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Plenarprotokoll 13/52

Deutscher

Stenographischer Bericht

52. Sitzung

Bonn, Donnerstag, den 7. September 1995

Inhalt:

Zur Geschäftsordnung Dr. Uwe Jens SPD 4367 B Dr. Peter Struck SPD 4394B, 4399A Dr. Otto Lambsdorff F.D.P. . . . 4368B Joachim Hörster CDU/CSU 4395 B Kurt J. Rossmanith CDU/CSU . . . 4369 D () BÜNDNIS 90/DIE Dr. Norbert Blüm, Bundesminister BMA 4371 D GRÜNEN 4396 C Rudolf Dreßler SPD 4375 B Jörg van F.D.P. 4397 C Eva Bulling-Schröter PDS 4397 D Dr. F.D.P 4378 A (Bremen) BÜNDNIS 90/ Tagesordnungspunkt 1 (Fortsetzung): DIE GRÜNEN 4379 C a) Erste Beratung des von der Bundesre- Hans-Joachim Fuchtel CDU/CSU . . . 4380 C gierung eingebrachten Entwurfs eines Rudolf Dreßler SPD 4382A Gesetzes über die Feststellung des Annelie Buntenbach BÜNDNIS 90/DIE Bundeshaushaltsplans für das Haus- GRÜNEN 4384 A haltsjahr 1996 (Haushaltsgesetz 1996) (Drucksache 13/2000) Dr. Gisela Babel F.D.P 4386B Manfred Müller (Berlin) PDS 4388B b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Finanzplan des Bun- Ulrich Heinrich F D P. 4388 D des 1995 bis 1999 (Drucksache 13/2001) SPD 4390 A Dr. Günter Rexrodt, Bundesminister BMWi 4345 B Dr. Norbert Blüm CDU/CSU 4390 D - Ernst Schwanhold SPD . . . . 4346D, 4360 B CDU/CSU 43928 (Köln) SPD 4349 A Dr. Jürgen Rüttgers, Bundesminister BMBF 4399B Dr. F.D.P. . . . 4352A Doris Odendahl SPD 4401 D Birgit Homburger F D P. 4352 C Günter Rixe SPD 4401 D Ernst Hinsken CDU/CSU 4352B, 4370D, 4377 C Dr. SPD 4403 C Kurt J. Rossmanith CDU/CSU 4354 C Steffen Kampeter CDU/CSU 4406 C Margareta Wolf (Frankfurt) BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 4357 C Dr. Peter Glotz SPD 4407 D Dr. F.D.P. 4359A Jürgen Koppelin F.D.P. . . 4408B, 4467A Rolf Kutzmutz PDS 4361 A Dr. Manuel Kiper BÜNDNIS 90/DIE GRÜ PDS 4362 C NEN 4409D SPD 4363 A Steffen Kampeter CDU/CSU 4410A Rainer Haungs CDU/CSU 4363 B BÜNDNIS 90/DIE Anke Fuchs (Köln) SPD . . . . 4364B, 4369A GRÜNEN 4410B Hans Büttner (Ingolstadt) SPD . 4365B, 4393 A Wolf-Michael Catenhusen SPD . • . 4411C Uwe Hiksch SPD 4365 D Dr. F.D.P. . . . 4412D II Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 52. Sitzung. , Donnerstag, den 7. September 1995

Maritta Böttcher PDS 4414C, 4432 B Klaus Kirschner SPD 4445C, 4448D Dr. Gerhard Friedrich CDU/CSU . . . 4416A Peter DreBen SPD 4446 A Dr. Manuel Kiper BÜNDNIS 90/DIE Dr. PDS 4447 B GRÜNEN 4416B CDU/CSU 4448 B SPD 4418B Gudrun Schaich-Walch SPD 4450p Dr. Jürgen Rüttgers CDU/CSU . . . 4420 D , Bundesminister BML 4452 A , Parl. Staatssekretärin Dr. Peter Struck SPD 4453B, 4463 D BMFSFJ 4422 A Horst Sielaff SPD 4454 C Edelgard Bulmahn SPD 4422 B Norbert Schindler CDU/CSU 4456 A Hanna Wolf (München) SPD 4424 C Egon Susset CDU/CSU 4457 C CDU/CSU . 4426 B Horst Sielaff SPD 4458 B Peter Jacoby CDU/CSU 4427 A (Nordstrand) CDU/CSU 4428 C CDU/CSU 4458C, 4463 B Ingrid Holzhüter SPD 4428D, 4431 D Ulrike Höfken BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Matthias Berninger BÜNDNIS 90/DIE NEN 4458D GRÜNEN 4429 B Ulrike Höfken BÜNDNIS 90/DIE GRÜ Cornelia Schmalz-Jacobsen F.D.P. . . 4430 D NEN 4460A Walter Link (Diepholz) CDU/CSU . . . 4433 A Jürgen Koppelin F.D.P 4461 C Hanna Wolf (München) SPD 4433 B Jochen Borchert CDU/CSU . . 4463A, 4464 A Klaus Hagemann SPD 4434 B Dr. Günther Maleuda PDS 4464 C , Bundesminister BMG . 4436 C CDU/CSU 4465 C Klaus Kirschner SPD 4439 A Ilse Janz SPD 4466 C Angelika Pfeiffer CDU/CSU 4441 C Nächste Sitzung 4468 C Marina Steindor BÜNDNIS 90/DIE GRÜ NEN 4443 C Jürgen W. Möllemann F.D.P...... 4445.A Anlage Horst Seehofer CDU/CSU 4445 C Liste der entschuldigten Abgeordneten . 4469* A

- Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 52. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. September 1995 4345

52. Sitzung

Bonn, Donnerstag, den 7. September 1995

Beginn: 9.00 Uhr

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Liebe Kolleginnen Lohnsteigerungen und der Höherbewertung der und Kollegen! Ich eröffne die Sitzung. D-Mark, auch der Steuererhöhungen. (Ernst Schwanhold [SPD]: Wer hat die denn Wir setzen die Haushaltsberatungen - Tagesord- gemacht?) nungspunkt i - fort: Das alles geht do rt ein. a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über Aber es ist unbestritten, daß wichtige Faktoren für die Feststellung des Bundeshaushaltsplans für die Fortsetzung der Aufwärtsentwicklung auch in das Haushaltsjahr 1996 den nächsten Jahren sprechen. Die Preise sind und bleiben stabil, das Wachstum ist weiterhin span- (Haushaltsgesetz 1996) nungsfrei. Die Kapazitätsauslastung in der Industrie - Drucksache 13/2000 - ist bis zuletzt deutlich gestiegen, und das wird die In- vestitionstätigkeit der Unternehmen anregen. Die Überweisungsvorschlag: Entlastungen durch das Jahressteuergesetz und der Haushaltsausschuß Wegfall des Kohlepfennigs werden den p rivaten Ver- b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundes- brauch anregen. Die jüngste geldpolitische Entschei- regierung dung der Bundesbank hat die Bedingungen für an- haltend niedrige Zinsen weiter verbessert. Der Dol- Finanzplan des Bundes 1995 bis 1999 larkurs normalisiert sich. - Drucksache 13/2001 - Das Fazit daraus lautet: Die wi rtschaftliche Ent- Überweisungsvorschlag: wicklung setzt sich mit Aufwärtstrend fo rt. Haushaltsausschuß (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Wir kommen zunächst zum Geschäftsbereich des Aber, meine Damen und Herren, am Arbeitsmarkt Bundesministeriums für Wirtschaft; das ist der Einzel- gibt es keine Entwarnung. Wir stehen vor großen plan 09. Das Wort hat der Bundesminister für Wi rt Herausforderungen und müssen dicke Bretter boh- -schaft, Dr. Günter Rexrodt. ren. Wir müssen endlich die ha rten Themen ange- hen, um mit der Arbeitslosigkeit fertig zu werden, und das tun wir. Dr. Günter Rexrodt, Bundesminister für Wirt -schaft: Frau Präsidentin! Meine Damen und Her- Der Aufschwung ist kein Selbstläufer. Wir werden ren! Die deutsche Wirtschaft befindet sich weiter- im Herbst die gesamtwirtschaftliche Projektion für hin auf Wachstumskurs. Das Expansionstempo hat 1995 und 1996 auf der Basis dann vorliegender Daten sich allerdings verlangsamt. Aber es geht weiterhin überprüfen und aktualisieren. kräftig und stetig aufwärts. Auf dem Niveau, das die deutsche Wirtschaft hat, bedeutet ein reales Mir liegt viel daran, darauf hinzuweisen, daß in Wachstum von 2,6 % einen Zuwachs an Gütern den neuen Ländern der kräftige Aufwärtstrend un- und Dienstleistungen gegenüber dem ersten Halb- gebrochen ist. Die Menschen nehmen dort den Auf- jahr 1994 von rund 90 Milliarden DM. Das ist ein bau zunehmend auch selbst in die Hand. Dennoch ist kräftiges und darüber hinaus ein stetiges Wachs- erst die Hälfte des Weges zu einer modernen Indu- tum. strie- und Dienstleistungsgesellschaft geschafft. Die neuen Länder brauchen und erhalten auch weiterhin (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) unsere Unterstützung. Daß die Erwartungen nicht voll erfüllt sind, meine Mit dem Jahressteuergesetz und dem vorliegen- Damen und Herren, hat mehrere Ursachen. Hier zei- den Haushaltsentwurf trägt die Bundesregierung al- gen sich die Bremsspuren der unerwartet hohen lerdings dem Grundsatz Rechnung, daß die Transfer- 4346 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 52. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. September 1995

Bundesminister Dr. Günter Rexrodt zahlungen und die Hilfen konzentriert werden und Sie sprechen von Privatisierung und tun da, wo Sie degressiv angelegt sein müssen. Die Konzentration Verantwortung tragen, in Ländern und Gemeinden, erfolgt auf das verarbeitende Gewerbe und da insbe- nichts dafür. sondere auf den Mittelstand. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Dann ist es doch kein Wunder, daß Sie Kritik auch Noch in diesem Monat werde ich einen Bericht vor- aus den eigenen Reihen bekommen. legen, der eine Bilanz der wi rtschaftlichen Entwick- lung der fünf Jahre nach der Wiedervereinigung für Ich habe im übrigen, wenn ich das einmal so sagen die neuen Länder aufzeigt. darf, von Herrn Schröders ökonomischem Sachver- stand nie viel bemerkt. Er ist ein Selbstdarsteller mit Meine Damen und Herren, wenn ich mir die Wi rt dem Gespür für die richtige Windrichtung. -schaftspolitik der SPD und die Diskussion um die Wirtschaftspolitik innerhalb der SPD ansehe, dann (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: weiß ich nicht, ob ich weinen oder lachen soll. Aber nicht bei der SPD!) (Zuruf von der CDU/CSU: Weinen! - Zuruf Da halte ich dann schon sehr viel mehr von Leuten von der SPD: Bei Ihrer Politik sollten Sie im wie Herrn Spöri, und diesen zitiere ich dann auch mer weinen!) gern, wenn er Ihnen die richtige Lektion für moderne Wirtschaftspolitik liest. - Sie geben mir die Antwort: Wenn man Ihre Politik Die meisten von Ihnen hier bei der SPD in Bonn ansieht, muß man eher weinen. Sie fordern eine Wi rt -schaftspolitik zur Erhaltung und Schaffung von Ar- wollen noch nicht wahrhaben, daß wir bei den The- men Umbau der Sozialsysteme, Neuorganisation der beitsplätzen. Dabei beschreiben Sie im Grunde - das sagen Sie ja auch selbst - die gleichen Handlungsfel- Arbeit und Deregulierung viel mehr tun müssen, als der, auf denen etwas getan werden muß, wie wir. nur kosmetische Eingriffe vorzunehmen. (Beifall bei der F.D.P.) (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Aber Sie tun nichts!) Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Minister, ge- Ihr Dilemma besteht nur in folgendem, und da wir- statten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten ken Sie dann immer wieder inkonsequent, auch in Schwanhold? den Augen der Öffentlichkeit: (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: Dr. Günter Rexrodt, Bundesminister für Wirtschaft: Sie sind inkonsequent!) Ja, bitte. Sobald es darum geht, die Rezepturen, die Instru- mente für eine solche Politik zu finden, schrecken Sie Ernst Schwanhold (SPD): Herr Minister Rexrodt, vor Ihrer eigenen Courage zurück. nachdem Sie sich auf die Gemeinden bezogen ha- (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Was heißt das ben, würde ich Sie sehr gern bitten, mir doch eine denn?) Gemeinde zu nennen, in der die F.D.P. die Gelegen- heit hat, die Bürokratie abzubauen. In der Forschungspolitik sind Sie halbherzig und (Heiterkeit und Beifall bei der SPD) zerstritten, (Wolf-Michael Catenhusen [SPD]: Was? So Bundesminister für Wirtschaft: ein Quatsch!) Dr. Günter Rexrodt, Lieber Herr Schwanhold, leider gibt es nur - noch! - - so bei der Gentechnologie, in der Energiepolitik und wenige Gemeinden, wo wir in erster Verantwortung bei der Luft- und Raumfahrt. stehen.

In der Sozialpolitik sprechen Sie von zu hohen (Lachen bei der SPD und beim BÜNDNIS 90/ Lohnnebenkosten und erklären gleichzeitig die DIE GRÜNEN) wichtigsten Handlungsfelder zu Tabuzonen. Bei der Wenn wir das wären - und die Bürger werden sich Arbeitsorganisation setzen viele von Ihnen nach wie mehr und mehr in dieser Richtung entscheiden, auch vor auf blockweise Arbeitszeitverkürzung, ohne zu wenn Sie das nicht wollen -, bedenken, daß dadurch die Arbeit weiter verteuert wird und Arbeitsplätze abwandern. Erst langsam (Beifall des Abg. Dr. Wolfgang Weng [Ger dämmert es, daß nur Flexibilisierung weiterhilft. lingen] [F.D.P.] - Lachen bei der SPD) (Wolf-Michael Catenhusen [SPD]: Ach nee!) wäre die Situation anders. Sie bekennen sich, meine Damen und Herren, zu Herr Schwanhold, das war im übrigen ein sehr weniger Bürokratie und lassen eben da, wo der Bür- konstruktiver Beitrag, um von Ihrer Verantwortung ger mit der Bürokratie konfrontiert wird, in Ländern in Ländern und Gemeinden abzulenken. und Gemeinden, die Bürokratie überborden. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU - (Lachen und Widerspruch bei der SPD) Zuruf von der CDU/CSU: Ja, das ist wahr!) Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 52. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. September 1995 4347

Bundesminister Dr. Günter Rexrodt In den Ländern, wo Sie die Verantwortung tragen, Hier sind die Unternehmen gefordert, alle betriebli- sind die Landesbanken damit befaßt, ganze Indu- chen Möglichkeiten auszuschöpfen, um in Deutsch- strieimperien aufzubauen, zusammenzukaufen, in land weiter wettbewerbsfähig produzieren zu kön- denen Sie dann mit staatlicher Gängelung Industrie- nen. politik machen, eine Industriepolitik, die immer in die Sackgasse führt. Auch Gipfeltreffen auf hoher Ebene, wo immer sie stattfinden, ändern nichts an den ökonomischen Zwängen, unsere Wettbewerbsfähigkeit an den Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Minister, ge- Weltmarkt anzupassen. statten Sie eine weitere Zwischenfrage des Abgeord- neten Schily? Jetzt muß der DASA-Vorstand - das muß deutlich gesagt werden - Vorschläge machen. Dem politi- Dr. Günter Rexrodt, Bundesminister für Wirtschaft: schen Druck - oder wie auch immer das gemeint sei, Nein, ich würde jetzt gern in meinem Gedanken- was dort in Vorlagen, die nicht abgestimmt sind und gang hier vorankommen. die Horrorszenarien beschreiben, erklärt wird - der Konzernführung wird sich die Bundesregierung je- (Beifall des Abg. Dr. Wolfgang Weng [Ger denfalls nicht unterwerfen. lingen] [F.D.P.]) (Beifall bei der F.D.P.) Wirtschaftspolitik, meine Damen und Herren, be- steht nicht da rin, Showveranstaltungen zu vollziehen Erst muß das Unternehmen seine Aufgaben machen. - hier im Bundestag nicht, Herr Schwanhold, und auch nicht draußen. Ich treffe da im übrigen nicht Ich füge aber auch hinzu, und das mit Blick auf nur SPD-Politiker, die sich von einem sogenannten Sie, meine Damen und Herren von der Opposition: Autogipfel eine Menge versprochen haben. Ich halte Wer militärische Flugzeugbeschaffung ablehnt, kann nichts von einer dera rt verfehlten Standortpolitik; ich sich nicht glaubhaft für die Erhaltung der Standorte bin für den Dialog mit Wirtschaft und Gewerkschaf- der Luftfahrtindustrie einsetzen. Das ist ein falscher ten. Standortegoismus. (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Dann fangen Sie Zweifelsohne ist die deutsche Luft- und Raum- mal an!) fahrtindustrie in einer schwierigen Situation, und schnelles Handeln ist geboten. Ich warne aber vor Ich warne vor der Fixierung von Staatszielen für Panikmache, ich warne vor blindem Aktionismus die Industrie, die so oft nicht erreicht wurden und die und übereilten Schuldzuweisungen. zu einem Grab für Steuermillionen geworden sind. Denken Sie an die Reaktorlinien, die wir gefördert Für Mitte Oktober habe ich die Indust rie und die haben, denken Sie an die Mikrochips und an die Ministerpräsidenten der betroffenen Länder erneut Raumtransporter. eingeladen, um mit ihnen gemeinsam die Hand- Die Wirtschaft selbst ist allemal besser in der Lage, lungsmöglichkeiten und Handlungsnotwendigkeiten unternehmerische Entscheidungen zu treffen. Dazu in den jeweiligen Verantwortungsbereichen zu erör- brauchen wir den Austausch mit Gewerkschaften tern. und Politik. Deshalb spricht die Bundesregierung in Während die SPD noch darüber streitet, wie sie ihren Standortdialogen mit allen Beteiligten in den ihre Wirtschaftspolitik titulieren soll, betroffenen Branchen. (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.) (Dr. Uwe Jens [SPD]: Modern!) Mit der Automobilindustrie haben wir bereits am hat die Bundesregierung längst ihren wirtschaftspoli- 15. März dieses Jahres ein ausführliches Gespräch tischen Fahrplan in Richtung Fitmachen des Stand- gehabt; im übrigen war die IG Metall dabei. Auch orts Deutschland festgelegt. Wir setzen u.- a. auf Fle- damals war das Dreiliterauto ein zentraler Punkt. Wir xibilisierung, auf weniger Bürokratie, auf Reduktion haben uns in die Investitionspläne und -entscheidun- der Kosten und Senkung der steuerlichen Belastun- gen der Indust rie nicht eingemischt. Wir haben auch gen. keine steuerlichen Subventionen für bestimmte Mo- toren zugesagt, wie das in Niedersachsen der Fall ge- Das heißt, im Herbst muß endgültig die Abschaf- wesen ist. fung der Gewerbekapitalsteuer beschlossen werden. Wir müssen endlich an die mittelstandsfreundliche Ein zweifelhafter Erfolg war auch die Einmischung Senkung der Gewerbeertragsteuer herangehen. von Herrn Schröder in die Diskussion um die Schlie- ßung des Standortes Lemwerder. Seine unbedingte Aber solche Verbesserungen für die Unternehmen Arbeitsplatzgarantie für dieses Werk gefährdet Ar- dürfen dann nicht durch eine, ich betone: falsch an- beitsplätze für die Lufthansawerft in . Die- gelegte Ökosteuer wieder zunichte gemacht werden. ser Standortegoismus darf sich nicht in die aktuelle Erst Steuern eintreiben und anschließend damit Diskussion um die Luft- und Raumfahrtstandorte ein- staatlich lenkend eingreifen, wie das im SPD-Kon- mischen. Das darf dort keine Wiederholung finden. zept der Fall ist, das ist kein wirtschaftspolitisch ver- nünftiger Ansatz. (Dr. Uwe Jens [SPD]: Das kommt doch nur daher, weil Sie sich zuwenig darum küm (Beifall des Abg. Dr. Wolfgang Weng [Ger mern!) lingen] [F.D.P.]) 4348 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 52. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. September 1995

Bundesminister Dr. Günter Rexrodt Ich bin ebenfalls für eine CO2-/Energiesteuer - das Der Zusammenhang zwischen Löhnen, Arbeitszeit habe ich auch in diesem Parlament gesagt -, um un- und Arbeitsplätzen ist evident. Die Tarifparteien ha- seren umweltpolitischen Zielen, die der Bundeskanz- ben hier große Aufgaben vor sich. Wir müssen als ler auf dem Weltklimagipfel in Berlin unterstrichen Staat, wenn dies notwendig ist, auch andere Rah- hat, Rechnung zu tragen. menbedingungen setzen.

- Das von uns entwickelte Konzept ist wettbewerbs Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zum und beschäftigungspolitisch verträglich. Um unsere Schluß beim Stichwort Flexibilität noch eines sagen: Wettbewerbsfähigkeit nicht zu gefährden, schließt Es freut mich, daß nun endlich auch in Ihren Reihen mein Konzept für den Fall des nationalen Allein- beim Thema Ladenschluß etwas Bewegung festzu- gangs die Selbstverpflichtung der Indust rie ein und stellen ist. Wir müssen uns von dem Märchen abwen- weiterhin, daß die enormen Investitionen, die damit den, daß verlängerte, flexiblere Ladenöffnungszeiten verbunden sind, angerechnet werden. keinen zusätzlichen Umsatz für den Handel bringen. Das ist eben nicht der Fall. Das Ifo-Institut spricht Unabdingbare Voraussetzung ist aber, daß minde- von 20 Milliarden DM. stens eine gleichgewichtige und auch zeitgleiche (Zuruf von der SPD: Das zusätzliche Geld Entlastung bei den Steuern stattfindet. Wir sollten geben Sie dann aus!) möglichst eine Vorleistung erbringen, etwas an die Bürger und die Unternehmen zurückgeben, um dann Zudem können 50 000 zusätzliche Arbeitsplätze im eine CO2-/Energiesteuer vereinbaren zu können, die Handel geschaffen werden. Das ist schlüssig. Unser einen Lenkungseffekt hat. geltendes Ladenschlußgesetz ist nicht länger zeitge- mäß; es paßt nicht zum Standort Deutschland - nicht (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne für die 90er Jahre und schon gar nicht für das näch- ten der CDU/CSU) ste Jahrhundert.

Bevor wir über weitere ökologische Steuerpläne Ich bin ja froh, daß bei Ihnen, wenn auch retardie- nachdenken, muß aus gesamtwirtschaftlichen Grün- rend, endlich Bewegung festzustellen ist. den glasklar festgelegt werden: Der Solidaritätszu- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) schlag muß abgebaut werden, und zwar so schnell wie möglich. Die F.D.P. hat dazu einen festen Fahr- Meine Damen und Herren, ich lade Sie ein, im plan vorgelegt. Dieser darf nicht an den Finanzegois- wohlverstandenen Interesse des Standorts Deutsch- men der Bundesländer scheitern. land mit der Bundesregierung gemeinsam moderne Wirtschaftspolitik zu machen. Dabei wünschte ich mir (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Das gibt aber Ko gerne Männer wie Hermann Rappe als Kontrahenten alitionsstreit! Der Bundeskanzler hat etwas und Partner auf der Seite der Gewerkschaften. anderes gesagt!) (Ernst Schwanhold [SPD]: Wann sagen Sie - Jeder hat dabei seine Vorstellung. Alle in der Koali- denn etwas dazu?) tion sind der Auffassung, daß das eine Steuer ist, die Ich zitiere aus seiner Rede bei der Eröffnung des vorübergehender Art ist, und daß sie abgebaut wer- Gewerkschaftstages der IG Chemie in Hannover am den muß. Wir als F.D.P. dringen mit großem Nach- Montag. Er hat gesagt: druck darauf, daß der Solidarzuschlag so schnell wie möglich verschwindet. Wir müssen unter Beachtung unserer Grundwer- te unsere Positionen, aber auch unsere Verant- (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne wortung für die Gestaltung unserer Wirtschafts- ten der CDU/CSU) und Gesellschaftsordnung deutlich machen, und wir müssen uns gleichzeitig den Veränderungen Meine Damen und Herren, heute vormittag, wäh- in der Welt und in Europa stellen. - rend wir debattieren, hat die Bundesanstalt für Ar- Meine Damen und Herren von der Opposition, las- beit die Arbeitsmarktzahlen für August bekanntge- geben. Diese Zahlen sind nicht gut, sie sind sogar sen Sie uns in diesem Sinne die Zukunft bejahen und positiv denken. Ziehen Sie Ihre Mundwinkel hoch, schlechter als erwartet. Die Arbeitslosigkeit hat sich nur leicht verringert; saisonbereinigt hat sie sich so- (Lachen bei der SPD) gar erhöht. und freuen Sie sich über ein erfolgreiches und geein- Dies zeigt, daß sich uns auf dem Sektor Arbeits- tes Deutschland. marktpolitik noch riesige Herausforderungen stel- Ich danke Ihnen. len. Wir alle wissen, daß die Arbeitslosigkeit struktu- rell bedingt ist, daß keiner einen Königsweg kennt - (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) auch Sie nicht, niemand kennt ihn. Wir müssen dicke Bretter bohren. Dazu gehört das, was ich gerade ge- Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als nächste spricht sagt habe: Flexibilisierung der Arbeitswelt, Deregu- unsere Kollegin Anke Fuchs. lierung, Abbau von Steuern und Abgaben sowie der Umbau der Sozialsysteme. (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Jetzt müssen Sie immer (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne „cheese" sagen und Ihre Mundwinkel ten der CDU/CSU) hochziehen!) Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 52. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. September 1995 4349

Anke Fuchs (Köln) (SPD): Frau Präsidentin! Meine fer hört, muß man zu dem Ergebnis kommen: Das ist Damen und Herren! An meiner Fröhlichkeit brau- in der Tat eine klägliche Veranstaltung, meine chen Sie keinen Zweifel zu haben, Herr Kollege Rex- Damen und Herren. Das ist keine zukunftsorientierte rodt. Politik mehr. (Bundesminister Dr. Günter Rexrodt: Das ist (Beifall bei der SPD) gut, Frau Kollegin Fuchs!) Als ich Herrn Rexrodt eben zugehört habe, wurde ich auch nicht gerade frohgemut. Ihretwegen fange Daß Politik Spaß macht, weiß ich auch; deswegen ich nicht an zu lächeln, stehe ich hier. Sie werden an mir eine unverbesserli- che Optimistin haben, keine Sorge. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD - Dr. Otto Graf Lambs- sondern ich fange an zu lächeln, weil ich versuchen dorff [F.D.P.]: Den Optimismus brauchen Sie will darzustellen, wo die Handlungsfelder liegen. Sie auch! - Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: sagen uns, wir nennen die richtigen Handlungsfel- Ihr Zwischenruf hat gestern Spaß gemacht! der. Von Ihnen würden wir gerne endlich mal Taten Das ist wahr!) sehen, wenn Sie soviel rumschwadronieren. Tun Sie doch endlich etwas, damit endlich Gestaltungskraft Wir reden heute über Wirtschaftspolitik. Das war sichtbar wird. eben eine traurige Vorstellung, meine Damen und Herren. Wenn Sie schon wieder einmal Herrn Spöri (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne zitieren wollen, dann übernehmen Sie doch bitte für ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) die Bundesebene sein hervorragendes Programm zur Ich bin schon überrascht - das ist in diesen Tagen Hilfe für kleine und mittlere Unternehmen, um die- des öfteren angesprochen worden -, wie locker vom sen bei Liquiditätsproblemen zu helfen, damit sie Hocker der Wirtschaftsminister die Arbeitslosenzah- nicht pleite gehen, sondern weiterarbeiten können. len zur Kenntnis nimmt (Beifall bei der SPD) (Zurufe von der SPD: Ja!)

Wenn Sie schon Hermann Rappe zitieren, dann und überhaupt kein Konzept dafür entwickelt, was bitte auch jenen Satz, in dem er beklagt, daß wir in wir in dieser Gesellschaft tun können, um Massenar- unserer Gesellschaft im Augenblick die Unterneh- beitslosigkeit nicht in Kauf zu nehmen. Wir wissen mer in ihrer sozialen Verantwortung unterfordern. doch alle, daß Massenarbeitslosigkeit das Teuerste Er mahnt mehr soziale Verantwortung der unterneh- ist, was wir uns leisten können, abgesehen von den merischen Wirtschaft an. Das ist Hermann Rappe, Folgen für die Familien und für die Menschen. und so handelt er auch richtig, meine Damen und Auch ich habe kein Patentrezept, um Arbeitslosig- Herren. keit zu bekämpfen, aber die Zusammenfassung aller Politikbereiche, von Wirtschafts-, Finanz- und Sozial- (Beifall bei der SPD) politik muß beschäftigungsorientiert sein. Deswegen Ich habe mich in der Vorbereitung zu dieser Rede müssen wir doch alle Instrumente daraufhin überprü- nicht nur mit dem eh mageren Haushalt des Wirt fen, ob sie in Anbetracht der Globalisierung der rtschaftspolitik ist-schaftsministers beschäftigt. Wi Weltmärkte, für unsere Wirtschaft nützlich sind und doch eine Gesamtpolitik. Ich habe bei Herrn Wiss- dazu führen, daß Männer und Frauen durch Arbeit mann, bei Frau Merkel, bei Herrn Bötsch und bei ihren Lebensunterhalt verdienen können, meine Da- Herrn Töpfer zugehört. Die Antwort auf die Frage, ob men und Herren. es eine wirtschaftspolitische Gestaltungsfähigkeit (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne dieser Regierung gibt, ist für mich: nein. Sie haben ten der PDS) alle das Aussitzen des Bundeskanzlers verinnerlicht, - meine Damen und Herren, warten ab und begrün- Da tun Sie nichts. Sie nehmen Massenarbeitslosig- den kläglich, warum Sie sparen müssen, und dann keit in Kauf, weil es Ihnen eigentlich egal ist. Hier noch in die falsche Richtung. liegt der grundlegende Unterschied zu uns: Sie set- zen auf Sozialabbau. Herr Rexrodt hat in dieser Som- (Beifall bei der SPD) merpause in rasanter Einfalt über Sozialpolitik gere- det. Ich will das gar nicht alles wiederholen; Sie ha- Das ist keine zukunftsorientierte, keine beschäfti- ben es gelesen. Nicht, was er da sagt, aber welche gungsorientierte Wirtschaftspolitik. Wenn man be- Geisteshaltung dahintersteht, ist das, was mich be- denkt, wie wichtig eine beschäftigungsorientierte, wegt, daß man wirklich nichts beg riffen hat. zukunftsorientierte Verkehrspolitik ist, ist man ent- täuscht von dem, was Herr Wissmann gesagt hat. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne Wenn man daran denkt, daß Frau Merkel eigentlich ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) unseren Weg der ökologischen Erneuerung mitge- Sie sollten einmal Hermann Rappe zu sich holen, da- hen müßte, ist es Kleinkram, was sie hier erzählt hat. mit er Ihnen erzählt, was aus der Sicht der Menschen Wenn man bedenkt, wie wichtig es gerade jetzt, in in unserem Lande Sozialstaat und Wi rtschaftspolitik dieser konjunkturellen Situation, wäre, den Woh- miteinander zu tun haben, welchen Produktivitäts- nungsbau zu forcieren, statt ökonomisch unsinnig zu faktor dies darstellt. reduzieren, und über den Wohnungsbau der Bau- wirtschaft auch weiterhin zu helfen, und Herrn Töp- (Beifall bei der SPD) 4350 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 52. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. September 1995 Anke Fuchs (Köln) Die Globalisierung der Märkte und die Herausfor- ses ganzen Teufelskreises ist die Frage: Wie schaffen derungen, die wir alle kennen, die auch zu Umden- wir es, vernünftige, beschäftigungsorientierte Politik ken und neuen Instrumenten führen müssen, dürfen zu machen? Da sind doch Sie gefordert, Herr Rex- doch nicht von dem Bild begleitet sein: erst mal So- rodt, mit ganz praktischen Beispielen zu mehr Be- zialabbau, Armut in Kauf nehmen. Die Menschen schäftigung beizutragen. Das heißt, wir brauchen kommen in zweiter Linie. Das kann nicht das Ergeb- endlich die Entsenderichtlinie, damit portugiesische nis der Gestaltungskraft dieser Gesellschaft sein, Bauarbeiter nicht billiger arbeiten können als deut- meine Damen und Herren. sche Bauarbeiter.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Wolf ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN gang Bierstedt [PDS]) und der PDS) Wir brauchen die Bekämpfung von illegaler Beschäf- Dahinter steckt - das sagt Herr Schäuble immer tigung; wir brauchen die Bekämpfung von Schwarz- wieder - die Auffassung von einer Vollkaskomentali- arbeit. Wenn Sie mit mir auch nur ein Wort über La- tät, von vorhandener Risikoscheu. Nun ist ihm etwas denschluß reden wollen, dann tue ich das erst dann, ganz Tolles eingefallen - auch der Bundeskanzler wenn Sie die Geringfügigkeitsgrenze abgeschafft selbst hat gestern davon gesprochen -: Wir wollen haben und wir ordentliche Teilzeitarbeitsplätze in Mißbrauch verhüten. - Das finde auch ich gut. Ich diesem Lande organisieren können, bin gegen jeden Mißbrauch. Ich bin auch dagegen, daß Sozialhilfe mißbraucht wird. Es war aber für (Beifall bei der SPD) mich hochinteressant, daß der Bundeskanzler dann sagte, er sei auch gegen Mißbrauch in Form von damit 4 Millionen Frauen die Chance haben, sich Steuerhinterziehung. durch ihre Verdienste eine soziale Sicherung aufzu- bauen. Meine Damen und Herren, wenn es darum geht, Sozialhilfemißbrauch zu bekämpfen, wird eine rie- (Dr. Hermann Otto Solms [F.D.P.]: Da sind sige Gesetzgebungsmaschinerie in Gang gesetzt. Sie doch wieder völlig auf dem falschen Aber auch in bezug auf Steuerhinterziehung habe Dampfer! Die Abschaffung der Geringfü ich noch keine Handlung dieser Bundesregierung gigkeitsgrenze führt zu Schwarzarbeit! - Jo gesehen. seph Fischer [Frankfu rt] [BÜNDNIS 90/DIE (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das schützt doch auch Sie, GRÜNEN und der PDS) wenn die Geringfügigkeit abgeschafft wird!) Das ist der zweite Teil Ihrer Geisteshaltung - Herr Hintze, ich gucke Sie jetzt an -: Sie unterfordern da- Daß das nicht geschieht, nehmen Sie alle in Kauf. mit auch die unternehmerische Wirtschaft. Sie lassen Deswegen kann man Ihre Politik eigentlich nicht zu, daß sie sich aus der sozialen Verantwortung zieht, ernst nehmen. wie Hermann Rappe zu Recht beklagt. Wir lassen zu, daß die unternehmerische Wirtschaft nur mit dem Sie sagen: Die Sozialhilfe ist zu teuer. Ihre Philoso- Thema Lohnnebenkosten- und Steuersenkung die phie ist: Obwohl Massenarbeitslosigkeit - 3,6 Millio- wirtschaftspolitische Debatte bestreitet. Dabei müs- nen Menschen - herrscht, obwohl wir also keine sen wir von Ihnen Äußerungen darüber erwarten, Arbeitsplätze haben, wollen Sie den Anreiz zur wie Sie sich die Zukunft vorstellen, welche Instru- Arbeitsaufnahme erhöhen. Das heißt im Klartext: Wir mente Sie anzubieten haben, um mit gemeinsamen haben zwar keinen Arbeitsplatz; wenn du aber dem Mitteln die wirtschaftspolitischen Herausforderun- Anreiz nicht folgst, einen Arbeitsplatz anzunehmen - gen zu bestehen. den wir gar nicht haben -, streiche ich dir Sozial- hilfe. - Stellen Sie sich das einmal vor! Wir haben kei- (Beifall bei der SPD - Ernst Hinsken [CDU/ nen Arbeitsplatz anzubieten, aber der -Anreiz zur CSU]: Das hat doch Herr Rexrodt vorhin ge Arbeitsaufnahme soll verstärkt werden! Und wenn sagt!) man dem nach irgendwelchen Statistiken oder irgendwelchen Aufforderungen nicht nachkommt, - Herr Kollege, wenn das, was Herr Rexrodt dazu ge- wird die Sozialhilfe gestrichen. sagt hat, alles sein soll, dann gute Nacht, Deutsch- land. Mit einer solchen Wirtschaftspolitik werden Sie Nein, meine Damen und Herren, so kann es nicht die Zukunft nicht gestalten können. gehen. Es geht darum, Arbeitsplätze zu schaffen, (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ nicht die Arbeitslosen zu bekämpfen, sondern die Ar- DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der beitslosigkeit. PDS) (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Sie nehmen die Arbeitslosigkeit in Kauf. Ja, Sie Wolfgang Bierstedt [PDS]) nehmen in Kauf, daß wiede rum Sozialabbau das ein- zige Ziel ist. Da komme ich zu dem Schluß, daß Sie Ich will mich heute bei meinem kurzen Diskussi- dies ohne uns machen müssen. onsbeitrag nicht bei diesem Thema aufhalten. Ich will aber den Wirtschaftspolitikern - einige kennen Sie sagen: Sozialhilfe ist zu teuer. - Sie ist deswe- mich aus dem Ausschuß - noch einmal mit Nach- gen zu teuer, meine Damen und Herren, weil wir druck sagen: Die Beschäftigungsorientierung der keine Arbeitsplätze anzubieten haben. Der Ke rn die- Wirtschaftspolitik ist das zentrale Problem. Immer Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 52. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. September 1995 4351

Anke Fuchs (Köln) darüber hinwegzusehen und zu sagen, das werde Wir wollen das Thema „Arbeit und Umwelt" - die sich alles hinschuckeln, wird nicht ausreichen, um Debatte der letzten Jahre - endlich realisieren, das diese Kernfrage für unser Land wirklich vernünftig was wir doch alle immer sagen: Arbeit muß billiger zu diskutieren. werden, die Inanspruchnahme der Umwelt muß ver- teuert werden. Wenn wir Arbeit billiger machen wol- Ich habe gesagt: Wir unterfordern die soziale Ver- len, dann könnten wir damit anfangen, daß wir die antwortung der unternehmerischen Wi rtschaft. Ich Arbeitslosenversicherungsbeiträge senken: für Ar- glaube, wir unterfordern auch uns selbst. Der Bun- beitnehmer wie für Arbeitgeber. deskanzler hat ja von der Elite geredet. Das kommt mir immer ein bißchen komisch vor. Ich glaube, er (Dr. Hermann Otto Solms [F.D.P.]: Umvertei meint damit die Wirtschaftsbosse. Ich will das einmal len!) aufnehmen. Auch die Wirtschaftsbosse in unserem - Wir wollen die Arbeitslosenversicherungsbeiträge Land sind doch unterfordert, weil man ihnen nicht senken, Herr Kollege, herunterziehen. abverlangt, mit uns zusammen die Fragen zu beant- worten: Wie soll dieser Wirtschaftsstando rt in Zu- (Dr. Hermann Otto Solms [F.D.P.]: Wer be kunft aussehen? Welche Werte legen wir zugrunde? zahlt es denn dann?) Welche Richtung wollen wir angeben? Wir wollen, daß die Arbeitsmarktpolitik auf neue Ich denke, die Menschen warten darauf, daß mit Füße gestellt wird. Seit Jahren, meine Damen und neuen Ideen und gebündelter Kreativität Reformvor- Herren, sagen wir, daß es nicht angehen kann, daß haben vorgetragen werden. Ich glaube, man kann Arbeitsmarktpolitik allein aus Beitragsmitteln finan- dieses an dem Thema „Arbeit und Umwelt" deutlich ziert wird. machen. (Beifall bei der SPD) Ich will nun nicht den Eindruck erwecken, als ob Eine beschäftigungsorientierte Wirtschaftspolitik for- die ökologische Modernisierung der Industriege- dert auch finanzielle Unterstützung des Staates. Des- sellschaft - ich sage dazu einfach: Arbeit und Um- wegen ist es richtig, wenn die Bundesanstalt bere- welt - das Patentrezept sei. Tun wir bitte nicht so, als chenbar und zuverlässig Staatsmittel bekommt, um ob wir in diesem schwierigen Feld ein Patentrezept ihre wichtige, begleitende, innovative Arbeitsmarkt- hätten, das die ganzen Probleme löst, so wie Sie im- politik auch finanzieren zu können. Also senken wir mer behaupten: Wenn wir alle länger arbeiten, las- die Arbeitslosenversicherungsbeiträge und statten sen sich die Probleme schon lösen. Das ist ja nicht die Bundesanstalt für Arbeit entsprechend aus. wahr! Wir brauchen hier einen „policy mix ", wir (Dr. Hermann Otto Solms [F.D.P.]: Und erhö brauchen, um es mit zu sagen, so viel hen die Steuern!) Staat wie nötig und so viel Markt wie möglich. Das muß man dann mit Blick auf die Herausforderungen Davon haben auch die Rentner Vorteile, weil durch der Zeit, in der wir sind, variieren. die nettolohnbezogene Anpassung der Renten auch deren Einkommen steigen kann. (Beifall bei der SPD) Wie wollen wir das finanzieren? - Sehr richtig, Eine der Herausforderungen ist, daß wir die Wei- Herr Kollege: Wir wollen es durch eine Stromspar- chen in Richtung ökologische Erneuerung stellen steuer sowie eine moderate Anhebung der Mineral- müssen. Warum? - Weil da unsere Zukunftschancen ölsteuer finanzieren, die auch Herr Rexrodt durchaus liegen, weil wir auf diese Weise mit intelligenter will. Technik, mit vernünftigen Produktionsweisen etwas (Beifall bei der SPD) für die Umwelt tun können und trotzdem unsere Wettbewerbsfähigkeit und Standortfähigkeit verbes- Sich angesichts des Wegfalls des Kohlepfennigs da- sern können. Das ist doch das, was die Menschen be- für auszusprechen, daß Strom noch billiger- werden wegt. Die wissen doch, daß es mit der Umweltpolitik soll, ist doch geradezu unsinnig, meine Damen und so nicht weitergehen kann. Sie wissen, daß hier et- Herren. Die privaten Haushalte sollen auf dem jetzi- was Neues zu geschehen hat. Deswegen ist das Um- gen Stand gehalten werden. Sie sollen so viel zahlen, schichten in Richtung ökologische Produkte, in Rich- als ob es den Kohlepfennig noch gäbe, sage ich ein- tung ökologische Produktionsweisen das, was wir mal ein bißchen vereinfacht. Die unternehmerische uns vornehmen müssen. Frau Merkel hat dazu über- Wirtschaft wollen wir sogar besserstellen, weil wir haupt nichts gesagt. Ich habe jetzt das Beispiel mei- um ihre Wettbewerbsprobleme wissen und weil wir ner Kollegin Liesel Hartenstein nicht mehr ganz pa- wollen, daß Arbeitsplätze in der Bundesrepublik blei- rat, aber dem Sinn nach hat sie gesagt: Die Verpak- ben. Das ist wichtig auch hinsichtlich der Frage, wie kungsverordnung, die dringend nötig ist, die ein In- dieses Konzept realisiert werden kann. strument ist, mit dem diese Regierung handeln könnte, wird nicht angewandt. Da werden Chancen Wir wollen darüber hinaus moderat, aber zuver- vertan, - Diese Regierung nutzt die Instrumente, die lässig und berechenbar die Mineralölsteuer anhe- sie selbst geschaffen hat, nicht konsequent, meine ben. Wenn Sie fordern, die Inanspruchnahme von Damen und Herren. Deswegen passiert auf dem Sek- Umwelt muß verteuert und Arbeit muß entlastet tor der ökologischen Erneuerung unserer Industrie- werden, dann muß es auch finanziert werden. Wir gesellschaft nichts. wollen das aufkommensneutral machen. Wir wer- den das Aufkommen aus der Mineralölsteuer an die (Beifall bei der SPD) Arbeitgeber und Arbeitnehmer zurückgeben und in 4352 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 52. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. September 1995

Anke Fuchs (Köln) einem späteren Schritt auch eine Senkung der zur Arbeitslosenversicherung die Lohnnebenkosten Lohn- und Einkommensteuer vornehmen. Das ist zu vermindern. unser Konzept einer richtigen Neujustierung von Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik, meine Da- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ men und Herren. DIE GRÜNEN - Joseph Fischer [Frankfu rt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir sollten (Beifall bei der SPD) uns das mit dem geringfügigen Beschäfti gungsverhältnis noch einmal überlegen! - Heiterkeit beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜ Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Frau Fuchs, gestat- NEN und bei der SPD) ten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Solms? Das ist der eine Teil der ökologischen Erneuerung. Ich will das ergänzen und noch einmal sagen: Hinzu- kommen müssen natürlich ein entsprechender Ord- Anke Fuchs (Köln) (SPD): Aber mit Vergnügen, nungsrahmen und weitere Elemente. Das wi ll ich vielleicht lernt er dann etwas von dem, was wir wol- jetzt nicht vertiefen, weil mir sonst die Zeit wegläuft. len.

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Frau Fuchs, da gibt Dr. Hermann Otto Solms (F.D.P.): Zunächst einmal es noch den Wunsch nach einer Zwischenfrage der möchte ich von Ihnen eine Information haben, weil Abgeordneten Homburger. Sie eine Dreiecksrechnung aufmachen, die nicht auf- geht. Sie sagen, Sie wollen die Beiträge zur Arbeits- (Köln) (SPD): Noch eine? - Gerne. Das losenversicherung senken, um die Arbeitskosten zu Anke Fuchs ist schön. Bitte sehr. vermindern. Dieses Ziel ist richtig. Das muß dann eben aus dem Haushalt finanziert werden. Deswe- gen - sagen Sie - wollen Sie eine Stromsteuer einfüh- Birgit Homburger (F.D.P.): Frau Kollegin Fuchs, ich ren und die Mineralölsteuer erhöhen. Aber das hätte gern von Ihnen gewußt, wie Sie denn bitte die Ganze soll aufkommensneutral sein. Programme für regenerative Energien bezahlen wol- len, die Ihr Kollege Müller exakt aus dem Aufkom- (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Ja, selbstver men dieser Stromsparsteuer, die Sie fordern, finan- ständlich!) zieren will, und wie sich das mit der Aufkommens- Diese Rechnung, verehrte Kollegin Frau Fuchs, kann neutralität verhält, wenn Sie die Einnahmen zurück- nicht aufgehen. Das heißt also, wenn Sie auf der ei- geben und gleichzeitig etwas anderes mit ihnen fi- nen Seite etwas senken wollen, müssen Sie auf der nanzieren wollen. Offensichtlich paßt das wohl doch nicht zusammen. anderen Seite etwas erhöhen. Das ist eine Umvertei- lung; diese Bilanz geht nicht auf. Anke Fuchs (Köln) (SPD): Frau Kollegin, Sie glau- ben gar nicht, wie dankbar ich Ihnen für diese Frage Anke Fuchs (Köln) (SPD): Das stimmt ja nicht. - Es bin. spricht der Fraktionsvorsitzende der F.D.P. - (Heiterkeit und Beifall bei der SPD und dem (Heiterkeit und Beifall bei der SPD sowie BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN) Es bleibt dabei - das habe ich gesagt -: Wir wollen die Stromsparsteuer einführen und die Mineralöl- Ich stelle es noch einmal ganz einfach dar. steuer erhöhen. Es gibt einen großen Bereich von auch ökologisch unsinnigen Steuersubventionen. (Dr. Hermann Otto Solms [F.D.P.]: Ich spre Dazu könnte ich Ihnen eine ganze Liste schicken; ich che nicht, ich frage Sie!) will das jetzt nicht vertiefen. - - Sie fragen mich, deswegen will ich ja gern einen (Dr. Wolfgang Weng [Gerungen] [F.D.P.]: Beitrag dazu leisten, daß Sie mich verstehen. Ich Sie wollen immer mehr Steuern!) kann es auch andersherum machen, indem ich sozu- sagen Ihre „Denke" aufnehme. Die werden wir „umswitchen" - so sage ich es ein- mal -, um damit folgendes zu erreichen: Wir haben ja (Zuruf von der SPD: Aber langsam, lang unser Klimaschutzprogramm vorgelegt; das ist einge- sam!) bracht worden. Wir wollen durch Abbau jener Sub- - Langsam. ventionen Anreize dazu geben, daß im Rahmen un- seres Klimaschutzprogrammes auch privates Kapital Die Stromsparsteuer wird eingeführt und die Mi- investiert wird. neralölsteuer wird schrittweise und berechenbar er- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne höht. Dann habe ich ja Geld. Dieses Geld nehme ich ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und gebe es der Bundesanstalt für Arbeit für ihre und der PDS) Aufgaben. Da ich das Geld für die Bundesanstalt für Arbeit nicht mehr von den Beitragszahlern holen Ich darf es noch ein bißchen platter sagen: Wir haben muß, kann ich dieses Geld, das ich durch Stromspar- in verschiedenen Bereichen gute Erfahrungen ge- steuer und Mineralölsteuererhöhung eingenommen macht, wenn wir mit finanziellen Anreizen p rivates habe, dazu verwenden, durch Senkung der Beiträge Kapital mobilisieren, um damit sinnvolle Gemein- Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 52. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. September 1995 4353

Anke Fuchs (Köln) schaftsaufgaben oder auch sinnvolle wirtschaftliche technisch möglich ist. Nun kann man die mit zwei In- Projekte zu finanzieren. Das ist unser Weg. Ich strumenten einführen: Entweder läßt man ab einem schicke Ihnen, Frau Kollegin, das gern zu. Das ist gewissen Jahr nur noch Autos zu, die wenig Sp rit sauber durchgerechnet, keine Sorge! verbrauchen, oder man baut darauf, daß durch die Anhebung des Benzinpreises die Menschen selbst (Dr. Wolfgang Weng [Geringen] [F.D.P.]: darauf kommen, daß es ökologisch sinnvoller ist, Au- Das wäre das erste Mal, daß bei Ihnen tos zu fahren, die wenig Benzin verbrauchen. Ich etwas sauber durchgerechnet ist!) setze auf letzteres. Das heißt aber auch, daß wir die Es bleibt bei der Aufkommensneutralität von Strom- ganze Steuer umgestalten müssen, damit es sich sparsteuer und Mineralölsteuererhöhung. Das ist das steuerrechtlich lohnt, ein verbrauchsarmes Auto zu sozialdemokratische Konzept. fahren. Das ist der Weg einer ökologischen Erneue- rung. (Beifall bei der SPD - Abg. Birgit Hombur ger [F.D.P.] meldet sich zu einer weiteren (Beifall bei der SPD) Zwischenfrage) Von Umweltnormen und sonstigen Dingen will ich nicht mehr sprechen. Vielmehr will ich zurückkom- Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Haben Sie eine Zu- men auf die Frage, wie man mit diesem Thema um- satzfrage? geht. Frau Kollegin Homburger, auch bei uns war die Erarbeitung dieses Konzeptes schwierig. Ich habe zig Birgit Homburger (F.D.P.): Ja. Stunden daran gearbeitet, mit vielen, vielen zusam- men, und mich nicht vorher in die Öffentlichkeit be- geben. Denn ich möchte immer gerne, daß Sozialde- Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Bitte. mokraten ihre Vorschläge bündeln und sie dann, wenn sie etwas vereinbart haben, nach außen hin Birgit Homburger (F.D.P.): Frau Fuchs, ich möchte vertreten. Das ist Gestaltungskraft, und die brauchen von Ihnen gern zwei Dinge wissen. Ich möchte von wir dringend - sowohl in der SPD als auch in der Poli- Ihnen nicht etwas zugeschickt bekommen; ich tik insgesamt. möchte heute von Ihnen wissen, erstens welche Sub- ventionen Sie abbauen wollen und zweitens wann (Beifall bei der SPD) Sie gedenken, einen Abstimmungsprozeß in Ihrer Ich weiß ja, daß auch Sie über so etwas nachden- Fraktion zwischen dem Herrn Kollegen Müller und ken. Ich weiß ja, daß Herr Repnik eigentlich meiner Ihnen durchzuführen, weil Herr Kollege Müller näm- Auffassung ist. Ich beobachte nur, daß sich der, der lich nicht sagt, daß er die regenerativen Energien sich bei Ihnen aus dem Fenster lehnt - ich weiß, wie mittels Subventionsabbau fördern will, sondern sagt, so etwas geht -, erst einmal eins aufs Dach kriegt, daß er das aus dem Aufkommen der Stromsteuer tun erst einmal zurückgepfiffen wird. Ich ermuntere des- wolle. Sie erzählen jetzt das eine; Kollege Müller er- wegen die Kolleginnen und Kollegen, die das, was zählt das andere. Ich denke, das sollte man hier ein- ich sage, eigentlich vernünftig finden, in ihrer Frak- mal festhalten. Ich hätte gern eine Antwort auf diese tion dafür zu sorgen, daß wir damit ein Stückchen meine Fragen. vorankommen. Denn ich denke, das kann ein ge- meinsames Reformkonzept sein. Es wäre doch ganz Anke Fuchs (Köln) (SPD): Frau Kollegin, auch für toll, wenn wir über diesen ökonomisch, ökologisch diese Frage bin ich Ihnen ausgesprochen dankbar. und sozial richtigen Weg so diskutieren, daß die Fangen wir doch einmal an mit der Steuerbefreiung Leute draußen sagen: Mensch, da ist denen etwas von Flugbenzin! eingefallen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Auch ich weiß natürlich, daß wir noch über die DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der Auswirkungen reden müssen, daß wir fragen- müs- PDS) sen: Was hat das für Auswirkungen auf die Pendler, Wir haben im übrigen ein Konzept vorgelegt - über was hat das für Auswirkungen auf die einkommens- das weitere Verfahren sage ich gleich noch etwas -, schwächeren Menschen in unserem Land, was hat dem der Kollege Müller zugestimmt hat. das für Auswirkungen auf die energieintensiven Be- triebe? Das ist mir alles klar. Wir werden an der Be- (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Jawohl!) antwortung dieser Fragen arbeiten. Aber ich habe gelernt: Meistens hört man die Leute, die zunächst Die Fraktion hat das Konzept, von dem ich hier spre- einmal sagen, warum etwas nicht funktioniert. che, mit nur einer Gegenstimme - und das war nicht die des Kollegen Müller - verabschiedet. Damit ich Ich bin der Überzeugung, daß dies ein richtiges Re- es nicht einfacher darstelle, als es eigentlich ist, will formprojekt ist, das wirksam werden kann. Da ich ich den Weg gleich beschreiben. immer ins Gelingen verliebt bin, werde ich mich mit Bevor ich das zum Abschluß tue, will ich weiter der meiner Fraktion auf den Weg machen, die Fazilitäten Frage der ökologischen Umsteuerung nachgehen. noch ein bißchen zu verbessern, um dann mit diesem Es wird immer davon geredet - das wiederum sollte Reformprojekt in der Gesellschaft zu argumentieren. Herrn Rexrodt interessieren, weil das die Frage des (Beifall bei der SPD) politischen Handelns bet rifft -, daß man eigentlich energiearme Autos braucht. Wir wissen alle, daß das Wenn Sie uns da begleiten, bin ich ganz froh. 4354 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 52. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. September 1995

Anke Fuchs (Köln) Ich komme noch einmal auf die Unterforderung Wo ist denn die Innovation? Wie verbinden wir Um- zurück. Mich bedrückt es schon, daß wir dann, wenn welt, Ökonomie und Sozialpolitik miteinander? Sie wir mit den Menschen draußen im Lande - ich haben es leider nicht verstanden. Unser wirtschafts- nehme das sofort zurück: sagt immer, politischer Sprecher wird heute noch das Wo rt ergrei- es sind nicht die Menschen draußen im Lande, son- fen. Ich hoffe, daß auch er über ökologische Steuerre- dern die Menschen im Lande -, also mit den Bürge- form redet. Sie werden jedenfalls keinen Keil zwi- rinnen und Bürgern, sprechen, immer zu hören be- schen uns treiben können. Denn die SPD-Bundes- kommen: Ja, sagt uns doch, wo es langgeht! Ich tagsfraktion ist ein geschlossener Verein. Stellen Sie glaube, daß die Lust zur Zukunft, die Gestaltungsfä- sich darauf ein! higkeit von Politik, das Sagen, wo es langgehen kann, uns gemeinsam gelingen kann, wenn wir end- (Beifall bei der SPD - Lachen und Wider lich dazu kommen, den Menschen Hoffnung zu ge- spruch bei der CDU/CSU) ben. Hoffnung gebe ich den Menschen nicht, wenn ich z. B. die Arbeitnehmer immer nur zu Kostgängern Ich wiederhole: Die SPD-Bundestagsfraktion ist ein der Betriebe degradiere. geschlossener Verein, ein Verein mit den Schwierig- keiten, die auch Sie alle haben. Aber ich sage Ihnen: (Beifall bei der SPD) Uwe Jens und ich, wir machen Ihnen heute klar, was wir wollen. Davon werden Sie hoffentlich ganz be- Wir brauchen doch qualifizierte Arbeitnehmer. Sie geistert sein. sollen doch in den Betrieben arbeiten können. Herzlichen Dank. Ich glaube, daß ein Zukunftsprojekt, das die Breite der ökonomischen Veränderung klarmacht, für uns (Anhaltender Beifall bei der SPD - Beifall alle von Bedeutung sein kann. Deswegen bitte ich beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Sie sehr herzlich, sich mit uns zusammen auf diesen Weg zu begeben. Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als nächster (Beifall bei der SPD) spricht unser Kollege Kurt Rossmanith.

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Frau Fuchs, gestat- Kurt J. Rossmanith (CDU/CSU): Frau Präsidentin! ten Sie noch eine Zwischenfrage des Abgeordneten Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir haben Hinsken? heute den dritten Tag der ersten Lesung des Haus- halts 1996. Ich freue mich, daß sich zumindest einige Kolleginnen und Kollegen von der SPD mit diesem (Köln) (SPD): Herr Hinsken, bitte sehr. Anke Fuchs Thema befaßt haben, auch wenn sie mitunter eine Horrorvision an die Wand malten. Aber immerhin ha- Ernst Hinsken (CDU/CSU): Verehrte Frau Kollegin ben sie sich mit dem Haushalt befaßt, trotz der Fuchs, ich gehe davon aus, daß Sie heute Haupt- Schwierigkeiten - ich sehe es ein -, daß sie sich zeit- rednerin der SPD-Fraktion zur Wirtschaftspolitik lich anders belasten müssen, nämlich mit Ihnen, Herr sind. Nun haben Sie sich intensiv mit Ökologie und Scharping, und Herrn Schröder. Ökonomie auseinandergesetzt, aber zur Wirtschafts- Aber von Ihnen, Frau Fuchs, habe ich zum Haus- politik allgemein fast nichts gesagt. halt überhaupt nichts gehört. Sie haben - da hat der (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Sie sind ja Kollege Hinsken natürlich recht - auch wirtschafts- zu spät gekommen! - Weitere Zurufe von politisch nur sehr Diffuses von sich gegeben. Ich be- der SPD) daure das. Ich bedaure vor allem auch, Frau Fuchs, daß Sie, nachdem Sie im ersten Teil - ich sage das, Sie haben also in diesem Fall an der Sache vorbeige- obwohl Sie nicht meine Meinung vertreten- haben - redet. Deshalb möchte ich Sie abschließend bitten, doch sachlich argumentiert haben, im zweiten Teil mir Ihre wirtschaftspolitischen Vorstellungen einmal wieder sehr stark in Polemik verfallen sind. Außer kumuliert zuzuleiten, damit sie nachgelesen werden Steuererhöhungen fällt Ihnen nichts ein, wobei wir können, um Ihnen gegebenenfalls eine bessere Ant- heute aus Ihrem Mund vernommen haben, daß Sie wort darauf geben zu können. für eine Steuererhöhung schon zwei Ausgabeposten haben. Das ist sozialistische Politik, wie wir sie ken- nen und nie wieder haben wollen. Anke Fuchs (Köln) (SPD): Herr Kollege Hinsken, wenn ich jetzt unfair wäre - aber das bin ich nicht -, (Beifall bei der CDU/CSU - Zurufe von der dann könnte ich Ihnen jetzt eine umfassende Ant- SPD) wort geben. Dann muß ich aber eine halbe Stunde reden. Das wäre eigentlich ganz gut. - Mir reicht es schon, wenn Sie eine Mark zweimal ausgeben wollen; das ist ja Ihre Vision. Wenn Sie von der Wi rtschaftspolitik der SPD re- den: Es ist Kern unserer Wi rtschaftspolitik, daß wir (Zuruf des Abg. Ernst Hinsken CDU/CSU) schauen: Wo kommen denn die Arbeitsplätze her? - Fünfmal ist bei der SPD mitunter auch denkbar, (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne Herr Kollege Hinsken. - Ich bedaure das um so mehr, ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) als natürlich die Haushalts- und die Finanzpolitik Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 52. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. September 1995 4355

Kurt J. Rossmanith eine Schlüsselrolle für die künftige Entwicklung un- - Dagegen ist nichts einzuwenden, Kollege Weng. seres Landes einnimmt. Ich bin auch mit der derzeitigen Koalition zufrieden, was ihre Leistung anbelangt. Ihre Partei ist Ihr urei- (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: genes Thema, mit dem Sie zurechtkommen müssen. Sehr richtig!) Die Koalition macht gute Arbeit. Deshalb stehen wir selbstverständlich uneingeschränkt zu ihr. Die schwierige Übergangsphase nach der Herstel- lung der deutschen Einheit ist inzwischen abge- Vielleicht kommt in der teilweise unsachlichen und schlossen. Dank der stabilitätsorientierten Politik überzogenen Kritik der Sozialdemokraten am Haus- von Bundesregierung und Koalition sind bereits halt 1996 nur die Enttäuschung zum Ausdruck, daß wichtige Konsolidierungserfolge zu verzeichnen. Ich Ihnen das, was uns, dem Bundesfinanzminister und will nur darauf hinweisen, daß Deutschland trotz der der Bundesregierung, mit dem Haushalt 1996 ge- finanziellen Belastungen durch die Wiedervereini- lingt, während Ihrer Regierungszeit, die ja 13 Jahre gung schon seit dem vergangenen Jahr, seit 1994, gedauert hat, nie gelungen ist. alle Kriterien des Vertrages von Maast richt erfüllt und damit auch die Teilnahme an der Europäischen Die Staatsausgabenquote soll nach der von der Währungsunion seitens Deutschlands gegeben wäre. Bundesregierung vorgelegten Planung von jetzt 50,5 % - das ist natürlich viel zu hoch - bis zum Jahr (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge 2000 auf 46 % zurückgeführt werden. Damit läge sie ordneten der F.D.P.) auf dem gleichen Niveau wie vor der Wiedervereini- gung. Außerdem soll die Nettokreditaufnahme - Dies ist natürlich nur dank einer konsequenten auch das ist ein ganz wichtiger Punkt - bis 1999 stu- Konsolidierungspolitik möglich, um die uns manches fenweise auf 29 Milliarden DM reduziert werden. Mitgliedsland der Europäischen Union beneidet. Meine sehr verehrten Damen und Herren, diese ehr- Selbstverständlich muß diese Konsolidierungspolitik, geizigen Ziele lassen sich natürlich nur mit einer dieser Konsolidierungskurs auch in den kommenden strikten Ausgabendisziplin realisieren. Hierzu hat Jahren fortgesetzt werden. Die Finanz- und Haus- die Bundesregierung die volle Unterstützung unserer haltspolitik muß ihren Beitrag für mehr Wachstum CDU/CSU-Fraktion. und mehr Beschäftigung durch eine weitere Rück- führung der Staatsverschuldung, der daraus resultie- (Beifall bei der CDU/CSU) renden Zinsbelastungen sowie der hohen Abgaben- Wenn man kurz einen Blick auf den Haushalt des quote leisten. - Das ist das Thema, mit dem wir uns Bundesministers für Wirtschaft wirft, könnte man zu- auch zukünftig zu beschäftigen haben. - nächst meinen, daß dieser Haushalt mit einer Steige- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) rungsquote von fast 50 % vom allgemeinen Sparkurs ausgenommen ist. Dieser Eindruck ist natürlich nicht Eine verläßliche Entlastungsperspektive ist wesentli- richtig, wie man bei näherem Hinsehen feststellen che Voraussetzung für eine kontinuierliche und posi- kann; denn der hohe Anstieg der Gesamtausgaben tive Entwicklung des Wirtschaftsstandorts Deutsch- ist darauf zurückzuführen, daß nach dem Wegfall land. des Kohlepfennigs die Hilfen für die Verstromung deutscher Steinkohle ab dem Jahr 1996 aus dem Wir zeigen mit dem Regierungsentwurf des Bun- Haushalt gezahlt werden müssen. Hierbei handelt es deshaushalts 1996 und der mittelfristigen Finanzpla- sich immerhin - man kann das nicht verschweigen - nung bis 1999, daß wir entschlossen sind, die Begren- um den enormen Betrag von insgesamt 8 Milliarden zung und Rückführung der Ausgaben des Bundes DM, der sich einerseits aus dem im Artikelgesetz vor- auch in den nächsten Jahren fortzusetzen. Danach gesehenen Finanzplafond für die Bergbauunterneh- sinken die Ausgaben des Bundes gegenüber dem men in Höhe von 7,5 Milliarden DM zusammensetzt Vorjahr, selbst unter Berücksichtigung - ich bitte und andererseits aus den für die Verzinsung des De- - darum, das hier nicht unter den Tisch fallenzulassen - fizits der bisherigen Verstromungsfonds erforderli- der Umstellung des Auszahlungsverfahrens beim chen Mitteln von 500 Millionen DM. Kindergeld, noch um 1,3 %. Das ist eine beachtliche (Dr. Wolfgang Weng [Geringen] [F.D.P.]: Leistung, für die unser Bundesfinanzminister, Dr. , uneingeschränkte Anerkennung Altlasten!) verdient. Ich finde es beachtlich, daß es gelungen ist, diese 8 Milliarden DM unter Verzicht auf eine Ersatzfinan- Lassen Sie mich auch anmerken: Das letzte Mal, zierung und ohne Erhöhung der im bisherigen Fi- daß ein Bundesfinanzminister einen Haushalt mit nanzplan vorgesehenen Nettokreditaufnahme im sinkenden Ausgaben vorlegen konnte, liegt immer- Haushalt 1996 zu veranschlagen. hin 43 Jahre zurück. Der damalige Finanzminister hieß Fritz Schäffer; auch er wurde von der CSU ge- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge stellt. Wir dürfen stolz darauf sein, daß sein Nachfol- ordneten der F.D.P.) ger an diese Tradition, die die CSU immer geprägt hat, anknüpft und sie fortsetzt. Natürlich konnte dieses Ergebnis nicht ohne Einspa- rungen an anderer Stelle erzielt werden. Das zeigt (Beifall bei der CDU/CSU - Dr. Wolfgang einmal mehr, mit welcher Konsequenz die Bundesre- Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: Das war auch gierung ihren Kurs der Begrenzung der Staatsausga- eine gute Koalition damals!) ben verfolgt. 4356 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 52. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. September 1995

Kurt J. Rossmanith Das Artikelgesetz sieht für die Bergbauunterneh- sich in den neuen Ländern eine Subventionsmentali- men jährliche Finanzplafonds von 7,5 Milliarden DM tät ausbreiten könnte, die sich nachteilig auf die für 1996 und jeweils 7 Milliarden DM für die Jahre Schaffung wettbewerbsfähiger Wi rtschaftsstrukturen 1997 bis 2000 vor. Hier ist schon eine gewisse De- auswirken wird. Die degressive Gestaltung der För- gressionslinie vorgezeichnet. Ich weiß, daß es inner- derprogramme liegt deshalb auch im wohlverstande- halb der Bundesregierung Überlegungen gibt, zu- nen Interesse der Wirtschaft in den neuen Bundes- mindest für die Jahre 1999 und 2000 die Depressions- ländern. linie noch stärker abzuflachen. Lassen Sie mich noch einen Punkt ansprechen, der (Joseph Fischer [Frankfu rt] [BÜNDNIS 90/ mir sehr große Sorgen bereitet. Das ist die Ausbil- DIE GRÜNEN]: Woher wissen Sie das?) dungsstellensituation in den neuen Bundesländern. Ich würde es begrüßen, wenn ein solches Signal ge- Ich begrüße deshalb die Ankündigung der Bundesre- setzt werden könnte, schon um den Bergbau im Rah- gierung, ein Programm zur Schaffung von 15 000 zu- men seiner Möglichkeiten zu einem stärkeren unter- sätzlichen Lehrstellen zu realisieren. nehmerischen Handeln zu veranlassen. Daß das nur im außerbetrieblichen Rahmen möglich (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge ist, macht mich allerdings alles andere als glücklich; ordneten der F.D.P.) denn das duale Ausbildungssystem, d. h. Bet rieb, Im übrigen will ich nur daran erinnern, daß auch Schule und überbetriebliche Ausbildungsmaßnah- die Revierländer ihrer besonderen Verantwortung men, muß weiterhin die Basis unserer beruflichen für den Bergbau gerecht werden müssen. Wie Bildung bleiben. schwer sie sich damit tun, haben die Verhandlungen über die Kokskohlenbeihilfe im Frühjahr dieses Jah- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU so res gezeigt. Ich bin aber froh, daß es uns gelungen wie des Abg. Dr. Wolfgang Weng [Gerun ist, den Anteil des Bundes an der Kokskohlenbeihilfe gen] [F.D.P.]) von bisher zwei Dritteln auf 60 % zu reduzieren. (Beifall des Abg. Dr. Wolfgang Weng [Ger Ich appelliere deshalb noch einmal mit allem Nach- lingen] [F.D.P.]) druck an die Unternehmen, damit sie ihrerseits alles tun, um jungen Leuten eine zukunftsorientierte Aus- Ich erwarte, daß für den nächsten Plafondzeitraum, bildung zu ermöglichen. Eine Lehre im Betrieb ist in der 1998 beginnen wird, weitere Schritte in diese der Regel nicht nur qualitativ besser, sie stellt auch Richtung folgen werden. sicher, daß Lehrlinge, d. h. zukünftige Berufstätige, nicht am Arbeitsmarkt vorbei ausgebildet und nach (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU so ihrer Lehre nicht in die Arbeitslosigkeit entlassen wie des Abg. Dr. Wolfgang Weng [Gerun werden. gen] [F.D.P.]) Ohne diesen Sonderfaktor - 8 Milliarden DM für Ein letzter Punkt, den ich anführen möchte, ist, daß die Verstromungshilfen - geht das Ausgabevolumen ein Land wie die Bundesrepublik Deutschland mit im Entwurf des Einzelplans des Bundesministers für hohen Arbeitskosten nur dann am Weltmarkt be- Wirtschaft gegenüber dem Vorjahr um rund stehen kann, wenn es sich als Hochtechnologiestand- 1,8 Milliarden DM, d. h. um mehr als 14 %, zurück. ort weiterhin behauptet. Das zeigt, daß auch das Bundesministerium für Wi rt -schaft einen spürbaren Beitrag zur Haushaltskonsoli- Zu den technologieintensivsten Industriezweigen dierung leisten wird. gehört sicherlich die Luftfahrtindustrie. Hier ist na- Diese Reduzierung des Ausgabevolumens beruht türlich das Airbus-Programm zu nennen. Allerdings steht die Luftfahrtindustrie auf Grund der veränder- zum Teil auf einer maßvollen und vertretbaren Rück- - en internationalen führung einzelner Förderprogramme für die neuen ten Wechselkurse und des ha rt Wettbewerbs vor erheblichen Anpassungsschwierig- Länder. Inzwischen wird allseits, auch von den Kolle- ginnen und Kollegen aus den neuen Bundesländern, keiten, die in den nächsten Jahren überwunden wer- anerkannt, daß der Wiederaufbauprozeß in den den müssen. Der Staat kann hier nur flankierend ein- neuen Ländern gut vorangekommen ist. Die Investi- greifen. In erster Linie ist es Sache der Unternehmen tionsquoten liegen dort so hoch wie niemals zuvor in und auch der Arbeitnehmervertretungen, ihren Bei- der alten Bundesrepublik. Auch die sonstigen aktuel- trag zur Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit zu len Wirtschaftsdaten lassen insgesamt eine Fortset- leisten. Der Bund hat in der Vergangenheit Milliar- densummen aufgewandt, um die Luft- und Raum- zung des beachtlichen Wirtschaftswachstums erken- nen. Das sind gute Voraussetzungen für den weite- fahrtindustrie zu entwickeln. Er stellt demnächst ren Aufholprozeß; denn natürlich bleibt die volle An- auch noch ein 600-Millionen-DM-Förderprogramm für Forschung und Entwicklung zur Verfügung. gleichung an das wirtschaftliche Niveau in den al- Diese staatliche Flankierung halte ich für den richti- ten Ländern unser gemeinsames Ziel. gen Weg. Mehr kann und sollte und darf meines Er- Die schrittweise Rückführung der Fördermaßnah- achtens der Staat aber auch nicht leisten, denn es men liegt auch auf der Linie der Bundesbank, die in wäre überzogen, von ihm auch noch Arbeitsplatzga- einer kürzlich veröffentlichten Untersuchung den rantien zu verlangen, wie dies in jüngster Zeit wieder Anpassungsprozeß in den neuen Ländern analysiert geschehen ist. Die Erfolge des Airbus-Programms hat. Die Bundesbank äußert darin ihre Sorge, daß sind nicht zu leugnen und geben auch künftig Anlaß Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 52. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. September 1995 4357

Kurt J. Rossmanith zur Zuversicht. Erst kürzlich ist das neue Modell, die Der von Ihnen, Herr Rexrodt, vorgelegte Haus- A 319, vorgestellt worden, das ohne staatliche Förde- haltsplan 09 ist ein frustrierend deutliches Zeichen, rung entwickelt und zur Marktreife gebracht worden daß die Wirtschaftspolitik der Bundesregierung ist. keine zukunftszugewandte und moderne Wirt- schaftspolitik ist. Ich möchte sogar sagen, Sie gerie- Ich möchte ein Projekt aus dem mittelständischen ren sich wie ein Fossil aus dem letzten Jahrhundert. Bereich vorstellen. Ein mittelständisches Unterneh- Eine moderne Wirtschaftspolitik orientiert sich an men hat mit dem neuen Höhenforschungsflugzeug den Grundsätzen der ökologischen Verantwortung Strato 2 C mit 18,5 km Höhenleistung eine neue und der sozialen Gerechtigkeit. Eine moderne Wi rt Weltrekordleistung für propellerbetriebene Luftfahr- -schaftspolitik hat den Standort Deutschland als inno- zeuge erreicht. Wir sollten auf diesem Weg, der für vatives, kreatives und produktives Hochlohnland im Ökologie und für Höhen- und Klimaforschung not- Blick. Eine moderne Wirtschaftspolitik orientiert sich wendig ist, weiter voranschreiten. an den Prinzipien einer sozialen und ökologischen (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Marktwirtschaft.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, lassen Herr Minister, die Solidarität in diesem Lande brök- Sie mich zum Schluß zusammenfassen: Die Konsoli- kelt. Die Kollegin Fuchs hat es vorhin schon ange- dierungspolitik dieser Bundesregierung und dieser sprochen: Ich finde es erschütternd, daß in dieser Si- Koalition schafft die Voraussetzungen für künftiges tuation ausgerechnet Sie als Wi rtschaftsminister hin- Wachstum und damit für mehr Beschäftigung. gehen und die aus Ihrer Sicht für die Standortgefähr- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) dung Verantwortlichen outen. Wir können es nicht mehr hören, und es ist wirklich eine Bedrohung für Der Bundeshaushalt 1996 ist ein wichtiges Krite- den sozialen Frieden in diesem Lande, daß Sie hier rium. Ich wünsche mir deshalb auch von der Opposi- immer die Kranken, die Sozialhilfeempfänger, die Ar- tion, daß sie eine konstruktive Diskussion bei den beitslosen und in diesem Falle auch die Arbeitneh- noch ausstehenden Ausschußberatungen mit uns mer beschuldigen. Das ist typisch F.D.P. Sie rechtfer- führen wird. tigen damit die Tatsache, daß Sie nicht in der Lage sind, Ihre Hausaufgaben zu machen. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Die Kosten für den Faktor Arbeit sind zu hoch, die Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als nächste hat die Kosten für den Faktor Umwelt zu niedrig. Ich hoffe, Kollegin Margareta Wolf das Wo rt. daß darüber in diesem Hause ein Konsens besteht. Aber genau deshalb liegt von uns das Konzept für eine konsequente ökologische Steuerreform auf Margareta Wolf (Frankfurt) (BÜNDNIS 90/DIE dem Tisch, während Sie, Herr Rexrodt, und Ihre Par- GRÜNEN): Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten tei sich noch immer mit dem Einzelaspekt der Kfz- Damen und Herren! Herr Rexrodt, Sie haben Ihre Steuer beschäftigen und als Bundesregierung bis Rede damit begonnen, daß Sie sich u. a. um die Be- dato nicht in der Lage waren, ein umfassendes Kon- schäftigungssituation in diesem Land sorgen. Ich als zept für den dringend notwendigen Strukturwandel Abgeordnete aus dem Kreis Groß-Gerau hätte mir einzuleiten. durchaus gewünscht, daß Sie die innovative Kraft z. B. der Firma Opel hier einmal gelobt hätten, an- statt immer nur zu sagen: Wir wollen den Dialog su- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN chen. Gleichzeitig müssen Sie, wenn Sie sich so sor- sowie des Abg. Ernst Schwanhold [SPD]) gen, diesem Hohen Hause erklären, warum die Mit- tel an die BA in diesem Haushalt um 8 Milliarden Richtig ist auch - ich bin Herrn Blüm für seinen DM gestrichen werden. Ich halte das für einen Skan- Brief an Herrn Waigel durchaus dankbar -, daß die dal. Das straft Ihre Worte wirklich Lügen. Bundesregierung die Sozialversicherung in den letz- Zweites Stichwort: Herr Rexrodt, Sie haben über ten Jahren mißbraucht hat. Sie sind es doch, die die den Ladenschluß geredet. Ich bin da durchaus offen Sozialversicherung jährlich mit über 100 bis und für eine Flexibilisierung. Aber ist Ihnen denn 150 Milliarden DM mit sogenannten versicherungs- nicht klar, daß genau Sie - ich nenne das Stichwort fremden Leistungen belasten, Leistungen, die im we- „Zeitsouveränität" -, wenn Sie jetzt sagen, die Mit- sentlichen gesamtgesellschaftliche, ergo staatliche bestimmung müsse eingeschränkt werden, das Aufgaben sind. Anstatt zu sagen: „Wir müssen den Thema jetzt schon wieder kaputtreden? Zuschuß erhöhen", dreschen Sie auf genau diejeni- gen ein, die die Beiträge entrichten. Das sind nicht (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Sie, Herr Rexrodt. Wenn Sie sagen, wir müßten dicke Bretter bohren, dann kann ich Sie nur bitten, vorher Ihr Brett von Ih- Die notwendige Entlastung des Faktors Arbeit, wie rem Kopf zu nehmen, sonst wird es tatsächlich ge- wir sie mit unserer ökologischen Steuerreform vor- fährlich. schlagen, ist ökologisch und wirtschaftspolitisch überfällig. Ich bin der Kollegin Fuchs sehr dankbar, (Heiterkeit und Beifall beim BÜNDNIS 90/ daß sie Herrn Solms die Grundstruktur der Öko- DIE GRÜNEN) steuer vorhin erklärt hat. Vielleicht läßt das hoffen. 4358 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 52. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. September 1995

Margareta Wolf (Frankfurt) Ich fände es schade, wenn Thomas Hanke mit sei- Aufbau der Infrastruktur. Unüberlegte Einschnitte in ner Vermutung in der „Zeit" recht behielte, daß Ih- diese Förderprogramme können zu einem Rück- nen der Mut zu einer ökologischen Steuerreform schlag führen, der sich mittelfristig als finanzschwe- fehlt. Die Blätter fallen, der Herbst naht. Sie haben res Eigentor erweist. nicht mehr viel Zeit. Wir sind gespannt. Ein weiterer Aspekt. Mit der Einbringung des Ein- Der Einzelplan 09 ist ein Offenbarungseid. Er zelplans 09 wurde offenbar, was Verbände seit Mo- macht nachhaltig deutlich, daß Sie nicht zukunftsfä- naten befürchten. Die Förderung der Sanierung von hig sind. Einsparungen erfolgen ausgerechnet in den Fernwärmeanlagen in den neuen Bundesländern Zukunftsfeldern neue Bundesländer, ökologischer wurde in toto gestrichen. Diese Entscheidung wird Umbau und Innovation. Das Sonderprogramm für zur Folge haben, daß die umweltfreundliche Fe rn Forschung und Entwicklung in den neuen Bundes- -wärme ganz deutlich an Boden verliert. Sie haben ländern wird gekürzt. Das Fördergefälle der GA wird sich mit dieser Entscheidung einseitig für die Über- zu Lasten des Ostens verschoben. Forschungsförde- tragung der monopolisierten Energieversorgung sei- rung Ost wird reduziert, Absatzförderung ostdeut- tens der EVUs, wie sie in Westdeutschland prakti- scher Produkte dito, industrielle Gemeinschaftsförde- ziert wird, gen Osten entschlossen. rung dito, Technologietransfer dito. Herr Rexrodt, wir werden Ihnen demnächst die Ge- Herr Rexrodt, das Büro für Technikfolgenabschät- legenheit bieten, uns einmal verbindlich zu erklären, zung empfiehlt in einer vom Hause Rüttgers in Auf- wie Sie das Klimaschutzziel der CO2-Reduktion um trag gegebenen Studie, 25 % bis 2005 erreichen wollen. Uns wird das immer unklarer. Derzeit steigen die CO2-Emissionen sogar. (Wolf-Michael Catenhusen. [SPD]: Vom Bun destag in Auftrag gegeben!) Ich vermisse bei Ihnen - aber das ist in der Tat nichts Neues - den Mut und die Kraft für ein zu- die Umsetzung von Forschungsergebnissen bei kunftsfähiges Wirtschaften. Ich vermisse den Mut für neuen Werkstoffen in marktfähige Produkte insbe- den Einstieg in eine ökologische, klimafreundliche sondere für kleinere und mittlere Unternehmen mit und wirtschaftsfreundliche Politik. Ich vermisse die Steuervergünstigungen, Sonderabschreibungen oder Verantwortung für diese und die nächste Generation. rückzahlbaren Darlehen zu fördern. Sie wissen doch Ihr Haushalt straft wirklich das Lügen, was Waigel spätestens seit der legendären Geschichte mit dem gestern gesagt hat, dieser Haushalt sei zukunfts- und Faxgerät oder seit der neuerlichen Geschichte - dar- zielorientiert. Ihr Haushalt konterkariert diese Ein- über ist hier schon diskutiert worden - mit der Ab- schätzung geradezu. wanderung der Photovoltaik, deren wirtschaftspoliti- sche Folgen wir heute erst erahnen können, daß es (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - einen dringenden Handlungsbedarf bei der Umset- Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: zung von Forschungsergebnissen in marktfähige Das stimmt doch gar nicht! Sie haben sich Produkte gibt. Den KMUs fällt es zunehmend das nicht angeschaut!) schwer, sich an innovativen Werkstoffentwicklungen Ich möchte abschließend noch einmal ausdrücklich zu beteiligen. Sie sagen, Sie seien ein Mittelstands- eine Forderung des Sparkassen- und Giroverbandes politiker. Das sind Sie nicht; dieser Haushalt weist unterstützen. Dieser Verband forde rt Sie, Herr Mini- das deutlich aus. ster, auf, die Unternehmen - auch das bet rifft in er- ster Linie wieder die kleinen und mittleren Unterneh- Herr Rexrodt, der Bundesverband der Deutschen men sowie auch die Existenzgründer - von der Un- Industrie fordert von Ihnen - offenbar aber ungehört - durchsichtigkeit des Förderdickichts zu befreien. eine nachhaltige Stärkung der Industrieforschung in den neuen Bundesländern. Der BDI sagt: Die Pla- (Zuruf von der SPD) nungssicherheit der Unternehmen erfordert eine so- - lide mittelfristige Finanzplanung auch für die Pro- - Genau. Herr Köhler ist im übrigen CDU-Mitglied. gramme des BMWi, insbesondere für Innovationsför- derung. Wenn selbst diese Herren Ihr Ohr nicht mehr Wir haben inzwischen 300 bis 500 Förderpro- erreichen können, Herr Rexrodt, dann frage ich, mit gramme. Herr Rexrodt, vielleicht wäre das der erste wem Sie überhaupt noch reden. Soviel zu dem Stich- Schritt weg von einer konzeptlosen Politik der Wi rt wort „Dialog" . -schaftsförderung hin zu einer effizienten und qualifi- zierten Wi rtschaftsförderung, die auch Geld spart. Meine sehr geehrten Damen und Herren, soll der Das weiß jeder. Das ist eine Binsenweisheit. Aufbau Ost tatsächlich gelingen, darf es keinen Ab- Meine sehr geehrten Damen und Herren, der zu bau der Ostförderung geben. Für mindestens zehn beratende Einzelplan ist ein Ausdruck der Angst vor Jahre muß die Ostförderung noch auf hohem Niveau der Zukunft. Er greift aus lauter Mutlosigkeit, aus be- gefahren werden, so leid es mir tut. Sie wissen doch ängstigender Innovationsschwäche in die Mottenki- selber - ich möchte vor allem den Staatssekretär Lu- ste. Dieser Haushalt ebnet nicht den Weg in die Zu- dewig aus dem Hause Rexrodt ansprechen -, daß ost- kunft, er ebnet den Weg zurück ins letzte Jahrhun- deutsche Wachstumsschrittmacher oftmals noch am dert. Fördertropf hängen. Sie wissen, daß industrielle Rest- bestände sowieso am Fördertropf hängen. Die öffent- Danke schön. lichen Hilfen haben eine enorme stabilisierende Wir- kung, gerade für die regionale Wi rtschaft und den (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 52. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. September 1995 4359

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Es spricht jetzt Wir, die reichen Industrieländer, werden das Pro- Dr. Otto Graf Lambsdorff. blem nicht durch Finanztransfers lösen. Lösen kön- nen wir es übrigens überhaupt nicht. Das können nur die betroffenen Länder selbst. Sie tun es ja auch: mit Dr. Otto Graf Lambsdorff (F.D.P.): Verehrte Frau Härten, mit Entbehrungen für die Menschen. Sie tun Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen! Meine es mehr und mehr erfolgreich. Lassen Sie mich zwei Herren! Eine Bemerkung vorweg: Immer wieder Beispiele nennen: Polen und Estland. wird gesagt, die Begrenzung des Solidarzuschlages sei gleichzusetzen mit der Begrenzung und der Been- Wir müssen vor allem eines tun, was uns schwer- digung der Unterstützung des wirtschaftlichen Auf- fällt: Wir müssen unsere Märkte öffnen. Trade is bet- baus im Osten. Das ist weder denklogisch richtig, ter than aid: Handel ist besser als Hilfe. Die Entwick- noch ist es ökonomisch zwingend. lungsländer haben das begriffen, unsere Nachbarn Ich fand es gut und bemerkenswert, daß der Regie- auch. Aber was tun wir? Versuchen wir nicht mehr rende Bürgermeister von Berlin, , und mehr, uns hinter Schutzzäunen zu verbarrikadie- dies hier klargestellt hat. Es sind zwar nicht unbe- ren? Reagieren wir mutig und offensiv, oder reagie- dingt zwei Paar verschiedene Schuhe - sie gehören ren wir defensiv und ängstlich? zusammen -, aber es ist nicht zwingend, daß der Soli- Die Polen würden uns nur zu gerne ihre Steinkohle darzuschlag in der bisherigen Höhe, auf unbe- verkaufen. Wir verbieten Impo rte, subventionieren grenzte Zeit festgelegt - es war von 10 Jahren die die deutsche Steinkohle mit etwa 20 Milliarden DM Rede -, erhalten werden muß, um die Ostförderung und plündern dafür den deutschen Steuerzahler. fortzusetzen. (Beifall bei der F.D.P. - Anke Fuchs [Köln] Wir versuchen uns mit Importquoten zu schützen, [SPD]: Dann ist er begrenzt! 10 Jahre sind mit überzogenen Sozial- oder Umweltklauseln, mit eine Grenze!) Arbeitnehmerquoten gegen die Hungrigen in unse- rer Europäischen Union sogar mit dem protektionisti- Diese Diskussion ist schlichtweg falsch, und teil- schen Sündenfall eines Entsendegesetzes, dem der weise, so glaube ich, ist sie bewußt irreführend ange- Bundeswirtschaftsminister wenigstens die schlimm- legt. sten Giftzähne gezogen hat.

Meine Damen und Herren, der Hung rige kann Wir versuchen den unvermeidlichen Anpassungs- dem Satten kein B ruder sein. Janusz Reiter, der pol- prozeß zurückzustauen. Das kann nur zu Brüchen nische Botschafter in Bonn - mit Recht geschätzt, hat führen, mit der Gefahr ökonomischer und politischer in einem Interview am Wochenende dieses polnische Destabilisierung. Sprichwort zitiert. Warum, meine Damen und Herren, schafft wirt- Ich denke, wir sollten in einer wirtschaftspoliti- schaftliches Wachstum nicht mehr Arbeitsplätze wie schen Debatte des Deutschen Bundestages, auch in früher? Begreifen wir eigentlich, daß die neue inter- der Haushaltsdebatte, wenigstens einen kurzen Au- nationale Arbeitsteilung die Arbeitsmärkte umfaßt? genblick über unsere Grenzen hinaussehen. Unser Tarifkartell merkt das sehr wohl. Aber auch Bis zur großen Wende des Jahres 1990 waren die hier wird defensiv reagiert. Hungrigen dieser Welt in den Entwicklungslände rn von uns, den Satten, relativ weit entfernt. Wir schick- Die Politik, eine ganz riesengroße Koalition in ten Entwicklungshilfe, meist zuwenig - heute übri- Deutschland, weit über die Parteien hinaus, schützt gens viel zuwenig. Aber jetzt sitzen die Hung rigen diesen Egoismus. Dabei ist es nicht einmal der Egois- vor unserer Haustür. Diese Haustür ist und bleibt ge- mus der Deutschen gegenüber dem Wettbewerber, öffnet, sosehr wir uns dagegen stemmen. Es kommen der über unsere Grenzen kommt. Es ist auch der die Produkte. Wenn wir das behindern, dann kom- blanke Egoismus der deutschen Arbeitsplatzbesitzer men die Menschen - entweder als Flüchtlinge oder gegenüber den eigenen, den deutschen Arbeitslo- als legale und illegale Arbeitskräfte. sen. Was tun wir - nicht nur in Deutschland - in den In- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) dustrieländern? Wir wahren Besitzstände. Es kann aber auf Dauer kein Frieden in Europa und in der Das Tarifkartell in Deutschland schaufelt die Folgen Welt sein, wenn wir das Wohlstandsgefälle nicht we- seines unflexiblen Tuns vor die Türen des Staates, nigstens abflachen. Es gab den Abstand bereits vor und der zahlt und zahlt und überzieht seine Bürger 1914 und vor 1939. Aber so groß wie heute war er mit maßlosen Steuern und Abgaben auf allen staatli- nie, besonders wenn Sie an die GUS-Staaten den- chen Ebenen. Er merkt gar nicht, daß wir uns auf ken. diese Weise immer tiefer in diesen Sumpf hineindre- hen. Erinnern Sie sich noch, verehrte Kolleginnen und Kollegen, an das bedrückende Bild der Polen-Märkte Das Land braucht Reformen, aber nicht die grünen in Berlin nach der Öffnung der Mauer? Da kamen die Reformen der Staatsintervention, auch nicht eine so- Menschen aus Polen, um ihre letzten Habseligkeiten genannte moderne Wirtschaftspolitik. Das ist die gegen harte Währung zu verkaufen. Heute sind das Wirtschaftspolitik des kurzfristigen Intervenierens, die Russen-Märkte in Warschau, gleich neben dem gut für die nächste Landtagswahl, schlecht für die Fußballstadion. Volkswirtschaft. Lemwerder ist ein Beispiel. 4360 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 52. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. September 1995

Dr. Otto Graf Lambsdorff Wir brauchen, meine Damen und Herren, Luft zum Sie sind doch immer wieder dabei, um das zu verhin- Atmen, zum Investieren, zur Innovation. Wir müssen dern. herunter mit Steuern und Abgaben. (Beifall bei der F.D.P. - Joseph Fischer (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wer hat 12 Milliarden DM für die Landwirt- Was nutzt das Verschiebespiel mit versicherungs- schaft als positiv dargestellt? Dazu sollten fremden Leistungen, das uns hier vorgeführt wird? Sie etwas sagen! Ist das keine Subvention?) Sie haben recht, daß sie nicht in den sozialen Bereich hineingehören. Aber dann machen Sie Vorschläge, - Verehrter Herr Kollege Fischer, Sie können mich wie eingespart werden kann. Von einer Kasse in die nicht von dem Unsinn der europäischen Agrarpolitik andere zu verlagern bringt gesamtwirtschaftlich überzeugen, weil ich längst überzeugt bin. Da brau- überhaupt nichts. chen Sie sich nicht anzustrengen. (Beifall bei der F.D.P. - Zurufe von der SPD) Aber wenn ich hier höre, meine Damen und Her- - Ich verstehe überhaupt nicht, warum sich die So- ren, wie Frau Fuchs uns finanzwissenschaftliche Vor- zialdemokraten so aufregen. lesungen hält, dann erinnert mich das an „Faust", zweiter Teil, Mephisto am Hofe des Kaisers. Das en- (Detlev von Larcher [SPD]: Wer regiert denn det mit dem Satz: Da habt ihr's nun, mit Narren sich hier?) beladen, das kommt zuletzt dem Teufel selbst zu Schaden. - So werden Finanzprobleme nicht gelöst. Sie verkünden doch dauernd, daß die Steuern und Abgaben zu hoch seien. Befassen Sie sich doch da- (Heiterkeit und Beifall bei der F.D.P. und mit! Sie machen nur Vorschläge, um die Abgaben der CDU/CSU - Anke Fuchs [Köln] [SPD]: weiter zu erhöhen. Wer die 580-DM-Arbeitsverhält- Da haben Sie in die falsche Rubrik gegrif nisse abschaffen und verbieten will, der jagt die fen, Herr Kollege!) Leute in die Illegalität, in die Arbeitslosigkeit und in die Schwarzarbeit. Meine Damen und Herren, wir brauchen mehr Liberalität in diesem Lande, wir brauchen mehr (Berthold Wittich [SPD]: Seit 25 Jahren re Flexibilität. Aber wenn man von Flexibilität am gieren Sie doch mit!) Arbeitsmarkt spricht, dann ruft Herr Dreßler „Kno- Das ist die Wahrheit. chenbrecher" . (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Wir brauchen mehr Markt und nicht weniger, und zwar in allen Bereichen unseres gesellschaftlichen Lebens. Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Graf Lambsdorff, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne Schwanhold? ten der CDU/CSU)

Wir brauchen mehr Verantwortung des einzelnen, Dr. Otto Graf Lambsdorff (F.D.P.): Bitte sehr, mit nicht nur für sein Eigeninteresse, auch für die freie Vergnügen. Bürgergesellschaft, in der wir leben wollen.

Bei uns darf man ja kaum die Frage nach der Ver- Ernst Schwanhold (SPD): Graf Lambsdorff, wären Sie bereit, mir zwei oder drei Beispiele für Subven- führung zum Mißbrauch stellen, die in der Regelung tionskürzungen und damit für Steuerersparnisse zu der Lohnfortzahlung liegt. Das ist doch darin enthal- nennen, die der Vorgänger im Amt von Herrn Rex- ten, und darüber sollte man doch einmal reden. Aber rodt, Wirtschaftsminister Möllemann, uns sehr laut- das ist schon verboten. Das Wo rt „Krankfeiern"- gibt stark angekündigt hat, damit ich nachvollziehen es in keiner anderen Sprache der Welt; das gibt es kann, was von Ihrer Seite getan worden ist? nur in der deutschen Sprache. (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Weil Sie das Dr. Otto Graf Lambsdorff (F.D.P.): In der öffentli- immer diskreditiert haben!) chen Diskussion wird meistens völlig übersehen - ich gebe zu, bei den unmittelbaren Transferleistungen Wer unsere Sozialpolitik kritisiert, verfällt in sind wir im Rückstand -, was wir an steuerlichen Deutschland dem Verdikt der Political Correctness. Subventionen in dieser Koalition in den letzten zehn, Herr Dreßler ist einer der Anführer; ich erinnere an zwölf Jahren abgeschafft haben. Das ist wirklich aller die Worte, die gestern hier zitiert worden sind, wie Ehren wert und läßt sich vorzeigen. Spielen Sie das man Debatten einfach totschlägt und eine intellektu- nicht immer herunter. elle und redliche Auseinandersetzung gar nicht mehr zuläßt. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Aber wenn es darum geht, die unglaublich hohen Subventionen auf Arbeitsplätze im deutschen Liberale Wirtschaftspolitik, Soziale Marktwirt- Steinkohlenbergbau einzuschränken, wer steht schaft verstehen sich seit Walter Eucken und Ludwig dann auf der Barrikade? Sie doch zu allervörderst. Erhard immer auch als Gesellschaftspoltik. Der Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 52. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. September 1995 4361

Dr. Otto Graf Lambsdorff Markt ist nicht Willkür, der Markt ist ein Ordnungs- Ruhr und Saar als „Anpassungsgeldfälle" abzu- prinzip. Wettbewerb ist nicht Catch-as-catch-can, schreiben gedenkt, anstatt mit diesem Geld Wege zu sondern Regelwerk in einer sittlich gefestigten freien ebnen, damit Menschen dauerhaft in Arbeit kommen Ordnung. und ihr Leben selbst gestalten können? Auf diesem Wege möchte die F.D.P.-Fraktion die (Beifall bei Abgeordneten der PDS) Bundesregierung sehen. Zu diesem Wege ermutigt Die zitierte Behauptung entspricht auch dann den sie sie, und auf diesem Wege unterstützt sie den Bun- Tatsachen nicht, wenn Beamten des Wirtschaftsmi- deswirtschaftsminister Günter Rexrodt. nisteriums zum Befehl des Herrn Waigel, global um Vielen Dank. 125 Millionen DM zu kürzen, nichts anderes einfällt, als regionale Wirtschaftsförderung, Forschungsförde- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) rung und Absatzförderung insbesondere für kleinere und mittlere Unternehmen Ostdeutschlands weiter zusammenzustreichen, und dies, obwohl niemand Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Das Wort hat jetzt ernsthaft bestreitet, daß sich eine selbsttragende der Abgeordnete Rolf Kutzmutz. Wirtschaftsstruktur in den neuen Ländern weitge- hend nur noch auf der Basis solcher Unternehmen entfalten können wird, weil es kaum noch andere Rolf Kutzmutz (PDS): Verehrte Frau Präsidentin! Unternehmen gibt, und das, obwohl wir uns alle in Meine Damen und Herren! Auf den ersten Blick diesem Haus einig sind, daß die kleinen und mittle- scheint der hier debattierte Entwurf des Einzelpla- ren Unternehmen hinsichtlich der Schaffung von Ar- nes 09, wie Herr Kollege Rossmanith festgestellt hat, beits- und Ausbildungsplätzen das Rückgrat der bei einer Steigerung von über 48 % in Ordnung zu Wirtschaft sind. gehen. Fast könnte man glauben, daß den Beschwö- rungsformeln des Bundeswirtschaftsministers von Sie sind von ihrer Struktur her die flexibelsten der Sicherung des Wirtschafts- und Technologie- Wirtschaftseinheiten, aber sie leiden an einer chroni- standortes Deutschland, vom „Fitmachen" für die In- schen Eigenkapitalschwäche. Sie haben deshalb Pro- formationsgesellschaft, von der Bündelung der Wi rt bleme insbesondere bei der Überführung von Inno- -schaftsfördermittel tatsächlich Taten gefolgt wären. vationen zur Marktreife und beim Absatz. Aber es ist wie überall im Leben: Der erste Blick Erst legen Sie, meine Damen und Herren von der täuscht. Kühnen Worten folgen einmal mehr klein- Regierung, Programme auf, die in Hochzinsphasen mütige Taten. Sie reichen weder für die Gegenwart, eher als Umsatzlokomotiven für Banken und poten- noch sind sie für die Zukunft geeignet. In Wahrheit tielle Galgenstricke für Existenzgründer denn als geht es auch in diesem Haushalt um eine Senkung Mittelstandsförderung geeignet sind, um etwa 15 %. (Beifall bei Abgeordneten der PDS) Herr Rexrodt, Sie haben Flexibilisierung und De- regulierung angesprochen. Ich möchte dazu nur und in der Stunde der Wahrheit, die jetzt gekommen zwei Anmerkungen machen. ist, wollen Sie nun dem schon in der Schlinge befind- lichen Delinquenten auch noch den Schemel unter Erstens. Im Gespräch mit führenden Vertretern ei- den Füßen wegziehen. nes Automobilkonzerns, an dem ich im Rahmen des Wirtschaftsausschusses teilnehmen konnte, bin ich Gestern war überall zu lesen, daß die Zahl von Un- zu der Überzeugung gekommen, daß die Flexibilisie- ternehmenspleiten von Januar bis Ende Mai gegen- rung in der Wirtschaft gegenwärtig viel weiter voran- über demselben Vorjahreszeitraum im Westen geschritten ist, als wir es politisch annehmen. Bei vie- Deutschlands um 12,3 % und in Ostdeutschland um len Forderungen, die wir Politiker stellen, hinken wir sage und schreibe 48,7 % angestiegen ist. Ich kann hinterher. Auch bin ich der Auffassung, daß in den mir beim besten Willen nicht vorstellen, wie das mit Unternehmen die Flexibilisierung zuallererst von der vom Wirtschaftsministerium gegebenen Begrün- den Arbeitnehmern abgefordert wird. dung einhergeht, einer „beabsichtigten Konzentra- tion der Mittel" bei der Absatzförderung Rechnung Zweitens. Mit Blick auf die DASA-Gespräche zu tragen. fürchte ich, bekennende Deregulierer werden einmal mehr nach dem Motto verfahren: Gewinne sind zu Herr Rexrodt wird nicht müde, über das Auslichten privatisieren, Verluste zu vergesellschaften, selbst des Förderdickichts zu sprechen. Daß sein Haus die wenn sie allein von Managern zu verantworten sind. Axt nun ausgerechnet an die Gemeinschaftsaufgabe Hier und nicht bei den wirklich Bedürftigen sollte „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur" über Leistungsmißbrauch gesprochen werden. Auch anzulegen gedenkt, zeugt weniger von findigen im Etat des Wirtschaftsministers zeigt sich, daß mit Wirtschaftslenkern denn von Elefanten im Porzellan- den Sparmaßnahmen zuallererst bei den Schwäche- laden ökonomischen Strukturwandels. Damit wird ei- ren in der Gesellschaft angesetzt wird. nes der wenigen flexibel handhabbaren und dabei tatsächlich abrechenbaren Fördermittel, weil es sich Herr Waigel sprach von der Stärkung des Indu- an konkreten Arbeitsplätzen und nicht an abstrakten striestandortes Deutschland und damit von mehr Ar- Investitionssummen orientiert, nicht zu einer Förder- beitsplätzen. Was soll solch eine Behauptung ange- basis in Ost und West ausgebaut, sondern - gemes- sichts von beispielsweise knapp 300 Millionen DM, sen an der Größe 1994 - um über 620 Millionen DM mit denen diese Bundesregierung Fünfzigjährige an zusammengestrichen. 4362 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 52. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. September 1995 Rolf Kutzmutz Ich kann keine Strategie erkennen, wenn einer- Stefan Heym (PDS): Frau Präsidentin! Meine Da- seits mit dem aktuellen Rahmenplan der Gemein- men und Herren! Ich danke Ihnen, daß Sie mir zwei schaftsaufgabe Fördersätze und Förderfelder, wie ich Minuten geschenkt haben, Frau Professor Süssmuth. finde, zu Recht, ausgedehnt werden, die Bundesre- gierung jedoch andererseits - ich zitiere aus der Er- Gestern ist unter dem Mururoa-Atoll eine Atom- läuterung zum Einzelplan 09 - „eine schrittweise bombe explodiert. Gestern ist wieder eine Wunde in Rückführung der GA Ost für vertretbar" hält. Das die Hülle unserer armen Erde gerissen worden, die klingt moderat, entpuppt sich jedoch als Kahlschlag böse Folgen für die Menschheit haben wird. von 500 Millionen DM, mit dem das Bewilligungs- Gestern sprachen hier zu dem Thema die Herren volumen an Länder-, Bundes- und EU-Mitteln um Dr. Schäuble und Dr. Kohl. Ich habe hier gesessen insgesamt 2 Milliarden DM schrumpfen würde. und ihnen zugehört und habe mich geschämt, wie Wohl wissend, daß es Vorschläge unserer Gruppe zwei erwachsene Männer, beide ausgestattet mit gro- in diesem Hause immer schwer haben, überhaupt ßer Macht, sich wie Schulbuben gewunden haben, Gehör zu finden, werden wir demokratischen Soziali- die vor dem Lehrer faule Ausreden vorbringen. sten in den bevorstehenden Ausschußberatungen „Freundschaft", sagen Sie, „Freundschaft mit der Anträge einbringen, die eine effektive regionale französischen Regierung". Was ist das für eine Wirtschaftsförderung im Osten konsolidieren und im Freundschaft, wo sich der eine Pa rtner weigert, auf Westen durchaus ausweiten können. die Bitten und Warnungen des anderen auch nur ein- Auch meinen wir, daß durch Erhöhung der Förde- zugehen und statt dessen auf seinen mörderischen Plänen besteht? Wie wird sich eine solche Freund- rung regenerativer Energien von 30 auf mindestens 100 Millionen DM zumindest ein bescheidenes Si- schaft bei anderer Gelegenheit bewähren? gnal für den ökologischen Umbau gesetzt werden (Dr. Renate Hellwig [CDU/CSU]: Wie ist sollte, übrigens ohne den Gesamtetat zu erhöhen. Ihre Freundschaft zu China?) Herr Rexrodt hat - ich denke, durchaus unter dem Wie klein und ängstlich muß einer sein, der sich Eindruck der gestern veröffentlichten Arbeitslosen- weigert, einem eitlen und machthungrigen Mann zahlen - davon gesprochen, daß es jetzt darum gehe, wie dem französischen Präsidenten die Meinung der dicke Bretter zu bohren. Ich will die Ausführungen Menschen hier zu sagen, und statt dessen eine ent- von Frau Kollegin Wolf dazu hier nicht wiederholen, sprechende gemeinsame Entschließung dieses Hau- obwohl das von ihr gewählte Beispiel sehr gut war, ses verhindert? aber fragen möchte ich: Wer hinde rt eigentlich daran, daß dicke Bretter gebohrt werden? Wer hat Laßt uns wenigstens heute das Versäumte nachho- Herrn Rexrodt bisher daran gehindert, angesichts len und in einer Protestresolution an das französi- von 3,5 Millionen Arbeitslosen dicke Bretter zu boh- sche Parlament verlangen, ren? (Dr. Otto Graf Lambsdorff [F.D.P.]: Wo sind (Beifall bei der PDS) wir denn?) Ich kann die Frage nicht beantworten und warte daß weitere Tests unter Mururoa gestoppt werden. deshalb auf eine Antwort von der Regierungsbank. Ich danke Ihnen. Eine grundlegende Veränderung der Arbeits- (Beifall bei der PDS) marktsituation setzt eine Verbesserung der wirt- schaftlichen Rahmenbedingungen bei gleichzeitig Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Heym, ich gestaltender Arbeitsmarktpolitik und vor allem öf- habe Sie nicht unterbrochen, damit nicht der Ein- fentlich geförderter Arbeit voraus. Das ist keine neue druck entsteht, dieses Haus ginge nicht fair mit Ih- Erkenntnis, obwohl sie immer wieder diskutiert wird. nen um. Aber ich muß Ihnen sagen: Die Kurzinter- - Es ist gut zu wissen, mit dieser Auffassung nicht vention hat mit unserem heutigen Tagesordnungs- allein zu sein. Ich entnahm sie nämlich einer Studie, punkt nichts zu tun. am Montag veröffentlicht, der Evangelischen Kirche (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) in Deutschland. Wenn Sie, meine Damen und Herren von der CDU/CSU und der F.D.P., uns schon nicht zu- Das muß ich einfach der Ordnung halber feststellen, hören, (Dr. Otto Graf Lambsdorff [F.D.P.]: Das (Zuruf von der CDU/CSU: Was? Wir hören heißt, der Herr Heym geht nicht fair mit die zu!) sem Hause um!) dann sollten Sie, die Sie das C in Ihrem Parteinamen so daß ich Ihnen das einmal sagen möchte. tragen, ab und an wenigstens auf Signale aus den Kirchen hören. (Dr. [PDS]: Sie werden doch Herrn Heym ertragen können!) Danke schön. - Das ist geschehen, Frau Enkelmann. Wir haben in (Beifall bei der PDS) Ruhe zugehört. Aber es ist dennoch notwendig, dies hier zu sagen. Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Das Wort zu einer Der Abgeordnete Schily hat ebenfalls das Wo rt zu Kurzintervention hat der Abgeordnete Stefan Heym. einer Kurzintervention. Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 52. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. September 1995 4363

Otto Schily (SPD): Ich möchte auf eine Bemerkung fragen: Wann lernt die SPD hier endlich dazu und des Herrn Rexrodt zurückkommen, in der er behaup- kommt zu der Erkenntnis, daß Beschlüsse von Partei- tet hat, die sozialdemokratisch regierten Kommunen oder Gewerkschaftstagen nichts an den weltwirt- seien beim Bürokratieabbau nicht vorangekommen. schaftlichen Konkurrenzverhältnissen ändern kön- nen? Ich werde noch einige Zitate anfügen. Herr Rexrodt, vielleicht ist Ihnen nicht bekannt - dann lassen Sie sich das vielleicht von Ihren Mitar- (Beifall bei der CDU/CSU - Anke Fuchs beitern einmal deutlich machen -, daß gerade sozial- [Köln] [SPD]: Das trifft mich nicht!) demokratisch regierte Kommunen bei der Moderni- sierung der Verwaltung und beim Bürokratieabbau Wann begreift die SPD als traditionelle Arbeitneh- besondere Erfolge zu verzeichnen haben. merpartei früherer Tage, daß deutsche Unternehmen in einem freien Weltmarkt auswandern können, die Wenn Sie mir das nicht glauben, dann erkundigen deutschen Arbeitnehmer aber nicht? Sie sich bitte bei der Akademie für Verwaltungswis- senschaften in Speyer, die nämlich z. B. die Städte Frau Fuchs, Sie sagten auch einiges Richtige. Saarbrücken und Heidelberg für die hervorragende Arbeit ausgezeichnet hat, die do rt auf diesem Gebiet (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Danke schön!) geleistet wird. Sie haben gesagt: Das deutsche Management ist ge- Ich will Ihnen gern eine Einladung von Frau Weber fordert. Ich bin mit Ihnen der Meinung, daß es nicht vermitteln. Ich selber habe mir angesehen, wie do rt reicht, Werke zu schließen und Mitarbeiter zu entlas- enorme Kostenersparnisse und Leistungszuwächse sen, weil dies keine unternehmerische Leistung ist, durch eine vernünftige Verwaltungsmodernisierung die den Standort Deutschland für die Zukunft fit erzielt werden. macht. Gleichermaßen aber sind wir in der Politik ge- Also, gucken Sie sich das doch selber einmal an, fordert, endlich die Rahmenbedingungen dafür zu ehe Sie uns Ihre Vorurteile präsentieren. schaffen, daß Deutschland wettbewerbsfähig bleibt und die Produkte verkauft werden können. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Sie regieren! Dann machen Sie das doch!)

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Das Wort hat jetzt Vor dem Hintergrund fundamental geänderter in der weiteren Debatte der Abgeordnete Rainer weltwirtschaftlicher und politischer Rahmenbedin- Haungs. gungen bedeutet dies - ich zitiere -, daß der Produk- tionsstandort selbst nur konkurrenzfähig bleibt, Rainer Haungs (CDU/CSU): Frau Präsidentin! wenn er den sich aus der Globalisierung der Märkte Meine sehr verehrten Damen und Herren! Eine ergebenden Rationalisierungs- und Produktivitäts- Übereinstimmung in dieser Debatte war, daß die Be- druck aushält. Dieses in der Sache richtige Zitat kämpfung der Arbeitslosigkeit in Deutschland vor- stammt vom niedersächsischen Ministerpräsidenten dringliche Aufgabe unserer Politik der Zukunft sein Gerhard Schröder, der für solche Sätze und - das wird. Denn die Kurzanalyse heißt: Konjunktur gut, gebe ich zu - andere Ungehörigkeiten von der SPD Beschäftigung schlecht. Dabei steht im Vordergrund, nicht geschätzt wird und vom Amt des wirtschafts- den Investitions- und Innovationsstandort Deutsch- politischen Sprechers entbunden wurde. land zu sichern und seine Attraktivität zu erhöhen. Wer allerdings den Rednern aufmerksam zugehört Lieber Kollege Jens - Sie sprechen ja nach mir -, hat, wird wohl festgestellt haben, daß wir zur Errei- passen Sie auf, daß Sie jetzt und in der Zukunft nicht chung dieses Ziels nach wie vor unterschiedliche zu viel Wahres sagen. Es könnte Ihnen von Ihrer Par- Wege verfolgen. tei schlecht belohnt werden. - Die Realität - dies will ich den Kolleginnen und (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Das stimmt bei Kollegen von der Opposition sagen - wurde dieser ihm nicht! - Dr. Otto Graf Lambsdorff Tage richtig von der „Stuttgarter Zeitung" beschrie- [F.D.P.]: Der Versuch wurde doch schon bei ben, in der es heißt: Herrn Jens gemacht!) Wer den Begriff Standort Deutschland als be- - Ja. Sie meinen, schon der Versuch sei strafbar? kämpfenswerte Parole der Regierung begreift, darf sich nicht wundern, wenn ihm die wirtschaft- Die mit Recht angemahnte Konkurrenzfähigkeit liche Kompetenz abgesprochen wird. unserer Wirtschaft muß auch die Konkurrenzfähig- keit und die damit verbundene Flexibilität unseres (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge Arbeitsmarktes einbeziehen. Flexibilität heißt eben, ordneten der F.D.P. - Ernst Hinsken [CDU/ den Samstag als Regelarbeitstag - das heißt: Arbeit CSU]: Diese Zeitung hat recht!) ohne Zuschläge - anzuerkennen. Wenn ich dies interpretiere, muß ich nach wie vor, Wie schreibt die FAZ so schön: Der Normalarbeits- auch nach dem, was gestern Herr Scharping und tag im Tarifvertrag gehört ebenso wie der Normalein- heute Frau Kollegin Fuchs gesagt haben, kaufstag im Ladenschluß in die Frühzeit des Indu- (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Das war doch striezeitalters. Ich füge hinzu: Er paßt nicht mehr in gut, was ich gesagt habe!) die heutige Zeit. 4364 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 52. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. September 1995 Rainer Haungs Was tut die SPD? Sie schreit auf. Wenn wir Flexibi- - Habe ich mich schlecht benommen? Mir wird lität in der Arbeitswelt fordern, sei es in der Indust rie, schlechtes Benehmen vorgeworfen, Frau Präsidentin. sei es bei den Dienstleistungen, dann wird gleich der Das trifft mich tief. Totalangriff auf den Sozialstaat ausgerufen. Das ist völlig falsch und übertrieben. Unsere Forderungen, Ich frage noch einmal: Sind Sie nicht mit mir der die Anreize zur Arbeitsaufnahme zu verbessern, Auffassung, daß wir aufpassen müssen, daß wir nicht werden ebenfalls als Anschlag auf den Sozialstaat einzelne Themen sozusagen als Kampfthemen be- diffamiert. nutzen, um uns gegenseitig zu diskreditieren? Würden Sie bitte zur Kenntnis nehmen, daß wir So- Doch, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, zialdemokraten für Flexibilisierung sind. Ihr Thema ohne größere Flexibilität in allen Bereichen, insbe- Jahresarbeitszeit finde ich spannend, weil es sondere auf dem Arbeitsmarkt, werden die zukünfti- Schwankungen in der Konjunktur auffangen kann. gen Herausforderungen nicht zu meistern sein. Wir sind da voll mit Ihnen auf dem Dampfer. Deswe- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) gen fände ich es sehr viel praktischer, wenn wir es nicht gegeneinander diskutieren würden, sondern Wir werden die Arbeitslosigkeit nicht abbauen kön- nach sachlichen Übereinkünften suchen würden, da- nen, wenn die Rezepte, die Sie vorgetragen haben - mit wir dieses Kampfgetöse unterlassen können. ich habe allen Kollegen aufmerksam zugehört -, ver- ordnet würden. Das wäre die falsche Kur für den Pa- Ich darf Sie auch fragen, ob Sie nicht mit mir der tienten „Arbeitsmarkt Deutschland". Meinung sind, daß das meiste, was Sie hier vortra- gen, Aufgabe der Tarifvertragsparteien ist, und de- Die Erwartungen an die Tarifautonomie waren ren Konsensfähigkeit zu erhalten ist unsere Aufgabe. noch nie so hoch wie derzeit. Zu beobachten sind je- doch unangemessen hohe Tarifabschlüsse, unzeitge- (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Wo ist Hen mäße Flächentarife, Streik und Arbeitsniederlegun- Dreßler?) gen, die nicht in die konjunkturelle Landschaft der Automobilindustrie passen, eine außergewöhnlich Rainer Haungs (CDU/CSU): Da hinten sitzt er. teure Konstruktion der Lohnfortzahlung mit vielen Mißbrauchsmöglichkeiten und unangemessene For- (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Der gehört auf derungen nach wöchentlicher Arbeitszeitverkür- geklärt!) zung, wobei wir alle wissen, daß Jahresarbeitszeitre- Liebe Kollegin Fuchs, wenn ich es richtig verstan- gelungen das Richtige wären. den habe, waren es zwei Fragen. Bei dem einen Aber alle Bemühungen zu Reformen werden von stimme ich Ihnen voll und ganz zu und bitte Sie und der SPD fast schon reflexhaft verworfen. Die Rede Ih- alle Kollegen von der SPD, wenn wir über den Um- res Fraktionsvorsitzenden gestern war der beste Be- bau des Sozialstaats reden, weis dafür. Wenn das „Handelsblatt" schreibt, mit (Zuruf von der SPD: Abbau ist es doch!) dieser Rede könne er höchstens Sozialminister, nie- mals aber Bundeskanzler werden, wird dies wohl wo es um Flexibilisierung geht, wo es um viele Berei- keine adäquate Leistung gewesen sein, um eine che geht, dies nicht als Kampfthema aufzufassen, Wirtschaftskompetenz für die Opposition zu errei- sondern mit uns sachlich und seriös über diese Dinge chen. zu reden, die wir tun können. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU Ich bin mit Ihnen der Meinung - das habe ich auch und der F.D.P.) gesagt -, daß die Tarifpartner heute Anforderungen ausgesetzt sind wie noch nie in der Vergangenheit und daß wir sie allerdings in der Politik unterstützen Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Haungs, ge- sollen, die richtigen Wege zu gehen. Jahresarbeits- statten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten zeit ist in der Tat ein spannendes Thema,- aber Sie Fuchs? dürfen dann nicht, wenn bei uns Stichworte wie „Schlechtwettergeld" oder „Jahresarbeitszeit" fal- len, sofort in das Getöse ausbrechen und Streiks aus- Rainer Haungs (CDU/CSU): Ja, gern. rufen. Wenn wir für die Automobilindustrie eine fle- (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Jetzt kommt's!) xible Jahresarbeitszeit - im Frühjahr mehr, im Herbst weniger - fordern, dürfen Sie nicht nach Zuschlägen für Samstagsarbeit oder so etwas rufen, sondern müs- Anke Fuchs (Köln) (SPD): Herr Kollege, können sen damit einverstanden sein, dies übers Jahr zu fle- Sie mir zustimmen, xibilisieren. (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Bestimmt (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Das ist das nicht!) Thema!) daß auch die Frage der Flexibilisierung in der Zwi- Ich bin mit Ihnen auch der Meinung, daß die Be- schenzeit zu einem Kampfthema geworden ist? wahrung des Sozialstaats und des sozialen Friedens ein positiver Wirtschaftsfaktor für die Bundesrepu- (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: blik Deutschland ist, Bringen Sie der Dame erst mal anständiges Benehmen bei! - Widerspruch bei der SPD) (Zuruf von der SPD: Tun Sie etwas dafür!) Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 52. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. September 1995 4365

Rainer Haungs erhalten werden sollte, daß aber jeder, der diese posi- Ich habe natürlich nicht gesagt, daß wir das Lohn- tiven Dinge erhalten will, gefordert ist, sie an unsere niveau in unseren Konkurrenzländern absenken soll- heutige Zeit und die Wettbewerbsverhältnisse anzu- ten. Darauf haben wir im übrigen gar keinen Einfluß. passen. Ich wundere mich immer wieder, welche Gedanken sich die SPD über die Verhältnisse in anderen Län- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) dern macht, anstatt daranzugehen, die Verhältnisse Es wurde von meinen Vorrednern schon gesagt, in unserem Land tatkräftig zu ändern. wie wenig im Vergleich zu früheren Jahren - jetzt ist (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) überhaupt niemand mehr da - die Troika vertreten ist. Ministerpräsident Schröder ist nicht mehr gelit- Interpretieren Sie mich also nicht falsch! ten; das kann ich verstehen. Das zweite ist ökonomisch völlig klar. „Trade is (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Das stimmt! better than aid", hat vorhin der Kollege Graf Lambs- Der wurde heute nicht eingeflogen!) dorff gesagt. Darum sagen wir: Wir geben den Men- Aber der Ministerpräsident des Saarlandes, Lafon- schen in den Entwicklungslände rn die beste Chance, taine, hat beim Gewerkschaftstag der IG Chemie einen wenn wir ihnen die Möglichkeit bieten, ihre Pro- Redebeitrag geleistet, der fundamental dem wider- dukte am Weltmarkt anzubieten. spricht, was hier so dargelegt wird, als ob man über (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Aber irgend je viele vernünftige Dinge der Wi rtschaftspolitik reden mand muß sie auch kaufen können!) könne. Er ist leider nicht da. Er war, wenn ich es richtig erinnere, vor Herrn Schröder wi rtschaftspolitischer - Ja. Da wir aber gleichzeitig die verdammte Pflicht Sprecher seiner Partei. Was soll man von den Ausfüh- haben, die politischen Voraussetzungen in der Bun- rungen des saarländischen Ministerpräsidenten hal- desrepublik Deutschland dafür zu schaffen, daß un- ten, der auf dem Gewerkschaftstag der IG Chemie er- sere Bürger Arbeit haben, müssen wir diese Konkur- klärt hat, daß das Kostenargument - das ist ein Zitat - renzverhältnisse sehen und darauf antworten. nicht dazu mißbraucht werden dürfe, Arbeitsplätze zu Dann haben Sie noch das Kaufkraftangebot ge- exportieren; eher solle man darauf hinwirken, das nannt. Es ist schon langsam lächerlich, wie oft man Lohnniveau in den Konkurrenzländern anzuheben. hier und andernorts dieses Argument, das in etwa (Beifall bei Abgeordneten der PDS - Zuruf der Münchhausen-Theo rie entspricht, widerlegen von der SPD: Da hat er doch recht!) muß. Liebe Kolleginnen und Kollegen, in welcher (Beifall des Abg. Hans-Joachim Fuchtel Traumwelt lebt denn die Opposition? In welcher [CDU/CSU]) Traumwelt lebt denn Herr Lafontaine? Wenn wir sa- gen, die Globalisierung von Produkten und Arbeits- Sie werden, bezogen auf die Bundesrepublik märkten erfordere Anpassung und keine Leugnung, Deutschland, keine Chance haben, mit dem Kauf- keine Flucht in eine Traumwelt, und Sie mir nicht kraftargument eine Belebung der Wirtschaft zu er- glauben, dann darf ich noch einmal eine Zeitung zi- zielen. tieren, der ich nur zustimmen kann: Diese Gedan- (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Warum haben kenführung sei „gut sozialdemokratisch gedacht - wir Steuerentlastungen durchgeführt?) aber an der Wirklichkeit vorbei" . Da könnten Sie nur in Verbindung mit Protektionis- (Beifall bei der CDU/CSU) mus etwas erreichen. Denn wir leben in einem offe- nen Markt mit den Wettbewerbs- und Kaufverhält- Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Haungs, ge- nissen, die ich zu beschreiben versuche. Auch häufi- statten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten ges und energisches Kopfschütteln ändert nichts an Büttner? diesen Zusammenhängen. - (Beifall bei der CDU/CSU) Rainer Haungs (CDU/CSU): Sehr gern. Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Haungs, es Hans Büttner (Ingolstadt) (SPD): Herr Haungs, gibt eine weitere Zwischenfrage, und zwar des Ab- wenn ich Ihre Aussage richtig interpretiere, dann ha- geordneten Hiksch. - Herr Hiksch. ben Sie gesagt, es müsse, weltweit gesehen, das Lohnniveau abgesenkt werden. Wenn das so ist, wol- len Sie mir dann bitte erklären, wie Sie damit neue Uwe Hiksch (SPD): Sehr geehrter Kollege, können Kaufkraft, neue Märkte und neue Nachfrage schaf- Sie mir zustimmen, daß es geradezu absurd ist, zu fen wollen? behaupten, daß es nicht notwendig sei, wenn man wirtschaftspolitisch kompetent sein möchte, sich auch mit wi schaftlichen und sozialen Bedingungen (CDU/CSU): Ich danke Ihnen für rt Rainer Haungs in anderen Ländern zu beschäftigen? Gerade die diese Frage, gibt sie mir doch die Möglichkeit, den Globalisierung der Wirtschaft verlangt von nationa- Kollegen von der SPD-Fraktion ein paar Hinweise zu len Parlamenten, sich damit auseinanderzusetzen, wirtschaftspolitischen Zusammenhängen zu geben. wie es gelingen kann, in einer integrierten Strategie (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Nachhilfe heißt durchzusetzen, daß wi rtschaftspolitische Rahmenda- das!) ten ähnlich gesetzt werden. Können Sie mir gleich- 4366 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 52. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. September 1995

Uwe Hiksch zeitig zustimmen, daß es das Gegenteil - ich betone: Volkswirte - das spricht für den Kollegen Jens -, haßt das absolute Gegenteil - aber die Betriebswirte. Das ist wahrscheinlich eines ihrer Grundprobleme, daß Sie es nach wie vor nicht (Kurt J. Rossmanith [CDU/CSU]: Das haben verstehen, hier die Konkurrenzverhältnisse und die Sie gut bei der Gewerkschaft gelernt! Aus betriebswirtschaftlichen Verhältnisse in den deut- wendig!) schen Unternehmen so zu beurteilen, daß Sie die zu einem Teil - ich sage bewußt: einem Teil - Ihrer Konsequenzen aus den Reden ziehen und an den Politik darstellt, davon zu sprechen, daß Sozialdemo- Änderungen der Rahmenbedingungen so mitarbei- kraten in einer Traumwelt lebten, wenn sie sich dafür ten, daß bei uns wieder mehr Arbeitsverhältnisse ent- einsetzen, daß Kostenstrukturen, Sozialbedingungen stehen. und Löhne in anderen Ländern verbessert werden? (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Zurufe von der CDU/CSU und der F.D.P.: Sich den Realitäten zu stellen bedeutet Unabhän- Frage!) gigkeit von Parteitagsbeschlüssen, die Modernisie- Tritt - da ist die Frage - Ihre Pa rtei nicht mehr dafür rung der Arbeitsorganisation, die Reform des Sozial- ein, daß auf europäischer Ebene, in allen 15 Ländern, staates und eine konkurrenzfähige Unternehmens- Rahmendaten geschaffen werden, damit es gelingt, besteuerung. Es ist erfreulich, zu sehen, daß sich die Mindestbedingungen im Sozialbereich und vor allen SPD uns in einigen Punkten angenähert hat. Aber Dingen auch im Lohnbereich durchzusetzen? ich sage Ihnen noch einmal: So viel Zeit wie sich die SPD beispielsweise beim Abbau der Gewerbesteuer oder beim Energiekonsens, zu dem ich noch zwei Rainer Haungs (CDU/CSU): Diese Frage ist ein Sätze sage, nimmt, hat die deutsche Wirtschaft nicht. bißchen kompliziert und verwunderlich. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) ( [F.D.P.]: Ja!) Es geht nicht darum, unverbindlich über alles zu dis- Fangen wir einmal bei dem letzten an. Vorhin wurde kutieren und anschließend wieder das Haus zu ver- doch gerade gesagt, wir versuchten - auch ich tue lassen. Frau Fuchs, Sie haben zur Energiepolitik und das -, in der Lohnpolitik die Tarifpartner darüber ent- auch zu der Notwendigkeit, was man hier alles ma- scheiden zu lassen, welche Daten sie in bezug auf chen könnte, richtige Worte gesagt. Man hätte sehr Beschäftigungschancen setzen. Dies gilt in der Bun- viel machen können: die Nutzung der heimischen desrepublik Deutschland genau so wie für die Tarif- Energiereserven, den Umbau für regenerative Ener- partner in anderen Ländern. gien, die Weiterentwicklung sicherer Reaktorlinien. Die andere Frage war natürlich sehr polemisch ge- All dies hätte man tun können. Ich gehe davon aus, stellt. Deshalb kann ich sie nur verneinen. Ich würde Sie hätten es getan, und einige Ihrer Kollegen hätten es auch getan. Der Kollege Hinsken war bei diesen den Sozialdemokraten sehr viel eher empfehlen, sich Gesprächen dabei. Wir haben eine weitgehende um die Bedingungen in den anderen Ländern etwas intensiver zu kümmern. Ich kann Ihnen nur raten, Übereinstimmung in sachlichen Themen gefunden, wie die möglichst viele Reisen in unsere Konkurrenzländer Energiepolitik der Bundesrepublik Deutsch- zu machen und dort zu schauen, unter welchen Be- land in der Zukunft aussieht. dingungen und zu welchen Bedingungen Produkte Ich meine, eine Partei, die sich dann aus ideologi- erstellt werden, die mit unseren im Wettbewerb ste- schen und nicht zuletzt aus persönlichen Gründen in- hen. Da würde ich auch jegliche Kritik des Bundes nerhalb der SPD, gegen diesen richtigen Kompromiß, der Steuerzahler ertragen. Wenn es Ihnen gelänge, gegen diesen richtigen Konsens wehrt und hier auf- hier nicht nur irgendwelche soziologischen Studien tritt und über Modernisierung der Wirtschaft spricht, zu treiben, sondern hier die ökonomischen Verhält- ist nicht akzeptabel. Sitzen wir doch zusammen, und nisse zu studieren und die richtige Konsequenz für reden wir. Suchen wir doch gemeinsam eine vernünf- die Arbeitswelt in Deutschland zu ziehen, dann tige Lösung. Bevor wir wieder eine solche- Runde an- würde ich Ihnen dies sehr empfehlen. Die Beschäfti- setzen, um eine vernünftige Lösung zu suchen, wo gung mit der Konkurrenz ist schon immer die Grund- man dann aus eigensinnigen SPD-Parteigründen lage des Erfolges. Was für eine Firma gilt, gilt insge- nicht zum Zuge kommt, muß man überlegen, ob dies samt auch für eine Volkswirtschaft. in Zukunft eine Chance haben kann. (Beifall bei der CDU/CSU - Detlev von Lar (Beifall bei der CDU/CSU - Ernst Hinsken cher [SPD]: Welche Konsequenz? - Zuruf [CDU/CSU]: Obwohl die Wirtschaftsbosse des Abg. Dr. Otto Graf Lambsdorff [F.D.P.]) hier sehr vernünftig waren!) Ich darf jetzt in meinen Ausführungen fortfahren, Ich mache abschließend ein paar Bemerkungen zu sage aber noch einmal ausdrücklich, daß ich für jede ebenso wichtigen Themen. Wir müssen die Chancen Zwischenfrage dankbar war. Die Senkung der Lohn- auf den Wachstumsmärkten dieser Welt eröffnen. zusatzkosten - jetzt sind wir wieder bei diesem etwas Die Südamerika-Offensive und die Ostasien-Offen- trockenen Thema, von dem man ab und zu Ausflüge sive zeigen, daß der Wirtschaftsminister, daß wir, die in die Weltpolitik machen kann - wird von der Wi rt Wirtschaftspolitiker der Koalition, in diesem Bereich -schaft als eine viel wichtigere Frage angesehen als das Richtige tun. Man sucht ja immer nach Konzep- von Ihnen. Das erinnert mich an ein Zitat des frühe- ten. Es dürfte in einer arbeitsteiligen Weltwirtschaft ren Hamburger Bürgermeisters von Dohnanyi, der wohl das richtige Konzept sein, einerseits bei uns die gesagt hat: Die SPD liebt die Soziologen, achtet die Produktionsbedingungen zu modernisieren, anderer- Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 52. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. September 1995 4367

Rainer Haungs seits den Unternehmen da Hilfestellung zu geben, Folgendes kommt hinzu: Er meint, Deregulierung, wo es notwendig ist. Wenn ich mir die Auseinander- Flexibilisierung und Entbürokratisierung seien of- setzung zwischen dem Wirtschaftsminister und dem fenbar schon Maßnahmen zur Schaffung von Ar- Außenminister über die Frage anschaue - wobei ich beitsplätzen. Das ist völlig falsch. von vornherein den Wirtschaftsminister unterstütze -, (Beifall bei der SPD - Kurt J. Rossmanith wer für die AuBenwirtschaftspolitik die größere Ver- [CDU/CSU]: Aber Voraussetzungen!) antwortung tragen soll, dann sage ich: Mir ist es lie- ber, daß auf einmal ein edler Wettstreit zwischen Zunächst werden mit der Deregulierung, der Privati- zwei Ministerien ausbricht und beide dafür zustän- sierung und der Entbürokratisierung Arbeitsplätze dig sein wollen, deutschen Unternehmen im Ausland abgebaut. zu helfen und Anlaufstellen für sie zu finden, als daß sich das Außenministerium wie in früheren Jahren (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Aber langfri vornehmer Zurückhaltung befleißigt. Aber als Ergeb- stig gesichert!) nis dieses edlen Wettstreits sollte herauskommen, Aber ich gebe gern zu - weil ich mich immer um Ob- daß der Wirtschaftsminister die Federführung hat jektivität bemühe -: Dies führt schon dazu, daß die und behält, weil es ein eminent wichtiges Gebiet un- Wachstumsbedingungen vielleicht besser werden, so serer Wirtschaftspolitik ist, Chancen für die Außen- daß wir dann möglicherweise ein Wachstum haben wirtschaft zu eröffnen. und Arbeitsplätze schaffen können. (Beifall des Abg. E rnst Hinsken [CDU/CSU]) (Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!) Auch die vorhin vorgetragenen Vorwürfe, wir wür- Aber das ist ein sehr, sehr langfristiger Prozeß. den in den neuen Bundesländern zuwenig machen, gehen völlig an den Tatsachen vorbei. Wir bestärken (Kurt J. Rossmanith [CDU/CSU]: Wir haben den Wirtschaftsminister darin - wir haben den Haus- ja gesagt: Voraussetzungen!) halt auch so angelegt -, sich auf die wichtigen Hilfen Nein, wir müssen, um das Problem der Arbeitslosig- vor allem im industriellen Bereich zu konzentrieren. keit ein bißchen besser in den Griff zu bekommen, Wir wollen aber nicht in unseren Anstrengungen die Weichen ganz zweifellos endlich neu stellen. Wir -nachlassen, die Differenzen zwischen Produktivitäts brauchen einen höheren Zuwachs des Bruttosozial- und Einkommensniveau möglichst bald zu beseitigen. produkts, und wir müssen ganz zweifellos etwas für Ich komme zum Schluß. Wer so einseitig wie Sie, mehr Flexibilisierung tun. Dafür will ich mich aus- meine Damen und Herren von der Opposition, eine drücklich aussprechen, Umverteilungspolitik alten Stils einfordert, an der so- (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Sehr vernünf zialen Klagemauer steht, wie Ihr Herr Scharping ge- tig!) stern - erinnern Sie sich doch an diese schwache Rede-, wer die notwendige Modernisierung verweigert und insbesondere wenn wir wollen, daß die Lohneinkom- die Kostenprobleme negiert oder bagatellisiert, der ist men in der Bundesrepublik Deutschland auf der jet- im Schröderschen Sinne wirklich „unmodern". zigen Höhe gehalten werden oder möglicherweise gar noch verbessert werden. Wir brauchen mehr Fle- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. - xibilisierung; wir brauchen ebenfalls eine Flexibili- Detlev von Larcher [SPD]: Wie kann man sierung der Arbeitszeit nur so viel Unsinn reden!) (Beifall bei der CDU/CSU)

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als nächster - das ist gar keine Frage -. spricht der Kollege Prof. Dr. Uwe Jens. Wir brauchen ebenfalls eine Flexibilisierung der Arbeit, wenn wir zu Jahres- oder Lebensarbeitszeit (SPD): Frau Präsidentin! Meine Da- konten kommen wollen. Dr. Uwe Jens - men und Herren! Ich habe zehn Minuten Redezeit (Vorsitz: Vizepräsident Dr. Burkhard und möchte deutlich machen: Sozialdemokratische Hirsch) Wirtschaftspolitik ist moderne Wi rtschaftspolitik. Wenn wir dorthin gelangen wollen, brauchen wir al- (Beifall bei der SPD - Zuruf von der F.D.P.: lerdings auch Maßnahmen, die Sie, Herr Rexrodt, Vorsicht!) vielleicht ergreifen müssen, um die Mobilität nicht Wir haben zwei Probleme - das gebe ich zu -, nicht einzuschränken und um zu verhindern, daß ein Ar- nur bei uns, sondern in fast allen Industrienationen: beitnehmer am Ende seines Lebens möglicherweise eine viel zu hohe Verschuldung, die es mittelfristig durch Konkurs seines Unternehmens seine ange- zu reduzieren gilt, und eine viel zu hohe Arbeitslosig- sparte Arbeitszeit verloren hat. Das darf nicht sein; keit. Vor allem gegen die Arbeitslosigkeit tut diese darüber muß man nachdenken, glaube ich. Regierung einfach zuwenig. Das Rezept von Herrn (Beifall bei der SPD) Rexrodt lautet: Wir brauchen Wachstum. Er lobt schon ein Wachstum von 2,5 %. Dieses Wachstum Ich begrüße ausdrücklich den Tarifabschluß bei trägt überhaupt nicht dazu bei, daß die Arbeitslosig- Opel, der gestern zustande gekommen ist und der keit geringer wird, vielmehr wird sie bei diesem ganz deutlich dazu beigetragen hat, mehr Flexibili- Wachstum eher noch steigen. sierung auch im Automobilbereich zu schaffen. (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Leider wahr!) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) 4368 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 52. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. September 1995 Dr. Uwe Jens Ich gebe gerne zu: Auch ich bin der Ansicht, die zwingen, in die Abgabe- und Steuerpflicht zu gehen? Gewerbekapitalsteuer sollte abgeschafft werden. Warum wollen Sie nicht die Wahlmöglichkeit, so wie sie heute besteht, für beide offenlassen? (Zuruf von der CDU/CSU: Sehr gut!) Wir brauchen allerdings einen großzügigen Aus- gleich für die Gemeinden Dr. Uwe Jens (SPD): Das ist ein weites Feld. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Sehr gut!) und der F.D.P.) Ich glaube schon, daß der einzelne Arbeitnehmer und müssen die Einnahmen der Gemeinden endlich grundsätzlich nur kurzfristig denkt festschreiben; meines Erachtens in der Verfassung, so (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Wir denken auch daß sie genau wissen, womit sie zu rechnen haben, langfristig!) und nicht immer von den Ländern abhängig sind. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU - und vergißt, daß er hinterher keine Ansprüche ge- Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Das macht doch genüber der Rentenversicherung hat. Das sieht er der Waigel!) einfach manchmal nicht ganz richtig. Wir brauchen auch aus meiner Sicht mehr Flexibi- (Dr. Konstanze Wegner [SPD]: Das sind al lisierung bei den Ladenschlußzeiten. les Frauen!) (Kurt J. Rossmanith [CDU/CSU]: Auch rich Ich möchte hier auch vor allem deshalb eine Ände- tig!) rung erreichen, weil damit elementare Wettbewerbs- verzerrungen im Bereich des Handels geschaffen Aber das wird dazu führen, daß mehr Teilzeitarbeit worden sind. Die Supermärkte arbeiten mit solchen geschaffen wird. Wir müssen dafür sorgen, daß diese Arbeitskräften, die Sie begünstigen wollen, und die eine ordentliche Teilzeitarbeit wird, daß die Men- kleinen Fachhandelsunternehmen arbeiten mit Voll- schen auch abgesichert sind. Es darf nicht sein, daß zeitarbeitskräften und können entsprechend nicht dies Arbeitsverhältnisse sind, bei denen keine Bei- mehr mithalten. träge zur Sozial- und Rentenversicherung gezahlt werden. Also, es gibt eine Fülle von Gründen, die dazu ani- mieren, daß wir diesen Mißstand beseitigen. (Beifall bei der SPD - Dr. Otto Graf Lambs dorff [F.D.P.]: Warum denn nicht, wenn die (Beifall bei der SPD und der PDS) Leute es nicht wollen?) Lassen Sie uns doch einmal darüber nachdenken, Wir wollen mehr Flexibilisierung, aber vor allem für ob es nicht sinnvoll ist, diese Leute von der ersten die kleinen und mittleren Unternehmen und nicht Mark an, die sie verdienen, sozialversicherungs- etwa für die Supermärkte auf der grünen Wiese. Wer pflichtig zu machen und dafür möglicherweise die allerdings glaubt, Flexibilisierung sei ein entscheiden- Steuer, die Sie jetzt gerade auf 20 % erhöht haben, der Lösungsansatz zur Verringerung der Arbeitslosig- bei Einkommen bis zu 500 DM zurückzunehmen, so keit, der irrt sich aus meiner Sicht ganz zweifellos. daß die Begünstigung erhalten bleibt, aber sie end- lich vernünftig gegenüber Krankheit und im Alter Wir brauchen eine rationalere Wi rtschaftspolitik. versichert sind. Das scheint mir sinnvoll zu sein. Ich sehe mit großer Freude, daß die CDU/CSU, zum Teil aber vielleicht auch die F.D.P. schon viele Vor- (Beifall bei der SPD und der PDS) schläge der Sozialdemokraten übernommen haben, die wir in die Diskussion gebracht haben. Vizepräsident Dr. : Herr Kollege, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage?- - Bitte Herr Kollege, Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: schön, Graf Lambsdorff. gestatten Sie eine Zwischenfrage des Grafen Lambs- dorff? Dr. Otto Graf Lambsdorff (F.D.P.): Herr Jens, ich Dr. Uwe Jens (SPD): Bitte sehr. denke, Sie sehen die Konsequenz, daß aus einer sol- chen Regelung Minirenten entstehen, die später zu Forderungen nach Zuschüssen und Aufbesserungen Dr. Otto Graf Lambsdorff (F.D.P.): Herr Kollege führen werden. Sind Sie bereit, diese Lasten der So- Jens, warum eigentlich wollen Sie bei Ihrer - richti- zialversicherung aufzubürden, um deren Überbela- gen - Unterstützung der Teilzeitarbeit diejenigen, die stung sich ja auch Ihr Fraktions- und Parteivorsitzen- - ich drücke es einmal einfach aus - in den 580- der gerade sorgt? Mark-Arbeitsverhältnissen unter den jetzigen Be- dingungen arbeiten wollen, Dr. Uwe Jens (SPD): Graf Lambsdorff, jetzt ist es so (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Stimmt doch geregelt, daß sie gegenüber der Rentenversicherung nicht! So ein Unsinn! Es gibt doch keine or überhaupt keinen Anspruch im Alter haben. dentliche Teilzeitarbeit! - Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast [SPD]: Nein, so ist es eben (Dr. Otto Graf Lambsdorff [F.D.P.]: Nein, die leider nicht!) wollen auch keinen!) Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 52. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. September 1995 4369

Dr. Uwe Jens Wenn Sie meinem Vorschlag folgen wollten, dann Aber das ist ein Antrag der Sozialdemokraten, den würden sie einen Anspruch gewinnen. Das ist ein wir in der letzten Legislaturperiode eingebracht ha- Schritt in eine vernünftige Richtung. ben. Schönen Dank, daß Sie das endlich umgesetzt haben. (Beifall bei der SPD und der PDS - Dr. Otto Graf Lambsdorff [F.D.P.]: Es ist unbeschreib Ich verweise auf die Branchengespräche - Herr lich!) Rexrodt hat sich dabei immer geziert -, wir haben das in der letzten Legislaturperiode gefordert. Dar- Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Herr Kollege, aufhin hat er gesagt: Das kommt für mich überhaupt gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage der Kolle- nicht in Frage. Mittlerweile führt er solche Branchen- gin Fuchs? gespräche. Natürlich müssen wir mit den Stahlarbei- tern, mit den Unternehmern, mit der Automobilindu- strie, mit diesen Branchen reden, um herauszufin- Dr. Uwe Jens (SPD): Bitte sehr. den, wo es Innovationshemmnisse gibt, um sie dann zu beseitigen. Keine Protektion, keine Subvention, Anke Fuchs (Köln) (SPD): Herr Kollege Jens, stim- aber Branchengespräche sind vernünftig. Sie könn- men Sie mir zu, daß die Frauen heute überhaupt ten noch deutlich besser werden, Herr Rexrodt. keine Chancen haben, einen Arbeitsplatz jenseits (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Der ist nicht der 580-Mark-Grenze zu bekommen, und daß die schlecht!) Bezahlung der Teilzeitarbeit deswegen so niedrig ist, weil dies die Grenze zu den vernünftig bezahlten Schließlich darf ich daran erinnern: Sie haben das Teilzeitarbeitsplätzen ist? Eigenkapitalhilfeprogramm für kleine und mittlere Stimmen Sie mir weiter zu, daß Graf Lambsdorff Unternehmen in den alten Bundesländern abge- irrt, wenn er meint, die Frauen wollten es so? Ich schafft. Wir haben gedrängelt und haben gekämpft. kenne viele Verkäuferinnen, Arbeiterinnen in Re- Sie haben es jetzt auf Grund unseres Druckes wieder staurants, die gerne einen Vollzeitarbeitsplatz hätten, eingeführt. Das ist vernünftig. Sie lernen offenbar, aber keinen bekommen, und ich kenne viele Frauen, wie ich feststelle, dazu. die nicht ein Leben lang Teilzeitarbeit leisten - des- (Beifall bei der SPD) wegen ist das Argument mit der geringen Rente falsch -, sondern eine Erwerbsbiographie haben, in der einmal Vollzeitarbeit und einmal Teilzeitarbeit Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Herr Kollege, steht. Deswegen ist es wichtig, daß wir die Lücken in gestatten Sie eine Zwischenfrage von Herrn Rossma- der Rentenbiographie schließen. Das kann nur ge- nith? schehen, wenn wir die Grenze zu den geringfügig Beschäftigten verändern. Stimmen Sie mir da zu, Herr Kollege? Dr. Uwe Jens (SPD): Bitte sehr. (Beifall bei der SPD und der PDS) Kurt J. Rossmanith (CDU/CSU): Herr Kollege Pro- fessor Jens, wollen Sie zur Kenntnis nehmen, daß wir Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Damit haben seinerzeit gesagt haben, nur auf Grund der Haus- wir die schöne Figur einer Dreiecksfrage. haltszwänge und der Wiedervereinigung und damit Bitte. diese Mittel alle in den neuen Bundesländern kon- zentriert werden können, wird das Eigenkapitalhilfe- programm für die alten Bundesländer nur ausgesetzt, Dr. Uwe Jens (SPD): Liebe Anke Fuchs, ich stimme bis die finanziellen Möglichkeiten es wieder zulas- dir selbstverständlich voll und ganz zu. sen, auch dieses Programm in den alten Bundeslän- - (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Was?) dern zu realisieren? Dies haben wir auch getan. Ich bin dankbar, daß Sie mitgeholfen und sich insofern Ich habe mich darüber gefreut, daß diese Regie- unserer Meinung angeschlossen haben. rung endlich das tut, was wir vorgeschlagen haben. Mittlerweile gibt es regelmäßige Treffen zwischen Gewerkschaften, Unternehmerverbänden und der Dr. Uwe Jens (SPD): Herr Rossmanith, zunächst Regierung im Bundeskanzleramt. Das haben wir frü- einmal muß ich feststellen: Sie haben das Eigenkapi- her Konzertierte Aktion genannt. Das ist nicht ganz talhilfeprogramm abgeschafft. Das läßt sich über- das, was wir eigentlich wollen. Aber Sie sind auf dem haupt nicht leugnen. richtigen Weg. Die Evangelische Kirche in Deutsch- (Kurt J. Rossmanith [CDU/CSU]: Ausge land hat gerade gefordert, wir brauchten dringend setzt!) wieder eine Konzertierte Aktion, alle Kräfte an den runden Tisch der kollektiven Vernunft. Ich glaube, daß dies für kleine und mittlere Unter- (Beifall bei der SPD) nehmen eine Maßnahme ist, die man nicht regional differenzieren kann. Es geht darum, daß wir den Ich füge gerne hinzu, Sie haben den Forschungs- Nachwuchs in der marktwirtschaftlichen Ordnung und Technologierat etabliert. Dort ist zwar Herr Kohl fördern. Dabei kann man nicht einfach vier Jahre der Vorsitzende geworden. Das war natürlich nicht Pause machen. Das muß man ununterbrochen wei- unsere Idee. Das können Sie mir gerne glauben. terführen. 4370 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 52. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. September 1995

Dr. Uwe Jens Ich nehme zur Kenntnis, daß Sie im Haushalt 09, Ich gebe gerne zu - das sage ich jetzt als Uwe Jens -: den wir heute diskutieren, etwa 720 Millionen DM Wir müssen natürlich etwas tun, damit die Lohnne- für die neuen Bundesländer gestrichen haben. Ich benkosten sinken. Das ist gar keine Frage. wage zu bezweifeln, ob das vernünftig ist. Mir scheint es vernünftiger zu sein, Sie würden noch ein (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) bißchen mehr für die neuen Bundesländer tun, bis Frau Fuchs hatte schon deutlich gemacht, daß es uns dort endlich ein selbsttragender Aufschwung zu- mit unserer ökologischen Steuerreform gelingt, die stande kommt. Sie tragen auf Grund dieser gewalti- Beiträge zur Bundesanstalt für Arbeit um 2 % zu sen- gen Kürzung dazu bei, daß das nicht der Fall sein ken - ganz wichtig, dringend notwendig. wird. (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Aber nur durch (Beifall bei der SPD) Umverteilung!) Ich möchte noch einmal festhalten, daß es - ich Das wird aber noch nicht ausreichen. Deshalb sage sage einmal - mit der CDU/CSU Diskussionsbedarf ich: Wir müssen auch darüber nachdenken, wie die über verschiedene Maßnahmen gibt. Da erinnere ich politischen Lasten in der Rentenversicherung und in daran, daß wir wirklich etwas tun müssen, daß die der Krankenversicherung anders finanziert werden Wechselkurse stabiler werden. Die Bundesbank können. So, wie es jetzt der Fall ist - durch die Bei- versucht es jetzt. Aber durch diese Aufwertung der träge der Arbeitnehmer -, ist es zutiefst ungerecht. D-Mark ist natürlich gewissermaßen das, was die Da muß man vielleicht einmal an die Steuererhöhung Tarifvertragsparteien an Zurückhaltung geübt denken. haben, wieder völlig kaputtgemacht worden. Des- (Dr. Gisela Babel [F.D.P.]: Aber ja! Richtig!) halb müssen wir darüber nachdenken, wie wir mehr Stabilität bei den Wechselkursen bekommen. Das Ich denke manchmal auch an die Mehrwertsteuer; hat möglicherweise zur Folge - das gebe ich gerne das gebe ich gerne zu. zu -, daß die Bundesbank ihr altes, überholtes Geld- mengenkonzept endlich über Bord schmeißen muß. Auch seitens des Staates brauchen wir eine Inno- Das ist schon richtig. vationspolitik, damit in den Unternehmen die Wei- chen neu gestellt werden, damit sie endlich mit dem Wir brauchen z. B. auch endlich weltweit Mindest- Sozialabbau, mit dem Rausschmeißen und mit dem standards. Dafür muß Herr Rexrodt kämpfen. sozialen Kahlschlag aufhören und damit sie endlich erkennen: Das sichert nicht die Zukunft; vielmehr (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Tut er nicht!) brauchen wir dringend neue Produkte, wir müssen neue Märkte erschließen, und wir müssen auch neue Wir wollen natürlich keinen Protektionismus, weder Produktionsverfahren einführen. Innovationen sind national noch europaweit. Aber wir wollen dafür sor- sowohl auf Bundesebene als auch auf mikroökonomi- gen, daß sich die Bedingungen in den anderen Län- scher Unternehmerebene das Entscheidende. dern ändern. Wir brauchen dringend soziale und ökologische Mindeststandards. Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Herr Kollege, (Beifall bei der SPD) gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Hinsken? So hat z. B.. ein konservativer Landesbankchef, Herr Sievert, vor kurzem gefordert, daß wir Mindest- standards auch im Bereich der Finanzdienstleistun- Dr. Uwe Jens (SPD): Ja. gen brauchen. Greifen Sie das auf und sorgen Sie da- für! Ich gebe gerne zu, daß der Wettbewerbsdruck Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Bitte. aus dem Ausland für uns auf diese Art und Weise ein wenig abgeschwächt wird - ein wenig, nicht mehr. Ernst Hinsken (CDU/CSU): Verehrter Herr Kollege Wir brauchen, Herr Hinsken, dringend eine ver- Jens, Ihre Rede hebt sich wohltuend von dem ab, nünftige Makropolitik - darüber muß man in der was Ihre Kollegin Frau Fuchs vorhin gesagt hat. Konzertierten Aktion reden -, die dafür sorgt, daß die Wachstumsbedingungen verbessert werden, daß der (Widerspruch bei der SPD) Zins angesichts dieser Arbeitslosenquote in der Bun- Meine Frage: Sie sagen immer nur, was wir brau- desrepublik Deutschland auf alle Fälle niedrig gehal- chen. Sie fordern lediglich. Ich möchte von Ihnen ten wird; das ist dringend notwendig. Auch die Haus- gerne hören, was Sie in Ihrer eigenen Fraktion tun haltspolitik muß so gestaltet werden, daß sie etwas wollen, um den Wirtschaftsstando rt Deutschland antizyklisch wirkt und die konjunkturellen Schwan- wieder mehr als bisher zu festigen. kungen ein wenig abflacht.

Das sind im großen und ganzen Allgemeinplätze. Dr. Uwe Jens (SPD): Herr Kollege Hinsken, falls In allen anderen Industrienationen würde man das Sie es noch nicht mitbekommen haben: Wir Sozialde- akzeptieren, nur in der Bundesrepublik Deutschland mokraten sind noch in der Opposition. Sie sind an nicht. Deshalb gibt es auf Ihrer Seite wirklich noch der Regierung. Wir stellen Forderungen. Lernbedarf. (Zuruf von der CDU/CSU: Und blockieren (Beifall bei der SPD) den Bundesrat!) Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 52. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. September 1995 4371 Dr. Uwe Jens Wir versuchen, rationale, vernünftige Vorschläge zu nicht, daß man sagt, Wirtschaft wird in der Wi rtschaft machen. Sie, vor allem Herr Rexrodt, müssen das um- gemacht. Möglicherweise hat der Staat jetzt neue setzen; anders geht es nicht. Aber Sie können auch Aufgaben bekommen, aber er hat Aufgaben und gerne in die Opposition gehen. Wenn wir an der Re- muß sie auch endlich wahrnehmen. gierung wären, würden wir unsere Forderungen na- türlich verwirklichen. Darauf können Sie Gift neh- Vor vier Monaten habe ich meinen Referenten ge- men. beten, mir aufzuschreiben, wo die Unterschiede zwi- schen CDU und SPD in der Wi rtschaftspolitik sind. (Beifall bei der SPD) Bisher hat er mir nichts geliefert. Zur Innovationspolitik möchte ich noch sagen: (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Er hat alles von Herr Rexrodt, Sie sollten in den Unternehmen nicht uns gelesen und gesagt: Das stimmt!) nur die Forschung fördern, sondern auch die Umset- Meine Analyse kommt zu dem Ergebnis: Wir stim- zung der Forschungsergebnisse, d. h., die Marktein- men mit der konservativen - so darf man sie wohl führung muß verstärkt unterstützt werden. nennen - CDU/CSU in der Wirtschaftspolitik in vie- Ich wiederhole es: Personalkostenzuschüsse für len Feldern überein. Es gibt graduelle, aber keine kleine und mittlere Unternehmen - wenn diese Che- grundsätzlichen Unterschiede. miker, Physiker, Ingenieure einstellen, die massen- (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Das ist gefähr weise arbeitslos sind - wäre ein Beitrag zur Beschäfti- lich zu sagen. Das kostete Schröder den gung dieser Gruppen. Das wäre meiner Meinung Kopf!) nach dringend notwendig. Aber bei der F.D.P., bei dem, was Herr Rexrodt im- Ich glaube z. B. auch, daß in den Betrieben ver- mer predigt, z. B. bei den Gothaer Versicherungen in stärkt darüber nachgedacht werden muß, ob die Ar- Göttingen, läuft uns Sozialdemokraten in der Tat ein beitsorganisation so wirklich richtig ist. Mehr Grup- Schauer über den Rücken. Mit dieser Art der Politik penarbeit wird immer wieder gefordert. Aber wenn haben wir wirklich nichts gemein. man das will, dann muß man die Mitbestimmung, die es gibt, auch akzeptieren und darf sie nicht, wie Herr Ich glaube, wir Politiker sind auch verpflichtet, uns Rexrodt, immer in Frage stellen. Das ergibt keinen ein wenig mehr um Klarheit und Wahrheit zu bemü- Sinn. hen. Wir sollten weniger taktieren. Ich habe eine Fülle von Punkten angesprochen. Lassen Sie uns Ich glaube, wir haben auch ein paar elementare über diese Punkte gemeinsam diskutieren und versu- Unterschiede gegenüber der praktizierten Politik. Ich chen, das brennende Problem der Arbeitslosigkeit will gerne differenzieren. Ich meine, wir stimmen möglichst schnell zu verringern! weitgehend wenigstens mit den Ansätzen überein, die in der CDU/CSU deutlich geworden sind. Wir ha- Schönen Dank. ben elementare Differenzen mit diesem neoliberalen (Beifall bei der SPD - Ernst Hinsken [CDU/ Wirtschaftsminister, der noch immer die Rezepte der CSU]: Er hat den Schröder nicht schlecht er Reagonomics predigt, obwohl die Reagonomics setzt!) selbst in Amerika schon lange in den Mülleimer der Geschichte gewandert sind. Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Weitere Wort (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne -meldungen zum Geschäftsbereich des Bundesmi- ten der PDS) nisters für Wirtschaft liegen nicht vor. Wir wollen auf alle Fälle - ich hoffe, die CDU stimmt Wir kommen dann zum Geschäftsbereich des Bun- mir zu - die Eckpfeiler der sozialen Entwicklung si- desministers für Arbeit und Sozialordnung. Das Wo rt chern und erhalten. rt Blüm. - hat der Minister Dr. Norbe Wir brauchen ganz zweifellos etwas mehr an mora- lischen Wirtschaftsprinzipien, wie sie auch Herr Hen- Dr. Norbert Blüm, Bundesminister für Arbeit und kel immer wieder fordert. Wir müssen dafür sorgen, Sozialordnung: Herr Präsident! Meine Damen und daß sie stärker in die Köpfe der Unternehmer und der Herren! Ich will gleich bekennen: Ich habe weder Politiker hineingehämmert werden. heute noch in Zukunft Lust und Spaß an einer großen sozialpolitischen Hackerei. Wir sollten nämlich bei all Ich sage ausdrücklich: Graf Lambsdorff, ich unseren Diskussionen nicht vergessen, daß von unse- möchte keinen punktuellen Interventionismus, wie ren sozialpolitischen Entscheidungen Millionen von es in der Fachsprache heißt; mal hier und mal da ein- Menschen betroffen sind. Um ein Wo rt von Katharina greifen. Die Gelder in einer Volkswirtschaft sind der Großen umzuwandeln: Wir schreiben auf der knapp. Wir haben hier in Bonn zu entscheiden, wo empfindlichen Haut von Menschen, nicht auf totem wir sie rational ausgeben, wo wir mit dem wenigen, Papier. knappen Geld am meisten erreichen können, um das Problem der Arbeitslosigkeit zu verringern. Deshalb plädiere ich für sozialpolitische Besonnen- heit. Das ist keine tatenlose Besinnlichkeit, keine Ich sage aber auch - wahrscheinlich in Überein- handlungslose Betroffenheit. Sie sucht ihren Weg stimmung mit Herrn Hinsken -: Wir brauchen den zwischen dem Übermut derjenigen, die die Welt zum Staat auch in Zukunft in der Wirtschaft. Es geht zweiten Mal erfinden wollen, und der Erstarrung ei- 4372 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 52. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. September 1995

Bundesminister Dr. Norbert Blüm ner Betonmentalität. Es wird nicht alles beim alten Ich warne auch, von einzelnen auf alle zu schließen. bleiben, es wird aber auch nicht alles neu. Zwischen Ich schließe auch nicht von dem Herrn Schneider auf Erstarrung und Chaos suchen wir einen Weg der alle Kreditnehmer. Das wäre eine Beleidigung. Vernunft, der Verantwortung, des Augenmaßes. Eine amerikanische Mentalität des Heuern und Täglich erscheinen neue Vorschläge. Schneller Feuerres verträgt sich nicht mit unseren Sozialstaats- sind sie vergessen als ausgesprochen. Nicht jeder traditionen. Es ist widersprüchlich, wenn Branchen Lichtschein am Himmel ist ein Fixstern; manche sind ältere Arbeitnehmer mit goldenem Handschlag ver- nur Sternschnuppen. Forderungen werden erhoben, abschieden und ein halbes Jahr später die Facharbei- die längst durchgesetzt sind. Der bef ristete Arbeits- ter suchen, die sie sechs Monate vorher mit Sozial- vertrag wird gefordert; den haben wir längst umge- plänen ins Freie befördert haben. Solche Unterneh- setzt. Eine neue Arbeitszeitordnung, die der Flexibili- mensplanung halte ich für dumm und kurzsichtig. tät Bahn bricht, wird gefordert; wir haben sie längst erreicht. 23 Gesetze sind über Nacht überflüssig ge- worden. (Beifall bei der CDU/CSU)

Die einen schreien: Keine Veränderungen, es muß Auch ein Bauer verfuttert nicht sein Saatgut. Man- alles beim alten bleiben. Die anderen sagen: A lles cher Großbetrieb könnte sich da eine Scheibe beim muß neu werden. Zu der einen Seite, den Katastro- handwerklichen Betrieb abschneiden. phenspezis, die aus jeder Veränderung schon den Ruin des Sozialstaates herleiten, sage ich: Es ist noch Im Handwerk gibt es eine alte Tradition, den fami- immer so, daß jede dritte Mark der öffentlichen Fi- liären Zusammenhalt. Man hält in guten und nanzen für Soziales ausgegeben wird. Wer dabei von schlechten Zeiten zusammen. Es müßte uns doch zu Ruin spricht, der kennt die Welt nicht. denken geben, daß der Krankenstand in den Klein- betrieben unter vier Arbeitnehmern 2,4 % und bei (Hans-Joachim Fuchtel [CDU/CSU]: Sehr manchen Großbetrieben bis zu 11 % beträgt. Es kann richtig!) doch nicht sein, daß bei den Kleinbetrieben die Ge- sunden und bei den Großbetrieben die Kranken ar- Im übrigen: Jede Mark muß von Arbeitnehmern und Arbeitgebern bezahlt werden. Insofern beginnt beiten. Könnte es nicht auch sein, daß dies etwas mit der Sozialstaat nicht erst auf der Ausgabenseite, son- Betriebsloyalität, mit Zusammenhalt zu tun hat? Wer dern er beginnt bei der Belastungsfähigkeit seiner den haben will, der kann nicht heuern und feuern, der muß auch das Miteinander pflegen. Zahler.

Preisstabilität halte ich für eines der wichtigsten Zum Thema Mißbrauch. Im Rahmen der Pflegever- sozialpolitischen Ziele. 1 % weniger Preissteigerung sicherung haben wir ermöglicht, daß ab dem ersten bedeutet 18 Milliarden DM mehr Kaufkraft, 1 % Ren- Tag der Krankmeldung zum Vertrauensarzt ge- tenerhöhung bedeutet nur 2,7 Mil liarden DM mehr schickt werden kann, wer unter Verdacht des Miß- Kaufkraft. 2 % Lohnerhöhung bedeutet soviel wie brauchs steht. Man muß das nicht mit allen machen. 1 % weniger Preissteigerung; denn die Hälfte der Warum sollte man alle verdächtigen? Ich halte das Lohnerhöhung kommt beim einzelnen gar nicht an. für ein richtiges Instrument.

Ich möchte an die beste Erfindung unseres Sozial- Zwei Klugheiten sind in unseren Sozialstaat einge- staates Deutschland erinnern, an dem viele mitge- baut: erstens die Subsidiarität und zweitens die Lei- wirkt haben. Die beste Erfindung ist soziale Partner- stungsgerechtigkeit. Zur Subsidiarität. Wir haben schaft. Sie hat uns eine Sozialkultur ermöglicht, um die soziale Sicherung nicht den Staatskassen über- die uns andere beneiden. Noch immer gehört der So- lassen, sie wird nicht steuerfinanziert, sondern durch zialstaat Deutschland zu jenen Gesellschaften mit Beiträge. Das schafft mehr Selbständigkeit,- schützt dem geringsten Arbeitsausfall durch Arbeitskämpfe. gegen Manipulation, macht die soziale Sicherheit Das ist nicht vom Himmel gefallen, und das wird von den Verteilungskämpfen unabhängig, die wir auch in Zukunft nur erhalten bleiben, wenn der So- jährlich im Zusammenhang mit dem Haushalt, ge- zialstaat gehegt und gepflegt wird. Ich glaube, seine rade heute wieder, führen müssen: Was ist für Bil- wichtigste Voraussetzung ist die Fähigkeit zum Kom- dung, was ist für Straßenbau? Die selbstverwaltete promiß, zum Geben und Nehmen. Sozialversicherung ist ein großes Moment der Selb- ständigkeit. Es war eine große Klugheit, sie zu schaf- Da sehe ich diese Sozialkultur durchaus bröckeln. Sie bröckelt und wandelt sich zum Teil in eine Her- fen. ausholergesellschaft. Ich warne allerdings nach- drücklich davor, die Herausholer nur auf der Arbeit- Der zweite Gesichtspunkt ist, daß wir unsere Ren- nehmerseite zu sehen. Großbetriebe, die keine Lehr- tenversicherung auf dem Prinzip der Leistungsge- linge ausbilden, sich aber den Nachwuchs vom rechtigkeit aufbauen: Jedem das Seine. Das legen Handwerk beschaffen, halte ich für klassische Her- wir aus und verbinden es mit: Wie du mir, so ich dir, ausholer. Ich halte sie für eine Gefahr für unseren So- wie die Jungen die Alten behandeln, so werden, zialstaat. wenn sie alt sind, auch sie behandelt. Unser Sozial- staat ist nicht die Reduzierung auf Armenfürsorge, ist (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge nicht das Armenhaus unserer Gesellschaft; das ist ein ordneten der F.D.P.) großes Mißverständnis. Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 52. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. September 1995 4373

Bundesminister Dr. Norbert Blüm Das in der Erwerbsphase differenzie rte Einkom- - Herr Fischer, Sie waren nicht sehr lange auf dem men setzt sich auch im Alter fo rt. Das ist eine Stüt- ersten Arbeitsmarkt. Deshalb kennen Sie sich do rt zung des Leistungsprinzips. Alle, die auf Grundver- nicht so gut aus. sorgungssysteme abstellen, müssen wissen, daß darin sehr viel mehr Umverteilung als in unserem So- (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU zialsystem enthalten ist. und der F.D.P. - Joseph Fischer [Frankfu rt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und Sie?) Meine Damen und Herren, wir haben große Ref or- - So lange wie Sie wahrscheinlich auch. Ich bin im men bewältigt. Wir haben die Gesundheitsreform ge- übrigen noch jetzt auf dem ersten Arbeitsmarkt. schafft, und zwar zweimal mit großen Entlastungen, die auch noch heute wirken. Wo wären wir ohne Wir bleiben dabei: Der erste Schritt ist der wichtig- zwei Gesundheitsreformen hingekommen? Allein die ste. Denn die größte Hemmung für Langzeitarbeits- Veränderungen in der Renten- und in der Arbeitslo- lose besteht darin, daß sie in den ersten Arbeitsmarkt senversicherung entlasten die Beitragszahler in die- überhaupt nicht hineinkommen, daß sie keine sem Jahr um 60 Milliarden DM, nur in diesem Jahr Chance bekommen. Deshalb meine ich - das ist eine und nicht etwa kumuliert. Wir fangen also nicht bei alte Erfahrung -: Wenn jemand im ersten Arbeits- Null an. markt ist, ist die Hemmung der Arbeitgeber, ihn wie- der zu entlassen, größer. Das zeigen bef ristete Ar- Wir haben ein großes Reformprojekt, das Arbeits- beitsverträge. förderungsgesetz, noch vor uns. Es ist in den Zustand der Unlesbarkeit geraten. Bei § 242 sind wir bei „u" (Lachen beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) angekommen. Für solche Ausfächerungen hat die - Sie können ruhig lachen. Das steht wahrscheinlich Krankenversicherung 100 Jahre gebraucht; das ha- in Ihren Lehrbüchern anders. Die Erfahrung zeigt, ben wir im Arbeitsförderungsgesetz in nicht ganz daß die Mehrzahl der bef risteten Arbeitsverträge ent- 30 Jahren geschafft. Diese Ausfächerung ist schon gegen Ihrer Ideologie zu unbef risteten Arbeitsverträ- ein Grund für die Reform; denn der Sozialstaat muß gen geführt hat. durchsichtig sein. Um ihn zu nutzen, sollte man kei- nen Berater nötig haben. Aber um die Lohnkostenzu- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) schüsse heute zu durchschauen, braucht man einen Lohnkostenzuschußberater. Ich entnehme Sozialpolitik nicht fernen Lehrbü- chern, sondern der Erfahrung. Ich sehe die erste und wichtigste Aufgabe in der Befri Verantwortung der Beteiligten; denn die Arbeits- stete Arbeitsverträge, Leiharbeitsverträge, marktpolitik kann nicht alles schaffen. Wir haben ja Einstiegstarife, von den Tarifpartnern ausgehandelt - keine Planwirtschaft. Es bleibt bei der Verantwor- ich bin gegen staatliche Einstiegstarife -, und Einar- beitungsverträge - unsere ganze Phantasie muß dar- tung der Unternehmer und der Tarifpartner. Die Ar- beitsmarktpolitik muß sich, wie ich glaube, auf die- auf gerichtet sein: Wie bekommt derjenige, der jahre- jenigen konzentrieren, die es schwer haben, vermit- lang arbeitslos war, wieder eine Chance, in den er- telt zu werden, die es aus eigener Kraft kaum schaf- sten Arbeitsmarkt zurückzukommen? Das ist das fen, in den Arbeitsmarkt zurückzufinden. Das sind Wichtigste. die Langzeitarbeitslosen, die Ungelernten und die Die Ungelernten werden das große Arbeitsmarkt- Behinderten. problem der Zukunft. Die Arbeitsplätze für Unge- lernte schmelzen wie der Schnee unter der Sonne. (Hans-Joachim Fuchtel [CDU/CSU]: Sehr Da kann die Konjunktur boomen, aber die Arbeits- richtig!) plätze für Ungelernte fallen noch immer weg. Das er- ste heißt: Qualifizierung. Was machen wir mit denje- Auch die Frauen haben es noch schwer. Auf diese nigen, die im Bereich der Technologie nicht qualifi- - Gruppen muß sich die Arbeitsmarktpolitik konzen- zierungsfähig, aber trotzdem begabt sind? Ich sehe trieren. in den neuen Beschäftigungsfeldern Haushalt und Pflege auch neue Beschäftigungsmöglichkeiten für Integration in den ersten Arbeitsmarkt heißt dabei diejenigen, die weder Spaß noch Begabung haben, das Gebot der Stunde. einen Computer zu bedienen. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Dr. Gisela Babel [F.D.P.]: Sehr wahr!)

Denn wer einen zweiten Arbeitsmarkt stabilisiert, Nur warne ich davor, das neue Feld Pflege zu über der schafft eine neue Klassengesellschaft, ohne daß professionalisieren. Wir brauchen Profis, hochqualifi- er es will. Die Jungen, Gesunden und Ausgebildeten zierte Fachkräfte. Aber ich füge hinzu: Übertreibt es im ersten Arbeitsmarkt, und für die Kranken und Al- nicht! Um einen 30jährigen zu füttern, brauche ich teren haben wir einen ghettoähnlichen zweiten Ar- keine sechs Semester Psychologie. Dazu brauche ich beitsmarkt. Für uns bleibt das Ziel: Integration der ein gutes Herz und eine ruhige Hand. Behinderten, der Langzeitarbeitslosen und der Unge- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) lernten in den ersten Arbeitsmarkt. Ein weiterer Punkt wird sein: Dezentralisierung. (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ Wir müssen die Bundesanstalt in der Tat vom Kopf DIE GRÜNEN]: Ja, für uns auch!) auf die Füße stellen: mehr Verantwortung vor O rt, 4374 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 52. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. September 1995

Bundesminister Dr. Norbert Blüm mehr Flexibilität, auch mehr Entscheidungsbefugnis. grundlage für die Arbeitslosenhilfe unendlich gel- Wir brauchen einen Wettbewerb zwischen den Ar- ten? Soll sie noch nach 20 Jahren nach dem ehemali- beitsämtern in bezug auf Initiative, Engagement und gen Spitzenlohn bemessen sein? Das hatte das Ar- neue Einfälle. beitsförderungsgesetz nie gemeint.

Auch die Finanzierungsfrage stellt sich. Das ist Das geltende Recht sieht vor, daß nach drei Jahren nicht originär von Blüm; auch ich habe kein Patentre- individuell überprüft wird. D'as wäre eine Marktwert- zept. Schon 1969 bei der Verabschiedung des Ar- veranstaltung. Ich sage: Laßt uns das pauschal ma- beitsförderungsgesetzes wurde diese Frage gestellt. chen, aber nicht als kopflose, pauschale Abwertung, Sie ist die Grundfrage unseres Sozialstaats. Was muß sondern nur nach einem Vermittlungsversuch mit der einzelne zahlen? Was übergeben wir der Eigen- den Langzeitarbeitslosen - es sind ja alles Langzeit- verantwortung? Was muß der Solidarität übergeben arbeitslose -; denn die Gefahr ist, daß sie vergessen werden? Ich gebe zu, daß diese Grenze nicht fest ist, werden, daß sich die Vermittlung in erster Linie an daß immer balanciert werden muß. die richtet, die es leichter haben, vermittelt zu wer- den, daß sie sozusagen in den toten Winkel der An- Aber bezüglich der Solidarität entsteht eine wei- strengungen geraten. tere Frage. Was muß vom Steuerzahler und was vom Es kann doch nicht sein, daß unsere ganze Welt Beitragszahler gezahlt werden? Der Beitragszahler schon an solchen kleinen Veränderungen zusam- ist nicht für alles, was gut und nützlich ist, zuständig; menbricht. Herr Scharping hat gestern ein leiden- denn sonst würden wir eine Umverteilung von unten schaftliches Plädoyer für Reformfähigkeit gehalten. nach oben betreiben. Wenn der Beitragszahler zahlt, Manchmal denke ich, die Kraft zu mutigen Über- zahlen nicht alle - die Beamten und die Selbständi- schriften ist umgekehrt propo rtional zur Bereitschaft gen nicht, und selbst die, die zahlen, zahlen nur bis zu kleinen Veränderungen. Manchmal kommt es mir zur Beitragsbemessungsgrenze. Also stellt sich diese so vor, als kommt der Gewichtheber auf die Bühne, Frage auch aus Gründen der sozialen Gerechtigkeit kündigt einen Weltrekordversuch an, schnallt den und aus Gründen der Entlastung der Lohnzusatzko- Gürtel enger, bestreicht die Hände mit Magnesium, sten. verneigt sich vorm Publikum und geht von der Ich gebe zu, daß sich diese Frage bei der Haus- Bühne wieder runter. Das ist die ganze Veranstal- haltslage nicht von heute auf morgen löst. Laßt uns tung. ein Stufenprogramm machen. Jedenfalls kann sie, (Beifall bei der CDU/CSU) wie ich glaube, nicht ausgeklammert werden. Übri- gens hat sie die Koalition nie ausgeklammert. Wir ha- Ich bin diese großen Theo rien leid. Der Fortschritt ben die Aussiedlerfinanzierung aus der Beitragsfi- und die Umstellung erfolgen immer nur schrittweise. nanzierung herausgenommen und dem Steuerzahler Wir fordern nicht Tabula rasa. Ich sehe in aller Kürze übertragen. eine große Reformaufgabe: breite Streuung des Ei- gentums, Beteiligung der Arbeitnehmer am Produk- Die erfolgreiche Organisation des Hauptschulab- tivkapital. Das ist ein uneingelöstes Versprechen der schlusses - es gab großen Widerstand, ich erinnere sozialen Marktwirtschaft. 10 % der Bevölkerung be- mich an das Spektakel - ist eine Frage der Bildungs- sitzt die Hälfte des Vermögens, 25 % ein Drittel - und politik und nicht des Beitragszahlers. Wenn die Schü- die restlichen 65 %? ler den Abschluß nicht schaffen, wieso ist der Bei- tragszahler, der Arbeitnehmer, der Handwerksmei- (Annelle Buntenbach [BÜNDNIS 90/DIE ster und der Arbeitgeber dafür zuständig? Wir haben GRÜNEN]: Wie kommt das?) neu organisiert gegen - wie ich zugebe - viel Wider- - Es gibt in der Einkommenspolitik eine Fixierung stand aus den Ländern. auf den Konsumlohn. Wir haben es nicht geschafft, eine breite Investivlohnphilosophie umzusetzen. Zu den älteren Arbeitnehmern. Ich sage, die Alter- native darf nicht Sozialplan oder Vollerwerbsarbeit Ich gebe zu, daß auch wir nicht den größten Druck sein. Die Alternative muß lauten: Teilzeit mit Teil- gemacht haben. Wir gebrauchen dazu die Tarifpart- rente statt ganz heraus aus allem. Ich bin gegen ganz ner, Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite; denn eine heraus. Das entspricht auch nicht den Bedürfnissen solche breite Eigentumsstreuung hat zwei Entla- der älteren Arbeitnehmer. stungsfunktionen. Sie könnte erstens die Tarifpolitik von der Verkrampfung durch die Fixierung auf den Ich glaube, daß die Teilzeit nur Schub bekommt, Konsumlohn entlasten, und sie könnte zweitens die wenn sie an die Lebenslage und die besonderen Be- kollektiven Sicherungssysteme entlasten. Ich weiß dürfnisse der Menschen anknüpft. Ich sehe zwei Fel- auch, daß man da nicht immer draufsatteln kann. der, in denen ein Schub entstehen kann. Do rt , wo Mutter und Vater kleine Kinder erziehen, besteht ein Das Eigentum hat eine zweifache Entlastungsfunk- Bedürfnis nach anderen Arbeitszeiten. Und die älte- tion. Ich finde es schon eine Provokation: Die Millio- ren Arbeitnehmer haben zwei Grundbedürfnisse: er- nen Arbeitnehmer zahlen mit ihren Steuergroschen stens mit dem Bet rieb in Kontakt zu bleiben, aber auch die Investitionsförderung im Osten, die sein zweitens weniger zu arbeiten als früher. muß. Aber das schlägt sich nicht in Eigentumstitel für diejenigen nieder, die diese Investitionen mitfinan- Zur Arbeitslosenhilfe. Ich nehme das große Wort zieren. Ich gebe zu, daß uns bisher noch keine intelli- Reform gar nicht in den Mund. Aber der Frage muß gente Regelung eingefallen ist. Auch in Ihrer Regie- doch nachgegangen werden: Soll die Bemessungs- rungszeit ist über solche Mechanismen diskutiert Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 52. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. September 1995 4375 Bundesminister Dr. Norbert Blüm worden. Aber jetzt haben wir genug diskutiert. Politi- höhere Sozialausgaben: So lautete die politische ker sind nicht zum Besprechen, sondern zum Arbei- Gleichung der vergangenen Jahre. ten eingesetzt. Deshalb müssen uns hier, wie ich glaube, im Sinne der Stabilisierung der Eigentums- (Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Regierung ordnung neue Wege einfallen. der Arbeitslosen!) Der Umbau braucht manchmal Nachhilfe. Ich Diese Regierung war Opfer ihrer eigenen mangel- hoffe, daß die Tarifpartner es schaffen, eine eigen- haften Wirtschaftspolitik, die Arbeitslosigkeit in Kauf ständige Regelung auch für das Schlechtwettergeld nahm oder gar produzierte, die versäumte, mit ge- zu finden, das nicht der Allgemeinheit zu übertra- zielten arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen der Ent- gen. Der Fortschritt hat es schwer. Es wäre im wicklung entgegenzuwirken. Der stetig gewachsene Sinne des Sozialstaates, das Risiko do rt abzusi- Sozialetat der vergangenen Jahre war also nicht Aus- chern, wo es entsteht, und nicht der Allgemeinheit druck sozialpolitischer Qualität, sondern des Gegen- aufzubürden. teils. Er war Ausdruck des gesellschaftspolitischen Mißmanagements und der arbeitsmarktpolitischen Noch eine wichtige Mitteilung wollte ich machen. Verantwortungslosigkeit. Die ersten Ergebnisse der Pflegeversicherung zei- (Beifall bei der SPD) gen, daß die Anträge auf stationäre Unterbringung zurückgehen und nach dem Urteil aller Fachleute Vor diesem Hintergrund, meine Damen und Her- weiter zurückgehen werden. Das ist das Ergebnis ei- ren, wäre der Rückgang der Sozialausgaben eigent- nes verstärkten Angebotes an ambulanter Hilfe. Wir lich begrüßenswert, wenn, ja wenn dieser Rückgang brauchen auch stationäre Hilfe; deshalb brauchen durch ein Sinken der Zahl der Arbeitslosen, durch wir auch den zweiten Schritt. Aber die stationäre eine Abnahme der Massenarbeitslosigkeit hervorge- Pflege darf nicht der normale Weg sein. Ich glaube, rufen worden wäre, wenn die politische Gleichung daß eine solche Veränderung sozialer und humaner des Jahres 1996 also lautete: weniger Arbeitslose, Fortschritt sein kann und wirtschaftliche Entlastung weniger Sozialausgaben. Dies ist aber offenbar nicht bringt. der Fall. Die Massenarbeitslosigkeit verharrt auf ho- hem Niveau. Der sogenannte konjunkturelle Auf- Sie sehen, Wirtschaft und sozialer Fortschritt sind schwung, derzeit allenfalls ein laues Lüftchen, geht keine Gegensätze. Deshalb: Der Haushalt steht unter völlig am Arbeitsmarkt vorbei. dem Motto „ Sparen und Gestalten" . Sparen ist not- wendig, auch aus sozialen Gesichtspunkten. Um so Wenn also der Rückgang der Sozialausgaben 1996 mehr ist unsere Gestaltungskraft herausgefordert. nicht durch einen Rückgang der Massenarbeitslosig- keit hervorgerufen worden ist, dann gibt es nur eine (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) denkbare andere Erklärung: Diese Bundesregierung, CDU/CSU und F.D.P., fuhrwerken in den Soziallei- stungen herum. Sie streichen, sparen und würgen Das Wort be- Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: sich die 10 Milliarden DM für 1996 zusammen. Die kommt nun der Abgeordnete Rudolf Dreßler. Wahrheit hat sie also eingeholt. Diese Koalition kann ihre Politik des Sozialabbaus nicht mehr hinter dem Rudolf Dreßler (SPD): Herr Präsident! Meine Da- Mäntelchen eines durch wachsende Arbeitslosigkeit men und Herren! In den vergangenen Jahren wurde aufgeplusterten Sozialetats verbergen. Sozialer dieses Haus sowohl in der ersten wie in der zweiten Rückschritt ist nunmehr auch konkret an Haushalts- und auch in der dritten Beratung des Bundeshaushal- zahlen ablesbar. tes für Arbeit und Sozialordnung der verbalen Es war ja bemerkenswert, daß der für diesen Haus- Klimmzüge des Bundesarbeitsministers teilhaftig: halt federführende Minister es in seiner ganzen Rede Wie toll doch der Sozialstaat bei dieser Regierung sorgsam vermieden hat, auch nur einen Satz zu den aufgehoben sei, sehe man am stetigen Wachstum des Inhalten dieses Haushalts zu sagen und uns eine Be- Sozialetats. Eine Wiederholung dieser alljährlichen gründung dafür zu geben. Das war bemerkenswert! Aufführung ist in diesem Jahr ausgeblieben, wie wir gehört haben. (Beifall bei der SPD, beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der PDS) An Hand des Rückganges im Sozialetat von über 10 Milliarden Deutsche Mark muß diese Vorstellung Man könnte es auch anders ausdrücken: Es ist er- beim Bundeshaushalt 1996 ausfallen. Das übrigens staunlich, auf welch naßforsche A rt hier Politik ge- müßte nicht von Schaden sein. Denn die These von macht wird. Da stellt die Regierung, die Herren Wai- Herrn Blüm, ein stetiges Wachstum der Sozialausga- gel und Blüm, Arm in Arm fest, der Haushalt der ben sei Ausdruck der Qualität in der Sozialpolitik, Bundesanstalt für Arbeit sei gesundet. Für den Bund war, gelinde gesagt, reichlich frivol. ergebe sich daraus die erfreuliche Konsequenz, ein aus seiner Defizithaftung folgender Bundeszuschuß (Beifall bei der SPD) an die Bundesanstalt sei nicht notwendig. Man stelle sich vor: Die Massenarbeitslosigkeit bleibt, aber die Die Wahrheit nämlich war weniger erfreulich. Das Bundesanstalt für Arbeit braucht kein Geld. Das ist stetige Wachstum des Sozialetats war nicht Ausdruck schlicht absurd, meine Damen und Herren. planvoller, bewußter sozialpolitischer Gestaltung, sondern war erzwungen: erzwungen von einer stetig (Beifall bei der SPD und beim BÜNDNIS 90/ wachsenden Zahl an Arbeitslosen. Mehr Arbeitslose, DIE GRÜNEN) 4376 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 52. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. September 1995

Rudolf Dreßler Man mag sich ja die Welt durch Gesundbeterei Weil nun der Bundeswirtschaftsminister diesen Be- eine Weile schönreden können, aber die Stunde der freiungsschlag formuliert hatte, will ich wenigstens Wahrheit wird man dadurch nicht verhindern kön- die Volkspartei CDU/CSU auf eine Winzigkeit hin- nen. Noch im Haushaltsjahr 1996 wird sich das alles weisen dürfen. Rexrodt ist ja, wie Sie wissen, ein Ber- als Trick herausstellen. Angesichts der Lage am Ar- liner Spitzenpolitiker. beitsmarkt wird die Bundesregierung der Bundesan- stalt für Arbeit doch einen Bundeszuschuß in Milliar- (Zuruf von der SPD: Was?!) denhöhe zahlen müssen. In Wahrheit wissen die Her- - Ja, so steht es in den F.D.P.-Broschüren. ren Waigel und Blüm das auch; sie tun nur so als ob, und die Regierungsfraktionen machen mit. Soll diese (Zuruf von der SPD: Ach so!) Trickserei etwa Haushaltspolitik sein? Ich darf Sie darauf hinweisen, daß hinter dieser A rt Nun gibt es natürlich noch eine andere Interpreta- von Befreiungsschlag, die er auch heute wieder in tionsvariante, mit der die Zahlenakrobatik der Koali- diesem Haus vertreten hat, zur Zeit nach On Umfra- tion erklärt werden könnte. Diese allerdings ist nicht gen 2 % der Berliner Bevölkerung stehen, minder pervers. Die Bundesregierung definiert das zu erwartende Defizit der Bundesanstalt für Arbeit (Zuruf von der SPD: Viel!) nicht nur einfach künstlich weg, nein, sie vermeidet und ich kann nur sagen: Als Volkspartei CDU/CSU es tatsächlich. Sie tut dies, indem sie brutal in die Lei- sollten Sie von Ihrer gravierenden Mehrheit Ge- stungen eingreift und kürzt. Daß die Herren Kohl, brauch machen und solche gefährlichen Wegbereiter Waigel und Blüm in dieser Hinsicht Männer mit Ver- für eine veränderte Republik bremsen. Das ist auch gangenheit sind, und zwar einer reichlich unrühmli- Ihre Pflicht. chen, können sie nicht einmal selber leugnen. (Beifall bei der SPD, beim BÜNDNIS 90/DIE (Zuruf von der SPD: Wohl wahr!) GRÜNEN und der PDS - Ernst Hinsken Was also liegt näher als die Prognose, daß diese Bun- [CDU/CSU]: Welchen Zustimmungsgrad desregierung auch diesmal zum Mittel des Sozialab- haben Sie denn als sozialdemokratischer baus greifen wird? Spitzenpolitiker?) (Beifall bei der SPD) Daß die Klientel der F.D.P. den Sozialstaat als Mühlstein am Halse der Wirtschaft diskreditiert, der Nun hat Herr Rexrodt, als Bundeswirtschaftsmini- der deutschen Volkswirtschaft angeblich ihre inter- ster sicherlich einer der intellektuellen Leuchttürme nationale Wettbewerbsfähigkeit nehme, ist nicht dieser Koalition, neu. Diese Leier kennen wir. (Heiterkeit bei der SPD) Ich will Ihnen etwas sagen: Ihre Pa rtei ist zur Zeit sich vor wenigen Tagen mit der Bemerkung verneh- auf einem Wege, den ich Vulgärkapitalismus nenne men lassen, unser Land benötige in Sachen Sozialpo- und nicht anders. litik einen ökonomischen Befreiungsschlag. Daß Rex- rodtsche Befreiungsschläge in der Regel zu sozialpo- (Beifall bei der SPD, beim BÜNDNIS 90/DIE litischen K.-o.-Schlägen werden, das wissen wir. So GRÜNEN und der PDS) liest sich auch diesmal die Liste der Maßnahmen von Das bedeutet, was dem Geschäft dient, ist gut, was Herrn Rexrodt, die er als Befreiung bezeichnete, ihm schadet, schlecht. So einfach ist diese F.D.P.-Phi- nicht anders als ein Gruselkatalog. Was er als Befrei- losophie. Gesellschaftspolitische Wertung von Politik ung definiert, ist nichts weiter als die weitgehende findet nicht mehr statt, soziale Wertigkeit ist hinder- Privatisierung der sozialen Sicherung. Es ist die Zer- lich, allein die Kasse zählt. Als Motiv dient eine als störung der solidarisch finanzierten Sozialversiche- Gewinnmaximierung getarnte Habgier, und das rung. war's dann auch schon. Das ist heute diese F.D.P. Dies ist übrigens nicht verfassungswidrig. Aber es Neu in dieser Diskussion ist für mich allerdings die ist auch nicht verfassungswidrig, die deutsche Bevöl- Erfahrung, daß sich nunmehr auch Teile der CDU/ kerung darauf hinzuweisen und hinzuzufügen: CSU Wenn Sie demnächst beabsichtigen, diesen neuen Weg zu gehen, wird an irgendeiner Stelle der Straße (Jörg van Essen [F.D.P.]: Ja, auch da gibt es das Schild mit den Worten „No retu rn " , „keine Rück- Vernünftige!) kehr", auftauchen, und dann ist es zu spät für A rt . 20 GG und für die bis dato parteienübergreifende Ober- in einschlägiger Weise an dieser Diskussion beteili- einstimmung, daß diese Vorschrift zu wahren sei, daß gen, genauer gesagt, der Fraktionsvorsitzende Wolf- sie unser eigentliches Glück war, unser Standortvor- gang Schäuble und seine gesammelten Flüstertüten teil, die Voraussetzung für unsere wi rtschaftliche Ex- von Doss bis Dregger, von Louven bis Haungs. pansion sowie dafür, all das zu erreichen, was wir Wo die Eigenverantwortung verkümmert, wo die heute haben. Auf diesem Weg, meine Damen und Menschen sich daran gewöhnen, daß andere für Herren von der Union, wird Sie die SPD nicht nur sie sorgen, verkommt die Freiheit. nicht begleiten, sondern wir werden alles versuchen, was in unseren Kräften steht, Sie davon abzuhalten. Das ist Originalton Schäuble. (Beifall bei der SPD, beim BÜNDNIS 90/DIE Wie wahr, könnte man da nur sagen, und man GRÜNEN und der PDS) kann die Frage an diese Regierung, vor allem an die Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 52. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. September 1995 4377

Rudolf Dreßler CDU/CSU, anschließen: Wo sind denn eigentlich die Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Herr Kollege politischen Konsequenzen aus diesem Satz? Was tun Dreßler, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kolle- Sie, um die 3,6 Millionen registrierten erwerbslosen gen Hinsken? Menschen in Deutschland arbeitsplatzmäßig zu be- frieden, damit sie endlich ihrer Eigenverantwortung gerecht werden können? Was tun Sie dafür? Rudolf Dreßler (SPD): Aber selbstverständlich, Herr Präsident. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN (CDU/CSU): Dreßler, und der PDS) Ernst Hinsken Herr Kollege wie beurteilen Sie die Tatsache, daß die westdeut- Diese Menschen wollen das nämlich. Sie wollen für schen Arbeitnehmer während des Jahres 1991 an sich selbst sorgen, sie wollen ihre ökonomische und 26 Tagen krank waren, 1992 an 24 Tagen und 1993 soziale Freiheit endlich zurück. an 21 Tagen und man im Vergleich dazu in Italien nur 18 Tage, in Großbritannien 17 Tage und in Japan Tatsache ist doch, daß die arbeitsmarktpolitische 6 Tage im Jahr krank ist? Nichtstuerei dieser Regierung sie ihnen vorenthält, und angesichts der gesellschaftspolitischen Realität (Widerspruch bei der SPD und beim BÜND in Deutschland kommt dieser Satz des Herrn NIS 90/DIE GRÜNEN) Schäuble einer Verhöhnung dieser Menschen gleich. Sind das arbeitsfreudigere oder gesündere Men- schen als bei uns, oder worauf führen Sie das zu- Nun hat Herr Schäuble seit geraumer Zeit ein rück? Exempel gefunden, an dem er exekutieren möchte, was er unter Stärkung der Eigenverantwortung ver- (Joseph Fischer [Frankfu rt] [BÜNDNIS 90/ steht - die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall. Da DIE GRÜNEN]: Wir sollten mehr Olivenöl kann das Kanzleramt im Auftrag des Allerhöchsten und Rotwein trinken, Herr Hinsken!) noch so heftig dementieren, da kann Herr Seehofer noch so heftig räsonieren - die Wahrheit ist: CDU und CSU wollen die Lohnfortzahlung im Krankheits- Rudolf Dreßler (SPD): Herr Hinsken, ich bin nicht fall einschränken; wer krank ist, soll weniger Geld in der Lage, Ihnen das wissenschaftlich zu beantwor- bekommen. ten, weil ich diese Analysen nicht gemacht habe. (Dr. Heiner Geißler [CDU/CSU]: Eine fal Aber eines weiß ich, und ich denke, das sollten sche Behauptung! - Gegenruf von der SPD) auch Sie wissen: In der Bundesrepublik Deutschland gibt es nur eine Institution, die Arbeitsunfähigkeit Herhalten für diese Philosophie müssen dann die so- attestieren darf. Das ist die Institution der Ärzte. Ha- genannten Blaumacher, denen es an den Kragen ge- ben Sie die einmal danach gefragt? hen soll. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne (Dr. Heiner Geißler [CDU/CSU]: Blödsinn!) ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS) Blaumacher, meine Damen und Herren, die gibt es auch, aber gesellschaftliche Realität ist, daß die er- Wollen Sie hier in diesem Hause indirekt unterstel- drückende Mehrheit der arbeitsunfähigen Arbeit- len, daß die Ärzte, die das allein attestieren dürfen, nehmerinnen und Arbeitnehmer eben nicht blau- korrupt seien oder betrügen? Soll das in Ihrer Frage macht, sondern schlicht krank ist. mehr oder weniger mitklingen?

Gesellschaftliche Realität ist auch, daß bereits (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ heute ausreichende gesetzlich festgelegte Maßnah- DIE GRÜNEN - Joseph Fischer [Frankfu rt] - men gegeben sind, dieses sogenannte Blaumachen [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Unglaub zu bekämpfen, lich!) Mein lieber Herr Hinsken, ich rate Ihnen drin- (Zuruf von der SPD: So ist es!) gendst, derartige Fragen in Zukunft vorher zu über- etwa im Entgeltfortzahlungsgesetz, das auch regelt, denken. - Frau Babel, bitte schön. - Eine weitere daß eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung späte- Expertin in Sachen Kürzung beim Lohnfortzahlungs- stens am vierten Tag vorzulegen ist. Und ich zitiere gesetz. den Gesetzestext im O riginal: (Heiterkeit bei der SPD) Der Arbeitgeber ist berechtigt, die Vorlage der ärztlichen Bescheinigung früher zu verlangen. Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Herr Kollege Dreßler, So heißt es dort. Mit dieser Bestimmung kann man also gegen sogenannte Blaumacher vorgehen, wenn (Rudolf Dreßler [SPD]: Entschuldigung, man wirklich will. Man muß sie nur anwenden, Herr Präsident!) meine Damen und Herren. überlassen Sie die Worterteilung ruhig mir. Aber ich (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne merke, Sie gestatten eine Zwischenfrage von Frau ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Dr. Babel. - Bitte schön. 4378 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 52. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. September 1995

Dr. Gisela Babel (F.D.P.): Herr Kollege Dreßler, ich triebsvereinbarungen und Tarifverträgen freiwillig in kenne Ihren Vorwurf, daß es sich hier nur um ein über 80 % aller Beschäftigungsverhältnisse in die- Phänomen für die Korruptheit von Ärzten handelt. sem Staat auf die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung bis zum dritten oder vie rten Tag, weil sie wissen, daß (Zurufe von der SPD: Nein! - Dr. Uwe Kü das in ihrem Bereich unternehmenspolitisch und da- ster [SPD]: Sie unterstellen das! - mit, wenn Sie so wollen, auch betriebswirtschaftlich Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast [SPD]: Baby besser ist, als den Weg zu gehen, den Sie hier indi- lonische Verwirrung! - Weiterer Zuruf von rekt suggerieren. der SPD: Bleiben Sie bei der Wahrheit! - Weitere Zurufe von der SPD) In Wahrheit, Frau Dr. Babel, wollen Sie doch etwas ganz anderes: Sie wollen, daß in den ersten Tagen Würden Sie mir zustimmen, daß es einem Arzt wohl einer Arbeitsunfähigkeit, also einer Krankheit, der kaum erlaubt sein kann, wenn ein Arbeitnehmer zu gesamten deutschen Bevölkerung, die arbeitet und ihm kommt und erklärt: „Ich habe Leibschmerzen, krank wird, kein Lohn mehr gezahlt wird. Punkt! Das ich habe unerträgliche Kopfschmerzen", ihm zu sa- ist das Problem. gen: „Mein Guter, nun geh' mal ruhig zur Arbeit; das wird die Arbeit dann schon lösen"? (Beifall bei der SPD) Das heißt, es gibt doch Beschwerden - da möchte Ich sage Ihnen, Frau Dr. Babel: Das, was Sie wol- ich jetzt einmal Ihre Bewe rtung -, die Ärzte heute len, ist nicht strafbar und nicht verfassungswidrig. Es nicht von vornherein klar als Mißbrauch oder sozusa- ist aber doch ebensowenig verfassungswidrig, wenn gen als wirkliche Krankheit erkennen können. ich mich dagegen wehre und sage: Dies wi ll ich und auch meine Fraktion nicht. (Dr. Uwe Küster [SPD]: Sie unterstellen doch ein Blaumachen, genau das! - Weitere (Beifall bei der SPD) Zurufe von der SPD) Da lasse ich mir doch nicht von Herrn Schäuble vor- Deshalb ist ein Arzt natürlich geneigt, einem solchen halten, ich würde den Standort Deutschland gefähr- Arbeitnehmer die gewünschte Bescheinigung, daß er den. Wo sind wir denn eigentlich hingekommen? Als krank ist, nicht zu verweigern. ob dies etwas mit Standortpolitik zu tun hätte! (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Frau Dr. Babel, ten der PDS) einen Augenblick! - Meine verehrten Kollegen, es hat überhaupt keinen Sinn, daß Sie hier so laute Zu- Auch ich bekomme diese Briefe. rufe oder Zwischenrufe machen, daß keiner die Sie haben sich auf den Weg begeben, mit dieser Frage verstehen kann. Darum bitte ich Sie, Frau Dr. Frage die Lufthoheit über den Stammtischen Babel, Ihre Frage noch einmal zu stellen. Deutschlands zu erobern. Ich stehe unter dem Tisch und versuche von unten, die Erkenntnis über die Dr. Gisela Babel (F.D.P.): Noch einmal kurz: Halten Realitäten in Deutschland doch noch mehrheitsfähig Sie es für einen Mißbrauch eines Arztes, wenn er ei- zu machen. Ich weiß, wie schwer es ist, gegen solche nen Arbeitnehmer krankschreibt, der zu ihm kommt Biertischparolen anzukommen, wie Sie sie hier ver- und über Schmerzen klagt? Halten Sie das für einen treten. Das aber ändert doch nichts am Sachverhalt, Mißbrauch, ja oder nein? meine Damen und Herren. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne Rudolf Dreßler (SPD): Nein, Frau Dr. Babel, das ten der PDS - Ernst Hinsken [CDU/CSU]: halte ich nicht für einen Mißbrauch. Für einen Miß- Ganz primitive Demagogie!) brauch halte ich aber, daß Sie das Lohnfortzahlungs- Der Koalition geht es in diesen Fragen um einen gesetz heutiger Prägung, das dem Unternehmer die - gesetzliche Möglichkeit eröffnet, den Sachverhalt ideologischen Fixpunkt, an dem eine grundlegende mit Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vom ersten gesellschaftspolitische Richtungsänderung in unse- Tag an belegt zu bekommen, wobei der Arbeitneh- rem Land festgemacht werden kann. mer, wenn er dies nicht tut, kein Geld bekommt, Auch die Senkung der Lohnnebenkosten geriet ignorieren und so tun, als ob nun die deutsche Ge- bei dieser Bundesregierung in der Diskussion der sellschaft aus Arbeitern, Angestellten und Beamten vergangenen Jahre zu einem ideologischen Schlag- aus Blaumachern, aus Menschen besteht, die sich in wort. Das hat sich mittlerweile etwas relativiert. Seit diesem Sozialstaat ausruhen und die dadurch letzt- unabweisbar ist, daß unser Land seit 1990 nur einen lich den Auftrag, den Sozialstaat zu konsolidieren, einzigen Produzenten von höheren Lohnnebenko- konterkarieren. Das halte ich für einen Mißbrauch. sten kennt - das ist diese Regierung mit ihrer Politik, Wenn Sie so in der Praxis tätig gewesen wären wie die Folgen der deutschen Einheit zu einem guten Teil ich, Frau Dr. Babel, über Sozialversicherungsbeiträge zu finanzieren -, haben CDU/CSU und F.D.P. weniger Spaß an diesem (Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU) Thema. und wenn Sie mit diesem Lohnfortzahlungsgesetz Für meine Fraktion will ich hier feststellen: Wir hätten arbeiten müssen, dann hätten Sie eine ganz wollen die Lohnnebenkosten von Unternehmen und einfache Erklärung für dieses Phänomen: Die Arbeit- Arbeitnehmern - auch die haben welche - senken, geber, die Unternehmer verzichten nämlich in Be indem wir z. B. die finanziellen Konsequenzen der Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 52. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. September 1995 4379 Rudolf Dreßler deutschen Einheit dort ansiedeln, wo sie hingehören. Da man sich vor Unterstellungen nicht schützen Nicht mehr nur die Sozialversicherten und ihre Un- kann, will ich, um kein Mißverständnis aufkommen ternehmen, sondern die Gesamtheit der Bürger sol- zu lassen, gleich hinzufügen: Es ist nicht so, daß ir- len sie tragen. gendeiner oder irgendeine in diesem Hause nicht der Meinung wäre, die finanziellen Konsequenzen der (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Marga deutschen Einheit hätten nicht geschultert werden reta Wolf [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/DIE sollen. Wenn sie aber die Ursache für die gestiegene GRÜNEN]) Staatsquote sind, woher nimmt dann diese Koalition die Rechtfertigung, statt dessen, an dieser Ursache Ich wiederhole zum unzähligsten Male, Frau vorbei, in unserem Sozialstaat herumfummeln zu Dr. Babel: Ich finde es unerträglich, daß Sie und ich wollen? an der Finanzierung der deutschen Einheit über die Zahlung von Sozialversicherungsbeiträgen seit vier (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne Jahren nicht beteiligt sind. Deshalb fordere ich Sie ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) auf, mit mir dafür zu sorgen, daß auch wir endlich an der Finanzierung beteiligt werden - so, wie es die Ar- Ob Lohnfortzahlung, ob Lohnnebenkosten oder beiter und Angestellten, teilweise die Beamten und jetzt die Staatsquote, die Diskussion zeigt: Der Koali- die Unternehmen leisten müssen. Das ist der eigent- tion geht es darum nicht. Jedes einzelne dieser The- lich gravierende Punkt. men dient vielmehr nur als Alibi, um eine gesell- schaftspolitisch grundlegend andere Weichenstel- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne lung zu erzwingen. ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS) Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Beck? Diejenigen in diesem Hause, die sich einem sol- chen Schritt beharrlich verweigern, sind die Fraktio- nen von CDU/CSU und F.D.P. Auch hier zeigt sich, Rudolf Dreßler (SPD): Aber natürlich. daß es der Koalition nicht um die Sache geht; denn sobald sich der Nebel über den ideologischen For- Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- meln gelichtet hat, sobald man also konkret werden NEN): Herr Kollege Dreßler, ich teile Ihre Einschät- muß - die Opposition in diesem Hause hat möglicher- zung mit jedem Wo rt . Ich habe nur eine Frage, die weise noch nicht signalisiert, daß dies auch ihr Ziel ich Sie bitte mir zu beantworten: Wie können Sie ei- ist; sie will dies seit drei Jahren -, flüchtet sie sich in gentlich vertreten, mit einer Partei, die diese A rt von die nächste Unverbindlichkeit und sucht krampfhaft Politik macht, auf Länderebene, wie in Bremen, Ba- nach der nächsten nebulösen Formel. Die lautet nun, den-Württemberg, Mecklenburg-Vorpommern, Ber- wie ich gelesen habe: Senkung der Staatsquote. lin, Koalitionen einzugehen? Der Bundesarbeitsminister hat dazu seinen Frakti- (Lachen bei der CDU/CSU) onskollegen aus der CDU/CSU einen höchst interes- santen Brief geschrieben, der ausnahmsweise wirk- lich lesenswert ist. Im Gegensatz zu der sonst in Ko- Rudolf Dreßler (SPD): Frau Beck, ich habe in den alitionskreisen gängigen, böswilligen Behauptung, letzten drei Wochen, wie Sie sicherlich vernommen der ach so üppige, ständig weiterwuchernde Sozial- haben - es war ja unüberhörbar -, meiner Fraktion staat sei Verursacher einer gestiegenen Staatsquote, gegenüber ein paar kritische schriftliche Akzente in kommt Herr Blüm - das ist nachzulesen - zu folgen- Sachen Föderalismus gesetzt. dem Ergebnis: Da ich derjenige bin, dem zweifellos in diesem Zu- sammenhang vorzuhalten wäre - das hat eine Tages- Der Anstieg der Staatsquote in den vergangenen zeitung übrigens auch getan -, ich hätte -am meisten fünf Jahren ist vor allem die Folge der vom Staat mit denen gekungelt - Stichwort Rentenversiche- im Zusammenhang mit der Wiedervereinigung rung, Stichwort Gesundheitsstrukturgesetz, Stich- geschulterten Lasten. wort Rentenüberleitungsgesetz, Stichwort Renten- Herr Blüm fährt fo rt : überleitungs-Ergänzungsgesetz, Stichwort Erster Staatsvertrag, Stichwort Einigungsvertrag -, nehme Die Rückführung der Staatsquote ist zur Senkung ich für mich folgendes in Anspruch: der Defizite der öffentlichen Haushalte und zur Bei der Abwägung von Tatbeständen und Maß- Reduzierung der Abgabenlast mittelfristig not- nahmen, die diese Koalition praktizieren wollte und wendig. will, und der Möglichkeit, aus der Opposition heraus Ich habe dem nichts hinzuzufügen, außer vielleicht für Millionen Menschen Schlimmes zu verhindern, einen kleinen Erinnerungsposten. In eine Frage ge- (Lachen bei der CDU/CSU - Steffen Kam kleidet lautet dieser Erinnerungsposten so: Wer, peter (CDU/CSU): Das glaubt noch nicht meine Damen und Herren, regiert eigentlich seit einmal einer bei euch!) 13 Jahren dieses Land und zeichnet für diese Ergeb- nisse verantwortlich? habe ich die Wahl zwischen einer Politik von Franz Josef Strauß - Sonthofen: alles muß noch viel tiefer (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ sinken, damit die Menschen begreifen, was sie re- DIE GRÜNEN) giert -, also parteipolitischer Taktik, und der Verant- 4380 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 52. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. September 1995

Rudolf Dreßler wortung vor den Millionen, die sich hinter diesen Nein, Herr Blüm, setzen Sie sich mit uns zusam- dann auf sie zukommenden Gesetzen verbergen. Ich men! Dann können wir gemeinsam Ihren Laden end- habe mich in diesen Fällen jedesmal mit Rückendek- lich zur Vernunft bringen. kung der Beschlüsse meiner Pa rtei und Fraktion für den zweiten Weg entschieden - gegen parteipoliti- Guten Tag. sche Taktik und für das gemeinsame Ganze. (Anhaltender lebhafter Beifall und Bravo (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Rufe bei der SPD - Beifall beim BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der Daß das von diesen Damen und Herren do rt im um- PDS) gekehrten Falle nicht gemacht worden wäre, weiß ich. Aber, Frau Beck, ich weiß ja auch, warum ich in der SPD und nicht in der CDU/CSU bin. Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Das Wort hat nun der Abgeordnete Joachim Fuchtel. (Beifall bei der SPD) Um das zusammenzufassen: Die Koalitionsregie- Hans-Joachim Fuchtel (CDU/CSU): Herr Präsi- rung will die aus Art. 20 unseres Grundgesetzes f ol- dent! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der gende Verpflichtung zu einer Pseudolegitimation für Kollege Dreßler hat fortgesetzt, was vor ihm die an- eine erzkonservative Wirtschafts- und Sozialpolitik deren Redner auch schon getan haben, nämlich zu verbiegen. Ich will hier hinterlassen: Bilden Sie sich versuchen, unseren Bürgerinnen und Bürgern im bloß nicht ein, Sie könnten damit bei Sozialdemokra- Land zu suggerieren, daß die Reduzierung des So- ten irgendeinen Blumentopf gewinnen. Wir stehen zialetats etwas Negatives sei. zum Sozialstaatsgebot unserer Verfassung und wer- den dieses Gebot geschlossen und entschlossen ver- Richtig ist: Das ist etwas Außergewöhnliches. teidigen. Einfach ausgedrückt: Die SPD will keine Denn erstmals seit vielen Jahren ist ein Arbeits- und andere Republik, meine Damen und Herren. Sozialminister in der Lage, einen Etat vorzulegen, (Beifall bei der SPD) der nicht mehr Ausgaben vorsieht, sondern weniger Ausgaben. Wir wollen unser Land für zukünftige Herausforde- rungen fitmachen. Wir wollen unseren Sozialstaat als (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. - qualitativen Standortvorteil in den Wettbewerb mit Zurufe von der SPD: Ja, auf wessen Rük konkurrierenden Ländern einbringen und ihn darauf ken? - Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Das ist ausrichten, anstatt ihn zu zerstören. doch kein Selbstzweck!) Ich habe heute morgen in der Rede von Herrn Nicht umsonst hat das „Handelsblatt" geschrieben: Blüm zwei Dinge vernommen, die ich zum Schluß ab- 10 Milliarden weniger - das ist ein Kraftakt. Jawohl, handeln möchte. Das erste war - ich zitiere den Bun- das ist ein Kraftakt zur rechten Zeit, und er muß sein. desarbeitsminister -: Um Lohnzuschüsse zu durch- Herr Dreßler, Ihr Problem ist, daß Sie sich nicht mit schauen, benötigen die Unternehmer einen Lohnzu- der Zeit, in der wir sind, auseinandersetzen. Viel- schußberater. - Herr Blüm, es ist ja wohl nicht unrich- mehr mahlen Sie auf den alten Mühlen weiter, ohne tig, daß Ihnen die sozialdemokratische Opposition in die Herausforderungen anzunehmen, die jetzt vor- diesem Hause x-fach angeboten hat, diesen auch handen sind. jetzt zu Protokoll gegebenen Unsinn zu verändern. Darf ich Sie darauf hinweisen, daß ich Ihre Analyse (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: So ist es!) teile; aber wir alleine haben nicht die Möglichkeit, Sie dazu zu bringen, es zu ändern. Sollte das ein An- Keiner von uns bestreitet - wir beide sind lange ge- gebot gewesen sein: Fangen Sie morgen früh an! Wir nug in diesem Gremium, um das zu wissen -, daß ein machen mit. so großer Einzelplan wie der Etat des Bundesmi- nisters für Arbeit und Sozialordnung Haushaltsrisi-- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) ken beinhaltet. Das will ich gar nicht wegdiskutie- Aber Sie können es nicht immer hier sagen, und ren. Aber selbst wenn wir diese Haushaltsrisiken ein- dann werden Sie von Ihrer Fraktion und der F.D.P. rechneten, blieben wir unter einem Wert von hängengelassen, Herr Blüm. Das geht nicht so wei- 10 Milliarden DM, das sind immerhin 10 000 Millio- ter. nen DM, und können damit sagen: Der Koalition ge- lingt mit diesem Sozialhaushalt ein sichtbares Zei- (Beifall bei der SPD) chen der Begrenzung der Sozialausgaben. Meine Der zweite Satz geht in die gleiche Richtung. Sie Damen und Herren, alle Wirtschaftssachverständi- haben heute morgen etwas zu versicherungsfrem- gen fordern dies, und wir tun dies. Es ist höchste den Leistungen ausgeführt. Das ginge nicht hoppla Zeit, daß es getan wird. hopp, und Sie haben vorgeschlagen, einen Stufen- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) plan zu machen. Herr Blüm, fangen wir bitte morgen früh mit diesem Stufenplan an! Wir verlangen ihn Wir tun dies im übrigen, obwohl sich die wirt- seit drei Jahren. Sie können nicht so tun, als ob die schaftliche Lage erholt. Wir lassen uns nicht verfüh- Opposition keine Vorschläge machte, dann, wenn ren, jetzt wieder eine Aufweichung mitzumachen. wir sie machen, sie von diesen Herrschaften abmei- Vielmehr setzen wir die st rikte Konsolidierung des ern lassen, und hier nun so tun, als ob irgendeine Bundeshaushalts und den Umbau des Sozialstaats imaginäre Gewalt Sie daran hindern würde. fort. Wir handeln; wir reden nicht nur darüber. Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 52. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. September 1995 4381

Hans-Joachim Fuchtel Das muß auch sein, wenn man die Arbeitslosigkeit schen Landtagswahlkampf dann ausdiskutiert wer- wirklich ernsthaft begrenzen möchte. Wer die Ab- den soll. wanderung von Betrieben verhindern will, wer die Konkurrenzfähigkeit der deutschen Wi rtschaft erhal- (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Das lassen Sie ten will, wer bezahlbare Stundensätze im Auge hat einmal die Sorge der Wähler sein!) und auch die Qualität unseres Sozialstaates weiter si- Meine Damen und Herren, der Bundeskanzler hat chern möchte, der muß jetzt günstige Rahmenbedin- gestern an dieser Stelle die Lage ganz klar analysiert. gungen für das wirtschaftliche und gesamtpolitische Er hat gesagt, Sie gehen den Herausforderungen aus Geschehen schaffen. Nichts anderes tun wir. dem Wege. So ist es. Deswegen haben wir von Ihnen (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) auch nur eine einzige Einlassung die ganze Zeit über gehört, die von Substanz ist. Es ist die Frage, ob und Dazu gehört zweifellos und nicht zuletzt die Sen- wie die Sozialversicherungen von sachfremden Ko- kung der Staatsquote. sten entlastet werden sollen. (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Warum eigent (Beifall bei Abgeordneten der SPD - Zuruf lich? - Lachen bei der CDU/CSU und der von der SPD: Ist doch richtig, oder?) F.D.P.) Es wird darüber in allen Fraktionen derzeit disku- - Darauf komme ich noch zu sprechen. - Nur wenn tiert. wir dies tun, werden wir eine Begrenzung der Sozial- ausgaben erreichen. (Rudolf Dreßler [SPD]: Aber nicht intensiv genug!) (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Wieso denn?) Aber, meine Damen und Herren, eines müssen wir Wenn wir das nicht tun, werden uns die Sozialausga- auch beantworten: Man kann nicht nur sagen, wir ben weglaufen, entlasten die Sozialversicherungen, sondern die Ko- sten müssen dann auch woanders aufgebracht wer- (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Quatsch!) den. wird die Staatsquote immer weiter steigen, wird im- (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Davor scheuen mer mehr Geld durch den staatlichen Bereich laufen Sie sich!) und wird immer weniger für den Gestaltungsraum der Wirtschaft übrigbleiben. Bitte schön, meine Damen und Herren, da sind wir beim Thema. Wir können das entweder über eine (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Die Arbeits Änderung von Leistungsgesetzen machen - dazu plätze sind dann auch weg!) sind wir im Rahmen des Umbaus des Sozialstaates auch bereit; dazu sind Sie aber nicht bereit -, oder So einfach sind die Zusammenhänge. Das müssen wir müssen dies durch eine andere Finanzierung tun, Sie erst einmal begreifen, bevor Sie hier etwas kriti- weil das Geld irgendwo herkommen muß. Dann sa- sieren. gen Sie uns doch, aus welchen Töpfen diese hohen Milliardenbeträge kommen sollen, dann können wir (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) diese Frage auch weiter diskutieren. Im Augenblick Sie, meine Damen und Herren aus dem Jammertal sehe ich, solange der Solidarbeitrag besteht, keine der Opposition - anders kann ich das, was der Kol- Möglichkeit, hier kurzfristig neue Handlungsspiel- lege gerade gesagt hat, gar nicht bezeichnen -, ste- räume zu eröffnen. Diese Antwort bleiben Sie uns hen vor einem großen Dilemma. Sie sehen, wie wir durch die ganze Debatte hindurch schuldig. Deswe- auch, daß wir Einsparungen vornehmen müssen. Je- gen sind diese Aussagen auch nicht so viel we rt. der von Ihnen forde rt pauschale Einsparungen. Sie Wir erinnern uns noch sehr schmerzlich- an die Dis- trauen sich aber an den großen Etat des Bundesmini- kussion über die Pflegeversicherung. Da saßen Sie sters für Arbeit nicht richtig heran. Das ist die Situa- mit riesen Spendierhosen am Tisch, und als es an die tion. Sie halten es lieber im Stil des Känguruhs: mit Gegenfinanzierung ging, mußten wir Sie unter die- leerem Beutel große Sprünge machen. Es ginge viel- sem Tisch wieder sehr mühsam herausziehen, um leicht, wenn Sie einen Goldesel hätten, aber Sie ha- mit Ihnen die Gegenfinanzierung zu klären. ben eben . Mit diesem Rudolf Scharping werden Sie nicht zu neuen Ufern aufbre- (Rudolf Dreßler [SPD]: Waren Sie auch da chen und nicht das tun, was notwendig ist. bei? Ich habe Sie nicht gesehen!) (Zuruf von der SPD: Wir sind froh, daß wir - Ja, Sie kommen zu wenig in die Ausschüsse, wo Scharping haben!) solche Sachen besprochen werden, Herr Ko llege. Da ist der Herr Spöri schon etwas weiter. Aber der (Rudolf Dreßler [SPD]: Da habe ich Sie nicht hat ein riesiges Glaubwürdigkeitsproblem, weil er gesehen!) ein einsamer Rufer in der Wüste ist und weil mit Si- cherheit der Dissens zwischen dieser Bundestags- Gleiches befürchten wir jetzt, wenn es um diese kon- fraktion und Spöri auch so groß ist wie der zwischen krete Aufgabe geht. Auch da erheben Sie jetzt die der Bundestagsfraktion und Schröder. Da sind wir große Forderung, man möge die Sozialversicherun- einmal gespannt, wie das im baden-württembergi gen entlasten, aber Sie sagen uns nicht, in welcher 4382 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 52. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. September 1995 Hans-Joachim Fuchtel Weise die dann erforderlichen Mittel aufgebracht lionen, wir brauchen Milliarden -, dann muß ich Ih- werden müssen. nen, Herr Kollege Dreßler, vorhalten: Sie haben das Problem, daß Sie immer Millionen und Milliarden (Rudolf Dreßler [SPD]: Ist doch Unsinn!) verwechseln. Bevor wir in diese Diskussion nicht konkret eintreten können, können Sie auch nicht ernsthaft denken, (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. - daß das Konzepte sind, die man hier ernst nehmen Abg. Rudolf Dreßler [SPD] meldet sich zu kann. Sie müssen hier schon mit anderen Vorschlä- einer weiteren Zwischenfrage) gen herangehen. Vor diesen Vorschlägen haben Sie - Nein, einmal genügt, Herr Kollege. Angst, ganz einfach deswegen, weil sie damit zusam- menhängen, daß wir die Wettbewerbsfähigkeit der Ich muß noch etwas zu den Ausführungen von deutschen Wirtschaft sichern müssen. Das können Frau Matthäus-Maier sagen. Sie hat vorgestern aus- wir nur, wenn wir die Ausgaben insgesamt senken. geführt: Nicht der Sozialstaat ist zu teuer, sondern die Arbeitslosigkeit. - Das ist auch so ein Quatsch. Es ist ein Witz, wenn immer wieder behauptet Das hilft uns in der Sache überhaupt nicht weiter, wird, es hänge nicht an den warum Lohnkosten, weil man damit die Notwendigkeit des Umbaus des viele Betriebe abwandern. Tag für Tag kommen zu Sozialstaates verneint. Genau an diese Aufgabe müs- uns Unternehmer und sagen uns, daß sie bei dem sen wir jetzt gehen. Lohnniveau mit all den Zusatzkosten nicht mehr mit- halten können. Deswegen müssen wir jetzt Zeichen (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. - setzen. Ulrich Heinrich [F.D.P.]: Ja, Sprechblasen (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) sind das!) Nach der Auffassung der CDU/CSU gibt es in un- Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Herr Kollege serem Sozialstaat zu viele Szenarien, bei denen der Fuchtel, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abge- einzelne nicht genügend herausgefordert wird, für ordneten Dreßler? sich selbst zu sorgen. (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Beispiel?) Hans-Joachim Fuchtel (CDU/CSU): Natürlich. - Es ist sehr schön, daß Sie jetzt so konkret werden wollen. Das paßt genau zu dem, was ich jetzt sagen Rudolf Dreßler (SPD): Herr Kollege Fuchtel, ich möchte. muß unterstellen, daß Sie im Laufe des Vormittags nicht im Saal waren, denn wenn Sie im Saal gewesen Lassen Sie es mich mit einem Zitat sagen: wären, hätten Sie eine Vorlesung der Kollegin Anke Fuchs gegenüber dem Vorsitzenden der F.D.P.-Frak- Das Thema der Solidarität in Deutschland muß tion des Deutschen Bundestages mitbekommen, und neu definiert werden. Bislang haben wir das The- zwar über die Modalität der Finanzierung, über die ma der Solidarität nur aus der Sicht derjenigen Art und Weise des Aufkommens und ihrer Vertei- definiert, die staatliche Leistungen in Anspruch lung. genommen haben. Wir müssen gesamtgesell- schaftliche Solidarität auch aus der Sicht derjeni- Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß heute gen mitdefinieren, die diese staatlichen Leistun- morgen in Ihrer Abwesenheit - ich muß ja unterstel- gen erwirtschaften. len, daß Sie keine Zeitungen lesen; sonst hätten Sie es auch dort schon nachlesen können - das, dessen (Zuruf von der F.D.P.: Sehr gut!) Fehlen Sie gerade beklagen, mindestens 20 Minuten Gegenstand der politischen Auseinandersetzung im Dieses Zitat stammt von keinem CDU-Politiker, es Parlament gewesen ist? Sind Sie bereit, es nachzule- stammt vom Oberbürgermeister der Stadt Pforzheim, sen, damit Sie in den nächsten Wochen einen sol- einem SPD-Mitglied, und zwar aus dessen neuestem chen Unsinn nicht mehr reden? Buch „Der erschöpfte Sozialstaat" . (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. - Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Ein vernünftiger Hans-Joachim Fuchtel (CDU/CSU): Herr Kollege Mann!) Dreßler, ich empfehle Ihnen eine dickere Brille. Mit Das sollten Sie sich einmal etwas stärker hinter die zwei Zentnern und einigen Kilo Gewicht müßte ich Ohren schreiben, eigentlich unübersehbar sein. Ich möchte Sie aber bitten: Lassen Sie uns in der Sache darüber reden. (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Aber ich wollte ein konkretes Beispiel! Kein Buch, sondern Ich muß Ihnen schon sagen: Man hätte Frau Fuchs in vielen Punkten schon vorher widersprechen müs- ein Beispiel!) sen, als sie diese Dinge, die völlig unschlüssig sind, damit wir dann vielleicht auf eine etwas andere Dis- vorgetragen hat. Das Unschlüssigste an der ganzen kussionsebene kommen. Kiste war dann wohl, als sie gesagt hat: Zur Gegenfi- nanzierung nehmen wir einmal die Steuer auf das (Ulrich Heinrich [F.D.P.]: Das ist ein Mann Flugbenzin. - Wenn man einmal sieht, um welche der Praxis! Er kommt bei denen nicht zu Summen es sich da handelt - wir brauchen nicht Mil- Wort!) Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 52. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. September 1995 4383

Hans-Joachim Fuchtel Unsere Befürchtung ist - darauf komme ich noch Bei dieser Sachlage ist es doch nicht angemessen, zurück -, daß, ähnlich wie bei der Asylfrage, erst der so pauschal von 3,5 Millionen Arbeitslosen zu reden. mühsame Protest Ihrer eigenen Basis, vor allem der Wir müssen uns dort, wo wir feststellen, daß bishe- Kommunalpolitiker, Sie langsam dazu bewegt, auch rige Regelungen nicht dazu führen, daß derjenige, hier in Bonn umzudenken. Nur, so lange können wir der arbeiten kann, zur Arbeit ermuntert wird, bemü- hier nicht warten. Wir haben schon bei der Asylfrage hen, künftig Anreizsysteme zu schaffen, damit dies viel zu lange auf Sie gewartet. möglich wird. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) ordneten der F.D.P.) Nach meinem Empfinden erwartet das der ganz Jetzt komme ich zum Konkreten, Frau Kollegin große Teil unserer Bevölkerung. Wir müssen uns die- Fuchs. Sie wollten ja ein Beispiel haben. Herr Kol- ser Aufgabe schleunigst annehmen, um nicht den lege Scharping hat gestern ganz pauschal gesagt: Mißmut der Bevölkerung in diesem Bereich zu stär- 3,5 Millionen Arbeitslose, sie alle warten auf Arbeit. - ken. Wir in diesem Hause sind uns einig, daß wir alles tun Deswegen gehen wir jetzt an die Arbeit. Wir wären müssen, um möglichst viele Menschen in Arbeit zu dankbar, wenn Sie sich beteiligen, anstatt sich zu bringen. versagen - woraufhin wir wieder harte Konfrontatio- (Zurufe von der SPD: Was tut ihr denn? - nen haben, aber Probleme nicht vom Tisch schaffen. Ihr tut doch nichts!) Es liegt nicht an uns, wenn hier nichts geschieht. Wenn wir hier Zeichen setzen, werden das die Leute Es stellt sich die Frage, ob wir bereit sind, differen- draußen im Lande sicher aufmerksam verfolgen und ziert darüber zu reden, oder ob wir es so machen wie positiv zur Kenntnis nehmen. Sie, die von den 3,5 Millionen sprechen und glauben, damit das ganze Thema abgehandelt zu haben. Wir (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) sollten vielmehr - das wäre der Sache angemessen - Meine Damen und Herren, abschließend möchte dazu übergehen, uns wirklich sektoral differenziert ich noch etwas sagen, was mir in der Debatte aufge- mit solchen Problemen zu befassen und die Schlag- fallen ist. Es gibt einen sehr ausführlichen Bericht worte aus der Diskussion herauszuhalten, die immer der OECD. Nachdem bekannt wurde, daß sehr viel wieder eine konkrete Lösung verhindern. Dazu sind Positives über die Bundesrepublik drinsteht, über- wir bereit. Wir brauchen allerdings auch Ihre Bereit- lege ich mir dauernd, was wohl der Grund dafür ist, schaft dazu, damit wir vorankommen. daß er von Ihrer Seite kein einziges Mal erwähnt (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Werden Sie doch wurde. Eigentlich müßten Sie jetzt sagen: Jawohl, da einmal konkret!) wurde etwas positiv beschrieben, (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Was denn?) Tatsache ist, daß im Jahr 1994 1,2 Millionen Ar- beitserlaubnisse für Ausländer erteilt wurden, davon wir sind auf dem richtigen Weg. Aber Sie sind so 400 000 an nachziehende Ehegatten von Ausländern. engstirnig, daß Sie das ganz vergessen. Das sage ich nur an die Adresse derjenigen, die die Gesetze auch auf diesem Gebiet immer weiter öffnen Ich frage mich: Wie oft würde dieser Bericht wohl möchten. heute zitiert werden, wenn er für diese Bundesregie- rung negativ ausgefallen wäre? (Zuruf von der SPD: Und wie viele an Aus (Dr. Gisela Babel [F.D.P.]: Ja, das ist wahr!) siedler?) Dann hätten Sie gar nicht genügend Vervielfälti- - Das sind ja keine Ausländer, wenn Sie das noch gungspapier gehabt, um das alles über uns auszu- nicht gelernt haben. breiten. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Aber, meine Damen und Herren, so ist- die Situa- Das ist schon traurig, wenn Sie bis zum heutigen tion: Die SPD ist derzeit nicht in der Lage, auf dem Tage, obwohl Sie schon ein Jahr Mitglied im Deut- Boden der gesellschaftlichen Realitäten zu diskutie- schen Bundestag sind, noch nicht beg riffen haben, ren, daß hier ein Unterschied gemacht werden muß. Man- (Zuruf von der CDU/CSU: Miesmacher!) ches, was Sie so daherreden, wundert mich jetzt nicht mehr, wenn Sie diese Differenzierung nicht vor- schon gar nicht in der Sozialpolitik. Wir hoffen, daß nehmen können. Ihnen die Augen bald aufgehen und daß wir dann bessere Gespräche miteinander führen. 700 000 von diesen 1,2 Millionen sind Arbeitneh- mer von außerhalb der Europäischen Union, weil un- (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Ihnen werden sie ter den Arbeitslosen in Deutschland eben niemand aufgehen, keine Sorge!) bereit war, diese Arbeiten zu tun. Denn Vorausset- Denn auch Ihnen dürfte nicht entgangen sein, daß zung dafür, daß Arbeitserlaubnisse erteilt werden, beispielsweise die Entwicklung der Inflationsrate ist, daß erst einmal geprüft wird, ob es auf dem deut- auch ein Ergebnis unserer Politik ist. Wenn man schen Arbeitsmarkt Leute gibt, die bereit sind, die fragt, was die beste Sozialpolitik für den kleinen Arbeiten zu tun. In 700 000 Fällen ist die Prüfung ne- Mann ist, gativ verlaufen. Wir brauchten jede Menge Saisonar- beiter, wir brauchten Erntehelfer usw. (Dr. Gisela Babel [F.D.P.]: Das stimmt!) 4384 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 52. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. September 1995 Hans-Joachim Fuchtel muß man doch antworten: Für den kleinen Mann, monatlich im Durchschnitt ist, was die Menschen an der keine Sachwerte besitzt, ist eine niedrige Inflati- Geld zur Verfügung haben? In den alten Bundeslän- onsrate die beste Sozialpolitik, die man machen dern sind das durchschnittlich 984 DM, in den neuen kann. Bundesländern noch weit weniger, nämlich 776 DM. Diese Zahlen sind ein statistischer Durchschnitt. Das (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) heißt, für viele sieht die Situation noch schlimmer Insofern sehen wir uns auch auf dem Gebiet der aus. Viele bekommen weniger als 600 DM im Monat. Sozialpolitik auf dem richtigen Weg. Wir hoffen, daß Im Osten ist das fast ein Viertel aller Arbeitslosenhil- Sie in den kommenden Beratungen auf sachlicherer febezieher. Jetzt wagen Sie es wirklich, ausgerech- Ebene, als das vorhin bei dem Kollegen Dreßler der net diesen Leuten noch das Geld zu kürzen? Das ist Fall war, versuchen, die notwendigen Weichenstel- doch ein bodenloser Zynismus. lungen zu treffen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Vielen Dank. sowie bei Abgeordneten der SPD und der PDS) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Sicher, es geht nicht um eine lineare Kürzung, son- Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Ich erteile nun dern um eine Strukturveränderung. Sie nennen es der Abgeordneten Annelie Buntenbach das Wo rt . Arbeitslosenhilfereform. Das ist eine viel zu hübsche Bezeichnung für einen widerlichen Sachverhalt. Die- ser Sachverhalt besteht im wesentlichen aus ver- Annelle Buntenbach (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- schärften Kontrollen, Zwangsmaßnahmen und Schi- NEN): Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen kanen gegenüber den Betroffenen. Sie wollen die und Herren! Herr Blüm, das war ja am Anfang wirk- Leute in Billig-ABM drücken. Vielleicht können Sie lich eine Rede, die zu Herzen geht. Ich will und kann mir dann bei Gelegenheit erklären, wo diese über- den Bogen jetzt nicht so weit spannen, wie Sie das haupt herkommen sollen, wenn Sie gar keine aktive getan haben. Ich möchte auf dem Teppich bleiben Arbeitsmarktpolitik mehr betreiben. Sie wollen die und mich gleich Ihrem Haushaltsentwurf zuwenden. Leute in billige Ernteeinsätze drängen. Das ist eine Aber eine Vorbemerkung muß ich einfach machen: echte Perspektive für die „kräftigen jungen Leute", Herr Blüm, reden Sie die Pflegeversicherung nicht von denen immer wieder gesprochen wird, und schön! Angesichts der vielfältigen Probleme, die de- wahrscheinlich auch ein echter Beitrag zum Erhalt ren Umsetzung allerorten aufwirft, erwarten wir von ihres Marktwertes. Ihnen etwas ganz anderes: Geben Sie endlich zu, daß noch vielfacher Änderungsbedarf besteht, damit Sie wollen die Bedürftigkeit noch genauer prüfen die Pflegeversicherung zum Fortschritt und nicht zu und noch mehr als bisher in den p rivaten Angelegen- einer Beschwernis für die Betroffenen wird. heiten der Betroffenen herumschnüffeln. Dabei kön- nen Sie sich mit Herrn Seehofer zusammentun und in Schauen wir uns doch einmal an, wie Sie von sei- den Kühlschränken von Wohngemeinschaften ganz ten der Regierung die großen Herausforderungen genau nachschauen, ob denn jede und jeder auch dieser Zeit angehen! Das war ja vorhin angekündigt. ein eigenes Käsekästchen und Margarinetöpfchen Aber offensichtlich haben wir ein unterschiedliches hat. Verständnis davon, was die großen Herausforderun- gen dieser Zeit sind. Ich dachte, sie bestehen aus (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) dem Kampf gegen Massenerwerbslosigkeit und Ar- Sie wollen zukünftig die Arbeitslosenhilfebezieher mut. Aber offensichtlich meint Herr Fuchtel, daß die nach ihrem jeweils aktuellen Marktwert einstufen. Herausforderung darin besteht - ich werde das sehr Wir alle, auch Sie, meine Damen und Herren von den kurz zusammenfassen --, den Mut zu haben, auch Regierungsfraktionen, wissen doch, daß die Aus- dann Sozialausgaben zu kürzen, wenn es offensicht- grenzung aus dem Erwerbsleben, gerade wenn sie lich unsinnig und gegenüber den Betroffenen nicht länger dauert, Qualifikationen zerstört und daß die zu verantworten ist. adäquate Wiedereingliederung immer schwerer Weit mehr als 3 Milliarden DM will die Bundesre- wird. Genau gegen diese Risiken zu schützen, das ist gierung allein bei der Arbeitslosenhilfe streichen. doch die Aufgabe der Arbeitslosenversicherung. Die Das ist einer der größten Sparposten in diesem Haus- Beiträge, die die Beschäftigten einzahlen, sind nicht halt. Nun, wer im Geld schwimmt, kann auch abge- nach deren zukünftigem Marktwert nach zwei Jah- ben. Offensichtlich meint die Bundesregierung, daß ren Erwerbslosigkeit berechnet. die Milliarden, die in den öffentlichen Kassen fehlen, Genau hier liegt außerdem die Verantwortung von auf privaten Konten liegen. Soweit kann ich sogar aktiver Arbeitsmarktpolitik, nämlich Angebote zur folgen. Nur, daß diese Konten ausgerechnet denen Wiedereingliederung zu schaffen, die dem Verlust an gehören sollen, die Arbeitslosenhilfe beziehen, dar- Qualifikation perspektivische Alternativen, aber auf ist außer Ihnen noch niemand gekommen - und das zu Recht. nicht Ernteeinsätze entgegensetzen. Wenn diese Verantwortung von der Bundesregierung nicht wahr- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) genommen wird, dann kann man dies doch nicht den einzelnen Erwerbslosen anlasten und ihnen die Aber ich kann gar nicht so zynisch werden, wie Ihr Schuld in die Schuhe schieben. Haushaltsentwurf gegenüber den Betroffenen ist. Wissen Sie eigentlich, wie hoch die Arbeitslosenhilfe (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 52. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. September 1995 4385

Annelle Buntenbach Sie setzen einen solchen Affront gegen die Er- Einen Teil der Arbeitslosenhilfebezieher wollen Sie werbslosen in die Welt, Herr Blüm, und wissen noch künftig direkt an die Sozialhilfe durchreichen. Dann nicht einmal, wie dieses absurde Verfahren der können die Kommunen sehen, wie sie mit dem Pro- Marktwertbestimmung überhaupt funktionieren soll. blem umgehen. Natürlich kann man beim Bund Ko- Wir haben uns erlaubt, dazu eine Anfrage an die sten sparen, indem man nicht das Problem angeht, Bundesregierung zu stellen, nämlich: Nach welchen sondern die Kostenstellen zu Lasten der Betroffenen Kriterien sollen die Arbeitsämter künftig entschei- hin- und herschiebt. Darin haben Sie große Übung: den, welches Gehalt der Erwerbslose auf dem Ar- vom Bund an die Bundesanstalt, an Land oder Kom- beitsmarkt noch erzielen könnte und wieviel Prozent mune und wieder zurück. dieses fiktiven Nettogehaltes dann künftig als Ar- beitslosenhilfe ausgezahlt werden? Die prosaische Herr Seehofer will, daß die Kommunen 600 000 So- Antwort vom August 1995: Die Prüfung, welche Vor- zialhilfeberechtigte in Lohn und Brot bringen. Auch schriften geschaffen werden sollen, ist noch nicht ab- wir wollen, daß Sozialhilfeberechtigte stärker in ak- geschlossen. - Diese Vorschriften sollten Sie sich bes- tive Arbeitsmarktpolitik einbezogen werden. Aber ser ganz sparen und Ihre sogenannte Arbeitslosenhil- wie sollen ausgerechnet die ausgebluteten Kommu- fereform schnellstens wieder einstampfen, bevor Sie nen das leisten können? Geld oder organisatorische damit noch mehr Schaden anrichten. Möglichkeiten werden vom Bund nicht mitgeliefert, geschweige denn irgendwelche vernünftigen Kon- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zepte. Ein solches Vorgehen, von dem von vornher- sowie bei Abgeordneten der SPD) ein alle wissen, daß es überhaupt nicht funktionieren kann, ist einfach unredlich. Sie, meine Damen und Herren von den Regie- rungsfraktionen, unterstellen den Menschen, die kei- Eine Sozialstaatsreform ist nötig, Herr Blüm; das nen Arbeitsplatz haben, immer wieder, sie wollten ist gar keine Frage. Die Frage ist aber, in welche nicht arbeiten. Richtung diese Änderungen gehen sollen. Wir wol- len solidarische Lösungen, die Sozialversicherungs- (Julius Louven [CDU/CSU]: Wer sagt das systeme armutsfest machen, Erwerbsarbeit solida- denn?) risch umverteilen, Frauen gleichberechtigt einbezie- - Das ist die Unterstellung, die genau aus diesen hen und besser absichern. Kontrollen und Zwangsmechanismen hervorgeht, die Sie einrichten. Was Sie Sozialstaatsreform nennen, ist nichts ande- res als die weitere Durchlöcherung sozialer Absiche- (Julius Louven [CDU/CSU]: Das ist doch rung, und das auf der ganzen Linie. Ihre Maßnah- unverschämt, was Sie sagen!) men - Bundessozialhilfegesetz, Ausländerleistungs- gesetz, Arbeitslosenhilfe, Arbeitsförderungsgesetz - Faktum ist, daß die Menschen nicht arbeiten können. zeigen doch ganz klar, wohin Sie wollen. Sie, meine Diese tragische Tatsache kann angesichts von 6 Mil- Damen und Herren von den Regierungsfraktionen, lionen fehlenden Arbeitsplätzen niemand vom Tisch setzen offensichtlich auf Deregulierung, auf Auswei- wischen. Dagegen helfen keine Kürzungen, keine tung des Billiglohnsektors, auf Senkung der sozialen noch so scharfen Kontro ll en und Zwangsmaßnahmen Mindeststandards. Die Schutzrechte und Regeln, die gegen die Betroffenen. in gesellschaftlichen Auseinandersetzungen er- Es sind nicht die Betroffenen, die schuld sind und kämpft worden sind, scheinen Ihnen nur Hindernisse ihr Verhalten ändern müssen. An allererster Stelle ist im Fluß der freien Marktwirtschaft zu sein, die die es diese Regierung. Wo bleiben denn Ihr Angebot an Probleme von selbst am besten lösen würde, wenn Arbeitsplätzen und Ihre aktive Arbeitsmarktpolitik? sie sich so frei entfalten könnte wie z. B. in Amerika. Es erwartet bestimmt niemand, daß Sie Mill ionen Eine solche Lösung - das können Sie sich in Ame- von Arbeitsplätzen aus dem Ärmel schütteln. Ich er- rika anschauen - macht die Gesellschaft zu einem so- warte aber, daß Sie ein klares Signal für ein echtes zialen Pulverfaß. Sie beruht auf einem immensen Bemühen setzen. Genau davon kann ich in diesem - Reichtums- und Privilegiengefälle, zwingt Arme Haushaltsentwurf nichts erkennen; im Gegenteil. ohne soziale Absicherung, jede Arbeit unter jeder Der Bundeszuschuß für die Bundesanstalt für Ar- Bedingung anzunehmen, sich bei den Reichen um je- beit ist auf null gesetzt. Das trifft ausschließlich die den Preis zu verdingen und da all die Aufgaben zu aktive Arbeitsmarktpolitik, die von dort gemacht erfüllen, die an Dienstleistungen nicht mehr öffent- werden könnte. Den Pflichtausgaben, die sich unmit- lich organisiert werden. telbar aus der Arbeitslosenversicherung ergeben, In den privaten Haushalten, die es sich leisten kön- muß die Bundesanstalt auf jeden Fall nachkommen. nen, gibt es bei Kinderbetreuung und Hausarbeit zu Sie nehmen den Arbeitsämtern mit all den Kon- Billiglöhnen endlich die neuen Arbeitsplätze, von de- troll- und Zwangsmaßnahmen jede Luft zum Atmen nen Sie hier immer schwärmen. Die hätten, finde ich, und jeden Hauch einer Chance, in den Regionen besser in das vorige Jahrhundert gepaßt. überhaupt eine neue Dynamik in die Arbeitsmarkt- (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS politik zu bringen. Wenn Sie dieses Durchstylen ei- SES 90/DIE GRÜNEN) ner Behörde - vielleicht bleibe ich besser bei der Be- zeichnung Anstalt - auf puren Zwangscharakter für Sozialstaat ist der Versuch des Schutzes vor den ein Modellprojekt der Reform des öffentlichen Dien- härtesten Ungerechtigkeiten bei der Verteilung von stes und einen Beitrag zur Verwaltungsvereinfa- Arbeit und Einkommen, bei der Existenzsicherheit, chung halten, dann gute Nacht. wie der Markt sie zwangsläufig mit sich bringt. 4386 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 52. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. September 1995

Armelle Buntenbach Das jedenfalls war die Haltung der Väter der Sozia- Er gibt damit ein Signal für den festen Willen der len Marktwirtschaft. An deren Konzepten läßt sich Koalition und der Regierung, die Staatsausgaben zu- viel begründete Kritik anbringen, aber nicht an der rückzuführen. Ich begrüße diese in Taten und nicht Grunderkenntnis, daß die menschenverachtenden nur in Worten nachweisbare feste Absicht und sehe Tendenzen des Marktes durch politische Steuerung im Gegensatz zur Opposition darin auch nicht den konterkariert werden müssen. Beweis eines Kahlschlags im Wald der sozialen Lei- stungen. Von dieser Grunderkenntnis rückt die Bundesre- gierung immer weiter ab. Das können auch Ihre gro- Im Gegenteil: Wer mit geeigneten und verantwort- ßen Worte, Herr Blüm, nicht zudecken. Das Ergebnis baren Mitteln dafür sorgt, daß heute und morgen die ist: keine Verbesserung des Angebots an Arbeitsplät- sozialen Netze halten, der handelt sozial, und nicht zen, die dringend nötig wäre, sondern Entmutigung. derjenige, der in diese Sozialnetze immer mehr und Die schlechte Lage der von Ausgrenzung Betroffe- neue Lasten hineinverlagert. nen wird noch mehr verschlechtert. Sie werden wei- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) ter verunsichert, als Sündenböcke diffamiert und ge- demütigt, ohne Perspektive draußen stehengelassen. In einer Haushaltsdebatte sprechen wir nicht nur von Zahlen, sondern immer auch von den davon be- Die Botschaft dieser Politik für die Gesellschaft ist troffenen und damit bedachten Menschen. verheerend. Es werden Strukturen geschaffen, die das Auseinanderdriften der Gesellschaft beschleuni- (Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Das ist gen und die soziale Ausgrenzung eines großen Teils wahr!) dieser Gesellschaft zementieren. Es entsteht ein im- Diese Maßnahmen sind als Hilfe gedacht. Wir müs- menses gesellschaftliches Konfliktpotential, und Sie sen fragen: Erreichen sie diese Hilfe? Wirken sie? steuern uns in eine Zerreißprobe. Die Zahl von 3,5 Millionen Arbeitslosen ist bedrük- Patentrezepte gegen Massenerwerbslosigkeit hat kend hoch. Den Menschen, die vom Arbeitsmarkt in diesem Hause niemand. nicht aufgenommen werden können, sind jene hin- zuzurechnen, die durch Maßnahmen der Bundesan- stalt für Arbeit in Qualifikations- und AB-Maßnah- Sie müssen Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: men beschäftigt sind und vielleicht eine Perspektive zum Schluß kommen, Frau Kollegin. bekommen, aber dennoch weder reguläre Arbeits- plätze besetzen noch an der Wertschöpfung teilneh- Annelle Buntenbach (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- men. Das sind zusätzlich 800 000 Menschen. Zu NEN): Aber es gibt eine ganze Reihe vernünftiger Recht machen sich die Sozialpolitiker Sorgen, wie Vorschläge. Von all diesen Vorschlägen findet sich in die Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt verläuft. diesem Haushaltsentwurf nichts wieder. Das minde- Lichtzeichen gibt es schon, etwa der Rückgang der ste wäre doch, daß angesichts von Millionen von Er- Kurzarbeit - er ist immer ein Indikator für künftige werbslosen von diesem Haus deutliche Signale aus- Besserungen - und der Rückgang der Arbeitslosig- gingen, die ein ernsthaftes Bemühen für eine solida- keit von 9,4 auf 9,3 %. Aber schon daran sehen wir, rische Lösung deutlich machen und nicht die Aus- und das ist heute die allgemeine Einschätzung, daß grenzung verschärften und Betroffene diffamieren. auch mit einem Konjunkturaufschwung und einem (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Wirtschaftswachstum die Arbeitslosigkeit nicht im er- sowie bei Abgeordneten der SPD) hofften Maße beseitigt wird. An diesem Punkt trennen sich die Wege von Oppo- sition und Regierung. So sind die sinnvollen Ände- Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Meine Kolle- ginnen und Kollegen, ich höre mehrfach in Reden, rungen z. B. bei der Arbeitslosenhilfe ein erneuter Versuch, an diesem Versorgungssystem etwas zu än- Fragen und Zurufen gerade in dieser Debatte immer - dern. Aber da gibt es heftige Ablehnung durch die wieder Worte wie Quatsch und Unsinn. Ich möchte Opposition. Über die Vorschläge kann man diskutie- dazu sagen: Das sind weder parlamentarische Aus- ren. drücke, noch sind sie überzeugend. Ich wäre dank- bar, wenn wir uns auf die normalen Debattenbei- Eines steht fest: Die unbegrenzte Arbeitslosenhilfe träge beschränkten. in Deutschland unterscheidet uns von allen anderen Industriestaaten um uns herum, und sie stehen mit (Dr. Heiner Geißler [CDU/CSU]: Wenn je uns im Wettbewerb. Sie führt dazu, daß wir ein auf- mand Quatsch redet, ist es Quatsch!) wendiges Doppelsystem zweier Fürsorgearten ne- Ich erteile der Kollegin Dr. Gisela Babel das Wort. beneinander erhalten. Das ist dringend zu ändern. Denn die Arbeitsämter sollen nicht Sozialämter wer- den und die gesamte Problematik des Mißbrauchs Dr. Gisela Babel (F.D.P.): Herr Präsident! Meine Da- aufgehalst bekommen. Bei den meisten Versicherten men und Herren! Der Einzelplan des Bundesministe- herrscht der Eindruck, daß die Arbeitslosenhilfe eine riums für Arbeit und Sozialordnung bleibt mit der Re- Art zweiter und etwas gesenkter Versicherungsan- kordhöhe von 26 % des gesamten Haushalts der mit spruch ist, den sie sich auf Grund ihrer Beiträge er- Abstand größte Einzelplan. Er umfaßt 118 Milliar- worben haben. Aber sie ist eine Fürsorge- und Unter- den DM und verzeichnet einen Rückgang von haltsleistung des Bundes, die er allein und auf Dauer 10 Milliarden DM. bezahlt. Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 52. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. September 1995 4387 Dr. Gisela Babel Allerdings - ich stimme Frau Buntenbach zu - Das Urteil war vernichtend: Eine Ausdehnung der kommt massiver Widerstand von den Sozialhilfeträ- aktiven Arbeitsmarktpolitik - die ja auch bezahlt gern. Ich kann diesen Widerstand verstehen. Aber werden muß - könne das Problem wegfallender, Reformen sollten nicht deswegen unterbleiben, weil durch Tarifverträge wegrationalisierter Arbeitsplätze wir in der Finanzierungsfrage keine Einigung errei- eben nicht lösen. chen. Es muß natürlich eine Ausgleichsmöglichkeit geben. Die dafür ins Auge gefaßten und vom Herrn Meine Damen und Herren, wir mögen es drehen Gesundheitsminister Seehofer verfolgten Anderun und wenden, wie wir wollen, wir kommen um die gen des Asylbewerberleistungsgesetzes sind aber ernsthafte Reform zur Senkung der Arbeitskosten dazu insgesamt ungeeignet. nicht herum. Es nützt nichts, wenn in der Offentlich- keit die Brisanz der Lage vernebelt und die vielleicht (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne notwendigen, wenn auch schwer vertretbaren Maß- ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRUNEN) nahmen und Einschnitte bei der Senkung von Lohn- nebenkosten durch das Zauberwort „versicherungs- Bürgerkriegsflüchtlinge dürfen gerade nicht Asyl- fremde Leistungen" hinweggeredet werden. bewerbern gleichgesetzt werden, und ihre Versor- gung darf nicht gesenkt werden. Die F.D.P. - ich sage Es nützt nichts, wenn Herr Dreßler - hier und das hier deutlich - stimmt dem nicht zu. Im übrigen heute wieder - die falsche Finanzierung der deut- helfen solche Maßnahmen auch gar nicht überall, schen Einheit durch die Sozialversicherung anpran- denn nicht überall gibt es Bürgerkriegsflüchtlinge, gert und glaubt, sich damit glücklich über die Run- bei denen die gesenkten Kosten für einen Ausgleich den zu bringen. Wir haben gar keinen Dissens in der sorgen können. Bewertung. Aber es geht doch darum, daß wir für die Zukunft die richtigen, vertretbaren Maßnahmen tref- Dagegen unterstützt die F.D.P. den Bundesarbeits- fen. Darüber täuschen Sie hinweg. Sie glauben, daß, minister bei seinen Vorschlägen, Arbeitslose auch zu wenn Sie als Sozialpolitiker hier einen Vorschlag ma- solchen Arbeiten heranzuziehen, für die es sonst nur chen, die Finanzpolitiker es schon richten werden. ausländische Saisonarbeiter gibt. Es ist in der Tat Die Finanzpolitiker aber sagen, daß es sich um Maß- nicht einzusehen, daß wir die Arbeit, die wir unter nahmen handelt, die aufkommensneutral sind und dem Aspekt der Zumutbarkeit als für Deutsche unge- die Steuerzahler nicht belasten. Sie jedoch wollen zu- eignet ansehen, nur Ausländern vorbehalten. sätzliche Kosten in Milliardenhöhe schaffen.

Wer aber nun die Frage aufwirft, ob eine zeitliche In Deutschland sind die Kosten pro Arbeitsstunde Begrenzung der Arbeitslosenhilfe oder die in der Tat am höchsten und ist die Zahl der geleisteten Arbeits- notwendige Veränderung bei der Zumutbarkeit von stunden am niedrigsten. Deutsche Unternehmen in- angebotener Arbeit oder Trainingsmaßnahmen von vestieren im Ausland. Auch in Zukunft gehen Ar- Arbeitslosen, damit sie in den Arbeitsmarkt zurück- beitsplätze auf Grund ungünstiger Standortfaktoren finden und wieder Fuß fassen können, ausreichen, verloren. Dazu gehören nicht nur die Kosten - das um das große Problem der Arbeitslosigkeit zu lösen, will ich zugeben -, dazu gehören auch andere Dinge. dem würde ich antworten: Nein, es reicht nicht aus. Ich meine nicht zuletzt die Genehmigungsverfahren, Auch die Opposition teilt diese Meinung. die wir uns leisten. Das ist abenteuerlich. Auch da- durch gehen Arbeitsplätze sicherlich verloren. Der Fraktionsvorsitzende der SPD schlägt nun wie- der das alte Arbeits- und Strukturförderungsgesetz, Noch dramatischer aber wird es - den Hinweis dar- das die SPD schon in der letzten Legislaturperiode auf habe ich in all Ihren Ausführungen vermißt -, und jetzt wieder einbrachte, mit dem Rechtsan- wenn man sich vor Augen hält, wie stark in allen So- spruch auf Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen vor. Wir zialversicherungen der Kostendruck ist und wie die wissen, was das heißt. Das ist der Drehtüreffekt Ar- Beitragszahlen in der Zeit steigen, in der wir hier sit- beitslosengeld, AB-Maßnahme, Arbeitslosengeld. zen, zuschauen und glauben, daß uns der- Steuerzah- Meine Damen und Herren, das kennen wir Sozialpo- ler die Probleme von den Schultern nimmt. litiker alle sehr gut. Meine Damen und Herren, ich fordere eine ge- Manche Passagen seiner Rede lassen vermuten, meinsame Anstrengung von Tarifparteien, Unterneh- der Fraktionsvorsitzende der SPD sei Mitglied oder men und dem Gesetzgeber, in dieser Legislaturperi- des öfteren Gast des Ausschusses für Arbeit und So- ode Lohnnebenkosten zu senken. zialordnung. Aber eines fehlt: die Erkenntnisse, die in den Anhörungen zu diesem Gesetzentwurf zutage (Beifall des Abg. Carl-Ludwig Thiele [F.D.P.]) traten, gewonnen von Experten der Wissenschaft und Wirtschaft. Es wäre vielleicht ein guter Vor- Nehmen wir uns doch einmal eine Zielgröße vor. schlag einer Bildungs- und Qualifizierungsmaß- Sagen wir doch einmal: Wir streben an, insgesamt nahme für den SPD-Fraktionsvorsitzenden, daß er 5 % zu senken. Jeder trägt seinen Pa rt; der Gesetzge- einmal in diese Anhörungen kommt, um kritische ber vielleicht in der Größenordnung von 2,5 %. Was und neutrale Stimmen zu dem, was Sie da vorschla- hieße das? Um das zu erreichen, werden wir in der gen, zu hören. Tat alle Kostenfaktoren untersuchen müssen. Die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall wird dabei sein. (Beifall bei der F.D.P. - Ul rich Heinrich [F.D.P.]: Daß er aus dem Sumpf von Dreßler Die allgemeine, allumfassende und gleichtönende herauskommt!) Entrüstung über meinen Vorschlag einer zwanzig- 4388 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 52. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. September 1995

Dr. Gisela Babel prozentigen Lohnkürzung im Krankheitsfall zeigt ei- - Ja, was ist denn das anderes, wenn man 10 bis 20% nes überdeutlich: dessen kürzt, was dem arbeitenden Menschen nach Tarifvertrag und nach Gesetz zusteht? Was ist denn (Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Daß Sie das wohl anderes? Probleme auf dem Rücken der Kranken lö- sen wollen!) Ich habe aber kein Verständnis dafür, wenn hier die arbeitenden Menschen in den Bet rieben pau- Es gehört heute Mut dazu, Einschnitte im sozialen schal zu Drückebergern gemacht werden und damit Bereich zu vertreten. Es bedarf noch mühseliger die Begründung für derartige Maßnahmen geschaf- Überzeugungsarbeit, eine Bereitschaft hierfür herzu- fen werden soll, obwohl wir doch alle wissen, daß nur stellen. noch weniger als die Hälfte der erwerbstätigen Men- (Abg. [Berlin] [BÜNDNIS 90/ schen auf Grund der gesundmachenden Arbeit in DIE GRÜNEN] meldet sich zu einer Zwi- den Betrieben das ordentliche Rentenalter erreicht? schenfrage) Woran liegt denn das wohl? (Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordne Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Frau Kollegin ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Dr. Babel, gestatten Sie eine Zwischenfrage? Woran liegt es, daß mehr als die Hälfte der Men- schen erwerbs- oder berufsunfähig werden und vor- Dr. Gisela Babel (F.D.P.): Ich komme jetzt gleich zeitig in die Rente geschickt werden? Weil die Ar- zum Schluß. beitsbedingungen in den Betrieben so gesund sind? (Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Es ist (Widerspruch bei der CDU/CSU) höchste Zeit dafür!) Es hat noch niemand ausgerechnet, was es kostet, Ich möchte das noch gerne ausführen. wenn die Menschen aus Angst nicht rechtzeitig zum Wir müssen uns doch darüber klar sein: Wer Arzt gehen, und welche gesellschaftlichen Folgeko- möchte, daß Arbeitsplätze in Deutschland bleiben, sten entstehen, wenn sie Krankheiten verschlep- der muß sich doch wirklich einmal fragen: Ist es nicht pen, weil sie befürchten müssen: Wer zum Arzt geht, annehmbarer, daß wir die Lohnersatzleistungen in ei- wird als erster gefeuert. Das ist Ergebnis Ihrer Pole- ner Größenordnung von 10 oder 20 % in einem be- mik gegen die arbeitenden Menschen in unserem grenzten Zeitraum senken, wenn das dazu führt, daß Land. jemand nicht von 100 % Lohn auf 60 % Arbeitslosen-- geld herunterfällt? Das ist die Alte rnative, über die Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Herr Abgeord- wir uns im klaren sein müssen. neter Müller, gestatten Sie eine Zwischenfrage des (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- Kollegen Heinrich? ten der CDU/CSU - Hans Büttner [Ingol- stadt] [SPD]: Was Sie da sagen, ist eine Un Manfred Müller (Berlin) (PDS): Aber gerne. -geheuerlichkeit!) Verantwortlich handeln wir im sozialen Feld - ich Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Bitte. sagte das zu Beginn -, wenn wir zur Sicherung der sozialen Netze und zur Lösung der Arbeitslosigkeit die Arbeitskosten senken. Ulrich Heinrich (F.D.P.): Herr Kollege Müller, könn- ten Sie sich bitte bereiterklären, dem Hohen Hause Wir sagen dem Bundesarbeitsminister unsere Un- darzustellen, wie die Lohnfortzahlung früher in der terstützung beim Einzelplan 11 zu. DDR war? Könnten Sie, bevor Sie sich hier so aufre- Ich bedanke mich. gen und sich in dieser Art und Weise parlamenta- risch aufführen, uns vielleicht einmal sagen, wie Ihre (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU - Leitgedanken früherer Geschichte waren? Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Sie versu- chen, die Probleme auf dem Rücken der (Dr. Uwe Küster [SPD]: Wollen Sie die Bun Kranken zu lösen! Eine brutale Hammerpar- desrepublik auf den DDR-Standard trim tei! Ganz schlecht und dumm!) men?)

Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Ich erteile dem Manfred Müller (Berlin) (PDS): Ich möchte gerne Kollegen Manfred Müller das Wo rt. zur Sache reden. Aber meine Aufgeregtheit bitte ich Sie zu verstehen, weil ich weiß, was für Arbeitsbedin- eben inzwischen auch im Ange- (Berlin) (PDS): Herr Präsident! gungen in den Betri Manfred Müller stelltenbereich herrschen, und weil ich darüber em- Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie mich zu- nächst auf den Beitrag von Frau Dr. Babel eingehen. pört bin, daß diejenigen, die zum Arzt gehen, hier Ich habe volles Verständnis dafür, daß die Konserva- pauschal verunglimpft werden mit der Behauptung, sie schützten Kopfschmerzen vor, die gar nicht vor- tiven versuchen, den arbeitenden Menschen weiter handen sind, die der Arzt aber nicht widerlegen das Geld aus der Tasche zu ziehen. kann, und erschlichen sich so quasi die Lohnfortzah- (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Quatsch! Quatsch!) lung. Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 52. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. September 1995 4389

Manfred Müller (Berlin) Zur Aufnahme der DDR in die Bundesrepublik: etat. Im Gegenteil: Von den 25 Einzelplänen ver- Wir haben den Menschen in der DDR gesagt, welche zeichnen 16 sogar Mehrausgaben, die sich alle aus Arbeitsbedingungen bei uns herrschen. Dazu ge- den Einsparungen für Arbeitsmarkt und Sozialpolitik hörte die Lohnfortzahlung. finanzieren. (Dr. Gisela Babel [F.D.P.]: In welcher Höhe?) Ihr christliches Gewissen schlägt Purzelbäume, weil das Bundesverfassungsgericht Klassenräume Es geht jetzt nicht darum, das alles zurückzudrehen, ohne Kruzifix sich vorstellen - nicht vorschreiben, nachdem wir sie letztlich für unser System gewonnen sondern sich vorstellen - kann. Wo, meine Damen haben. Zu unserem System gehörte die von den Ge- und Herren der Regierungskoalition, bleibt eigent- werkschaften durchgesetzte Lohnfortzahlung im lich Ihr Gewissen, wenn der Bundesminister für Krankheitsfall. Finanzen einen Etat vorlegt, in dem die Sozialaus- gaben um fast 8 % sinken und die Ausgaben des (Ulrich Heinrich [F.D.P.]: In welcher Höhe?) Wirtschaftsministers um 50 % steigen? Das ist ein ganz entscheidender sozialpolitischer (Beifall bei der PDS) Fortschritt, den Gewerkschaften erkämpft haben und den der Gesetzgeber dann nachvollzogen hat. Wo bleibt Ihre christliche Überzeugung, wenn sich die Erhöhung der Militärausgaben aus dem Abbau Sie wissen doch, daß Sie den sozialen Frieden ge- der Sozialausgaben speist? Haben Sie die Armutsbe- fährden, wenn Sie die Gewerkschaften zwingen, richte der Kirchen nicht gelesen? Oder vertrauen Sie jetzt wiederum wochenlange Arbeitskämpfe durch- darauf, daß niemand merkt, was Sie in diesem Land zuführen, um den Besitzstand zu verteidigen. anrichten? Sie brechen den Sozialstaat ab, während (Beifall bei der PDS) ihn immer mehr Menschen brauchen. Sie reden von der Senkung der Staatsquote. Das einzige, was dabei Lassen Sie mich noch einmal kurz auf den Haus- herauskommt, ist eine Reduzierung der Sozialausga- haltsentwurf eingehen. Er ist sicher ein geradezu hi- ben. storisches Dokument, ein Dokument, das konsequent mutig und ohne Umschweife die Politik der Bundes- Nun gut, Sie werden Ihr Gewissen damit beruhi- regierung auf den Punkt bringt. gen, daß die erhoffte wi rtschaftliche Entwicklung es rechtfertigt, den Sozialstaat auf ein solch beispiello- Nirgendwo wird dies deutlicher als im Einzelplan ses Niveau zu reduzieren. Woher nehmen Sie Ihre des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialord- Gewißheit? Was veranlaßt Sie, die Ausgaben für Lei- nung. Dieser Einzelplan dokumentiert eine histori- - stungen nach dem Arbeitsförderungsgesetz sage und sche Wende bundesdeutscher Politik. Er setzt einen schreibe um 34,2 % zu kürzen? Schlußstrich unter das Gerede vom Umbau des So- (Uwe Lühr [F.D.P.]: So ein Quatsch!) zialstaats. Von nun an, liebe Kolleginnen und Kolle- gen, wird konsequent abgebaut. - Das sind Ihre Zahlen, die vorgelegt worden sind. Nachdem vor fünf Jahren die DDR abgewickelt Der Finanzbericht des Herrn Ministers Waigel ver- wurde, befreit sich die Bundesregierung jetzt von rät es: Da wird doch tatsächlich für die nächsten den Altlasten des Sozialstaates und kürzt nicht nur Jahre eine durchschnittliche Zunahme des Bruttoin- einfach hier und da etwas im Einzelplan 11, sondern landsprodukts von nominal 5,5 % jährlich angenom- versieht eine ganze Titelgruppe, wie den Zuschuß für men. Lesen Sie denn keine Zeitungen? Ist Ihnen ent- die Bundesanstalt für Arbeit, mit einem mageren Ge- gangen, daß selbst ein Ihnen nahestehendes Institut dankenstrich. wie das Ifo-Institut schon für dieses Jahr Ihre ange- nommene Wachstumsrate um ein Sechstel nach un- Ich bringe großes Verständnis dafür auf, daß der ten korrigiert hat Finanzminister stolz ist, als erster Finanzminister in der Geschichte der Bundesrepublik mit einem Ent- (Dr. Gisela Babel [F.D.P.]: Wegen dem Tarif wurf vor die Offentlichkeit zu treten, der nicht stei- vertrag! - Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Das gende, sondern sinkende Sozialausgaben aufweist. hat auch im letzten Jahr danebengelegen!) Aber das eigentliche Verdienst kommt nicht dem Finanzminister zu, sondern dem Kollegen Norbe rt und alle Institute von einer Abkühlung der Konjunk- Blüm. tur sprechen? Es ist nur deshalb gelungen, das Volumen des ein- (Bartholomäus Kalb [CDU/CSU]: Bei der gebrachten Etatentwurfs unter das des Vorjahres zu Eiseskälte, die Sie verströmen!) drücken, weil der Etat des Bundesministers für Ar- Man könnte Ihre Argumentation in vornehmer Zu- beit und Sozialordnung nicht nur dafür herhalten rückhaltung unse riös nennen. Aber es ist schlimmer. muß, die Einsparquote von Minus 1,3 % zu erwirt- Ihr Optimismus nährt sich nicht aus Wachstumsillu- schaften, sondern auch noch die Mehrausgaben der sionen, sondern aus der handfesten Gewißheit, daß anderen Ressorts zu finanzieren. Sie mit diesem Haushaltsentwurf den Einstieg in den Angesichts schon jahrzehntelang anhaltender endgültigen Ausstieg aus dem Sozialstaat einleiten. Massenarbeitslosigkeit und zunehmender Armut Danke schön. kürzen Sie den Sozialetat um 7,8 %. Kein anderes Feld der Politik bringt solche Opfer wie der Sozial- (Beifall bei der PDS) 4390 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 52. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. September 1995

Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Das Wort hat die hohen Arbeitskosten seien ein wesentliches Be- nun der Abgeordnete Ottmar Schreiner. schäftigungshemmnis, dann ist das nichts anderes - ich sage das in aller Freundschaft - als pure Heuche- lei. Ottmar Schreiner (SPD): Herr Präsident! Liebe Kol- leginnen und Kollegen! Ich habe mir seit heute mor- (Beifall bei der SPD) gen 9 Uhr die wirtschafts- und sozialpolitische De- Auch das werde ich Ihnen belegen. batte angehört. Wenn man das zusammenfassen will, muß man sagen: Die Kümmerlichkeit der Argumente Sie haben seit dem Frühjahr 1991 - Herr Kollege der Koalition in beiden Debattenteilen läßt den Ein- Dreßler und andere haben darauf hingewiesen - die druck entstehen, daß sich die Koalition in dem Zu- deutsche Einheit wesentlich über eine massive Erhö- stand befindet, den Sie von der SPD vermuten. hung der Lohnnebenkosten und der Beiträge in die Systeme der sozialen Sicherung mitfinanziert. Damit (Lachen bei der CDU/CSU und der F.D.P.) haben Sie den Faktor Arbeit erheblich verteuert. Wenn Sie wirklich ernsthaft der Meinung wären, die Das war eine kärgliche und kümmerliche Debatte! hohen Kosten des Faktors Arbeit seien das zentrale Zu keinem der zentralen Themen ist wirklich ein Beschäftigungshindernis, dann müßten Sie morgen ernsthafter Vorschlag gemacht worden. früh eine Gesetzesinitiative einleiten und diese (Beifall bei der SPD) Finanzierungsanteile aus den Systemen der sozialen Sicherung herausführen und zum Gegenstand einer Ich will Ihnen das an Hand von drei, vier wichtigen Bundeshaushaltsfinanzierung machen. Das wäre die Beispielen zu belegen versuchen. zwingende Logik Ihrer eigenen Argumentation. Von seiten der Koalition ist immer wieder vorgetra- (Beifall bei der SPD) gen worden, wesentlich beim Bundeshaushalt sei die (Vorsitz : Vizepräsident Hans Klein) Bekämpfung der Arbeitslosigkeit. Sie haben bis zur Stunde nicht ein einziges Beispiel gebracht, dem Nun sagt der Bundesarbeitsminister, er schlage ei- man entnehmen könnte, daß der Bundeshaushalt nen Stufenplan vor. Der Bundesarbeitsminister eine beschäftigungspolitische Orientierung hätte. schlägt schon seit Jahren Stufenpläne vor. Nichts hat er. Das Gegenteil ist der Fall. (Zurufe von der CDU/CSU) (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: - Meine Güte, welche Kraft haben Sie eigentlich Laß Luft ab!) noch in der Koalition? Wem schlagen Sie das eigent- lich vor? Das verhält sich ähnlich wie der Vorschlag Selbst beim Haushalt des Bundesarbeitsministeri- des Kollegen Schäuble zu einer ökologisch-sozialen ums wird jetzt als Ziel die Streichung des Bundeszu- Steuerreform, auf den ich gleich zurückkomme. Das schusses zur Finanzierung der Bundesanstalt für Ar- hat heute morgen der Vorsitzende der F.D.P.-Fraktion beit angegeben. Präsident Jagoda von der Bundesan- zum erstenmal im Rahmen einer langen Unterwei- stalt hat vor zwei Tagen schriftlich erklärt, daß wir sung durch die Kollegin Fuchs zur Kenntnis nehmen jetzt ungefähr den gleichen Arbeitslosenstand wie müssen. vor etwa einem Jahr haben. Er hat dazugesagt, das sei darauf zurückzuführen, daß die aktive Arbeits- Allmählich ist es rätselhaft, was Sie überhaupt in marktpolitik massiv nach unten gefahren worden sei. Koalitionsgesprächen bereden. Do rt verhält es sich offenkundig so, wie im Neuen Testament bei Mat- Wenn Sie den Bundeszuschuß auf null fahren, thäus beschrieben: heißt das im Klartext: Die Bundesregierung versucht (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: „Matthäus" sich aus Resten der Mitverantwortung zur Bekämp- ist immer gut!) fung der Arbeitslosigkeit herauszustehlen. Das ist die Wahrheit. Die einen redeten so, die anderen redeten anders, und am Ende wußte niemand mehr, weshalb sie zu- (Beifall bei der SPD) sammengetreten waren. - Das scheint Ihre Koali- tionsthematik zu sein. Sie haben nicht nur keinen Beitrag, sondern Sie ver- suchen, jede Mitverantwortung zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit abzulehnen. Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Schreiner, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Zweiter Punkt: Umbau des Sozialstaats. Ich habe Blüm? während des gesamten Vormittags nicht einen einzi- gen ernstzunehmenden Vorschlag aus den Reihen Ottmar Schreiner (SPD): Ja. der Koalition gehört. Sie haben eine ganze Fülle von Vorschlägen gemacht, die aber nichts anderes sind als reaktionärer Abbau von sozialstaatlichen Lei- Dr. Norbert Blüm (CDU/CSU): Herr Kollege Schrei- stungen. Das hat mit Umbau überhaupt nichts zu ner, darf ich Sie noch einmal daran erinnern, daß wir tun. die milliardenschweren Ausgaben für die Aussiedler von den Beitragszahlern weggenommen und den Ich will Ihnen drei Beispiele nennen. Wenn sich die Steuerzahlern zugeordnet haben und daß Sie dage- Koalitionsredner wie den gesamten Vormittag lang gen gestimmt haben, daß das Nachholen des Haupt-

über die . hohen Arbeitskosten beklagen und sagen, schulabschlusses nicht mit Beitragsgeldern, sondern Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 52. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. September 1995 4391

Dr. Norbert Blüm mit Steuergeldern bezahlt werden soll? Können Sie tischen und sozialen Gründen sinnvolles Projekt zum zustimmen, daß wir also nicht mit fernen Stufenplä- Umbau des Sozialstaates und zur Erreichung dessen, nen beginnen, sondern das Programm schon begon- was wir als umweltverträgliches, ökologisches Wi rt nen haben? - Das war eine Frage für Ihr Gedächtnis. -schaften bezeichnen.

Da werden Sie gefordert sein. Da reicht es nicht, Ottmar Schreiner (SPD): Herr Abgeordneter Blüm, wenn der Fraktionsvorsitzende der F.D.P. in dieser ich stimme Ihnen dann zu, wenn Sie mir ebenfalls zu- Debatte so tut, als habe er zum allerersten Mal von stimmen, daß es einen Unterschied zwischen einem den Problemen und den denkbaren Lösungsansätzen kleinen und einem großen Fehler gibt. Es mag sein, gehört. In den zentralen inhaltlichen Fragen sind Sie daß es ein kleiner Fehler war, bestimmte Aspekte öf- nicht nur knapp, sondern sehr weit hinter dem fentlicher Aufgaben über die Sozialversicherung zu Mond. finanzieren. Das ist aber vom Volumen her über- haupt kein Vergleich mit beispielsweise den annä- (Dr. Gisela Babel [F.D.P.]: Schreiner ist hernd 50 Milliarden DM - das entspricht 3,5 Beitrags- hochmodern!) punkten der sozialen Sicherungssysteme -, mit de- nen Sie die deutsche Einheit fälschlicherweise über Ich möchte einen dritten Punkt ansprechen. Meine eine Belastung der sozialen Sicherungssysteme fi- Damen und Herren, wenn wir über Beschäftigungs- nanzieren. und Arbeitsmarktpolitik reden, dann müssen Sie auch bereit sein, mit uns über die dramatisch wach- (Beifall bei der SPD - Ul rich Heinrich sende Problematik im Bereich nach Deutschland im- [F.D.P.]: Sie reden ja jetzt gegen die deut- portierter Billigstlöhne zu reden. sche Einheit!) (Dr. Gisela Babel [F.D.P.]: Sind das auch Sie sind doch der größte Mathematikus: Stimmen Menschen?) Sie zu, daß es einen Unterschied zwischen klein und groß gibt! Wenn Sie also einen Umbau wollten, hät- Oder anders herum: Es geht um Lohndumping, um ten Sie hier Gelegenheit, die falsche Weichenstel- Stundenlöhne von vier, fünf oder sechs Mark, mit de- lung zu korrigieren. nen einheimische Arbeitskräfte nicht mehr konkur- rieren können. Der zweite Punkt: Ich erinnere an das, was die Kol- legin Fuchs heute morgen vorgetragen hat. Der Meine Damen und Herren, die Bundesregierung -Grundansatz ist vom Vorsitzenden der CDU/CSU läßt bis zur Stunde zu, daß Hunderttausende Arbeit- Fraktion im vorigen Jahr in einem schriftlichen Bei- nehmer aus Ländern der Europäischen Union in trag formuliert worden, aber in der Koalition nicht Deutschland zu Spottlöhnen und ohne irgendeinen durchsetzungsfähig zu machen. Ich darf Herrn Pfennig Beiträge in die sozialen Sicherungssysteme Schäuble zitieren: zu zahlen einheimische Arbeitskräfte verdrängen und arbeitslos werden lassen. Gegenwärtig wird durch unser Steuer- und Ab- gabensystem entgegen aller ökonomischen Ver- Das ist in einem vierfachen Sinne hochproblema- nunft das besonders teuer gemacht, wovon wir tisch: Die Arbeitslosigkeit in Deutschland steigt wei- gegenwärtig im Überfluß haben, nämlich Arbeit. ter massiv an. Die Sozialsysteme werden mittelfristig Dagegen ist das, woran wir - zumal unter globa- finanziell auf Grund fehlender Beiträge ausgetrock- len Gesichtspunkten - eigentlich sparen müßten net. Die Ausländerfeindlichkeit nimmt auf Grund und dessen Knappheit uns immer deutlicher vor dieser unkontrollie rten Verdrängungsprozesse zu, Augen tritt in einem Zeitalter, in dem bei jeder und der europäische Gedanke wird bei der deut- Entscheidung auch ökologische Gesichtspunkte schen Arbeitnehmerschaft in hohem Maße diskredi- eine Rolle spielen müssen, viel billiger: Energie tiert. und Rohstoffe. Ökonomisch wie ökologisch sinn- voller wäre es, im Mix der Produktionsfaktoren Meine Damen und Herren, bis zur Stunde waren menschliche Arbeit billiger zu machen und im Sie nicht in der Lage, eine angemessene nationale Gegensatz dazu den Verbrauch von Rohstoffen Antwort auf diese Probleme zu finden, nachdem die und Energie zu verteuern. Bemühungen auf europäischer Ebene gescheitert waren. Genau das ist der Kerninhalt der SPD-Initiative für eine ökologisch-soziale Steuerreform, die wir Ihnen Ohne klare Regelung werden aus den bislang hun- in absehbarer Zeit hier im Parlament präsentieren derttausendfachen Verdrängungsprozessen späte- werden. stens dann millionenfache Verdrängungsprozesse, wenn - wie der Bundeskanzler sympathischerweise Wenn Sie in die Vergangenheit schauen, wissen erklärt - in einigen Jahren Polen und anderen mittel- Sie, daß in Deutschland in dem Zeitraum von 1970 europäischen Ländern die Mitarbeit in der Europäi- bis 1993 die Belastung des Faktors Arbeit mit Lohn- schen Union ermöglicht werden soll. Wie wollen Sie steuer und Sozialabgaben drastisch, nämlich um denn mit diesen millionenfachen Verdrängungspro- mehr als 40 %, erhöht worden ist, während in densel- zessen auf den einheimischen Arbeitsmärkten auf ben 23 Jahren der ohnehin geringe Steueranteil des Grund von Lohndumpingangeboten von vier oder Faktors Natur um 22 % zurückging. Das wäre ein, fünf Mark die Stunde spätestens dann überhaupt wie ich denke, aus ökologischen, beschäftigungspoli- noch umgehen? 4392 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 52. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. September 1995

Ottmar Schreiner Das, was Sie vorgelegt haben, was Sie in der näch- Auch und gerade dies war eine Leistung dieses So- sten Zeit dem Parlament präsentieren wollen, ist eine zialstaates, eine Leistung der Bürgerinnen und Bür- kümmerliche Antwort angesichts der Größe des Pro- ger dieses Landes, eine Leistung der Politik in die- blems. Wir werden Sie mit einem eigenen Gesetzent- sem Land. wurf konfrontieren, von dem ich annehme, daß er halbwegs in der Lage ist, eine angemessene Antwort Das wird gerade bei den Renten deutlich. Wir hat- auf die angesprochenen Probleme darzustellen. ten am 30. Juni 1990 ein Niveau der Ostrenten von 29 bis 37 % im Vergleich zum Westniveau, und wir (Zuruf von der CDU/CSU: Wieso nur halb- hatten am 1. Juli 1995 ein Niveau von 79 % im Ver- wegs?) gleich zum Westniveau. Bei den durchschnittlichen Zahlbeträgen sind wir mittlerweile sogar schon bei Meine Damen und Herren, noch eine Bemerkung 99 %. zur Forderung der F.D.P., den Solidarzuschlag mög- lichst rasch abzuschaffen. Ich hätte mir gewünscht, Wenn dies keine Verbesserung ist, wenn dies daß die F.D.P. gerade in bezug auf Arbeitskosten sich keine große soziale Leistung ist, dann weiß ich nicht, nicht nur Gedanken über die Abschaffung des Soli- was wir sonst noch beurteilen sollen. darzuschlages macht, sondern auch über die Frage, ob nicht gerade die unerträglich hohe Belastung der (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Arbeitnehmerschaft - ich habe darauf hingewiesen - Nun weiß ich sehr wohl, daß die Zahl der Arbeits- in einem doppelten Sinne ungerecht ist und einen losen noch viel zu hoch ist. Deshalb ist die Bekämp- Quasi-Solidarzuschlag darstellt, an dem wir alle, wie fung der Arbeitslosigkeit letztlich die zentrale wirt- wir hier sitzen, nicht beteiligt sind. schafts-, sozial- und innenpolitische Aufgabe. Ich glaube, daß die ökonomisch-soziale Debatte des heutigen Vormittags gezeigt hat, daß die Koali- Es ist ganz legitim, daß wir in diesem Haus über tion in den zentralen wirtschafts- und sozialpoliti- die richtigen Wege und Mittel kontrovers diskutieren schen Handlungsfeldern ohne angemessene Antwor- und streiten. Aber über eines, meine Damen und ten dasteht. Ich denke, es hat sich auch gezeigt, daß Herren, brauchen wir uns nicht zu streiten, nämlich die sozialdemokratische Fraktion hier sehr wohl in über die Tatsache, daß die Bekämpfung der Arbeits- der Lage war, in einer Reihe von Punkten - Bekämp- losigkeit nur bei einer gewaltigen Anstrengung aller fung der Arbeitslosigkeit, Umbau des Sozialstaates - Beteiligten erfolgreich sein kann. Das ist nicht nur angemessene Antworten zu geben. eine Aufgabe der Politik. (Zuruf von der CDU/CSU: Keine gehört!) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Sie sind mit denjenigen zu vergleichen, von denen Die Entscheidung, ob Arbeitnehmer eingestellt der berühmte Philosoph Hiller einmal gesagt hat: oder entlassen werden, ob neue Bet riebe mit neuen Das Gesäß ist kein zureichender Ersatz für den Kopf. Arbeitsplätzen entstehen, hängt ganz wesentlich da- von ab, ob sich dies für den Betrieb rechnet. Die Ar- Schönen Dank. beitskosten sind zu einem ganz wesentlichen Faktor (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE geworden. GRÜNEN und der PDS) Es ist ja nicht so, als sei keine Arbeit vorhanden. Unser Problem ist vielmehr, daß die Arbeit in Vizepräsident Hans Klein: Ich erteile das Wo rt der Deutschland im Vergleich zu vielen anderen Ländern Kollegin Gerda Hasselfeldt. zu teuer ist. Deshalb muß der Staat das Seine tun und müssen auch die Tarifpartner das Ihre tun. Sie sind nicht nur für diejenigen verantwortlich, die Arbeit Gerda Hasselfeldt (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Nach die- haben, sondern genauso für diejenigen, die von Ar- sem lautstark vorgetragenen Horrorszenario scheint beitslosigkeit bedroht oder gar betroffen sind. es mir doch angebracht, darauf hinzuweisen, daß un- (Beifall bei der CDU/CSU) sere sozialen Sicherungssysteme, flankie rt von den staatlichen Sozialleistungen, zu den vorbildlichsten Meines Erachtens ist der Weg über eine pauschale auf der ganzen Welt gehören. Arbeitszeitverkürzung nicht der richtige. Es muß an- gesetzt werden bei maßvollen Lohnkosten, bei der (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Durchforstung der Lohnnebenkosten, vor allem auch Sie sind nicht nur leistungsstark und sozial gerecht, bei mehr Flexibilität in der Lohngestaltung und na- sondern auch anpassungsfähig. Diese Leistungs- und türlich auch bei mehr Flexibilität in der Arbeitszeit- Anpassungsfähigkeit wird nicht zuletzt deutlich, gestaltung. wenn wir uns gerade die soziale Situation in den Ich habe heute morgen mit Interesse gehört, daß in neuen Ländern vor Augen halten. der Wirtschaftsdebatte ein SPD-Kollege sagte: Auch Meine Damen und Herren, die Krankenversorgung, wir sind für Flexibilität in der Arbeitszeit. Meine Da- die Versorgung der älteren Menschen, die Versorgung men und Herren, warum haben Sie denn dann gegen der Behinderten in den neuen Ländern sind in den letz- das Arbeitszeitgesetz gestimmt? ten fünf Jahren nicht nur ein bißchen besser gewor- (Beifall bei der CDU/CSU - Rudolf Dreßler den, sondern sie haben sich gewaltig geändert. [SPD]: Weil es nichts mit Flexibilität zu tun (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) hat!) Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 52. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. September 1995 4393

Gerda Hasselfeldt Es ist schon interessant, daß der SPD-Sozialmini- zichten. Wir haben weiß Gott ha rt darum gerungen. ster von Nordrhein-Westfalen jetzt durch die Lande Es hätte auch andere Lösungen geben können. Aber zieht und dieses Gesetz, gegen das die Bundestags- gut, man muß das nehmen, was realisierbar ist. Das fraktion der SPD gestimmt hat, nun feiert und sagt, war und ist ein Beispiel für diesen Umbau. Wir sind durch dieses Gesetz seien eine ganze Reihe von zu- dabei noch nicht am Ende. sätzlichen Arbeitsplätzen entstanden. (Beifall bei der CDU/CSU)

Vizepräsident Hans Klein: Frau Kollegin, der Kol- Es gibt noch eine Reihe anderer Vorschläge, die lege Büttner würde Ihnen gern eine Zwischenfrage ich hier auf Grund der begrenzten Redezeit nicht ex- stellen. tra aufführen will. Ich will nur deutlich machen: Ich bin dafür, daß alle Vorschläge zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit ohne jedes Tabu sachlich diskutiert, Gerda Hasselfeldt (CDU/CSU): Ja. erörtert und geprüft werden. Im übrigen aber bin ich der Meinung, daß das, was (Ingolstadt) (SPD): Frau Kollegin Hans Büttner möglich und schon gesetzlich beschlossen ist, auch Hasselfeldt, können Sie mir erklären, wieso es auch praktiziert werden sollte. So ist es beispielsweise zu Zeiten des alten Arbeitszeitgesetzes in Betrieben schon heute möglich, sich ab dem ersten Tag der Er- wie z. B. bei Audi in Ingolstadt so flexible Arbeitszeit- krankung vom Arbeitnehmer eine Arbeitsunfähig- regelungen gab, daß allein 132 verschiedene Arbeits- keitsbescheinigung vorlegen zu lassen und zur wei- zeiten von Montag bis Sonntag - je nach Bedarf - teren Überprüfung den medizinischen Dienst einzu- möglich waren, und wieso es dann notwendig war, schalten. Ich bin dezidiert dafür, daß zunächst einmal dieses generell auszuweiten? das, was möglich ist, praktiziert wird. Erst danach sollten und können wir uns über andere Möglichkei- Gerda Hasselfeldt (CDU/CSU): Ich habe nie be- ten unterhalten. stritten, Herr Kollege Büttner, daß schon das bishe- rige Arbeitszeitrecht durchaus Flexibilität eröffnet (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) hat. Aber genauso unbest ritten ist, daß das neue Ge- Ich will noch eines anfügen, was mir etwas Sorge setz, das erst vor kurzem von uns beschlossen wurde, bereitet: Wenn Sie heute durch Großbetriebe gehen, zusätzliche neue Möglichkeiten eröffnet hat, finden Sie kaum noch Beschäftigte im Alter von (Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Wo denn?) 58 Jahren und älter. Dies, meine Damen und Herren, ist nicht im Interesse der betroffenen Arbeitnehmer. und gerade diese haben Sie abgelehnt. Es kann auch nicht im Interesse der Unternehmen sein, sich in einem solch großen Ausmaß von erfahre- Ich kann mich noch sehr gut erinnern, als Sie uns nen Mitarbeitern zu trennen. Schon gar nicht ist dies beispielsweise die Sonntagsarbeit um die Ohren ge- im Interesse der Beitragszahler, die dafür viel Geld hauen haben. Nun lobt der SPD-Minister in Nord- aufbringen müssen. Mir wäre ein mehr gleitender rhein-Westfalen gerade dieses als eine gute Entwick- Übergang, beispielsweise verbunden mit Teilzeit, lung. wesentlich lieber. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU - (Beifall der Abg. Dr. Gisela Babel [F.D.P.]) Siegfried Hornung [CDU/CSU]: So ist die SPD halt!) Meine Damen und Herren, Arbeitsmarktpolitik kann nie von der wirtschaftlichen Situation losgelöst Notwendig ist in gleicher Weise eine Senkung der werden. Trotz Wiedervereinigung, trotz schwieriger Minister Seehofer ist dabei im Be- Lohnnebenkosten; weltwirtschaftlicher Bedingungen haben wir eine reich der Reform des Gesundheitswesens, wir sind niedrigere Inflationsrate, haben wir so niedrige Zin- dabei im Bereich der Reform des Arbeitsförderungs- sen wie schon seit Jahren nicht mehr. Dies sind gün- rechts. stige Ausgangspositionen auch für den Arbeitsmarkt. Frau Kollegin Buntenbach, lassen Sie mich auf Weil dies so ist, können wir im Haushalt 1996 auf ei- Grund Ihrer Rede noch folgendes erwähnen: Es nen Bundeszuschuß für die Bundesanstalt für Arbeit macht, wenn wir über neue Arbeitsplätze beispiels- verzichten. weise im Haushalt reden, keinen Sinn, daß wir diese Trotzdem fahren wir auf dem hohen Niveau der Ar- Debatte mit einer Neiddiskussion begleiten. Viel- beitsmarktpolitik fort. Im Bereich Fortbildung und mehr sollten wir dies unter dem Aspekt der Schaf- Umschulung erwarten wir die gleiche Teilnehmer- fung zusätzlicher Arbeitsmöglichkeiten insbesondere zahl wie in diesem Jahr. Im Bereich Arbeitsbeschaf- für Frauen sehen. fungsmaßnahmen wird noch einmal etwas zugelegt. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Hier ist ganz besonders wichtig, daß künftig auch Herr Kollege Schreiner hat moniert, daß wir nicht die Bezieher der Arbeitslosenhilfe in diese Maßnah- an einem Umbau des Sozialstaats arbeiten. Ich will men stärker einbezogen werden; denn gerade für nur ein Beispiel nennen, Herr Kollege Schreiner: Ein diese sind sie ja gedacht. typisches Beispiel für den begonnenen Umbau des (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Sozialstaats ist die Pflegeversicherung. Es war eine historische Tat, eine historische Leistung, die große Sie sollten künftig entsprechend ihrem Anteil an der Herausforderung einer Absicherung der Pflege zu Zahl der Arbeitslosen an den Arbeitsbeschaffungs- bestehen und dazu auch auf einen Feiertag zu ver- maßnahmen beteiligt werden. 4394 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 52. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. September 1995

Gerda Hasselfeldt Es ist richtig, wenn künftig die Arbeitslosenhilfe, nämlich den Atomtest Frankreichs, den wir hier mit die ja schließlich unbefristet gezahlt wird, nicht mehr aller Schärfe verurteilen wollen. nach dem letzten Nettolohn, sondern nach dem aktu- ell zu erzielenden Lohn berechnet wird. Es ist nie- (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE mandem zu vermitteln, daß wir derzeit trotz hoher GRÜNEN und der PDS) Arbeitslosigkeit im Inland Hunderttausende von Ar- beitserlaubnissen an ausländische Arbeitnehmer er- Ich glaube, Sie sollten über Ihren Schatten von For- teilen. Wir sind auch im Interesse der Beitragszahler malitäten springen. gehalten, mit diesen Mitteln sparsam, effizient und gerecht umzugehen. Deshalb ist die Reform, die Bun- Es ist sehr bedauerlich, daß sich die Koalition of- desminister Blüm im Bereich der Arbeitslosenhilfe fenbar nicht in der Lage sieht, einen gemeinsamen plant, der richtige Ansatz. Beschluß des Deutschen Bundestages herbeizufüh- ren. Ich entnehme das den Reden des Bundeskanz- Meine Damen und Herren, eine riesige Aufgabe lers ebenso wie der Rede des Kollegen Schäuble. steht vor uns: die Reform des Arbeitsförderungs- Meine sehr verehrten Damen und Herren, es reicht rechts. Wir haben damit die große Chance, dieses nicht festzustellen, das sei ein falsches politisches Gesetz übersichtlicher, transparenter und verständli- Signal, sondern ich finde - wenn ich auch die Außen- cher zu gestalten. Wir haben damit auch die große politiker der Koalition ansprechen darf -, daß die Be- Chance, mehr für die Arbeitslosen zu tun. völkerungen Australiens, Neuseelands und anderer Länder einen Anspruch darauf haben, daß das Parla- Ich lade Sie ein: Beteiligen Sie sich an diesem kon- ment insgesamt eine Entscheidung trifft und es nicht struktiven Projekt! Beteiligen Sie sich aber nicht, wie nur eine Äußerung des Bundeskanzlers dazu gibt. Sie das in Ihrem Gesetzentwurf vorgeschlagen ha- Wer sind wir denn, daß wir nicht selbst dazu eine ben, mit der Festschreibung von Quoten, mit starrem Meinung äußern sollten! Dirigismus, sondern im Sinne von mehr Transparenz, mehr Flexibilität, mehr Dezentralisierung und damit (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne mehr Treffsicherheit in der Arbeitsmarktpolitik! ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Dann sind Sie mit uns gemeinsam auf dem richtigen und der PDS) Weg. Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir wol- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) len, daß der Bundestag heute über einen Antrag de- battiert, den wir mit „Keine Atomwaffentests durch - China und Frankreich" überschrieben haben. Wir Vizepräsident Hans Klein: Zu diesem Geschäftsbe- wollen, daß wir ein deutliches Signal setzen, daß der reich liegen keine weiteren Wortmeldungen vor. erste Test Frankreichs auch der letzte gewesen sein soll. Verehrte Kolleginnen und Kollegen, bevor wir die Haushaltsberatungen fortsetzen, müssen wir über (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne zwei Geschäftsordnungsanträge abstimmen. Die ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Fraktion der SPD und die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE und der PDS) GRÜNEN haben jeweils fristgerecht beantragt, die heutige Tagesordnung zu erweitern. Die Fraktion der Wir appellieren ebenso an die Volksrepublik China, SPD wünscht die Aufsetzung ihres Antrags zu den von weiteren Tests abzusehen - genauso, wie wir an Atomwaffentests von China und Frankreich auf Frankreich appellieren. Drucksache 13/2251 mit einer Debattenzeit von einer Stunde. Die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Es gibt das vordergründige Argument - Kollege beantragt die Aufsetzung ihres Antrags zur Einlei- Schäuble hat es gestern vorgetragen -, man dürfe die tung eines Vertragsverletzungsverfahrens gegen deutsch-französische Freundschaft nicht gefährden. Frankreich wegen Mißachtung des Euratom-Ver- In der Tat wollen wir die deutsch-französische trags, Drucksache 13/2270. Freundschaft nicht gefährden. Ich denke, zu einem guten freundschaftlichen Verhältnis gehört auch, daß Zu diesen Geschäftsordnungsanträgen liegen be- man sich untereinander die Wahrheit sagt und nicht reits Wortmeldungen vor. Als erstes erteile ich das nur in Hinterzimmern darüber redet, was man viel- Wort unserem Kollegen Dr. Peter Struck. leicht anders machen sollte.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne Dr. Peter Struck (SPD): Sehr geehrter Herr Präsi- ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN dent! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es und des Abg. Manfred Müller [Berlin] ist ein ungewöhnliches Verfahren, daß wir plötzlich [PDS]) im Rahmen einer Haushaltsdebatte einen Tagesord- nungspunkt, der nicht unmittelbar etwas mit dem Ich habe Stellungnahmen von Greenpeace vorlie- Haushalt zu tun hat, debattieren wollen. gen. Ich habe eine Entscheidung der Europäischen Kommission für Menschenrechte vorliegen, die die (Dr. [CDU/CSU]: Sehr wahr!) von uns unterstützte Beschwerde von Mitgliedern der polynesischen Protestbewegung Hititau als vor- Aber ich glaube, es gibt keinen ungewöhnlicheren dringlich weiterbehandeln will. Ich denke, es wäre Vorgang als den, über den wir diskutieren wollen, eine gute Entscheidung des Deutschen Bundestages Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 52. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. September 1995 4395

Dr. Peter Struck und würde unser Ansehen in der Welt vermehren, Deutschland und Frankreich haben in dieser wenn wir uns zu einer gemeinsamen Entschließung wichtigen Frage unterschiedliche Ausgangsposi- durchringen könnten und nicht so kleinkariert davor tionen und unterschiedliche Auffassungen. Dar- zurückschreckten. über haben wir, wie dies unter Freunden selbst- verständlich ist, ganz offen gesprochen. Ich bin sehr enttäuscht von dem Verhalten der F.D.P., die zunächst signalisiert hatte, sie sei zu einer Der Herr Kollege Scharping hat in derselben De- gemeinsamen Beschlußfassung bereit, aber offenbar batte festgestellt: vor der großen Koalitionsfraktion dann doch nicht den Mut gehabt hat. Herr Bundeskanzler, wir stimmen in der Sache of- fenkundig völlig überein, möglicherweise nicht (Jürgen W. Möllemann [F.D.P.]: Das finde in der Art des Vorgehens und in der Klarheit der ich jetzt ein bißchen ha rt !) Worte; aber das will ich heute ausdrücklich ein- mal zurückstellen. Wir reden untereinander viel über Kolleginnen und Kollegen. Gelegentlich wird über jemanden Der Kollege Pflüger hat die Sache sehr intensiv un- schlecht geredet, auch öffentlich. Darunter hat jeder ter ökologischen Gesichtspunkten behandelt und zu leiden. Ich möchte etwas zu meinen Kollegen ausdrücklich darauf hingewiesen, daß wir an unsere Heidi Wieczorek-Zeul und Reinhard Schultz sagen. französischen Freunde appellieren, von diesen Atom- waffenversuchen abzusehen. (Zuruf des Staatsministers Helmut Schäfer) Wir sind uns also in der Sache in diesem Hohen - Der einzige hämische Zwischenruf kam offenbar Hause völlig einig. In all diesen Debatten ist überein- vom Staatsminister im Auswärtigen Amt. Das hätten stimmend festgestellt worden, daß die Besonderhei- Sie sich sparen können, Herr Kollege Schäfer. ten des deutsch-französischen Verhältnisses einen Ich habe großen Respekt vor der Entscheidung freundschaftlichen Umgang nicht nur bei großen An- meiner beiden Fraktionsmitglieder, auf eigene Ko- kündigungen erfordern, sondern auch dann, wenn es sten im Zusammenwirken mit Parlamentariern aus um so heikle Themen wie das geht, um das wir hier anderen Nationen vor Ort die Solidarität mit den be- ringen. troffenen Menschen zu bezeugen. Ich bedauere sehr die Umstände, unter denen diese Aktion gelitten hat, (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) will aber an dieser Stelle deutlich versichern, daß die Der Kollege Pflüger hat - nach meinem Dafürhal- Entscheidung, vor Ort zu protestieren, eine richtige ten offensichtlich in der Ahnung dessen, was noch Entscheidung war. Ich wünsche allen auch von hier kommen könnte - damals auf folgendes hingewie- aus eine gute Rückkehr. sen: (Beifall bei der SPD - Jürgen W. Möllemann Ich bin genau wie meine Fraktion und wie der [F.D.P.]: Der Beifall ist ja ziemlich leiden- Kollege Gerhardt schaftlich an der Stelle!) - von der F.D.P. - Vizepräsident Hans Klein: Das Wort hat der Kol- dafür, daß man kritisiert. Aber ich bin dagegen, lege Joachim Hörster. Kampagnen zu organisieren. Bei den Anträgen, die Sie heute hier einbringen - Joachim Hörster (CDU/CSU): Herr Präsident! ich muß das, was von den Grünen kommt, vorweg- Meine Damen und Herren! Lieber Herr Kollege nehmen; ich weiß ja, was kommt -, handelt es sich Struck, um hier keine falschen Eindrücke aufkom- um eine solche Kampagne. Sie ist weder zielführend men zu lassen: Als Parlamentarier sind wir selbstver- noch sachdienlich. Vielmehr ist sie allenfalls in der ständlich alle dafür, daß Parlamentarier sich frei be- Lage, die Kontakte zwischen Deutschland und wegen und ihre Meinung zum Ausdruck bringen Frankreich, die den entstandenen Schaden minimie- können, egal, ob in diesem Hause oder im Südpazi- ren sollen, zu behindern und zu beschädigen. fik. Deswegen kann überhaupt kein Zweifel daran bestehen, daß wir wünschen, daß Frau Kollegin Niemand kann behaupten, daß sich der Deutsche Wieczorek-Zeul und Herr Kollege Schultz wohlbe- Bundestag mit dieser Sache nicht ausführlich befaßt halten zurückkommen. Ich habe jedenfalls in meiner habe. Herr Kollege Struck, Herr Kollege Schulz, un- Fraktion und auch von anderen Mitgliedern dieses ser gestriges Angebot an die Opposition, die An- Hauses in diesem Zusammenhang keine Häme be- träge, die Sie für notwendig halten, zur fachlichen merkt. Beratung an die Ausschüsse zu überweisen, ist von Ihnen abgewiesen worden. Sie wollen eine Kampa- Ich möchte festhalten, daß wir bereits am 22. Juni gne, heute und hier, egal, ob die deutsch-französi- 1995 zur Wiederaufnahme der französischen Atom- sche Freundschaft dabei beschädigt wird oder nicht. waffentests in diesem Hohen Hause beraten haben. Das wollen wir nicht. Am 13. Juli haben wir uns erneut mit dieser Sache befaßt und übereinstimmend die Ablehnung dieser (Beifall bei der CDU/CSU - Widerspruch Atomtests zum Ausdruck gebracht. beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Bundeskanzler selbst hat damals in In der gestrigen Aussprache zum Etat des Bundes- die Aktuelle Stunde eingegriffen und ausdrücklich kanzleramtes, des Auswärtigen Amtes, des Verteidi- auf folgendes hingewiesen - ich darf das zitieren -: gungsministeriums und des Ministeriums für wirt- 4396 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 52. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. September 1995

Joachim Hörster schaftliche Zusammenarbeit - das sind die Ge- der Seriosität des Anliegens halte und mit entspre schäftsbereiche, bei denen solche Fragen ressortie- chenden Ordnungsmaßnahmen dagegen sein werde. ren, wenn wir sie im internationalen Bereich zu be- handeln haben - hat sich Herr Kollege Scharping in (Beifall bei der CDU/CSU) ganzen drei - ich wiederhole: ganzen drei - Sätzen mit dieser Angelegenheit befaßt, und das in einer Bitte, Herr Kollege Schulz. fast einstündigen Rede. Wenn Ihnen das Ganze von der Sache her so wichtig gewesen wäre, Herr Kollege (Berlin) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Scharping, hätten Sie es nicht auf eine solche Ge- Werner Schulz NEN): Meine Damen und Herren! Herr Kollege Hör- schäftsordnungsdebatte ankommen lassen, sondern ster, es ist schon merkwürdig, daß Sie uns die Bean- hätten dort ausführlich zur Sache gesprochen. tragung dieser Geschäftsordnungsdebatte vorwer- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) fen. Wer zwingt uns denn zu dieser Debatte? Gestern abend war selbst die F.D.P. noch dafür, daß wir heute Demgegenüber hat der Bundeskanzler diese Tests eine Sachdebatte über Atomwaffentests führen. Es ausführlich angesprochen. Er hat ganz deutlich ge- hat offenbar äußersten Koalitionsdrucks bedurft, um sagt: zu verhindern, daß wir heute eine solche Aussprache haben und zu einer Beschlußfassung kommen. Bevor Es ist ganz unübersehbar, daß die Bundesregie- diese Atomtests vorbei sind, muß der Bundestag zu rung und die französische Regierung in der Frage einer Meinungsbildung kommen - am besten heute. von Nukleartests unterschiedliche Ausgangs- Es ist schon schlimm genug, wenn sich die Bundesre- positionen und auch unterschiedliche Auffassun- gierung nur in unverbindlichen Äußerungen ergeht. gen ... haben. Dann sollte zumindest das Parlament ein eindeutiges Votum abgeben. Er hat dann weiter festgestellt - und das hat den Bei- fall dieses Hauses gefunden -: (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der PDS) Aber ich bin nicht bereit, an irgendeinem Punkt mitzumachen, der diese Freundschaft in irgend- Es reicht einfach nicht aus, Herr Schäuble, wenn einer Form beschädigen könnte. Sie in der Haushaltsdebatte beiläufig Ihr Bedauern (Beifall bei der CDU/CSU) über diese Tests äußern. Das werden Sie dann wahr- scheinlich bei jedem Test tun, von einem falschen Si- gnal sprechen und erneut Ihr Bedauern zum Aus- Wir brauchen, wie das tägliche Brot, in den näch- - sten Jahren beim Bau des Hauses Europa die druck bringen. Das kann es nicht sein! Wir müssen deutsch-französische Pa rtnerschaft und Freund- hier ein klares Votum abgeben, von diesen unver- schaft. Das ist das Wichtigste, was überhaupt ins bindlichen Sprüchen wegkommen und konkrete Be- Haus steht. schlüsse fassen. Deswegen haben wir einen Antrag vorbereitet, deswegen hat die SPD einen Antrag vor- Ich will noch hinzufügen: Wer sich intensiv mit der bereitet. Beide sind abstimmungsfähig. öffentlichen und internationalen Diskussion über Atomwaffentests befaßt hat und wer die Ausgangs- Sie, meine Damen und Herren von der Koalition, lage bei unseren französischen Freunden im Juni bemühen immer wieder die deutsch-französische 1995 mit dem vergleicht, was sie jetzt ankündigen, Freundschaft. Diese will überhaupt niemand attak- der kann doch wirklich nicht behaupten, wir hätten, kieren. Sie hat mit der Sache überhaupt nichts zu was das Einwirken auf unsere französischen tun. Freunde und das Überdenken Ihres Standpunktes angeht, keinen Erfolg gehabt. Ich bin der Auffas- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, sung, wenn sich die Fachleute im Auswärtigen Aus- bei der SPD und der PDS) schuß mit dieser Sache - so wie wir es gerne hätten - Jede gute und wahre Freundschaft muß klare und sachlich, ruhig und unter Beachtung unserer beider- deutliche Worte vertragen können; sonst ist es keine seitigen Beziehungen befassen, werden wir noch Freundschaft, sonst hält sie Belastungen nicht stand. mehr Erfolg haben. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Das, was Sie heute vorhaben, ist in der Sache kon- bei der SPD und der PDS) traproduktiv, hinderlich. Deswegen lehnen wir die Ergänzung der Tagesordnung mit dieser Ihrer vor- Noch besteht die Chance, daß der französische dergründigen Zielsetzung ab. Präsident zum Einlenken bewegt werden kann, aber nur dann, wenn die Partner - auch und gerade in der (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) EU - klare und deutliche Worte finden, bevor diese Tests abgeschlossen sind. Die EU-Kommission hat Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Werner festgestellt - und ihr Befremden darüber zum Aus- Schulz, Sie haben das Wo rt . druck gebracht -, daß der erste Test stattgefunden hat, obwohl die Regularien nach dem Euratom-Ver- Während Sie auf dem Weg zum Rednerpult sind, trag in einem solchen Fall eine Überprüfung vor- erlauben Sie mir den vorsorglichen Hinweis, daß ich schreiben; die aber hat noch nicht stattgefunden. begleitende Aktionen, die dieser oder jener heute Hier liegt also offensichtlich ein Vertragsbruch vor. noch vorhaben mag, nicht für eine Unterstreichung Es geht nicht an, daß wir dazu schweigen. Es geht Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 52. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. September 1995 4397

Werner Schulz (Berlin) nicht an, daß jede Müllkippe in Europa, jede chemi- Jörg van Essen (F.D.P.): Herr Präsident! Meine Da- sche Reinigung, jede galvanische Werkstatt strenger men und Herren! Die F.D.P. ist zweimal angespro- geprüft wird als ein Atomtest im Pazifik. Das können chen worden. Es ist richtig, daß ich mich gestern wir doch nicht zulassen. nachmittag darum bemüht habe, eine Brücke zwi- schen den verschiedenen Fraktionen und Gruppen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, dieses Parlaments zu bauen. Leider ist diese Brücke bei der SPD und der PDS) nicht beschritten worden; nicht die Koalitionsfraktio- Wir von der Opposition werden nicht zulassen - da nen, sondern die SPD hat es abgelehnt, diese Brücke können Sie sich über diese Geschäftsordnungsde- zu beschreiten. batte aufregen, wie Sie wollen -, daß sich sämtliche Für uns, die F.D.P., ist wichtig, daß an unserer Hal- politischen Hasenfüße auf der Regierungsbank ver- tung weiterhin kein Zweifel besteht. Der Bundesvor- sammeln und zu diesem unglaublichen Vorfall sitzende unserer Pa rtei hat in zwei Aktuellen Stun- schweigen. den deutlich gemacht, daß die F.D.P.-Bundestags- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, fraktion die französischen Versuche für völlig falsch bei der SPD und der PDS) und für das falsche Signal in dieser Zeit hält. Lassen Sie uns eine sachliche Debatte führen! (Beifall bei der F.D.P.) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ich bin froh, daß der Bundesaußenminister eine sowie bei Abgeordneten der SPD und der Fülle von Maßnahmen ergriffen hat, um das insbe- PDS - Lachen und Zurufe von der CDU/ sondere auch der französischen Regierung deutlich CSU und der F.D.P.) zu machen. Auch er hat in allen seinen Interviews an seiner Haltung überhaupt keinen Zweifel gelassen. - Ja, vielleicht sind Sie das nicht gewöhnt; vielleicht möchten Sie sich hier lieber endlos mit den Querelen Die Wahrheit, Herr Kollege Struck - ich sage das der SPD beschäftigen, um die Substanzlosigkeit Ihrer Ihnen, weil Sie es angesprochen haben -, ist gesagt Politik nicht offenbar werden zu lassen. Das mag ja worden. Es ist ja interessant, daß die „taz", die be- sein. Aber das lassen wir Ihnen nicht durchgehen. kanntlich nicht vom Bundespresseamt herausgege- ben wird, heute den Aufmacher bringt: „Selten war (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Bonn so einig". - Ich glaube, wenn wir ruhig nach- bei der SPD und der PDS) denken, werden wir alle zu dem gleichen Ergebnis kommen. Gestern gab es eine große Koalition der Es gibt schon noch Opposition in diesem Hause; dar- - Spitzen der Regierung und der Parteien, mit eindeu- auf können Sie sich verlassen. tigen Aussagen. Ich frage: Wird denn diesen Aussa- (Lachen bei der CDU/CSU und der F.D.P.) gen nicht die Wirkung genommen, wenn eine Runde von Spezialisten, von Fachleuten das Ganze noch Wir werden darauf drängen, daß Sie sich zu dieser einmal „durchkaut" und wir irgendein Papier verab- Frage klar äußern. schieden? Ich will Ihnen noch eines sagen - ich glaube, das (Beifall bei der F.D.P. - Zuruf vom BÜND sollte Sie etwas ernster stimmen -: Wenn der franzö- NIS 90/DIE GRÜNEN: Was ist denn die sische Ministerpräsident Juppé heute erklärt, daß der Aufgabe des Parlaments?) atomare Schutzschild auf Deutschland ausgedehnt werden solle, daß man also eine konzertierte Ab- Klarer, als die Aussagen gestern waren, kann ein sol- schreckungsmacht in Europa schaffen solle, dann ches Papier nicht werden. sollten Sie nicht den Verdacht aufkommen lassen, Deshalb stimmen wir diesen beiden Anträgen daß Sie daran auch nur im geringsten interessiert nicht zu - nicht, weil wir in den zur Diskussion ste- seien. henden Fragen anderer Meinung sind, sondern weil (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN wir das Verfahren für falsch halten. sowie bei Abgeordneten der SPD und der Herzlichen Dank. PDS) (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Sie haben heute die Chance, das unter Beweis zu stellen. Das ist eine ernsthafte Debatte, nicht irgend- eine Geschäftsordnungsdebatte, mit Tricks, um die Vizepräsident Hans Klein: Ich erteile das Wort der Haushaltsberatungen zu unterbrechen. Kollegin Eva Bulling-Schröter. Ich bitte Sie darum, einzuwilligen, daß wir jetzt die (PDS): Sehr geehrter Herr Debatte zu diesen Atomtests führen können, und Eva Bulling-Schröter Präsident! Sehr geehrte Abgeordnete! Zuerst einmal darum, daß wir zur Abstimmung über die Anträge möchte ich betonen, daß ich alles unterstütze, was kommen. mein Kollege Heym schon zu diesem Thema gesagt (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, hat. bei der SPD und der PDS) Der Deutsche Bundestag hat sich am 22. Juni und auf Antrag der Gruppe der PDS in einer Aktuellen Vizepräsident Hans Klein: Das Wort hat der Kol- Stunde am 13. Juli dieses Jahres mit der Planung lege Jörg van Essen. französischer Atombombentests unter dem Muru- 4398 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 52. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. September 1995

Eva Bulling-Schröter roa-Atoll auseinandergesetzt. Auch in einigen Re- land gegangen werden sollte und auf den sich dieses den im Rahmen der Haushaltsdebatte wurde auf die Haus hier und heute verständigen müßte. Meine aktuellste Entwicklung, die Unglaublichkeit des trotz Gruppe hat eine solche juristische Initiative schon in massivster internationaler Proteste tatsächlich vollzo- einem Antrag vom 16. August gefordert. genen Tests eingegangen. Im übrigen habe auch ich mich am vorigen Freitag in Paris an den Demonstra- Die juristische Seite ist aber nur ein begleitender tionen beteiligt; leider war ich die einzige deutsche Schritt zur notwendigen politischen Auseinanderset- Bundestagsabgeordnete. zung, und zwar nicht nur mit der französischen, son dern auch mit der europäischen, insbesondere mit Liebe Kolleginnen und Kollegen, gerade die De- der deutschen Atom- und Atomwaffenpolitik. Diese battenbeiträge in dieser Haushaltsdebatte haben ge- Auseinandersetzung darf keinesfalls nur ein Rand- zeigt, daß die Koalition die politische, ökologische thema der Haushaltsdebatte sein. Ihr Stellenwert ver- und rechtliche Dimension dieser Zäsur entweder langt eine eigene Debatte. nicht überblickt oder aus einer Mischung von Oppor- tunismus und Eigennutz ignoriert. Diese Politik, die hier praktiziert wird, hat natürlich Tradition. Schon 1957 unterzeichnete der damalige (Beifall bei der PDS) deutsche Verteidigungsminister Strauß mit seinem französischen Kollegen Delmas ein Geheimabkom- Aber unabhängig davon kann die Erörterung eines men für gemeinsame Studien über die militärische für die Sicherheit und den Weltfrieden erstrangigen Anwendung der Nuklearenergie. Die Wege trennten Vorganges kaum am Rande der Haushaltsberatun- sich dann irgendwann, und jetzt stehen wir wieder gen stattfinden. Eine eigenständige Debatte zu die- vor dem gleichen Problem, stehen wir heute - wie sem Thema ist gerade für die Bundesrepublik, deren sich auch aus der Haltung der Bundesrepublik ge- gegenwärtige Regierung zu keiner Zeit versäumt, genüber Frankreich ableiten ließe - kurz davor, quasi die neue Rolle des vereinigten Deutschland in der in- wieder Atommacht zu werden. Die Prügelszenen in ternationalen Arena zu bekunden, das mindeste, was Paris - ich habe sie selber gesehen - und auch in man überhaupt verlangen kann. Papeete, die gestern im Fernsehen gezeigt wurden, sprechen eine deutliche Sprache. Waren Sie es nicht, Herr Bundeskanzler - leider ist er mal wieder nicht da -, der gestern noch väterliche Abschließend möchte ich mich an die SPD-Frak- Schelte angesichts fehlender außenpolitischer Ak- tion mit der Hoffnung wenden, daß unsere im Pazifik zente in der Rede Rudolf Scharpings austeilte? Emp- in eine mißliche Lage geratenen Kolleginnen und Kollegen finden Sie Ihren lächerlichen Verweis darauf, daß- - Bonn und Paris in dieser Sache unterschiedlicher Auffassung seien, als angemessene Form der Ausein- andersetzung mit diesen Problemen? Vizepräsident Hans Klein: Frau Kollegin, Ihre Re- dezeit! Nun ist es auch keine Überraschung, daß der Bun- desaußenminister nicht seinen Botschafter in Frank- Eva Bulling-Schröter (PDS): - glücklich nach Hause reich zurückruft, wie seine couragierten Kollegen in zurückkehren. Neuseeland und Chile es getan haben. Herr Kinkel konnte sich gerade noch abringen: „Die Versuche Im übrigen unterstützen wir Ihren Antrag auf Er- passen nicht mehr in die Zeit." Das muß man sich weiterung der Tagesordnung. mal auf der Zunge zergehen lassen! Herr Kinkel, re- den wir eigentlich über den Umgang mit mensch- (Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordne heitsvernichtenden Waffen, oder sprechen wir hier ten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE im Bundestag - manchmal hat man hier schon den GRÜNEN) Eindruck - über Kaiserschmarren?

Meine Damen und Herren, die Debatte über die Vizepräsident Hans Klein: Meine Kolleginnen und neuerliche Aufnahme der Atomwaffentests durch Kollegen, der Ausdruck „Hasenfüße", Herr Kollege Frankreich gehört heute auf die Tagesordnung. Schulz, war ha rt am Rande des parlamentarischen Meine Vorrednerinnen und Vorredner haben das ja Sprachgebrauchs. schon betont. Sie gehört schon deshalb auf die Ta- ( [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE gesordnung, weil seit der letzten Aktuellen Stunde GRÜNEN]: Oh, das ist billig! Da haben wir weitere Erkenntnisse vorliegen. schon anderes gehört! - Weitere anhaltende Das schon angesprochene, im Auftrag von Green- Zurufe von der SPD und dem BÜNDNIS 90/ peace vom Öko-Institut Darmstadt erstellte Gutach- DIE GRÜNEN) ten legt nahe, daß die französische Regierung mit - Sie haben zu früh aufgeschrien. Dies sollte mir zur dem Test gegen den Euratom-Vertrag verstoßen hat, Begründung dienen, daß auch ich etwas tue, was am indem sie diesen gefährlichen Versuch ohne Zustim- Rande der Gepflogenheiten ist, nämlich am Schluß mung der Europäischen Kommission durchführte. In einer Geschäftsordnungsdebatte dem Kollegen einem solchen Fall werden den Mitgliedstaaten des Struck noch einmal das Wort zu geben, für eine Rich- Vertrages Klagemöglichkeiten vor dem Europäi- tigstellung in zwei Sätzen. schen Gerichtshof eingeräumt, ein Schritt, der nach Meinung der PDS von der Bundesrepublik Deutsch- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 52. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. September 1995 4399

Dr. Peter Struck (SPD): Herr Präsident, ich möchte Haushalt 1996 setzt die Bundesregierung den Weg mich dafür bei Ihnen bedanken und feststellen: Der der Konsolidierung fort. Sie eröffnet gleichzeitig Beitrag des Kollegen van Essen gibt nicht die tat- neue Finanzspielräume für Bildung und Forschung. sächliche Sachlage wieder. Die SPD-Bundestagsfrak- Das ist das eigentliche Merkmal des Einzelplans 30. tion hat sich geweigert, über das Thema im Rahmen Ich finde es ganz wichtig, das zu Beginn zu betonen. einer Debatte über den Forschungshaushalt zu dis- Die Mittel für Forschung und Technologie steigen kutieren; denn das ist völlig unangemessen. Wir ha- gegenüber 1995 überproportional um 2,8 % bei ei- ben uns auch geweigert, damit einverstanden zu nem Gesamthaushalt, den der Finanzminister auf mi- sein, diese Anträge in die Ausschüsse zu überweisen. nus 1,3 % festgelegt hat. Mit einem Gesamtumfang Deshalb haben wir dieses Verfahren gewählt und von 15,6 Milliarden DM wächst der Haushalt des nicht Ihres. BMBF gegenüber dem bereinigten Haushalt 1995 (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne- um 2,3 %. ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Zustimmung bei der CDU/CSU) Wir wollen diese neuen Spielräume jetzt nutzen, Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege van Essen, wollen Sie replizieren? - Nein. um Innovationen in Deutschland möglich zu machen, nicht aber, um alte Probleme mit neuem Geld in die Dann kommen wir zur Abstimmung, und zwar zu- Zukunft fortzuschreiben. nächst über den Aufsetzungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 13/2251. Wer stimmt für den (Beifall bei der CDU/CSU) Aufsetzungsantrag der SPD? - Gegenprobe! - Ent- Es gehört zu den Besonderheiten des Einzelplans 30, haltungen? - Keine. Mit den Stimmen der Koalition daß dort eine Vielzahl von Politikbereichen ange- gegen die Stimmen der gesamten Opposition ist der sprochen ist. Das kann man auch mit Zahlen bele- Aufsetzungsantrag abgelehnt. gen. Die Kollegen Kampeter und Fried rich werden Wer stimmt für den Aufsetzungsantrag der Frak- dazu gleich noch etwas aus ihrer Sicht sagen. Ich tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN auf Drucksache 13/ bitte um Verständnis, daß ich das jetzt nicht aufblät- 2270? - Gegenprobe! - tern will, obwohl das spannend ist. Ich möchte, bevor ich einige politische Bemerkungen mache, nur ganz (Abgeordnete des BÜNDNISSES 90/DIE kurz zwei Zahlenbereiche erwähnen. GRÜNEN halten Plakate mit der Aufschrift „Non" hoch - Beifall bei der SPD und der Der erste Punkt ist - und das vor dem Hintergrund PDS - Zuruf von der CDU/CSU: Grüner einer Debatte, die wir vor einigen Monaten geführt Kindergarten!) haben -, daß in diesem Haushalt die Zuweisungen für die neuen Länder konstant bleiben, d. h., wir Darf ich nach Enthaltungen fragen. - Meine Damen bleiben bei 3 Milliarden DM auch im Jahre 1996. Das und Herren, ich stelle zunächst fest: Die Grünen ha- ist wichtig, weil wir die Substanz in Forschung und ben die Zustimmung der Sozialdemokraten und der Bildung weiter kontinuierlich aufbauen wollen. PDS gefunden. Der Antrag wurde mit den Stimmen der Koalition abgelehnt. (Beifall bei der CDU/CSU) Mit- Über das Verhalten der Grünen während der Sit- Der zweite Punkt ist, daß wir insbesondere die mit zung werden wir in der anschließenden Sitzung des tel für kleine und mittelgroße Unternehmen DM im Jahre 1996 fortschreiben und in Ältestenrates sprechen. 600 Millionen dem einen oder anderen Bereich, etwa bei den Mit- (Beifall bei der CDU/CSU) teln für die allgemeine mittelstandsbezogene Innova- tionsförderung, sogar Steigerungsraten von 22,7 % Wenn Sie diesen Vorgang, den Sie angeblich so ernst auf jetzt 276 Millionen DM haben. Auch das zeigt nehmen, zu solchen lächerlichen Mätzchen mißbrau- eine besondere Schwerpunktsetzung in diesem Etat. chen, dann geht das auf Ihr Konto. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Technologie ist für uns keine Ideologie. Was den Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesmi- Menschen weiterhelfen kann, das soll nach Meinung nisteriums für Bildung, Wissenschaft, Forschung und der Bundesregierung eine Chance haben. Unser Ziel Technologie. ist es, Zukunft möglich zu machen. Das Wort hat der Bundesminister Dr. Jürgen Rütt- Man kann feststellen, daß die Bevölkerung zwei gers. - Herr Minister, wenn Sie bitte noch eine halbe große Wünsche hat: Der eine ist Arbeit, der andere Minute verharren, bis der „Schichtwechsel" im ist Umweltschutz; also mehr Beschäftigung und eine Hause erfolgt ist. - Darf ich die Kollegen bitten, Platz gesunde Lebenswelt. Das sind Ziele, denen man mit zu nehmen. - Ich meine die Kollegen aller Fraktionen moderner Technik näherkommt; allerdings muß man und Gruppen. handeln. Bitte, Herr Bundesminister, Sie haben das Wo rt . Ich will Ihnen ein Beispiel geben: Die Experten ge- hen davon aus, daß in Deutschland die Zahl der Tele- Dr. Jürgen Rüttgers, Bundesminister für Bildung, arbeitsplätze von gegenwärtig 30 000 auf rund Wissenschaft, Forschung und Technologie: Herr Prä- 800 000 im Jahre 2000 steigt. Das heißt, hier gibt es sident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Mit dem riesige Möglichkeiten für den Arbeitsmarkt. Nimmt 4400 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 52. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. September 1995

Bundesminister Dr. Jürgen Rüttgers man für einen Telearbeitsplatz durchschnittliche In- Damit sind wir natürlich bei einem Bereich, der vestitionskosten von 15 000 DM an, dann ergibt sich viel mit Arbeitsplätzen und Wi rtschaft zu tun hat. Wir allein für Deutschland ein Investitionsvolumen von haben gestern den Versuch einer Darstellung von 12 Milliarden DM bis zur Jahrhundertwende; das ist Herrn Scharping zum Thema Wi rtschaftspolitik er- ein Innovationsschub für unsere Wirtschaft. lebt. Er hat versucht, seine - nach meiner Ansicht et- was widersprüchlichen Vorstellungen zum Thema Sie müssen darüber hinaus sehen, daß 800 000 Te- Globalisierung und Zukunftsindustrien darzulegen. learbeiter bei drei Telearbeitstagen pro Woche - also Er hat versucht, zu zeigen, daß nicht nur Herr Schrö- nicht nur zu Hause, sondern kombiniert mit dem Be- der, sondern auch er etwas von Wi rtschaft versteht. trieb - und einer durchschnittlichen Entfernung von 15 km zum Betrieb pro Jahr Fahrtstrecken von zu- (Dr. Peter Glotz [SPD]: Das Thema ist aus sammen 3,2 Milliarden km einsparen. Wenn das kein gereizt!) Beitrag zu einer sauberen Umwelt ist, dann weiß ich es nicht! Allerdings war der Crashkurs, lieber Herr Glotz, ein bißchen kurz. Die Angelegenheit war ja auch erst (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- in der vergangenen Woche. Jedenfalls ist sein Ver- ordneten der F.D.P.) such nicht gelungen. Wenn ich es richtig sehe, hat Herr Scharping gestern verzweifelt versucht, gegen Deshalb werden wir die Mittel für die Informati- Windmühlen in diesem Bereich anzukämpfen. Lieber ons- und Kommunikationstechniken im Haushalt Herr Glotz, erlauben Sie mir, selbst wenn es gestern 1996 erstmals auf über 1 Milliarde DM steigern und abgehakt wurde und alle heute schon herzlich ge- das zum Schwerpunkt unserer weiteren Arbeit ma- lacht haben, meinen Eindruck wiederzugeben: Die chen. Bemühungen der beiden Oppositionsführer - ich (Zustimmung bei der CDU/CSU) weiß gar nicht, ob man das so sagen kann, also der beiden, die für die Opposition geredet haben -, Jeder potentielle deutsche Telearbeitsplatz kon- Scharping und Fischer, wirkten auf mich wie ein kurriert mit Arbeitsplätzen in den USA und an- Kampf gegen Windmühlen. Ich hatte den Eindruck, derswo. In den USA gibt es schon heute 7,6 Millionen Scharping und Fischer sind so etwas wie Don Qui- Telearbeitsplätze. Die fackeln nicht; die ergreifen chotte und Sancho Pansa. Das paßt irgendwie. ihre Chancen beim Schopf. Das müssen wir auch tun. (Vorsitz: Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch) Ich habe gelesen, lieber Herr Glotz, Sie haben ver- sucht, einige Zukunftsstürmer in Ihrer Fraktion dafür Das zeigt, wie verzweifelt versucht wird, neuen Zu- zu begeistern, sich dieses Themas anzunehmen.- kunftsfragen hinterherzulaufen. Man kämpft da ge- Wenn ich es richtig weiß, besteht Ihr Vorschlag darin, gen Windmühlenflügel. Bei Scharping ist das an dem eine neue Untersuchungskommission für Chancen Beispiel der Solarindustrie deutlich geworden. Er hat und Risiken dieser Technologie einzurichten. Ich gesagt, die Bundesregierung habe in dem Bereich habe nichts dagegen. Meine Einschätzung ist aller- alles Notwendige versäumt. Es ist wahr dings, daß wir nicht mehr soviel Zeit haben, abzu- (Lachen und Beifall bei der SPD sowie bei warten, bis eine Untersuchungskommission Chancen Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE und Risiken definiert hat. GRÜNEN) (Widerspruch bei der SPD) - ist ja gut -, wir haben im Bereich der Forschungs- Bis dahin, lieber Herr Glotz, werden wir im Nationa- förderung viel Geld investiert. Aber sich hier hinzu- len Forschungsrat, und zwar noch in diesem Herbst, stellen und zu sagen, wie Herr Scharping das ge- die notwenigen Antworten geben. Sie können sich macht hat, man könne über Forschungsförderung Ar- dann im Anschluß die Chancen und Risiken bestäti- beitsplätze in Deutschland halten, die aus Kosten- gen lassen. und Konkurrenzgründen ins Ausland gehen, zeigt, daß er den Kurs wirklich nicht verstanden hat. Er Meine Damen und Herren, ein zweiter wichtiger weiß einfach nicht, was Globalisierung ist. Technologiebereich ist die Biotechnik. In Europa gibt es Wachstumschancen von heute 38 Milliarden ECU (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge auf 90 Milliarden ECU im Jahr 2000. Dabei geht es ordneten der F.D.P.) um 9 % der Bruttowertschöpfung. Das sind rund Deshalb kann man ihm nur empfehlen, daß er ver- 9 Millionen Arbeitsplätze, über die wir reden. Des- sucht, sich mit den ökonomischen Grundsätzen ver- halb werden wir das Gesamtfördervolumen im Bio- traut zu machen. technologiebereich auf über 900 Millionen DM anhe- ben - und das mit einem klaren politischen Ziel: Wir Die Wahrheit ist, daß der, der Globalisierung sagt, wollen als Bundesregierung, daß Deutschland bis auch Internationale Mobilität von Kapital und Ar- zum Jahre 2000 - ich weiß, daß es hier Widerstände beit akzeptieren muß. Natürlich ist es schlimm, wenn gibt - in der Biotechnologie in Europa die Nummer High-Tech-Firmen aus Deutschland abwandern. eins ist. Aber deutsche Unternehmen können im globalen Wettbewerb nur dann Erfolg haben, wenn sie wie (Wolf-Michael Catenhusen [SPD]: Das sind ihre ausländischen Konkurrenten den internationa- wir doch schon!) len Mix ihrer Betriebsstandorte optimieren. Nur aus Das ist unser Ziel, das wollen wir erreichen. der Stärke des internationalen Erfolgs heraus werden auch deutsche Standorte weiter Investitions- und (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Produktionsstandorte bleiben. Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 52. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. September 1995 4401

Bundesminister Dr. Jürgen Rüttgers Ich habe das auch bei der Investitionsentscheidung Seit dem 4. November 1994 - ich könnte Ihnen das der Firma Siemens in Sachen Chip-Produktion - die vorlesen - spricht die Bundesregierung in mehr als bekannterweise für Schottland erfolgt ist - in Gesprä- einem Dutzend Besprechungen mit den ostdeut- chen, die ich in diesem Zusammenhang geführt schen Landesregierungen über die Frage, wie ein habe, deutlich gespürt. Es ist klar: In diesen High- solches Programm aussehen kann. Wer dann wie Tech-Märkten wird der Standort Deutschland nur Herr Thierse, Herr Ringstorff oder Frau Hildebrandt dann weiter prosperieren, wenn deutsche Firmen hingeht und Leute nach außen im wahrsten Sinne weltweit tätig sein können, um mit dem so erwirt- des Wortes verhetzt, handelt unverantwo rtlich. Ich schafteten Ergebnis die Produktion am teuren Stand- meine, das muß hier deutlich angesprochen werden. ort Deutschland weiter aufrecht zu erhalten. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. - (Wolf-Michael Catenhusen [SPD]: Da hat er Wolf-Michael Catenhusen [SPD]: Das ist un sogar recht!) glaublich! - Weiterer Zuruf von der SPD: „Verhext" ist eine Unterstellung!) Deshalb dürfen wir den Unternehmen, die sich dem globalen Wettbewerb stellen und in die Welt Ich unterstreiche, daß wir uns auch im kommenden hinausziehen, nicht wie Herr Scharping hinterherru- Jahr werden sehr anstrengen müssen. Wir werden im fen: Haltet den Dieb! nächsten Jahr nicht nur 600 000, sondern 630 000 Lehrplätze brauchen. Insofern, Kollege R ixe, ist es ( [CDU/CSU]: Sehr richtig!) richtig und wichtig, daß wir uns auch über struktu- Ich frage Sie: Wie soll das eigentlich geschehen: relle Fragen unterhalten. Die Bundesregierung ist durch Verbot, Bestrafung oder Subvention? Was sind dabei. Ich habe hier dazu schon mehrfach gespro- denn die Mittel, die der Staat in dem Zusammenhang chen. Die Frage, was die Tarifparteien in Tarifverträ- hat, wenn man gleichzeitig, wie wir es heute morgen gen tun können, Zukunftsberufe, Meister-BAföG, erlebt haben, dagegen kämpft, daß mehr Flexibilität, das sind alles Themen, die wichtig sind, bei denen mehr Deregulierung und mehr Privatisierung den wir weiterkommen können und auch weiter in der Standort Deutschland zukunftsfähig machen? Diskussion bleiben. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Herr Minister, Wir müssen für Technologien der Zukunft gleich- gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Oden- zeitig auch die Grundlagen in Bildung und Ausbil- dahl? dung schaffen. Die Bundesregierung steht zu ihrem Wort, daß jeder ausbildungswillige Jugendliche auch- Dr. Jürgen Rüttgers, Bundesminister für Bildung, die Möglichkeit zu einer Ausbildung erhält. Wissenschaft, Forschung und Technologie: Ja. Die Wirtschaft hat ihre Zusage weitgehend schon wahrgemacht, und ich habe keinen Zweifel, daß sie Doris Odendahl (SPD): Herr Minister, ganz abgese- auch die restlichen Ausbildungsplätze im betriebli- hen davon, daß es wohl aller Ehren we rt ist, sich in chen Bereich zur Verfügung stellt. 600 000 war die der Öffentlichkeit zu streiten, und daß man dann Zielmarke. Wir werden dies um 14 500 Ausbildungs- nicht gleich von Verhetzung reden sollte, plätze im Rahmen der Gemeinschaftsinitiative Ost er- (Beifall bei der SPD) gänzen. Das bedeutet für den Bund 420 Mil lionen DM an Bundesmitteln. stelle ich an Sie die Frage: Könnten Sie diesem Hause auch mitteilen, wieviel Prozent aller Ausbil- Der Sachverhalt ist bekannt. Was mich in dieser dungsplätze in Ostdeutschland heute mit öffentli- Sache aber wirklich nervt, ist die Art und Weise, wie chen Mitteln gefördert sind? die öffentliche Debatte geführt wird. Deshalb will ich dazu eine Bemerkung machen. Jeder, der sich mit diesem Thema befaßt, weiß, daß zu frühzeitiges An- Dr. Jürgen Rüttgers, Bundesminister für Bildung, kündigen eines staatlichen Programms betriebliche Wissenschaft, Forschung und Technologie: Die neue Ausbildungsplätze kostet. Jeder, der diese Debatte Zahl kann ich Ihnen noch nicht nennen, weil sie, wie führt, nimmt dies billigend in Kauf und versündigt Sie genau wissen, heute noch nicht vorliegt, liebe sich an unseren Jugendlichen. Frau Kollegin. Die Zahl vom letzten Jahr war 62 %. Wir waren, wenn ich mich richtig erinnere, in diesem (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Hause über alle Parteien hinweg - mit einer Aus- nahme - gemeinsam in dem Ziel verbunden, daß das Besonders perfide finde ich, wenn Leute wie die heruntergefahren werden muß. brandenburgische Sozialministerin Hildebrandt zu einem Zeitpunkt, an dem die brandenburgische Lan- desregierung schon mit dem Bund über das neue Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Gestatten Sie Programm verhandelt, mit Horrorzahlen durch die eine weitere Zwischenfrage des Abgeordneten Rixe? Welt läuft und weiterhin Unternehmer abschreckt, betriebliche Ausbildungsplätze zu schaffen. Sie hat Dr. Jürgen Rüttgers, Bundesminister für Bildung, den Namen Katastrophen-Hilde, wir kennen das. Ein Wissenschaft, Forschung und Technologie: Gerne. solches Handeln ist unverantwortlich, und man darf es auch nicht durchgehen lassen. Günter Rixe (SPD): Herr Minister, können Sie mir (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) sagen, welche Zahl denn jetzt stimmt? Ihr Ministe- 4402 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 52. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. September 1995

Günter Rixe rium hat vor ein paar Tagen eine Presseerklärung Bundesregierung nicht in den alten, traditionellen herausgegeben, nach der nach dem Programm mit Haushaltsmustern verharrt, sondern, wie er gesagt 14 600 Plätzen alle Jugendlichen eine Lehrstelle ha- hat, kreative Lösungsansätze entwickelt hat. Er hat ben. Drei Tage später gibt der Präsident der Bundes- das auf meinen BAföG-Vorschlag bezogen. anstalt für Arbeit, Jagoda, eine Pressekonferenz und sagt, es fehlten in den fünf neuen Ländern noch (Dr. Peter Glotz [SPD]: Was die Grünen alles 30 600 Ausbildungsplätze. Es gibt 6 000 offene Stel- für kreativ halten!) len. Dann verbleiben rund 24 500 fehlende Ausbil- Herr Metzger hat natürlich recht, und ich würde ihm dungsplätze. Nach diesen Berechnungen fehlen also nicht widersprechen. letztendlich noch 10 000 Ausbildungsplätze. Können Sie sich zwischen dem Ministerium und der Bundes- Wir haben natürlich, lieber Herr Glotz, auch Ihre anstalt für Arbeit einmal einigen, welche Zahl denn Vorschläge und die der anderen gewissenhaft ge- jetzt stimmt? prüft. Dazu möchte ich einige Bemerkungen ma- chen, weil sie für die öffentliche Debatte wichtig sind. Dr. Jürgen Rüttgers, Bundesminister für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie: Das Pro- Das erste ist: Keine der genannten Varianten - we- blem ist: Sie haben nicht zu Ende gelesen und nicht der die von Herrn Glotz und/oder die von Herrn zu Ende gerechnet. Scharping, weder die von den Grünen noch die vom Deutschen Studentenwerk - rechnet sich. Wenn man (Günter Rixe [SPD]: Oh doch!) den SPD-Vorschlag, Kindergeld und Steuerfreibe- träge zu streichen, einmal durchrechnet - wenn man - Nein, wirklich nicht. Ich gebe zu, ich habe mich ihn überhaupt für zulässig hält -, ergibt sich, daß er über Jagoda auch furchtbar geärgert. rund 5,3 Milliarden DM bringt. Dem stehen (Günter Rixe [SPD]: Das habe ich mir ge- 3,1 Millionen Auszubildende gegenüber, die eine dacht!) monatliche Grundförderung, Herr Glotz, von 500 DM erhalten sollen. Das macht pro Jahr 18,6 Milliarden Er hätte natürlich wissen müssen, daß er zu dem DM, ergibt also ein Defizit von 13,3 Milliarden DM. damaligen Zeitpunkt mit seiner komplizierten Rech- Herr Glotz, ich frage mich, wie Sie einen solchen nung die Leute verunsichert. Ich habe die Zahlen Vorschlag hier ernsthaft vorlegen konnten. vorher mit ihm genauso wie mit den Ländern abge- stimmt. Die Zahl von 14 500 ist völlig korrekt. Es Die Grünen sind ja wenigstens ehrlich. Sie schrei- kommen noch weitere Programme, wie Sie wissen,- ben in ihren Text hinein: Unser Vorschlag kostet 18 lieber Kollege Rixe, hinzu, z. B. das Benachteiligten- Milliarden DM, die wir noch nicht gedeckt haben. programm nach dem AFG usw. Wenn Sie das alles Diese Summe decken wir durch eine vierprozentige addieren, bleibt unter dem Strich als politisch wichtig Zusatzabgabe, bezogen auf das Einkommen. Das sol- übrig: Die Bundesregierung hat keine Zahl abgezo- len die Leute lebenslang zahlen, um diesen Vor- gen, sie hat keine Zahl selber entwickelt, sondern sie schlag zu finanzieren, und der Bund soll einige Jahre hat das addiert, was die Landesregierungen aus Ost- zwischenfinanzieren. Ich finde das wenigstens ehr- deutschland angemeldet haben. Das ist im Pro- lich. gramm enthalten. Da gibt es nichts zu kritisieren. Aber daß Herr Scharping, wie gestern zu hören Darauf gründet sich meine Aussage. war, sagt, der Vorschlag der SPD sei kostenneutral, (Günter Rixe [SPD]: Wir warten auf das kann ich nicht verstehen. Das ist entweder Roßtäu- nächste Programm!) scherei, oder es zeigt, daß er noch immer nicht rech- nen kann. Das haben wir ja schon einmal erlebt. Vor Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich will ein letz- der Bundestagswahl hat er brutto und netto verwech- tes Thema ansprechen, nämlich das Thema BAföG. selt, und jetzt läuft er schon wieder in eine Tara-Falle hinein. (Vorsitz: Vizepräsident Hans Klein) Wer sich darüber hinwegsetzen und sagen will: Es hat seit einigen Wochen, seitdem ich ein Modell „Es interessiert mich nicht, was das kostet", der muß vorgelegt habe, plötzlich Bemühungen und intensive sich ansehen, wie versucht wird, solche Löcher zu Diskussionen gegeben. Die Tatsache, daß es im stopfen. Hochschulbereich plötzlich Bewegungen gibt, ist ein erster Erfolg, nachdem jahrelang nur lamentiert (Abg. Matthias Berninger [BÜNDNIS 90/ wurde. DIE GRÜNEN] meldet sich zu einer Zwi schenfrage) Mir geht es darum, die Lage der Studenten zu ver- bessern. Das schließt die Verbesserung der Studien- Verzeihung, Herr Bun- bedingungen ein. Liebe Kolleginnen und Kollegen Vizepräsident Hans Klein: desminister. Ich will dem Kollegen nur sagen, daß ich von der Opposition, ich bin in dieser Sache durchaus Sie gar nicht unterbrechen kann, um zu fragen, ob gesprächsbereit. Wir alle wissen, daß wir letztlich zu Sie eine Zwischenfrage zulassen, weil Ihre Redezeit einer gemeinsamen Antwort kommen müssen. Sie eh schon erschöpft ist. werden verstehen, daß ich mich zuerst einmal über die Rede des Grünen-Sprechers Metzger am Diens- tag in der Haushaltsdebatte besonders gefreut habe. Dr. Jürgen Rüttgers, Bundesminister für Bildung, Er hat mich nämlich gelobt. Er hat gelobt, daß die Wissenschaft, Forschung und Technologie: Aber es Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 52. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. September 1995 4403

Bundesminister Dr. Jürgen Rüttgers ist gerade so spannend, Herr Präsident. Von daher geht vor dem Hintergrund der angespannten Finanz- gesehen lassen Sie mich bitte noch einige Bemerkun- lage nur, indem wir Umschichtungen vornehmen. gen dazu machen. Das wäre gut für die Studentinnen und Studenten. Deshalb ist dieses System in sich schlüssig. Herr Glotz hat in seinem Papier vorgeschlagen, daß man dieses Studentengehalt nur einmal bekom- Meine Damen und Herren, ich will wegen der kur- men soll. Liebe Kolleginnen und Kollegen, das hat zen Zeit weglassen, was mit dem Geld alles gemacht z. B. zur Folge, daß diejenigen, die eine Lehre absol- werden kann. Was ich wichtig finde, ist - ich will viert haben und im Anschluß daran studieren, wäh- noch einmal auf Herrn Metzger zu sprechen kom- rend des Studiums nichts mehr bekommen. Das sind men -, daß es in Zeiten knapper Kassen doch geht, 38 % der Studenten. Ich frage mich, wie man einen Innovation durch Kreativität zu erreichen, während solchen Vorschlag machen kann. leider bisher von der Opposition jeweils Innovation durch Konfusion angesteuert wurde. Das Ganze ist auch noch familienfeindlich. Denn wenn man sagt: „Ich wandle das Kindergeld und die Vielen Dank. Steuerfreibeträge um" , dann hat das natürlich zur (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Folge, daß gerade kinderreiche Familien besonders getroffen werden, weil derjenige, bei dem das alles umgewandelt wird, nicht mehr für die Progression Vizepräsident Hans Klein: Ich erteile das Wo rt dem beim Kindergeld, die wir, Herr Finanzminister, mit Kollegen Professor Dr. Peter Glotz. Zustimmung der SPD doch gerade erst neu geregelt haben, in Frage kommt. Dr. Peter Glotz (SPD): Herr Präsident! Meine sehr (Zuruf von der SPD: Das kann man doch re- verehrten Damen und Herren! Die Bundesregierung geln!) hat einen Zukunftsminister berufen. Sie hat in der Koalitionsvereinbarung eine Qualifikations- und In- Es gibt noch etwas ganz Interessantes. Keiner der novationsoffensive angekündigt. Wir Sozialdemo- Vorschläge, die jetzt gemacht worden sind, erreicht kraten haben das eine wie das andere begrüßt. Wir in der Höhe den Betrag, den der Vorschlag der Koali- haben Herrn Minister Rüttgers beim Haushalt 1995 tion und der Bundesregierung für die Studenten aus- mit Samthandschuhen angefaßt, mit dem Argument, macht. Es gibt einen ganz wichtigen sozialpoliti- als neu berufener Minister habe er den Haushalt schen Aspekt. Ich sage das deshalb ganz ernst, weil 1995 nicht wirklich beeinflussen können. ich natürlich gelesen habe, was es an Vorwürfen und an Bedenken gibt. Das eine oder andere davon (Zuruf von der CDU/CSU: Das hat er aber spricht einen ja auch an. gut gemacht!) Ich frage mich: Was ist eigentlich sozialer? Statt Den jetzigen Haushalt konnte er beeinflussen. Ich wie heute Akademikern 20 Jahre ein zinsloses Darle- muß heute feststellen: Die Qualifikations- und Inno- hen zu gewähren, das sie, ohne Zinsen dafür zahlen vationsoffensive findet nicht statt. Sie ist heiße Luft. zu müssen, zurückzahlen, halte ich es für besser, den (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Studenten soviel Geld zu geben, daß sie ordentlich DIE GRÜNEN) und schnell studieren können. Deshalb ist unser Mo- dell viel sozialer als das, was wir im Moment haben. Der Zukunftsminister findet sozusagen statt, aber Denn die Studenten bekommen das Geld dann, bloß als Kommunikator, nicht als Umsetzer. Herr wenn sie es brauchen, nämlich während des Studi- Rüttgers mag der Tag- und Nachtschatten des Bun- ums, und bezahlen es zurück, wenn sie Geld verdie- deskanzlers sein - um Günter Grass zu zitieren. Auf nen. Das, finde ich, ist der richtige Ansatz. seinen Haushalt hat sich das aber noch nicht ausge- wirkt. Der Zukunftsminister ist blaß um die Nase. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Ich spiele hier nicht das alberne Schwarzer-Peter- Wir müssen uns auch darüber klarwerden, über Spiel zwischen Regierung und Opposition und zwi- welche Menschen wir reden. Wir können dann wie- schen Bund und Ländern. Ich weiß wohl, wie tief der die Debatte führen, wer schuld ist. Ich über- auch sozialdemokratische Länder gelegentlich in den nehme dann wieder meinen Teil, liebe Frau Kollegin Bildungshaushalt hineinschneiden. Ich weiß wohl, Odendahl. Wir haben inzwischen die Situation, daß daß auch die SPD angesichts der Staatsverschuldung nur noch 24 % der Studenten BAföG-berechtigt sind. und der Einnahmesituation der öffentlichen Haus- - Bei Realisierung meines Vorschlages geht die Zahl halte nicht beliebig viel Geld für Forschung und Bil- wieder auf 30 % hoch. dung zur Verfügung hätte. Wir wollen jetzt darüber reden, welche Menschen Aber ich sage mit allem Ernst, meine Damen und das sind: Heute fällt man aus der Vollförderung her- Herren, und unter voller Deckung durch meine Frak- aus, wenn man - Vater, Mutter, ein Kind als Schüler tion einschließlich der Haushaltspolitiker: Die deut- und ein Kind auf der Universität - 3 900 DM brutto schen Hochschulen und die deutsche Berufsbildung verdient. sind in einem Zustand, in dem man den Karren nicht weiterlaufen lassen kann wie in den letzten einein- Ich glaube, daß es ganz wichtig ist, daß wir des- halb Jahrzehnten. halb die 6%ige Erhöhung der Freibeträge, plus die 3 %, plus die 4 %, die wir gerade haben, insgesamt (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE 13 % innerhalb von zwei Jahren, gewährleisten. Das GRÜNEN und der PDS) 4404 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 52. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. September 1995 Dr. Peter Glotz Ich neige nicht zu pathetischen Übertreibungen, fung von Arbeitsplätzen und bei der Investition in aber ich fühle mich verpflichtet festzustellen: Wenn Köpfe aber muß Butter bei die Fische. Dies werden wir noch ein halbes Jahrzehnt lang Bildung und For- Sie an der sozialdemokratischen Haushaltspolitik er- schung weiterhin als Haushaltsposten unter Haus- kennen, meine Damen und Herren. haltsposten bewerten, dann sind viele deutsche Hochschulen ruiniert, und die deutsche Berufsbil- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ dung ist halbiert, meine Damen und Herren. DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE Es ist eine Versündigung an den nachkommenden GRÜNEN und der PDS) Generationen, daß diese Bundesregierung auf eine solche Trendumkehr verzichtet. In diesem Punkt helfen die Rechnungen von 1995 auf 1996, die Herr Rüttgers stolz vorträgt, nicht wei- (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Jetzt ist ter. Der Bundesanteil am Bildungsbudget lag 1975 aber ein bißchen viel Pathos dabei!) bei rund 10 %. Jetzt liegen wir weit unter 8 %. Wenn der Bund so wie 1975 weitergemacht hätte - Jetzt, ein knappes Jahr nach Ihrem Amtsantritt, Herr Minister, muß ich das auch an Sie persönlich damals war der Höhepunkt der Finanzierung -, hät- ten wir heute 3 Milliarden DM mehr im Haushalt des adressieren. Wenn Sie sich die Statistiken ansehen, stellen Sie fest: 1991 gibt es eine deutliche Ausbuch- Herrn Rüttgers stehen. tung des Bildungs- und Forschungshaushaltes nach (Zuruf von der CDU/CSU) oben. Ich mache Jürgen Möllemann nur ungern Komplimente, aber ich muß sagen: Das ist die Mölle- - Sie haben durchaus recht. Der Abstieg fing nicht mann-Ausbuchtung. Ich stelle mit Bedauern fest: erst bei Helmut Kohl an. Aber bei Helmut Kohl hat er Eine auch nur einigermaßen vergleichbare Rüttgers sich - und zwar nicht erst ab 1989 wegen der Sonder- Ausbuchtung haben Sie noch nicht zustande bekom- bedingung Wiedervereinigung, sondern bereits ab men, Herr Bundesminister. 1982 - absolut radikalisiert. Sie haben dieses Thema überhaupt nicht wichtig genommen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne (Beifall bei der SPD) ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Die Regierung betreibt ein Zentralgebiet der Poli- Aber trickreicher als Ihre direkten Vorgänger sind tik wie ein Kavallerieregiment die Schreibstube: als Sie schon. Ich meine nichts Negatives, wenn ich Ihre Nebensache. Das ist nicht nur verantwortungslos. Ich- Geschäftsführerraffinesse lobe. Die Idee, Ihren Haus- glaube, es ist auch töricht. halt über Zinszahlungen des einkommensmäßig un- tersten Fünftels der Studentenschaft aufzunorden, ist (Beifall bei der SPD) so hinterlistig - auf bayerisch würde ich sagen, aber Es geht jetzt nicht um den üblichen Zank zwischen das möchte ich Ihnen als rheinischem Menschen Christdemokraten und Sozialdemokraten. nicht zumuten: hinterfotzig -, (Zuruf von der CDU/CSU: Offensichtlich (Bundesminister Dr. Theodor Waigel: Sie aber doch!) Mensch aus Bayern!) Jetzt geht es um den Rang unserer Hochschulen und daß sich einem fast ein gequältes Bewunderungs- um das Überleben eines Systems, das in der ganzen stöhnen entringt. Aber ich füge gleich hinzu: Für Welt berühmt ist, das aber in Gefahr gerät, nämlich viele Studierende würde sich die Rückzahlungs- um die duale Berufsausbildung. Bildung und For- schuld verdoppeln und damit Dimensionen errei- schung müssen wieder den Rang bekommen, den sie chen, die vom Studium abschrecken. beispielsweise unter Bundeskanzler Brandt hatten, oder wir verfehlen alle gemeinsam unsere Verant- Wohin, verehrter Herr Rüttgers, wollen Sie die wortung. Leute eigentlich abschrecken, nachdem auch die Zahl der Ausbildungsplätze im dualen System zu- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne- rückgeht? ten der PDS) Dazu ist auch eine Trendwende beim Bildungs- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne und Forschungshaushalt des Bundes notwendig. Sie ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN haben recht, wenn Sie sagen, Herr Rüttgers, Geld ist und der PDS) nicht alles. Sie haben recht, wenn Sie sagen, der Ihr Plan ist konzeptionslos oder, schärfer ausge- Bund allein kann vieles nicht bewegen. Sie haben drückt, ruchlos. recht, wenn Sie auf die Finanzierungsprobleme hin- weisen. Aber Sie haben unrecht, wenn Sie auf eine (Beifall des Abg. Jörg Tauss [SPD]) neue Prioritätensetzung zugunsten von Bildung und Forschung verzichten. Meine Damen und Herren, wir werden uns überle- (Beifall bei der SPD) gen müssen, wo wir neue Finanzierungsquellen für die Bildung erschließen. Ich glaube auch nicht, daß An unseren Anträgen zur zweiten und dritten Le- alle notwendigen Mittel einfach aus staatlichen sung werden Sie erkennen, daß wir an hundert Stel Haushalten erschlossen werden können. Aber ausge- len Einsparungsvorschläge machen. Bei der Schaf rechnet die untersten 20 % zu kneifen, die sowieso Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 52. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. September 1995 4405

Dr. Peter Glotz schon am meisten gekniffen sind, das ist ganz und Haushalt, das mache ich jetzt ganz schnell, bei den gar unakzeptabel. unteren 20 % kassieren wir ab, und damit sind meine Probleme gelöst. - Das geht nicht, meine Damen und (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne- Herren, jedenfalls nicht mit uns. ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS) (Beifall bei der SPD) Damit bin ich wieder bei der Geschäftsführerraffi- Sie wissen im übrigen ja auch, was die Hochschul- nesse unseres Zukunftsministers. rektorenkonferenz, das Deutsche Studentenwerk, die Gewerkschaften und selbst unionsgeführte Län- (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Ihr wärt der zu Ihrem Patentrezept sagen. Reden Sie mit uns, froh, wenn ihr solche hättet!) bevor Sie mit Karacho in die Sackgasse fahren. Er weiß natürlich, daß er mit seiner BAföG-Um- Hier bin ich sozusagen beim Cantus firmus dieser schichtung an den sozialdemokratischen Ländern im Haushaltsdebatte im Forschungs- und Bildungsbe- Bundesrat scheitert. Deswegen will er die Länder reich. Mein Plädoyer lautet: Trauen Sie sich Komple- nach dem Motto „Mit Speck fängt man Mäuse" kö- xität zu, Herr Rüttgers. Die Probleme des Ressorts, in dern und sperrt zusätzliche Mittel für Hochschulbau, dem Sie arbeiten und in dem wir arbeiten, sind nur Forschungsorganisation oder Hochschulsonderpro- durch neue Ideen lösbar, nicht durch Schlaumeie- gramme qualifiziert. reien. Ich möchte das an zwei Beispielen verdeutli- (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Das stimmt chen. gar nicht!) Erstes Beispiel: Schon seit einigen Jahren werden Hinter diesem Konzept steht die Anthropologie von die notwendigen Ausbildungsplätze im dualen Sy- Pferdehändlern. Ich prophezeie Ihnen, Herr Bundes- stem nur noch mit Preßwehen geboren. Die Regie- minister: Mit diesem Zaubertrick werden Sie schei- rung macht große Appelle. Die Opposition weist tern. Was wir jedenfalls dazu beitragen können, daß pflichtgemäß auf die Defizite hin. Die Regierung be- Sie im Bundesrat scheitern, das werden wir tun. schimpft die Opposition wegen angeblicher Schwarzmalerei. Am Schluß wurde das Problem (Beifall bei Abgeordneten der SPD) dann, jedenfalls bisher, mit Ach und Krach gelöst. Selbstverständlich beschränken wir uns nicht auf Wir wünschen uns gemeinsam, daß es auch dieses bissige Kritik. Wir haben Ihrem Vorschlag einen eige- Jahr gelingen möge. Ihr Sonderprogramm für 14 500 nen entgegengestellt, den Sie heute mit fragwürdi- außerbetriebliche Ausbildungsplätze mag ja dazu gen und von der Öffentlichkeit schwer kontrollierba- - beitragen. Es gibt aber keinen Anlaß, die Opposition ren Rechnungen zu konterkarieren versucht haben. zu beschimpfen und einen Kollegen wie den Kolle- gen Thierse mit dem Begriff „verhetzen" zu belegen. (Zuruf von der CDU/CSU: Gleichwohl Herr Kollege Rüttgers, diesen Beg riff sollten Sie richtig!) wirklich aus der Debatte nehmen. - Nein, nicht gleichwohl richtig. Der Grundtatbe- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne stand, auf den wir hinweisen, ist der folgende. Sie ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN haben einen ordentlichen Professor an einer Univer- und der PDS - Zuruf von der SPD: Wider sität eines unserer Bundesländer. Er ist mit einer -lich!) Oberstudienrätin verheiratet. Herr Kollege Rüttgers, es ist absehbar, daß irgend- (Bundesminister Dr. Theodor Waigel: Das wann der Zeitpunkt kommt, ab dem auf diese Weise gibt es tatsächlich!) die Probleme nicht mehr lösbar sind. Jetzt sage ich: Er sagt einem - jetzt passen Sie einmal auf -: Mein Beenden Sie doch den jährlichen Eiertanz, und den- Sohn ist mit 27 Jahren jetzt gerade fertig geworden. ken Sie mit uns gemeinsam über einen überbetriebli- Wissen Sie, was mir im Budget fehlt? 700 DM. chen Leistungsausgleich zur Rettung des dualen Sy- stems nach. Ich will keine klassenkämpferisch moti- Das heißt, ein Ehepaar mit diesem Einkommen hat vierte Abgabe. Wir wollen eine pfiffige Lösung, die Bildungstransfers - Kindergeld, Kinderfreibeträge uns diesen jährlichen Eiertanz erspart. Muten Sie und anderes - von 700 DM. Das, meine Damen und sich Komplexität zu, und diskutieren Sie mit uns, wie Herren, ist in der Tat unnötig. Von diesem Geld kann man eine Politik der pathetischen und immer wir- man ein ganzes Stück von dem finanzieren, was Herr kungsloseren Appelle an die Wi rtschaft durch eine Rüttgers den ärmsten 20 % der Studenten wegneh- Politik der intelligenten Anreize ablösen kann. men will. Das ist der Grundgedanke. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne- ten der PDS) ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Mein zweites Beispiel zielt auf das Thema Risiko- Dann ist die Frage, ob man a llen, die eine Ausbil- kapital für junge Technologieunternehmen. Da dungsvergütung bekommen, die berühmten 400 DM stimmen wir beide in der Rhetorik deckungsgleich oder 500 DM gibt. Ich gebe Ihnen recht: Da muß man miteinander überein. Das Problem ist nur: Weil Sie genau rechnen, ob es 380 DM oder 500 DM sind. Zu wissen, daß man zu einem wirksamen Programm den dieser gemeinsamen Rechnung sind wir ja bereit. Finanzminister, den Wirtschaftsminister, die Justizmi- Aber dann müssen auch Sie dazu bereit sein und nisterin, die Banken und noch viele andere Pa rtner dürfen nicht einfach nur sagen Das steht in meinem braucht, fassen Sie das heiße Eisen gar nicht an. Ich 4406 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 52. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. September 1995

Dr. Peter Glotz sage Ihnen: Nichts gegen Geschäftsführergeschick- Steffen Kampeter (CDU/CSU): Herr Präsident! lichkeit und gegen Vermittlungsausschußlogik; aber Meine sehr verehrten Damen und Herren! Mit der als Zukunftsminister werden Sie damit nicht durch- Vorlage des Etats für 1996 wird im Bereich des Bun- kommen. desministeriums für Bildung, Wissenschaft und For- schung erstmals ein Zahlenwerk vorgelegt, das auch In dieser Bundesrepublik ist es derzeit so: Alle re- haushälterisch die Vereinigung von zwei unabhängi- den von Innovation, aber sie passiert nicht. Ich habe gen Ministerien zu einem Zukunftsministerium voll- Ihnen vor einem Jahr jede Kooperation im Hinblick zieht. War der Haushaltsentwurf 1995 lediglich die auf ein vielfältiges Innovationsprogramm angebo- Zusammenfassung ehemals separater Etats, so ha- ten. Es müßte viele Elemente umfassen: Förderung ben wir es jetzt hier mit einem gemeinsamen, inte- von „start up and seed capital", verbesserte Ab- grierten Etat für Bildung, Forschung, Wissenschaft schreibungsmöglichkeiten für junge Technologieun- und Technologie im vereinten Deutschland zu tun. ternehmen, Änderungen von Steuersätzen, Reform des Insolvenzrechts. Ja, das ist schwierig, das ist Die bereits mit dem Etat 1995 eingelöste Zusage komplex. Aber wenn Sie sich Komplexität nicht zu- des Bundeskanzlers für Zuwächse in den Bereichen trauen, werden Sie in diesem Ressort scheitern, Herr Forschung und Technologie wird auch mit dem Etat- Rüttgers. entwurf für 1996 verwirklicht. Mit einem Gesamtvo- lumen von rund 15,5 Milliarden DM ist dieser Einzel- Für die sozialdemokratische Bundestagsfraktion plan der fünftgrößte im Bundeshaushalt, und trotz stelle ich fest: des sinkenden Gesamtvolumens des Bundeshaus- halts für 1996, Herr Kollege Glotz, steigen die Ausga- Erstens. Wir fordern die Bundesregierung auf, der ben dieses Etats immerhin noch um 2,3 %. Forschungs- und Bildungspolitik nicht nur in Sonn- tagsreden - das tun alle -, sondern auch in der tägli- Die Mittel für die Förderung von Forschung und chen Politik und beim Haushalt eine neue Priorität zu Technologie steigen gegenüber 1995 innerhalb die- geben. Die Qualität unserer Bildungseinrichtungen ses Etats überproportional mit einem Satz von 2,8 %. ist nun wirklich wichtiger als die Verschickung ir- Das ist immerhin eine Steigerung gegenüber der bis- gendwelcher Tornados irgendwohin und manches herigen Finanzplanung in Höhe von 275 Millionen andere, was von dieser Regierung für wichtig ge- DM allein im Jahr 1996. nommen wird. (Zuruf von der SPD: Das ist gerade die In flationsrate!) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne- ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN - Somit wird zumindest für die eine Seite des Hauses und der PDS) klar, daß der hohen politischen Bedeutung, die die- sem Politikbereich im gesamten Haus eingeräumt Zweitens. Die Probleme von Bildung und For- wird, auch eine entsprechende Würdigung im Haus- schung sind angesichts leerer Kassen nicht durch cle- halt des Bundes gegenübersteht, und dies vor dem vere Zauberkunststücke, sondern nur durch an- Hintergrund von umfassenden Kürzungen in den spruchsvolle und zugegebenermaßen schwer zu be- Länderetats. Ich erinnere daran, was sich z. B. in Nie- werkstelligende Reformkonzepte lösbar. Sie müssen dersachsen in der Forschungslandschaft abspielt. Sie sich Komplexität zutrauen und Ihr ganzes Kabinett können somit auch Unterschiede zwischen sozialde- für die Bildungsreform gewinnen. Wenn Sie es als mokratischer und der hier von der christdemokra- Einzelkämpfer versuchen, müssen Sie scheitern. tisch-liberalen Koalition vertretenen Forschungs- und Bildungspolitik eindeutig erkennen. Drittens. Entweder bringen wir gemeinsam - der ganze Bundestag - durch Veränderung der Rahmen- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) bedingungen Bewegung in unsere erstarrte Indu- strie, oder die Arbeitslosigkeit wird in der Tat immer Wenn Sie, Herr Kollege Glotz, in Ihrem Debatten- schlimmer werden. Wo gibt es in der Bundesrepublik beitrag zu diesem Bereich davon sprechen, wir ver- Unternehmen, die jünger als 20 Jahre sind und bei- sündigten uns an etwas, dann ist das nicht nur mit spielsweise einen Umsatz von mehr als 500 Millionen übermäßigem Pathos ausgestattet, sondern es zeigt DM haben? Wo sind die deutschen Entsprechungen auch, daß man einen Politikbereich auch kaputtzure- zu Apple oder Compaq? Jetzt könnte ich noch eine den versuchen kann. Sie haben dann auch noch die ganze Reihe von anderen Namen nennen. Tornados mit dem Bildungsbereich in Zusammen- hang gebracht. So etwas fand ich schon zu der Zeit, Meine Damen und Herren, der Zukunftsminister - als ich studiert habe und als es um die Pershings das ist mein letzter Satz - darf die Zukunft nicht nur ging, die gegen die Bildungsausgaben hochgerech- beschwören, er müßte sie gestalten. net worden sind, ausgesprochen billig. Daß Sie sich auf dieses Niveau herablassen, verwundert mich Herzlichen Dank. doch sehr. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Die Schwerpunktsetzung für den Haushalt 1996 ist DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der klar und eindeutig: 4,6 Milliarden DM für Hoch- PDS) schule, Bildung und Berufsbildung, 5,2 Milliarden DM für Wissenschaft und Forschung, 4,3 Milliarden DM für die Projektförderung und 1,5 Milliarden DM Vizepräsident Hans Klein: Kollege Steffen Kampe- für die internationale Forschungskooperation und die ter, Sie haben das Wo rt . europäische Weltraumforschung. Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 52. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. September 1995 4407

Steffen Kampeter Wichtige Positionen in diesem Haushaltsentwurf Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang einiges betreffen die Verwirklichung zentraler Reformvor- zu den Ausführungen zur BAföG-Reform sagen, die haben wie BAföG, Meister-BAföG und Hochschul- Sie, Herr Glotz, hier vorgetragen haben. Ich war eini- baureform. Das sind ehrgeizige Vorhaben, für die im germaßen erstaunt, daß Sie hier vor dem Deutschen Vergleich zu den Mitteln, die wir bisher in der mittel- Bundestag behauptet haben, die Rückzahlung treffe fristigen Finanzplanung vorgesehen hatten, mehr die Ärmsten der Ärmsten. Ich bin BAföG-Student ge- Spielräume für Ausgaben in diesem Bereich geschaf- wesen. Mein akademisches Ausbildungsende liegt fen werden. mehr als vier Jahre zurück. Sie können nicht sagen, daß ich, wenn mich jetzt die Rückforderung trifft, zu Ich möchte allerdings davor warnen, daß wir die den Ärmsten der Ärmsten gehöre. Bedeutung dieses Politikbereichs allein an den Haus- haltszahlen ablesen. Sie können ein günstiges Inno- Das Modell, das Sie hier verzerrt dargestellt haben, vationsklima in Deutschland nicht allein über einen sieht vier Jahre nach dem Ausbildungsende unter Etat steuern. Sie können Technologiefreundlichkeit Zugrundelegung von Sozialklauseln eine Rückzah- oder -feindlichkeit von Menschen nicht mit Millionen lung des BAföG-Darlehens vor, und zwar lediglich beeinflussen, und Sie können handwerkliches Kön- die Hälfte und teilweise verzinst. nen nicht ohne das Zutun von privaten Unternehmen fördern. Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Kampeter, Wir sind alle aufgefordert, deutlich zu machen, daß der Herr Kollege Glotz würde Ihnen gerne eine Zwi- im Bereich Bildung, Forschung, Wissenschaft und schenfrage stellen. Technologie eine der Schlüsselaufgaben für die Ge- staltung der Politik im nächsten Jahrtausend liegt, und ich glaube, dieser Etat für 1996 ist dafür eine Steffen Kampeter (CDU/CSU): Ich möchte diesen gute, eine solide Grundlage. Gedanken kurz noch zu Ende führen. (Zuruf von der SPD: Das ist eben der Irrtum!) (Günter Rixe [SPD]: Du hast doch keinen Gedanken richtig drauf!) Lassen Sie mich einiges darüber sagen, wie For- schung in Arbeitsplätze umgewandelt wird, was ja Herr Rixe, damit schaffen wir u. a. auch Mittel, die ein ganz wesentliches Ziel unserer Förderpolitik ist. die vom Handwerk geforderte Meisterausbildung Deswegen wird auch im Etat für 1996 gerade auf die oder das Meister-BAföG entsprechend finanziell aus- Förderung von kleinen und mittleren Unternehmen statten. Ihre Handwerksorganisation hat heute doch ein besonderer Akzent gesetzt. Sie wird mit rund- großspurig gefordert, es müsse noch einmal kräftig 630 Millionen DM weiter aufgestockt. Die mittel- nachgelegt werden. Nur, irgendwo müssen die ent- standsbezogene Innovationsförderung wächst um sprechenden Finanzierungsspielräume geschaffen knapp 20 %, denn kleine und mittlere Unternehmen werden. setzen Forschung rascher am Markt um und schaffen im Vergleich zu industriellen Investitionen mehr Ar- Diese BAföG-Reform schafft 1,6 Milliarden DM für beitsplätze. den Bund und knapp 800 Millionen DM für die Län- der. Das sind zusätzliche Mittel, aufgebracht von Minister Rüttgers hat in seiner Etatrede das Lehr- denjenigen, die nach abgeschlossenem Studium in stellenprogramm für die neuen Länder erläutert. Lohn und Brot stehen: Ärzte, Rechtsanwälte, Diplom Eine Zeitung übertitelte kürzlich einen A rtikel zur Ingenieure, zahllose andere Berufsgänge. Darum Lehrstellensituation: „Ausbildung als Eintrittskarte kann man doch nicht behaupten, das sei das Abkas- in die Zukunft". Die politisch relevante Frage scheint sieren bei den Ärmsten. in diesen Tagen zu sein: Wer zahlt für diese Eintritts- karte? Es darf kein dauerhaft beschrittener Weg sein, daß der Staat die Kosten für Ausbildung übernimmt. Vizepräsident Hans Klein: Bitte, die Zwischen- frage. Ausbildung ist und bleibt zentrale Aufgabe der Wirtschaft. Schließlich ist die Qualifikation einer der wenigen unbestrittenen Vorzüge des Wirtschafts- Dr. Peter Glotz (SPD): Herr Kollege, würden Sie standorts Deutschland. mir zugestehen, daß ich nicht von den Ärmsten der Armen gesprochen habe, sondern von den einkom- Das hier jetzt vorgeschlagene Lehrstellenpro- mensmäßig unteren 20 % der Studentenschaft? gramm erfüllt allerdings in bestimmten Regionen, wo wir Engpässe haben, die wir zur Kenntnis genom- Würden Sie zweitens konzedieren, daß wir die men haben, und jetzt politisch handeln, auch die Zu- Sorge haben, daß Leute, die dann das Doppelte von sage des Bundeskanzlers, daß für die Jugendlichen dem zahlen müssen, was sie jetzt zahlen, vom Stu- im Osten die notwendigen Ausbildungsperspektiven dium abgeschreckt werden könnten und daß dieser genutzt werden. negative Effekt absolut nicht beabsichtigt sein kann? Die Finanzierung dieses Lehrstellenprogramms stellt eine wichtige Querschnittsaufgabe über alle Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Glotz, Sie Etats des Bundeshaushalts dar. Aus ordnungspoliti- haben es durch das Nichtdrücken des Knopfs am Mi- scher wie aus haushälterischer Sicht kann es jedoch krofon den Stenographen ein bißchen schwerge- nicht Daueraufgabe sein, Lehrstellenprogramme au- macht, aber vor allem die übrigen Kollegen um den ßerbetrieblicher A rt zu finanzieren. Genuß Ihrer Äußerungen gebracht. 4408 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 52. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. September 1995

Steffen Kampeter (CDU/CSU): Herr Kollege Glotz, Vizepräsident Hans Klein: Sind Sie auch bereit, ich wiederhole: Zum Zeitpunkt der Rückzahlung, eine Anschlußfrage des Kollegen Koppeln zu beant- vier Jahre nach Beendigung des Studiums, kann eine worten? solche Qualifikation doch wirklich nicht mehr zutref- fen. Ich konzediere gerne, daß Sie gesagt haben, das Steffen Kampeter (CDU/CSU): Selbstverständlich. seien die Ärmsten unter den Studenten.

Sind Sie wie ich nicht auch der Meinung, daß Jürgen Koppelin (F.D.P.): Kollege Kampeter, wären man sich vier Jahre nach seinem Studienende, nach Sie vielleicht auch bereit, sich unseren Vorstellungen einem abgeschlossenen akademischen Studium, über einen Zinssatz in Höhe von, sagen wir, 4 % plus durchaus in der Lage sehen sollte, für einen minde- 1 % Bearbeitungsgebühr anzunähern? stens um 50 % reduzierten Darlehensbetrag einen marktüblichen Zins zu zahlen? Genauso mußte bis- (Wolf-Michael Catenhusen [SPD]: Die F.D.P. lang ein Handwerksmeister, der vollzeitschulisch ist das soziale Gewissen der Koalition! Das seine Meisterschulung gemacht hat, in der Regel ei- ist schön! - Weitere Zurufe von der SPD) nen Kredit aufnehmen, um an dieser Ausbildung teil- - Ich habe Herrn Kampeter gefragt, nicht euch. nehmen zu können. (Beifall bei der CDU/CSU) Steffen Kampeter (CDU/CSU): Meine Antwort: Schauen wir mal. Das entspricht doch einem dringenden Gebot der Gerechtigkeit gegenüber denjenigen, denen wir bis- (Heiterkeit bei der CDU/CSU) her keine staatliche Ausbildungsfinanzierung, keine Ein weiteres, ganz wichtiges Element dieser BA- staatliche Unterstützung haben zuteil werden lassen. föG-Strukturreform ist die Verknüpfung mit den Re- Deswegen finde ich dieses Modell unterstützens- formüberlegungen zum Hochschulbau. Ich halte das wert. sachlich für ausgesprochen wichtig und richtig. Die (Beifall bei der CDU/CSU - Dr. Peter Glotz Vorschläge des Bundes liegen auf dem Tisch. Sie ha- [SPD]: Das Abschreckungsargument haben ben gestern in der Etatrede des Bundesfinanzmini- Sie nicht aufgegriffen!) sters noch einmal die Eckpunkte vernehmen können: Beschränkung der Förderung auf Großvorhaben - Als das BAföG von Vollzuschuß auf unverzinstes durch die Erhöhung der seit 25 Jahren unveränder- Darlehen umgestellt worden ist, Herr Kollege Glotz, ten Bagatellgrenze und Reduzierung des hohen An- hat es diesen Abschreckungseffekt auch nicht gege- teils an Bauvorhaben und Großgeräten für den Medi- ben. Die Unterschiedsbeträge - Sie müssen das ein- zinbereich, in dem es ja überwiegend um die allge- mal auf einen Monat herunterrechnen; Sie reden im- meine medizinische Versorgung und nicht vorrangig mer vom Verdoppeln; das klingt sehr imposant - wer- um Forschung und Lehre geht. den eine solche Abschreckung nicht auslösen. Ich will Ihnen einmal eine Zahl nennen, die in die- sen Tagen in der Presse zu lesen war: 1993 flossen Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Kampeter, bei Gesamtausgaben in einer Höhe von 44,7 Milliar- der Kollege Koppelin würde ebenfalls gerne eine den DM 20,4 Milliarden DM der Hochschulausgaben Zwischenfrage stellen. in die Medizinerausbildung und die Universitätskli- niken. Ich gönne jedem Medizinstudenten und je- dem praktizierenden Arzt die Gelder, die für seine (CDU/CSU): Ich freue mich na- Steffen Kampeter Ausbildung aufgewandt werden. Bei der Reform des türlich über jede Zwischenfrage, da sie meine Rede- Hochschulbaus muß aber auch die Frage erlaubt zeit verlängert, Herr Präsident. sein, ob ein so hoher Anteil nicht ein Indiz dafür ist, daß Teile der Ausgaben, die eigentlich im allgemei- Jürgen Koppelin (F.D.P.): Wenn etwas Vernünfti- nen Gesundheitsetat etatisiert werden müßten, von ges dabei herauskommt, ist das in Ordnung. den Sozialversicherungskassen aufgebracht werden müssen und von den Mitteln für Forschung, Bildung, Kollege Kampeter, Sie haben vom marktüblichen Wissenschaft und Technologie abgezogen werden. Zinssatz gesprochen. Teilen Sie meine Auffassung, daß wir darüber sicher noch einmal reden müssen? Darüber müssen wir bei der Reform reden. Es müs- sen auch einmal Tabus angegangen werden; denn (Zurufe von der SPD: Aha!) das ist eine sehr verkrustete Geschichte. Durch ein vollkommen unideologisches und pragmatisches Herangehen an eine Reform des Hochschulbaus wer- (CDU/CSU): Die Antwort auf Steffen Kampeter den wir neue Mittel für diesen Bereich freisetzen diese Frage ist: Ja. Selbstverständlich wird im Ge- können. setzgebungsverfahren noch einmal über jedes Detail zu reden sein. Es gibt ja noch nicht einmal einen Ka- (Eckart Kuhlwein [SPD]: Was sagt denn binettsbeschluß. Herr Kollege Koppelin, natürlich Herr Seehofer dazu? Haben Sie ihn einmal werden wir und die Kollegen im Fachausschuß noch gefragt?) sehr, sehr intensiv und umfassend darüber reden. - Herr Seehofer wird genauso wie ich mit Interesse (Jürgen Koppelin [F.D.P.]: Darf ich noch die Zahl zur Kenntnis genommen haben, daß knapp eine weitere Frage stellen?) die Hälfte der Ausgaben in diesem Bereich dafür ge- Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 52. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. September 1995 4409

Steffen Kampeter tätigt wurden. Wenn ich lediglich den Hochschulbau es dürften auf gar keinen Fall Kürzungen bei der behalte, ist das ungefähr ein Drittel, und da werden Luft- und Raumfahrt vorgenommen werden. eben nicht nur Lehre und Forschung bet rieben. Dar- über muß man reden. Es muß eine Lösung gefunden (Wolf-Michael Catenhusen [SPD]: Da sind werden, die beiden Seiten gerecht wird. sich doch die Baye rn in der Fraktion einig!) Auf der einen Seite erklärt Frau Tidick, SPD, in ei- Meine sehr verehrten Damen und Herren, lassen nem Bundesland, man müsse runter mit der Raum- Sie mich abschließend noch zu einem anderen fahrt. Herr Schwanhold erklärt - wahrscheinlich vor Thema Stellung nehmen, nämlich zur Situation der Vertretern von Bet riebsräten und Vorstandsmitglie- deutschen Luft- und Raumfahrtindustrie. Die deut- dern der DASA -, man dürfe auf keinen Fall runter- sche Luft- und Raumfahrtindustrie ist aus Sicht die- gehen. Meine sehr verehrten Damen und Herren, ser Koalition eine der strategischen Schlüsselindu- das ist politisch doppelzüngig. Ich würde das als strien für die Zukunft. Wir haben deshalb im vergan- Heuchelei charakterisieren. genen Jahr mehr als 2 Milliarden DM aus dem Bun- desetat aufgewendet, um Maßnahmen in diesem Be- Wir stehen zur deutschen Luft- und Raumfahrtin- reich zu unterstützen. dustrie, und das machen wir mit dem Etat 1996 deut- lich. Im Oktober findet in Toulouse die Ministerratssit- zung über die europäische Raumfahrt statt. Auf ihr (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) soll konzeptionell und finanziell entschieden werden, Meine sehr verehrten Damen und Herren, ein Fa- wie es mit der europäischen Raumfahrtskoopera- zit: Zukunft ist auf dem Expansionskurs. Das kann vorrangig zwischen Deutschland, Frankreich, tion, man an dem leistungsfähigen Minister, an den guten Italien, aber auch weiteren europäischen Ländern, Etatzahlen ablesen. Wir werden in den Haushaltsbe- weitergehen soll. Auf Grund von Meldungen über ratungen allerdings die einzelnen Titel noch mal die wi schaftliche Lage des größten deutschen Luft- rt kräftig auf den Kopf stellen. Dann glaube ich, daß im und Raumfahrtkonzerns ist die politische Debatte Ergebnis für eine gute Zukunft in Bildung, Wissen- über die Zukunft dieses Industriezweiges wieder auf- schaft, Forschung und Technologie eine gute Grund- geflammt. lage gelegt ist. Mit den im Etat ausgewiesenen Mitteln leisten wir Herzlichen Dank. einen soliden Beitrag für die Zukunft der deutschen Luft- und Raumfahrtindustrie. Dies sollte von den (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Unternehmen anerkannt werden. Ich erteile dem Kollegen (Beifall bei der CDU/CSU) Vizepräsident Hans Klein: Dr. Manuel Kiper das Wort. Für unternehmerisches Versagen, egal wo, wollen wir allerdings keine staatlichen Mittel aus dem Bun- Dr. Manuel Kiper (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): deshaushalt zur Verfügung stellen. Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Herr Rüttgers hat auf die lobenden Die Haushälter erwarten vom Ministerrat in Tou- Worte meines Fraktionskollegen Bezug genommen. louse ein eindeutiges politisches Signal für die Zu- Wir haben nichts gegen Kreativität, aber wir haben kunft der europäischen Raumfahrt, die Grundlage wohl etwas dagegen, wenn auf dem Rücken der Stu- für die Festsetzung dieses Haushaltstitels sein wird. denten Zinszahlungen eingetrieben werden sollen, Das Interesse der Luft- und Raumfahrtindustrie um damit den Hochschulbau zu finanzieren. Dage- scheint auch bei denjenigen wieder erwacht zu sein, gen haben wir sehr wohl etwas, und das hat Herr die sich bisher durch Skepsis auszeichnen. Rüttgers nicht gesagt. Aber ich will mal zitieren, was die schleswig-hol- (Bundesminister Dr. Jürgen Rüttgers: Der steinische Wissenschaftsministerin Tidick vor kurzem Metzger nicht!) zu Protokoll gegeben hat. Sie forde rt nämlich in be- zug auf diese Etatverhandlungen, daß wir den Be- Herr Minister, Sie haben bereits dargestellt, daß reich Luft- und Raumfahrt kräftig absenken, um an- sich der Vorschlag der Grünen angeblich nicht dere Forschungs- und Bildungsaufgaben zu finanzie- rechne. Sie lassen sich zwar gerne als Zukunftsmi- ren. Gemeint sind diejenigen, für die sie im eigenen nister hofieren, aber woher nehmen Sie eigentlich Landeshaushalt offensichtlich kein Geld mehr hat. die Informationen über einen Vorschlag der Grünen zum BAföG? Wir werden morgen im Arbeitskreis dar- Wenige Tage später lese ich ganz etwas anderes - über befinden. Wir werden vielleicht in vierzehn gleiche Partei, aber anderer Kopf. Da erklärt der Kol- Tagen auf Bundesebene einen Parteibeschluß her- lege Schwanhold neben der Kollegin Skarpelis- beiführen. Aber worauf stützen Sie sich denn bei Sperk und der Kollegin Janz unter der Überschrift Ihren Behauptungen, unser Vorschlag rechne sich „Bundesregierung muß ein Konzept für Luft- und nicht? So sehr können Sie offensichtlich noch nicht in Raumfahrtindustrie vorlegen", die Zukunft sehen. (Zuruf von der SPD: Ab und zu hellsehen!) (Wolf-Michael Catenhusen [SPD]: Das ist doch schon ganz gut!) - Von wegen hellsehen. 4410 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 52. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. September 1995

Dr. Manuel Kiper Ich bitte Sie, an uns heranzutreten. Wir möchten weil wir eine seriöse Finanzpolitik machen, und daß Sie gern mit den Vorschlägen, die wir entwickeln wir im Moment Diskussionsvorschläge, die er irgend- und beschließen werden, füttern und sie Ihnen über- woher gekriegt hat, zunächst einmal zur Diskussion reichen. Aber das wird noch ein wenig dauern. Diese stellen? Ich denke, wir sollten die Regierung hier Zeit müssen Sie abwarten. noch ein bißchen geduldig auf den Vorschlag warten lassen, wie wir das finanzieren.

Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege, der Kol- (Lachen bei der CDU/CSU, der SPD und lege Kampeter würde Ihnen gerne eine Zwischen- der F.D.P. - Clemens Schwalbe [CDU/CSU]: frage stellen. Geschäftsordnung!)

Dr. Manuel Kiper (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ja. Dr. Manuel Kiper (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Berninger, ich bin mit Ihnen selbstverständlich Steffen Kampeter (CDU/CSU): Herr Kollege, wie einer Meinung, daß wir unsere Politik, auch was die würden Sie in diesem Zusammenhang dem Hohen Finanzen anbelangt, solide unterfüttern und von da- Haus erläutern, was der Kollege Berninger, Mitglied her den Zeitpunkt abwarten müssen, bis wir ent- der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, vor eini- schieden haben. Herr Kampeter wird sich so lange gen Tagen vorgeschlagen hat: Man solle bis zu einer gedulden müssen. Höchstförderungsdauer von zwölf Semestern eltern- unabhängig 1 000 DM pro Monat erhalten - Teilkom- (Beifall des Abg. Steffen Kampeter [CDU/ pensation über Kindergeld, Ausbildungsfreibeträge, CSU]) über BAföG -, dann werde der Solidaritätszuschlag nicht abgesenkt, sondern durch einen Ausbildungs- zuschlag in Höhe von 4 % vom Bruttoeinkommen Vizepräsident Hans Klein: Entschuldigung! Ich nach Abschluß der Ausbildung gegenfinanziert. Wie darf eben an die Adresse des Kollegen Schwalbe sa- wollen Sie die Ausgaben, bis die ersten nach Ende gen: Die affirmative Form der Fragestellung ist keine eines Studiums zurückzahlen, decken? Wir geben Spezialität der Grünen; das machen auch andere derzeit im Jahr einen Bundesanteil von 2 Milliarden Fraktionen. DM für Studenten-BAföG aus. So kämen Sie nach drei, vier Jahren auf eine Unterdeckung von rund (Clemens Schwalbe [CDU/CSU]: Kein Ein 10 Milliarden DM. Theo Waigel macht sehr viel mög- spruch!) lich, aber die 10 Milliarden DM zu finanzieren dürfte - schon ein wenig schwierig sein. Bitte fahren Sie fort.

(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Dr. Manuel Kiper Dr. Manuel Kiper (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Kampeter, wir werden hier auch eine bildungs- Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, es politische Debatte führen. Auch über das BAföG geht hier aber um ganz andere Dinge, die Herr Mini- werden wir hier wieder diskutieren; wir haben schon ster Rüttgers uns heute hier vorgestellt hat und die wiederholt darüber diskutiert. Sie werden dann Ge- der Einzelplan 30 dieses Haushalts behandelt. Wenn legenheit haben, Herrn Berninger, meinen Fraktions- hier jetzt so getan wird, als ob mit den 80 Millionen kollegen, dazu auch direkt zu befragen. DM aus den Zinszahlungen der Studenten die Hoch- Ich kann hier nur soviel sagen: Natürlich hat Herr schullandschaft neu belebt werden könnte, möchte Berninger das Recht, mit Vorschlägen in die Diskus- ich die Frage an den Minister richten, warum er nicht sion zu gehen. Wir haben in unserer Fraktion im Au- auf den FRM-II, den neuen Reaktor in Garching, ver- genblick verschiedene Vorschläge, über die wir in ei- zichtet. Dafür werden mehr Hochschulbaumittel ver- nem demokratischen Verfahren entscheiden werden. plant, als hier auf Kosten der Studenten wieder ein- Wir werden in der Tat versuchen, das BAföG auf eine getrieben werden sollen. solide Grundlage zu stellen. (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Das ist ein alter Hut!) Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege, auch der Kollege Berninger würde Ihnen gerne eine Zwi- Herr Minister, es gibt noch andere Milliardengrä- schenfrage stellen. ber in diesem Haushalt. Ich erinnere nur an den Transrapid: Sie können natürlich die 90 Millionen DM für den Transrapid einsparen. Sie können an an- Dr. Manuel Kiper (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ja, bitte sehr. derer Stelle, auch bei der Weltraumforschung, spa- ren. Die Weltraumforschung wird von unserer Frak- tion zwar nicht insgesamt in Frage gestellt, aber wir Matthias Berninger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): möchten Sie auffordern: Seien Sie mutig! Beenden Lieber Kollege Kiper, würden Sie mir darin zustim- Sie das Programm der bemannten Weltraumfahrt! men, daß wir den Kollegen Kampeter noch ein biß- Sie ist ein Relikt der 60er, 70er und 80er Jahre und chen warten lassen sollten, bis wir ihm unseren Fi- hat im nächsten Jahrtausend nichts mehr zu suchen. nanzierungsvorschlag unterbreiten? Stimmen Sie mir des weiteren darin zu, daß wir dann einen Vorschlag (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Was denn einbringen, wenn wir die Finanzierung klar haben, dann?) Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 52. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. September 1995 4411

Dr. Manuel Kiper Vielmehr behindert es uns bei der finanziellen Absi- den öffentlichen Haushalten in die Gentechnik ge- cherung der gesamten übrigen Forschungslandschaft. pumpt, aber das p rivate Risikokapital ist am Markt nicht vorhanden. Von daher hat die Gentechnik hier ( [CDU/CSU]: Zählen Sie wirtschaftlich auch gar keine Chance. auf, was übrigbleibt! Dann sind wir schnel- ler fertig!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Verehrte Kolleginnen und Kollegen, Herr Minister Der Kollege Catenhusen Rüttgers hat es zwar fertiggebracht, Akzente zu set- Vizepräsident Hans Klein: möchte Sie etwas fragen. zen und die Forschungslandschaft in gewisser Weise kreativ zu verwalten. Er hat es aber nicht fertigge- bracht, die Hauptaufgabe, die sich heute in unserem Dr. Manuel Kiper (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ja, Lande stellt, anzupacken. bitte sehr, Herr Catenhusen. Ich möchte hier an den Prozeß von Rio 1992 erin- (SPD): Herr Kollege Ki- nern. Es geht darum, heute ein zukunftsfähiges Wolf-Michael Catenhusen per, da Sie diese Diskussion einfordern, möchte ich Deutschland zu entwickeln. Da spielen Forschung eine Frage zur Klärung der weiteren Debatte an- und Technologieentwicklung natürlich eine ganz schließen. Wollen Sie der Gentechnik in Deutschland zentrale Rolle. eine wirtschaftliche Chance geben, oder ist die Aus- (Beifall des Abg. Christian Lenzer [CDU/ gangsposition Ihres Debattenbeitrages weiterhin Ihr CSU]) Bundesparteitagsbeschluß über den Ausstieg aus der Gentechnik? Da, Herr Rüttgers, versagen Sie. Die Studie „Zu- kunftsfähiges Deutschland" wird nicht von Ihnen fi- (Zuruf von der CDU/CSU: Technikfeindlich nanziert und in Auftrag gegeben, sondern Misereor keit!) und der Bund für Umwelt- und Naturschutz Deutsch- land, BUND, müssen diese Studie finanzieren, weil Dr. Manuel Kiper [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie nicht das Geld für diese Grundlagenarbeit zur Herr Catenhusen, Sie kennen sich in der Gentechnik Verfügung stellen. Es ist Ihr eigentliches Versagen, auch ein wenig aus. daß Sie es nicht fertigbringen, den Forschungs- und Technologiehaushalt unter ökologischen Gesichts- (Zuruf von der CDU/CSU: Nicht zuviel punkten wirklich systematisch umzukrempeln. Lob!) - Ihnen wird nicht entgangen sein, daß das, was hier (Dr. Peter Glotz [SPD]: Der Minister hört gar als Zukunftschance Gentechnik und als Zukunfts- nicht zu!) technologie Gentechnik beschworen wird, in den Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Minister hat, USA, dem Hochland der Gentechnik und dem Vor- auch wenn er jetzt nicht zuhört, als zentrales Betäti- bild für Herrn Minister Rüttgers, ganz große Ein- gungsfeld die Biotechnologie entdeckt und durch brüche erleidet. Sie kennen doch auch die Zahlen. den Haushalt wieder verstärkt festgeschrieben. Herr (Zuruf von der CDU/CSU: Sind Sie dafür Minister, Sie wissen genauso gut wie ich, daß Sie mit oder dagegen?) dem Begriff der Biotechnologie nur von der eigentli- chen Debatte ablenken wollen, die hier über die Zu- Sie wissen doch wie ich, daß in den letzten 16 Jahren kunft der Gentechnik stattfinden müßte, über Gen- in der grünen Gentechnik - das hat nichts mit unse- technik als Sackgassentechnologie. rer Fraktion zu tun, sondern das ist, wie Sie wissen, die landwirtschaftliche Gentechnik - 3,2 Milliarden Herr Minister, Sie malen hier 9 Millionen Arbeits- Dollar rote Zahlen geschrieben worden sind, allein fi- plätze in der Biotechnologie im Jahre 2000 an die nanziert durch Risikokapital. Sie wissen, um auf die Wand und wollen damit implizieren, die Gentechnik rote Gentechnik zu sprechen zu kommen - das hat sei eine Zukunftstechnologie. Herr Minister, wenn mit Ihnen nichts zu tun, sondern bezieht sich auf die Sie hier die Biotechnologie ansprechen, sprechen Sie Pharmaprodukte -, daß allein im letzten Jahr offensichtlich von Brauereien und herkömmlicher 1,5 Milliarden Dollar Miese erwirtschaftet worden Landwirtschaft, sonst könnten Sie nicht auf diese sind. Das können Sie doch nicht als Zukunftstechno- Zahl von Arbeitsplätzen kommen. logie bezeichnen. Das kann kein Vorbild sein. Von daher sagen wir Grüne: Herr Minister Rüttgers und (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Sie, Herr Catenhusen, setzen Sie nicht auf das fal- Ich darf daran erinnern, daß in den USA, wo die sche Pferd, sondern diskutieren Sie die Gentechnik Gentechnik, die moderne molekularbiologische Bio- rational. Rational heißt natürlich, daß man sich auch technologie, bekanntermaßen weiter fortgeschritten über die wirtschaftlichen Chancen einer Technologie ist als in Deutschland, in dieser Branche bis zum heu- klar wird. tigen Tage knapp 100 000 Arbeitsplätze geschaffen (Zuruf von der CDU/CSU: In den Spiegel worden sind. Wir können einmal die Zahlen auf den schauen!) Tisch legen. Das sind die offiziellen Zahlen. In den USA werden 450 Millionen Dollar gebraucht, um Herr Catenhusen, ich möchte hier gar nicht ver- eine Firma in der Gentechnik in die schwarzen Zah- schweigen, daß wir als Fraktion in der Lage sind, len zu führen. Ich weiß nicht, woher dies in Deutsch- nicht nur die wirtschaftlichen Gesichtspunkte zu dis- land kommen soll. Es wird zwar 1 Milliarde DM aus kutieren, sondern auch die vielfältigen ethischen Be- 4412 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 52. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. September 1995 Dr. Manuel Kiper denken, die wir gegen die Gentechnik und ihre An- machen die Hausaufgaben nicht, die die Bundesre- wendung haben, auf den Menschen zur Sprache zu publik in Rio übernommen hat, nämlich die Voraus- bringen, zu thematisieren und insgesamt dazu zu be- setzungen für ein zukunftsfähiges Deutschland zu nutzen, um eine abwehrende und ablehnende Hal- schaffen. tung gegen das an den Tag zu bringen und in das Parlament einzubringen, was die Geningenieure Wir könnten das fortsetzen. heute betreiben, nämlich letztlich auch den Ang riff Ich komme zur Friedensforschung. Wir haben die- auf die menschliche Fortpflanzung. Die schrecken ser Tage über Bosnien und über die Bereitstellung doch vor nichts mehr zurück, auch nicht vor dem Ein- von Mitteln diskutiert. Man muß hier ja bedauerli- griff in den Menschen und eine Höherzüchtung des cherweise konstatieren, daß im Rüstungshaushalt, im Menschen. Das sind doch die Themen, die diskutiert Einzelplan 14, die Ausgaben für Forschung, Entwick- werden müssen. lung und Erprobung eine 12,3%ige Steigerung auf- weisen. Das ist weit jenseits der Steigerungsraten, Nun, meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, Herr Rüttgers, die Sie im Kabinett für den zivilen For- die CDU - um noch einen Satz zur Gentechnik zu sa- schungshaushalt durchsetzen konnten. Wir müssen gen - nimmt für sich in Anspruch, eine christliche uns fragen: Warum dieses Ungleichgewicht? Warum Partei zu sein. Sie hat gerade jetzt wieder bewiesen, wird nur von Frieden geredet? Es wird ja in diesem daß sie in der Kruzifix-Debatte mit den Zeichen des Land nur die Kriegsforschung finanziert, aber die Christentums formal Politik machen möchte. Aber Friedensforschung in Ihrem Haushalt, im Einzel- ich frage Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der plan 30, wird nahezu gegen Null gefahren. CDU: Haben Sie nicht auch ethische Bedenken ge- gen die Patentierung von Pflanze und Tier, gegen die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Patentierung selbst der menschlichen Gene? Sehen Ich komme zum Schluß. Herr Minister, ich be- Sie denn nicht die Notwendigkeit, der Gentechnik grüße, daß Sie sich nicht zum Hausmeister der Groß- und dem Machbarkeitswahn der Geningenieure industrie machen lassen und das Ansinnen von Mer- Grenzen zu setzen, die ja offensichtlich vor keinem cedes-Benz, Daimler-Benz und dem ZVEI zurückwei- Tabu mehr zurückschrecken? Ich glaube, Sie sollten sen, daß aus den öffentlichen Mitteln des For- sich hier auch tatsächlich einmal auf Ihre christlichen schungshaushalts verstärkt, also noch mehr als bis- Wurzeln besinnen. Ich hoffe natürlich, daß Sie sich her, die Forschung der Großunternehmen subventio- auch ein wenig von den wi rtschaftlichen Zahlen be- niert werden soll. eindrucken lassen.

Die Gentechnik ist nicht die einzige Technologie in- Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege, Ihre Rede- diesem Haushalt, die wir für eine Sackgassentechno- zeit ist schon ein Stück abgelaufen. logie halten. Herr Minister Rüttgers, wir haben nichts gegen die IuK-Technologien. Sie stellen über 1 Mil- Dr. Manuel Kiper (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): liarde DM in diesem Haushalt für die Informations- Okay. und Kommunikationstechnologien zur Verfügung. Wir begrüßen das. Wir haben ebenfalls gefordert, Ich darf vielleicht noch einen Schlußsatz sagen. Es daß das deutsche Forschungsnetz endlich verkabelt geht nach unserer Auffassung darum, dieser Bundes- wird und leistungsfähige Netze für die Forschung regierung eine Frischzellenkur zu verabreichen aufgebaut werden. Wir hinken in dieser Beziehung (Dr. Peter Glotz [SPD]: Seien Sie vorsichtig, weit hinter den USA hinterher. Es ist erfreulich, daß medizinisch!) Sie jetzt immerhin 155-Megabit-Netze aufbauen. Das alleine reicht nicht. Auch hier muß - das wäre Ihre und letztlich - das bieten wir Ihnen, Herr Minister, Aufgabe als Minister - eine grüne Informationstech- an - eine Innovationstransferbörse für die For- nologie in dem Sinne geschaffen werden, daß diese schungs- und Bildungspolitik einzurichten. Technologie und die Informationsgesellschaft unter ökologischen Gesichtspunkten durchgestylt werden. Ich danke Ihnen. Ich erinnere hier an das Projekt „Care Vision 2000" (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bedaure, daß in diesem Haushalt, den Sie vorle- sowie des Abgeordneten Wolfgang Bier gen, kein eigenes Programm zur „ Vergrünung" der stedt [PDS]) IuK-Technologien aufgelegt wird, sondern daß diese Programme in unserem Lande und europaweit da- hindümpeln. Vizepräsident Hans Klein: Das Wort hat der Kol- lege Dr. Karlheinz Guttmacher. Ich bedaure ebenfalls, daß Sie es in keiner Weise fertiggebracht haben, im Verkehrsbereich neue Ak- Dr. Karlheinz Guttmacher (F.D.P.): Herr Präsident! zente zu setzen und für die Aufgaben im Verkehrs- Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Freien bereich, nämlich einen neuen Fahrzeugtyp zu ent- Demokraten haben sich auf zwei wesentliche Vorga- wickeln, ein Programm aufzulegen. Das Programm ben zum Haushalt festgelegt. Die erste Vorgabe: Die „Auto 2000" ist schon fast vergessen. Es ist längst be- Konsolidierungspolitik, die auf Ausgabenbegren- endet, und es kommen keine neuen Initiativen von zung und nicht auf Einnahmensteigerung fußt, wird Ihnen. Das heißt, die Ökologisierung der For- uneingeschränkt fortgesetzt. Die zweite Vorgabe: schungslandschaft wird von Ihnen, obwohl Sie mei- Die wesentliche Stütze unseres Wohlstands, unserer nen, Zukunftsminister zu sein, nicht bet rieben. Sie wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit, unserer Wettbe- Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 52. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. September 1995 4413

Dr. Karlheinz Guttmacher werbsfähigkeit, aber letztlich auch unseres Sozial- Für eine der wichtigsten Entscheidungen von Mi- staates, sind Bildung und Ausbildung unserer Bür- nister Rüttgers im Bereich der Forschungspolitik hal- ger, sind wissenschaftliche Höchstleistungen, sind ten wir die gemeinsam mit seinem französischen Kol- Spitzenforschung und Spitzentechnologie. Diese legen vorgenommene Deckelung der Beiträge zur Säule gilt es zu stützen. europäischen Weltraumforschung. Die konsequente Umsetzung dieser Entscheidung im Haushalt ist (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- auch deshalb bemerkenswert, weil gegenwärtig Be- ten der CDU/CSU) legschaften, Gewerkschaften und führende Vertreter der Luft- und Raumfahrtforschung Schulter an Schul- Der vorgelegte Regierungsentwurf erfüllt diese ter den Politikern auf den Pelz rücken, um tüchtig im beiden Kriterien weitestgehend. Wir begrüßen die Etat nachzufordern. Steigerung des Gesamtansatzes des Einzelplanes 30 um 2,3 %. Die Forschungspolitik wird geprägt von Insgesamt kann man sagen, daß die Forschungs- dem Erhalt des hohen Niveaus in der Grundlagenfor- förderung der Bundesregierung die in diesem Be- schung sowie der Fortsetzung der unabdingbaren reich wichtige Kontinuität in Volumen und Zielset- und ausschließlich in staatlicher Verantwortung lie- zung garantiert. genden Vorsorgeforschung. Meine Damen und Herren, auch in der Bildungs- politik hat sich in der letzten Zeit einiges getan. Aber Die Förderung von Bildung, Wissenschaft, For- die Probleme in diesem Bereich sind denen, die hier schung und Technologie in den neuen Bundeslän- beteiligt sind, wohlbekannt. Im Hochschulbau haben dern mit 3 Milliarden DM ist sicherlich ein ausge- wir nach wie vor große Probleme. Auch in dieser De- zeichneter Ansatz, um auch das weitere Wachstum in batte möchte ich um Prüfung bitten, ob wir nicht den neuen Bundesländern zu befördern. doch bereits ab 1996 für den Hochschulbau 2 Mil- liarden DM auflegen können. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) (Beifall bei der F.D.P. sowie des Abg. Die Mittel für die allgemeine mittelstandsbezo- Dr. Peter Glotz [SPD]) gene Innovationsförderung werden um fast ein Vier- tel aufgestockt. Dies unterstreicht die besondere Be- Ebenso halte ich es für gut und richtig, Überlegun- deutung der kleinen und mittelständischen Unter- gen anzustellen, ob aus dem Hochschulbaufinanzie- nehmen für das Innovationsvermögen der Wi rtschaft. rungsprogramm einige Brocken, die diesen Fonds Allein 600 Millionen DM werden darüber hinaus für besonders belasten, herausgenommen werden. Ich den Technologietransfer zur Förderung kleiner und denke z. B. an den Klinikbauanteil, aber auch Groß- mittelständischer Unternehmen eingesetzt. Diese er- geräte. Wem wollen wir denn klarmachen, daß ein kennbare Tendenz halten gerade wir Liberalen für Kernresonanzspektrometer nicht privat betrieben außerordentlich wichtig, weil sie die unvermeidbare werden kann? Bevorzugung der Großindustrie im Rahmen der di- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) rekten Projektförderung mindert. Gut ist es, daß die Hochschulsonder- und Erneue- Die direkte Projektförderung konzentriert sich rungsprogramme weitergeführt werden wie das mehr und mehr auf einige wesentliche Schlüsseltech- Hochschulsonderprogramm II mit 283 Millionen DM nologien. Wir halten das für richtig. Im Bereich der in 1996. Die Förderung des wissenschaftlichen Nach- optischen und optoelektronischen Datenverarbei- wuchses, die Stärkung der Fachhochschulen sowie tung, bei der Softwaretechnologie und Mikrosystem- die Förderung von Frauen in Wissenschaft und For- technik befinden wir uns noch weit entfernt vom schung muß in den Vordergrund gestellt werden. Markt. Es ist nur recht und billig - auch ordnungs- Dies tun diese Programme. Dies halten wir für völlig politisch in Ordnung -, gerade auf diese Förder- richtig. Die bewährten Graduiertenkollegs sind aus- schwerpunkte zu setzen. zubauen, und die Internationalität des Hochschul- standortes Deutschland muß verbessert werden. Ein zweiter wesentlicher Förderschwerpunkt ist der produktionsintegrierte Umweltschutz. In unse- Den Weg in die Informations- und Kommunikati- ren Forschungsprojekten haben wir bis jetzt viel vom onsgesellschaft müssen auch die Hochschulen gehen Umweltschutz gesprochen. Wir haben begonnen, das können. Neben der Anschubfinanzierung für das neue Element des produktionsintegrierten Umwelt- deutsche Forschungsnetz erachte ich die Umwand- schutzes in der Breite zu finanzieren. Ich appelliere lung der Fernuniversität Hagen in eine deutsche daran - das war eine alte Forderung des Kollegen Fernhochschule für die Nutzung multimedialer Tech- Kuhlwein -, zu versuchen, den produktionsintegrier- niken für extrem wichtig. ten Umweltschutz in die berufliche und allgemein- Unserem Ziel, einer Verbesserung der Gleichwer- akademische Ausbildung aufzunehmen. tigkeit von beruflicher und akademischer Ausbil- dung nachzukommen, dient sicherlich die Einfüh- (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- rung eines Meister-BAföGs, der beruflichen Auf- ten der CDU/CSU) stiegsfortbildung. Die F.D.P. begrüßt die vorurteilsfreie Förderung al- Wir haben uns - das wurde auch angesprochen - ler Energieträger. Wissenschaft und technologische um eine neue Strukturierung, um ein neues BAföG- Entwicklung kennen hier kein Ende. Dies gilt sowohl Modell zu bemühen. Hier wurden die Schwächen für die Solarenergie als auch für die Kernenergie. der vorliegenden Modelle der SPD und der Grünen - 4414 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 52. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. September 1995 Dr. Karlheinz Guttmacher wenn sie auch noch nicht vollständig vorliegen, wie Wir sind uns der Tatsache bewußt, daß es hier einige ich gehört habe - angesprochen. Aber wichtig ist rechtliche Änderungen im Unterhaltsrecht wie auch doch - und dies, Herr Minister, muß ich Ihnen denn im Jahressteuergesetz geben muß. Aber einen derar- wohl sagen -: Es ist Bewegung in die Diskussion ge- tigen Finanzierungsansatz in diesem Lande wird die kommen, und zwar hinsichtlich aller Möglichkeiten. Jugend der Politik im ganzen danken. Es ist auch kein Tabu, über BAföG-Finanzierungen zu sprechen. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU - Tilo Braune [SPD]: Nicht nur reden, han (Beifall des Abg. Jürgen Koppelin [F.D.P.] - deln!) Dr. Uwe Küster [SPD]: Sehr magerer Beifall) Allerdings - dies sage ich für meine Fraktion -, Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Das Wort hat 8,5 % Zinshöhe bei einem studentischen BAföG, wie die Abgeordnete Maritta Böttcher. es in der Presse zu lesen war, gehen mit uns nicht, sondern wir fordern, die Darlehen zum Einkaufspreis Maritta Böttcher (PDS): Herr Präsident! Meine Da- an die Studenten weiterzugeben. Das bedeutet ge- men und Herren! Bildung und Wissenschaft, For- genwärtig einen Zinssatz von 4 %. Ebenso bitten wir schung und Technologie sind vielgestaltig mit ande- Sie, daß Sie vielleicht doch noch mit der Deutschen ren Politikbereichen und dadurch mit zahlreichen Ausgleichsbank verhandeln, die Verwaltungskosten Debattenschwerpunkten dieser Woche verbunden. von 1,3 %, wie sie angegeben werden, nach Möglich- Ohne daß eine Bedrohung dieses Landes vorliegt, keit noch herunterzusetzen. werden deutsche Soldaten - nach Jahrzehnten er- Wir erwarten ein Anwachsen der Geförderten- zwungenen Verzichts - als Ordnungsfaktor auf aus- quote von 24 % auf 30 %. Dies, so Minister Rüttgers, wärtige Kriegsschauplätze geschickt. Damit sind Zei- wird durch eine nochmalige Freibetragsanhebung ten angebrochen, in denen deutsche Professoren von 6 % im Herbst 1996 erreicht. Diese durch die wieder einmal antreten, Deutschland und seine BAföG-Reform frei werdenden Mittel - darauf möch- machtpolitische Rolle größer und bedeutender zu re- ten wir auch achten - sollen unmittelbar in den Hoch- den und zu schreiben. Es wird wieder einmal schick- schul- und Bildungsbereich fließen. salhaft zugehen. Die geplante Anhebung der Freibeträge und Be- Der Sozialstaat kann nebenbei erledigt werden - mit darfssätze, die vorgesehen und auch aus diesen Mit- nationalem Pathos selbstverständlich. Herr Schäuble wußte bei seinem Plädoyer für das Nationale, wozu teln zu finanzieren sind, um 6 % im Herbst 1996 be- es brauchbar ist. grüßen wir sehr. Ebenso glauben wir auch, daß die - Nachlaßmittel für die besten 30 % eines Jahrganges Die öffentliche Meinung soll wieder dahin gehen, weiter bestehen sollen. Wir sind der Meinung, daß an Kriegen teilhaben zu wollen und in sie eingreifen man vielleicht diesen Anteil auch erhöhen könnte. zu müssen, auch wenn es Geld kostet: bisher bei- Ebenso sollte auch die Studienabschlußförderung spielsweise 350 Millionen DM im ehemaligen Jugo- beibehalten werden. slawien und über 50 Milliarden DM im sogenannten Verteidigungshaushalt, auch wenn es menschliche (Vorsitz : Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch) Opfer kostet. Aber dafür braucht man die soldati- Diese BAföG-Reform bietet uns Möglichkeiten, schen Legenden eines Ernst Jünger und einen Kon- Chancen, drängende Probleme in der Bildungsfinan- greß „Mut zur Ethik" am kommenden Wochenende. zierung jetzt zu lösen. Für meine Fraktion sage ich Der staatsnahe Eifer konservativer Intellektueller auch hier: Dieses Modell ist ein Modell der Gegen- sollte die Öffentlichkeit alarmieren. wart , nicht aber ein Modell der Zukunft. Nach Auf- Der Bundesfinanzminister lobte den Haushalt des fassung der F.D.P. muß ein BAföG-Modell für die Zu- Zukunftsministers als modellhaft. Das Lob hat den kunft auch der Tatsache Rechnung tragen, daß wir es moralischen Wert eines Steckbriefes. Das Modell der bei den Studierenden nicht mehr mit Kindern, son- Deregulierung, Flexibilisierung und Privatisierung dern mit mündigen, wahlberechtigten jungen Er- wird an einigen Punkten besonders deutlich; dazu wachsenen zu tun haben, denen Verantwortung gehören Berufsausbildung und Studienfinanzierung. auch für den eigenen Haushalt übertragen werden Nach einer Selbstdarstellung des Ministers vom sollte. 7. Juli dieses Jahres sei mit der Unterfütterung des (Beifall bei der F.D.P., der CDU/CSU sowie Maßnahmenpakets zur Stärkung der beruflichen Bil- bei Abgeordneten der SPD und des BÜND- dung in Höhe von 350 Millionen DM ein „wichtiger NISSES 90/DIE GRÜNEN) Durchbruch" geschafft. Vor diesem Hintergrund bittet die F.D.P. die Bun- Mit der vom Bildungsminister als Teil des Maßnah- desregierung, im Rahmen ihrer Expertenkommission menpakets angepriesenen sogenannten Lehrstellen zum Bürgergeld prüfen zu lassen, welche ausbil- offensive ist die seit nunmehr drei Jahren laufende dungsrelevanten Leistungen, die gegenwärtig den Inszenierung von Versprechungen, Schuldzuweisun- Eltern gewährt werden, zu einem Bildungsbürger- gen, Abwiegelungen und statistischen Rechenkunst- geld gebündelt werden könnten, das den Auszubil- stücken gemeint. Wir sind derzeit mitten in einer ak- denden direkt ausgezahlt werden kann. tuellen Neuauflage. Für das Grundproblem - stei- gende Nachfrage und sinkendes Angebot auf dem (Tilo Braune [SPD]: Dann kommen Sie doch Lehrstellenmarkt - ist weder in der kurz- noch in der zu uns, Herr Guttmacher!) mittelfristigen Planung ein Lösungsansatz in Sicht. Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 52. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. September 1995 4415

Maritta Böttcher Politischer Handlungsbedarf kann nicht einfach Ich will das mit einem Blick auf die Studienfinan- weggerechnet werden und ist auch mit alljährlichen zierung und die BAföG-Kontroverse verdeutlichen. Feuerwehreinsätzen nicht zu beheben. Wenn junge Das BAföG, 1971 ins Leben gerufen, um „auf eine Leute ihr Leben mit der Erfahrung von Chancen- berufliche Chancengleichheit junger Menschen hin- und Perspektivlosigkeit beginnen müssen, dann ist zuwirken und dem einzelnen eine Ausbildung zu er- schließlich wohl der Innenminister mit seinen Vor- möglichen, die seiner Neigung, Eignung und Lei- schlägen zur Beherrschung der Jugendkriminalität stung entspricht", wurde in der Ära Kohl systema- an der Reihe. tisch ausgehöhlt.

Es bleiben die Fragen, auf welchem Gebiet das Durch seines Zukunftsministers neueste Vor- Geld der Steuerzahler besser angelegt ist und wie schläge, den staatlichen Darlehensteil durch ein lange deren Geduld noch reicht. hochverzinsliches Bankdarlehen, ob nun 8,5 % oder 4 %, zu ersetzen, wird es vollends seines sozial- und In Ostdeutschland - ich lasse die Zahlen jetzt be- gesellschaftspolitischen Sinns beraubt. wußt weg; wir haben vorhin gemerkt, daß keiner so recht weiß, welche Zahlen stimmen - sind gegenwär- „Ernst kann es werden", meinte die „FAZ" am tig noch ca. 60 000 Jugendliche auf Lehrstellensuche. 30. August 1995, „wenn die Koalition ihre Pläne bei Bei Gegenüberstellung des Angebots an betriebli- der Gewerbekapitalsteuer oder bei der Verzinsung chen Ausbildungsplätzen und Lehrstellenbewerbe- von BAföG-Zuwendungen in Angriff nimmt". rinnen und -bewerbern kommt man trotzdem noch auf einen Fehl von bet rieblichen Ausbildungsplätzen Minister Rüttgers will auf diese Weise bei dem so- in Ostdeutschland. Wie in den vergangenen Jahren zial schwächsten Teil der Studierenden, den BAföG- wird in letzter Minute - ich deutete das schon an - Empfängerinnen und -empfängern, bis 1999 ein Hilfsprogramm zur Schaffung außerbetrieblicher 1,6 Milliarden DM einsparen und diese Mittel bevor- zugt für die Technologieförderung im Dienste der Ausbildungsplätze gestartet. An der grundlegenden Situation, daß betriebliche Ausbildungsplätze in Ost- Großunternehmen einsetzen. Das ist eine der un- deutschland und ausreichende Beschäftigungsper- glaublichsten und unverfrorensten Ang riffe auf die spektiven für die Jugendlichen seit Jahren fehlen, Reste sozialer Chancengleichheit beim Bildungser- ändert sich dadurch aber nichts. werb. (Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordne Das grundgesetzlich verbürgte Recht, Beruf und ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Ausbildungsstätte frei zu wählen, war für die Mehr- - heit der ostdeutschen Jugendlichen seit dem Tag der Studierende, die sich von Hause aus eigentlich Einheit zu keinem Zeitpunkt gewährleistet. Nun nicht leisten können, zu studieren, sollen nun wenig- wird es auch für immer mehr westdeutsche Jugendli- stens mit einer Schuldenlast von ca. 70 000 DM für che de facto außer Kraft gesetzt. Einen Großteil der ihren Übermut bestraft und mit dieser Androhung Verantwortung für diesen Zustand trägt die Bundes- möglichst vom Studium ferngehalten werden. Diese regierung. Pläne müssen vom Tisch und mit ihnen der vorlie- gende Haushaltsentwurf des Zukunftsministers. Notwendig ist jetzt ein längerfristiges koordinier- tes Programm zur Schaffung eines quantitativ und In der Diskussion über die Hochschul- und Bil- qualitativ ausreichenden, d. h. auch auswahlfähigen dungsreform, so war es zutreffend in der „Frankfur- Lehrstellenprogramms. Das muß die Sicherung von ter Rundschau" vom 17. August zu lesen, komme der Beschäftigungsperspektiven nach der Ausbildung soziale Aspekt zu kurz. Nach den Plänen der Regie- und eine Reform der Ausbildungsfinanzierung ein- rung würde das BAföG „zum Vehikel der indirekten schließen. Dabei sind nicht oder unterhalb einer Min- sozialen Eliteförderung" . destquote ausbildende Bet riebe in geeigneter Weise, z. B. durch eine Ausbildungsabgabe, an der Finan- Statt endgültiger Abkehr vom Prinzip der sozialen zierung zu beteiligen. Chancengleichheit beim Bildungserwerb ist eine Rückbesinnung auf dieses Prinzip und seine Stär- Auch der Ansatz zur Förderung beruflicher Auf- kung notwendig. Das geht nur durch eine gründliche stiegsfortbildung reicht nach Einschätzung des Zen- Reform der Studienfinanzierung auf dem Weg zu ei- tralverbandes des Deutschen Handwerks nicht aus, ner allgemeinen sozialen Grundsicherung. Wir wer- um junge Leute zu einer Qualifizierung zum Hand- den dazu unsere Vorschläge machen. werksmeister und damit zum Existenzgründer zu mo- tivieren. Ich möchte abschließend festhalten: Der Haus- haltsentwurf ordnet sich wie die gesamte Politik des Monatliche Fördersätze, die zur Hälfte über zu -Zukunftsministers strikt der Standort-Deutschland 8,5 % verzinste Darlehen laufen und weit unter den über-alles-Ideologie unter. Es ist kein Plan, der von Sozialhilfesätzen liegen, zeigen einmal mehr ein den gesamtgesellschaftlichen und globalen Aufga- Grundproblem des Bildungshaushalts: die ungenü- ben von Bildung, Wissenschaft, Forschung und Tech- gende soziale Absicherung der Studierenden und nologie ausgeht und die bessere Erledigung dieser Auszubildenden in diesem Land, die Privatisierung Aufgaben zum Ziel hat, sondern ein im Ke rn auf die der Bildungsrisiken und damit die Ausgrenzung gan- Förderung der Wirtschaft, speziell die Verbesserung zer Bevölkerungsgruppen vom freien Zugang zu Be- der Standortbedingungen für die Großunternehmen ruf und Bildung. gerichteter Plan. 4416 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 52. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. September 1995 Maritta Böttcher Das schließt drastische Maßnahmen des Sozialab- Leuten einzureden, daß es in diesem Leben null Risi- baus und der Umverteilung von unten nach oben ein. ken gibt. Davon ist der sozial schwächere Teil der Studieren- den und ein immer größerer Teil der Jugendlichen, (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) die eine berufliche Ausbildung absolvieren wollen, Da gibt es Leute vor dem Fernsehapparat, die Ket- besonders betroffen. tenraucher sind, die die vie rte oder fünfte Flasche Auf weitere Bestandteile des Entwurfs wird in der Bier trinken und sehen, wie irgendein Grüner eine Beratung des Haushalts noch einzugehen sein. Er Rede über die Risiken von Gentechnologie hält, und wird von der Gruppe der PDS abgelehnt, da er mit dann Angst haben und völlig übersehen, wo ihre ei- der Demontage von Chancengleichheit und Bil- genen Lebensrisiken liegen. dungsförderung rückwärtsgewandt und den wirkli- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) chen Zukunftserfordernissen in ihrer nationalen und internationalen Dimension abträglich ist. Es gibt kein Null-Risiko, beim Autofahren nicht, beim Rauchen nicht, und auch in der Gentechnik (Beifall bei der PDS) gibt es kein Null-Risiko. Wir müssen über Risiken re- den, Risiken minimieren, dürfen aber nicht glauben, daß wir in der Lage sind, bei einigen Technologien Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Das Wort hat plötzlich zum Null-Risiko zu kommen. nun der Abgeordnete Dr. Gerhard Friedrich. Ich darf Ihnen noch etwas sagen, Herr Kollege Ki- per. Ich teile den Standpunkt meines F.D.P.-Kollegen, Dr. Gerhard Friedrich (CDU/CSU): Herr Präsident! der an diesem Rednerpult gesagt hat, daß wir in Sa- Meine Damen und Herren! Ich möchte angesichts chen Innovation und Technologie - das macht der der Rede unseres Kollegen Kiper mit einer Vorbe- Minister auch - sehr auf kleine und mittelständische merkung beginnen. Er hat die Reaktion der CDU auf Unternehmen achten müssen. Wir dürfen aber nicht das Kruzifix-Urteil angesprochen. Er hat eigentlich nur auf sie achten. die CSU gemeint, zumindest in erster Linie. Sie haben den Eindruck erweckt, als sei es eine Er hat gefragt, wie man sich als Politiker in einer üble Sache, bei der Forschungsförderung auch C-Partei für Gentechnik einsetzen kann. Wissen Sie, Großkonzerne zu unterstützen. Ich habe einen Wahl- wir entnehmen dem C den Auftrag, Leben zu erhal- kreis mit einem Großkonzern, der Firma Siemens. Er ten. Wir wissen, daß die Bio- und Gentherapie geeig- erhält einiges an Förderung. Ich werde mich natür- net ist, Leben zu erhalten. - lich nicht dafür einsetzen, daß diese Mittel gesenkt (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) werden. Der Chef dieses Unternehmens, Hein rich von Pierer, war mit mir zehn Jahre lang im Stadtrat. Mit dem Kollegen Lenzer habe ich im Frühjahr Über dessen soziales Schicksal bei einer Streichung eine Außenstelle eines deutschen Konzerns besucht. der Förderung mache ich mir keine so großen Sor- Wir haben uns erläutern lassen, wie do rt ein Medika- gen. ment gegen die Bluterkrankheit hergestellt wird. Dieses Medikament wird von Patienten in Deutsch- Dieser Konzern hatte in Erlangen 32 000 Men- land genommen. Wir importieren es aus den USA. schen beschäftigt, er beschäftigt jetzt 28 000 Men- Ich bedaure, daß es nicht in Deutschland hergestellt schen; er spricht seit wenigen Jahren erstmals be- wird. triebsbedingte Kündigungen aus. Meine Mitbürge- rinnen und Mitbürger im Wahlkreis, Techniker, Se- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) kretärinnen, kommen zu mir. Sie sind erstmals seit zwei, drei Jahren verunsichert, sie haben Angst um ihren Arbeitsplatz. Um diese Leute kümmere ich Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Gestatten Sie mich. Sie aber haben nur ein Feindbild. Mit diesen eine Zwischenfrage des Kollegen Kiper? - Bitte. - Leuten unterhaltet ihr euch doch überhaupt nicht. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. - Dr. Manuel Kiper (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Abg. Dr. Manuel Kiper (BÜNDNIS 90/DIE Würden Sie als ein christlicher Politiker mir denn zu- GRÜNEN) meldet sich zu einer Zwischen stimmen, daß der Gentechnik Grenzen gesetzt wer- frage) den müssen und es, wenn es darum geht, Leben zu machen oder Leben zu patentieren, mit Ihrer christli- - Meinetwegen. chen Grundauffassung nicht übereinstimmen kann? Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Noch eine Zwi- Dr. Gerhard Friedrich (CDU/CSU): Herr Kollege, schenfrage? - Bitte schön. das kann ich jetzt nicht ausführlich erläutern. Wie ich ( [CDU/CSU]: Wenn er et das C verstehe, dazu schicke ich Ihnen etwas. Das was Gescheites fragen täte, wäre es ja gut!) Beste, was ich dazu gelesen habe, hat Franz Josef Strauß gesagt. Er hat das immer sehr relativiert. Ich schicke Ihnen das zu. Dr. Manuel Kiper (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Lieber Kollege, ist Ihnen vielleicht aufgefallen, daß Was die Risiken betrifft, haben Sie recht. Ich bin wir sehr wohl mit Großkonzernen reden und viele nur der Auffassung, daß Sie den Fehler machen, den Gespräche führen? Ich tue dies z. B. in meinem Wahl- Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 52. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. September 1995 4417

Dr. Manuel Kiper kreis mit dem Großkonzern VW. Aber teilen Sie die Aus Zeitgründen sage ich jetzt nicht, was Herr Schlußfolgerung des Weule-Gutachtens im Gegen- Rüttgers an Schwerpunkten genannt hat und daß satz zu Ihrem Minister? Das würde mich jetzt interes- darin die höchsten Steigerungsraten enthalten sind. sieren. Ich stelle nur fest, daß Sie sich dieser Fragestellung verweigern. (Edelgard Bulmahn [SPD]: Kennt er nicht!) (Edelgard Bulmahn [SPD]: So ein Unfug! - Christian Lenzer [CDU/CSU]: Ja, so seid Dr. Gerhard Friedrich (CDU/CSU): Jetzt bringen ihr!) Sie etwas, was wirklich nicht in dem Zusammenhang mit dem Thema, über das wir sprechen, steht. Wenn Wenn wir über Fachetats reden, dann sprechen Sie ich es richtig in Erinnerung habe, geht es in diesem nur über das, was wünschenswert und manchmal gar Gutachten vor allem um die Schwerpunkte in den notwendig ist. Aber, Herr Kollege Glotz, wenn wir al- Großforschungseinrichtungen. Wenn Sie ein Gutach- les, was in der Umweltpolitik, in der Forschungspoli- ten erwähnen, bitte vorher lesen und dann im richti- tik und im Bauwesen wünschenswert und vielleicht gen Augenblick die Frage dazu stellen. sogar notwendig ist, addieren, dann ergibt das fi- nanzpolitisch ein Chaos. Die Kunst der Politik be- (Beifall bei der CDU/CSU) steht darin, daß das knappe Geld unter Berücksichti- gung von Schwerpunkten richtig verteilt wird. Meine Damen und Herren, ich möchte schwer- punktmäßig noch etwas zur Forschungspolitik (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) sagen, nachdem die meisten - was auch notwendig Da Sie von vornherein die falschen Fragen stellen, ist - über Bildung gesprochen haben, und trotzdem nämlich, was alles wünschenswert ist, haben Sie versuchen, ein bißchen auf den Kollegen von der noch nicht die richtige innere Einstellung oder Hal- SPD einzugehen. Wir sind uns in einigen Punkten ei- tung, die Sie zum Regieren befähigt. nig, Herr Glotz. Ich glaube, wir wissen alle miteinan- der - die Grünen wissen das noch nicht -, daß wir ei- Ich möchte hier nicht nur über Geld sprechen, son- nen neuen Wettbewerb um Produktionsstandorte in dern gerade wegen des Beitrags des Kollegen der der ganzen Welt haben. Siemens baut insgesamt Grünen ein bißchen zu anderen Dingen kommen, die nicht ab, Herr Kollege, sondern verlagert Arbeits- in der Forschungspolitik eine Rolle spielen. Herr plätze ins Ausland. Kiper, ein bißchen davon haben wir heute schon an- gesprochen: Wir brauchen in der Forschung nicht (Tilo Braune [SPD]: Davon haben die Bay- nur Geld der Unternehmen und staatliche Mittel, wir ern aber etwas, nicht?) brauchen auch Akzeptanz für bestimmte Technolo- gien. Wir sind uns einig, daß wir über Kostensenkung re- den müssen. Das ist aber nicht das Thema der jetzi- (Michael Glos [CDU/CSU]: So ist es!) gen Debatte; das ist heute früh aufgerufen worden. Es hat überhaupt keinen Sinn, sich über mehr Staats- Wir sind uns auch einig, daß die Forschungspolitik mittel zu unterhalten, wenn Ihre Pa rtei in großem Stil einen Beitrag dazu leisten muß. Wir sind uns eben- und die Parteifreunde von Herrn Glotz in kleinerem falls einig, daß wir für Forschung mehr Geld ausge- Stil vor Ort politische Kampagnen lostreten, durch ben müssen, die Millionen von Kapital vernichtet werden. (Tilo Braune [SPD]: Dann tun Sie es doch!) (Beifall bei der CDU/CSU) nicht nur staatliches Geld, sondern auch - Sie haben Nehmen wir einmal die SPD: Der Beschluß des das angedeutet, Herr Kollege Glotz - Geld der Unter- SPD-Parteitags in Nürnberg „Ausstieg aus der Ke rn nehmen. Da gibt es eine bedenkliche Entwicklung -energie" war die Einleitung einer riesigen Kapital- nach unten. vernichtungsaktion. Der Minister hat nach einigen Wochen Nachden- (Widerspruch bei der SPD) ken Anfang des Jahres seine Schwerpunkte zur For- Es gibt doch die Investitionsruinen; Sie kennen sie schungspolitik vorgelegt. Dazu haben Sie, Herr Kol- doch. Kalkar ist eine Ruine, für die Milliarden raus- lege Glotz, gesagt: Darin sind die richtigen Stich- geschmissen wurden. Jetzt schaffen es die Grünen worte enthalten. Wir sind uns also auch noch bei den und die Roten in Hessen - darauf sind sie offensicht- Schwerpunkten der Forschungspolitik einig. lich auch noch stolz -, eine weitere Technologie ins (Jörg Tauss [SPD]: Aber Stichwörter reichen Ausland zu vertreiben, nicht!) (Michael Glos [CDU/CSU]: So ist es!) Es geht weiter. Die richtige Frage, die wir auch nämlich die Herstellung von Kernbrennelementen. heute diskutieren müßten, ist, ob das Geld, das ver- Sie verhindern das nicht; sie sorgen nur dafür, daß fügbar ist, auf die einzelnen Resso rts der Bundesre- wir das Ganze künftig aus dem Ausland beziehen. gierung richtig aufgeteilt ist und ob Bundesminister Ein toller Erfolg, ich muß Ihnen dazu wirklich gratu- Rüttgers in Absprache mit dem Bundesfinanzmini- lieren. ster das ihm zur Verfügung stehende Geld richtig auf die einzelnen Kapitel verteilt. Um noch einmal zu den Grünen zu kommen: Herr Kiper, ich habe nie verstanden, daß einige Journali- (Dr. Peter Glotz [SPD]: Einverstanden!) sten Ihren Anspruch akzeptiert haben, daß die Gril- 4418 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 52. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. September 1995

Dr. Gerhard Friedrich nen für Zukunftsthemen stehen. Was sind Sie denn? Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn wir von un- Ich hoffe, daß ich jetzt nicht gerügt werde, wenn ich seren Kindern und Enkeln erwarten, daß sie nicht sage: ein kleiner Haufen von Pessimisten. Die SPD ist nur für unsere Renten und Versorgungsansprüche als Partei zwar etwas größer, und die Pessimisten aufkommen, sondern auch die von uns ihnen über- sind sozusagen ein bißchen kleiner, aber es ist nur lassenen Schulden der öffentlichen Hand abtragen ein gradueller Unterschied vorhanden. sollen, und wenn wir von ihnen erwarten, daß sie mit den ökologischen Hinterlassenschaften fertig wer- Meine Damen und Herren, ich sage Ihnen auf den, dann ist es unsere verdammte Pflicht und Schul- Grund meiner Erfahrungen aus der Praxis, wozu sol- digkeit, daß wir sie zumindest in die Lage versetzen, che politischen Kampagnen und solche Aussagen po- diese Lasten auch zu bewältigen. litischer Führungskräfte und von Regierungsmitglie- dern in den Ländern führen. Wenn in so einem Land (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ ein Genehmigungsbeamter einen Antrag vor sich lie- DIE GRÜNEN) gen hat, bei dem er weiß, sein Ministerpräsident zieht, wenn er das Stichwort Gentechnologie hört, Das heißt, daß wir ihnen die bestmögliche Bildung das Gesicht in Falten, wie verhält der sich dann? Er und Ausbildung zuteil werden lassen müssen. Dies genehmigt nicht zügig. Er gibt im Zweifelsfall noch allerdings ist genauso wenig zum Nulltarif zu haben einmal einen Gutachtenauftrag heraus. So kann man wie eine leistungsfähige Wissenschaft und For- Zukunftstechnologien ins Ausland vertreiben oder schungslandschaft. Das geht besonders an die nach Bayern. Für letzteres bin ich Ihnen dankbar. Adresse der Regierung. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Einige Unternehmen sagen: Wir vertreiben diese Die Bundesregierung hat in ihrer Koalitionsverein- und jene Technik in Bayern, weil sie in anderen Bun- barung eine „Offensive für Bildung, Wissenschaft desländern wegen der Rahmenbedingungen in den und Forschung" angekündigt und leistet sich seit ei- Genehmigungsverfahren nicht akzeptiert wird. Es ist nem Jahr einen Minister, der sich gerne als „Zu- kein Zufall, daß wir in Bayern bei der Arbeitslosig- kunftsminister" titulieren läßt. Wenn immer es aber keit die günstigsten Zahlen haben. Dies ist nicht der um die Bereitstellung der nötigen Haushaltsmittel einzige Grund, aber Akzeptanz für Zukunftstechno- geht, Herr Rüttgers, dann verfährt diese Regierung logien spielt bei uns eine große Rolle. Der Minister- nach der Devise: Die beste Zukunft ist diejenige, die präsident macht eine großartige Politik, und die nichts kostet. Leute sind bei uns beschäftigt. - (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Vielen Dank. Seitdem Ihre Bundesregierung 1982 die Regie- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) rungsverantwortung übernommen hat, haben Sie den Bildungs- und Forschungshaushalt regelrecht ausbluten lassen. Im Jahre 1982 belief sich der Anteil Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Ich erteile der für Bildungs- und Forschungsaufgaben am Gesamt- Abgeordneten Edelgard Bulmahn das Wort. haushalt noch auf 4,7 %. Jetzt sind es sage und schreibe nur noch 3,3 %.

Edelgard Bulmahn (SPD): Liebe Kolleginnen und Wenn die Bundesregierung diesem Politikfeld Kollegen! Die Kunst der Politik besteht da rin, zu ent- auch nur eine durchschnittliche Bedeutung zuge- scheiden, was wichtig ist für die Zukunft einer Ge- messen hätte und nicht nur darüber reden, sondern sellschaft und eines Landes. Unserer Meinung nach auch einmal handeln würde, dann hätten wir in die- sind die Ausgaben für Bildung, Ausbildung, Wissen- sem Jahr 1995 nicht nur 15,53 Milliarden DM son- schaft und Forschung Investitionen in die Zukunft, dern 22,63 Milliarden DM zur Verfügung. Das heißt, in die Zukunft unseres Landes und in die Zukunft wir hätten in diesem Jahr für Bildung und Forschung der Menschen, die in diesem Lande wohnen. Des- 7,1 Milliarden DM mehr. halb sind es wichtige Investitionen. Vor diesem Hintergrund, liebe Kolleginnen und (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE Kollegen, hätte man bei diesem Haushalt eigentlich GRÜNEN und der PDS) eine Trendwende erwarten können. Aber die Bun- desregierung übt sich lieber im Buchstabieren des Nur mit innovativen Produkten und intelligenten Wortes Zukunft, statt mit Entschlossenheit für die Zu- Dienstleistungen werden wir im internationalen kunft zu handeln. Wettbewerb mithalten, das erreichte Einkommensni- veau halten, neue Arbeitsplätze schaffen und die vor- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) handenen Arbeitsplätze sichern können. Wissen- schaftlich-technische Innovationen entscheiden zu- Der Haushalt dieses Jahres liegt mit 15,62 Milliar- dem maßgeblich darüber, ob die Umgestaltung unse- den DM ganze 0,6 % über dem Haushalt des letzten res umweltverbrauchenden Wi rtschaftssystems in ein Jahres. sozial und ökologisch verträgliches und auf dauer- hafte Entwicklung ausgerichtetes Wi rtschaftssystem (Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Das ist gelingt. nun nicht ehrlich, was Sie sagen!) Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 52. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. September 1995 4419

Edelgard Bulmahn - Das ist ehrlich. Der Haushalt ist um 89,3 Millionen Mit Nachdruck vertritt deshalb der Wissenschafts- DM höher als im letzten Jahr. Herr Minister Rüttgers, rat die Auffassung, daß die sich abzeichnende Situa- Sie wollen doch nicht ernsthaft sagen, daß die Steige- tion im Hochschulbereich dringender Anlaß sein rung eines Einzelplans um 89 Millionen DM eine sollte, die politische Prioritätensetzung zugunsten deutlich stärkere Gewichtung dieses Politikfeldes ge- des Politikfeldes Bildung und Wissenschaft zu über- genüber der Vergangenheit darstellt. prüfen. - Wohl wahr! (Beifall bei der SPD - Dr. Jürgen Rüttgers Meine Herren und Damen, wir dürfen uns diesem [CDU/CSU]: Jetzt verwechseln Sie Äpfel Appell nicht entziehen. Deshalb müssen wir vorur- mit Birnen!) teilsfrei und sorgfältig alle Möglichkeiten prüfen, die - Sie wissen, lieber Herr Rüttgers, daß ich nichts ver- endlich wieder Bewegung in die festgefahrene Situa- wechsle. Dazu kennen Sie mich viel zu lange. Sie tion bringen. wissen sehr wohl - dazu brauchen Sie nur in Ihren Haushalt zu gucken -, daß Sie eine Steigerung um Einen bedenkenswerten und, wie ich meine, auch lediglich 89 Millionen DM haben. Das ist keine stär- realisierbaren Vorschlag hat in diesem Zusammen- kere Gewichtung dieses Politikfeldes und ist seiner hang der rheinland-pfälzische Wissenschaftsminister Bedeutung überhaupt nicht angemessen. Dr. Zöllner unterbreitet. Dieser Vorschlag läuft im Kern darauf hinaus, daß durch die Mobilisierung (Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Sie sind privaten Kapitals in den Jahren 1996 bis 1999 zusätz- viel zu intelligent, um das hier so zu sagen!) liche Hochschulbauinvestitionen in Höhe von 4 Mil- Ihnen bleibt nichts anderes übrig, als Mängel zu ver- liarden DM möglich sein werden. Das, meine lieben walten und Löcher zu stopfen. Kolleginnen und Kollegen, wäre ein wirklicher Fo rt -schritt gegenüber der derzeitigen Situation. Die Bau- (Dr. Peter Struck [SPD]: Sehr gut!) ten sollen nach diesem Vorschlag in Kooperation mit privaten Investoren, mit denen langfristige Miet- und Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir wissen, wie Leasingverträge eingegangen werden, errichtet wer- eng die Finanzspielräume der öffentlichen Haus- den. Nach Fertigstellung der Projekte sollen im Rah- halte geworden sind. Darauf hat auch mein Kollege men der regulären Hochschulbauförderungsmittel Peter Glotz verwiesen. Verantwortungsvolle Politik jährliche Raten für Bund und Länder in Höhe von erfordert deshalb auch die Erschließung neuer Hand- 400 Millionen DM an Miet- und Leasingraten bereit- lungsspielräume durch Kreativität und Reform. Der gestellt werden. Die Projekte sollen dabei wie bisher von der Bundesregierung eingeschlagene Weg, bei auch durch den Wissenschaftsrat begutachtet wer- den Studierenden von einkommensschwächeren den. Schichten abzukassieren, ist allerdings überhaupt nicht innovativ. Es ist ein Rückgriff in die Mottenkiste Für dieses Modell, liebe Kolleginnen und Kolle- des 19. Jahrhunderts. gen, sprechen meines Erachtens eine Reihe von ge- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne- wichtigen Gründen. Das Modell trägt dazu bei, die ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) jetzt dringend benötigten Gebäude kurzfristig zu errichten. Das als innovativ zu bezeichnen ist ein schlechter Witz. Dieser Vorschlag ist völlig indiskutabel. Das Um das gleiche Bauvolumen zu erreichen, das mit wissen Sie ganz genau. Er ist auch nicht durchsetz- diesem Modell innerhalb der nächsten vier Jahre er- bar. Auch das ist Ihnen sehr wohl bekannt. reicht werden könnte, wären bei einer Fortschrei- bung der mittelfristigen Finanzplanung des Bundes Deshalb ist es unredlich, die BAföG-Pläne als Maß- sage und schreibe 20 Jahre nötig. Jetzt haben wir nahme zur Stärkung der Hochschulen zu verkaufen, aber die überfüllten Räume, jetzt haben wir die so wie Sie das versuchen. Mich hat erschüttert und Raumprobleme an den Hochschulen. Es nützt über- bedrückt, wie wenig für die Hochschulen auch in haupt nichts, einen Vorschlag zu erarbeiten, der eine diesem Haushalt zur Verfügung steht: 1995 Verbesserung der Situation in 20 Jahren beinhaltet, 2,5 Milliarden DM, im kommenden Jahr 2,4 Mil- sondern wir müssen jetzt einen Vorschlag entwickeln liarden DM und 1999 schließlich 2,3 Milliarden DM. und vorlegen, der bald Abhilfe schafft. Deshalb bitte Dies bedeutet eine permanente Auszehrung und ich Sie nachdrücklich, unseren Vorschlag zu unter- eine schleichende Schwächung für die Hochschulen. stützen. Nicht umsonst spricht der Wissenschaftsrat deshalb auch von Stillstand statt Fortschritt. Mit Blick auf das Der Vorschlag schafft innerhalb der regulären Pla- von Minister Rüttgers vorgetragene Konzept stellt nungen wieder Spielräume für die Anschaffung von der Wissenschaftsrat fest, daß dies in keiner Weise Großgeräten und gewährleistet damit erst in vielen dem festgestellten Bedarf entspreche. Damit könnten Bereichen wieder Forschung auf Weltniveau. Es ist ja weder die Sanierung und der Aufbau der Hochschu- falsch, was der Kollege Kampeter oder der Kollege len in den neuen Ländern noch der wissenschaftlich- Friedrich vorhin gesagt hat. Großgeräte sind ein we- politisch vorrangige Ausbau der Fachhochschulen sentlicher Bestandteil einer wirklich modernen und weiter vorankommen. Letztlich würden auch die adäquaten Ausbildung an den Hochschulen. Wir Funktionsfähigkeit vorhandener Hochschuleinrich- können doch nicht allen Ernstes einfach hinnehmen, tungen und die Leistungen der Hochschulforschung daß Studierende heute an Geräten ausgebildet wer- nachhaltig gefährdet werden. den, die 10 oder gar 15 Jahre alt sind, die veraltet 4420 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 52. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. September 1995

Edelgard Bulmahn sind und überhaupt nicht mehr dem Stand der Tech- der Berufsbildung tatsächlich zu steigern? Wo blei- nik entsprechen. Wir hätten mit diesem Modell die ben denn Ihre angekündigten Initiativen zur Erleich- Spielräume, um auch in diesem Bereich etwas zu tun, terung des Hochschulzugangs für qualifizierte Be- was dringend notwendig ist. rufstätige? Was ist denn das für eine Logik, liebe Kol- leginnen und Kollegen, sich auf der Regierungsbank Ein weiterer Grund: Es gibt bereits Erfahrungen und von den Regierungsfraktionen einerseits für die mit diesem Modell in Rheinland-Pfalz und in Nieder- Öffnung der Hochschulen auch für Absolventen des sachsen. Es führt zu keinen höheren jährlichen Bela- beruflichen Bildungsweges einzusetzen und dann stungen der Haushalte von Bund und Ländern. Es andererseits, wie jüngst im Verordnungsentwurf für führt zu einer zügigeren Baufertigstellung und nach die Tierärzteapprobationsordnung, eben jene unseren Erfahrungen sogar zu einer deutlichen Ab- Gruppe vom Studium auszuschließen? senkung der Baukosten, was wir ja wohl alle nur be- grüßen können. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD) Wo, meine Herren und Damen, bleibt denn die in der Kanzlerrunde versprochene Trendwende bei der Last but not least ist dieses Modell mit dem Hoch- Ausbildungsplatzentwicklung? Was hat denn die schulbauförderungsgesetz vereinbar. Deshalb ist es, Bundesregierung unternommen, um den Rückgang liebe Kolleginnen und Kollegen, bei entsprechendem des Ausbildungsplatzangebotes in der Wirtschaft zu politischen Willen auch sofort durchsetzbar. stoppen? (Dr. Peter Struck [SPD]: Den hat der Mi- (Dr. Peter Struck [SPD]: Gar nichts!) nister ja leider nicht, er ist ja zu schwach!) Wo ist sie beispielhaft vorangegangen und hat im ei- Auch würde es - das ist ebenfalls nicht ganz unwich- genen Verantwortungsbereich zusätzliche Ausbil- tig - zur Belebung der Baukonjunktur beitragen, die dungsplatzkapazitäten geschaffen? zur Zeit einbricht. (Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Also, jetzt Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich hoffe, daß wir reicht es aber bald!) im Ausschuß ausreichend Gelegenheit haben wer- Was heißt eigentlich, Herr Rüttgers, „zu früh" mit den, diesen Vorschlag in allen Einzelheiten zu bera- den Unternehmen zu reden, wenn erst in der vorigen ten. Von Ihnen, Herr Minister Rüttgers, erwarte ich Woche eine Gemeinschaftsinitiative angekündigt allerdings, daß dera rtige Vorschläge von Ihrem Haus und auch beschlossen wurde, also zu einem Zeit- nicht länger blockiert werden, - punkt, zu dem die arbeitslosen Jugendlichen schon (Beifall bei der SPD und beim BÜNDNIS 90/ auf der Straße standen? DIE GRÜNEN) (Dr. Peter Struck [SPD]: Ankündigungspoli sondern daß Sie darüber in ernsthafte Verhandlun- tik, weiter nichts!) gen mit den Ländern eintreten und sich nicht hinter vermeintlichen Problemen verschanzen, anstatt krea- Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Frau Kollegin tiv zu deren Überwindung beizutragen. Diese Erwar- Bulmahn, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Ab- tung an Sie habe ich. geordneten Rüttgers? (Dr. Peter Struck [SPD]: Herr Rüttgers soll mal aufhören, seinen Beamten zu glauben!) Edelgard Bulmahn (SPD): Selbstverständlich. Meine Herren und Damen, in diesem Haus gibt es einen breiten Konsens, die berufliche Bildung zu Dr. Jürgen Rüttgers (CDU/CSU): Frau Kollegin stärken, die Gleichwertigkeit von allgemeiner und Bulmahn, ist Ihnen bekannt, daß der Bund seine Aus- beruflicher Bildung herzustellen und für mehr bildungsplätze seit März um mehr als 5 % erhöht hat? Durchlässigkeit zwischen den Bildungswegen zu sor- Ist Ihnen bekannt, daß die Ausbildungsplanungen gen. Das ist auch gut so. Im Haushaltsentwurf für von Bahn und Post von 3 900 auf 9 000 Ausbildungs- 1996 spiegelt sich diese berufsbildungspolitische plätze noch einmal angehoben worden sind? Ist Ih- Mitverantwortung des Bundes allerdings völlig unzu- nen bekannt, daß wir in der Zeit zwischen März und reichend wider. Ganze 3 % des sogenannten Zu- Juli in den neuen Bundesländern weit mehr als kunftshaushaltes sollen für die berufliche Erstausbil- 10 000 und in den alten Bundesländern 50 000 neue dung und Weiterbildung aufgewandt werden - und Ausbildungsplätze dazubekommen haben? Ist Ihnen dies weitgehend konzeptionslos. bekannt, daß wir das Versprechen der Wi rtschaft, 600 000 Ausbildungsplätze zur Verfügung zu stellen, Herr Minister, ich frage Sie: Wo gehen Sie eigent- heute als erfüllt betrachten können? lich zielgerichtet die Umsetzung der Ergebnisse der Bund-Länder-Arbeitsgruppe „Berufliche Bildung" (Zuruf des Abg. Dr. Peter Struck [SPD]) an? Glauben Sie, Herr Minister, mit einer Politik, die Ist Ihnen eigentlich bewußt, daß Sie mit einem sol- erst die Förderung der Aufstiegsfortbildung streicht chen Fragenkatalog - hier kann nicht jeder hinein und dann, aufgeschreckt von den Folgen, einen der- blöken, Herr Kollege Struck - - artig unzureichenden Entwurf wie den jetzt vorlie- genden Referentenentwurf eines Aufstiegsfortbil- (Dr. Peter Struck [SPD]: Wir sind ein freies dungsförderungsgesetzes vorlegt, die Attraktivität Parlament!) Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 52. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. September 1995 4421

Dr. Jürgen Rüttgers - Nein, nein, aber die Frage des Blöktons ist eine, die möchte ich noch die Frage stellen, Frau Kollegin Bul- zum Problem der Menschenrechte gehört und nicht mahn, und auch feststellen, daß Sie meine Fragen zur Frage des Parlamentarismus. nicht beantwortet und damit deren Richtigkeit bestä- tigt haben, ob Sie eigentlich wirklich alles glauben, (Heiterkeit bei der CDU/CSU) was in den Zeitungen steht. Ist Ihnen eigentlich bewußt, daß Sie mit einer sol- Danke schön. chen Fragewelle, die Sie hier gerade versucht haben anzusprechen, diejenigen, von denen Sie dringend (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU) erwarten, daß sie sich im Bereich der beruflichen Bil- dung engagieren und neue bet riebliche Ausbil- dungsplätze zur Verfügung stellen, dera rt vor den Edelgard Bulmahn (SPD): Ich freue mich, Herr Kopf stoßen, daß am Schluß wieder junge Leute dar- Rüttgers, Ihre Antwort so interpretieren zu können, unter leiden? daß die CDU/CSU-F.D.P.-Regierung nicht beabsich- (Beifall bei der CDU/CSU) tigt, die für die Gemeinschaftsinitiative „Ausbil- dungsplatzsicherung" notwendigen Mittel in Höhe von 136 Millionen DM durch Kürzungen bei anderen Edelgard Bulmahn (SPD): Herr Minister Rüttgers, Transferleistungen für die neuen Bundesländer zu er- ist Ihnen eigentlich bekannt, daß die Finan- wirtschaften. zierung der Gemeinschaftsinitiative „Ausbildungs- platzsicherung " laut Zeitungsartikel „Nordkurier" in (Ina Albowitz [F.D.P.]: Schwach, schwach, folgender Weise vorgesehen ist? Frau Kollegin!)

Von seiten der Haushaltspolitiker der CDU/CSU- Ich freue mich sehr, wenn ich Ihre Antwort genau so Fraktion wird vorgeschlagen, daß für das gerade be- verstehen kann. schlossene Lehrstellenprogramm Ost kein Pfennig zusätzlich ausgegeben wird (Ina Albowitz [F.D.P.]: Schwach, schwach, (Dr. Peter Struck [SPD]: Erwischt! - Weitere Frau Kollegin!) Zurufe von der SPD: Hört! Hört!) Wir werden prüfen, ob Sie auch dabei bleiben. und daß die für 1996 als erste Rate des Programms benötigten 136 Millionen DM durch Kürzungen bei Meine Herren und Damen, wenn ich hier auf die anderen Transferleistungen für die neuen Bundes- Haushaltsansätze zur Förderung von Forschung und länder erwirtschaftet werden. Technologie nur kurz eingehe, so deshalb, weil man aus dem Haushaltsentwurf gar nicht entnehmen (Dr. Peter Struck [SPD]: Lauter Sprüche! - kann, was tatsächlich in den einzelnen Technologie- Weitere Zurufe von der SPD) feldern an Haushaltsmitteln zur Verfügung steht. Meine Damen und Herren, wenn ich hier auf die Ich muß leider sagen, daß ich in den Jahren meiner Haushaltsansätze zur Förderung - - Parlamentszugehörigkeit bisher noch keinen Haus- haltsentwurf gesehen habe, der dera rtig gegen die Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Frau Kollegin Grundsätze von Haushaltsklarheit und Haushalts- Bulmahn, Herr Minister Rüttgers möchte noch eine wahrheit verstößt. So sieht der Haushaltsentwurf Frage stellen. etwa in vielen Schlüsseltechnologien durchaus er- freuliche Wachstumsraten vor, und das begrüßen wir Aber, Herr Minister Rüttgers, ich muß Ihnen sagen, auch. Was nützt es allerdings, wenn für die Projekt- Sie haben die Gelegenheit, jederzeit zu reden, wenn förderung mit 4,6 Milliarden DM zwar 216,2 Millio- Sie das wollen. nen DM mehr als im Vorjahr ausgewiesen sind, da- von aber 366 Millionen DM im Haushalt gar nicht ge- (Dr. Peter Struck [SPD]: Das wäre auch deckt sind? ganz gut, Herr Kollege Rüttgers!) - Aber, Herr Kollege Struck, die Geschäftsordnung (Zustimmung bei der SPD) und die Sitzungsleitung überlassen Sie bitte in die- sem Fall mir, wenn Sie einverstanden sind. Tatsächlich stehen nämlich weder die beim BAföG gestrichenen Mittel in Höhe von 266 Millionen DM (Zuruf von der SPD: Er hat eine Anregung noch die im Rahmen der globalen Minderausgabe gegeben!) einzusparenden 100 Millionen DM zur Verfügung. Beide Beträge sind aber im Haushaltsentwurf locker Also, Herr Rüttgers bitte. verplant worden.

Dr. Jürgen Rüttgers (CDU/CSU): Herr Präsident, Das Ergebnis wird sein, daß im kommenden Jahr nachdem ich mich bemühe, zur Lebhaftigkeit der De- für die Projektförderung erneut weniger Mittel als im batte gemäß den Handreichungen des Präsidiums Vorjahr zur Verfügung stehen, ganz zu schweigen von hier aus beizutragen, davon, daß Sie damit das Ergebnis von 1982 mit 4,7 Milliarden DM Projektförderung wiede rum ver- (Heiterkeit bei der CDU/CSU) fehlen werden. 4422 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 52. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. September 1995

Edelgard Bulmahn Wir brauchen, Herr Minister, wenn wir den Stand- Meine sehr verehrten Damen und Herren, der vor- ort Deutschland sichern wollen, keine Luftbuchun- gelegte Haushaltsentwurf ermöglicht es, die bewähr- gen oder schöne Wo rte, sondern endlich wieder Zu- ten Instrumente unserer Politik für Familien, Senio- kunftsinvestitionen. Zukunftsinvestitionen sind Inve- ren, Frauen und Jugend fortzuführen. Er gewährlei- stitionen in die Zukunft; sie sind keine Investitionen stet Kontinuität und gibt Raum auch für die Verwirk- in der Zukunft. lichung neuer Ansätze.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne- Nach rund 33 Milliarden DM in 1995 sieht der ten der PDS) Haushaltsentwurf für 1996 im Einzelplan 17 ein Vo- lumen von 13,3 Milliarden DM vor. Dieser Rückgang Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Wir sind damit entspricht dem Betrag, der durch die Neuregelung am Ende dieses Geschäftsbereichs. des Familienleistungsausgleichs nicht mehr im Bun- deshaushalt ausgeglichen werden muß. Die Neure- Wir kommen nun zum Geschäftsbereich des Bun- gelung des Familienleistungsausgleichs bringt nicht desministeriums für Familie, Senioren, Frauen und nur eine deutliche finanzielle Verbesserung für die Jugend. Das Wort hat die Parlamentarische Staatsse- Familien, sondern durch den Abzug des Kindergel- kretärin Gertrud Dempwolf. des von der Steuerschuld zugleich auch eine Verein- fachung für Bürger und Verwaltung. -

Gertrud Dempwolf, Parl. Staatssekretärin bei der Der Bundeshaushalt 1996 beweist: Wir meinen es Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und ernst mit der Forderung nach einem schlanken Staat, Jugend: Herr Präsident! Meine sehr verehrten Da- nicht zu Lasten, sondern zugunsten der Bürger. men und Herren! Liebe Kollegin Bulmahn, wir kom- men beide aus Hannover. Obschon das jetzt nicht (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) mein Bereich ist, möchte ich Ihnen doch eines sagen: Ich habe mich im Arbeitsamt Hannover in der ver- Unser Haus wird sich auch in Zukunft an der Dis- gangenen Woche schlau gefragt und wollte wissen, kussion um die Weiterentwicklung des Familienlei- wieviel offene Stellen es für Jugendliche gibt und stungsausgleichs beteiligen; denn es geht uns wieviel Lehrstellen noch frei sind. Ich mußte feststel- darum, die Zukunft unserer Kinder und Familien zu len: In Hannover gibt es mehr offene Lehrstellen, als sichern, und zwar aller. Jugendliche Lehrstellen suchen, und das ist kein Ein- zelfall. Nach dem Fortfall von fast 20 Milliarden DM auf der Ausgabenseite für Kindergeld beruht der weit- aus größte Teil unseres Haushaltes auf gesetzlichen Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Frau Staatsse- Leistungen des Bundes, dem Kindergeld für nicht kretärin, es ist klar: Nach dieser Eröffnung gibt es oder nur gering Steuerpflichtige, dem Erziehungs- eine Zwischenfrage der Kollegin Bulmahn. Ich hoffe, geld, dem Unterhaltsvorschuß und den Ausgaben für daß Sie damit einverstanden sind. die Zivildienstleistenden. Das größte Gewicht behal- ten mit fast 10 Milliarden DM im Haushalt die gesetz- lichen Leistungen für die Familien. Gertrud Dempwolf, Parl. Staatssekretärin bei der Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Ab 1996 erhalten Eltern für ihre ersten und zwei- Jugend: Gut. ten Kinder ein Kindergeld von monatlich 200 DM, für dritte von 300 DM und ab dem vie rten Kind von Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Bitte schön. 350 DM. Auf der Basis des Bundestagsbeschlusses vom 2. Juni wird in Zukunft regelmäßig politisch über die Höhe von Kindergeld und Kinderfreibetrag Edelgard Bulmahn (SPD): Frau Dempwolf, die Be- entschieden. Damit ist ein Einstieg in die Dynamisie- schreibung der Situation in Hannover, die Sie gege- rung des Familienleistungsausgleichs gelungen - ein ben haben, ist zutreffend. Sie müssen allerdings - ich Meilenstein, um den wir alle in der Vergangenheit weiß aber nicht, ob Ihnen das bekannt ist - auch da- jahrelang gerungen haben. zusagen, daß es von seiten des niedersächsischen Ministerpräsidenten bereits vor einem Dreivierteljahr Mit unserer Entscheidung zur Wohnungsbauförde- eine Initiative zur Schaffung von Ausbildungsplätzen rung verbessern wir die Chancen der Familien zur in Niedersachsen gegeben hat und daß diese Initia- Schaffung von Wohnungseigentum. Das Baukinder- tive auch Wirkung gezeigt hat. geld wird um 50 % - ich wiederhole: um 50 % - er- höht, und das bei Aufkommensneutralität. - Ich Gertrud Dempwolf, 'Pari. Staatssekretärin bei der danke dem Finanz- und dem Bauminister dafür, daß Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und sie uns in diesen Punkten gefolgt sind. Man kann ih- Jugend: Ich denke, Frau Bulmahn, daß das nicht die nen dies ja weiterleiten. Initiative Ihres Ministerpräsidenten war, sondern daß es die Industrie- und Handelskammer war, die für die Wichtig ist aber auch, daß der zum 1. Januar 1996 Ausbildung der Jugendlichen in Ausbildungsplätzen geschaffene Rechtsanspruch auf einen Kindergar- gesorgt hat. tenplatz umgesetzt wird. Wir wissen: Die Verantwor- tung hierfür tragen Bundesländer und Kommunen. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Die Länder - das sage ich noch einmal - haben 1992 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 52. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. September 1995 4423

Parl. Staatssekretärin Gertrud Dempwolf im Bundesrat der Einführung des Rechtsanspruches gilt auch für Peking. - Wir als Bundesregierung wer- zugestimmt. 1993 haben sie durch die Neuregelung den in der Menschenrechtsfrage kein Ergebnis hin- des Bund-Länder-Finanzausgleichs die notwendigen nehmen, das hinter die Position der Menschenrechts- Finanzmittel dafür bekommen. konferenz von Wien zurückfällt. Die Bundesregierung hat in der letzten Woche zum (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. so Vorschlag des Bundesrates Stellung genommen, eine wie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ Stichtagsregelung einzuführen. Auf dieser Basis DIE GRÜNEN und der PDS) müssen Kommunen und Länder nur den am jeweili- gen Stichtag dreijährigen Kindern einen Kindergar- Auf der nationalen Ebene müssen wir uns weiter tenplatz bereitstellen. für mehr Gleichberechtigung einsetzen. Dazu gehört meiner Ansicht nach auch, den Tatbestand der Ver- Ich betone an dieser Stelle sehr deutlich, daß wir gewaltigung in der Ehe im Strafgesetzbuch zu veran- eine solche Regelung als Dauerregelung ablehnen. kern. Dies würde zu erheblichen Betreuungslücken führen und den Intentionen des Gesetzes widersprechen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge Die am 1. Januar 1996 zu erwartenden Kapazitäts- ordneten der F.D.P., der SPD und des engpässe sind auf Versäumnisse der Länder in der BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vergangenheit zurückzuführen. Im Mittelpunkt unserer Politik für Frauen müssen (Wolfgang Dehnel [CDU/CSU]: Das ist rich Strategien für eine stärkere Vermittlung der Frauen -tig!) in den ersten Arbeitsmarkt stehen. Daher werden wir in den neuen Bundesländern Konferenzen mit Darunter dürfen Eltern und Kinder aber nicht auf den Tarifparteien, den Trägern, den Wirtschaftsmini- Dauer leiden. Darum hat die Bundesregierung einer stern und den Landesarbeitsämtern durchführen. Die bis zum Jahre 1999 begrenzten Übergangsregelung erste Konferenz wird am 9. Oktober in Erfu stattfin- zugestimmt. rt den. (Beifall der Abg. Cornelia Schmalz-Jacob- sen [F.D.P.]) Auch für den Bereich der Seniorenpolitik sichert der Bundeshaushalt 1996 weiterhin gute Vorausset- Für uns bleibt es dabei: Jedes Kind muß einen zungen. Zur Förderung von gesellschaftspolitischen Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz haben. Maßnahmen für die ältere Generation sind im Haus- halt des nächsten Jahres 36,8 Millionen DM, Im Vorfeld dieser Debatte hat es Diskussionen über- 1,7 Millionen DM mehr als im laufenden Jahr, vorge- die Entwicklung der Zahl der Zivildienstleistenden sehen. gegeben. Für die Bundesregierung gilt: Bei den An- trägen auf Anerkennung als Kriegsdienstverweige- Die Veränderung des nach wie vor bestehenden rer aus Gewissensgründen gibt es keine Trend- negativen Altersbildes in der Gesellschaft gehört zu wende. Die Zahlen verharren zwar auf einem hohen den ganz besonders wichtigen Aufgaben der Senio- Niveau, das wir seit der deutschen Einheit kennen. renpolitik. Dieses Ziel verfolgen wir insbesondere da- Es besteht aber keine Notwendigkeit, das seit 1984 durch, daß wir die Aktivitäten von Senioren und Se- gültige Anerkennungsverfahren zu verändern. Die- niorinnen fördern und auch in der Öffentlichkeit be- ses Verfahren hat sich seit über zehn Jahren be- kanntmachen. Das laufende Modellprogramm „Se- währt. - Natürlich werden wir auch weiterhin darauf niorenbüro" unseres Hauses macht dies deutlich. achten, daß das Grundrecht auf Kriegsdienstverwei- Das Engagement der Älteren ist vielfältig, und die gerung aus Gewissensgründen nicht als Wahlrecht Bereitschaft, sich für andere einzusetzen, ist sehr mißverstanden werden kann. groß.

Insgesamt leisten unsere Zivildienstleistenden ei- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) nen außerordentlich we rtvollen Dienst, Den Bundesaltenplan als das Hauptförderinstru- (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P., der ment in der Altenpolitik meines Hauses werden wir SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) schrittweise weiter ausbauen. Als einen Schwer- gerade da, wo sie alten, kranken und pflegebedürfti- punkt werden wir dabei das bundesweite Modell gen Menschen helfen. „Wohnkonzepte der Zukunft - Für ein selbstbe- stimmtes Leben im Alter" entwickeln und durchfüh- Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Bun- ren. Ich denke da an das Modell „Junges Haus", in desministerin Frau Nolte hat gestern in Peking die dem man alt werden kann. 4. Weltfrauenkonferenz miteröffnet; sie hat dabei all unsere Erwartungen erfüllt. Ziel ist es, Strategien zu Verantwortungsvolle Seniorenpolitik muß sich beschließen, die die Gleichberechtigung zwischen frühzeitig mit der Bevölkerungsentwicklung ausein- Männern und Frauen weltweit voranbringen, und andersetzen. Darum freue ich mich, daß die Enquete Gewalt gegen Frauen abzubauen. Kommission „Demographischer Wandel", die schon in der 12. Legislaturperiode bestanden hat, ihre Ar- Bereits jetzt kann man sagen: Durch diese UN- beit fortsetzen wird. Konferenz ist der Blick der Weltöffentlichkeit auf die Situation von Frauen, insbesondere auf Menschen- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, rechtsverletzungen an Frauen, gelenkt worden; dies der F.D.P. und der SPD) 4424 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 52. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. September 1995

Parl. Staatssekretärin Gertrud Dempwolf Für eine tragfähige Basis seniorenpolitischer Ent- Unsere Gemeinschaft lebt vom Engagement der scheidungen werden auch die Ergebnisse der Al- Bürger. Eigensinn und Selbstverwirklichung dürfen ternsforschung noch weiter an Bedeutung gewinnen. nicht der Hauptpunkt in unserem Leben sein. Die Daher begrüßt die Bundesregierung, daß das mit Selbstverwirklichung des einzelnen endet da, wo an- dem Land Baden-Württemberg ins Leben gerufene dere dadurch zu Schaden kommen. Deutsche Alternsforschungszentrum in Heidelberg Meine sehr verehrten Damen und Herren, dies ge- jetzt mit der Arbeit beginnen kann. sellschaftspolitisch wieder deutlich zu machen, darin Mit dem Kinder- und Jugendplan des Bundes über sehe ich eine zentrale Aufgabe des Bundesministeri- 205,6 Millionen DM stellen wir auch 1996 die Vielfalt ums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. der Jugendhilfe auf Bundesebene sicher. Ein wichti- Danke schön. ges Ziel der Jugendpolitik muß es weiterhin sein, jungen Menschen Möglichkeiten zu eröffnen, sich (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) für andere Menschen, für kulturelle Zwecke, für die Umwelt oder für gemeinschaftliche Belange zu enga- Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Ich erteile der gieren und zu bewähren. Abgeordneten Hanna Wolf das Wort. Schon über 100 000 junge Frauen und Männer ha- ben für ein Taschengeld das Freiwillige Soziale Jahr Hanna Wolf (München) (SPD): Herr Präsident! absolviert. Auch für das Freiwillige Ökologische Jahr Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bevor ich auf den übertrifft das Interesse bei weitem die angebotenen Bundeshaushalt eingehe, möchte ich unsere Auf- Stellen. merksamkeit auf die Weltfrauenkonferenz in Peking richten. Es ist einfach skandalös, wie die chinesische (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU Regierung versucht, den Ablauf der Konferenz, be- und der F.D.P. - Cornelia Schmalz-Jacobsen sonders jener der NGOs, zu stören. [F.D.P.]: Wie schön!) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Wir werden daher bestrebt sein, zusätzliche Plätze DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der bereitzustellen, damit möglichst viele Bewerbe rinnen CDU/CSU und F.D.P.) und Bewerber ihren freiwilligen Dienst auch tatsäch- lich leisten können. Die Einschränkungen und Behinderungen, die Be- spitzelungen und die selektive Vergabe von Visa Aber auch in anderen Bereichen der Jugendpolitik durch die chinesischen Behörden sind beispiellos für wollen wir in mehrjährigen Aktionen Schwerpunkte - eine Konferenz, die von der UNO veranstaltet wird. setzen. So wollen wir z. B. ausgewählte Initiativen zur Integration junger Ausländer unterstützen sowie (Zuruf von der CDU/CSU: Was soll man von gezielte Maßnahmen zur Betreuung von nichtseßhaf- einem kommunistischen System anderes ten Kindern und Jugendlichen fördern. verlangen?) In der internationalen Jugendarbeit wollen wir Ich protestiere auf das schärfste - ich hoffe, im Na- insbesondere gegenüber unseren östlichen Nach- men von uns allen und besonders auch im Namen barn zusätzliche Aktivitäten initiieren und fördern. der Kolleginnen, die jetzt in Peking sind. Nach dem Besuch des Bundeskanzlers in Polen ist (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE dort die von uns lange gewünschte Bereitschaft be- GRÜNEN und der PDS sowie bei Abgeord kundet worden, gemeinsam dem Deutsch-Polni- neten der CDU/CSU und der F.D.P.) schen Jugendwerk mehr Mittel zur Verfügung zu stellen. Denn die Teilnahme von über 60 000 jungen Dies an die chinesische Adresse. Polen und Deutschen am Austausch zeigt das große Die Ministerin Nolte hat in Peking und auch hier Interesse der Jugend am gegenseitigen Kennenler- immer unsere volle Unterstützung, wenn sie klar und nen und Miteinander. Auch die Zusammenarbeit mit deutlich für Menschenrechte von Frauen eintritt. Tschechien wollen wir ausbauen. (Beifall im ganzen Hause) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. so- wie bei Abgeordneten der SPD und des Ich begrüße es, daß Frau Nolte in Peking wörtlich be- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) tont hat, „keine religiösen, kulturellen oder traditio- nellen Einschränkungen" der Menschenrechte von Ein wichtiger Bestandteil unserer sozialen Land- Frauen hinnehmen zu wollen. So war es schon auf schaft und aus ihr nicht wegzudenken sind die Wohl- der UNO-Menschenrechtskonferenz in Wien be- fahrtsverbände. Mit mehr als 930 000 hauptamtli- schlossen worden. chen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern stellen sie in über 80 000 Einrichtungen fast 3 Millionen Betten Wir fordern aber von der Ministerin, daß sie die und Plätze bereit. Für die Durchführung ihrer zentra- Menschenrechte der Frauen auch hierzulande kon- len und internationalen Aufgaben einschließlich der sequent umsetzt. bundeszentralen Fortbildung erhalten die Wohl- (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE fahrtsverbände auch im nächsten Jahr 38,7 Millionen GRÜNEN und der PDS) DM. Damit und mit den in der mittelfristigen Finanz- planung vorgesehenen jährlichen Erhöhungen wer- Von ihrem persönlichen Abstimmungsverhalten bei den wir der gesellschaftspolitischen Bedeutung der der Reform des Abtreibungsrechts möchte ich hier freien Wohlfahrtspflege gerecht. nicht reden. Ich möchte nur darauf hinweisen - das Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 52. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. September 1995 4425

Hanna Wolf (München) hat die Ministerin in Peking offenbar vergessen -, kommen - in das Gesetz hineinschreiben wollen, daß daß nicht nur Zwangsabtreibungen, sondern auch Opfer selbst darüber entscheiden sollen, ob Täter be- Zwangsschwangerschaften eine Verletzung der straft werden. Eine solche Entscheidung darf nur das Menschenrechte darstellen. Gericht fällen. (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE (Beifall bei der SPD sowie dem BÜNDNIS 90/ GRÜNEN und der PDS) DIE GRÜNEN) In Peking soll eine Aktionsplattform dahin formu- Die Ministerin hat für 1996 eine Kampagne ange- liert werden, daß alle Frauen ein Recht auf die Be- kündigt, in der Männer und Frauen für die immer stimmung der Zahl ihrer Kinder haben. Ich habe ge- noch bestehende Benachteiligung von Frauen sensi- rade von der Staatssekretärin gehört, daß Sie gegen- bilisiert werden sollen. Jetzt habe ich gedacht, der über den Forderungen von Wien und Kairo nicht zu- Bundeskanzler sei extra gekommen, um an dieser rückgehen wollen. Darüber sind wir sehr glücklich; Sensibilisierungskampagne teilzunehmen, aber wie wir freuen uns, daß wir alle hierin übereinstimmen. wir sehen, hat er den Raum verlassen. In diesem Dann gehört auch diese Passage dazu. Sinne war es eine Fehlkalkulation, daß er sich tat- sächlich auch einmal für dieses Thema interessiert. Wenn sich Deutschland zu den Menschenrechten Aber er wäre ganz dringend hier gefordert, denn von Frauen bekennt, dann müssen wir auch den Sensibilisierungskampagnen hatten wir genug. Alle, Frauen Asyl gewähren, die auf Grund ihres Ge- die damit erreicht worden sind, sind sensibilisiert ge- schlechts oder ihrer sexuellen Orientierung in ihren nug. Wir brauchen keine Worte, keine Kampagnen, Heimatländern verfolgt, vergewaltigt, verstümmelt sondern Taten, und das nicht nur auf der Weltfrauen- oder mit dem Tod bedroht werden. Algerien ist nur konferenz, sondern auch hier. Wir brauchen Gesetze. das aktuellste Beispiel. (Beifall der Abg. Ingrid Holzhüter [SPD]) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Wir müssen darauf dringen, daß diese Verletzungen der Menschenrechte von Frauen in ihren Heimatlän- Die Ministerin ist mit der Einstellung nach Peking dern aufhören. Die deutsche Diplomatie und die abgereist, bei uns sehe es für die Frauen ganz gut deutsche Wirtschaftspolitik sind dazu aufzurufen, aus. Das ist auch so in ihrem Be richt über die Lage diese Menschenrechte nicht um des kurzfristigen der Frauen in Deutschland zu lesen. Dabei ignoriert Profits willen zu verraten. sie völlig, daß die deutschen NGOs zu einem ganz anderen Urteil kommen. Sie ignoriert auch, daß wir (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ - uns dabei natürlich mit anderen Industrieländern DIE GRÜNEN) vergleichen müssen. Wir haben ebenfalls schon lange gefordert, daß Und weltweit gesehen? Die Frauen leisten die mei- hierzulande das abhängige Aufenthaltsrecht von ste Arbeit und besitzen nur einen verschwindend ge- ausländischen Ehefrauen in ein eigenständiges um- ringen Teil des Vermögens. Sie haben mindere gewandelt wird. Wenn diese Frauen von ihren deut- Rechte oder können ihre Rechte nicht wahrnehmen. schen oder ausländischen Ehemännern mit Gewalt Der Internationale Gewerkschaftsbund hat errech- bedroht werden, darf es für dieses Aufenthaltsrecht net, daß bei dem heutigen Tempo der Entwicklung keine Fristen geben. noch 475 Jahre bis zur Gleichberechtigung vergehen werden. Liebe Kolleginnen von der CDU/CSU und beson- ders von der F.D.P. - Frau Schmalz-Jacobsen, ich (Zuruf von der SPD: Hört! Hört!) sehe Sie da eigentlich in großer Übereinstimmung mit unseren Forderungen -, jetzt müssen wir in die- Ich denke, diese Zahl ist eindrucksvoll genug. sem Bereich auch handeln. Wir haben uns das vor (Dr. Gisela Babel [F.D.P.]: Wir sind auf dem der Sommerpause vorgenommen. Jetzt ist es so weit, Weg!) daß wir uns im Bereich der Gewalt von den vorgese- henen Fristen trennen müssen. Ich bitte sehr herzlich - Wir sind auf dem Weg. Wir werden dann allerdings darum, daß wir darin zu einer Übereinstimmung diese Strecke nur wenig begleiten können. Das wäre kommen; denn sonst darf Ihre Seite diese Reden, die doch sehr schade. Sie haben immer angekündigt, wir alle im Bundestag halten, nicht mehr halten. daß wir mit Ihnen auf der Strecke des Fortschritts (Beifall bei der SPD) sind. Ich bitte Sie jetzt, diesen endlosen Ankündi- gungen Taten folgen zu lassen, gerade auch was die Darüber hinaus muß der Frauen- und Mädchen- Frauen betrifft. Deswegen gehe ich heute auch spe- handel hierzulande wirkungsvoll verfolgt werden. ziell darauf ein. Auf den Bereich Jugend wird mein Deshalb müssen die Opfer durch unsere Gesetze vor Kollege Hagemann eingehen. Abschiebung geschützt werden. Liebe Kolleginnen und Kollegen, nirgends sind die Die Ministerin Nolte erklärte in Peking, sie werde - Verhältnisse rosig, auch bei uns nicht. Daran hat ich zitiere jetzt - „jegliche Anstrengungen unterneh- auch das neue Ministerium nichts geändert, nicht men, daß künftig auch Vergewaltigung in der Ehe nur, weil dem Ministerium nach der Zuständigkeit unter Strafe gestellt wird." Dann darf sie aber auch für das Bundessozialhilfegesetz auch noch die Zu- nicht - das Gesetz ist lange überfällig; wir haben ständigkeit für das Kindergeld genommen wurde, schon so oft darüber geredet, aber es soll ja jetzt sondern es liegt vor allem daran, daß die Ministerin 4426 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 52. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. September 1995

Hanna Wolf (München) ihr Ressort nicht als Querschnittaufgabe versteht und Hanna Wolf (München) (SPD): Herr Kollege, ist Ih- begreift. In einem solchen Ministe rium braucht es nen bekannt, daß wir eine Bundesregierung haben, politische Durchsetzungskraft. Die hat Frau Nolte die den Kommunen immer mehr Lasten aufbürdet, nicht, und der Kanzler gibt sie ihr auch nicht. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Zuruf von der SPD: Leider!) DIE GRÜNEN) Nehmen wir einen wichtigen verbliebenen Haus- und daß die Kommunen nicht mehr wissen, wo sie haltspunkt: das Erziehungsgeld. Hier hat die Mi- das Geld für ihre Etats hernehmen sollen? nisterin selbst gefordert, die Einkommensgrenzen so anzuheben, daß wieder der größte Teil der Eltern das (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Eine sehr bil volle Erziehungsgeld auch nach dem sechsten Le- lige Antwort! - Weiterer Zuruf von der bensmonat des Kindes erhalten kann. Geschehen ist CDU/CSU: Wie ist das denn in München? - aber nichts, nicht einmal eine ernsthafte Ankündi- Gegenrufe von der SPD) gung einer Gesetzesänderung, von entsprechenden - Gut, ich verstehe ja, daß diese rheto rischen Retour- Entwürfen ganz zu schweigen. Statt dessen müssen kutschen gefahren werden. wir feststellen, daß für die Zahlung des Erziehungs- geldes 1996 100 Millionen DM weniger vorgesehen Was brauchen die Frauen besonders? Sie brauchen sind als noch im Haushalt 1995. Wieder sind viele Fa- unter anderem ein ausreichendes Angebot an Ganz- milien und Alleinerziehende aus der Förderung her- tagsschulen. Es ist Ihnen bekannt, daß Ganztags- ausgefallen. Hätte Frau Nolte diesen Haushaltstitel schulen für Baye rn den Inbegriff des Revolutionären in seiner vollen Höhe verteidigt, dann hätte sie die darstellen. Ganztagsschulen werden in Bayern sozu- Möglichkeit gehabt, die Bemessungsgrenzen zu ver- sagen nach wie vor nicht zugelassen. Bayern bildet ändern, um wieder mehr Eltern mit Kindern das Er- in dieser Beziehung das Schlußlicht nicht nur in Eu- ziehungsgeld zukommen zu lassen. ropa. Bayern befindet sich am allerletzten Ende des- Die Ministerin sieht ihr Haus gern als Haus der Ge- sen, was man heute in bezug auf pädagogische und nerationen. Sie sagt, die Jugend darf darin nicht ge- sonstige Einrichtungen braucht, um den Anspruch gen die Senioren ausgespielt werden. Gleichzeitig von Frauen und auch von Männern, wenn sie sich spielt sie aber die Familienpolitik gegen die Frauen dann endlich einmal richtig um die Familie kümmern aus. Es ist töricht, immer nur die Frauen mit der Familie - Sie wollen das ja immer ganz besonders -, auf Teil- in Zusammenhang zu bringen. Ich zitiere aus einem habe einlösen zu können. Daneben brauchen wir Brief des Bundes der Deutschen Katholischen Jugend: Hort- und Krippenplätze, damit wir die erforderli- - chen begleitenden Einrichtungen zu unserer Verfü- Die heutige Mädchengeneration will nicht nur gung haben. die Familie, sondern darüber hinaus einen aus- sichtsreichen Platz in Beruf und Öffentlichkeit. Wie verhält es sich mit dem Rechtsanspruch auf ei- Erst recht dürfen familiäre Bindungen Mädchen nen Kindergartenplatz? Wir kennen diese Debatte. nicht zum Nachteil gereichen. Wir sagen: Der Bund hätte finanzielle Mittel für die- ses Jahrhundertwerk zur Verfügung stellen müssen. Aber sie gereichen ihnen später doch zum Nachteil. Ein ausreichendes Angebot an Ganztagsschulen, qua- (Katrin Fuchs [Verl] [SPD]: Das kann er im lifizierten Hort- und Krippenplätzen ist das, was ihnen mer noch!) und einigen engagierten Partnern immernoch fehlt. Wenn Sie sagen, daß die Länder Geld bekommen ha- ben, erwidern wir: Sie haben nicht genug bekom- Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Frau Kollegin men. - Dieser Streit ändert aber nichts an der Tatsa- Wolf, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeord- che, daß wir diesen Rechtsanspruch sofort und am neten Singhammer? liebsten ohne eine Stichtagsregelung einlösen möch- ten.

Hanna Wolf (München) (SPD): Bitte. (Katrin Fuchs [Verl] [SPD]: Der Bund drückt sich vor seiner Verantwortung!)

Johannes Singhammer (CDU/CSU): Frau Kollegin Das brauchen die Familien; die Frauen haben das Wolf, Sie haben kritisiert, daß die Bundesregierung durchgesetzt. Darauf können wir stolz sein. Aller- nicht sofort das Erziehungsgeld entsprechend erhöht dings sind die finanziellen Engpässe eindeutig. hat. Ich frage Sie: Ist Ihnen bekannt, daß bereits in dieser Legislaturperiode innerhalb von zehn Mona- Was Frauen aber vor allem fehlt, sind qualifizierte ten der Familienleistungsausgleich auf den Weg ge- Arbeitsplätze. Von der steigenden Langzeitarbeitslo- bracht worden ist? Ist Ihnen bekannt, daß in der sigkeit sind vor allem Frauen betroffen. Kürzungen Stadt, aus der wir beide gemeinsam kommen, näm- bei Umschulungsmaßnahmen treffen wieder in erster lich in München, wo eine rot-grüne Stadtregierung Linie Frauen. In diesem Jahr fehlen Tausende von das Sagen hat, nahezu alle freiwilligen familienpoliti- Ausbildungsplätzen, ganz besonders auch für Mäd- schen Leistungen in den letzten Jahren gekürzt wor- chen. Eine Debatte darüber haben wir ja vorhin ge- den sind? führt. Mit der von der SPD geforderten Quotierung der Ausbildungsplätze hätten Mädchen wenigstens (Beifall bei der CDU/CSU - Zuruf von der am Anfang Chancengleichheit vorgefunden. Um SPD: Warum denn?) Frauen insgesamt bessere Chancen auf dem Arbeits- Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 52. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. September 1995 4427

Hanna Wolf (München) markt zu geben, brauchen wir ein Gleichstellungsge- sie etwas gesagt. Wir als Koalitionsfraktionen haben setz, das in allen Wirtschaftsbereichen gilt. Das vor- deshalb Respekt angesichts der Form und des In- handene sogenannte Gleichberechtigungsgesetz hat halts, des Auftretens und der Ausführungen, die bisher eigentlich wenig gezündet. Frau Ministerin Nolte aktuell in Peking gemacht hat. Ich habe absichtlich von qualifizierten Arbeitsplät- (Beifall bei der CDU/CSU) e schlechtbe- zen gesprochen; denn unqualifizie rt Meine Damen und Herren, ich möchte in dieser er- zahlte Arbeit - und das auch noch in Teilzeit - er- sten Lesung des Haushalts etwas im Blick auf den nährt die Frau jetzt nicht und im Alter nicht. Herrn Gesamtetat sagen. Wir diskutieren zum zweitenmal Rexrodts wunderbare Arbeitswelt der flexiblen La- nach der Bundestagswahl einen Bundeshaushalt. Vor denschlußzeiten bringt nicht nur noch mehr gering- einem halben Jahr haben wir festgestellt, daß der fügig Beschäftigte, noch geringere Bezahlung und Einzeletat, um dessen Beratung es hier im konkreten gar keine Alterssicherung; darüber hinaus geht diese Fall geht, im letzten Jahr eine Steigerung von 6,5 % Flexibilisierung auf Kosten des Familien- und Ge- erfahren hat, und das angesichts einer Steigerung meinschaftslebens. des Gesamthaushalts 1995 von lediglich 1,3 %. Schon Sie sehen selbst, das Ministerium für Familie, Se- damals habe ich gesagt: Das ist eine deutliche, eine nioren, Frauen und Jugend hat wirklich Quer- nachvollziehbare Akzentsetzung. Sie war ja auch schnittsaufgaben. Die Ministerin muß sich in die Be- vom Bundeskanzler in seiner ersten Regierungser- reiche Recht, Arbeit, Soziales und Bildung einmi- klärung dieser Legislaturperiode angekündigt. schen. Das erfordert aber die Kraft einer Supermi- Ich möchte darauf hinweisen, daß wir diese Ak- nisterin; die ist sie leider nicht. So wird aus einem zentsetzung auch in diesem Jahr, also im Blick auf Gemischtwarenladen leider auch kein Superministe- den Haushalt 1996 fortsetzen. Andere reden, wir rium. handeln! (Beifall bei der SPD und beim BÜNDNIS 90/ (Hanna Wolf [München] [SPD]: Donnerwet DIE GRÜNEN - Zuruf von der SPD: Das ist ter!) wohl wahr!) Der entscheidende Punkt ist: Wären die Ausgaben, die im Zusammenhang mit dem neuen Familienlei- Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Ich erteile das stungsausgleich auf den Bund zukommen, im Einzel- Wort dem Abgeordneten Peter Jacoby. plan 17 veranschlagt worden, wie dies all die Jahre der Fall gewesen ist, und hätten wir das System nicht - auf Steuervergünstigung umgestellt - das wollten Peter Jacoby (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine wir ja; es ist unbürokratischer, es ist direkter -, dann Damen und Herren! Klaus Natorp von der „Frank- würde der Einzelplan 17, um dessen Beratung es furter Allgemeinen Zeitung" schrieb dieser Tage fol- jetzt geht, um sage und schreibe 20 % steigen. Das ist gendes: doch eine beachtliche Leistung, an Hand deren man Daß es in keinem Land der Erde Frauen so gut sozialstaatliches Engagement, familienpolitisches eren kann. Das ist nicht Theo- geht wie Männern, daß sie in ihrem Leben nicht Engagement demonstri nur länger arbeiten als Männer, sondern bei glei- rie, das ist nicht allein eine Frage der Willensbekun- cher Arbeit auch weniger verdienen, daß ihre dung, sondern drückt sich in ganz konkreten mate- Haus- und Feldarbeit fast überall in der Welt un- riellen Ansätzen aus, auch und gerade in diesem terbewertet wird, daß zwischen Männern und Bundeshaushalt 1996. Frauen im Hinblick auf Bildung und Gesundheit (Beifall bei der CDU/CSU) immer noch eine Kluft besteht, ist eine Schande. Deshalb geht es nicht nur um die Erhöhung des So ist es in einem Leitartikel in der „Frankfurter Kindergelds für das erste und das zweite, für das Allgemeinen Zeitung" formuliert. dritte und jedes weitere Kind, geht es nicht nur um die Anhebung des Freibetrages. Es gibt zudem die (Zustimmung bei der SPD) Heraufsetzung der allgemeinen Altersgrenze für den Ich denke, daß diese Formulierung gut ist. Wir sind Bezug des Kindergeldes von bisher 16 auf 18 Jahre. uns sicherlich in dieser Einschätzung über Partei- Es gibt die Heraufsetzung der Einkommensgrenze für Kinder über 18 Jahre. Es gibt die gesicherte Per- grenzen hinweg einig. spektive - darauf hat man sich parteiübergreifend (Katrin Fuchs [Verl] [SPD]: Und das ändern verständigt - der weiteren Anhebung des Kindergel- wir jetzt gemeinsam!) des auf 220 DM ab 1997. Und es gibt den erklärten politischen Willen einer Dynamisierung der fami- Deshalb ist es gut, daß die Frauenkonferenz in Pe- lienpolitischen Leistungen über 1998 hinaus. king stattfindet und daß wir, vertreten durch die Bun- desregierung, aber auch durch Parlamentarier, dort Dies verdeutlicht die Fortsetzung einer familienpo- sind. litischen Akzentsetzung, wie sie seit mehr als einem Jahrzehnt in der Verantwortung der Koalitionsfrak- Frau Ministerin Nolte hat glasklare Ausführungen tionen vorgenommen wird. Ich nenne nur die Rege- gemacht zu den Maßstäben, die es dort einzufordern lungen zum Erziehungsurlaub, zum Erziehungsgeld, gilt. Ich räume ein: Damit verbunden sind auch Ver- die Anerkennung der Erziehungsjahre und der Pfle- pflichtungen im eigenen Land. Aber auch dazu hat geleistungen für die Rente. Zusammengenommen 4428 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 52. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. September 1995

Peter Jacoby sind das nicht nur Mosaiksteine, sondern es ergibt in diesem Zusammenhang veranstaltet wird; ange- mittlerweile ein nachhaltiges Bild und belegt, wie fangen bei den Sozialstationen über die mobilen so- man in familienpolitischer, in sozialstaatlicher Moti- zialen Dienste bis hin zu den Ansätzen für die freien vation handeln und entscheiden kann. Träger. Meine Damen und Herren, es ist trotz des Ziels ei- (Zuruf von der SPD: Ja, warum wohl?) ner notwendigen Haushaltskonsolidierung gelun- Insofern, glaube ich, kann man nicht in einer einseiti- gen, die zur Verfügung stehenden freien Mittel, also gen Schuldzuweisung mit Blick auf den Bund argu- die Mittel, die man im operativen Bereich des Mini- mentieren, sondern es ist in der Tat so, daß die Haus- steriums neben den gesetzlichen Aufgaben einset- haltszwänge durchgängig das Problem sind. Man zen kann, durchweg zu stabilisieren; da und do rt braucht nur heute in der Tageszeitung zu lesen, wie sind sogar Zuwächse in Ansatz gebracht worden. die Haushaltsdebatte im Landtag von Hessen geführt Dies spricht in der Tat für die Kontinuität, für die Ver- worden ist, wie die Regierungserklärung in Bremen läßlichkeit einer Politik. ausgesehen hat und welche Auswirkungen das für Wenn auch manches knapp kalkuliert ist: Führt die Sozialdebatte hatte, die do rt geführt worden ist. man in diesen Tagen Gespräche mit den Wohlfahrts- verbänden, mit den Jugendverbänden, mit den vie- Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Gestatten Sie len freiwilligen Initiativen, für die wir ja die Initial- eine Zwischenfrage des Kollegen Dehnel? zündung bieten - wir gehen ja davon aus, daß das ehrenamtliche Engagement dann erst freigesetzt werden kann -, dann hört man: Wir akzeptieren an- Peter Jacoby (CDU/CSU): Bitte schön. gesichts der Haushaltssituation, daß die Mittelan- (Dr. Ruth Fuchs [PDS]: Ja, Hilfe aus den ei sätze so bleiben, wie sie sind; aber bitte kümmert genen Reihen gestattet man immer!) euch darum, daß nicht eine globale Minderausgabe am Ende der Haushaltsberatungen herauskommt. Wolfgang Dehnel (CDU/CSU): Lieber Kollege Ja- Deshalb haben wir die Bitte an die Opposition, mit- coby, können Sie bestätigen, daß in den neuen Bun- zuhelfen, die Dinge stabil zu halten, weil wir dann desländern dieser Beschluß des Deutschen Bundes- das Kürzen mit der Heckenschere vermeiden können tages eingehalten wurde und tatkräftig umgesetzt - und das im Interesse all derer, die von unseren fi- wird, daß also dort die Kindergartenplätze durch nanziellen Rahmenbedingungen, die wir schaffen, Prioritätensetzung nahezu hundertprozentig ausge- profitieren. Letztendlich ist es das gesamte Land, die lastet sind? ganze Gesellschaft, die davon profitiert. - (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Peter Jacoby (CDU/CSU): Das bestätige ich gern. Ich will in diesem Zusammenhang schon darauf Deshalb ist auch die aktuelle Debatte, die zu diesem hinweisen: Es ist nicht nur der Bund, der in unserem Punkt kritisch geführt worden ist, eine Debatte, die mit Blick auf die alten Länder geführt wird, deren fi- Land sozialstaatliche Verantwortung trägt, sondern nanzielle Voraussetzungen zur Umsetzung dieses gefordert sind natürlich auch die Länder und die Kommunen. Rechtes bei weitem besser sind als diejenigen der neuen Länder. Trotzdem ist die Situation so, wie Sie (Zuruf von der CDU/CSU: Sehr richtig!) dies beschreiben. Da ist es schon eigenartig, im Zusammenhang mit (Zustimmung bei der CDU/CSU) dem Recht auf einen Kindergartenplatz, völlig aus dem Bewußtsein zu verdrängen, daß es anläßlich der Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Gestatten Sie Solidarpaktverhandlungen vor zwei Jahren eine Bes- noch eine Zwischenfrage, Herr Kollege? serstellung der Länder bei der Verteilung der Um- satzsteuer gegeben hat; gerade im Vorgriff auf dieses (CDU/CSU): Gerne. Recht auf einen Kindergartenplatz, um dessen Reali- Peter Jacoby sierung wir uns bemühen. Hätten die Länder die zur Verfügung gestellten Mittel an die Gemeinden wei- Ingrid Holzhüter (SPD): Geben Sie mir recht, wenn tergegeben, wären vielerorts andere Prioritäten ge- ich Ihnen sage, daß der Überschuß an Kinderga rten- setzt worden; dann bräuchten wir uns in der Tat, plätzen in den neuen Bundesländern auch damit zu- Frau Kollegin Wolf, jetzt nicht darüber zu ärgern, daß sammenhängt, daß es einen dramatischen Geburten- Stichtagsregelungen als Überbrückung in Erwägung rückgang gibt, der sicherlich nicht mit der Freude gezogen werden; Stichtagsregelungen, die in der Tat auf die Zukunft bei den Frauen zu tun hat? Geben kein Dauerzustand sein können und die in der Tat Sie mir auch recht, daß die zunehmenden Sterilisatio- politisch von dieser Bundesregierung und diesen Ko- nen sicherlich auch ihren Hintergrund haben? alitionsfraktionen auch nicht gewollt sind. (Katrin Fuchs [Verl] [SPD]: Die miese so (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU - ziale Lage!) Katrin Fuchs [Verl] [SPD]: Gut, dann muß Ich denke, daß wir drei Jahre Zeit hatten, schon ein- die Regierung zahlen!) mal zu reagieren, und das dies leider nicht geschah. Bei aller Kritik im Einzelfall: Man muß doch auch sehen, was alles mittlerweile auf der Länderebene Peter Jacoby (CDU/CSU): Frau Kollegin, ich bin und auf der Ebene der Kommunen an Streichorgien gerne bereit, zuzugestehen, daß gesellschaftspoliti- Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 52. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. September 1995 4429

Peter Jacoby sehe Hintergründe durchaus sehr kritisch und sehr merinnen und Teilnehmer erweisen sich in Peking differenziert zu betrachten und zu diskutieren sind als würdige Gäste, weil sie die Probleme, die Frauen und daß man nicht in einer pauschalen A rt und in dieser Welt haben, über Kulturgrenzen hinweg mit Weise über die Dinge hinweggehen kann. Nun ist einer relativ großen Einigkeit - ich glaube, sogar mit aber vorhin der Versuch gemacht worden, doch sehr einer größeren Einigkeit als seinerzeit in Kairo - zur schnell darüber hinwegzugehen, daß es gerade mit Sprache bringen und gemeinsam nach Lösungen su- Blick auf das Recht auf einen Kindergartenplatz chen. Ich meine, das sollten wir begrüßen. schon finanzielle Leistungen des Bundes in Richtung der Länder gegeben hat, nämlich anläßlich der Soli- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN darpaktverhandlungen. Angesichts dessen finde ich sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der bedauerlich, daß in der Folge die falschen Prioritä- SPD und der F.D.P.) tensetzungen in einigen Bundesländern, insbeson- Das zentrale Problem, vor dem die Frauen in dieser dere im westlichen Bereich, vorgenommen worden Welt stehen, ist die Armut; das ist völlig klar. Wenn sind. Wenn wir uns darüber verständigen, dann, wir hier in einem sehr reichen Land über dieses meine ich, beklagen wir gemeinsam die jetzige Stich- Thema diskutieren, wird von vielen Frauen in den tagsregelung. Wir sollten zusammen dafür sorgen - Entwicklungsländern immer der Vorwurf kommen: auch in den Gegenden, aus denen wir kommen -, Na ja, eure Probleme, die ihr diskutiert, sind ange- daß künftig eine andere Prioritätensetzung erfolgt. sichts der Armut, mit der wir konfrontiert sind, rela- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) tive Kleinigkeiten. Ich meine, daß Sie das zentrale Problem ist und bekämpft werden muß. Es macht Meine Damen und Herren, ganz generell finde ich deutlich, daß Frauenpolitik nicht auf den Einzelplan, - das möchte ich zum Schluß ansprechen -, daß wir den wir gerade diskutieren, reduziert werden kann, bei der Diskussion der Themenfelder, um die es hier sondern daß die Probleme, die angesprochen wur- geht, nicht nur in der materiellen Betrachtungsweise den, von der Bundesregierung auch in sehr vielen verharren können. Vieles sind Strukturfragen, die anderen Bereichen behandelt werden müssen. Sie auf den Prüfstand gehören. Das wollen wir auch im müssen in viel stärkerem Maße übernommen wer- Zusammenhang mit den Haushaltsberatungen tun. den, als das bisher geschehen ist. Wir wollen es auch in Debatten möglichst ressort- übergreifend tun. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD) Es ist falsch, daß man die Summe der Bemühungen im jugend-, frauen- und familienpolitischen Bereich Natürlich, Entwicklungspolitik muß Frauen und nicht zur Kenntnis nimmt: vom Baukindergeld über- Männer, die die frauenspezifischen Probleme in Ent- Wohnungseigentumsförderung und Lehrstellenkam- wicklungsländern, in armen Ländern zum Thema pagne bis hin zu den klassischen Ansätzen, die wir machen, stärken, und zwar viel mehr, als das bisher im Einzeletat 17 vornehmen. Es sind nicht nur Rand- geschehen ist. Da muß die Entwicklungshilfe der gruppen, die unsere Aufmerksamkeit zu Recht ver- Bundesregierung ansetzen. dienen; es ist die breite Öffentlichkeit, die von den Initiativen profitiert. Deshalb handelt es sich auch Des weiteren muß das Außenministerium natürlich um Akzentsetzungen, die deutlich über den Tag hin- darauf drängen, daß die Menschenrechte, die unteil- auswirken. Ich spreche nur das an, was im Zusam- bar sind und nicht von irgendwelchen kulturellen menhang mit dem Deutsch-Polnischen Jugendwerk „Errungenschaften" - z. B. der Klitorisbeschneidung - an Verpflichtungen zusätzlich eingegangen wird. beeinträchtigt werden dürfen, angesprochen und zentral thematisiert werden. Alles in allem ist das ein Etatentwurf, über den wir in den vor uns liegenden Wochen in den Ausschüs- (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS sen unter materiellen, aber auch unter strukturellen SES 90/DIE GRÜNEN) Gesichtspunkten weiter diskutieren werden. Es ist jedoch ein Etatentwurf, der Perspektive und Pla- Ein zweiter Punkt. Frau Nolte hat deutlich ge- nungssicherheit mit sich bringt. Auf beides kommt es macht, daß sich das Regime in China nicht als würdi- uns an. ger Gastgeber erwiesen hat. Ich freue mich, daß sie das so offen getan hat. Ich hoffe aber, daß das nicht - (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU wie so oft - eine Feigenblattfunktion hat. Wir haben und bei der F.D.P.) nämlich einen anderen, wie ich meine, in einer ge- wissen Form unwürdigen Gastgeber, nämlich die Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Ich erteile dem Bundesrepublik Deutschland, erlebt, als die Chine- Abgeordneten Matthias Berninger das Wo rt. sen hier zu Besuch waren, ihre Verträge machen und die wirtschaftliche Zusammenarbeit intensivieren wollten. Wenn das, was Frau Nolte bei dieser Konfe- Matthias Berninger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): renz gesagt hat, richtig ist, nämlich, daß die Men- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Den Teil- schenrechte in China ein zentrales Thema sind, dann nehmerinnen und Teilnehmern der Weltfrauenkonfe- muß es auch richtig sein, wenn Herr Wissmann, Herr renz in Peking wurde von seiten des chinesischen Rexrodt oder Herr Kohl mit den Chinesen verhan- Regimes vorweg ein wichtiger Satz ins Stammbuch deln. Auch dabei muß das im Zentrum stehen. geschrieben. Er lautete in bestem Chinesisch: „Er- weisen Sie sich als würdiger Gast." Ich glaube, wir (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN können hier gemeinsam sagen: Die vielen Teilneh- und bei der SPD) 4430 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 52. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. September 1995

Matthias Berninger Man kann die Brücke zwischen den außen- und stellt haben. Das ist eine gute Sache. Leuten, die sich den innenpolitischen Dimensionen an einem ganz wie Dyba hinstellen und erzählen, die katholischen wichtigen Punkt, den bereits Frau Wolf ansprach, Beratungsstellen werden sich nicht mehr gesetzes- festmachen. Sind geschlechtsspezifische Verfol- konform verhalten, weil das - so Dyba - Beihilfe zum gungsgründe bei uns ein Grund, um Asyl zu erhal- Mord sei, und die den Kompromiß zu § 218, der nicht ten? Bislang sind sie es nicht. Wenn eine Frau von ir- gut ist, aus einer gesetzesfernen und extremistischen gendwelchen Häschern eines Regimes vergewaltigt Haltung weiter unterwandern wollen, muß endlich wird, ist das noch kein Asylgrund. ein Riegel vorgeschoben werden. Dazu erwarte ich deutliche Worte von einer Ministe rin, die Steuergel- Das muß sich ändern. Wir sprechen immer wieder, der in diese Beratungsstellen steckt. vor allem in Sonntagsreden davon, daß sich das än- dern muß. Ich bitte sehr darum, daß wir das in die- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sem Jahr, in den nächsten Monaten festschreiben. sowie bei Abgeordneten der SPD) Das kann doch kein so großes Problem sein. Es kann nicht sein, daß wir katholische Beratungs- Die Realisierung des eigenständigen Aufenthalts- stellen nach dem Subsidiaritätsprinzip weiterhin un- rechts von Frauen darf ebenfalls kein großes Pro- terstützen, obwohl sich ein Herr Dyba hinstellen und blem sein. Auch hier haben wir in Sonntagsreden ei- sagen kann: Wir bestimmen, wie die sich verhalten. nen breiten Konsens. Seit einem Jahr wird es disku- Das Gesetz bestimmt darüber, wie sich katholische tiert, aber es tut sich nichts. Ich denke, hier muß sich Beratungsstellen verhalten. Das heißt, daß zumindest sehr schnell etwas tun, weil die Rolle von Frauen, der Kompromiß zu § 218 umgesetzt wird. die, wenn sie Asyl beantragen, immer von ihren Wir wissen alle, daß das nicht ausreicht. Das kann Männern abhängig sind, zentral und wichtig ist. Wir nicht ausreichen. Aber es ist zumindest ein Anfang. müssen diese Frauen in den Mittelpunkt einer ver- Ich ärgere mich darüber, daß wir in so vielen Punk- nünftigen Einwanderungs- bzw. Asylpolitik stellen. ten nur einen scheinbaren Konsens herstellen, daß (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN wir alle die Gleichberechtigung wollen, daß aber die sowie bei Abgeordneten der SPD) Männer - und es sitzen eine ganze Reihe von ihnen hier -, sobald es an Besitzstände geht, sei es an den Zur Frauenpolitik hat Frau Nolte vor ihrer Abreise Erziehungsurlaub oder an die Festlegung der Wahl- nach China gesagt: Wir müssen die Gleichberechti- kreise im Bundeswahlgesetz, anfangen, sich zurück- gung vollenden. Das hat sie vom Kanzler abgeguckt. zuziehen und zu sagen: Wir müssen erst gucken; es Wir müssen ja schließlich auch die Einheit „vollen- gibt doch Traditionen, und das kann ganz langsam den" . Aber der Eindruck, daß wir soweit sind, geht gehen. fehl. Sehen Sie sich an den Universitäten um! Do rt gibt es etwa 6 % Professorinnen. Das darf doch wohl Wenn wir den Konsens in der Haushaltspolitik nicht wahr sein. Sehen Sie sich in der CDU-Fraktion hochhalten, dann bitte ich Sie: Lassen Sie uns das im um! Ich weiß gar nicht, welchen Frauenanteil Sie nächsten Jahr auch in Gesetze ummünzen! Da ist dort haben. Es werden noch einige Wahlkreise pur- noch einiges zu tun. zeln müssen, wenn Sie die Gleichberechtigung voll- Vielen Dank. enden. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Wir müssen an einem ganz zentralen Punkt, der sowie bei Abgeordneten der SPD und der noch nicht angesprochen wurde, der uns aber arg zu- PDS) setzen wird, im Konsens Position beziehen. Das ist die Frage, wie wir es mit Art. 3 GG halten. Ich habe Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Ich erteile der den Eindruck, daß bei den Verfahren, die gegen Abgeordneten Cornelia Schmalz-Jacobsen das Wo rt. Gleichstellungsgesetze laufen, die Gerichte wie folgt urteilen werden: Das individuelle Recht auf Gleich- heit von Männern und Frauen beim Berufszugang Cornelia Schmalz-Jacobsen (F.D.P.): Herr Präsi- wird über das Recht der Frauen, gleiche Rechte in dent! Meine Kolleginnen und Kollegen! Wir wissen diesem Land zu erhalten, gestellt. Das scheint mir im aus unseren Ausschußberatungen, mit was für einer Moment die politische Debatte zu sein. Deswegen breiten Thematik wir es hier zu tun haben und daß sind so viele Gleichstellungsgesetze zur Zeit auf dem sie meistens andere Resso rts, die Bundesländer oder juristischen Prüfstand. Ich bitte doch sehr darum, daß die Kommunen betrifft. Wir können feststellen, daß sich Frau Nolte, wenn sie wieder hier ist, dieses The- wir es mit einem gesellschaftlichen Bereich zu tun mas annimmt, und zwar nicht erst, wenn es zu spät haben, der ständigem Wandel unterworfen ist. Der ist. Verfassungswirklichkeit muß heißen, daß die Er- Gesetzgeber kann nicht immer etwas tun. Die Dyna- gänzung des Grundgesetzes, die wir beschlossen ha- mik wird von anderen Eckwerten bestimmt. Wohl ben, endlich in die Tat umgesetzt wird. Ich sehe das aber können wir Akzente setzen; wir können einen im Moment noch nicht und erwarte deutlichere Rahmen setzen. Wir müssen von den Realitäten aus- Worte unserer Frauenministerin. gehen. Wir dürfen nicht schwarzmalen, aber wir dür- fen auch nicht schönfärben, sondern müssen hin- Es ist ein Problem, daß sie manchmal zu bestimm- schauen, was Sache ist. Ein Beispiel - es ist schon ge- ten Punkten schweigt, obwohl es wichtig wäre, daß nannt worden - dafür, wie sensibel und wie rasch sie sie anspricht. Auch in Peking hat sie zum Thema veränderte Bedingungen in den Familien zu Buche Abtreibung nicht viel gesagt. Frau Dempwolf, vielen schlagen, ist der dramatische Rückgang der Gebur- Dank, daß Sie sich hinter die Kairo-Beschlüsse ge- tenrate in der ehemaligen DDR. Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 52. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. September 1995 4431

Cornelia Schmalz-Jacobsen Die Familie hat sich verändert. Häufig hat sich wendig. Dabei müssen wir uns von dem Gedanken aber auch nur unsere Wahrnehmung von dem, was „Soviel gemeinsame Elternverantwortung wie mög- Familie heute ist, verändert. Ein Beispiel faktischer lich" leiten lassen. Dogmatische Vorstellungen brin- Veränderung, die der Gesetzgeber vorgenommen gen hier im übrigen überhaupt nichts. hat, letztlich auch eine Antwort auf eine veränderte Bewußtseinslage ist der Familienleistungsausgleich. Aber natürlich gilt das Prinzip „So viel gemein- Endlich nennen wir das Kind einmal beim Namen same Elternverantwortung wie möglich" auch für und sprechen nicht mehr von der „Last", sondern den Alltag bestehender Ehen. Auch hier können wir von der „Leistung". nur auf Umwegen zum Ziel kommen. Für eine gleichberechtigte Elternschaft sind viele Faktoren (Beifall bei der F.D.P.) notwendig, nämlich eine gerechte Aufteilung von Familienaufgaben, meine Herren, meine Damen, Angesichts vieler Single-Haushalte und vieler Paare gleichberechtigte Ausbildungschancen, familien- ohne Kinder ist es keine selbstverständliche Lei- freundliche Arbeitszeitregelungen, gerechte Ein- stung. Die Lösung, die wir mit dem Familienlei- kommensverteilung bei Männern und Frauen, die stungsausgleich gefunden haben, kann sich, meine Steuergesetzgebung und last but not least die Kin- ich, sehen lassen, auch wenn es ein Schönheitsfehler dertagesbetreuung, die hier schon häufiger ange- ist, daß sie erst unter dem Druck des Bundesverfas- sprochen wurde. sungsgerichts möglich war. Zusammen mit dem Ent- lastungsvolumen bei der Freistellung des Existenz- Ich möchte heute noch einen besonderen Aspekt minimums von Erwachsenen werden die Bürger im ansprechen. Vieles, was hinter den Kulissen im wei- kommenden Jahr um über 22 Milliarden DM ent- ten Bereich der Familienarbeit, die Jugendliche und lastet, was zum großen Teil den Familien zugute alte Menschen einschließt, stattfindet, wäre ohne eh- kommt. Das war dringend geboten. Aber dies kann renamtliche Helfer nicht denkbar. Hier haben wir es mittelfristig natürlich nicht das Ende der Fahnen- mit Leistungseliten zu tun. Ehrenamtlich Tätige sind stange sein. Leistungsträger unserer Gesellschaft. (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU so ten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE wie bei Abgeordneten der SPD) GRÜNEN) Ich finde, es ist eine entsetzliche Verkürzung, wenn Aber bei der derzeitigen Haushaltslage - das müssen man den Begriff Leistung immer nur an die finan- wir einmal sagen - ist dies sehr beachtlich. zielle Leistung koppelt. Was wären wir ohne die eh- - renamtlich Tätigen? Aus der Sicht meiner Partei, meiner Fraktion möchte ich besonders hervorheben, daß wir erstmals (Zuruf von der SPD) Steuer- und Sozialrecht miteinander verknüpfen und - Die Männer. Auch ich bin der Meinung, daß es uns so einen ersten Schritt in Richtung auf das Bür- nicht so gehen kann: dem Mann das Amt, der Frau gergeldprinzip bewegt haben, das die Liberalen be- das Ehrenamt. Darin sind wir uns völlig einig. Aber kanntlich fordern und vertreten. nur bezahlte Ämter, das geht nicht; nicht nur, weil (Beifall bei der F.D.P.) das nicht bezahlbar ist, sondern weil es den Zusam- menhalt unserer Gesellschaft verkümmern ließe. Natürlich ist die Folge, daß der Gesamthaushalt des Familienministeriums um fast 20 Mi lliarden DM Ich möchte gerade den Zusammenhang zwischen zugunsten des Finanzministers schrumpft. Aber ich ehrenamtlicher Arbeit und ausländischen Familien gehe einmal davon aus, daß sich der Bundesfinanz- herstellen. Unter uns, liebe Kolleginnen und Kolle- minister in Sachen Familienfreundlichkeit sicher gen, leben viele ausländische Familien und übrigens nichts vorwerfen lassen will. immer mehr binationale Familien, von denen wir uns manchmal eine Scheibe abschneiden könnten. (Dr. Gisela Babel [F.D.P.]: Zumindest in letz- ter Zeit nicht!) Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Frau Kollegin, Ich bin unserer Justizministerin dafür dankbar, daß gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Holz- sie das Kindschaftsrecht neu regeln will und wir es hüter? hoffentlich noch im Herbst oder im nächsten Jahr zu beraten haben werden. Cornelia Schmalz-Jacobsen (F.D.P.): Aber gerne. (Beifall bei der F.D.P. und beim BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Bitte. In den letzten 16 Jahren hat es hier keine Novellie- rung gegeben. Aber es hat keinen Stillstand in der Ingrid Holzhüter (SPD): Frau Schmalz-Jacobsen, gesellschaftlichen Entwicklung gegeben. Meine Kol- sind Sie mit mir der Meinung, daß im Hinblick auf leginnen und Kollegen, es ist höchste Zeit, daß wir das chinesische Sprichwort „Die Frauen tragen die das Kindeswohl mehr in den Mittelpunkt rücken. Hälfte des Himmels" im Zusammenhang mit dem Das wollen, meine ich, auch Mütter und Väter. Die Ehrenamt den Männern einmal angeboten werden Regelung der Rechtsstellung nichtehelicher Kinder könnte, die andere Hälfte zu tragen? und vernünftige Regelungen beim Sorgerecht ge- schiedener oder nichtverheirateter Eltern sind not- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) 4432 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 52. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. September 1995

Cornelia Schmalz-Jacobsen (F.D.P.): Ich habe besonderen. Betroffen vom sinkenden Sozialetat, manchmal den Eindruck, Frau Kollegin, daß viele vom Hinausschieben bei der Erhöhung des Wohngel- Männer nichts davon wissen oder wissen wollen, daß des, den angekündigten Eskapaden beim BAföG es etwas sehr Schönes und Befriedigendes sein kann, und dem von Minister Rexrodt eingeforderten Befrei- die andere Hälfte des Himmels zu tragen. ungsschlag in der Sozialpolitik werden Frauen, Kin- der und Jugendliche, Seniorinnen und Senioren so- Ich sprach von den ausländischen Familien, die wie Familien sein. Nahezu zementiert wird frauen-, unter uns leben. Es ist vollkommen unsinnig, deut- kinder-, senioren- und familienunfreundliche Politik. sche Familien und die Frage, wie es ihnen geht, ge- gen ausländische Familien und die Frage, wie es ih- Oder wird sich an folgendem Bild etwas zum Posi- nen geht, auszuspielen. Aber es ist nun einmal eine tiven ändern? Lebten vor der Wiedervereinigung in Tatsache, daß viele der ausländischen Familien ein Ostdeutschland zwei Drittel aller Kinder in Haushal- deutlich niedrigeres Einkommen haben als deutsche ten, in denen beide Elternteile berufstätig waren, so Familien, daß die Frauen es schwerer haben und daß sank der Anteil bis 1993 auf 46,2 %. Dagegen stieg auch die, die in der Fremde altern, besondere Pro- der Anteil der Kinder, deren Eltern beide ohne Arbeit bleme haben. Aber noch viel schwerer haben es Fa- waren, von 4,3 auf 10,7 %. milien, die als Kriegsflüchtlinge oder Asylsuchende zu uns gekommen sind. Ohne die Frauen und Män- Die Zahl der Kinder unter 7 Jahren, deren Eltern ner von der Caritas, von Pax Ch risti, von anderen Sozialhilfe bekommen, betrug 1992 in den neuen kirchlichen oder nichtkirchlichen Organisationen Bundesländern 63 000 und ist weiter im Steigen be- wäre das Leben insbesondere der Frauen noch griffen. Über ein Viertel aller ostdeutschen Kinder schwieriger, könnten noch weniger Kinder die lebt in Haushalten, die Arbeitslosenunterstützung Schule besuchen oder in ihrer Unterkunft schreiben beziehen. 63 % der alleinerziehenden Arbeitslosen - und lesen lernen. weit über 90 % sind Frauen - haben nicht einmal 1 800 DM monatlich zur Verfügung. Was die Kinder Ich bewundere dieses unermüdliche und selbstlose betrifft, wird ihre Entwicklung schonungslos weiter- Engagement. Wir haben allen Grund, für dieses Maß geführt; siehe Lehrstellensituation und BAföG-Rege- an Nächstenliebe, für dieses Beispiel menschlicher lungen. Verantwortung und eines humanen Zusammenhalts dankbar zu sein. Im Einzelplan 17 wird all das weitergeführt, was schon im laufenden Haushalt von der Opposition kri- (Beifall bei der F.D.P., der CDU/CSU und tisiert wurde. der SPD) Daran sollten wir erinnern und hier nicht nur Beifall Einige Schwerpunkte seien kurz herausgestellt. klatschen, wenn jemand aus diesen Organisationen Sachverständige bei der öffentlichen Anhörung zum versucht, uns die Lage von Asylsuchenden, von 9. Jugendbericht betonten mit Nachdruck, daß Pro- Flüchtlingsfamilien und auch von mancher ausländi- gramme des Bundes oder auch der Länder nur dann Sinn machen, wenn sie von einer soliden und konti- schen Familie näherzubringen. Wir sollten das nicht abwerten. Das Ehrenamt ist übrigens einmal eine nuierlichen Grund-, Sockel- oder Regelfinanzierung breite Diskussion in diesem Hause wert. ausgehen. Vielen Dank. Das heißt für uns im Klartext: eigene, unbefristete Haushaltstitel für die Jugendarbeit statt Sondertöp- (Beifall im ganzen Hause) fen, die nur punktuell und zeitlich begrenzt hilfreich sind, Hoffnungen wecken und nach ihrem Auslaufen Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Ich erteile der große Enttäuschungen hinterlassen. Es ist dringend Abgeordneten Maritta Böttcher das Wo rt. an der Zeit, einen Politikansatz zu gestalten, der Ju- gendpolitik als gesellschaftliche Querschnittsauf- gabe begreift und sie von den Launen des Finanzmi- Maritta Böttcher (PDS): Herr Präsident! Meine Da- nisters abkoppelt. men und Herren! Nahezu wie ein Skandal nehmen sich die Kür- Das neu zugeschnittene Bundesministerium für zungen für die Förderung von Hilfen für behinderte Familie, Senioren, Frauen und Jugend erfüllt in- Menschen aus. Hier streicht der Waigelsche Rotstift nerhalb der Bundesregierung eine besondere weit über 50 % der Mittel. So sieht die Umsetzung um, das die Bürge- Aufgabe: Es ist das Ministe ri des Anspruchs aus, daß die besondere Fürsorge den rinnen und Bürger in vielfacher Hinsicht auf ih- behinderten Menschen, vor allem den behinderten rem Lebensweg besonders eng begleitet. jungen Menschen, gilt. Auf gleichem Niveau bewe- So Frau Ministerin Nolte am 21. Februar in diesem gen sich die Maßnahmen zur Familien- und Frauen- Haus. politik, zu Freizeit und Erholung. Nun sind Verantwortung tragen und sie tatsächlich Ich finde meine Auffassung bestätigt, daß das wahrnehmen zwei verschiedene Seiten einer Me- „Haus der Generationen", zu dem man sich erklärt daille. Prüft man dies an den Maßstäben Ihrer finanz- hat, eine wesentliche ideologische Institution zur politischen Umsetzung - darum geht es ja wohl in Verbreitung ihrer wertekonservativen Auffassungen dieser Woche -, dann kann das Ergebnis nur lauten: von Gleichstellung, Familie, Ehe, Jugend- und Alten- Prüfung nicht bestanden, und zwar mit dem Haus- politik ist, gewissermaßen eine Abteilung Agitation halt 1996 insgesamt wie mit dem Einzelplan 17 im und Propaganda der Regierung. Diesem Ziel dienen Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 52. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. September 1995 4433

Maritta Böttcher sicher auch die vorgesehenen 10 Millionen DM für Walter Link (Diepholz) (CDU/CSU): Das eine Aufklärung im Zusammenhang mit der Umsetzung schließt das andere nicht aus. Frau Nolte hat deutlich des Schwangeren- und Familienhilfegesetzes. Dar- die Position in Peking angesprochen. Das ist Durch- über ist eben gesprochen worden. setzungsvermögen, habe ich gesagt. Auch alle ande- ren Punkte habe ich aufgezeigt. Stellen Sie also nicht Sollte man nicht vielmehr materielle Rahmenbedin- Dinge in den Raum, die nicht stimmen! gungen auch in diesem Plan schaffen, damit die un- vergleichliche Tendenz des Geburtenrückgangs - in den neuen Bundesländern von 1989 bis 1993 50 % - Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Eine Sekunde, aufgehalten wird? Noch ist das Gegenteil der Fall. Herr Link. Frau Wolf möchte eine weitere Zwischen- Mit dem vorliegenden Haushalt wird ein schlech- frage stellen. ter Weg beschritten und werden keine Möglichkei- ten für eine erfolgreiche Politik für Familie, Senioren, Walter Link (Diepholz) (CDU/CSU): Nein. - Ich will Frauen und junge Menschen eröffnet. mich in der heutigen Haushaltsdebatte insbesondere Danke. mit den Rahmenbedingungen unserer Politik für die Seniorinnen und Senioren in Deutschland beschäfti- (Beifall bei der PDS) gen. Obwohl der Gesamthaushalt 1996 geringer als der laufende ist, haben wir - das hat die Staatssekre- Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Das Wort hat tärin schon angekündigt - 36,8 Millionen DM, d. h. der Abgeordnete Walter Link. 1,7 Millionen DM mehr als im laufenden Haushalt. Schon das, glaube ich, belegt Durchsetzungsvermö- gen. Walter Link (Diepholz) (CDU/CSU): Herr Präsi- dent! Meine sehr verehrten lieben Kolleginnen und (Vorsitz : Vizepräsident Hans-Ulrich Klose) Kollegen! Frau Wolf, wenn Sie nicht das Opfer der SPD-Fraktion wären, würde ich nicht darauf einge- Ein ausgewogenes Miteinander der Generationen hen. Aber da Sie gesagt haben, die Bundesministe- gewinnt angesichts der Veränderungen der Alters- rin, die heute nicht hier sein kann, habe kein Durch- struktur unserer Gesellschaft zunehmend an Bedeu- setzungsvermögen, will ich Ihnen entgegnen: Er- tung. Bereits heute sind 16,6 Millionen Bundesbürge- stens haben Sie sie für ihre Peking-Rede gelobt. Da rinnen und Bundesbürger älter als 60 Jahre. Im Jahre hat sie Durchsetzungsvermögen gezeigt. Zweitens 2040 - für all die Jahre will sich auch die Enquete- hat sie bei ihrem Einzelplan 17 für 1996 in einer fi- Kommission mit diesen Fragen beschäftigen - wer- - nanzpolitisch schwierigen Situation Durchsetzungs- den es 25 Millionen Bürger sein. Mehr als ein Drittel vermögen bewiesen. sind dann älter als 60 Jahre. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Unsere älteren Menschen sind heute aber keines- ordneten der F.D.P.) wegs eine homogene Gesellschaft. Das hängt u. a. Wie kommen Sie zum anderen darauf, Frau Wolf, mit der Zunahme der Hochbetagten und einem stei- zu sagen, die Bundesministerin sehe ihr Ministerium genden Anteil von älteren Frauen zusammen. Die Familie, Senioren, Frauen und Jugend nicht als Fraktion der CDU/CSU ist der Auffassung, daß sich Querschnittsaufgabe? Das wissen wir ja nun besser, Politik, Wirtschaft und Gesellschaft darauf einzustel- daß gerade Frau Nolte ganz großen Wert darauf legt, len haben. die Querschnittsaufgaben dieses Ministeriums in al- Der Deutsche Bundestag - wir gemeinsam - hat len Politikbereichen zu sehen. Geben Sie ihr als diese Herausforderung angenommen. Die Enquete junge Ministerin die Chance, das in Zukunft noch Kommission, die in der letzten Wahlperiode ihre Ar- mehr zu beweisen! beit aufgenommen hat, setzt sie in dieser Pe riode (Beifall bei der CDU/CSU) fort. Ich denke, daß ich als Vorsitzender mit allen Kol- leginnen und Kollegen einen Beitrag dazu leisten kann, daß wir uns drei Jahre intensivst mit diesen Herr Link, ge- Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Jahren beschäftigen. statten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Wolf? Die von mir genannten Zahlen machen deutlich, daß sich unsere Gesellschaft verändern wird. Sie darf Walter Link (Diepholz) (CDU/CSU): Bitte sehr. aber keine alte, graue und starre Gesellschaft wer- den. Darum ist meine Fraktion der Auffassung, daß es der beste Weg ist, das Bild vom Alter in der Gesell- Bitte. Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: schaft positiv zu verändern, indem wir die Aktivitä- ten von Seniorinnen und Senioren fördern und in der Hanna Wolf (München) (SPD): Herr Kollege, geben Öffentlichkeit bekanntmachen. Sie mir nicht doch recht, daß Frau Nolte in Peking zwar etwas angekündigt hat - sie hat vor allen Din- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) gen angekündigt, daß sie hier Kampagne machen will -, daß wir aber nicht Kampagnen brauchen, son- Uns liegt sehr am Herzen, eine positive Grundhal- dern Gesetze? tung gegenüber dem Älterwerden zu fördern und äl- tere Menschen dabei zu unterstützen, sich in die Ge- (Dr. Peter Struck [SPD]: Richtig!) sellschaft einzubringen. 4434 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 52. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. September 1995

Walter Link (Diepholz) Das von der Bundesregierung initiierte Modellpro- len, sondern ich weiß, daß auch in meinem Bundes- gramm „Seniorenbüro" zeigt, wie vielfältig das En- land - beispielsweise in der Westpfalz, die von der gagement Älterer ist und wie groß die Bereitschaft Konversion sehr gebeutelt ist - ein erheblicher Lehr- ist, sich dafür einzusetzen. stellenmangel festzustellen ist.

Der Bundesaltenplan ist ein Hauptförderungsin- (Beifall bei der SPD) strument in der Altenpolitik. Er ist angenommen und wird schrittweise weiter ausgebaut. Er erfährt auch Meine Damen und Herren, lassen Sie mich, wenn ein positives Wort unserer Kirchen zur sozialen Lage ich über Glaubwürdigkeit rede, ein anderes Beispiel in der Bundesrepublik Deutschland. ansprechen, und zwar den Zivildienst. Ich bin er- Der Alternsforschung mißt meine Fraktion eine freut, Frau Kollegin Dempwolf, daß Sie in Ihrer heuti- wichtige Bedeutung zu. Wir begrüßen, daß ein Al- gen Rede die positive Entwicklung des Zivildienstes ternsforschungszentrum in Heidelberg ins Leben ge- herausgearbeitet haben. Ich stimme Ihnen in fast al- rufen werden soll. Wir werden mit Frau Professor lem zu, was Sie gesagt haben. Aber die Botschaft hör Lehr, der ehemaligen Bundesministerin, auch eine ich wohl, allein mir fehlt der Glaube, wenn ich daran Expertin in unsere Enquete-Kommission berufen, die denke, was aus anderen Mündern Ihrer Pa rtei zu hö- hier an vorderster Stelle in hervorragender Weise ar- ren war und was die Frau Wehrbeauftragte Marien- beitet. feld vor wenigen Tagen in einem Interview gesagt hat, als sie eine ganze Generation junger Menschen Ich denke, daß wir uns mit der Frage beschäftigen als „eine Generation von Egoisten" bezeichnet hat. müssen, ob die Kurzzeitpflege in den Schutzbereich des Heimgesetzes aufgenommen werden soll. Die (Siegrun Klemmer [SPD]: Das ist unerhört!) Entwicklungen der letzten Jahre zeigen, daß wir das Heimgesetz aber auch insgesamt überprüfen und - Das ist unerhört, und das ist nicht in Ordnung. fortentwickeln müssen. Weitere Aufgaben ergeben sich für uns bei der (Beifall bei der SPD und beim BÜNDNIS 90/ Umsetzung der gesetzlichen Pflegeversicherung. Ich DIE GRÜNEN) denke, daß wir hier einiges so zuschneidern müssen, daß wir in Zukunft ein wirklich gutes Netz für die Es ist auch nicht dementiert worden; jedenfalls ist es Hilfe der älteren Menschen in der Bundesrepublik mir nicht bekannt. Deutschland schaffen werden. - Meine Damen und Herren, ich würde jetzt gerne Wenn wir die von mir aufgezeigten Wege beschrei- mit Frau Marienfeld Auge in Auge sprechen. Sie ist ten, dann wird es uns gelingen, die demographische leider nicht da; dann muß ich es in dieser Art und Entwicklung unserer Gesellschaft zusammen mit Po- Weise machen. litik und Wirtschaft mit Leben zu erfüllen. Heute muß sich Altern in neuen Formen und neuen Bahnen ent- Ich bin dankbar, daß sich Herr Hackler, der Beauf- wickeln, Formen und Bahnen, die die Menschen im tragte für den Zivildienst, sowie die Verbände und dritten Lebensabschnitt selbst herausfordern. Die Kirchen vor die Zivildienstleistenden gestellt haben. Kompetentesten dafür sind die Seniorinnen und Se- Hier möchte ich. stellvertretend Herrn Caritas-Präsi- nioren bei uns in der Bundesrepublik selbst. Sie soll- denten Puschmann zitieren, der von einer „Beleidi- ten wir für unsere Arbeit gewinnen. gung der Zivildienstleistenden" gesprochen hat. Er (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) hat recht, das war eine Beleidigung. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das Wort hat der ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Kollege Hagemann, SPD. Die Aussagen von Frau Marienfeld sind einseitig. Klaus Hagemann (SPD): Herr Präsident! Meine Das Verteidigungsministerium hat dankenswerter- sehr verehrten Damen und Herren! Viele unserer weise darauf hingewiesen, daß die Zukunft der Wählerinnen und Wähler beklagen - oft zu Recht - Wehrpflichtarmee in Deutschland trotz der hohen Verweigerungsrate nicht gefährdet ist. Wenn Frau die Glaubwürdigkeitslücke, die die Politik hinterläßt. Marienfeld vor dem eben angesprochenen Interview Sie beklagen insbesondere, daß das alle Couleurs, am 5. August in einem Interview mit der „Katholi- alle politischen Farben betrifft. Wir alle als Politike- schen Nachrichtenagentur" meinte, daß die Mehr- rinnen und Politiker tragen durch unser Tun und heit der Zivildienstleistenden „in Bereichen tätig ist, Handeln sowie durch unser Reden oft dazu bei, daß die keine besonderen Leistungen verlangen", so ist das zu einer allgemeinen Politikerverdrossenheit in auch dies nicht korrekt; denn mehr als die Hälfte der unserem Lande geführt hat und führt. Zivildienstleistenden - das sind mehr als 60 000 Als aktuelles Beispiel - das möchte ich nur mit ei- junge Männer - arbeiten im Pflege- und Betreuungs- nem Stichwort ansprechen - ist hier die Ausbildungs- dienst. Daß dies schwierig und hart ist, wissen wir platzsituation zu nennen, bei der Versprechen und selbst. Wirklichkeit auseinanderklaffen. Dies führt natürlich zu einer Politikerverdrossenheit. Es ist leider nicht so, (Beifall bei der SPD und beim BÜNDNIS 90/ daß nur im Osten unserer Republik Lehrstellen feh- DIE GRÜNEN) Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 52. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. September 1995 4435 Klaus Hagemann Die Einrichtungen beantragen immer mehr Zivil- Mir ist bekannt, daß dies eben noch nicht gesche- dienstleistende. Also sind wir hier sicherlich auch auf hen ist, daß dieses Problem mit den Kassen und den dem richtigen Weg. Schließlich sei darauf hingewie- Ländern noch nicht abschließend geklärt worden ist, sen, daß Zivildienstleistende überhaupt keinen Pfle- und die Verbände weisen in ihren B riefen, die Sie gedienst leisten dürfen. Sie können hier allenfalls be- wie wir auch erhalten haben, auf die katastrophalen treuen. Folgen hin, wenn hier keine Klarheit besteht. Denn sie müssen sich dann bei Wegfall der Zuschüsse von Eigentlich wäre hier, um noch einmal mit dem Ca- diesen Arbeiten aus Kostengründen verabschieden. ritas-Präsidenten zu reden, eine Entschuldigung sei- tens der Wehrbeauftragten notwendig. Ich hoffe, es Meine Damen und Herren, ist Ihnen eigentlich be- ist geschehen. kannt, daß die Pflegeversicherung gegebenenfalls nur die Pflegeleistungen abdeckt, aber nicht die Be- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne- treuung? Ich hoffe jedenfalls im Interesse der ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Schwächsten der Schwachen, nämlich der Schwerst- behinderten, daß Sie hier nicht voreilig im Haushalt Diese Aussage von Frau Marienfeld ist nicht nur Realitäten schaffen. Denn als Alternative gäbe es nur ein Ausrutscher, wie es auch bezeichnet worden ist, das eine, die Heimeinweisung. Daß das billiger wird, sondern vielen in der Koalition, insbesondere in der wage ich zu bezweifeln, ganz abgesehen von den CDU/CSU, paßt die ganze Richtung nicht, was den Problemen, die die Menschen dann haben. Zivildienst angeht. In Zeitungsartikeln und Inter- views ist immer wieder die Rede davon, der Ersatz- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ dienst müsse die „lästige Alte rnative" sein, die Hür- DIE GRÜNEN) den müßten im Verfahren wieder höher gelegt wer- den. Nein, meine sehr verehrten Damen und Herren, Lassen Sie mich noch ein anderes Thema anspre- dieses Verfahren muß eigentlich entbürokratisiert chen. Wie haben Sie im Haushalt 1996 ausreichend werden. Ich denke beispielsweise an das polizeiliche dafür vorgesorgt, daß nicht nur 31 % eines Zivil- Führungszeugnis, das die jungen Männer beibrin- dienstjahrganges die entsprechenden Zivildienst- gen müssen. Daß Sie die Verkürzung der Wehr- schulen besuchen können, um sich auf ihren schwie- dienstzeit nicht an die Zivildienstleistenden weiter- rigen Dienst vorzubereiten, sondern möglichst alle? - geben wollen, wie es das Gesetz vorschreibt - auch Hier ist in Ihrem Haushaltsentwurf nichts zu finden. das ist eine Forderung aus Ihren Reihen -, spricht ebenfalls Bände. Außerdem ein weiterer Punkt: Die Bundeszu- - schüsse für die verbandlichen Einführungslehrgänge (Beifall bei der SPD und beim BÜNDNIS 90/ wurden zwar jetzt nach sieben Jahren von 50 DM auf DIE GRÜNEN) 57 DM erhöht; die Verbände weisen aber darauf hin, daß die Kosten zwischen 80 DM und 100 DM liegen. Meine Damen und Herren, wir beraten den Haus- Gleichzeitig wurden aber substantielle Schlechter- halt 1996, und daher möchte ich einige Sätze zum stellungen eingebaut. Die Folge davon ist, daß die Kapitel Bundesamt für Zivildienst sagen und darauf Erhöhung nicht bei 7 DM liegt, sondern höchstens hinweisen, daß man die Realitäten auch in diesem zwischen 2 DM und 3 DM. Bereich im Haushalt nicht wahrhaben will. Wo ist denn beispielsweise in den Ansätzen berücksichtigt, Wir hoffen, meine sehr verehrten Damen und Her- daß wir, wie bereits 1995, auch im kommenden Jahr ren - hier spreche ich Sie von der CDU/CSU insbe- mit steigenden Zahlen zu rechnen haben, weil eben sondere an -, daß der Zivildienst nicht das ungeliebte mehr junge Männer gemustert werden, was zur Kind der Bundesregierung bleibt, sondern daß die Folge hat, daß sicherlich mehr junge Männer zum Zi- Leistungen, das Engagement der Männer für die Ge- vildienst gehen? sellschaft ebenso ernstgenommen wird und die Aner- kennung wie die Tätigkeit der Wehrdienstleistenden Ein anderer Punkt: Etwa 5 500 Zivildienstleistende findet. sind in der individuellen Schwerstbehindertenbe- treuung eingesetzt; ich glaube, das ist eine der (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne schwierigsten Aufgaben. Hier haben Sie, Frau ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Staatssekretärin, den Wohlfahrtsverbänden mit Hin- weis auf Übernahme der Beträge durch die Pflege- Wir danken an dieser Stelle allen, die sich für die Ge- versicherung mitgeteilt, daß die Zuschüsse aus dem sellschaft engagieren. Etat des Jugendministeriums gestrichen werden könnten. Dies ist eigentlich - man braucht das nur zu (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne untersuchen -, eine sehr mutige und, wie ich meine, ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) auch eine unverantwortliche Anordnung, die bereits jetzt im Haushalt 1996 ihren Niederschlag findet. Meine sehr verehrten Damen und Herren, lassen Sie mich beim Stichwort Pflege noch zwei Gedanken Ich frage Sie, Frau Staatssekretärin: Hat Herr Blüm hinzufügen, die die Seniorenbetreuung betreffen. dieser Lösung eigentlich schon zugestimmt? Die wei- Wir erwarten, daß auch die Stärkung der mobilen tere Frage heißt: Wie viele Verträge haben die Pfle- und sozialen Dienste vorgenommen wird, daß dies gekassen mit den Schwerstbehinderten denn bereits gesetzlich geregelt wird, daß es in Zusammenarbeit abgeschlossen? Sind hier schon Verträge abgeschlos- mit den Ländern eine vernünftige Lösung geben sen worden? wird. Außerdem stellen wir die Forderung auf - das 4436 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 52. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. September 1995

Klaus Hagemann muß nun endlich Realität werden -, daß wir eine bun- Meine Damen und Herren, nehmen wir auf allen deseinheitliche Regelung für die Altenpflege in der politischen Ebenen die Signale und Hilferufe unserer Bundesrepublik bekommen und dies nicht den ein- jungen und jüngsten Mitbürger und Mitbürgerinnen zelnen Ländern überlassen. ernst, und sorgen wir dafür, daß unser Leitspruch, den auch ich immer wieder gerne sage, nämlich (Beifall bei der SPD) „Ausgaben für unsere Kinder und Jugendlichen sind Wenn wir von der Glaubwürdigkeit der Politik wichtige und richtige Zukunftsinvestitionen”, auch sprechen, meine Damen und Herren, so gilt dies bei unseren Beratungen im Ausschuß des Bundesta- auch für die allgemeine Jugendpolitik, für die allge- ges gilt. meine Förderung der Jugendarbeit. Der 9. Ju- gendbericht und die im Juni durchgeführte Anhö- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne rung haben dies insbesondere für die neuen Bundes- ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) länder sehr deutlich gemacht. Wenn die Fachleute in der Anhörung berichtet ha- Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Weitere Wort ben, daß die Jugendlichen oft das Gefühl haben, es -meldungen zu diesem Geschäftsbereich liegen nicht würden erst dann ausreichend Mittel von der Politik vor. zur Verfügung gestellt, es geschehe erst dann etwas, wenn sie sich auffällig verhalten, wenn sie Randale Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesmi- machen, dann muß uns das doch auf allen politi- nisteriums für Gesundheit. Das Wort hat der Herr schen Ebenen zu denken geben, dann müssen wir Bundesminister Seehofer. hier neue Wege gehen und neue Schritte unterneh- men. Herr Dehnel, bei der Anhörung waren leider Horst Seehofer, Bundesminister für Gesundheit: immer nur wenig Leute von Ihnen anwesend. Die Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und meisten Sachverständigen haben dies aber deutlich Herren! Die wohl größte und schwierigste Reform gemacht. wird in den nächsten Monaten die dritte Stufe der Wichtig ist, meine sehr verehrten Damen und Her- Gesundheitsreform sein. ren, daß es Bund, Länder und Gemeinden den Ju- gendämtern und insbesondere auch den Verbänden Wir haben bereits vor Inkrafttreten des Gesund- und freien Trägern ermöglichen, eine kontinuierliche heitsstrukturgesetzes im Jahre 1992 auf die Notwen- Jugendarbeit im personellen wie im sächlichen Be- digkeit dieser Reform Mitte der 90er Jahre hingewie- sen. Ich kann mich noch gut an das Unverständnis reich zu leisten. Daß die Gemeinden aber große Pro-- bleme haben, dies zu finanzieren, dürfte allen be- damals erinnern, teilweise sind wir sogar mit Spott kannt sein. überzogen worden, als wir bereits vor drei Jahren den Handlungsbedarf Mitte der 90er Jahre angekün- Sehr geehrter Herr Jacoby, noch einmal: Gerade digt haben. Jetzt haben wir Mitte der 90er Jahre. durch das Bundessozialhilfegesetz sind ja den Ge- Niemand wird bei der aktuellen Entwicklung der ge- meinden erhebliche Lasten aufgebürdet worden. Ich setzlichen Krankenversicherung heute noch diesen habe gerade gestern für meinen Landkreis Alzey- Reformbedarf bestreiten wollen. Worms die neuesten Zahlen bekommen: steigende Tendenz in der Sozialhilfe, und zwar - wenn man das Ich möchte zuallererst das Parlament hier darüber aufschlüsselt - für Menschen, die nicht genügend Ar- informieren, daß die gesetzliche Krankenversiche- beitslosengeld, nicht genügend Arbeitslosenhilfe, rung im ersten Halbjahr 1995 trotz der Wirksamkeit nicht genügend Wohngeld bekommen. und der Gültigkeit all der Instrumente des Gesund- heitsstrukturgesetzes ein Defizit von 5,4 Milliarden DM aufweist: 4,2 Milliarden DM in den alten und Herr Kollege Ha- Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: rund 1,2 Milliarden DM in den neuen Ländern. Die gemann, Sie müssen jetzt sofort zum Schluß kom- Leistungsausgaben der Krankenkassen sind in den men, weil Sie bereits eine Minute überzogen haben. alten Ländern im ersten Halbjahr 1995 um 6,4 % ge- stiegen, die Einnahmen nur um 0,7 %. In den neuen Klaus Hagemann (SPD): Mir wurde gesagt, ich Ländern betrug der Ausgabenzuwachs 12,5 % und hätte eine Verlängerung bekommen. der Zuwachs der beitragspflichtigen Einnahmen 1,8 %. Es tritt nun genau das ein, was ich in früheren Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Nein, zehn Mi- Reden gemeinsam mit der Regierungskoalition schon nuten, und das wurde von mir sehr großzügig ausge- mehrmals angekündigt habe, legt. Also, bitte. (Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/ CSU]: 1992 schon!) Klaus Hagemann (SPD): Zwölf Minuten. nämlich daß mit zunehmendem Abstand vom Inkraft- treten am 1. Januar 1993 das Gesundheitsstrukturge- Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Es tut mir leid. setz seine Wirksamkeit verliert.

Klaus Hagemann (SPD): Also, ich will darüber Es kann nicht bestritten werden, daß wir 1993 und nicht diskutieren. - Es gibt genügend Punkte, die wir 1994 die Finanzreserven wieder auffüllen konnten, in der Jugendpolitik anfassen müssen, z. B. die Um- die Ausgabenexplosion zurückführen konnten und gestaltung des Kinder- und Jugendplans. leichte Beitragssenkungen in den alten Bundeslän- Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 52. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. September 1995 4437

Bundesminister Horst Seehofer dern hatten. Aber jetzt, im dritten und letzten Jahr Die andere Hälfte des Defizits ist auf die bedrohli- der Budgetierung, ist das eingetreten, was die Regie- che, ja alarmierende Ausgabenentwicklung in ver- rungskoalition bereits im August 1992 prognostizie rt schiedenen Leistungsbereichen zurückzuführen. hatte. Ich möchte das Parlament auch hier über die we- Die aktuelle Ausgabenentwicklung unterstreicht sentlichen Entwicklungen des ersten Halbjahrs 1995 also eindrucksvoll den Handlungsbedarf bei allen informieren. Sie werden besonders deutlich, wenn Beteiligten im deutschen Gesundheitswesen. man Vergleiche auch zum Zeitraum vor Inkrafttreten des Gesundheitsstrukturgesetzes anstellt, um die Daß dieser Handlungsbedarf plausibel und offen- Wirkungen dieses Gesetzes über zwei, drei Jahre be- kundig wird, möchte ich mit einem Vergleich unter- urteilen zu können. streichen, vor dem Hintergrund, daß heute von die- sem Podium wiederum ein Eingriff in die Lohnfort- Die erste Feststellung ist, daß die ärztliche und die zahlung als das Wundermittel und das dringendste zahnärztliche Behandlung sowie die Verwaltungs- Mittel deutscher Sozialpolitik bezeichnet worden ist. ausgaben der Krankenkassen weitgehend im Lot mit Wenn sich der Beitrag in der gesetzlichen Kranken- der Grundlohnentwicklung geblieben sind. Weder versicherung um einen Prozentpunkt nach oben ver- die Arzthonorare noch die Zahnarzthonorare sind in ändern würde, entspräche dies einer Lohnkostenbe- diesen zweieinhalb Jahren aus dem Ruder gelaufen. lastung von 17 Milliarden DM. Das wäre mehr als das Doppelte dessen, was heute als Eingriff in die Die Ausgaben für Arzneimittel und Zahnersatz lie- Lohnfortzahlung vorgeschlagen worden ist. Deshalb gen heute unter den Werten des ersten Halbjahres möchte ich von dieser Stelle aus wieder dafür plädie- 1992. ren: Konzentrieren wir uns auf die wirklich notwen- digen und drängenden Dinge! Eröffnen wir nicht Probleme bereitet die Ausgabenentwicklung im neue Diskussionsfelder! Krankenhausbereich. Hier sind die Ausgaben in den letzten zweieinhalb Jahren nicht nur doppelt so stark (Beifall bei der CDU/CSU und dem BÜND- gestiegen wie die Einnahmen der gesetzlichen Kran- NIS 90/DIE GRÜNEN) kenversicherung, sondern auch doppelt so stark wie der Zuwachs bei den Ärzten. Deshalb halte ich die Rund die Hälfte des aktuellen Defizits - das Klage der Ärzte für begründet, daß ihre Sparbemü- möchte ich in aller Klarheit und Deutlichkeit sagen - hungen zu einem großen Teil durch den stationären hat der Staat, hat die Politik zu vertreten. Rund die Sektor im deutschen Gesundheitswesen wieder auf- Hälfte dieses Defizits haben die Regierungskoalition- gefressen wurden. und die SPD-Opposition durch das Rentenreformge- setz im Jahre 1989 verursacht; denn im Jahre 1995 Besonders hohe Steigerungsraten hatten wir in gilt erstmals die Regel - das wurde damals gemein- diesen zweieinhalb Jahren bei den Ausgaben für sam mit der SPD beschlossen -, daß einerseits für Ar- Heilmittel - also für Massagen -, Hilfsmittel, statio- beitslose von der Bundesanstalt geringere Beiträge näre Kuren, Fahrtkosten und Gesundheitsförderung an die Krankenversicherung zu zahlen sind, anderer- zu verzeichnen. seits für die Bezieher von Krankengeld höhere Bei- tragszahlungen von der Krankenversicherung an die Ich möchte Ihnen vor dem Hintergrund der ge- Arbeitslosen- und die Rentenversicherung geleistet sundheitspolitischen Diskussion in den letzten drei werden. Jahren bei manchen Interessengruppen einmal ei- nige Zahlen nennen: Die Ausgaben für Heil- und (Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/ Hilfsmittel sind seit Anfang 1993 um 25 % gestiegen, CSU]: Verschiebebahnhof!) davon allein bei den Massagen um 19 %. Die Ausga- ben für sonstige Heilpersonen, Logopäden etc., sind Dieses im Jahre 1989 beschlossene Konzept, das zum um 73 % gestiegen, die für Krankenhausbehandlun- 1. Januar 1995 in Kraft getreten ist, belastet die Kran- gen um 16 %, die für die Gesundheitsförderung und kenversicherung, bezogen auf das gesamte Jahr die sozialen Dienste - jeweils in den alten Ländern - 1995, in einer Größenordnung von zwischen 5 und um 130 %, die für Fahrtkosten um 46 % und die für 6 Milliarden DM. Diese durch den Akt der Rentenre- Kuren um 37 %. Dies muß immer in Beziehung ge- form verursachte Belastung der Krankenversiche- setzt werden zu der Einnahmenentwicklung bei der rung wird, jedenfalls im ersten Halbjahr 1995, nicht gesetzlichen Krankenversicherung in dem Zeitraum wesentlich durch die Pflegeversicherung gemildert, seit 1993. Diese betrug nur 8 %. da sie erst am 1. April in Kraft getreten ist. Deshalb drückt sich die Entlastung in diesem Zeitraum nur in Meine Damen und Herren, ich erzähle dies, weil es geringem Maße aus. Das erklärt mehr als die Hälfte ein Licht auf die Art und Weise der Diskussion in den des Defizits in der gesetzlichen Krankenversiche- letzten zweieinhalb bis drei Jahren wirft, als uns, der rung. Regierungskoalition, von einem Teil dieser Lei- stungsbereiche vorgehalten wurde, die Gesundheits Ich möchte ausdrücklich davor warnen, eine Dis- strukturreform führe dazu, daß das für die Menschen kussion darüber zu beginnen, diese Aktion wieder Notwendige nicht mehr geleistet werden könne. Es rückgängig zu machen. Dann nämlich hätten wir das wurden sogar so unappetitliche Diskussionen geführt Defizit nicht in der gesetzlichen Krankenversiche- wie: Dieser Gesundheitsminister trägt dazu bei, daß rung, sondern in der Arbeitslosenversicherung. Verletzte auf den Straßen liegenbleiben müssen, weil 4438 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 52. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. September 1995

Bundesminister Horst Seehofer die notwendigen Gelder für die Fahrdienste nicht tung bereit ist, ihrer Verantwortung nächsten Don- mehr zur Verfügung stehen. nerstag gerecht zu werden, und aus eigener Kraft mit entsprechenden Empfehlungen und Beschlüssen (Ulrich Irmer [F.D.P.]: Geschmacklos!) diese Ausgabenentwicklung beherrscht.

Es ist mir über große Medien gesagt worden, man (Dr. R. Werner Schuster [SPD]: Und was ma könne krebskranke Kinder nicht mehr behandeln, chen Sie, wenn nicht?) man müsse Aids-Betten schließen, weil die notwen- digen Gelder nicht zur Verfügung stehen. Meine Da- Im übrigen hält die Koalition an ihrem Fahrplan men und Herren, diese Zahlen sprechen eine andere für die dritte Stufe fest. Bis Ende des Jahres wird in Sprache. enger Abstimmung mit allen Beteiligten am Gesund- heitswesen ein Gesetzentwurf vorgelegt, der zum Kein Bereich in unserer Volkswirtschaft, kein So- 1. Juli 1996 in Kraft gesetzt werden so ll. zialsystem in der Bundesrepublik Deutschland hat so gewaltige Zuwachsraten wie die gerade von mir ge- Meine Damen und Herren, ich möchte mich bei nannten Bereiche, meine Damen und Herren. Des- dieser Gelegenheit bei den deutschen Ärzten und halb wäre es höchste Zeit, daß manche, die diese un- auch bei den Krankenkassen bedanken, daß sie ge- appetitliche Diskussion in den letzten drei Jahren ge- rade in den letzten Wochen richtungsweisende Ent- führt haben, sich in aller Öffentlichkeit dafür ent- scheidungen aus eigener Kraft getroffen haben, was schuldigen. Hier haben wir gewaltige Zuwachsberei- das Honorierungssystem im Niederlassungsbereich che. betrifft. Sie haben E rnst gemacht mit dem Grundsatz, daß die sprechende Medizin besser honoriert werden (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- soll als die Apparatemedizin. Das gibt mir auch ordneten der F.D.P.) Grund zur Zuversicht, zur Hoffnung, daß diese Selbstverwaltung die neugewonnene Kraft auch Was ist zu tun? Im Stenogrammstil: Eine Verlänge- wirklich nicht als Strohfeuer, sondern für die dauer- rung der sektoralen Budgetierung, wie sie die SPD hafte Stabilisierung des deutschen Gesundheitswe- fordert, lehne ich ab. Sie kann weder die Ausgaben- sens einsetzen kann. Ich bedanke mich ausdrücklich entwicklung besser in den Griff bekommen noch die Ungleichgewichte zwischen den Leistungsbereichen dafür. Das gilt auch für viele andere Bereiche. beseitigen. Das zeigt die finanzielle Entwicklung im Meine Damen und Herren, die Selbstverwaltung Jahre 1995. Jetzt gilt die Budgetierung ja noch voll. funktioniert, und deshalb halten wir daran fest, bei - Meine Damen und Herren, welchen Sinn würde es der nächsten Reform die Sorgfalt vor die Schnellig- machen, ein Instrument, das seine Wirksamkeit jetzt, keit zu setzen. Nach 20 Jahren permanenter Gesund- im dritten Jahr, weitgehend verloren hat, im näch- heitsreform mit fast 50 Gesetzen und 6800 Ein- sten Jahr zu prolongieren? Das kann nicht die politi- zelbestimmungen müssen wir endlich eine dauer- sche Antwort sein. Ich halte sie auch deshalb für hafte Stabilisierung des deutschen Gesundheitswe- falsch, weil es vor dem Hintergrund des Grundsatzes sens erreichen. Wir können es weder den Patienten „ambulant vor stationär" nicht richtig sein kann, daß noch den Beteiligten am Gesundheitswesen zumu- der Ausgabenanteil für die niedergelassenen Ärzte ten, daß wir uns in einer permanenten Reformdiskus- immer geringer und für die Krankenhäuser immer sion über das deutsche Gesundheitswesen befinden. höher wird. Deshalb muß der Zentralpunkt der näch- Ich bin ziemlich zuversichtlich, daß es uns gelingen sten Gesundheitsreform im stationären Bereich an- wird, diese Reform zustande zu bringen. setzen. Meine Damen und Herren, das deutsche Gesund- Für die Entwicklung bis zum Inkrafttreten der in heitswesen ist nicht krank, wie es gelegentlich ge- Aussicht genommenen dritten Stufe der Gesund- sagt wurde, im Gegenteil: Ich kenne kein besseres heitsreform muß die Selbstverwaltung für einen be- System auf dieser Erde. Was wir ändern müssen, sind grenzten Zeitraum sicherstellen, daß die Ausgaben- nicht die Prinzipien dieses Gesundheitswesens, son- entwicklung in Schach und Propo rtionen bleibt. Ich dern die Art und Weise der Gesundheitspolitik. habe deshalb schon vor langer Zeit für den nächsten Donnerstag, 14. September, alle Beteiligten am deut- Ich möchte gemeinsam mit der Regierungskoali- schen Gesundheitswesen zu einer konzertierten Ak- tion, daß wir der Selbstverwaltung wieder mehr tion eingeladen, um Empfehlungen für das Jahr 1996 Kompetenz zuweisen, im Interesse der Strukturen, zu beschließen. der Sicherheit der Versorgung der Bevölkerung und auch der stabilen Finanzgrundlagen der gesetzlichen Wir können nicht einerseits in Aussicht nehmen, Krankenversicherung. daß wir der Selbstverwaltung verstärkt Kompetenzen übertragen wollen, aber bei der Bewältigung der ak- Wenn uns dies gelingt, dann werden wir uns für tuellen Probleme die Selbstverwaltung ausblenden. den Rest dieses Jahrhunderts, so hoffe ich, nicht Im Gegenteil: Die Selbstverwaltung ist in besonderer mehr in dem Maße mit der gesetzlichen Krankenver- Verantwortung. sicherung beschäftigen müssen, wie das in den letz- ten 20 Jahren der Fall war. Nach allen Vorgesprächen, die wir für die konzer- tierte Aktion geführt haben - auch heute -, habe ich (Jürgen W. Möllemann [F.D.P.]: Dann haben allen Grund zur Zuversicht, daß die Selbstverwal- wir aber Ruhe!) Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 52. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. September 1995 4439

Bundesminister Horst Seehofer Ich lade alle ein. Es wird eine spannende, sicher Wir haben hier gemeinsam - aus dieser Verantwor- auch kontroverse Diskussion geben. Die Regierungs- tung können Sie sich nicht davonstehlen - das Ge- koalition wird auch hier beweisen, daß sie hand- sundheitsstrukturgesetz gemacht. Wenn Sie, Herr lungsfähig ist. Minister, hier beispielsweise darstellen, daß die Heil- und Hilfsmittel zu enormen Ausgabensteigerungen (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) führten, dann bitte ich Sie, einmal in das Gesetz zu schauen: Seit dem 1. Januar 1995 müßte ein Daten- Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das Wort hat der trägeraustausch gewährleistet sein. Ich frage Sie: Kollege Kirschner, SPD. Was tun Sie als Exekutive, um dieses Gesetz umzu- setzen? Sie können sich doch nicht hier hinstellen und etwas beklagen und selber nicht dafür sorgen, Klaus Kirschner (SPD): Herr Präsident! Meine Da- daß dieses Gesetz so umgesetzt wird, wie wir es ge- men und Herren! Herr Bundesgesundheitsminister, meinsam beschlossen haben. nach dieser Rede stelle ich die Frage: Was nun, Herr Seehofer? Sie stellen das Problem dar; nun hätte ich (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ eigentlich von Ihnen erwartet, daß Sie in der Haus- DIE GRÜNEN) haltsdebatte einmal sagen, wo es langgehen soll. Das Ich sage Ihnen: So geht es nun wirklich nicht. ist etwas, was mir bisher fehlt. Herr Minister, lassen Sie mich ein Weiteres sagen: (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Sie sagen, die Gesundheitsreform steht im Mittel- DIE GRÜNEN) punkt. Das will ich überhaupt nicht bestreiten; Sie Wenn ich es richtig sehe, sagen Sie: Sektorale Bud- haben darauf hingewiesen, was uns wegen der Aus- getierung - nein! Sie behaupten, das sei im Paket der gabenentwicklung droht. Gleichzeitig sagen Sie, die SPD enthalten. SPD habe kein Konzept, obwohl wir ein Konzept ha- ben. Dazu können Sie anderer Meinung sein. - Aber (Bundesminister Horst Seehofer: Verlänge- ich erwarte von einem Minister, sich dazu dezidiert rung!) kritisch zu äußern. - Ja, sicher, Verlängerung. Aber wir sagen: Wir brau- (Horst Seehofer [CDU/CSU]: Ich habe ge chen ein Globalbudget. Sie wissen ganz genau - das sagt: unbrauchbar!) wissen wir auch -, daß es schon gar nicht mehr an- Wenn ich mir den vielstimmigen Chor der Koali- ders geht. Wenn Sie verhindern wollen, daß uns die tion anhöre, dann frage ich mich, wie Sie eigentlich Ausgaben geradezu unter den Fingern davonlaufen, - auf einen Nenner kommen wollen. Ich weiß: Sie ha- werden auch Sie ohne Budget nicht auskommen. ben ein für Sie nicht überwindbares Problem mit drei (Jürgen W. Möllemann [F.D.P.]: Na, na, na!) Buchstaben, und das heißt F.D.P. In bezug darauf hätte ich von Ihnen, Herr Minister, (Horst Seehofer [CDU/CSU]: Es ist mehr: eine Antwort erwartet. Möllemann!) Sie sagen: Der zentrale Punkt ist das Krankenhaus. Eben diese F.D.P. brüstet sich auch noch öffentlich Haben Sie eigentlich nicht gelesen, was gestern der damit, und der Kollege Thomae hat erst gestern und Kollege Dr. Thomae sagte? Ohne die SPD! Es wird heute gesagt: Die F.D.P. ist entschlossen, die anste- keine Verhandlungen geben. Heute hieß es auf einer hende dritte Reform des Gesundheitswesens ohne Tagung der Arzneimittelhersteller, bei der wir ge- Beteiligung der SPD durchzusetzen. meinsam waren: Ein Lahnstein wird es nicht geben. (Dr. Gisela Babel [F.D.P.]: Die SPD hat sich (Dr. Gisela Babel [F.D.P.]: Ja!) nicht bewährt!) - Sagen Sie einmal schön ja! - Ich frage Sie, sehr ge- - Liebe Frau Babel, das mag Ihre Beurteilung sein. Nur, ehrter Herr Minister: Wie wollen Sie das alles ohne Sie sollten hier keine Sandkastenspielchen machen. die Länder bewältigen? Wie sieht es aus? Wollen Sie (Jürgen W. Möllemann [F.D.P.]: Sie meinen, die Krankenhausreform aussparen? wir sollten mit Schröder reden?) (Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/ - Wollen Sie eine Reform oder wollen Sie keine? Wol- CSU]: Sie müssen ein bißchen Geduld ha- len Sie etwa nur ein Rumpfgesetz? ben!) In der „Welt" von heute lese ich, daß der Kollege Sie können nicht einerseits die Krankenhausreform Lohmann forde rt, der Arbeitgeberbeitrag solle ein- als einen zentralen Punkt darstellen und gleichzeitig gefroren werden. Sagen Sie endlich, was Sie wollen! keinen Ton dazu sagen, wenn die F.D.P. erklärt: Ist das Ihr einziges Konzept: Vorfahrt für die Selbst- Ohne die SPD! Denn Sie wissen genau, daß es ohne verwaltung? Erschöpft sich damit im Prinzip Ihre die Bundesländer nicht geht. Vorstellungskraft? - und dann kommen Sie und sagen, die SPD hat kein Konzept. Wir haben ein Kon- Herr Minister, so einfach geht es wirklich nicht. Sie zept! Das mag Ihnen zwar nicht gefallen, aber im Ge- sagen, von den 5,4 Milliarden DM Defizit entfalle die gensatz zu Ihnen haben wir eines. Das ist der Unter- Hälfte auf die Entscheidungen der Rentenreform schied zwischen Ihnen und uns. 1992. Aber was ist denn mit der anderen Hälfte? Was tun Sie konkret gegen das Defizit? (Beifall bei der SPD) 4440 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 52. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. September 1995

Klaus Kirschner Es reicht eben nicht aus, lieber Herr Seehofer, wenn der Pharma-Interessenpolitik geopfert werden - und Sie Ihren Koalitionspartner, unseren Freund Mölle- sonst gar nichts. Es ist offensichtlich: Eine pharmako- mann, in einem offenen Schlagabtausch als Streit- logisch-therapeutische Qualitätsverbesserung auf hansel in die Ecke stellen. Ich habe den Eindruck, es dem Arzneimittelmarkt wird von der Bundesregie- stehen Ihnen für die zahlreichen Streithansel inner- rung, von CDU/CSU und F.D.P. politisch nicht ge- halb der Koalition viel zuwenig Ecken zur Verfü- wünscht. Man muß sich nur einmal den zeitlichen gung. Aber das ist Ihr Problem. Ablauf dieses von Ihnen vorgelegten Gesetzentwur- fes vor Augen halten. Seine Begründung basiert auf Im übrigen, lieber Herr Seehofer, stellen Sie hier dem Vorentwurf einer Sachverständigenvorschlagsli- nicht nur dar, welche Probleme wir in der gesetzli- ste. Der Gesundheitsminister konnte also bei der chen Krankenversicherung haben. Sie sind hier als Vorlage des Gesetzentwurfes am 12. Juli die endgül- Minister in der Verantwortung und nicht Zuschauer. tige Liste noch gar nicht kennen. Entsprechend fa- Wir fordern Sie auf, endlich zu handeln, um die ge- denscheinig und unsinnig ist dann auch Ihre Argu- fährliche Ausgabenentwicklung, die Sie selbst dar- mentation gegen die Positivliste. gestellt haben, zu stoppen und umzudrehen, indem Sie - ich sage das noch einmal - das Gesundheits- Einen weiteren Punkt möchte ich ansprechen, Herr strukturgesetz endlich konsequent umsetzen und da- Minister. Ich hätte erwartet, daß Sie einiges zum mit Ihrer Verantwortung gerecht werden. Bundessozialhilfegesetz sagen; denn Sie haben da (Beifall bei der SPD) doch einiges vor. Wir sind mit Ihnen in der Einschät- zung einig, daß die seit Jahren erheblich gestiegenen Hier sind Sie als Exekutive gefordert. Sozialhilfekosten zunehmend die Funktionsfähig- (Zuruf von der SPD: Was mit der Positivliste keit der Sozialhilfeträger, in erster Linie der Gemein- ist, dazu würden wir vom Minister gern den, gefährden. Nur, der von Ihnen vorgelegte Ge- auch noch was hören!) setzentwurf ist kaum tauglich, diesem Trend entge- genzuwirken oder ihn gar umzukehren. Die Ursa- - Darüber werden wir in Kürze debattieren, und dar- chen von Armut und Ausgrenzung liegen nämlich auf freue ich mich schon. nicht in einer ungenügenden Sozialhilfe, sondern vor allem in unzureichenden vorrangigen Sicherungssy- Meine Damen und Herren, wenn Sie wirklich eine stemen und in der dramatischen Situation auf dem Reform wollen, insbesondere dort, wo die Wirtschaft- Arbeitsmarkt. Hier versagen Sie und mit Ihnen die lichkeitsreserven im System liegen, ist die Mitwir- Bundesregierung. kung des Bundesrates unerläßlich. Eine weitere Re- form ohne Einbindung des größten Ausgabenblocks- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne in der Krankenversicherung, also ohne den Kranken- ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN hausbereich - das haben Sie selbst gesagt -, ist eine und der PDS) Sandkastenreform. Wird aber auf eine notwendige, umfassende Reform verzichtet, so bleibt letzten En- Bitte nehmen Sie endlich zur Kenntnis, daß mittler- des nur noch ein gesundheitspolitischer Kahlschlag weile über 4 Millionen Menschen ohne Arbeit sind zu Lasten der Versicherten und der kranken Men- und daß eine dramatische Wohnungsnot herrscht! schen übrig. Das wissen Sie ganz genau. (Jürgen W. Möllemann [F.D.P.]: Ich finde, er (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Das wollen übertreibt!) wir doch gar nicht!) Es fehlen in den neuen Ländern ca. 1 Million und in - Was wollen Sie denn eigentlich? Das müssen Sie den alten Ländern 1,5 Millionen bezahlbare, preis- mir erst einmal sagen, Herr Zöller. Sagen Sie es doch werte Wohnungen. Allein in den alten Ländern leben einmal! Sie sagen nur, Sie wollen unser Konzept 7 Millionen Menschen in Armut. Von den Kindern nicht, aber Ihnen selbst fehlt jegliche eigene Konzep- unter 16 Jahren leben heute ca. 10 % in armen Fami- tion. Da sind Sie bisher weit hinter uns zurückgeblie- lien; 1 Million Kinder und Jugendliche unter ben. 18 Jahren sind auf Sozialhilfe angewiesen, (Beifall bei der SPD) (Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/ Damit keine Mißverständnisse entstehen: Wir wol- CSU]: Jetzt fängt er auch noch mit der Ver len eine Weiterentwicklung des Gesundheitswesens elendungstheorie an!) auf der Grundlage des Gesundheitsstrukturgesetzes, das wir gemeinsam verabschiedet haben. Ich fordere 500 000 Kinder sind in Obdachlosensiedlungen und Sie auf, endlich konsequent zum Gesundheitsstruk- Notunterkünften untergebracht. Nehmen Sie bitte turgesetz zu stehen. Zu diesem Gesundheitsstruktur- auch zur Kenntnis, daß die häufig zitierten Aussagen gesetz - und das ist die Nagelprobe - gehört die Posi- von den überzogenen Ansprüchen an das soziale tivliste. Ich sage Ihnen, Herr Minister: Ein in Sachen Netz mit der Realität nichts zu tun haben! Sowohl die Positivliste wortbrüchiger Gesundheitsminister ist Lebensverhältnisse der von Armut betroffenen Men- kein seriöser Verhandlungspartner. Die für eine bes- schen als auch die Entwicklung der Sozialquote in sere Qualität der Arzneimittelversorgung unverzicht- Deutschland lassen eine solche Schlußfolgerung bare Positivliste soll ohne sachlichen oder gar fachli- nicht zu. chen Grund (Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/ (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Nur aus sach- CSU]: Das beten Sie doch jetzt schon min lichem Grund!) destens 10 Jahre lang vor!) Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 52. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. September 1995 4441

Klaus Kirschner Für Ihre Konzeptionslosigkeit möchte ich noch ein Ich bedanke mich für Ihre Geduld. Beispiel nennen: Am gleichen Tag, an dem der Bun- desgesundheitsminister vor der Pressekonferenz (Beifall bei der SPD - Wolfgang Zöller Ländern und Kommunen nicht näher bezeichnete [CDU/CSU]: Das ist doch längst erledigt! Einsparungen bei der Sozialhilfe in Aussicht stellte, Wir haben September! - Horst Seehofer wurden von Ihrem Kollegen Blüm Einsparungen bei [CDU/CSU]: Altsteinzeit! - Wolfgang Loh- der Arbeitslosenhilfe von 3,4 Milliarden DM für das mann [Lüdenscheid] [CDU/CSU]: Das war nächste Haushaltsjahr verlangt. Das bedeutet im die verkehrte Rede, die aus dem Januar!) Klartext, daß in etwa Mehrbelastungen in der glei- chen Höhe auf die Sozialhilfeträger zukommen wer- Das Wort hat die den. Wundert Sie eigentlich bei dieser Trickserei Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: noch, daß Sie mit Ihren Reformbemühungen auf brei- Kollegin Angelika Pfeiffer, CDU/CSU. teste Ablehnung stoßen? (CDU/CSU): Herr Präsident! (Beifall bei der SPD - Horst Seehofer [CDU/ Angelika Pfeiffer Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Ein- CSU]: Gehen Sie einmal mit mir an die Öf- bringung des Haushaltes durch die Bundesregierung fentlichkeit, zur Bevölkerung!) ist traditionsgemäß die erste Gelegenheit nach der Herr Minister, ich hätte auch erwartet, daß Sie et- Sommerpause, die politische Auseinandersetzung im was zur Rinderseuche BSE sagen. Dieses Thema ha- Deutschen Bundestag wieder aufzunehmen. ben Sie aber wohlweislich ausgespart; es geht auch (Zuruf von der SPD: Eine ganz neue Weis hier um die Berechenbarkeit und Glaubwürdigkeit -heit!) des Bundesgesundheitsministers. Das sogenannte Sommerloch haben wir ja, dank Ih- (Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/ nen, liebe Kollegen von der SPD, hervorragend hin- CSU]: Die sehr hoch anzusiedeln ist!) ter uns gebracht; es hat uns auch in sämtlichen Wahl- Am 21. April vergangenen Jahres haben Sie an die- kreisen nicht gelangweilt. Das Spiel Ihrer Pa rtei ser Stelle - Sie können noch so sehr abwinken, Herr „Wer wird wohl der nächste Kanzlerkandidat?" hat Minister - erklärt: Kein verantwortungsvoller Politi- uns im Osten Deutschlands hervorragend amüsiert. ker kann auf diesem Gebiet auch nur das geringste (Beifall bei der CDU/CSU) Risiko eingehen. Der Bundesminister für Gesundheit, Kollege Horst (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist doch Seehofer, hat gerade in seiner Einbringungsrede die schon längst erledigt!) Finanzentwicklung in der Krankenversicherung im ersten Halbjahr 1995 präsentiert. Damit wird erstma- Dieser Erklärung läßt der Bundesgesundheitsmini- lig der Deutsche Bundestag zuerst - das heißt auch: ster eine Dringlichkeitsverordnung folgen, wonach vor der Presse - über die gesundheitspolitischen Zah- Fleisch von Rindern, die nach dem 1. Januar 1992 ge- len informiert. Ich begrüße das hier sehr ausdrück- boren sind, unbedenklich ist. lich und möchte Ihnen, Herr Minister, für diese Geste (Horst Seehofer [CDU/CSU]: Sie sind doch danken. noch im Neandertal!) (Zuruf von der SPD: Und die Konsequenz?) Wie verantwortungslos diese Verharmlosungsstrate- Ich hoffe, daß dies, je nach den parlamentarischen gie für die Gesundheit der Bevölkerung ist, zeigt der Gegebenheiten, auch künftig der Fall sein wird. jüngst bekanntgewordene Fall eines an Rinderwahn- sinn erkrankten Rindes in England im Jahre 1992. Die Bilanz der Finanzentwicklung in der gesetzli- chen Krankenversicherung im ersten Halbjahr 1995 (Horst Seehofer [CDU/CSU]: Das ist doch ist nicht ernüchternd und auch nicht, wie Sie, meine Neandertal, was Sie erzählen!) verehrten Damen und Herren von der Opposition, immer sagen, katastrophal. Mit Blick auf die Rinder des Jahres 1992 haben sich die Bundesregierung sowie der Ständige Veterinär- (Klaus Kirschner [SPD]: Sondern?) ausschuß der Europäischen Kommission nachweis- lich geirrt. Darum appelliere ich noch einmal an Sie: Nein, die Bilanz ist weitgehend so, wie die Entwick- Machen Sie endlich den nationalen Alleingang! Hier lung in der Schlußphase der Budgetierung durch das geht es um den vorbeugenden Schutz der Gesund- Gesundheitsstrukturgesetz zu erwarten war. Die Bi- heit von Verbraucherinnen und Verbrauchern. Ris- lanz war nicht anders zu erwarten. Die wesentlichen kieren Sie dafür die Auseinandersetzung vor dem Fakten, die für diese Entwicklung einstehen, waren Europäischen Gerichtshof! bekannt, und mit der Realisierung wurde allemal ge- rechnet. (Beifall bei der SPD) (Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/ Ich hätte erwartet, daß Sie dazu, Herr Bundesge- CSU]: So ist es!) sundheitsminister, etwas sagen. Arbeiten Sie nicht ständig mit Dringlichkeitsverordnungen; denn das Wir haben daher bereits unmittelbar nach Inkraft- schadet der Glaubwürdigkeit der Politik insgesamt. treten des Gesundheitsstrukturgesetzes gesagt, daß 4442 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 52. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. September 1995

Angelika Pfeiffer dieses Gesetz nur befristet eine kostensenkende Wir- In der Umsetzungsphase haben Sie darüber hinaus kung entfalten kann - auch das muß Ihnen immer wieder gesagt werden - in Bundesrat und Bundestag eine Lösung der Proble- (Peter Dreßen [SPD]: Ist doch nur die Hälfte matik zugunsten der Krankenkassen und zu Lasten umgesetzt! - Gegenruf des Abg. Wolfgang der Länder, zuletzt beim GKV-Anpassungsgesetz, Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/CSU]: Sie mit Erfolg verhindert. wissen doch gar nicht, wovon Sie reden!) (Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/ und daß deswegen eine weitere, dritte Reformstufe CSU]: Ja, so ist es, aus rein parteitaktischen unausweichlich ist. Gründen haben Sie das nach und nach ab gelehnt!) Wir haben diese Reform mit dem Sondergutachten des Sachverständigenrates der Konzertierten Aktion Sie schieben damit so einfach 5 Milliarden DM zu- sowie seit Beginn dieses Jahres mit den sogenannten sätzlich in die Haushalte der Krankenversicherungen Petersberger Gesprächen mit allen wesentlichen Kör- und fordern im gleichen Atemzug - und das, ohne rot perschaften und Verbänden des Gesundheitswesens zu werden, obwohl Sie eine rote Pa rtei sind - Bei- konstruktiv und zielorientiert vorbereitet. Wir haben tragsstabilität. dabei - das sei allerdings nur am Rande erwähnt - gerade bei der deutschen Ärzteschaft und auch bei Der Beitrag der SPD-Bundestagsfraktion bzw. der den Spitzenverbänden der Krankenversicherungen SPD-geführten Länder ist somit gleich Null? eine erfreuliche Bestätigung der Notwendigkeit der Reform und eine Einsicht in die zentralen Probleme (Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/ dieser Reform gefunden. CSU]: Er ist im Minus!) (Beifall bei der CDU/CSU) Er ist nicht gleich Null: Sie tragen in Bundestag und Bundesrat ein gerüttelt Maß an Mitverantwortung da- Wir werden diese Arbeit, wie angekündigt, zualler- für, daß die Verhältnisse so sind, wie sie heute sind. erst in der Koalition, aber auch mit Ihnen, Herr Kirschner, fortsetzen. Gestern wurde eine Koalitions- (Klaus Kirschner [SPD]: Sind wir in der Re arbeitsgruppe eingesetzt. gierung?) (Dr. Peter Struck [SPD]: Das hilft überhaupt Was haben Sie in der SPD denn für Alternativen nichts! In eurer Fraktion kommt nichts bei zu unserer Reformpolitik? Auch hier ist die Diagnose raus!) - ernüchternd: Politisch haben Sie zunächst den Kopf in den Sand gesteckt. Monatelang war die Botschaft Ich denke, die Arbeit wird hervorragend geleistet aus Ihrer Fraktion die: Wir brauchen keine dritte Re- und fahrplanmäßig beendet werden. formstufe, wir schaffen das so; gefragt ist die Umset- zung des Gesundheitsstrukturgesetzes. (Lachen und Widerspruch bei der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU - Beifall bei Ab - Auch wenn Sie das lustig finden: Ich finde es geordneten der SPD) prima, daß wir in der Koalition so eng zusammenar- beiten. Diese Position haben Sie aber nur so lange vertreten, bis Sie von den SPD-geführten Ländern so viel Druck (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) gekriegt haben - Gott sei Dank -, daß Sie merkten, Ich frage nun Sie, meine Damen und Herren von daß die Länder anders diskutieren und Sie Ihre Poli- der Opposition: Was haben Sie denn dazu beigetra- tik ändern müssen. gen, die erkennbaren Probleme der Krankenversi- (Klaus Kirschner [SPD]: Wer hat Ihnen das zu verhindern, zu mildern oder zu lösen? cherung denn aufgeschrieben?) Zunächst - da gebe ich dem Minister vollkommen recht - haben Sie, d. h. insbesondere die SPD-geführ- Das nennt man - das hat Herr Kollege Dreßler richtig ten Länder, bereits im Herbst 1992 in Lahnstein alles gesagt, Herr Kirschner, Sie werden ihm kaum wider- getan, um das Kostendämpfungskonzept für das sprechen wollen - „Föderalisierung der Gesundheits- Krankenhaus zu verwässern. Die Löcher in den kran- politik" . kenhausindividuellen Budgets sind politisch zu ver- antworten, und zwar insbesondere von Ihnen, meine Inzwischen haben Sie sich aber - Gott sei Dank - sehr verehrten Damen und Herren von der SPD. eines anderen besonnen. Am 28. August 1995 haben Sie nach langen hochsommerlichen Temperaturen In den Beratungen zur nächsten Phase, der soge- und Sitzungen in sogenannten Kaminrunden - die nannten Umsetzungsphase, haben die Länder - vor- dort sehr gut hineinpassen; das ist eine Spezialität nehmlich wieder die SPD-geführten - erneut alles der SPD - das Konzept der SPD zur Weiterentwick- getan, die Effizienz des Preiskonzeptes zu verwi- lung im Gesundheitswesen präsentiert. schen. Sie haben also nichts Positives beigetragen. Entweder verwässern, verwischen Sie, oder Sie wol- (Klaus Kirschner [SPD]: Das ist ein gutes len die Sache hinauszögern. Konzept!) (Peter Dreßen [SPD]: Wo denn, bei was Dieses Konzept ist - ich beschäftige mich zwar noch denn?) nicht lange mit dem Gesundheitswesen, aber ich Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 52. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. September 1995 4443

Angelika Pfeiffer habe es mir zusammen mit meinen Kollegen ange- Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit, auch schaut - deprimierend. wenn Sie sehr unruhig waren und versucht haben, immer wieder etwas dazwischenzurufen. Aber das (Klaus Kirschner [SPD]: Nicht nur an- macht die Sache erst würzig. schauen, lesen!) Danke schön. - Lesen kann ich auch, und das habe ich hervorra- gend gemacht. - Ein moderner Ansatz zur Lösung (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) der anstehenden Fragen ist nicht gefunden worden. - Kernanliegen Ihres Konzeptes ist die staatliche - Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das Wort hat die (Horst Seehofer [CDU/CSU]: Reglementie- Kollegin Marina Steindor, BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- rung!) NEN. - „Reglementierung" wollte ich nicht sagen. Das hat- ten wir in der DDR. Ich wollte der SPD nicht ganz Marina Steindor (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): DDR-Mentalität unterstellen. Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn die Redezeit nach dem Etatumfang bemessen würde, (Klaus Kirschner [SPD]: Sie haben die Pres- wäre die Debatte um den Gesundheitshaushalt seerklärung der F.D.P. verschluckt!) schon bald beendet. Der vorliegende Haushalt und Ihre Rede, Herr Minister, spiegeln die Konzeptionslo- - Das habe ich nicht. - Ihr Konzept heißt: mehr Staat, wider, mit der Sie Politik betreiben. mehr Dirigismus, mehr Kontrolle. Das hatten wir in sigkeit der DDR, und das wollen Sie auch. (Bundesminister Dr. Theodor Waigel: Unge (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- heuer!) ordneten der F.D.P.) Sie haben in Ihrer Rede von einigen Plänen abge- Selbstverwaltung, Eigenverantwortung sind und lenkt, die ansatzweise in diesem Haushalt enthalten bleiben für Sie Fremdwörter. sind. Ihre menschenverachtenden Pläne, medizini- sche Leistungen für Asylbewerber und Bürger- (Klaus Kirschner [SPD]: Nein! - Weitere Zu- kriegsflüchtlinge noch weiter einzuschränken, sind rufe von der SPD) im Haushalt kaum zu entdecken. Sie sprechen nicht darüber. Wir haben das Asylbewerberleistungsge- Also, mit Ihnen würde ich gerne hinterher eine - - setz nicht mitgetragen. Wir werden auch diese Pläne Tasse Kaffee trinken. Wer so schöne Zwischenrufe nicht mittragen. Auch Ihre Pläne zur Amerikanisie- macht, der kann mich auch mal einladen. Okay? rung unserer Bundessozialhilfe haben Sie hier nicht (Heiterkeit) vorgetragen. Mit diesen Plänen, Herr Minister, wer- den Sie selbst ein Armutsrisiko in diesem Land. Zie- Sie haben aus der Diskussion in den vergangenen hen Sie diese Pläne zurück! Jahren nichts gelernt. Sie wollen nichts lernen, und die Probleme verdrängen Sie. Es ist von Ihnen nichts Mit der Verabschiedung der Positivliste, Herr Mi- anderes zu erwarten. Aber ich hoffe, daß wir in die- nister, ist in Ihrem Haushalt auch nicht viel zu spa- ser Wahlperiode mit Ihnen doch noch einer Meinung ren. Aber was Sie damit politisch erreicht haben, ist, sein werden. daß das Gesundheitsstrukturgesetz in seiner Gänze zur Disposition gestellt wird und die gesundheitspoli- (Zuruf von der SPD: Wieso hoffen Sie das?) tischen Karten neu gemischt werden. Sie sind doch - Ich hoffe das, weil wir gut zusammenarbeiten, wie ratlos! sich auch im Fachausschuß zeigt. Da werden wir uns (Lachen und Widerspruch bei der CDU/ doch wohl noch auf eine Meinung einigen können. CSU) Auch Herr Thomae ist daran interessiert, daß wir ei- nen großen Konsens haben. Da bin ich mir ganz si- Legen Sie erst einmal Ihre Pläne auf den Tisch! cher. Sie haben niemals vorgehabt, die Positivliste um- Will die SPD nun endlich zur Einsicht kommen? zusetzen. Sie haben sich die Zustimmung der SPD- Wer kann denn bei diesen Fakten überhaupt etwas Länder im Bundesrat regelrecht erschlichen, Herr gegen unser Konzept haben? Es geht also jetzt nur Minister. darum, meine sehr verehrten Damen und Herren von der SPD, daß Sie Ihren bisherigen Lippenbekenntnis- (Beifall bei Abgeordneten der SPD - Wider sen Glaubwürdigkeit folgen lassen, daß Sie finan- spruch bei der CDU/CSU) zielle Konsequenzen folgen lassen und schlicht und ergreifend einfach nur helfen. Schließlich werden Sie reden immer von Selbstverwaltung; aber Sie auch gerade meine Kollegen aus den neuen Ländern nehmen sich doch selbst nicht ernst. Was Sie uns nicht ernsthaft behaupten wollen, daß die in der heute hier geboten haben, Herr Minister, ist - vor- 4. Novelle vorgesehenen 240 Millionen DM für das nehm ausgedrückt - unverfroren. Sie sprachen hier ärztliche Honorarbudget (Ost) überflüssig wären. Ich davon, die Selbstverwaltung habe den neuen ein- jedenfalls habe von Ihnen noch nichts dergleichen heitlichen Bewertungsmaßstab in den letzten Wo- gehört. chen - ich zitiere Sie - „aus eigener Kraft" vorgelegt. 4444 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 52. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. September 1995 Marina Steindor Herr Minister, Sie selbst haben diesen Vorgang - be- Aber diese Nahrungsmittel müßten nach Gentech- fristet - in das GSG hineingeschrieben. Sie haben nikgesetz genehmigt oder nach EU-Freisetzungs- sich vorbehalten - falls die Selbstverwaltung es nicht richtlinie in Verkehr gebracht werden. Von alledem schafft -, es selbst zu tun. ist nichts passiert.

(Horst Seehofer [CDU/CSU]: Ich hätte es Bei näheren Nachforschungen in anderen Akten- auch getan!) blättern des Gesundheitsministeriums entpuppte sich das Ganze als sehr aussagefähiger Druckfehler; Sie trauen doch Ihrem eigenen Motto nicht. Über das denn wo in der Projektbeschreibung von Gentechnik 4. Änderungsgesetz zum SGB V werden wir noch die Rede ist, steht in dem Einzelblatt: „getrocknete diskutieren. Feigen und Nüsse". Wo, Herr Minister, haben Sie in diesem Forschungsprojekt die Gentechnik versteckt, Herr Minister, Ihre eigene Partei folgt Ihren Vor- die sich da so untergründig eingefügt hat? stellungen von der Freiheit für die Selbstverwaltung Der Bundesgesundheitsminister will die Gentech- nicht. Wenn die Bayerische Staatsregierung per nik in Diagnostik und Therapie fördern - und das Rechtsverordnung die bayerischen AOKs fusioniert ausgerechnet mit Genomdiagnostik, dem, was wir und dabei den Verwaltungssitz festlegt: Was ist das prädiktive Medizin nennen. Wahrscheinlich gehört für ein Verhältnis zur beschworenen Freiheit der das zum Zukunftsgehudel dieser Bundesregierung. Selbstverwaltung? Herr Minister, unserer Auffassung nach müßten Sie Doch jetzt weg von der Gesundheitsstruktur! die Bevölkerung vor diesem gentechnischen Hum- bug schützen. Wenn Sie „Science" und „Nature" le- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) sen, können Sie feststellen, daß auf jede Ankündi- gung eines neuen Krankheitsgens zwei Ausgaben Ich bin es langsam leid, den unkonkreten Schlagab- später ein Widerruf oder ein neues Gen folgt. Sie un- tausch, dieses „Old-boys-Network", das in diesem terstützen hier ungelegte biologistische Gentechno- Land die Gesundheitspolitik bestimmt, noch länger logieeier. anzuhören. In den Vereinigten Staaten - und das stimmt mich sehr bedenklich - haben sich Frauen nach einem (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- Gentest, der eine Krankheitsdisposition für Brust- SES 90/DIE GRÜNEN) krebs erbracht hatte, bereits die Brust amputieren lassen - ohne krank zu sein und ohne wissenschaftli- Das Thema lautet: Was macht der Bundesgesund- - chen Nachweis, daß dieser Gentest überhaupt aussa- heitsminister mit dem wenigen Geld, das er hat? An- gekräftig ist. Die Entstehung von Krankheiten ist viel gesichts dessen, daß das Robe rt-Koch-Institut und komplexer, als es den Geningenieuren lieb ist. Ein das Paul-Ehrlich-Institut keine Einzelkommentare zu Gesundheitsminister müßte die Bevölkerung vor ge- Haushaltstiteln vorgelegt haben, ist für das Parla- netischen Scharlatanen und genetischer Diskriminie- ment die Transparenz dieses Bundeshaushalts nicht rung schützen. gewährleistet. Was macht der Bundesgesundheitsminister sonst Was macht der BMG also mit seinem wenigen noch mit seinem wenigen Geld? Er fördert ein zyni- Geld? Er macht Ressortforschungsprojekte mit ei- sches Projekt zu Atemwegserkrankungen. nem absurden Gemischtwarenladen. Er fördert z. B. den Betäubungsmitteleinsatz bei Süßwasserfischkul- (Dr. Dieter Thomae [F.D.P.]: Das ist der Mi turen, um - ich zitiere - „ein erhöhtes Verlustrisiko" nister, der aus wenig viel macht!) und eine „erhebliche wirtschaftliche Belastung" in Er will mit Frühdiagnostik herausfinden, ob die Men- der Massentierhaltung zu verringern. Wie wäre es schen zu Verhaltensänderungen oder zur lebens- mit einem gesetzlichen Verbot dera rtiger Tierhal- länglichen Einnahme von Entzündungshemmern ge- tung, Herr Minister? bracht werden können. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Ulrich Irmer [F.D.P.]: Entzündungshemmer oder Entzündungshämmer?) Zur Nuß- und Feigenforschung möchte ich sagen: Meine Frage lautet: Welche Luft, Herr Minister, sol- In der Projektliste der Ressortforschung im Gesund- len Menschen, die auf Grund der Luftverschmutzung heitshaushalt steht dazu doch allen Ernstes, man be- krank werden, einatmen? Warum betreiben Sie treibe im Rahmen der Ressortforschung „Repräsen- keine konsequente Anti-Raucherpolitik? Wo war tationsuntersuchung von gentechnischen Nüssen denn Ihre Stimme in der Debatte um das Ozon zu hö- und Feigen auf Aflatoxingehalt" . „Hoppla" habe ich ren? Wann haben Sie sich denn um die Gesundheits- da gedacht. Da behauptet der Minister immer, er belange der Bevölkerung gekümmert? Mit der Ab- wisse nichts von gentechnischen Lebensmitteln in gabe des Wasser-Boden-Luft-Hygiene-Instituts (Wa- Deutschland. Nüsse und Feigen sind zwar nicht ge- BoLu) haben Sie jede umweltmedizinische Kompe- rade das Grundnahrungsmittel der bundesdeutschen tenz abgegeben und sind in diesem Bereich genauso Bevölkerung. ratlos wie bei der Gesundheitsstruktur. (Ulrich Irmer [F.D.P.]: Doch, der Toskana- (Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/ Fraktion! Fragen Sie mal die SPD! Das ist CSU]: Merken Sie gar nicht, wie arrogant deren Grundnahrungsmittel!) Sie sich benehmen?) Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 52. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. September 1995 4445

Marina Steindor Dieser Haushalt ist ein konzeptionsloser Flicken- Jürgen W. Möllemann (F.D.P.): Aber gerne. teppich, der nicht in die Zukunft führt. Meine Frak- tion lehnt ihn entschieden ab. Horst Seehofer (CDU/CSU): Herr Möllemann, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN könnten wir beide uns das seltene Ergebnis der sowie bei Abgeordneten der SPD) Übereinstimmung gönnen, indem ich Sie frage: Kön- nen Sie mir zustimmen, daß der Zwischenruf des Kol- legen Kirschner völlig falsch war? Die Pflegeperso- Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das Wort hat der nalverordnung führt nur diese Bezeichnung, aber in Kollege Möllemann, F.D.P. Wirklichkeit ist sie ein Gesetz, enthalten im Gesund- heitsstrukturgesetz und erlassen mit Ihrer Zustim- Jürgen W. Möllemann (F.D.P.): Herr Präsident! mung. Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auch wenn das De- fizit der gesetzlichen Krankenversicherung im ersten (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Halbjahr nicht 5 Milliarden DM betragen würde, gäbe es nach dem vor einiger Zeit gemeinsam defi- Jürgen W. Möllemann (F.D.P.): Wie sollte ich Ihnen nierten Willen dieses Hauses einen nachhaltigen, tat- da widersprechen? sächlichen Reformbedarf im Gesundheitswesen. (Heiterkeit bei der F.D.P. und der CDU/CSU Wir haben nun die Haushaltsdebatte, die - ich - Bundesminister Dr. Theodor Waigel: Herr denke, ich kann mir erlauben, das nach ein paar Jah- Möllemann, der Kollege Seehofer sitzt auf ren Mitgliedschaft in diesem Hause zu sagen - all- Ihrem Stuhl!) mählich einen sehr ritualhaften Charakter bekommt. Man hat eine Stunde über ein Thema zu reden, un- Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Herr Kollege abhängig davon, ob der Diskussionsstand das als Möllemann, gestatten Sie eine weitere Zwischen- sinnvoll erscheinen läßt oder nicht. frage? Wir haben diese Haushaltsdebatte zu einem Zeit- punkt, in dem, wie Sie wissen, die Koalition wie ver- Jürgen W. Möllemann (F.D.P.): Ich weiß, daß die abredet ihre Verhandlungen über den für diesen Zeiten nicht angerechnet werden. Bitte schön. Zeitraum angekündigten Entwurf für eine Gesund- heitsreform beginnt. Man wäre versucht, zu sagen: Klaus Kirschner (SPD): Herr Kollege Möllemann, Da das Stadium der Diskussion nicht zuläßt - auch wenn ich nicht falsch gehört habe, haben Sie von der Sie würden Koalitionsverhandlungen nicht zuerst in- Pflegeverordnung geredet. Das Wortprotokoll wird rtnern der Öffentlichkeit und hinterher mit Ihren Pa zeigen, daß Sie das so gesagt haben. führen -, daß man die kniffeligen Details jetzt vor- stellt, beläßt man die Debatte an diesem Punkt und (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Nein, Pflege kommt in ein paar Wochen, wenn wir weiter sind, personalverordnung!) darauf zurück. Aber das geht jetzt nicht, weil Sie of- Sie haben das so gesagt und nicht so, wie das der fenkundig geneigt sind, öffentlich den Eindruck zu Herr Bundesminister soeben interpretiert hat. Das erwecken, wir hätten keine Reformvorstellungen. mögen Sie vielleicht gemeint haben, aber Sie haben Der budgetäre Aspekt, den der Bundesminister zu es anders gesagt. Recht, um uns über den Sachstand zu informieren, zum Aufhänger seines Beitrags gemacht hat, begrün- Jürgen W. Möllemann (F.D.P.): Auf meinem Zettel det nach meiner Ansicht die Notwendigkeit der Re- steht: Pflegepersonalverordnung. Da ich des Lesens form nicht allein, Er erklärt sich im übrigen z. T. aus kundig bin, werde ich es richtig vorgetragen haben. Entwicklungen, die wir als Gesetzgeber selbst her- beigeführt haben. Ich nenne nur die Pflegepersonal- (Heiterkeit und Beifall bei der F.D.P. und verordnung, die einen erheblichen Anteil dieser Ko- der CDU/CSU) stensteigerung ausmacht. Soviel zum Thema, daß unsere Rede frei sein soll. (Klaus Kirschner [SPD]: Herr Möllemann, Jetzt möchte ich ganz gerne zu den drei Eckpunk- Sie müssen wissen, daß die Verordnung ten kommen, die auf jeden Fall eine wichtige Rolle nicht der Gesetzgeber macht!) spielen werden, damit es zu einer strukturellen Re- - Mir ist jedenfalls bekannt, daß an dem, worum es form und nicht zu einer bloßen weiteren Maßnahme hier in den Auswirkungen geht, der Gesetzgeber in unter dem Stichwort Kostendämpfungsgesetz vielfältiger Weise beteiligt war. Mir ist auch bekannt, kommt. Von solchen Maßnahmen hatten wir genug, Herr Kollege, wer für Verordnungen zuständig ist. und leider wirken sie nicht hinreichend. Wir müssen Aber machen wir es doch nicht formalistisch. Das stärker als bisher Mechanismen in das Gesundheits- bringt doch nichts! wesen einbringen, die mit den Stichworten Markt, Transparenz, Eigenverantwortung verbunden sind. Ich möchte gerne darlegen, in welchen drei Berei- Nichts sagt deutlicher als die 6 800 Regelungen, die chen ich besonderen Handlungsbedarf sehe. wir immer wieder erwähnen, daß die Überbürokrati- sierung dieses Politikbereichs offenkundig nicht die Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Herr Kollege Ziele erreichen kann, die Marktmechanismen wie Möllemann, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Eigenverantwortung, Eigensteuerung, also ein Frei- Abgeordneten Seehofer. heitsmodell, eher erreichen können. 4446 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 52. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. September 1995

Jürgen W. Möllemann Ich möchte dabei Transparenz auch in einer ande- Zweiter Punkt. Wir reden über die Frage, wie die ren Form verwirklicht sehen. Die von Ihnen in Ihrem Kosten aufgebracht werden sollen, von denen wir Arbeitspapier wieder aufgestellte Behauptung, es alle annehmen, daß sie trotz aller effizienten Mecha- müsse auf jeden Fall mehr als bisher beim Prinzip nismen, wenn das Gesundheitswesen weiterhin wir- bleiben, daß über diese Mechanismen nicht Kosten- kungsvoll sein soll, möglicherweise steigen, weil die erstattung eingeführt wird, sondern die Sachleistun- Menschen im Schnitt immer älter werden und weil gen im Mittelpunkt stehen, ist falsch. der medizinische Fortschritt nicht - Gott sei Dank, möchte man fast sagen - wie in anderen Bereichen, (Beifall bei der F.D.P.) z. B. im Bereich der industriellen Produktion, auto- Was eigentlich hindert uns, die Kassenpatienten den matisch zu Rationalisierungseffekten führt. Das Privatpatienten gleichzustellen? Warum müssen die heißt, es gibt Forschungsergebnisse, die schlicht zu Privatpatienten das P rivileg haben, zum Arzt gehen weiteren Aufwendungen und Anstrengungen zu- zu können, mit dem Arzt die notwendige Behand- sätzlicher Art führen, die finanziert werden müssen. lung zu vereinbaren und darüber eine Rechnung zu bekommen? Warum ist es nicht selbstverständlich, Wir werden der Frage nicht ausweichen können - daß künftig alle Patienten nach einer ärztlichen Be- das meinen vielleicht auch Herr Schröder und auch handlung darüber eine Rechnung bekommen, damit Hillu, wenn sie von Modernisierung sprechen -, ob sie wissen, was geschehen ist, was es kostet, und daß wir nicht zusätzlich zu den Leistungen, die die Soli- sie dann mit ihrer Versicherung abrechnen? Das dargemeinschaft erbringen muß, die Komponente brauchen wir, meine ich, auf jeden Fall. der Selbstbeteiligung verstärken müssen, damit Transparenz Wirkung haben kann, damit vernünfti- (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- ges Verhalten honoriert und unvernünftiges Verhal- ten der CDU/CSU) ten eben auch besonders belastet wird. Dabei ist es interessant, daß der Sachverständigenrat, der sein Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Herr Kollege Gutachten gerade vorgelegt hat, zwar Skepsis ge- Möllemann, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage genüber einer Ausweitung der traditionellen Struk- des Kollegen Dreßen? tur von Selbstbeteiligungsmechanismen anmeldet, aber sehr wohl neue Formen der Eigenverantwor- tung und Selbstbeteiligung für erwägenswert hält, Jürgen W. Möllemann (F.D.P.): Ja, bitte. wie z. B. Selbstbehalte, Beitragsrückgewähr und an- dere Maßnahmen. Peter Dreßen (SPD): Herr Möllemann, habe ich Sie richtig verstanden, daß Sie die privat Versicherten Schließlich, meine Damen und Herren: Durch die und die gesetzlich Versicherten tatsächlich auf eine Debatten dieser Tage hat sich immer wieder ein Ge- Stufe stellen wollen? Ist Ihnen bekannt, daß in der danke gezogen, der heute durch die Bekanntgabe Privatversicherung der Solidargedanke überhaupt der Zahlen auf dem Arbeitsmarkt natürlich eine Ver- nicht vorhanden ist, nämlich daß der Gesunde dem stärkung erfuhr. Es hat im Sommer keine nennens- Kranken hilft und auch der, der ein bißchen mehr werte Verbesserung auf dem Arbeitsmarkt gegeben. verdient, dem hilft, der weniger hat? Das muß uns alarmieren. Der Trend geht trotz positi- ver konjunktureller Entwicklung offenbar dahin, daß (Dr. Gisela Babel [F.D.P.]: Aber in der Trans- mehr und mehr Arbeitsplätze abgebaut, wegrationa- parenz sind sie gleich!) lisiert oder ins Ausland verlagert werden. Wollen Sie dieses über 100 Jahre geltende Solidari- Wir suchen nach Möglichkeiten, wie man den Teil tätsprinzip tatsächlich ohne Not aufgeben? Sind Sie der Gründe hierfür, der in den Lohn- und Lohnzu- nicht der Meinung, daß bei der Gesundheit nicht der satzkosten liegt, so mildern kann, daß sich dieser Markt, sondern vielmehr die soziale Verantwortung Prozeß nicht dynamisch beschleunigt. Das ist auch an erster Stelle stehen sollte? Gegenstand der Debatte in der SPD. So verstehe ich (Ulrich Irmer [F.D.P.]: Das hat doch mit den Disput zwischen Scharping und Schröder über Transparenz nichts zu tun!) die Frage: Gibt es eine sozialdemokratische oder mo- derne Arbeitsmarkt- bzw. Wi rtschaftspolitik?

Jürgen W. Möllemann (F.D.P.): Das macht es (Dr. Peter Struck [SPD]: Das Thema haben manchmal so unerfreulich, und wir wundern uns wir doch schon abgehandelt!) dann zu Unrecht darüber, daß die Leute draußen fra- gen, ob wir hier wie die Mondmännchen aneinander - Ich will mich da, Herr Struck, gar nicht weiter ein- vorbeireden. Ich habe von dem, was Sie hier behaup- mischen. Auch die qualifizierenden Bemerkungen ten, kein Wort gesagt. Ich habe davon gesprochen, Schröders zu Ihnen will ich nicht bewe rten. daß Kassenpatienten genauso wie Privatpatienten Es geht mir darum, daß es gefährlich ist, wenn wir über das, was für sie an Leistung erbracht wird, eine alle sozialen Sicherungssysteme und deren Dynami- Rechnung bekommen sollen. Wieso ist das eine Auf- sierung im Ausgabenbereich immer wieder und so gabe der Solidarität? Wen schützen Sie eigentlich mit stringent, wie wir das tun, an die Lohnkosten anbin- diesem Prinzip des anonymen Blankoschecks? Doch den. Die Frage muß doch sein, ob man sie nicht auf wohl nicht die Patienten. Ich möchte gern, daß hier andere Parameter hin orientieren kann und muß. Transparenz geschaffen wird, daß also das Prinzip der Kostenerstattung an Stelle des bisherigen Ab- (Klaus Kirschner [SPD]: Nennen Sie doch rechnungsprinzips ausgeweitet und vertieft wird. einmal welche!) Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 52. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. September 1995 4447

Jürgen W. Möllemann Daher wird die Diskussion geführt - sie wird übri- lich verfügt, um der Verantwortung des Bundes für gens auch bei uns kontrovers geführt; es ist ja keine die Gesundheit der Menschen nachkommen zu kön- Schande, wenn in Parteien kontroverse Debatten nen. Dabei ist es um diese Verantwortung wahrhaftig stattfinden -, nicht zum besten bestellt. (Klaus Kirschner [SPD]: Sagen Sie konkret, Die Laufzeit des Gesundheitsstrukturgesetzes nä- was Sie wollen!) hert sich bekanntlich - zumindest was die Budgetie- ob man die Finanzierung der gesetzlichen Kranken- rungsphase betrifft - ihrem Ende. Seit langem ist ur- versicherung nicht von der traditionellen Anbindung sprünglich sogar für das laufende Jahr eine weitere an den Produktionsfaktor Arbeit befreien kann, bei- Reformstufe angekündigt. Von einer überzeugenden spielsweise dadurch, daß man entweder den Arbeit- Konzeption dafür ist jedoch bis heute weit und breit geberbeitrag festschreibt - dagegen gibt es vernünf- nichts zu sehen. tige, wichtige Argumente vorzutragen; es gibt auch gute Argumente dafür - oder daß man, wie es der Ganz im Gegenteil: Während sich die Situation in Vorsitzende des Sachverständigenrates, Professor der gesetzlichen Krankenversicherung besorgniser- Henke, vorgeschlagen hat, die Lohnkosten des Jah- regend zuspitzt und ihre Finanzen bereits in diesem res 1995 oder 1996 von einem bestimmten Stichtag Jahr schon wieder gefährlich aus dem Ruder laufen, an als Zuschlag zum Lohn an die Beschäftigten di- entwickelt sich eine gesundheitspolitische Debatte rekt auszahlt. Diese könnten dann selbst entschei- im Land, die immer widersprüchlichere, ja teilweise den, wo und wie sie sich versichern, zumal wir jetzt inhumane Züge trägt. So wird mit rüden Angriffen einen Wettbewerb der Kassen haben sollen, die so- auf die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall so ganz wieso schon beschlossen haben, daß künftig freie nebenbei wieder einmal einer der wichtigsten Eck- Kassenwahl möglich ist. Ich glaube, das ist eine ver- pfeiler des sozialen Grundkonsenses in diesem Land nünftige Idee, gegen die allerdings auch Bedenken in Frage gestellt. Auch wenn das Thema in der Öf- vorzutragen wären. Das weiß ich. Wir werden dar- fentlichkeit rasch zurückgezogen wurde, so gilt doch über zu diskutieren haben. insgesamt das Motto: Steter Tropfen höhlt den Stein. Meine Damen und Herren, ich glaube, daß wir durchaus Grund haben, auch strukturelle Fragen zu Die privaten Krankenversicherungen wiederum erörtern. Union und F.D.P. haben sich darauf verstän- kündigten über Nacht - nachdem sie nicht ohne Er- digt, das in dem von Minister Seehofer beschriebe- folg über Jahre junge Menschen mit niedrigen Prä- nen Zeitrahmen zu tun. Ich bin optimistisch, daß wir mien angelockt haben - eine drastische Erhöhung das zu einem guten Ergebnis bringen werden. der Beiträge an. Sie hätten eben gerade einmal ent- decken müssen, daß die Versicherten inzwischen Erlauben Sie mir eine Schlußbemerkung an die eine höhere Lebenserwartung haben, als man bisher Adresse der Kollegin Steindor. Es wäre mir mühelos dachte. Diese naßforsche Argumentation trifft noch möglich, aus laufenden Forschungsvorhaben in allen nicht einmal auf ernsthaften Widerspruch, von einem Bundesländern, auch in solchen, die rot-grün regiert Eingreifen der Aufsichtsbehörden ganz zu schwei- sind, hier eine Kabarettveranstaltung zu machen, in- gen. dem ich die Titel dieser Forschungsvorhaben vor- trage und - noch ohne daß die Ergebnisse derselben Der Minister, von dem man vermuten sollte, daß er vorliegen und ohne daß eine Auswertung vorgenom- u. a. noch vollauf mit der Umsetzung der letzten Re- men ist - Intentionen in sie hineinprojiziere. Das wird form und ebenso mit der Vorbereitung der neuen eine reine Lachveranstaltung. Ernsthafte Politik kann Stufe zu tun hat, ist indessen damit beschäftigt, die man so nicht betreiben. Ich würde raten, daß wir das Positivliste als einen der tragenden Bausteine des ernsthafter tun. Gesundheitsstrukturgesetzes wieder zunichte zu ma- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) chen. Nun kann man über die Positivliste denken, wie Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das Wort hat die man will. Kollegin Dr. Fuchs, PDS. (Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/ Dr. Ruth Fuchs (PDS): Herr Präsident! Meine Da- CSU]: Das ist wahr!) men und Herren! Mit dem für das Jahr 1996 vorge- legten Haushalt sollen erneut tiefe Einschnitte in das Völlig unbestreitbar bleibt, daß sie einen beträchtli- soziale Leistungsrecht für die verfehlte Finanzpolitik chen Fortschritt für die Qualität der Arzneimittelver- der Regierung herhalten. Die Palette reicht von mas- sorgung bedeuten würde. siven Kürzungen bei der Arbeitslosenhilfe bis hin zu Streichungen des Fahrgeldes für Schwerbehinderte. (Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/ In diesem Kontext kann es schon nicht mehr ver- CSU]: Das ist eben nicht unbestreitbar!) wundern, daß auch die Ausgaben des Bundes für ge- sundheitliche Zwecke keineswegs, wie es eigentlich - Doch, ich habe Achtung vor den Berliner Ärzten, notwendig wäre, aufgestockt, sondern noch weiter die sich dazu geäußert haben. zurückgefahren werden. Aufgeschlüsselt bleibt es damit bei ca. stolzen 10 DM pro Kopf der Bevölke- (Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/ rung, über die das Ministerium für Gesundheit jähr- CSU]: Ja, ja, Herr Huber!) 4448 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 52. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. September 1995

Dr. Ruth Fuchs Partielle Fehler bei ihrer Erstellung hätten bei ent- um eine Modernisierung der Sozial- und Gesund- sprechendem politischen Willen leicht korrigiert wer- heitspolitik steht. den können. So aber werden diese zum willkomme- nen Vorwand genommen, dem Druck der Pharma- Es ist richtig, daß die Globalisierung der Wirtschaft lobby nachgeben und sich des ohnehin unbeliebten von uns neue Antworten verlangt. Wir hatten bisher Kindes wieder entledigen zu können. eine Aufgabenverteilung, die in etwa so aussah: Die Sozial- und Gesundheitspolitiker haben die vorhan- Das ist aus vielen Gründen ein schlimmer Vor- denen Ausgaben verteidigt und zusätzliche gefor- gang, vor allem deshalb, weil er in geradezu exem- dert. Die Finanz- und Wirtschaftspolitiker haben ge- plarischer Weise wieder einmal die Grenzen innova- sagt: Das ist zu teuer; ihr müßt weniger machen. tiver Gesundheitspolitik in diesem Land vor Augen führt. Es könnte sein, daß wir in dieser Beziehung völlig neu denken müssen. Es könnte sein, daß wir gerade Einen traurigen Höhepunkt der Debatte bildet auch in der Sozial- und Gesundheitspolitik überprü- auch das Gutachten, das der Sachverständigenrat fen müssen, ob bestimmte Ausgaben notwendig sind unterbreitet hat. Es ist schwer zu sagen, wem mit die- und ob der Ausgabenanstieg begrenzt werden muß, ser Zusammenstellung des schon lange bekannten um beim Thema Nummer eins, nämlich Kampf ge- neokonservativen und neoliberalen gesundheitspoli- gen die Arbeitslosigkeit und Wiedergewinnung der tischen Gedankenarsenals eigentlich weitergeholfen Vollbeschäftigung, zu Erfolgen zu kommen. Denn es ist. Von einem der folgenschwersten Vorschläge des reicht nicht, meine Damen und Herren von der SPD, Gutachtens - würde er denn realisiert -, nämlich dem zu sagen: Die Arbeitslosigkeit ist die große Heraus- einseitigen Einfrieren des Arbeitgeberbeitrags, ist forderung, sie muß bekämpft werden. Man muß auch inzwischen auch der Minister öffentlich abgerückt. einen Beitrag dazu leisten, damit die Arbeitslosigkeit Im Gegensatz zu bisherigen Aussagen plädiert er wirklich beseitigt werden kann. nunmehr für eine gesetzliche Festschreibung beider Beitragshälften. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. - Peter Dreßen [SPD]: Das machen Sie dann Unser verehrter Ausschußvorsitzender, Herr Kol- mit der Deregulierung!) lege Thomae, hat sofort mit Hilfe einer Presseerklä- rung Einspruch erhoben - aus seiner Sicht natürlich Deshalb die Gesundheitsreform. Es gibt ein ganz mit vollem Recht. Eine solche Globalsteuerung durch klares Konzept, das der Gesundheitsminister Horst den Gesetzgeber stellt natürlich ohne Zweifel ein Seehofer anläßlich der letzten Etatdebatte auch vor- völlig anderes Konzept dar, als es der F.D.P. vor- gestellt hat. Er hat doch im wesentlichen zum Aus- schwebt. druck gebracht, daß wir in Anbetracht der Tatsache, daß wir in den vergangenen Jahren Hunderte, Tau- Damit ist bemerkenswerterweise ein Punkt er- sende von Gesetzesänderungen und Verordnungen reicht, bei dem die Koalitionspartner ihre in der Tat gemacht haben, einen neuen Ansatz brauchen. Das nicht unbeachtlichen Kontroversen schon auf offener heißt Vorfahrt für die Selbstverwaltung, solidarischer Bühne austragen. Währenddessen läuft die Zeit für Wettbewerb bei gleichzeitiger Begrenzung dessen, die eigentlich notwendigen Reformaufgaben davon. was insgesamt vom Gesundheitswesen von dem Bruttosozialprodukt in Anspruch genommen werden Meine Damen und Herren, angesichts dieser Situa- kann. tion kann allerdings nicht einmal Schadenfreude auf- kommen. Es ist nicht zu übersehen, daß das insge- Das ist doch eine richtige Konzeption. Da gibt es samt so überaus trickreiche Schauspiel, das gegen- doch niemanden, der eine ernsthafte Alte rnative wärtig unter dem Titel „dritte Stufe der Gesundheits- dazu weiß. reform „ geboten wird, mit beträchtlichen Risiken be- haftet ist. Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Herr Kollege Wenn es 1996 - wie befürchtet werden muß - zu Fink, gestatten Sie eine Zwischenfrage? einem bisher nie dagewesenen Kostensprung in der gesetzlichen Krankenversicherung kommt, dann werden es vor allem die Versicherten sein, die die Ulf Fink (CDU/CSU): Gerne. Folgen zu tragen haben. Dem kann man aus meiner Sicht nicht zustimmen. Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Bitte. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. (SPD): Herr Kollege Fink, habe (Beifall bei der PDS) Klaus Kirschner ich Sie richtig verstanden, daß Sie sagen, es sei fest- zulegen, wie groß die Ausgaben für das Gesund- Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das Wort hat der heitswesen insgesamt sind? Kollege Fink, CDU/CSU. Ulf Fink (CDU/CSU): Sie haben mich völlig richtig Ulf Fink (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine sehr verstanden, daß wir hier eine Beitragssatzober- verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen grenze definieren müssen. Damit ist gleichzeitig eine und Kollegen! Wir diskutieren den Etat des Bundes- Form von globaler Budgetierung vorgeschlagen. Das gesundheitsministers. Wir diskutieren damit den Etat ist ein Riesenunterschied zu der sektoralen Budgetie- eines Ministers, der im Mittelpunkt der Bemühungen rung, die Sie vorschlagen. Denn mit einer sektoralen Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 52. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. September 1995 4449

Ulf Fink Budgetierung zementieren Sie natürlich die vorhan- wenigstens aber um 25 % gekürzt werden soll? Das denen Strukturen des Gesundheitswesens. ist doch nicht zuviel verlangt.

(Klaus Kirschner [SPD]: Sie haben unser Pa- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. - pier aber nicht gelesen!) Zuruf von der SPD: Das ist aber schon im Gesetz! Wissen Sie das denn nicht? - Weite Sie sagen selber, daß der stationäre Bereich im Ver- rer Zuruf von der SPD: Nein, das weiß er hältnis zur ambulanten Versorgung überbordend ist, nicht!) und budgetieren genau diese falsche Struktur. Des- halb muß man weg von der sektoralen Budgetierung und zu neuen Lösungen kommen. Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Herr Kollege Fink, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage? (Beifall des Abg. Wolfgang Zöller [CDU/ CSU]) Ulf Fink (CDU/CSU): Sehr gern. Ich möchte auf einen anderen Gesichtspunkt zu sprechen kommen, nämlich auf dasjenige, was Sie, Herr Kirschner, angesprochen haben: die Sozialhilfe. Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Bitte, Herr Sie haben selber eingeräumt, daß es notwendig ist, Kirschner. die Kosten der Sozialhilfe in Schach zu halten und die richtigen Propo rtionen zu finden. Ich denke, da Klaus Kirschner (SPD): Herr Kollege Fink, ich wi ll kann es auch gar keinen Widerspruch geben. Sie ha- noch auf eine Frage eingehen: Wenn Sie zu Recht ben aber darauf hingewiesen, daß man das nur so darauf hinweisen, daß viele Sozialhilfeempfänger - machen kann, daß man die Sozialhilfe von Leistun- wir reden ja hier über die Empfänger, die laufende gen befreit, die nicht in diesen Bereich gehören. Das Hilfe zum Lebensunterhalt bekommen - im arbeitsfä- ist auch unsere Auffassung. Deshalb ist beispiels- higen Alter sind, möchten Sie dann nicht endlich weise die Pflegeversicherung eingeführt worden, die auch zur Kenntnis nehmen, was ich sagte, nämlich die Gemeinden in einer Größenordnung von etwa daß es uns um Arbeitsplätze geht und daß diese feh- 10 Milliarden DM entlasten wird. Deshalb ist die len? Dann wäre doch die logische Konsequenz - das Asylbewerbernovelle durchgesetzt worden. Auch die habe ich bisher in Ihrem Entwurf vermißt -, daß Sie Reform des Familienleistungsausgleichs wird ein we- die arbeitslosen Sozialhilfeempfänger in den Bereich sentlicher Beitrag zur Entlastung der Sozialhilfe sein. des Arbeitsförderungsgesetzes hineinnehmen oder - Insofern tun wir etwas. Aber das alleine reicht nicht? nicht aus. Man muß auch Reformen bei der Sozial- (Horst Seehofer [CDU/CSU]: Nein, um die hilfe selber vollziehen. kümmerte sich dann überhaupt niemand Schauen Sie sich die neuesten Zahlen aus Berlin mehr!) an! Es hat sich eine völlige Veränderung des Kreises der Sozialhilfeempfänger gegenüber früher erge- Ulf Fink (CDU/CSU): Sie wissen doch, Herr Kirsch- ben. Früher waren es meist ältere, alleinstehende ner, wie es heute ist. Es gibt eine Rangfolge. Beim Ar- Menschen. beitsamt kommen zuerst diejenigen an die Reihe, die nur kurzfristig arbeitslos und am besten ausgebildet (Zuruf von der SPD: Das ist aber schon län- sind, danach diejenigen, die Arbeitlosenhilfe bezie- ger her!) hen, und ganz zum Schluß die arbeitslosen Sozialhil- Heute ist in Westberlin fast jeder zweite Sozialhilfe- feempfänger. Warum? Weil sie zumeist längere Zeit empfänger im Alter von unter 25 Jahren. nicht im Arbeitsprozeß waren und weil sie die Kasse des Arbeitsamtes nicht belasten. (Zuruf von der SPD: Richtig!) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. - Was muß man denn da tun? Da muß man dann doch Klaus Kirschner [SPD]: Weil Sie sie aus der genau das tun, was Horst Seehofer in seinem Kon- Arbeitlosenhilfe hinauswerfen!) zept vorgeschlagen hat, nämlich Brücken in den Ar- - Herr Kirschner, Sie können mir gern eine weitere beitsmarkt hinein bauen. Das ist doch genau die Ant- Frage stellen, wenn Sie wollen. Aber das ist die Ant- wort darauf. wort auf Ihre Frage. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Lassen Sie mich Ihnen noch ein Beispiel geben, da- Dann darf man sich auch nicht scheuen - ich darf mit Sie auch sehen, worum es geht. Sie sagen, es gebe keine Arbeitsplätze. das an dieser Stelle sagen -, das Instrument der ge- meinnützigen Arbeit, das j a im Sozialhilfegesetz vor- (Klaus Kirschner [SPD]: Nicht ausreichend, handen ist, auch tatsächlich anzuwenden. Wenn ei- habe ich gesagt!) ner ohne einen erkennbaren Grund - obwohl er nicht alt ist, obwohl er nicht krank ist, obwohl er keine Kin- Wie erklären Sie sich dann beispielsweise, daß die der zu erziehen hat - diese Arbeit ablehnt, ist es Stadt Mannheim mit rund 300 000 Einwohnern rund dann zuviel verlangt, wenn man sagt, daß dem Be- 4 000 Arbeitsgelegenheiten für Sozialhilfeempfänger treffenden dann die Sozialhilfe entzogen werden soll, geschaffen hat, während die Stadt Hannover, die ja 4450 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 52. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. September 1995

Ulf Fink von einem der Ihren regiert wird, exakt 238 Stellen Unser Konzept liegt vor. Sie sind trotz vieler Gipfel- für Sozialhilfeempfänger geschaffen hat, obwohl sie treffen noch dabei, eines zu erarbeiten. 500 000 Einwohner hat? Das muß doch an irgend et- was liegen. (Zuruf von der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) - Sie arbeiten daran? Das ist schön für Sie. Ich hoffe, Sie sind so erfolgreich wie wir. - Ich gehe davon aus, Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Herr Kollege daß wir noch genügend Gelegenheit haben, darüber Fink, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage? zu diskutieren.

Ulf Fink (CDU/CSU): Sehr gerne. Ich möchte aber einen Punkt von Herrn Kollegen Möllemann aufgreifen. Es ist immer sehr attraktiv, über Transparenz zu sprechen. Jeder möchte Trans- Klaus Kirschner (SPD): Herr Kollege Fink, wenn parenz, und keiner kann sich diesem Gedanken ver- Sie einen Vergleich zwischen Hannover und Mann- schließen, wofür es ja auch keine guten Gründe gibt. heim anstellen und uns sagen, in Hannover regiere Nur, Sie benutzen Transparenz als Beg riff, um das, ein SPD-Oberbürgermeister, dann möchte ich Sie was Sie wirklich wollen, zu verschleiern. darüber informieren, daß dies auch für Mannheim gilt. (Jürgen W. Möllemann [F.D.P.]: Nein, das stimmt nicht!) Ulf Fink (CDU/CSU): Ich darf Ihnen eine kurze Antwort darauf geben: Der dortige Sozialdezernent Sie benutzen den Beg riff nämlich dafür, um zu sa- gehört allerdings einer anderen Partei an, und der ist gen, Sie wollten die Kostenerstattung im Gesund- dafür zuständig. heitswesen einführen, und das heißt im Klartext: Zu- gang zum Arzt nur über das Portemonnaie in bar. Lassen Sie mich noch ein Letztes sagen: Etwas Das sind Dinge, die mit uns nicht gehen werden. Neues tun, aber auch am Bewäh rten festhalten, das ist unser Konzept. Zu dem Bewährten gehört bei der Sozialhilfe die Partnerschaft zwischen Staat, Kirche (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ und freien Wohlfahrtsverbänden. Das hat sich be- DIE GRÜNEN - Zuruf von der CDU/CSU: währt. Meine Fraktion und ich sind der Auffassung, Wie kommen Sie zu solchen eigenartigen daß an diesem bewährten Grundsatz nach Möglich- Schlußfolgerungen?) keit keine Änderung erfolgen soll. Der billigere An- bieter muß bei gleicher Leistung genommen werden - - Das ist ganz einfach das, was Sie beschrieben ha- das ist in Ordnung -; aber es gibt einen Unterschied ben. zwischen den freien Wohlfahrtsverbänden und Kir- chen und den normalen privaten Anbietern. Ich hoffe Es ist nichts dagegen zu sagen, daß jemand eine sehr, daß es uns gelingen wird, in diesem Punkt zu ei- Rechnung bekommt, aber es ist ein Problem, zu sa- ner gemeinsamen Auffassung zu kommen. gen: Du hast jetzt die Rechnung zu bezahlen, und hinterher bekommst du irgendwann das Geld zu- Ich bedanke mich sehr für die Aufmerksamkeit. rück. - Ich denke, das ist eine Sache, die ganz ein- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) fach nicht geht. Jetzt möchte ich aber, da wir noch Gelegenheit ha- Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das Wort hat die ben werden, über die GKV und auch das BSHG zu Kollegin Schaich-Walch, SPD. diskutieren, was mir sehr notwendig zu sein scheint, zum Haushalt zurückkommen. Beim Haushalt stellt Gudrun Schaich-Walch (SPD): Herr Präsident! sich das gleiche Problem wie in den anderen Berei- Sehr verehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen chen. und Kollegen! Ich möchte aus der vorherigen De- batte nur kurz etwas aufnehmen. Unser Konzept zur Ich sehe eigentlich keine große Entwicklungsper- Weiterentwicklung der GKV liegt vor. Es enthält ent- spektive in diesem Haushalt, ich sehe keine be- gegen Ihren Aussagen ein globales Budget und hat sonderen Zielvorstellungen, ich sehe eigentlich nur in seinem Ansatz mit den sektoralen Entscheidungen eines: Uneinsichtigkeit in die Notwendigkeit, daß be- nichts mehr zu tun, die natürlich dazu beigetragen stimmte wichtige Bereiche mit Nachdruck gefördert haben - gerade im Krankenhaussektor -, dieses Bud- werden müßten. Das letzte will ich begründen. get auch auszuschöpfen. (Ulrich Irmer [F.D.P.]: Ja, das wäre nicht (Horst Seehofer [CDU/CSU]: Sie wollen schlecht!) doch das sektorale Budget verlängern, Frau Schaich-Walch!) Wir erleben jetzt zun x-tenmal im Haushalt für - Wir wollen es nur so kurzfristig verlängern, daß Sie Aidsprävention eine Streichung. Das ist schon eine genügend Zeit haben, das globale Budget gesetzlich richtige Fortsetzungsgeschichte, aber leider ist sie abgesichert einzuführen, Herr Minister, und keinen nicht so amüsant wie manche unserer Seifenopern im Tag länger. Wenn Sie es schneller können, verzichten Fernsehen und schon gar nicht amüsant und erhei- wir sofort und absolut auf diese Übergangszeit. ternd für diejenigen, die davon betroffen sind. Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 52. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. September 1995 4451

Gudrun Schaich-Walch Sie alle wissen doch ganz genau: Die Aidserkran- Jetzt möchte ich zu einem weiteren Bereich der kung ist noch nicht heilbar, ein Impfschutz nicht in Prävention kommen, bei dem ich gedacht habe, daß Sicht, die Krankheit führt in den meisten Fällen rela- sich etwas mehr bewegen könnte. tiv schnell zum Tod, und Präventionsmaßnahmen, Aufklärungsmaßnahmen sind die zur Zeit einzig Wir haben schon im Gesundheits-Reformgesetz die wirklich wirksame Waffe, die wir haben. Gesundheitsförderung zur Pflichtleistung der ge- setzlichen Krankenversicherungen gemacht. Das Wir haben in keinem anderen Präventionsbereich war eine richtige und wichtige Entscheidung, ein An- bisher solche großen Erfolge bei der Verhaltensände- satz, der möglicherweise den Trend zum medizini- rung erzielen können wie im Aidsbereich. Statt do rt schen Reparaturbetrieb etwas umkehren könnte und zu kürzen, sollten wir ernsthaft darüber nachdenken, gleichzeitig zu Kostenersparnissen für die Solidarge- wie man Forschungsansätze zur Förderung dessen meinschaft beitragen kann. einrichten könnte, um das, was man dort an Erfolgen in der Prävention, sprich: in der Verhaltensänderung Allerdings hat sich, wie ich meine, mittlerweile ge- erreicht hat, auch in anderen Bereichen der Präven- zeigt, daß die Krankenkassen diese Aufgabe nur un- tion zu erreichen. zureichend wahrnehmen, und es ist zu befürchten, daß der Kassenwettbewerb die Qualität der gesund- (Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/ heitsfördernden Maßnahmen eher verschlechtert CSU]: Haben Sie gehört, daß die Zahlen oder auch zum Teil unsinnige Dinge gefördert wer- festgeschrieben sind und verstetigt wer- den. den?)

- Sie haben in dem Haushaltsansatz eine Kürzung Kolleginnen und Kollegen, ich denke, das ist kein von 2 Millionen DM. Ich weiß sehr wohl, daß die Kol- Grund, jetzt mit der Kassenschelte zu beginnen. Viel- leginnen und Kollegen auch Ihrer Fraktion eine Fest- mehr sollte das ein Grund für uns sein, Zielvorgaben schreibung des Betrages von 20 Millionen DM bis in im Wettbewerb zu machen und im Gesetz klar zu de- das Jahr 1998 wollten, aber im Haushalt ist es leider finieren, wie die Gesundheitsförderung aussehen nicht ausgewiesen. Ich freue mich ja riesig, wenn Sie sollte. jetzt sagen, es sei kein Problem, wir hätten es vom Tisch. Das ist, denke ich, eine ganz hervorragende Für uns ist Gesundheitsförderung eine klassische Sache. Aufgabe des öffentlichen Gesundheitsdienstes. Wir würden es gerne sehen, daß man die Kooperation Ein weiteres Beispiel dafür, daß man auch mit klei- zwischen Krankenkassen und öffentlichem Gesund- nen Beträgen große Wirkungen erzielen kann, ist die heitsdienst im Gesetz festschreibt. Rückkehrhilfe für drogenabhängige deutsche Staatsbürger Amok in Amsterdam. Die 250 000 DM Aber neben den gesetzlichen Regelungen, wie Ge- für diese Einrichtung sind gestrichen. Sie argumen- sundheitsförderung aussehen könnte, braucht Ge- tieren damit, daß es hier um eine Aufgabe der Län- sundheitsförderung, meine ich, notwendigerweise der geht. Das wäre dann eine weitere Aufgabe, die eine Unterstützung durch einen Haushaltstitel. Es den Ländern aufgebürdet wird. Sie argumentieren darf nicht sein, daß wir immer wieder die Selbsthilfe- damit, daß es sich ja doch letztlich um Bürger einzel- organisationen dazu auffordern müssen, das, was sie ner Bundesländer handelt. Ich sehe bei uns nieman- an Know-how haben, einzubringen, daß wir sehr den mit einem hessischen oder einem bayerischen wohl zur Kenntnis nehmen, daß sie häufig kosten- Paß. günstiger arbeiten als andere Organisationen, daß wir gleichzeitig aber nicht in der Lage sind, einen (Jürgen W. Möllemann [F.D.P.]: Das ginge entsprechenden Titel zur Absicherung der Arbeit jetzt auch zu weit! - Bundesminister dieser Selbsthilfegruppen zu finden. Dr. Theodor Waigel: Das kommt noch!) Wir sollten uns allerdings auch angucken, was im Ich sehe uns alle mit einem bundesdeutschen Paß, Umfeld des Haushalts der Gesundheitspolitik steht. und wir bleiben damit schlicht und einfach Bundes- Neben den klaren politischen Zielsetzungen zur Prä- deutsche. Ich denke, wir sollten folglich auch die vention, meine ich, müssen wir auch darauf achten, Verantwortung tragen und die Bundesdeutschen, de- was wir in anderen Gesetzen tun. nen wir beim Zurückkommen in die Bundesrepub lik helfen können, unterstützen, Da ist in der letzten Zeit etwas ganz Verblüffendes und, wie ich meine, sehr Schädigendes passiert: Es (Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/ wurde hier ein Gesetz geändert - allerdings nicht mit CSU]: Wenn es nach Ihnen gegangen wäre, den Stimmen der SPD -, das die Werbung für Heil- gäbe es den DDR-Paß noch!) mittel regelt. Nach der Änderung dieses Gesetzes ist nicht nur unter dem Gesichtspunkt, daß das eine hu- es möglich, daß in Jugendzeitschriften für Arzneimit- manitäre Maßnahme ist, sondern auch unter dem Ge- tel geworben werden kann. sichtspunkt, daß es eine Entlastung in der Zusam- menarbeit verschiedener europäischer Länder, näm- Wenn ich mir anschaue, welche Anstrengungen lich hier zwischen Deutschland und den Niederlan- wir im Drogenbereich unternehmen, dann, glaube den, ist. ich, ist es absolut kontraproduktiv, daß jetzt in Zeit- schriften wie „Young Miss" oder „Bravo-Girl" für (Beifall bei der SPD) Schmerzmittel geworben werden kann. Dadurch 4452 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 52. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. September 1995

Gudrun Schaich-Walch wird ganz speziell ein Leserkreis oberhalb von sparungen beklagen und höhere Forderungen stel- 15 Jahren angesprochen. Andererseits denken wir len. Diese notwendigen Einsparungen im Agrarhaus- ernsthaft darüber nach, wie wir im Suchtbereich Prä- halt schließen auch eine Überprüfung der Ressorter- vention leisten können. forschung mit der Frage, wo und wie do rt gespart werden kann, ein. (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS) Mit dem Haushaltsansatz für die Gemeinschafts- aufgabe - dies liegt mir besonders am Herzen - kann Ich bin der Überzeugung, es kann nicht angehen, die einzelbetriebliche Investitionsförderung unein- daß wir das Wohl der Pharmaindustrie und ihre Wer- geschränkt mit höchster Priorität weitergefüh rt wer- bemöglichkeiten vor die Gesundheit der Kinder und den. der Jugendlichen stellen. Wir müssen das, was wir als Suchtprävention bezeichnen, sehr viel weiter im (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Vorfeld anlegen, als das jetzt der Fall ist. Ich hoffe, daß es uns gemeinsam gelingt, einen dera rtigen Feh- Wir haben diese gegen viele Widerstände gerade in ler im Umfeld der Gesundheitspolitik zu korrigieren. den letzten Haushalten aufgestockt und behalten dieses Niveau bei; denn keine Maßnahme schafft (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne- langfristig bessere Grundlagen, um die Herausforde- ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) rungen des Wettbewerbs zu bestehen, als die Investi- tionsförderung. Es gibt keine Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Fast 60 % der Haushaltsmittel werden für die weiteren Wortmeldungen zu diesem Geschäftsbe- So- zialpolitik bereitgestellt; das sind über 7 Milliarden reich. DM, die direkt unseren Bäuerinnen und Bauern zu- Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesmi- gute kommen. nisteriums für Ernährung, Landwirtschaft und For- sten. Das Wort hat der Herr Bundesminister Borche rt. (Bartholomäus Kalb [CDU/CSU]: So ist es!) Ich hoffe, verehrte Kolleginnen und Kollegen von der Jochen Borchert, Bundesminister für Ernährung, Opposition, daß Sie in den jetzt anlaufenden Gesprä- Landwirtschaft und Forsten: Herr Präsident! Sehr ge- chen unserem Änderungskonzept mit den wün- ehrte Kolleginnen und Kollegen! Die deutsche Land- schenswerten Korrekturen bei der Agrarsozialre- wirtschaft ist unverzichtbar. Denn rund 550 000 Be- form zustimmen werden. Die Betroffenen brauchen triebe sind eine wichtige Stütze der ländlichen Ge-- hier möglichst schnell Klarheit. biete. Sie sind ein tragendes Element im Umwelt- und- Naturschutz. Sie sind ein wichtiger Nahrungs (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge und Rohstoffproduzent. Sie sind nach wie vor vor al- ordneten der F.D.P. - Horst Sielaff [SPD]: lem in den ländlichen Regionen ein eigenständiger Legen Sie es endlich vor! Wir warten seit Wirtschaftsfaktor. Wochen darauf!) Wer diese wirtschaftliche Bedeutung der Landwirt- - Wir werden es Ihnen vorlegen. Ich habe nur um schaft verkennt und wer die besonderen Leistungen eine möglichst zügige Beratung und eine schnelle der deutschen Bäuerinnen und Bauern im Umwelt- Verabschiedung gebeten. schutz und in der Landschaftspflege nicht ausrei- Meine Damen und Herren, nach den jüngsten chend honoriert, der ruiniert diese Bet riebe. Was Währungsbeschlüssen hat unsere Landwirtschaft möglicherweise noch überzeugender ist: Wer dies nunmehr auch im agrarmonetären Bereich verläßli- tut, der schadet der Landwirtschaft und fügt damit che Planungsgrundlagen, und zwar bis zur Einfüh- der ganzen Gesellschaft Schaden zu. rung fester Wechselkurse. Wir konnten in Brüssel Die Bundesregierung wi ll eine starke und lei- durchsetzen, daß die Ausgleichszahlungen der euro- stungsfähige Landwirtschaft, die in der Lage ist, die päischen Agrarreform in D-Mark festgeschrieben vielfältigen und wachsenden Anforderungen der Ge- werden. Damit ist sichergestellt, daß die Preisaus- sellschaft zu erfüllen. Wir wollen ökonomische und gleichszahlungen und die Stillegungsprämien, also ökologische Perspektiven für unser Land, für und die zentralen Leistungen der Agrarreform, auch bei mit der Landwirtschaft schaffen. möglichen Aufwertungen stabil bleiben. Dies spiegelt sich in einem ausgewogenen Bündel Als weiteren wichtigen Punkt haben wir in Brüssel agrarpolitischer Maßnahmen und nicht zuletzt auch durchgesetzt, daß wir von der Europäischen Union im Haushalt des Bundesministeriums für Ernährung, einen Ausgleich für währungsbedingte Einkom- Landwirtschaft und Forsten wider. mensverluste erhalten. 1996 stehen dafür rund 207 Millionen DM an Mitteln der Europäischen Der Haushaltsentwurf sieht ein Ausgabenvolumen Union bereit. National werden wir diese agrarmone- von 12,1 Milliarden DM vor. Sicher wäre mehr wün- tären Hilfen um den maximal möglichen, von Brüssel schenswert gewesen. Nur, bei der notwendigen Kon- genehmigten Betrag aufstocken. Das heißt, daß wir solidierung des Haushalts muß auch die Agrarpolitik die europäischen Gelder mit Mitteln aus dem Bun- ihren Beitrag leisten. Man kann nicht auf der einen deshaushalt verdoppeln. Seite mehr Sparmaßnahmen, mehr Konsolidierung einfordern, wenn es um den Gesamthaushalt geht, Hier danke ich unserem Finanzminister, Theo Wai- auf der anderen Seite aber bei den Einzelplänen Ein- gel, dafür, daß er trotz aller Sparmaßnahmen mit die- Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 52. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. September 1995 4453

Bundesminister Jochen Borchert sem Vorgehen der Landwirtschaft in einer schwieri- war - nach meiner Erinnerung mit insgesamt gen Situation hilft. 79 Punkten -, die insgesamt auch von den B-Finanz- ministern, also auch von Herrn Mayer-Vorfelder, mit- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- getragen wurde? ordneten der F.D.P.) (Jürgen Koppelin [F.D.P.]: Es wird nicht bes Dies zeigt: Die Bundesregierung steht mit ihrer ser!) Agrarpolitik zur Landwirtschaft.

Bei manchen Vorschlägen der SPD habe ich den Jochen Borchert, Bundesminister für Ernährung, Eindruck, daß eher gegen die Landwirtschaft gear- Landwirtschaft und Forsten: Lieber Herr Kollege Pe- beitet wird. ter Struck, ich wäre gern freundlich, aber in diesem Fall kann ich das leider nicht sein. Ich kann Ihnen (Jürgen Koppelin [F.D.P.]: Sehr wahr! - nicht zustimmen, denn die Kürzungsvorschläge, die Horst Sielaff [SPD]: So ein Unsinn!) die Landwirtschaft betreffen, sind im Finanzaus- Einerseits lamentiert die SPD über unzureichende schuß des Bundesrates von der SPD eingebracht wor- Förderungsmöglichkeiten, andererseits aber will sie den. im gleichen Atemzug unseren Landwirten einen (Beifall des Abg. Jürgen Koppelin [F.D.P.]) steuerlichen Tiefschlag versetzen - so geschehen beim SPD-Vorstoß zum Jahressteuergesetz. Wir haben am Ende verhindert, daß dies umgesetzt worden ist. (Jürgen Koppelin [F.D.P.]: Sehr wahr!) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Um so mehr freue ich mich, daß wir die von der Meine Damen und Herren, was die Bundesregie- SPD in die Diskussion gebrachten steuerlichen Be- rung tun kann, um die deutsche Landwirtschaft im nachteiligungen der Landwirtschaft erfolgreich ab- zu stärken und den wehren konnten; europäischen Wettbewerb Agrarstandort Deutschland zu sichern, wird sie auch (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. - weiterhin tun. Neben der investiven und steuerli- Abg. Dr. Peter Struck [SPD] meldet sich zu chen Förderung sowie den direkten Beihilfen gehört einer Zwischenfrage) dazu auch die Angleichung der Wettbewerbsbedin- gungen. Denn im europäischen Wettbewerb können denn nur mit einer investiven und steuerpolitischen sich unsere Bauern nur dann behaupten, wenn wir Flankierung des Strukturwandels können sich un- - Verzerrungen abbauen und wenn einseitige und sere Betriebe im europäischen Wettbewerb behaup- überzogene Produktionsauflagen und -erschwernisse ten. nicht aufgezwungen, sondern abgebaut werden. (Jürgen Koppelin [F.D.P.]: Der Landwirt Aber zusätzliche Erschwernisse sieht gerade der Struck hat sich gemeldet! - Dr. Peter Struck Änderungsentwurf der SPD zum Bundesnaturschutz- [SPD]: Herr Präsident, passen Sie doch auf! gesetz vor. Die SPD will den Naturschutz auf minde- - Heiterkeit bei der SPD) stens 10 % der Landesfläche verordnen. (Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das lasse ich un- NEN]: 100 %!) kommentiert. - Sie gehen da noch weiter. Dann wird es noch (Heiterkeit) schlimmer. Aber zum Glück werden Sie nicht die Chance bekommen, das durchzusetzen. Wir werden Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage alles tun, dies zu verhindern. des Abgeordneten Dr. Struck? Vor allen Dingen geht es darum, daß dies nicht ohne entsprechenden finanziellen Ausgleich gesche- Jochen Borchert, Bundesminister für Ernährung, hen darf. Die Anforderungen an die Landwirtschaft, Landwirtschaft und Forsten: Aber selbstverständlich, die über die ordnungsgemäße Landwirtschaft hin- Herr Präsident. ausgehen, erschweren es der deutschen Landwirt- schaft, wenn dies ohne Ausgleich geschieht, sich im europäischen Wettbewerb zu behaupten. Dr. Peter Struck (SPD): Herr Präsident, ich bitte sehr um Entschuldigung. Es ist auch nicht Ihre Auf- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge gabe, sondern die Aufgabe der Schriftführer, darauf ordneten der F.D.P.) zu achten, ob sich Kollegen zu Zwischenfragen mel- den. Wir müssen auf dem europäischen Binnenmarkt unseren Marktanteil im Wettbewerb gegen Anbieter Herr Kollege Borche rt, da Sie eben darauf hinge- aus anderen europäischen Ländern behaupten. Des- wiesen haben, daß im Bundesrat die SPD versucht wegen müssen Auflagen, die weiter gehen als Aufla- habe, die steuerliche Behandlung der Landwirte zu gen in anderen europäischen Ländern, auch entschä- Lasten der Landwirtschaft zu verändern, wären Sie digt, entgolten werden. Sonst kann die deutsche so freundlich, mir zu bestätigen, daß dies keine Vor- Landwirtschaft mit Auflagen, wie sie etwa die SPD in stellung der Finanzminister der A-Länder, sondern ihren Anträgen zum Naturschutzgesetz vorsieht, im eine Liste des Finanzausschusses des Bundesrates Binnenmarkt nicht wettbewerbsfähig bleiben. Dies 4454 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 52. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. September 1995

Bundesminister Jochen Borchert wäre das Ende der Landwirtschaft in Deutschland. Einzelplan 10 des Haushalts, im Haushalt des Bun- Deswegen kommt ein solcher Verordnungsnatur- desministers für Ernährung, Landwirtschaft und For- schutz einem enteignungsgleichen Eingriff gleich. Es sten, ausreichend unterstützt wird. Um diese Unter- ist ein unerträglicher Eingriff. Dies ist mit uns nicht stützung darf ich sehr herzlich bitten. zu machen. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU und Ich appelliere in diesem Zusammenhang eindring- der F.D.P.) lich an die SPD-geführten Bundesländer, bei der Be- ratung der Düngeverordnung den Bauern nicht mit Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das Wort hat der neuen Änderungsvorschlägen neue Lasten aufzubür- Kollege Sielaff, SPD. den und ihnen damit wieder neue Knüppel zwischen die Beine zu werfen. Ich höre Forderungen, „Schlagkarteien" oder andere Gängeleien einzufüh- Horst Sielaff (SPD): Herr Minister! Ihre positive Be- ren. Dies ist ein unzumutbarer Bürokratismus, den wertung der Situation der Landwirtschaft wird von wir und die Bauern zu Recht ablehnen. den Landwirten nicht geteilt.

Unsere Bauern brauchen gerade in der Umweltpo- (Zurufe von der CDU/CSU und der F.D.P.: litik verläßliche Rahmenbedingungen. Nein? - Was?) Auch Sie waren beim Bauernverband und haben die (Horst Sielaff [SPD]: Richtig!) Stimmung erlebt. Ich gehe davon aus, daß auch Ihre Ohne solche verläßlichen Rahmenbedingungen, die vielen Gespräche mit dem Deutschen Bauernver- aber keine Wettbewerbsverzerrungen beinhalten, band in den letzten Wochen Ihnen dies vermittelt ha- Herr Kollege Sielaff, kann die deutsche Landwirt- ben. Deswegen, glaube ich, ist diese positive Bewer- schaft im Wettbewerb nicht bestehen. tung für viele in unserem Lande nicht nachvollzieh- bar. Verläßliche und bessere Rahmenbedingungen Ich möchte eine zweite Vorbemerkung machen. braucht die Landwirtschaft auch auf den Märkten. Sie haben die notwendigen verbesserten Marktstruk- Deshalb wird die Bundesregierung die Eckpunkte turen angesprochen. Dafür sind auch wir. Wir haben der weiteren Milchpolitik, insbesondere auch die in- Sie von dieser Stelle aus wiederholt aufgefordert, nere Ausgestaltung der Quotenregelung, festlegen. endlich konkrete Vorschläge auszuarbeiten, wie wir diese erreichen. Nur ist von Ihnen bisher nichts Kon- (Zuruf von der SPD: Wie?) kretes gekommen. Sie halten hier Appe lle, als wäre Deshalb werden wir alles tun, um endlich wieder et- die Opposition für die konkrete Politik zuständig. was Luft bei den Erzeugerpreisen für Getreide, (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Das heißt, Milch und Fleisch zu gewinnen. Deshalb müssen Sie können alles unterstreichen!) wir, gerade wenn es um die Preise für Milch und Fleisch geht, die Vermarktungsstrukturen in - Ich kann vieles unterstreichen. Was ich nicht unter- Deutschland verbessern. Wir müssen nicht nur in der streichen kann, lieber Herr Hornung, werde ich Produktion, sondern auch in der Vermarktung im gleich sagen. Vergleich zu anderen europäischen Ländern wettbe- werbsfähig sein. Deshalb sind die Landwirtschaft Die Situation im ländlichen Raum spitzt sich zu. und die Wirtschaft selbst gefordert, gerade in der Die Probleme der Landwirtschaft wachsen enorm. Vermarktung alles zu tun, um Strukturen wettbe- Die Entwicklung in unseren ländlichen Regionen werbsfähiger zu gestalten. Deshalb haben auch wei- wird immer mehr eingeengt; teilweise steht sie sogar terhin nachwachsende Rohstoffe bei uns höchste auf dem Spiel. Priorität. In diesen Tagen konnte man in den Presseverlaut- barungen des Deutschen Bauernverbandes lesen: Das heißt: Wir wollen verläßliche Rahmenbedin- gungen, mit denen die Landwirtschaft vernünftig le- Ländliche Räume dürfen nicht abgehängt wer- ben und ökologisch etwas leisten kann. Deshalb bitte den - Privatisierung öffentlicher Dienste bringt ich Sie alle, verehrte Kolleginnen und Kollegen: Un- Probleme fürs Land terstützen Sie diesen Agrarhaushalt im Interesse un- serer Bäuerinnen und Bauern, im Interesse der länd- Wir stimmen dem zu. Mit Besorgnis wird auch von lichen Räume, im Interesse einer gepflegten Kultur- uns die Diskussion über die Liberalisierung, Privati- landschaft! sierung und Dezentralisierung von Dienstleistun- gen, die bisher vornehmlich von der öffentlichen Wir werden die Kulturlandschaft und die ländli- Hand zur Verfügung gestellt wurden, beobachtet. chen Räume nur mit einer bäuerlichen Landwirt- Bekannte Beispiele hierfür sind die Entwicklungen schaft erhalten können. Deswegen braucht die Land- im Bereich der Bahn, der Post, der Medien sowie im wirtschaft unsere volle Unterstützung. Die Landwirt- Verkehrswesen. Es ist zu befürchten, daß im Zuge schaft wird diese Aufgaben im Interesse der Gesell- dieser Entwicklungen der ländliche Raum immer schaft, die sie über die Produktion hinaus leistet, nur mehr ins Hintertreffen gerät. P rivate Anbieter bisher erfüllen können, wenn sie dabei von uns auch im öffentlicher Dienstleistungen werden sich vornehm- Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 52. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. September 1995 4455

Horst Sielaff lich auf die gewinnträchtigen Ballungszentren stür- übrig. 1995 waren es immerhin noch 30 %. Einige zen. Hiervon haben Sie nicht gesprochen. Aber auch Flächenländer haben auf Grund der hohen Altver- das gehört zu einer sinnvollen, zukunftsorientierten pflichtungen einen Neubewilligungsspielraum von Agrarpolitik. 0 %. Betroffen davon ist besonders Bayern - und ich bin gespannt, Herr Kalb, wie Sie darauf eingehen -, (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Ul rike wo, setzt man die einzelbetriebliche Investitionsför- Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) derung wie im Jahr 1995 ein, Eingriffe in die Aus- Wem es ernst ist mit der Sicherung der ländlichen gleichszulage unvermeidlich werden. Räume, der muß einer zukunftsweisenden Agrarpoli- tik neben ihren traditionellen Aufgaben, die Sie hier Die Bundesregierung ist die Gefangene ihrer ver- genannt haben, folgende zusätzliche Ziele zugrunde fehlten Politik. Sie wird von haushaltspolitischen legen - ich nenne wichtige -: Zwängen und nicht rechtzeitigem Überdenken ihrer (Bartholomäus Kalb [CDU/CSU]: Haben Sie bisherigen Politik getrieben. Trotz dieser sich schon dafür einen Referenten in Ihrer Fraktion?) lange abzeichnenden Entwicklung ist sie nicht be- reit, ihre Förderpolitik auf den Prüfstand zu stellen Stabilisierung der Siedlungs- und Versorgungsstruk- und, falls erforderlich, neue Akzente zu setzen. Ich turen auch in abseitsliegenden ländlichen Räumen; sage nicht: Streichung, sondern ich sage: neue Ak- Bewahrung der besonderen Lebensqualität auf dem zente zu setzen. Wir haben das erst kürzlich bei der Lande - an anderer Stelle haben auch Sie das ange- Diskussion über die Antwort der Bundesregierung sprochen -; Sicherung landwirtschaftlicher Arbeits- auf unsere Große Anfrage „Einzelbetriebliche Förde- plätze bei breiter Eigentumsstreuung - wir erkennen rung als gezielte Agrarstrukturpolitik im geeinten nichts, was da in Ihrem Ministe rium geschähe -; Deutschland" feststellen müssen. Schonung der vorhandenen natürlichen Ressourcen wie Wald, Boden und Wasser. Die Bundesregierung ist nicht bereit, die Ausgleichs- Im Zusammenhang mit der Forderung nach regio- zulage, die mit rund 1 Milliarde DM im Haushalt zu naler Differenzierung der Strompreise ist die Soli- Buche steht, zu überprüfen. Sie ist nicht bereit, abzu- dargemeinschaft auch im Bereich der Versorgung mit wägen, ob im Interesse einer sparsamen, und zwar Elektrizität zum Nachteil ländlicher Räume in Ge- zielgerichteten Politik die öffentlichen Gelder noch fahr. effizienter zugunsten unserer Landwirtschaft und un- serer ländlichen Räume eingesetzt werden können, Es wird deutlich: Diese Bundesregierung hat bei natürlich unter Berücksichtigung inzwischen zusätz- ihrer Liberalisierungseuphorie kein Konzept für die lich eingeführter, vor allem marktpolitischer Maß- Gesamtentwicklung ländlicher Räume. nahmen, z. B. aus der Agrarreform. (Beifall bei der SPD - Siegf ried Hornung [CDU/CSU]: Das stimmt aber nicht!) Es geht uns bei der Überprüfung - ich sage es ganz deutlich - nicht um die heimliche oder offene Ab- Das für die vergangene Legislaturperiode ange- schaffung der Ausgleichszulage. Es geht uns darum, kündigte Konzept hat sie sträflicherweise sang- und festzustellen, ob das Maßnahmenmix und damit klanglos untergehen lassen. Stellenabbau, Schlie- die Mittelverwendung in der Gemeinschaftsaufgabe ßung und Verlagerung von Standorten der Bundes- noch den Möglichkeiten und den Notwendigkeiten forschung des BML machen das deutlich. Die Ent- für unsere landwirtschaftlichen Bet riebe in einem wicklung der Investitionsförderung in diesem Haus- sich erweiternden EU-Binnenmarkt und in einem ge- haltsentwurf ist besorgniserregend. Meine Kollegin einten Deutschland entsprechen. Ilse Janz wird dazu Näheres sagen.

(Ulrich Heinrich [F.D.P.]: Da sind wir ge- Eine ganz schlechte, eigentlich verantwortungs- spannt!) lose Politik ist, wenn es die Bundesregierung durch Trotz vorgetäuschter Konzepte, niedergelegt in ihr Nichtstun den Ländern überläßt - einige Zwi- „Der Künftige Weg - Agrarstandort Deutschland schenrufe vorhin haben das bestätigt -, die Aus- sichern" wird die Gemeinschaftsaufgabe „Verbes- gleichszulage anzuknapsen, damit es, wie im Fall serung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes" Bayern, überhaupt noch möglich ist, Investitionen in nach dem Willen der Bundesregierung erneut ge- landwirtschaftlichen Betrieben 1996 zu bewilligen. kürzt. Dieses Instrument, das die mangelhafte Wett- Die Währungsturbulenzen der letzten Zeit haben bewerbsfähigkeit und in Teilen unzureichende Um- deutlicher denn je uns allen gezeigt, daß die Verbes- weltverträglichkeit der landwirtschaftlichen Bet riebe serung der Wettbewerbsstellung der Landwirtschaft verbessern könnte, ist leider nicht der Schwerpunkt gerade in den süddeutschen Regionen von größter der Agrarpolitik dieser Bundesregierung. Die Ge- Bedeutung ist. meinschaftsaufgabe gehört sozusagen zur Manö- vriermasse, zum Stopfen von Löchern an anderen Meine Damen und Herren, die Einkommenspro- Stellen. Notwendige Beschäftigungsimpulse, gerade gnosen für die Landwirtschaft sind nicht positiv. Die auch in strukturschwachen, ländlichen Räumen, blei- Bundesregierung kann oder will die ungünstigen ben auf der Strecke. 1996 bleiben gerade noch 13 % Vorhersagen des Deutschen Bauernverbandes nicht der im Haushaltsentwurf für die Gemeinschaftsauf- bestätigen oder korrigieren, wie wir einer Antwort gabe zur Verfügung gestellten Mittel für Neubewilli- auf eine Frage von uns in der Sommerpause entneh- gungen von beschäftigungswirksamen Investitionen men können. 4456 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 52. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. September 1995

Horst Sielaff Erst vor zwei Tagen hat das Präsidium des Deut- Meine Damen und Herren, für uns steht fest: Jede schen Bauernverbandes erneut festgestellt, daß die künftige Regelung für den Milchmarkt - Herr Bor- wirtschaftliche Situation der deutschen Bauern chert hat es angesprochen - muß folgende Dinge mit- 2 Jahre nach Ihrem Amtsantritt, Herr Borchert, völlig bedenken: Die Position der aktiven Milcherzeuger, unbefriedigend ist. der Bewirtschafter, muß gestärkt werden. Ich hoffe, darin stimmen wir überein. Zweitens muß sie dazu Demonstrationen sind für diesen Herbst geplant. beitragen, eine flächendeckende Landbewirtschaf- Diese richten sich eindeutig gegen Ihre Agrarpolitik; tung zu ermöglichen. Die auf Milcherzeugung ange- denn nicht die Kreise und die Länder sind für den wiesenen Standorte müssen auch weiterhin hierzu in Preisverfall bei Rindfleisch und Milch verantwort- der Lage sein. Es darf nicht dazu kommen, daß dem- lich, wie irrtümlich wohl Funktionäre des Deutschen nächst ganze Regionen ohne Milcherzeugung wer- Bauernverbandes glauben, sondern die Bundes- und den leben müssen. EU-Politik. (Beifall bei der SPD) (Zuruf von der CDU/CSU: Dazu brauchen wir Ausgleichszulagen! - Peter Harry Car Die 1984 von der Bundesregierung in die Garantie- stensen [Nordstrand] [CDU/CSU]: Zum Bei mengenregelung Milch gesetzten Hoffnungen be- spiel für das Wattenmeer!) züglich der Stabilisierung der Milchauszahlungs- preise zur Einkommenssicherung werden täglich - Ich habe von den Ausgleichszulagen gesprochen. enttäuscht. Die Milcherzeugung ist vielfach nur über Wenn hier dumme Bemerkungen gemacht werden - den Verzicht auf Lohnansprüche möglich. Der Rück- ich will das jetzt nicht wiederholen; ich glaube, Herr gang der Milchviehbestände in den neuen Ländern Carstensen war das; zumindest lächelt er so freund- ist auch darauf zurückzuführen. lich -,

Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Herr Kollege Sie- (Jochen Borche rt [CDU/CSU]: Der Vorsit laff, gestatten Sie eine Zwischenfrage? zende macht keine dummen Bemerkun gen!) Horst Sielaff (SPD): Aber natürlich. dann sollte man überlegen, ob das für die Situation der Landwirte hilfreich ist, die um ihr Überleben Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Bitte sehr. kämpfen. - Norbert Schindler (CDU/CSU): Herr Kollege Sie- Auch ich bin der Auffassung, daß erforderliche laff, nachdem Sie den Preisverfall bei Fleisch so dra- Anpassungen sicher zuerst von der Wi rtschaft in stisch dargestellt haben, möchte ich Sie fragen: Sind Angriff genommen werden müssen, auch im Be- Sie mit mir ebenfalls der Auffassung, daß man vor reich Rindfleisch. Der Bund jedoch hat bei der vor- Landtagswahlen in Hessen, in Nordrhein-Westfalen, herrschenden oligopolistischen Situation die Auf- auch über Bundesratsinitiativen, Angst im Volk gabe eines Moderators, die er bisher leider auch schürt und daß der Fleischverbrauch in der Bundes- zum Nachteil der landwirtschaftlichen Erzeuger republik Deutschland auch in Zusammenhang mit nicht wahrgenommen hat. Voraussetzung dafür, die aus England stammenden Themen nicht gestiegen, Aufgabe des Moderators zu übernehmen, sind eben sondern stark zurückgegangen ist? Ich frage weiter: strukturpolitische Vorstellungen, die offensichtlich Wo bleibt denn da die politische Verantwortung, für diesen Bereich bei der Bundesregierung nicht wenn man Wahlkämpfe damit verbindet? Sie wissen, vorhanden sind. was ich meine. Die bestehenden Probleme bei Milch und Rind- fleisch sind natürlich auch bedingt durch Horst Sielaff (SPD): Ich glaube, lieber Herr Schind- währungs- ler, daß eine Aufklärung über Gefahren notwendig politische Einflüsse. Die Dollarschwäche hat bei un- ist. Ich würde das nicht leichtfertig mit Angstschüre- veränderten Exporterstattungen zu geringeren Dritt rei und ähnlichem in einen Topf werfen. Bei dem an- landexporten geführt. Die Verschiebungen innerhalb deren Punkt gebe ich Ihnen recht. Natürlich haben des Europäischen Währungssystems haben insbeson- die vielen Skandale um Tiertransporte, Kälber und dere Milch- und Rindfleischexporte aus dem süd- BSE sowie die eventuelle Freigabe von Masthormo- deutschen Raum nach Italien beeinträchtigt. nen für die Fleischerzeugung, aber auch die Auswir- kungen der Produktionsausdehnungen als Aus- Was liegt bei einer solchen Situation eigentlich nä- weichaktionen für andere Produkte mit dazu beige- her, Herr Hornung, als die in Brüssel beschlossenen tragen, daß der Fleischmarkt verfällt. Da gebe ich Ih- Ausgleichsmaßnahmen vorrangig den von den Wäh- nen recht. Ich wäre ja dankbar, wenn es uns gelänge, rungsverschiebungen am stärksten betroffenen Pro- gemeinsam eine Aktion zu starten und gemeinsam duktionsbereichen zukommen zu lassen, so wie es nach Wegen zu suchen. Aber hier wird tatsächlich auch andere bedeutsame Mittelstaaten machen wol- versucht, die Opposition mit Appellen einzufangen, len? Offensichtlich will die Bundesregierung jedoch aber es wird nichts Konkretes auf den Tisch gelegt, auch hier den Weg des geringsten Widerstandes ge- aus dem man ersehen könnte, wie wir das gemein- hen, statt den struktur- und einkommenspolitischen sam ändern könnten. Notwendigkeiten zu folgen. Also sollen die vorgese- henen Mittel, wie mehrfach schon in der Vergangen- (Beifall bei der SPD) heit, nach dem Gießkannenprinzip verteilt werden. Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 52. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. September 1995 4457

Horst Sielaff Ich frage mich im übrigen schon, wie und wo die Zweieinhalb Jahre sind Sie, Herr Borche rt, jetzt im Bundesregierung die Mittel für die Ausgleichsmaß- Amt. nahmen aufbringen will. Darüber hörten wir nichts, (Hans-Ulrich Köhler [Hainspitz] [CDU/CSU]: und auch im Haushaltsentwurf ist darüber nichts zu Guter Minister!) finden. Ein klärendes Wo rt dazu und über die Vertei- lungsabsichten sind bei der ersten Lesung des Haus- Sie haben heute wahrhaftig keine positive Bilanz halts 1996 mehr als angebracht. vorlegen können, wie dieser Haushalt 1996 leider zeigt. (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Da gibt es einige Länder, denen fällt es noch schwe- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne rer!) ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Meine Damen und Herren, ich würde gerne einige Worte mehr zur Situation in den neuen Bundeslän- Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das Wort hat dern sagen und ausführen, wie Sie die Altschulden- jetzt der Kollege Susset, CDU/CSU. problematik behandeln. Sie wollen nicht begreifen, wie leichtfertig Vermögen ostdeutscher Landwirte Egon Susset (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine und die Beschäftigung in ländlichen Räumen aufs sehr verehrten Damen und Herren! Der Kollege Sie- Spiel gesetzt wird. Wie soll ein landwirtschaftliches laff hat bemängelt, daß Bundesminister Borche rt Unternehmen z. B. mit Wirtschaftsgebäuden Zinsen nicht zu allem etwas gesagt hat, und ist sogar so weit und Tilgung für Altkredite aufbringen, die unter völ- gegangen, hier mitzuteilen, daß die Opposition für lig anderen wirtschaftlichen und politischen Bedin- konkrete Agrarpolitik zuständig sei. gungen entstanden, wenn diese Gebäude veraltet sind, im schlechten Zustand oder leer stehen, weil ( [SPD]: Und wie!) z. B. keine Milchquoten für die Auslastung zur Verfü- Noch nicht einmal versprochen haben Sie konkrete gung stehen oder weil die Produktionsstrukturen un- Agrarpolitik, sonst hätte ich doch irgend etwas Kon- ter marktwirtschaftlichen Bedingungen völlig andere kretes zur Kenntnis nehmen können. Das war ein- geworden sind? fach nicht der Fa ll. Abschließend ein paar Bemerkungen zur Agrarso- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) zialreform, die Sie, Herr Borche rt, auch angespro- chen haben. Wir haben im letzten Jahr gemeinsam Zu dem, was zum Thema ländlicher Raum gesagt wurde, ist darauf hinzuweisen, daß wir alle Gelegen- die Alterssicherung der Landwirte reformiert. Durch - die von uns vorgeschlagene Defizithaftung des Bun- heit haben, zu sehen, wie unterschiedlich dies in den des sind die Renten der Bäuerinnen und Bauern ge- Bundesländern tatsächlich angegangen wird. Wir sichert, ohne daß die aktiven Landwirte unzumutbar wissen, daß die Gemeinschaftsaufgabe, zu der diese hohe Beiträge zahlen müssen. Wir sind aber der Auf- Themen gehören, den Ländern großen Spielraum fassung, daß gewisse Korrekturen, vor allem bei den lassen. versicherten Nebenerwerbslandwirten, möglich und Aus Zeitgründen kann ich nicht auf alles einge- notwendig sind. Die Zeit drängt. Die versicherten hen, aber es war doch bedauerlich, Herr Kollege Sie- Bäuerinnen und Bauern brauchen Klarheit. Einige laff, daß von Ihnen kein Satz dazu gesagt wurde, daß Wahlfristen laufen zum Jahresende aus. es - wir haben jetzt 40 Jahre das Landwirtschaftsge- setz - eine Zumutung für die Landwirtschaft ist, daß Bis heute, Herr Borche , liegt eben kein vollständi- rt sie jetzt auf Dauer mit hohen nationalen Kosten und ges, innerhalb der Koalition und der Bundesregie- niedrigen europäischen Preisen wirtschaften muß. rung abgestimmtes Konzept vor, das Grundlage von Das ist das Problem, mit dem wir uns befassen müs- Konsensgesprächen sein könnte. sen. Dies ist die Normalität, und zwar in der Europä- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) ischen Gemeinschaft seit 30 Jahren und jetzt in der Europäischen Union. Bis heute liegen keine tragfähigen Abschätzungen über die Entwicklung der Zahl der Versicherten, die Wir wissen, daß die volle Integration nicht für die Ausgaben für Beitragszuschüsse usw. vor. Die Bun- gesamte Wirtschaft gilt. Kürzlich wurde im Kabinett desregierung sieht sich auch auf Anfrage nicht in der ein zu Recht gefordertes Entsendegesetz zum Schutz Lage, die Entwicklung der Zahlen tendenziell einzu- gegen billige Auslandskonkurrenz - bei Schweigen schätzen. Wird ein solches Konzept für die von Ihnen mancher Teile der Wirtschaft - verabschiedet; ein erneut auf die nächste Sitzungswoche verschobenen Gesetz, das wir unterstützen. Aber wo ist seitens der Konsensgespräche vorgelegt, werden wir natürlich Opposition einmal ein Wort in Richtung Landwirt- versuchen, wiederum gemeinsam zu tragfähigen und schaft gefallen, daß sie ihrerseits bereit ist, mit uns verantwortbaren Lösungen zu kommen. gemeinsam dafür zu kämpfen, daß wir auch in der Landwirtschaft Bleichgelagerte Wettbewerbsbedin- Um den wirtschaftlichen, ökologischen und sozia- gungen bekommen? len Folgen im Wandel der Agrarstrukturen etwas ent- (Beifall bei der CDU/CSU) gegensetzen zu können bzw. diese abzufedern, ist ein sofortiger agrarpolitischer Kurswechsel nötig. Da- Ich war heute früh bei der Debatte zum Einzelplan bei ist mit Vorrang eine marktorientierte sowie nach- des Wirtschaftsministers hier. Dabei wurde das haltige, umweltverträgliche Landbewirtschaftung Thema Kohlesubventionen angesprochen. Sowohl flächendeckend zu erhalten. vom Kollegen Fischer von den Grünen als auch aus 4458 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 52. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. September 1995

Egon Susset den Reihen der SPD hieß es immer wieder: Die Land- bestehen müssen, die nur noch halb so hoch sind wie wirtschaft mit ihren 12 Milliarden DM Subventionen! vor Jahren. Warum wurde dazu nichts gesagt? Daran wird deut- Hinsichtlich der Verteilung möchte ich nicht auf lich, daß man nicht nur, wie Sie es jetzt, Herr Kollege die sogenannten Fachleute eingehen, die Sie in Ihrer Sielaff, getan haben, Bereitschaft bekunden darf, Frage angesprochen haben. Sie sagten, daß nur 80 % mehr zu tun, sondern daß es erforderlich ist, dies tat- der Subventionen den Landwirt erreichten. Das ist sächlich auch in der Fraktion entsprechend durchzu- Land- und Ernährungswirtschaft. Man muß den ge- setzen. samten Bereich betrachten. Auch die Mittel für Ge- (Beifall bei der CDU/CSU) treide, die in Länder, die Hunger leiden, aber kein Geld haben, geliefert werden, werden als Mittel für Wenn immer der Vergleich zwischen Landwirt- die Landwirtschaft ausgewiesen. Ich glaube, das schaft und Kohle gebracht wird - besonders aus Ih- müssen wir so sehen. Zunächst aber müssen Mittel ren Reihen -, dann möchte ich doch einmal daran er- verfügbar sein. innern: 1955 betrug der Verbraucherpreis für Stein- kohle pro Doppelzentner 11,86 DM. 1995 betrug er 68,80 DM, also sechsmal mehr. Bei Getreide waren Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Herr Kollege wir 1955 bei rund 40 DM und sind jetzt bei 23,30 DM, Susset, entschuldigen Sie: Es gibt zwei weitere Aspi- also rund 40 % weniger. Und dann stellt man sich aus ranten, die eine Zwischenfrage stellen möchten. Ge- Ihrer Fraktion immer hin und vergleicht die Subven- statten Sie das? Das wird auf die Zeit nicht angerech- tionen für die Landwirtschaft mit den Subventionen net. für den Bergbau. Das ist einfach unredlich. Die vie- len tätigen Frauen, Männer und die jungen Leute, Egon Susset (CDU/CSU): Gut, dann habe ich viel die in den landwirtschaftlichen Bet rieben arbeiten, Zeit. haben es nicht nötig, ständig als Subventionsemp- fänger dargestellt zu werden, obwohl wir genau wis- Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Bitte schön, Herr sen, warum es notwendig ist, die Landwirtschaft ent- Kollege Carstensen. sprechend zu unterstützen.

Ich möchte jetzt nicht auf den neuen Subventions- Peter H. Carstensen (Nordstrand) (CDU/CSU): bericht der Bundesregierung eingehen, aber zwei Herr Kollege Susset, können Sie vielleicht bestäti- Zahlen sind vielleicht doch interessant. Landwirt- gen, daß die Zahlen, die der Kollege Sielaff genannt schaft, Forstwirtschaft und Fischerei: 8 775 DM je hat, vor der Agrarreform vielleicht richtig gewesen - Erwerbstätigen, Steinkohlebergbau 30 778 DM. Das sind? Sollte Herr Sielaff vielleicht ein bißchen mehr nur, um klarzumachen, das es unredlich ist, die Land- in seine Berichte gucken? Können Sie bestätigen, wirtschaft als Subventionsempfänger darzustellen. daß ein Teil der Subventionen, der vielleicht nicht di- rekt bei dem Landwirt ankommt, trotzdem dafür Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Herr Kollege sorgt, daß den Verbrauchern Nahrungsmittel zu ex- Susset, gestatten Sie eine Zwischenfrage? trem niedrigen Preisen zur Verfügung gestellt wer- den?

Egon Susset (CDU/CSU): Ja, bitte. (Horst Sielaff [SPD]: In der Dritten Welt bei Exportsubventionen!) Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Bitte, Herr Kol- lege Sielaff. Egon Susset (CDU/CSU): Das kann ich hundert- prozentig unterstützen. Es hat noch keine Zeit gege- ben, in der die Landwirtschaft und die gesamte Er- Horst Sielaff (SPD): Herr Kollege Susset, würden nährungswirtschaft in der Lage waren, die Verbrau- Sie zugeben, daß diese Subventionspolitik in der Tat cher mit Nahrungsmitteln, die unter besten umwelt- neu durchdacht werden muß, insbesondere auch im freundlichen Bedingungen erwirtschaftet wurden Interesse der einzelnen Landwirte, weil etwa 80 % - und preislich so günstig sind, zu versorgen. so sagen die Fachleute - dieser Subventionen den Landwirt überhaupt nicht erreichen, (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge ordneten der F.D.P.) (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist falsch!) sondern teilweise ganz andere bekommen? Insofern Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Herr Kollege ist das, was Sie sagen, nicht ganz redlich, daß näm- Susset, jetzt die Kollegin Höfken? lich die Sozialdemokraten die Landwirte nicht unter- stützen wollen. Egon Susset (CDU/CSU): Ja, selbstverständlich. (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS) Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Bitte sehr.

Egon Susset (CDU/CSU): Subventionspolitik heißt Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wür- zunächst einmal, daß Mittel zur Verfügung gestellt den Sie uns zustimmen, Herr Kollege Susset, daß es werden, um den Ausgleich für die Wirtschaftszweige besser wäre, auf die Ausgleichszahlungen und Sub- schaffen zu können, die heute mit Preisen am Markt ventionen zu verzichten, wenn es als Ausgleich dafür Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 52. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. September 1995 4459

Ulrike Höfken kostendeckende und vernünftige Erzeugerpreise finden, wie es auch beim letzten Mal nach langer gäbe? Diskussion der Fall war. (Horst Sielaff [SPD]: Vielleicht stimmen Sie Egon Susset (CDU/CSU): Selbstverständlich auch unseren Vorschlägen zu!) könnte ich dem zustimmen. Wenn wir das heute abend für die Europäische Union verbindlich be- Eine herausragende Bedeutung für die Zukunft schließen könnten, dann wären, glaube ich, wieder der Landwirtschaft hat der Ausgabenblock Gemein- mehr junge Leute bereit, einen landwirtschaftlichen schaftsaufgabe „Verbesserung der Agrarstruktur Betrieb zu übernehmen. Sie machen sich doch heute und des Küstenschutzes"; denn diese Gemein- nur deshalb Gedanken, ob sie einen landwirtschaftli- schaftsaufgabe trägt vor allem mit den Instrumenten chen Betrieb übernehmen sollen oder nicht, weil sie der einzelbetrieblichen Förderung, der Investitions- Sorge haben, daß es vielleicht einmal eine weniger förderungen und der Ausgleichszulagen wesentlich landwirtschaftsfreundliche Regierung geben könnte, dazu bei, einerseits die Leistungsfähigkeit der Be- die nicht mehr bereit wäre, die entsprechende Unter- triebe zu steigern, aber andererseits die Landwirt- stützung zu geben. schaft auch in benachteiligten Gebieten zu erhalten.

(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU Landbewirtschaftung in der Fläche und die inte- und der F.D.P. - Lachen bei der SPD, dem grale Entwicklung des ländlichen Raumes haben ei- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS) nen hohen, manchmal unterschätzten Stellenwert. Sie bedingen einander. Deshalb ist eine intakte Meine Damen und Herren, unser Etat hat zwei Landwirtschaft unverzichtbar; Kollege Sielaff hat es Hauptblöcke, die der Minister schon darstellte: So- bereits angesprochen. Sie ist auch zum Schaffen vie- zialpolitik und Strukturpolitik. Mit 7,4 Milliarden DM ler außerlandwirtschaftlicher Arbeitsplätze unver- sind immerhin 61 % im Sozialbereich gebunden. Das zichtbar. ist eine schwere Finanzlast. Sie ist aber gerechtfer- tigt, um den Strukturwandel in der Landwirtschaft (Horst Sielaff [SPD]: Dem stimmen wir zu!) sozialverträglich zu gestalten Das wird nämlich sehr oft nicht entsprechend gewür- (Dr. Gerald Thalheim [SPD]: Das stellt kei- digt. ner in Zweifel! - Horst Sielaff [SPD]: Den haben wir doch mitgetragen!) (Horst Sielaff [SPD]: Das wird in der Ge meinschaftsaufgabe gekürzt!) und um das soziale Sicherungsnetz für die in der- Landwirtschaft Tätigen auch in Zukunft stabil zu hal- - Wir haben im letzten Jahr aufgestockt. Wir sollten ten. jetzt sehen, was wir in den letzten Jahren an Mitteln hatten und was wir jetzt verfügbar haben. (Horst Sielaff [SPD]: Das wäre ohne uns nicht möglich gewesen!) Ich meine, daß diese Mittel notwendig sind. Ich bin fest davon überzeugt, daß auch Sie bei den Beratun- - Ich habe das nicht kritisiert. Sie haben ein schlech- gen sowohl im Haushaltsausschuß als auch im Fach- tes Gewissen, Herr Kollege Sielaff. ausschuß sicherlich Ihre Bemerkungen und Ihre An- regungen einbringen werden. Die Agrarsozialreform 1995 hat die soziale Siche- rung für Landwirte, auch für deren Ehefrauen und (Horst Sielaff [SPD]: Sicher!) Familienangehörigen, auf eine stabile Basis gestellt und auf die Zukunft ausgerichtet. Wir sind dem Fi- Wir werden darüber diskutieren. Das sind einfach nanzminister, dem Sozialminister und dem Landwirt- Mittel, die zur Stabilisierung der Betriebe und zur schaftsminister dankbar, daß sie ihrerseits ihre Be- Stabilisierung der ländlichen Räume notwendig sind. reitschaft erklärt haben, daß künftig die Defizithaf- Von Herrn Kollegen Sielaff ist auch das Thema tung gilt. Ich glaube, das können wir nicht oft genug Markt angesprochen worden. Wir sind mit ihm der zum Ausdruck bringen. Meinung, daß die Probleme auf dem Milch- und Der Kollege Sielaff hat kritisiert, daß wir mit dem, Rindfleischmarkt im wesentlichen durch Beschlüsse was in der Agrarsozialreform 1995 geändert werden der EU-Kommission entstanden sind. Ich denke an muß, noch nicht weiter vorangekommen seien. Ich Behinderungen beim Expo rt . Wenn man im Moment weiß, daß gestern mit dem für Ihre Fraktion zuständi- Getreide zu Weltmarktpreisen verkaufen könnte, gen Kollegen Schreiner ein Gespräch stattgefunden ohne daß man eine Mark aus der europäischen Kasse hat. dazugeben müßte, muß man sich doch fragen, warum das nicht getan wird. (Horst Sielaff [SPD]: Da wurde von einer Seite doch nichts vorgelegt!) Wir möchten unserem Landwirtschaftsminister da- für danken, daß er es in Brüssel geschafft hat, die Wir haben dieses Thema heute innerhalb der Aufwertungsfestigkeit durchzusetzen. In der Frage Koalition beraten. Wir werden, so wie es jetzt aus- der nationalen Mittel für den Ausgleich der aus der sieht, in der nächsten Sitzungswoche das vorstellen, Aufwertung entstandenen Einkommensverluste der was an Änderungen notwendig ist. Ich wünsche mir, Landwirtschaft unterstützen wir nach wie vor unse- daß wir dann auch die entsprechende Zustimmung ren Minister. 4460 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 52. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. September 1995 Egon Susset Ich wollte gerade den Finanzminister, der in der SPD-Landesregierung - Herr Sielaff läuft schnell Zwischenzeit gegangen ist, ansprechen und ihm sa- weg -, gen, daß wir seine Unterstützung erwarten. Die Staatssekretärin Karwatzki wird es Theo Waigel sa- (Horst Sielaff [SPD]: Gar nicht! Ich wollte gen. nur einen besseren Platz haben!)

Ich glaube, auch der Bundeskanzler wird uns in sondern selbstverständlich auch an den Rahmenbe- Europa unterstützen, damit wir die Mehrwertsteuer dingungen, die von Bundesregierung und EU gesetzt als die beste Möglichkeit zum Ausgleich der Verluste werden. dort, wo sie entstanden sind, einsetzen können. Herr Kohl hat in seiner Rede gesagt, gejammert Ich hoffe auch auf Ihre Unterstützung. Die Unter- habe man jahrelang, und die Bundesregierung habe stützung der beiden Koalitionsfraktionen und des ge- es gerichtet. Wir warten einmal darauf, was sie denn samten Kabinetts haben wir. Ich wünsche uns allen hier tun will. Viel Zeit hat sie nicht mehr. Keine alten dabei Erfolg. Ladenhüter, hat er gesagt, keine Tabus. Genau hier wäre ein Ansatzpunkt in der Agrarpolitik, um mit Ich danke schön. den alten Tabus endlich einmal aufzuräumen, d. h. weg mit den Subventionen und hin zu kostendecken- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) den Preisen für eine Landwirtschaft, die sich dann auch wirklich wieder lohnt.

Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das Wort hat die In der Agrarpolitik demonst riert die Bundesregie- Kollegin Ulrike Höfken, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN. rung genau das Gegenteil von dem, was Kanzler Kohl als Zielsetzung verkündet hat, gerade auch was den Leistungswillen, der doch belohnt werden soll, Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Es betrifft: 70-Stunden-Woche, und damit erreicht man war eine sehr widersprüchliche Rede, Herr Susset. gerade 60 % des gewerblichen Vergleichslohns. Geld Sie haben am Anfang ganz zu Recht auf das Land- verdient man als Vater von Steffi Graf und nicht mit wirtschaftsgesetz verwiesen. Wir haben ein Jubiläum der Produktion von Käse, sondern mit den „Käse- zu feiern. Dieses Gesetz verpflichtet die Bundesre- schachteln". gierung zu etwas. Man muß feststellen, daß die Bun- desregierung seit 40 Jahren gesetzwidrig handelt, in- Die Leistungsfähigkeit der Landwirtschaft soll dem sie das nicht tut, was das Gesetz eigentlich vor-- nach bewährter A rt der Bundesregierung jetzt offen- schreibt, nämlich die Einkommen in der Landwirt- sichtlich auch noch durch eine Art Arbeitslagerfunk- schaft ausreichend, angemessen zu sichern. Daß das tion und Sozialhilfeempfänger-Aufsichtsanstalt ge- nicht der Fall ist, darüber besteht wohl Einigkeit. stärkt werden. Arbeitslose als Erntehelfer. Kanzler Kohl im Weinberg 1998 ist wahrscheinlich die Vision, Wie kaum in einem anderer Bereich dokumentiert die er dabei hat, denn arbeitswillig ist er bestimmt. die Situation der Landwirtschaft, auf welch wackli- gen Füßen die Wirtschaft unseres Landes steht. Ursa- (Jochen Borche rt [CDU/CSU]: Aber nicht che ist eine rückwärtsorientierte Politik der Bundes- arbeitslos, Frau Kollegin!) regierung. Der Zusammenbruch in der Landwirt- schaft läßt sich kaum mehr verkleistern. Aber Sie können sich selber ausdenken, was das für den Betrieb bedeuten würde. Vermutlich würde er Die weiterhin staatlich dirigierten Niedrigpreise an den „Marktwert" eines polnischen Erntehelfers für Lebensmittel sichern die niedrige Inflationsrate, nicht herankommen, aber wahrscheinlich erreichen, die sich unser jetzt gegangener Herr Minister Waigel daß das Betriebsergebnis entsprechend gesenkt auf die Fahnen schreibt, und zwar ganz zu Unrecht. würde. Er kann sie nur auf Kosten der Landwirtschaft, der Umwelt und der Verbraucherinnen und Verbraucher (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Das ist zy erreichen. Es ist eine für uns teuer erkaufte niedrige nisch!) Inflationsrate. Wenn man sie so rühmt, sollte man hinzufügen, was man dafür geopfert hat. Wir fordern die Bundesregierung auf, diesen zyni- schen Vorschlag zurückzunehmen. Die Arbeitgeber Die staatliche Subventions- oder Ausgleichspoli- wollen ihn nicht, die Arbeitnehmer wollen ihn nicht, tik ist ein Hohn. Allenfalls Pohlmann-Eier können auch die Arbeitslosen wollen ihn nicht. Die Landwirt- unter solchen Bedingungen erzeugt werden, aber schaft muß in die Lage versetzt werden, die Arbeit bäuerliche und umweltgerechte Landwirtschaft in wieder zu bezahlen und Arbeitnehmer aufzuneh- Ost und West haben unter diesen Bedingungen men, die dann tatsächlich im ersten Arbeitsmarkt keine Perspektive. bleiben können, einen gerechten und vernünftigen Lohn erhalten und nicht in irgendeiner Hinsicht aus- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) gebeutet werden, sei es als Asylbewerber, sei es als polnischer Erntehelfer, als Arbeitslosenhilfeempfän- In Rheinland-Pfalz geben jeden Tag vier Bet riebe ger oder als regulärer Mitarbeiter. auf, und 16prozentige Verluste für die Getreidebau- ern sind zu verzeichnen. Das liegt nicht nur an unse- (Ulrich Heinrich [F.D.P.]: Sie haben sich eine rem Landwirtschaftsminister Brüderle oder an der schöne heile Welt zusammengestrickt!) Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 52. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. September 1995 4461

Ulrike Höfken Hebel dafür ist die Förderung des Aufbaus regio- Jürgen Koppelin (F.D.P.): Frau Präsidentin! Liebe naler Vermarktung und Verarbeitung. Statt einer Kolleginnen und Kollegen! Ich will nur eine Berner Ausrichtung an einem globalen Wettbewerb um die kung zu der Rede meiner Vorrednerin, Frau Höfken, Hamburger-Produktion ist es notwendig, in diesem vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN machen. Liebe Kol- Bereich sehr viel stärker tätig zu werden. legin, viele Punkte haben mich gestört, aber ein Punkt stört mich besonders, wenn Sie nämlich erneut (Vorsitz : Vizepräsidentin Dr. Antje Voll- - ich glaube, das ist auch bei den Haushaltsberatun- mer) gen 1995 von Ihnen gekommen - bei der Landwirt- schaft von Subventionen sprechen. Problematisch - Herr Sielaff hat es erwähnt - ist einmal wieder die Kürzung der Mittel der Gemein- (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: So ist es! - schaftsaufgabe. An dieser Stelle ist einmal zu kritisie- Horst Sielaff [SPD]: Damit hat Herr Susset ren: Die Gemeinschaftsaufgabe ist eine Black box. angefangen! - Widerspruch bei der CDU/ Weder die Bundesparlamentarier noch die Landes- CSU) parlamentarier haben auf die Gestaltung einen tat- Ich denke, wir tun der Landwirtschaft und uns allen sächlichen Einfluß, und unter der Ausrichtung ver- keinen Gefallen, wenn wir in diesem Bereich von steht jeder, was er wi ll. Das ist eigentlich eine Zumu- Subventionen sprechen. Wir wollen für die Landwirt- tung in diesem Haushaltsplan. schaft etwas erreichen. Dazu brauchen wir die ent- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sprechenden Mittel. Sie kennen die Schwierigkeiten sowie bei Abgeordneten der SPD) in der Landwirtschaft. Sie sollten einmal darüber nachdenken, ob Sie in der Diskussion in diesem Be- Ein struktureller Mißgriff ist nicht nur die Kürzung reich weiter mit dem Begriff Subvention arbeiten. der GA, sondern auch die Förderung von nachwach- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) senden Rohstoffen. Es genügt nicht, Nahrungsmittel einfach umzudefinieren, sondern es gehört ein Kon- Die Haushaltseinsparungen haben natürlich auch zept dazu. Statt dessen wird immer weiter und immer vor dem Einzelplan 10 nicht haltgemacht. Das mag länger die Subvention von Biodiesel gefördert. Ein man bedauern, aber mein Kollege Günther Brede- neuer Subventionstopf wird geschaffen. Statt nur auf horn hat hier in einer früheren Diskussion schon ein- Rapsmethylester und Biomasse zu setzen, wäre es mal gesagt: Sparzwänge können auch etwas Positi- viel nötiger gewesen, den Dämmstoffbereich stärker ves haben, sie zwingen zur Prioritätensetzung. in die Förderung einzubeziehen. Hier gibt es neue (Horst Sielaff [SPD]: Daran fehlt es bei der Chancen für den Arbeitsmarkt in den Regionen, und - Bundesregierung!) zwar im Baugewerbe und für die Landwirtschaft. - Zu Ihnen komme ich nachher noch. - Das gilt, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN meine ich, für diesen Haushalt natürlich erst recht. und bei der SPD) Nach Auffassung der F.D.P.-Fraktion ist d i e Heraus- Wir möchten im Rahmen des Haushaltsplanes dar- forderung in der Agrarpolitik die Steigerung der Wett- auf abzielen, die Gasölbeihilfe nicht weiter in dieser bewerbsfähigkeit der deutschen Landwirtschaft. Die Form zu verwenden, sondern für die Förderung um- F.D.P. plädiert daher für eine stärkere Gewerbe- und weltgerechten Einsatzes von Schmierstoffen und Dienstleistungsorientierung des landwirtschaftlichen Treibstoffen auf der Basis pflanzlicher Öle zur Ver- Unternehmertums. So manches, was in diesem Bereich wendung in der Land- und Forstwirtschaft sowie in in der Vergangenheit geschehen ist, kann sich sehen der Schiffahrt zu verwenden. Da würde man einen lassen. Ich nenne hier nur ein Beispiel: Erfolgreiche strukturellen Effekt erzielen und der Umwelt und der Schritte sind in der Steigerung des Direktabsatzes Landwirtschaft dienen. So soll das in Zukunft ja auch landwirtschaftlicher Produkte gemacht worden. Hier- sein. auf werden wir - auch beim Haushalt - weiterhin unser Augenmerk halten, damit Möglichkeiten bestehen- Auch bei der Neuordnung der Bundesanstalten bleiben. Wir müssen also weitere Chancen eröffnen. gibt es kein Konzept. Ich schließe mich hierbei der SPD an. Der Landwirt als Dienstleister im ländlichen Raum, das muß Ziel unserer Agrarpolitik sein. Deshalb gilt Ganz zum Schluß will ich sagen: Die Düngemittel- unser uneingeschränktes Ja den Strukturverbesse- verordnung, die Sie vorgelegt haben, ist genau das, rungen. Wir würden es bedauern, wenn es auf was wir nicht haben wollen. Sie ist ein Affront gegen Grund der schwierigen Haushaltssituation hier Rück- die Umweltpolitik und führt zu einer unglaublichen schläge geben müßte. Bürokratisierung. Auf diese A rt und Weise wird eine Nun, Herr Sielaff, komme ich zu Ihnen. Sie kom- umweltschädigende Politik weiter festgeschrieben. men aus Rheinland-Pfalz; ich habe noch einmal Vielen Dank. nachgeschaut. Ich wäre an Ihrer Stelle etwas vorsich- tig, wenn Sie etwas zum Thema Küstenschutz sagen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Die Norddeutschen kennen sich da, glaube ich, ganz sowie bei Abgeordneten der SPD ) gut aus. (Horst Sielaff [SPD]: Dazu habe ich auch nichts gesagt!) Vizepräsidentin Dr. : Das Wort hat jetzt der Kollege Jürgen Koppelin. - Doch, doch. 4462 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 52. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. September 1995

Jürgen Koppelin Gerade als norddeutscher Abgeordneter liegt mir zeitlich wegen des weiteren Rückgangs wichtiger natürlich sehr daran, daß wir unsere Anstrengungen Nutzfischbestände sogar noch verschärft. Viele An- beim Küstenschutz nicht herunterfahren. Ich erwarte gehörige der Seefischerei haben das Gefühl, sie ha- allerdings von den zuständigen Länderministern - ben keine Zukunft mehr. Wir sollten und müssen hier sind es in erster Linie die sozialdemokratischen versuchen, diese Branche im Rahmen unserer Mög- Umweltminister der norddeutschen Länder -, daß sie lichkeiten und auch im Rahmen der Haushaltsde- die gesetzlichen Auflagen beim Küstenschutz nicht batte zu unterstützen und ihnen neue Chancen ge- so hoch ansetzen, daß die vorgesehenen Mittel ihren ben. Das ist eine ganz wichtige Aufgabe, der wir Zweck überhaupt nicht erfüllen können. uns annehmen. (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) ten der CDU/CSU) Ich glaube, der Vorsitzende des Agrarausschusses Wir Freien Demokraten meinen, daß die überzoge- hat sich dieser Aufgabe auch besonders angenom- nen Umweltanforderungen beim Küstenschutz in men. Dafür will ich ihm an dieser Stelle einmal aus- den norddeutschen Ländern inzwischen völlig unak- drücklich danken. zeptabel geworden sind. Die Effizienz der Hilfestel- lung ist damit nicht mehr gesichert. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Die Seefischerei gibt mir noch ein weiteres Stich- Ich lade Sie sehr herzlich ein, nach Niedersachsen, wort. Bei dem folgenden Punkt stehen wir als F.D.P. nach Hamburg und nach Schleswig-Holstein zu wahrscheinlich alleine, aber ich hoffe auf Unterstüt- kommen. Kollege Kuhlwein kommt ja nie an die Kü- zung aus der Union. ste, sondern bleibt immer im Hamburger Umland. Deswegen hat auch er davon keine Ahnung. (Zuruf) Meine Damen und Herren, in der Agrarsozialpoli- - Herr Kollege, ich wollte den Minister einmal direkt tik - sie ist hier angesprochen worden - sind in der ansprechen, weil jetzt ein Punkt kommt, der uns als Vergangenheit die entscheidenden Weichen gestellt F.D.P. sehr wichtig ist. worden. Das Agrarsozialreformgesetz ist bei den Be- Herr Minister, wir freien Demokraten werden bei troffenen überwiegend positiv aufgenommen wor- den Haushaltsberatungen diesmal wirklich verlan- den. Es gibt jedoch auch - das wissen wir - Kritik. gen, daß wir dazu kommen, die Privatisierung des Was mich in Ihrem Beitrag von Ihrer Seite gestört hat, Fischereiforschungsschiffes Walther Herwig zu er- ist, daß Sie nur Kritik üben, daß Sie völlig unterschla- - reichen. Ich könnte Ihnen Beispiele aus anderen Be- gen, wie wichtig es war, bei der Agrarsozialreform zu reichen nennen, in denen wir Forschungsschiffe mit erreichen, daß 230 000 Bäuerinnen endlich eine ei- großem Erfolg privatisiert haben. Ich bitte auch die gene Alterssicherung und Schutz vor Erwerbsunfä- Union, sich mit der Sache näher zu beschäftigen und higkeit erhalten. Das ist doch der positive Aspekt, sich die Zahlen anzusehen. Ich glaube, daß wir durch um nicht immer nur Kritik zu üben. Wir sind bereit, die Privatisierung Mittel im Agrarhaushalt freima- über Korrekturen zu sprechen. Wir nehmen die Ar- chen können für andere Aufgaben. gumente auf. Wir sind im Gespräch, und ich biete Ih- nen von seiten der F.D.P. an - unsere Agrarpolitiker (Beifall des Abg. Dr. Wolfgang Weng [Ger Bredehorn und Heinrich sitzen auch hier -, das Ge- lingen] [F.D.P.]) spräch über dieses Thema zu führen und gegebenen- falls Korrekturen vorzunehmen. Das Entscheidende Herr Minister, Sie haben uns in diesen Tagen einen ist, daß wir Verbesserungen erreicht haben. Entwurf für ein neues Konzept der Bundesfor- schungsanstalt zugeleitet. Ich will in der Haushalts- Den nachwachsenden Rohstoffen gilt unser beson- debatte nur einige allgemeine Bemerkungen ma- deres Interesse. Der Anbau kann zukunftsweisend chen. Grundsätzlich halten wir es für richtig, daß Sie sein. Die Mittel, die wir den Landwirten zur Verfü- dieses Konzept vorgelegt haben und daß eine Über- gung stellen, sind ein wichtiger Beitrag für die Um- prüfung unserer gesamten Forschungsaktivitäten im welt. Wir sollten uns allerdings, meine ich, genau an- Bereich des BML stattfindet. Natürlich muß auch ge- sehen, ob die Mittel, die wir hier zur Verfügung stel- prüft werden, inwieweit Forschungsaufgaben in der len, auch immer effektiv eingesetzt werden. Zukunft wegfallen können. (Zuruf von der SPD: Richtig!) Sie haben also unsere Zustimmung, daß ein sol- Ich möchte diese kurze Debatte jedoch gerne nut- cher Entwurf notwendig war und auf den Tisch ge- zen, um eine Bemerkung zum Bereich der Seefische- legt werden mußte. Ich will jedoch nicht verhehlen, rei zu machen. Dieses Thema ist bisher noch nicht er- daß man nach erster Durchsicht den Eindruck hat, wähnt worden, aber vielleicht kommt die Kollegin daß mit heißer Nadel etwas zusammengestrickt wor- Janz gleich noch dazu. den ist. Auch wenn wir für die vorübergehende Still- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) legung von Flottenkapazitäten und für die endgül- tige Stillegung von Kuttern Mittel zur Verfügung Wir Freien Demokraten sagen allen Betroffenen zu, stellen, so bleibt doch ein erhebliches Ungleichge- daß wir mit ihnen die Gespräche führen, daß wir ihre wicht zwischen Flottenkapazität und Fangmöglich- Argumente anhören und daß wir uns dafür ein- keiten bestehen. Das Problem hat sich zwischen- setzen, daß soziale Härten vermieden werden. Das Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 52. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. September 1995 4463

Jürgen Koppelin letzte Wort soll darüber also noch nicht gesprochen Quadratmeter erzielt werden können? Kann man sein. Wir werden in die Diskussion eintreten. sich das leisten? Ist es nicht notwendig, hier wirklich einmal eine Neuordnung der gesamten Forschung zu (Zuruf von der SPD: Wo er recht hat, hat er überlegen? recht!) Eine letzte etwas kritische Bemerkung, Herr Mini- Jürgen Koppelin (F.D.P.): Herr Kollege, ich stimme ster. Ihnen nicht nur zu - ich habe das vorhin ja auch an- gesprochen -, sondern ich gehe sogar noch einen Schritt weiter: Wenn ich mir ansehe, daß wir in eini- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Borche rt? gen Bereichen sogar Mittel zur Verfügung stellen müssen, um vielleicht Gebäude zu erhalten und all diese Dinge zu finanzieren - ich sehe ja, was im Jürgen Koppelin (F.D.P.): Da es ein sehr netter Ab- Haushaltsplan steht -, dann muß man sich natürlich geordneter ist, gerne. jedesmal fragen: Sind diese Mittel wirklich notwen- dig? Wir werden darüber in eine Diskussion eintre- ten. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Bitte. Mir ging es darum - das will ich noch einmal deut- lich machen -, daß wir, wenn wir so viele B riefe von Jochen Borchert (CDU/CSU): Vielen Dank, Frau Präsidentin. Vielen Dank, Herr Kollege. Herr Kol- den Betroffenen bekommen, zügig reagieren, damit lege, stimmen Sie mir zu, daß Gespräche über das die Betroffenen wissen, woran sie sind, und daß wir Konzept der Ressortforschung dann sinnvoll sind, nicht erst lange darüber diskutieren. Damit würden wenn das jetzige Arbeitspapier mit den Instituten be- wir den Betroffenen nicht gerecht werden. Wir wer- sprochen worden ist und wenn aus dem Arbeitspa- den demnächst in Bonn ein Treffen mit den Betroffe- pier nach der weiteren Diskussion dann eine Vorlage nen haben. Dazu ist, glaube ich, von einer Gewerk- des Ministeriums geworden ist? Im Augenblick han- schaft eingeladen worden. Ich will das ausdrücklich delt es sich nur um ein Arbeitspapier und um einen begrüßen. Wir sind zur Diskussion - das biete ich ersten Entwurf, der mit den einzelnen Instituten noch noch einmal an - bereit. abgestimmt werden muß. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Herr Kollege, noch ein netter Kollege möchte eine Zwischenfrage (F.D.P.): In dem Punkt stimme ich Jürgen Koppelin stellen, nämlich der Kollege Struck. Ihnen zu, Herr Abgeordneter. Ich meine nur: Wir be- kommen in diesen Tagen viele B riefe. Ich könnte Ih- nen Beispiele aus Schleswig-Holstein nennen. In Jürgen Koppelin (F.D.P.): Das „nett" verkneife ich Ahrensburg soll z. B. alles dichtgemacht werden. Ich mir; aber ich sage ja. kann etwas zu Kiel sagen und zu anderen Städten. (Heiterkeit) Wir bekommen die B riefe, und so müssen wir natür- lich irgendwie reagieren. Ich kann nicht sagen, ir- gendwann werden wir das und das machen. Die be- Dr. Peter Struck (SPD): Herr Kollege Koppeln, wä- troffenen Leute möchten wissen, was weiter passiert ren Sie so nett, dem Kollegen Borche rt , der Ihnen und welche Diskussion im Parlament geführt wird. eben eine Zwischenfrage gestellt hat, noch einmal die Deswegen habe ich dieses Angebot gemacht. Gelegenheit zu einer Zwischenfrage zu geben, in der er die Frage beantwortet, wann denn wohl mit einem aus dem Ministerium vorliegenden Konzept zu rech- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Gestatten Sie nen ist, auch angesichts der Umstände, die Sie gerade eine weitere Zwischenfrage des Abgeordneten Car- genannt haben, nämlich der Unsicherheit bei den be- stensen? troffenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern?

Jürgen Koppelin (F.D.P.): Da auch das ein netter Jürgen Koppelin (F.D.P.): Ich bin erstaunt, Herr Kollege ist, gerne. Kollege, über diese Frage gerade eines Geschäfts- führers der Sozialdemokraten, weil nach meiner Kenntnis Fragen in dieser Form nicht zulässig sind. Peter Harry Carstensen (Nordstrand) (CDU/CSU): Ich bedanke mich für das Lob, Herr Kollege. Ich Aber das muß die Frau Präsidentin entscheiden. frage auch nur bei netten Kollegen, wenn ich das ne- Dann werde ich das gerne machen. benbei anfügen darf. (Heiterkeit) Herr Kollege Koppelin, stimmen Sie mir zu, daß es aber trotzdem eine grundsätzliche Notwendigkeit Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Ich würde sa- gibt, diese zerstreute Bundesforschung mit 3 500 Be- gen, daß Fragen in dieser Form erst nach Mitternacht schäftigten einmal auf den Prüfstand zu stellen, und zulässig sind. stimmen Sie mir auch zu, daß es manchmal notwen- (Heiterkeit) dig ist, auch einmal zu fragen, ob wir uns das leisten können, daß einige Bereiche der Bundesforschung in Gebäuden auf Flächen sind, wo Grundstückspreise, Jürgen Koppelin (F.D.P.): Vielen Dank, Frau Präsi- ich sage mal: zwischen 3 000 DM und 4 000 DM pro dentin. 4464 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 52. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. September 1995

Jürgen Koppelin Das alles ist mir ja nicht von meiner Redezeit abge- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Nein, Herr Kol- zogen worden, so daß ich jetzt noch zu einem wichti- lege, jetzt geht das leider nicht mehr. Jetzt ist die Zeit gen Bereich kommen kann. zu Ende, obwohl ich die Uhr zwischendurch immer gestoppt habe. (Abg. Jochen Borche rt [CDU/CSU] meldet sich zu einer weiteren Zwischenfrage) Jürgen Koppelin (F.D.P.): Dann komme ich zum Schluß, Frau Präsidentin. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Herr Kollege Borchert, Sie dürfen fragen. Der Kollege hat sein Ein- Die Landwirtschaft befindet sich inmitten eines verständnis erteilt. schwierigen Anpassungsprozesses. Der vorgelegte Haushaltsentwurf trägt dem durchaus in vielen Be- Jochen Borchert (CDU/CSU): Herr Kollege Koppe- reichen Rechnung. Lassen Sie uns gemeinsam, egal, lin, Sie haben das Forschungskonzept angesprochen. wo wir politisch stehen, zusammen mit dem Minister Stimmen Sie mir zu, daß die Rahmenbedingungen Borchert bei den Haushaltsberatungen das Beste für für die Ressortforschung mit dem Haushalt 1996 fest- unsere Landwirtschaft erreichen und herausholen. gelegt werden? Dies bedeutet, daß wir dieses Kon- Wir Freien Demokraten sind dazu bereit. zept natürlich, bevor der Haushalt 1996 in Kraft tritt, Vielen Dank für Ihre Geduld. bei den Haushaltsberatungen im Agrarausschuß und im Haushaltsausschuß diskutieren müssen und einen (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Rahmen für die weitere Entwicklung der Ressortfor- schung festlegen müssen. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Dr. Maleuda. Jürgen Koppelin (F.D.P.): Ich stimme Ihnen nicht nur zu, sondern ich bin sogar der Auffassung, Herr Abgeordneter, daß der betreffende Minister für die- Dr. Günther Maleuda (PDS): Frau Präsidentin! ses Ressort ein offenes Ohr für alle Anregungen hat, Meine Damen und Herren! Bundesfinanzminister Dr. die von den Betroffenen kommen werden. Waigel hat vorgestern an dieser Stelle eine sehr zu- treffende Wertung vorgenommen, (Beifall bei der F.D.P. - Heiterkeit) (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: Nun muß ich doch noch einmal den Minister und Nicht nur eine!) nicht mehr den Abgeordneten ansprechen. Herr Mi- nister, da muß ich schon sagen: Nicht nur ich, son- indem er feststellte, die Landwirtschaft befinde sich dern auch meine Fraktion war in diesen Tagen sehr in einer schwierigen Situation. Am gleichen Tage erstaunt über eire Aktion, die Sie - zwar nicht als Mi- sprach das Präsidium des Deutschen Bauernverban- nister, sondern nach meinem Eindruck für die CDU - des von der „völlig unbefriedigenden wirtschaftli- gestartet haben. Es kam plötzlich die Forderung von chen Situation" der deutschen Bauern. Der Verlauf Ihnen, der Tierschutzgedanke sollte Aufnahme in der bisherigen Debatte bestätigte zwingend die Not- die Verträge über die Europäische Union finden - wendigkeit, daß wir in der weiteren Diskussion um eine durchaus löbliche Angelegenheit. Ich sage Ih- den Agraretat vor allem die Ursachen für diese Situa- nen allerdings in aller Deutlichkeit: So löblich das tion aus finanzpolitischer Sicht bewe rten. Auch wird Ganze ist, wir Freien Demokraten hätten erwartet, zu beantworten sein, wie mit dem Haushaltsplan daß Sie, allerdings auch Ihre Fraktion, unseren An- 1996 diese Probleme differenzie rt gelöst werden sol- trägen damals zugestimmt hätten, als wir, und zwar len. nicht nur wir Freien Demokraten, sondern auch an- dere, die Anträge zur Änderung des Grundgesetzes Die wesentlichen Änderungen im Einzelplan 10, gestellt haben. sprich Kürzungen um 474 Millionen DM, resultieren aus dem Wegfall des Einkommensausgleichs von (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- 470 Millionen DM, der, wie das Bundesministerium ten der SPD) der Finanzen begründet, „ 1995 ausgelaufen" ist. Man muß sich überhaupt wundern, über welche Be- Ich finde es sehr einfach und billig, das für Europa zu gründungstalente das Ministe rium verfügt. Im Ein- fordern, aber nicht vor der eigenen Tür zu kehren. zelplan 10 erfolgen keine Streichungen, sondern „die Herr Minister, wir fordern Sie auf, eine entspre- Ausgaben 1996 werden um 465 Millionen DM ge- chende Novelle zum Tierschutzgesetz in den Bun- genüber 1995 zurückgeführt". Und statt „Streichun- destag einzubringen. Lieber wäre es uns, wir könn- gen bei der Gemeinschaftsaufgabe ,Verbesserung ten uns im nachhinein noch über eine entsprechende der Agrarstruktur und des Küstenschutzes' in Höhe Grundgesetzänderung einig werden. Wir wären von 106 Millionen DM" klingt doch viel besser, wenn dazu bereit. Also bewegen Sie Ihren Laden etwas, man sagt, der „vorgesehene Bundesanteil wird auf damit das nicht nur den Beigeschmack einer Wahl- 2 614 Millionen DM begrenzt". kampfaktion hat. Bezüglich der übrigen Positionen des Agrarhaus- (Beifall bei der SPD) haltes scheinen die Zeit und die Kraft nicht gereicht zu haben, sie gründlich zu überdenken. Dabei wäre Das mußte ich doch noch loswerden. Ich könnte es doch dringend notwendig gewesen, aus den jetzt noch einiges zum Dank sagen. agrarpolitischen Ereignissen der zurückliegenden Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 52. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. September 1995 4465

Dr. Günther Maleuda fünf Monate seit der Beschlußfassung zum Agrar- Ich danke Ihnen. plan 1995 Konsequenzen zu ziehen. Ich erlaube mir, auf einige der Konsequenzen und Erwartungen - aus (Beifall bei der PDS) Zeitgründen zusammengefaßt - hinzuweisen. Erstens. Die Währungsturbulenzen in der EU ha- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat ben den Landwirten bekanntlich Verluste von meh- jetzt Kollege Max Straubinger. reren 100 Millionen DM gebracht. Noch immer ist aber unklar, in welcher Höhe und auf welche Weise sie dafür entschädigt werden sollen. Max Straubinger (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Ich bin schon et- Zweitens. Die ab dem 1. Juli wirksamen GATT was überrascht, daß Herr Sielaff sich um die bayeri- Verträge werden den Druck auf die Preise verstär- sche Agrarpolitik und die bayerischen Bauern küm- ken und die Existenzsorgen der Bauern weiter erhö- mert, aber ich möchte dann auch vermerken, daß es hen. Im Haushaltsentwurf ist darauf keine Antwort kein Bundesland gibt, das so viel Geld für die Bauern zu finden. ausgibt, wie dies in Bayern passiert, und daß sich vor allen Dingen die niedersächsischen Bauern, vor al- Drittens. Die Probleme auf dem Milchmarkt sind lem die Schweinemäster, den Beistand der Bayeri- nicht gelöst, und trotz steigender Weltmarktpreise schen Staatsregierung gewünscht hätten, als es um bei Getreide steht der Getreidepreis in der Bundes- die Bewältigung der Schweinepest in Niedersachsen republik unter großem Druck. ging. In dieser Situation hat die niedersächsische Viertens. Die rückläufige Eigenversorgung bei Landesregierung in Mittelmäßigkeit die Bauern im Fleisch und die katastrophale Lage beim Tierbesatz Regen stehen lassen. besonders in Ostdeutschland erschweren den Bauern (Beifall bei der CDU/CSU - Zuruf von der die Erwirtschaftung eines angemessenen Einkom- CDU/CSU: Absolut versagt!) mens. Werte Damen und Herren! Unsere heimische Fünftens. Die Agrarstrukturen in Ostdeutschland Landwirtschaft versorgt uns mit gesunden und hoch- werden mit dem Beginn der Privatisierung des Bo- wertigen Nahrungsmitteln. Vielfach ist das den denreformlandes durch die BWG destabilisiert statt Bürgerinnen und Bürgern aus den Gedanken ent- gefestigt. schwunden und eine große Selbstverständlichkeit. Dies erbringen unsere Bäuerinnen und Bauern in (Siegfried Ho rnung [CDU/CSU]: Das ist doch - gar nicht wahr!) den Formen des Voll-, Zu- und Nebenerwerbsbetrie- bes, aber sie gestalten damit vor allem über Jahrhun- - Aber damit ist zu rechnen. - Die ungelöste Alt- derte hinweg unsere Kulturlandschaft, und dies ist schuldenfrage und der Zwang zum Verkauf des nicht auch ein großer Beitrag, den sie leisten. betriebsnotwendigen Vermögens schweben wie ein Damoklesschwert über Unternehmen. (Beifall bei der CDU/CSU) Schließlich ist nicht zu übersehen, daß der diesjäh- Den Freizeitwert, den wir genießen, haben wir rige Witterungsverlauf der Landwirtschaft bei einer auch den Bäuerinnen und Bauern zu danken, und Reihe von Produkten, so z. B. bei Kartoffeln, erhebli- deshalb gilt ihnen der Beistand aller. Auch die Ge- che Ertragsausfälle brachte, die landwirtschaftliche sellschaft muß hier bereit sein, dafür zu sorgen, daß Unternehmen stark belasten. die Bauern die gerechte Entlohnung für ihre Arbeit bekommen. Mit einer Politik „Weiter so", „Der Markt wird es schon richten" und mit dem von der Regierung Dies drückt sich im Gestaltungswillen des Haus- verordneten Sparkurs lassen sich die vielfältigen an- haltsentwurfes aus. Ich danke ausdrücklich dem stehenden Probleme der Landwirtschaft, auf die Bundeslandwirtschaftsminister, aber auch dem Bun- Bauernverbände bereits hingewiesen haben, nicht desfinanzminister für ihre Leistungen. Sie nehmen im Interesse der Bauern lösen. die Sorgen und Nöte der heimischen Landwirtschaft ernst. Abschließend möchte ich den Gedanken unter- streichen, der bereits zu den Fragen der Forschung (Horst Sielaff [SPD]: Das hätte ich ja nun geäußert wurde. Es geht ja offensichtlich um etwa nicht erwartet, daß Sie diesen Schwenk ma 1 300 Personalstellen und um die Tatsache, daß For- chen!) schungseinrichtungen geschlossen werden sollen. Insofern halten wir die Einsprüche und Forderungen Auch wenn im gesamten Etat Einsparungen notwen- aus Forschungseinrichtungen wie Westerau, Pi llnitz dig sind, so kann man hier mit Fug und Recht be- und Merbitz für sehr berechtigt. haupten, daß wir die Sorgen und Nöte der Bauern ernst nehmen und sie unterstützen. In den weiteren Haushaltsberatungen erwarten wir besonders auch im Agrarausschuß von der Bun- Ich möchte in meiner kurzen Redezeit noch schnell desregierung eine angemessene haushaltspolitische zwei Punkte ansprechen, die auch meine Vorredner Antwort auf die aktuellen und zukünftigen Probleme angesprochen haben. Es geht um Änderungen der der Landwirtschaft. Wir werden dazu unsere Vor- Agrarsozialreform. Mit ihr wurde die eigenständige schläge mit einbringen. Absicherung der Bäuerinnen geschaffen, aber ich 4466 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 52. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. September 1995

Max Straubinger glaube, nach ein paar Monaten gibt es auch kritik- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat würdige Punkte, die zu diskutieren sind und die wir, jetzt die Kollegin Ilse Janz. weil wir sie gemeinsam geschaffen haben, auch ge- meinsam ändern sollten. (Zuruf von der CDU/CSU - Heiterkeit bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Zuruf von der SPD: Na, na, na!) (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kollegin- Ich bin der Meinung, vor allem die Versicherungs- Ilse Janz nen und Kollegen! Ich habe die Zwischenbemerkung pflicht für Ehegatten von bereits von der Beitrags- leider nicht gehört, würde aber gerne mitlachen. pflicht befreiten Nebenerwerbslandwirten ist eines der Hauptprobleme in der gesamten Diskussion. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Sollte die Zwi- Ich bitte alle, die hier Verantwortung tragen, schenbemerkung frauenfeindlich gewesen sein, sich um die Bewältigung dieses Problems zu be- würde ich sie zurückweisen. mühen. Ich bin der Meinung, daß mit der vergan- genen Beitragspflichtbefreiung auch ein Verzicht (Zurufe von der CDU/CSU: Nein! - Heiter auf mögliche Versicherungsleistungen besteht, und keit bei der CDU/CSU und der F.D.P.) aus diesem Grund müßte auf alle Fälle die Befrei- ung von der Beitragspflicht ausgesprochen und Ilse Janz (SPD): Ich bedanke mich sehr bei der vor allem die Möglichkeit dazu geschaffen wer- Frau Präsidentin. den. Auch müßte meines Erachtens die Wartezeit von 15 Jahren möglicherweise auf fünf Jahre her- Herr Minister Borche rt, daß der von Ihnen vorge- abgesetzt werden. legte Agrarhaushalt nicht auf ungeteilte Zustimmung stößt, das haben Sie heute auch innerhalb Ihrer eige- Diese zwei konkreten Punkte wollte ich hier an- nen Koalition gemerkt. Ich hätte mir gewünscht, daß sprechen. Sie Ihre Differenzen vorab geklärt hätten. Das läßt sich aber vielleicht auch noch im nachhinein ma- Ein weiteres Problem ist natürlich, daß die großen chen. Währungsschwankungen, die der Landwirtschaft in den vergangenen Monaten Preiseinbußen gebracht (Zuruf des Abg. Jürgen Koppelin [F.D.P.]) haben, ausgeglichen werden müssen und sollen. Ich meine, daß wir hier natürlich am stärksten den Ver- - Herr Koppelin! - Die SPD zumindest befindet sich immerhin mit dem Bauernverband in guter Gesell- edelungsbetrieben zur Seite stehen sollten. Hier - wäre es am besten, wenn wir die Vorsteuerpauschale schaft. erhöhten. Damit würde meines Erachtens ein ad- Es ist hier schon einmal gesagt worden, daß gerade äquater Ausgleich geschaffen. im Bereich der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesse- rung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes" Wichtig ist aber auch, der Preisdruckpolitik der Abstriche gemacht worden sind. Ebenfalls Herr Sus- EU gemeinsam zu begegnen und vor allen Dingen set hat darauf hingewiesen, daß dies ein Problem sei. darauf hinzuwirken, daß die freien Kräfte des Mark- Genauso sehen auch wir das. Wir glauben, daß ge- tes hier wieder mehr Wirkung erhalten. Das bedeu- rade in diesem Bereich erneut etwas draufgelegt tet, daß die Agrarreform konsequent durchgeführt werden muß, damit er nicht abfällt. Ich hoffe, daß Sie werden sollte. Wir müssen zudem Flächenstillegun- uns dabei kräftig unterstützen. gen beibehalten, um auch die Produktionsmengen zu reduzieren. (Beifall bei der SPD)

(Horst Sielaff [SPD]: Da gibt es aber bessere Um noch einmal auf den Küstenschutz einzuge- Methoden als die Flächenstillegung!) hen, Herr Kollege Koppelin: Ich glaube, in Bad Bram stedt gibt es nicht einmal einen Bach. - Ja, aber ich bin der Meinung, daß es zumindest bis- her ein gutes Instrument war. (Jürgen Koppelin [F.D.P.]: Was?) Ich weiß also nicht, ob Sie so ganz viel vom Küsten- (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Und ein schutz verstehen. Ich wohne direkt hinterm Deich, so einfaches Instrument!) daß ich glaube, etwas mehr davon zu verstehen. - Genau. (Beifall bei der SPD) (Horst Sielaff [SPD]: Ein zweifelhaftes In Über die Privatisierung der „Walther Herwig" strument!) sollten wir, so denke ich, demnächst weiter diskutie- ren. Auf jeden Fall melden wir in diesem Bereich Herr Landwirtschaftsminister, ich bin mir sicher, schon ganz enorm Widerstand an. Sie werden sich daß Sie den Bäuerinnen und Bauern auch weiterhin darüber nicht wundern; denn das tun wir schon seit so standhaft beiseite stehen werden. Wir werden Sie geraumer Zeit. bei dieser Arbeit unterstützen.

Besten Dank für die Aufmerksamkeit. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kop- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) pelin? Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 52. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. September 1995 4467

Ilse Janz (SPD): Ja, wenn sie intelligent ist. Am liebsten hätte ich Ihnen gesagt, Herr Minister: Nun kommen Sie doch mal endlich in Schwung! (Heiterkeit bei der SPD - Lachen bei der Aber ich sage: Nun erklären Sie uns doch endlich, CDU/CSU und der F.D.P.) woher Sie dieses Geld nehmen wollen. (Jochen Borche rt [CDU/CSU] meldet sich zu einer Zwischenfrage - Horst Sielaff Jürgen Koppelin (F.D.P.): Frau Kollegin, sind Sie [SPD]: Jetzt kommt die Antwort!) bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß Bad Bramstedt - der Ort ist zum erstenmal im Bundestag genannt Denn öffentlich haben Sie uns wissen lassen, daß es worden; darüber freue ich mich - zwar mein Wohnort auf keinen Fall aus dem Agraretat geschehen soll. ist, daß ich aber an der Nordseeküste geboren und Das kann ich gut nachvollziehen, denn er ist schon dort aufgewachsen bin? Vielleicht kennen Sie die ziemlich abgespeckt worden. Gegend um Büsum und Wesselburen. Ich bin also Dithmarscher durch und durch und verstehe etwas Gestatten Sie vom Küstenschutz. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: eine Zwischenfrage?

Ilse Janz (SPD): Darüber freue ich mich sehr. Ich Ilse Janz (SPD): Ich würde diesen Punkt gern zu- hoffe, daß Sie uns unterstützen, wenn wir in den erst zu Ende bringen, damit er überhaupt weiß, was Haushaltsberatungen die Forderung erheben, die ich sage. Er weiß es noch gar nicht. Haushaltsansätze in diesem Bereich anzuheben. (Jürgen Koppelin [F.D.P.]: Wir ahnen es!) (Beifall bei der SPD - Hans-Ulrich Köhler Nun werden also angeblich unterschiedliche Lö- [Hainspitz] [CDU/CSU]: Nur, wenn sie intel- sungsmodelle beraten, einmal die von den Landwir- ligent ist!) ten bevorzugte Lösung mit 2 % Vorsteuer, aber auch die Umleitung von Haushaltsmitteln anderer Res- Ich will hier aber auch noch etwas zu anderen sorts. Ich könnte mir das Theater ganz gut vorstellen; Haushaltsrisiken, z. B. zum nationalen Verlustaus- persönlich erleben möchte ich es nicht. gleich für die Aufwertung des sogenannten grünen Kurses sagen. Auf dieses Haushaltsrisiko, Herr Mi- Herr Minister, Sie wissen genau, daß die Zeit nister Borche rt, haben wir Sie, wie Sie wissen, nicht drängt. Ich kann Sie nur davor warnen, uns nicht am Tage der Haushaltsberatung im Haushaltsausschuß zum erstenmal angesprochen. In der vergangenen- Legislaturperiode, auch zum Haushalt 1995, sind Sie ein Papier auf den Tisch zu legen, über das wir dann von der sozialdemokratischen Fraktion wiederholt sofort entscheiden sollen. auf dieses Risiko aufmerksam gemacht worden. (Horst Sielaff [SPD]: Das Sie nicht mal vor her lesen konnten!) Ich habe mir die Mühe gemacht, Ihre, ich muß zu- geben: etwas lapidaren, Antworten dazu nachzule- Aber vielleicht ist dies ein Grundsatz von Ihnen: In sen. Deshalb wundert es mich überhaupt nicht, daß der Kürze liegt die Würze. Sie bis heute nicht vorbereitet sind und noch immer (Zurufe von der CDU/CSU: Stimmt! ) nicht wissen, wie Sie den deutschen Landwirten den Verlust ausgleichen können. Beim Redenhalten will ich Ihnen da gerne folgen, aber nicht bei politischen Entscheidungen. Ich finde, Die Deutsche Mark wurde ab dem 1. Juli 1995 um hier gilt es, sehr gründlich zu diskutieren, und das 2,23 % aufgewertet. EU 50 %, jeweilige nationale wollen wir Sozialdemokraten mit dem hier schon an- Hilfe bis zu 50 %: Das sind für uns ganz genau 207,39 gesprochenen Entwurf eines Rahmenkonzepts für Millionen DM. Diese Summe, so habe ich jedenfalls die Bundesforschungsanstalten in ihrem Geschäfts- nachlesen können, haben Sie den deutschen Bauern bereich auch tun. Er datiert vom 1. August, mir ist er auf ihrem Verbandstag in Friedrichshafen im Juli die- am 29. August zugestellt worden. Dazu haben Sie ses Jahres versprochen. Darauf warten sie nun. Es ist eben gesagt, das solle noch nicht entschieden wer- aber nicht so, Herr Borche rt, daß die Bauern nur auf den, aber es solle bereits im Haushaltsausschuß dar- diesen Ausgleich, zweimal 207,39 Millionen DM, über beraten werden. warten. Sie haben bereits in der Vergangenheit wäh- rungspolitisch bedingte Einkommensverluste von ca. So, wie Sie sich das vorgestellt haben, kann das 1 Milliarde DM gehabt. nicht angehen. Man gaukelt uns vor, es handele sich um einen Entwurf, aber gleichzeitig wollen Sie hier- Somit ist noch nicht einmal die Hälfte der Verluste mit schon Entscheidungen treffen. Das werden wir ausgeglichen. Daß damit die Bauern nicht zufrieden nicht mitmachen, Herr Minister. Sie haben bereits sind, wissen Sie auch. Der Deutsche Bauernverband eine Stelleneinsparung im Haushalt vorgesehen. Ich hat Demonstrationen angekündigt. Lediglich Ge- halte es für richtig, daß Sie endlich Stellung beziehen spräche mit dem Präsidenten des Bauernverbandes und sagen, wie es aussehen soll. vaten Kämmerlein reichen sicher nicht. im pri (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD sowie bei der Abg. Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Gestatten Sie NEN]) jetzt eine Zwischenfrage? 4468 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 52. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. September 1995

Ilse Janz (SPD): Nein, ich habe nur noch wenig Machen Sie einen vernünftigen Vorschlag, machen Zeit. Sie ein richtiges Konzept, sorgen Sie dafür, daß es in den Gremien und Personalräten abgestimmt wird, Weder den Agrarausschuß noch die Personalver- und legen Sie es bitte erst dann dem Haushaltsaus- tretung haben Sie bisher beteiligt, Herr Minister. schuß vor! Dann müssen Sie sich natürlich nicht wundern, wenn ein richtiges Theater entsteht. Danke. Ich bin von Ihnen eigentlich auch ziemlich ent- täuscht, Herr Minister, daß Sie ein so dünnes Papier (Beifall bei der SPD) haben rausgehen lassen. (Zustimmung bei der SPD) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Liebe Kollegin- Sie teilen nicht mit, wo Schwerpunkte liegen. Sie sa- nen und Kollegen, weitere Wortmeldungen liegen gen nicht, in welchen Bereichen es möglich ist, Insti- für die heutige Sitzung nicht vor. tute außerhalb des Bundes zu beauftragen. Sie sagen nicht, wie es sich rechnet, und Sie sagen auch nicht, Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun- wo ein finanzieller Vorteil liegt und wo die Freiheit destages auf morgen, Freitag, 8. September 1995, der Forschung bleibt. Das sind Fragen, Herr Minister, 9 Uhr ein. die Sie erst einmal in Ihrem Ressort klären müssen, bevor Sie damit nach dem Rasenmäherprinzip umge- hen. Das ist etwas, was die Sozialdemokratische Par- Ich wünsche Ihnen einen schönen Abend. Die Sit- tei nicht mitmachen wird. zung ist geschlossen. (Beifall bei der SPD) (Schluß der Sitzung: 19.58 Uhr) Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 52. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. September 1995 4469*

Anlage zum Stenographischen Bericht

Anlage entschuldigt bis Abgeordnete(r) einschließlich Liste der entschuldigten Abgeordneten Lotz, Erika SPD 7.9.95 entschuldigt bis Abgeordnete(r) einschließlich Lüth, Heidemarie PDS 7.9.95 Neuhäuser, Rosel PDS 7.9.95 Adler, Brigitte SPD 7.9.95 Neumann (Berlin), Ku rt SPD 7.9.95 Behrendt, Wolfgang SPD 7.9.95 * Dr. Protzner, Bernd CDU/CSU 7.9.95 Fischer (Unna), Leni CDU/CSU 7.9.95 Schätzle, Ortrun CDU/CSU 7.9.95 Frick, Gisela F.D.P. 7.9.95 Schenk, Christa PDS 7.9.95 Grießhaber, Rita BÜNDNIS 7.9.95 90/DIE Schewe-Gerigk, BÜNDNIS 7.9.95 GRÜNEN Irmingard 90/DIE GRÜNEN Heym, Stefan PDS 7.9.95 Schmidt (), SPD 7.9.95 Hörsken, Heinz-Adolf CDU/CSU 7.9.95 Ursula Hoffmann (), SPD 7.9.95 Schmitt (Langenfeld), BÜNDNIS 7.9.95 Jelena Wolfgang 90/DIE Horn, Erwin SPD 7.9.95 GRÜNEN Dr.-Ing. Jork, Rainer CDU/CSU 7.9.95 Schultz (Everswinkel), SPD 7.9.95 Reinhard Dr. Klaußner, Bernd CDU/CSU 7.9.95 Dr. Schwaetzer, Irmgard F.D.P. 7.9.95 Dr. Knake-Werner, PDS 7.9.95 Heidi Simm, Erika SPD 7.9.95 Dr. Köster-Loßack, BÜNDNIS 7.9.95 Stübgen, Michael CDU/CSU 7.9.95 Angelika 90/DIE Thieser, Dietmar SPD 7.9.95 GRÜNEN Tröscher, Adelheid SPD 7.9.95 Leidinger, Robert SPD 7.9.95 Wieczorek-Zeul, SPD 7.9.95 Lemke, Steffi BÜNDNIS 7.9.95 Heidemarie 90/DIE GRÜNEN Lengsfeld, Vera BÜNDNIS 7.9.95 90/DIE • für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Ver- GRÜNEN sammlung des Europarates