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Deutschland PARLAMENT Phosphor vom Himmel Genscher und Dregger, Lambsdorff und Stoltenberg: Die letzten Abgeordneten aus der Generation der Wehrmachtsoffiziere und Flakhelfer nehmen Abschied von der Politik. on seinem Büro im Erdgeschoß des offiziere und Flakhelfer nimmt Abschied Bonner Bundeshauses kann Alfred von Bonn. VDregger, 77, direkt ins Grüne sehen Mit dem viermal verwundeten Ex- ULLSTEIN und gehen. Die Glastür zum Park ist ein Hauptmann Dregger ziehen in den Ruhe- Regierungserklärung von Bundeskanzler Adenauer Privileg, das sonst keiner hat. stand: der Ex-Soldat Otto Graf Lambsdorff Doch Dregger schaut nicht hinaus. Er (FDP), der in den letzten Kriegstagen ein siedler, kommt nicht mehr zurück nach sitzt kerzengrade mit dem Rücken zum Fen- Bein verlor; der Marine-Flakhelfer Gerhard Bonn. Burkhard Hirsch, 67, der liberale Bür- ster und horcht in sich hinein. Worüber er Stoltenberg (CDU), der schon zu Adenau- gerrechtler, hört ebenfalls auf. Denn inzwi- gern geredet hätte als Alterspräsident des ers Kanzlerzeit als junger Abgeordneter in schen ist auch die Generation der Hitlerju- nächsten Bundestages? Je länger er darüber Bonn einrückte; der Soldat Dionys Jobst gend pensionsreif, deren prominentester nachdenkt, desto entschiedener weiß er es. (CSU), der schon mit 16 Jahren in den Krieg Vertreter Helmut Kohl, Jahrgang 1930, ist. Die Ausstellung des Hamburger Instituts ziehen mußte; der Flakhelfer und Pionier Am stärksten betroffen vom Wechsel der für Sozialforschung über die Verbrechen Hans-Dietrich Genscher (FDP), der sich als Generationen ist die FDP.Wenn Genscher der Wehrmacht, „diese Show“, wie er sie Reserveoffiziersbewerber beim Heer mel- und Lambsdorff fehlen, wird Detlef Klei- verächtlich nennt, wäre sein Thema gewe- dete, um nicht zur Waffen-SS zu müssen. nert (Jahrgang 1932), der Rechtsexperte sen. Über die besudelte Ehre seiner Gene- Dazu gehen etliche Abgeordnete aufs und berüchtigte Strippenzieher, dienstäl- ration hätte der Wehrmachtsoffizier Dreg- Altenteil, die gerade ihr silbernes Parla- tester Liberaler in der Bundestagsfraktion ger „gern geredet“. mentsjubiläum gefeiert haben. Peter Con- sein, vorausgesetzt, die FDP schafft mehr Er darf aber nicht. Der letzte Repräsen- radi, 65, gehört dazu. Der SPD-Baumei- als 5 Prozent. Kleinert ist seit 1969 im Par- tant des national-konservativen CDU-Flü- ster mit der Fliege, ohne den der schöne lament. Zum zweiten Veteranen unter den gels, von Joschka Fischer als „Stahlhel- Plenarsaal des Architekten Günter Beh- FDP-Abgeordneten rückt dann Jürgen W. mer“ verspottet, wird nicht in den Bun- nisch wahrscheinlich nie gebaut worden Möllemann, 52, auf.Anfang Dezember be- destag zurückkehren. Seine Partei hat ei- wäre, verläßt das Parlament „ohne Groll ging er im Düsseldorfer Hilton-Hotel ge- nen anderen für „seinen“ Wahlkreis in und Bitternis“, wie er sagt. Horst Waffen- meinsam mit Lambsdorff das 25jährige Par- Fulda nominiert. schmidt, 64, Kohls Beauftragter für die Aus- lamentsjubiläum. Dreggers Abgang ist eine Zäsur. Im kom- 33 Jahre wird Genscher Abgeordneter menden Herbst treten die letzten aktiven gewesen sein, wenn er im Herbst nächsten * Mit Redner Jürgen Möllemann bei einer Feier zum Kriegsteilnehmer den Rückzug aus der Po- 25jährigen Bundestagsjubiläum von Möllemann und Jahres den Bundestag verläßt. Nur wenige litik an. Die Generation der Wehrmachts- Lambsdorff am 4. Dezember in Düsseldorf. blieben länger im Bonner Parlament. Ri- J. H. DARCHINGER J. Parlamentsaussteiger Genscher, Lambsdorff*: „Der Krieg hat unsere Generation geprägt“ 40 der spiegel 1/1998 im Oktober 1949 im Bundestag: „Was nicht sein darf, war klar; was sein darf, darüber gingen die Meinungen auseinander“ chard Stücklen (CSU) zum Beispiel, der es Voraussicht nach der Älteste im Parlament hart, „ich gönne diesem Menschen diese auf 41 Jahre brachte, Annemarie Renger sein. Er dürfte dann jene Eröffnungsrede Chance nicht. Der ist nie für die Einheit (SPD) und Wolfgang Mischnick (FDP) (je halten, die Dregger so gern gehalten hätte. Deutschlands eingetreten.“ Auch mehr als 37 Jahre) und Herbert Wehner (34 Jahre). Stramm und erzürnt richtet sich der Eh- ein halbes Jahrhundert nach Kriegsende So unterschiedlich die Schicksale dieser renvorsitzende der CDU/CSU-Fraktion in sind die Wunden nicht verheilt, die Krieg Langzeit-Parlamentarier waren und so ge- seinem Ledersessel auf. „Nein“, sagt er und Faschismus gerissen haben.Was in der gensätzlich ihre politischen Meinungen auf- einanderprallten – in einem Punkt, so Gen- scher rückblickend, herrschte Einigkeit: Die Sterne der Abgeordneten Abgeordnete, die nicht mehr für den Bundestag kandidieren Nie wieder Krieg, nie wieder Diktatur. Kürschners „Volkshandbuch“, das „Das war“, erinnert sich der FDP-Eh- Standardnachschlagewerk über den 9 Sterne seit 1965 im Bundestag renvorsitzende, „für uns, die wir den Krieg Deutschen Bundestag, kennzeichnet überstanden hatten, eine Art kategorischer die Dauer der Zugehörigkeit eines Imperativ: Was nicht sein darf, war klar; Abgeordneten zum Parlament mit was sein darf, darüber gingen die Meinun- Hans-Dietrich Genscher einem Stern pro Legislaturperiode. (FDP) 70 gen auseinander.“ Die Altgedienten: Im Gespräch untereinander blieben die Rekordhalter mit der Fronterlebnisse seltsamerweise ausgespart. längsten Zugehörigkeit „Es gab im Bundeshaus keinen Traditions- zum Bundestag verein Wehrmacht“, wehrt Genscher ab. Abgeordnete, die auch in der „Abwegig“ nennt Dregger „die Vorstel- nächsten Legislaturperiode dem 8 Sterne lung, wir hätten uns viel Zeit geleistet, dar- Bundestag angehören wollen seit 1969 im Bundestag über zu sprechen oder auch nur das Be- 8 Sterne dürfnis gehabt, uns auszutauschen.“ seit 1969 im Bundestag Nie wäre Dregger auf die Idee gekom- Gerhard Stoltenberg (CDU) 69 men, mit dem fast gleichaltrigen Ex-Jagd- wäre der dienstälteste Politiker flieger Heinrich Graf von Einsiedel, der Rudolf Seiters (CDU) 60 im Bundestag (erstmals 1957), wäre er nicht von 1971 bis 1994 als Parteiloser von der PDS für den vom 26.11.1991 bis 7.7.1993 1982 Ministerpräsident in Kiel Bundestag nominiert wurde, über das Bundesminister des Inneren gewesen Kriegsinferno zu reden, dem beide ent- kommen sind. Und auch der Graf, ein Ur- Erwin Horn (SPD) 68 – Dionys Jobst enkel des Reichsgründers Otto von Bis- (CSU) 70 – Christian Lenzer (CDU) 64 – marck, sähe darin wenig Sinn. Detlef Kleinert (FDP) 65 Albert Probst (CSU) 66 – Dieter Schulte Dregger „hielt die Front“ bis zum letz- Anton Pfeifer (CDU) 60 (CDU) 56 – Dietrich Sperling (SPD) 64 – ten Kriegstag. Der 1942 in russische Ge- Egon Susset (CDU) 68 – Wolfgang Vogt (CDU) 68 – Jürgen Warnke (CSU) 65 fangenschaft geratene Einsiedel schloß sich 7 Sterne in Moskau dem „Nationalkomitee Freies seit 1972 im Bundestag Deutschland“ an und rief die deutsche Ar- 7 Sterne seit 1972 im Bundestag mee zur Meuterei gegen Hitler auf. Für Dregger war es eine „Ehrenpflicht“, unter Herta Däubler-Gmelin Einsatz seines Lebens den Rückzug zu si- (SPD) 54 Otto Graf Lambsdorff chern. Für Einsiedel war die Wehrmacht (FDP) 71 eine „tragende Säule des NS-Staates“; er von 1977 bis 1984 fühlt sich heute noch schuldig, „weil ich um Bundesminister für Wirtschaft die Verbrechen wußte und trotzdem in Hit- lers Luftwaffe weitergeflogen bin“. Norbert Blüm (CDU) 62 – Manfred Der parteilose Graf will wieder für die Carstens (CDU) 54 – Karl-Heinz Hornhues Peter Conradi (SPD) 65 – Alfred Dregger PDS kandidieren. Wenn die ihn aufstellt, (CDU) 58 – Jürgen W. Möllemann (FDP) 52 – (CDU) 77 – Uwe Jens (SPD) 62 – Karl-Hans was keineswegs sicher ist, da sie dem Anti- Willfried Penner (SPD) 61 – Wolfgang Laermann (FDP) 68 – Günter Schluckebier stalinisten und DDR-Kritiker mißtraut. Schäuble (CDU) 55 – Carl-Dieter Spranger (SPD) 64 – Hans Peter Schmitz (CDU) 60 – (CSU) 58 – Theo Waigel (CSU) 58 Wenn die Gysi-Truppe mit ihm erneut in Horst Waffenschmidt (CDU) 64 den Bundestag einzieht, wird Einsiedel aller der spiegel 1/1998 41 Deutschland Zeit der Hitler-Diktatur „Verrat“ und was Hirsch wird „das Bild nicht los“, wie ei- „Verbrechen“ war, darüber wird vermut- ner seiner Klassenkameraden, der von ei- lich auch künftig im Bundestag gestritten. nem Splitter erwischt worden war, „auf Aber anders. Wie kann Betroffenheit einer Bahre tot an mir vorbeigetragen wur- entstehen, wenn die Betroffenen nicht de, mit herunterhängendem Arm“. Und er mehr im Saal sind, wie Anteilnahme ohne sieht vor sich die jüdische Frau mit dem die Beteiligten? Eine Debatte wie jene über gelben Stern, die sich an der Straße an ihm die umstrittene Wehrmachts-Ausstellung, vorbeidrückt. Als der Krieg zu Ende war bei der sogar die Zuschauer am Fernseh- und die ersten Augenzeugen heimkehrten, schirm merken konnten, daß es den Red- die von Massakern an den Juden hinter nern um ihre eigene Geschichte ging, ist der Ostfront berichteten, fühlte er sich „be- kaum noch vorstellbar. troffen, verschmutzt, verachtet“. Gewiß wird die Debatte über Schuld Nach diesen Erfahrungen erschienen der und Mitschuld der Deutschen an Holocaust Frieden und die solide Nachkriegsrepublik und Kriegsverbrechen auch dann noch tatsächlich wie ein Geschenk. Haben wir fortgesetzt werden, wenn die letzten Zeit- nicht „fast die beste aller Zeiten gehabt“? zeugen verschwunden sind. Aber vermut- fragt der gerade 65 gewordene Conradi. lich geschäftsmäßiger, emotionsloser, ab- „Ich bin aufgewachsen in den goldenen strakter – und langweiliger. Jahren und habe den miefigen Staat Persönliche Erfahrungen bekämpft“, erinnert sich der mit der Nazi-Diktatur an der SPD-Linke. Welche andere Front und daheim