sondern länder- das Inkrafttreten der Pflegeversicherung dringlicher spezifisch bestimmt. Meine Damen und Herren, wir denn je, da der bedarfsorientierte Ausbau der pflege- brauchen ein solches Gesetz jetzt. rischen Infrastruktur einen erheblichen Mehrbedarf an Fachkräften nach sich zieht. Ich sage ganz deut- Bei diesem Gesetzentwurf ist wich tig, daß er den lich: Wir brauchen in Zukunft nicht schlechter quali- wesentlichen bestehenden Ausbildungsformen die fizierte, sondern besser qualifizierte Pflegekräfte. Überleitung in die Neuregelung ohne unve rtretbaren Das ist eine deutliche Absage des Bundesrates an Aufwand erlaubt. alle Versuche, die Pflegestandards und die Ausbil- dungsstandards zu senken. Außerdem verbleibt den Ländern auf der Ebene der inhaltlichen Ausgestaltung der Ausbildung ein (Beifall bei der SPD) sehr weiter Spielraum. Ich habe daher die Hoffnung, daß dieses Konzept ungeachtet des zweifellos noch Die Lösung muß eine bundesweite Ausbildungsof- vorhandenen Beratungsbedarfs bei Ihnen eine Mehr- fensive sein. Der Gesetzentwurf des Bundesrates soll heit finden wird. Ich bitte Sie sehr herzlich und dring- dafür die rechtlichen Grundlagen schaffen. Ein sol- lich, angesichts des Bedarfs an Pflegekräften und des ches Altenpflegegesetz ist aus fachpolitischen, euro- derzeitigen unhaltbaren Zustandes diesem Gesetz- papolitischen und finanzpolitischen Gründen not- entwurf die Zustimmung nicht zu verweigern. wendig. Meine Damen und Herren, erlauben Sie mir noch Der fachpolitische Begründungszusammenhang einige Worte zur Drucksache 13/372. Auch dabei ergibt sich vor dem Hintergrund des zu erwartenden handelt es sich um einen Gesetzentwurf des Bundes- Pflegenotstandes. Angesichts der demographischen rates, in dem es um die dringend notwendige Einbe- und gesellschaftlichen Entwicklung ist es zwingend ziehung der Kurzzeitpflege in den Schutz des Heim- notwendig, den Fachberuf Altenpflege strukturell zu gesetzes geht, um den immer wieder auftretenden konsolidieren, ihn finanziell abzusichern, ihn fach- Mißständen in der Kurzzeitpflege wirksam zu begeg- lich entsprechend den veränderten Bedürfnissen in nen. Sie kennen diese Mißstände alle: bauliche und der Praxis weiterzuentwickeln und ihn schließlich so personelle Substandards, fehlende Überprüfbarkeit aufzuwerten, daß er der Krankenpflege im Ergebnis des Preis-Leistungs-Verhältnisses, regelmäßiges Feh- gleichgestellt ist. Das a lles sieht unser Gesetzentwurf len einer behindertengerechten Ausstattung und vie- vor. les andere mehr. Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1995 4895 Staatsministerin Barbara Stolterfoht (Hessen) Der Bundesrat ist übrigens tätig geworden, weil alte Mensch sein, der sich für ein Wohnen im Heim die Bundesregierung untätig geblieben ist. Die entschieden hat. Dazu sind Elemente von Selbst- höchst problematische Abschaffung der Erlaubnis- und Mitbestimmung in das Heimgesetz aufzuneh- pflicht nach § 6 ist nicht Gegenstand der Bundesrats- men. initiative. Sie erscheint unter verschiedenen Aspek- ten außerordentlich problematisch und hat auf Meine Damen und Herren, Qualitätssicherung be- Grund der bewährten Praxis der Heimaufsicht mei- deutet auch, daß die Be troffenen Experten und Ex- nes Erachtens auch keine Grundlage. pertinnen in eigener Sache sind. Wir müssen end lich Meine Damen und Herren, ich hoffe, daß Sie der von dem Klischee Abschied nehmen, daß alten Men- Kurzzeitpflege die Einbeziehung in den Schutz des schen vorgeschrieben werden muß, was für sie gut Heimgesetzes nicht verwehren werden, und bitte ist. Verabschieden von diesem Klischee bedeutet Sie, auch diesen Gesetzentwurf zu beraten und zu aber auch, daß Heimbewohner und -bewohnerinnen einem guten Ende zu bringen. gleiche Rechte haben wie z. B. Mieter und Mieterin- nen. Bei einer Anpassung des Heimentgeltes sind sie Ich danke Ihnen. bzw. ihre Angehörigen zwingend zu beteiligen. In den Schiedsstellen, die nach dem Pflegegesetz zu (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne bilden sind, müssen auch die Interessen der Heimbe- ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) wohner und -bewohnerinnen vertreten werden.

Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Ich erteile nun (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) der Abgeordneten Irmingard Schewe-Gerigk das Wort. Damit komme ich angesichts der Kürze der Zeit zu einem letzten wich tigen Punkt, der dringend in ei- nem Bundesgesetz zu regeln ist. Um eine altersge- (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Irmingard Schewe-Gerigk rechte Pflege sicherzustellen, brauchen wir eine ver- NEN): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kolle- besserte und vereinheitlichte gen! „Satt und trocken", ist das unser Angebot, das Ausbildung für Alten- pfleger und -pflegerinnen. wir als eines der reichsten Länder alten Menschen für ihren Lebensabend zumuten? Heimaufsichtsbe- hörden und Gesundheitsämter berichten zunehmend (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN von Mißständen in Einrichtungen, insbesondere sol- und bei der SPD) chen der privat-gewerblichen Kurzzeitpflege. Man- gelnde Betreuung, nicht genügend und ausreichend In keinem anderen Beruf ist die Ausstiegsrate so qualifiziertes Personal, schlechte Pflegeleistungen hoch wie in der Altenpflege. Gegenwärtig hält eine und ungeeignete Räumlichkeiten sind die häufigsten Altenpflegerin ihren Beruf durchschnittlich vier Beschwerden. Jahre lang aus. Die Anforderungen an das Pflege- personal sind hoch, denn häufig sind die älteren Auf den ersten Blick liegt es nahe, die Kurzzeitpfle- Menschen, die gepflegt werden müssen, mehrfach geeinrichtungen, die bisher nicht dem Aufsichts- erkrankt und benötigen Pflege und Be treuung auch recht des Heimgesetzes unterliegen, in das Heimge- in psychischer und sozialer Hinsicht. Der Arbeits- setz einzubeziehen, wie es sowohl der Bundesrat als druck ist auf Grund des Pflegenotstands enorm. Die auch die Koalition anstreben. Doch was zunächst Berufsausbildungen sind, gemessen an den vielfälti- sehr logisch klingt, ist keineswegs die Lösung der gen Anforderungen, unzureichend und außerdem Probleme. Die Defizite des derzeit bestehenden völlig verschieden, da alle Bundesländer jeweils eine Heimgesetzes sind eklatant. Ich nenne nur zwei Bei- eigene Regelung haben. Es gibt keine einheitlichen spiele, nämlich die pflegerische Unterversorgung Qualitätsstandards. In vielen Bundesländern müssen und die mangelnden Beteiligungsrechte der Heimbe- gar die Auszubildenden ihre Ausbildung auch noch wohnerinnen und Heimbewohner, die teilweise zu selbst bezahlen. Deshalb ist die Ini tiative des Bun- einem „totalitären" Charakter von Heimen geführt desrates, eine bundesweit vereinheitlichte Altenpfle- haben. geausbildung zu schaffen, erfreulich, da sich die - Bundesregierung offensichtlich auch in diesem Be- Eine Einbeziehung der Kurzzeitpflege würde somit reich nicht zum Handeln entschließen kann. diese Defizite übertragen. Sie macht erst dann einen Sinn, wenn eine grundlegende Änderung des Heim- gesetzes erfolgt ist. Hierzu liegen Ihnen unsere in- Das Ziel, eine qualifizierte Pflegeausbildung end- haltlichen Vorschläge vor. Wir wollen eine Neuorien- lich zu gewährleisten, wird aber nicht erreicht, wenn tierung der Altenpolitik, die auf eine Sicherung der neben der dreijährigen Berufsausbildung zur Alten- Grundrechte pflegebedürftiger, älterer Menschen so- pflegerin oder zum Altenpfleger in diesem Gesetz- wie Selbstbestimmung und Teilhabe am Leben in der entwurf auch noch eine einjährige Ausbildung zum Gemeinschaft ausgerichtet ist. Altenpflegehelfer bzw. zur -helferin vorgesehen wird. Wir lehnen eine solche Helfer- bzw. Helferin- Das Heimgesetz muß die Stärkung der Rechte von nenausbildung ganz entschieden ab. Wir sind gegen Heimbewohnern und -bewohnerinnen in den Mit- eine solche Schmalspurausbildung. Wenn wir im telpunkt stellen. Das setzt eine völlige Überarbeitung Pflegebereich wirklich etwas verändern wollen, der heimrechtlichen Vorschriften voraus. Maßstab brauchen wir qualifizierte Fachkräfte und eine Aus- tatsächlicher und rechtlicher Beteiligungsmöglich- bildung, die sicherstellt, daß die Frauen und Männer keiten im Heim muß der geschäftsfähige ältere und in den Altenpflegeeinrichtungen der Situa tion ge- 4896 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1995

Irmingard Schewe-Gerigk wachsen sind. Die minderqualifizierten und im übri- gleichen Schutz und auch das gleiche Anrecht auf gen dann auch noch schlechter bezahlten Helfer und eine ihnen gemäße Pflege, ganz unabhängig davon, Helferinnen dürfen nicht als Puffer für den Pflegenot- ob ihr Aufenthalt nun ein paar Wochen oder mehrere stand eingesetzt werden. Jahre dauert.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Die beiden entsprechenden Gesetzentwürfe des sowie bei Abgeordneten der PDS) Bundesrates vom Juli 1993 und vom Februar dieses Jahres hat die Bundesregierung jedoch abgelehnt. Frauenpolitisch gesehen sind diese Hilfsausbildun- Dabei ist die Liste der bekannten Mängel in den gen noch eine besondere Sackgasse. Es bleiben wie- Kurzzeitheimen bedenklich lang und hätte eine ra- der einmal Berufe übrig, die von vornherein nicht sche Änderung der unbefriedigenden Gesetzeslage existenzsichernd sind. dringend erfordert. (Beifall bei der SPD) Schließlich darf aber über der Kritik am Bundes- ratsentwurf die grundsätzliche Frage, wie wir uns Das Personal, oft Aushilfskräfte, ist häufig gar eine Ausbildung für die Gesundheitsfachberufe vor- nicht ausgebildet, um älteren, behinderten und pfle- stellen, nicht ausgeblendet werden. Eine bundesein- gebedürftigen Menschen qualifizierte Hilfe zuteil heitliche Ausbildung nur für die Altenpflege reicht werden zu lassen. Die Räumlichkeiten entsprechen nicht aus. Angesichts der ähnlichen Tätigkeitsfelder zumeist nicht den Bedürfnissen einer kurzzeitigen und Anforderungen in den Pflegeberufen - das Pflege. Alarmierend muß auch wirken, daß sich viele meint Krankenpflege, Altenpflege, Kinderkranken- der privaten Anbieter ganz augenscheinlich gerade und Entbindungspflege - spricht vieles dafür, keine deshalb für die Einrichtung von Kurzzeitpflegehei- spezielle Altenpflegeausbildung zu schaffen, son- men entschlossen haben, weil sie eben nicht dem dern über eine einheitliche Ausbildung eines Pflege- Heimgesetz unterliegen. fachberufs mit speziellen Weiterbildungen nachzu- denken. Das ist unser ganzheitlicher Ansatz. Völlig unverständlich ist mir dann allerdings das unentschlossene und zwiespältige Verfahren, das die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Vertreter der CDU/CSU und der F.D.P. gewählt ha- ben, um die erforderlichen Änderungen zu bewir- Ihren altenpolitischen Vorstellungen, meine Da- ken. Einerseits wollen Sie die aufsichtsrechtlichen men und Herren von der Bundesregierung, die sich Regelungen des Heimrechts auf die Kurzzeitheime in den Altenheimen offensichtlich noch nicht herum- ausdehnen. Andererseits jedoch ist ein wesentliches gesprochen haben, setzen wir unser Konzept entge- Merkmal des von Ihnen eingebrachten Entwurfs der gen. Machen Sie endlich Schluß mit der Bevormun- Verzicht auf die Erlaubnispflicht, die bislang für den dung alter Menschen, machen Sie einen Neuanfang Betrieb eines Heimes gilt. Statt dessen sehen Sie eine in der Altenpolitik! Beratung vor. Über deren Ausmaß, die Details und vor allem die Verpflichtung, dieser Beratung auch Ich danke Ihnen. nachzukommen, schweigt sich Ihr Entwurf leider aus. Einen Rat kann m an annehmen oder halt nicht; (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN da nützt auch die Pflicht zur Beratung nichts. sowie bei Abgeordneten der SPD und der PDS) Zwei weitere wichtige Merkmale des Heimgeset- zes wollen Sie ebensowenig auf die Kurzzeiteinrich- tungen übertragen. Bemerkenswerterweise handelt Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Ich erteile nun es sich gerade hier um die beiden Punkte, die am der Abgeordneten Barbara Imhof das Wo rt. häufigsten genannt werden, wenn es um die Miß- stände bei der kurzzeitigen Pflege geht. Ich meine zum einen die personellen Anforderungen, die das Barbara Imhof (SPD): Herr Präsident! Liebe Kolle- Heimgesetz für Altenheime, Altenwohnheime und ginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Her- Pflegeheime vorsieht. Die entsprechende Verord- ren! Seit Jahren werden den Aufsichtsbehörden zahl- nung soll jedoch nach Ihren Vorstellungen ausdrück- reiche Mißstände aller Art in privat bet ri- ebenen lich nicht für die Kurzzeitpflegeheime gelten. Es Kurzzeitpflegeheimen gemeldet. Darüber ist eben wäre also weiterhin möglich, unqualifiziertes Perso- schon hinreichend gesprochen worden. Diese Ein- nal und vor allem auch viel zuwenig Personal zu be- richtungen unterliegen nicht dem Heimgesetz, so schäftigen und damit Pflege zu Dumpingpreisen auf daß Beschwerden und Hinweisen nicht mit aufsichts- dem Rücken der Heimbewohner anzubieten. rechtlichen Maßnahmen begegnet werden kann. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Aus diesem Grund hat die SPD-Bundestagsfrak- und der PDS) tion bereits in der 11. Legislaturperiode gefordert, die Kurzzeitpflege- und Tagespflegeeinrichtungen un- Zum zweiten sind es neben der mangelhaften per- eingeschränkt in das Heimgesetz einzubeziehen. sonellen Situation doch gerade die völlig unzurei- Auf diese Weise wären zum einen die Anbieter kon- chenden baulichen Gegebenheiten, die Anlaß zur trollierbar. Sie müßten bei der Planung und dem Be- Klage geben. Bei Ihnen hingegen lese ich, daß auch trieb der Heime die gleichen Auflagen erfüllen, wie die Verordnung über bauliche Mindestanforderun- das Gesetz sie bei Langzeiteinrichtungen vorsieht. gen im Heimgesetz nicht für die Kurzzeitpflege gül- Zum anderen hätten die Heimbewohner stets den tig sein soll. Sinnvolle Vorschriften, die beispiels- Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1995 4897

Barbara Imhof weise das Vorhandensein eines zweiten Handlaufs nommen, für einen Tag nach Hause geschickt und bei Treppen in Heimen vorsehen, werden damit, anschließend wieder für drei Monate aufgenommen wenn es nach Ihnen ginge, auch in Zukunft nicht für werden. Das sind doch genau die Zustände, die dann die Bewohnerinnen und Bewohner von Kurzzeitpfle- legalisiert würden. geheimen zur Anwendung kommen. Um einem möglichen Mißverständnis vorzubeu- All dies macht Ihren Entwurf so widersprüchlich. gen: Ich meine keineswegs, daß das Heimgesetz in Am Anfang schreiben Sie: seiner heute gültigen Fassung der goldene Schlüssel zum glücklichen Bewohner eines Kurzzeitpflegehei- Wir brauchen Mindeststandards zum Schutz der mes ist. Allerdings - und dies sage ich an die Adresse älteren Bürger, die kurzzeitig gepflegt werden meiner grünen Kolleginnen und Kollegen -: Wir soll- müssen, und wir brauchen ein wirkungsvolles In- ten nicht abwarten und erst ein neues Heimgesetz strumentarium, um diese Mindestvoraussetzun- machen, bloß um nicht Gefahr zu laufen, daß die gen zu sichern. eine oder andere Schwäche der bestehenden Rege- lungen auf die Tagespflege- und Kurzzeitpflege- Nun gut, das finden wir natürlich auch. Aber nur heime übertragen wird. Das hieße doch, das Kind mit zwei Absätze weiter verkünden Sie, daß eben diese dem Bade auszuschütten. Die Mißstände in den jetzi- Mindestanforderungen in bezug auf Personal und gen Einrichtungen sind akut. Eine Einbeziehung in bauliche Voraussetzungen ausgenommen werden. das bestehende Heimgesetz ist sehr wohl geeignet, Ich frage Sie: Was bleibt denn dann überhaupt noch jetzt Abhilfe zu schaffen - natürlich vorausgesetzt, von den Schutzregelungen des Heimgesetzes übrig, daß es sich nicht um die amputierte Version dieses die Ihr Entwurf ganz explizit auf der Titelseite nennt? Gesetzes handelt, die uns die Koalitionsparteien an- bieten. Fachlich qualifiziertes Personal ist nun einmal teu- rer als unqualifiziertes, ebenso wie ein alten- und be- Was wir wollen, ist eine Zivilisierung des Marktes. hindertengerecht gebautes Kurzzeitpflegeheim zwei- Dazu sollten wir uns als gesetzgebende Ins titution fellos mehr kostet als der schnell hingestellte Pflege- aufgefordert fühlen. container. Was sollte denn Ihrer Meinung nach einen (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne privaten Anbieter dazu veranlassen, sich für die teu- ten der PDS) rere Lösung zu entscheiden, wenn ihn vom Gesetz her weiterhin nichts dazu zwingt? Dann bleibt es doch logischerweise bei dem Zustand, den wir schon Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Frau Kollegin jetzt haben. Um den zu ändern, reicht Ihr Entwurf lei- Imhof, das war Ihre erste Rede im diesem Hause. Ich der nicht aus. möchte Ihnen dazu traditionsgemäß die Glückwün- sche des Hauses aussprechen. (Beifall bei der SPD) (Beifall) Zu lasch erscheinen mir darüber hinaus auch die Übergangsbestimmungen, die Sie vorsehen. Natür- Nun spricht der Abgeordnete Uwe Lühr. lich bedarf es vernünftiger Regelungen zum Schutz der schon bestehenden Kurzzeitpflegeheime. Wir Uwe Lühr (F.D.P.): Herr Präsident! Meine sehr ver- schlagen Einzelfallprüfungen vor, wobei die gene- ehrten Damen und Herren! Ich war kurzzeitig über relle Erlaubnispflicht ein hinreichendes Druckmittel die Rednerreihenfolge verwirrt. Da ich gerade erfah- wäre. Bei Ihnen hingegen entfällt diese Pflicht nicht ren habe, Frau Imhof, daß es Ihre erste Rede war, ak- nur; sie wird noch nicht einmal durch die Pflicht zur zeptiere ich diese Reihenfolge natürlich und gratu- Beratung ersetzt, wie auch immer diese aussehen liere Ihnen zu Ihrer Rede. würde. Für Sie genügt es bereits, daß der Betreiber eines Heimes für kurzfristige Pflege den Bet rieb an- Meine Damen und Herren, Ihnen liegt heute in er- zeigt. „Eine Beratung", so heißt es in Ihrem Entwurf, ster Lesung der Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur „gilt dann als erteilt". Da stellt sich die Frage, wie Änderung des Heimgesetzes in der zwischen den hoch Sie den Wert Ihrer Beratung veranschlagen, - Fraktionen der CDU/CSU und der F.D.P. abgestimm- wenn sie für alle derzeit bestehenden Heime bereits ten Fassung vor. Wir wollen mit dem Gesetzentwurf als erteilt gilt. die Ausdehnung des Heimaufsichtsrechts auf die Einrichtungen der Kurzzeitpflege erreichen. Bisher Ich möchte das noch einmal betonen: Es geht hier wurden lediglich die allgemeinen aufsichtsrechtli- wohlgemerkt um genau dieselben Heime, deren chen Regelungen des Gewerbe- und Ordnungs- Mißstände Sie als Anlaß für eine notwendige Geset- rechts auf Kurzzeitpflegeeinrichtungen angewandt. zesänderung erkannt haben. Dann handelt es sich Dies hat sich in der Praxis aber des öfteren als unzu- aber doch um nichts anderes als um eine nachträgli- länglich erwiesen. Immer wieder mußten wir feststel- che Legalisierung dieser Zustände und gerade der len, daß gerade in Einrichtungen der Kurzzeitpflege Heime, in denen sie herrschen. erhebliche Mißstände herrschen, die mit den Instru- menten des allgemeinen Gewerbe- und Ordnungs- Wenn wir hier von Kurzzeitpflegeheimen spre- rechts nicht in den Griff zu bekommen waren. chen, stellen wir fest, daß das in der Praxis keines- wegs Einrichtungen sind, in denen Menschen höch- Zum Schutz der betroffenen Heimbewohner und stens vier Wochen verbringen. Vielmehr ist es doch auch zum Schutz der vielen ordentlichen Einrichtun- nicht unüblich, daß Patienten für drei Monate aufge gen, in denen eine sehr gute Pflege und Be treuung 4898 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1995 Uwe Lühr geleistet wird, ist es erforderlich, auch für die Kurz- Hierzu gehört für die F.D.P. das geschützte Berufsfeld zeitpflegeeinrichtungen Mindeststandards festzule- des Altenpflegers/der Altenpflegerin sowie eine dem gen und Möglichkeiten zu deren Durchsetzung und Krankenpflegegesetz entsprechende gesetzliche Überwachung zu schaffen. Ausbildungsordnung im Altenpflegegesetz.

Die F.D.P. setzt sich seit je auch im Sozialbereich Ich will jetzt zu den einzelnen Regelungen des Ge- für Wettbewerb, Kostenbewußtsein und wirtschaftli- setzentwurfs keine Stellung nehmen. Sie sind im ches Handeln ein. Voraussetzung dafür ist aber, daß Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend auch privatgewerbliche Anbieter von Sozialleistun- sehr genau zu beraten. Es ist zu überlegen, wo Ände gen gleiche Startchancen erhalten. rungs- oder Ergänzungsbedarf besteht. (Zustimmung bei der F.D.P.) Ich hoffe aber, daß mit diesem Gesetzentwurf der jahrelange Kampf um ein bundeseinheitliches Alten- Es war uns daher besonders wich tig, auch im Be- pflegegesetz endlich erfolgreich beendet werden reich des Heimgesetzes für eine Gleichbehandlung kann. frei-gemeinnütziger und sonstiger Einrichtungsträ- (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne ger zu sorgen, wie wir es bereits im Pflegeversiche- ten der CDU/CSU) rungsgesetz durchgesetzt haben.

(Beifall bei der F.D.P.) Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Nun spricht die Abgeordnete Heidemarie Lüth. Bisher war es so, daß frei-gemeinnützige Einrich- tungsträger ihre Tätigkeit nur anzeigen mußten. Son- stige Träger mußten aber vor Inbetriebnahme des Heidemarie Lüth (PDS): Herr Präsident! Liebe Kol- Heims eine Genehmigung einholen. leginnen! Liebe Kollegen! Um Problemlagen der Se- niorinnen und Senioren zu erkunden, so zumindest Diese Ungleichbehandlung fällt künftig weg. Statt der immer wieder nachdrücklich begründete An- der bisher erforderlichen Erlaubnis tritt zukünftig die spruch, hat die Bundesregierung in den vergange- präventive Beratung durch die Heimaufsichtsbehör- nen vier Jahren 34 Millionen DM ausgegeben, die den in den Vordergrund. Jeder, der ein Heim eröff- Ausgaben für die Enquete-Kommission „Demogra- nen will, muß sich zukünftig bereits im Planungssta- phischer Wandel" nicht eingeschlossen. Wer nun dium von der Heimaufsichtsbehörde beraten lassen. glaubt, daß, daraus schlußfolgernd, die Bundesregie- Diese Beratungsregelung gilt auch für kirchliche, rung und der Bundesrat, den gewonnenen Erkennt- frei-gemeinnützige sowie staatliche Träger. nissen folgend, seniorenfreundliche Gesetze vorge- legt hätten, muß feststellen: bisher nahezu Fehlan- im Sinne des Geset- Kurzzeitpflegeeinrichtungen zeige. zes sind Einrichtungen, in denen eine Pflege bis zu einem Zeitraum von vier Wochen beabsichtigt ist. Von einem großen Wurf sind auch die vorliegen- Richtig und wichtig ist, daß auch diese Einrichtungen den Entwürfe weit entfernt. Ausgangspunkt des ei- zukünftig unter die Heimaufsicht fallen. Wichtig war nen: der kranke, hilfslose und inaktive Mensch. Es aber auch, daß für diese Einrichtungen nicht die glei- überwiegt die einseitig medizinisch geprägte Sicht chen Regelungen wie für Dauerpflegeeinrichtungen auf Lebensinteressen alter Menschen. In meinem gelten. Hier müssen zum Teil andere Grundsätze gel- Verständnis muß das oberste Ziel auch in der Alten- ten. So war es uns besonders wich tig, daß Heimper- pflegeausbildung darin bestehen, alles zu tun, um sonal- und Heimmindestbauverordnung mit ihren für die Erhaltung der Selbständigkeit zu fördern und den sonstigen Heimbereich sicher richtigen Ansät- die Selbstbestimmung der Menschen zu sichern. zen nicht für den Kurzzeitpflegebereich gelten. Altenpflege hat vor allem zur Sicherung der Men- Ausdrücklich begrüße ich für meine Fraktion den schenrechte der auf Hilfe, Assistenz und Pflege ange- vom Bundesrat eingebrachten Entwurf eines Geset- wiesenen Personen beizutragen. Im Vordergrund zes über die Berufe in der Altenpflege, kurz Alten- müssen dabei, wie im Antrag vom BÜNDNIS 90/DIE pflegegesetz. Die Verabschiedung des Altenpflege- GRÜNEN ausgeführt, die Rechte auf Selbstbestim- gesetzes und damit die bundeseinheitliche- Alten- mung und Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft pflegeausbildung war leider in der 12. Legislatur- stehen. periode am Widerstand auch von Teilen dieser Koali- tion gescheitert. Die F.D.P. hält aber an dem Ziel ei- Wir bemängeln am Gesetzentwurf des Bundesrates ner bundeseinheitlichen Altenpflegeausbildung fest. folgende Punkte: Die Forderung nach einem Altenpflegegesetz auf Erstens. Wir vermissen die ausdrückliche Hervor- Bundesebene war daher auch Bestandteil des Wahl- hebung von Rehabilitation und Eingliederung als programms meiner Partei für die Bundestagswahl Aufgabe für die Altenpflege und die entsprechende 1994. Festlegung in der Ausbildung. Gerade auch nach Verabschiedung des Pflege Zweitens. Die Ausbildung muß eine kompatible Versicherungsgesetzes ist die materielle und ideelle Pflegeausbildung sein. Aufwertung der Pflegeberufe und insbesondere des Altenpflegeberufs dringend erforderlich. Drittens. Die Zugangsbedingungen sollten an die Zugangsbedingungen für die anderen Pflegeberufe (Dr. Gisela Babel [F.D.P.]: Sehr wahr!) angeglichen werden. Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1995 4899

Heidemarie Lüth Viertens. Die Möglichkeiten für eine verkürzte Es war damals nicht ganz einfach. Es gab, bis es zu Ausbildung sind zu hinterfragen. einer Einigung kam, viele Diskussionen. Aber die Pflegeversicherung ist ein Erfolg, was inzwischen Fünftens. Der Entwurf enthält keine Beschreibung auch von den Kritikern so gesehen wird. Heute mor- des Berufsbildes der Pflege. gen haben wir noch einmal deutlich gehört, daß eine Sechstens. In diesem Gesetzentwurf sind Ein- Reihe von Leuten durch die Pflegeversicherung aus schränkungen bezüglich landesrechtlicher Vorgaben der Sozialpflege herauskommen. Wir haben damit gemacht worden. Dann kann man sich vielleicht ei- sowohl für die Pflegebedürftigen als auch für die nen Bundesentwurf sparen. Pflegenden Hilfe geschaffen. Wie nicht anders zu erwarten, nehmen die finan- Eingebettet in den demographischen Wandlungs- ziellen Fragen einen großen Raume ein. Interessant prozeß unserer Gesellschaft diskutieren wir zu Recht und aufschlußreich ist auch der Versuch, die Pflege- über die insgesamt zu verbesssernde Situation älte- versicherung für die Finanzierung der Ausbildung rer Menschen. Es wird vor allem die Aufgabe der En- zu melken. Der Bund bezahlt erst einmal nichts. Er quete-Kommission sein, sich mit der Thema tik inten- bestimmt nur, wer das Geld aufzubringen hat. Das siv zu befassen und Vorschläge für eine zukunfts- sind letztlich die Kommunen. Damit die aber nicht zu orientierte Seniorenpolitik vorzulegen. laut protestieren, wird die Pflegeversicherung ins Feld geführt. Hier und heute ist es unsere Aufgabe, eine gute und umfassende Pflege zu gewährleisten. Dazu brau- Wenn ältere und behinderte Menschen erwarten - chen wir das Angebot entsprechenden Pflegeperso- nicht zuletzt auf Grund der Versprechungen der Bun- nals, in dem hauptamtliche Fachkräfte, aber auch eh- desregierung -, daß ihnen mit der Pflegeversiche- renamtliche Helferinnen und Helfer unverzichtbar rung umfassend geholfen wird, dann wird von aus- bleiben. Mit anderen Worten: Wir brauchen das Eh- ufernden Begehrlichkeiten gesprochen und davon, renamt und die Teilzeitkraft. Aber wir brauchen vor daß Pflegeversicherung nicht alles leisten kann. allem die gut ausgebildete Fachkraft.

Geht es aber darum, Ausbildungskosten der Versi- Die beiden vor uns liegenden Gesetzentwürfe wer- chertengemeinschaft zuzuschieben, gibt es keinen den heute in die Beratung eingebracht, die beide für Protest. Wenn im Entwurf des Gesetzes zur Ände die Absicherung in der Pflege wich tig sind: die Ver- rung des Heimgesetzes beklagt wird, daß „in vielen ankerung der Kurzzeitpflege im Heimgesetz - zu die- Einrichtungen kein bzw. nicht ausreichend qualifi- sem Bereich gehört auch der vorliegende Antrag ziertes Personal beschäftigt wird", dann ist das zu- vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - und ein Alten- mindest unehrlich. pflegeausbildungsgesetz.

In mehreren Veranstaltungen des Bundesministeri- Meine Damen und Herren, ich möchte meinen ums für Arbeit und Sozialordnung wurde mehrfach Schwerpunkt auf das Altenpflegeausbildungsgesetz eindeutig benannt, daß Pflegeeinsätze so billig wie legen. Ich halte es für wich tig, daß wir eine bundes- möglich zu sein haben; denn dann könnten sie in den einheitliche Ausbildung und damit Anerkennung im entsprechenden Pflegebereichen mehr tun. Altenpflegebereich anstreben. Damit wird es auch Unter diesem Aspekt ist mir völlig unverständlich, möglich, den Beruf der Altenpflegerinnen und Alten- daß dann über die Berufe in der Altenpflege die Al- pfleger attraktiver zu gestalten; denn wir dürfen tenpflegehelferausbildung möglich gemacht werden nicht verkennen, daß sich die Pflege durch die demo- soll. graphische Entwicklung wesentlich verändert hat. Sie ist einfach spezifischer geworden und bedarf des- Pflege ist längst ein Markt, der profitträchtig ist. Es halb vermehrt eines gut ausgebildeten Pflegeperso- ist ein schwacher Versuch, das Profitstreben der pri- nals. vaten Anbieter durch Unterstellungen und Gesetze sowie durch angezeigte Kontrollen zu unterstützen. Die Ausbildung, Prüfung und staatliche Anerken- nung von Altenpflegerinnen und Altenpflegern in Genau dieser Punkt, meine Damen und Herren, der Bundesrepublik Deutschland erfolgt zur Zeit auf steht schon im Altenbericht der Bundesregierung- der Grundlage länderspezifischer Regelungen. Dies von 1993. Dann so einen Entwurf vorzulegen ist, ge- führt zu sehr unterschiedlichen Ausbildungsstruktu- linde gesagt, eine Frechheit. ren und Qualifikationsbildern.

(Beifall bei der PDS) Frau Ministerin - sie ist ja noch anwesend -, ich darf Ihnen sagen, daß es auch in Baden-Württem- Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Ich erteile nun berg eine Ausbildungsvergütung gibt. Seien wir der Abgeordneten E rika Reinhardt das Wort. doch ganz ehrlich, bisher bestand das Problem vor allem darin, daß sich die Länder untereinander nicht einigen konnten, welches Konzept angewandt wird Erika Reinhardt (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine und welches nicht. Deshalb haben wir so unter- lieben Kolleginnen und Kollegen! Über ein Jahr ist es schiedliche Konzepte, und so handelt jeder auf seine jetzt her, daß wir hier im Parlament die Pflegeversiche- Weise. Deshalb ist es sicherlich richtig, daß man end- rung, eine, wie ich glaube, unserer wich tigsten Säu- lich einmal darüber diskutiert, wie ein bundesein- len im sozialen Sicherungssystem, verabschiedet ha- heitliches Altenpflegeausbildungsgesetz aussehen ben. kann. 4900 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1995

Erika Reinhardt Meine Damen und Herren, was wir brauchen, sind Lassen Sie mich an dieser Stelle allen ehrenamtli- klare Rahmenvorgaben über Einstiegsalter und Zu- chen und hauptamtlichen Pflegerinnen und Pflegern gangsvoraussetzungen, über Inhalte, Ausbildungs- für ihre Arbeit ganz herzlich danken. Die pflegebe- zeiten und Abschlüsse. Wichtig und entscheidend dürftigen Menschen sind auf ihre Hilfe besonders an- wird sein, daß die Ausbildung nicht nur praxisorien- gewiesen. tiert, sondern vor allem auch praxisnah ist. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. so Den vorliegenden Gesetzentwurf betrachten wir wie bei Abgeordneten der SPD) als eine Grundlage, eine Ausgangsbasis, die wir an manchen Punkten für noch korrekturbedürftig hal- Der vorliegende Entwurf eines Gesetzes über die Be- ten. Wir werden im Ausschuß genügend Gelegenheit rufe in der Altenpflege ist eine Diskussionsgrundlage haben, darüber zu diskutieren. zur Beratung im Ausschuß. Ich bin sicher, daß die Verbesserung der Lebens- So sollten wir denjenigen den Einstieg in den Al- umstände älterer Menschen unser aller Anliegen ist; tenpflegeberuf ermöglichen, die bereits einschlägige denn bei allem, was wir beschließen, muß der Mittel- Erfahrungen besitzen und an Hand dieses Wissens punkt der zu pflegende Mensch sein. und der vorhandenen praktischen Kenntnisse in der Lage sind, eine verkürzte Ausbildung erfolgreich ab- In diesem Sinne wünsche ich uns eine gute Bera- zuschließen. tung. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Ich denke in diesem Zusammenhang auch an Berufs- rückkehrerinnen nach der Familienphase. Verschie- Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Ich erteile der dene Modelle in diesem Bereich gibt es ja bereits. Abgeordneten Christa Lörcher das Wort. Meine Damen und Herren, wir sollten Überlegun- gen aufnehmen, ob nicht auch eine Ausbildung in Christa Lörcher (SPD): Herr Präsident! Liebe Kolle- Teilzeitform ein vernünftiger Ansatz wäre und für ginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! viele eine Chance bieten würde. Vor wenigen Wochen, am 7. September, hat der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung, (Beifall bei der CDU/CSU) Dr. Norbert Blüm, in diesem Hause vor einer Über- professionalisierung der Pflegeberufe gewarnt. Ich Das heißt, wir sollten offen sein, um möglichst vie- zitiere den Kollegen Blüm: len die Chance zu einer guten Ausbildung zu eröff- nen. Wir brauchen gut geschultes Personal, wir brau- Nur warne ich davor, das neue Feld Pflege zu chen aber weiterhin das Engagement der Ehrenamt- überprofessionalisieren. Wir brauchen Profis, lichen. Nur in einem Miteinander werden wir den hochqualifizierte Fachkräfte. Aber ich füge hin- Hilfsbedürftigen gerecht werden. zu: Übertreibt es nicht! Um einen 70jährigen zu füttern, brauche ich keine sechs Semester Psy- Ich muß jetzt der Abgeordnetenkollegin von den chologie. Dazu brauche ich ein gutes Herz und Grünen doch sagen: Was sie an Szenario - sie ist lei- eine ruhige Hand. der nach ihrer Rede gegangen - dargeboten hat, kann man so nicht stehenlassen. Was sie gesagt hat, Das ist eine Ohrfeige für alle, die sich um eine qua- ist eigentlich bedauerlich; denn sie trifft damit all lifizierte Pflege bemühen. jene, die in diesen Heimen arbeiten. Sie hat damit (Beifall bei der SPD - Zuruf von der CDU/ ein Bild dargestellt, als würden die alle eine CSU: Das war aber richtig!) schlechte Arbeit leisten. Ich sage Ihnen das auch zum Punkt Hilfskräfte: Wenn wir das so formulieren, Der Minister hat sich nicht sehr kundig gezeigt - we- dann bedeutet das für alle, die zu Hause pflegen - der in der Wortwahl noch in der Sache. das sind nämlich im Grunde Hilfskräfte -, daß sie nichts wert sind. Ich bitte Sie sehr herzlich, der- Kolle- Wir brauchen keine Profis - das mag im Fußball gin, die diese Gedanken hier eingebracht hat, dies oder beim Tennis sinnvoll sein -, wir brauchen nicht zu sagen. nur ein gutes Herz und eine ruhige Hand für eine so anspruchsvolle Arbeit wie Pflege: Wir brauchen (Beifall bei der CDU/CSU) Fachkräfte mit guten physischen und psychischen Voraussetzungen, aber auch mit einer hervorragen- Die Arbeit im Bereich der Altenpflege setzt eine den Ausbildung. Wir brauchen sie, damit eine ganz- besondere Hingabe, ein persönliches Engagement heitlich aktivierende Pflege nicht nur gelehrt und und eine einfühlsame Teilhabe am Leben der pflege- gelernt wird, sondern auch eine Chance hat, verwirk- bedürftigen alten Menschen voraus. Gerade dieser licht zu werden. Umstand zeigt die Schwierigkeit, eine einheitliche Regelung für die Altenpflegeausbildung zu schaffen, (Beifall bei der SPD) da neben fachlichen Kompetenzen auch persönliche und individuelle Voraussetzungen gegeben sein Die Heimmindestpersonalverordnung legt als Rah- müssen, um in der täglichen Pflege den zu pflegen- men einen Anteil von 50 % Fachkräften fest. In einer den Menschen gerecht werden zu können. Umfrage bei den stationären Einrichtungen meiner Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1995 4901

Christa Lörcher Region ergab sich, daß in den Alten- und Pflegehei- Ich halte das für eine große Hilfe zugunsten der men 20 % bis 60 %, also eine sehr große Breite von ausbildenden Einrichtungen und hoffe, daß damit Fachkräften, im Durchschnitt aber nur ein Drittel ein Anreiz zur Schaffung von genügend Ausbil- Fachkräfte arbeiten. dungsplätzen in der Pflege gegeben worden ist. Die Nachfrage ist zur Zeit sehr viel höher als das Ange- Die Bundesanstalt für Arbeit hat im Zusammen- bot. hang mit der Einführung der Pflegeversicherung ei- nen zusätzlichen Bedarf von 300 000 Pflegekräften Das Ausbildungsziel, die Anteile von Theorie und genannt - ohne Angabe eines Zeitraums. Meine Praxis sowie Dauer und Verteilung der Fremdprak- Fraktion und ich wünschen uns, daß diese fehlenden tika müssen so festgelegt werden, daß möglichst viel- Pflegekräfte eine qualifizierte Ausbildung auf hohem fältige Kenntnisse und Fähigkeiten in Pflege und Be- Niveau und baldmöglichst mit einheitlichen Rah- treuung, Aktivierung und Rehabi litation erworben menbedingungen erhalten. werden können. Auch bezüglich der Zugangsvoraussetzungen für (Beifall bei der SPD) den Beruf und der Modalitäten für eine eventuelle Verkürzung der Ausbildungsdauer besteht Diskussi- Wir begrüßen deshalb, daß die Ini tiative aus Hessen onsbedarf. für eine bundeseinheitliche Altenpflegeausbildung von der Länderkammer befürwortet wurde, jetzt als Wenn man sich konkret vorstellt, was es bedeutet, Gesetzentwurf des Bundesrates vorliegt und von uns die Ausbildung um ein Jahr zu verkürzen, dann muß heute beraten und hoffentlich nach Diskussionen mit man die, die das überlegen, fragen: Wollen Sie das Fachleuten und Fachverbänden mit Verbesserungen erste Jahr - mit der Behandlung der Grundlagen - realisiert werden kann - und das baldmöglichst. verkürzen? Wollen Sie das dritte Jahr mit den Prüfun- gen oder das zweite Jahr, in dem sehr, sehr viel Theo- Zum Gesetzentwurf einige Hinweise für die Dis- rie vermittelt wird, wegnehmen? Ich kann mir das für kussion und für eine von uns geforderte Anhörung. keines der Jahre vorstellen. Wir freuen uns, daß die Gesetzgebungskompetenz des Bundes für die Altenpflege vom Bundesrat mit (Beifall bei der SPD) diesem Gesetzentwurf anerkannt ist. Ein Gestal- Positiv im vorliegenden Gesetzentwurf ist, daß tungsraum für möglichst hohe Standards in den Län- Mindestanforderungen an die Altenpflegeschulen dern ist gegeben. formuliert sind, wobei allerdings für die Qualifikation der Lehrkräfte sowie der Fachkräfte in der prakti- Eine künftige Regelung nach dem Berufsbildungs- schen Ausbildung noch verbindliche Kriterien feh- gesetz wird von uns grundsätzlich befürwortet. Eine len. Neuordnung der Gesundheitsberufe insgesamt ist sinnvoll und dringend erforderlich, wird aber sicher Erfreulich ist ebenfalls, daß im Gesetzentwurf die so viel Zeit in Anspruch nehmen, daß wir Auszubil- Weiterbildung angesprochen wird. Zusatzqualifika- dende und Beschäftigte in der Altenpflege nicht so tionen für Mentorentätigkeit, Sta tions- und Pflege- lange warten lassen können und wollen. dienstleitung stärken Motiva tion und Verantwortung bei der Arbeit und erhöhen sicher auch die Verweil- (Beifall bei der SPD) dauer im Beruf. Auch in diesem Bereich sind bundes- einheitliche Rahmenbedingungen sinnvoll und erfor- Der Gesetzentwurf des Bundesrats ist ein erster derlich. Schritt zu einer bundeseinheitlichen Regelung, zu ei- ner qualifizierten Ausbildung. Weitere Schritte für Kritisch sehe ich die Ausbildung in der Altenpfle- den Gesundheitsbereich insgesamt müssen folgen. gehilfe. Hier wird die Kompetenz für die verschiede- nen Richtlinien innerhalb eines Bundesgesetzes an die Länder weitergegeben. Eine einjährige Ausbil- Einigkeit besteht darüber, daß die Dauer der Aus- dung kann gar nicht zu einer selbständigen ganz- bildung bundeseinheitlich drei Jahre umfassen soll heitlichen, personenbezogenen Pflege qualifizieren. und daß während dieser Zeit eine Ausbildungsvergü-- Die Anleitung durch eine Fachkraft ist, wie wir aus tung gezahlt wird. Über die Höhe der Vergütung ist nichts ausgesagt. Es ist meines Erachtens sinnvoll, der Praxis wissen, meistens leider nicht gegeben. sich in dieser Frage an der Höhe der Ausbildungsver- Sehr bedenklich ist außerdem - das ist schon ange- gütung in der Krankenpflege zu orientieren. Die Fi- sprochen worden -, daß damit die Geringschätzung nanzierung der Ausbildungsvergütung und der Aus- eines Frauenberufs verstärkt und zementiert würde. bildungskosten insgesamt wird noch zu diskutieren (Beifall bei der SPD) sein. Frau Ministerin Nolte hat bei den von ihr gesetzten Ein interessantes Modell ist jetzt bei uns in Baden politischen Schwerpunkten für diese Legislaturperi- Württemberg im Landespflegegesetz beschlossen ode die Durchsetzung eines Altenpflegegesetzes be- worden: Die Hälfte der Ausbildungsvergütungen fürwortet. Das freut uns sehr. Wir bitten aber darum, wird aus einem Fonds finanziert, in den alle Pflege- daß jetzt auch tatsächlich etwas geschieht und dieser einrichtungen mit Versorgungsvertrag einzahlen - Entwurf z. B. noch durch eine Anhörung bereichert nach dem Umfang der Ausbildungsvergütungen und wird, damit wir ihn dann gemeinsam verabschieden nach der Zahl der beschäftigten Pflegekräfte. können. 4902 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1995 Christa Lörcher Ich schließe mit drei Feststellungen: Hilfe und Pflege, soweit sie nicht durch Angehö- rige oder andere freiwillig Helfende erbracht wer- Wir begrüßen den Gesetzentwurf des Bundesrats den, sind Dienstleistungen. Menschen mit Hilfe- und und sehen ihn als gute Grundlage zur Diskussion für Pflegebedarf haben Anspruch auf gute Qualität die- die Regelung einer bundeseinheitlichen qualifizier- ser Leistungen. Sie müssen über die A rt und Weise, ten Altenpflegeausbildung. wie geholfen werden soll, möglichst weitgehend selbst bestimmen können. Deshalb ist einerseits ihre Wir halten eine Anhörung zu diesem Gesetzent- Stellung als „Verbraucher" auszubauen und ande- wurf für dringend erforderlich, damit Fachleute und rerseits ihr Schutz zu verbessern. In diesem Zusam- Verbände einbezogen werden und ihre Kritik und menhang sehe ich auch die heute anstehenden Ge- Vorschläge berücksichtigt werden können. setzesinitiativen. Eine bundeseinheitliche qualifizierte Altenpflege- ausbildung mit den Schwerpunkten Pflege, Betreu- Meine Damen und Herren, ich begrüße sehr, daß ung, Beratung sowie Aktivierung und Rehabilitation weitgehend Einigkeit über die Einbeziehung der muß baldmöglichst verwirklicht werden, im Interesse Kurzzeitpflege in den bewäh rten Schutzrahmen des der Pflegenden und der Pflegebedürftigen. Heimgesetzes besteht. Die Kurzzeitpflege in einer stationären Einrichtung ist ein wich tiger Baustein un- Dies ist ein erster Schritt zu einer umfassenden Re- serer Alten- und Behindertenpolitik. Sie ist vielfach form der Gesundheitsberufe. Lassen Sie uns das ge- nach einem Krankenhausaufenthalt geboten, um den meinsam schaffen! vorübergehend Pflegebedürftigen auf die Rückkehr Vielen Dank. in seine bisherige Wohnung und die selbständige Le- bensführung vorzubereiten. Darüber hinaus bietet (Beifall bei der SPD) die Kurzzeitpflege eine sachkundige Betreuungs- möglichkeit, wenn die ansonsten pflegende Person zeitweilig - etwa wegen eigener Krankheit oder Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Ich erteile nun eines Erholungsurlaubs - nicht zur Verfügung steht. der Parlamentarischen Staatssekretärin Gertrud Auch ist die Kurzzeitpflege oft ein wich tiges Binde- Dempwolf das Wort. glied zwischen dem Krankenhausaufenthalt und der Versorgung im Pflegeheim. Gertrud Dempwolf, Parl. Staatssekretärin bei der Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Die Bundesregierung ist an dieser Novelle zum Jugend: Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kol- Heimgesetz deswegen so interessiert, weil die Quail- legen! Sehr verehrte Frau Lüth, ich habe Ihre Kritik tat der Kurzzeitpflege oft darüber entscheidet, ob ein vorhin sehr gut vernommen, kann Ihnen aber nur sa- Mensch auf Dauer pflegebedürftig bleibt, ob der gen: Ich habe im Jahr 1990 Altenheime in Leipzig be- Grad der Pflegebedürftigkeit wieder zurückgeführt sucht - und nachts nicht mehr geschlafen. werden kann oder wie erfolgreich eine Rehabilita- tionsmaßnahme ist. Schlechte Versorgungsbedin- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU gungen haben oft zur Folge, daß das Gegenteil des- und der F.D.P. sowie des Abg. Dr. Uwe sen eintritt, was mit der Kurzzeitpflege erreicht wer- Küster [SPD]) den soll. Die Pflegebedürftigen verlieren bei schlech- ter Pflege ihren Lebensmut, ihr Gesundheitszustand Wir stehen heute in einer wich tigen Phase der Poll- verschlechtert sich, sie können dauernd pflegebe- tik für ältere Menschen. Wir können sie nur dann zu- dürftig werden. Nicht nur für die Betroffenen und kunftsorientiert gestalten, wenn wir den tiefgreifen- ihre Angehörigen ist dies sehr schwer. Es sei daran den demographischen Wandel im Blick haben. Ins- erinnert, daß eine ohne Not herbeigeführte oder ver- gesamt müssen der hohe und weiter ansteigende An- stärkte Pflegebedürftigkeit auch zu steigenden Ko- teil älterer Menschen, ihre unterschiedlichen Lebens- sten für den Pflegebedürftigen, aber auch für die situationen und Bedürfnisse und die Veränderung im Pflegeversicherung führt. Altersaufbau der Gesellschaft verstärkt berücksich- tigt werden. Unerwähnt lassen möchte ich auch nicht, daß eine Die Politik muß beide Seiten des Alters sehen, die gute Kurzzeitpflege dem Pflegebedürftigen sowie Chancen und Potentiale - denn der überwiegende den Angehörigen wichtige Anregungen für die spä- Teil der älteren Menschen ist aktiv -, aber auch die tere häusliche Pflege gibt. Risiken der Hilfe- und Pflegebedürftigkeit. Senioren- politik ist eine klassische Querschnittsaufgabe, die Das, was jetzt zur Beratung ansteht, führt also zu im Dialog und im Einverständnis mit den älteren mehr Humanität der Pflegesituation. Menschen und für ältere Menschen zu erfolgen hat. Aber auch bei der Ausgestaltung des Hilfesystems In der parlamentarischen Beratung wird sicher be- geht es vor allem darum, die Wünsche und Bedürf- sonders geprüft werden, welche Vorschriften des be- nisse der älteren Generation zu berücksichtigen. währten Heimgesetzes bei der Kurzzeitpflege sinn- Leitlinie unserer Politik muß es sein, die Selbständig- voll sind und welche nicht. Eine Überregulierung ist keit und die gesellschaftliche Teilhabe - auch im auf jeden Fall zu vermeiden. So geben z. B. die Kün- Falle der Hilfe- und Pflegebedürftigkeit - in höchst- digungsfristen des Heimgesetzes im Fa ll einer Kurz- möglichem Maße zu erhalten und zu fördern. zeitpflege nach meiner Meinung keinen Sinn. Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1995 4903

Parl. Staatssekretärin Gertrud Dempwolf Für die Genehmigung zur Inbetriebnahme eines Mit dem Ihnen vorliegenden Gesetzentwurf des Heims haben sich die Koalitionsfraktionen auf ein Bundesrates kann, wie ich meine, der Einstieg in die neues Verfahren geeinigt; das ist richtig. Dies wird Beratungen für eine bundesrechtliche Neuordnung sicher - das haben wir heute schon gehört - zu einer der Altenpflegeausbildung unternommen werden. interessanten Diskussion führen. Aber nicht alle Vorschläge des Entwurfes finden un- sere Zustimmung, wie Sie der Stellungnahme der Dabei bitte ich auch die Verbände der freien Wohl- Bundesregierung entnehmen können. Wir haben in fahrtspflege um eine vorurteilsfreie Prüfung. Die von einigen wichtigen Punkten fachliche und rechtliche uns sehr geschätzten Verbände sollten ein Interesse Bedenken. Wir wollen das gerne in den Ausschüssen an einem guten Wettbewerb haben, wenn daraus diskutieren. Wir werden die Beratungen mit dem Ziel neue Impulse erwachsen für eine kundenorientierte führen, ein modernes Altenpflegegesetz zu gestal- Pflege und zur Kostensenkung, solange die Qualität ten. darunter nicht leidet. Aber lassen Sie mich noch ein Wort sagen: Senio- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) renpolitik ist nicht nur Pflegepolitik. Der Vorschlag läuft auf eine Gleichbehandlung (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. so hinaus, ohne die Wettbewerb natürlich nicht möglich wie bei Abgeordneten der SPD) ist. Diese Gleichbehandlung bedeutet aber für uns nicht Gleichstellung der privat-gewerblichen Anbie- Gesundheit und Wohlbefinden sind nicht zuletzt eng ter mit den Verbänden der gemeinnützigen Wohl- mit den Wohnbedingungen verbunden. Durch eine fahrtspflege. Wir wissen, daß wir der freien Wohl- entsprechende Organisation des Wohnens kann die fahrtspflege große Leistungen und Engagement zu Selbständigkeit im Alter länger erhalten und drohen- verdanken haben. der Hilfe- und Pflegebedürftigkeit entgegengewirkt werden. Hier liegt der Schlüssel zur Durchsetzung Die Unterschiede in den vorliegenden Gesetzent- des Vorrangs der ambulanten vor der stationären würfen belegen, daß im einzelnen durchaus noch Be- Versorgung, wie er auch von der Pflegeversicherung ratungsbedarf besteht. Das haben wir heute gehört. postuliert wird. Um diesen Vorrang durchzusetzen, Das parlamentarische Verfahren wird hier den be- brauchen wir zukunftsweisende Konzepte für das sten Weg herausfiltern. Ganz eindeutig aber sollte Wohnen im Alter. Wir werden daher ein bundeswei- außerhalb des politischen Streites stehen: Die Kurz- tes Modellprogramm „Wohnkonzepte der Zukunft zeitpflege bedarf einer gesetzlichen Aufsichtsrege- für ein selbstbestimmtes Leben im Alter" entwickeln lung, und das sehr schnell. und durchführen. Meine Damen und Herren, wir brauchen daneben (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der ein bundeseinheitliches Altenpflegegesetz. Das bal- F.D.P.) dige Inkrafttreten der zweiten Stufe der Pflegeversi- Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich wün- cherung führt zu der Frage: Haben wir genug ausge- sche mir, daß wir in dieser Legislaturperiode über die die die Pflege alter Menschen ga- bildete Fachkräfte, Gesetzentwürfe den notwendigen Konsens errei- rantieren können? Die Antwort heißt: Wir haben sie chen, damit Senioren ihren Lebensabend in unserer noch nicht. Unterschiedliche Ausbildungsregelun- Gesellschaft sicher, selbständig und in Würde gestal- gen in den 16 Ländern und damit ein unklares Be- ten können. rufsprofil machen die Altenpflegeberufe immer noch nicht attraktiv genug. Wir müssen gemeinsame An- Danke schön. strengungen unternehmen, um Abhilfe zu schaffen und um diesen Flickenteppich auszubessern. (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der F.D.P.) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Wir brauchen mehr Fachpersonal, das bundesein- Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Zu einer Kurz- heitlich und ohne eigene finanzielle Aufwendungen intervention erteile ich der Abgeordneten Heidema- ausgebildet wird, das zufriedenstellende Arbeitsbe- rie Lüth das Wort. dingungen vorfindet, das motiviert ist, das berufliche- Zukunftsperspektiven hat und mit den Nöten des Be- Heidemarie Lüth (PDS): Sehr geehrte Frau Staats- rufsalltags nicht allein gelassen wird. Ich zähle das sekretärin! Ich kenne seit 1990 alle Altenheime in -alles auf, weil ich weiß, daß ein Berufszulassungs Leipzig und habe mich mit diesem Thema weiter be- und -ausbildungsgesetz für sich allein nicht zu einer schäftigt. Ich habe sie mir im Laufe der Zeit auch wei- nachhaltigen Verbesserung der Situa tion in der ter angeschaut. Ich kenne fast alle Altenheime in Pflege führt. Es ist aber ein wich tiger Beitrag. dem Wahlkreis, in dem ich kandidiert habe. Ich weiß, daß in den vergangenen Jahren dort ungeheuer viel Um mehr Interessenten für die Berufe in der Alten- personell und materiell gemacht wurde, was in den pflege zu gewinnen, gilt es also, das Profil dieser Be- vergangenen Jahren in der DDR überhaupt nicht rufe zu schärfen, ihre Attraktivität zu erhöhen und möglich war und sicherlich auch von der A rt und die Ausbildung zu diesen Berufen durch Ausbil- Weise der Politik her nicht gemacht wurde. dungsvergütung und Schulgeldfreiheit kostenlos zu gewähren. (Brigitte Baumeister [CDU/CSU]: Warum wurde es nicht gemacht?) (Beifall bei der CDU/CSU - Dr. Gisela Babel [F.D.P.]: Sehr gut!) - Lassen Sie mich doch bitte ausreden. 4904 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1995 Heidemarie Lath Ich weiß auch, daß von einigen Heimen der Antrag Einordnung des Rechts der gesetzlichen Un an das Staatsministerium in Sachsen gestellt werden fallversicherung in das Sozialgesetzbuch mußte, die Erfüllung der Heimmindestbauverord- nung für das Jahr 2000 weiter hinauszuschieben, (Unfallversicherungs-Einordnungsgesetz - weil es nicht zu schaffen ist, dort diese Investitionen UVEG) zu machen. Genau mit diesem Wissen habe ich die- - Drucksachen 13/2204, 13/2333 ses Problem dargestellt, denn erst jetzt stellen sich in —Überweisungsvorschlag: diesen Heimen, die inzwischen viel besser ausgestat- tet sind als vorher, gleiche oder ähnliche Probleme, Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung (federführend) Rechtsausschuß die in den Entwürfen, die es in den alten Bundeslän- Ausschuß für Wirtschaft dern gibt, benannt wurden. Darauf hat sich meine Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Kritik hauptsächlich bezogen; denn es wurde in meh- Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend reren Dokumenten geschrieben, es gebe Mißstände Ausschuß für Gesundheit Haushaltsausschuß gemäß § 96 GO in privaten Einrichtungen der Kurzzeitpflege. Kurz- zeitpflegeeinrichtungen gibt es aber in Leipzig so gut Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die wie überhaupt keine, weil dies eine Sache ist, die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich sehe und erst nach und nach aufgebaut wird, und p rivate gibt höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlos- es gar nicht. Solche Mißstände haben wir do rt erst sen. einmal nicht. Aber die Probleme, die es in den alten Bundesländern gibt, die auch hier benannt wurden, Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Parla- werden dadurch nicht kleiner, daß man sie den Pro- mentarische Staatssekretär Rudolf Kraus. blemen, die am Ende der DDR-Zeit bestanden ha- ben, für die neuen Bundesländer immer wieder ge- Rudolf Kraus, Parl. Staatssekretär beim Bundesmi- genüberstellt. Eigentlich habe ich gedacht, daß ich nister für Arbeit und Sozialordnung: Herr Präsident! als Mitglied dieses Hauses an Lösungen mitarbeiten Meine sehr verehrten Damen und Herren! Mit dem darf. Unfallversicherungs-Einordnungsgesetz kommen (Beifall bei der PDS) wir der Vollendung unseres Sozialgesetzbuches ei- nen wesentlichen Schritt näher. Dabei hat diese Ein- ordnung drei wesentliche Vorteile: Erstens lösen wir Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Frau Kollegin die alte Reichsversicherungsordnung für alle Sozial- Dempwolf, Sie haben die Möglichkeit zu antworten. versicherungszweige ab, zweitens verstetigen wir damit die feste Verbindung zwischen dem Unfallver- sicherungsrecht und der Praxis des Unfallschutzes, Gertrud Dempwolf, Parl. Staatssekretärin bei der und drittens schließen wir mit dieser Einordnung das Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Kapitel „Kodifikation eines modernen Sozialversi- Jugend: Sehr verehrte Frau Kollegin! Ich freue mich cherungsrechts" ab. natürlich, daß es den alten Menschen in den Alten- heimen seit 1990 sehr viel besser geht. Meine Kritik Seit über 100 Jahren hat sich unsere gesetzliche richtete sich dagegen, daß Sie hier Forderungen stel- Unfallversicherung in der Praxis bewährt. Schwere len, die selbst für uns noch in weiter Ferne liegen Zeiten hatte sie zu überstehen. Doch weil alle wichti- und die noch zu diskutieren sind. Rom ist nicht an ei- gen gesellschaftlichen und politischen Gruppen die nem Tag erbaut worden. Vielleicht finden wir auch Grundsätze der Unfallversicherung seit ihrer Ein- hier gemeinsam ein vernünftiges Konzept. führung immer anerkannt haben, konnte sie sich ge- radlinig weiterentwickeln und den notwendigen An- Danke. forderungen der Arbeitswelt anpassen. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Stichpunktartig möchte ich herausgreifen: die Ab- lösung der Unternehmerhaftung durch verschuldens- unabhängige, öffentlich-rechtliche Versicherungsan- Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Ich schließe sprüche und damit die Orientierung der Leistungen damit die Aussprache. am Schadensersatzprinzip, die Gliederung der Un- - Der Ältestenrat schlägt die Überweisung der Vor- fallversicherung nach Branchen, den Präventionsauf- lagen auf den Drucksachen 13/372, 13/1208, 13/2347 trag der Träger zur Verhütung von Arbeitsunfällen und 13/1322 an die in der Tagesordnung aufgeführ- und Berufskrankheiten, die Durchführung der Un- ten Ausschüsse vor. Der Gesetzentwurf der Koaliti- fallversicherung durch Selbstverwaltungskörper- onsfraktionen zur Änderung des Heimgesetzes auf schaften und die paritätische Selbstverwaltung, die Drucksache 13/2347 soll dem Ausschuß für Wi rt alleinige Finanzierung durch die Unternehmen, und -schaft nicht überwiesen werden. Sind Sie damit ein- zwar im Umlageverfahren. verstanden? - Ich sehe und höre keinen Wider- Diese Umlagefinanzierung war bei den parlamen- spruch. Dann sind die Überweisungen so beschlos- tarischen Beratungen zum Unfallversicherungsge- sen. setz aus dem Jahre 1884 bei Ihren liberalen Vorgän- gern, Frau Babel, auf starke Vorbehalte gestoßen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf: Doch nach Einführung der Unfallversicherung wuchs sehr schnell Gras darüber. Sie sehen, auch in der Ge- Erste Beratung des von der Bundesregierung schichte unserer Sozialversicherung wiederholt sich eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur das eine oder andere. Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1995 4905

Parl. Staatssekretär Rudolf Kraus Unser Unfallversicherungsrecht ist historisch ge- Mit der Einordnung in das Sozialgesetzbuch wird wachsen, ohne daß dabei Brüche entstanden sind. das Unfallversicherungsrecht aber auch wesentlich Die tragenden Prinzipien der Unfallversicherung inhaltlich weiterentwickelt. Lassen Sie mich auf fol- sind rechtssystematisch schlüssig, und im Vergleich gende Punkte hinweisen: zu anderen Sozialversicherungszweigen herrscht in der Unfallversicherung eine fast klassische Ausgegli- Wesentliche Aufgabe der Unfallversicherung ist chenheit. die Prävention. Die unbestrittenen Erfolge der Un- fallversicherungsträger schließen künftige Verbesse- rungen natürlich nicht aus, ganz im Gegenteil. Sie Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Herr Staatsse- sollen Ansporn zu weiteren Höchstleistungen sein. kretär, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abge- ordneten Dr. Babel? Moderner Arbeitsschutz ist mehr als die Verhütung von Unfällen und Berufskrankheiten. Er muß auch arbeitsbedingte Gesundheitsgefahren vorbeugend Rudolf Kraus, Parl. Staatssekretär beim Bundesmi- verhüten. Hier steckt ein hohes Entlastungspotential nister für Arbeit und Sozialordnung: Aber ja. durch betriebliche Präventionsmaßnahmen. Die Bun- desregierung ist sich mit den Sozialpartnern darin ei- Dr. Gisela Babel (F.D.P.): Herr Staatssekretär nig, daß der Präventionsauftrag der Unfallversiche- Kraus, Sie sprechen vom Jahre 1884. Damals konnte rung erweitert werden muß. Die Träger sollen ergän- man ein Umlageverfahren ja vielleicht noch vertre- zend die Aufgabe erhalten, arbeitsbedingte Gesund- ten. Die Volkswirtschaft war auf Expansionskurs. heitsgefahren zu verhüten. Sie sollen branchenspezi- fische Unfallverhütungsvorschriften erlassen, den (Konrad Gilges [SPD]: Stimmt nicht! Damals Ursachen solcher Gesundheitsgefahren nachgehen hatten wir gerade eine große Wirtschafts und mit den Arbeitsschutzbehörden bzw. der Gewer- krise!) beaufsicht und den Krankenkassen zusammenarbei- Die Zahl der Erwerbstätigen ist dauernd gestiegen. ten. Würden Sie denn sagen, daß wir die heutige Situa- Nach Auffassung des Bundesrates soll diese Rege- tion in der Wirtschafts- und Sozialpolitik tatsächlich lung erst im Rahmen einer umfassenden Neugestal- mit den Rezepten des letzten Jahrhunderts meistern tung des Arbeitsschutzrechts eingeführt werden. können? Dem können wir nicht zustimmen. Die Erweiterung ist hier und jetzt geboten, um den Gesundheitsschutz Rudolf Kraus, Parl. Staatssekretär beim Bundesmi- der Versicherten zu verbessern. Ein Hinauszögern nister für Arbeit und Sozialordnung: Ich möchte das wäre sozialpolitisch nicht zu verantworten. Dies ist ja nicht verallgemeinern; aber die Tatsache, daß ein auch die gemeinsame Haltung von Gewerkschaften Rezept 100 Jahre und älter ist, heißt nicht, daß es und Arbeitgebern. falsch ist. Ein weiterer Konfliktpunkt ist das Berufskrankhei- (Dr. Gisela Babel [F.D.P.]: Es heißt aber auch tenrecht. Ansprüche auf Leistungen der Unfallversi- nicht, daß es richtig ist!) cherung setzen voraus, daß zwischen versicherter Tätigkeit und eingetretener Krankheit feststellbare - Es hat sich jedenfalls bewährt, und die Erfahrung Kausalbeziehungen bestehen. Dieses Prinzip wi ll die spricht für meine Ansicht. Deshalb halten wir also Mehrheit der Bundesländer aufgeben. Anstelle des auch an den Grundprinzipien der Unfallversicherung Kausalnachweises soll eine bloße Vermutung für die fest. berufliche Verursachung einer Krankheit genügen. Eine Strukturreform ist nicht erforderlich. Auch die Dem widerspricht die Bundesregierung. Schon nach Sozialpartner begrüßen diese Kontinuität. geltendem Recht ist es nicht erforderlich, daß die Er- krankung ausschließlich durch berufliche Einwir- Mit unserem Gesetzentwurf zum SGB VII überar- kungen verursacht wurde. Allerdings muß eine we- beiten wir das geltende Recht, straffen die bestehen- sentliche Mitverursachung durch die berufliche Ein- den Vorschriften und passen sie der Systema tik des wirkung hinreichend wahrscheinlich sein. Der Vor- Sozialgesetzbuches an. - schlag des Bundesrates würde zu einem Verzicht auf Auch der Datenschutz, ein wesentlicher Schwer- diesen Kausalnachweis führen, die tragende Basis punkt des SGB VII, wird verbessert. Unbestritten ist der gesetzlichen Unfallversicherung würde verlas- der Schutz der zum Teil sehr sensiblen Sozialdaten sen, und der Unfa llversicherung würden Leistungs- kennzeichnend für unseren freiheitlichen Sozialstaat. verpflichtungen übertragen, die in die Zuständigkeit Dabei geht es ja auch immer um eine Abwägung anderer Sozialversicherungsträger gehören. Mit ei- zwischen den Individualinteressen der Versicherten ner solchen Konstruktion könnte eine allein von den und dem Interesse der Solidargemeinschaft an einer Unternehmern finanzierte Pflichtversicherung nicht sachgerechten und wirtschaftlichen Durchführung mehr gerechtfertigt werden. der Sozialversicherung. Die Träger der gesetzlichen Weitgehende Übereinstimmung besteht dagegen Unfallversicherung werden dieser Aufgabe auf der bei den übrigen Neuregelungen. Grundlage der geltenden Datenschutzregelungen gerecht. Wenn wir jetzt neue, zusätzliche Vorschrif- Im Interesse des Wirtschaftsstandortes Deutsch- ten schaffen, spricht hieraus kein Mißtrauen gegen land ist das Gesetzesvorhaben insgesamt kostenneu- sie. Wir nutzen vielmehr die Gelegenheit, den Daten- tral. Den vorgesehenen Leistungsverbesserungen schutz in der Unfallversicherung noch zu präzisieren. müssen deshalb auch Leistungseinschränkungen ge- 4906 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1995 Parl. Staatssekretär Rudolf Kraus genüberstehen; so werden z. B. die Festbetragsrege- nen und Kollegen in den Betrieben mehr Einfluß auf lungen der Krankenversicherungen für Arznei-, den Arbeits- und auf den Gesundheitsschutz im Be- Heil-. und Hilfsmittel auch in der Unfallversicherung trieb nehmen können. Dieser scheint mir zur Zeit re- eingeführt. lativ unterentwickelt zu sein.

Noch ein Wort zu den Haftpflichtanstalten der Un- Wir haben dies, wie schon gesagt, in einer Druck- fallversicherungsträger. Hier entdecken gewerbliche sache vorgelegt. Wir wollten damals ein Arbeits- Versicherer plötzlich ihr Herz für die Ordnungspoli- schutzgesetz. Wir hatten uns eine große Lösung vor- tik und fordern, diese Regelung zu streichen. Nun gestellt. Wir bleiben bei der Vorstellung einer großen sind wir nicht erst seit 1995 sozialpolitisch besonders Lösung. Leider ist das Gesetz, das Sie dann vorgelegt engagiert, sondern seit einem sehr viel früheren Zeit- haben, in der vergangenen Legislaturperiode an der punkt. Deshalb stimmt es uns natürlich nachdenk- F.D.P. gescheitert, die nicht bereit war, do rt den Weg lich, wenn sich Interessenverbände treuherzig auf bis zum Ende zu gehen. Wir hatten eine Anhörung, ordnungspolitische Grundsätze berufen. Bei den eine Gesetzesvorlage usw. Die F.D.P. hat kalte Füße Haftpflichtanstalten geht es tatsächlich darum, daß bekommen und mit ihr dann die gesamte Regierung. die gewerbliche Konkurrenz den Landwirten einen vergleichbaren Versicherungsschutz entweder nur unter erschwerten Bedingungen oder überhaupt Frau Babel, es ist unrichtig - das wollte ich nur ein- nicht anbietet. Für die weiteren Beratungen emp- mal sagen -: 1884 - schauen Sie einmal in den Ge- fehle ich deshalb diesen Punkt besonders Ihrer Auf- schichtsbüchern nach - hatten wir eine relativ merksamkeit. schlechte Konjunktur im damaligen Deutschen Reich. Die Hochkonjunktur trat nach dem Deutsch- Meine sehr verehrten Damen und Herren, die auf- Französischen Krieg von 1871 ein. Es gab durch das gezeigten Konfliktpunkte dürfen nicht den Blick da- Gewinnen des Krieges eine Konjunktur, die schon für verstellen, daß die Inhalte des Gesetzesvorhabens Anfang der 80er Jahre wieder rückläufig war. Es überwiegend völlig unumstritten sind. Wir begrüßen folgte eine riesengroße Wirtschaftskrise, die teilweise das. Ich hoffe auf gründliche, aber zugleich auch zü- bis zur Jahrhundertwende angedauert hat. Das gige parlamentarische Beratungen des Gesetzent- wollte ich nur einmal am Rande mitteilen. wurfs, damit die gesetzliche Unfa llversicherung eine solide und tragfähige Säule unserer Sozialversiche- Trotz dieser schwierigen Wirtschaftskrise hat sich rung bleibt. die damalige Reichsregierung unter Bismarck bereit erklärt, so etwas zu machen, weil sie die Notwendig- Danke. keit erkannt hat und weil natürlich durch einen nicht vorhandenen Unfallschutz großer volkswirtschaftli- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) cher Schaden entsteht. Ich komme nachher noch ein- mal auf diesen Punkt zurück. Es geht um den Schutz des einzelnen Arbeitnehmers. Es geht aber auch um Es spricht nun Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: den volkswirtschaftlichen Schaden, der durch einen der Abgeordnete Konrad Gilges. mangelnden Gesundheits- und Unfallschutz in der Bundesrepublik jährlich entsteht. Konrad Gilges (SPD): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Der Reformbe- Ich habe Verständnis für die Forderung der Länder darf wird von allen Fraktionen dieses Hauses nicht nach einem umfassenden Arbeitsschutz, so wie wir bestritten. Es wäre notwendig gewesen, schon vor Sozialdemokraten das auch forde rn. Aber bei allem, 10 Jahren mit der Reform des Unfallrechtes zu begin- was die Länder fordern, bin ich der Meinung, daß die nen; denn ohne Zweifel liegt ja in diesem Bereich Minilösung, die die Bundesregierung jetzt vorlegt, vieles im argen, insbesondere was den Gesundheits- immer noch besser ist als überhaupt keine Lösung. schutz betrifft, nicht so sehr beim eigentlichen Unfall- Deswegen werden wir konstruktiv an diesem Geset- schutz. Es gibt vor den Sozialgerichten viele Ausein- zeswerk - so weit Sie uns das ermöglichen - mitwir- andersetzungen zwischen den Arbeitgebern und Ar- ken oder mitarbeiten. Ich will sagen, warum ich der beitnehmern und zwischen der Einschätzung- der Be- Meinung bin, daß eine Minilösung immer noch bes- urteilung, zu dem meine Kollegin Erika Lotz an- ser ist als überhaupt keine Lösung oder als der Ist schließend im Detail etwas sagen wird. Zustand, den wir jetzt haben: Wir müssen ein größe- res Schwergewicht auf die Prävention, auf die Vor- Wir Sozialdemokraten haben mit einem Antrag, beugung legen. Ich habe dabei Schwierigkeiten mit der vom 1. April 1992 datiert ist, eine grundlegende der Debatte, ob das nun die Berufsgenossenschaften Reform des Gesundheits- und Arbeitsschutzes gefor- oder die Gewerbeaufsichtsämter machen müssen. dert. Leider konnten sich die Regierungsparteien Ich kann diesen Streit nicht so richtig nachvollzie- nicht dazu bereit erklären. Wir haben damals aufgeli- hen. Ich verstehe ihn als jemand, der damit zu tun stet, was alles reformbedürftig wäre. Wir haben u. a. hat, aber ich glaube, es darf nicht ein S treit um des auch einen Schwerpunkt in der Frage der Mitwir- Streites willen sein, wer hier Kompetenzen hat. Viel- kung und der Mitbestimmung im Betrieb gesehen. mehr geht es darum, wie wir in der Lage sind, eine Herr Kraus, ich glaube, daß das ein wich tiger Punkt höhere Vorbeugung im Betrieb und in diesem Be- ist und in der jetzigen Gesetzesvorlage noch einmal reich zu erreichen. Das heißt, das Ziel muß im Mittel- darüber diskutiert werden müßte, inwieweit die Be- punkt dieser Erörterung stehen und nicht die Organi- triebsräte, die Sicherheitsbeauftragten, die Kollegin- sationsfrage. Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1995 4907

Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Herr Kollege sten eingespart werden könnten, z. B. wenn es eine Gilges, gestatten Sie eine Zwischenfrage? ordentliche Gesetzgebung gäbe, wenn es Vorbeu- gung gäbe, wenn in den Betrieben das gemacht würde, was gemacht werden müßte. Das würde für Konrad Gilges (SPD): Ja. uns alle volkswirtschaftlich gesehen einen großen Fortschritt bedeuten, insbesondere für die Betriebe. Siegfried Hornung (CDU/CSU): Herr Kollege, ich zum nächsten Punkt kommen und etwas kann zunächst übereinstimmend mit Ihnen erklären, Ich will zu den bestehenden Konfliktlinien sagen, die zwi- daß es nicht um den Streit gehen soll. Aber können schen den Ländern und der Bundesregierung auf der Sie nicht mit mir einig sein, daß es in der Tat sinnvoll einen Seite und dem Deutschen Gewerkschaftsbund ist - gerade weil ein S treit zwischen Ländern und um und dem Arbeitgeberverband auf der anderen Seite Kompetenzen angezeigt ist, insbesondere bei der bestehen. Ich sage es offen: Ich stehe - das habe ich landwirtschaftlichen Berufsgenossenschaft -, die bis- eben schon gesagt - auf der Seite des Arbeitgeber- herigen hervorragend bewäh rten Organisationen bei den Berufsgenossenschaften aufrechtzuerhalten, zu- verbandes sowie der Gewerkschaften und bin auch der Meinung, daß wir zu einer Klärung kommen mal wir den Nachweis führen können, daß wir bis müßten. Wir Sozialdemokraten meinen, daß - wie be- dato in der Vergangenheit einen erheblichen Rück- reits deutlich gemacht - die Frage der Zuständigkei- gang insbesondere von Todesfällen, aber auch von ten, die Ordnungsfrage, nicht der entscheidende anderen schweren Unfä llen haben, und daß wir ei- gentlich deshalb auf dem bewährten Weg weiterge- Punkt ist. Wir bieten Ihnen an, im Verlaufe der Aus- schußberatungen und der Anhörung eine vernünf- hen sollten? tige Lösung zu finden. Sofern Sie dazu bereit sind, glaube ich, daß wir aus dem Gesetzeswerk, das jetzt Konrad Gilges (SPD): Herr Kollege, ich befinde noch nicht vollkommen ist, eine Lösung erarbeiten mich in einer schwierigen Situa tion, Ihnen zu sagen, können, die zumindest einen Schritt in die richtige daß das, was Sie sagen, stimmt. Als Vorsitzender ei- Richtung bedeutet. nes DGB-Kreises weiß ich aber, welche Rechtsaus- einandersetzungen wir mit den Berufsgenossen- (Beifall bei der SPD) schaften haben und wie viele Streitfälle vor den So- zialgerichten abgehandelt werden, wie schwierig das Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Das Wort hat also mit den Berufsgenossenschaften ist und wie un- nun der Abgeordnete Manfred Grund. fair sich diese manchmal verhalten. Das muß ich sehr vorsichtig ausdrücken, weil mich ansonsten auch meine Kollegen von den Gewerkschaften kritisieren Manfred Grund (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine würden. lieben Kolleginnen und Kollegen! Das im Jahre 1884 - wir hörten es vorhin schon - begründete und von Damit möchte ich zum Ausdruck bringen, daß ich der Bundesregierung in überarbeiteter Form vorge- im Grundsatz beide Säulen des Systems bejahe. Das legte Unfallversicherungsrecht muß - das ist wohl kann aber im Ergebnis nicht bedeuten, daß im kon- unbestritten - als Erfolgsgeschichte deutscher Sozial- kreten Fall der Vorbeugung, also der Prophylaxe gesetzgebung bezeichnet werden. Ein Gesetz, das bzw. Prävention nichts passiert. Ich hielte es für über einhundert Jahre hinweg - unterbrochen nur schrecklich, wenn es uns nicht gelingt, dafür zu sor- durch die Zeit des Nationalsozialismus - durch drei gen, daß in den Betrieben der Gesundheitsschutz - Staatssysteme hindurch, nämlich das deutsche Kai- insbesondere bei neuen Werkstoffen - vernachlässigt serreich, die Weimarer Republik und die Bundesre- wird. Die gesamtstaatliche Verantwortung, die für publik, Bestand gehabt hat und unter zum Teil den Arbeits- und Gesundheitsschutz durch die Ge- grundverschiedenen wirtschaftlichen und gesell- werbeaufsichtsämter dokumentiert wird, bleibt be- schaftlichen Voraussetzungen beibehalten wurde, stehen und sollte nicht in Zweifel gezogen werden. kann keine grundlegenden Fehler enthalten. Ich habe - wie gesagt - mit beiden immer meine rich Schwierigkeiten. (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist wohl tig!) Allerdings bedeuten eine grundlegende- Reform und ein Schritt in diese Richtung, daß wir insbeson- Welches sind die Gründe für die erstaunliche Ak- dere bei den Unternehmen Kosten einsparen wür- zeptanz und Lebensdauer dieses Unfallversiche- den, Frau Babel. Fachleute gehen davon aus, daß rungssystems? heutzutage Kosten in Höhe von 100 Milliarden DM Das ist zum ersten sicher die Tatsache, daß es bei- jährlich zu vermeiden wären, wenn der Gesundheits- den Beteiligten - Arbeitgebern und Arbeitnehmern - und der Unfallschutz verbessert würden. Diesen Be- im wesentlichen nur Vorteile bringt. Da sind zu- trag würden die Betriebe einsparen. nächst auf der Arbeitgeberseite die Ablösung der zi- (Dr. Gisela Babel [F.D.P.]: Bislang waren es vilrechtlichen Haftpflicht zugunsten einer Versiche- rung im Umlageverfahren und auf der Arbeitnehmer- jährlich immer 16 Milliarden DM! - Zuruf seite eine Lösung der Leistungsansprüche vom Ver- von der SPD: 80 bis 100 Milliarden DM! - schulden sowie in der weiteren Entwicklung die im- Dr. Gisela Babel [F.D.P.]: Wir gucken nach!) mer stärkere Verlagerung auf die Prävention von - Frau Babel, ich will mit Ihnen darüber nicht strei Schadensfällen im Interesse der Gesundheit des Ar- ten, ob es sich dabei um 16 oder 100 Milliarden DM beitnehmers und der Kostenvermeidung auf der Lei- handelt, sondern es geht darum, daß Lohnnebenko stungsseite. 4908 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1995

Manfred Grund Zum zweiten hat die Gestaltung der Unfallversi- che Unfallversicherungsrecht und in das Sozialrecht cherungsträger als selbstverwaltete paritätisch be- allgemein. Es ist zunächst Folge der formellen Neu- setzte Körperschaften des öffentlichen Rechts und fassung dieses Rechtsbereichs. Der Entwurf faßt das der damit erreichten Konsensschaffung in Fragen der Unfallversicherungsrecht übersichtlicher und straf- Unfallursachenbeseitigung und Unfallfolgenkom- fer. Die Reichsversicherungsordnung als über pensation zwischen Arbeitnehmern und Arbeitge- 100 Jahre lang gültige Rechtsgrundlage des Sozial- bern zum Erfolg dieses Systems beigetragen. versicherungsrechts wird abgeschafft. Die einheitli- che Kodifizierung des Unfallversicherungsrechts und Später konnten weitere wesentliche Verbesserun- seine Einordnung in das Sozialgesetzbuch VII stellt gen erzielt werden. Ich nenne nur die Stichworte: also einen weiteren folgerichtigen Schritt zur Verein- Einführung der Sicherheitsbeauftragten in Betrieben heitlichung und Systematisierung des Sozialversi- mit mehr als 20 Arbeitnehmern, Unfallverhütungsbe- cherungsrechts, einen weiteren Fortschritt im Bemü- richt, Anpassung der Renten an die Lohn- und Ge- hen um die erfolgreiche Schaffung eines für die Be- haltsentwicklung, Erweiterung des Versicherungs- völkerung durchschaubaren und für die Verwaltung schutzes auf Kindergartenkinder, Schüler und Stu- leichter umsetzbaren einheitlichen Sozialrechts in denten und zuletzt die Anerkennung der Arbeitsun- Form des Sozialgesetzbuchs dar. fälle und Berufskrankheiten, die vor dem 1. Februar 1992 in den fünf neuen Ländern eingetreten sind, Ich möchte Sie im Zusammenhang mit den formel- auch dann, wenn sie nach DDR-Recht, nicht aber len Aspekten des Gesetzentwurfs noch auf Änderun- nach bundesdeutschen Berufskrankheitenlisten als gen der Zuständigkeiten hinweisen. Gemäß § 116 solche zu betrachten waren. des Entwurfs sind die Unfallversicherungen auch im Landesbereich durch rechtlich selbständige Träger, Heute umfaßt der Aufgabenbereich der Unfallver- Unfallkassen, durchzuführen, die wie die Gemeinde- sicherung in erster Linie die Verhütung von Arbeits- unfallversicherungsverbände die gleichen Kompe- unfällen und Berufskrankheiten, daneben die Heil- tenzen wie die Berufsgenossenschaften erhalten. behandlung, Maßnahmen der medizinischen, beruf- lichen und nach diesem Entwurf auch der sozialen Dabei können die Landesregierungen unter fol- Rehabilitation sowie die Entschädigung durch Geld- genden Regelungsmodellen wählen: erstens Bildung leistungen. einer oder mehrerer besonderer Unfallkassen nur für den Landesbereich mit einer Übergangsregelung bis (Vorsitz : Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer) Ende des Jahres 1996 oder zweitens Bildung einer gemeinsamen Unfallkasse für den Landes- und den Träger der gesetzlichen Unfallversicherung sind kommunalen Bereich, wobei der Träger nicht den ge- zur Zeit 35 gewerbliche und 20 landwirtschaftliche samten Bereich eines Landes umfassen muß. Berufsgenossenschaften sowie 54 Unfallversiche- rungsträger der öffentlichen Hand. 80 % der Wohn- Die Länder haben im übrigen auch in Zukunft die bevölkerung sind in der gesetzlichen Unfallversiche- Möglichkeit, die Aufgaben der Unfallkasse für den rung gegen Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten Landesbereich durch einen Gemeindeunfallversiche- versichert. rungsverband im Rahmen einer Verwaltungsgemein- schaft mit einem gemeinsamen Geschäftsführer Festzustellen ist: Unser Unfallversicherungssystem durchführen zu lassen, was durch eine Verwaltungs- hat sich bewährt, beruht auf einem Konsens a ller be- vereinbarung zu regeln wäre. teiligten gesellschaftlichen Kräfte und ist auch den Anforderungen unserer sich wandelnden Gesell- In § 116 Abs. 2 des Entwurfs wird darüber hinaus schaft gewachsen. die Möglichkeit geschaffen, daß mehrere Länder mit oder ohne Einbeziehung der kommunalen Unfallver- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. - sicherung eine gemeinsame landesunmittelbare Un- Widerspruch bei der SPD) fallkasse bilden können. Es gibt also keinen Anlaß, diesen Bereich grundsätz- Was im Bereich der Länder vorgesehen ist, wird lich zu reformieren. auch im Bereich der Kommunen ermöglicht werden. In diesem Licht ist auch der von der Bundesregie- Das geltende Recht sieht bei den Gemeinden die Bil- rung vorgelegte Entwurf eines Unfallversicherungs-- dung von Gemeindeunfallversicherungsverbänden Einordnungsgesetzes zu sehen. Er enthält keine und von Feuerwehr-Unfallkassen vor. Städte mit grundsätzliche Neuordnung des Unfallversiche- mehr als 500 000 Einwohnern können selbst zum rungsrechts; aber er sieht doch einige erwähnens- Versicherungsträger bestimmt werden. Für die kom- werte und zu begrüßende Verbesserungen vor. Eines munale Unfallversicherung in den Stadtstaaten der großen Probleme unseres Sozialrechts ist sicher- kann eine Unfallkasse errichtet werden, die gleich- lich die Tatsache, daß es trotz erheblicher Fortschritte zeitig Träger der Unfallversicherung des Landes ist. bei der Vereinheitlichung in den letzten Jahren noch Ist die Unfallversicherung im kommunalen Bereich immer in einer Vielzahl verschiedener Gesetze und nicht von einer gemeinsamen Unfallkasse für den Verordnungen geregelt ist, was dazu führt, daß es für Landes- und den kommunalen Bereich durchgeführt, den Bürger, für den es eigentlich geschaffen wurde, so sieht § 117 Abs. 1 im Gegensatz zur alten Rechts- unübersichtlich und unverständ lich bleibt. lage folgende Änderungen vor: Das von der Bundesregierung im Entwurf vorge- Erstens. Die Ausführungsbehörden der sechs legte Unfallversicherungs-Einordnungsgesetz bringt Städte, die zur Zeit zu Unfallversicherungsträgern mehr Klarheit und Rechtssicherheit in das gesetzli bestimmt sind, sollen in rechtlich selbständige Un- Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1995 4909 Manfred Grund fallkassen umgewandelt werden. Nach Auffassung Die Funktion von Kindertageseinrichtungen hat des Bundesrates sollen diese Unfallversicherungsträ- sich seit dem Inkrafttreten des Gesetzes über die Un- ger aber in den Gemeindeunfallversicherungsver- fallversicherung für Schüler und Studenten sowie bänden aufgehen. Kinder in Kindertageseinrichtungen im Jahre 1971 wesentlich verändert. Ebenso gibt es keine klare Zweitens. Es wird die Möglichkeit geschaffen, ei- Trennung zwischen Kinderga rten, Schule und Hort- nen gemeinsamen Träger für den Landes- und für betreuung. In den neuen Bundesländern werden den Kommunalbereich zu errichten. § 117 Abs. 3 hat Kinder vom zweiten Lebensjahr bis zum Schuleintritt insbesondere bei den Feuerwehr-Unfallkassen zu im Kindergarten be treut. Hortbetreuung ist an der Besorgnis geführt. Hier sollen im Interesse größerer Schule und auch nach der Schule wiederum im Kin- und leistungsfähigerer Einrichtungen neben einem dergarten oder durch freie Träger möglich. gemeindlichen Unfallversicherungsträger besondere Feuerwehr-Unfallkassen nicht mehr neu entstehen. Damit umfassen die Aufgaben der Tageseinrich- Die bei Inkrafttreten dieses Gesetzes bereits be- tungen Betreuung, Bildung und Erziehung der Kin- stehenden Feuerwehr-Unfallkassen können erhalten der. Der Hort hat inzwischen einen eigenständigen bleiben, können aber auch von den Landesregierun- Bildungs- und Erziehungsauftrag und arbeitet mit gen landesübergreifend vereinigt werden. den Schulen und mit den anderen Trägern zusam- men. Dieser § 117 wird von den Feuerwehr-Unfallkassen als Eliminierungsklausel empfunden. Anlaß zu dieser Durch altersgemischte Gruppen besteht die Mög- Befürchtung geben auch die Erfahrungen bei den lichkeit einer organisatorischen Einheit von Krippe, Gründungen von Feuerwehr-Unfallkassen in den Kindergarten und Hort. Eine eindeutige Abgrenzung neuen Ländern, so z. B. in Thüringen. Gleichbehand- gibt es nicht mehr. Deshalb wird der Unfallversiche- lung und Statuserhalt sind Anliegen auch der deut- rungsschutz auf alle Tageseinrichtungen - das sind schen Feuerwehren, gehen doch die Leistungen der Krippen, Horte und altersgemischte Einrichtungen - Feuerwehr-Unfallkassen über die der gemeindlichen erstreckt. Zu überlegen bleibt, ob nicht die Betreu- hinaus. Zudem sind die Leistungen der Feuerwehr ung von Kindern in Einrichtungen der Tagespflege in Unfallkassen im Bereich der Schadensverhinderung den Unfallversicherungsschutz mit einbezogen wer- und Prävention bereits heute vorbildlich. den kann. In der weiteren parlamentarischen Diskussion sollte Der Versicherungsschutz der Schüler wird auf die der § 117 nach Ansicht der deutschen Feuerwehren so Teilnahme an Betreuungsmaßnahmen vor und nach abgeändert werden, daß durch ihn der Bestand der dem Unterricht von in der Regel allgemeinbildenden Feuerwehr-Unfallkassen nicht angetastet wird. Schulen erweitert. Eine Durchführung dieser Maß- Neben formellen Verbesserungen entwickelt der Ent- nahmen im Zusammenwirken mit der Schule soll zu- wurf das Unfallversicherungsrecht in einigen Punkten künftig ausreichen. Ohne diesen Zusatz würde sich auch durch inhaltliche Veränderungen weiter. Lassen der Versicherungsschutz nur auf solche Maßnahmen Sie mich auf die wesentlichsten kurz eingehen. erstrecken, die im organisatorischen Verantwor- tungsbereich der Schule durchgeführt werden. Der Entwurf erweitert eine der drei Hauptaufga- ben der Unfallversicherung, den Präventionsauftrag, In diesem Zusammenhang muß § 21 Abs. 2 des um die Zuständigkeit für Erforschung und Abwehr Entwurfs erwähnt werden. Diese Vorschrift soll si- arbeitsbedingter Gesundheitsgefahren. Die staatli- cherstellen, daß die Aufspaltung im Schulbereich - chen Arbeitsschutzvorschriften, durch die Unfallver- Sachkostenträger als Unternehmer im Sinne der Un- sicherungsträger branchenspezifisch konkretisiert fallversicherung einerseits und Schulhoheitsträger und erweitert, können hierdurch im gesamten Be- andererseits - die Unfallverhütung nicht beeinträch- reich des betrieblichen Arbeitsschutzes erlassen wer- tigt. Eine Beeinträchtigung scheint mir gegenwärtig den. Staatssekretär Kraus hat hierauf schon hinge- mangels Abstimmung zwischen Sachkostenträger wiesen. Die Erweiterung der Unfallverhütungs- und Schulhoheitsträger nicht ausgeschlossen. pflicht stellt unbestritten einen Fortschritt dar und wird allgemein als geboten und sinnvoll erachtet. Soweit Maßnahmen zum Schutz der Schüler erfor- - derlich sind, die nicht dem äußeren Schulbereich - Nun mag die bisherige Darlegung recht theore- also Gebäude, Einrichtungen, sächliche Ausstattung tisch daherkommen und mehr den Verwaltungsfach- betreffend -, sondern dem inneren Schulbereich zu- mann, den Arbeitgeber und die Verbände betreffen. zuordnen sind, wird folgerichtig neben dem Sachko- Es gibt aber einen Bereich, der sehr anschaulich ist stenträger - das ist in der Regel die Kommune - auch und insbesondere Kinder und Jugendliche betrifft. der Schulhoheitsträger - das sind meistens die Län- Der Versicherungsschutz von Kindergartenkindern der - in die Präventionsverantwortung einbezogen. wird auf den Besuch aller Tageseinrichtungen mit Durch die Regelung erhöht sich im allgemeinen die kindergartenähnlichem Charakter ausgeweitet. In § 2 Rechtssicherheit; im besonderen wird es keine ge- des vorliegenden Entwurfes - Versicherung kraft Ge- spaltene Sicherheit an den Schulen geben. setzes - wird der Versicherungsschutz der nach der Reichsversicherungsordnung versicherten Personen- Die Erweiterung des Versicherungsschutzes auf gruppen, also Kindergartenkinder, Schüler und Stu- den Bereich der Kindertagesstätten belastet die Un- denten, auf Kinder in allen Tageseinrichtungen und fallversicherungsträger der öffentlichen Hand im auf die Teilnahme an bestimmten Betreuungsmaß- Landes- und im kommunalen Bereich mit etwa nahmen für Schüler erweitert. 27 Millionen DM jährlich. Diesem Mehraufwand ste- 4910 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1995 Manfred Grund hen nicht quantifizierbare Entlastungen gegenüber, Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Es spricht jetzt weil in diesem Bereich bereits heute der erweiterte die Abgeordnete Annelie Buntenbach. Versicherungsschutz auf Satzungsgrundlage oder auf Grund von Privatversicherungen besteht. Annelie Buntenbach (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Eine weitere positive Veränderung ist die vorgese- NEN): Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen hene jährliche Anpassung der Renten von Landwir- und Herren! Daß jetzt alte Vorschriften als SGB VII in ten und ihren Ehegatten. Die jährliche Anpassung die Systematik des Sozialgesetzbuches eingeordnet der Unfallrenten in der landwirtschaftlichen Unfall- werden sollen, ist natürlich grundsätzlich zu begrü- versicherung belastet die landwirtschaftlichen Unter- ßen. Aber der Vorschlag, den Sie uns vorgelegt ha- nehmen im Rahmen einer Umlage in Höhe von ben, ist, finde ich, nicht eben richtungsweisend. Er 5 Millionen DM bis 10 Millionen DM jährlich. Die läßt den innovativen Impuls, zu dem eine solche Ein- übrigen Neuregelungen sind nach Einschatzung der ordnung eine Chance bieten würde, vermissen. Ich

Bundesregierung kostenneutral. weiß - das habe ich heute schon mehrfach gehört -, diese Vorschriften sind über hundert Jahre alt. Dies alles ist zu begrüßen und wird allgemein auch begrüßt. Der Bundesrat hat den Entwurf zu Recht als Wir sollten die Vorlage während der Anhörung rechtssystematisch und sprachlich gelungen bezeich- und auch im Ausschuß unter drei Leitgedanken an- net. Um so unverständlicher erscheint deshalb seine sehen: erstens der Schutz und die Rechte von Arbeit- Ablehnung des vorliegenden Entwurfs. nehmern und Arbeitnehmerinnen; zweitens der Prä- ventionsgedanke, der auf jeden Fall noch klarer, als Auf eine Forderung des Bundesrates möchte ich es hier der Fall ist, in den Vordergrund gestellt wer- kurz eingehen, nämlich auf die nach einer gesetz- den muß; drittens Vorgaben an die Berufsgenossen- lichen Vermutung für die Kausalität zwischen einem schaften und Unfallversicherungsträger für eine berufsbedingten Schadensrisiko und seiner Verwirk- sinnvolle und effektive Organisa tion ihrer Aufgaben. lichung in einer Berufskrankheit in Verbindung mit der Verlagerung der Beweislast auf die Unfallver- Für die Beratung der Organisationsvorschläge im sicherungsträger. einzelnen werden wir in der Anhörung und im Aus- schuß Zeit haben. Auf sie möchte ich hier nicht ein- Ich habe Ihnen Geschichte und Ziele der gesetz- gehen. Ich möchte nur zu zwei Aspekten etwas sa- lichen Unfallversicherung eben kurz ins Gedächtnis gen. gerufen. Die Unfallversicherung hat im Falle eines Gesundheitsschadens - sei es durch Unfall, sei es Zu einer effektiven Organisa tion gehört, die vielen durch eine Berufskrankheit - den Zweck, die Unter- kleinen Berufsgenossenschaften und unterschied- nehmerhaftung, also eine Schadensersatzpflicht, ab- lichen Unfallversicherungen zu Zusammenschlüssen zulösen. Die Kausalität zwischen dem Verhalten ei- anzuregen. Dazu finde ich in Ihrem Entwurf keinen nes Schädigers und dem eingetretenen Schaden als Ansatz. Voraussetzung für Schadensersatz halte ich für ein sinnvolles und gerechtes Zuordnungsprinzip unseres Außerdem schwächen Sie mit Ihrem Entwurf die Rechtssystems - auch wenn das Risiko einer Scha- Träger der öffentlichen Hand. Damit meine ich nicht densersatzleistung in Form einer Unfallversicherung die Eigenunfallversicherungen der Großkommu- umgelegt wird. Soll ein solches Prinzip außer Kraft nen. Dazu könnte vielleicht eher Herr Gilges etwas gesetzt werden - das ist offensichtlich Ziel des Bun- sagen. Diese Versicherungen halte ich für anachroni- desrates -, sollte man gute Gründe dafür haben. stisch. Hier kontrollieren sich nämlich die Städte selbst. Sie haben sogar die Möglichkeiten der Er- Natürlich ist der Arbeitgeber Nutznießer der Ar- zwingung über Bußgelder aus ihren Satzungen ge- beitsleistung des Arbeitnehmers. Er zieht seinen un- strichen. Nach Einschätzung von Experten und Ex- ternehmerischen Gewinn aus dieser Arbeitsleistung, pertinnen lassen in diesem Bereich sowohl die Kon- im Grunde also auch aus den Risiken, die der Arbeit- trolle als auch die Prävention oft zu wünschen übrig. nehmer eingeht. Dieser Interessenlage wird der Ent- wurf der Bundesregierung aber schon dadurch voll- Warum Sie aber in Ihrem Entwurf die gemeind- kommen gerecht, daß er zugunsten der Arbeitneh-- lichen Unfallversicherungsträger so schwächen wol- mer erhebliche Beweiserleichterungsregelungen zu len, ist mir unverständlich. Sie nehmen ihnen die den schon bestehenden eingeführt hat. Die Tatsache, Möglichkeit, Betriebe mit kommunaler Beteiligung daß sich die Sozialpartner über die Notwendigkeit weiterzuversichern, von denen es nach den Privati- der schnellstmöglichen Einführung dieser Verbesse- sierungswellen in den Kommunen inzwischen viele rung des Arbeitnehmerschutzes vollkommen einig gibt - nicht nur Spaßbäder. Wie insgesamt bei der sind, sollte deutlich genug zeigen, Privatisierung werden hier die Rosinen aus dem Ku- chen gepickt. Für die kommunalen Träger bleibt, (Konrad Gilges Aber die Forderun [SPD]: was sonst keiner wi ll. gen gehen weit darüber hinaus!) Das Ergebnis wäre eine „AOK-isierung" dieser daß eine Verzögerung dieses Entwurfs aus takti- Träger mit dem bekannten Ergebnis einer Verteue- schen Gründen nicht zu verantworten wäre. rung für die Kommunen und einer Verschlechterung Ich danke Ihnen. der Leistungen gerade im Präventionsbereich. Wenn Sie, meine - inzwischen sehr wenigen - Damen und (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Herren von den Regierungsfraktionen, ständig von Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1995 4911

Annelle Buntenbach der Notwendigkeit des Sparens im öffentlichen Das heißt, wir brauchen dringend eine Umkehr Dienst sprechen, dann dürfen Sie nicht gleichzeitig der Beweislast zugunsten der Betroffenen. Eine Strukturen schaffen, die ihn zwangsläufig teurer ma- Krankheit ist dann eine Berufskrankheit, wenn im chen. Einzelfall die betriebliche Verursachung wahrschein- lich ist. Die Belastungen im Betrieb haben sich für die Be- schäftigten in den letzten Jahren rasant verändert Wir brauchen außerdem eine entschiedene Demo- und verschärft, z. B. ständige Umwälzungen in der kratisierung des unwürdigen Verfahrens. Die Be- Technik. Die Kernbelegschaften arbeiten unter im- troffenen sind nicht Begutachtungsobjekte von de- mer größer werdendem Streß - flexibel, versteht sich - mokratisch kaum legitimierten Sachverständigengre- und leisten eine irrsinnige Menge an Überstunden. mien, sondern sie haben das Recht auf umfassende Neben den Kernbelegschaften gibt es immer mehr Akteneinsicht, auf eine betriebliche Vertrauensper- Arbeitsverhältnisse, in denen Menschen bei großer son im Verfahren, Betriebsrä tin oder Sicherheitsbe- Personalfluktuation nur noch wenige Stunden im Be- auftragte. Gutachter, die das Vertrauen der Betroffe- trieb sind und meist monotone Zuarbeit verrichten. nen in grober Weise verletzen, muß man ablehnen Eine solche Situation stellt besonders hohe Anforde- können. rungen an den Arbeits- und Unfallschutz. Wenn wir mit den gesetzlichen Vorgaben zu vernünftigen Ar- Viele Verfahren ziehen sich endlos in die Länge zu beitsbedingungen beitragen wollen, die nicht krank Lasten der Kranken, die oft jahrelang nicht wissen, machen, dann müssen die Unfallversicherungsträger wie es für sie weitergeht. Warum werden in diesem weit stärker auf den Gedanken der Prävention ver- Gesetz keine Fristen festgeschrieben, klare und ver- pflichtet werden. Dazu fällt uns noch einiges mehr pflichtende Vorgaben, zu welchen Terminen die Ver- ein, als in diesem Entwurf steht; das werden wir bei fahren abgewickelt werden müssen? der Anhörung vorschlagen. Wir werden hierzu entsprechende Vorschläge in Um den Arbeitsschutz umfassend zu regeln, brau- den Ausschußberatungen vorlegen. Ich teile keines- chen wir umgehend ein Arbeitsschutzrahmengesetz. wegs die Einschätzung der Bundesregierung, daß Dieses Projekt ist der Regierung in der letzten Legis- dieses Anerkennungsverfahren so bleiben muß. laturperiode mißglückt. Wenn Sie, Herr Kraus, jetzt daraus, daß Sie das nicht geschafft haben und daß (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, unklar ist, wann Sie das hinbekommen, schließen, bei der SPD und der PDS) daß mehr Arbeitsschutz ins SGB VII muß, dann heißt das, sich von vornherein mit der schlechteren und kleineren Lösung zufriedenzugeben. Wir werden Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Es spricht jetzt weiter für die große Lösung eintreten. die Abgeordnete Gisela Babel. Die Spitze des Eisbergs der arbeitsbedingten Erkrankungen sind die Berufskrankheiten, die im Dr. Gisela Babel (F.D.P.): Frau Präsidentin! Meine SGB VII geregelt werden sollen. Die Anerkennungs- Damen und Herren! Vorweg vielleicht eine kleine verfahren für Berufskrankheiten sind bislang eine Bemerkung: Die Diskussion zu diesem Gesetzent- Katastrophe gewesen. Daran ändert auch der neue wurf scheint mir ein Modellfall zu sein für das, was Entwurf leider nichts. Es bleibt eine unglaubliche Zu- die Parlamentsreform vorschlägt, nämlich eine öf- mutung für die Opfer, sich durch dieses langwierige fentliche Ausschußsitzung. Die Besetzung hier ist und demütigende Verfahren zu kämpfen - mit einer fast eine öffentliche Ausschußsitzung, in der wir den ganz geringen Chance auf Erfolg. Entwurf intern beraten könnten. Fast 95 % der Anträge werden abgelehnt. Die Ver- (Konrad Gilges [SPD]: Wobei die F.D.P. fahren sind eindeutig darauf ausgerichtet, Kosten ab- schlecht besetzt ist! Im Ausschuß sind Sie zuwälzen, und nicht darauf, den Opfern Gerechtig- immer zu zweit, hier nur mit einem!) keit widerfahren zu lassen. Es wird den Opfern der eindeutige Beweis abverlangt, daß ihre Krankheit - Sie werden den Grund, warum der Kollege nicht durch Arbeit entstanden ist. Sie wissen alle, daß das hier ist, wahrscheinlich schon wissen. kaum mehr möglich ist, wenn Sie seit Ihrer Geburt den Betrieb schon einmal verlassen haben. Men- (Abg. Albert Deß [CDU/CSU] und Abg. schen mit Asbestose wird unterstellt, sie hätten zu- Dr. Norbert Blüm [CDU/CSU] nehmen in viel geraucht, obwohl jeder inzwischen um die Fol- den Reihen der F.D.P. Platz) gen der Arbeit mit Asbest weiß. Der heute behandelte Entwurf eines Unfallversi- Jetzt haben wir die Chance, aus dem offensichtli- cherungs-Einordnungsgesetzes chen Zynismus, den das bisherige Verfahren bedeu- tet, Konsequenzen zu ziehen. Wir haben die Chance, (Konrad Gilges [SPD]: Sie haben einen aus dem Elend und den Erfahrungen der Asbest- neuen F.D.P.-Kollegen!) kranken zu lernen. Die Bilder aus Bremen und auch das Leid der aus Lösemitteln Krankgewordenen ste- - ich begrüße Sie; es gibt immer wieder Ehrenlibe- hen uns noch deutlich vor Augen. Dies sind eindeu- rale - hat einen harmlosen Namen, kann aber in den tig Berufskrankheiten. Gesundmachen kann die Op- parlamentarischen Beratungen des Bundestages und fer niemand mehr. Aber ihnen steht doch zumindest vielleicht gerade im Bundesrat an einige gefährliche eine Rente zu. Klippen geraten. 4912 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1995 Dr. Gisela Babel Zunächst geht es nur darum, die veralteten und Ein einheitliches Arbeitsschutzgesetzbuch kann es teilweise verstreuten Vorschriften aus der Reichsver- schon deswegen in Deutschland niemals geben, weil sicherungsordnung in ein neues SGB VII zu überfüh- der Arbeitsschutz maßgeblich in den Unfallverhü- ren. tungsvorschriften, d. h. im Satzungsrecht der Berufs- genossenschaften, steht. Das soll so bleiben. Ein Ar- Die F.D.P. steht grundsätzlich zu dem Entwurf der beitsschutzgesetz würde notwendig immer nur Bundesregierung. Für uns sind aber einige Punkte Stückwerk bleiben und hinter der Realität herlaufen. verbesserungsfähig und verbesserungswürdig. Die Forderungen, die insbesondere von den Ländern (Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Keine Ah kommen, sind für uns nicht akzeptabel. Die F.D.P. nung!) wird nicht zulassen, daß die Rechte der Berufsgenos- Die Erweiterung des Präventionsauftrages zugun- senschaften gegenüber den staatlichen Gewerbeauf- sten der Berufsgenossenschaften ist grundsätzlich sichtsämtern geschwächt werden. Unter dem Deck- wünschenswert. Es ist ja schon merkwürdig, daß die mantel der Förderung des Föderalismus haben die Berufsgenossenschaften nur im Bereich der Sicher- Länder eine Vielzahl von Vorschlägen zur Zusam- heitstechnik und bei den anerkannten Berufskrank- menarbeit der Berufsgenossenschaften und der Ge- heiten gesetzliche Zuständigkeiten haben, nicht aber werbeaufsichtsämter gemacht. beim Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer generell. Eins ist allen Vorschlägen gemeinsam: Die Kosten Aber, meine Damen und Herren, ich sehe hier bleiben an den Berufsgenossenschaften hängen. Die auch Gefahren. Aus der Pra xis wissen wir, daß die Länder bekommen bei minimalem organisatorischen, Berufsgenossenschaften schon heute weitgehend personellen und finanziellen Aufwand einen maxi- Gesundheitsvorsorge zugunsten der Arbeitnehmer malen Einfluß auf den Arbeitsschutz und auf die betreiben, auch ohne gesetzliche Reglementierung. Arbeit der Berufsgenossenschaften. Diese A rt der Staatswirtschaft - ich wundere mich immer über die (Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Aus wel Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, weil sie dem cher Praxis?) Staat in allen Dingen mehr als allen anderen ver- - Ist ja in Ordnung. trauen - ist mit der F.D.P. nicht zu machen. Die gesetzliche Festschreibung dieser Ordnung Die Berufsgenossenschaften arbeiten in vielen Be- darf nun nicht dazu führen, daß sich neue Gremien, reichen effizienter als die unter Personalschwund lei- beauftragte Ausschüsse, bilden, die die Unterneh- dende staatliche Gewerbeaufsicht. men mit immer neuen Vorschriften und Reglementie- rungen im Zuge einer ausufernden Präventionstätig- keit überziehen. Neue Bürokratie darf nicht entste- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Gestatten Sie hen. eine Zwischenfrage Ihres Kollegen Gilges? (Zuruf von der SPD: Aber besserer Gesund heitsschutz!) Dr. Gisela Babel (F.D.P.): Nein, nicht mitten im Satz Frau Präsidentin. Ich möchte noch ein bißchen wei- Diese Gefahr, meine Damen und Herren, müssen terreden. wir sehen, denn Prävention ist ein weites Feld, auf dem Sie beinahe jede Maßnahme rechtfertigen kön- (Konrad Gilges [SPD]: Sie können Ihren nen. Auch gilt es - ich sage das warnend -, mehr fi- Satz zu Ende bringen!) nanziellen Aufwand zu vermeiden. Wir sind alle in der Diskussion über die Sicherung des Standortes - Vielen Dank, Herr Gilges; aber ich rede doch wei- Deutschland, und wir können angesichts der damit ter. verbundenen Aufgaben nicht allein die EU-Richt- Diese betriebsnahe Aufsicht gilt es zu stärken und linien aus den 80er Jahren zum Maßstab nehmen. nicht den Einfluß der Länder. Ich mache keinen Hehl (Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Das heißt daraus, daß auch der Regierungsentwurf das Pro- weniger Schutz und weniger Gesundheit blem der Zusammenarbeit zwischen Berufsgenos- am Arbeitsplatz!) senschaften und der Gewerbeaufsicht noch nicht- zu- friedenstellend löst: Die F.D.P. will ebenso wie der Inhaltliche Vorbehalte melde ich auch gegenüber Entwurf Doppelarbeit und widersprüchliche Anwei- den Vorschriften an, die künftig die Anerkennung sungen vermeiden. Aber die jetzt von der Bundesre- von Berufskrankheiten regeln. gierung erneut vorgeschlagene Einrichtung von län- Eigentlich ist nach der Lektüre des Gesetzentwur- derbezogenen Stellen zur Koordinierung der Arbeits- fes klar: Die Möglichkeiten der Anerkennung von schutzmaßnahmen haben wir schon im Arbeits- Berufskrankheiten werden ausgeweitet. Diese Er- schutzrahmengesetz in Frage gestellt, und wir wer- weiterungen mögen oft nur Einzelfälle be treffen und den auch diesmal in der Koalition nacharbeiten müs- dort auch gerechtfertigt und wünschenswert sein. Er- sen. fahrungsgemäß sind aber gerade Einzelfallentschei- Es wird auch nicht das von den Ländern geforderte dungen in diesem Bereich mit einer langfristigen Prä- Arbeitsschutzgesetzbuch geben. Für den Arbeits- zedenzwirkung verbunden, und diese sind nicht zu schutz ist wichtig, was drinsteht, nicht wo es steht. unterschätzen. Im Interesse eines stabilen und finan- ziell tragfähigen Unfallversicherungssystems sind (Peter Dreßen [SPD]: Es steht doch zu we gerade diese Vorschriften einer besonders kritischen nig drin, Frau Babel!) Bewertung zu unterziehen. Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1995 4913

Dr. Gisela Babel Ausdrücklich zu begrüßen ist die Erweiterung des Sie als Regierungskoalition haben es zu verantwor- Versicherungsschutzes für Kinder in Tageseinrich- ten, daß Sie Ihre Schularbeiten in der 12. Legisla- tungen. Rund 900 000 Kinder kommen hierdurch in turperiode nicht gemacht haben und damit die natio- den Genuß einer Unfallversicherung. Das ist sicher- nale Umsetzung der EU-Richtlinie diesbezüglich im- lich ein allseits begrüßenswerter Schritt, - mer noch aussteht. (Beifall bei der PDS) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Außerdem sollten wir als Sozialpolitikerinnen und Dreßen? Sozialpolitiker einen erhöhten Wert auf Prävention legen und nicht warten, bis das Kind in den Brunnen gefallen ist. Dr. Gisela Babel (F.D.P.): - wenn ich den Satz zu Ende führen darf, Frau Präsidentin -, zumal der Ge- (Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Es ist ja setzentwurf nach Angaben der Bundesregierung alles so schlecht in Deutschland! Ein furcht weitgehend kostenneutral ausgestattet werden barer Zustand!) konnte. Dann ist es bekanntlich schon zu spät. Bitte schön. (Beifall bei der PDS) Peter Dreßen (SPD): Frau Dr. Babel, ist Ihnen be- Im Grundsatz begrüßt die PDS das Vorhaben, nun kannt, daß die Berufsgenossenschaften fast nur mit endlich auf dem Gebiet der Unfallversicherung das juristischen Mitteln zu zwingen sind, eine Berufs- geltende Recht in ein Sozialgesetzbuch einzuordnen. rente anzuerkennen? Selbst wenn es schon Präze- Hier wesentliche Teile übersichtlicher und transpa- denzfälle gibt, wird immer wieder mit juristischen renter zu gestalten war schon längst fällig. Auseinandersetzungen angefangen. Ist Ihnen diese Tatsache überhaupt bekannt? Für unterstützenswert halten wir das Anliegen, den Bereich der Prävention auszudehnen und den Versicherungsschutz auszuweiten sowie Maßnah- Dr. Gisela Babel (F.D.P.): Ich weiß natürlich, daß men zur Verbesserung der beruflichen und sozialen wir diese Auseinandersetzungen haben. Aber die Rehabilitation zu verstärken. Frage ist ja außerordentlich schwierig zu beantwor- ten, wieweit eine Erkrankung, gerade wenn sie sich Als problematischer sehen wir die Regelungen zur auch im psychischen Bereich zeigt, berufsbedingt, Einschränkung des Leistungsrechts an, insbesondere arbeitsplatzbedingt ist, von der Arbeitsstätte herrührt die Einführung von Festbeträgen für Arznei-, Ver- oder wieweit sie andere Ursachen hat. Sie gehen da- bands- und Hilfsmittel. von aus, daß Arbeit immer krank macht. Vor allem aber vermissen wir eine enge Verbin- (Konrad Gilges [SPD]: Nein, nein! Davon dung des Unfallversicherungsrechts mit den Vor- gehen wir nicht aus!) schriften und Regelungen des Arbeitsschutzes. Die Notwendigkeit einer derart engen Verzahnung er- Davon gehe ich nicht aus, sondern ich gehe davon gibt sich schon aus den konkreten Fakten und Zah- aus, daß es sehr viele andere Umstände gibt, die zu len. Ich denke zunächst an die be trächtlichen Ko- Erkrankungen führen können. Bei der Auseinander- sten, die Betriebe für krankheits- und unfallbedingte setzung, wann eine Berufskrankheit vorliegt, die ja Fehlzeiten aufzubringen haben. dann - wie auch Sie wissen - allein von den Arbeit- gebern zu tragen ist, sollten Sie, glaube ich, große Wenn über 95 % aller am Halte-, Stütz- und Bewe- Sorgfalt anwenden. gungsapparat Erkrankten an sogenannten degenera- (Beifall bei der F.D.P.) tiven Formen leiden, die überwiegend auf Verschleiß und Überbeanspruchung zurückzuführen sind und Die F.D.P. hofft aber - wie alle Vorredner -, daß wir in bei einer entsprechenden Arbeitsschutzregelung und den anstehenden Beratungen fruchtbare Gespräche- Arbeitsplatzgestaltung in großem Umfang zu vermei- führen werden. den wären, spricht das für die Bedeutung von Maß- nahmen des Arbeitsschutzes zur Unfallvermeidung. Ich danke für die Aufmerksamkeit. Unterlassener Arbeitsschutz erhöht in der Tat die (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Lohnnebenkosten. Beachtet werden muß auch, daß die höchste Un- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat fallhäufigkeit in Betrieben mit 20 bis 200 Beschäftig- jetzt die Abgeordnete Pe tra Bläss. ten anzutreffen ist. Dort wird gegen die Festlegun- gen des Arbeitssicherheitsgesetzes am meisten ver- stoßen. Petra Blass (PDS): Frau Präsidentin! Liebe Kolle- ginnen und Kollegen! Frau Dr. Babel, ich finde es Unverständlich ist, daß erneut für die Beamten schon erstaunlich, wie lax Sie hier mit Vorhaben der Sonderregelungen zur Anwendung gelangen sollen. Regierungskoalition für diese Legislaturperiode um- Damit wird nicht nur für eine Gruppe Sonderrecht gehen. Ich meine Ihre Anmerkungen zum Arbeits- geschaffen, sondern auch die Chance für eine Ver- schutzrahmengesetz. einheitlichung des Rechts vertan. Im Sinne der 4914 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1995

Petra Bläss Gleichbehandlung von Arbeiterinnen und Arbeitern, unterschätzten Schädigung der Gesundheit. Des- Angestellten und Beamten fordern wir, daß die Be- halb, meine ich, muß der Schutz der Arbeitnehmer amten in die gesetzliche Unfallversicherung einbezo- vor Gesundheitsrisiken als Instrument präventiver gen werden. Sozialpolitik begriffen und ausgebaut werden. Die Verhütung von Gesundheitsrisiken kann sowohl be- Meine Damen und Herren, wiederum hat es die triebliche als auch überbetriebliche Sozialkosten sen- Bundesregierung versäumt, eine wirkliche Struktur- ken. Ich denke, daran müssen wir alle ein Interesse reform zur Diskussion vorzuschlagen. Mit dem uns haben. vorliegenden Entwurf für die Einordnung des Unfall- versicherungsrechts in das Sozialgesetzbuch sollen (Beifall bei der SPD und der PDS sowie der die heutigen organisatorischen Strukturen der Un- Abg. Margareta Wolf [Frankfurt] [BÜND fallversicherungsträger fast unverände rt übernom- NIS 90/DIE GRÜNEN]) men werden. Kollegin Buntenbach hat bereits auf die Folgen für die Kommunen aufmerksam gemacht. Ich Ein Wort zum Berufskrankheitenrecht: Das gel- denke, hier sollten wir insbesondere mit unseren tende Berufskrankheitenrecht läßt zu, daß Arbeits- Kommunalpolitikerinnen und Kommunalpolitikern in schutzmaßnahmen unterbleiben, weil wegen der Dialog treten. Damit wird die einmalige Chance zu überzogenen Beweisanforderungen das Vorliegen einer Reform der Organisationsstrukturen noch nicht von Berufserkrankungen geleugnet und die Notwen- einmal gedanklich wahrgenommen. Noch aber ha- digkeit, etwas zu verändern, bestritten werden kann. ben wir die Möglichkeit, hier tätig zu werden. Der Arbeitnehmer - bzw. die Arbeitnehmerin - ist Ich danke. in der Situation der zweifachen Beweislast. Er muß erstens Beweis führen, daß ein Zusammenhang zwi- (Beifall bei der PDS) schen seiner Krankheit, seiner Arbeit, den Arbeitsbe- dingungen und den Arbeitsmitteln besteht, und zweitens beweisen, daß die Erkrankung dadurch Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat verursacht wurde. Wie will, wie kann er dies bewei- jetzt die Kollegin E rika Lotz. sen? Ohne Zustimmung des Arbeitgebers kann er keine Untersuchungen oder Messungen am Arbeits- Erika Lotz (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kollegin- platz durchführen, und ohne Ergebnisse kann er kei- nen! Liebe Kollegen! Mit dem uns vorliegenden Ent- nen Beweis führen. wurf der Bundesregierung sind zweifellos Weichen Die offizielle von 1993 richtig gestellt. Aber - das sage ich auch - es hätten Berufskrankheitenstatistik ruhig ein paar mehr Weichen sein können. weist rund 109 000 Berufskrankheitsanzeigen und 6 491 entschädigte Fälle aus. Nach meiner Ansicht Frau Babel, Ihrer Schilderung entnehme ich, daß spiegelt dies nur einen geringen Teil des tatsächli- die Welt in den Betrieben in Ordnung ist. Ich denke, chen Umfangs der gesundheitlichen Schädigungen daß dem nicht so ist. in der Arbeitswelt wider. Gesundheitsschädigende Arbeitsbedingungen sind noch immer die Hauptur- Es ist hinreichend bekannt, daß eine Vielzahl von sache für Krankenstand, Schwerbehinderung, Früh- Arbeitsstoffen insbesondere zu Krebserkrankungen, invalidität und Frühsterblichkeit. Erkrankungen der Atemwege, des Nervensystems - um nur einige zu nennen - oder des Immunsystems Uns ist es ein Anliegen, daß der Arbeitnehmer ge- und zu Allergien führen. genüber den Berufsgenossenschaften gestärkt wird. Wenn der Arbeitnehmer beweisen soll, daß die Fak- Nach wie vor existieren physikalische Belastungen toren, die zu seiner Erkrankung führten, arbeitsbe- der Arbeitnehmer in Form von Lärm, Vibrationen, dingt sind, ist er einfach in der schwächeren Posi tion. Strahlen, Hitze, Kälte und beeinträchtigen in vielfäl- tiger Weise die Gesundheit. Nach wie vor erleiden (Konrad Gilges [SPD]: Sehr richtig!) Arbeitnehmer körperlichen Verschleiß durch Diejenigen, die bezahlen sollen, haben in den Ver- schwere Arbeit, Zwangshaltungen und einseitige Be- fahren - so ist es jetzt halt - einfach den längeren lastungen. Dies führt zu Erkrankungen des Bewe- Atem. Wir sehen in der Beweislastumkehr eine Ver- gungs- und Stützapparates. - besserung für die Situation der Arbeitnehmer. Wenn Sie sich einmal Statistiken der Rentenversi- (Beifall bei der SPD) cherungsträger in bezug auf Reha-Anträge ansehen, finden Sie bestätigt, daß die Erkrankung des Bewe- Wir denken, daß durch eine Beweislastumkehr zu- gungsapparates fast 50 % der Antragsgründe aus- gunsten der Arbeitnehmer notwendiger Handlungs- macht. Auch Termindruck, Arbeitshetze, nervliche druck zur Ergreifung präventiver Maßnahmen bei und physische Überbeanspruchungen durch eine auf Herstellern von Produkten und Anlagen erzeugt Leistungsausschöpfung abzielende Arbeitsorganisa- wird. tion, Schicht- und Nachtarbeit verursachen Herz- Kreislauf-Erkrankungen und führen zu Störungen Mir wurde dieser Tage wieder einmal ein Fall ge- der menschlichen Beziehungen und zur Entsolidari- schildert, bei dem ein Arbeitnehmer nach einer Er- sierung der Arbeitnehmer. krankung, die durch Lösemittel verursacht wurde, nach achtjähriger Prozessiererei gerade einmal Mehrfachbelastungen durch eine Vielzahl dieser 10 000 DM Abfindung erhalten hat. Vier weitere Pro- Risikofaktoren, denen die meisten arbeitenden Men- zeßjahre mußten vergehen, damit der Mann eine schen ausgesetzt sind, sind Ursache einer bisher weit Rente erhielt. Betriebsräte und betriebliche Praktiker Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1995 4915

Erika Lotz können Ihnen viele Fälle schildern - mir werden sie Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Ich schließe da- geschildert -, bei denen Kläger oder Klägerinnen das mit die Aussprache. Ende des von ihnen angestrengten Prozesses nicht Der Ältestenrat schlägt Überweisung des Gesetz- erlebten. entwurfs auf den Drucksachen 13/2204 und 13/2333 Ein kritischer Punkt ist dabei aus unserer Sicht das an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse Gutachterwesen. Manche bezeichnen es als Gutach- vor. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist terunwesen. nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlos- sen. (Zustimmung des Abg. Konrad Gilges [SPD]) Ich rufe die Tagesordnungspunkte 8a und 8 b auf: In Berufskrankheitenverfahren ist dies ein großer a) Erste Beratung des von der Bundesregierung Schwachpunkt. Gutachter müssen aus unserer Sicht eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über zwingend neutral sein und dürfen nicht Büttel einer zwingende Arbeitsbedingungen bei grenz- Partei sein. überschreitenden Dienstleistungen (Arbeit- nehmer-Entsendegesetz - AEntG) (Beifall bei der SPD) - Drucksache 13/2414 — Deshalb ist es unbedingt notwendig, daß es auf Überweisungsvorschlag: keinen Fall eine Verbindung des Gutachters mit dem Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung (federführend) Betrieb, in dem sozusagen die Beweiserhebung er- Rechtsausschuß folgt, geben darf, auch nicht aus früherer Tätigkeit. Ausschuß für Wirtschaft Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten (Beifall bei der SPD) Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Ausschuß für die Angelegenheiten der Europäischen Union Klare Regelungen müssen dies verhindern, und für b) Erste Beratung des von den Abgeordneten erkrankte Arbeitnehmer darf auch nicht der An- Ottmar Schreiner, Hans Büttner (Ingolstadt), schein bleiben, daß ein Verfahren zur Anerkennung Rudolf Dreßler, weiteren Abgeordneten und einer Berufskrankheit einem Lotteriespiel gleicht. der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs Ich denke, auch die Berufskrankheitenliste muß eines Gesetzes zur Angleichung der Arbeits- dringend weiterentwickelt werden und sich auf die bedingungen bei der Entsendung von Arbeit- neuen Gefahrenstoffe einlassen. nehmern (Entsendegesetz) - Drucksache 13/2418 — In dem Gesetzentwurf - das will ich durchaus aner- kennen - ist die Lücke des Versicherungsschutzes Überweisungsvorschlag: kraft Gesetzes für Kinder während des Besuchs von Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung (federführend) Rechtsausschuß Tageseinrichtungen geschlossen worden - eine For- Ausschuß für Wirtschaft derung, die schon lange erhoben wurde. Klargestellt Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten werden sollte allerdings, daß auch die Kinder versi- Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau chert sind, die p rivate Tageseinrichtungen besuchen. Ausschuß für Angelegenheiten der Europäischen Union Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für Lassen Sie mich noch einen Punkt ansprechen. Es die gemeinsame Aussprache anderthalb Stunden gibt verschiedene Bestrebungen aus der Wirtschaft, vorgesehen. - Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist das Wegeunfallgeschehen aus dem Versicherungs- so beschlossen. schutz der gesetzlichen Unfallversicherung heraus- zunehmen. Geben Sie diesem Druck nicht nach! Ent- Ich eröffne die Aussprache. Das Wort für die Bun- gegen Äußerungen der Wirtschaft sehen wir durch- desregierung hat zunächst Herr Bundesminister aus Möglichkeiten der Unternehmen, das betriebli- Blüm. che Wegeunfallgeschehen zu beeinflussen. Festzu- halten ist ganz einfach, daß Wegeunfälle im langfri- Dr. Norbert Blüm, Bundesminister für Arbeit und stigen Vergleich zurückgehen. Dies hat etwas mit Sozialordnung: Frau Präsidentin! Meine Damen und der Prävention der Betriebe und auch der Berufsge- Herren! Wir brauchen das Entsendegesetz. Wir wol- nossenschaften zu tun. len Freizügigkeit und fairen Wettbewerb auf dem eu- Kolleginnen und Kollegen, in den weiteren Bera- ropäischen Binnenmarkt. Aber Lohndumping ist tungen, in der Anhörung wird die SPD-Fraktion ihre nicht der Stoff, aus dem Zustimmung zu Europa ent- Position verdeutlichen und reagieren. Unfallversiche- steht. rungen und Arbeitsschutz müssen Leben und Ge- Es gilt der uralte Tarifgrundsatz: Gleicher Lohn bei sundheit der arbeitenden Menschen auf einem mög- gleicher Arbeit am gleichen Arbeitsort. Das ist ein lichst hohen Niveau schützen, bewahren und för- elementares Gesetz der Tarifautonomie. Ohne diesen dern. Arbeitnehmer müssen grundsätzlich den glei- Grundstock funktioniert ein Tarifvertrag überhaupt chen Anspruch auf Gesundheitsschutz haben wie die nicht. übrige Bevölkerung. Lassen Sie uns daran arbeiten! Der Durchschnittslohn auf dem Bau beträgt in (Beifall bei der SPD und bei der PDS sowie Deutschland 23,09 DM, in Großbritannien 14,43 DM, bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ in Portugal 3,97 DM. Soll an der gleichen Baustelle DIE GRÜNEN) einer für 4 DM und ein anderer für 23 DM arbeiten? 4916 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1995 Bundesminister Dr. Norbert Blümm Die ausländische Firma nützt die deutsche Infra- Das Entsendegesetz ist nicht ausländerfeindlich; struktur, die auch mit den Steuermitteln der deut- das will ich noch einmal ausdrücklich festhalten, da- schen Arbeitnehmer gebaut wurde. Das ist der Un- mit wir hier nicht in eine falsche Richtung gedrängt terschied zu Importprodukten, die mit billigen Löh- werden. Die Arbeitnehmer aus den Ländern der Eu- nen hergestellt werden. ropäischen Union können hier arbeiten. Wir haben einen europäischen Sozialraum. Niemand wi ll zuma- Wer dem deutschen Bauarbeiter portugiesische chen. Niemand will die Rolläden heruntermachen Löhne zumutet, muß ihm auch portugiesische Preise und national absperren. anbieten. (Zuruf von der SPD: Richtig!) Aber wir kämpfen für einen Wettbewerb. Man kann keinen Wettlauf veranstalten, bei dem der eine Der portugiesische Arbeiter kann mit seinem Lohn mit Turnschuhen läuft und der andere mit Stiefeln. bei portugiesischen Preisen seine Familie ernähren. Darum geht es uns: um den fairen Wettbewerb, um Der deutsche Bauarbeiter kann mit portugiesischen die faire Chance. 23 DM Stundenlohn gegen 4 DM Löhnen nicht seine deutsche Familie ernähren. Wenn Stundenlohn, das ist kein fairer Wettbewerb. zwei Maurer an der gleichen Mauer mit zwei unter- schiedlichen Löhnen arbeiten, der eine für 4 DM, der Freizügigkeit auf dem europäischen Binnenmarkt andere für 23 DM, wird entweder der eine urn seinen - ich fürchte, das haben manche noch gar nicht be- gerechten Lohn be trogen oder der andere - was griffen - ist nur an einen Firmensitz in der Europä- wahrscheinlicher ist - arbeitslos. ischen Union gebunden. Albanische Unternehmen brauchen nur einen Firmensitz in Saloniki, um hier Derzeit haben wir 150 000 legal in Deutschland ar- mit Billiglohnkolonnen anzurücken. Wer ein Firmen- beitende ausländische Kollegen auf dem Bau, gleich- schild in Portugal hat, kann mit Bauarbeitern aus al- zeitig haben wir 140 000 deutsche Bauarbeiter, die ler Herren Lander hier anreisen und arbeiten. Warum arbeitslos sind. sollten sich die Polen noch um Werkvertragskontin- (Ottmar Schreiner [SPD]: Was lehrt uns das? gente bemühen? - Unkontingentiert, ohne Entsende- Was macht die Bundesregierung?) richtlinie brauchen sie nur einen Firmensitz in einem Land der Europäischen Union. Dann brauchen sie - Eine Entsenderichtlinie. Wenn Sie mir noch ge- keine Werkverträge mehr. Dann können sie sich un- nauer zuhören, Herr Schreiner, werden Sie gleich hö- kontingentiert hier niederlassen. ren, was sie macht. Ich frage mich: Warum gibt es eigentlich Asylge- (Peter Dreßen [SPD]: Aber nicht das, was setzgebung? - Das Asylgesetz verliert seine Steue- Sie vorgelegt haben! Denn das ist schon rungsfunktion gegenüber Wirtschaftsflüchtlingen. Es Makulatur!) gibt eine Völkerwanderung. Wir können aber nicht 100 000 Arbeitslosengeldbezieher kosten 3 Mil- die Armutsprobleme lösen. Das Asylgesetz soll poli- liarden DM. Bei 100 000 Arbeitslosen entsteht ein tisch Verfolgte retten, aber es war nie für Wirtschafts- Steuerausfall von 1 Milliarde DM. 100 000 Arbeits- flüchtlinge gedacht. Aber ohne Entsendegesetz lose bedeuten einen Beitragsausfall in der Sozialver- brauchen sie keine Asylgesetzgebung. Sie können sicherung von 2 Milliarden DM. Und die Pleitewelle über ein Firmenschild in Europa von überall herkom- rollt über die deutschen Baufirmen. Die Insolvenzen men. haben im Westen seit 1992 um 24 % zugenommen, im Osten von 1994 auf 1995 um 90%. Ich verstehe ja die Not vieler Menschen. Ich ver- stehe das sehr gut. Nur können wir die Armutspro- (Konrad Gilges [SPD]: Was lehrt uns das?) bleme der Welt nicht in Deutschland lösen. Die Ar- Ohne Entsendegesetz schaffen wir ein dreifaches beitsplätze müssen dorthin, wo die Menschen zu Programm: Erstens ein Programm zur Förderung der Hause sind. Arbeitslosigkeit, zweitens ein Programm von Firmen- zusammenbrüchen und drittens ein Programm zur Die europäische Entsenderichtlinie wird umso chancenreicher, je mehr Länder die na tionale Not- Förderung von Europaskepsis. Diesem dreifachen bremse ziehen. Unsere Regelung steht nicht einer Förderungsprogramm können wir nicht tatenlos zu- europäischen Lösung im Wege. Unser Vorschlag ist sehen. ein sauberes ordnungspolitisches Angebot. Wir be- Andere Länder haben gehandelt, z. B. Frankreich, vorzugen den Weg über die bewährten Instrumente Belgien, Österreich. In Luxemburg wird eine Ini tia- der Tarifautonomie. tive vorbereitet. Andere haben gehandelt, wir han- deln auch. Wenn die Bundesvereinigung der Deutschen Ar- beitgeberverbände das Angebot ausschlägt, muß sie Ohne Entsendegesetz werden Tarifverträge wert- wissen, was sie tut. Ein Verband, der ein in Bedräng- los. nis geratenes Mitglied, die Bauwirtschaft, im S tich (Peter Dreßen [SPD]: Aber das ist doch nur läßt, muß sich nicht wundern, wenn ihm die Mitglie- ein Papiertiger!) der weglaufen. Das kann das Interesse von nieman- dem sein, - Zu Ihrem Gesetz komme ich noch; beruhigen Sie sich. - Ohne Entsendegesetz inszenieren wir eine (Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Machen Völkerwanderung. Sie ein anderes Gesetz!) Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1995 4917

Bundesminister Dr. Norbert Blüm der es mit der Ordnungsfunktion der Sozialpartner- Wirtschaft umfassendes Entsenderecht. Der Kern- schaft gut meint. Wer Sozialpartnerschaft wi ll, punkt ist das Bauhauptgewerbe. M an kann sehr braucht starke Gewerkschaften. Er braucht aller- wohl über diese Grenze streiten. Aber darin, daß wir dings auch starke Arbeitgeberverbände. Das funktio- nicht die gesamte Wirtschaft wie einen Ölflecken mit niert auf beiden Seiten nicht, wenn es keine Solidari- Entsenderichtlinien überdecken, sollten wir überein- tät gibt. Dann verliert Sozialpartnerschaft ihre Ord- stimmen. nungsfunktion. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. - Ich hoffe deshalb, daß die Bundesvereinigung der Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Dann dür Deutschen Arbeitgeberverbände nicht ihr letztes fen die mit Turnschuhen laufen!) Wort gesprochen hat. Ich bin deshalb auch nicht - Dann will ich es noch einmal erklären: Der ortsübli- ohne Hoffnung und Erwartung. Sie hat nämlich in che Lohn muß erst einmal festgestellt werden. An den letzten drei Jahren ihre Posi tion dreimal gewech- diesen ortsüblichen Lohn ist ein deutscher Arbeitge- selt. Da kann sie diese auch noch ein vie rtes Mal ber, der nicht tarifgebunden ist, nicht gebunden. An wechseln. Bis zum Jahre 1992 hat sie abgelehnt, diesen ortsüblichen Lohn soll allerdings der ausländi 1994 hat sie zugestimmt und im Jahre 1995 wird wie- sche Arbeitgeber gebunden werden. Das wäre eine der abgelehnt. Sie hat auch der europäischen Richtli- Diskriminierung der ausländischen Firma. nie zugestimmt. Auch eine europäische Richtlinie müßte national so umgesetzt werden, wie wir es jetzt (Abg. Konrad Gilges [SPD] meldet sich zu versuchen. einer Zwischenfrage) Jetzt, verehrte Kolleginnen und Kollegen, zu dem - Ich bin noch nicht fertig, Herr Kollege Gilges. Ich SPD-Entwurf. Er ist, was sein Ziel angeht, gut ge- will diesen Punkt noch zu Ende bringen. meint - das will ich gar nicht bestreiten -, nur taugt er nicht viel. Der SPD-Entwurf ist darüber hinaus bürokratisch. Es muß ein Expertenteam klären, was ortsüblich ist. (Zuruf von der SPD: Viel besser als eurer!) (Zuruf von der CDU/CSU: Wen wundert Wollen wir doch einmal Argumente austauschen. das?) Ortsübliche Arbeitsbedingungen zum Kriterium zu Da würden die nicht tarifgebundenen Löhne auch machen hilft uns deshalb nicht weiter, weil ein deut- gewichtet werden. Da muß man auch klären, in wel- scher Arbeitgeber, der nicht tarifgebunden ist, nicht cher Tarifgruppe der ausländische Arbeitnehmer ein- zur Zahlung von ortsüblichem Lohn gezwungen ist. gestuft werden soll. Das bringt gewisse Schwierig- Er ist frei. Der ausländische Unternehmer soll aber an die Ortsüblichkeit gebunden werden. Das ist eine keiten mit sich, weil die ausländischen Arbeitnehmer zum Teil aus ganz anderen Berufsbildern kommen. Diskriminierung ausländischer Arbeitgeber gegen- Bei einem Verstoß bis 20 % unter Tariflohn wird ein über einem Deutschen, der nicht tarifgebunden ist. Bußgeld erhoben, bei über 20 % folgt ein Strafverfah- Das verstößt gegen das EG-Recht - um Sie darauf ren. aufmerksam zu machen. Herr Kollege Gilges, ich sage noch einmal, im Ziel (Beifall bei der CDU/CSU) stimmen wir überein. Deshalb gibt es vielleicht auch in den Beratungen des Bundestages die Gelegenheit, Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Herr Minister, im Ausschuß - ich habe nur auf die rechtlichen Pro- gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Bütt- bleme Ihres Vorschlages aufmerksam gemacht - an ner? einem Strang zu ziehen und ein Entsendegesetz zu- stande zu bringen, das tatsächlich die deutschen Dr. Norbert Blüm, Bundesminister für Arbeit und Bauarbeiter schützt. Sozialordnung: Bitte. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Herr Minister, Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Bitte. gestatten Sie jetzt die Zwischenfrage des Kollegen Gilges? - Hans Büttner (Ingolstadt) (SPD): Herr Bundesar- beitsminister, Sie sind nicht ganz konsequent geblie- Dr. Norbert Blüm, Bundesminister für Arbeit und ben: Das, was Sie für den Baubereich mit den Tu rn Sozialordnung: Bitte schön. -schuhen und mit den Stiefeln beschrieben haben, trifft nicht nur auf das Bauhauptgewerbe zu, sondern Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Bitte. es betrifft das ganze Baugewerbe. Das trifft sogar auf andere Branchen zu. Warum machen Sie nur einen Konrad Gilges (SPD): Herr Kollege Blüm, Ihnen ist halben Schritt und wollen nur das Bauhauptgewerbe doch sicher bekannt, daß in der Regel in der Bundes- in Ihr Entsendegesetz aufnehmen? Das ist dann ir- republik Deutschland, und zwar zu 99,999 %, das gendwo unlogisch. Ihre Stiefeltheorie trifft auch bei kollektive Recht der Entlohnung gilt, unabhängig da- den anderen zu. von, ob es arbeitsrechtlich abgesichert ist oder nicht abgesichert ist. Die Frage steht überhaupt nicht zur Dr. Norbert Blüm, Bundesminister für Arbeit und Disposition. Weshalb bauen Sie dann hier so einen Sozialordnung: Man kann über den Umfang der Re- Popanz auf? Nur weil sich das Publikum in diesen gelung immer streiten. Wir wollten kein die gesamte differenzierten Situationen nicht auskennt? Sie ver- 4918 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1995 Konrad Gilges suchen doch, den Eindruck zu erwecken, als gäbe es in Bedrängnis geratenes Mitglied - und die Bauwirt- Arbeitnehmer, die nicht tarifgebunden sind. Der ein- schaft ist in Bedrängnis - im Stich läßt. Und wenn zelne Arbeitnehmer ist in der Regel tarifgebunden, man es im Stich läßt, darf man sich nicht wundern, wenn der Arbeitgeber tarifgebunden ist. wenn Verbandskraft auseinanderbricht. Die Frage, ob ein Tarif in einem Betrieb oder auf Dann darf man sich auch nicht wundern, wenn die der Baustelle bezahlt wird, ist nicht das Problem des Verbandsflucht zunimmt. Ich bin daran nicht interes- Arbeitnehmers, sondern ist das Problem des Arbeit- siert. Denn je schwächer die Tarifpartner sind, um so gebers. Das heißt, Sie bauen einen Popanz auf, der in mehr wird nach dem Staat gerufen. In die Lücke, die der Realität überhaupt nicht besteht, der rechtlich die Tarifpartner lassen, springt immer der Staat ein. auch nicht bestritten ist. Und wer nicht Verstaatlichung wi ll, der muß dafür sorgen, daß beide Tarifpartner handlungsmächtig (Zurufe von der CDU/CSU: Jetzt die Frage!) bleiben, Ordnungsfaktoren bleiben. Vielleicht führen wir das doch einmal auf die Wirk- Deshalb mein Appell im wohlverstandenen Inter- lichkeit zurück. Unser Gesetzesvorschlag ist deswe- esse der Arbeitgeber - es geht über die Entsende- gen gut, weil dadurch natürlich der Arbeitnehmer, richtlinie hinaus -, daß sie das Mindestmaß an Soli- der Maurer aus Portugal, denselben Stundenlohn be- darität, das zu jedem Verband gehört, auch gegen- kommt wie der deutsche Arbeitnehmer, der türki- über den Arbeitgebern im bedrängten Baubereich sche oder sonstige. wahren. (Julius Louven [CDU/CSU]: Wo ist denn die (Beifall bei der CDU/CSU) Frage?) - Herr Kollege Louven, die Frage lautet, ob er das Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Herr Minister, weiß oder nicht weiß gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Andrea Fischer? (Lachen bei der CDU/CSU) oder ob er wider besseres Wissen hier redet. Dr. Norbert Blüm, Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung: Bitte schön. Dr. Norbert Blüm, Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung: Herr Kollege Gilges, ich weiß, daß Andrea Fischer (Berlin) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- ein deutscher Arbeitgeber, der nicht tarifgebunden NEN): Herr Minister, ich möchte jetzt einmal ge- ist, nicht verpflichtet ist, seinem Arbeitnehmer den nauer nachfragen. Sie sagten, Sie setzen auf die All- Tariflohn zu zahlen, es sei denn, der Tarifvertrag gemeinverbindlichkeitserklärung, und Sie appellie- wäre allgemeinverbindlich. Das gehört zum ABC des ren an die Arbeitgeber, das zu unterstützen. Ohne Tarifrechtes. die Zustimmung der Arbeitgeber können Sie keine (Zuruf von der F.D.P.: Das weiß sogar ich!) Allgemeinverbindlichkeitserklärung unterzeichnen. Insofern interessiert es den Arbeitnehmer doch (Peter Dreßen [SPD]: So ist es!) schon. Denn der Arbeitnehmer ist ja auf seinen Lohn Das heißt, Sie beschränken sich jetzt auf Appelle. angewiesen. Der Arbeitgeber zahlt den Lohn. Er ist, Oder fällt Ihnen noch etwas anderes ein, nachdem wenn er nicht tarifgebunden ist, nicht verpflichtet, jetzt der BDA -- den Tariflohn zu zahlen. (Zuruf von der CDU/CSU: Machen wir doch Dr. Norbert Blüm, Bundesminister für Arbeit und eine rechtliche Informationsrunde auf!) Sozialordnung: Mir fällt ein, daß der Gesetzgeber ein Das würden Sie allerdings bei Feststellung der Angebot macht. Und darauf müssen die Tarifpartner Ortsüblichkeit dann von einem ausländischen Ar- antworten. beitgeber verlangen. Sie können diesen Unterschied (Peter Dreßen [SPD]: Sie haben doch heute zwischen deutschem Arbeitgeber und ausländi- in der Zeitung gelesen, was sie machen!) schem nicht machen. - Ich habe es Ihnen doch schon gesagt: Der BDA hat Wir gehen den einfachen Weg über die Allgemein- dreimal die Position gewechselt. Da wollen wir ein- verbindlichkeit des Tarifvertrags. Sie könnten es mal sehen, wie es weitergeht und wie wir das Pro- auch mit einem Mindestlohn schaffen. Aber so, wie blem lösen. - Ich weiß gar nicht, warum wir uns Sie es wollen, können Sie es nicht schaffen. Wir blei- heute so zerstreiten. ben in der bewährten Struktur des deutschen Tarif- rechts. Wir machen ein Angebot an die Arbeitgeber. (Konrad Gilges [SPD]: Wir streiten uns doch Ich kann auch nur nochmals sagen: Ich hoffe, daß gar nicht!) auch der Dachverband der Arbeitgeber versteht, um was es geht. Wir sind uns doch im Ziel einig. Laßt uns auf dem Weg auch dafür sorgen, daß dieses Ziel von uns ge- Es geht nicht nur um die Entsenderichtlinie. Es meinsam erreicht wird! geht darum, ob Arbeitgeberverbände solidarisch auch ihre Mitgliederverbände schützen, ob man ein (Beifall bei der CDU/CSU) Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1995 4919

Bundesminister Dr. Norbert Blüm Und dann sprechen wir darüber, wer den besseren Ich bin nicht sicher, ob alle die Brisanz dessen ver- Weg hat. stehen, worüber wir heute diskutieren. Auf deut- schen Baustellen brennt es. Die Illegalität nimmt zu. (Zurufe von der SPD) Ohne Entsenderichtlinie sind die Billiglöhne gar egal; sie sind dann sogar noch legal. - Ich habe ja nur auf Mängel Ihres Gesetzentwurfes nicht ill hingewiesen, auf rechtliche Mängel. Dem Kampf gegen die Illegalität eröffnet sich noch ein weiteres Feld. Wer es gut mit der Entwicklung (Zuruf von der SPD: Ihre Mängel tauchen nicht nur auf dem Baumarkt meint, wer es nicht nur doch jetzt schon auf!) mit den Bauhandwerkern, den Bauunternehmern und den Bauarbeitern, sondern wer es mit Europa Verehrte Frau Kollegin - Sie können ruhig sitzen gut meint, der wird einer Entsenderegelung zustim- bleiben. men. Der bewährte Weg dahin - das muß sich jeder überlegen - ist die Allgemeinverbindlichkeit der (Andrea Fischer [Berlin] [BÜNDNIS 90/DIE Abmachungen der Tarifpartner. Wer das Prinzip der GRÜNEN]: Ich dachte, die Kollegen von der Allgemeinverbindlichkeit zur Lösung dieses Pro- Sozialdemokratie hätten das jetzt übernom- blems torpediert, der darf sich nicht beschweren, men! Ich dachte, Sie antworten nicht mehr!) wenn immer mehr nach dem Staat gerufen wird, wenn der Trend zur Verstaatlichung zunimmt. Weil - Um Gottes willen! Wie könnte ich es mir zuschul- ich das nicht will, weil ich ein Anhänger der Sozialen den kommen lassen, auf Ihre so freundliche Frage Marktwirtschaft bin, bin ich dafür, ein Angebot an nicht zu antworten? Also, ich habe eigentlich alles die Tarifpartner zu machen. Dann werden wir weiter- gesagt. Ich bedanke mich für Ihre Frage. sehen. (Beifall bei der CDU/CSU) (Heiterkeit)

Ich schließe meinen Redebeitrag; es ist ja gar nicht Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat so lustig: Wer es gut mit Europa meint, der muß der jetzt der Abgeordnete Hans Büttner. Entsenderichtlinie zustimmen. Wir haben ja nicht nur Freunde in Europa, und Extremisten kochen ihr na- Hans Büttner (Ingolstadt) (SPD): Frau Präsidentin! tionales Süppchen. Wenn Europa dazu führen Meine Damen und Herren! Der Bundesarbeitsmi- würde, daß ein bewäh rtes Tarifsystem zusammen- nister hat hier das gleiche Spiel gespielt wie bei den bricht, dann wird Europa Freunde verlieren. Das vergangenen Gesetzesvorlagen, die zum Sozialab- wird den Extremismus stärken. Europa muß ja auch bau in Deutschland führten. In bezug auf die Lyrik, ein soziales Europa sein. Das kann man nicht da- Herr Minister. stimmen wir völlig überein. durch erreichen, daß sich die Vorreiter sozusagen auf das Niveau der Nachzügler begeben. Wir brauchen (Zuruf von der SPD: Pathe tisch!) in einer Übergangsphase Ü bergangsregelungen. Ich wünsche mir kein Europa, das ewig mit Entsende- Doch wie immer in der Vergangenheit machen Inhalt richtlinien arbeiten muß. Das ist nur für eine Über- und Begleitmusik des hier vorliegenden Gesetzent- gangszeit. Die Soziale Marktwirtschaft ist ja keine wurfes deutlich: Die Bundesregierung Kohl ist an Wildwestwirtschaft. chancengleichen Arbeits- und Sozialbedingungen in Europa nicht interessiert, (Ottmar Schreiner [SPD]: Für einige doch!) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Für eine Übergangszeit brauchen wir so etwas. Ich sondern benützt den europäischen Einigungsprozeß wünsche mir einen europäischen Binnenmarkt, in zum Abbau humaner Arbeitsverhältnisse in Deutsch- dem wir keine Entsenderichtlinien brauchen. land. (Birgit Schnieber-Jastram [CDU/CSU]: Un nur noch einmal auf folgendes hinweisen: Ich will glaublich ist das, was Sie da sagen!) Der Unterschied zwischen der Tatsache, daß im Aus- land billig Produkte hergestellt werden können,- und - Ich werde Ihnen das noch beweisen; machen Sie dem, was wir mit der Entsenderichtlinie regeln wol- nicht so undifferenzierte Zwischenrufe. len, besteht darin, daß in bezug auf die Entsende- richtlinie gilt, daß am gleichen Ort gleicher Lohn ge- (Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Wer hat zahlt werden muß. An diesem Ort wird ja auch die Ihnen denn das aufgeschrieben?) Infrastruktur von den ausländischen Anbietern in Die Regierung stellt sich damit in Gegensatz zu Anspruch genommen. Kein deutscher Bauarbeiter den Regierungen Frankreichs, Hollands, Österreichs kann mit einem Lohn, wie er in Portugal üblich ist, und Dänemarks, die längst das europakonforme seine Familie ernähren; das kann nur der portugiesi- Prinzip, nach dem die Arbeitsbedingungen des Pro- sche Arbeitnehmer. duktionsstandorts Maßstab für die Beschäftigungs- verhältnisse sind, formuliert und in die na tionale Ge- Ich fasse zusammen: Wer es mit Europa gut meint, setzgebung umgesetzt haben. muß zustimmen. Wer die inländischen Baufirmen nicht ruinieren will, wer die Arbeitslosigkeit be- Im Wissen um die ablehnende Haltung der Arbeit- kämpfen will, der muß dem Entsendegesetz zustim- geberverbände, Herr Bundesarbeitsminister, und im men. Wissen um die ablehnende Haltung der F.D.P. - denn 4920 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1995 Hans Büttner (Ingolstadt) bereits bei der Anhörung zu unserem Antrag zum päischen Sozialcharta durch das Zugeständnis Groß- Entsendegesetz ist deutlich geworden, daß die BDA britanniens erkauft worden ist, Kroatien anzuerken- hier nicht nur zögerlich, sondern ablehnend ist -, ha- nen, dann ist die Frage erlaubt: Wie ernst hat eigent- ben Sie diesem Hause einen Gesetzentwurf präsen- lich die Bundesregierung - entgegen ihrer Ankündi- tiert, der nicht einmal den Minimalanforderungen gungen - um ein einheitliches soziales Europa ge- der am stärksten be troffenen Branche, nämlich der kämpft? Bauwirtschaft, entspricht und der nach dem ableh- nenden Beschluß der BDA über die Allgemeinver- Die Situation auf den Baustellen, aber auch in an- bindlichkeit der Tarifverträge auch kaum Realität deren Branchen der Wirtschaft zeichnet sich heute werden wird. durch Verhältnisse aus, die es zulassen, daß auslän- dische Unternehmen auf dem Boden der Bundesre- Herr Arbeitsminister, wenn Sie Ihre auf internatio- publik Deutschland quasi arbeits- und sozialrechts- nalen Konferenzen und hier im Hause mit großem freie Räume schaffen, mit dem Ergebnis, daß Arbeits- Pathos vorgetragenen Erkenntnisse zur Notwendig- verhältnisse exis tieren, bei denen ausländische Ar- keit sozialer Verhältnisse im Arbeitsleben wirklich beitnehmer nicht einmal mehr als 8 DM pro Tag be- ernst nähmen, dann müßten Sie eigentlich Ihren Ge- zahlt bekommen, kaserniert werden usw. setzentwurf sofort an der tiefsten Stelle des Rheins versenken, statt damit die Öffentlichkeit und die Be- (Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Deswe troffenen weiter zu täuschen. gen machen wir das Entsendegesetz!) (Konrad Gilges [SPD]: Also, nicht alles in - Ihr Entsendegesetz - wie gesagt - ist auf die Zu- den Rhein! Da ist schon genug Müll!) stimmung der Arbeitgeberverbände aufgebaut. Sie, meine Herren von der CDU/CSU, die sich em- Es ist nicht ausreichend, weil es allein die Baubran- pört über das Kruzifix-Urteil geäußert che berührt und es um alle Bereiche der Wi rtschaft (Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Zu geht. Wenn Sie sich ein bißchen genauer umschau- Recht!) ten, dann würden Sie wissen, daß dazu erst einmal das volle Ausbaugewerbe gehört, aber daß auch in und am vergangenen Samstag in München dagegen der Metallindustrie, im Hotel- und Gaststättenge- demonstriert haben, müßten den Regierungsentwurf werbe, im chemischen Bereich und anderswo die als Ausbund der Heuchelei zurückweisen und dem Problematik entsandter Arbeitnehmer insgesamt vorliegenden Gesetzentwurf der SPD zustimmen. Ich eine gleiche Rolle spielt. sage das deswegen, weil wir Sie daran messen wer- den, wie Sie das Kreuz in der Praxis, auch in der Poli- (Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Passen tik, wie Sie christliche Wertmaßstäbe umsetzen wer- Sie auf, wie Sie alles kontrollieren können, den. Diese ständige Trennung, hier das Kreuz herzu- was Sie behaupten!) zeigen und in der Pra xis unchristliche Politik zu be- Zum zweiten. Ihr Entsendegesetz sieht keinerlei treiben, werden wir Ihnen nicht durchgehen lassen. vernünftige Kontrollmöglichkeiten vor. Sie übertra- (Beifall bei der SPD und der PDS - Karl-Jo gen dies alles den Ländern, ohne die bewäh rte und sef Laumann [CDU/CSU]: Herr Büttner, notwendige Verbindung der Arbeitsverwaltung, die überlegen Sie doch einmal, was Sie sagen!) allerdings auch hier nicht den nötigen Druck und die nötige Unterstützung seitens der Regierung hat, um - Ich überlege genau, was ich sage, Herr Laumann. steigenden Druck auszuüben. Im Gegenteil: Sie lega- Ich sage das deswegen, weil die Pra xis dieser Bun- lisiert auch noch i llegale Beschäftigungsverhältnisse desregierung im Umgang mit illegalen Beschäfti- unter dem Begriff „im Interesse Deutschlands". gungsverhältnissen, mit Werkverträgen und auch (Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Wer hat mit der Entsendeproblematik deutlich macht, daß sie denn die Kontrolle eingeführt?) das, was Herr Blüm mit vollem Recht unterstreicht, in der Wirklichkeit nicht ernst nimmt. Es hat zwei Jahre - Herr Laumann, brüllen Sie nicht so. Plärren Sie gedauert, bis diese Bundesregierung end lich den nicht so. Hören Sie lieber ein bißchen zu. Mißbrauch der Werkverträge beseitigt hat, daß Un- ternehmen Arbeitnehmer entlassen und hinterher- (Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Wer hier durch Werkvertragsarbeitnehmer ersetzt haben. brüllt, merkt man! - Ottmar Schreiner [SPD]: Der ist mit dem Düsenjäger durch (Beifall bei Abgeordneten der SPD - Karl die Kinderstube geflogen!) Josef Laumann [CDU/CSU]: Wir haben es aber beseitigt!) Zum dritten. Herr Blüm, Sie haben behauptet, der SPD-Entwurf sei nicht europakonform. Ich darf Ihnen - Nachdem die Werkverträge kaum mehr eine Rolle eines sagen: Das Gegenteil ist der Fall. Sowohl die spielten, haben Sie sie beseitigt. letzten Vorschläge der Europäischen Kommission Besonders gestört hat mich, was ich dieser Tage wie auch alle Expertisen der Verfassungsrechtler er- über die leider nicht öffentlichen Verhandlungen, die lauben sehr wohl den in der Bundesrepublik recht- anscheinend im Ministerrat stattgefunden haben, lich gefaßten Beg riff der Ortsüblichkeit. Das ist ein entnehmen mußte. Wenn das zutrifft, was im „Focus" Begriff, der auch im deutschen Arbeitsrecht vor- als Zitat von Lord Carrington und Denis Healey ver- kommt, der Maßstab bei der Gewährung von Ar- kündet worden ist, daß das Fehlen der Zustimmung beitslosengeld ist, der auch Maßstab bei Gerichtsver- Großbritanniens und damit die jetzige Form der euro fahren im Arbeitsrecht ist. Es gilt, diesen Begriff ein- Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1995 4921 Hans Büttner (Ingolstadt) zuführen und anzuwenden. Er war auch im Vor- zugehen. Wie die Diskussion der letzten Monate ge- schlag der Europäischen Kommission für die europä- zeigt hat, ist dies ein äußerst schwieriges, wenn nicht ische Entsenderichtlinie enthalten. Er ist nicht euro- sogar unmögliches Unterfangen. pawidrig, sondern sehr wohl europakonform. Die Dienstleistungsfreiheit in der Europäischen (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Union ermöglicht es Bauunternehmen aus ganz Eu- Darüber hinaus zeichnet sich unser Gesetzentwurf ropa, ihre Bauarbeiter in Deutschland einzusetzen. dadurch aus, daß er sich - wie gesagt - nicht auf die Baubranche beschränkt, weil wir es mit Ihrer Aus- (Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Weil wir sage ernst nehmen, gleichen Lohn und gleiche Ar- kein Gesetz haben!) beitsbedingungen am gleichen Arbeitsplatz für alle Diese Bauarbeiter bekommen die Löhne ihres Hei- einzuführen. Auch ist das Problem, wie Sie mit Recht matstaates. Sie zahlen ihre Sozialversicherungsbei- sagen, nicht dadurch beseitigt, daß wir nur EU-Aus- träge nicht in die deutschen, sondern in ihre heimi- unter dieses Recht stellen, sondern es muß für länder schen Systeme ein. alle gelten, die auf diesem Ticket nach Europa kom- men können. Deswegen müssen wir von vornherein (Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Sie wollen ein Tor schließen, das sich jetzt schon scheunenweit das so!) geöffnet hat, damit wir Mißstände von vornherein ab- bauen. Für die Auftraggeber in Deutschland ist das attraktiv. Ich bedaure die Praxis der Regierung, die deutlich Sie kalkulieren nicht mit den hohen deutschen Löh- macht, daß Sie eine solche Regelung in Wirk lichkeit nen nicht wollen. Ihre Maßnahmen zu Verfolgung solcher illegaler Beschäftigungen zeigen dies. Ich bin immer (Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Weil Sie noch von dem Skandal berührt, daß die Arbeitsver- es so wollen!) waltung einem Unternehmen, das i llegal Inder be- und mit den hohen deutschen Abgaben in die sozia- schäftigt hat, das nachträglich legalisiert hat und zu- len Sicherungssysteme, sondern sie kalkulieren mit laßt, daß ausländische Arbeitnehmer für 8 DM pro portugiesischen, britischen oder griechischen Ar- Tag beschäftigt werden und davon noch Geld für ih- ren Lebensunterhalt abführen müssen. beitskosten. (Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Wo (Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Das hätten denn?) Sie längst verhindern können!)

- Das ist in meinem Wahlkreis in Ingolstadt. Diese Auch der Bauherr freut sich über niedrige Bauko- Firma konnte Jahre zuvor Werkvertragsarbeitnehmer sten. Auf der Strecke bleiben allerdings die kleinen illegal beschäftigen. und mittleren deutschen Baufirmen, die die hohen Dies und eine ganze Reihe von weiteren Fällen läßt inländischen Löhne zahlen müssen und mit hohen mich daran zweifeln, daß Sie Ihr Vorhaben wirklich Lohnzusatzkosten befrachtet sind. Sie sind nicht umsetzen wollen. Das, was Herr Rexrodt und die mehr wettbewerbsfähig. Verlierer sind ganz am Ende F.D.P. in diesen Tagen sagen, macht deutlich, wohin der Kette die deutschen Bauarbeiter, für die ihre Ge- die Reise gehen soll, nämlich Löhne abzubauen und werkschaft inzwischen zwar weit über dem Bundes- deutsche Sozialverhältnisse auf indische, iranische, durchschnitt liegende Löhne ausgehandelt hat, die portugiesische oder albanische Verhältnisse zu redu- aber gerade infolgedessen von Arbeitslosigkeit be- zieren. Diese Politik be treiben Sie. Ihr Gesetzentwurf droht sind. ist - da er schon jetzt gescheitert ist - nicht mehr (Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Also wert, als in den Rhein versenkt zu werden. Löhne runter! Habt ihr das gehört?) (Beifall bei der SPD und der PDS - Ju lius Louven [CDU/CSU]: Ausgesprochener Es ist offensichtlich, daß die sich abkühlende Bau- Schwachsinn! - Karl-Josef Laumann [CDU/ konjunktur neben der europäischen Konkurrenz CSU]: Kraftausdrücke ersetzen keine Argu- viele kleine und mittlere Unternehmen vor die Exi- mente! - Siegfried Hornung [CDU/CSU]: stenzfrage stellt und noch stellen wird. Horrorszenario!) Die F.D.P. hat in der Mittelstandsgruppe eine An- hörung mit kleinen und mittleren Bauunternehmen Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat durchgeführt. Viele Bet riebe haben uns die Schwie- jetzt die Abgeordnete Gisela Babel. rigkeiten geschildert, ihre Stammbelegschaft zu hal- ten, eine Stammbelegschaft, die ihnen über viele Dr. Gisela Babel (F.D.P.): Frau Präsidentin! Meine Jahre die Treue gehalten hat. Wir wissen, daß die Ar- Damen und Herren! Es hat in dieser Wahlperiode beitslosigkeit unter den Bauarbeitern steigt. Zum kaum ein Gesetz gegeben, das ein politisch so heik- 30. Juni 1991 hatte die Bundesanstalt für Arbeit rund les Thema wie den heute zur Debatte stehenden Ent- 90 000 Arbeitslose in den Bauberufen ausgewiesen, wurf eines Arbeitnehmer-Entsendegesetzes be traf. am 30. Juni 1994 waren es mehr als 120 000 Arbeits- Wir sind vor die schwierige Aufgabe gestellt, Pro- lose. Diese Tendenz, fürchte ich, wird sich fortsetzen. bleme, die mit dem europäischen Binnenmarkt zu- Das führt zu Spannungen auch zwischen deutschen sammenhängen, mit nationalen Maßnahmen an- und ausländischen Bauarbeitern. 4922 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1995 Dr. Gisela Babel Dies ist um so trauriger, als Deutsche und Auslän- Wir sollten hier nicht so reden, als ob es nur um Ille- der gerade hier immer sehr einträchtig und in gutem gale geht, und dabei wird ein Ton der Abschätzung Einvernehmen nebeneinander gearbeitet haben. In und Herabwürdigung verwendet, den ich nicht für Europa wollten wir doch das Zusammenwachsen der richtig halte. Menschen fördern. (Beifall bei der F.D.P. - Konrad Gilges (Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Anschei [SPD]: Was unterstellen Sie da?) nend nicht!) Ich halte es für richtig, daß wir die Angst der deut- Wenn aber die heimische Belegschaft abgebaut wird, schen Bauarbeiter zum Thema machen, aber nicht, um Platz für die Kollegen aus dem europäischen Aus- daß wir dazu beitragen, die Spannungen, die da land zu machen, verwundert es nicht, daß der soziale sind, zu schüren. Friede auf den Baustellen ins Wanken kommt. (Beifall bei der F.D.P. - Konrad Gilges (Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Warum [SPD]: Das ist unverschämt! - Hans Büttner haben Sie noch nichts gemacht?) [Ingolstadt] [SPD]: Sie helfen mit, daß die Spannungen schärfer werden!) Zusammengenommen haben für die F.D.P.-Bun- destagsfraktion die Argumente für ein nationales Entsendegesetz überwogen. Wir haben uns dazu ent- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Frau Kollegin, schlossen, dem Beispiel auch anderer europäischer gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Staaten wie Frankreich, Österreich und Belgien zu Schreiner? folgen

(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Das ist richtig!) Dr. Gisela Babel (F.D.P.): Nein. - Das Gesetz greift in den Wettbewerb ein. Im Grunde macht es keinen und den Entwurf eines nationalen Entsendegesetzes Unterschied, ob wir im Ausland preiswerter produ- vorzulegen. Die Lösung, die die Koalition anbietet, zierte Waren einführen oder ob diese preiswerten besteht darin, daß der niedrigste Tariflohn im Bauge- Produkte gleich hier vor Ort hergestellt werden. werbe für allgemeinverbindlich erklärt und auf hier arbeitende Bauarbeiter, deren Arbeitgeber im EU- (Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Das ist ein Ausland sitzt, erstreckt wird. Diese Regelung soll al- sehr großer Unterschied!) lerdings nur für das Bauhauptgewerbe und nur befri- stet gelten. Dies ist das Ergebnis einer langen Dis- Sie können es drehen und wenden, wie Sie wollen, kussion, in der gerade die F.D.P. immer wieder als das Gesetz, das gleichen Lohn für gleiche Arbeit am Bremser und Mittelstandsbuhmann dargestellt wor- gleichen Ort vorschreibt, schafft ein Stück Protektio- den ist. nismus. Den Nachteil werden wir alle gemeinsam tragen müssen. Höhere Baupreise sind unweigerlich (Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Ist sie die Folge. Zudem wird die deutsche Bauwirtschaft auch!) unbehelligt von der Konkurrenz schwerfälliger wer- den. Wichtige Anpassungsprozesse unterbleiben. Erst haben uns viele in der Diskussion über die Ent- Wie wir wissen, ist Protektionismus auf Dauer ein senderichtlinie auf europäischer Ebene in diese Ecke Wettbewerbsnachteil. gestellt, und dann wurde die F.D.P. als Bremser beim nationalen Gesetz beschimpft. (Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Fortschritt durch Sklavenarbeit, das ist Ihre Methode!) (Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: So ist es ja!) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Frau Kollegin, Eines möchte ich klarstellen. Der Bundeswirt- gestatten Sie denn eine Zwischenfrage der Kollegin schaftsminister hat seine grundsätzliche Zustimmung Kaspereit? sowohl schon zu der europäischen Regelung als auch zu einem nationalen Entsendegesetz gegeben.- Rich- tig ist, daß er es sich nicht leichtgemacht hat, zu einer Dr. Gisela Babel (F.D.P.): Ich möchte gern durchre- vernünftigen Regelung zu gelangen, die in unsere den, Frau Präsidentin. Marktwirtschaft sowenig wie nötig eingreifen soll. Wir greifen auch in die so mühsam errungene eu- In der Tat, es ist nicht leicht. Lassen Sie mich ruhig ropäische Dienstleistungsfreiheit ein. Der europä- ein paar Gegenargumente vortragen. Ich bin übri- ische Einigungsprozeß ist schwierig genug. Jede zu- gens über die Tonart be troffen, mit der hier über aus- sätzliche Beschwernis ist zweifellos ein Rückschlag. ländische Arbeitnehmer geredet wird. Wir selber nehmen die Dienstleistungsfreiheit übri- gens völlig selbstverständlich für uns in Anspruch. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Großprojekte in den ärmeren Staaten der Europä- ischen Union werden von deutschen Bauunterneh- Ich finde, wir sollten das nicht so machen. men durchgezogen, die hierfür das notwendige tech- nische Know-how und die finanzielle Kapazität ha- (Konrad Gilges [SPD]: Wer hat das denn ge ben. Wenn es um Großvorhaben geht, exportieren macht?) wir mühelos Bauleistungen in diese Länder und er- Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1995 4923

Dr. Gisela Babel drücken in nicht wenigen Fällen die dortige Bauin- kommen Sie genau auf den Stundenlohn des Mau- dustrie. rers. Er hat keinen Hochlohn, sondern es gibt eine ganze Masse - Gott sei Dank, sage ich nebenbei - (Konrad Gilges [SPD]: Stimmt objektiv von Facharbeitern, deren Stundenlohn noch über nicht!) dem Maurerecklohn liegt. Wenn dieselben Länder dann ihre Arbeitskräfte zu (Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Zum Bei uns schicken, damit sie ihren Vorteil bei uns wahr- spiel der Fliesenleger!) nehmen können, dann heißt es „Schotten dicht". (Peter Dreßen [SPD]: Die bezahlen den Ist Ihnen das eigentlich bekannt? Deutschen denselben Lohn, auch wenn sie im Ausland arbeiten!) Dr. Gisela Babel (F.D.P.): Herr Gilges, ich bewun- dere Ihre großen Kenntnisse in den verschiedenen Das ist nicht das, was ich mir unter europäischer Lohnstufen. Aber ich bewundere keineswegs die von Dienstleistungsfreiheit vorstelle. Ihnen daraus gezogenen Konsequenzen, nämlich (Beifall bei der F.D.P.) daß Sie sagen, daß es gut wäre, wenn wir diesen Lohn hier allgemeinverbindlich zementierten. Ich Wie steht es nun mit der Renaiss ance der Allge- glaube, daß das der falsche Weg ist und zumindest meinverbindlichkeitserklärung, die unweigerlich zu gute Argumente dagegen sprechen. einer weiteren Verkrustung des erstarrten deutschen Tarifgefüges führen würde? Die weit über dem Bun- (Beifall bei der F.D.P.) desdurchschnitt liegenden hohen Löhne im Bau wür- den zementiert. Zu Recht wird auf die Gefahr hingewiesen, daß die Anwendung des Gesetzes ausgedehnt wird. Auch (Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Also müs das Handwerk klagt über die europäische Konkur- sen sie gesenkt werden!) renz. Wir hören die Klagen vom Handwerk. Die Aus- Bei einer Anhörung des Ausschusses für Arbeit und weitung des Gesetzes auf diesen Bereich würde zu Sozialordnung hat die IG Bau, Steine, Erden darge- einer Fülle zusätzlicher Allgemeinverbindlichkeitser- legt, daß der niedrigste Lohn im Bau bei 20,24 DM klärungen führen. liegt. Ich erlaube mir in diesem Zusammenhang ein- mal den Hinweis, daß der Ecklohn im Garten- und Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Frau Kollegin, Landschaftsbau nur bei etwa 17 DM liegt. Die Fest- es gibt noch eine Bitte nach einer Zwischenfrage der schreibung eines Mindestlohnes auf höchstem Ni- Kollegin Kaspereit. veau würde jedenfalls dazu führen, daß viele Bauar- beiter erst gar keine Chance bekommen, ihre Ar- beitskraft so anzubieten, daß sie auch eingestellt Dr. Gisela Babel (F.D.P.): Jetzt möchte ich deutlich werden. Ganz sicher ist - auch das hat hier noch nie- machen, Frau Präsidentin, daß ich ohne Unterbre- mand gesagt -, daß das Entsendegesetz zum Kollaps chung zu Ende reden möchte. vieler Bauunternehmen in Ostdeutschland führen Das Gesetz kann seine politischen Ziele nicht ohne wird, die heute nur überleben, weil sie Löhne unter eine Mitwirkung der Tarifkommission erreichen. Tarif zahlen. Eine mehrheitliche Entscheidung erfordert das Ja zu- mindest einer der drei Arbeitgeberverbände. Dies er- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Frau Kollegin, scheint nun aussichtslos, nachdem auch der dritte gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Arbeitgeberverband seine Zustimmung verweigert Gilges? hat. Für diesen Fall hat die F.D.P. im Kabinett einen Prüfvorbehalt angemeldet. Auch mir scheint es we- nig sinnvoll, das Gesetzgebungsverfahren fortzuset- Dr. Gisela Babel (F.D.P.): Sie meinen, wenn man sehr oft fragt, kommt man zum Zuge. - Herr Gilges, zen und damit die politische Verantwortung bei den Arbeitgebern abzuladen. ich bitte. - Alternativvorschläge sind bislang nicht in Sicht. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Ich muß fragen, Die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohnes ist oder Sie müssen sagen, daß Sie das grundsätzlich jedenfalls für die F.D.P. keine Lösung, weil damit nicht wollen. grundgesetzwidrig in die Tarifautonomie eingegrif- fen würde. Herr Gilges. (Beifall bei der F.D.P.) Wir haben aber vor, morgen eine Anhörung zu be- Konrad Gilges (SPD): Frau Kollegin, ist Ihnen be- kannt, daß der Stundenecklohn eines Bauarbeiters, schließen. In dieser Anhörung werden die Beteiligten der bei gut 22 DM liegt, genau im Mittelfeld der noch einmal Gelegenheit haben, ihre Positionen und Stundenlöhne in der Bundesrepublik Deutschland ihre Argumente darzulegen. Ich glaube, es wäre rich- liegt? Denn der niedrigste Stundenlohn - für den Ta- tig, wenn wir dies abwarten. Aber ich kann nicht ver- rifbereich der Landarbeiter in Mecklenburg-Vorpom- hehlen: Die Lage ist verfahren. mern - liegt bei 9,60 DM, und der höchste - für die Ich bedanke mich. Tabakarbeiter in der Bundesrepublik - liegt bei 32 DM. Wenn Sie daraus den Mittelwert ziehen, (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) 4924 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1995

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat die vielbeschworene Säule der Tarifautonomie den jetzt die Abgeordnete Anne lie Buntenbach. ordnungsrechtlichen Rahmen sicherzustellen.

(Peter Dreßen [SPD]: Lambsdorff will das Annelie Buntenbach (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- doch gar nicht!) NEN): Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Wir brauchen dringend ein vernünftiges Ent- Diese Verantwortung liegt bei uns. Der können und sendegesetz. Ich bin froh, Herr Blüm, daß auch Sie dürfen wir uns nicht entziehen. das noch immer so sehen. Ich hoffe, daß auch eine ganze Reihe Ihrer Kolleginnen und Kollegen das so Genau das versuchen Sie, Herr Haungs, wenn Sie sehen. der Presse erklären: Die Bauindustrie ist selbst schuld; sie hat sich an Europa nicht angepaßt. Klar- Wir brauchen dieses Entsendegesetz, das gleichen text - ich habe versucht, mir das zu übersetzen -: Die Lohn und gleiche Arbeitsbedingungen für gleiche Löhne müssen runter. Arbeit sicherstellt und den katastrophalen Zuständen auf den Baustellen ein Ende bereitet. Ich wollte (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Es gibt heute eigentlich hier die Gesetzesinitiative der Bun- auch noch andere Kriterien!) desregierung als einen Schritt in die richtige Rich- tung begrüßen. Wenn alle unter so erbärmlichen Bedingungen arbei- ten wie die aus den europäischen Ländern entsand- (Ulrich Irmer [F.D.P.]: Preisen! Rühmen!) ten Arbeitnehmer auf dem Bau, dann gibt es doch kein Problem mehr. - Rühmen wollte ich sie nicht, nein. - Aber auch be- grüßen kann ich sie nun nicht mehr, da sie schon vor Herrn Haungs, es ist jedoch kein Schwarzer-Peter- der Beratung gescheitert ist. Ich meine, das Scheitern Spiel, bei dem Sie sich erleichtert zurücklehnen kön- war selbstverschuldet: durch zu viele faule Kompro- nen, weil Sie ihn los sind. Sie sind ihn nämlich nicht misse zwischen denjenigen, die sie grundsätzlich für los. Es handelt sich hierbei um ein ausgesprochen nötig halten, und den Deregulierungsfraktionen in ernstes Problem, das wir im Bundestag lösen müssen. Ihren Reihen. Wie sieht es auf den Baustellen zur Zeit aus? Ein Vielleicht könnten Sie, Herr Blüm, noch einmal ge- immer größerer Teil der dort Beschäftigten arbeitet nauer erklären, warum Sie sich die Falle der Tarif- zu Dumpinglöhnen zwischen 5 DM und 10 DM in kommission, in die Sie jetzt gestolpert sind, selbst in der Stunde. Die Unterbringung ist oft nicht einmal den Weg gestellt haben. Sie wissen genau, daß das menschenwürdig. Unfall- und Arbeitsschutz sind überhaupt nicht nötig war. In der Expertenanhörung nicht zu halten. vom Juni war überdeutlich - das auch an Sie, Frau Babel -, daß es auch andere Wege nach Rom gibt. Zwischen scheinselbständigen Arbeitnehmern aus Der Gesetzentwurf aus Berlin und der der SPD schla- der EU und Werkvertragsarbeitnehmern aus Osteu- gen diese Wege jetzt ein. Die müssen wir genauer ropa blüht inzwischen die ganze Grauzone illegaler diskutieren. Leiharbeit. Obwohl z. B. die polnischen Werkver- tragsarbeitnehmer rechtlichen Anspruch auf gleiche Haben Sie, Herr Blüm, wirklich erwartet, daß die Bedingungen wie die hier beschäftigten inländi- Arbeitgeberseite zustimmt, nachdem sie schon in der schen haben, sind sie ganz offensichtlich trotzdem Anhörung ihre Ablehnung deutlich zur Kenntnis ge- Lohn- und Sozialdumping ausgesetzt. Sie werden geben hatte? Herr Murmann bringt jedesmal, wenn mit falschen Versprechungen angeworben, haben er sich äußert, eine neue Breitseite gegen Arbeitneh- nichts Schriftliches in der Hand und werden nach merinneninteressen, Strich und Faden ausgenutzt, was Arbeitszeiten und Niedriglöhne angeht. (Ulrich Irmer [F.D.P.]: Wieso Arbeitnehme rinnen?) Konfliktfähigkeit und Rechtssicherheit der ent- Tarifstandards, soziale Schutzrechte. Offensichtlich sandten Arbeitnehmer müssen unbedingt gestärkt wollen diese Arbeitgeberfunktionäre die Fortsetzung werden. Das gilt auch für die Arbeitnehmer aus den - von Lohn- und Sozialdumping. Ländern der EU; die unterscheiden sich von den pol- nischen Werkvertragsarbeitnehmern nämlich kaum. (Ulrich Irmer [F.D.P.]: Wieso Arbeitnehme Es gibt auch hierzu Berichte aus den Botschaften: rinnen? Die Männer betrifft das nicht?) daß die Leute im Krankheitsfall sofort hinausgewor fen werden und daß bei Unfällen die Existenz von - Ich rede jetzt weiter. - Diese Seite behauptet, das Verträgen bestritten wird. sei im Sinne und zum Schutz der Tarifautonomie. Wofür diese Begriffe herhalten müssen, ist immer Die Situation auf den Baustellen ist ausgesprochen wieder erstaunlich. Jetzt muß die Tarifautonomie so- explosiv. Die Kollegen werden gegeneinander ausge- gar für ihre eigene Aushebelung herhalten. spielt, und zwar nach unterschiedlicher Herkunft und nach Paß. So entstehen na tionale Ressentiments Denn wenn wir diese Zustände auf den Baustellen und nicht etwa ein weltoffenes Europa. zulassen, ist das das Ende von Tarifautonomie. Tarife und Vereinbarungen werden do rt in Zukunft kaum Die Unternehmen der Baubranche, die sich korrekt noch eine Rolle spielen. Was soll die Gewerkschaft verhalten und noch Tariflöhne zahlen, werden durch noch verhandeln? Die Aufgabe des Staates ist es, für dieses Sozialdumping in den Konkurs getrieben oder Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1995 4925

Annelie Buntenbach gezwungen, auch unter Tarif anzubieten. Wenn Herr Hautfarbe, Rasse, Religion, Überzeugung, staatlicher Murmann diesen Prozeß des freien Falls wi ll - wir Herkunft oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten wollen ihn nicht. Die Baubranche, und zwar beide sozialen Gruppe. Damit können wir versuchen si- Tarifparteien, will ihn auch nicht. cherzustellen, daß auch diejenigen Personen aus dem Ausland, die auf dem Arbeitsmarkt gleiche Ein nach Herkunft und Paß hierarchisch organi- Chancen genießen sollen, wirksame soziale Schutz- sierter Arbeitsmarkt ist einfach nicht akzeptabel. Den rechte in Not- und Härtefallen haben. vorübergehend in der Bundesrepublik beschäftigten Arbeitnehmern und Arbeitnehmerinnen müssen die Um der illegalen Leiharbeit entgegenzutreten, ist gleichen Arbeits- und Entlohnungsbedingungen ga- es das mindeste, auch das Arbeitnehmerüberlas- rantiert werden, wie sie für inländische Arbeitskräfte sungsrecht, von dem ich sonst wirklich nicht viel gelten. Alle am Einsatzort geltenden tariflichen, ar- halte, zur Geltung zu bringen und außerdem arbeit- beits- und sozialrechtlichen Standards müssen ab nehmerähnliche Personen, sprich: Scheinselbstän- dem Tag der Arbeitsaufnahme angewendet werden. dige, mit einzubeziehen. Die soziale Lage der ausländischen Arbeitnehmer darf nicht länger für den Profit dubioser Subunter- Wie sehr die jetzige erbärmliche Lage auf den Bau- nehmer oder zum Lohndumping gegenüber Kollegen stellen die Risiken von Unfällen verschärft, ist offen- ausgenutzt werden. Tarifliche und gesetzliche Stan- sichtlich. Um so wichtiger ist es, daß auch für ent- dards können nur geschützt und ausgebaut werden, sandte Arbeitnehmer die Unfallverhütungsvorschrif- wenn sie für alle Beschäftigten am Produktionsort ten gelten müssen. gelten und nicht unterlaufen werden können. Auch wenn jetzt unklar ist, welcher Gesetzentwurf Die Einbeziehung der Sozialkassen hätte einen die Grundlage der weiteren Beratungen bilden wird, doppelten Sinn: zum einen, die Standards anzuglei- möchte ich hier einige wesentliche Kritikpunkte zum chen, und zum anderen, eine Kontrolle der Einhal- Entwurf der Bundesregierung anmerken, diesmal tung der Gesetzesvorschriften zu erleichtern. Denn nicht zur Frage der Allgemeinverbindlichkeitserklä- damit wäre eine Erfassung und Überprüfung ermög- rung. Vielmehr möchte ich die Chance nutzen, daß licht, die nicht nur im nachhinein auf den Baustellen nach dem Scheitern noch die Möglichkeit besteht, stattfindet. andere Unstimmigkeiten schon zu diesem Zeitpunkt auszuräumen. Genau nach solchen strukturell eingebauten Kon- trollmöglichkeiten müssen wir in den Beratungen su- Da ist die Frage: Wer soll von dem Gesetz erfaßt chen. Denn die Frage, wie die Kontrollen ablaufen werden? Der Entwurf sagt: das Bauhauptgewerbe. sollen und ob sie Erfolg haben können, halte ich bei Ich halte diese Beschränkung für unsinnig. einem Entsendegesetz für ganz entscheidend. Der (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, alte Entwurf der Bundesregierung sagt hier lediglich bei der SPD und der PDS) lapidar: Das sollen die Länder machen. Das mindeste ist doch, die Bundesanstalt für Arbeit einzubeziehen. Denn das Baunebengewerbe ist mindestens ebenso Wer nicht einmal das tut, programmiert den Mißer- betroffen. Oder arbeiten etwa diejenigen nicht unter folg vor, um dann nach zwei Jahren sagen zu kön- denselben Bedingungen auf den Baustellen, die den nen: Seht ihr, es nützt doch gar nichts. Estrich oder die Fliesen legen oder die Elektro-, Hei- zungs- und Sanitärinstallation durchführen? Damit komme ich zum schlagendsten Unsinn des (Zustimmung bei Abgeordneten der SPD) Regierungsentwurfs, der Beschränkung auf zwei Jahre. Alle Experten und Expertinnen haben bei Das ist ein weiterer fauler Kompromiß, der aus- der Anhörung im Juni - gleich, was sonst ihre Mei- schließlich die Kontrollen erschwert und einfach je- nung zum Entsendegesetz war - einhellig festge- der Logik widerspricht. stellt, daß das überhaupt keinen Sinn mache. Wenn Zweite Frage: Welche Standards sollen gelten? Sie in Ihrem Gesetzentwurf einfordern - das habe Hier liegen sowohl in der Stellungnahme der IG Bau, ich auch hier gehört -, daß sich die Baubranche auf Steine, Erden als auch in den Gesetzentwürfen der europäische Standards umstellen soll und das in - SPD und des Landes Berlin ausgesprochen vernünf- diesen zwei Jahren geschehen soll, dann, finde ich, tige Vorschläge vor, die wir in den Beratungen im muß man auch klar sagen, was das heißt: Dabei einzelnen prüfen müssen. Klar ist auf jeden Fa ll: Es kommen nicht menschenwürdige Arbeitsbedingun- kann sich nicht allein um den ortsüblichen Lohn han- gen für alle im europäischen Rahmen, sondern deln. Vielmehr muß es auch um die gesetzlichen Re- Lohn- und Sozialdumping als gesellschaftlicher gelungen z. B. in den Bereichen Arbeitsschutz und Normalfall heraus. Lohnfortzahlung im Krankheitsfall gehen. Herr Blüm, das mit den zwei Jahren können Sie (Peter Dreßen [SPD]: Und die Unfallversi doch eigentlich nicht ernst gemeint haben. Oder hof- cherung!) fen Sie, daß Sie nach der Berlin-Wahl - oder genauer: - Das kommt noch. nach dem Berlin-Wahlergebnis von Herrn Rexrodt - aus dieser absolut schrägen Kompromißlage wieder Zu den im harten Kern einer Richtlinie zu regeln- herauskommen? den Arbeitsbedingungen gehört auch - das möchte ich für die weiteren Beratungen ausdrücklich beto- Ich bin auf die weiteren Beratungen insgesamt ge- nen - ein Verbot der Diskriminierung auf Grund von spannt. Wir müssen zügig weiterkommen. Noch ein 4926 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1995 Annelle Buntenbach Sommer mit diesen schlimmen Bedingungen auf Das war Origionalton Lambsdorff. Das wi ll die F.D.P. dem Bau ist nicht zu verantworten. Sie benutzen das Instrument der Verhinderung des (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Entsendegesetzes, um die Tarifautonomie kaputtzu- und bei der SPD) machen, die sozialen Sicherungssysteme zu zerstö- ren und die deutsche Arbeitnehmerschaft ins vorhe- Für die Zielsetzung der Entsenderichtlinie, nicht rige Jahrhundert zurückzuführen. für die von der Bundesregierung vorgelegte Ausge- staltung, gibt es zwar im Moment keine Mehrheit in (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne den Regierungsfraktionen, aber im Parlament. Dar- ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN - aus kann man doch etwas machen. Dabei wünsche Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ ich Ihnen, Herr Blüm, und uns allen viel Erfolg. DIE GRÜNEN], zur F.D.P. gewandt: Schä men Sie sich!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der PDS) Sie haben zweitens gesagt, die SPD wolle mit ih- rem Entsendegesetz den ausländischen Arbeitneh- mern den Vorteil, den sie bei uns wahrnehmen kön- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort zu ei- nen, wegnehmen. Welchen Vorteil hat der portugie- ner Kurzintervention erhält der Abgeordnete Ottmar sische Arbeitnehmer? Schreiner. Ich habe den Bericht einer portugiesischen Fern- sehjournalistin vor mir liegen, die portugiesische (SPD): Liebe Kolleginnen und Ottmar Schreiner Bauarbeitnehmer acht Monate auf deutschen Bau- Kollegen! Ich habe mich zu einer Kurzintervention stellen begleitet hat. Wissen Sie, was die Quintessenz gemeldet, weil Frau Kollegin Dr. Babel eine Zwi- ihres Berichts ist? schenfrage nicht zugelassen hat, was an sich unge- wöhnlich ist, weil es zum guten Verfahren gehört. ,Inseln des ausländischen Rechts entstehen in Deutschland?' Nein: Was in der Tat entsteht, sind (Dr. Gisela Babel [F.D.P.]: Normalerweise Inseln des Unrechts, der Willkür, der Sklaverei. mache ich das auch nicht!) Wissen Sie, wie mit diesen Menschen hier umge- Frau Dr. Babel, Sie haben hier in der Tonlage der sprungen wird? Sie beschreibt einige Beispiele: Chefin einer amerikanischen Suppenküche für Arme Deutsche Kriminelle, die in Po rtugal Scheinfirmen gesprochen, gleichzeitig aber die Wirk lichkeit in ei- gründen, dort portugiesische Arbeitnehmer anheu- nem derartigen Maße verfälscht, daß m an es nicht ern, bringen sie nach Deutschland. Dann passieren durchgehen lassen kann. Sie haben behauptet, jede weitergehende Entsenderegelung würde die Tarifau- folgende Fälle: tonomie gefährden. Diese Krokodilstränen hätten Sie Ein Arbeiter, den er sterbenskrank nach Portugal sich wirklich sparen können. geschickt hat, starb nach zwei Monaten in seinem Dorf. Sogar für den Krankentransport vom Lissa- Was die F.D.P. eigentlich will, ist die Zerstörung bonner Flughafen zum Dorf, ins Innere des Lan- der Tarifautonomie und die Aushöhlung der sozia- des, mußte seine Frau aufkommen. Das sind nur len Sicherungssysteme. einige Beispiele. (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE Sie bringt eine Fülle von anderen Beispielen, die GRÜNEN und der PDS) zur Quintessenz haben, daß die Leute keine Arbeits- Weil Sie das wollen, wollen Sie keine Entsendericht- verträge sehen, daß sie bestenfalls Taschengeld se- linie. Sie wollen die Arbeitnehmer schutzlos stellen, hen, daß sie, wenn sie krank werden, auf Kosten der vogelfrei machen und ins 19. Jahrhundert zurückfüh- Ersparnisse der Ehefrau nach Portugal zurückge- ren. Das ist der Kern Ihrer Absicht. bracht werden. Meine Güte, welchen Vorteil nehmen diese Menschen in unserem Lande wahr? (Beifall bei der SPD) Das einzige, was die F.D.P. hier schützt, sind krimi- Das bestreiten Sie noch nicht einmal. Wenn Sie das nelle Machenschaften. Sie sind eine Heuchler- bestreiten würden - ich hätte das jetzt ganz gerne- ge- gruppe. hört -, würde ich Graf Lambsdorff zitieren, über den vor wenigen Wochen im „Handelsblatt" stand - ich (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE zitiere ein paar Sätze über die Meinung des Ehren- GRÜNEN und der PDS) vorsitzenden der F.D.P. -: Lambsdorff ist der Meinung, daß die in der Bun- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Ebenfalls zu desrepublik praktizierte Tarifautonomie nicht einer Kurzintervention erhält das Wo rt die Kollegin länger Bestand haben könne ... Natürlich gehöre Babel. ein Arbeitnehmer-Entsendegesetz zur Konse- (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ quenz der Tarifautonomie ... Der Druck, der aus DIE GRÜNEN], zur F.D.P. gewandt: Sind Sie den ausländischen Arbeitsbedingungen komme, jetzt eine Heuchlerbande oder nicht?) müsse auf den deutschen Arbeitsmarkt weiterge- leitet werden. Und die Verhinderung des Entsen- degesetzes sei ein erster Schritt zur Bekämpfung Dr. Gisela Babel (F.D.P.): Herr Kollege Schreiner, dieses Kartells. ich finde weder den Ton noch den Inhalt dessen, was Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1995 4927 Dr. Gisela Babel Sie hier bieten, akzeptabel. Ich finde das dem Parla- ten eines Kavaliers nicht zu vereinbaren ist, und ich ment nicht angemessen. spreche dem Kollegen hiermit jede Qualität eines Ka- valiers ein für allemal ab. Herr Kollege, ich verachte (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU - dieses. Peter Dreßen [SPD]: Die Wahrheit ist manchmal hart!) (Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) - Es geht nicht um die Wahrheit. Es geht um die Tat- sache, daß Sie offensichtlich alle noch nicht wahrge- nommen haben, daß wir in einem Europa leben, in Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Herr Kollege Ir- dem wir den Menschen freien Zugang zu allen mer, die Beurteilung von Qualitäten als Kavalier ist Dienstleistungsunternehmen und zu allen Betrieben natürlich nicht Sache der Präsidentin. Ich habe hier gegeben haben, daß wir ein Europa wollen, von dem gegebenenfalls Ordnungsrufe zu erteilen. Deutschland unsäglich profitiert. Sie wollen auf der anderen Seite die anderen Länder, deren Level nied- (Ulrich Irmer [F.D.P.]: Das geht nicht, Frau riger ist, wo die Armut größer ist, wo die Arbeitslosig- Präsidentin!) keit höher ist, wo die Not drückender ist, von den Ich fahre in der Rednerliste fo rt. Das Wort hat jetzt Töpfen fernhalten. die Abgeordnete Heidi Knake-Werner. (Widerspruch bei der SPD) Dr. Heidi Knake-Werner (PDS): Frau Präsidentin! Ich halte das mindestens für unanständig. Das sage Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Gott sei ich Ihnen! Dank ist ja nun die Welt wieder in Ordnung. Als ich Zweitens zur Tarifautonomie: Ich muß ja zugeben, nämlich vorhin Herrn Minister Blüm gehört habe, daß ich auch ein bißchen geschmunzelt habe, daß dachte ich: Irgendwie ist heute hier ein bißchen ver- Graf Lambsdorff, wirtschaftspoli tischer Sprecher kehrte Welt. Der Minister Blüm hält eine flammende und nicht nur Ehrenvorsitzender, sich zum Schutz- Rede, formuliert flammende Appelle zugunsten der patron der Tarifautonomie aufgeschwungen und ge- nationalen Entsenderichtlinie und rennt damit bei sagt hat, es kann doch jetzt wohl nicht eine Mindest- den meisten hier Anwesenden offene Türen ein. Er lohnregelung kommen. Die stellt ja nun in der Tat in kämpft für die Tarifautonomie und wird von den Ar- Deutschland das Tarifgefüge auf den Kopf. beitgeberverbänden in die Pfanne gehauen. Ich dachte, daß ich vielem, was der Minister hier vorge- Aber, meine Damen und Herren, wenn Sie nicht tragen hat, eigentlich zustimmen kann. Ich finde es sehen, daß wir im Tarifgefüge auch in den kommen- nur blöde, daß ich all das, was er hier gesagt hat, in den Zeiten Flexibilität brauchen, andere Möglichkei- seinem Gesetzentwurf nicht wiederfinde. ten, je nachdem in den Betrieben abzuweichen, dann (Beifall bei der PDS) kann ich nur sagen: Gehen Sie ruhig mal zu Schrö- der in die Schule für moderne Wirtschaftspolitik. Deshalb will ich jetzt zu dem Gesetzentwurf etwas (Lachen bei der SPD) sagen. In der Anhörung des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung zum SPD-Antrag sprach sich - Das, was hier abläuft, ist dermaßen antiquiert, ist das ist hier schon erwähnt worden - die Mehrheit der ein Klassenkampf; der ist so muffig, der ist aus dem dort anwesenden Sachverständigen für eine natio- 19. Jahrhundert. Herr Schreiner, Sie sind viel zu in- nale Entsenderichtlinie aus, und zwar aus unter- telligent, um hier so einen Mist zu erzählen. schiedlichen Motiven. Die einen waren eher aus wettbewerbspolitischen Gründen dafür, sie möchten (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU - die Wettbewerbsverzerrungen für Unternehmen auf Zurufe von der SPD - Zuruf des Abg. Ulrich dem gemeinsamen europäischen Markt abschaffen; Irmer [F.D.P.]) bei den anderen stand eher die sozialpolitische Ziel- setzung im Vordergrund. Daß ich mich zu letzteren - rechne, wird Sie vielleicht nicht überraschen. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Nein, Herr Ir- mer, es gibt normalerweise nur eine Antwort. Uns geht es vor allem darum, die Rechte der Be- schäftigten zu sichern, die entsandten Arbeitnehme- rinnen und Arbeitnehmer vor Ausbeutung zu schüt- Ulrich Irmer (F.D.P.): Frau Präsidentin, ich wi ll zen und Sozialdumping zu vermeiden. Dies wurde nichts zur Sache sagen, ich möchte mich über das übrigens vom Ausschuß für soziale Angelegenheiten, Verhalten eines Kollegen beschweren. Er hat, wäh- Beschäftigung und Arbeitsumwelt des Europäischen rend Frau Babel gesprochen hat, diese Bewegungen Parlaments als das vom sozialen Gesichtspunkt her gemacht. Ich finde, das ist unparlamenta risch und wichtigste Ziel einer Entsenderichtlinie bezeichnet. ungehörig. Dazu ist der auf dem Tisch liegende Gesetzentwurf (Zuruf des Abg. Ottmar Schreiner [SPD]) der Bundesregierung ungeeignet. Richtig gefällt mir an ihm eigentlich nur der Verzicht auf eine Schwel- - Nein, Sie waren es nicht, Herr Schreiner, es war der lenfrist. Die Schutzregelungen für die Arbeitnehme- Kollege hier vorn. Ich empfinde das als ausgespro rinnen und Arbeitnehmer sollen vom ersten Tag an chen ungehörig. Ich finde, daß das mit dem Verhal gelten. Das ist ja immerhin ein gewisser Schritt. 4928 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1995

Dr. Heidi Knake-Werner Ihr Gesetzentwurf krankt aber vor allem an drei Es muß vor allem geklärt werden, wie die Rechte Dingen. Erstens beschränkt er sich auf das Bauge- der vorübergehend entsandten arbeitenden Men- werbe, anstatt für alle entsandten Arbeitnehmerin- schen garantiert werden können. Hierzu zählen ne- nen und Arbeitnehmer zu gelten. Zweitens soll sich ben Beratungsangeboten für die Beschäftigten und der Lohnschutz nur auf die untersten Lohngruppen der Möglichkeit der Verbandsklage der Gewerk- erstrecken, also nicht auf alle Lohngruppen. Drittens schaften auch Kontroll- und Sanktionsmöglichkeiten wollen Sie die Regelung auf zwei Jahre befristen; das gegenüber den Unternehmen. Ohne Sanktionen finde ich genauso dusselig, wie es Frau Buntenbach wird es nicht gehen. schon verdeutlicht hat. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wieso sind wir Sicherlich ist hauptsächlich die Baubranche betrof- überhaupt in diese Situa tion gekommen, daß wir hier fen. Unbestritten ist auch, daß die Probleme hier am heute diese Frage beraten müssen? Wir beraten sie, drängendsten sind. Aber die unmenschliche Konkur- weil Sie bei den Maastrichter Verträgen die Freizü- renz um Arbeitsplätze durch Lohndumping, fehlende gigkeit von Kapital, Waren und Dienstleistungen ge- soziale Absicherung und mangelhaften Arbeits- schaffen haben, wie Frau Babel soeben nachdrück- schutz ist eben nicht auf die Bauwirtschaft begrenzt, lich ausgeführt hat. sondern betrifft auch viele andere Bereiche. Aber, Frau Babel, Sie haben leider eines verges- Sie wollen mit Ihrem Gesetzentwurf noch nicht ein- sen, nämlich die Gestaltung des europäischen Sozial- mal alle am Bau arbeitenden Kollegen in die Rege- raums. Das haben Sie bewußt ausgelassen. lung einbeziehen. - Jetzt hätte ich fast auch „Kolle- ginnen" gesagt, aber das trifft ja in der Regel nicht (Joseph Fischer [Fr ankfurt] [BÜNDNIS 90/ zu, leider. DIE GRÜNEN]: So ist es!)

Für Baunebenberufe wie z. B. Maler und Fliesenle- Eine nationale Regelung darf nicht hinter die For- ger soll die Regelung ebensowenig gelten wie für die derungen zurückfallen, die bereits im Entwurf der Metallberufe, die im Baubereich auch zuhauf vertre- EU-Kommission für eine EU-Richtlinie enthalten ten sind. Damit schaffen Sie am Bau gleich drei Klas- sind. Dort wird ein harter Kern von Mindestbedin- sen von Arbeitnehmern, nämlich die nach Tarif ent- gungen vorgeschlagen, der weit über die Festlegung lohnten inländischen, die mit dem Mindestentgelt einer unteren Lohngrenze hinausgeht, wie von Ihnen entlohnten entsandten Kollegen aus anderen EU- vorgeschlagen wird. Staaten und diejenigen entsandten Kollegen, die lei- der nicht das Glück haben, in den Wirkungsbereich Ich will jetzt die Punkte dieses harten Kerns gar des vorliegenden Gesetzentwurfs einbezogen zu nicht weiter aufzählen. Sie sind von Frau Bunten- sein. Sie werden weiterhin zu Hungerlöhnen von bach schon genannt worden. An diesen Punkten fünf, sechs oder sieben Mark schuften müssen. wird deutlich, daß es nicht nur um Entlohnung geht, sondern daß es auch um Arbeitsbedingungen geht, Entgegen Ihrer eigenen Zielsetzung, gespaltene daß es um Arbeitszeiten, Ruhezeiten, Nachtschicht, Arbeitsmärkte und die aus ihnen resultierenden so- Schichtarbeit, Schutzmaßnahmen, Gesundheits- zialen Spannungen zu vermeiden, bleiben Sie auf schutz usw. geht. halbem Wege stehen und begrenzen den Wirkungs- kreis des Gesetzes auf das Bauhauptgewerbe. Sie hingegen verweigern sogar dem Minimalkon- sens - gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Damit ist klar, daß Sie Ihr eigenes Ziel schon ver- Arbeitsort - Ihre Zustimmung, weil Sie den Lohn- fehlt haben, bevor Sie überhaupt begonnen haben. schutz nur auf die untersten Lohngruppen begren- Allerdings ist auch eine branchenübergreifende Re- zen. gelung natürlich nicht der Weisheit letzter Schluß. Sie könnte die Situation allenfalls entschärfen, weil Dennoch bin ich schon der Meinung, daß wir, be- selbst minimale Arbeitsbedingungen häufig auch vor es zu einer europaweiten Entsenderichtlinie dann nicht eingehalten werden, wenn die Arbeitneh- kommt, ein nationales Gesetz brauchen. merinnen und Arbeitnehmer aus dem Ausland ge- setzlich gleichgestellt sind. Wie Sie aber zu der Annahme kommen, daß sich das europäische Lohnniveau in nur zwei Jahren so Das Beispiel der Werkvertragsarbeitnehmerinnen angeglichen haben wird, daß die Lohnunterschiede und -arbeitnehmer aus den osteuropäischen Län- eine Regelung überflüssig machen, ist mir vollkom- dern, hier schon häufig genannt, zeigt dies immer men unklar. Ich betone noch einmal: Ich finde eine wieder deutlich. Begrenzung bis 1997 völlig verfehlt. Die sozialen Dienste der Wohlfahrtsverbände und Zum Abschluß noch folgende Bemerkung: Es ist Beratungsstellen wie z. B. der polnische Sozialrat ge- ben über die erbärmlichen Bedingungen, unter de- schon eine Ironie der Geschichte, daß Sie mit Ihrem nen hier zum Teil gearbeitet wird, drastische Schilde- Gesetzentwurf so ziemlich zwischen alle Stühle gera- rungen ab. ten. Nachdem Sie sich auf Druck der Bauwirtschaft dazu entschlossen haben, diese Regulierung vorzu- Ein wirksamer Schutz gegen schlechte Arbeitsbe- schlagen, obwohl Sie sich ja sonst eigentlich eher in dingungen und die teilweise unmenschliche Konkur- Deregulierungsmaßnahmen „bewähren", werden renz um Arbeitsplätze wird nur möglich, wenn die Sie von den Arbeitgeberverbänden ausgebremst. Beschäftigten selbst in den Mittelpunkt gerückt wer- Ausgerechnet die verweisen dann auch noch auf die den. Tarifautonomie und wollen damit Ihr Gesetz zu Fall Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1995 4929

Dr. Heidi Knake-Werner bringen. Das ist wirklich ungeheuerlich verwirrend, Sie, meine Damen und Herren von der SPD, setzen wenn man sich das genau anschaut. mit Ihrem Gesetzentwurf - wen kann dies wundern? - voll auf staatlichen Dirigismus. (Beifall bei Abgeordneten der PDS) (Uwe Lühr [F.D.P.]: So ist das!) Ich wünsche Ihnen jedenfalls, Herr Minister - und das meine ich ganz ernst -: Bleiben Sie stark, und Sie wollen einen Schutzraum um den deutschen Ar- schaffen Sie mit uns ein vernünftiges Gesetz! beitsmarkt errichten und erwarten gleichzeitig, daß Danke schön. unsere Produkte weltweit verkauft werden können. (Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordne (Erika Lotz [SPD]: Das ist nicht wahr!) ten der SPD und des Abg. Joseph Fischer Mit Schutzräumen fördert m an keinen Wettbewerb. [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Wir gehen diesen Weg nicht mit. (Joseph Fischer [Frankfu rt] [BÜNDNIS 90/ Das Wort hat Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: DIE GRÜNEN]: Junge, das stimmt nicht! - jetzt der Abgeordnete Julius Louven. Konrad Gilges [SPD]: Das stimmt nicht! - Ottmar Schreiner [SPD]: Jetzt kommt der Julius Louven (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Bäckermeister wieder raus!) Meine sehr verehrten Damen und Herren! Eigentlich sollte und wollte zu diesem Tagesordnungspunkt der Die Problematik, Herr Gilges, ist auch begründet Kollege Adi Hörsken reden. Adi Hörsken ist wieder durch den teuren Arbeitsmarkt Deutschland. Unter- einmal im Krankenhaus. Es geht ihm nicht gut, aber nehmen weichen in Nischen aus, um konkurrenzfä- er ist voller Hoffnung. Er hat mich gebeten, Sie, die hig zu bleiben. Wir erleben ja immer wieder, daß Sozialpolitiker, recht herzlich zu grüßen. neue Nischen gefunden werden. Wir müssen uns beispielsweise mit der Problematik des Mißbrauchs (Beifall im ganzen Hause) bei den 580-DM-Beschäftigungsverhältnissen befas- sen, mit dem Problem der Scheinselbständigkeit, mit Meine Damen und Herren, wir unterhalten uns dem Problem der illegalen Beschäftigung. Überall heute über zwei Gesetzentwürfe - einen von der Ko- müssen wir ordnend eingreifen. Ich sage Ihnen vor- alition und einen von der SPD -, weil eine EG-ein- aus: Wenn wir dies getan haben, werden neue Ni- heitliche Regelung nicht erreichbar war. Wir alle wis- schen gefunden worden sein. sen, wie der Minister während der deutschen Präsi- dentschaft um eine EG-einheitliche Richtlinie gerun- (Konrad Gilges [SPD]: Es geht doch um gen hat. Wir sollten, anstatt dem Minister die E rnst- faire Konkurrenzbedingungen!) haftigkeit abzusprechen, uns bei 'ihm für seine Mü- hen bedanken. Wer, Herr Gilges, Europa will, muß sich auch mit der Frage der Dienstleistungsfreiheit auseinander- ( [CDU/CSU]: Jawohl, so ist setzen. es!) (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Richtig!) Daß eine solche Regelung nicht zustande gekommen ist, ist sicherlich nicht seine Schuld. Folglich ist unser Ansatz liberaler. Wir wollen einer- seits helfen, die Dinge nicht eskalieren zu lassen, an (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU -dererseits aber auch die Tarifpartner zwingen, sich und der F.D.P.) auf neue Gegebenheiten einzustellen. Daß Sie, Herr Büttner, uns eben in Ihrer Rede auch Vor diesem Hintergrund stehe ich zu dem gefunde- noch vorgeworfen haben, wir betrieben in diesem nen Kompromiß in der Koalition und somit auch zu Punkt eine unchristliche Politik, ist geradezu primitiv. der Befristung auf zwei Jahre, und ebenso unter- (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Unerhört stütze ich, daß wir nur das Bauhauptgewerbe be- ist das!) rücksichtigen. - Entschuldigen Sie, Herr Büttner, daß ich Ihnen dies (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU so so sagen muß. wie bei der F.D.P.) Meine Damen und Herren, andere Länder verfah- Die meisten Bereiche des Baunebengewerbes er- ren ähnlich wie wir und schaffen nun na tionale Rege- fordern doch eine höhere Qualifikation, und sie ha- lungen. Wir haben heute, wie ich schon sagte, zwei ben auch höhere Sicherheitsstandards. Von daher Gesetzentwürfe auf der Tagesordnung. Das Problem sind - das haben auch meine Gespräche mit Hand- selbst ist hinlänglich bekannt: Subunternehmer aus werksorganisationen ergeben - im Baunebenge- dem EG-Bereich können mit Arbeitnehmern, von wo werbe die Probleme nicht so groß wie im Bauhaupt- auch immer, hier in der Bundesrepublik tätig wer- gewerbe. den. Dies führt zu Wettbewerbsverzerrungen, dies führt - trotz eines Baubooms in Deutschland - zu Ar- Meine Damen und Herren, wir wollen eine Rege- beitslosigkeit. lung über die Allgemeinverbindlichkeit. Hierzu gibt es Streit im Arbeitgeberlager, der hier schon vielfäl- (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ tig angesprochen worden ist. Ich muß Ihnen sagen: DIE GRÜNEN]: Und zu Ausbeutung!) Mich beeindruckt dieser S treit zunächst überhaupt 4930 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1995

Julius Louven nicht. Ich bin auch nicht bereit, schon jetzt mal eben Tatsache ist, daß wir erfreulicherweise in Berlin Mindest- oder ortsübliche Löhne einzufordern. Nein, seit einiger Zeit einen regelrechten Bauboom regi- wir haben mit unserem Entwurf die Hausaufgaben strieren können, was sich z. B. dadurch belegen läßt, gemacht, daß die Auftragsbestände zum Ende des ersten Halb- jahres 1995 ein Volumen von 6,2 Milliarden DM aus- (Peter Dreßen [SPD]: Das ist doch für den machten. Papierkorb, Herr Louven!) Dem steht jedoch ein stetes Ansteigen der Arbeits- und nun sind die Arbeitgeber am Zuge. Wir warten losenzahlen gegenüber, paradoxerweise speziell im einmal ab, ob sich die Bundesvereinigung der Deut- Baugewerbe. So ist nach Angaben des Landesar- schen Arbeitgeberverbände tatsächlich den Ansich- beitsamtes die Zahl der Arbeitslosen in Berlin in die- ten des Handwerks und des Baugewerbes ver- sem Bereich zwischen Mitte 1994 und Mitte 1995 von schließt. Ich jedenfalls kann es mir nicht vorstellen. 13,4 auf 15,7 % gestiegen. (Peter Dreßen [SPD]: Es steht doch heute in Weiterhin ist Tatsache, daß sich die Verwirklichung allen Zeitungen!) des EU-Binnenmarktes auch dadurch auszeichnet, daß im Zuge des zunehmenden grenzüberschreiten- - Warten wir es doch einmal ab, Herr Kollege. Der den Dienstleistungsverkehrs immer mehr Unterneh- Tarifausschuß hat noch nicht getagt. men Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen anderer Mit- Wir, meine Damen und Herren, sind sehr daran in- gliedsstaaten der EU entsenden. Wir haben jedoch teressiert, den Gesetzentwurf zügig zu beraten und leider immer noch stark unterschiedliche Arbeitsbe- zu beschließen. Wir gehen davon aus, daß er zum dingungen in den EU-Mitgliedsstaaten und vor allem 1. Januar 1996 in Kraft treten kann. das rechtliche Problem, daß in der Regel bei diesen Entsendungen für die betroffenen Arbeitnehmerin- (Beifall bei der CDU/CSU) nen und Arbeitnehmer die Bedingungen des Heimat- landes gelten und nicht die des tatsächlichen Ar- beitsortes. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Liebe Kollegin- nen und Kollegen! Da wir gerade Grüße ausgerichtet Wir wollen nicht den freien Dienstleistungsverkehr bekommen haben, denke ich, daß es in Ihrem Sinne verhindern, Herr Louven, sondern wir wollen uns um ist, sie Herrn Hörsken gegenüber zu erwidern und die Arbeitsbedingungen kümmern. ihm gute Besserung zu wünschen. Daraus resultiert als weitere Tatsache, daß wir auf (Beifall im ganzen Hause) den Baustellen geradezu absurde und in hohem Maße ungerechte und unsoziale Verhältnisse feststel- Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Renate Renne- len müssen. Hier arbeiten, so zynisch es klingt, im bach. besseren Fall Arbeitnehmer mit unterschiedlichen Löhnen und unterschiedlicher sozialer Absicherung bei jedoch gleicher Arbeit und im schlechteren Fall (SPD): Sehr geehrte Frau Präsi- Renate Rennebach keine Arbeitnehmer mehr, die nach deutschen So- dentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Alles, was zialstandards abgesichert und tarifvertraglich ent- bisher gesagt worden ist, hilft nicht. Wir diskutieren lohnt werden, sondern nur noch Arbeitnehmer unter schon jahrelang öffentlich über eine notwendige ge- Lohn- bzw. Sozialdumpingbedingungen. setzliche Regelung zur Angleichung der Arbeitsbe- dingungen bei der Entsendung von Arbeitnehmerin- Nicht besser ist es im Beschäftigungsbereich. Hier nen und Arbeitnehmern. Es scheint mir, daß in die- steigen, wie schon gesagt, die Arbeitslosenzahlen sem Falle, ohne es scharf zu formulieren, insbeson- und die Kurzarbeiterzahlen, und das, obwohl z. B. in dere die Damen und Herren von der F.D.P. immer Berlin die Auftragsbestände innerhalb des letzten noch nicht verstanden haben, worum es dabei ei- Jahres im Bauhauptgewerbe um 15 % und in Bran- gentlich geht und warum ein Entsendegesetz so not- denburg sogar um 31,5 % gestiegen sind. Das heißt, wendig ist. der Bauboom trägt in keiner Weise zu einer Entla- stung auf dem deutschen Arbeitsmarkt bei. Eher ist (Vors i t z : Vizepräsident Hans Klein)- sogar das Gegenteil der Fall. Nach Angaben des Ich sage das, obwohl Frau Babel hier wirk lich zu Bauindustrieverbandes Berlin/Brandenburg ist in der Herzen gehende Worte gefunden hat, um ihre wah- Region zwischenzeitlich jeder zweite Arbeitsplatz am ren Absichten zu verschleiern. Bau durch Lohndumping gefährdet. (Jörg van Essen [F.D.P.]: Das ist ja unglaub Nicht vergessen möchte ich die Auswirkungen auf lich! - Joseph Fischer [Frankfu rt] [BÜND den Unternehmensbereich. Insbesondere Klein- und NIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber die Maske Mittelbetriebe - Herr Louven, die gehören ja mit zu wurde ihr herabgerissen!) Ihrer Klientel -, die nach den bei uns üblichen Bedin- gungen entlohnen und somit auch kalkulieren, wer- Ich möchte Ihnen dies auch als Vorbereitung für den zunehmend aus dem Markt herausgedrängt, die Ausschußberatung gerne anhand der Situa tion in und zwar durch hauptsächlich in den Niederlanden Berlin und des hauptsächlich be troffenen Bereichs, ansässige Briefkastenfirmen, die Arbeitnehmer aus des Bauhauptgewerbes, verdeutlichen, was nicht Irland und Großbritannien anbieten, diesen Niedrig heißt, daß ich die Nebengewerke außer acht lassen löhne zahlen und auf diese Weise deutsche Unter- möchte. nehmen regelmäßig um bis zu 25 % unterbieten. Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1995 4931

Renate Rennebach So hat sich z. B. in der Region Berlin/Brandenburg tere Verbreitung des Sozialdumping gefördert sowie die Zahl der Konkurse und Vergleiche von Bauun- der soziale Friede nachträglich und fahrlässig weiter- ternehmen im Zeitraum von 1991 bis 1994 fast ver- hin gefährdet. Und nicht wir sind ausländerfeindlich, dreifacht, und das - ich wiederhole es - bei deutlich Frau Babel. ansteigenden Auftragsbeständen. Das kann man mit einem CDU/CSU-Gesetz, das bef ristet ist und mit ei- Entgegen der Lambsdorffschen Ignoranz gegen- ner Allgemeinverbindlichkeit operiert, die herzustel- über den Bereichen des Grundgesetzes, die die so- len überhaupt nicht notwendig ist, nicht ändern. ziale Komponente unserer Gesellschaftsordnung ga- rantieren, haben wir nun doch verschiedene Ent- (Beifall bei der SPD) würfe zur Diskussion vorliegen, die auf gesetzlichem Wege das Entsendeproblem lösen wollen. Dabei kön- Neben dieser untragbaren wirtschaftspoli tischen nen wir seit gestern abend feststellen, daß offensicht- und beschäftigungspolitischen Situa tion dürfen wir lich der Entwurf des Bundesarbeitsministers fast einen weiteren Aspekt nicht aus den Augen verlie- schon wieder vom Tisch ist, weil die Arbeitgeberver- ren, nämlich die Gefährdung der grundgesetzlich treter im BDA-Tarifausschuß nicht mitziehen wollen. verbrieften Tarifautonomie. Diese müssen wir inzwi- Sie haben die vorgesehene Allgemeinverbindlich- schen, wenn ich das „Handelsblatt" vom 26. Juli keitserklärung abgelehnt, wodurch dieser Gesetz- richtig gelesen habe - da Herr Schreiner es ebenfalls entwurf zu einer „sozialpolitischen Ozon-Verord- zitiert hat, werde ich es wohl richtig gelesen haben -, nung" verkommt, wie es mein Kollege Schreiner zu allem Überfluß aber bezeichnenderweise auch heute vormittag so treffend formuliert hat. noch vor der F.D.P. und namentlich dem Kollegen Lambsdorff verteidigen. Ich zitiere: (Julius Louven [CDU/CSU]: Wo?) Natürlich gehöre ein Arbeitnehmer-Entsendege- Es ist nicht nur die Allgemeinverbindlichkeit Kap- setz zur Konsequenz der Tarifautonomie und des pes, sondern auch noch die Befristung auf zwei Flächentarifvertrages. Doch müsse es zu Verän- Jahre. Sie suggeriert, als hätten wir danach eine derungen dieses Arbeitsmarktkartells kommen. heile Welt, was sicherlich nicht der Fall sein wird. Das hört sich wie „Mafia" an. Daraus kann für Sie, meine Damen und Herren Das Günstigkeitsprinzip ist ein Ungünstigkeits- von den Koalitionsfraktionen, eigentlich nur folgen, prinzip für Arbeitslose, die sich nicht unter Ta rif daß Sie sich dem Entwurf der SPD anschließen, denn anbieten dürfen. Es ist ihnen verboten, ihre Ar- darin entfällt ein förmliches Verfahren zur Allge- beitskraft zu einem untertariflichen Entgelt ein- meinverbindlichkeit. Wir wollen vielmehr tarifliche zubringen. Löhne und Arbeitsbedingungen verbindlich fest- schreiben, wenn Arbeitgeber mit Sitz im Ausland Ar- (Dr. Gisela Babel [F.D.P.]: Ist es auch!) beitnehmer und Arbeitnehmerinnen zur Erbringung - Sie haben es im Sommer vorigen Jahres gemacht von Dienstleistungen nach Deutschl and entsenden. und sind nicht angenommen worden. Noch ein Wort speziell an die Berliner Kolleginnen Unser Tarifvertragssystem ist ein Schutzzaun für und Kollegen von der CDU und an die Kollegen der Arbeitsplatzbesitzer und eine unfreundliche CDA, die ja in Ihrer Fraktion noch ein bißchen vertre- Maßnahme gegen Arbeitslose. ten sind. Überlegen Sie sich gut, ob Sie den Arbeit- nehmerinnen und Arbeitnehmern in unserer Stadt Wenn Frau Dr. Babel annimmt, daß Herr Lambs- helfen wollen oder ob Sie weiter in blindem Gehor- dorff mit diesem Satz die Tarifautonomie schützen sam etwas die Treue schwören, was sich seit der Sit- und unterstützen wolle, dann hat sie etwas falsch zung des BDA-Tarifausschusses letzte Nacht als völ- verstanden. lig sinnlos erwiesen hat. Wenn Sie unserer Stadt und (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne ihren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern tat- ten der PDS - Peter Dreßen [SPD]: Das ist sächlich helfen wollen, dann stimmen Sie unserem noch sehr höflich formuliert! - Dr. Gisela Gesetzentwurf zu, der, ebenso wie der Bundesrats- Babel [F.D.P.]: Nein, Sie haben alles falsch entwurf des Landes Berlin, diese Allgemeinverbind- verstanden!) - lichkeitserklärung nicht vorsieht. Die Sozialdemokra- ten im Berliner Senat haben einen Gesetzentwurf für Nach dieser Melodie will der Graf sicherlich a lles ab- den Bundesrat vorbereitet, der in weiten Teilen dem schaffen, was uns von der Sklaverei unterscheidet. der SPD-Bundestagsfraktion entspricht. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne (Dr. Gisela Babel [F.D.P.]: Seid ihr euch mal ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN - einig?) Widerspruch bei der F.D.P.) Zwar wurde dieser Entwurf durch die CDU-Senato- Meine Damen und Herren, die von mir vorher be- rin in der großen Koalition etwas abgeschwächt - schriebene Situation im Baugewerbe führt dazu, daß hier reden wir über Einigkeit, Frau Babel -; es ist je- in Deutschland ansässige Firmen förmlich dazu ge- doch eine Tatsache, daß der Berliner Entwurf unse- zwungen werden, die Tarifbindung zu umgehen, in- rem Entwurf wesentlich näher ist als der Entwurf der dem sie beispielsweise Subunternehmer aus europäi- Bundesregierung. Damit sind sich die Vertreter der schen Billiglohnländern beauftragen. So wird hin- CDU untereinander nicht einig. tenherum die Tarifautonomie ausgehebelt, werden Tarifverträge zunehmend bel angloser und die wei (Beifall bei der SPD) 4932 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1995

Renate Rennebach Von daher sollte nicht nur für alle Berlinerinnen und ternehmen dienen. Dann wird der Wettbewerb zu Berliner im Deutschen Bundestag eine Zustimmung Lasten kleiner und mittlerer Unternehmen verzerrt. zum SPD-Entwurf eine logische Konsequenz sein. Auch dies ist zweifellos ein unbestrittener Sachver- Unser Entsendegesetz abzulehnen heißt nichts ande- halt. res, als aus ideologischen Gründen ausschließlich das Wohl der Altherrenriege beim Bund der Arbeit- Den kleinen und mittleren Bauunternehmern steht geberverbände im Auge zu behalten, die Mischkalkulation mit Subunternehmern in der Regel nicht zur Verfügung. (Beifall bei der SPD - Dr. Gisela Babel [F.D.P.]: Stark!) (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Leider wahr!) sprich: den Profit der großen Firmen, Insoweit ist es legitim und das Ziel unseres Gesetz- (Widerspruch bei der CDU/CSU und der entwurfes, einen fairen Interessenausgleich zwi- F.D.P.) schen freiem Binnenmarkt und berechtigtem Schutz vor dessen Mißbrauch zu finden. die keine Rücksicht auf ihre Baukollegen nehmen. Das muß man auch einmal feststellen. Es interessiert Im übrigen - und hier muß ich leider einigen Vor- die einen feuchten Kehricht, wie es der Bauwirt- rednern widersprechen - gilt für mich grundsätzlich schaft geht! nicht: gleicher Lohn für gleiche Arbeit, sondern: glei- cher Lohn bei gleicher Produktivität unabhängig Vizepräsident Hans Klein: Frau Kollegin, Ihre Re- vom Unternehmensstandort. Auf dieser Basis sind dezeit! auch schon viele Tarifverträge abgeschlossen wor- den; das will ich der Kollegin sagen, die da „Ach du lieber Gott! " stöhnt. Renate Rennebach (SPD): Letzter Satz: Unsere Zielsetzung ist dagegen das Wohl der Arbeitnehme- (Heiterkeit bei der CDU/CSU und der rinnen und Arbeitnehmer, die zunehmend von ihren F.D.P.) Arbeitsplätzen, vor allem am Bau, vertrieben wer- den, und auch das Wohl vor allem der kleinen und Wir haben mit dem Entsendegesetz eine Lösung mittleren Betriebe beim Bau. Ich meine die Firmen, gesucht, die weder gegen den Geist der Europäi- die sich keinen Briefkasten in den Niederlanden lei- schen Verträge verstößt noch an den auftretenden sten können - oder auch nicht wollen. Schwierigkeiten im Baubereich vorbeigeht. Das Ri- siko eines solchen Gesetzes - einige Kolleginnen und Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich danke Ihnen. Kollegen haben darauf hingewiesen - darf dabei (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne nicht übersehen werden. Es darf nicht zugelassen ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN werden, daß es im gemeinsamen Binnenmarkt, der und PDS - Julius Louven [CDU/CSU]: Die für einzelne betroffene Branchen oder Unternehmen Wahl in Berlin ist gewonnen!) Anpassungsschwierigkeiten mit sich gebracht hat, mit einem solchen Gesetz zu einer Signalwirkung und damit zu einer Weckung von Begehrlichkeiten Herr Kollege Rainer Vizepräsident Hans Klein: bei anderen Branchen kommen kann. Haungs, Sie haben das Wo rt. (Dr. Gisela Babel [F.D.P.]: Jetzt kommt wie (Beifall bei der F.D.P.) der Vernunft!) Ich weiß nicht, ob einige der Vorredner, denen ich aufmerksam zugehört habe, diese Schwierigkeit und Rainer Haungs (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine Gefahr so sehen wie wir, die wir einer europäischen sehr verehrten Damen und Herren! Auf deutschen Wirtschafts- und Sozialpolitik verpflichtet sind. Baustellen arbeiten immer mehr ausländische Ar- beitnehmer zu anderen Bedingungen als ihre deut- Die in der letzten Woche geführte Diskussion um schen Kollegen. Führte dies in Boomzeiten schon zu den Gesetzentwurf zeigt jedoch, daß dies in Zukunft Schwierigkeiten, wird es gerade heute, bei nachlas- nicht ausgeschlossen werden kann. Die geforderte - sender Konjunktur, zu einem arbeitsmarktpolitischen Ausweitung des Kreises der Begünstigten beispiels- Problem, daß deutsche Bauarbeiter vermehrt in die weise oder eine Verlängerung des Zeitraums auf Arbeitslosigkeit gehen, während die Zahl der auslän- mindestens fünf Jahre erhöht die Anspruchshaltung dischen Bauarbeiter stetig ansteigt. Soweit der Sach- anderer Branchen, bei Wettbewerbsschwierigkeiten verhalt, der von niemandem bestritten wird. jederzeit gesetzliche Schutzbestimmungen einfor- dern zu können. Der berechtigte Stein des Anstoßes, meine verehr- ten Kolleginnen und Kollegen, liegt jedoch sicherlich (Zuruf von der F.D.P.: Exakt! So ist es!) nicht in der legalen Beschäftigung europäischer Ar- beitnehmer auf deutschen Baustellen, sondern in der Dies ist das Gegenteil einer offenen, in der Europäi- Grauzone des Zusammenwirkens deutscher Groß- schen Union und der Weltwirtschaft verflochtenen unternehmen mit ausländischen Subunternehmern, Arbeitsteilung, und es widersp richt allen unseren Er- soweit diese nicht wirklich selbständig für einen Ge- fahrungen, die uns in der Vergangenheit zu Wohl- neralunternehmer arbeiten, sondern oft in einem stand und sozialer Sicherheit geführt haben. Scheinverhältnis mit miserablen Arbeitsbedingun- gen nur der Mischkalkulation für deutsche Großun (Beifall bei der F.D.P.) Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1995 4933 Rainer Haungs Der Gesetzentwurf der Opposi tion, liebe Kollegin- zial ungerechtfertigt. Mir kann niemand erklären, nen und Kollegen, zielt meines Erachtens genau in warum ein Hilfsarbeiter in der Baubranche mehr ver- diese Richtung, die von mir kurz skizziert wurde, dienen soll, als der Ecklohn in vielen anderen Indu- nämlich in die falsche Richtung der Ausweitung auf striebranchen ist. Ich habe einige genannt. Ich habe andere Branchen, der Aushöhlung des Geistes des mir die gesamten Tariflöhne - da ich sie nicht so gut Binnenmarktes, in Richtung eines trügerischen, kurz- auswendig kenne wie Sie, Herr Kollege Gilges - aus fristigen Schutzes, der mit Sicherheit den nächsten den Bereichen Textil, Bekleidung, Leder, Holzindu- Sturm nicht überleben wird. strie usw. aufschreiben lassen. Es führt kein Weg daran vorbei, daß das, was Sie gesagt haben, wohl Der Gesetzgeber wird somit mit dem Entsendege- richtig ist - ich habe auch nicht daran gezweifelt -, setz einen Rahmen vorgeben, der von den Tarifpart- daß der Ecklohn in der Baubranche irgendwo zwi- nern mit Leben erfüllt werden muß. Dies dürfte ja schen 22 und 23 DM liegt. Aber wir können auch wohl der Sinn der Tarifautonomie sein. Wenn dies nicht daran zweifeln, daß der jetzige tarifliche Ein- von den Tarifpartnern abgelehnt wird, bezieht sich gangslohn für Ungelernte bei über 20 DM liegt. Es ihre Ablehnung dabei nicht auf die gesetzlichen ist sozial ungerechtfertigt, dann, wenn der Ecklohn Möglichkeiten - insofern gebe ich dem Kollegen in anderen Branchen bei 15, 16 oder 17 DM liegt, Louven völlig recht -, sondern auf die konkrete Um- hier eine solche Regelung zu treffen, und deshalb setzung durch die Tarifpartner. Es ist ein Angebot habe ich es als nachvollziehbar bezeichnet und ge- des Gesetzgebers. sagt, daß ich ein gewisses Verständnis für die Ent- (Zuruf von der SPD: Hohoho! - Konrad Gil scheidung der BDA habe. ges [SPD]: Ja, und dann? Was passiert, (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) wenn sie es nicht annehmen?)

- Ich habe vor, in meinen Ausführungen diese span- Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Haungs, nende Frage Ihnen und den anderen interessierten gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Bütt- Kollegen zu beantworten. ner? Die Kritik der Arbeitgeber habe ich als nachvoll- ziehbar, in Teilbereichen auch als gerechtfertigt be- Rainer Haungs (CDU/CSU): Ich gestatte sie. zeichnet. Es ist an der Zeit, für die Baubranche fest- zustellen, daß sich ihre Vorstellungen einer vor Wett- bewerbsdruck geschützten Überleitungsphase im Hans Büttner (Ingolstadt) (SPD): Herr Haungs, Ihre Gespräch, im Dialog, in der Verhandlung mit den an- Äußerungen über die Textilindustrie und andere Be- deren Arbeitgeberverbänden nicht umsetzen lassen. reiche widersprechen diame tral dem, was Bundesar- Dies hat die Branche zum Teil selbst verschuldet: beitsminister Norbert Blüm vorhin gesagt hat, der nämlich deutlich darauf hingewiesen hat, daß bei Eine hinausgezögerte Anpassung an den Binnen- Produktionen im Ausland halt auch die ausländi- markt, auch gefördert durch die jahrelange Hoch- schen Lebensbedingungen und Lebenshaltungsko- konjunktur am Bau, das Festhalten an einem starren sten zugrunde zu legen sind, also die Kosten des Pro- Lohnniveau und die Betonung einer scheinbaren duktionsstandortes. Nichts anderes wollen wir auch Sondersituation im Vergleich zum produzierenden im Bereich der Bauwirtschaft und bei der Arbeit hier Gewerbe haben zu einer aktuellen Isolierung ge- im Lande. Die Regelungen des Produktionsstandor- führt. Dies ist mit Sicherheit nicht Schuld der Politik. tes müssen Maßstab der sozialen und der Arbeitsver- Aber wir haben rechtzeitig - auch in der Diskus- hältnisse sein. sion über das Schlechtwettergeld - darauf hingewie- sen, daß unzeitgemäße Arbeitszeitregelungen, daß Rainer Haungs (CDU/CSU): Das war zwar keine daß fehlende Tariföffnungen mangelnde Flexibilität, Frage, sondern ein Kommentar. in einer Branche, die bisher dem europaweiten Wett- bewerb nicht so ausgesetzt war wie andere Bran- (Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Oder?) chen, zu diesen Schwierigkeiten führen können und jetzt auch führen. - Aber ich will gern diesen Kommentar aufgreifen, um Ihnen noch einmal dazu etwas zu sagen. Manche Textil- und Metallindustrie, zwei Bereiche, die seit Frage würde sich allerdings wohl erübrigen, wenn Jahren mit einer verschärften weltweiten Arbeitstei- Sie mich den Rest meiner Ausführungen machen lie- lung und mit internationalen Kostennachteilen zu ßen. kämpfen haben, mußten sich an den Wettbewerb an- passen, und sie sind in einem schmerzlichen Prozeß Ich sage ja: Ich stimme hier für das Entsendege- dabei. setz. Ich habe wie viele meiner Vorredner aus der Ko- alition ja daran mitgewirkt, daß es in der Form vorge- (Beifall bei der F.D.P. - Konrad Gilges legt wird, wie es jetzt vorgelegt worden ist. [SPD]: Stimmt nicht!) (Ottmar Schreiner [SPD]: Und gleichzeitig Von ihnen zu verlangen, einer anderen Branche begrüßen Sie die Haltung der Arbeitgeber! ohne eigene Anpassungsbemühungen auf lange Zeit Das ist doch hirnrissig!) einen Schutzzaun bei gleichartigen Konkurrenzbe- dingungen zu geben, dies grenzt an eine Zumutung. - Darf ich vielleicht erst die Frage des einen Kollegen Es ist nicht nur ökonomisch falsch, sondern auch so beantworten, bevor ich zu dem Zwischenruf des 4934 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1995 Rainer Haungs etwas aufgeregt schreienden Kollegen Schreiner während wir darum bemüht sind, ein flexibles Tarif- komme? system für das 21. Jahrhundert zu schaffen. Sonst weinen wir hier immer nur Krokodilstränen über ver- (Zuruf des Abg. Ottmar Schreiner [SPD]) lorengegangene Arbeitsplätze und tun so, als ob wir - Machen Sie das so; Sie werden nicht schlecht dabei das Problem nicht sehen würden, obwohl jeder von fahren. Aber erlauben Sie mir doch, jetzt zu versu- uns weiß, daß die weltweiten Wettbewerbsbedingun- chen, eine Antwort auf die Nicht-Frage, auf den gen anders geworden sind. In der Zwischenzeit ha- Kommentar Ihres Kollegen zu geben. ben sogar die Kollegen von den Grünen, vertreten durch den jetzt leider nicht anwesenden Vordenker, Ich weise darauf hin, daß ich hinter der Notwen- festgestellt, daß Abschottung nicht zum Wohlstand digkeit der Verabschiedung eines Entsendegesetzes führt, sondern daß wir eine offene Diskussion in der stehe, daß ich auch den Zuschnitt des Entsendege- Europäischen Union führen müssen, daß wir uns die- setzes mitgetragen habe und daß ich gesagt habe, sen Themen der Flexibilisierung nicht verweigern daß wir entgegen dem ursprünglichen Wunsch, das dürfen und daß Ihre Verweigerung der Realität schon ganze Tarifwerk für allgemeinverbindlich zu erklä- langsam neurotische Züge trägt. ren, die unterste Lohngruppe genommen haben. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Das Problem in Deutschland, nicht in Portugal oder sonstwo Ich fordere deshalb die Tarifpartner der Bauwirt- schaft auf, bei ihrer Diskussion um zeitgemäße Tarif- (Zurufe von der SPD) verträge, der sie sich derzeit mit großem Ernst wid- - was sind Sie für Störer; lassen Sie mich doch die men, auch zu einer anderen Gestaltung des Ein- Frage, die Ihr Kollege mir gestellt hat, in Ruhe beant- stiegslohnes, des Mindestlohnes - nennen Sie es Öff- worten -, besteht darin, daß die unterste Lohn- nungsklausel für die unteren Tarifgruppen - zu kom- gruppe für den Hilfsarbeiter am Bau, wenn ich dies men. Dann werden wir doch, wenn wir die deutsche mit dem Ecklohn anderer Branchen, die ich genau Regelung mit europäischen Regelungen vergleichen, studiert habe, vergleiche, sozial ungerechtfertigt und wenn wir sie damit vergleichen, was unsere französi- ökonomisch falsch ist. Insofern habe ich - diesen Hin- schen Freunde und Partner gemacht haben, feststel- weis will ich dem Kollegen noch geben -, die Ent- len, daß dort der SMIC, der Mindestlohn auf eine A rt scheidung der Arbeitgeber, der BDA, zwar bedauert, und Weise festgelegt worden ist, daß in- und auslän- aber als nachvollziehbar bezeichnet. dische Arbeiter auf einem zugegebenermaßen nied- rigen Niveau, aber nicht zu den Be trägen, die vorhin (Ottmar Schreiner [SPD]: Sie haben sie be genannt wurden, sondern auf einem niedrigen exi- dauert und gleichzeitig begrüßt! Sie sind stenzsicheren Niveau die Chance haben zu arbeiten; ein Künstler! Das ist schon fast schizo seien dies eigene Arbeitnehmer oder Arbeitnehmer phren!) aus anderen europäischen Mitgliedstaaten. Was kann ich denn dafür, wenn Sie viele Dinge nicht Ich hoffe, daß unsere Tarifpartner die Kraft haben, nachvollziehen können? Das ist doch nicht mein Pro- sich dazu zu bewegen. Die Lohnhöhe dieser unteren blem, sondern das Ihrige. Lohngruppe kann sich dann im Mittelfeld der unte- ren Gruppe anderer Branchen bewegen. Die ande- (Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Ich kann ren Branchen werden sich bei ihren Tarifverhandlun- Ihre Ansicht auch nicht nachvollziehen!) gen ja wohl auch etwas gedacht haben. - Ich habe aber versucht - das müssen Sie mir doch Bei einem Mißerfolg dieser Bemühungen kann zugestehen -, Ihre Frage zu beantworten, indem ich man auch einem Vorschlag nahetreten, der dieser sagte: Ich bin dafür Tage vom Eucken-Institut vorgelegt wurde, der be- (Ottmar Schreiner [SPD]: Und gleichzeitig sagt, daß durch die Einführung eines gesetzlichen dagegen!) Mindestlohnes die einzige rechtlich einwandfreie Lösung auf nationaler Ebene gesucht und gefunden - lassen Sie mich den Gedanken fortführen -, daß wir werden kann, um dieses Problem zu lösen. als Gesetzgeber an die Tarifpartner appellieren,- ihre Tarifautonomie wahrzunehmen und diesen Fehler - darüber gibt es gar nichts zu diskutieren; es ist sozial Vizepräsident Hans Klein: Ich entnehme der Kör- ungerechtfertigt, und es ist ökonomisch falsch - zu persprache des Redners, daß er eine Zwischenfrage berichtigen. Dann wird es vielleicht auch zu einer zuläßt. - Bitte, Frau Kollegin Babel. Allgemeinverbindlichkeit kommen. Aber alle Diskussionsbeiträge, die Sie, liebe Kolle- Dr. Gisela Babel (F.D.P.): Herr Kollege Haungs, ein ginnen und Kollegen von der Opposi tion, gebracht Rückruf bei dem Eucken-Ins titut heute hat ergeben, haben, führten in dieselbe Richtung. Sie haben mit daß sich das Eucken-Institut bei einer Aussage miß- viel Geschrei versucht, die Frau Kollegin Babel zu verständlich und falsch wiedergegeben fühlt. Es hat diffamieren, und Sie haben davon gesprochen, daß zwar geprüft, wie diese Mindestlohnregelung aus das ein Rückschritt ins 19. oder ins 18. oder ins 17. dem Jahre 1952 in den verfassungsmäßigen Grenzen oder in was weiß ich für ein Jahrhundert ist, zu bewerten ist. Es hat dies aber als einen Weg aus dem jetzigen Problem als in jeder Hinsicht völlig un- (Dr. Gisela Babel [F.D.P.]: Ein Schritt in das geeignet dargestellt. Ich wi ll das nur noch einmal 21. Jahrhundert!) richtigstellen, nicht daß hier der Eindruck verstärkt Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1995 4935

Dr. Gisela Babel würde, dieses Institut hätte diesen Weg empfohlen. Sie kennen meine Abneigung gegen Ordnungs- Das hat es nicht getan. rufe. ( [Berlin] [BÜNDNIS 90/DIE Rainer Haungs (CDU/CSU): Vielen Dank, Frau GRÜNEN]: Das hat sie bestimmt nicht ge Kollegin. Ich habe keinen Rückruf bei diesem renom- sagt! Ich glaube, mit Ihrem Hinweis richten mierten Institut getätigt. Ich fühlte mich nur auf der Sie sich an die falsche Adresse! - Weiterer Suche nach einer zweitbesten Lösung bestätigt, in- Zuruf: Das war doch nicht Frau Bunten dem ich gesagt habe: Für mich wäre die richtige Lö- bach, sondern Herr Schreiner!) sung im Sinne einer Tarifautonomie, daß die Tarif- - Moment, ich habe hier das Protokoll vorliegen. partner, wie von mir dargestellt, die tarifmäßige Lö- sung durch Tariföffnungen, durch Einführung neuer (Annelie Buntenbach [BÜNDNIS 90/DIE Einstiegstarife schaffen, um zu einer marktmäßigen GRÜNEN]: Ja, da richten Sie sich an die fal Lösung zu kommen. Dies wäre für mich die richtige sche Adresse! - Konrad Gilges [SPD]: Frau Lösung. Sehr wohl habe ich mich aber auch durch Buntenbach, Sie hätten es aber sagen kön die Vorschläge des Eucken-Instituts, wie sie in der nen!) Presse wiedergegeben wurden, in dem Gedanken bestärkt gefühlt, daß ich mir, wenn die Tarifautono- - Moment! Der Kollege hat das na- mie in diesem Fall nicht zu den Ergebnissen kommt, türlich mit rhetorischer Gerissenheit benutzt, in Fra- die wir uns wünschen, da ich den heutigen Zustand - geform gekleidet und gesagt: „Sind Sie jetzt eine da stimme ich in der Analyse den Kollegen von der Heuchlerbande oder nicht?" - Dies ist eine Wo rt Opposition zu - für untragbar halte, zumindest über- - -wahl, die wir in diesem Hause - legen will, ob nicht das vorhandene Instrument des (Dr. Gisela Babel [F.D.P.]: Herr Schreiner gesetzlichen Mindestlohnes mit einem deutlichen sammelt Ordnungsrufe! - Zuruf von der Abstand von den bisherigen Tariflöhnen eine Mög- SPD: Aber Frau Buntenbach hat sie nicht lichkeit ist, zu einer sachgerechten Lösung zu kom- gebraucht!) men. - Ich rede jetzt nicht mit Ihnen, liebe Kollegen. Ich werde dies noch einmal im Detail überprüfen. Ich glaube wohl, daß es ein Weg ist, falls die anderen (Dr. Gisela Babel [F.D.P.]: Das macht ihm Wege nicht zum Erfolg führen, auch wohl wissend, Spaß! Ohne das kann er nicht leben! - Ott daß Ihr prominenter Wirtschaftssprecher Graf Lambs- mar Schreiner [SPD]: Ja, ich war das! Ich dorff nicht dafür ist. melde mich freiwillig!) Die Lohnhöhe könnte sich - ich habe darauf hinge- Das ist eine Wortwahl, die wir in diesem Hause bitte wiesen - im unteren Mittelfeld bewegen. Ich glaube, unterlassen wollen. durchaus im Gegensatz zu Ihnen, liebe Kolleginnen Jetzt haben Sie, Herr Kollege Dreßen, das Wo rt zu und Kollegen von der Opposi tion, daß dem Gesetz- einer Kurzintervention. entwurf, den wir vorgelegt haben, durchaus noch ein weiteres Leben beschieden sein wird. Er ist in der jet- zigen Form mit der Allgemeinverbindlichkeit nicht Peter Dreßen (SPD): Herr Kollege Haungs, bisher durchsetzbar. Es liegt nun aber an den Tarifpartnern, habe ich Sie eigentlich als einen Kollegen einge- an uns und an den weiteren Beratungen, in diesem schätzt, der effizient arbeiten wi ll. Deshalb wundere Gesetzentwurf den Kompromiß zwischen sozialen Er- ich mich darüber, daß Sie sich hier für ein Gesetz fordernissen, europäischen Belangen und ökonomi- stark machen, von dem Sie genau wissen, daß es ei- scher Vernunft zu finden. gentlich nur für den Papierkorb ist oder sich für den Müll eignet. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist doch nicht wahr!) Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Peter Dre- ßen, bevor ich Ihnen das Wo rt zu einer Kurzinterven- Deswegen habe ich mich gefragt, wieso Sie dazu tion erteile, muß ich mich zunächst ein bißchen- mit kommen, diesen Entwurf eines Entsendegesetzes in dem Kollegen Schreiner beschäftigen und anschlie- dieser Form hier im Bundestag zu verteidigen. ßend noch etwas in Richtung der Grünen sagen. Sie wollten - das wurde mir dann klar - wieder ein- Herr Kollege Schreiner, die Befassung mit der cere- mal die Chance nutzen, die flexiblere Gestaltung bralen Beschaffenheit eines Kollegen - ich meine das der Tarifverträge zu fordern. Ich möchte Sie aller- Wort „hirnrissig" - ist nicht parlamentarisch. Der Zu- dings darauf hinweisen, daß es eine Angelegenheit ruf „Künstler" ist in Ordnung. der Tarifparteien ist, wie flexibel sie ihre Tarifver- träge gestalten. Und bitte: Benutzen Sie doch um (Heiterkeit) Gottes willen nicht den Begriff „flexiblere Gestal- tung", sondern sagen Sie, was Sie wollen, nämlich Herr Kollege Werner Schulz, ich wäre Ihnen d ank- Löhne von 8 oder 9 DM! Das empfänden Sie wahr- bar, wenn Sie der Kollegin Buntenbach auf Grund Ih- scheinlich als angebracht, aber Sie müßten es dann rer etwas längeren Erfahrung in diesem Hause erklä- auch einmal offen aussprechen. ren könnten, daß die Bezeichnung „Heuchler- gruppe" für eine andere Fraktion unparlamenta risch (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist doch ist. Stuß! ) 4936 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1995 Peter Dreßen Mich ärgert es, daß hier von Flexibilität gespro- Ich erteile das Wort der Kollegin Leyla Onur. chen wird, man aber meint, die Löhne sollten urn 20 oder 30 oder 40 % gesenkt werden. Da stellt sich für Leyla Onur (SPD): Herr Präsident! Liebe Kollegin- mich wirklich die Frage, ob das nicht - wie es hier nen und Kollegen! Es war bislang eine sehr interes- bezeichnet wurde - heuchlerisch ist. sante Debatte. Es ist viel Richtiges gesagt worden, Ich würde Ihnen empfehlen, einmal die Passagen aber auch sehr viel Falsches. Darauf möchte ich nur von Herrn Blüm, von denen ich nicht alle, aber zu- bedingt eingehen. mindest ein paar Teile, zur Einführung des Entsende- (Dr. Gisela Babel [F.D.P.]: Wer urteilt?) gesetzes nachzulesen. Dort hat er von Sportlern ge- sprochen und damit nicht die Arbeitnehmer, sondern Herr Bundesminister Blüm, wir brauchen ein Ent- die Unternehmer gemeint, die mit diesen Nachteilen sendegesetz, haben Sie zu Beginn Ihrer Rede gesagt. kämpfen müssen, weil sie - wenn sie ordnungsge- mäß vorgehen - ihre Tarifangestellten oder -arbeit- (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Hat er recht nehmer nach Tarif bezahlen müssen. Aber derjenige, gehabt!) der - wie gesagt - diese Briefkastenfirma in Portugal Herr Bundesminister, nein. Wir hätten eine europäi- aufmacht, kann hier tatsächlich mit den billigen Löh- sche Entsenderichtlinie gebraucht. nen arbeiten. Dieser Unternehmer hat dann die Turnschuhe an. Und Sie sind bereit, dem nicht nur (Bundesminister Dr. Norbert Blüm: Darm Gummistiefel überzuziehen, sondern ihm auch noch hätten wir hier trotzdem ein Gesetz ge Wasser in die Stiefel zu schütten. braucht!) (Zuruf von der CDU/CSU: Wovon spricht - Moment, ich komme noch darauf zurück. Das weiß der Kollege eigentlich? - Dr. Gisela Babel ich doch, Herr Kollege. [F.D.P.]: Er spricht von Wasser in Stiefeln!) (Bundesminister Dr. Norbert Blüm: Ich Vor diesem Hintergrund frage ich mich schon, wie wollte nur helfen! - Heiterkeit bei der CDU/ diese Leute arbeiten sollen. CSU und der F.D.P.) Ich würde Ihnen dringend empfehlen, sich auch - Sehr reizend. einmal im Baugewerbe zu erkundigen, wie viele Kollege Julius Louven ist Ihnen sozusagen zur Hilfsarbeitskräfte dort noch zu finden sind. Auf Seite gesprungen, indem er darauf hingewiesen hat, Grund der technologischen Entwicklung ist deren wie redlich Sie sich doch unter deutscher Ratspräsi- Zahl nämlich sehr rasant zurückgegangen. Wir ha- dentschaft in der zweiten Hälfte des Jahres 1994 um ben im Bau fast nur Fachkräfte beschäftigt. Deshalb die europäische Entsenderichtlinie bemüht haben, empfehle ich Ihnen einfach einmal, das eine oder an- die, man höre und staune, im Entwurf seit 1991 vor- dere nachzulesen. liegt und vor Vollendung des Binnenmarkts hätte Mich verwundert es, daß Sie sich nicht offen hier nicht nur verabschiedet, nein, sogar in na tionales hinstellen und sagen, wieviel Sie den Arbeitnehmern Recht umgesetzt sein sollen; so lautet jedenfalls der mit Ihrer Deregulierungskampagne, die Sie betreiben Vorschlag der Kommission von August 1991. Sie ha- und im Lande sehr stark vertreten, an weniger Lohn, ben sich also redlich bemüht, hatten aber keinen Er- mehr Arbeitszeit, weniger Mitsprache und weniger folg. Dazu fällt mir ein sicherlich auch Ihnen bekann- Urlaub zumuten wollen. Sagen Sie das doch einmal ter lateinischer Hexameter ein, der in der Überset- offen. Dann kann man darüber auch diskutieren. zung heißt: Wenn auch die Kräfte fehlen, ist dennoch Aber dieses ewige Darumherumgerede macht mich - der Wille zu loben. Ich bin gern bereit, Ihren Willen das muß ich ehrlich zugeben - langsam krank. zu loben. Aber es bleibt bei der Tatsache: Sie haben versagt. (Beifall bei Abgeordneten der SPD - Ju lius (Beifall bei der SPD) Louven [CDU/CSU]: Was war denn der Grund Ihrer Wortmeldung?) Sie haben mit diesem Versagen den kleinen und mittleren Betrieben in Deutschland, den inländi- schen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern und Vizepräsident Hans Klein: Da in der Blickrichtung- des Redners sowohl die Kollegin Babel als auch der auch den entsandten Arbeitnehmerinnen und Ar- Kollege Haungs sitzen, bin ich mir nicht ganz sicher, beitnehmern großen Schaden zugefügt. wen Sie angesprochen haben. Vizepräsident Hans Klein: Frau Kollegin, gestatten (Peter Dreßen [SPD]: Herrn Haungs!) Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Herr Haungs, Sie haben das Wort zur Erwiderung, Dr. Norbert Blüm? falls Sie es wünschen. (Rainer Haungs [CDU/CSU]: Das muß aber Leyla Onur (SPD): Aber selbstverständlich, Herr nicht sein!) Minister. - Es muß nicht sein. Wir begrüßen jede Wortmel- dung, die nicht erfolgt. Dr. Norbert Blüm (CDU/CSU): Ist Ihnen bekannt, daß wir in Europa keine Monarchie, sondern eine De- (Rainer Haungs [CDU/CSU]: Vielen Dank, mokratie haben und sogar im Ministerrat Mehrheiten Herr Präsident!) entscheiden? Insofern können Sie nur einer Mehrheit Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1995 4937

Dr. Norbert Blüm vorwerfen, daß sie versagt habe. Ich war leider Got- hilft nun alles nichts. Wir haben keine europäische tes nicht die Mehrheit. Entsenderichtlinie. Wir haben sie bis heute nicht.

Aber er ist nicht (SPD): Herr Bundesminister, mir sind (Dr. Gisela Babel [F.D.P.]: Leyla Onur schuld! - Julius Louven [CDU/CSU]: Dann die Verhältnisse im Sozialministerrat in Brüssel sehr wohl bekannt. Ich hatte die Ehre und das Vergnü- können Sie doch nicht sagen, der Minister gen, fünf Jahre Mitglied des Europäischen Parla- hätte versagt!) ments und dort auch im Sozialausschuß tätig zu sein. Deshalb müssen wir jetzt selbstverständlich hier ge- (Dr. Gisela Babel [F.D.P.]: O Gott, Sie meinsam eine nationale Regelung beschließen, die Arme!) sich natürlich an den Vorgaben der europäischen Entsenderichtlinie orientieren sollte. Es ging doch - das wollen wir den Kolleginnen und Kollegen nicht verschweigen - - In bezug auf Ihren Vorschlag, Herr Minister, (Abg. Dr. Norbert Blüm [CDU/CSU] begibt komme ich jetzt auf einige Punkte zu sprechen. sich zurück auf die Regierungsbank) Selbstverständlich verstehe ich - nein, ich kann es nur nachvollziehen, verstehen tue ich es nicht -, daß - Er will es gar nicht wissen. Sie unter dem Druck, einen Erfolg heimbringen zu (Zurufe von der SPD: Stehen bleiben! - müssen, in Europa natürlich zu jedem Kompromiß Dr. Norbert Blüm [CDU/CSU]: Ich stehe bereit waren und deswegen auch den Anwendungs- doch!) bereich auf die Baubranche beschränken wollten, in der Hoffnung, dann eine Mehrheit zu bekommen. Sie wissen und ich weiß, daß es nur darum ging, aus der Gruppe derjenigen, die eine Sperrminorität Ich verstehe auch nicht, daß Sie sich nun auch bei hatten, wenigstens einen Partner herauszubrechen. der nationalen Regelung mit diesem eingeschränk- Ich gebe Ihnen einmal ein Stichwort. Bei dement- ten Anwendungsbereich begnügen. Denn Sie wis- sprechender Argumenta tion wäre Ihnen das bei dem sen doch eigentlich, daß nicht nur die Baubranche griechischen Kollegen sicherlich gelungen, aber Sie betroffen ist. Wie ich gerade sehe, ist es noch viel haben es nicht auf die Reihe gebracht; das muß ich schlimmer: Es geht nur noch um das Bauhauptge- Ihnen hier noch einmal bestätigen. werbe und nicht einmal mehr um das ganze Bauge- werbe; das ist ja der Kompromiß des Kompromisses. (Julius Louven [CDU/CSU]: Kann es sein, In der Erläuterung zu § 1 Abs. 1 begründen Sie die daß Sie im Ausschuß versagt haben?) Einschränkung des Anwendungsbereiches auf die - Darauf kommen wir gleich noch. Baubranche folgendermaßen:

Im Baubereich sind innerhalb des europäischen Das Fragebedürfnis be- Vizepräsident Hans Klein: Binnenmarktes sehr erhebliche Unterschiede im steht weiter. Frau Kollegin, sind Sie bereit, eine wei- Lohn-Niveau zu beobachten. tere Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Norbe rt Blüm zu beantworten? Sie belegen das mit Zahlen, die mir sehr bekannt vorkamen, als ich sie zum erstenmal in Ihrem Ent- Leyla Onur (SPD): Selbstverständlich, da es nicht wurf gelesen habe. Und siehe da: Beim Nachlesen in von meiner Redezeit abgeht, mache ich das gerne. dem von mir schon genannten Kommissionsdoku- ment aus dem Jahre 1991 stoße ich genau auf diese Zahlen, und zwar präzise auf Seite 5 in einer Tabelle 2. Dr. Norbert Blüm (CDU/CSU): Frau Kollegin, ist Ih- Da werden nämlich diese Zahlen sozusagen im Ver- nen bekannt, daß der griechische Kollege zuge- gleich aufgelistet. Damit es nicht so auffällt, haben stimmt hat? Sie sind leider einer Fehlinformation zum Sie in diesem Fall nur die höchsten Tariflöhne ge- Opfer gefallen. nannt und nicht die hier ebenfalls genannten nied- (Heiterkeit bei der CDU/CSU und der rigsten Tariflöhne. Das mag so gehen. F.D.P.) Nur haben Sie uns die Tabelle 1 vorenthalten. In Sie sehen, unser Erfahrungsaustausch hat doch sei- dieser Tabelle 1 sind nämlich ebenfalls Tariflöhne nen Sinn. zwischen den Ländern verglichen, und zwar nicht (Erneute Heiterkeit bei der CDU/CSU und nur auf die Baubranche, sondern auf viele verschie- der F.D.P.) dene Branchen bezogen: Indus trie insgesamt, Berg- bau, produzierendes Gewerbe, Metallverarbeitung, Nahrungsmittelindustrie, Textilindustrie usw. Wenn Leyla Onur (SPD): Herr Bundesminister, Sie muß- Sie diese Tabelle einmal genau anschauen, werden ten noch extra eine Sondersitzung des Sozialmi- Sie feststellen, daß das Lohngefälle nicht nur bei der nisterrats im Dezember einberufen, um dann mit Baubranche dramatisch ist, sondern auch auf andere einem Kompromiß auf den Markt zu gehen, weil Sie Branchen zutrifft. Also fällt doch Ihre Argumenta tion immer noch auf eine Mehrheit gehofft haben. Aber - weil es in der Baubranche dieses Lohngefälle gebe, Sie sehen, das Ergebnis ist doch so, wie es ist. Das müsse man nur für die Baubranche ein solches Ent- 4938 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1995 Leyla Onur sendegesetz schaffen - wie ein Kartenhaus in sich Kommen wir zu einem weiteren Punkt. Wir hatten zusammen. vorhin schon die Diskussion: Mindestlohn kontra Ortsüblichkeit. Übrigens geht es gar nicht um den (Beifall bei Abgeordneten der SPD - Zuruf Mindestlohn kontra etwas, da dieses als ein Paket zu von der SPD: Alles übrige hat ihm doch die sehen ist. Wenn Sie, verehrter Herr Bundesminister, F.D.P. gar nicht erlaubt!) hier sagen: „Nur Allgemeinverbindlichkeit geht,

- Ich weiß, daß er nicht durfte. (Bundesminister Dr. Norbert Blüm: Mindest lohn geht auch!) (Ottmar Schreiner [SPD]: Das kommt häufi Ortsüblichkeit ist nicht richtig, ist falsch" - das sage ger im Leben vor!) ich ganz vorsichtig -, stellen Sie damit die verehrten Kollegen Ihrer Partei, aber auch der F.D.P., die im Eu- Er wollte vielleicht. Ich habe vorhin schon den guten ropäischen Parlament an diesem Gesetzentwurf, Willen gelobt. Vielleicht wollte der Bundesminister nämlich der Entsenderichtlinie, mitgewirkt haben, anders; aber er durfte ja nicht anders. Er mußte sogar als Deppen dar. Denn es waren gerade die deutschen nach dem Kompromiß eines Kompromisses zustim- Abgeordneten - übrigens aller Couleurs -, die darauf men. gestoßen sind, daß der Vorschlag der Kommission nicht ausreicht, weil er die deutsche und auch die dä- Das war der erste Punkt. In diesem Zusammen- nische Situati hang kommen wir auch auf die interessante Gel- on nicht trifft und weil auf dem Weg zur tungsdauer des Gesetzes, das auf zwei Jahre befri- Mindestlohn- und Allgemeinverbindlichkeitserklä- rung das Ziel - hinsichtlich des Ziels sind wir uns völ- stet ist. Auch da bemühen Sie dieses Zahlenwerk der lig einig: gleicher Lohn für gleiche Arbeit am glei- europäischen Kommission. Da heißt es nämlich in der chen Arbeitsort - nicht erreichbar ist. Deswegen sind Erläuterung zu § 1 Abs. 1 Ihres Entwurfs: die deutschen Abgeordneten aller Couleurs im Euro- päischen Parlament auf den Vorschlag gekommen, Da das unterschiedliche europäische Lohnniveau die Ortsüblichkeit in Form eines Änderungsantrags jedoch kein auf Dauer unveränderliches Merk- einzubringen. mal der Baubranche darstellt und somit nur inner- halb eines überschaubaren Zeitraums eine Un- In der Tat - wie vorhin schon ausgeführt worden gleichbehandlung rechtfertigen kann, ist das Ge- ist - ist das von der Kommission akzeptiert worden. setz in seiner Geltungsdauer auf zwei Jahre befri- Die Kommission hat verstanden, daß das ein Lö- stet. sungsweg ist - kein Königsweg, aber ein vernünfti- ger Lösungsweg. Ich begreife nicht: Warum lassen (Dr. Gisela Babel [F.D.P.]: Wie lange würden Sie die verehrten Kollegen der CDU/CSU und der Sie das denn machen?) F.D.P., die im Europäischen Parlament mitgewirkt und ja dazu gesagt haben, eigentlich so im Regen - Frau Babel, hören Sie mir doch bitte freundlicher- stehen? Sie bezeichnen sie geradezu als Deppen, weise erst einmal zu. wenn ich mir erlauben darf, das zu sagen. Die Zahlen, auf die sich der Entwurf in der Argu- Verehrter Herr Bundesminister, ohne auf die ande- mentation stützt, stammen wohlgemerkt aus dem ren zu kritisierenden Punkte einzugehen - das hat Jahr 1990. der Zentralverband des Deutschen Baugewerbes in trefflicher Weise getan; das brauche ich nicht zu wie- Wenn 'dieses Problem wirklich innerhalb von zwei derholen; Sie haben das selbstverständlich gelesen -, Jahren zu erledigen wäre, sozusagen verschwinden möchte ich Sie bitten, sich im Interesse der kleinen würde, dann hätte es das längst getan; denn die Zah- und mittleren Betriebe, der inländischen Arbeitneh- len sind von 1990. Spätestens 1992 oder 1993 hätte es merinnen und Arbeitnehmer und insbesondere der das Problem nicht mehr geben dürfen. Es ist aber ge- bisher noch ausgebeuteten entsandten Arbeitneh- nau das Gegenteil der Fall: Die Schere ist weiter aus- mer mit uns an einen Tisch zu setzen und unseren einandergegangen. Wer glaubt, in absehbarer Zeit Vorschlag als Grundlage zu nehmen; denn er ist in sei es möglich, die Löhne in den anderen EU-Staaten- der Tat europakonform. denen in der Bundesrepublik anzugleichen, der ist total unrealistisch; er ist ein Illusionist. Vielen Dank. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne (Beifall bei Abgeordneten der SPD) ten der PDS) Also kann nur umgekehrt ein Schuh daraus wer- den. Wenn Sie sagen, das Problem sei nach zwei Jah- Vizepräsident Hans Klein: Ich muß zuerst etwas ren gelöst, müssen sie doch im Hinterkopf haben, die richtig stellen. Frau Kollegin Buntenbach, mir ist ein Löhne in Deutschland auf portugiesisches Niveau Protokollauszug vorgelegt worden, demzufolge Ih- herunterdrücken zu wollen. nen dieses von mir vorhin angeführte Wort, zu dem sich der Kollege Schreiner allerdings sofort bekannt (Dr. Gisela Babel [F.D.P.]: Wie wäre es, Por hat, zugerechnet wurde. tugal zu entwickeln?) (Dr. Gisela Babel [F.D.P.]: Weil er Ordnungs Eine andere Erklärung gibt es für mich nicht. rufe sammelt!) Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1995 4939

Vizepräsident Hans Klein Verzeihung, ich habe das, Herr Kollege Schreiner, Haus soll hochgezogen und dann zudem gepflastert Sie wohl kennend, einfach für eine Kavaliersgeste werden, dann gilt für das Hochziehen des Baus das gehalten. Aber Sie waren es wirklich. Entsendegesetz, für das Pflastern z. B. nicht. Wie soll hier kontrolliert werden können? Deshalb wäre es Frau Kollegin Buntenbach, das wird im Protokoll wichtig, richtig und gut, in diese Richtung zu überle- richtig erscheinen. gen und solche Fälle auf die Reihe zu bringen. (Annelie Buntenbach [BÜNDNIS 90/DIE Ich möchte Sie, Herr Minister, nochmals ausdrück- GRÜNEN]: Das beruhigt mich!) lich bestärken, im Sinne des Mittelstandes und der Ihnen wird dieses Wort nicht in den Mund gelegt. betroffenen Bauarbeitnehmer den eingeschlagenen Weg weiterzugehen. (Julius Louven [CDU/CSU]: Was geschieht mit Herrn Schreiner?) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und bei der PDS - Abg. Konrad Gilges Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Kollegen Ernst Hinsken das Wo rt. [SPD] meldet sich zu einer weiteren Zwi schenbemerkung)

Ernst Hinsken (CDU/CSU): Herr Präsident, ich bin dankbar, daß ich hier noch die Möglichkeit zu einer Vizepräsident Hans Klein: Moment! Nach der Ge- Kurzintervention habe. Wir haben letzte Woche eine schäftsordnung hätte zunächst einmal der angespro- große Debatte zur Lage des Mittelstandes in der Bun- chene Minister, wenn er will, das Wort zu einer Re- desrepublik Deutschland geführt. Dabei wurden plik. viele Lippenbekenntnisse abgegeben. Eines der großen Probleme, das wir haben und das Dr. Norbert Blüm, Bundesminister für Arbeit und nicht wegdiskutiert werden kann, sondern gesehen Sozialordnung: Herr Präsident! Ich habe mich dar- werden muß, ist insbesondere das, daß die kleinen über gefreut. Baufirmen verstärkt von den großen Baufirmen ver- (Heiterkeit) drängt werden, weil sie einfach nicht in der Lage sind, billige ausländische Arbeitnehmer zu beschäfti- gen, wie das insbesondere bei den großen Baufirmen Vizepräsident Hans Klein: Danke. gemacht wird. Bitte sehr. Deshalb möchte ich die Möglichkeit nutzen, an Sie, verehrter Herr Dr. Blüm, zu appellieren, nicht (SPD): Ich will es ganz kurz ma- nachzulassen, damit möglichst bald eine Entsende- Konrad Gilges chen. richtlinie kommt. Diese braucht insbesondere der Mittelstand. Sie wird von den kleinen Unternehmen Herr Hinsken, Frau Babel hat schon darauf abge- gebraucht. Sie wird gebraucht, um nicht pleite gehen hoben, daß es um eine Frage geht, die Ausländer zu müssen und gegenüber größeren Betrieben be- und Deutsche be trifft. Es geht nicht um 140 000 deut- stehen zu können. sche Bauarbeiter, sondern es geht um Bauarbeiter, Mir ist zwar klar, daß das Ganze ordnungspolitisch die in Deutschland gemeldet sind. Darunter sind nicht richtig ist. Aber ich meine, wir können einfach viele ausländische Kollegen - türkische Bauarbeiter, nicht wegdiskutieren, daß, wie heute zum Ausdruck griechische Bauarbeiter, spanische Bauarbeiter usw. - gekommen ist, 150 000 ausländische Bauarbeiter sich in der Bundesrepublik Deutschland befinden, (Zuruf von der F.D.P.: Polnische Bauarbei während auf der anderen Seite 140 000 deutsche ter!) Bauarbeiter arbeitslos sind. Deshalb ist, meine ich, dringendster Handlungsbedarf gegeben. Zudem die hier ihren Wohnort haben und die hier so, wie die meine ich, darauf verweisen zu müssen, daß gerade Gesetze und Tarifverträge das vorsehen, bezahlt wer- die Bauwirtschaft für die Marktwirtschaft des Bin- den. Die anderen 150 000 Bauarbeiter wohnen eben nenmarktes ein Problem darstellt. Ihre Arbeitsplätze- nicht hier, bezahlen eben nicht hier ihre Steuern und kann man nicht exportieren oder importieren. Des- ihre Sozialversicherung usw. halb appelliere ich nochmals, nicht nachzulassen, in diese Richtung zu marschieren. (Dr. Gisela Babel [F.D.P.]: Woher wissen Sie, daß das 150 000 sind? Die sind nirgends re Dabei möchte ich ergänzend zwei Problemberei- gistriert!) che ansprechen. Ich frage mich, ob es richtig ist, das Entsendegesetz, wenn wir überhaupt zu einem sol- - Das hat Herr Blüm gesagt; das wird allgemein so chen kommen, auf zwei Jahre einzugrenzen. Mir wä- angenommen. Frau Babel, es geht doch nicht darum, ren zumindest drei Jahre lieber. Das wäre auch ver- ob es 150 000 oder 120 000 sind. Darüber will ich mit nünftiger, weil es ein größerer, überschaubarerer Ihnen nicht streiten. Rahmen wäre. Es geht nicht um die Frage des nationalen Status, Ich meine auch, daß es sinnvoll wäre - das sage ich sondern darum, daß die Arbeitnehmer, die hier in der als Mittelstandspolitiker -, daß vor allen Dingen das Bundesrepublik Steuern und Sozialversicherung be- Baunebengewerbe einbezogen wird. Warum? Wenn zahlen, hier legal leben, durch Arbeitgeber benach- ich heute einen Bauauftrag erteile und sage, ein teiligt werden, die mit irgendwelchen krummen 4940 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1995

Konrad Gilges Maßnahmen billige Bauarbeiter aus dem EG-Bereich Wir sind nicht nur den Bürgerinnen und Bürgern holen. Das ist der entscheidende Punkt. auf dem Gebiet der ehemaligen DDR Rechenschaft schuldig, alles, aber auch wirklich alles getan zu ha- (Beifall bei der SPD) ben, um den veruntreuten Vermögenswerten nach- zugehen. Vizepräsident Hans Klein: Ich schließe die Aus- sprache. Ebenso sind wir verpflichtet, nachdem diese Bun- desregierung und leider auch die Länder das zentral Der Ältestenrat schlägt die Überweisung der -nicht haben regeln wollen, für die notwendige Sach Gesetzentwürfe auf den Drucksachen 13/2414 und und Personalausstattung bei den ermittelnden Be- 13/2418 an die in der Tagesordnung aufgeführten hörden der Kriminalpolizei und der Arbeitsgruppe Ausschüsse vor. Gibt es dazu anderweitige Vor- Regierungskriminalität zu sorgen. schläge? - Dies ist nicht der Fall. Dann sind die Über- weisungen so beschlossen. Dann gibt es auch noch das Wörtchen „Konse- quenz". Wir wollen konsequent umsetzen, was die- Ich rufe den Zusatzpunkt 5 auf: ses Haus einvernehmlich beim Abschlußbericht des 1. Untersuchungsausschusses der letzten Legislatur- Beratung der Beschlußempfehlung und des periode empfohlen hat, nämlich noch offengeblie- Berichts des Ausschusses für Wahlprüfung, bene Fragen aufzuklären und gegebenenfalls dazu Immunität und Geschäftsordnung (1. Aus- erneut einen Untersuchungsausschuß einzusetzen. schuß) zu dem Antrag der Fraktion der SPD Das ist bei allem Respekt vor den bereits aufgeklär- Einsetzung eines Untersuchungsausschusses ten Sachverhalten noch eine milliardenschwere Bürde, die vor uns liegt. - Drucksachen 13/1833, 13/2483 - Auch will ich an dieser Stelle nicht verschweigen, Berichterstattung: sondern daran erinnern, daß die Aufklärungsarbeit Abgeordnete Andreas Schmidt (Mülheim) mit allerlei Tricks und Absonderlichkeiten zum Ende Johannes Singer der letzten Legislaturperiode erschwert bis unmög- Dazu liegt ein Änderungsantrag der Gruppe der lich gemacht wurde. PDS vor. 92 plötzlich beim Bundesnachrichtendienst aufge- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für tauchte Disketten, die das gesamte opera tive Wissen die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Da- der Hauptabteilung XVIII des Ministeriums für gegen erhebt sich offensichtlich kein Widerspruch. Staatssicherheit enthalten sollen - mehr als 40 davon Dann ist das so beschlossen. befinden sich zur Zeit beim Bundeskriminalamt -, stehen ebenso im Mittelpunkt unserer Untersuchun- Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kolle- gen Friedhelm Julius Beucher das Wort. gen wie die beteiligten Westfirmen, die auf unser aller Kosten munter mitverdient haben am deutsch- deutschen Geschäft und vor systema tischen Embar- Friedhelm Julius Beucher (SPD): Herr Präsident! gobrüchen keine Skrupel hatten. Hauptsache, D- Meine Damen und Herren! Seit über zehn Monaten Mark, Dollar oder Rubel rollten. versuchen wir im Einvernehmen mit den Koalitions- fraktionen einen Untersuchungsausschuß auf den Auch die Umstände und die Bedeutung sowie der Weg zu bringen, der u. a. die noch offengebliebenen Verbleib der Briefe von Dr. Schalck-Golodkowski an Fragen aus dem 1. und dem 2. Untersuchungsaus- den Kollegen Wolfgang Schäuble sind noch nicht schuß der letzten Legislaturperiode aufklären so ll. vollständig aufgeklärt. Heute können wir endlich auf der Grundlage einer Beschlußempfehlung des Geschäftsordnungsaus- Aber es geht uns bei diesem Untersuchungsaus- schusses zum Antrag meiner Fraktion die Einsetzung schuß - Herr Gres, das ist der Punkt - nicht um spek- dieses Untersuchungsausschusses beschließen. takuläre Einzelaufklärungen wie im letzten Unter- suchungsausschuß, bei dem zu sehr die schillernde Ich hoffe, daß auch die Koalitionsfraktionen, die an Figur des Dr. Alexander Schalck-Golodkowski im der Beschlußempfehlung mitgearbeitet haben, der Mittelpunkt stand. Einsetzung zustimmen. Die vorbereitenden Arbeiten sind inzwischen soweit vorangebracht worden, daß Bei mehreren anhängigen Verfahren ist jetzt für sich der Ausschuß morgen vormittag konstituieren Schalck vor allem die Justiz zuständig. Dieser sei von kann, zu spät allerdings für bereits verjährte Straf- hier aus geraten, Herrn Schalck und seinen Anwäl- taten und endgültig beiseite geschaffte Vermögens- ten nicht nur junge juristische Berufsanfänger per werte, aber noch nicht zu spät für die vielen Milliar- Jahresabordnungen gegenüberzustellen, sondern für den, die veruntreut wurden, noch immer auf fremden die weiteren Prozesse Staatsanwälte zu gewinnen, Konten schlummern oder in falschen Händen vaga- die Erfahrung in Wirtschaftsstrafsachen haben. Hier bundieren. besteht sonst keine Waffengleichheit, und Herr Schalck-Golodkowski und seine Helfer kommen am Hier will der Ausschuß mithelfen aufzuspüren. Die Tegernsee vor lauter Lachen nicht in den Schlaf. parlamentarische Aufarbeitung ist unabhängig von der Ermittlungsarbeit von Kriminalpolizei und Staats- Ich rufe Sie deshalb alle auf: Helfen Sie mit, die anwälten in Berlin notwendig, aber auch zu deren Vertrauenslücken zu schließen, und lassen Sie Un- Unterstützung dringend erforderlich. recht nicht Unrecht bleiben! Arbeiten Sie mit bei der Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1995 4941 Friedhelm Julius Beucher Aufklärung der 16 zentralen Fragen dieses 2. Un- stems der DDR - und seien es auch nur ihre Unter- tersuchungsausschusses in dieser Legislaturperiode nehmen im In- und Ausland einschließlich der kon- mit dem Schwerpunktthema „Veruntreutes DDR- spirativen Zusammenarbeit mit dem MfS - aufdek- Vermögen"! ken. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. Ich will, Herr Beucher, ferner zitieren, was der KoKo-Untersuchungsausschuß der 12. Wahlperiode (Beifall bei der SPD) in seinem Schlußbericht hierzu gesagt hat: Es wird empfohlen, daß der 13. Deutsche Bundes- Vizepräsident Hans Klein: Das Wort hat der Kol- tag unter Berücksichtigung der dann vorliegen- lege Joachim Gres. den weiteren Erkenntnisse der Treuhandanstalt und der UKPV bzw. deren Nachfolger sowie der Gerichte und Staatsanwaltschaften prüft, inwie- Joachim Gres (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine weit es sinnvoll ist, einen Untersuchungsaus- sehr geehrten Damen und Herren! Auch fünf Jahre schuß zur Aufklärung der bisher noch nicht erle- nach der Vereinigung Deutschlands läßt uns die digten Teile des Untersuchungsauftrages und DDR-Vergangenheit nicht los. Die unselige Rolle der weiterer im Verlauf des Untersuchungsverfah- SED/PDS in Wirtschaft, Staat und Gesellschaft der rens deutlich gewordener Fragenkomplexe ein- DDR, die Auswirkungen des real existierenden So- zusetzen. zialismus auf die Menschen in der DDR, die krimino- genen und teilweise kriminellen Strukturen im Zu- Wir wissen alle, daß sich um den hier in Rede ste- sammenhang mit den vielfältigen Devisenbeschaf- henden Themenkreis seit einigen Jahren verschie- fungsoperationen der DDR, schließlich das langjäh- dene andere Gremien und Institutionen durchaus rige Zusammenwirken zwischen MfS und dem Be- mit Erfolg kümmern. Da ist zum einen die unabhän- reich Kommerzielle Koordinierung, dies alles macht gige UKPV, die mittlerweile fast lückenlos die ehe- uns in der Tat zu schaffen. Insbesondere deswegen, maligen Parteifirmen der SED erfaßt hat. Da sind weil die SED/PDS in der Wendezeit - und möglicher- zum anderen die zahlreichen Strafverfahren und Zi- weise noch nach der Vereinigung Deutschlands - vor vilverfahren vor deutschen und ausländischen Ge- allem eines betrieben hat: die Sicherung der Beute. richten wegen Veruntreuung, Bilanzfälschung oder veruntreuender Vermögensverschiebungen ins Aus- (Dr. Dagmar Enkelmann [PDS]: Da war die land, wobei ich hier, Herr Beucher, nur anmerke, daß CDU aber schneller!) uns diese laufenden Verfahren in erhebliche prakti- sche Schwierigkeiten bei der Umsetzung des Unter- Ganz offenbar wurde Vermögen versteckt, in dunkle suchungsauftrages bringen werden. Kanäle geleitet und mit Hilfe von alten Seilschaften in konspirativer Weise den Behörden vorenthalten. Da sind im übrigen Enquete-Kommissionen und Dies mußte und muß aufgeklärt werden. Aufgeklärt Untersuchungsausschüsse auf Länderebene. Da ist werden muß natürlich auch das Zusammenwirken die große Fülle von Untersuchungen von Historikern mit solchen Personen, die in den Zeiten des Um- und anderen Wissenschaftlern über die DDR-Wirt- bruchs eine Gelegenheit für dunkle Geschäfte gese- schaftsgeschichte. Hinzu kommen die Vorlagen und hen haben. Prüfergebnisse von Bundesrechnungshof und Rech- nungsprüfungsausschuß, die sich mit der Treuhand Meine Damen und Herren, zur Aufarbeitung a ll und damit verbundenen Fragen befassen. dieser Umstände hat der Deutsche Bundestag in der Wenn man dann hinzunimmt, unter welchem mas- vergangenen Legislaturperiode zwei Untersuchungs- siven Arbeitsdruck wir im Parlament sind und wel- ausschüsse und eine Enquete-Kommission einge- che personellen Ressourcen durch einen Untersu- setzt, die der Öffentlichkeit umfangreiche Berichte chungsausschuß gebunden werden, ist die Frage an vorgelegt haben. Der Bericht des KoKo-Untersu- -gezeigt, ob die Tätigkeit eines neuen Untersuchungs- chungsausschusses der letzten Wahlperiode war der ausschusses des Deutschen Bundestages parallel zu umfangreichste Untersuchungsbericht, den der all den von mir erwähnten Gremien und Institutionen Deutsche Bundestag jemals verabschiedet hat. Der - sinnvoll ist. Bericht stellt umfassend einen Teil der Strukturen des Wirtschaftssystems der ehemaligen DDR dar. Diese Frage ist um so berechtigter, als die SPD den Durchgreifende Kritik an Bundesregierung oder Untersuchungsauftrag nicht so präzise formuliert Bundesbehörden ist in diesem Bericht nicht festge- und begründet hat, wie das aus Gründen einer justi- halten. tiablen Umsetzung geboten ist, von Praktikabilitäts- gesichtspunkten ganz abgesehen. Der SPD-Antrag Die SPD beantragt, zur Durchleuchtung dieser ist trotz aller Verbesserungen, die er im Geschäfts- DDR-Vergangenheit jetzt erneut einen Untersu- ordnungsausschuß erfahren hat, nach wie vor von ei- chungsausschuß einzusetzen, und hat den uns heute ner Weite, die auch rechtliche Bedenken hinsichtlich vorliegenden Antrag formuliert. Grundsätzlich, seiner Bestimmtheit aufwirft. meine Damen und Herren von der SPD, sind hierge- gen keine Bedenken anzumelden. Was ich vermisse, ist, daß die SPD darlegt, daß die für den KoKo-Ausschuß empfohlene Prüfung irgend- Ich warne jedoch vor der Erwartung, ein Untersu- wann stattgefunden hätte und mit welchem Ergeb- chungsausschuß dieses Hauses könnte jemals wirk- nis. Offensichtlich hat die SPD ein Interesse, von die- lich lückenlos alle Bereiche und alle Facetten des Sy ser Prüfung abzusehen, und möchte - aus welchen 4942 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1995 Joachim Gres fraktionsinternen Gründen auch immer - möglichst Vizepräsident Hans Klein: Frau Kollegin Vera schnell und ohne Rücksicht auf' die Arbeit der ge- Lengsfeld, Sie haben das Wort. nannten Institutionen die Einsetzung eines KoKo- Nachfolge-Untersuchungsausschusses erreichen. Vera Lengsfeld (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Ich bedaure sehr, daß sich die SPD nicht in der Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Lage sah, ihrem Antrag eine Begründung zu geben. Wie sichtbar ist, hat die Nachbesetzung des KoKo- Rechtliche Bedenken gibt es - ich sage es jetzt ganz Nachfolgeausschusses nicht so ein Interesse gefun- vorsichtig -, wenn ich die Maßstäbe des Steinberger den wie die Einsetzung des KoKo-Untersuchungs- Gutachtens aus dem Transnuklear-Untersuchungs- ausschusses in der letzten Legislaturperiode. ausschuß anlege, vor allem im Hinblick auf p rivate Viele fragen sich, was da überhaupt noch gemacht Unternehmen und Privatpersonen, die gegebenen- werden soll. Hier war die Rede davon, daß wir noch falls vernommen werden sollen. Hausaufgaben zu erledigen haben, die aus der letz- ten Legislaturperiode übriggeblieben sind. Ich denke Man sollte bei der Formulierung von Untersu- aber, das allein würde die Einsetzung eines solchen chungsaufträgen noch sorgfältiger sein, als es ge- Ausschusses nicht rechtfertigen. schehen ist. Bekanntlich geht es - das hat das Bun- desverfassungsgericht ausdrücklich gesagt - bei der Hier geht es nach meiner Meinung vor allen Din- Tätigkeit des Untersuchungsausschusses um Aus- gen um das politische Klima und um die politische übung öffentlicher Gewalt. Hygiene in unserem L ande. Um mit ein paar Beispie- len zu belegen - ich habe vorhin die Zwischenrufe Wir wollen auf diese Bedenken hier hinweisen. Wir der PDS gehört -, daß da tatsächlich noch sehr viel wollen aber dem Verlangen der SPD, auch wenn es Aufklärungsbedarf ist, was das Finanzgebaren der sich nicht um ein Minderheitenrecht im Sinne von PDS betrifft, möchte ich daran erinnern, was im Früh- Art. 44 GG, sondern um einen Fraktionsantrag han- jahr 1990 in Ost-Berlin passiert ist. Da kam es zu delt, letztlich nicht im Wege stehen. 2 800 GmbH-Gründungen. Davon waren aber nur Wir hoffen, daß alle im Untersuchungsausschuß so 300 GmbH-Gründungen wirklich seriös. Die restli- einsichtig sein werden, daß mit der Arbeit des Unter- chen 2 500 wurden mit dubiosen Anleihen der Regie- suchungsausschusses nicht die Arbeit derjenigen ge- rung Modrow getätigt. fährdet werden darf, die wie UKPV und BVS bzw. die (Zuruf der Abg. Dr. Dagmar Enkelmann Treuhandanstalt hinter SED-Vermögen und DDR- [PDS]) Vermögen herspüren. Die das gegründet haben, waren Funktionäre aus Es sollte bei allen Instrumenten, über die der Un- der DSF, aus dem FDGB, aus der FDJ und auch aus tersuchungsausschuß verfügt, nicht der Versuch ge- der SED. Das ist schon ein gravierender Fakt, der un- macht werden, in einer kombinierten Rolle von tersucht werden muß. UKPV, BVS, Bundesrechnungshof, Rechnungsprü- fungsausschuß, Staatsanwaltschaft, Strafgerichten Frau Kollegin, ich möchte einmal daran erinnern, und Zivilgerichten deren Arbeit zu wiederholen. daß Ihr Kollege Langnitschke eine Summe ins Aus- land verschoben hat - 120 Millionen -, die das Dop- Ein Untersuchungsausschuß ist ein politisches Gre- pelte dessen war, wofür Ihre Parteiführung neulich mium und keine buchhalterische Veranstaltung. Ein so medienwirksam gehungert hat, weil sie sie nicht Untersuchungsausschuß ist auch nicht Oberdetektiv, als Steuer nachzahlen wollte. Staatsanwalt und Richter in einer Person. Ein Unter- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN suchungsausschuß soll eine Entscheidung des Parla- und bei der CDU/CSU - Dr. Dagmar Enkel ments vorbereiten. Dies sollten wir vor Augen haben. mann [PDS]: Das paßt alles nicht zusam Wir sollten uns auch vor Augen halten, gegenüber men!) der Öffentlichkeit vertreten zu müssen, weshalb die- Es gibt noch genügend Dinge aufzuklären. ser enorme Kostenaufwand erforderlich ist, wie ihn fraglos dieser Untersuchungsausschuß mit dem Ein- Was ich mir von meinen Kollegen aus der SPD und satz der EDV-Anlage zur Folge haben wird. - aus den Koalitionsparteien wünsche, ist, daß diese Aufklärung ungeachtet dessen erfolgt, wie die Er- Wegen der nicht ausgeräumten Bedenken, die ich gebnisse aussehen. Denn wir können ja noch nicht vorgebracht habe, können wir dem Antrag der SPD sicher sein, welches Finanzgebaren der ehemaligen nicht zustimmen. Da wir uns aber dem Wunsch der Blockparteien noch zum Vorschein kommt. Natürlich SPD nach Aufarbeitung eines Ausschnitts aus der muß das genauso aufgeklärt werden wie das Finanz- deutsch-deutschen Vergangenheit nicht verschließen gebaren der SED. wollen und um nicht den Eindruck aufkommen zu lassen, wir oder die Bundesregierung hätten irgend Meine lieben Kollegen von der SPD, Sie müssen etwas zu verbergen, werden wir uns nach Abwä- sich aber auch darüber im klaren sein, daß Sie das gung aller Umstände bei dem Antrag der Stimme Finanzgebaren einer Partei aufklären wollen, die Sie enthalten und im übrigen in dem dann gewählten sich als potentielle Partne rin bei der Jagd auf die Re- Ausschuß konstruktiv mitarbeiten. gierung Kohl in petto gehalten haben. Vielen Dank. (Günter Gloser [SPD]: Meinen Sie die Grü nen, Frau Lengsfeld? - Weiterer Zuruf von (Beifall bei der CDU/CSU) der SPD: Wer sagt Ihnen das?) Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1995 4943 Vera Lengsfeld Ich hoffe, daß Sie das nicht behindern wird. Trotz unserer Zweifel an Nutzen und Effektivität und trotz unserer Bedenken bezüglich der Systema- In diesem Sinne freue ich mich auf die Zusammen- tik wollen wir der Einsetzung und künftigen Arbeit arbeit und wünsche unserem Untersuchungsaus- des Untersuchungsausschusses nicht im Wege ste- schuß ein gutes Gelingen. hen. Vielleicht gibt es doch verwertbare Erkennt- nisse, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU - (Friedhelm Julius Beucher [SPD]: Och!) Günter Gloser [SPD]: Das war aber ein Aus rutscher, Frau Lengsfeld!) vielleicht resultiert aus dieser Arbeit doch etwas zeit- geschichtliche Aufarbeitung.

Vizepräsident Hans Klein: Das Wort hat der Kol- (Günter Gloser [SPD]: Auch Geld!) lege Dr. Klaus Röhl. Wir stimmen deshalb - obwohl wir der Meinung sind, daß der Deutsche Bundestag in dieser Legisla- turperiode gravierendere und brennendere Aufga- (F.D.P.): Herr Präsident! Meine Da- Dr. Klaus Röhl ben hat und trotz unserer Bedenken bezüglich des men und Herren! Mit der Drucksache 13/1833 vom Nutzens - der Einsetzung zu. 28. Juni 1995 beantragt die Fraktion der SPD die Ein- setzung eines Untersuchungsausschusses, der die (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU so nach Auffassung der SPD-Fraktion offengebliebenen wie bei Abgeordneten der SPD) Fragen des 1. und des 2. Untersuchungsausschusses der 12. Wahlperiode untersuchen soll. Vizepräsident Hans Klein: Das Wort hat der Kol- Nach Art. 44 des Grundgesetzes ist es die Pflicht lege Wolfgang Bierstedt. des Bundestages, auf Antrag eines Viertels seiner Mitglieder einen Untersuchungsausschuß einzuset- zen. Diese Pflicht enthebt uns aber nicht der weite- Wolfgang Bierstedt (PDS): Sehr geehrter Herr Prä- ren Pflicht, zu prüfen, ob der Einsetzung - es sind ja sident! Meine Damen und Herren! Sehr geehrte - ab- auch Untersuchungen im p rivaten Bereich involviert - wesende - Frau Kollegin Lengsfeld, die Bundestags- ein öffentliches Interesse zugrunde liegt. gruppe der PDS hat vom Prinzip her nichts gegen den Anlaß des Antrages der Fraktion der SPD zur Da es sich bei diesem Untersuchungsmetier um die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses, wel- mögliche Zweckentfremdung bzw. um den nicht re- cher sich mit der Klärung noch offen gebliebener Fra- gelgerechten Abfluß öffentlicher Mittel handelt - ich gen des 1. und des 2. Untersuchungsausschusses aus drücke mich hier absichtlich sehr vorsichtig aus -, der 12. Wahlperiode beschäftigen soll. kann man das öffentliche Interesse bejahen. Wir Prinzipiell ablehnend stehen wir jedoch der Tatsa- müssen aber auch feststellen, daß das Interesse der che gegenüber, daß sowohl im Antrag der SPD als Bevölkerung, insbesondere in den neuen Bundeslän- auch in der fraktionsübergreifenden Beschlußemp- dern, sehr gering ist: „Das sind die Probleme von ge- fehlung unsere Gruppe nur durch ein nicht stimmbe- stern und vorgestern. Heute hat man andere Pro- rechtigtes Mitglied im Untersuchungsausschuß ver- bleme." Das ist so, auch wenn die Kolleginnen und treten sein soll. Sowohl im Antrag der SPD als auch, Kollegen der SPD-Fraktion in dieser Hinsicht ande- und zwar noch stärker, in der Beschlußempfehlung rer Meinung sind. wird in einigen Fragestellungen unterschwellig eine Wir hegen zudem die Vermutung, daß sich bei der Beteiligung der PDS, auch wenn hier nur das Kürzel Aufarbeitung des Fragenkataloges herausstellt: Es SED/PDS verwendet wird, an illegalen Transaktio- handelt sich um das Zusammenkehren von verstreu- nen und Geschäften unterstellt. ten Restbeständen mit zum Teil unklarer Aussage- Ich kann sagen - dabei möchte ich mich auf die Be- kraft, von verjährten Tatbeständen, von Sachverhal- schlußempfehlung und den ersten abweichenden ten mit zum Teil unsicherer Genese und nicht sicher Bericht unserer Gruppe zum Bericht des 1. Unter- feststellbarem Wahrheitsgehalt. Insofern sind -Effekti- suchungsausschusses vom 27. Mai 1994 verweisen -, vität und Nutzen der zu leistenden Ausschußarbeit daß auch uns an einer Aufklärung von ungesetzli- mit recht großen Anfangszweifeln behaftet. chen Aktivitäten des Bereichs KoKo gelegen ist. Der Auftrag weist auch einen erheblichen Bruch in (Hans-Joachim Hacker [SPD]: Hört! Hört!) der Systematik auf, da einerseits die Aktivitäten und deren Ergebnisse des Bereiches Kommerzielle Koor- Einerseits stellt man eine mögliche Be troffenheit dinierung der verflossenenen DDR untersucht wer- der PDS in fröhlicher Berliner Wahlkampferwartung den sollen, andererseits jedoch auch mögliche Fehl- zumindest in Aussicht, andererseits will man den leistungen und Fehlhandlungen der Treuhandanstalt Vertreter der Gruppe der PDS in diesem Ausschuß zu ermitteln sind. sozusagen nur als Gast dulden, um sicherlich not- wendige kritische Anmerkungen von vornherein zu (Günter Gloser [SPD]: Das gehört zusam unterdrücken. men, das fließt ineinander über!) Wer die Wahrheitsfindung als Voraussetzung und Es handelt sich also um zwei völlig unterschiedliche Ziel der Arbeit der parlamentarischen Untersu- Sachgebiete. chungsausschüsse nicht nur als wohlfeilen Anspruch 4944 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1995 Wolfgang Bierstedt formuliert, sondern zumindest partiell Realität wer- diengetöse begleitet wird. Das galt für den Pluto- den lassen will, kommt nicht umhin, die politischen nium-Untersuchungsausschuß in dieser Periode oder Rahmenbedingungen der Ausschusarbeit zu reflek- den Untersuchungsausschuß über die HIV-verseuch- tieren. ten Blutkonserven der letzten Legislaturperiode, den Untersuchungsausschuß über die U-Boot-Affäre und Sehr geehrter Herr Präsident, mit Ihrer Erlaubnis den über Transnuklear. Daß es diesmal nicht der Fall zitiere ich aus Artikel 38 des Grundgesetzes der Bun- ist, ist eine Besonderheit. desrepublik Deutschland: Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages Der Ausschuß ist von meiner Fraktion gefordert werden in allgemeiner, unmittelbarer, freier, glei- worden, weil wir das erfüllen wollen, was Bürger von cher und geheimer Wahl gewählt. Sie sind Ver- uns eigentlich erwarten, nämlich eine begonnene Ar- treter des ganzen Volkes, an Aufträge und Wei- beit ordentlich zu Ende zu führen. sungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen. (Zuruf von der SPD: Sehr wahr!) Ich sehe keinen plausiblen Grund für eine Un- Zwei Untersuchungsausschüsse der letzten Wahl- gleichbehandlung von Abgeordneten im Zusammen- periode endeten mit der Aufforderung an den hang mit der Einrichtung dieses Untersuchungsaus- 13. Deutschen Bundestag, zu überprüfen, schusses. Gehen Sie einfach einmal davon aus, daß sich die PDS in diesen Ausschuß als objektiv urteilen- den Partner einbringen wird. inwieweit es sinnvoll ist, die nicht erledigten Teile deren Untersuchungsgegenstände und die im Für die DDR war der Bereich Kommerzielle Koor- Laufe deren Untersuchungsverfahren deutlich dinierung als Instrument gedacht, das sich markt- gewordenen Fragenkomplexe weiter aufzuklä- wirtschaftlicher Mittel zum Nutzen der DDR bedie- ren. nen sollte, was immer sich die Mächtigen der DDR auch darunter vorstellten. Für den Westen war der Wir, die SPD-Bundestagsfraktion, sind zu dem Er- Bereich Kommerzielle Koordinierung objektiv das gebnis gekommen, Ihnen, dem Deutschen Bundes- Einfalltor in die realsozialistische Volkswirtschaft. tag, zu empfehlen, diese Arbeit zu leisten. Beide Seiten haben sich dieses Instruments aus freiem Entschluß und in der Verfolgung eigener, Einige Gründe dafür: wenn auch gegensätzlicher Interessen bedient. Die unterschiedliche Ausgangsposition beider Konkur- Zuletzt bei der Tagung des Deutschen Richterbun- renten bestimmte dabei die praktische Verlaufsform des, aber auch davor ist in vielfältigen Stellungnah- der Geschäfte, ebenso wie das Ergebnis. men Kritik daran lautgeworden, daß die dunklen Sei- Uns sollte es in diesem Ausschuß darum gehen, ten der DDR-Vergangenheit insbesondere die, die von den gesetzlichen Normen abweichende Hand- mit Geldveruntreuungen zu tun haben, bisher nicht lungsweisen festzustellen und keine politisch moti- so behandelt worden sind, wie es von unserem vierte Vorverurteilung zuzulassen. Rechtsstaat erwartet werden kann.

Danke schön. Da viele Fragen aber weder von der Strafjustiz, (Beifall bei der PDS - Zuruf von der SPD - weil inzwischen Verjährung eingetreten ist, noch mit Heiterkeit) den Mitteln einer Enquete-Kommission aufgeklärt werden können, die in ihrer Verhandlung nicht den Regeln der Strafprozeßordnung unterliegt, bietet sich Vizepräsident Hans Klein: Erstens wünsche ich be- der Untersuchungsausschuß als vom Grundgesetz teiligt zu werden, wenn es eine wirklich gute Pointe dafür vorgesehenes parlamentarisches Gremium an. ist. Wir wollen deshalb dem naheliegenden Vorwurf be- Zweitens möchte ich gerne dem Kollegen Bierstedt gegnen, dieses parlamentarische und rechtsstaat- sagen: Sie brauchen für Zitate den Präsidenten nicht liche Mittel nicht genutzt zu haben. um Erlaubnis zu bitten. Das war früher einmal- so. Diese Formel geht darauf zurück, daß in der Paulskir- Die Untersuchungsausschüsse ,,Kommerzielle Ko- che der damalige Abgeordnete Ludwig Uhland mit ordinierung" und „Treuhand" litten unter enormem Vorliebe selbstverfaßte Gedichte als politische Bei- Zeitdruck, weil einerseits die erforderlichen Doku- träge zu zitieren pflegte. Um dem ein wenig vorzu- mente nicht rechtzeitig vorlagen - sicher auch nicht beugen, hat man die Formel „Herr Präsident, mit Ih- immer vorliegen konnten - und andererseits zum rer Erlaubnis" erfunden. Aber das haben wir längst Ende der Legislaturperiode ein Bericht vorliegen nicht mehr. mußte und daher die Beweisaufnahme beider Unter- suchungsausschüsse sehr frühzeitig im Jahre 1994 Jetzt erteile ich dem Kollegen Volker Neumann beendet werden mußte. das Wort. Wichtige Dokumente waren uns erst nach der Be- Volker Neumann (Bramsche) (SPD): Herr Präsident! weisaufnahme zugegangen oder sind später be- Meine lieben Kollegen! In der Tat ist es so, daß die kanntgeworden. Da uns die Auswertung dieser Do- Einsetzung von Untersuchungsausschüssen norma- kumente, aber auch noch fehlende Zeugenaussagen lerweise von parteipolitischem Hickhack und Me wichtig erscheinen, wollen wir das nachholen. Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1995 4945

Volker Neumann (Bramsche) Ich möchte in diesem Zusammenhang auch auf Vergangenheit ja auch geschehen - der eine oder an- den Bericht des Bundesbeauftragten für die Stasi dere Hinweis möglich ist, wo zuständige Behörden Unterlagen verweisen, der deutlich macht, daß aller- noch einmal genau nachsehen sollten, ob veruntreu- dings - was verständlich ist - die Auswertung der Do- tes DDR-Vermögen rückholbar ist, um so besser. kumente des MIS noch immer nicht vollständig er- folgt ist. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. Mit diesem Untersuchungsausschuß wollen wir zu- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne dem Stetigkeit beweisen in der Aufarbeitung dieses ten der F.D.P.) Teils der DDR-Geschichte und des Einigungsprozes- ses. Vizepräsident Hans Klein: Ich schließe die Aus- Ein wichtiger Schwerpunkt der Arbeit des Unter- sprache. suchungsausschusses wird nach unseren Vorstellun- Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuß für gen der Verbleib der veruntreuten Vermögenswerte der DDR sein. Wir wollen versuchen, die Frage zu Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung beantworten, ob alles getan worden ist, diese Vermö- empfiehlt auf Drucksache 13/2483, den Antrag der genswerte zu sichern, und was zu tun möglicher- Fraktion der SPD auf Drucksache 13/1833 in der Aus- weise noch nötig ist. schußfassung anzunehmen. Wenn uns von der Polizei ein geschätzter Schaden Dazu liegt ein Änderungsantrag der Gruppe der von 26 Milliarden DM - soweit es deren Ermittlungen PDS auf Drucksache 13/2484 vor. Der Änderungsan- betrifft - genannt wird, der im Zusammenhang mit trag besteht aus zwei Alternativen. Wir stimmen zu- der Wiedervereinigung durch kriminelle Handlun- nächst über Nr. I ab. Wer stimmt dafür? - Wer stimmt gen entstanden ist, haben die Bürger das Recht, an dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? - Gegen die Politiker die Frage zu richten, was der Staat ge- die Stimmen der Antragsteller vom Rest des Hauses tan hat, um von den Tätern dieses Geld zurückzube- abgelehnt. kommen. Wer stimmt für Nr. II des Änderungsantrags der (Zuruf von der SPD: Genau das?) PDS? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Ande- rungsantrag ist damit insgesamt abgelehnt. Wenn nach den uns bekannten Zahlen etwa nur 10 % der geschätzten Schadenssumme wieder sicher- Wer stimmt für die Beschlußempfehlung des Aus- gestellt worden ist, dann kann im System der Wie- schusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäfts- derbeschaffung der veruntreuten Vermögenswerte ordnung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - etwas nicht stimmen. Wir wollen deshalb versuchen - ohne selbstverständlich die Arbeit der zuständigen (Zuruf von der SPD: Aha! Das ist eine Koali Behörden zu behindern und in sie einzugreifen -, an tion! - Eduard Oswald [CDU/CSU]: Kom Hand von Dokumenten und Zeugenaussagen noch mentare sind um diese Uhrzeit nicht er mehr Licht in die Sachverhalte zu bringen, die zu laubt!) diesem Kapitel des Einigungsprozesses gehören. Die Beschlußempfehlung ist bei gemeinsamer Ent- Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts haltung der CDU/CSU-Fraktion und der Gruppe der über die Verfolgbarkeit und Strafbarkeit der Spio- PDS angenommen. nage für die DDR sind uns bei den Zeugenverneh- (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Herr Präsi mungen neue Möglichkeiten eröffnet worden, die dent, das hätte es nicht gebraucht!) vorher nicht bestanden haben. So hat etwa am 10. September 1992 Markus Wolf, der ansonsten an - Herr Parlamentarischer Geschäftsführer, ich bi tte, diesem Tag vor dem Untersuchungsausschuß seine den Präsidenten nicht zu kommentieren. - Damit ist Aussage unter Berufung auf § 55 StPO verweigert der 2. Untersuchungsausschuß der 13. Wahlperiode hat, auf meine dahin gehende Frage wörtlich geant- eingesetzt. wortet: Sobald die Gründe für den § 55 entfallen,- bin ich Verehrte Kolleginnen und Kollegen, ich rufe die ja - auch als Bürger der Bundesrepublik - ver- Tagesordnungspunkte 10a bis 10c sowie Zusatz- pflichtet auszusagen. punkt 6 auf: Da diese Gründe entfallen sind, werden wir ihn an 10. a) Erste Beratung des von der Bundesregie- diese Verpflichtung erinnern. rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- Die beiden Untersuchungsausschüsse der letzten zes zu dem Übereinkommen vom 29. Juni 1994 über die Zusammenarbeit zum Schutz Wahlperiode haben gute Berichte vorgelegt, bei de- und zur verträglichen Nutzung der Donau nen es an vielen Stellen heißt: „konnte aus Zeitgrün- den nicht geklärt werden" oder „muß noch geklärt (Donauschutzübereinkommen) werden" oder ähnlich. Wir wissen aus den Kontakten - Drucksache 13/1884 - mit den Bürgern und Journalisten, daß ein großes In- Überweisungsvorschlag: teresse an der Aufarbeitung der neu aufgetauchten Fragen besteht. Dies wollen wir ohne Aufgeregtheit Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher- heit (federführend) und ohne Zeitdruck so sorgfältig und ehrlich, wie es Ausschuß für Verkehr möglich ist, machen. Wenn uns dabei - wie in der Ausschuß für Fremdenverkehr und Tourismus 4946 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1995 Vizepräsident Hans Klein b) Beratung des Antrags der Abgeordneten - Möglicherweise. - Vor allem in den Ländern, meine Horst Kubatschka, Brunhilde Irber, Robe rt sehr verehrten Damen und Herren, in denen An ti Leidinger, weiterer Abgeordneter und der -Umweltpolitik kommunistischer Regime vorherr- Fraktion der SPD schend war, wurde die Donau mit Schadstoffen a ller ökologisch verantwortlicher Ausbau der Art befrachtet. Zum Glück hat die Demokratisierung Donau zwischen Straubing und Vilshoven in diesen Ländern auch ein Umdenken auf ökologi- schem Gebiet mit sich gebracht, so auch das gemein- - Drucksache 13/1390 - same Bekenntnis zur Verantwortung vor der Schöp- Überweisungsvorschlag: fung, zu deren sicherlich attraktivsten Ergebnissen Ausschuß für Verkehr (federführend) die Donau zählt. Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher- heit Das Donauschutzübereinkommen, das Ihnen zur Ausschuß für Fremdenverkehr uns Tourismus Ratifizierung vorgelegt wird, ist Ausdruck des nun- c) Beratung des Antrags der Abgeordneten mehr gemeinsamen Willens, die kranke Donau zu Dietmar Schütz (Oldenburg), Arne Fuhr- heilen. Es ermöglicht die internationale Zusammen- mann, Eckart Kuhlwein, weiterer Abgeord- arbeit zur Sanierung der Donau und hat auch eine neter und der Fraktion der SPD wichtige außenpolitische Dimension: Die Reformlän- Ökologisch und ökonomisch verantwort- der an der Donau arbeiten mit Staaten der Europä- barer Ausbau von Elbe, Havel und Saale ischen Union eng zusammen, weil europäisches Um- weltrecht bei der Zusammenarbeit zum Schutz der - Drucksache 13/1331 Donau angewandt wird. —Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Verkehr (federführend) In Deutschland und Österreich wurden in den letz- Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ten Jahrzehnten riesige Investitionen zur Schadstoff- Ausschuß für Fremdenverkehr und Tourismus minderung bei der Einleitung in die Donau bewerk- ZP6 Beratung des Antrags der Abgeordneten stelligt. Allein im deutschen Einzugsgebiet wurden Albert Schmidt (Hitzhofen), Halo Saibold, Gila mehr als 30 Milliarden DM ausgegeben, um über Altmann (Aurich). weiterer Abgeordneter und 3 000 kommunale Kläranlagen errichten zu können. der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Weiterhin wurden industrielle Kläranlagen errichtet und eine ganze Reihe von Maßnahmen zur Verringe- Erhalt der freifließenden Donau zwischen rung von Nährstoffeinträgen durchgesetzt. Die Straubing und Vilshofen Donau verläßt im Ergebnis dieser Bemühungen - Drucksache 13/2435 Deutschland mit der Gewässergüteklasse II. —Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Verkehr (federführend) Ich werte es insgesamt als ein sehr ermunterndes Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Zeichen, daß die Ratifizierungsverfahren in der Zwi- Ausschuß für Fremdenverkehr und Tourismus schenzeit in allen Vertragsstaaten des Donauschutz- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für übereinkommens angelaufen sind. Die Tschechische die gemeinsame Aussprache eine Stunde vorgese- Republik und Rumänien haben dieses Ratifizierungs- hen. - Dagegen erhebt sich kein Widerspruch. Dann verfahren bereits abgeschlossen. Aber das Wichtig- ist das so beschlossen. ste ist, daß bereits jetzt in allen Ländern mit der prak- tischen Arbeit begonnen wurde. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem Parlamentarischen Staatssekretär bei der Bun- Zur Erfüllung des Abkommens sind dabei fol- desministerin für Umwelt, Naturschutz und Reaktor- gende Aufgaben vordringlich: die Ermittlung und sicherheit, Ulrich Klinkert. Inventarisierung der wich tigsten Schadstoffeinleiter, die Erarbeitung eines ersten Aktionsprogramms, also Ulrich Klinkert, Parl. Staatssekretär bei der Bun- eines Sofortprogramms zum Bau industrieller und desministerin für Umwelt, Naturschutz und Reaktor- kommunaler Kläranlagen, die Festlegung von Min- sicherheit: Herr Präsident! Meine sehr verehrten Da- destanforderungen für die Abwassereinleitungen, men und Herren! Die Donau ist mit ihrer Gesamt- die Bestimmung prioritärer Schadstoffe, die vorran- lange von 2 857 km nach der Wolga der zweitgrößte gig zu reduzieren sind, und Maßnahmen zur Störfall- europäische Strom. Sie entwässe rt eine Gesamtflä- vermeidung sowie auch Abstimmung eines Warn- che von 817 000 qkm und verbindet vom Zusammen- und Alarmsystems für mögliche Störfälle. fluß ihrer Quellflüsse im Südwesten Deutschlands bis zur Mündung ins Schwarze Meer viele europäische Die Vorarbeiten für das Donauschutzübereinkom- Länder, Völker und Kulturen. Zwölf Staaten liegen men wurden bereits seit 1992 von einer Arbeitsge- im Einzugsgebiet der Donau. meinschaft der Donau-Task-Force eingeleitet. Die Mitglieder dieser Task-Force waren die Donaulän- Die Donau ist Verkehrsweg, sie ist Trinkwasser- rnationale Geld- spender, aber sie ist leider auch Abwassersammler, der, die Kommission der EU, inte der das Schwarze Meer zu einer Kläranlage degra- geber und natürlich auch Umweltverbände. Sie alle entwickelten einen s trategischen Aktionsplan, der im diert. Dezember vergangenen Jahres von den Umwelt- (Horst Kubatschka [SPD]: Deswegen heißt ministern der Donauländer verabschiedet wurde. Er es Schwarzes Meer, nicht?) enthält 170 sogenannte „hot spots", die als beson- Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1995 4947 Parl. Staatssekretär Ulrich Klinkert ders kritische Emissionsquellen zuerst zu beseitigen und Kollegen! Als Abgeordnete für das Deggendor- sind. Es wird Sie sicherlich nicht wundern, daß in fer Land, dessen Kulturlandschaft über Jahrtausende Deutschland und Österreich keine solcher Emissions- hinweg von der freifließenden Donau geprägt wor- quellen mehr ausgemacht werden mußten. den ist, ist es mir ein besonderes Anliegen, um Ihre Zustimmung zu unserem Antrag zu werben. Die Ergebnisse und Erfahrungen dieser Arbeits- gruppe werden Grundlage der nun berufenen Kom- In der Antragsbegründung heißt es u. a.: „Ein Aus- mission dieses Abkommens sein. Das Donauschutz- bau der Donau zwischen Straubing und Vilshofen übereinkommen beinhaltet umfangreiche ökologi- darf nur ökologisch verträglich durchgeführt wer- sche Ziele, die über den reinen Gewässerschutz hin- den. " Eine Selbstverständlichkeit, möchte m an mei- aus gehen, z. B. Emissionsregelungen für Industrie- nen. Doch die Erfahrungen der letzten Jahre haben anlagen, abfallpolitische Ziele und die Durchführung uns gelehrt, daß ein vernünftiger Ausgleich zwi- von Umweltverträglichkeitsprüfungen. In der Summe schen ökonomischen Erfordernissen und ökolo- ist dieses Abkommen als erster wich tiger Schritt zur gischen Notwendigkeiten auch heute noch alles an- ökologischen Zusammenarbeit mit Staaten Ost- und dere als selbstverständlich ist. anzusiedeln. Südosteuropas (Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/ Meine Damen und Herren, ungeachtet dessen, DIE GRÜNEN]: Allerdings!) was ich eben gesagt habe, gibt es natürlich im Zuge Auf einem Streckenabschnitt von 69 Flußkilometern des Ausbaus der Donau und des Donauschutzes, zwischen Straubing und Vilshofen soll die Donau mit auch Konfliktfelder, wie bei der beabsichtigten ver- zwei Staustufen ausgebaut werden. Bei Osterhofen, kehrlichen Nutzung der Donau. Der Konflikt besteht meiner Heimatstadt, ist ein Schleusenkanal in zwei darin, daß sich natürlich alle darüber einig sind, daß Varianten vorgesehen. So wi ll es die Rhein-Main-Do- der Schiffstransport der ökologisch günstigste ist, nau AG, so wollten es bis vor kurzem auch Bundes- weil er die geringsten spezifischen Schadstoffemis- regierung und bayerische Staatsregierung. Doch die sionen pro Transportkilometer beinhaltet. Aber zum Betonmentalität beginnt zu bröckeln, aus gutem anderen ist der notwendige Ausbau von Wasser- Grunde: Die ökologischen Auswirkungen einer Do- straßen natürlich auch immer ein Eingriff in ein Öko- naukanalisierung wären verheerend. system. Was für jeden fachkundigen Wasserbauexperten Der Bundesverkehrswegeplan aus dem Jahre 1992 zum Grundwissen gehört, scheint für die Technokra- sieht den Ausbau der Donau als vordringliche Maß- ten der RMD keine Gültigkeit zu besitzen: nahme an. Die Interessenkollision mit dem Natur- schutz besteht vor allen Dingen durch die beabsich- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ tigten zwei Staustufen oder durch den Ausbau der DIE GRÜNEN) Donau auf eine Breite bis zu 100 Meter. Ein kanalisierter Fluß läßt Hochwasser zum Normal- (Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/ fall werden. Dies hat auch Frau Merkel nun erkannt. DIE GRÜNEN]: Und durch den Seitenka Professor Dr. Franz Nestmann bezeichnet es als Au- nal!) genwischerei, wollte man den Zusammenhang zwi- schen Ausbaumaßnahmen und Hochwasser leugnen. Auf der Landesebene Baye rn ist ein Raumord- nungsverfahren eingeleitet, und anschließend wird Doch nicht nur die Hochwassergefahr wird von sei- ein Planfeststellungsverfahren durchgeführt. Das ten der RMD bewußt verharmlost. Der Stau der Do- Bundesumweltministerium wird, obwohl es an die- nau hätte zur Folge, daß der Wasserstand über das sem Verfahren formell nicht beteiligt ist, den ökolo- Gelände erhoben würde. Damit wäre eine teilweise gischen Auswirkungen besondere Aufmerksamkeit Abdichtung der Dämme erforderlich, was die Dyna- schenken, nicht zuletzt deshalb, weil ein gesamt- mik zwischen Grundwasser und Donauwasser unter- staatlich repräsentatives Schutzgebiet „Isarmün- brechen würde. Die Folgen der Verminderung des dung" davon betroffen sein wird. Sauerstoffgehalts im Grundwasser hätte katastro- phale Auswirkungen: Das Grundwasser könnte nicht Ich gehe davon aus, daß die bayerische Staatsre- mehr als Trinkwasser gebraucht werden. gierung im laufenden Raumordnungsverfahren- alle - sicher sehr umfangreichen - Untersuchungen anstel- Des weiteren würde eine durch den Stau einher- len wird, um die ökologischen Auswirkungen zu be- gehende Reduzierung der Fließgeschwindigkeit die rücksichtigen und alle Belange einfließen zu lassen, Artenvielfalt drastisch reduzieren. Insgesamt und daß alle Interessenvertreter ihre spezifischen Be- 221 Vogelarten wurden im ostbayerischen Donautal fürchtungen in dieses Verfahren einbringen können. beobachtet, darunter 117 Arten der Roten Liste. Eine Zerstörung dieser Arche Noah hätte Auswirkungen Vielen Dank. auf den europäischen Vogelbestand, aber auch auf andere Arten. 15 der insgesamt 18 in Baye rn vorkom- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) menden Amphibienarten wurden hier nachgewie- sen, zudem über 50 der 61 in Baye rn vorkommenden Vizepräsident Hans Klein: Frau Kollegin Brunhilde Fischarten. Professor Dr. Hube rt Weigert spricht in Irber, Sie haben das Wort. diesem Zusammenhang zu Recht von einer staatlich angeordneten Naturzerstörung. Brunhilde Irber (SPD): Herr Präsident! Meine sehr (Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/ verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen DIE GRÜNEN]: Recht hat er!) 4948 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1995 Brunhilde Irber Liebe Kolleginnen und Kollegen, mindestens Bayerns, insbesondere Niederbayerns, geteilt wird ebenso fragwürdig wie die ökologischen sind die und daß hier speziell andere Meinungen vertreten volkswirtschaftlichen Auswirkungen des Vorha- und in die Öffentlichkeit ge tragen werden? bens. (Zuruf von der SPD: Ein Niederbayer macht (Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/ noch keinen Sommer! - Gegenruf der Abg. DIE GRÜNEN]: Das ist wohl wahr!) Renate Blank [CDU/CSU]: Ihr seid doch auf Es ist doch ein Unding, daß bis heute noch keine jede Person angewiesen, die SPD in Kosten-Nutzen-Analyse vorliegt, die eine ökologisch Bayern!) verträgliche Variante berücksichtigt und die ökologi- schen Folgekosten mit einbezieht. Brunhilde Irber (SPD): Herr Hinsken, ich pflichte (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Ihnen insoweit bei, als daß das vielleicht einen einzi- DIE GRÜNEN) gen Landtagsabgeordneten betrifft. Aber in bezug auf die Bundestagsabgeordneten kann ich Ihnen Der Oberste Bayerische Rechnungshof hat ein sol- nicht beipflichten. ches Gutachten übrigens schon 1993 angemahnt. (Bartholomäus Kalb [CDU/CSU]: Es gibt nur Hinterfragt werden muß zudem die Wirtschaftlich- einen, der Rückgrat hat!) keit des Mammutprojekts. Nur eine Bemerkung hierzu: Es ist eine horrende Verschwendung von Was riskieren wir für die Verwirklichung dieses Steuergeldern, wenn aus Bundes- und Landesmitteln Prestigeobjekts? Die Zerstörung einer gewachsenen Wasserkraftwerke gebaut werden, deren Profit dann Kulturlandschaft. Für eine strukturschwache Region ausschließlich der inzwischen privatisierten RMD wie meinen Wahlkreis wären die vorauszusehenden und damit ihrer Mehrheitseignerin VIAG zufließt. Folgen im Fremdenverkehr und in der Landwirt- schaft eine Katastrophe. Wenn meine Fraktionskolle- Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/ (Albert gen und ich nun einen ökologisch verträglichen DIE GRÜNEN]: Das sind die gewohnt!) Ausbau der Donau fordern, was meinen wir damit? Eine Steuermittelverschwendung ist es auch, Wir fordern eine Reduzierung der völlig überzoge- 20 Millionen in ein Bundesprojekt „Untere Isar" zu nen Ausbaustandards, wie sie inzwischen auch jeder stecken und dies dann im wahrsten Sinne des Wortes ernstzunehmende Wissenschaftler befürwortet. Re- zu versenken. duzierung heißt für mich: Verzicht auf einen vierer- schubverbandgerechten Ausbau und damit Minde- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ rung der Fahrrinnenbreite. DIE GRÜNEN) (Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/ Und überhaupt: Wo ist denn die verkehrspoli- DIE GRÜNEN]: Richtig!) tische Notwendigkeit des Projekts? Solange jegliche Logistiksysteme und eine sinnvolle Vernetzung der Ein Seitenkanal würde dadurch überflüssig. Transportsysteme fehlen, solange der Binnenschiff- fahrtsverkehr auf der Donau noch ungenützte Kapazi- (Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/ täten ungeheuren Ausmaßes bietet, ist der von der DIE GRÜNEN]: Genau!) RMD beabsichtigte Ausbau völlig überzogen. Zudem könnte die Ausbautiefe deutlich reduziert (Zuruf von der SPD: Das ist wohl wahr!) werden. Zahlreiche renommierte Wasserbauexperten versichern, daß die von der Internationalen Donau- Wir Sozialdemokraten begrüßen die Verlagerung kommission empfohlenen Standards mit flußbauli- von Verkehr auf das Wasser, insbesondere auch im chen Maßnahmen zu erreichen seien. Hinblick auf die Deggendorfer Werft und den Freiha- fen Deggendorf. Eine Kanalisierung der Donau ist Für Österreich gilt das gleiche. Der österreichische dafür aber nicht erforderlich. Verkehrsminister hat mir dies bestätigt. (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Er hat keine GRÜNEN und der PDS) Ahnung!)

Vizepräsident Hans Klein: Frau Kollegin Irber, Die Donaugemeinden, die Naturschutzverbände, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen der Bayerische Bauernverband, der Fischereiver- Hinsken? band, die Kirchen, die breite Masse der Bevölkerung Bayerns, ja sogar die lokalen Gliederungen von Bay- erns allerchristlichster Staatspartei sprechen sich in- Brunhilde Irber (SPD): Natürlich. zwischen gegen die Staustufen und den Seitenkanal (Zuruf von der SPD: Das wird auch durch aus. die Zwischenfragen von Herrn Hinsken (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE nicht besser!) GRÜNEN und der PDS - Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ernst Hinsken (CDU/CSU): Frau Kollegin Irber, Jetzt, Herr Hinsken, hören Sie zu! Jetzt pflichten Sie mir bei, wenn ich feststelle, daß diese müssen Sie die Ohren spitzen! Was ist da Ihre Meinung nicht von allen Abgeordneten der SPD los? Chaos!) Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1995 4949 Brunhilde Irber In diesem Zusammenhang ein Wort an Staatsmi- den. Ihre Beliebtheit sinkt. Nehmen Sie das doch nister Erwin Huber: Es ist eine Ungeheuerlichkeit, bitte zur Kenntnis. Bauern des Deggendorfer Landes, die für den Erhalt ihrer Heimat demonstrieren, als „herumvagabun- (Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/ dierendes Protestpotential" zu beschimpfen. DIE GRÜNEN]: Setzen Sie sich nicht auf ein so hohes Roß! Es könnte Sie abwerfen!) (Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Alte Wackersdorfer Tradi Wir reden also nicht mehr zum Donauausbau, tion!) sondern auch zum Donauschutzübereinkommen Die Menschen in meiner Heimat sagen: Donau ge- und zum Elbe-, Havel- und Saale-Ausbau. Lassen staut - Heimat versaut. Daher leisten sie seit Jahren Sie mich zunächst einige Bemerkungen machen. erbitterten Widerstand gegen die Kanalisierung des Das Übereinkommen ist ein weiterer bedeutsamer Flusses. Diese Menschen sind keine Querulanten; sie Baustein für die internationale Zusammenarbeit auf sind brave Bürger meiner Heimat. Heimat heißt für dem Gebiet des Gewässerschutzes. Es stellt nach sie, Schützenswertes zu bewahren. Wie heimatlos dem Vorbild der für Rhein und Elbe bereits be- muß ein Politiker sein, der um wirtschaft licher Erwä- stehenden Übereinkommen erstmalig für den Do- gungen willen auf Mensch und Natur keine Rück- nauraum detaillierte Regeln für einen modernen sicht nimmt? Gewässerschutz auf. Das Übereinkommen beinhal- tet insbesondere Maßnahmen zum Schutz der (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE Grundwasserressourcen, zur Emissionsbegrenzung, GRÜNEN und der PDS) insbesondere für Abwassereinleitungen mit schritt- weiser Harmonisierung der innerstaatlichen Rege- Wer das Kruzifix-Urteil zum Anlaß nimmt, Heimat- lungen, zur Erfassung der Verschmutzungsquellen verbundenheit zu beschwören, sollte nicht zurück- mit dem Ziel der Aufstellung von Aktionsprogram- stehen, wenn es um ihre Bewahrung geht. men, zu deren Vermeidung und Bekämpfung, zur -Zusammenarbeit bei gemeinsamen Untersuchungs Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, ich for- und Überwachungsprogrammen sowie bei For- dere Sie auf, jede sich bietende Möglichkeit auszu- schungs- und Entwicklungsprogrammen, für eine schöpfen, Ihren Beitrag zu einem ökologisch verträg- gegenseitige Hilfeleistung bei kritischer Belastung lichen Ausbau des letzten frei fließenden Teilab- des Gewässerzustandes und die Einrichtung der In- schnitts der Donau in Niederbayern zu leisten. Heute ternationalen Kommission für den Schutz der Do- bietet sich Ihnen eine erste Gelegenheit: Ich bitte Sie nau mit einem Ständigen Sekretariat. sehr herzlich, unserem Antrag zuzustimmen. Lassen Sie es nicht zu, daß auf Kosten der Natur und der Nun zum Ausbau von Elbe, Havel und Saale. Die Menschen an der Donau vollendete Tatsachen ge- Elbe ist ein Fluß mit einer jahrhundertealten Schiff- schaffen werden. fahrtstradition. Sie ist auf deutschem Gebiet mit rund Vielen Dank. 600 km Strecke ein naturnah regulierter S trom. Die Untersuchungen für den Bundesverkehrswegeplan (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE zeigten auf, daß ein Staustufenausbau der Elbe GRÜNEN und der PDS) schon aus wirtschaftlichen Gründen nicht vertretbar ist. Vielleicht kommt mit der heutigen Diskussion das Märchen von einer Staustufenlösung endlich vom Ich erteile das Wo rt der Vizepräsident Hans Klein: Tisch. Daß eine solche Möglichkeit natürlich geprüft Kollegin Renate Blank. wurde, ist legitim.

Renate Blank (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine (Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/ Damen und Herren! Kollegin Irber, meine Kollegen DIE GRÜNEN]: Das wurde nie geplant?! - aus dem Raum werden das Nötige zu Ihren Bemer- Lisa Peters [F.D.P.]: Es wurde nur laut ge kungen sagen. Aber eines bitte vorweg: Uns als hei- dacht!) matlos zu bezeichnen ist schon ein bißchen viel. - Aber wann werden die Umweltverbände endlich (Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/ verstehen, daß im Bundesverkehrswegeplan zum El- DIE GRÜNEN]: Heimatfeindlich wäre bes beausbau nie von einer Staustufenlösung die Rede ser! - Gegenruf des Abg. Eduard Oswald war? [CDU/CSU]: Die CSU ist die Partei der Hei mat! - Weiterer Gegenruf von der SPD: Der von mir sehr geschätzte SPD-Kollege, Ihr frü- Aber nicht mehr lange!) herer Kollege Ewen, und ich haben bereits im Jahre 1992 bei einer Bereisung der Elbe von Bad Das geht so weit und wir sind so heimatverbunden, Schandau bis Magdeburg feststellen müssen, daß daß uns dort die Bürger mit einer absoluten Mehrheit ein Ausbau notwendig ist, nicht nur im Hinblick wählen. auf den Wirtschaftsverkehr, sondern auch für Touri- (Zuruf von der SPD: Aber nicht mehr stenschiffe. lange!) (Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/ Vielleicht zeugt das von unserer Qualität. Wir sind DIE GRÜNEN]: Langsam kommen wir zur bei Umfragen noch wesentlich höher eingestuft wor Donau!) 4950 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1995 Renate Blank Eine Reise durch die Elblandschaft ist ein einmaliges logischen Vorteile zur Geltung bringen kann. Hierzu Erlebnis, und ich hoffe, daß der Tourismus auf der ist eine qualitativ und wirtschaftlich leistungsfähige Elbe ein Erfolg wird. Wasserstraßeninfrastruktur auch in den neuen Bun- desländern erforderlich. (Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Sie reden nicht von Wür Bei einem Verzicht auf eine leistungsfähige Was- mern, sondern von Elefanten!) serstraßeninfrastruktur wären damit Nachteile ver- bunden, insbesondere das Absinken des ostdeut- Dazu bedarf es allerdings des Ausbaus, damit Touri- schen Wasserstraßennetzes in die Bedeutungslosig- stenschiffe, die nur einen Tiefgang von 90 cm haben, keit und die Verlagerung auf andere Verkehrsträger, auch bei Niedrigwasser ganzjährig fahren können. insbesondere auf die Straße. Nehmen Sie das bitte (Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/ endlich einmal zur Kenntnis. DIE GRÜNEN]: Sie müssen das Manuskript (Zuruf von der CDU/CSU: Das fällt ihr verwechseln!) schwer!) - Kollege Schmidt, der Tourismus trägt auch zum Zum Donauausbau werden nach mir meine Kolle- Aufbau Ost bei. Im übrigen gehe ich auf Ihre unqua- gen Stellung nehmen, die vor Ort von diesem Dauer- lifizierten Äußerungen nicht ein. brenner betroffen sind. Dazu nur eine Bemerkung (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) von mir: Dauernd ist hier die Rede von Vierer-Schub- verbänden. Meine Damen und Herren von der Oppo- Ich muß den Naturschutzverbänden aber eindeutig sition, es kommt nicht auf die Vierer-Schubverbände erklären, daß wir an einem naturnahen Ausbau fest- an, sondern es kommt auf die Abladetiefe an, daß die halten und alle Forderungen zur Einstellung der ge- Donau das ganze Jahr lang befahren werden kann. samten Strombaumaßnahmen sowie der Schiffahrt Nur so kann eine Verlagerung auf das Binnenschiff zwischen Magdeburg und Lauenburg ablehnen. Mit erfolgen. Merken Sie sich das bitte. solchen unüberlegten Forderungen würde nicht nur der wirtschaftlichen Entwicklung der Elbanlieger mit (Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/ ihren Binnenhäfen, Umschlagstellen und Binnen- DIE GRÜNEN]: Das ist Humbug!) werften geschadet, sondern auch die Wirtschaftlich- Das Thema Ogris-Methode wurde, Frau Kollegin keit, insbesondere der in Richtung Hamburg gehen- Irber, von allen Wasserbautechnikern als nicht reali- den Binnenschiffahrt, einschließlich der Entwicklung sierbar eingeschätzt, weil wir damit viel mehr in die der Containerschiffahrt, negativ beeinflußt. Umwelt eingriffen als mit den geplanten Maßnah- (Dr. Klaus Röhl [F.D.P.]: Richtig!) men. Auf den internationalen Charakter der Elbe, die für (Zuruf von der SPD: Da kennen Sie aber die die Tschechische Republik eine wesentliche Verbin- Methode nicht!) dung zur Nordsee darstellt, möchte ich hinweisen. Die vorgesehenen Verbesserungen der Infrastruktur Ich freue mich, daß die SPD nun nichts mehr ge- - sowohl bei der Elbe als auch bei der Donau - die- gen eine Wiederinstandsetzung der Elbe hat. Das nen der Wettbewerbsfähigkeit des Verkehrsträgers heutige Erscheinungsbild und die Wertigkeit für Wasserstraße und gehören für uns zu einer umwelt- Fauna und Vegetation der Elbe - ich betone: als nicht freundlichen Verkehrspolitik. staugeregelter Fluß - bleiben genauso wie die Talaue Vielen Dank. und der vorhandene Hochwasserschutz unverändert. Aber auch im östlichen Teil Deutschlands soll die si- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) chere und kostengünstige Binnenschiffahrt einen be- deutenden Teil der Güter aufnehmen. Vizepräsident Hans Klein: Frau Kollegin Halo Sai- (Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/ bold, Sie haben das Wort. DIE GRÜNEN]: Was ist jetzt mit der Donau? - Lisa Peters [F.D.P.]: Die Donau kommt- jetzt!) Halo Saibold (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich Der Bundesverkehrswegeplan sieht im vordringli- finde es gut, daß wir heute nicht nur über unseren chen Bedarf auch Maßnahmen zum Ausbau der Antrag und den der SPD diskutieren, sondern auch Saale vom Hafen Halle-Trotha bis zur Mündung der über den Gesetzentwurf der Bundesregierung zum Saale in die Elbe für eine Abladetiefe von 2,50 m für Übereinkommen über die Zusammenarbeit zum den in der Regel zweischiffigen Verkehr von Schiffen Schutz und zur verträglichen Nutzung der Donau. mit einer Tragfähigkeit bis zu 1 350 t vor. Herr Kol- Ich betone: Zum Schutz und zur verträglichen Nut- lege Schmidt, rechnen Sie einmal nach, wieviele zung! Ich darf aus Art. 2 über die Ziele dieses Gesetz- Lastzüge das sind. Es sind bis zu 40 Lastzüge, die da- entwurfs zitieren. Dort heißt es u. a.: mit eingespart werden können. Die wasserwirtschaftliche Zusammenarbeit orien- Zur Bewältigung des wachsenden Verkehrsauf- tiert sich an der verträglichen Wasserwirtschaft, kommens ist es dringend erforderlich, daß das Trans- das heißt an den Kriterien einer beständigen und portmittel Binnenschiff überall do rt genutzt wird, wo umweltgerechten Entwicklung, die zugleich es volkswirtschaftlichen Nutzen bietet und seine öko gerichtet sind auf: Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1995 4951 Halo Saibold - die Erhaltung der allgemeinen Lebensqualität; Es mutet schon seltsam an, daß die bisherigen Ent- scheidungen im Zusammenhang mit der Kanalisie- - die Bewahrung des Zugangs zu den natürli- rung der Donau allesamt am Parlament vorbeige- chen Ressourcen; schoben wurden.

- die Verhütung bleibender Umweltschäden, (Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/ den Schutz der Öko-Systeme; DIE GRÜNEN]: Sehr interessant!)

- die Anwendung des Vermeidungsansatzes. Dabei sollen für dieses Projekt nicht nur einige we- nige Millionen aus dem Steuersäckel berappt wer- Ich bitte Sie, bei der weiteren Beratung unseres den. Nein, nach den bisher vorliegenden Planungen Antrags diese im Gesetzentwurf der Bundesregie- dürfte es sich um 2 und mehr Milliarden DM han- rung dargelegten Zielsetzungen im Auge zu behal- deln, die in Niederbayern ohne Notwendigkeit ver- ten. Mit der von uns in unserem Antrag geforderten graben und in Beton verwandelt werden sollen. Da Reduzierung der Ausbauziele halten wir uns genau haben wir als Abgeordnete die unerläßliche Pflicht, an die vorhin zitierten Vorgaben. uns angesichts der rundherum leeren Kassen in die Entscheidung über die Zukunft der Donau einzu- Ich bitte Sie, weiterhin zu bedenken, daß die ge- mischen. plante Donaukanalisierung vor Ort nicht nur bei den dortigen Bürgerinitiativen, bei kirchlichen Gruppie- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN rungen beider Konfessionen und beim Bund Natur- und bei der SPD) schutz und bei vielen anderen auf massiven Wider- mstand stößt, sondern daß auch die be troffenen Ko Vizepräsident Hans Klein: Gestatten Sie eine Zwi- munen entlang der Donau dieses Vorhaben ableh- schenfrage der Kollegin Blank? nen.

Inzwischen leuchtet nämlich selbst dem Dümm- Halo Saibold (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ja. sten ein, daß sich - auch wenn das hier in Abrede ge- stellt wird -, für ein paar Vierer-Schubverbände, die nur auf der Donau zwischen Regensburg und Linz, Renate Blank (CDU/CSU): Frau Kollegin, Sie spra- also einem ganz kurzen Stück überhaupt fahren, die chen von 2 Milliarden DM, die do rt verbuddelt wer- Zerstörung der Heimat nicht lohnt. Diese Schiffe kön- den. Ist Ihnen die genaue Summe bekannt, die im nen - man glaubt es fast nicht - weder durch den ei- Bundesverkehrswegeplan steht? Darf ich Sie bitten, gentlichen Rhein-Main-Donau-Kanal noch durch die sie uns zu nennen? Wachau in Österreich fahren. Nur bei uns sollen sie fahren. Diese gigantomanischen Pläne lassen sich politisch nicht mehr durchsetzen, weder an der Elbe, Halo Saibold (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Es wa- der Saale oder der Havel, erst recht nicht mehr an ren 1,3 Milliarden DM vor einigen Jahren. Ich garan- der Donau in Niederbayern. tiere Ihnen, daß die nicht reichen. Das sagt Ihnen je- der Wissenschaftler, jeder Flußbauer, und auch die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Erfahrung sagt uns das. Auch Sie wissen das. und bei der SPD) Aber ich möchte mich auch an die Kolleginnen Zu dieser Einsicht sind inzwischen auch bayeri- und Kollegen unter uns wenden, die mit der Umwelt sche Staatsminister gekommen, und das wi ll schon und der Ökologie weniger am Hut haben. Sie sollten etwas heißen. Der weiß-blaue Umweltminister denkt sich wenigstens aus fiskalischen Gesichtspunkten inzwischen laut über den Verzicht auf die beiden ge- mit diesem Thema befassen. planten Staustufen nach. Deshalb noch etwas Grundsätzliches zu den Finan- (Zuruf von der CDU/CSU: Das stimmt doch zen. Es wird allerhöchste Zeit, daß bei der Diskussion gar nicht!) um die wirtschaftliche Notwendigkeit des Donauaus- - baus nicht immer nur die Vorteile für die Schiffahrt Sie können sicher sein, daß der berühmte Engel Aloi- betont werden, sondern endlich auch die vielfältigen sius nach einem energischen ,,Luja, sag i" der bayeri- Schäden gegengerechnet werden - Frau Blank, es schen Staatsregierung, dem Herrn Hinsken und viel- wäre nicht schlecht, wenn Sie zuhören würden -, die leicht auch dem bekanntlich aus Bayern stammen- durch den gigantischen Eingriff in den Naturhaus- den Bundesfinanzminister noch die Botschaft ein- halt entlang der Donau hervorgerufen werden: die trichtern wird, daß jegliche Kanalisierung an der Do- ständig steigenden Schäden durch vermehrte Hoch- nau aus ökologischen und, Herr Hinsken, aus ökono- wasser, das drastische Absinken der Selbstreini- mischen Gründen unverantwort lich ist. gungskraft des freifließenden Flusses, die nur durch teure Kläranlagen ausgeglichen werden kann, die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Schäden an Gebäuden durch das Absinken des und bei der SPD) Grundwasserspiegels, die Veränderungen der Vege- tation und die Schäden für die Landwirtschaft durch Hier in Bonn, wo jedoch die Hauptauftraggeber sit- die Eingriffe in den Grundwasserhaushalt sowie die zen, müssen wir offensichtlich noch etwas nachhel- Probleme für die Trinkwasserversorgung durch ver- fen und dürfen uns nicht auf den Aloisius verlassen. änderte Grundwasserströme und vieles mehr. Der 4952 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1995

Halo Saibold Genuß, in einem freifließenden S trom zu baden, und fangen, schon sind Sie mit Ihren Zwischenrufen da. der Lebensraum von Tieren und Pflanzen einschließ- Als Ihre Kollegin gesprochen hat, waren die anderen lich der Fische lassen sich natürlich schlecht berech- Fraktionen ruhig und haben ihr zugehört. Sie haben nen. die Kollegen vorhin alle pausenlos mit Zwischenru- fen bedient. Es wäre ganz gut, wenn Sie eine Weile Jährlich werden in Deutschland Schäden in Höhe zuhörten. - Bitte, Frau Kollegin. von 600 Milliarden DM durch Umweltverschmut- zung und Eingriffe in den Naturhaushalt hervorgeru- fen. Die Bundesregierung und die Mehrheit in die- Lisa Peters (F.D.P.): Herr Schmidt, wir beide sind sem Hause sollten doch endlich einmal begreifen, uns ja einig. daß wir uns solches Tun nicht länger leisten können, und zwar nicht nur aus Verantwortung gegenüber Das Thema ist gar nicht so einfach. Es ist ein um- der Schöpfung, sondern buchstäblich auch in Mark fangreiches Thema, und man muß sich irgend etwas und Pfennigen, weil ökologische Schäden immer heraussuchen. Ich wi ll einmal versuchen, einige auch ökonomische Schäden sind. Punkte zu beleuchten. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Zuerst das Donauschutzübereinkommen. Ich habe es heute morgen gelesen, und das hat mir unheim- Zusätzlich zu unserem vorliegenden Antrag fordere lich viel Spaß gemacht. ich jedoch Verkehrsminister Wissmann auf - der na- türlich nicht da ist - (Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Oh!) (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Aber sein Staatssekretär ist da!) - Ja. - Ich finde es sehr erfreulich, daß neun Staaten - endlich dafür zu sorgen, daß unabhängig von den vielleicht sind es schon mehr - gemeinsam diesen weiteren Planungen damit begonnen wird, die weni- Abschluß getätigt haben und daß es noch eine Offen- gen, aber gravierenden Gefahrenstellen im Flußbett lassung für die Staaten im ehemaligen Jugoslawien der Donau vor allem im Raum Vilshofen zu beseiti- gibt, die sich noch nicht gefunden haben. gen. Ich finde, daß dieses Vertragswerk zum Schutz ei- (Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/ ner verträglichen Nutzung der Donau eine tolle Sa- DIE GRÜNEN]: Sehr richtig!) che ist und daß es eine Voraussetzung dafür ist, daß wir die Donau auch zur Schiffahrt und zur Binnen- Oder wird leichtfertig auf die nächste Havarie eines schiffahrt nutzen können. Ich denke, das wollen wir Öltankschiffes gewartet, um ein solches Unglück alle. Darüber sind wir uns im Verkehrsausschuß ei- dann wie schon so oft für die ebenso vordergründige nig. wie unseriöse Forderung nach dem sofortigen Aus- bau der Donau mißbrauchen zu können? Dieser Ver- Ich finde es schon sehr wich tig, daß die Anrainer- dacht liegt leider sehr nahe, könnte aber leicht aus- staaten jetzt in Wien zusammenarbeiten, daß sie ein geräumt werden, wenn endlich die entsprechenden gemeinsames Büro haben und daß sie mindestens Zusagen hochrangiger CSU-Kreise eingelöst würden einmal im Jahr zusammenkommen müssen, um dort und endlich mit einer umweltschonenden und ökolo- zu arbeiten. Für mich ist immer wich tig, daß man gisch verträglichen Beseitigung der vorhandenen dann, wenn man zusammenarbeitet, auch miteinan- Gefahrenstellen begonnen würde. der redet und daß man viele Dinge im Vorfeld klären Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. kann. Ich sage das auch im Hinblick auf die Zeiten, die wir vor dem 9. November 1989 hatten. Da war so (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN etwas noch nicht möglich. Ich bin sehr dankbar, daß und bei der SPD) dieses Abkommen unterzeichnet worden ist.

Ein Übereinkommen zur verträglichen Nutzung Vizepräsident Hans Klein: Das Wort hat die Kolle- gin Lisa Peters. der Donau - so steht es im Gesetzentwurf - ist schon eine tolle Sache. Die Erwartungen sind hoch; aber vielleicht werden sie ja auch erfüllt. Harmonisierung Lisa Peters (F.D.P.): Herr Präsident! Meine Herren in allen Bereichen, Zusammenarbeit im Bereich der und meine Damen! Herr Schmidt hat es nun schon Wissenschaft, der Technik und der Verwaltung sind mehrfach bemerkt. Herr Schmidt, ich darf mich ent- gute Dinge. Nebenbei sollen die wasserwirtschaftli- schuldigen, daß ich jetzt mit meiner platten nord- chen Dinge geregelt werden, die Umwelt soll erhal- deutschen Stimme etwas zur Donau sage. Ich sage ten werden, und nachteilige Auswirkungen soll man dazu nicht viel, aber ein bißchen. Aber Sie nehmen vermeiden. Für mich ist wichtig, daß diese grenz- das, denke ich, erst einmal an. überschreitende Sache läuft, daß Überwachungen (Zuruf des Abg. Albert Schmidt [Hitzhofen] stattfinden, daß eine verträgliche Wasserwirtschaft [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) gestaltet werden kann und daß der Donaustrom nachhaltig und anhaltend geschützt wird.

Vizepräsident Hans Klein: Frau Kollegin, ich darf Schutz aller Gewässer im Einzugsbereich bis zum Sie eine Sekunde unterbrechen. - Herr Kollege Schwarzen Meer ist das nächste Thema dieses Pa- Schmidt, Frau Peters hat noch gar nicht richtig ange- piers. Informationen und Umweltverträglichkeitsprü- Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1995 4953

Lisa Peters fungen sollen wir überall bekommen, auch in den an- Der Ausbau muß sich der L andschaft anpassen. deren Ländern. Störfälle sollen rechtzeitig gemeldet Kosten und Nutzen müssen aber stimmen. werden. Jedenfalls bedanke ich mich bei unserer Re- (Zustimmung bei der SPD und dem BÜND gierung, die dies mit ermöglicht hat. NIS 90/DIE GRÜNEN) Ich möchte einige Ausführungen zur Binnenschiff- Trotz aller Gutachten und aller Berechnungen, die machen. - Dann muß ich mich nicht soviel mit fahrt man vorher erstellt, kommt es hinterher manchmal der Donau aufhalten. - Ich denke, wir alle sind für anders - für die Wasserstraßen in letzter Zeit aber ei- die Binnenschiffahrt. gentlich immer positiver. Das muß man einfach ein- (Vorsitz : Vizepräsident Dr. Burkhard mal sagen. Das hat die Praxis gezeigt. Hirsch) Unsere Fraktion, die im bayerischen Landtag jetzt Die Binnenschiffahrt nutzt die Gewässer. Wir brau- leider nicht mehr vertreten ist, hat sich in der vorigen chen leistungsfähige Wasserstraßen. Auch das ist ein Wahlperiode - so habe ich es jedenfalls den Unterla- Thema. Deshalb ist eine Verbesserung der Infra- gen entnehmen können - sehr mit diesem Ausbau, struktur die Voraussetzung für leistungsfähige Was- der vernünftig ist, beschäftigt. Ich glaube, wir sind serstraßen. alle runter von den Viererschubverbänden. Die Wasserstraßen haben viele ökologische Vor- (Horst Kubatschka [SPD]: Nein! Herr Hins teile gegenüber der Straße und auch gegenüber der ken will noch Viererschub fahren!) Eisenbahn. Darüber muß man nicht mehr sprechen. Frau Blank, (Beifall des Abg. Albert Schmidt [Hitzhofen] auch Sie haben sie nicht mehr erwähnt. Sie wissen, [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) was ein Ausbau kostet und wie schwierig er ist. Die Binnenwasserstraßen erfordern eine geringere Wir hoffen - da habe ich großes Vertrauen; ich Unterhaltung. Sie sind volkswirtschaftlich von ho- kenne es auch aus der sonstigen und aus der Kom- hem Nutzen. Wir alle müssen in Zukunft mehr dafür munalpolitik - auf geordnete Verfahren und darauf, tun, und wir wollen das auch. Da gibt es im Aus- daß die Umweltverträglichkeitsprüfung zwingend schuß kaum Diskrepanzen. ist, daß sie manchen Mangel an den Tag bringt und Machbares aufdeckt. Ich persönlich habe sehr viel Die Binnenwasserstraßen müssen befahren wer- Vertrauen in diese Prüfung und gehe davon aus, daß den können. Aber die Transportkosten müssen er- alles ganz vernünftig läuft. wirtschaftet werden. Der Wettbewerb spielt eine große Rolle. Deshalb brauchen wir integrierte Kon- (Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/ zepte: Konzepte für Investitionen, für Kooperation, DIE GRÜNEN]: Sie kennen Bayern einfach für eine Vernetzung, für Verkehrssicherheit, für Um- zuwenig!) weltschutz, für Marktstrategien. A ll das sind Dinge, Ich komme kurz auf den Ausbau der Elbe, der Ha- die wir in den nächsten Jahren angehen müssen. vel und der Saale zu sprechen. Auch hier gilt das, Binnenschiffe müssen überall fahren können. Sie was ich für die Binnenschiffahrt schon einmal gesagt müssen überall zu Hause sein können. Sie sind von habe. Wir wollen alles fördern, was sich auf dem volkswirtschaftlichem Nutzen. Wichtig ist, daß es uns Wasser bewegen kann. Wir wollen a lles verbessern. gelingt, in der nächsten Zeit die Schnittstellen und Wir sind für einen maßvollen Ausbau bei Erhaltung die Vernetzung zwischen Schiene, Straße und Was- der natürlichen Gewässer. serstraße zustande zu bringen. Die F.D.P. sieht ganz klar den Lebensraum Gewäs- Der sanfte Transpo rt mit weniger Energie, mit we- ser. Wir sehen auch die Talauen, wir sehen die Auen- niger Lärm und mit weniger Flächenverbrauch ist wälder, wir sehen den Lebensraum für Pflanzen und das, was uns heute beschäftigt. Auch wenn sich die Tiere, aber auch den Lebensraum für Menschen. Ich Vorlage mit dem Ausbau von Wasserstraßen beschäf- meine, darauf kommt es an. Es geht auch um den Le- tigt, ist der sanfte Transpo rt doch das, was nachher bensraum für Menschen, die da mit eingebunden erfolgen muß. sind; das ist völlig klar. - Nun noch kurz zum Ausbau der Donau zwischen (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Straubing und Vilshofen. Ich denke - auch meine Es ist hier schon mehrfach gesagt worden: Die Aus- Fraktion denkt das -, das Ganze kann nur ökologisch baumaßnahmen dürfen nicht nachteilig sein. Es gibt verantwortbar erfolgen. keine Staustufen mehr; das geisterte in der vorigen (Beifall bei der SPD und beim BÜNDNIS 90/ Wahlperiode irgendwo herum. Auch dabei gehe ich DIE GRÜNEN - Dr. Klaus Röhl [F.D.P.]: So davon aus, daß die Planverfahren und die Prüfungen sind wir!) alles erbringen werden. Selbst das Verkehrsministe- rium geht davon aus, daß es Rückbauten geben kann - Ja, das ist nichts Neues. Das sehen Sie, wenn Sie und daß Deiche zurückgesetzt werden können. Die das in die vorige Wahlperiode zurückverfolgen. Umweltverträglichkeitsprüfung muß ernst genom- men werden. Der Hochwasserschutz muß gewährlei- (Zurufe) stet sein; er ist Bestandteil der Planungen. Ich teile - Doch, man darf noch etwas sagen. Der Präsident nicht die Sorge, die derzeit noch immer besteht. Vor sagt nicht immer, daß Sie nicht dazwischenreden sol- 10 bis 20 Jahren haben wir alles mühsamer ausge- len. baut. 4954 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1995

Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Frau Kollegin, Ich bedanke mich jedenfalls für das Zuhören und ich möchte Sie fragen, ob Sie eine Zwischenfrage der wünsche uns allen eine gute Beratung in den Aus- Kollegin Saibold zulassen. schüssen. Das ist hier eigentlich nur die erste Runde. Wir werden uns in den nächsten drei Jahren noch öf- ter mit diesem Thema befassen. Ich meine, daß diese Lisa Peters (F.D.P.): Ja, das mache ich. Ausbauten stattfinden müssen, und zwar in dem Rahmen, den ich hier eben genannt habe. Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Frau Saibold. Schönen Dank. (Das Saalmikrofon funktioniert nicht - Horst Kubatschka [SPD]: Auch Grüne müssen auf (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne Rot warten! - Heiterkeit) ten der CDU/CSU und der SPD)

Halo Saibold (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Da Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Ich erteile der können wir lange warten. Abgeordneten Eva Bulling-Schröter das Wo rt. (Heiterkeit) Eva Bulling-Schröter (PDS): Sehr geehrter Herr Frau Kollegin, ich habe Ihren Ausführungen mit Präsident! Sehr geehrte Abgeordnete! Wir diskutie- großem Interesse zugehört. ren heute wieder einmal über den Ausbau einiger Flüsse, u. a. über die Donau, wie man an der bayeri- schen Präsenz merkt. Als Lebensader, Wasserspen- (F.D.P.): Aber? Lisa Peters derin und Landschaftsgestalterin ist sie gleichzeitig Lebensraum für eine Vielzahl vom Aussterben be- Halo Saibold (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wis- drohter Tiere und Pflanzen. sen Sie aber auch, daß der springende Punkt die Vor- gabe der Ausbauziele ist, d. h., daß sie unbedingt re- (Albert Deß [CDU/CSU]: Das wird auch so duziert werden müssen, sonst hellen z. B. a ll die Gut- bleiben! - Gegenruf des Abg. Albe rt achten überhaupt nichts. Wenn Sie an den Maßen - Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/DIE 3,20 m Tiefe und 100 m Breite - festhalten, dann kön- GRÜNEN]: Was? Das Aussterben?) nen wir überhaupt keine verträgliche Lösung finden. In Hunderten von Jahren wurde der Fluß in Beton- (Renate Blank [CDU/CSU]: Von 3,20 m mauern eingezwängt, mit Wehren und Schleusen ge- Tiefe ist nicht die Rede!) schunden, sein Flußbett den gerade aktuellen An- sprüchen des Menschen gemäß verlegt. Nur in ganz wenigen Flußabschnitten hat sich bis heute der ur- Lisa Peters (F.D.P.): Davon ist überhaupt nicht die sprüngliche Verlauf erhalten. Einer davon sind die Rede. Sie wissen ganz genau, daß die letzten Würfel 70 Kilometer zwischen Straubing und Vilshofen mit nicht gefallen sind und daß das alles innerhalb der ihren wertvollen Auen und Überschwemmungsge- Umweltverträglichkeitsprüfung beachtet werden bieten. Genau dieser Abschnitt soll nach den Plänen muß. Ich meine, wir wollen und werden nicht zu die- des Bonner Verkehrsministeriums dem Ausbauwahn ser Ausbautiefe kommen. Sie wissen genau, daß do rt der Flußbaulobby zum Opfer fallen. auch sonst eine ganze Menge an schiffbarem Gut fahren oder fließen kann. Das muß ich einfach einmal An dem Verlauf der jahrelangen Auseinanderset- so sagen. zungen um den Sinn und Unsinn dieses Milliarden- projekts zeigt sich zweierlei. Ich meine, daß wir in den letzten 10 bis 20 Jahren erheblich weitergekommen sind. Wenn ich an die Erstens. Es geht nicht in erster Linie darum, den Sturmfluten, die bei uns im norddeutschen Raum Fluß schiffbar zu machen, sondern darum, den an sol- 1962 und 1972 auftraten - ich wohne im Norden, an chen Großprojekten verdienenden Bau- und Ausrü- der Elbe - und schwerwiegende Folgen hatten, stungsfirmen lukrative Aufträge zu verschaffen. denke, gehe ich davon aus, daß wir die Deiche heute (Beifall bei Abgeordneten der PDS - Wider nicht mehr so bauen würden, wie wir sie damals ge- - spruch bei der CDU/CSU und der F.D.P. - baut haben, nämlich direkt an das Wasser. Diese Er- Renate Blank [CDU/CSU]: Das ist ja Un kenntnisse haben wir in den letzten Jahren errun- sinn!) gen. Ich meine nicht, daß wir in diesem Hause, wenn es wirklich um die Praxis geht, so viele Gegensätze Schon 1993 forderte der bayerische Rechnungshof haben. - er wurde hier schon einmal zitiert -, daß nochmals gründlich untersucht wird, ob Nutzen, Kosten, son- (Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/ stige Belange und das spezielle bayerische Interesse DIE GRÜNEN]: Fragen Sie nachher einmal in einem vernünftigen Verhältnis zueinander stehen. die Stenographen! - Halo Saibold [BÜND Ich zitiere: NIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Vorgaben sind immer noch die gleichen!) Bei dem gegebenen Engpaß unseres Staatshaus- haltes können wir es uns nicht leisten, Träume zu Man muß nicht immer die Dinge aus der Schublade verwirklichen. holen, die fünf, sieben oder neun Jahre alt sind. Wir haben alle dazu gelernt. Ich meine, unsere Partei (Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/ oder Fraktion hat das nie anders vertreten. DIE GRÜNEN]: Alpträume!) Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1995 4955

Eva Bulling-Schröter Nach Auffassung des bayerischen Rechnungshofes flächen immer stärker wütenden Hochwasserperio- muß die Wasserstraße von der Wi rtschaft in ihre den zu werden. Gerade am Beispiel des Hochwassers Transportdispositionen einbezogen werden. Dies zeigt sich, welche verhängnisvollen Kreisläufe immer würde allerdings neben einem abgestimmten Ver- weiter vorangetrieben werden. halten aller Beteiligten eine verkehrspolitische Un- terstützung, insbesondere ein entsprechendes Ge- Um den Fluß den Schiffen anzupassen anstatt um- samtgüterverkehrskonzept, erfordern. Ich weiß nicht, gekehrt die Schiffe dem Fluß, werden Staustufen ein- ob das schon vorhanden ist. gebaut. Zwischen Straubing und Vilshofen sollen es zwei sein; eventuell wird allein durch den Druck der Zweitens. Die Überschwemmungen der letzten Umweltinitiativen auf eine Staustufe verzichtet. Jahre haben überall Spuren hinterlassen, aber leider nicht in den Köpfen der Verantwortlichen in Politik (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Doch nicht auf und Wirtschaft. Wenn es wirklich darum ginge, um- Druck der Umweltinitiativen!) weltfreundlich Verkehr von der Straße auf das Was- ser zu bringen, dann würden sich für den durchge- Staustufen sind aber eine Bar riere für den natürli- henden Massengüterverkehr schnellere und billigere chen Sand- und Gerölltransport. Als Folge gräbt sich Wege anbieten. der Fluß unterhalb der Stufen immer tiefer ins Fluß- bett, da das Auffüllmaterial zurückgehalten wird. In (Bartholomäus Kalb [CDU/CSU]: Welche? - der Vergangenheit war dieser Prozeß immer die Be- Lisa Peters [F.D.P.]: Billigere bestimmt gründung für weitere Staustufen im Unterlauf. So nicht!) wurden ganze Flußsysteme, vom Oberlauf angefan- Außerdem würde auch der geplante Ausbau der gen, reguliert und gleichzeitig in ein neues Bett ge- Donau später nicht die durchgängige Bildung zwängt. Letztlich erhöht sich durch den Wegfall der 23 Meter breiter Viererschubverbände, wie sie vom natürlichen Überschwemmungsgebiete bei Hoch- Bundesverkehrsministerium favorisiert werden, er- wasser die Abflußgeschwindigkeit, was zu immer möglichen. Der Rhein-Main-Donau-Kanal läßt näm- schwereren Überschwemmungen führt. lich nur Schubeinheiten bis 11,2 m zu. In Regensburg müßte also in jedem Fall umgekoppelt werden. Es ist schon erstaunlich, daß einerseits das Um- weltbundesamt als eine wissenschaftliche Behörde Auch bei der geplanten Ausbautiefe von 3,20 m der Bundesregierung immer wieder auf die Gefahren scheint niemand an den Planungstischen vom Ge- einer solchen Politik hinweist, gerade erst wieder in danken einer kostengünstigen, geschweige denn einer Stellungnahme zum Wasserhaushaltsgesetz umweltverträglichen Lösung belästigt worden zu vorigen Montag, andererseits aber von Bund und sein. Das Ergebnis: Eine ganzjährige Befahrbar- Ländern kaum Konsequenzen gezogen werden. keit des Flusses wird angestrebt, koste es, was es wolle. Meine Damen und Herren vor allem aus der CSU, auch in Ihren Reihen formiert sich Widerstand. Wenn Besonders dann, wenn Staatsknete jeden Kubik- man die „Süddeutsche Zeitung" liest, dann liest man meter Beton bezahlt und die Bilanzen der Flußbauer auch davon, daß CSU-Mitglieder austreten wollen, vergoldet, sind die heiligen Regeln der Marktwirt- weil „konservativ" bewahrend heißt, wenn ich das schaft plötzlich vergessen. Nein, da muß kräftig an- richtig verstanden habe. Werden Sie end lich Ihrem gestaut werden. Da wird gegen einen Ausbau mit Ruf gerecht! Bewahren Sie das letzte Stück unver- flußtechnischen Mitteln polemisiert, weil bei diesem baute Donau, Bayern zuliebe! nicht in jedem Abschnitt an jedem Tag des Jahres die Befahrbarkeit für vollbeladene Schiffe gewährleistet (Beifall bei der PDS, der SPD und dem wäre. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Wer hat Ihnen den Schmarren aufgeschrieben?) Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Nun erteile ich Scheinargumente! dem Abgeordneten Ernst Hinsken das Wort. - (Beifall der Abg. Dr. Dagmar Enkelmann [PDS]) Ernst Hinsken (CDU/CSU): Herr Präsident! Ver- ehrte Kolleginnen und Kollegen! Als ich letzte Wo- Denn selbst auf dem Rhein, über den jährlich mit che in Erfahrung gebracht habe, daß der Punkt 60 Millionen Tonnen Güter zwanzigmal soviel trans- „Donauausbau zwischen Straubing und Vilshofen" portiert wird wie gegenwärtig auf der Donau, steht auf der Tagesordnung steht, habe ich mich sofort des die Schiffahrt am Binger Loch an durchschnittlich Antrags erinnert, der von den SPD-Kollegen einge- 60 Tagen im Jahr vor ähnlichen Problemen. bracht wurde. (Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: So ist es!) Mir ist der Antrag deshalb aufgefallen, weil ich sel- ten erlebt habe, daß so viele Kollegen unterschrieben Eine größere Gefahr als diese Un tiefe, mit der sich haben, nämlich weit über 80. Jetzt stelle ich fest, daß die Schiffer anscheinend vernünftigerweise arrangie- nicht einmal 10 % der Antragsteller anwesend sind. ren, scheinen allerdings die durch die hemmungslose Das ist meines Erachtens nicht ehrlich. M an kann un- Vernichtung von natürlichen Überschwemmungs terschreiben, ohne zu wissen, was man unter- 4956 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1995 Ernst Hinsken schreibt. Aber wenn man unterschrieben hat, dann Ich bin aber auch für einen naturschonenden Aus- sollte man sich auch informieren. bau. Das möchte ich ausdrücklich unterstreichen und betonen. Deshalb finde ich es richtig, daß der bayeri- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. - sche Ministerpräsident Dr. Stoiber und Bundesver- Zuruf von der SPD: Die Auslegung ist völlig kehrsminister Wissmann am 6. Juli 1995 verabredet unsinnig!) haben, die ergänzenden Untersuchungen für den Be- reich oberhalb der Isar-Mündung in Auftrag zu ge- Verehrte Kolleginnen und Kollegen, ich habe nie ben. einen Hehl daraus gemacht, daß ich Befürworter des Donauausbaus zwischen Straubing und Vilshofen (Halo Saibold [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ bin. Binnenwasserstraßen sind für mich umwelt- NEN]: Und unterhalb?) freundlich, und zwar die umweltfreundlichsten Gü- tertransportwege, die es überhaupt gibt. Die Ergebnisse dieser Untersuchungen werden zeigen, ob eine flußbauliche Alterna tive für den obe- (Zuruf von der F.D.P.: Jawohl, so ist es!) ren Bereich in das Raumordnungsverfahren einge- bracht und ob auf die Staustufe Waltendorf verzichtet Meine Kollegin Renate Blank hat bereits darauf ver- werden kann, ohne die Substanz der Ausbauziele zu wiesen. gefährden. Ein Europaschiff mit etwa 1 300 t Beladung ersetzt (Halo Saibold [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ 50 Lastzüge. Man darf eines nicht übersehen: Die NEN]: Die Isarmündung säuft trotzdem ab!) Bundesrepublik Deutschland und insbesondere der - Ich sage das mit einem gewissen Unterton. - In ostbayerische Bereich sind seit der Grenzöffnung übereinstimmender Auffassung aller Wasserbauex- zum Osten zur Verkehrsdrehscheibe Europas gewor- perten - das wurde bereits hier angesprochen - ist den. ein bedarfsgerechter Ausbau der Staustufe Osterho- Wir müssen uns also Gedanken darüber machen, fen unverzichtbar. inwieweit verkehrliche Maßnahmen ergriffen wer- Meine sehr verehrten Damen und Herren, auch den, um den Verkehr von der Straße und gegebenen- Professor Nestmann, der jüngst gesagt hat, daß ge- falls von der überlasteten Schiene auf die umwelt- gebenenfalls auf die Staustufe in Osterhofen verzich- freundlichen Wasserstraßen zu bringen. Ich meine, tet werden kann, hat sich in der Zwischenzeit in der daß die Verkehrsprobleme des 21. Jahrhunderts Öffentlichkeit geäußert und ist von seinen Ausfüh- nicht auf der Infrastruktur des 19. Jahrhunderts be- rungen abgerückt. wältigt werden können. Ich zitiere den „Donau-Kurier" vom 22. September Generell gilt für Wasserstraßenausbauten, die wirt- 1995, wo es heißt: schaftliche Leistungsfähigkeit der Verkehrswege zu Der Karlsruher Wasserbauer Franz Nestmann ist verbessern. Das heißt, Transportkosten sind durch von seinen jüngsten Äußerungen zum Donauaus- größere Schiffe und Ablademöglichkeiten zu senken. bau zwischen Straubing und Vilshofen teilweise Bei dieser Maßnahme, über die wir heute in erster wieder abgerückt. Lesung diskutieren, geht es vor allen Dingen darum, daß im Falle eines Lückenschlusses zwischen Strau- (Horst Kubatschka [SPD]: Teilweise!) bing und Vilshofen die Gleichwertigkeit mit anderen Es sei heute noch nicht zu begründen, daß wo- Streckenteilen hergestellt werden soll und muß. möglich auf eine oder beide Staustufen verzichtet (Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/ werden könne, erklärte der Professor gestern. Ob DIE GRÜNEN]: Da fließt schon etwas! Wel „reelle Chancen" für zusätzliche Maßnahmen che Lücke wollen Sie schließen? Da fließt bestünden, könne nur nach gründlichen Untersu- schon was: die Donau!) chungen entschieden werden. Dafür sei ein ent- sprechender Zeitrahmen nötig. „Die Vorwegnah- - Es geht darum, daß die Donau so befahrbar ge- me von Entscheidungen" würde Nestmann zufol- macht wird, daß sie in der Weise umweltfreundlich ge hier „eher störend" auf die „nun eröffnete genutzt werden kann, wie ich das eben gesagt- habe. Möglichkeit der verstärkten Berücksichtigung ökologischer Aspekte" wirken. Von einem neuen Es gehört zum kleinen Einmaleins der Verkehrspo- Kurs in Sachen Donauausbau könne aus seiner litik - auch für Sie, Herr Schmidt -, daß für einen Sicht vorerst keine Rede sein. wirtschaftlichen Schiffsbetrieb die Fahrrinnentiefe entscheidend ist. Für bedeutende Wasserstraßen wie Meine Damen und Herren, ich meine, es war wich- der Donau sollte eine Abladetiefe von 2,50 m ermög- tig, daß das gesagt wurde, weil gerade Professor licht werden. Nestmann als neuer Apostel, dem man Posi tives, für sich nutzend, in den Mund legt, sich diesbezüglich (Halo Saibold [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ geäußert hat. NEN]: Das ist zu tief!) Lassen Sie mich abschließend feststellen: Ich Sonst können die angestrebten Transportkostensen- pflichte dem bayerischen Ministerpräsidenten Stoi- kungen nicht realisiert werden. ber bei, wenn der am 19. Juli in einer Regierungser- klärung vor dem bayerischen Landtag erklärt hat, (Halo Saibold [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ daß das Raumordnungsverfahren so lange offenge- NEN]: Und die ökologischen Kosten?) halten wird, bis Klarheit herrscht, welche Planungen Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1995 4957 Ernst Hinsken weiter verfolgt werden. Nachdrücklicher läßt sich Kreises ist? Sie müssen sich einmal entscheiden. Sie meiner Meinung nach nicht belegen, daß die CDU/ haben den „Donau-Kurier" vom 22. September und CSU einen ökologisch und ökonomisch sinnvollen ich habe die „PNP" vom 22. September: „Wasser- Ausbau zwischen Straubing und Vilshofen will. bauexperte stellt Staustufen in Frage, Professor Nest- mann." Jeder hat seine Zeitung, Sie eine oberbayeri- Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Herr Kollege, sche, ich eine niederbayerische. Das ist Ihre Haus- wenn Sie noch eine Zwischenfrage der Kollegin Sai- postille, und Sie haben anscheinend eine andere als bold zulassen, haben Sie die Chance, über Ihre Rede- ich. zeit hinaus zu sprechen. Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Sie gestatten Ernst Hinsken (CDU/CSU): Das nehme ich gerne eine Zwischenfrage? an; Frau Kollegin Saibold kann ihre Frage stellen. Horst Kubatschka (SPD): Natürlich. Halo Saibold (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Hinsken, Sie haben gerade Dr. Nestmann erwähnt. Ernst Hinsken (CDU/CSU): Herr Kollege Ku- Sie stimmen mir doch sicherlich zu, daß es immer auf batschka, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, die Aufgabenstellung und auf die Auftragsausrich- daß das, was Sie der „Passauer Neuen Presse" ent- tung ankommt, zu welchen Ergebnissen man bei Un- nommen haben, aus dem „Donau-Kurier" übernom- tersuchungen kommt. Deswegen ist es eben ganz men wurde wichtig, daß die Ausbauziele verändert werden, da- (Heiterkeit) mit man eine andere Alterna tive ausarbeiten und überprüfen kann. und daß im „Donau-Kurier" Professor Nestmann eine Korrektur vorgenommen hat, um einiges richtigzu- Gestatten Sie mir bitte noch ganz kurz eine zweite stellen und es nicht ohne Prüfung in der Welt stehen Frage. Sie kennen, auch wenn Sie von der Donau zu lassen? sind, sicherlich den Spruch von der Nordsee: Schiff ahoi! Wissen Sie, wie das bei uns im Süden heißt? - Hoi, a Schiff! Horst Kubatschka (SPD): Herr Kollege Hinsken, Sie hatten vorhin vom 22. September in bezug auf (Heiterkeit beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜ den „Donau-Kurier" gesprochen. Auch ich habe eine NEN und bei der SPD) Ausgabe vom 22. September. Es kann schlecht etwas übernommen werden, wenn es zum gleichen Zeit- Ernst Hinsken (CDU/CSU): Das, was Sie hier gebo- punkt in der Zeitung steht. ten haben, war großartig und das habe ich in letzter (Beifall und Heiterkeit bei der SPD und dem Zeit mehrmals hören dürfen. Wenn man etwas nach- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) macht, dann ist also natürlich die Originalität weg. Aber ich wollte Ihnen die Möglichkeit geben, Ihre Ich bin gerne bereit, Herr Hinsken, zu versuchen, zwei Fragen abschließend hier vorzubringen. mit den Wasserbauexperten, mit Herrn Professor Nestmann, den ich für einen Fachmann halte - ich Auf Ihre erste Frage möchte ich antworten - Sie ha- halte aber auch Ogris für einen Fachmann, um das ben mir anscheinend zu wenig zugehört -, daß sich gleich richtigzustellen -, zu einer möglichst guten Lö- Bundesverkehrsminister Wissmann mit dem bayeri- sung zu kommen. Wenn Sie natürlich gleich anfan schen Ministerpräsidenten Stoiber geeinigt hat - auf en zu lachen, wenn Sie einen Namen hören, ohne Grund der Hearings, die stattgefunden haben, und e Qualität des Mannes näher zu kennen, dann ist auf Grund dessen, was an weiteren Erkundigungen das natürlich schlecht für die Donau. Dann werden eingeholt wird -, dann zu weiteren Entscheidungen Sie nämlich zu einem schlechten Urteil kommen. zu kommen, wenn alles wissenschaftlich untersucht ist und die Ergebnisse auf dem Tisch liegen. Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Gestatten Sie Sie dürfen überzeugt sein, daß wir, die CDU und noch eine Zwischenfrage? die CSU, uns von Grünen, SPD oder von wem--g auch immer in Sachen Ökonomie und insbesondere Öko- Horst Kubatschka (SPD): Natürlich, gerne. logie nicht übertreffen lassen und daß wir vor allem die Bürgerinteressen im Auge behalten. Ernst Hinsken (CDU/CSU): Herr Kollege Ku- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. - batschka, ich glaube, daß Sie soviel an Rechnen ge- Heiterkeitbei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ lernt haben, daß nach dem 21. September der DIE GRÜNEN) 22. September kommt. Wenn am 21. September eine Erklärung im „Donau-Kurier" gestanden hat, die am Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Ich erteile das 22. von der „Passauer Neue Presse" übernommen Wort dem Abgeordneten Horst Kubatschka. wurde, so war das natürlich nicht möglich, auch die Korrektur gleich mit zu übernehmen, die erst einen Tag später gekommen ist. Horst Kubatschka (SPD): Sehr geehrter Herr Präsi- dent! Meine Damen und Herren! Herr Hinsken, Sie Ich hoffe, daß Sie das logisch nachvollziehen kön- sind immer wieder für einen Witz gut. Bekommen Sie nen. Wenn nicht, bin ich gerne bereit, Ihnen nachher denn nicht mit, daß Ihre Aussage die Quadratur des noch Nachhilfeunterricht zu erteilen. 4958 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1995

Horst Kubatschka (SPD): Herr Kollege Hinsken, Zugrunde gelegt werden mußte den Planungen wenn Sie so engagiert für die niederbayerische Do- bisher die fixe Idee, auf der Donau müßten ab Linz in nau, Ihre Heimat, kämpfen würden wie jetzt für ein Österreich bis nach Regensburg riesige Viererschub Datum, dann hätte ich keine Angst um die Donau. verbände fahren können - wohlgemerkt nur bis Re- Dann würden wir den ökologischen Ausbau schaf- gensburg, weil es weiter wirklich nicht geht. fen, Die Donau zwischen Straubing und Vilshofen ist (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ keinesfalls die letzte Engstelle, wie immer behauptet DIE GRÜNEN) wird, und schon gar keine Lücke, Herr Kollege Hinsken, weil die Donau nicht bei Straubing ver- während Sie in Ihrem Vortrag nur die Wirtschaftlich- schwindet und bei Vilshofen wieder auftaucht. Die keit in den Mittelpunkt stellen. Mir geht es um den Donauversickerung liegt bedeutend weiter oben. Es Erhalt von Niederbayern, um einen Teil meiner Hei- gibt noch Engstellen in der österreichischen Wachau, mat. Bei Ihnen geht es nur um wirtschaft liche Argu- in Ungarn, in Rumänien und auch in Deutschland. mente. Außerdem muß man sich fragen: Brauchen wir ei- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ nen allgültigen Ausbaustandard für die Donau, für DIE GRÜNEN - Ernst Hinsken [CDU/CSU]: die Elbe, für die Havel und für die Saale? Alle wer- Unerhört!) den über den gleichen Leisten geschlagen.

Meine Damen und Herren, ich wi ll beginnen. Herr (Lisa Peters [F.D.P.]: Das stimmt doch nicht! Staatssekretär Klinkert, ich höre Ihre Botschaft - Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/ gerne, wenn Sie sagen, Sie würden auf die ökologi- DIE GRÜNEN]: Kanal ist Kanal!) schen Auswirkungen achten. Aber das langt nicht. Sie werden Alarm schlagen müssen. Sie müssen das - Es geht nicht um Kanäle, es geht um Flüsse. Fachwissen einsetzen. Dann wird Ihnen das Fachwis- sen sagen, daß die Lösung so, wie sie jetzt für die Do- Was in anderen Bereichen sinnvoll sein kann, weil nau geplant ist, gegen die Ökologie läuft. Das wäre dort ein Abnahmepotential für mit Viererschubver- eigentlich Ihre Aufgabe. Wenn Sie nur darauf ach- bänden transportierte Massengüter besteht, muß für ten, dann ist das zu wenig. den niederbayerischen Raum nicht ebenso sinnvoll sein. Jeder Fluß, jedes Flußstück hat seinen eigenen Liebe Kolleginnen und Kollegen, die wenigsten Charakter und hat eigene wi rtschaftliche Anforde- von uns haben an der Donau, Elbe, Havel oder Saale rungen. gelebt. Dies ist sehr bedauerlich - für die Flüsse. Man redet leichter über den Ausbau eines Flusses, Eine Anmerkung am Rande: Solche Viererschub wenn man ihn nicht kennt. Ausbau bedeutet immer verbände kommen vor allem aus dem Bereich des auch Eingriff, Veränderung, Zerstörung. ehemaligen Ostblocks. Unseren Binnenschiffern würden wir mit einem solchen Ausbau jedenfalls kei- Wer wie ich aus Niederbayern kommt und an der nen Gefallen tun. Wir würden nur die Billigkonkur- Donau aufgewachsen ist, für den bedeutet die Donau renz fördern. Was wir brauchen, ist eine Lösung, die ein Stück Heimat. Die Donau ist das letzte einigerma- optimal ist, und zwar nicht nur für die Binnenschiff- ßen frei fließende Gewässer in dieser Größe in Mittel- fahrt, sondern für die Binnenschiffahrt und den Fluß. europa. Sie bildet einen wichtigen Lebensraum. „Rettet die letzten Flußauen Europas", dies forderte (Dr. Klaus Röhl [F.D.P.]: Das ist ja ein Ding! kürzlich Professor Sielmann im Hinblick auf die Der hat keine Ahnung! - Renate Bl ank Pläne zum Ausbau der Donau. [CDU/CSU]: Keine Ahnung, aber auch wirklich keine Ahnung!) Die Auwiesen im ostbayerischen Donautal sind das bedeutendste Wiesenvogelbrutgebiet im westdeut- - Machen Sie keine einfachen Zwischenrufe, stellen schen Binnenland. Der Donauraum ist Überwinte- Sie halt Fragen! rungsraum für viele Wasservögel. Darauf hat- vor uns fachkundig schon die Kollegin Irber hingewiesen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD - Renate Blank [CDU/CSU]: Wir legen keinen Wert Wenn die Donau wirklich nach den ursprünglichen auf die unqualifizierten Antworten!) Plänen der Rhein-Main-Donau AG ausgebaut würde, hätte dies neben dem Verlust von Arten auch die Die zweifellos gegebenen Vorteile der Binnen- Verschlechterung von Wasserqualität bedeutet: schiffahrt in bezug auf Primärenergiebedarf und Si- Staustufen führen durch Verringerung der Fließge- cherheit müssen in s trenger Beachtung der Umwelt- schwindigkeit zur Verringerung ihrer Selbstreini- und Naturverträglichkeit genutzt werden. Dabei gungskraft. Die Biologie, die Ökologie in einem ge- muß der Erhalt der Donau - das gilt aber auch für stauten Gewässer ist eine ganz andere als in einem Elbe, Saale und Havel - als Ökosystem Vorrang ge- frei fließenden Gewässer. Das habe ich bei meinem genüber wirtschaftlichen Überlegungen haben. Das Lehrer Dr. Schulte gelernt, der ein hervorragender ist der Unterschied zwischen Ihrer Auffassung, Herr Gewässerbiologe war. Hinsken, und meiner. Eine Nutzung darf nur um- weltverträglich im Sinne einer nachhaltigen Bewirt- (Beifall bei der SPD) schaftung sein. Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1995 4959 Horst Kubatschka Die als Bundeswasserstraßen genutzten Flüsse Glücklicherweise gibt es mittlerweile wohl auch sind vor allem und in erster Linie natürliche Gewäs- bei anderen Experten ein Umdenken, wonach auch ser und komplexe Lebensräume für eine Vielzahl von auf die Staustufe bei Osterhofen verzichtet werden Pflanzen und Tiere. Sie sind aber auch empfindliche kann. Systeme zur Regulierung der Wasserabflüsse und des Wasserhaushaltes in ihrem Einzugsgebiet. Es ist überhaupt nicht einsichtig, warum es nicht reichen soll, die Donau weniger tief - entscheidend Es setzt sich die Erkenntnis durch, daß die Hoch- ist die Eintauchtiefe - und breit auszubauen. Nicht wasserkatastrophen der letzten beiden Jahre größ- umsonst hat der Vizepräsident des bayerischen tenteils selbstverschuldet sind. Das von der SPD im Rechnungshofes Odenwald 1993 angemerkt, die Februar geforderte „ökologische Hochwasserschutz- Ausbauziele seien auf ganz obskure Weise zustande programm" wurde von der Bonner Regierungskoali- gekommen. tion abgelehnt. Die Anhörung im Umweltausschuß (Bartholomäus Kalb [CDU/CSU]: Weil er sie am 15. Mai 1995 hat nochmals bestätigt, daß aus nicht verstanden hat!) Hochwasserschutzgründen ein Verzicht auf neue Ausbaumaßnahmen notwendig ist. Frau Merkel hat Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir beraten auch ja kürzlich dazu etwas gesagt. Ich hoffe, sie zieht dar- den Antrag zum Ausbau der Elbe, Havel und Saale. aus auch die fachlichen Schlußfolgerungen. Auch diese Flüsse dürfen nur ökologisch und ökono- misch verantwortbar ausgebaut werden. Liebe Kolleginnen und Kollegen, noch vor einem halben Jahr schien es so, als wenn die vorgeschla (Renate Blank [CDU/CSU]: Sie haben nicht gene Betonlösung der Rhein-Main-Donau AG Wirk- mitbekommen, daß wir das so beschlossen lichkeit würde. Der beharrliche Widerstand der nie- haben!) derbayerischen Bevölkerung - einschließlich einiger CSU-Ortsverbände - gegen die überzogenen Aus- Die Pläne der Bundesregierung - Stichwort Projekt baupläne hat aber deutlich gemacht: So geht es „Deutsche Einheit" - und das Projekt „Transeuro- nicht. Wir lassen uns unsere Heimat nicht kaputtma päische Netze" der Europäischen Union lassen bis- chen. her, wenn diese wahr werden, Schlimmes befürch- ten. Zweifelhafte Daten über zukünftige Verkehrs- Eines der Elemente, das Bewegung n in die Sache entwicklungen und falsche verkehrspolitische Ziel- gebracht hat, war die Anhörung vor dem bayeri- setzungen können dazu führen, daß eine weitere schen Landtag Ende Mai 1995. Jetzt ist die Staustufe Schädigung und Zerstörung dieser Flüsse in Kauf ge- bei Waltendorf weitgehend vom Tisch. Dies hat der nommen wird. bayerische Umweltminister Goppel erst kürzlich Ich glaube, eine der entscheidenden Sachen ist die nochmals bestätigt. Auch sollen jetzt - ich muß sa- Saale-Staustufe bei Klein-Rosenburg. Hier müssen gen: endlich! - ergänzende Untersuchungen über die wir versuchen, eine vernünftige ökologische Lösung Möglichkeiten und Grenzen flußbaulicher Maßnah- zu finden. men durchgeführt werden. Unserer Ansicht nach muß zu diesem Themenkomplex eine Anhörung im Liebe Kolleginnen und Kollegen, heute wird auch Umwelt- und Verkehrsausschuß erfolgen, bei der das Donauschutzübereinkommen beraten. Unsere der Frage eines umweltverträglichen und wirtschaft- Fraktion steht diesem Abkommen positiv gegenüber. lichen Ausbaus nachgegangen wird. Ich glaube, bei Umweltschutz macht bekanntlich nicht an Grenzen der Elbe haben wir ein brauchbares Beispiel gelie- halt. Das Donauschutzübereinkommen kann die fert. Grundlage für weitergehende internationale Zusam- menarbeit bilden. Sein wahrer Wert wird sich aber Besonders der Wiener Wasserbauexperte Ogris erst zeigen, wenn auch konkrete Maßnahmen ergrif- hat mit seinen technischen Vorschlägen ganz wich- fen werden können. Dabei kann ein falscher Ausbau tige Anstöße gegeben. der Donau im Niederbayerischen kontraproduktiv wirken. Was hilft uns eine gesunde Donau, wenn sie (Renate Blank [CDU/CSU]: Schiffbruch er nachher nur in einem Betonbett liegt? litten!) - (Beifall bei der SPD - Halo Saibold [BÜND Man sollte doch meinen, daß es um die Suche nach NIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann ist sie nicht der optimalen Lösung für den Fluß geht. Wie aber mehr gesund! - Dr. Klaus Röhl [F.D.P.]: Da insbesondere die bayerische Staatsregierung mit sei- von versteht er nichts! Hat er sich nicht an nem Gutachten umgegangen ist, war ein starkes gesehen!) Stück. In einem Schnellschuß durch Staatsminister Wiesheu wurde das Gutachten öffentlichkeitswirk- Ich bitte, die beiden Anträge der SPD fachlich sam niedergemacht. Eines der schärfsten sogenann- gründlich zu beraten. Wenn dies fachlich gründlich ten Gegengutachten umfaßte ganze zwei Seiten. geschieht, habe ich keine Angst, daß wir keine Mehrheit dafür finden. Meiner Meinung nach kann man ein solches Schrift- Ich danke Ihnen fürs Zuhören. stück nicht einmal als Stellungnahme bezeichnen. So etwas ist, wissenschaftlich be trachtet, unseriös. (Beifall bei der SPD und beim BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der (Beifall bei Abgeordneten der SPD) PDS) 4960 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1995

Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Ich erteile dem opportunistischen Gründen auf die Seite der Gegner Abgeordneten Bartholomäus Kalb das Wo rt. zu stellen. Ich habe das nie getan, und ich werde das auch nie tun, weil ich meine, daß Mandatsträger Bartholomäus Kalb (CDU/CSU): Herr Präsident! auch bereit sein müssen, sich für unpopuläre, aber Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der SPD- notwendige Maßnahmen einzusetzen. Ich möchte Antrag auf Drucksache 13/1390 verwundert sehr, mich auch in zehn Jahren noch vor Ort sehen lassen weil es einen Bleichlautenden Antrag mit fast dem können. gleichen Inhalt in der letzten Legislaturperiode gab. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Er verwundert aber auch noch aus einem anderen Ich möchte den Leuten vor Ort auch nichts vorma- Grunde, nämlich daß er gerade vom Herrn Ku- chen. batschka initiiert worden ist, denn in der "Süddeut- schen Zeitung" Nr. 183 im Jahr 1993 war folgendes (Horst Kubatschka [SPD]: Das wird sich zu lesen: noch herausstellen!) Wenn es nach dem niederbayerischen SPD-Bun- Wenn Sprecher von Verbänden ankündigen, man destagsabgeordneten Horst Kubatschka geht, werde an der Donau ein zweites Wackersdorf erle- kann die RMD ihre Ausbaupläne ohnehin verges- ben, so macht das doch mehr als deutlich: Hier geht sen: Mit der Absicht des Bundes und des Freistaa- es nicht um die Sache, sondern in Ermangelung an tes, die RMD zu privatisieren, werde das Ende -derer Betätigungsfelder um ein geeignet erscheinen- des Donauausbaus zwischen Straubing und Vils- des Objekt für eine Fundamentalopposition. hofen eingeläutet und ein immens teures und um- (Beifall bei der SPD) weltvernichtendes Projekt zu den Akten gelegt. Natürlich gibt es auch Protest vor Ort und ehrlich Hätten Sie recht behalten, Herr Kollege Kubatschka, gemeinten und ernst zu nehmenden Protest von Be- hätten Sie diesen Antrag nicht mehr zu stellen brau- troffenen. Dazu zähle ich z. B. den Bauern Mitter- chen. Ich habe Ihnen damals gesagt, daß das eine meier. Dessen Protest als unmittelbar Be troffener ist nichts mit dem anderen zu tun hat. Das ist heute verständlich und zu respektieren. Soweit irgend noch so. möglich müssen die Belange solcher Be troffener in (Beifall bei der CDU/CSU - Halo Saibold den Verfahren berücksichtigt werden. Im übrigen [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wer ist denn hat sich dieser Bauer Max Mittermeier vor den Kame- der Auftraggeber?) ras der ARD in der vorigen Woche nicht zu der An- kündigung militanten Widerstandes wie in Wackers- dorf hinreißen lassen, obwohl man ihm das fast in Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Gestatten Sie den Mund gelegt hatte. Ich kann nur sagen: Respekt! eine Zwischenfrage des Kollegen Kubatschka? (Beifall bei der CDU/CSU) Bartholomäus Kalb (CDU/CSU): Gerne, ja. An die Frage der Notwendigkeit des Donauaus- baus kann man nur nüchtern und sachlich herange- Horst Kubatschka (SPD): Herr Kollege Kalb, wür- hen. Da gibt es einmal den Bereich der Schiffahrt. den Sie bitte zur Kenntnis nehmen, daß sich der Zu- Mit der Fertigstellung des Rhein-Main-Donau-Ka- stand zum Rhein-Main-Donau-Kanal-Ausbau und nals steht insgesamt eine Wasserstraßenlänge von zum Donau-Ausbau geändert hat? Am Donau-Aus- 3 500 km zwischen Nordsee und Schwarzem Meer bau ist die Rhein-Main-Donau AG nur Planungsge- zur Verfügung. Alle Prognosen, was das Verkehrs- ber. Sie plant, sie baut nicht aus - im Gegensatz zum aufkommen betrifft, werden jetzt schon übertroffen. Rhein-Main-Donau-Kanal. Das ist im Grunde ge- Darüber hinaus müssen in Zukunft alle Verkehrs- nommen der entscheidende Unterschied. träger optimal genutzt werden, weil alle Prognosen eine starke Zunahme der Ost-West-Verkehre voraus- Bartholomäus Kalb (CDU/CSU): Haben Sie das sagen. Und die Binnenschiffahrt gilt als sehr umwelt- damals nicht gewußt? Sie lagen zumindest damals freundlicher Verkehrsträger. Sie wissen das, und Sie falsch. Das müssen Sie doch heute zugeben. schreiben das ja selber in Ihrem Antrag. (Beifall bei der CDU/CSU - Renate Blank [CDU/CSU]: Das war auch schon vor zwei Vizepräsident Burkhard Hirsch: Herr Kollege, ge- oder drei Jahren so!) statten Sie eine Zwischenfrage? - Bitte. Meine sehr verehrten Damen und Herren, der An- trag und die seinerzeitige Äußerung bzw. Meldung Dr. Klaus Rose (CDU/CSU): Herr Kollege Kalb, zeigen auch die Zwiespältigkeit. Sie erwecken hier würden Sie mir zustimmen, daß der Kollege Walte- den Eindruck, als seien Sie doch für den Donau-Aus- mathe von der SPD, als er noch Berichterstatter für bau, auf der anderen Seite wollen Sie vor Ort den den Verkehrshaushalt war, vor zwei Jahren noch ge- Eindruck erwecken, als seien Sie dagegen. sagt hat, daß die Binnenwasserstraßen unverkenn- bar große Vorteile ökonomischer und ökologischer Ich wohne selbst, wie schon erwähnt, in einer der Art haben und man deshalb auf die Binnenwasser- beiden hauptsächlich be troffenen Gemeinden. Ne- straßen stärker zurückgreifen sollte, und daß er auch ben der Stadt Osterhofen ist die Gemeinde Künzing von zusätzlichen Ausgaben für diese Binnenwasser- am meisten betroffen. Es wäre leicht, sich hier aus straßen gesprochen hat? Würden Sie mir zustimmen, Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1995 4961 Dr. Klaus Rose daß der Kollege Waltemathe ein besserer Vertreter Deswegen haben sich alle von „Ogris" zwischen- der SPD war als heute der Herr Kubatschka? zeitlich verabschiedet. Trotz dieser Zwangsmaß- nahme würde man im übrigen die Ausbauziele nicht (Heiterkeit bei der CDU/CSU) erreichen. Es ist vernünftig, daß m an jetzt die Anregungen Bartholomäus Kalb (CDU/CSU): Nicht nur dieses, aufgreift, die von Professor Nestmann und im Bayeri- Herr Kollege Dr. Rose. Aus gemeinsamer Zusammen- schen Landtag gegeben worden sind und die besa- arbeit im Haushaltsausschuß wissen wir, mit welchen gen, daß geprüft wird, was noch oberhalb von Deg- Engagement Kollege Waltemathe, den wir alle sehr gendorf und im Bereich Osterhofen getan werden geschätzt haben, sich gerade in diesem Bereich betä- kann. Aber die Wahrscheinlichkeit, daß m an im Be- tigt hat und dafür eingetreten ist. Er hat immer mit reich Osterhofen auf eine Staustufe verzichten kann, allem Nachdruck betont, wie wich tig es sei, daß die ist natürlich geringer als oberhalb, weil dort eben der Binnenwasserstraßen als Verkehrsträger auch zuver- Höhenunterschied größer ist. lässig sind; denn nur dann würden sie als Verkehrs- (Halo Saibold [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ träger auch angenommen. Er war von der Umwelt- NEN]: Kommt auf die Ausbauziele an!) verträglichkeit dieser Verkehrsträger in besonderer Weise überzeugt und wußte, daß ein Verkehrsträger Im übrigen sind nicht alle Naturschutzfachleute dann nicht angenommen würde, wenn - wie bei- der Meinung, daß eine Staulösung schlechter als spielsweise an der Donau - an 270 Tagen im Jahr er- eine flußbauliche Maßnahme wäre. Ich kann mich hebliche Beeinträchtigungen wegen Niedrigwasser daran erinnern, daß ich in einem Schreiben der zu erwarten sind. Kreisgruppe Deggendorf des Bundes Naturschutz vom 6. Oktober 1980 sehr nachhaltig darauf hinge- (Zuruf von der SPD: Das hat er alles ge wiesen worden bin, sagt?) (Halo Saibold (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ Wenn Unfälle und Havarien zu erwarten sind - im NEN): Das ist aber schon l ange her!) letzten Jahr waren es allein 20 und in der vorigen Woche allein drei -, dann hat natürlich solch ein Ver- daß man, wenn man schon einen Ausbau vornehmen kehrsträger keine Chance. Das war dem Kollegen möchte, dann doch einen Donaudurchstich machen Waltemathe - Herr Kollege Dr. Rose - gut bekannt, solle, weil damit auch ermöglicht werde, daß ein gro- nachdem er am Wasser aufgewachsen war. ßer Teil - in dem konkreten Fall sind es 15 km - wie- der völlig renaturiert und mehr als die Hälfte der (Zuruf von der SPD: Da haben Sie ihm aber Strecke als freie Fließstrecke erhalten werden könn- viel in den Mund gelegt!) ten.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, an der Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir soll- Notwendigkeit des Ausbaus kann nicht gezweifelt ten die Dinge also nicht so einseitig sehen. Wir soll- werden. Zu Beginn der Diskussion hat auch niemand ten die Prüfung vornehmen, die Maßnahmen bewer- daran gezweifelt, auch die Vertreter des Bundes Na- ten lassen und dann die Entscheidungen treffen. Sie turschutz nicht. Herr Dr. Weige rt hat das ausdrück- wissen, daß das Raumordnungsverfahren ausgesetzt lich bei der F.D.P.-Anhörung des bayerischen Landta ist. Damit ist eine Ihrer Forderungen bereits erfüllt. ges bestätigt. Wenn Sie Bürokratie vermeiden wollen, dann soll- ten Sie eigentlich Ihren Antrag zurückziehen, denn Es bleibt also das „Wie". Da gibt es einige, die sa- er geht ins Leere. Sie liegen im Prinzip daneben, weil gen: Nullvariante, Nichtstun. Das wäre natürlich all diese Anforderungen erfüllt werden, sofern sie schön. Aber das hätte fatale Folgen für Naturschutz, überhaupt erfüllbar sind. Die Fragen, die Sie zur für Auwälder, für Landwirtschaft, für Gebäude, für Ausbaubreite, zur Eintauchtiefe und zur Breite der Brücken, Ufermauem und ähnliches, weil sich die Schiffe gestellt haben, kann Ihnen jeder Fachmann Donau auch nach den Aussagen von Professor Nest- leicht beantworten. mann schon erheblich eingetieft hat. Er prognosti-- ziert eine Eintiefung in den nächsten Jahrzehnten An der Stelle möchte ich noch anfügen: Ich habe von ca. 60 cm. immer den Eindruck, daß das Thema Viererschub verbände als willkommenes Vehikel für eine grund- Meine Damen und Herren, dann bliebe bei Ihnen sätzliche Gegnerschaft benutzt wird. Sie wissen ganz nur noch die Ogris-Methode übrig. In der Zwischen- genau, daß das nicht das zentrale Thema ist, sondern zeit, Herr Kollege Kubatschka, sind Sie der letzte daß die Frage der Eintauchtiefe sehr viel wich tiger Mohikaner, der noch auf Ogris setzt. Der Bayerische ist. Sie wissen auch, daß sich die Anrainerstaaten Landtag, die Grünen, alle haben sich bereits von die- darauf verständigt haben, daß eine Eintauchtiefe von ser Methode verabschiedet, weil niemand begreifen 2,50 m im Regelfall möglich sein sollte. kann und begreifen konnte, daß es umweltverträg- lich sein soll, daß es sanft sein soll, einen aus Granit- (Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/ quadern bestehenden Zwangskanal - eigene Anga- DIE GRÜNEN]: Das reicht ja auch! - Wil ben von Ogris - in die Donau hineinzulegen, d. h. die helm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Den Rest gesamte Fließstrecke von Straubing bis Vilshofen machen wir in den Ausschüssen! - Beifall praktisch zu kanalisieren und einzuengen. bei der SPD) 4962 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1995 Bartholomäus Kalb - Ich kann leider Gottes Ihre Zwischenrufe nicht ver- Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die nehmen; daher kann ich auf sie nicht eingehen. Das Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei ist zwar immer ein bißchen schwierig, Herr Kollege; die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN fünf Minu- aber Sie haben ja die Chance, noch eine Frage zu ten erhalten soll. - Ich sehe und höre keinen Wider- stellen, bevor mir der Herr Präsident den Saft ab- spruch. Dann ist es so beschlossen. dreht. Das Wort hat die Abgeordnete Franziska Eich- städt-Bohlig. Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Nein, Herr Kol- lege, die Chance besteht nicht mehr, weil Ihre Rede- (Bartholomäus Kalb [CDU/CSU]: Ich möchte zeit abgelaufen ist. mich bloß entschuldigen, weil ich einem Hörfehler erlegen bin! - Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Ich nehme die ganze (CDU/CSU): Ich bedanke Bartholomäus Kalb Schuld auf mich!) mich. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. - - Herr Kollege, das können Sie später machen. Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das war ohnehin eine Zumutung!) Franziska Eichstädt-Bohlig (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Ich schließe die Kollegen! Am 13. Oktober wi ll Kanzler Kohl den er- Aussprache. sten Spatenstich für den Berliner Tiergartentunnel machen: für 3,4 Kilometer Bahntunnel und für (Bartholomäus Kalb [CDU/CSU]: Herr Präsi 2,7 Kilometer Bundesstraßentunnel, die B 96. Unsere dent, wenn der Abgeordnete von den Grü Fraktion ist der Ansicht, daß beide Tunnel völlig un- nen meint, das sei eine Zumutung, dann nötig und schädlich sind. muß ich das zurückweisen, weil seine An wesenheit dann auch eine Zumutung ist! - (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Lachen bei der SPD - Gegenruf des Abg. und bei der PDS) Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN] - Abg. Horst Kubatschka Darum haben wir einen Antrag gestellt und for- [SPD] meldet sich zu einer Kurzinterven dern Sie auf, mit uns diesem wirklich luxuriösen, tion) überteuerten und unnö tigen Tunnelwahn ein deut- liches Zeichen gegenzusetzen; denn wir können uns - Herr Kollege Kubatschka, die Aussprache ist ge- solche unnötigen Großprojekte nicht leisten. schlossen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen - - Ich will erläutern, warum gerade wir Grünen an (Unruhe - Horst Kubatschka [SPD]: Man dieser Stelle auch gegen einen Bahntunnel sind. Wir sieht, die Donau bewegt die Gemüter, und sind der Meinung, mit weniger Mitteln kann man das ist gut so!) mehr Nutzen gerade für den Bahnverkehr erzeugen - Ich kann die Sitzung auch unterbrechen, wenn Sie als mit diesem Großprojekt. das vorziehen. Es ist eine Planung, als hätten Bonn und Berlin be- Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen liebig viel Zeit, beliebig viel Geld und ein Vorrecht auf den Drucksachen 13/1884, 13/1390, 13/1331, 13/ auf beliebige Stadt- und Naturzerstörung. Ich wi ll ei- 2435 an die in der Tagesordnung aufgeführten Aus- nige Aspekte benennen. Die Zeit ist aber leider zu schüsse vorgeschlagen. Die Vorlagen auf Drucksa- kurz, um den Wahnsinn, der dort passiert, ausführ- chen 13/1884, 13/1390 und 13/1331 sollen zusätzlich lich darzustellen. dem Ausschuß für Fremdenverkehr und Tourismus überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? - Ich möchte einmal ein Beispiel zum Vergleich brin- gen. Wir haben zwar jetzt nur Baye rn und Berliner Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann- sind die Überweisungen so beschlossen. hier, wir kennen aber alle das Ruhrgebiet. Berlin ist fast so groß wie das Ruhrgebiet. Stellen Sie sich vor, alle IC-Bahnhöfe im Ruhrgebiet werden ausgetrock- Ich rufe Tagesordnungspunkt 11 auf: net, und es entsteht ein neuer Zentralbahnhof z. B. in Beratung des Antrags der Abgeordneten Fran- Hamborn. ziska Eichstädt-Bohlig und der Fraktion So schwachsinnig wird zur Zeit die Bahnplanung BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN in Berlin betrieben. Das Ergebnis ist: Die Bahn fährt Hauptstadtverkehrsplanung Berlin - Bundes- schneller durch Berlin, aber die Reisezeit für die politisches Stoppsignal für den Lehrter Zen- Leute, die mit der Bahn fahren wollen, wird für die tralbahnhof und den Tiergartentunnel meisten verlängert. Dies ist völlig unnö tig. - Drucksache 13/365 - Ein weiterer Punkt ist: Die Bahn plant völlig wider- Überweisungsvorschlag: sinnig dazu. Die Zugverbindung nach Kopenhagen Ausschuß für Verkehr (federführend) wird gerade gestoppt. Eine direkte Zugverbindung Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau nach Stettin gibt es nicht mehr. Nach Hamburg sol- Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1995 4963

Franziska Eichstädt-Bohlig len wir demnächst mit dem Transrapid rauschen. Wir Mark. Gestern steht in der Zeitung, es koste wissen also nicht, wozu dieser Nord-Süd-Tunnel gut 3,9 Milliarden Mark. Das heißt, das ist das erste Pro- ist, wenn die Nord-Süd-Verbindungen alle gekappt jekt, das innerhalb von drei Wochen billiger wird werden. statt teurer. Das ist sensationell! Wenn wir noch ein bißchen warten, kriegen wir das zum Nulltarif. Der nächste Treppenwitz: Der von Bonn favori- sierte Flughafen Schönefeld hat jetzt eine wunder- (Zuruf von der F.D.P.: Darauf warten die bare IC-Anbindung. Die muß aufgegeben werden, Grünen ja auch!) wenn dieser Tunnel gebaut wird. Eigentlich muß man dann Sperenberg wollen. Hier paßt überhaupt Ich glaube es in Wirk lichkeit nicht. nichts zusammen. Lassen Sie mich zum Schluß kommen. Alternativen Das nächste ist: Die Wi rtschaftlichkeit und der Be- sind machbar und bezahlbar. Die Alternativen für darf sind bis heute nicht schlüssig nachgewiesen. den Straßentunnel bietet die vorhandene Umfahrung Trotzdem wird der Mantel der Liebe und des großen über den Großen Stern in Berlin und eine systemati- Geldes darüber gedeckt. sche Politik der Reduktion des Autoverkehrs in der Innenstadt. Das brauchen wir so oder so dringend. Ein Wort zum Wir alle wissen, und es Autotunnel. Der Bundestag braucht in Berlin auch nicht 1 450 ist längst bekannt: Er zieht genau den Verkehr auf Stellplätze für Autos, die im Stau stecken. sich, den er eigentlich vom Zentrum ableiten soll. Der von Berlin vorgegebene Modal Split von 80:20 (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ wird so niemals erreicht. Im Gegenteil: Die Haupt- DIE GRÜNEN) stadt wird im Stau ersticken. Ich kann schon sagen: Herzlichen Glückwunsch den Neu-Berlinern, die Für die Eisenbahn nötig und viel preiswerter ist es, dann als Abgeordnete da hinkommen. den Berliner Ring, den Eisenbahnring, auszubauen. Von dem Geld, das jetzt in dieses Tunnelloch ge- Städtebaulich ist der Tunnel genauso widersinnig, steckt wird, können dann die Regionalverkehre zum wie er mit Blick auf den Verkehr absurd ist. Ich Umland ausgebaut werden. möchte noch ein paar konkrete Punkte für die Situa- tion für uns Parlamentarier anfügen. Es wird so sein, Insofern fordere ich Sie alle auf, vor allem die SPD, daß wir auch nach dem Jahr 2000 gerade wegen die- die ja gerne ab Oktober mit den Grünen zusammen ser Tunnelplanung inmitten von Baustellen leben regieren will: Stimmen Sie gegen den Tunnel, stim- werden und leben müssen. Es geht nicht nur um die men Sie für uns! Tunneldeckelei zwischen Kanzleramt und Parla- ment/Alsenblock. Es geht auch um das riesige Pro- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) jekt Lehrter Bahnhof und um das Aufgraben des gan- zen Tiergartenbereichs bis zum Potsdamer Platz. Es Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Ich erteile das wird eine enorme Baustellenwüste. Wort der Abgeordneten B rigitte Baumeister. Ein nächster Punkt: Ich glaube, niemand hat sich bisher klar gemacht, daß, wenn es denn so kommt, Brigitte Baumeister (CDU/CSU): Herr Präsident! am Lehrter Bahnhof ein 60 Meter hoher Schornstein Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Grü- gebaut wird, der die Tunnelabgase mit Stickstoff, nen haben in ihrem Antrag die Bundesregierung auf- Benzol und Ruß exakt 500 Meter weiter östlich auf gefordert, vom sogenannten Pilzkonzept abzurücken unser schönes neugeplantes Parlament, den Reichs- und es aufzugeben. Ich möchte darauf verweisen, tag, den Alsenblock niederlassen wird. Herzlichen daß der Antrag am 31. Januar dieses Jahres einge- Glückwunsch! bracht wurde und bei etwas Nachdruck bereits im (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Mai hätte behandelt werden können, aber just ge- rade drei Wochen vor der Berliner Wahl nun zum Hier fordere ich dringend, daß die Regierung tätig Thema gemacht wird. wird. Ich finde es toll, daß Herr Töpfer anwesend ist. Ich möchte die Frage deutlich stellen, wie gefährdet (Zuruf von der F.D.P.: Das ist aber spät das Grundwasser im Bereich des Reichstages- selbst heute abend!) ist. Wer sich die Pläne ansieht, erkennt, daß der Reichstag völlig von Tunneln umrundet wird. Die Ge- Da kann ich es Ihnen nicht ersparen, Frau Eichstädt- fahr, daß das Grundwasser dauerhaft abgesenkt wird Bohlig, darauf hinzuweisen, daß dies wohl ein Wahl- und daß die Eichenpfähle austrocknen bzw. verfau- kampfthema in Berlin werden soll. len, ist nicht von der Hand zu weisen. Bis heute ist (Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/ dies überhaupt nicht untersucht worden. Statt dessen DIE GRÜNEN]: Das ist aber nicht wahlent sind wir gerade dabei, 600 Millionen DM in diesen scheidend, diese Debatte heute!) Reichstag zu stecken. Auch der Zeitpunkt der Einbringung hinkt ein we- (Dr. Klaus Röhl [F.D.P.]: Ein Blick in die Pla nungsunterlagen, und es wird klar!) nig hinterher. Ich muß sagen, Sie haben sich das reichlich spät überlegt. Denn die Bundesregierung, Das Hauptproblem ist das Geld. Herr Wissmann das Bundeskabinett hat bereits am 21. Juli 1992 die- braucht eine Abteilung für das Gelddrucken, um die- ses Pilzkonzept beschlossen. Es handelt sich hier ses Projekt überhaupt zu realisieren. Am 5. Sep- auch nicht um ein besonders kostengünstiges, abge- tember stand in der Zeitung, es koste 4,3 Milliarden magertes Achsenkreuzkonzept. Vielmehr - ich be- 4964 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1995 Brigitte Baumeister tone das - ist genau diese Lösung, die ausgearbeitet wege. Man sollte sich weiterhin überlegen, daß der wurde, von der Bahn, von dem Land Berlin und von Fern- und Regionalverkehr nicht an die Peripherie dem Land Brandenburg als das beste befunden wor- der Stadt gelegt werden kann; denn sonst wird er den. nicht genutzt. (Dr. Klaus Röhl [F.D.P.]: Ja, da ist die SPD (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.) mit in der Regierung!) Auch die U-Bahn halten wir für sinnvoll, gerade Es erfolgte sogar eine Aufnahme im Bundesver- weil wir wollen, daß der Individualverkehr einge- kehrswegeplan 1992 und im Bundesschienenwege- schränkt und daß der Verkehr in großem Maße auf ausbaugesetz mit der einzigen Kondition der Prüfung die öffentlichen Verkehrsmittel verlagert wird. Diese der Wirtschaftlichkeit. Sie ist inzwischen erfolgt, so Einschätzung teilen wir nicht nur mit den Fachleu- daß das Bundesverkehrsministerium nun auch zu ten. Sie kommen deswegen auch zu spät, weil dem- diesem Konzept steht. nächst die Tiefbaumaßnahmen dazu beginnen. Wenn Sie sich die Pläne ansehen, die do rt zu den Auch der geplante Straßentunnel ist eine Entla- Bauten erstellt werden, meine Damen und Herren, stung. Er ist eine Entlastung von Individualverkehr, erkennen Sie: Das Tunnelprojekt ist ein Teil des Ge- insbesondere vom Durchgangsverkehr. Wenn man samtkonzeptes des Spreebogen mit all den Neubau- möchte, daß der Verkehr zurückgedrängt wird, muß ten, die das Parlament dort pl ant, und mit einer man bedenken, daß er sich nicht dadurch reduzieren Breite von 80 bis 120 Metern und 22 Metern Tiefe ge- läßt, daß man an die Bürgerinnen und Bürger appel- nau eingepaßt. liert oder ihnen den Straßenverkehr verbietet. Er läßt sich eigentlich nur dadurch reduzieren, daß m an Al- Für das Tunnelprojekt wurde bereits das Planfest- ternativen aufzeigt. Eine dieser Alternativen sehen stellungsverfahren im April 1994 eingeleitet. Wenn wir in dem Straßentunnel. Sie über die Finanzierung reden, dann möchte ich darauf hinweisen, daß die Finanzierung nach dem Ich möchte nicht, daß am Reichstag in großem Um- Hauptstadtvertrag vom 30. Juni 1994 gesichert ist. fang Autos verkehren. Ich möchte, daß die Bürgerin- nen und Bürger, die Berliner und wir den Platz an der Die Entwicklung ist inzwischen weitergegangen. Spree, um den Reichstag und die Parlamentsbauten Der Planfeststellungsbeschluß ist vor zwei Wochen, herum, zu Fuß genießen können. nämlich am 12. September, ergangen und liegt zur Zeit öffentlich aus. Auch die Bebauung am Potsda- Ich möchte nicht, daß nur wir Parlamentarier mit mer Platz bezieht eindeutig dieses Pilzkonzept mit unseren Dienstwagen vorfahren, sondern ich ein, für das nun am 13. Oktober dieses Jahres der er- möchte, daß es möglich ist, zumindest im Rahmen ste Spatenstich erfolgen soll. des Ziel- und Quellverkehrs einige Autos in dieser Region zu sehen. Wenn Sie darauf hinweisen, daß der Tunnelbau 1998 möglicherweise nicht fertig sein wird und die Ich denke auch, daß wir der Splittung des Ver- Parlamentsbebauung oder aber die Arbeits- und kehrs von 80 : 20 Prozent - Sie haben es angespro- Funktionsfähigkeit behindern wird, dann darf ich chen, Frau Eichstädt-Bohlig - dadurch am nächsten darauf hinweisen, daß die Voraussetzungen für die kommen, daß wir Alternativen aufzeigen, die da hei zeitgerechte Abdeckung der Tunnelanlage im Spree- en: Straßentunnel, Eisenbahntunnel, U-Bahn. bogen bis Mitte 1998 geschaffen sind. Es wurde schon erwähnt: Die Verkehrsbauten stel- Ich appelliere wirklich an Ihr Demokratieverständ- len keine Gefährdung der Baupläne in Berlin dar; der nis, das ich nun schon mehrfach in den Kommissio- Umzugszeitraum ist festgelegt. Ich denke vielmehr, nen habe erleben dürfen, zu dem zu stehen, was ein- daß hier parallel realisiert und gebaut werden kann mal beschlossen wurde. Sie sollten letztendlich nicht und daß dies ein großer Vorteil auch für das Einhal- aus populistischen Gründen von diesen Beschlüssen ten unseres Umzugstermins, bis spätestens zur Mitte abrücken. der nächsten Legislaturperiode im Jahre 2000 ist. Das Parlament liegt mit seinen Bauten für den Spreebo- Ich möchte noch auf einige denkbare Alternativen--ß gen exakt in der Terminplanung. Wir wollen eine hinweisen, die im Gespräch waren, die aber alle ei- aufeinander abgestimmte Gesamtkonzeption, die nes nicht gewährleisten können, daß nämlich der nicht durch kurzfristige Aktionen der Grünen gefähr- Kreuzungspunkt zwischen Ost-West- und Nord-Süd- det werden soll. Verkehr hinsichtlich der Eisenbahnplanung gut er- schlossen werden kann. Ich glaube, daß die Bahn ei- Im Bereich des Tiergartens werden durch den nes gewährleistet, nämlich daß sie im Unterschied zu Tunnelbau in bergmännischem Verfahren Umwelt- anderen zielgenau anfahren kann und in diesem schäden vermieden. Das sagen zumindest die Exper- Punkt wesentlich besser geeignet ist als z. B. Flug- ten. zeuge. Ich möchte mit folgender Bemerkung schließen, (Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Frau Eichstädt-Bohlig: Ich würde es für verhängnis- Transrapid!) voll halten, wenn eine solche Verhinderungspolitik, wie Sie sie jetzt in der zeitlichen Streckung betrieben Der Vorteil der Eisenbahn gegenüber Flugzeug und haben, in Berlin tatsächlich greifen würde. Ich kann Auto liegt gerade im direkten Zugang in die Mitte allen Bürgerinnen und Bürgern eigentlich nur den der Städte und in der Vermeidung langer Anfahrts Rat geben: Überlegen Sie genau, ob Sie einer rot- Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1995 4965

Brigitte Baumeister grünen Koalition in Berlin zur Regierungsmehrheit Als erstes möchte ich bemerken, daß der Bereich verhelfen wollen! Vielmehr sollten Sie der bewährten Lehrter Bahnhof auch in der Vergangenheit mehr als Koalition Ihre Stimme geben; denn das bietet die Ge- nur ein S-Bahnhof war; denn in seiner unmittelbaren währ für eine weitere Planung der Stadt Berlin. Nachbarschaft befand und befindet sich der Stettiner Güterbahnhof, und auf der anderen Seite sind immer (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P - noch die Anlagen des ehemaligen Hamburger Bahn- Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das hat hofs. gerade noch gefehlt, zu diesem Thema und zu diesem Zeitpunkt, Frau Baumeister!) Zum zweiten. Auf die Wiederherstellung des südli- chen Innenrings der Bahn sowie der Stammbahn wird nicht verzichtet, wie Sie behaupten. Diese Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Ich erteile das Streckenteile haben jedoch für den jetzt geplanten Wort dem Abgeordneten Siegfried Scheffler. Berliner Eisenbahnknoten eine nachrangige Bedeu- tung und wurden aus finanziellen Erwägungen zu- rückgestellt. Siegfried Scheffler (SPD): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die integrierte (Franziska Eichstädt-Bohlig [BÜNDNIS 90/ Verkehrsplanung im zentralen Bereich ist ein ent- DIE GRÜNEN]: Aus welchen Erwägungen?) scheidender Beitrag zum termingerechten Drittens. Die Stufe 1 des Pilzkonzeptes ist kein und reibungslosen Umzug von Regierung und Parla- Rumpfkonzept. Nach Realisierung dieser ersten ment sowie für die weitestgehende Freihaltung die- Stufe kann gegebenenfalls über weitere ses Gebiets vom Durchgangsverkehr. Gleichzeitig Ausbaumaß- nahmen entschieden werden. Das Konzept zeichnet sollen die Verkehrsmaßnahmen den durch die An- sich gerade dadurch aus, daß es erweiterbar ist. siedlung von Unternehmen am Potsdamer Platz und durch den Regierungsumzug induzierten Verkehr Viertens. In Ihrem Antrag bezeichnen Sie - we rte mit einem Modal Split von 80:20 zugunsten des öf- Kollegen, das haben Sie heute wieder getan - den fentlichen Verkehrs bewäl tigen helfen. Lehrter Bahnhof als Zentralbahnhof. Hierzu ist fest- zustellen, daß sich die Deutsche Bahn AG und der Wir haben, liebe Kolleginnen und Kollegen, die Berliner Senat darin einig sind, daß die polyzentri- Pflicht, die Verkehrsanbindung für den zentralen Be- sche Struktur der Stadt in der Anordnung der Bahn- reich der alten, aber auch der neuen Hauptstadt effi- höfe abzubilden ist. Nach diesem Verständnis ist der zient, städteplanerisch ausgewogen und ökologisch Lehrter Bahnhof ein Bahnhof in zentraler Lage, aber verträglich zu gestalten. noch lange kein Zentralbahnhof. (Dr. Klaus Röhl [F.D.P.]: Richtig!) (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der F.D.P.) Das sollten wir bei der Debatte über dieses Thema nicht vergessen. Fünftens. Das Pilzkonzept ist insbesondere wegen des hervorragenden Verkehrswertes für die Kunden Der vorliegende Antrag zeichnet demgegenüber vorteilhaft. Die einfache, klar gegliederte Strecken- meines Erachtens ein düsteres Bild auf. Die Verzöge- führung erleichtert den Kunden die Orientierung rung des Umzugs von Bonn nach Berlin wird be- und hat daneben auch betriebliche Vorteile. schworen. Es wird vor Kostenüberschreitung ge- warnt. Auch wir sind natürlich der Meinung, daß Weiterhin wird behauptet, die Ringbahn sei ko- keine Kostenüberschreitungen sein dürfen. Wir ha- stengünstiger. Sie wissen es: Dieses Modell wurde im ben das in der Baukommission ausführlich erörtert, Rahmen der Eisenbahnkonzeption Berlin untersucht. die Zerstörung der gewachsenen städtischen Struk- Die Kostenschätzungen weisen einen Be trag von turen beklagt und gefordert, dem Berliner Senat die 12,5 Milliarden DM aus und liegen damit höher als ideelle und materielle Unterstützung für seine Ver- die Kosten für die Streckenführung durch den zen- kehrsvorhaben zu entziehen. tralen Bereich. Ich will das an drei Beispielen deut- lich machen. So wird vorgeschlagen, an Stelle des Fernbahntun- nels den inneren Eisenbahnring und die auf ihn zu- Erstens. Sie schlagen vor, fünf Bahnhöfe für den laufenden Radialstrecken wieder herzustellen. Das Fernverkehr in Berlin einzurichten: Papestraße, Ge- vor dem Zweiten Weltkrieg in Berlin installierte sundbrunnen, Ostkreuz, Westkreuz und als Regie- Schienennetz war zweifelsohne für den Fe rn-, Regio- rungsbahnhof die Friedrichstraße. Im Pilzkonzept nal- und Nahverkehr beispielhaft in Europa. Aber sind neben dem Lehrter Bahnhof die beiden zuerst die Anforderungen haben sich wirk lich verändert. genannten Bahnhöfe ebenfalls enthalten. Würde Ihr Die Stadtentwicklung hat sich nicht zuletzt durch Konzept verwirklicht, müßte die Deutsche Bahn AG den Mauerbau von der früheren Eisenbahninfra- die Investitionsmittel für zwei zusätzliche Bahnhöfe struktur gelöst. Die Schiene muß sich ihren Platz erst aufbringen. wieder zurückerkämpfen. Das Pilzkonzept ist dafür der Fahrplan. Zweitens. Der Ausbau des inneren Eisenbahnrings würde stark - weil in der Strecke deutlich länger - in Der Antrag enthält einige unzutreffende Behaup- die Stadtlandschaft eingreifen. Für den Betrieb der tungen über das Pilzkonzept. Wir werden uns damit Strecke gemäß dem von Ihnen favorisierten Bahn- in den Ausschüssen lange auseinandersetzen. konzept genügt ein zweigleisiger Ausbau nicht. Wir 4966 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1995

Siegfried Scheffler können Ihnen das auch in den Ausschüssen nach- ment, wird der Tiergarten an seinem östlichen Rand weisen. besonders belastet. Diese Entwicklung muß in ökolo- gisch verträglicher Weise kanalisiert und begrenzt (Dr. Klaus Röhl [F.D.P.]: Richtig!) werden. Sie können auch nicht davon ausgehen, daß die Tras- Ziel der von der SPD vertretenen Verkehrspolitik senführung des inneren Eisenbahnrings unverändert ist deshalb die wesentliche Umverteilung des Ver- übernommen werden könnte. kehrs zugunsten des öffentlichen Verkehrs. Drittens. Der innere Eisenbahnring verläuft insbe- (Beifall bei der SPD) sondere im Ostteil der Stadt durch dichtbesiedelte Für den zentralen Bereich wird deshalb eine Ver- Die bisher offene Streckenführung Wohngebiete. kehrsaufteilung von 80: 20 zugunsten dieses öffentli- würde zwangsläufig Forderungen nach Lärmschutz- chen Verkehrs angestrebt. Die öffentlichen Ver- maßnahmen nach sich ziehen. Auf den Abschnitten kehrsmittel müssen dazu in diesem Bereich entspre- durch Neukölln, Prenzlauer Berg und durch den chend ausgebaut werden. Für die S 21 und die U 5, Wedding würden wir nicht umhin kommen, den Ei- die für die SPD zur Zeit jedoch keine Priorität haben, senbahnring zu deckeln. muß für nachfolgende Generationen eine Op tion frei- Die bereits erwähnte Gegenüberstellung der Gut- gehalten werden. achten zum Pilzkonzept und Ringmodell kam 1992 zu dem Ergebnis, daß die jetzt zur Realisierung an- Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Herr Kollege stehende Bahnkonzeption früher verfügbar ist, wer- Scheffler, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kol- kehrliche Vorteile hat, kostengünstiger abschneidet, legin Eichstädt-Bohlig? eine höhere Leistungsfähigkeit aufweist und selbst unter Umweltaspekten besser abschneidet als die im (SPD): Ja, bitte schön. Antrag vorgeschlagene Alte rnative. Siegfried Scheffler

Was Ihnen angst macht - auch ich muß zugeben, Franziska Eichstädt-Bohlig (BÜNDNIS 90/DIE daß ich von den geplanten Dimensionen beeindruckt GRÜNEN): Herr Scheffler, ist Ihnen bekannt, daß die bin -, ist die Größenordnung, in der sich die Gesamt- Finanzierung Berlins für den Straßentunnel mit 299 investitionen für den Lehrter Stadtbahnhof bewe- Millionen DM aus der Finanzierung, die Bonn Berlin gen. Der Bund trägt bei diesem Vorhaben die Kosten, eigentlich für die Sanierung der S-Bahnen gewährt die für die Herstellung der Funktionalität erforderlich hat, gespeist wird und mit dieser Finanzierungsme- sind. thode nie und nimmer ein Modal-Split vom ÖNV zum IV bewerkstelligt werden kann, weil man Geld, (Elke Ferner [SPD]: Hoffentlich hat er auch das für den öffentlichen Verkehr eingesetzt werden das Geld!) soll, in den Individualverkehr steckt? Die zusätzlich erforderlichen Mittel bringen die Deutsche Bahn AG und private Investoren auf. Siegfried Scheffler (SPD): Ich stimme Ihnen zu. Deshalb gibt es ja eine Vereinbarung zwischen dem Einige Bemerkungen zum Standort Lehrter Bahn- Berliner Senat und dem Bundesministerium, daß die hof. Es sind im wesentlichen zwei Aspekte. Zum ei- Vorfinanzierung seitens des Berliner Senats abgelöst nen liegt er an einem Ort mit einer zukünftig großen wird und die entsprechenden Mittel für den öffentli- Verkehrsnachfrage, zum anderen treffen an diesem chen Personenverkehr eingesetzt werden können. Standort praktisch alle Linien zusammen. Hieraus er- gibt sich ein großer Verknüpfungsgrad mit vielen (Beifall bei der SPD) Umsteigemöglichkeiten. Deshalb kann ich Ihrer im Antrag aufgebauten Ar- Hinzu kommt: Ein Bahnhof ist per se ein Standort- gumentation, das Gebiet statt mit diesen Maßnah- entwickler. Rein volkswirtschaftlich gesehen schafft men nur mit einer Straßenbahn zu erschließen, nicht ein Bahnhof Arbeitsplätze, und zwar nicht nur im folgen. Die Straßenbahn wird selbstverständlich in Bahnbetrieb selbst, sondern in noch größerem Um- den Tiergarten und seine angrenzenden Bezirke fah- fang in der Dienstleistungsperipherie. ren. Sie wird sicher von einer S 21 und einer U 5 Teile des zu erwartenden Verkehrsaufkommens aufneh- Aber bei alledem darf m an nicht außer acht lassen: men, aber doch nur im Konzert mit später hinzukom- Der Lehrter Bahnhof ist von seiner Funktion her ein menden Verkehrsträgern. Wir müssen langfristig bei Umsteigebahnhof, der ein Umsteigen auf die der integrierten Verkehrsinfrastruktur in dieser Groß- Schiene bereits an der Quelle garantiert. Er ist also stadt für den richtigen Mix Sorge tragen. Anders nicht - wie der Antrag behauptet - die Ursache von können wir den angestrebten Modal-Split nicht errei- Verkehrsmengen, sondern hat eher eine posi tive, chen. verkehrsvermeidende Wirkung in einem Gebiet mit großem Verkehrspotential. Ein weiteres Vorhaben, das in dem Antrag ange- sprochen wird, ist der Straßentunnel durch den zen- Lassen Sie mich etwas zu den Vorbereitungen für tralen Bereich. Auch hier setzt sich die SPD für Ver- eine S-. und U-Bahn-Linie durch den zentralen Be- kehrsvermeidung und - wo immer möglich - für die reich sagen. Der Tiergarten ist ein innerstädtisches Förderung des ÖV ein. Dem Bau des Straßentunnels Naherholungsgebiet. Durch die Neugestaltung der wurde jedoch nach Abwägung aller Alternativen - Berliner Mitte, den Umzug von Regierung und Parla- mit Bauchschmerzen; das gebe ich zu - im Berliner Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1995 4967 Siegfried Scheffler Abgeordnetenhaus zugestimmt. Es wurde davon dann ernst wird, wenn realisiert wird, wird gekniffen, ausgegangen, daß der Straßentunnel die Verlage- protestiert, prozessiert, gemauert, wo es nur geht. rung der Entlastungsstraße in die untere Ebene be- Die Grünen erweisen sich wie immer als die ewigen deutet und keine andere Dimension haben darf. Wir Verneiner. werden deshalb jedem Versuch, den Straßentunnel Mehr noch: „Man/frau" forde rt in allgemeinen Re- zu erweitern - das hat beispielsweise erst gestern in den zur Umweltschonung, wenig Fläche, wenig der „Berliner Morgenpost" der ADAC gefordert -, Energie zu verbrauchen, die Menschen vor Umwelt- mit aller Schärfe entgegentreten. belastungen zu bewahren und außerdem die Kosten (Beifall bei der SPD) niedrig zu halten. Was kommt in der Praxis dabei heraus? Es wird für das erheblich mehr Fläche ver- Einige Worte an die Regierung und die sie tragen- brauchende Ringkonzept plädiert, für ein Konzept, den Parteien: Spricht man über die Kosten für die das erheblich längere Fahrwege aufweist, das damit Verkehrsprojekte in Berlin, muß man auch die Ko- einen wesentlich höheren Energieverbrauch und sten für den Transrapid erwähnen. Die gegen alle auch einen höheren Zeitaufwand für die Reisenden Vernunft geplante Haushaltsfinanzierung der bedeutet, für ein Konzept, das wegen der um ein Strecke von Hamburg nach Berlin wächst sich zu ei- Vielfaches längeren Streckenführung links und nem Finanzdebakel ersten Ranges aus. rechts der Strecken erheblich mehr Bewohner tan- (Dr. Klaus Röhl [F.D.P.]: Bisher war a lles giert; dies hat Herr Scheffler schon gesagt. Der zen- richtig, und jetzt macht er so einen Patzer!) trale Teil des angegriffenen Projekts führt übrigens durch nichtbewohnte Bereiche. Bei diesem Projekt trägt ausschließlich der Bundes- haushalt die Risiken. Von einer Kürzung der Mittel Welche Konsequenzen hat ein Projektabbruch, ein oder einer zeitlichen Streckung ist hier keine Rede. Projektaustausch? Einen jahrelangen Verzug bei der Fertigstellung des Bahnsystems - eine sehr umwelt- Hingegen räumte der Parlamentarische Staatsse- freundliche Folge -, einen dramatischen Einbruch kretär Carstens - leider ist er nicht hier - auf meine der Arbeitsplätzezahl im Baubereich - eine sehr so- schriftlichen Fragen im letzten Monat ein, daß es ziale und arbeitsmarktfreundliche Folge. beim Aus- und Neubau der Schienenwege in und um Berlin zu zeitlichen Streckungen kommen kann. Was steht noch in dem vorliegenden Antrag? Es wird der Ausbau der Bahnhöfe Papestraße und Ge- (Zuruf von der SPD: Aha!) sundbrunnen gefordert. Die werden ja ausgebaut. Wo ist das Problem? Wo bleibt im Ringkonzept der Da der Nord-Süd-Eisenbahntunnel im zentralen Be- Grünen eigentlich der Regionalbahnhof Potsdamer reich höchste Priorität hat, sei man dabei, Finanzie- Platz? Der wird unterschlagen. Übrigens: Westkreuz rungsentscheidungen vorzubereiten, die den Baube- und Ostkreuz sind seit jeher S-Bahnhöfe, sind und ginn noch 1995 ermöglichen und die zeitgerechte bleiben in Betrieb und sollen in Zukunft saniert und Deckung in diesem Bereich bis Mitte 1998 schaffen ausgebaut werden. Der Lehrter Bahnhof wird übri- würden. Ich fordere Sie deshalb auf, Herr Staatsse- gens ein Kreuzungsbahnhof und nicht ein sogenann- kretär, gemeinsam mit uns sicherzustellen, daß die ter Zentralbahnhof. von den Antragstellern befürchteten Finanzierungs- lücken bei diesem wichtigen Projekt nicht eintreten. Nun etwas ganz besonders Großes: Da forde rt die den Antrag unterzeichnende Kollegin Frau Eich- Es wurde lange über verschiedene Alternativen städt-Bohlig, die uns in der Baukommission bei jeder nachgedacht, diskutiert, und erst dann wurde ent- Gelegenheit energisch an den Denkmalschutz schieden. Das jetzt zur Realisierung anstehende Ver- mahnt, allen Ernstes den Verzicht auf die umwelt- kehrskonzept für den zentralen Bereich muß deshalb freundliche und das Stadtbild nicht beeinträchti- mit aller Kraft verfolgt werden, damit wir wie geplant gende U-Bahn und empfiehlt statt dessen eine Stra- 1998 oder 1999 nach Berlin umziehen können. ßenbahn, und das im Bereich Unter den Linden/ Ich danke Ihnen. Friedrichstraße, womöglich noch mit Fahrt durch das Brandenburger Tor. Eine groteske Vorstellung! (Beifall bei der SPD und der F.D.P. - Dr. Klaus Röhl [F.D.P.]: Bis auf den Transra- (Dr. Dagmar Enkelmann [PDS]: Besser als pid hervorragend!) wenn die Autos durchfahren!) „Man/frau" forde rt nicht nur den Verzicht auf den Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Ich erteile das Straßentunnel. Nein, man fordert dazu noch die Be- Wort dem Abgeordneten Dr. Klaus Röhl. seitigung der Entlastungsstraße, damit sich dann der Autoverkehr durch die umliegenden Wohn- und Ge- schäftsgebiete quält. Bezüglich der Belüftung und Dr. Klaus Röhl (F.D.P.): Herr Präsident! Meine Da- des Betriebs des Straßentunnels und auch zur Grund- men und Herren! Der Antrag der Fraktion BÜND- wasserführung während der Bauzeiten werden Hor- NIS 90/DIE GRÜNEN zum Stopp der Bauvorhaben rorszenarien gemalt, die jeder Grundlage entbehren, am Lehrter Zentralbahnhof und für den Tiergarten aber Hollywood zur Ehre gereichen würden. tunnel in Berlin zeigt wieder einmal das charakteri- stische Verhalten, das nicht endende Dilemma der Ich empfehle zur sachlichen Informa tion die Lek- Grünen. Da wird jahrelang bei jeder Gelegenheit ge- türe der Planungsunterlagen, die monatelang in Ber- fordert, den Verkehr auf die Bahn zu verlagern - lin am Anhalter Bahnhof für jeden öffentlich zugäng- Fern-, Regional- und Nahverkehr -, und wenn es lich ausgestellt waren. Darin sind die umweltfreund- 4968 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1995

Dr. Klaus Röhl lichen Lösungen ausführlich dargestellt. Der Ver- Herren Verkehrsplaner - leider sind es in der Regel kehrsausschuß der vorangegangenen Legislaturperi- Herren - kaum zu interessieren. Möglicherweise wi ll ode hat sich übrigens vor Ort über alle diesbezügli- man so auch das Problem der grillenden Familien im chen Belange eingehend informiert. Tiergarten lösen. (Lisa Peters [F.D.P.]: Da war Frau Eichstädt Aber zurück zum Antrag von BÜNDNIS 90/DIE Bohlig aber noch nicht dabei!) GRÜNEN. Damit haben wir durchaus ein Problem. Die Kosten für die geplanten Projekte werden mo- Ich meine, es wäre vielleicht besser gewesen, diesen niert - was übrigens das gute Recht ist -; aber über Antrag federführend von der verkehrspolitischen die Mehrkosten für das Ringkonzept wird kein Wo rt Sprecherin bzw. den Verkehrspolitikern bearbeiten verloren. Das ist klar; denn die Kosten sind natürlich zu lassen. Das Konzept, das hier gefordert wird, ist dreimal so hoch. Deswegen schweigt man darüber. im Endeffekt nämlich tatsächlich nicht billiger und auch verkehrspolitisch nicht viel sinnvoller als die (Franziska Eichstädt-Bohlig [BÜNDNIS 90/ Vorstellungen der Bundesregierung bzw. des Senats. DIE GRÜNEN]: Auch der Nutzen ist drei mal so hoch!) Die Wiederherstellung des Eisenbahnrings und seine Nutzung für Personenfern- und -regionalver- - Liebe Frau Kollegin Bohlig, es ist möglich und wir kehr ist wenig praktikabel und zudem kostenauf- sind auch dazu bereit, jeden einzelnen weiteren wendig. Dieser Ring war nämlich hauptsächlich für Punkt des Antrags zu diskutieren und zu widerlegen. den Güterverkehr vorgesehen. Ihn wiederherzustel- Leider ist an dieser Stelle zuwenig Zeit. len und für den Personenverkehr nutzbar zu machen Liebe Kolleginnen und Kollegen, dieser Antrag ist erfordert gewaltige Baumaßnahmen, die um so teu- ein Wiederaufguß längst abgearbeiteter und geklär- rer werden, da sie kaum zu ebener Erde, sondern zu- ter Fakten und Probleme. Das ist nichts weiter als meist unterhalb bzw. auf erster Ebene realisiert wer- Handeln mit Ladenhütern im Berliner Wahlkampf. den müssen. Hinzu kommt, daß die auf den Ring zu- laufenden Radialstrecken an Bahnhöfen außerhalb Herzlichen Dank. des Zentrums enden und somit einem umsteigefreien (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU - Verkehr in die Stadt entgegenstehen. Aber das Ring- Werner Schulz [Berlin] [BÜNDNIS 90/DIE konzept setzt auf Durchreiseverkehr. Dieser hat GRÜNEN]: Der größte Ladenhüter ist die heute einen Anteil von nur 5 %. F.D.P. im Berliner Senat!) Nach Auffassung der PDS - ich verweise hier auf die Studie unseres Kollegen Winfried Wolf, der das Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Ich erteile der exakt herausgearbeitet hat - kann eine kunden- Abgeordneten Dr. Dagmar Enkelmann das Wort. freundliche, kostengünstige Va riante nur im Wieder- aufbau der drei Kopfbahnhöfe Lehrter Bahnhof, Nordbahnhof und Anhalter Bahnhof liegen. Dr. Dagmar Enkelmann (PDS): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist wohl ganz offen- (Beifall bei Abgeordneten der PDS) kundig: Der Berliner Wahlkampf wirft seine Schatten bis nach Bonn, und Kanzler Kohl wirft sein ganzes Diese Lösung ist schrittweise umsetzbar und garan- Gewicht in die Waagschale bzw. auf einen Spaten, tiert den schnellsten und, wie wir meinen, auch um- um am 13. Oktober das Startsignal für den Bau des weltfreundlichsten Weg ins Stadtzentrum. Sie ermög- Tiergartentunnels zu geben. Das ist wohl kein Wahl- licht zugleich eine Integra tion des Güterverkehrs kampf. und stellt damit ein Rückgrat für ein ökologisch inte- griertes Gesamtverkehrskonzept in Berlin dar. Mehrere Milliarden DM sollen für ein ökologisch und verkehrspolitisch höchst bedenkliches Projekt Es ist immer sinnvoller und billiger, Vorhandenes verschwendet werden. Klar ist sicher uns allen, daß zu nutzen und auszubauen, als Milliarden in ein in puncto Verkehr in Berlin Konsequenzen notwen- Großprojekt zu stecken. Lassen Sie den Tiergarten, dig sind. Dramatisch zunehmende Schadstoffbela- wie er ist! Ich denke, wir Abgeordneten sollten auch stungen und Dauerstau können wohl kaum Aus- dankbar dafür sein, wenn wir dann nach 1998 in den druck einer gestiegenen Lebensqualität sein. - wenigen Pausen, die wir haben, im Park spazieren- (Beifall bei der PDS) gehen können. Nun ist es ein gefährlicher Trugschluß, anzuneh- Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit und wünsche men, daß es durch den Tiergartentunnel eine Entla- allen Kolleginnen und Kollegen eine angenehme stung in Berlin-Mitte geben wird. Frau Baumeister, Nachtruhe. ich denke, wir dürfen nicht nur an das Regierungs- viertel, an den Kanzler oder an die Herren und Da- (Beifall bei der PDS sowie des Abg. We rner men Abgeordneten denken. In Berlin wohnen noch Schulz [Berlin] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ ein paar mehr Bürgerinnen und Bürger. NEN]) Der Verkehr, der auch in Zukunft deutlich zuneh- men wird, findet statt oberhalb nun unterhalb der Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Das ist zwar Erde statt - wahrlich eine kreative Form der Ver- ein angebrachter, aber, wie ich fürchte, verfrühter kehrsverlagerung. Daß damit die grüne Lunge im Wunsch. Zentrum Berlins langfristig zerstört wird, scheint die (Heiterkeit) Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1995 4969

Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch Das Wort hat für die Bundesregierung der Staatsse- Punkten überlegen. Es wird eine höhere Kunden- kretär Johannes Nitsch. freundlichkeit durch eine leichtere Orientierung, durch die Vermeidung der Aufspaltung des Nord- Süd-Verkehrs auf einem Innenring ermöglichen. Es Johannes Nitsch, Parl. Staatssekretär beim Bun- wird verkürzte Reisezeiten und eine bessere Erreich- desminister für Verkehr: Herr Präsident! Meine sehr barkeit der Stadt ohne Umsteigen ermöglichen. verehrten Damen und Herren! Die Wiedervereini- gung Deutschlands jährt sich in wenigen Tagen zum Hinsichtlich der Kosten wurde schon ausgeführt, fünften Mal. Sie hat eine zerrissene Stadt wieder zu- daß es zu geringeren Kosten kommen wird; denn sammengefügt. Wir haben die Verkehrsverbindun- trotz des hohen Mittelbedarfs für die Nord-Süd- gen auf der Straße, der Schiene und auf den Wasser- Achse bei diesem Pilzkonzept erfordert das Ringmo- wegen wieder zusammengeführt. dell durch mehr Bahnhofsneubauten und den ab- schnittsweisen viergleisigen Ausbau des Innenrings Darüber hinaus müssen wir Berlin aber auch auf insgesamt wesentlich höhere Aufwendungen. die verkehrlichen Anforderungen des 21. Jahr- hunderts vorbereiten. Die Bundesregierung, das Ich möchte noch etwas zu der Umweltverträglich- Land Berlin und das Land Brandenburg haben sich keit sagen. Der Tunnel leistet mit seinem westlichen diese gewaltige Aufgabe in den vergangenen fünf Abschnitt des inneren Stadtrings an sich schon einen Jahren mit sehr viel Sorgfalt, zahlreichen Untersu- wesentlichen Beitrag zu einem durchgangsfreien chungen und unter Einbeziehung des größten Sach- Verkehr. Diese Durchgangsfreiheit des Verkehrs verstandes vorgenommen. Es wurden nicht nur Fach- trägt zur Entlastung des Innenstadtbereichs vom Ost- planer aus den verschiedensten Gremien, sondern es West-Verkehr bei. wurde auch die Öffentlichkeit einbezogen. In einer Reihe von ressortübergreifenden Arbeitsgruppen Durch die gewählte Trasse, die im Bereich des wurden Diskussionsforen in Berlin durchgeführt. Da- Tiergartens im Zuge der heutigen Entlastungsstraße bei wurde die Hauptstadtverkehrsplanung Berlin verlaufen wird, werden aber auch die Eingriffe in die stets auch im Blick auf den Umzug der Bundesregie- Umwelt minimiert. Mit dem Wegfall dieser Entla- rung und des Parlaments nach Berlin konzipiert, und stungsstraße nach der Inbetriebnahme des Tunnels zwar sowohl hinsichtlich des notwendigen Umfangs können die bislang getrennten Teile des Tiergartens als auch hinsichtlich der zeitlichen Verfügbarkeit. wieder eine durchgängige Parkanlage werden. Am 13. Oktober - hier war schon des öfteren die Auch die sehr dramatisch dargestellten Auswir- Rede davon - wird der Baubeginn für die Verkehrs- kungen auf die Grundwasserverhältnisse werden anlagen im zentralen Bereich Berlins sein. Diese De- durch die angewandten Bauverfahren - Schlitzbau batte hat zumindest dazu beigetragen, diesen Termin verfahren - nicht eintreten. Sie wissen, daß wir ein in ganz Deutschland bekanntzumachen. Dieser Ter- sehr aufwendiges Grundwassermanagement in die- min ist, was die Geschwindigkeit der Vorarbeiten an- sem Bereich vorgeschrieben haben. Sie können sich geht, tatsächlich ein Erfolg. Insgesamt beträgt der Fi- an der Baugrube am Potsdamer Platz vergewissern, nanzbedarf der Verkehrsprojekte im zentralen Be- wie aufwendig die Gründungsarbeiten durchgeführt reich 5,2 Milliarden DM, darunter allein 3,2 Mil- werden und daß der Grundwasserpegel im Tiergar- liarden DM für die Eisenbahnverbindungen ein- ten ständig überwacht wird. schließlich des Lehrter Bahnhofs, 1,3 Milliarden DM für die U-Bahn-Linie 5 und 0,7 Milliarden DM für Meine sehr verehrten Damen und Herren, Berlin den Straßentunnel. Diese Investitionen werden sich hatte einst das weltbeste Verkehrskonzept. Damit es sowohl für die Entwicklung der Stadt als auch für de- die neue Hauptstadt in Zukunft wieder haben wird, ren erneute Entwicklung zu einem europäischen Ei- bitte ich Sie, diesem Antrag Ihre Zustimmung nicht senbahnknotenpunkt auszahlen. zu geben. Ich darf dem Abgeordneten Scheffler zunächst für Vielen Dank. seinen fachlich einwandfreien Beitrag danken und ihm versichern, daß die Finanzierung in der Größen- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) ordnung, wie die Bauten sie erfordern, bereitgestellt- wird. Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Ich schließe die Der Bau der Verkehrsprojekte liegt im abgestimm- Aussprache. tem Zeitplan, der auch die Bauabläufe für die Parla- Der Ältestenrat schlägt die Überweisung der Vor- ments- und die Regierungsbauten berücksichtigt. lage auf Drucksache 13/365 an die in der Tagesord- Am 12. September dieses Jahres erfolgte der Plan- nung aufgeführten Ausschüsse vor. Sind Sie damit feststellungsbeschluß. Am 13. Oktober wird der Bau- einverstanden? - Ich sehe und höre keinen Wider- beginn sein; ich sagte das schon. Damit sind die Vor- spruch. Dann machen wir das so. aussetzungen für die Abdeckung des Tunnelbau- werks im Spreebogen Mitte 1998 geschaffen. Das ist der für die Fortsetzung der anderen Bauarbeiten im Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf: Bereich des Spreebogens wichtige Termin. Beratung des Antrags der Abgeordneten Ute Lassen Sie mich noch einiges zu den Vorteilen des Vogt (Pforzheim), Freimut Duve, Ecka rt Kuhl- Pilzkonzepts sagen. Das Pilzkonzept ist dem Ring- wein, weiterer Abgeordneter und der Fraktion modell nach unserer Auffassung in zahlreichen der SPD 4970 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1995 Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch Beitrag der Bundesrepublik Deutschland für Dieser Beschluß signalisiert ziemlich klar die Unter- das Berufsbildungsprojekt in Guernica, Bas- stützung des Parlaments. Trotz dieses Beschlusses kenland verweigert die Bundesregierung bis heute die kon- krete Unterstützung. - Drucksache 13/2366 - Überweisungsvorschlag: Deshalb ist es notwendig, daß wir mit unserem An- trag diesen Beschluß des Deutschen Bundestages Auswärtiger Ausschuß (federführend) von 1988 bekräftigen und zusätzlich konkretisieren. Ausschuß für Bildung, Wissenschaft, Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung (Beifall bei der SPD) Haushaltsausschuß Formal geht es um 12 Millionen DM. Es ist erlaubt, Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die in Raten zu zahlen, und zwar drei Jahre lang jeweils Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich 4 Millionen DM pro Jahr. Es geht um die Förderung sehe und höre keinen Widerspruch. Dann ist so be- eines Zentrums für die Berufsausbildung, um eine schlossen. Lehrstätte für allgemeinen Unterricht und Fachunter- Der Abgeordnete Zwerenz gibt seine Rede zu Pro- richt, um ein Institut für Technologieforschung und tokoll. *) Ich nehme das Einverständnis des Hauses um die Schaffung von Arbeitsplätzen für junge Men- an und empfehle dieses Beispiel zur Nachahmung. schen in der Region Guernica. Die Gesamtkosten des Projekts belaufen sich auf etwa 30 Millionen DM. (Beifall bei der PDS) Das war die formale Seite und die formale Forde- Das Wort gebe ich nun der Abgeordneten Ute rung. Tatsächlich geht es hier um viel mehr. Es geht Vogt. um eine sichtbare Geste und um die greifbare Ver- söhnung mit der Stadt Guernica.

Ute Vogt (Pforzheim) (SPD): Herr Präsident! Meine (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE Damen und Herren! „In der Politik wird viel geredet GRÜNEN und der PDS) und wenig getan." Das ist ein Vorwurf, den wir alle Am 26. April 1937 wurde durch den grausamen öfter zu hören bekommen. Er ist zwar nie persönlich Bombenangriff der deutschen Legion Condor die gemeint. Vielmehr ist er immer auf die Politik im all- Stadt Guernica fast völlig zerstört, und es wurden un- gemeinen bezogen. Man muß zugeben, daß der eine zählige Menschen getötet. oder die andere von uns durchaus dazu beiträgt, daß solch ein Vorurteil bestärkt werden kann. Deshalb geht es hier nicht um die Unterstützung irgendeiner Partnerschaft. Man kann auch nicht sa- Beim vorliegenden Antrag zum Berufsbildungspro- gen: Da könnte ja jede Stadt kommen. Vielmehr geht jekt in Guernica sind wir allerdings nahe daran, als es um ein Friedenssignal, das 1989 von der Partner- Parlament selbst den Beweis zu erbringen, daß die- schaft zwischen Guernica und der Stadt Pforzheim ses Vorurteil tatsächlich stimmt. Denn im Bundestag ausging, die unter großem Beifall dieses Hauses ge- wird seit 1987 über Guernica geredet. Ende 1988 schlossen wurde. wurde dazu ein Beschluß gefaßt. Seither ist in der Sa- che faktisch nichts passiert; seither hat die Bundesre- Es geht um zwei Städte, die im Krieg auf verfeinde- gierung das Projekt Guernica ruhen lassen. ten Seiten standen und eine traurige Gemeinsamkeit haben, nämlich das unsägliche Leid der Menschen, (Ina Albowitz [F.D.P.]: Wie kommen Sie dar die in den Städten lebten und die durch den barbari- auf, daß nichts passiert ist? - Staatsminister schen Krieg den größten Teil ihrer Stadt und - was Helmut Schäfer: Lassen Sie es sein; das ist noch viel schlimmer ist - den größten Teil ihrer Ange- noch zu neu!) hörigen und Bekannten verloren haben. Diese bei- den Städte haben heute zur Versöhnung und Freund- Ich möchte den Beschluß des Bundestages vom schaft zusammengefunden. 10. November 1988 zitieren, in dem es u. a. heißt: Ich denke, diese Vorgeschichte, die zu der außer- Der Deutsche Bundestag begrüßt, daß die. Stadt gewöhnlichen Pa rtnerschaft geführt hat, verpflichtet Pforzheim mit Guernica und der Region des- Bas- nicht nur eine Stadt, sondern das gesamte Land und kenlandes eine Partnerschaft eingeht. Er forde rt auch uns aus historischer Verantwortung. die Bundesregierung auf, diese Städtepartner- schaft zu fördern und mit Haushaltsmitteln des (Beifall bei der SPD) Auswärtigen Amts zu unterstützen. Es geht ebenfalls um die Glaubwürdigkeit der Weiter heißt es: deutschen Außenpolitik. Der Anstoß für das Berufs- bildungsprojekt kam von deutscher Seite und nicht Mögliche Kooperationsprojekte in diesem Rah- zuletzt aus diesem Haus durch den damaligen Be- men können auch die Förderung der Berufsaus- schluß des Deutschen Bundestages. bildung in der Region ... sein. Seit Jahren wird aber die Verwirklichung des Pro- Die Bundesregierung wird aufgefordert, für diese jekts verzögert. Es gab über Jahre hinweg Gutach- Maßnahmen einen angemessenen Be trag im ten, Nachfragen und Machbarkeitsstudien. Es gab Bundeshaushalt vorzusehen. ständige Kontakte mit allen Beteiligten, unzählige Treffen, Telefonate und Briefwechsel. Es gab alles, *) Anlage 4 was man sich in diesem Bereich vorstellen kann. Alle Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1995 4971

Ute Vogt (Pforzheim) Beteiligten waren einbezogen, insbesondere die Bot- und einem entsprechenden italienischen Kampfflie- schaft von Madrid, das Auswärtige Amt und Staats- gerverband mit drei Flugzeugen ein Luftangriff auf minister Schmidbauer, der noch bis zuletzt der Stadt die östlich Guernicas liegende Straßengabel und Pforzheim Hoffnungen gemacht hat. Brücke sowie die Vorstadt Renteria befohlen.

(Ina Albowitz [F.D.P.]: Da soll man sagen, Die Nähe des eigentlichen Ang riffsziels zur Stadt die Bundesregierung tut nichts!) Guernica, die Sichtbehinderung durch die Wirkung der ersten gefährlichen Bomben und leider Gottes Die Aussagen waren immer ähnlich: Es wurde hin- auch ungünstige Windverhältnisse sowie eine unzu- gehalten und vertröstet. Erst vor wenigen Monaten reichende Zieltechnik führten zu außerordentlich kamen auf massives Nachfragen von seiten der Stadt zahlreichen Fehlwürfen, die schließlich die Stadt Briefe, die besagten, daß es endgültig wohl nichts Guernica selbst trafen und diese auf Grund ihrer mehr werden wird. Holzbauten und der zerstörten Wasserleitung rasch in Flammen setzten. Die menschlichen Opfer sind Um diesem unwürdigen Verfahren ein Ende zu be- reiten, haben wir den Antrag, der Ihnen heute vor- namentlich bekannt. liegt, formuliert. Es geht darum, daß wir eine ganz Diese Gefahr war während der Kampfhandlungen konkrete Zahlungsaufforderung beschreiben, weil offensichtlich ohne besondere Skrupel von den Flug- wir der Hoffnung sind, daß es diesmal, wenn man es einsatzkommandozentralen in Kauf genommen wor- wirklich packend und konkret formuliert, nicht mehr ica gilt seitdem als antifaschistisches gelingen kann, daß die Bundesregierung die Forde- den. Guern Kampfsymbol im Spanischen Bürgerkrieg. rungen ignoriert und so letztlich nichts dabei herum- kommt. Rund 50 Jahre später wurde vor diesem Hinter- Deshalb fordere ich Sie auch im Namen meiner grund die Städtepartnerschaft Pforzheim-Guernica Fraktion auf: Werden Sie tätig, dieses Versprechen gegründet. Abgeordnete aller Fraktionen setzten im an Guernica und Pforzheim einzulösen, damit es ein November 1988 einen Beschluß des Deutschen Bun- Ende damit hat, daß im Parlament nur vollmundige destages durch, dessen einstimmig verabschiedeter Erklärungen abgegeben werden! Zeigen Sie, daß Kernsatz lautet - ich zitiere -: „Die Opfer der wehrlo- das Parlament neben diesen Erklärungen seine Be- sen Zivilbevölkerung mahnen zu einer Geste des schlüsse ernst nimmt und vor allem von der Bundes- Friedens." regierung die konkrete Umsetzung einfordert! In die- sem Sinne fordere ich von Ihnen auch ein selbstbe- Meine sehr verehrten Damen und Herren, meine wußtes Auftreten gegenüber der Bundesregierung Fraktion und ich, wir bekennen uns zu einem sol- und ein Stehen zu alten Beschlüssen und deren Kon- chen Zeichen des Friedens. Die Frage, wie dieses kretisierung. Ich bitte Sie im Zuge der Beratungen Zeichen lautet, ist aber bis heute leider nicht beant- um die Zustimmung und die Bewilligung dieser Gel- wortet. Trotz mannigfacher Ansätze der Bundesre- der, die bereits sehr lange erwartet werden. gierung, insbesondere des Auswärtigen Amtes, des Bundesministeriums für Bildung, Wissenschaft, For- Vielen Dank. schung und Technologie, des Bundesministeriums der Finanzen und des Bundeskanzleramtes, konnte (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE bis heute dem Petitum des Bundestages nicht ent- GRÜNEN und der PDS) sprochen werden. Der Grund ist ganz einfach: Er liegt in der Finanzierung. Immerhin ging es bisher - die Frau Kollegin hat es ja selbst gesagt - um Beträge Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Frau Kollegin in einer Größenordnung von bis zu 30 Millionen DM. Vogt, das war Ihre erste Rede in diesem Hause; dazu Konkret beantragt waren in Vorbesprechungen Ver- unseren herzlichen Glückwunsch. pflichtungsermächtigungen von zunächst 12 Mil- lionen DM. Der Herr Staatsminister im Auswärtigen (Beifall) Amt Helmut Schäfer, der noch sprechen wird, wird Nun spricht der Kollege Dr. Erich Riedl. darauf sicherlich im einzelnen noch konkret einge- hen.

Dr. Erich Riedl (München) (CDU/CSU): Herr Präsi- Als Berichterstatter im Haushaltsausschuß für den dent! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das Einzelplan 05 - dafür bin ich vom Jahre 1995 an zu- Thema Guernica beschäftigt den Deutschen Bundes- ständig - erscheint mir in der Tat der breite Dissens tag in der Tat seit 1988. Worum geht es bei Guernica? zwischen finanziellem Anspruch und haushalteri- schen Möglichkeiten der ausschlaggebende Ge- Ich will ganz kurz den Sachverhalt skizzieren: sichtspunkt für die bisherigen Schwierigkeiten zu 26. April 1937, im Spanischen Bürgerkrieg fallen sein. Bomben auf Guernica im Norden Spaniens. Um dem Verlangen der im Raume Guernica kämpfenden na- Der heute in erster Lesung zu beratende Antrag tionalspanischen Verbände zu entsprechen, den in der SPD-Fraktion gibt uns Gelegenheit, dieses Richtung Bilbao flüchtenden baskischen Truppen Thema - und ich unterstreiche dies - mit Würde und den Rückzug abzuschneiden, wurde am 26. April Respekt vor der Geschichte, aber auch mit Verant- 1937 der auf der Seite General Francos auf dessen wortungsbewußtsein gegenüber dem deutschen Bitte eingesetzten Legion Condor mit 21 Flugzeugen Steuerzahler zu behandeln, der 60 Jahre nach dem 4972 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1995

Dr. Erich Riedl (München) Spanischen Bürgerkrieg wohl kaum mehr davon zu deshalb können wir uns vielleicht über die Durchfüh- überzeugen ist, wegen des genannten Vorfalls im rung ein wenig besser verständigen. Spanischen Bürgerkrieg mit zweistelligen Millionen- beträgen zur Kasse gebeten zu werden. Sehen Sie, diese Geste des guten Willens geht bis in die Zeit vor dem Bundestagsbeschluß zurück. Ich Man wird sich auch darüber zu unterhalten haben, weiß, welche vagen Vorstellungen meine von mir so ob es der Sache dienlich war, daß der Oberbürger- sehr geschätzte frühere Kollegin Pe tra Kelly hatte. meister von Pforzheim mit der Stadt Guernica einen Sie hatte Vorstellungen von einem Friedenszentrum Vertrag zu Lasten des Bundes, also zu Lasten Dritter und ähnlichem. abschloß, ohne dafür die vorherige Zustimmung der Das Herunterfahren auf das Berufsbildungszen- Bundesregierung eingeholt zu haben. trum war eine Konkretisierung in Form eines Projek- Auch ist mir bis heute nicht bekannt, ob und wie tes, das man dann auch anfassen konnte. Insofern sich die Stadt Pforzheim oder auch das Bundesland war das weit weg. Baden-Württemberg mit finanziellen Mitteln an der Ich höre jetzt, daß Sie den Antrag im Haushaltsaus- gewünschten Maßnahme beteiligen. schuß abgelehnt haben. Es hat wohl einen Antrag Meine sehr verehrten Damen und Herren, eines der SPD - ich bin da nicht so gut informiert - gege- muß jedem hier im Hause klar sein: Das Projekt in ben. seiner gegenwärtigen Konzeption in einer finanziel- (Ina Albowitz [F.D.P.]: Ich sage gleich etwas len Dimension von 30 Millionen DM und mehr ist dazu, Herr Kollege!) reine Utopie. - Sie werden dazu etwas sagen. Wenn ich aber höre, Jetzt bedarf es eines vernünftigen finanziellen daß der Antrag abgelehnt wurde, weil andere Städte- Augenmaßes. Das möchte ich den Initiatoren des partnerschaften, die ebenfalls mit Städten verbunden SPD-Antrags von vornherein ans Herz legen; denn sind, die ein ähnliches Schicksal hatten, entstehen ein nochmaliges Scheitern sollten wir uns alle nicht könnten, dann meine ich, daß doch etwas sehr We- mehr leisten. sentliches verkannt wird - das werden mir die beiden Wenn man den Wortlaut des Bundestagsbeschlus- Haushälter auch zugestehen -: ses von 1988 einmal in Ruhe betrachtet, dann sieht Unser aller Beschluß - der Bundestag steht im man, daß er bei gutem Willen auf allen Seiten eine Wort, wir alle - wurde vor dem Abschluß der Städte- guten Chance bietet, dieses heikle Thema zu einem partnerschaft gefaßt. Die Städtepartnerschaft war guten Ende zu bringen. zwar schon im Gespräch, ist aber erst ein Jahr nach dem Beschluß abgeschlossen worden, geradezu als Der Staatsminister vom Auswärti- Durchführungsbeschluß. Deshalb haben sich die gen Amt hat in der Sitzung des Haushaltsausschus- Bürgermeister diesem dann auch so angenommen. ses am Mittwoch der letzten Sitzungswoche klarge- legt, daß die Bundesregierung durchaus die Chance (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sieht, auch mit bescheideneren finanziellen Mitteln und bei der SPD) diese Geste des Friedens überzeugend zum Aus- druck zu bringen. Man muß auch sehen: Es ist viel gelaufen. Die bas- kischen Bildungspolitiker haben das deutsche Be- Wer bereit ist, heute den Bogen vom Sp anischen rufsschulwesen studiert. Die Bürgermeister haben Bürgerkrieg 1937 über das Mittelmeer hinweg in das dann diese Vereinbarung ge troffen, wobei ich dafür Gebiet des ehemaligen Jugoslawien von 1995 zu plädiere, die 30 Millionen DM aus dem Spiel zu las- spannen, der könnte mit dieser Ini tiative auch ganz sen. aktuell zum Ausdruck bringen, daß Krieg und Ge- Es waren dreigeteilte Lasten verabredet: baskische walt innerhalb Europas nie mehr zum aktuellen Ta- Regierung - Unterhalt; Pforzheim - technologischer gesgeschehen in Europa gehören dürfen. und pädagogischer Austausch und die Bundesregie- In diesem Sinne, meine sehr verehrten Damen und rung - Anschubfinanzierung. Herren, sollten wir den SPD-Antrag in den zuständi- Von mehr war nie die Rede. Diese Anschubfinan- gen Ausschüssen des Deutschen Bundestages ver- zierung sollte allerdings in drei Raten erfolgen. Die nünftig beraten. Summe von 12 Millionen DM ist in dieser Beziehung Ich bedanke mich. richtig. (Beifall bei der CDU/CSU) Auch die Bundesregierung steht nun immer wie- der im Wort. In der Antwort auf eine Kleine Anfrage vom Oktober 1990 heißt es: „Da die grundsätzlich be- Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Das Wort hat schlossenen Kooperationsprojekte in Guernica den der Abgeordnete Dr. Helmut Lippelt. Forderungen der baskischen Seite entsprechen, hält die Bundesregierung diese für geeignet, den Be- schluß des Bundestages durchzuführen." Dr. Helmut Lippelt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Das Bundeskanzleramt hat im Juli 1995 - das ist Riedl, ich bedanke mich ausdrücklich für die würdi- also noch gar nicht so lange her - Herrn Becker mit- genden Worte, die Sie zum Geschehen und auch zu geteilt, man werde sich mit allem Nachdruck darum unserer Verpflichtung gefunden haben. Ich denke, bemühen, die erforderlichen Mittel im Haushalt be- Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1995 4973 Dr. Helmut Lippelt reitzustellen. Das Auswärtige Amt werde beauftragt, Wir reden im übrigen über die Dimension zwi- für den Haushalt 1996 entsprechende Mittel einzu- schen 10 und 50 Millionen DM. Bei dieser Größen- stellen. In der Tat ist dies dem armen Oberbürger- ordnung möchte ich als Haushälterin schon sehr ge- meister Becker, nau wissen, wovon wir reden. Das hat nichts mit dem Projekt als solchem zu tun. (Ina Albowitz [F.D.P.]: So arm ist der auch nicht, zumindest clever!) (Detlev von Larcher [SPD]: Für 1996 nur 4 Millionen!) der seine Städtepartnerschaft darüber zerbrechen sieht, von allen Seiten, auch von der Bundesregie- - Herr von Larcher, hören Sie doch erst einmal zu, rung, immer wieder zugesagt worden. was ich zu sagen habe, wir debattieren später noch einmal darüber. Die Debatte verpflichtet nämlich zu (Dr. Erich Riedl [München] [CDU/CSU]: großer Ernsthaftigkeit; ich denke, sie war bisher ent- Pforzheim ist eine Goldstadt!) sprechend. - Meine Redezeit läuft ab; deshalb kann ich nicht so Der politische Hintergrund ist von großer Bedeu- auf die Zurufe eingehen. tung - das streitet auch keiner ab - für das deutsch- spanische Verhältnis. Er birgt eine hohe Emotionali- Deshalb richte ich meine Bitte an die Haushälter: tät. Dies haben wir in den vielen Debatten gehört, Sie haben es in der Hand, in der Bereinigungssitzung die wir zu diesem Thema auch in diesem Hause ge- noch etwas zu machen. führt haben.

(Beifall des Abg. [Wies Meine persönliche Einschätzung zu diesem Thema loch] [SPD]) - wir haben uns ja auch in der letzten Woche damit beschäftigt - lautet: Keiner kann ernsthafter mit dem Ich denke, es sind Mittel dafür da. Ich weiß, daß sich Thema umgehen als Picasso in seinem Gemälde das Auswärtige Amt immer für diese Sache einge- „Guernica". Es drückt Emo tionen, Schmerzen und setzt hat. Das Auswärtige Amt hat die Mittel einge- das Leid besser aus, als wir es hier in der Debatte tun stellt. Aber schon in den Vorbesprechungen im Fi- können. Das ist schon sehr beeindruckend. nanzministerium ist das gekippt worden. Der Argumentationsstrang des SPD-Antrages, den Mein Eindruck ist, Herr Riedl: Die Haushälter ha- wir heute wieder vorgelegt bekommen haben, ist ben sich sehr von der Argumenta tion des Finanzmi- einfach. Er zitiert einen Beschluß des Parlaments aus nisters einfangen lassen. Hören Sie ein bißchen mehr der 11. Wahlperiode, stellt ab auf dessen letzten Satz, auf das Außenministerium, und setzen Sie den Wil- wirft dem Auswärtigen Amt Untätigkeit vor - Sie tun len dieses Hauses - denn das Haus steht doch mit al- das nicht, Herr Lippelt -, d. h. forde rt die Bundesre- len Parteien im Wort - durch! gierung zum Handeln, also zum Geldausgeben auf. So weit, so klar, aber auch: so unzulässig für die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Haushälter. bei der SPD und der PDS) Meine Fraktion - ich mache daraus keinen Hehl - Machen Sie das zur Richtschnur, und folgen Sie nicht ist nicht glücklich darüber, daß die in dem Beschluß so sehr dem Finanzminister! Versuchen Sie, in der des Bundestages von 1988 vorgesehenen Projekte Bereinigungssitzung damit anzufangen! noch nicht verwirklicht worden sind. Wir bemühen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, uns allerdings, die Sache etwas differenzierter zu se- bei der SPD und der PDS - Gert Weisskir hen. Natürlich ist es für die Opposi tion leichter, Mit- chen [Wiesloch] [SPD]: Das war sehr gut!) tel zu fordern, als wenn man die Mittel dann auch tat- sächlich bereitstellen muß.

Ich glaube, es ist hilfreich, den Beschluß von No- Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Das Wort hat vember 1988 noch einmal genauer unter die Lupe zu die Abgeordnete Ina Albowitz. - nehmen; die Kollegin Vogt hat dies eben schon diffe- renziert getan. Dabei kann man auch entdecken, daß im Rahmen der Städtepartnerschaft vorgesehen war, Ina Albowitz (F.D.P.): Herr Präsident! Meine lieben Kooperationsprojekte zu fördern und mit Haushalts- Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Lippelt, ich mitteln zu unterstützen. würde Ihnen ja gerne folgen, aber ich muß Ihnen Ih- ren zuletzt geäußerten Wunsch rundweg abschlagen. Es sind insgesamt relativ hohe Erwartungen ge- Ich glaube, Sie überfordern die Haushälter damit, weckt worden, im übrigen nicht von der Bundesre- Mittel nur auf Grund politischer Absichtserklärun- gierung, sondern aus diesem Hause heraus. Die ur- gen einzuplanen, ohne konkrete Planungsvorgaben sprünglichen Vorstellungen der Spanier, nämlich ein zu haben. Ich will Ihnen das gerne noch erläutern. Technologietransferzentrum mit einem Projektvolu- Wir sind ja nicht nur, auch wenn das m anche be- men von 12 Millionen DM anzudenken und einzu- haupten, Erbsenzähler; wir sind in bezug auf den stellen, sind letztendlich auf ein Gesamtvolumen von Haushalt zu großer Ernsthaftigkeit verpflichtet. Ich 48 Millionen DM gewachsen. erwarte bei einem Projekt dieser Größenordnung doch sehr konkrete Planungsrahmen und Hand- (Dr. Erich Riedl [München] [CDU/CSU]: So lungsvorgaben. ist es!) 4974 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1995 Ina Albowitz Das Schwierige bei der Sachlage ist, daß für dieses Ich traf später in Madrid den Bürgermeister der Projekt keine genaue Konzeption vorliegt und die Stadt Guernica, der mir gesagt hat, sie selber hätten Darstellung im sogenannten Mondragon-Papier vom niemals daran gedacht, mit einem solchen Anliegen BMBW als dem für diesen Bereich zuständigen Fach- an uns heranzutreten. ministerium eine unzureichende Planungsvorlage war. (Dr. Helmut Lippelt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Gab es nicht einen berühmten Im übrigen, meine Damen und Herren, würde ich deutschen Botschafter?) gerne der Sauberkeit in diesem Hause wegen - das geht an die Kollegen der SPD - folgendes erwähnen: Ich will um Gottes willen nicht die Vergangenheit Man entnimmt der Pforzheimer Presse, daß sich un- aufwühlen, aber ich erinnere mich auch an einen mittelbar nach unserem Berichterstattergespräch der nächtlichen Zuruf, den ich Frau Kelly gegenüber ge- Abgeordnete Schlauch darüber beschwert hat, die macht habe: Wir müssen natürlich auch ein bißchen Berichterstatter von Koalition und SPD - - acht geben, daß wir nicht die Bewältigung unserer Vergangenheit anderen aufzwingen. Das habe ich (Ute Vogt [Pforzheim] [SPD]: Das war eine damals gesagt. Fehlinformation des Abgeordneten Schlauch!) Das war, glaube ich, ein ganz guter, leider in der - Dann hätte ich mich gerne über etwas anderes ge- deutschen Geschichte nicht so ganz angekommener freut. Ich rede jetzt sogar positiv für Sie, weil ich Aphorismus, Herr Kollege Lippelt; deshalb habe ich mich über so etwas ärgere. ihn wiederholt. Damals hat eigentlich etwas stöh- nend die Vertretung der Stadt Guernica, ganz zu Es hieß, wir hätten einen Antrag abgelehnt. Das ist schweigen von den spanischen Reaktionen in Ma- seltsam, denn es lag überhaupt kein Antrag vor. Es drid - ich erinnere an gewisse Auseinandersetzun- ist auch kein solcher beraten worden, sondern einer gen, die es zwischen den Basken und den Spanie rn der Sozialdemokraten. Ich hätte mich über eine Rich- gibt -, gesagt: Wir wären natürlich sehr dankbar, tigstellung zu diesem Sachverhalt gefreut, weil dies wenn Sie etwas tun könnten. Wir haben in unserer der Sauberkeit im Parlamentsverfahren entspricht. Gegend ziemlich viele Arbeitslose.

Meine Damen und Herren, der Antrag der SPD, Das war ein sehr vernünftiger Standpunkt, um so wir sollten uns um Lösungen bemühen, dient dazu, mehr, als sich herausgestellt hatte, wie ich dem stau- daß wir noch einmal intensiv über das Thema debat- nenden Auswärtigen Ausschuß damals schon mittei- tieren. Ich möchte an dieser Stelle noch einmal den len konnte, daß das Denkmal, das wir zunächst der Appell an die Bundesregierung richten, mit uns ge- Stadt Guernica schenken wollten und das in Gestalt meinsam zu überlegen - Herr Staatsminister Hoyer eines Vorschlages eines Bildhauers aus Süddeutsch- hat das in der letzten Sitzung des Haushaltsaus- land bereits existierte, vorher bereits der Stadt Mün- schusses getan -, welche Projekte oder was wir för- chen angeboten worden war, und zwar zu einem dern können. vollkommen anderen Zweck. Aber bei abstrakter Kunst ist ja eine Mehrfachverwendung denkbar. Aber ich sage Ihnen ganz dezidiert für meine Frak- tion: Ein Gesamtvolumen von 50 Millionen DM, das Ich darf das deshalb noch einmal kurz beschwören, im Raum steht, ist mit uns nicht zu machen. Wenn weil wir jetzt immer noch nicht weitergekommen das anders aussieht, Herr Lippelt, ist das in Ordnung, sind und weil ich das natürlich mit Ihnen gemeinsam aber dann müssen wir ernsthaft mit den Spaniern bedaure. und mit den Pforzheimern verhandeln. Ich könnte mir auch durchaus vorstellen, daß man über andere Ich bin Herrn Lippelt besonders dankbar, daß er kulturelle Projekte deutlicher reden könnte, z. B. Bi- das Auswärtige Amt, was ungewöhnlich ist, in bliotheken. Hier gab es positive Anzeichen im Haus- Schutz genommen hat. Wir haben uns bemüht. Es haltsausschuß, auch von der Bundesregierung. Wir stimmt also nicht, was in dem Antrag der SPD steht: möchten das in den nächsten Wochen und Monaten „Bis heute sind seitens des Auswärtigen Amtes keine gerne flankieren, aber zur Bereinigungssitzung wird weiteren Schritte unternommen worden." Das trifft das, glaube ich, nicht hinzukriegen sein. nicht zu. Wir haben es versucht. (Beifall bei der CDU/CSU) Ich darf allerdings daran erinnern - ich muß das hier ganz kurz ausführen -, daß, nachdem Gott sei Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Ich erteile dem Dank eine Städtepartnerschaft zwischen Guernica Staatsminister Helmut Schäfer das Wo rt. und Pforzheim zustande kam und Pforzheim mit dem Vorschlag kam, in Guernica ein Ausbildungszen- trum für Spezialgebiete der Technik zu errichten, im- Helmut Schäfer, Staatsminister im Auswärtigen mer höhere Erwartungen geweckt worden sind. Das Amt: Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir Auswärtige Amt war nicht an einer Vereinbarung beschäftigen uns heute nicht zum ersten Mal mit die- zwischen den beiden Städten beteiligt worden, bei sem Thema. Ich erinnere mich an Debatten zu nächt- der man bereits davon ausgegangen war, daß die Ge- licher Stunde vor langem mit Petra Ke lly - Sie haben samtkosten für diesen Berufsbildungskomplex - Bau sie erwähnt -, die dieses Anliegen eingebracht hat, und Ausstattung - von der Bundesregierung zu über- die damals im Baskenland für einige Unruhe sorgte. nehmen wären, zumindest für die erste Baustufe. Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1995 4975 Staatsminister Helmut Schäfer 1991 gab es Gespräche im Auswärtigen Amt. Ein Wir sind der Auffassung, daß wir etwas tun müs- Vorschlag von 1 Million DM wurde in Gegenwart der sen, aber es muß finanziell machbar sein. Es kann Bürgermeister von Pforzheim und Guernica gemacht. nicht in ein Riesenprojekt hineinfließen. Im Antrag Im Jahre 1992 kam ein erster spanischer Projektrah- war z. B. von der Ausstattung einer Bibliothek die men mit Forderungen von 48 Millionen DM. Im deut- Rede. Das wäre vielleicht ein anderer Ansatz. Ich bin schen Text hörte sich das anders an als im spani- bereit und stehe jederzeit zur Verfügung - wenn Sie schen Text. Hier gab es also schon Verwicklungen. einverstanden sind -, wenn es darum geht, mit allen Wiederum gab es keine Beteiligung der Bundesre- Beteiligten das Gespräch wieder aufzunehmen. gierung. Es wurde geprüft. Man hat dann festgestellt - und zwar nicht das Auswärtige Amt, sondern das Vielen Dank. Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft -, daß der spanische Projektrahmen erstens als Pla- (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, dem nungsgrundlage unzureichend war und daß es zwei- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS) tens im Interesse einer politischen Klarstellung not- wendig wäre, den Basken zu sagen: Eine haushalts- politische Obergrenze ist hier notwendig, die erheb- Vizepräsident Burkhard Hirsch: Wir sind damit am lich niedriger liegt als der Vorschlag, und wir können Ende der Aussprache, die ich schließe. uns höchstens an der ersten Baustufe mit maximal 10 bis 12 Millionen DM beteiligen. Der Ältestenrat schägt die Überweisung der Vor- lage auf Drucksache 13/2366 an die in der Tagesord- Dazwischen kam die deutsche Vereinigung. Es ka- nung aufgeführten Ausschüsse vor. - Ich sehe und men enorme Kürzungen. Sie wissen, daß wir uns an höre keinen Widerspruch. Dann ist die Überweisung anderer Stelle über die Kürzungen im Auswärtigen so beschlossen. Amt, die uns sehr schmerzen, unterhalten mußten, z. B. Goethe-Institut, Bibliotheken usw. Ich will das Nach allem, was hier dargestellt worden ist, kann jetzt nicht alles ausführen. Es gab für die Haushälter man sich eigentlich nur dem Wunsch anschließen, das Problem, zwölf weitere Millionen zur Verfügung daß es nicht bei dieser Überweisung an die Aus- zu stellen. Man muß hier sagen, daß sie sich bemü- schüsse bleibt, sondern daß die Fraktionen Gelegen- hen, den Haushalt des Auswärtigen Amtes im Kultur- heit nehmen, sich vielleicht auch außerhalb der Aus- bereich nicht so zu kürzen, wie gelegentlich die Ge- schüsse gemeinsam in dieser Sache zu verständigen, fahr bestand. Es ist uns nicht gelungen. Die Haushäl- diese Sache aus dem Streit der Fraktionen herauszu- ter mußten angesichts der Lage sagen: Wir können halten und zu einem Ergebnis zu kommen, bevor es es nicht. peinlich wird.

Ich darf deshalb noch einmal - auch im Sinne von (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE Herrn Lippelt - dringend raten, daß m an das Ge- GRÜNEN und der PDS) spräch neu beginnt. Wir sind im Wo rt; ich sehe das genauso wie Sie. Wir können nicht einfach sagen: Wir sind damit am Schluß unserer heutigen Tages- Der Antrag ist 1988 beschlossen worden; bis heute ist ordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deut- nichts geschehen. Ich bin dafür, daß wir uns noch schen Bundestages auf morgen, Freitag, den einmal auch mit den Städten zusammensetzen und 29. September 1995, 9 Uhr ein. versuchen, einen Weg zu finden, möglicherweise auch einen neuen Ansatz. Frau Albowitz hat darauf Die Sitzung ist geschlossen. hingewiesen. Ich schlage vor, diesen Gedanken auf- zugreifen. (Schluß der Sitzung: 22.58 Uhr)

Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1995 4937'

Anlagen zum Stenographischen Bericht

Anlage 1 entschuldigt bis Abgeordnete(r) einschließlich Liste der entschuldigten Abgeordneten Schmitz (Baesweiler), CDU/CSU 28.9. 95 * entschuldigt bis Hans Peter Abgeordnete(r) einschließlich Steindor, Marina BÜNDNIS 28. 9. 95 Adler, Brigitte SPD 28. 9. 95 90/DIE GRÜNEN Antretter, Robert SPD 28. 9. 95 * Sterzing, Christian BÜNDNIS 28. 9. 95 Behrendt, Wolfgang SPD 28. 9. 95 * 90/DIE Berger, Hans SPD 28. 9. 95 GRÜNEN Blunck, Lilo SPD 28. 9. 95 * Stiegler, Ludwig SPD 28. 9. 95 Bühler (Bruchsal), Klaus_ CDU/CSU 28. 9. 95 * Terborg, Margitta SPD 28. 9. 95 Catenhusen, SPD 28.9.95 Vosen, Josef SPD 28. 9. 95 Wolf-Michael Weisskirchen (Wiesloch), SPD 28. 9. 95 Dr. Däubler-Gmelin, SPD 28. 9. 95 Gert Herta Welt, Jochen SPD 28. 9. 95 Dr. Eid, Uschi BÜNDNIS 28. 9. 95 Wimmer (Neuss), Willy CDU/CSU 28. 9. 95 90/DIE GRÜNEN Zierer, Benno CDU/CSU 28.9. 95 * Dr. Feldmann, Olaf F.D.P. 28. 9. 95 * Zwerenz, Gerhard PDS 28. 9. 95 Fischer (Unna), Leni CDU/CSU 28. 9. 95 ' Fuchs (Verl), Katrin SPD 28. 9. 95 für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Ver- sammlung des Europarates Haack (Extertal), SPD 28. 9. 95 * Karl-Hermann Heym, Stefan PDS 28. 9. 95 Anlage 2 Hörsken, Heinz-Adolf CDU/CSU 28. 9. 95 Antwort Hollerith, Josef CDU/CSU 28. 9. 95 des Staatsministers Helmut Schäfer auf die Frage des Horn, Erwin SPD 28. 9. 95 * Abgeordneten Manfred Such (BÜNDNIS 90/DIE Hornung, Siegfried CDU/CSU 28.9. 95 * GRÜNEN) (Drucksache 13/2407 Frage 16): Dr. Kinkel, Klaus F.D.P. 28. 9. 95 Wie kann die Bundesregierung angesichts ihrer bisherigen Auskünfte, indonesischen Sicherheitsbediensteten sei eine Ein- Leidinger, Robert SPD 28. 9. 95 reise nach Deutschland zwecks Ermittlungen wegen Protesten gegen den hiesigen Suharto-Besuch nicht gestattet worden, den Lenzer, Christian CDU/CSU 28. 9. 95 * - auch durch die Tageszeitung „Jawa Pos" am 13. und 14. Juni 1995 berichteten - Umstand erklären, daß die Kriminalpolizei in Dr. Leonhard, Elke SPD 28.9. 95 Jakarta dem beschuldigten Sri Bintang Pamungkas in den Ver- nehmungen am 12. und 14. Juni 1995 Tonbandkassetten mit Löwisch, Sigrun CDU/CSU 28. 9. 95 Aufnahmen eines inkriminierten Vortrags an der TU Berlin vor- Maaß (Wilhelmshaven), CDU/CSU spielten, welche laut Vernehmungsprotokoll bei dem in 28. 9. 95 Deutschland aufenthältlichen Zeugen Achmad Fahrurozzi am Erich 9. Mai 1995 beschlagnahmt worden waren, und was ist der Bun- en, desregierung inzwischen über entsprechende Aktivitäten indo- Mart Günter CDU/CSU 28. 9. 95 * nesischer Ermittler oder aber dahin gehender Amtshilfe deut- Meckel, Markus SPD 28. 9. 95 scher Sicherheitsbehörden bekanntgeworden? Michels, Meinolf CDU/CSU 28. 9. 95 * Der Bundesregierung liegen keine Erkenntnisse Nolte, Claudia CDU/CSU 28. 9. 95 über Ermittlungen indonesischer Sicherheitsbehör- den in Deutschland vor. Die Bundesregierung wie- Pfeiffer, Angelika CDU/CSU 28. 9. 95 derholt, daß die Botschaft Jakarta keine Sichtver- Dr. Probst, Albert CDU/CSU 28. 9. 95 * merke für indonesische Polizeibeamte erteilt hat. Dr. Schäfer, Hansjörg SPD 28.9. 95 Die genannten Artikel in der „Jawa Pos" besagen im übrigen nur, daß Tonbandkassetten Fahrulrozis Schaich-Walch, Gudrun SPD 28. 9. 95 beschlagnahmt wurden, nicht aber, daß sie in Dr. Scheer, Hermann SPD 28. 9. 95 * Deutschland beschlagnahmt worden seien. In einem Artikel des indonesischen Nachrichtemagazins „Fo- Schloten, Dieter SPD 28. 9. 95 * rum" vom 8. Juni 1995 wird erwähnt, daß drei Zeu- Schmidt (), Ulla SPD 28. 9. 95 gen nach Indonesien gereist seien, offensichtlich, wie 4978* Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. September 1995 sich aus dem Zusammenhang des „Forum"-Artikels dieser Angelegenheit endlich etwas geschieht. Es ergibt, indonesische Studenten der Berliner TU. Aus wurde auch höchste Zeit, daß das Parlament wieder dieser Pressedarstellung scheint sich zu ergeben, daß aktiv wird und seine Kontrollfunktion gegenüber der Herr Fahrulrozi einer dieser Zeugen war und daß seine Regierung wahrnimmt. Es ist jetzt fast sieben Jahre Kassetten in Indonesien „beschlagnahmt" wurden. her, daß der Bundestag beschlossen hat, das Städte- partnerschaftsprojekt Pforzheim-Guernica zu unter- stützen. Sieben vertane Jahre, in denen außer Ver- sprechungen nichts geschehen ist. Dies ist ein Anlage 3 Trauerspiel in doppelter Hinsicht: Es zeigt zum ei- nen, wie diese Regierung mit dem Parlament um- Antwort geht. Bundestagsbeschlüsse können schlicht und des Staatsministers Helmut Schäfer auf die Fragen einfach mißachtet werden. Es zeigt weiter, daß die des Abgeordneten Dr. Egon Jüttner (CDU/CSU) Bundesregierung in diesem Jahr oft von der Schuld (Drucksache 13/2407 Fragen 17 und 18): der Vergangenheit geredet hat, reden mußte, aber daß sie paßt, wenn es darum geht, die Rechnung zu Liegen der Bundesregierung Informationen vor, ob tschechi- bezahlen. sche Opfer nationalsozialistischen Unrechts aufgrund des „De- krets des Präsidenten der Republik (Tschechoslowakei) vom Es muß in Erinnerung gerufen werden, daß die 25. Oktober 1945 über die Konfiskation des feindlichen Vermö- 1988 in Aussicht gestellte Förderung eines Berufsbil- gens und die Fonds der nationalen Erneuerung" (§ 7 Abs. 3) aus konfisziertem sudetendeutschen Vermögen entschädigt worden dungsprojekts in Guernica ohnehin nur eine Verle- sind? genheitslösung war. Die Abgeordneten Pe tra Kelly und hatten 50 Jahre nach dem barbari- Liegen der Bundesregierung Informationen vor, ob die Tsche- chische Republik bereit ist, das 1938 durch das Deutsche Reich schen Bombardement der deutschen Legion Condor und später auch aufgrund der Bene-Dekrete konfiszierte Ver- eine eindeutige Versöhnungsgeste gefordert. Das mögen der sudetendeutschen Konsumgenossenschaften, der von ihnen vorgeschlagene Friedenszentrum wurde Gewerkschaften und der Gliederungen der sudetendeutschen damals aber abgelehnt. Inzwischen sind 58 Jahre Sozialdemokraten zurückzugeben? seit der Bombennacht vergangen. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, daß die Bundesregie- Zu Frage 17: rung darauf hofft, daß über die Sache Gras gewach- Hierüber liegen der Bundesregierung keine Infor- sen ist. An Versuchen, die deutsche Schuld zu leug- mationen vor. nen, hat es im Verlauf der Debatten um Guernica oh- nehin nicht gefehlt. Die deutsche sei Zu Frage 18: nicht offiziell verstrickt gewesen, war da zu hören. Außerdem seien nur „normale Kriegshandlungen" Nach den der Bundesregierung vorliegenden In- begangen worden. Richtig ist: Luftkrieg und Flä- formationen wurden in der Tat auch NS-Opfer aus chenbombardements gehören seit dem Zweiten dem von Sudetendeutschen konfiszierten Eigentum Weltkrieg zum normalen Repertoire der Kriegsfüh- entschädigt. Allerdings wurden nach der kommuni- rung. Das macht sie keinen Deut weniger barba- stischen Machtübernahme in der damaligen Tsche- risch. Ein Zeichen gegen diese Barbarei zu setzen, choslowakei Entschädigungen an Personen einge- war das Anliegen Pe tra Kellys und Gert Bastians. stellt. Bereits vorgenommene Entschädigungen wur- Wir sollten jetzt wenigstens dafür Sorge tragen, daß den, mit Ausnahme von gewerblich nicht nutzbaren überhaupt etwas geschieht. Einrichtungen, wieder rückgängig gemacht. Fak- tisch dürfte also damals -- ungeachtet des in der In Guernica sind Hoffnungen geweckt worden. Frage genannten Dekrets - eine Entschädigung der Ohne den deutschen Beitrag von 12 Millionen DM NS-Opfer von tschechoslowakischer Seite nicht in kann das Berufsbildungsprojekt nicht verwirklicht nennenswerter Weise stattgefunden haben. werden. Unsere Unterstützung wäre im übrigen ja nicht nur ein Tribut an die Vergangenheit, sondern auch eine Investition in die Zukunft. In dieser Region muß dringend etwas gegen Jugendarbeitslosigkeit Anlage 4 getan werden. In diesem Haushalt hat die Regierung 29 Millionen DM für den Bundeswehr-Reservisten- Zu Protokoll gegebene Rede verband bereitgestellt. Militärische Traditionspflege zu Tagesordnungspunkt 12 wird großgeschrieben, die kritische Aufarbeitung der (Antrag: Beitrag der Bundesrepublik Deutschland militaristischen Vergangenheit möglichst kleingehal- für das Berufsbildungsprojekt in Guernica, ten. Baskenland) Ich appelliere an Sie, Kolleginnen und Kollegen, die Bundesregierung in die Pflicht zu nehmen, die Gerhard Zwerenz (PDS): Ich begrüße, daß die SPD finanziellen Zusagen an Guernica endlich wahrzu- jetzt diesen Antrag vorgelegt hat, und hoffe, daß in machen. Sonst diskreditieren wir uns selbst.