Wir brauchen die SPD zurück für die Verteidigung der Lebensinteressen der ArbeitnehmerInnen und Jugend!

Liebe Genossinnen und Genossen, liebe Kolleginnen und Kollegen, Die selbsternannte Führungsriege tourt durchs Land. Ihr Credo ist eindeutig: „Wir blicken auf elf Jahre zurück, in denen wir in Deutschland erfolgreich Regierungsverantwortung wahrgenommen haben“, (Leitantrag für den Parteitag in Dresden). „Erfolgreich“? Für wen? „Doch nach dem Wahldesaster sind die Genossen schwer zu beruhigen. Vor allem die Rente mit 67 und Hartz IV bringen die Gemüter in Wallung“, resümiert die heutige RP eine der Veranstaltungen von Nahles/Gabriel. Kein Wunder: Mit diesem „Weiter so“ ist kein Neuanfang denkbar. Deshalb ist es richtig, wenn Genossen wie Uli Kissels sagen, sie werden die SPD „nicht diesen Leuten überlassen“. Denn angesichts der Landtagswahl in NRW stellt sich die zentrale Frage, die die Genossen Frey und Paternoga aufwerfen: Wie können wir als Sozialdemokraten und Gewerkschafter eine schwarz-gelbe Regierung mit einer SPD-Führung bekämpfen, die selbst die Voraussetzungen dafür geschaffen hat, dass Merkel/Westerwelle jetzt zu den brutalen Schlägen ausholen können? Eine Frage, die auch am 8.11. in Kassel diskutiert werden muss. Wir drucken die Einladung nachfolgend ab. Schließlich veröffentlichen wir den Brief von , die eintritt für die „programmatische Neufundierung sozialdemokratischer Politik“ und einen Artikel von , der eine „selbstkritische Bestandsaufnahme über die Inhalte und die Methoden der SPD-Politik ohne falsche personelle Rücksichtnahme“ fordert.

Düsseldorf, 31. Oktober 2009 H.-W. Schuster * * * *

Unterstützt die Erklärung »Wir brauchen die SPD zurück – für die Verteidigung der Lebensinteressen der ArbeitnehmerInnen und Jugend!«

• Ein wirklicher Neuanfang verlangt, dass der Partei mit ihren Mitgliedern auf allen Ebenen die volle Souveränität zurückgegeben und ein Bundesparteitag auf der Grundlage der freien Diskussion innerhalb der Partei und mit den ArbeitnehmerInnen, den gegenwärtigen und ehemaligen WählerInnen und Mitgliedern vorbereitet wird! • Wir lehnen es ab, dass die SPD durch die Selbsternennung von Steinmeier und des Fünfergespannes Gabriel, Nahles, Kraft, Scholz und Wowereit zur „erneuerten” Fraktions - und Parteiführung wieder vor vollendete Tatsachen gestellt und versucht wird, ihr die bisherige verheerende Politik aufzuzwingen. • Die wirkliche Erneuerung der Führung der SPD auf allen Ebenen kann nur hervorgehen aus jenem demokratischen Diskussionsprozess über die Bilanz der verhängnisvollen Schröder-Agenda-Politik und der Verpflichtung der SPD auf die Politik, die der SPD wieder ihren Platz an der Seite der großen Mehrheit der Bevölkerung, der ArbeitnehmerInnen und der Jugend zurückgibt. Name Adresse (auch Fax/E-Mail) Org./Funkt. Unterschrift

Zusendung an Kontaktadresse

Der Rundbrief wird herausgegeben von: Henning Frey (NRW), Mitglied der SPD und der GEW, Klaus Schüller (Thüringen), stellv. AfA-Landesvorsitzender, Transnet, Mitherausgeber der Zeitung »Soziale Politik & Demokratie«, H.-W. Schuster, Mithrsg. »Soziale Politik & Demokratie«, AfA-Unterbezirksvorsitzender in Düsseldorf, ver.di-Vertrauensmann, Klaus Amoneit, SPD-OV Vorstand Bochum-Hamme, Matthias Cornely, 444 Betriebsratsvorsitzender, IG Metall Delegierter v.i.S.d.P.: Henning Frey, Gleueler Str. 67, 50931 Köln Zusendungen bitte an [email protected] oder [email protected] oder grotjohann.schuster@t- online.de oder [email protected] oder [email protected] ______Rundbrief Nr. 4 ______

Z U S C H R I F T E N „...werde wieder eintreten, weil ich die SPD nicht diesen Leuten überlassen möchte“ erklärt Genosse Uli Kissels aus Köln:

Dass ich heute bereits den ersten Rundbrief Unterschlagung zweier Nein-Stimmen bei einer bekommen habe, finde ich gut. Wahl, hätte ich sicher verschmerzt. Auf der Ich kann denen, die geschrieben haben nur anderen Seite zeigt er allerdings, wie die SPD recht geben. Was wir erleben ist ein weiter so. selbst auf untersten Ebene mit ihren Eine nicht wieder gewählte Bundestagsabge- Mitgliedern umgeht. Siehe oben. ordnete hat in einem Gespräch das bestätigt, Den "gut" gemeinten Rat: wegen sowas tritt was ich schon vor Jahren gesagt habe: Die SPD man von seinem Amt zurück, nicht aber aus der braucht keine Mitglieder. Sie bleiben am Partei aus. Ich habe lange über diesen Satz liebsten unter sich, genügen sich selber als nachgedacht und werde wieder eintreten, weil Funktionäre. ich die Sozialdemokratische Partei nicht diesen Ich teile mit den Schreibern die Auffassung, Leuten überlassen möchte, auch wenn ich nur dass sich mit Steinmeier, Gabriel, Müntefering, ein kleines Sandkorn sein kann. Aber kann Nahles … und wie sie alle heißen, nichts ändern nicht schon ein einzelnes Sandkorn eine wird. Maschine empfindlich stören? Und ich weiß, Wut und Verzweiflung waren der eigentliche ich bin ja nicht alleine. Grund für mich, im Januar meinen Beisitz im Mit solidarischem Gruß Ortsverein Lindenthal aufzugeben und aus der Partei auszutreten. Den konkreten Anlass, Uli Kissels

Der folgende Diskussionsbeitrag von Henning Frey (SPD, GEW) und Paul Paternoga (SPD, IGM) antwortet auf »Gabriels Brief an die Genossen«, veröffentlicht in der »Süddeutschen Zeitung« vom 21.10.2009: Unterzeichnet den Aufruf »Wir brauchen die SPD zurück - für die Verteidigung der Lebensinteressen der ArbeitnehmerInnen und der Jugend!«

Liebe Kolleginnen und Kollegen, von an einige Ortsvereine lesen, Liebe Genossinnen und Genossen, der von der Süddeutschen Zeitung veröffent- licht wurde. Mit diesem Brief hat sich zum ers- wir haben uns in den zurückliegenden vier ten Mal jemand aus dem Fünfergespann, das Wochen seit dem 27. September mit der Unter- für sich künftig die Führung der Partei bean- stützung und Verbreitung des Aufrufs "Wir sprucht, an die neuentdeckte "Basis" gewandt. brauchen die SPD zurück!" so, wie viele andere Genossinnen und Genossen auch, für eine Sigmar Gabriel sieht sich ganz offensichtlich wirkliche freie und offene Diskussion in der dazu berufen, nachdem er über Jahre hinweg SPD ohne Vorgaben und Vorentscheidungen, Teil der SPD-Führung unter Schröder und für die Erneuerung der Partei von unten bis Müntefering ist, sich an die Spitze der "Erneue- oben und den vollständigen Bruch mit der 11- rungsbewegung" der SPD zu schwingen; ohne jährigen Regierungspolitik der SPD unter einen Anflug von Eingeständnis dessen, dass er Schröder, Müntefering und Steinmeier einge- eine Mitverantwortung dafür trägt, dass sich setzt. Millionen von Arbeitnehmern und SPD-Wäh- lern von unserer Partei abgewandt haben. Wie sicherlich viele von Euch auch konnten wir nur mit Verwunderung und Staunen den Brief In dem Jahr, wo wir zum 20. Mal den Sturz der ______Rundbrief Nr. 4 ______

Mauer im Herbst '89 feiern, müssen wir beim dersprochen hat? Lesen des Briefs von Sigmar Gabriel unwillkür- lich denken: Hier spricht ein Wendehals! Wie soll man mit einem Wowereit einen Rütt- gers bekämpfen können, wenn Wowereit mit Die schwarz-gelbe Regierungskoalition hat seiner arbeitnehmerfeindlichen und gewerk- jetzt die Pläne für ihre sozialen Grausamkeiten, schaftsfeindlichen Politik gegen die Berliner für die endgültige Zerschlagung der paritätisch Landesbeschäftigten noch über das hinaus finanzierten sozialen Sicherungssysteme und geht, was sich Rüttgers hier in NRW leistet? für die Plünderung der öffentlichen Haushalte vorgelegt. Vor allem aber lässt sie den Unter- Wie soll unsere Partei Ansehen und Vertrauen nehmern, den „Investoren“ und Konzernen bei den Arbeitnehmern, bei ihren jetzigen und freie Hand bei der Beschleunigung der Arbeits- früheren Wählern, bei ihren noch und ihren platzvernichtung. Quelle ist ein Alarmsignal: ehemaligen Mitgliedern zurückgewinnen kön- Die Entlassungswelle rollt und sie betrifft uns nen, solange diejenigen an der Spitze noch im- alle! mer das Ruder in der Hand halten, die die Agenda-Politik zu verantworten haben? Die Wir wissen, welche Herausforderung das für Arbeitnehmerschaft, die Gewerkschaften, die unsere Partei bedeutet. Die erste Nagelprobe Mitgliedschaft unserer Partei weiß, dass es mit wird die Landtagswahl am kommenden 9. Mai ihnen keinen Neuanfang geben kann. in Nordrhein-Westfalen sein, wo die Regierung Rüttgers gestürzt werden muss! Gabriel will im Frühjahr auf einer Kreis- und Unterbezirkskonferenz der SPD die Diskussion Doch wie können wir als Sozialdemokraten an der Basis zur Bilanz des Wahldebakels am und Gewerkschafter eine schwarz-gelbe Regie- 27.9. zusammenfassen. Damit gesteht er rung mit einer SPD-Führung bekämpfen, die gleichzeitig ein, dass der Parteitag am 13. selbst die Voraussetzungen dafür geschaffen November nicht auf der Grundlage einer hat, dass sich Merkel und Westerwelle diese solchen breiten Diskussion und eines Mandates Maßnahmen zum Ziel setzen können? aus der Partei heraus stattfindet. Dennoch wagt er es, sich selbst zum Vorsitzenden wäh- Wie sollen wir die Pläne zur Einfrierung der len zu lassen. Arbeitgeberbeiträge zur gesetzlichen Kranken- versicherung und zur Erhöhung der Zusatzbei- Angesichts dessen können wir nur die Ankün- träge für die Arbeitnehmer mit einem Stein- digung von Andrea Ypsilanti begrüßen, unter meier, einem Gabriel oder einer Nahles be- diesen Bedingungen nicht wieder für den Bun- kämpfen? Diejenigen, die als Minister der Gro- desvorstand zu kandidieren. Denn sie hat ßen Koalition oder als stellvertretende Partei- Recht, wenn sie sagt, dass es mit einer Führung vorsitzende der SPD den Gesundheitsfonds keine Zusammenarbeit geben kann, die nicht zusammen mit der Möglichkeit der Erhebung bereit ist, die Verantwortung der von ihr vo- von Arbeitnehmer-Zusatzbeiträgen beschlos- rangetriebenen Agenda-Politik für die Absage sen haben und vor einem Jahr sich weigerten, von Millionen von Arbeitnehmern an die SPD den gesetzlichen Krankenkassen und den anzuerkennen. Krankenhäusern die von Hunderttausenden Beschäftigten des Gesundheitswesen geforder- Hermann Scheer, der mit derselben Begrün- ten ausreichenden Mittel zur Verfügung zu dung wie Andrea Ypsilanti nicht wieder für den stellen. Vorstand kandidiert, und laden zu einem Basisratschlag am 8.11. nach Wie wollen wir mit einem und einer Kassel ein. Hannelore Kraft Opel den Händen von GM, Das ist ein richtiger Schritt in die richtige Rich- Magna und der EU-Kommission entreißen tung. können, die wechselseitig danach trachten, wie möglichst viele Arbeitsplätze und Werke bei Zahlreiche Genossinnen und Genossen haben diesem Autohersteller vernichtet werden kön- mit ihrer Unterschrift unter den Aufruf "Wir nen, nachdem der Erstere sich in seiner Eigen- brauchen die SPD zurück!" in den letzten Tagen schaft als Arbeitsminister geweigert hat, Opel erklärt, dass Müntefering, Steinmeier und und alle Arbeitsplätze unter politischen Schutz Steinbrück und die anderen Mitglieder der en- zu stellen und die Letztere ihm dabei nicht wi- geren Parteiführung, die die Verantwortung für ______Rundbrief Nr. 4 ______die verheerende Agenda-Politik tragen, davon- Gabriel, Steinmeier, Nahles, Wowereit und gejagt werden müssen. Kraft können wir mit ihrer Selbstproklamation und mit ihrem Parteitag nur eine Absage er- Zeigen der Brief von Sigmar Gabriel, die Art teilen! und Weise wie der Bundesparteitag vorbereitet wird, die erneute Ausschaltung der innerpar- Unterzeichnet dafür den Aufruf "Wir brauchen teilichen Demokratie bei der Bestimmung der die SPD zurück - für die Verteidigung der Le- Führung unserer Partei nicht, dass es ohne bensinteressen der ArbeitnehmerInnen und diese Voraussetzung nicht geht? der Jugend!"

Köln, Siegburg, 31.10.2009

Einladung zu einem bundesweiten Basis-Ratschlag am 8.11.09 in Kassel: Die SPD wieder stark machen!

Die SPD wieder stark machen! Ausklammern elementarer strategischer Zu- Ein Jahrzehnt anhaltender Basta- und Abnick- kunftsfragen. Politik hat zu einem anhaltenden Niedergang der SPD geführt, bis zum historischen Debakel Deshalb laden wir zu einem bundesweiten Ba- der Bundestagswahl. sis-Ratschlag ein. Der Ratschlag ist kein Flügel- Obwohl nach der Wahlniederlage allen klar ist treffen! Er findet statt und allenthalben versichert wird, dass es kein Sonntag, 8. November 2009 "weiter so" geben dürfe, geschah nach der 11-16 Uhr Bundestagswahl genau das: Ein überfallartiger Lichthof Tagungszentrum Ringtausch des Führungspersonals, abge- Im Kulturbahnhof Kassel stimmt zwischen einigen Sprechern der Partei- (Bahnhofsplatz 1, 34117 Kassel) flügel und hernach abgesegnet vom Parteivor- stand - ohne jede Atempause. Darüber wollen wir auf dem Basistreffen spre- chen: Zu befürchten ist, dass die überfällige Selbstbe- sinnung der SPD auf ihre Identität als Trägerin - Was muss bewahrt und wiederbelebt, was der für die Gesellschaft unverzichtbaren sozi- korrigiert und neu gestaltet werden? aldemokratischen Idee und Praxis erneut ver- - Für welche Werte und Interessen steht die nachlässigt wird. 1998 wurde die SPD von 20 SPD und welche gesellschaftlichen und Millionen Wählern für ihre Kompetenz in öko- politischen Allianzen brauchen wir? nomischen und umweltpolitischen wie in Fra- - Wie kann die SPD redemokratisiert wer- gen der sozialen Gerechtigkeit gewählt. Heute den? haben wir die Glaubwürdigkeit auf beiden Fel- dern und die Hälfte dieser Wähler verloren. Die Einleitende Kurzvorträge zum Diskussionsan- entscheidende Frage ist, wie das geschehen stoß halten: konnte und wie wir ökonomische und soziale - Rudolf Dressler Glaubwürdigkeit wiedergewinnen. - Stefan Grönebaum - Johano Strasser Die Gesamtheit der Mitglieder braucht eine - Andrea Ypsilanti schonungslos offene Aussprache, die nicht schon wieder mit dem vordergründigen Argu- Alle an der Zukunft der SPD interessierten Ge- ment unterlassen werden darf, dass dies das nossinnen und Genossen, sind herzlich einge- Führungspersonal beschädigen würde. Die laden. Und vor allem: Mailt dieses Schreiben an Privatisierung der Partei durch einzelne Per- andere Genossinnen und Genossen als Ketten- sonen an der Spitze muss ebenso überwunden mail weiter! werden wie die Vorbestimmung ihrer Willens- Bitte bringt euer Parteibuch mit, die Veranstal- bildung über den Umweg der Medien und das tung ist parteiintern und nicht öffentlich. ______Rundbrief Nr. 4 ______

Einlader/innenkreis (in alphabethischer Rei- Scheer MdB , Werner Schieder MdB, Ottmar henfolge): Katrin Altpeter MdL, Friedhelm Ju- Schreiner MdB, Rüdiger Veit MdB, Wolfgang lius Beucher, Pascal Barthel, Peter Conradi, Wodarg MdB Timon Gremmels, Stephan Grüger, Jörg Jordan, Eckard Kuhlwein, MdB, Organisation: Stephan Grüger, Rotdornstr. 7, Marko Mühlstein, Regine Müller MdL, Hermann 35759 Driedorf, E-Mail: [email protected] www.spd-von-unten.de

D O K U M E N T E

Brief von Andrea Ypsilanti an die Mitglieder des hessischen SPD-Vorstandes und des SPD-Parteivorstandes

Wiesbaden, 22.10.2009 zukunftsfähige und glaubwürdig praktizierte sozialdemokratische Gestaltungskraft braucht - Liebe Genossinnen, liebe Genossen, und diese ausgerechnet bei der SPD vermisst. hiermit teile ich Euch mit, dass ich auf dem Es geht um die substantielle Identität als linke kommenden SPD-Bundesparteitag in Dresden Volkspartei. nicht wieder für den Parteivorstand kandidie- ren werde. Ich will deshalb künftig unabhängig von aktu- ellen Führungsgremien für die programmati- Gleichwohl erachte ich als wichtig und not- sche Neufundierung sozialdemokratischer Poli- wendig für die Bundespartei, dass der hessi- tik wirken. Wo gewollt und erwünscht bin ich sche Landesverband und seine politischen Po- gerne bereit, meine Erfahrungen und Erkennt- sitionen im Vorstand der Bundespartei ange- nisse einzubringen. Mein Beitrag wird die Wei- messen vertreten sind. Daher setze ich mich für terentwicklung des politischen Grundansatzes die Wiederwahl von Gernot Grumbach und für eine „Soziale Moderne“ sein, mit dem wir in Manfred Schaub für den Bundesvorstand ein. Hessen 2008 den größten Wahlerfolg der SPD Der Landesvorsitzende der hessischen SPD seit 2002 errangen und – über die Wiederge- Thorsten Schäfer-Gümbel sollte nach meiner winnung und Neumotivierung unserer Überzeugung zukünftig sowohl im Bundesvor- Stammwähler hinaus –viele neue Wähler in der stand als auch im Präsidium eine Stimme ha- jungen Generation und aus dem progressiven ben. Bürgertum gewinnen konnten.

Meinen Entschluss, nicht mehr zu kandidieren, Ein weiterer politischer Grund: Mitte der 80er begründe ich: Jahre wurde Holger Börner bei seinem ersten Es ist in erster Linie eine ideelle und geistige rot-grünen Experiment in Hessen, das er zuvor Herausforderung für die SPD, neue Zustim- rundweg ausgeschlossen hatte, vom gesamten mung von innen und außen erwirken zu kön- SPD-Präsidiums um , Johannes nen. Die bloße Auswechslung der jeweiligen Rau und Jochen Vogel unterstützt. Heute ist Parteiführung ist kein Ersatz dafür, wie das Rot-Grün längst politische erprobte Praxis. Die sich laufend schneller drehende Personalka- hessische SPD und insbesondere ich als Person russell der SPD belegt. Dass sich dennoch wurden hingegen systematisch von denen dis- selbst nach dem weiteren Tiefschlag in der kreditiert, die mit inhaltlichen Wortbrüchen Bundestagswahl die Aufmerksamkeit auf den (Teile der Agenda 2010, Mehrwertsteuererhö- Ebenen der Parteiführung darauf fixierte, zeigt hung etc.) zum Identitätsverlust der SPD und in erneut in hohem Maße das analytische Defizit. der Folge zu hunderttausenden Parteiaustrit- So kann keine angemessene Antwort auf den ten und serienmäßigen Wahlniederlagen beige- elementaren Widerspruch gefunden werden, tragen haben. Die dafür Verantwortlichen der dass unsere Gesellschaft mehr denn je eine Bundespartei haben allerdings bis heute ihre ______Rundbrief Nr. 4 ______

Rolle bei den dramatischen Ereignissen in Hes- meine Führungsämter niedergelegt – während sen im letzten Jahr nie selbstkritisch reflektiert. andere eher die moderne Form der Verantwor- tungsübernahme vorziehen, nämlich in einem Dabei wäre es durchaus einer Diskussion wert Führungsamt zu bleiben oder nahtlos ein neues gewesen, das hessische Modell der Tolerierung anzustreben. Der offenkundig doppelte Maß- durch die Linkspartei auch als Chance zu be- stab zwischen unverzeihlichen und verzeihli- greifen, strategische demokratische Zukunfts- chen Fehlern ist nicht nur willkürlich und optionen zu testen. Eine funktionierende sozi- selbstgerecht, sondern belastet jede Atmo- aldemokratische Politik in Hessen hätte auch sphäre. für die Bundesebene dokumentieren können: Eine andere Politik ist möglich. Zumindest aber Mein Entschluss fällt mir nicht leicht. Ich hätte es im Interesse der gesamten Partei gele- konnte jedoch aus den oben genannten Grün- gen, die Gründe wahrzunehmen, warum unser den keine andere Entscheidung fällen. Ich bitte inhaltlich prägnanter Wahlkampf zu einem alle um Verständnis, die diesen bedauern. Bei Wählerzuwachs geführt hat, der der Partei an- denen, die mich in den letzten Jahren solida- dernorts und auf Bundesebene in den letzten risch und kritisch begleiteten, möchte ich mich Jahren versagt blieb. Da dieses Überdenken bis ausdrücklich bedanken. Es ist für mich kein heute nicht einmal ansatzweise stattgefunden Rückzug aus der Politik der SPD, zumal ich hat, ist mir eine unbefangene Zusammenarbeit Landtagsabgeordnete bin und bleibe. Ich mit den jeweiligen im Führungsgremium der schließe auch eine erneute Kandidatur für den SPD vertretenen Personen gegenwärtig nicht SPD-Bundesvorstand in mittlerer Zukunft nicht möglich. aus.

Ich bin stets offen und öffentlich für meine Mit solidarischen Grüßen Standpunkte eingetreten, auch für dabei un- Andrea Ypsilanti terlaufene Fehler. Für meinen Part habe ich die Verantwortung in Hessen übernommen und

Gastbeitrag von Hermann Scheer im »Stern«

Schluss mit der Basta-SPD!

Trümmerfeld SPD - nach dem 23-Prozent-De- vieler Menschen, die als Hartz IV-Empfänger bakel müssen Konsequenzen gezogen werden, von Kopf bis Fuß finanziell durchleuchtet wur- schreibt SPD-Vorstand Hermann Scheer in ei- den. Andererseits gab es auch eine Senkung nem Gastbeitrag für stern.de : Schluss mit dem des Spitzensteuersatzes und der Unterneh- Gemauschel, Schluss mit den Basta-Ansagen, menssteuern noch unter Rot-Grün, ohne dass Schluss mit der Angst vor linker Politik. die damit verbundene Erwartung Realität wurde, dass dann die Investitionen sprudeln Es ist nicht besonders schwer zu erkennen, würden - stattdessen wurde die Gerechtig- welche äußeren Faktoren den Absturz der SPD keitslücke größer. herbeiführten. Er deutete sich ja bereits jahre- lang an. Die Strategen der SPD wollten kein Der Wahlerfolg im Januar 2008 und die ge- "linkes Lager", als sich das "rechte Lager" von plante Regierungsübernahme in Hessen war Union und FDP längst wieder gebildet hatte. Sie vom rechten Parteiflügel erkennbar nicht ge- wollten die Große Koalition, ohne es zu sagen, wünscht, weil Andrea Ypsilanti für ein anderes und bewarben sich öffentlich als Freier der SPD-Profil stand. Ihr Wortbruch, nicht mit der FDP, die zugleich als neoliberaler Horror ge- Linkspartei zu kooperieren, wurde von densel- brandmarkt wurde. Die Hartz-Gesetze wurden ben als unverzeihlicher Sündenfall skandali- noch selbstherrlich als historisches Verdienst siert, die 2005 gleich zwei Wortbrüche begin- und Erfolg gepriesen, als der Bedarf nach Kor- gen: Keine Große Koalition einzugehen und die rekturen längst erkannt war und solche schon "Merkelsteuer" zu verhindern. (...) eingeleitet wurden. Es gab eine mangelnde Sensibilität gegenüber dem verletzten Stolz ______Rundbrief Nr. 4 ______

Die Konsequenz aus 20 verlorenen Wahlen Willen von Fraktion und Partei durchgedrückt Zu viele Widersprüche auf einmal, die erken- werden, werden dann auch von den Abgeord- nen lassen: Die SPD ist nicht mehr bei sich neten in ihren Wahlkreisen nicht mehr vertre- selbst. So entstanden die Fadenrisse zwischen ten. So verdorrten die Wurzeln der SPD, denen der Regierungs-SPD und ihren Mitgliedern so- die SPD-Regierung ihre Position und Machte wie zwischen der SPD und ihren Wählern, die verdankte. sich in alle Himmelsrichtungen verstreuten. Es war ein langer Prozess, der schon kurz nach Diese Methode "modernen Regierens" über- der Wahl 1999 begann, bis zum vorläufig bitte- sieht, dass allein das formale Durchsetzen von ren Ende. (...) Vorgaben durch Loyalitätsverlangen zwar ei- nige Zeit ausreichen mag, um Entscheidungen Doch warum wurden die vielen Signale aus 27 herbeizuführen. Aber die Legitimation geht Wahlen seit der Bundestagswahl 2002 nicht dabei verloren, die auf Identifizierung und in- wirklich beachtet? 20 von den 27 Wahlen en- nerer Übereinstimmung beruht. Dass dies die deten mit Minuswerten und nur sieben mit SPD mehr als andere mit mehr Wucht getroffen meist geringen Pluswerten für die SPD. Der hat, erklärt sich nicht nur aus der elfjährigen Länder-Tiefpunkt seit 2002 war das nieder- Regierungsverantwortung, sondern aus einem sächsische Wahldebakel Sigmar Gabriels im unter SPD-Mitgliedern und -Wählern durch- Februar 2003 mit einem Verlust von 14,5% - schnittlich höherem Demokratiebewusstsein. sogar noch ohne neue Konkurrenz von links. Dies kollidierte zunehmend mit der Erwartung, Der einzige wirkliche Ausreißer nach oben war die eigenen Mandats- und Funktionsträger soll- die hessische Landtagswahl am 28. Januar ten bitteschön die Erfolge des Regierungshan- 2008 mit einem Zugewinn von 7,6%, trotz delns preisen und über Fehler und Misserfolge neuer linker Konkurrenz - nicht zufällig errun- gefälligst schweigen, also der höheren Weisheit gen mit einem politischen Profil, das sich in ihrer Regierungsmitglieder und Parteiführung seinen Eckpunkten von der Bundespartei folgen sollen. deutlich unterschied und konfliktbereit erstrit- ten wurde. Mehr Demokratie wagen Basta-Politik funktioniert stets nur, wenn diese Die Partei als lästiges Beiwerk auch tatsächlich abgenickt wird. Die Revitali- Der tiefere Grund der mangelnden Sensibilität sierung der SPD wird nur gelingen, wenn das gegenüber den selbstproduzierten Widersprü- Abnicken beendet wird. Die SPD muss vor al- chen liegt in der Methode des "modernen Re- lem in sich selbst wieder "mehr Demokratie gierens", die sich die SPD unter Gerhard Schrö- wagen" statt "mehr Demokratie zu vermeiden". der angeeignet hat: autokratisch, selbstgerecht, Basta mit "basta" und abnicken! Dazu gehört mit einer Ideologie der Ideologiefreiheit. (...) eine selbstkritische Bestandsaufnahme über die Inhalte und die Methoden der SPD-Politik Die verdorrten Wurzeln an der Basis ohne falsche personelle Rücksichtnahme. Dies Stets hieß es, Einwände oder Veränderungs- kommt selten von oben. Es muss von unten vorschläge gegenüber Regierungsvorlagen kommen. Nur so entsteht neue Motivation und würden das Ansehen des Kanzlers, des zustän- Kraft, die wieder zu einer tragfähigen demo- digen SPD-Ministers oder des Parteivorsitzen- kratischen Basis als Volkspartei führt, die die- den beschädigen. Ein Unfehlbarkeitsanspruch sen Begriff verdient. wurde erhoben, der oft genug in starkem Kon- trast zur Qualität der beschlossenen Maßnah- http://www.stern.de/politik/deutschland/gast men stand. Es ist diese Selbstherrlichkeit, die beitrag-schluss-mit-der-basta-spd- die SPD zu lähmen begann und ihre Mitglieder 1512817.html demotivierte, die sich zunehmend überflüssig Erscheinungsdatum: 9. Oktober 2009, 10:30 fühlten. Gesetze, die gegen den erkennbaren Uhr

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A U S D E R P R E S S E

FR-Podiumsdiskussion (Diskussionsveranstaltung von Deutschlandfunk und FR)

Die Arbeiterführerin

Von Andreas Kraft

(...) Geklatscht wird vor allem für Andrea Ypsilanti, etwa wenn sie dafür plädiert, die ewigen Koalitionsdiskussionen zu beenden und sich den Wählern zuzuwenden. "Es gibt eine riesige Lücke zwischen den Repräsentanten und den Repräsentierten" sagt sie. "Wir müssen wieder mehr hinhören."

Vielleicht hat sie es schon getan. Die uneingeschränkte Sympathie, die ihr an diesem Abend entgegenschlägt, legt es nahe. Vielleicht sind aber auch vor allem ihre Fans gekommen.

An Ulrike Merten, die Frank-Walter Steinmeier mit dem passenden Wahlergebnis am liebsten zur Verteidigungsministerin gemacht hätte, lassen die SPD-Anhänger von der Basis jedenfalls kein gutes Haar.

Etwa wenn sie sagt, sie sei davon überzeugt, die SPD habe unter Gerhard Schröder die richtigen Entscheidungen getroffen. Nur habe man die Partei zu wenig darauf vorbereitet.

Später, nachdem die Live-Übertragung beendet ist, meldet sich dazu aus dem Publikum ein Ex-Mitglied zu Wort: "Es ist das schlimmste, dass ich immer wieder hören muss, dass ich damals einfach zu dumm war, diese Politik zu verstehen."

Aber fraglich bleibt an diesem Abend vor allem, wie innerhalb der SPD jetzt neue Kompromisslinien gefunden werden sollen. So schlägt Erhard Eppler - einst der Säulenheilige der SPD-Linken - einen pragmatischen Kurs im Umgang mit der Linken vor: "Wir müssen schauen, mit welchen Partnern wir unsere Politik machen können", sagt er. "Und wenn das in Brandenburg die Linke ist" - das Publikum bleibt ruhig - "und in Thüringen die CDU" - das Publikum bekundet deutliches Missfallen - "dann ist das eben so."

Für einen Facharbeiter, der sich später zu Wort meldet, sind diese Koalitionsfragen eine rein "intellektuelle Diskussion". Für ihn ist klar: Die SPD müsste wieder die soziale Frage stellen und etwa die Tarifflucht über Zeitarbeit verhindern.

Die Partei wird sich mit solchen Fragen auseinandersetzen müssen, meint Ypsilanti. Und fordert eine Grundsatzdiskussion, um die "größte Krise der SPD seit 50 Jahren" (Eppler) zu überwinden.

(FR 29.10.2009)