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Plenarprotokoll 15/34

Deutscher

Stenografischer Bericht

34. Sitzung

Berlin, Mittwoch, den 19. März 2003

Inhalt:

Änderung und Erweiterung der Tagesordnung 2701 A Dr. CDU/CSU ...... 2740 C Nachträgliche Ausschussüberweisungen . . . . 2701 D Gerhard Rübenkönig SPD ...... 2741 B Steffen Kampeter CDU/CSU ...... 2743 D Tagesordnungspunkt I: fraktionslos ...... 2746 D Zweite Beratung des von der Bundesregie- Dr. Christina Weiss, Staatsministerin BK . . . 2748 A rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- Dr. CDU/CSU ...... 2749 C zes über die Feststellung des Bundeshaus- haltsplans für das Haushaltsjahr 2003 Günter Nooke CDU/CSU ...... 2750 A (Haushaltsgesetz 2003) Petra-Evelyne Merkel SPD ...... 2751 D (Drucksachen 15/150, 15/402) ...... 2702 B CDU/CSU ...... 2753 D 13. Einzelplan 04 Namentliche Abstimmung ...... 2756 A Bundeskanzler und Bundeskanzleramt Ergebnis ...... 2756 A (Drucksachen 15/554, 15/572) ...... 2702 B CDU/CSU ...... 2702 C 19. a) Einzelplan 15 Franz Müntefering SPD ...... 2708 A Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung CDU/CSU ...... 2713 A (Drucksachen 15/563, 15/572) ...... 2758 B Franz Müntefering SPD ...... 2713 D Dr. FDP ...... 2714 C b) Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/ SPD ...... 2718 B DIE GRÜNEN eingebrachten Ent- Hans-Christian Ströbele BÜNDNIS 90/ wurfs eines Gesetzes zur Änderung der DIE GRÜNEN ...... 2719 A Vorschriften zum diagnoseorientierten Fallpauschalensystem für Kranken- Dr. Guido Westerwelle FDP ...... 2719 C häuser – Fallpauschalenänderungs- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 2720 C gesetz (FPÄndG) (Drucksache 15/614) ...... 2758 B Dr. Wolfgang Schäuble CDU/CSU . . . . . 2724 D Dr. Michael Luther CDU/CSU ...... 2758 D Gerhard Schröder, Bundeskanzler ...... 2727 A Waltraud Lehn SPD ...... 2761 C Dr. Angela Merkel CDU/CSU ...... 2731 D Dr. CDU/CSU ...... 2761 D Franz Müntefering SPD ...... 2738 D Dr. Michael Luther CDU/CSU ...... 2763 B Dr. Ludger Volmer BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN ...... 2739 C Dr. Gesine Lötzsch fraktionslos ...... 2765 A II Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 34. Sitzung. , Mittwoch, den 19. März 2003

Waltraud Lehn SPD ...... 2765 C BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ...... 2803 A Dr. Dieter Thomae FDP ...... 2765 D

Birgitt Bender BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 2767 A 16. Einzelplan 23 Andreas Storm CDU/CSU ...... 2769 A Bundesministerium für wirtschaftliche Helga Kühn-Mengel SPD ...... 2771 A Zusammenarbeit und Entwicklung (Drucksachen 15/568, 15/572) ...... 2804 A FDP ...... 2772 D CDU/CSU ...... 2804 B Markus Kurth BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 2774 A Brigitte Schulte (Hameln) SPD ...... 2806 A Otto Fricke FDP ...... 2775 B Markus Löning FDP ...... 2808 C Markus Kurth BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 2775 C Thilo Hoppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 2809 D Annette Widmann-Mauz CDU/CSU ...... 2775 D Dr. CDU/CSU ...... 2811 B Ulla , Bundesministerin BMGS . . . . 2778 A Heidemarie Wieczorek-Zeul, Andreas Storm CDU/CSU ...... 2780 D Bundesministerin BMZ ...... 2813 C Dr. Gesine Lötzsch fraktionslos ...... 2781 B 17. Einzelplan 10 Wolfgang Zöller CDU/CSU ...... 2782 C Bundesministerium für Verbraucher- Horst Schmidbauer (Nürnberg) SPD ...... 2784 A schutz, Ernährung und Landwirtschaft (Drucksachen 15/560, 15/572) ...... 2816 C Zusatztagesordnungspunkt 1: CDU/CSU ...... 2816 C Antrag der Bundesregierung: Beteiligung (Neuruppin) SPD ...... 2819 C bewaffneter deutscher Streitkräfte an dem EU-geführten Einsatz auf mazedo- Jürgen Koppelin FDP ...... 2821 A nischem Territorium zur weiteren Sta- Franziska Eichstädt-Bohlig BÜNDNIS 90/ bilisierung des Friedensprozesses und DIE GRÜNEN ...... 2822 C zum Schutz von Beobachtern internati- onaler Organisationen im Rahmen der Julia Klöckner CDU/CSU ...... 2824 D weiteren Implementierung des politi- BÜNDNIS 90/DIE schen Rahmenabkommens vom 13. Au- GRÜNEN ...... 2827 B gust 2001 auf der Grundlage des Ersu- chens des mazedonischen Präsidenten Julia Klöckner CDU/CSU ...... 2827 D Trajkovski vom 17. Januar 2003 und Jella Teuchner SPD ...... 2828 B der Resolution 1371 (2001) des Sicher- heitsrats der Vereinten Nationen vom Julia Klöckner CDU/CSU ...... 2829 C 26. September 2001 (Drucksache 15/696) ...... 2785 D Jella Teuchner SPD ...... 2829 D Hans-Michael Goldmann FDP ...... 2830 A 15. Einzelplan 14 Matthias Weisheit SPD ...... 2831 D Bundesministerium der Verteidigung Ursula Heinen CDU/CSU ...... 2833 C (Drucksachen 15/562, 15/572) ...... 2786 A Waltraud Wolff (Wolmirstedt) SPD ...... 2835 C CDU/CSU ...... 2786 B Renate Künast, Bundesministerin BMVEL 2837 A Dr. Elke Leonhard SPD ...... 2789 C Günther Friedrich Nolting FDP ...... 2792 D 21. Einzelplan 16 BÜNDNIS 90/DIE Bundesministerium für Umwelt, GRÜNEN ...... 2794 C Naturschutz und Reaktorsicherheit (Drucksachen 15/564, 15/572) ...... 2840 B Ina Lenke FDP ...... 2796 B Nächste Sitzung ...... Winfried Nachtwei BÜNDNIS 90/DIE 2840 D GRÜNEN ...... 2796 B Christian Schmidt (Fürth) CDU/CSU ...... 2796 D Anlage 1 Dr. Peter Struck, Bundesminister BMVg . . . . 2800 A Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . 2841 A Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. März 2003 III

Anlage 2 BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ...... 2845 A Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung über den Entwurf eines Gesetzes über die Birgit Homburger FDP ...... 2846 D Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das Dr. Peter Paziorek CDU/CSU ...... 2847 B Haushaltsjahr 2003; hier: Ulrike Mehl SPD ...... 2848 A Einzelplan 16 – Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktor- Dr. Christian Eberl FDP ...... 2849 B sicherheit ...... 2841 B Dr. Klaus W. Lippold (Offenbach) CDU/CSU 2850 B (Tagesordnungspunkt I.21) SPD ...... 2851 D Albrecht Feibel CDU/CSU ...... 2841 B Georg Girisch CDU/CSU ...... 2853 B Elke Ferner SPD ...... 2842 C Jürgen Trittin, Bundesminister BMU ...... 2855 A

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. März 2003 2701

(A) (C) Redetext

34. Sitzung

Berlin, Mittwoch, den 19. März 2003

Beginn: 9.00 Uhr

Präsident : Rechtsausschuss Finanzausschuss Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Sitzung ist eröffnet. Landwirtschaft 3 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Aus- Interfraktionell sind für die verbundene Tagesordnung wärtigen Ausschusses (3. Ausschuss) zu dem Antrag der Bun- dieser Woche weitere Änderungen vereinbart worden: desregierung: Beteiligung bewaffneter deutscher Streit- kräfte an dem EU-geführten Einsatz auf mazedonischem Nach Einzelplan 04 – Bundeskanzleramt – soll zu- Territorium zur weiteren Stabilisierung des Friedenspro- nächst der Einzelplan 15 – Gesundheit und Soziale zesses und zum Schutz von Beobachtern internationaler Sicherung – beraten werden. Der Einzelplan 16 – Um- Organisationen im Rahmen der weiteren Implementie- welt – soll bereits heute als letzter Tagesordnungspunkt rung des politischen Rahmenabkommens vom 13. August aufgerufen werden. Der Einzelplan 05 – Auswärtiges 2001 auf der Grundlage des Ersuchens des mazedonischen Präsidenten Trajkovski vom 17. Januar 2003 und der Re- Amt – soll dafür erst am Donnerstag nach Einzelplan 09 solution 1371 (2001) des Sicherheitsrats der Vereinten Na- (B) – Wirtschaft und Arbeit – aufgerufen werden. tionen vom 26. September 2001 (D) Darüber hinaus soll die Tagesordnung um einige Zu- – Drucksachen 15/..., 15/... – satzpunkte erweitert werden, die aus der Ihnen vorlie- Berichterstattung: genden Zusatzpunktliste ersichtlich sind: ..... 1 Beratung des Antrags der Bundesregierung: Beteiligung bewaff- – Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss) gemäß neter deutscher Streitkräfte an dem EU-geführten Einsatz § 96 der Geschäftsordnung auf mazedonischem Territorium zur weiteren Stabilisierung – Drucksache 15/... – des Friedensprozesses und zum Schutz von Beobachtern Berichterstattung: internationaler Organisationen im Rahmen der weiteren ..... Implementierung des politischen Rahmenabkommens vom 13. August 2001 auf der Grundlage des Ersuchens des maze- Des Weiteren mache ich auf nachträgliche Überwei- donischen Präsidenten Trajkovski vom 17. Januar 2003 und sungen im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam: der Resolution 1371 (2001) des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen vom 26. September 2001 Der in der 31. Sitzung des Deutschen Bundestages – Drucksache 15/696 – überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätz- Überweisungsvorschlag: lich dem Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit Auswärtiger Ausschuss (f) und Entwicklung zur Mitberatung überwiesen werden. Rechtsausschuss Verteidigungsausschuss Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Steue- Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe rung und Begrenzung der Zuwanderung und zur Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Regelung des Aufenthalts und der Integration von Entwicklung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Unionsbürgern und Ausländern (Zuwande- Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO rungsgesetz) 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten , Klaus – Drucksachen 15/420, 15/522 – Brandner, , weiterer Abgeordneter und der Frak- tion der SPD sowie der Abgeordneten Michaele Hustedt, Ulrike überwiesen: Höfken, Friedrich Ostendorff, weiterer Abgeordneter und der Innenausschuss (f) Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Die Bestim- Rechtsausschuss mungen der Post-Universaldienstleistungsverordnung ver- Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit braucherfreundlich durchsetzen Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe – Drucksache 15/615 – Ausschuss für Bildung, Forschung und Überweisungsvorschlag: Technikfolgenabschätzung Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f) Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Innenausschuss Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO 2702 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. März 2003

Präsident Wolfgang Thierse (A) Der in der 28. Sitzung des Deutschen Bundestages Petra-Evelyne Merkel (C) überwiesene nachfolgende Antrag soll zusätzlich dem Alexander Bonde Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe zur Mitberatung überwiesen werden. Dr. Günter Rexrodt Jürgen Koppelin Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP: Für eine internationale Sicherheitsinitia- Es liegen ein Änderungsantrag der Fraktion der CDU/ tive für Nordostasien CSU, ein Änderungsantrag der Fraktion der FDP sowie ein Änderungsantrag der Abgeordneten Gesine Lötzsch – Drucksache 15/469 – (vom 18. Februar 2003) und Petra Pau vor. (Beratung 28. Sitzung am 20. Februar 2003, ZP 3 b) Ich weise darauf hin, dass wir im Anschluss an die Aussprache über den Einzelplan 04 namentlich abstim- überwiesen: men werden. Auswärtiger Ausschuss (f) Verteidigungsausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung die Aussprache vier Stunden vorgesehen. – Ich höre kei- Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Der in der 31. Sitzung des Deutschen Bundestages Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen überwiesene nachfolgende Antrag soll zusätzlich dem Michael Glos, CDU/CSU-Fraktion, das Wort. Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe zur Mitberatung überwiesen werden. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Antrag der Abgeordneten Sabine Leutheusser- Michael Glos (CDU/CSU): Schnarrenberger, Dr. Claudia Winterstein, Jürgen Türk, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und FDP: Das neue Gesicht Europas – Kernele- Herren! Der Deutsche Bundestag tritt heute in einer, wie mente einer europäischen Verfassung ich meine, weltpolitisch ernsten Stunde zusammen, um über den Etat des Bundeskanzlers, das heißt über die Po- – Drucksache 15/577 – litik der Bundesregierung, zu beraten. Wir wissen, dass überwiesen: die Lage im Irak sehr ernst ist. Wir hoffen bis zuletzt, Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union (f) dass es noch begreift; aber es ist furcht- Auswärtiger Ausschuss bar bedrückend, wenn man ohnmächtig zusehen muss, (B) Innenausschuss wie ein Krieg herannaht. (D) Rechtsausschuss (Lachen bei Abgeordneten der SPD und des Sind Sie mit den Vereinbarungen einverstanden? – Ich BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Wir alle wissen aber auch – ich glaube, in diesem Die genannten Umstellungen führen dazu, dass für Punkt ist sich der Deutsche Bundestag einig –: Die Men- Freitag vorerst keine Plenarberatungen vorgesehen sind. schen im Irak brauchen wieder Hoffnung auf eine bes- Angesichts der Entwicklungen im Irak können kurzfris- sere Zukunft. tige Änderungen jedoch nicht ausgeschlossen werden, sodass die Präsenzpflicht für Freitag zunächst bestehen (Beifall bei der CDU/CSU) bleibt. Sie haben genauso wie wir das Recht, in Freiheit zu leben. Wir setzen die Haushaltsberatungen – Tagesord- (Hubertus Heil [SPD]: Vor allen Dingen zu le- nungspunkt I – fort: ben! – Katrin Dagmar Göring-Eckardt [BÜND- Zweite Beratung des von der Bundesregierung NIS 90/DIE GRÜNEN]: Erst einmal zu leben!) eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das Uns alle eint selbstverständlich der Wunsch, dass das Haushaltsjahr 2003 (Haushaltsgesetz 2003) mit friedlichen Mitteln erreicht wird oder – so muss man inzwischen ehrlicherweise sagen – erreicht worden – Drucksachen 15/150, 15/402 – wäre. (Erste Beratung 14. Sitzung) Der Schlüssel zu einer friedlichen Lösung lag und Ich rufe dazu Tagesordnungspunkt I. 13 auf: liegt bei dem Diktator Saddam Hussein. Sein Regime trägt die Verantwortung dafür, dass zwei Angriffskriege Einzelplan 04 stattgefunden haben und dass gegenüber dem eigenen Bundeskanzler und Bundeskanzleramt Volk skrupellos Gewalt angewendet worden ist. Wir wissen auch, dass sich der Diktator seit zwölf Jahren – Drucksachen 15/554, 15/572 – weigert, der Verpflichtung der Völkergemeinschaft Berichterstattung: nachzukommen, offen zu legen, wie er seine Massen- Abgeordnete Bernhard Kaster vernichtungswaffen vernichtet hat. Er muss eindeutig Steffen Kampeter klarstellen, dass von dort künftig keine Gefahr mehr Gerhard Rübenkönig ausgeht. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. März 2003 2703

Michael Glos (A) Diktatoren wie Saddam Hussein oder Slobodan Ganz abgesehen davon tue aber auch ich mich sehr (C) Milosevic tun sich mit der Sprache der Diplomaten und schwer, in allen Punkten das nachzuvollziehen, was der Diplomatie ungeheuer schwer. Sie kümmern sich Bush derzeit tut. nicht um humanitäre Argumente und sie kümmern sich Sie können jetzt die Frage stellen – das wäre viel ge- auch nicht um die Not der Menschen im eigenen Land. scheiter, als hier zu schreien –, was wir getan hätten. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Wenn eine Unionsregierung gewählt worden wäre – im neten der FDP) September war es knapp davor –, dann hätte sie von Be- ginn an den Dialog mit unseren europäischen und ameri- Ich weiß, dass niemand in Deutschland Krieg wollte kanischen Verbündeten gesucht und hätte alles dazu ge- oder gar Krieg will; aber es ist doch immer so: Wenn ein tan, zwischen den französischen Interessen auf der einen Waffengang als letztes Mittel, als Ultima Ratio, ausge- Seite und den amerikanischen Interessen auf der anderen schlossen wird, dann besteht die große Gefahr, dass Dik- Seite auszugleichen, so wie Regierungen vor Ihnen, Herr tatoren das missverstehen. Sie betrachten das dann oft Bundeskanzler – das waren nicht nur die Regierung als einen Freibrief und – das hat die Weltgeschichte im- Adenauer oder die Regierung Kohl, sondern das waren mer wieder gezeigt – klammern sich bis zuletzt daran. genauso die Regierung oder die Regierung (Unruhe bei der SPD) –, das auch immer wieder fertig ge- bracht haben. Herr Bundeskanzler, Sie haben in Ihrer Regierungser- klärung zu Beginn dieser Legislaturperiode – sie ist in (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) anderen Teilen vielleicht ein Stück überholt; dazu wer- Jetzt kommt mit sehr großer Wahrscheinlichkeit die- den wir noch kommen – Ihre tief empfundene Dankbar- ser Krieg auf uns zu. Wir wissen, dass schon jetzt, ob wir keit für das Engagement der Vereinigten Staaten beim das wollen oder nicht, deutsche Soldaten involviert sind. Sieg über die Nazibarbarei zum Ausdruck gebracht. Das Deswegen meine herzliche Bitte: Herr Bundeskanzler, war richtig und das ist, glaube ich, heute noch aktuell. tun Sie alles dafür – Sie haben das gestern, als wir im Wir bedauern die Zuspitzung dieser Krise; aber hier Bundeskanzleramt geredet haben, versprochen –, dass haben diplomatische Mittel versagt. Saddam hat sich die Soldaten in der Frage, ob der Deutsche Bundestag ih- auch über die Resolution 1441 hinweggesetzt. Er hat ren Einsatz genehmigt hat oder nicht, aus der rechtlichen den Druck, insbesondere den diplomatischen Druck, nie- Grauzone herauskommen! Es ist, finde ich, eine Zumu- mals ernst genommen. Dass die Waffeninspektoren tung für die Soldatinnen und Soldaten, wenn man anders überhaupt arbeiten konnten, lag doch daran, dass ein ge- handelt. waltiger Aufmarsch von Soldaten am Golf stattgefunden Ich habe dazu noch einmal nachlesen lassen oder (B) (D) hat und dass Saddam den Druck gespürt hat. nachgelesen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Lachen bei der SPD) neten der FDP) – Gott im Himmel! Entschuldigung! Dafür haben wir Einem Diktator muss eine entschlossene Gemein- doch Juristen. Ich bin keiner. Aber ich habe wenigstens schaft gegenüberstehen. Wenn man die Hoffnung nährt, als Vater dafür gesorgt, dass sich die Zahl der Juristen die Weltgemeinschaft sei sich nicht einig, dann setzt ein vermehrt hat. Man wird doch deren Rat noch einholen Diktator auf die allerletzte Karte. Sie müssen sich fragen dürfen. lassen, ob Sie mit Ihrer Politik bei dem Diktator nicht auch ein Stück Hoffnung genährt haben. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Demnach sagt das Urteil des Bundesverfassungsge- neten der FDP – Krista Sager [BÜNDNIS 90/ richtes von 1994 eindeutig: Ohne Zustimmung des Bun- DIE GRÜNEN]: Unverschämt! – Peter Dreßen destages dürfen Soldaten nur eingesetzt werden, „sofern [SPD]: Unmöglich! – Weitere Zurufe von der die Soldaten dabei nicht in bewaffnete Unternehmungen SPD) einbezogen sind“. Ich kann nicht sehen, wie das, wenn es zum Krieg kommt, bei einem Einsatz der Fuchs- – Herr Präsident, es wird in diesem Hause – das ist ein Spürpanzer und der Soldaten in den AWACS-Flugzeu- demokratisches Forum – doch noch möglich sein, Fra- gen bei der Luftraumüberwachung möglich sein sollte. gen zu stellen. Der Herr Bundeskanzler hat anschließend Gelegenheit zu antworten. Er braucht Ihr Geschrei nicht. Herr Bundeskanzler, es gibt verschiedene Gründe. Ich Wenn er bei seiner Politik auf alle Schreihälse von Ihrer kann Sie natürlich politisch verstehen. Ich kann verste- Seite angewiesen wäre, dann würde es um unser Land hen, dass man sich schwer tut, wenn man auf die Zustim- noch sehr viel trüber stehen. mung – beinahe hätte ich gesagt – solcher Leute ange- wiesen ist. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP) (Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Mit Zustimmung ist es im Moment bei Ihnen Ich fand es bedrückend, dass im Sicherheitsrat von auch nicht so weit her! – Weitere Zurufe von der den Deutschen Stimmen gegen die USA gesammelt wor- SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) den sind. – Entschuldigung, ich habe mich auf Ihr Verhalten vor- (Zurufe von der SPD) hin bezogen. Verhalten Sie sich doch bitte so, dass ich 2704 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. März 2003

Michael Glos (A) von Kolleginnen und Kollegen sprechen kann! Tun Sie gelöst werden, wenn die westlichen und auch die euro- (C) das doch bei dieser Debatte! päischen Staaten zusammenstehen. (Beifall bei der CDU/CSU) In dieser außen- und europapolitisch schwierigen Zeit steht Deutschland zudem noch – das treibt uns auf der Ich glaube nicht, dass Ihr Verhalten dem Ernst der Lage anderen Seite um, Herr Poß – auf brüchigen ökonomi- angemessen ist. schen Fundamenten. Bei unseren Nachbarn geht das (Widerspruch bei der SPD und dem BÜND- Wort von Deutschland als dem kranken Mann in Europa NIS 90/DIE GRÜNEN) um. Wirtschaftsexperten sprechen vom Sanierungsfall Deutschland. Lassen Sie mich einige Aussagen anführen. Wiefelspütz wird in den Tickermeldungen aus einem (Joachim Poß [SPD]: Das ist eine Verleum- dpa-Gespräch zitiert: dung Ihres eigenen Landes!) Wenn wir einen zustimmungsbedürftigen Sachver- Die Kurse unserer Banken und Versicherungsgesell- halt schaffen würden, wären wir doch mit einem schaften sind im Keller. Die Menschen in diesem Land Bein in diesem Krieg. Genau das wolle Bundes- machen sich Sorgen um ihre private Altersversorgung kanzler Schröder (SPD) verhindern. Natürlich hät- und die Sicherheit ihrer Sparguthaben. ten die AWACS-Maschinen die Fähigkeit, auch (Joachim Poß [SPD]: So verleumden Sie Ihr Iraks Luftraum zu beobachten und kriegsrelevante eigenes Land!) Informationen an die USA weiterzugeben. Aber das darf eben nicht genutzt werden. Das ist doch die bedrückende Wirklichkeit in der Bun- desrepublik Deutschland zur Stunde. Ich kann mir schwer vorstellen, wie das laufen soll. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ich zitiere aus den Meldungen eine führende Politike- rin der Grünen: Der Haushalt ist – das habe ich gelernt; ich war früher im Haushaltsausschuss – das Schicksalsbuch der Nation. Man ... Christine Scheel bezeichnete Bushs Vorgehen als darf dieses Schicksalsbuch in seinen Zahlenfundamenten rechtswidrig. Ich gehe davon aus, dass es gegen das nicht zum Märchenbuch oder gar zum Lügenbuch machen. Völkerrecht verstößt ... (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Weiter heißt es: Dafür muss man sorgen, wenn man Vertrauen zurückge- Der stellvertretende Grünen-Fraktionschef Hans- winnen will. (B) Christian Ströbele sagte, er halte die Nutzung der (D) US-Stützpunkte in Deutschland im Kriegsfall für Die haushaltspolitischen Perspektiven sind düster. verfassungswidrig. Der Haushalt 2003 ist ein Spiegelbild der Lage in Deutschland. Ohne Sanierung drohen Abstieg und Und so weiter. Pleite. Sanieren kann nur – Herr Bundeskanzler, das Ich sage das nur, weil ich deutlich machen möchte, möchte ich Ihnen sagen –, wer vorher schonungslos die dass die Schwierigkeiten auf der Regierungsseite klar Wahrheit auf den Tisch legt. sind. Deswegen muss aber Recht immer Recht bleiben (Hubertus Heil [SPD]: Wie Herr Stoiber!) und unsere Verfassung muss selbstverständlich eingehal- ten werden. Wenn es keine schonungslose Diagnose gibt, dann ist auch die Bereitschaft zu einer harten Therapie nicht ge- (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. geben. Deswegen befürchte ich, dass Sie sich schwer tun Dr. [FDP]) werden, all das durchzusetzen, was Sie am vergangenen Herr Bundeskanzler, Ihre Außenpolitik gefährdet Freitag angekündigt haben. wichtige Institutionen, denen unser Land, die Bundesre- (Zuruf von der FDP: So viel war es ja nicht!) publik Deutschland, seine Sicherheit verdankt. Sie ver- antworten ein Stück weit die aufbrechende Spaltung der Tatsache ist: Die Massenarbeitslosigkeit hat eine Europäischen Union. noch nie gekannte Höhe erreicht. (Lachen bei Abgeordneten der SPD) (Widerspruch bei der SPD) Das ist für mich ein ungeheuer bedrückendes Erlebnis. 4,7 Millionen Arbeitslose gab es im Februar; das ist die Sie verantworten mit die Zerwürfnisse in der NATO und dritthöchste Zahl aller Zeiten. Jeder zweite Arbeitneh- die nachhaltige Entfremdung in den transatlantischen mer macht sich Sorgen um seinen Arbeitsplatz. Tatsache Beziehungen. ist: Deutschlands Wirtschaft ist zum Schlusslicht in Eu- ropa geworden und stagniert seit Monaten. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP) (Zuruf von der SPD: Reden Sie das Land doch nicht immer schlecht!) Meine Angst ist, dass damit Gefahren weit über den Tag hinaus für unser Land entstehen. Die globalen Auf- – Ich nehme den Zwischenruf von der SPD auf, ich gaben – der Kampf gegen den Hunger, der Schutz der würde das Land schlecht reden: Das ist die übliche Ma- Umwelt, mehr Entwicklungschancen – können doch nur sche. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. März 2003 2705

Michael Glos (A) Ich möchte, wenn Sie darauf besser hören, damit be- Ich könnte jetzt, wenn ich noch mehr Zeit hätte, die (C) ginnen, Genossen zu zitieren. Genosse Ernst Welteke, Pressestimmen zitieren, die es direkt nach dieser Rede der früher Finanzminister in Hessen war und jetzt Präsi- gegeben hat. dent der Bundesbank ist, sagt, Deutschland sei seit zwei Jahren in einer Phase der Quasistagnation. Genosse (Katrin Dagmar Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/ , früher Sozialminister in Rheinland- DIE GRÜNEN]: Erklären Sie uns mal, was Sie Pfalz, spricht in seiner Eigenschaft als Präsident der tun wollen!) Bundesanstalt für Arbeit ebenfalls von einer Phase der Eine genügt. Das „Handelsblatt“, das ansonsten Rot- Stagnation. Deswegen ist es Unfug, wenn Sie dazwi- Grün gegenüber nicht sehr kritisch ist, hat geschrieben: schenrufen, wir würden das Land schlecht reden. „mehr Murks als Mut“. Das war das Resümee. Wie ge- sagt, ich habe jede Menge Zitate dabei. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Widerspruch bei der SPD) Sie haben sich vorher von Ihrer eigenen Propaganda- abteilung – das ist legitim – hochstilisieren lassen. Diese Hören Sie sich doch zumindest die Tatsachen an! Tat- Rede ist in solche Sphären gehoben worden, dass es gar sache ist: Das Defizit im Bundeshaushalt hat zu einem nicht gut gehen konnte. Ich kann zu diesem so genannten Verfahren wegen Verletzung des Stabilitätspakts geführt. großen Wurf nur sagen: Gewogen und für zu leicht be- Tatsache ist: Obwohl die angebliche Rückführung der funden, Herr Bundeskanzler. Das war das Urteil der Ex- Neuverschuldung noch vor wenigen Wochen zum Mar- perten über das, was Sie vorgelegt haben. kenzeichen rot-grüner Politik erklärt worden ist und Herr Eichel schon für 2004 einen ausgeglichenen Haushalt (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) versprochen hat, ist dies alles in weiter Ferne. Ich kann Ihnen ein Weiteres nicht ersparen. Ich erin- Tatsache ist, die Krise der Sozialversicherungen ist nere mich sehr intensiv an die Zeit der Bundestagswahl, nicht mehr zu leugnen: Die Pflegeversicherung ist ein (Katrin Dagmar Göring-Eckardt [BÜND- Pflegefall. Die Krankenversicherung liegt auf der Inten- NIS 90/DIE GRÜNEN]: Die haben Sie ver- sivstation. loren!) (Zuruf von der SPD: Sprüche! Sprüche!) an die Fernsehduelle, die da stattgefunden haben, und auch an Ihre Großspurigkeit, mit der Sie den Kanzler- Das System der Altersversorgung leidet an Altersschwä- kandidaten der Union, Ministerpräsident Stoiber, dabei che. In der Arbeitsmarktpolitik herrscht Vollbeschäfti- behandelt haben. Sie haben zu ihm gesagt: „Herr Minis- gung, allerdings nur bei den deutschen Arbeitsämtern. terpräsident, Sie wollen Bundeskanzler werden – Sie (B) (D) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) können es nicht.“ Herr Bundeskanzler, das alles – ob Sie es gerne hören (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten oder nicht – ist Ergebnis Ihrer Politik. All das hätten Sie des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) am Freitag bilanzieren müssen. Vielleicht wäre dann die Schauen Sie sich an, wo wir nach einem halben Jahr Einsicht in die Notwendigkeit von Reformen bis hinüber stehen! Ich kann nur sagen: Herr Bundeskanzler, Sie in den Gewerkschaftsflügel der SPD vorgedrungen. können es nicht! (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Die nächsten Wochen werden zeigen, ob die Ankün- Geben Sie Ihr Mandat an die Wählerinnen und Wähler in digungen, die unter dem Stichwort „Agenda 2010“ der Bundesrepublik Deutschland zurück! Neuwahlen großspurig erfolgt sind, wirklich umgesetzt werden. In wären die sauberste Lösung. Wirklichkeit war es ein Stück Offenbarungseid, ein Ein- geständnis des Scheiterns des bisherigen Kurses. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Herr Bundeskanzler, für das, was Sie angekündigt ha- (Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: ben, haben Sie doch überhaupt keine Legitimation von Wo ist Ihr Kurs im Moment?) den Wählerinnen und Wählern. Das hat es eigentlich noch nie gegeben, dass das, was in (Widerspruch bei der SPD) der Regierungserklärung angekündigt worden ist, bereits nach einem halben Jahr so stark korrigiert werden – Nein, Sie haben keine Legitimation. Ich bringe ein musste. paar Beispiele. Sie haben am Freitag gesagt, Sie wollen die Arbeitslosenhilfe auf das Sozialhilfeniveau herun- (Katrin Dagmar Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/ terfahren. Vor der Wahl versprach die SPD „keine Ab- DIE GRÜNEN]: Sagen Sie uns, was Sie wollen!) senkung der künftigen Leistungen auf Sozialhilfe- Diese Rede, Frau Göring-Eckardt, war doch eine fle- niveau“. hende, nach innen gerichtete Bitte an die Reihen hier, (Hubertus Heil [SPD]: Was wollen Sie denn?) endlich das zu tun, was notwendig ist. Ein weiteres Beispiel. Am Freitag wollten Sie den (Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf von der Kündigungsschutz für Kleinbetriebe ab fünf Mitarbei- SPD: Wo sind Ihre Vorschläge?) ter besser handelbar machen. Vor der Wahl lobte die 2706 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. März 2003

Michael Glos (A) SPD die Geltung des Kündigungsschutzes in Betrieben um das Abkassieren der Kommunen wieder einzustellen, (C) ab fünf Mitarbeitern als Beitrag zum sozialen Frieden. werden Sie unsere Unterstützung bekommen. (Katrin Dagmar Göring-Eckardt [BÜND- (Beifall bei der CDU/CSU – Zurufe von der NIS 90/DIE GRÜNEN]: Was will denn die SPD: Oh!) Union?) Herr Bundeskanzler, was Ihnen persönlich fehlt – das Wenn Politik nicht auf Wahrheit gebaut ist, dann wird sie ist ein großes Problem nicht nur für Sie und diese Regie- bei den Menschen keinen Erfolg haben. rung, sondern inzwischen auch für unser Land –, ist die Geradlinigkeit. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Lachen bei der SPD) Wir erleben schon über eine lange Zeit die Argumen- tation mit Ausflüchten. Zunächst war es die nachlas- Geradlinigkeit ist eine Grundvoraussetzung für Ver- sende US-Konjunktur, dann der 11. September, dann der trauen. Vor der Wahl galt die Politik der ruhigen Hand; vermeintlich zu restriktive europäische Stabilitätspakt, nach der Wahl hat die hektische Hand eingesetzt, die dann die mangelnde Unterstützung seitens der Europä- planlos gehandelt hat. Ein hakenschlagender Hase auf ischen Zentralbank. Künftig wird wohl immer wieder der Flucht hat sehr viel mehr Geradlinigkeit, als es die der Irak als Grund herangezogen werden, warum man rot-grüne Politik in den letzten Jahren jemals hatte. die selbst gesteckten Ziele nicht erreichen kann. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Ich sage Ihnen – da stehe ich nicht allein; das sagen neten der FDP) Ihnen auch die Wirtschaftsexperten –: Die Ursachen un- Unserem Land – Herr Bundeskanzler, das sage ich serer deutschen Misere sind binnenwirtschaftlicher Na- aus tiefer Überzeugung – fehlt die politische Führung. tur. Es sind hausgemachte Fehler der Regierung Darunter versteht man das, woran sich die Menschen Schröder: die Rekorddefizite in den öffentlichen Haus- festhalten können: die Kalkulierbarkeit der Regierenden. halten, die offensichtlich unaufhaltsam steigenden Lohn- Aus dieser Kalkulierbarkeit entwickelt sich Vertrauen. nebenkosten und die totale Verkrustung des Arbeits- marktes. All das ist binnenwirtschaftlich bedingt. Ich nenne als Beispiel das Hickhack über die Steuer- erhöhungen – erst waren es 48; am Schluss waren es Diese Realitätsverweigerung, die da besteht, erinnert noch 33 –, von denen Sie gewusst haben, dass sie im mich an einen Leichtathletiktrainer, der als Ausrede für Bundesrat am Ende keine Mehrheit finden werden. Man die Niederlage seiner Läufer sagt, es habe schlechtes hat trotzdem nach dem Motto „Was zwischendurch ge- Wetter geherrscht. Dabei vergisst er, zu sagen, dass die schieht, ist uns egal“ ungeheuer viel Vertrauenskapital anderen Läufer in der gleichen Witterung haben starten (B) zerstört. Die geplante 50-prozentige Steuererhöhung auf (D) müssen. Firmenwagen beispielsweise wird zwar keinen Euro in Der angekündigte zaghafte Kurswechsel war überfäl- die Kasse bringen; aber sie hat zutiefst Verunsicherung lig. Wir wollen, dass Deutschland wieder aufs Sieger- ausgelöst, unserer Automobilwirtschaft geschadet und treppchen kommt. Kaufzurückhaltung bewirkt. (Walter Schöler [SPD]: Unsere Startblöcke Ein weiteres Beispiel: Sie haben über Monate auf- standen auf Ihrem Morast!) rechterhalten – ich habe gehört, dass es jetzt richtiger- weise doch nicht Bestandteil des entsprechenden Gesetz- Das ist nur möglich, wenn die notwendigen Reformen entwurfes ist –, den deutschen Bankkunden gläsern auch durchgesetzt werden. machen zu wollen. Sie haben ihn damit verunsichert. Ich (Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: finde, eine Politik, die auf die Verunsicherung der Wäh- Welche denn? Die von Herrn Stoiber oder von ler setzt, kann keinen Erfolg haben. Herrn Seehofer?) (Widerspruch bei der SPD) Durchsetzen müssen Sie diese Reformen in allererster Wenn Sie mir nicht glauben, dann glauben Sie doch Linie in den eigenen Reihen. Es sind nur ganz wenige den Wählerinnen und Wählern in Hessen, Niedersachsen Maßnahmen dabei, die im Bundesrat zustimmungs- und Schleswig-Holstein. Die haben Ihnen dafür die ent- pflichtig sind. Die allermeisten Maßnahmen können Sie sprechende Quittung gegeben. mit Ihrer rot-grünen Mehrheit durchsetzen, wenn Sie diese Mehrheit denn haben. Die Opposition ist kein (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Hilfsaggregat und kein Hilfsmotor neten der FDP) (Katrin Dagmar Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/ Wenn jetzt eine Änderung Ihrer Politik erfolgen soll, DIE GRÜNEN]: Sondern? – Krista Sager dann ist das doch nicht einer besseren Einsicht zu ver- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie sind gar kein danken, sondern ausschließlich den Wählerinnen und Motor!) Wählern in den drei genannten Bundesländern, die Ihnen die rote Karte gezeigt haben. Auch in Ihrer Partei meh- für eine Regierung, die mit dem Rücken zur Wand steht. ren sich die Stimmen, die Ihre Politik infrage stellen. Deswegen kann ich nur sagen: Viel Glück und gute Reise! Setzen Sie durch, was Sie angekündigt haben! Ich kann nur feststellen: Ich wünsche mir, Ihnen und Bei Maßnahmen – wie zum Beispiel bei der Flutopfer- unserem Land, dass das, was Sie angekündigt haben, hilfe –, bei der die Bundesratsmehrheit gebraucht wird, gelingt. Eckpunkte der Reformen, zum Beispiel der Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. März 2003 2707

Michael Glos (A) Reform des Gesundheitswesens, haben wir vorher an- 66,50 Euro aufschwatzen lassen. Sie haben also über (C) gekündigt. Sie haben richtigerweise – dafür bedanke ich Werbeagenturen einen Schwätzer eingestellt, um die mich ausdrücklich – wieder freigespro- Leute zu belatschern. Dabei sind allein 15 Milliarden chen. Was hat der Mann, der als unsozial bezeichnet Euro verloren gegangen. Damit haben Sie ein schlechtes worden ist, in all den Jahren über sich ergehen lassen Beispiel für Ehrlichkeit, Klarheit und Wahrheit an der müssen! Börse gegeben. Und es waren die kleinen Leute, die das Geld verloren haben. (Zurufe von der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) (Beifall bei der CDU/CSU) Sie haben die 98-er und die folgende Wahl gewonnen, Eine Umverteilung von der Verkäuferin oder von einem indem Sie immer wieder die Geschichte von den unter- Industriearbeiter, die mit einer Aktie, die der Bund an- schiedlichen Zähnen der Armen und der Reichen erzählt bietet, auch privat vorsorgen wollen, hin zu einer angeb- haben. Jetzt haben Sie endlich das gefordert, was lichen Haushaltssanierung ist das, was man unter Um- Seehofer vorgeschlagen hat: eine Beteiligung der Men- verteilung von unten nach oben versteht. Auch hier sind schen an den kleinen Risiken, mehr Verantwortungs- Wahrheit und Klarheit die Voraussetzungen, um Ver- übernahme durch den Einzelnen. Das ist der richtige trauen zurückzugewinnen. Weg. Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich komme Von der demographischen Formel in der Rente bis hin zur Verantwortung der Opposition. zu Lockerungen auf dem Arbeitsmarkt könnte ich Ihnen (Zurufe von der SPD: Oh! – Aha!) nacheinander aufzählen, was alles bereits in unserem Wahlprogramm stand. Ich kann es Ihnen nur immer wie- Aufgabe der Opposition in einem demokratischen Land der zur Lektüre empfehlen. Sie haben daraus abgekup- ist es, Fehlentwicklungen offen zu legen und so weit wie fert. Sie haben bei dem, was Sie erklärt haben, auch die möglich zu korrigieren. Beschlüsse unserer Fraktion einbezogen. Das alles ist (Zuruf von der SPD: Aber nicht, das Land richtig. Deswegen fordere ich Sie auf: Haben Sie den schlecht zu reden!) Mut, sich für die Polemik und die Schmutzkübel zu ent- schuldigen, die Sie zuvor über die Union gegossen ha- Wir können nicht die Probleme des Landes lösen ben! (Zuruf von der SPD: Genau, das sagen wir ja (Beifall bei der CDU/CSU – Lachen bei der immer schon!) SPD) ohne Mehrheit im Deutschen Bundestag. Das ist nicht (B) Auch das gehört zu einem Neuanfang. möglich, das war nie möglich und das wird nie möglich (D) sein. Kündigungsschutz genießt bei Ihnen offensichtlich nur Minister Eichel. Es gibt kaum einen Minister, der so (Hubertus Heil [SPD]: Sie sind auch nicht in versagt hat, der so danebenliegt und der sich offensicht- der Lage dazu!) lich immer noch im Amt wohl fühlt. Das kann nur damit Ich sage noch einmal: Wo wir unbedingt gebraucht zusammenhängen, dass gegenwärtig offensichtlich nie- werden und wenn es vernünftig ist, werden wir helfen. mand bereit ist, dieses Amt zu übernehmen. Wir haben das zum Beispiel schon bei der Wiedereinfüh- Verehrter Herr Minister Eichel, wenn ich Ihr Sünden- rung einer vernünftigen Lösung für die so genannten ge- register aufzählen sollte, würde es meine Redezeit spren- ringfügigen Arbeitsverhältnisse gezeigt und wir werden gen. Ich möchte nur so viel sagen: Eine weitere Ursache das auch in anderer Art und Weise tun. Aber Politik ist der Kaufkraftschwäche und des mangelnden Vertrauens natürlich immer wieder ein Bohren dicker Bretter mit ei- bei uns im Land ist die Tatsache, dass nach Schätzungen nem dünnen Bohrer, um Max Weber zu zitieren. der „ Deutschland“ inzwischen 1 000 Mil- (Zurufe von der SPD: Sie sind ein Dünnbrett- liarden Euro durch den Schornstein der Börse gejagt bohrer!) worden sind. Diese bedrückende Zahl ist nicht nur Buch- geld, sondern schwächt auch die Kaufkraft. Das ist in der Wirtschaftspolitik und in der Sozialpolitik erforderlich. Max Weber fordert auch eine Politik mit (Walter Schöler [SPD]: Was haben Sie Leidenschaft und Augenmaß. verloren?) Herr Bundeskanzler, ein Letztes: Wer eine Kundge- – Das geht Sie nichts an. Ich habe an der Telekom-Aktie bung in einer niedersächsischen Provinzstadt – weniger Geld verloren als andere Leute, weil ich ein hat sie, glaube ich, geheißen – misstrauischer Mensch bin. (Hubertus Heil [SPD]: Nichts gegen Goslar!) (Dr. [FDP]: Ich auch!) für die passende Bühne der Weltpolitik hält, der hat es Der rot-grünen Regierung habe ich von Anfang an miss- ungeheuer schwer, in Deutschland und darüber hinaus traut. ernst genommen zu werden. Herr Bundeskanzler, es lag doch in der Verantwortung (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Ihres Finanzministers. Er hat doch den Menschen von neten der FDP – Zuruf von der SPD: Ja, Vils- Herrn Krug die dritte Tranche der Telekom-Aktien für hofen ist besser! Oder Passau!) 2708 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. März 2003

Michael Glos (A) Ich meine, meine sehr verehrten Damen und Herren (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (C) hier im Hause und dort, wo Sie uns zuschauen: Deutsch- DIE GRÜNEN) land braucht Glaubwürdigkeit und Vertrauen, gerade in dieser schwierigen Zeit. Wenn wir mehr Zukunftschan- Sie müssen sich heute entscheiden und vor dem Deut- cen für die Deutschen schaffen wollen, wenn wir wollen, schen Bundestag und dem deutschen Volk sagen, ob Sie dass die von und aufge- angesichts der Situation im Irak die Politik der Bundes- bauten außen- und europapolitischen Sicherheitsfunda- regierung unterstützen oder ob Sie den Antrag stellen, mente in der Zukunft weiter halten, dann müssen Ver- dass sich Deutschland an dem Krieg im Irak mit Solda- trauen und Kalkulierbarkeit in die Politik zurückkehren. ten beteiligen solle. Daran haben wir ein gemeinsames Interesse. Herr Bun- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ deskanzler, wenn Sie dies tun, werden wir Sie dabei un- DIE GRÜNEN – Dietrich Austermann [CDU/ terstützen. CSU]: Quatschkopf! – Zurufe von der CDU/ Herzlichen Dank. CSU und der FDP – Zuruf von der SPD: So ist das!) (Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU – Beifall bei Abgeordneten der FDP) – Regen Sie sich nicht auf! In diese Alternative haben Sie sich hineinmanövriert. Präsident Wolfgang Thierse: (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Ich erteile das Wort dem Kollegen Franz Müntefering, SPD-Fraktion. Entweder unterstützen Sie das, was die Bundesregierung tut, oder Sie unterstützen, wie Sie es gestern angedeutet (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten haben, Frau Merkel, das, was der US-Präsident gesagt des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) hat.

Franz Müntefering (SPD): ( [CDU/CSU]: Sie reden Unsinn!) Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Im Irak droht Krieg. Herr Glos hat das eben ei- Wenn Sie bei dem mitmachen wollen, was die Vereinig- nen Waffengang genannt. Das hörte sich nach Spazier- ten Staaten tun, dann stellen Sie einen Antrag. Sie wer- gang an. Krieg ist aber Zerstörung, Krieg ist Tod, Krieg den für ihn keine Mehrheit bekommen, selbst in den ei- ist Elend, Krieg ist Armut. Herr Glos, wenn Sie sagen, genen Reihen nicht. Aber dann ist in Deutschland klar, wer hier was will. Hören Sie auf mit Lauwarm! (B) die Menschen im Irak haben ein Recht, in Freiheit zu le- (D) ben, sage ich: Ja, sie haben vor allem ein Recht, zu le- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ ben, und deshalb wollen wir keinen Krieg im Irak. DIE GRÜNEN – Volker Kauder [CDU/CSU]: (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE Lauwarm sind Sie!) GRÜNEN – Volker Kauder [CDU/CSU]: Alle Am Freitag, dem 14. März, hat der Bundeskanzler hier haben ein Recht, zu leben, auch die Iraker!) die Prinzipien und Leitlinien sowie eine Reihe konkreter Frieden ist nicht alles, aber ohne Frieden ist alles Maßnahmen für die wesentlichen politischen Projekte nichts – das bleibt richtig. Deshalb ist und bleibt die der nächsten Zeit angesprochen: Gesundheitsreform, Politik von Gerhard Schröder, und die- Gemeindefinanzreform, Mittelstand, Wachstum, Arbeit- ser Koalition richtig, sich darum zu bemühen, das Ge- nehmerrechte, Innovation, Jugend. An diesem Freitag waltpotenzial, das es im Irak bei Saddam Hussein zwei- gab es von der Opposition zwei Antworten: eine Ant- fellos gibt, im Griff zu behalten und das Problem auf wort Merkel, eine Antwort Stoiber. Was die Meinung der friedlichem Wege zu lösen. Dies war und ist durch eine Union ist, ist dabei nicht richtig klar geworden. Klar ge- intensive, lange Inspektion möglich. Krieg im Irak ist worden ist nur, dass es in Ihrer Fraktion über das Verhal- nicht nötig und deshalb wollen wir ihn nicht. ten von Herrn Stoiber Unmut gibt. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Dies beschrieb Herr Seehofer in seinem „Focus“-In- DIE GRÜNEN) terview, als er sagte, bei den Kollegen in der CDU/CSU- Fraktion herrsche großer Unmut, denn Stoiber habe in Auch wenn sich in den nächsten Stunden und Tagen he- der Rentenpolitik, beim Arbeitslosengeld und beim Kün- rausstellen sollte, dass es diesen Krieg doch gibt, so war digungsschutz Positionen bezogen, die nicht abgestimmt es richtig – und wir sind stolz damit –, dass wir in der seien. Dies wurde von Herrn Arentz, dem „Enkel“ von Koalition zusammen mit vielen Menschen in unserem Norbert Blüm, unterstrichen, indem er sagte, die Idee des Lande den ehrenwerten Versuch unternommen haben, al- CSU-Vorsitzenden, das Gesetz erst in Betrieben ab les daranzusetzen, was in unseren Kräften stand und 20 Mitarbeitern anzuwenden, nähme schlagartig 80 Pro- steht, um diesen Krieg zu verhindern. zent aller Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Deutschland den Kündigungsschutz. Konsequenterweise DIE GRÜNEN) hat Herr Bosbach – Ihr Stellvertreter, Frau Merkel – geäu- ßert, die CDU/CSU-Fraktion könne jetzt nicht die Frage Frau Merkel, nun sind Sie an der Reihe; heute ist für beantworten, was sie von den Ankündigungen des Bun- Sie die Stunde der Wahrheit. Lauwarm geht nicht mehr! deskanzlers mittragen werde und was nicht. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. März 2003 2709

Franz Müntefering (A) Das ist Ihr Problem: Sie haben seit einem halben Jahr darauf eine vernünftige Antwort geben, wie der Kanzler (C) gefordert, die Regierungsparteien und die Koalition soll- sie bereits angesprochen hat. Unser Gesetzentwurf ist ten auf den Tisch legen, was sie wollen. Nun haben wir vertretbar und wir werden ihn auch so beschließen. es auf den Tisch gelegt, aber nun wissen Sie nicht Be- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ scheid, was Sie wollen. Sortieren Sie sich einmal und ge- DIE GRÜNEN) ben Sie eine klare Antwort! Jetzt ist die Zeit, in der man dies nicht mehr länger verschieben kann. Uns geht es darum, Arbeit zu schaffen, Wohlstand zu sichern und soziale Gerechtigkeit auf hohem Niveau (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ dauerhaft möglich zu machen. Dazu brauchen wir einen DIE GRÜNEN) Haushalt, der diesen Ansprüchen genügt. Der Haus- Wir werden noch vor dem Sommer – es bleibt bei un- halt 2003 ist ein solcher. serem Zeitplan – zu den drei großen Paketen Gesund- (Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU) heit, Gemeindefinanzreform sowie Mittelstand und Wachstum unsere Konzepte auf den Tisch legen. Dann Man kann das an einem Punkt klar machen: 1998 musste werden Sie als Opposition gefragt sein, was Sie wirklich der Bundesfinanzminister von jeder Mark Steuern, die er wollen. Im Augenblick ist das nicht zu erkennen, aber einnahm, 22 Prozent für Zinszahlungen aufwenden. das stört uns nicht. Wir arbeiten daran, die Gesetzent- Diese Quote ist unter auf 19 Prozent redu- würfe in den nächsten Wochen vorzulegen. Dann werden ziert worden. Das ist noch nicht das Ergebnis, das wir Sie sich entscheiden müssen. letztlich brauchen, aber er muss von jedem Euro, den er einnimmt, 3 Prozent weniger an Zinsen zahlen, als Sie Aber nicht nur Sie, sondern auch die übrige interes- das 1998 noch mussten. sierte Öffentlichkeit hat die Rede vom vergangenen Freitag ohne eine eigene klare Meinung und zum Teil (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ auch mit der Absicht aufgenommen, Dinge, die gesagt DIE GRÜNEN) worden sind, zu verzerren oder falsch darzustellen. In Deshalb sage ich Hans Eichel – ein Finanzminister muss der „ am Sonntag“ wurde auf den Seiten 2 und 3 das ja sehr viel aushalten – hier einmal Danke schön für die Beispiel einer Familie und ihrer Betroffenheit durch un- Arbeit in diesen vier Jahren und auch für das, was jetzt sere Ankündigung in Bezug auf das Arbeitslosengeld zu leisten ist. dargestellt. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Zuruf der SPD: „Bild“ lügt!) DIE GRÜNEN – Lachen bei der CDU/CSU – Zu Familienvater Lange, Alter 46, schreibt die „Bild am Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Auf Wie- (B) Sonntag“: Verliert Lange seinen Job, erhält er zwölf statt dersehen!) (D) bisher maximal 32 Monate lang Arbeitslosengeld. Ein – Ach ja, das wissen Sie doch. Wir alle stecken voller 46-Jähriger aber bekommt heute nicht 32, sondern maxi- Ideen dazu, was man noch tun könnte, aber der Finanz- mal 18 Monate lang Arbeitslosengeld. Das muss man minister ist derjenige, der uns sagen muss, was geht und nur wissen und wenn man es weiß, darf man nichts Fal- was nicht. Da sind wir auch ehrlich miteinander. Wir be- sches schreiben. drängen ihn auch, aber wir brauchen auf diesem Stuhl je- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ manden, der uns jeden Tag morgens und abends und DIE GRÜNEN) zwischendurch auch noch einmal sagt: Wir müssen in diesem Land auch sparen, denn wir wollen, dass unsere Weiterhin steht in der „Bild am Sonntag“, dass Kinder und Kindeskinder von uns noch etwas anderes Gabriele Lange, die Ehefrau von Herrn Lange, 44 Jahre erben als Schuldscheine und Hypotheken, Herr alt, wenn sie arbeitslos wird, künftig nur noch zwölf Mo- Austermann. nate lang Arbeitslosengeld bekommt. Ein 44-Jähriger bekommt aber in Deutschland nie länger als zwölf Mo- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ nate lang Arbeitslosengeld. Auch das muss man wissen DIE GRÜNEN – Dietrich Austermann [CDU/ und darf nicht lügen, auch sonntags nicht. Das gilt auch CSU]: Auf Wiedersehen!) für die „Bild“-Zeitung. Stoiber ist am Freitag mit Spendierhosen durch den (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Bundestag marschiert. Lesen Sie einmal nach, was er al- DIE GRÜNEN) les gesagt hat. Er ist schon ein Phänomen und hat eine Rede der besonderen Art gehalten. Er fordert erstens zu Die Kürzung des Arbeitslosengeldes fällt Sozial- sparen, aber zweitens mehr auszugeben. Die Quadratur demokraten nicht leicht. Darüber gibt es bei uns eine in- des Kreises ist eine Kleinigkeit gegenüber dem, was tensive Diskussion, was auch angemessen ist. Man muss Herr Stoiber da erzählt hat. sich aber vor Augen führen: Im Jahre 2001 – das wird 2002 nicht anders gewesen sein – haben 80 Prozent derer, (Lachen der Abg. Dr. Angela Merkel [CDU/ die in Deutschland Arbeitslosengeld bekommen, dieses CSU]) zwölf Monate lang oder kürzer bekommen, 7 Prozent ha- – Frau Merkel lacht dankbar. ben es länger als 24 Monate lang bekommen. Vor diesem Hintergrund sind die Fragen, wer in diesem Land was be- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ zahlt und was zu tun ist, damit die sozialen Sicherungs- DIE GRÜNEN – Zuruf von der SPD: Und systeme dauerhaft zu erhalten sind, erlaubt. Wir werden noch nicht einmal abgestimmt!) 2710 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. März 2003

Franz Müntefering (A) Es geht darum, die Kommunen in diesem Land in die teressanter Punkt –, im Bundesrat die Zustimmung für (C) Situation zu versetzen, ihren Aufgaben gerecht werden die Wiederbelebung der Körperschaftsteuer zu bekom- zu können. men. Die großen Unternehmen mussten in unserer Re- gierungszeit bisher weniger Steuern zahlen als jemals (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- zuvor. Manchen von uns ist es schwer gefallen, das mit- SES 90/DIE GRÜNEN) zutragen. Stadt und Gemeinde sind mehr als die bloße Ansamm- (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist ein Produkt lung vieler Häuser. sozialdemokratischer Politik!) (Zurufe von der CDU/CSU: Aha!) – Es ist interessant, was Sie sagen. Mit Ihrem Zwischen- Wenn wir über Föderalismus und bundesstaatliche Ord- ruf zeigen Sie doch, dass Sie der Meinung sind, die Un- nung sprechen – Frau Merkel, auch Sie haben dieses ternehmen sollten Körperschaftsteuer zahlen. Wenn Sie Thema angesprochen; es ist also von gemeinsamem Inte- das wollen, warum lehnen Sie dann unseren Vorschlag resse –, dann kommt es darauf an, Zeichen zu setzen, am Freitag im Bundesrat ab? Beschließen Sie das doch wohin hier die Reise gehen soll. Wir dürfen Kommunal- mit uns! Das ist doch ganz einfach. politik nicht als ein Untergeschoss der Politik auffassen; (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ sie ist vielmehr eine tragende Säule der Demokratie. Das DIE GRÜNEN – Dietrich Austermann [CDU/ ist ganz klar. CSU]: Ihre Steuerreform ist Murks!) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Durch die Wiederbelebung der Körperschaftsteuer DIE GRÜNEN – Volker Kauder [CDU/CSU]: wollen wir versuchen, den breiten Schultern mehr aufzu- Das sagen gerade Sie!) laden, als sie bisher tragen. Weil das so ist, tun wir alles dafür, dass die finanzielle (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Wie war Situation der Kommunen gestärkt wird. es denn in 2001 und 2002?) (Lachen bei der CDU/CSU – Dietrich Austermann Das haben wir im Gesetz so vorgesehen. Sie sind dage- [CDU/CSU]: Abgewählt!) gen. Sie wollen diejenigen schützen, die in diesem Land – Ihre Politik ist kommunalfeindlich. dringend wieder Steuern zahlen müssten. Stimmen Sie der Erhöhung der Körperschaftsteuer zu! Das ist unser (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Anliegen. BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Volker Kauder [CDU/CSU]: Das ist ja eine Lachnum- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (B) mer!) DIE GRÜNEN) (D) Sie haben am Freitag im Bundesrat das Steuervergüns- Sprechen Sie doch einmal mit Ihren Oberbürgermeis- tigungsabbaugesetz abgelehnt. Dieses Gesetz – es enthält tern und Bürgermeistern; ein paar von ihnen müssten Sie unter anderem die Erhöhung der Körperschaftsteuer – ja noch kennen. hätte den Kommunen in diesem Jahr 300 Millionen Euro (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Schleswig-Hol- mehr gebracht. Sie haben am Freitag letzter Woche den stein! – Weitere Zurufe von der CDU/CSU) Kommunen für dieses Jahr also 300 Millionen Euro ver- weigert. Das ist Ihre Politik. Lassen Sie sich von ihnen erklären, wie deren Haushalte eigentlich aussehen. Sie rechnen für die Jahre 2003 und (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ 2004 in ihren Haushalten mit dem Steuervergünsti- DIE GRÜNEN – Dietrich Austermann [CDU/ gungsabbaugesetz und dass sie dadurch von uns Geld CSU]: Sie haben ihnen 2,5 Milliarden wegge- bekommen. Auch die Bürgermeister der CDU/CSU nommen!) rechnen in ihren Haushalten schon längst mit den Rege- Sie haben durch Ihre Entscheidung am Freitag den lungen, die in unserem Gesetz stehen. Sie verweigern es Kommunen zusätzliche Gelder in Höhe von 2,6 Milliar- ihnen, Frau Oberbürgermeisterin von Kiel in spe. den Euro für das nächste Jahr verweigert. Auch das ist (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Ihre Politik. Bis zum Ende dieser Legislaturperiode hätte DIE GRÜNEN – Dietrich Austermann [CDU/ es durch das Steuervergünstigungsabbaugesetz 6,5 bis CSU]: Warum ist sie denn gewählt worden?) 7 Milliarden Euro mehr für die Städte und Gemeinden gegeben. Das wollen wir erreichen. Sie jedoch verwei- Außerdem werden die Kommunen in diesem Jahr gern das. Deshalb ist Ihre Politik kommunalfeindlich. etwa 2 Milliarden Euro zusätzlich zur Verfügung haben, (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ weil wir sie vom Beitrag zur Flutopferhilfe entlasten. DIE GRÜNEN – Volker Kauder [CDU/CSU]: Auch aus der Abgeltungsteuer aufgrund der Quasi-Am- Bei Steuern haben Sie sich schon immer ver- nestie werden sie zusätzliches Geld haben. Es geht um schätzt!) 2 Milliarden Euro in diesem Jahr. Ich bin gespannt, ob Sie dem zustimmen. Herr Glos hat sich, was die Flut- Heute Morgen habe ich gehört, dass Ministerpräsi- opferhilfe anging, eben etwas verplappert; zumindest dent Müller aus dem gesagt hat, die Erhöhung war es nicht logisch. Er hat gesagt, wir würden den Ge- der Mehrwertsteuer könne die Lösung sein. Ich bin ge- meinden das geben, was ihnen sowieso zusteht. Ich erin- spannt. Denn im Moment geht es darum – das ist ein in- nere mich aber, dass Herr Glos, als wir die Entscheidung Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. März 2003 2711

Franz Müntefering (A) getroffen haben, gefordert hat, wir sollten eine Steuer- Das gilt natürlich auch für die 8 Milliarden Euro im (C) senkung vornehmen. In dem Fall wäre das Geld weg ge- privaten Bereich. Die ersten Baransätze stehen in diesem wesen. Den Gemeinden nun mehr als 1 Milliarde Euro Haushalt; Walter Schöler hat es gestern erläutert. Mit zu geben ist nur möglich, weil wir in Sachen Flutopfer dem Haushalt, den wir heute beraten und über den wir so entschieden haben, wie wir entschieden haben. Herr morgen endgültig entscheiden, beschließen wir auch, ob Glos, das müssten doch auch Sie begreifen, oder? es die KfW-Programme für die Kommunen und die Pri- vaten gibt. Wer morgen gegen den Haushalt stimmt, der (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ stimmt auch gegen diese Hilfe für die Kommunen und DIE GRÜNEN – Dietrich Austermann [CDU/ für die Privaten und dagegen, dass in Deutschland CSU]: Sie lügen, dass sich die Balken biegen!) Arbeitsplätze entstehen. Wir werden bis zum Sommer entscheiden, wie wir bei (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ der Gewerbesteuer weiter verfahren. Wir müssen ent- DIE GRÜNEN – Dietrich Austermann [CDU/ scheiden, was die Rolle und Funktion der Gewerbesteuer CSU]: So ein Lügenbeutel!) in Zukunft sein wird. Die Gemeinden brauchen eine grö- ßere Stabilität in ihren Haushalten. Daran arbeiten wir. – Wenn Herr Austermann „Lügenbeutel“ zu mir sagt, ist Dafür wollen wir sorgen. Äußern aber auch Sie sich das fast ein Ehrentitel. Das nehme ich von Ihnen gerne dazu. Bisher kann man nicht erkennen, was die CDU/ an, Herr Austermann. CSU eigentlich will. Wie soll Ihrer Meinung die Gewer- (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Schauen besteuer gestaltet werden? Wie soll die gewerbesteuer- Sie sich doch die Situation in den Kommunen liche Organschaft aussehen? Wie sollen die freien Be- in Schleswig-Holstein an!) rufe einbezogen werden? Wir werden vorschlagen, dass auch die freien Berufe in Zukunft, wie immer diese – Sie gefallen mir nämlich in besonderer Weise. Ich habe Steuer dann heißt, in die Steuer einbezogen werden. Ge- es mir in den letzten Tagen angeschaut. Sie können mich werbebetriebe müssen Gewerbesteuern zahlen. Das soll beschimpfen, wie Sie wollen. Das trifft mich nicht. Da- in Zukunft auch für die freien Berufe gelten. bei bin ich voller Gelassenheit. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Das ist des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – immer die Wahrheit!) Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Habe ich es mir So sind diese Leute eben, wie Herr Glos das gerade ge- doch gedacht!) sagt hat. Machen Sie also ruhig weiter. Wir geben den Kommunen und dem privaten Bereich (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ einen Kreditrahmen für Investitionen. Darüber spre- (B) DIE GRÜNEN) (D) chen Sie nicht viel. Es ist auch vor allen Dingen unsere Aufgabe, darüber zu sprechen. Dabei geht es um einen Meine Damen und Herren, wir werden hierbei aber dicken Batzen, nämlich um den Kreditrahmen für die nicht stehen bleiben. Auch im Bereich der energeti- Kommunen im Umfang von 7 Milliarden Euro. Sie sa- schen Gebäudesanierung werden wir in diesem Jahr gen, dass das nicht allen Kommunen hilft, weil viele von drauflegen. 160 Millionen Euro stehen dafür im Haus- ihnen nicht die Möglichkeit haben, weitere Kredite auf- halt. Auch darüber wird heute und morgen abgestimmt zunehmen. Ich sage Ihnen: Das wissen wir; das ist rich- werden. Herr Minister Stolpe und Herr Trittin haben das tig. Es ist auch kein Trost für diejenigen, die ganz in der Koalition miteinander vereinbart. schwach sind. Was bedeutet das? Das bedeutet, dass wir dazu einla- Die Hälfte der Kommunen in Deutschland ist aber in den und Impulse dafür geben, den Gebäudestand in der Lage, solche Angebote zu nutzen, und sie werden sie Deutschland energetisch zu modernisieren. Das hört sich auch nutzen. Mit Zinsverbilligungen werden wir den wie eine Kleinigkeit an. Wir stehen dabei aber vor einer entsprechenden Impuls geben. Ich bin mir sicher: Mit riesigen Aufgabe. 60 bis 70 Prozent der Gebäude, die im dem, was wir den Kommunen durch ein solches zinsver- Jahre 2060 in Deutschland stehen werden, stehen auch billigtes Kreditprogramm zur Verfügung stellen, werden heute schon. Durch diese kommt es zu einem viel zu ho- wir viele zusätzliche private Investitionen auslösen. hen Energieverbrauch. Wir nehmen die alte Idee von Ar- Wir wollen, dass für das Handwerk und die kleinen und beit und Umwelt, bei der wir in Deutschland schon ein- mittleren Unternehmen in der Region Arbeit vor Ort ent- mal weiter waren, wieder auf und sagen: Jawohl, man steht. kann mit einer vernünftigen energetischen Gebäude- sanierung dafür sorgen, dass die Umwelt entlastet wird Wenn Sie so wollen, geht es um niederschwellige Bau- und dass die kleinen Handwerker und mittleren Unter- arbeit, die man nicht mit riesigen Losen in ganz Europa nehmen Arbeit erhalten. 160 Millionen Euro stehen da- ausschreiben muss und die dann von großen Unterneh- für im Haushalt. Stimmen Sie morgen zu und tun Sie ein men möglicherweise von irgendwoher in Europa geleis- gutes Werk für das Handwerk vor Ort. tet wird. Wir wollen ein Programm, von dem die Hand- werker und die kleinen und mittleren Unternehmen am (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Ort etwas haben und durch das die Menschen Arbeit er- DIE GRÜNEN) halten. Das ist hiermit angelegt und das funktioniert auch. In unserem Haushalt gibt es ein Marktanreizpro- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ gramm für erneuerbare Energien. Zu Zeiten von DIE GRÜNEN) Helmut Kohl standen dafür 10 Millionen pro Jahr zur 2712 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. März 2003

Franz Müntefering (A) Verfügung; inzwischen sind es 190 Millionen. Dieses sem Jahr aufgestockt. So werden wir das auch weiter ma- (C) Thema hat hier in den vergangenen Jahren leider keine chen. große Rolle gespielt. Vielleicht sollten wir uns das ein wenig genauer anschauen und die Naturkatastrophen der Der Bundeskanzler hat am Freitag deutlich gemacht, vergangenen Jahre nicht als Jahrhundertereignisse hin- dass Forschungseinrichtungen im nächsten Jahr mit ei- nehmen, so als wären alle Naturkatastrophen dieses Jahr- ner Erhöhung der Mittel um 3 Prozent rechnen können. hunderts sozusagen schon abgefeiert. Wir sollten begrei- Wir wissen, dass sich die Zukunftsfähigkeit unseres fen, dass hiermit etwas auf die Zivilisation zukommt, Landes nicht an unserer aktuellen Debatte über be- womit wir uns auseinander zu setzen haben. stimmte sozialstaatliche Zusammenhänge messen lässt, sondern sie entscheidet sich letztlich an der Frage, ob In der letzten Legislaturperiode gab es im Deutschen unser Land innovativ ist, ob wir so viel in die Köpfe und Bundestag 16 Abstimmungen, bei denen es um die Frage Herzen der nachwachsenden Generation investieren, ging, ob man mit Energie vernünftiger, sparsamer und dass der Wohlstand und gleichzeitig die soziale Gerech- rationeller umgehen kann und ob man die erneuerbaren tigkeit in Deutschland auch morgen und übermorgen auf Energien stärker als bisher fördern soll. 14-mal haben hohem Niveau gesichert sind. Vor dieser Aufgabe stehen Sie dagegen gestimmt – das also zur Frage der Sensibili- wir. Deshalb ist bei der Finanzierung die Innovation das tät in Sachen Umweltpolitik auf der rechten Seite des Wichtigste. Hauses. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) DIE GRÜNEN) Das, was wir zu leisten haben, dauert seine Zeit. Wir Der eigentliche Punkt für die Zukunftsfähigkeit unse- alle in Deutschland müssen uns bewusst sein – darüber res Landes ist gestern noch einmal deutlich geworden, müssen wir sprechen, obgleich wir uns fragen müssen, als wir hier über Bildung und Forschung gesprochen ob das taktisch klug ist –, dass die Reformpläne, die wir haben. Das war für Sie eine Lehrstunde. Diejenigen von jetzt nach der Regierungserklärung des Bundeskanzlers Ihnen, die dabei waren, werden selbst gemerkt haben, beginnen und noch vor der Sommerpause auf den Tisch wie Sie hier jämmerlich eingebrochen sind. Diejenigen, legen werden, die Dinge nicht so schnell verändern wer- die nicht da waren, sollten es einmal nachlesen. Frau den, wie wir wollen. Es ist ein Problem unserer Zeit, Merkel, ich empfehle Ihnen wirklich, nachzulesen, was dass immer eine sofortige Umsetzung mit schnellen Er- sich hier gestern abgespielt hat. gebnissen erwartet wird. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Am Wochenende hat sich jemand bei mir darüber be- (B) schwert, dass manches nicht klappt. Er war der Ansicht, (D) Die Studierendenquote in Deutschland ist in den letz- dass die Minijobs nach dem Hartz-Konzept ein Flop ten Jahren während unserer Regierungszeit von 28,5 auf seien, weil sie nicht funktionierten. Meine Antwort war: 35,6 Prozent je Jahrgang gestiegen. Diese Quote wer- Guten Morgen! Diese Regelung tritt erst am 1. April die- den wir in dieser Legislaturperiode auf 40 Prozent stei- ses Jahres in Kraft. – Dies ist symptomatisch, weil viele gern. Menschen glauben, die Dinge könnten sofort umgesetzt (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten werden. Das Verhängnisvolle ist, dass nach einer Regie- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) rungserklärung oder einer Ankündigung diese Ideen auf den Seiten 1 und 2 von bedeutsamen Zeitungen aufge- Wir als Koalition geben in dieser Legislaturperiode griffen werden und damit bei den Menschen der Ein- 8,5 Milliarden Euro für die Ganztagsbetreuung von druck entsteht, dass diese Ideen schon am Abend dessel- Kleinkindern und Kindern im Grundschulalter aus. ben Tages realisiert sind. Das ist nicht so. 4 Milliarden Euro werden für die Ganztagsschulen be- reitgestellt. Ab nächstes Jahr werden es je 1,5 Milliarden Wir brauchen Zeit. Für das, was wir jetzt beginnen, Euro pro Jahr für die Kleinkinder sein. Herrn Stoiber brauchen wir etwa ein Jahr. In dieser Zeit werden wir es und Herrn Glos aus Bayern sage ich: Krippe hat nicht schaffen, von einem heute unvollkommenen Arbeits- nur etwas mit Weihnachten, sondern auch mit der Erzie- markt mithilfe des Hartz-Konzeptes zu einem besser or- hung von Kindern unter drei Jahren zu tun. Tun Sie in ganisierten Arbeitsmarkt im Jahre 2004 zu kommen. Wir diesem Punkt einmal etwas! müssen es erreichen – wir werden mit der Umsetzung hoffentlich 2003 beginnen –, 2004 zusätzliche Arbeits- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ plätze in diesem Lande zu schaffen. Dafür brauchen wir DIE GRÜNEN – Michael Glos [CDU/CSU]: Ausdauer. Das müssen wir wissen. Auf die Idee wäre ich nicht gekommen!) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Die Mittel im Etat für Bildung und Forschung sind um DIE GRÜNEN) 25 Prozent gestiegen. Wir haben dafür gesorgt, dass im Bereich der Biotechnologie der Ansatz von 180 Millio- Das kann keine Entschuldigung dafür sein, irgend- nen Euro in 1998 auf 262 Millionen Euro in 2002 erhöht etwas liegen zu lassen. Wir machen Tempo und werden worden ist. Im Bereich der Informationstechnik wurde auf Fortschritte drängen. Aber ich will ganz realistisch der Ansatz im selben Zeitraum von 478 Millionen Euro klar machen: Die angekündigten Reformen und ihre auf 612 Millionen Euro und im Bereich der Gesundheit Umsetzung bis zum Sommer werden nicht dazu führen, von 295 Millionen Euro auf 400 Millionen Euro in die- dass alles in kürzester Zeit wieder in Ordnung kommt. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. März 2003 2713

Franz Müntefering (A) Dabei sehe ich einmal von den Rahmenbedingungen in (Zuruf von der SPD: Thema! – Weitere Zurufe (C) der Welt ab, die ebenfalls eine Rolle spielen. von der SPD) Abschließend möchte ich sagen: Es ist uns mit dem Der Bundeskanzler hat auch gesagt, die Arbeitslosen- Fortschritt Ernst. Wir wollen Fortschritte in dem Sinne, hilfe solle in der Regel auf dem Niveau der Sozialhilfe dass sich dieses Land weiterentwickelt. Das bedeutet für liegen. Was heißt das? Wann soll sie das Sozialhilfeni- uns Wohlstand und soziale Gerechtigkeit. Diesen Fort- veau haben und wann nicht? Die Antworten darauf kön- schritt werden wir in der Koalition sozialdemokratisch nen wir nur einem Gesetzentwurf entnehmen, den es zur buchstabieren, wie es sich für Sozialdemokraten gehört: Stunde nicht gibt. sozial und demokratisch. Wenn Sie uns danach fragen, was wir mittragen und Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. was nicht, fällt die Beantwortung leicht: Wir werden das mittragen, was den Interessen des Landes dient und die (Anhaltender Beifall bei der SPD und dem Probleme löst. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Unruhe bei der SPD) Präsident Wolfgang Thierse: Wir werden das ablehnen, was den Interessen der Men- Das Wort zu einer Kurzintervention erteile ich dem schen in unserem Land widerspricht. So einfach ist diese Kollegen Wolfgang Bosbach. Frage zu beantworten. (Beifall bei der CDU/CSU) Wolfgang Bosbach (CDU/CSU): Wenn Sie es als Fraktionsvorsitzender der größten Herr Kollege Müntefering, Sie haben es für notwen- Fraktion des Bundestages notwendig haben, Zitate zu dig befunden, in Ihrer Rede auf ein Interview Bezug zu fälschen, nehmen, das ich WDR 5 wenige Stunden nach der Rede (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Ja, ein des Bundeskanzlers gegeben habe. Sie haben gesagt, ich Fälscher!) hätte mich in diesem Interview so geäußert: Die Union weiß nicht, was sie von den Vorschlägen des Bundes- offenbart das Zweierlei: ihren Charakter und die Tatsa- kanzlers mittragen kann und was nicht. che, dass Sie keine guten Argumente haben. Ich habe in diesem Interview gesagt, dass ich die Frage, (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. was die Union letztendlich im Bundesrat mit unterstützen Marita Sehn [FDP]) wird und was nicht, wenige Stunden nach der Rede des (B) (D) Bundeskanzlers deshalb nicht beantworten kann, weil wir Präsident Wolfgang Thierse: weder wissen noch wissen können, was in den Gesetzent- würfen stehen wird, die die Koalition oder die Bundesre- Kollege Müntefering, Sie haben Gelegenheit zur Ant- gierung zur Umsetzung der Vorschläge vorlegen müssen. wort. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP) Franz Müntefering (SPD): Ich habe das in diesem Interview auch ausführlich be- Herr Kollege Bosbach, das Zitat lautet: gründet: Erstens. Wenige Minuten nach der Rede des Wir können jetzt zu dieser Stunde natürlich gar Bundeskanzlers haben sich die ersten prominenten Sozi- nicht die Frage beantworten, was wir denn von den aldemokraten, auch aus Ihren Reihen, zu Wort gemeldet Ankündigungen des Bundeskanzlers mittragen wer- und erbitterten Widerstand angekündigt, und zwar unter den und was nicht. anderem unter Bezugnahme darauf, dass einige Vor- schläge in krassem Gegensatz zu dem stehen, was die (Zurufe von der CDU/CSU: Ja!) SPD im Bundestagswahlkampf versprochen hat. Das war an diesem 14. März. Zweitens. Wir haben genau aufgepasst, an welchen Stel- Mir ist an diesem Tag aufgefallen, dass es zwei Reden len die SPD geklatscht hat und an welchen Stellen nicht. gegeben hat, und zwar von Frau Merkel und Herrn Stoi- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- ber, die sehr unterschiedlich waren. neten der FDP) (Wolfgang Bosbach [CDU/CSU]: Nein, das Drittens. Wir haben doch Erfahrungen mit den Ver- war in einem ganz anderen Zusammenhang! – sprechungen, die Sie machen, wenn es heißt: Wir setzen Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Das ist das die Vorschläge des Bundeskanzlers im Maßstab 1 : 1 um. mit dem Schwindeln!) Sie haben das dem deutschen Volk feierlich geschworen, Meine Kritik an Ihrer Reaktion ist gewesen und ist es als es zum Beispiel um die Vorschläge des Hartz-Kon- auch jetzt: Sie haben zwei Dinge an diesem Freitag nicht zeptes ging. Umgesetzt haben Sie einen Teil Hartz, einen geschafft. Sie hatten selbst keine eigene, in sich ge- Teil Wasser. Das haben Sie der Bevölkerung nicht ver- schlossene abgestimmte Meinung sprochen. Wir wollen sehen, ob all das, was der Bundes- kanzler gesagt hat, exakt so in den Gesetzentwürfen ste- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ hen wird, die diese Regierung vorlegen muss. DIE GRÜNEN) 2714 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. März 2003

Franz Müntefering (A) und Sie waren entgegen allen Ankündigungen nicht vor- Dr. Guido Westerwelle (FDP): (C) bereitet. Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sie haben uns ein halbes Jahr ermahnt: Nun legt einmal (Zurufe von der SPD: Wo ist Ihre Hand- auf den Tisch, was ihr wollt! tasche?) (Widerspruch bei der CDU/CSU) – Wenn Sie brav Bitte sagen, dann frage ich einmal, ob einer in unseren Reihen für Sie ein Paar Stöckelschuhe Das hat die Koalition mit einer Vorankündigung von hat. zwei Wochen getan. Ich war bass erstaunt, was anschlie- ßend Frau Merkel und Herr Stoiber gesagt haben, näm- Ich glaube, dass diese Diskussion heute in einem so lich Dinge, die sich fundamental widersprachen und die ernsten Umfeld stattfindet, dass wir uns mit der entschei- bei Ihnen übrigens auch zu seltsamen Reaktionen ge- denden Frage zu Beginn auseinander setzen sollten. führt haben. Herr Kollege Müntefering, Sie haben heute eine Rede (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ gehalten, die vor allen Dingen ein Kennzeichen hat. DIE GRÜNEN – Volker Kauder [CDU/CSU]: (Zuruf von der SPD: Dass sie gut ist!) Sie kommen in den Lügenausschuss, wenn Sie so weitermachen!) Sie haben in dieser Rede eine Arbeitsteilung versucht, die wir in den Wahlkämpfen, im Bundestagswahlkampf Was das Klatschen angeht, Herr Bosbach: Wenn in und in den Landtagswahlkämpfen, schon zweimal erlebt diesem Bundestag gesagt wird, dass es im Irak doch haben. Die Arbeitsteilung, die Sie in diesem Hause und Krieg geben müsse, dann klatschen Sozialdemokraten vor der deutschen Öffentlichkeit versuchen, sieht wie nicht. Das ist klar. Wenn in diesem Bundestag gesagt folgt aus: Erstens. Wer die Arbeit von Rot-Grün kriti- wird, dass man leider das Arbeitslosengeld zusam- siert, ist gegen Deutschland. menstreichen bzw. kürzen müsse und leider die Arbeits- losenhilfe gekürzt werden müsse, klatschen wir nicht. (Beifall eines Abgeordneten der SPD – Zurufe Weshalb sollen wir denn klatschen? Das ist eine Heraus- von der SPD: Ach!) forderung, die sich an die Menschen richtet und uns bit- – Dass dabei noch einer von Ihnen klatscht, veranlasst ter wehtut. Das wissen wir und damit gehen wir nicht mich zu der Bemerkung: Einer muss in jedem Saal der leichtfertig um. Wenn wir das noch beklatschen würden, Dümmste sein, aber Sie müssen sich nicht freiwillig mel- dann hätte ich das Gefühl, ich säße auf Ihrer Seite. den. (B) (D) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten DIE GRÜNEN) der CDU/CSU) Sie haben, Herr Bosbach, als Herr Stoiber hier erklärt Zweitens. Wer wie wir in der Außen- und Sicherheits- hat, er wolle und er werde vorschlagen, dass der Kündi- politik eine Haltung vertritt, die sich an der Zugehörig- gungsschutz in Betrieben mit 20 und weniger Beschäf- keit zum Bündnis und der Völkergemeinschaft orientiert, tigten abgeschafft wird, zum Teil geklatscht. der wird – das hat der Bundeskanzler selbst getan – zum (Wolfgang Bosbach [CDU/CSU]: Da war ich Kriegswilligen gestempelt. Ich glaube, wir nehmen in überhaupt nicht im Saal! – Lachen und Beifall unserer Zusammenarbeit und auch in dem Ansehen die- bei der SPD und beim BÜNDNIS 90/DIE ses Hauses in der Öffentlichkeit Schaden, wenn wir uns GRÜNEN – [BÜNDNIS 90/DIE auf diese Art und Weise auseinander setzen. Wer Rot- GRÜNEN]: Sehr gut!) Grün kritisiert, ist nicht gegen Deutschland, sondern ge- gen die Politik von Rot-Grün, und wer eine andere Au- – Das ist ja hochinteressant. Könnten Sie jetzt auch noch ßen- und Sicherheitspolitik will, ist kein Kriegswilliger, sagen, weshalb Sie nicht im Saal waren, als Herr Stoiber sondern ein genauso großer Friedensfreund wie Sie auf sprach? der Seite der Regierungsfraktionen. (Heiterkeit bei der SPD und dem (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) der CDU/CSU) Ich möchte Ihnen nur abschließend sagen: Sie waren Wir haben nicht zum ersten Mal über eine andere nicht im Saal und auch nicht im Bilde. Ausrichtung der Außen- und Sicherheitspolitik gespro- chen. Wenn Sie nach Alternativen fragen, dann sollten (Lebhafter Beifall bei der SPD und dem diese auch aufgezeigt werden. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Sehr richtig!) Präsident Wolfgang Thierse: Im Januar kam es endlich zu einem Gipfel der Europä- Ich erteile das Wort Herrn Kollegen Guido ischen Union mit einer Erklärung der Staatschefs, in der Westerwelle, FDP-Fraktion. ausdrücklich die militärische Intervention als letztes Mittel zur Beseitigung von Massenvernichtungswaffen (Beifall bei der FDP – Zurufe von der SPD: im Irak gebilligt wurde. Hätten Sie diese Haltung von Oh!) Anfang an vertreten, befänden wir uns heute nicht so Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. März 2003 2715

Dr. Guido Westerwelle (A) nahe an einem Krieg. Dass wir heute einem Krieg so Wir Freien Demokraten bedauern, dass die diplomati- (C) nahe sind, ist dem Versagen der Diplomatie zu verdan- schen Bemühungen zur Lösung der Krise bislang nicht ken, ausdrücklich auch dem Versagen der deutschen Au- erfolgreich waren. Die Verantwortung für diese Situation ßenpolitik dieser Regierung. liegt auf beiden Seiten des Atlantiks. Ich betone aus- drücklich – wir haben das von Anfang an, mehrfach (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten auch im Deutschen Bundestag, vertreten –: Ein – mög- der CDU/CSU – Peter Dreßen [SPD]: Pfui licherweise bevorstehender – militärischer Konflikt ohne Deubel! Schämen Sie sich! – Joachim Poß klare Legitimation durch den Sicherheitsrat der Ver- [SPD]: Pfui! – Waltraud Lehn [SPD]: Dummes einten Nationen kann nicht die Billigung der Freien De- Zeug!) mokraten finden. Da Sie sich in Ihren Zwischenrufen so heftig dagegen (Beifall bei Abgeordneten der FDP) wehren, will ich einen Ihrer Genossen zitieren, Wir haben uns stets am Völkerrecht orientiert. Wir wol- (Waltraud Lehn [SPD]: Das ist ja unglaublich, len, dass wir in einem europäischen Bündnis, in einem was Sie da machen, Herr Kollege!) Bündnis der Völkergemeinschaft handeln. Deswegen der sich heute auf europäischer Ebene zu diesem Thema halten wir an unserer Haltung auch nach dem Bush-Ulti- geäußert hat. Es handelt sich um den früheren Kollegen matum fest: Wir lehnen jeden nationalen Alleingang in diesem Hause, Günter Verheugen. Ihr SPD-Kollege ohne entsprechende Resolution der Vereinten Nationen hat als EU-Kommissar heute Vormittag der Europäi- ab. schen Union vorgeworfen, durch ihre Uneinigkeit in der (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Irakfrage an politischem Gewicht zu verlieren. Er hat der CDU/CSU) festgestellt, der Einfluss Europas werde nicht geltend ge- macht, weil alle wie ein Hühnerhaufen durcheinander Für die Freien Demokraten ist und bleibt der Sicher- liefen. Genau das haben wir kritisiert. Ein besonders heitsrat die völkerrechtliche Legitimationsinstanz für schädliches Huhn, um in diesem Bild zu bleiben, war Konfliktlösungen. Damit sind wir bei einer sehr sensib- diese Regierung. len Frage, über die auch außerhalb dieses Hauses von Mitgliedern dieses Parlaments diskutiert wird, und zwar (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten nicht nur von dem stellvertretenden Fraktionsvorsitzen- der CDU/CSU – Zurufe von der SPD: Unver- den der Grünen, Herrn Ströbele. Kollege Ströbele, der, schämtheit!) wie gesagt, immerhin stellvertretender Vorsitzender ei- Wir alle wollen keinen Krieg, sondern den Frieden. ner Regierungsfraktion ist, vertritt die Auffassung, es (B) Aber wir wollen auch Sicherheit in der Welt und wir handle sich bei der geplanten Intervention um einen (D) wollen nicht, dass ein Diktator in unserer unmittelbaren „völkerrechtswidrigen Angriffskrieg“. Nachbarschaft im Besitz von Massenvernichtungswaffen (Zuruf von der SPD: Das haben Sie doch eben ist. Der irakische Diktator Saddam Hussein weigert auch gesagt!) sich seit Jahren beharrlich, den einschlägigen Resolutio- nen zur Entwaffnung des Iraks nachzukommen. Er hat – Nein, Sie müssen genau zuhören, was gesagt wird. Das insgesamt gegen 17 Resolutionen der Vereinten Natio- sind nämlich ganz feine Unterschiede. nen verstoßen und damit vielfach das Völkerrecht gebro- chen. Der irakische Diktator ist nicht das Opfer, sondern Ich würde mir als Oppositionspolitiker nicht anma- der Täter. Es ist mir wichtig, das in dieser Debatte zu be- ßen – gerade weil ich als Jurist weiß, wie unterschied- tonen, weil in der öffentlichen Diskussion mittlerweile lich das Völkerrecht in den einzelnen Ländern interpre- Opfer und Täter verwechselt werden. tiert wird; ich sehe am Nicken, dass die Experten das genauso sehen –, die deutsche völkerrechtliche Mehr- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten heitsmeinung zum alleinigen Maßstab für die Weltvöl- der CDU/CSU) kerrechtsmeinung erklären. Hier muss man vorsichtig sein. Wir als Abgeordnete dürfen aber in einer solchen Er ist ein Menschenverächter, der sein Volk unterdrückt, Situation wie der jetzigen ein klares Wort der beiden vergewaltigt, mordet und – das muss leider festgestellt Verfassungsminister erwarten. Ich möchte von der Jus- werden – mit biologischen und chemischen Waffen - tizministerin und vom Innenminister von dieser Stelle dezu vergast. Alle, die sich einer Wertegemeinschaft zu- aus hören, wie sie das bewerten; denn sie haben dem gehörig fühlen, haben den Auftrag, geschlossen dem Parlament Rechenschaft abzulegen. irakischen Diktator entgegenzutreten. Wäre diese Ge- schlossenheit der Völkergemeinschaft von Anfang an (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) gewahrt worden, statt sie von beiden Seiten des Atlan- tiks infrage zu stellen, wären wir heute in einer besseren Sie sind für die Einhaltung der Verfassung zuständig. Situation. Von ihnen dürfen wir also erwarten, dass sie darlegen, wie die Bundesregierung das bewertet. Sie haben gesagt, (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten lauwarm komme man nicht weiter. Ich kann dazu nur der CDU/CSU) sagen: Das richtet sich vor allen Dingen an die Adresse der Regierung, die sich bisher vor einer klaren juristi- Der irakische Diktator kann seinem Volk einen letzten schen Bewertung drückt. Dienst erweisen. Er kann ihm Freiheit und Frieden ver- schaffen, indem er das Land verlässt. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) 2716 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. März 2003

Dr. Guido Westerwelle (A) Wir müssen – das ist bereits angesprochen worden Wenn Sie eine Fürsorgepflicht gegenüber diesen Sol- (C) und das wird weiterhin angesprochen werden – noch daten empfänden und der Meinung wären, diese Solda- über einen anderen Punkt reden. Es geht nicht nur um ten könnten in Schwierigkeiten geraten, dann müssten unsere Kritik an dem Verhalten der deutschen Außenpo- Sie sich dem Parlament stellen. Wir sind bereit, Ihnen litik und der deutschen Diplomatie, sondern auch um das entsprechende Mandat zu geben, weil wir zu unseren das, was uns möglicherweise konkret bevorsteht. Wir Soldaten stehen. Aber Sie dürfen diese Soldaten auf kei- entscheiden in dieser Woche über die Verlängerung eines nen Fall in solche Schwierigkeiten bringen. Wir wissen Mandats, das – wir alle hoffen, dass diese Einschätzung doch auch, warum Sie sich dem Deutschen Bundestag richtig ist – weit sicherer ist als das, worüber wir im nicht stellen wollen. Sie wollen das nicht, weil Ihre Re- Augenblick diskutieren. Herr Kollege Gerhardt und ich gierung dann Probleme bekäme. Wir, die Abgeordneten, haben Ihnen, Herr Bundeskanzler, das bereits in dem dürfen aber nicht zulassen, dass Soldaten in größte gestrigen Gespräch dargelegt, zu dem Sie uns dankens- Schwierigkeiten geraten, nur um Ihnen, Herr Bundes- werterweise eingeladen hatten, um uns zu informieren. kanzler, Schwierigkeiten mit Ihrer eigenen Koalition zu Es muss übrigens positiv erwähnt werden, dass es einen ersparen. solchen Gesprächsfaden wieder gibt. Ich appelliere an Sie – ich hoffe, dass Sie das tun werden –, diesen Ge- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) sprächsfaden fortzusetzen. Man kann zwar in solchen Zu diesem Teil möchte ich zum Schluss Folgendes Situationen wie der jetzigen vieles politisch unterschied- sagen: Wir werden in einiger Zeit das, was Sie in diesen lich bewerten. Aber wir alle haben dieselbe Ver- Monaten getan haben, nicht danach bewerten, ob Sie pflichtung, nämlich das Beste für unser Land zu tun. Sie Stimmungen entsprochen haben. Das war schließlich Ihr können sich aber nicht lauwarm um die Frage herum- eigentlicher Ansatz. Warum sonst haben Sie eine solche drücken: Ist für den Einsatz deutscher Soldaten in Frage der nationalen Sicherheit auf einer Wahlkampf- AWACS-Aufklärungsflugzeugen ein entsprechendes veranstaltung in Goslar der Welt mitgeteilt? Es ist ein Mandat dieses Parlaments notwendig oder nicht? Sie großer Qualitätsverlust auf dem Feld der deutschen Au- müssen gegenüber dem Deutschen Bundestag verbind- ßenpolitik, dass solche historischen Fragen auf Wahl- lich klarstellen, welches Mandat diese Soldaten haben kampfveranstaltungen und nicht bei den Vereinten Na- und wie die unkalkulierbaren Risiken aussehen, die sich tionen oder in Brüssel behandelt werden. im Laufe eines solchen Mandats ergeben können. Das ist keine akademische, sondern eine außerordentlich hand- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) feste Frage, die uns natürlich auch in der Praxis beschäf- Das ist unerträglich. tigen muss. Sie werden irgendwann zurückblicken und dann geht (B) Alle Fraktionen haben Briefe von unseren Soldatin- es nicht um die Frage, ob Sie Stimmungen entsprochen (D) nen und Soldaten bekommen – einige haben hier diese haben. Dann geht es auch nicht um die Frage, ob Sie Debatte verfolgt –, in denen sie fragen, wie sich der Beifall bekommen haben. Dann geht es nämlich um die Deutsche Bundestag dazu stellt. Die Verfassungslage in Fragen: Was hat Ihre Regierung konkret erreicht und wo Deutschland ist klar: Die ist eine Parla- ist Ihre Regierung außenpolitisch tatsächlich angekom- mentsarmee und keine Regierungsarmee. Die Verpflich- men? Ich fürchte – das ist nichts, worüber sich irgend- tung jedes Abgeordneten ist, dafür zu sorgen, dass die jemand in diesem Hause freut –, dass wir irgendwann Soldaten nicht in eine unklare Situation geraten. Zu- auf diese Zeit zurückblicken und feststellen werden: Es nächst einmal trägt jeder von uns – gleichgültig ob er der kam zu diesem Krieg, weil auch wir, die Deutschen, zur Opposition, einer der Regierungsfraktionen oder der Uneinigkeit des Bündnisses beigetragen haben Regierung angehört – Verantwortung gegenüber jedem einzelnen Soldaten, der einen – im Zweifelsfall lebens- (Lothar Mark [SPD]: Das ist ein unglaublicher gefährlichen – Auftrag wahrnimmt. Vorwurf!) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten und wir damit den Druck von Saddam Hussein genom- der CDU/CSU) men haben. Wir werden feststellen: Dieser Krieg hat stattgefunden; er hat Menschenleben gekostet und es Man darf Soldaten wegen eines solchen Auftrags nicht gilt, jedes Menschenleben zu betrauern. Wir werden fest- in eine unklare Rechtslage schicken. stellen: Das NATO-Bündnis ist um Jahrzehnte zurückge- worfen worden. Dasselbe gilt für unser Ziel einer ge- Ich verweise auf ein Schreiben, das mir unser Experte meinsamen europäischen Außen- und Sicherheitspolitik. Günther Nolting dankenswerterweise überlassen hat. Dieses Schreiben hat eine Truppenkameradschaft aus Ich komme am Schluss dieses Teils meiner Ausfüh- Geilenkirchen – sie stellt Mitglieder der Besatzung unse- rungen zu folgendem Ergebnis: Herr Bundeskanzler, Sie rer AWACS-Flugzeuge – an uns gerichtet. Angehörige haben dieses Land nicht nur wirtschaftspolitisch ruiniert, dieser Truppenkameradschaft schreiben uns, die deut- sondern auch außenpolitisch in eine totale Sackgasse ge- schen Soldaten befänden sich aufgrund der direkten Un- führt. terstellung des Verbandes unter das NATO-Kommando (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Elke ohne entsprechenden Parlamentsbeschluss kurzfristig in Ferner [SPD]: So ein Schwachsinn!) einem Kriegseinsatz, ohne dass die verfassungsmäßige Grundlage eingehalten und damit die rechtliche Absi- Herr Bundeskanzler, das muss Ihnen ins Stammbuch ge- cherung gegeben sei. schrieben werden. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. März 2003 2717

Dr. Guido Westerwelle (A) Wir merken schon jetzt, wie sich die Vorzeichen ver- Nichts anderes werden Sie hier vortragen können; (C) ändert haben. In der öffentlichen Diskussion ist von denn die anderen Länder in Europa kommen zurecht; sie Achsen die Rede – übrigens auch von zahlreichen Ihrer haben bessere Ausgangsvoraussetzungen. Kolleginnen und Kollegen –, und zwar von Achsen nicht (Zuruf des Bundesministers Hans Eichel) mehr im Sinne von Bündnis. Die Achse, die jetzt ge- meint ist, ist Berlin–Paris als Alternative zur früheren – Ach, Herr Kollege Eichel! Dass Sie auf der Regie- Achse mit Washington. Ich habe zu den Vereinigten rungsbank an der Stelle empört aufschreien, kann ich Staaten das kritisch gesagt, was gesagt werden muss. nachvollziehen. Aber wer in diesem Hause soll Ihnen Glauben Sie allen Ernstes, dass der deutschen Außen- nach den Versprechungen, die Sie vier Wochen vor der politik gedient ist, wenn eine Achse Berlin–Paris–Lon- Bundestagswahl gemacht haben, noch irgendetwas ab- don–Washington durch eine Achse Paris–Berlin–Mos- nehmen, Herr Bundesfinanzminister? kau–Peking ersetzt wird? Das wird nicht funktionieren! Man muss doch vorhersehen, was hiermit an histori- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordne- schem Schaden angerichtet wird! ten der CDU/CSU – Walter Schöler [SPD]: 18 Prozent, Herr Westerwelle!) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Peter Dreßen [SPD]: Was ist denn die Alterna- Das schenken Sie sich besser; das können Sie wirklich tive?) einsammeln. Jetzt merken wir, wie Sie sich einlassen. Ich kann die- Wir haben erreicht, dass wir über Wirtschaftspolitik ses Kapitel etwas kürzen, weil wir schon am Freitag aus- reden, und das muss auch erfolgen. Wir sagen Ihnen: Es führlich darüber gesprochen haben. reicht nicht aus, dass Sie in der Wirtschaftspolitik nur das machen, was Sie am Freitag angekündigt haben, wo- (Zurufe von der SPD) bei Ihre eigenen Leute das, was Sie angekündigt haben, – Es ist sehr bemerkenswert, wie Sie dazwischenrufen. schon wieder einrollen. Sie müssen mutiger werden. Es ist manchmal bedauerlich, dass die Qualität Ihrer Zwi- (Walter Schöler [SPD]: „18“ hieß die Zahl! schenrufe nicht über die Fernsehgeräte zu den Zuschaue- 18!) rinnen und Zuschauern vordringt. Dass man sich bei einer solch ernsten Debatte so niveaulos einbringt, wie Sie das Sie müssen wirklich eine Ruck-Rede halten. Sie müssen tun, wäre ganz bestimmt auch unserem Volk peinlich. Ihren Worten auch Taten folgen lassen. Sie müssen end- lich begreifen: Der Weg der Münteferings – da predigt (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Zu- man in Wahrheit nur noch Klassenkampf –, rufe von der SPD) (B) (Lachen bei der SPD) (D) Wir merken jetzt, wie Sie sich darauf einrichten und Ausreden bringen. der Weg, der in der Wirtschaftspolitik des 19. Jahrhun- derts begründet ist, führt in der Moderne nicht weiter. (Lothar Mark [SPD]: Sie sind nur destruktiv!) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Herr Bundeskanzler, Sie haben das am Freitag bereits in- der CDU/CSU) toniert. Bei der zweiten, der eigentlichen Regierungser- klärung, die genauso länglich war wie Ihre, nämlich von Wir brauchen in einer Dienstleistungsgesellschaft end- Herrn Clement, ist das präzise ausgeführt worden. Span- lich moderne Strukturen auf dem Arbeitsmarkt. Wir nend ist es, als Abgeordneter einmal beide Regierungser- dürfen nicht mehr von Ihrem Weltbild des Hochofen- klärungen genau nachzulesen; denn sie stehen in einer arbeiters, der Dienstmagd und des Stallknechts ausge- interessanten Spannung zueinander. Sie machen jetzt ge- hen. Das ist von gestern. nau das, was Sie in Wahrheit intellektuell nicht machen Deswegen brauchen wir niedrigere Steuern. Das dürfen: Sie finden schon jetzt die Begründung dafür, schafft auch höhere Staatseinnahmen. Wir brauchen ein dass Sie sowohl haushaltspolitisch als auch wirtschafts- flexibles Arbeitsrecht. Das schafft Bewegung auf dem politisch alle Ihre Ziele, unsere Ziele, verfehlen werden. Arbeitsmarkt. Wir brauchen Privatisierung. Wir brau- Sie sagen schon jetzt – am Freitag haben Sie damit ange- chen Subventionsabbau, fangen; Herr Müntefering hat es wieder intoniert –: Wir werden die Arbeitslosigkeit leider nicht so verringern (Lachen bei der SPD) können – wegen der Weltlage. Wir werden die Stabili- und zwar tatsächlich auch und gerade da, wo Sie sich tätskriterien leider nicht einhalten können – wegen der wehren, zum Beispiel bei der Kohle. Wenn wir dieses Weltlage. – Das hat mit der Weltlage nichts zu tun. Land nicht von der bürokratischen Staatswirtschaft in (Lothar Mark [SPD]: Sie wissen, dass das, was eine soziale Marktwirtschaft umwandeln, dann bleibt es Sie sagen, nicht stimmt!) bei der Massenarbeitslosigkeit. Sie wird größer und nicht kleiner werden – leider. Das hat auch mit Globalisierung nichts zu tun. Das hat etwas mit schlechter Politik und vor allem auch etwas (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten mit katastrophalen Rahmenbedingungen für unsere Wirt- der CDU/CSU) schaft, verursacht durch die Bundesregierung, zu tun. Deswegen werden wir uns auch mit denen unter Ihnen (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten auseinander setzen und auseinander setzen müssen, die aus der CDU/CSU) den Gewerkschaften kommen; das sind 75 Prozent. Wir 2718 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. März 2003

Dr. Guido Westerwelle (A) haben im Deutschen Bundestag mittlerweile nicht mehr das Bundesverfassungsgericht kritisiert, sondern ich (C) das, was im Grundgesetz angelegt ist, nämlich einen fairen habe mir die Meinung der Mehrheit des Zweiten Senats Interessenausgleich der Tarifparteien. Wenn 75 Prozent des Bundesverfassungsgerichts zu Eigen gemacht. von Ihnen selber aus einer Gewerkschaft kommen, dann ist der im Grundgesetz angelegte Interessenausgleich zwi- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten schen den Tarifparteien in Wahrheit aufgehoben. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Lachen bei der SPD) Das muss in einer rechtlichen Auseinandersetzung mög- lich sein. Sie vertreten nicht mehr Arbeitnehmerinteressen, son- dern Funktionärsinteressen. Wir von der Opposition ma- Sie behaupten hier vor dem Deutschen Bundestag, chen mehr für Arbeitnehmer und Arbeitslose als Sie mit was Sie vorher bereits öffentlich erklärt haben, es seien Ihren roten Fahnen am 1. Mai. mir bei der Führung dieses Prozesses Fehler unterlaufen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – La- ( [CDU/CSU]: Natürlich! chen bei der SPD – Walter Schöler [SPD]: Wer ist denn sonst verantwortlich?) Dumm mit sieben m, Herr Westerwelle!) – Hören Sie doch einmal zu! – Ich wäre Ihnen dankbar, Ich will zum Schluss noch eine aktuelle Bemerkung wenn Sie das konkretisieren würden. Konkretisieren Sie aufgreifen, Herr Bundesinnenminister, die ebenfalls hier das bitte! Diese Meinung der FDP ist interessant. Ich hingehört – auch das muss in großer Klarheit und Nüch- habe immer respektiert, dass Sie die Auffassung vertre- ternheit hier vorgetragen werden –: Wie Sie, Herr Bun- ten haben – diese Auffassung kann man vertreten –, dass desinnenminister, als Verfassungsminister gestern eine man eine Partei nur politisch bekämpfen und nicht von Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes kommen- dem Verbotsverfahren Gebrauch machen soll. Diese tiert haben, nämlich als absurd, rechtsirrtümlich, falsch, Meinung habe übrigens auch ich ursprünglich vertreten. als Fehler, so etwas haben wir noch nicht erlebt. Ich habe mich dann auf der Grundlage der Erkenntnisse, die wir gewonnen haben, anders entschieden. Ich bin (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) auch heute noch der Meinung, dass eine Partei, die orga- Ich sage Ihnen das in großer Klarheit, Herr Schily: nisierten Antisemitismus vertritt, in der deutschen Par- Sie, Herr Kollege Beck von den Grünen und leider auch teienlandschaft keinen Platz haben darf. Herr Kollege Beckstein von der CSU haben das Verfah- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ ren gegen die NPD von Anfang an angestrengt, und DIE GRÜNEN) zwar nicht aus juristischen, sondern aus politischen Op- (B) portunitätsgründen. Sie sind jetzt gescheitert. Deswegen Ich wundere mich schon, dass Sie nicht das zitieren, (D) möchte ich Sie bitten, Ihr eigenes Versagen in der Pro- was die Mehrheit des Senats gesagt hat, dass es nämlich zessführung nicht zu kaschieren, indem Sie jetzt das auch um die Würde und um die Wahrung des Art. 1 des höchste deutsche Gericht attackieren. Grundgesetzes geht, sodass man von allen Möglichkei- ten Gebrauch machen sollte, die ein solches Verfahren (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten bietet. der CDU/CSU) Die Auffassung, die auch in einigen Kommentaren Wir befinden uns in einer schwierigen Zeit; das wis- zum Ausdruck kommt, ein Verbotsverfahren könne nur sen Sie alle. Dass sich diese Debatte heute überwiegend dann in Betracht gezogen werden, wenn die Exekutive in um Außenpolitik dreht, ist nahe liegend und nachvoll- Form der Verfassungsschutzbehörden des Bundes und ziehbar. Aber, meine sehr geehrten Damen und Herren, der Länder vor Einleitung eines Verfahrens und während wir stehen an einem solchen Tag natürlich auch vor einer des Verfahrens auf die Beobachtung einer aggressiv ver- Generalbilanz dessen, was der Bundeskanzler mit seiner fassungsfeindlichen und antisemitischen Partei verzich- rot-grünen Regierungskoalition zu verantworten hat. tet, halte ich schlicht für falsch; das stimmt. Diese Regierungskoalition ist innenpolitisch, wirt- schaftspolitisch, außen- und sicherheitspolitisch auf gan- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten zer Länge gescheitert. Neuwahlen wären wirklich das des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Beste für unser Land. Deshalb ist das keine mangelnde Achtung vor dem (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Bundesverfassungsgericht. An Respekt vor dem Bundes- Walter Schöler [SPD]: 18 Prozent, Herr verfassungsgericht wird mich hier im Hause niemand Westerwelle!) überbieten. Aber ich nehme mir die Freiheit, die Mehr- heitsmeinung des Senats zu teilen und die Minderheits- Präsident Wolfgang Thierse: meinung zu kritisieren. Das Wort zu einer Kurzintervention erteile ich dem (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Abgeordneten Otto Schily. DIE GRÜNEN)

Otto Schily (SPD): Präsident Wolfgang Thierse: Herr Kollege Westerwelle, Sie haben mich persönlich Einen Moment, Herr Kollege Westerwelle. Der angesprochen, aber falsch zitiert. Ich habe nämlich nicht Kollege Christian Ströbele möchte auch noch eine Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. März 2003 2719

Präsident Wolfgang Thierse (A) Kurzintervention machen. Dann können Sie auf beide re- Zukunft bleiben muss: Wie stehen wir zur Position der (C) agieren. Bundesregierung, die auf die Verhinderung eines solchen Krieges angelegt ist, die auf die Verhinderung dieses (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE Krieges in den letzten Monaten angelegt war und auf die GRÜNEN]: Herr Präsident, meine Kurzinter- Verhinderung und Abkürzung dieses Krieges auch in Zu- vention bezieht sich auf einen anderen Punkt!) kunft angelegt sein wird? Das ist die Grundsatzfrage. – Auf wen wollen Sie sich beziehen? Auf den Kollegen (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- Westerwelle? SES 90/DIE GRÜNEN) (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Da vermisse ich von Ihnen in der Tat eine klare Stel- NEN]: Ja, auf den Kollegen Westerwelle!) lungnahme. – Wenn Sie sich auf den Kollegen Westerwelle beziehen (Widerspruch bei der CDU/CSU) wollen, können Sie jetzt Ihre Kurzintervention machen. Sie, sowohl die CDU/CSU als auch die FDP, haben in Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- den letzten Monaten nichts unversucht gelassen, um der NEN): Bundesregierung in dieser ganz wichtigen Grundsatz- frage Knüppel zwischen die Beine zu werfen und alles Herr Kollege Westerwelle, Sie haben mich angespro- zu tun, um die Position der Bundesregierung zu schwä- chen und gesagt, ich würde deutsche Rechtsregeln bei chen. Darüber sollten Sie nachdenken. Sie selber müssen der Beurteilung internationaler Konflikte zugrunde le- erst einmal Tritt fassen und klar definieren: Stehen Sie in gen. dieser Frage hinter der Bundesregierung oder wollen Sie (Michael Glos [CDU/CSU]: Das war ich!) die Bundesregierung bei dieser wichtigen Arbeit weiter- hin diskreditieren und behindern? Deshalb möchte ich Ihnen sagen, wie es nach internatio- nalen Rechtsregeln aussieht. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) (Zuruf von der SPD: Der weiß das nämlich nicht! – Michael Glos [CDU/CSU]: Es ist kein Präsident Wolfgang Thierse: Bezug da, Herr Präsident!) Kollege Westerwelle, bitte schön. Die Resolution der Generalversammlung der Vereinten Nationen Nr. 3314 vom 14. Dezember 1974 definiert, was eine internationale Aggression und was ein An- Dr. Guido Westerwelle (FDP): (B) (D) griffskrieg sind. In Art. 1 steht ganz eindeutig: Vielen Dank, Herr Präsident. – Herr Kollege Ströbele, Aggression bedeutet Anwendung von Waffenge- zunächst eine Antwort auf Ihren Beitrag. Ich habe nicht walt durch einen Staat gegen die Souveränität, die gesagt, Sie hätten sich im Völkerrecht ausschließlich auf territoriale Unversehrtheit oder politische Unabhän- die deutsche Meinung – nach meiner Einschätzung: die gigkeit eines anderen Staates... Mehrheitsmeinung – berufen. Ich habe an der betreffen- den Stelle auf einen Zwischenruf geantwortet. Ich will Dann kommt in Art. 2 ein wichtiger Satz: Ihnen erläutern, was ich meine. Wendet ein Staat als erster Waffengewalt unter Ver- Ich habe ebenfalls im Staatsrecht meine Ausbildung letzung der Charta an, so stellt dies einen Beweis gemacht. des ersten Anscheins für eine Angriffshandlung dar (Zurufe von der SPD: Oh!) ... – Ich weiß gar nicht, was das Raunen soll. Wir von der In Art. 5 heißt es: FDP sind der Überzeugung, dass es auch in der Politik Ein Angriffskrieg ist ein Verbrechen gegen den nicht schadet, wenn man mehr zu Ende gebracht hat als Weltfrieden. die Fahrschule. Herr Kollege Westerwelle, auch nach dieser Defini- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten tion der Vereinten Nationen, die dafür die zuständige In- der CDU/CSU) stanz sind und das festgelegt haben, sage ich: Es handelt Ich wusste nicht, dass man sich für eine Berufsausbil- sich, wenn morgen oder in den nächsten Tagen der Krieg dung im Bundestag entschuldigen muss. beginnen sollte, unter diesen Umständen um einen völ- kerrechtswidrigen Angriffskrieg im Sinne des Grundge- (Zurufe von der SPD) setzes und im Sinne der Resolution und der Definition – Bei Ihnen ja. Das ist wahr. der Vereinten Nationen. Ich will mich mit Ihnen an dieser Stelle auseinander Herr Kollege Westerwelle, wir müssen uns mit diesem setzen, Herr Kollege Ströbele. Ich habe gesagt: Wir Ab- ganz wichtigen Punkt auch hier im Deutschen Bundestag geordnete haben zunächst einmal ein Recht darauf, zu auseinander setzen und dazu Stellung beziehen. Aber wir erfahren, wie die beiden Verfassungsminister diesen sollten dabei nicht vergessen, dass – bei aller Auseinan- Sachverhalt bewerten; dersetzung und auch bei unterschiedlicher Rechtsausle- gung in diesen Details – das Wichtigere ist und auch in (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) 2720 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. März 2003

Dr. Guido Westerwelle (A) denn diese Minister haben einen entsprechenden Appa- Wir haben leider – „leider“ betone ich doppelt und drei- (C) rat mit Völkerrechtsjuristen. Sie müssen uns, den Mit- fach – Recht behalten, weil es genau so gelaufen ist. gliedern des Deutschen Bundestages, gegenüber mittei- len, ob die Auffassung, die Sie vertreten, die offizielle Herr Präsident, da ich auf zwei umfangreiche Kurz- Meinung der Bundesregierung ist. interventionen zu verschiedenen Themen eingehen muss, will ich noch eine letzte Bemerkung machen. Herr (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Kollege Schily, wenn wir uns darin einig sind, dass man der CDU/CSU) den Rechtsradikalismus, übrigens auch den Linksextre- mismus, in Deutschland politisch bekämpfen muss, dann Im Übrigen will ich Ihnen sagen: Alles, was Sie ge- möchte ich, dass Sie Ihre Entscheidungen der letzten sagt haben, vertreten Sie bitte heute und morgen in Ihrer fünf Jahre, mit denen Sie die Zuschüsse des Bundes für Koalition; das müssen Sie uns doch nicht sagen. Wenn die politischen, demokratischen Stiftungen einschließ- Sie, Herr Kollege Ströbele, als Abgeordneter des Deut- lich der Bundeszentrale für politische Bildung stetig zu- schen Bundestages zu dem Ergebnis kommen, dass das rückgeführt haben, ein völkerrechtswidriger Angriffskrieg ist – wie Sie es hier gesagt haben –, dann muss ich Ihnen sagen, dass Sie (Walter Schöler [SPD]: Da sind Sie falsch dann, wenn Sie die Pflichten aus dem Grundgesetz ken- informiert! Völlig falsch!) nen, die Sie als einzelner Abgeordneter haben, Sie ent- wieder aufheben. Mehr politische Bildung ist in diesen sprechend handeln müssen. Wenn Sie sagen, das sei ein Zeiten gefragt und nicht weniger. Auf diesen Punkt ein- völkerrechtswidriger Angriffskrieg, dann haben Sie nach zugehen wäre eine angemessene Antwort von Ihnen in dem Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland an- der Haushaltsdebatte gewesen. dere Verpflichtungen, als sich einfach nur vor die Kame- ras zu begeben, Herr Kollege Ströbele. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Präsident Wolfgang Thierse: der CDU/CSU) Ich erteile das Wort Kollegin Krista Sager, Bünd- Was Sie machen, reicht nicht. Das weiß auch jeder, der nis 90/Die Grünen. hier sitzt. Ich würde mir nicht herausnehmen, an der Stelle die Situation so zu bewerten. Ich würde vielmehr abwar- Krista Sager (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): ten wollen – das ist schon immer Tradition in diesem Hause gewesen, beispielsweise Anfang der 90er-Jahre, Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und damals mit anderer Rollenverteilung –, damit die Regie- Herren! Wir haben uns am letzten Freitag sehr ausgiebig (B) rung als erste das Wort bekommt und ihre juristische und mit den innenpolitischen Herausforderungen befasst. (D) völkerrechtliche Meinung darlegen kann. Dann werden Auch morgen werden wir über die Wirtschafts- und Ar- wir unsere Meinung öffentlich äußern. Andersherum beitsmarktpolitik sprechen und streiten, so wie wir ges- kann es nicht gehen. tern über die Haushaltspolitik gesprochen und gestritten haben. Ich denke, die Bürgerinnen und Bürger haben ein Nun zum dem, was Sie, Herr Kollege Schily, ange- Recht darauf, dass wir uns hier in der Generaldebatte auf sprochen haben. Sie machen es sich zu einfach, wenn Sie das Thema eines bevorstehenden Irakkrieges konzen- sagen, Sie hätten die Mehrheit des Senates auf Ihrer trieren. Denn dieses Thema treibt die Menschen in die- Seite. Warum ging es überhaupt um die Verfahrensein- sem Land um und beunruhigt sie. stellung? Warum konnte es überhaupt zu dieser Ent- scheidung kommen? – Weil Sie schlampig geklagt ha- Dazu sage ich eines, meine Damen und Herren von ben, Herr Kollege Schily, der Opposition: Wir werden auch darüber sprechen müs- sen, worin wir uns nicht einig sind. So einfach, wie Sie, (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Herr Westerwelle und Herr Glos, es sich heute hier ge- der CDU/CSU) macht haben, so einfach kann man es sich in dieser Frage nicht machen. und weil Sie im Laufe des Verfahrens von einem Fehler nach dem anderen überrascht worden sind. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Wir sind die einzige Fraktion in diesem Hause, die dieses Verfahren ganz klar abgelehnt hat. Deswegen ma- Das war wirklich billig. Dazu kann ich nur feststellen: chen Sie uns bitte keine Vorwürfe. Was haben wir uns Die Art und Weise, wie Sie hier wochen- und monate- von Ihnen beschimpfen lassen müssen! Wir sind von lang in der Irakpolitik herumlaviert haben, halten wir zahlreichen Mitgliedern der Koalitionsfraktionen – bei- politisch für zu leicht, auch Sie, Herr Glos. Sie sind ge- spielsweise von Herrn Stiegler und von Herrn Beck – als wogen und für zu leicht befunden worden. Anwälte und Freunde der Nazis in die rechtsradikale (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ecke gestellt worden. Wir haben von Anfang an gesagt: sowie bei Abgeordneten der SPD) Die NPD ist eine widerwärtige Partei. Man muss sie po- litisch bekämpfen, juristisch geht das schief. Wenn man sich Ihre Irakpolitik anschaut, dann kommt man zu dem Ergebnis: Eine Slalomstrecke ist im Ver- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten gleich dazu ein Vorbild an Geradlinigkeit. Im Vergleich der CDU/CSU) mit Ihrer Irakpolitik ist ein Halm im Wind so stabil wie Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. März 2003 2721

Krista Sager (A) Stahlbeton. Das muss man feststellen, wenn man sich willentlich abgebrochen und beendet worden ist. Das (C) Ihre Politik hier anschaut. wäre nicht notwendig gewesen. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD – Dr. Peter sowie bei Abgeordneten der SPD) Ramsauer [CDU/CSU]: Schwacher Vergleich! Wer hat Ihnen diesen Vergleich aufgeschrie- Es ist eine Tatsache, zu der Sie heute keine Stellung ben?) bezogen haben, dass die Bedrohung, die vom Irak hätte ausgehen können, noch nie so gering war wie heute. Es Die Bürgerinnen und Bürger in unserem Land haben ist eine Tatsache, zu der Sie heute keine Stellung bezo- ein tiefes Gefühl von Ohnmacht und Hilflosigkeit. Die gen haben, dass die internationale Kontrolle des Irak Menschen sind in diesen Tagen bedrückt und bestürzt. noch nie so stark gewesen ist wie im Moment. Es ist fer- Viele empfinden wohl auch Wut und Enttäuschung. ner eine Tatsache, zu der Sie heute keine Stellung bezo- Aber eines betone ich ganz deutlich: Wut darf jetzt unser gen haben, dass die Arbeit der Waffeninspekteure erfolg- Handeln nicht bestimmen. Deswegen finde ich es gut, reich gewesen ist, dass die Waffeninspekteure selber dass es zahlreiche Beispiele für ein echtes Mitgefühl mit gesagt haben, dass sie erfolgreich arbeiten und dass ihre den Menschen im Irak, mit den Menschen in dieser Re- Arbeit nicht zu Ende ist. Es wäre notwendig gewesen, gion gibt. diese Arbeit fortzuführen. Gerade auf der Basis des Ar- beitsprogramms von Blix wäre das eine gute Perspektive Ich sage aber auch: Dieses Mitgefühl muss ebenso die gewesen. Menschen in den USA einschließen, die heute aufgrund der tiefen Verletzungen im Zusammenhang mit den Er- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eignissen des 11. September 2001 meinen, dass die USA sowie bei Abgeordneten der SPD) ein Vorrecht hätten, jenseits jeder internationalen Ord- nung und jeder internationalen Regelung zu handeln. Meine Damen und Herren, die Bundesregierung hat Auch wenn man diese Position für falsch hält, müssen in diesem Konflikt immer eine klare Haltung gehabt. Sie wir die Gefühle dieser Menschen in unser Mitgefühl ein- hat unermüdlich für einen Strategiewechsel in Richtung beziehen. auf eine friedliche Lösung gearbeitet. Das ist richtig ge- wesen. Die Bundesregierung hat das nicht getan, weil sie (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN den grausamen Charakter des Regimes im Irak überse- sowie bei Abgeordneten der SPD – Zuruf von hen hat, und sie hat es nicht getan, weil sie das Leid der der FDP: Schwacher Beifall!) Opfer dieses Regimes übersehen hat, sondern sie hat es getan, weil sie die massiven Risiken und Gefahren dieses Bei den notwendigen Entscheidungen, die wir jetzt Krieges gesehen hat. (B) treffen müssen, werden wir uns nicht von denjenigen ir- (D) ritieren lassen, die völkerrechtliche Diskussionen instru- Ich werfe der Opposition in diesem Hause vor, dass mentalisieren möchten, um der Bundesregierung nur ein sie sich mit diesen Gefahren und Risiken bis zum heuti- Stöckchen hinzuhalten, um von ihren eigenen Problemen gen Tage nicht ernsthaft auseinander gesetzt hat. abzulenken. Wir werden uns davon leiten lassen, dass es jetzt auch darauf ankommt, die internationalen Struktu- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ren und die internationale Ordnung zu restabilisieren. und bei der SPD) Das ist der Maßstab unserer Politik. Es besteht ja nicht nur das Risiko für die zahllosen un- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN schuldigen Opfer. Das allein ist schon schlimm genug, sowie bei Abgeordneten der SPD) wenn man eine Alternative zum Krieg hat. Es besteht doch auch die Gefahr der zunehmenden Destabilisierung Wir werden einen Krieg erleben, der unnötig, nicht dieser Region. Es besteht doch auch die Gefahr, dass die gerechtfertigt, falsch und überflüssig ist. Wir werden Antiterrorallianz auseinander bricht. Es besteht auch die diesen Krieg nicht verhindern können, so fatal dies auch Gefahr, dass der Terrorismus mehr Zulauf bekommt und ist. Wir werden einen Krieg erleben, der gegen die Mehr- nicht weniger. Es besteht auch die Gefahr, dass funda- heit im Sicherheitsrat, gegen die Mehrheit der Bevölke- mentalistische Bewegungen möglicherweise pro-westli- rung in der Europäischen Union und gegen den Willen che Regierungen hinwegfegen können. Der Islamismus von Millionen Menschen in dieser Welt geführt wird. hat infolge dieses Konfliktes in schon jetzt Zu- Wir werden einen Krieg erleben, zu dem es eine Al- lauf bekommen. Es ist doch eine Gefahr, dass Funda- ternative gibt. Das ist das besonders Fatale: Es gibt eine mentalisten tatsächlich in den Besitz von Massenver- Alternative zu diesem Krieg. Das ist die Fortsetzung der nichtungswaffen und auch in den Besitz der Atombombe Abrüstung des Iraks mit friedlichen Mitteln. geraten können. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Wir müssen auch überlegen, was es für die Sicherheit sowie bei Abgeordneten der SPD) in der Welt heißt, wenn so genannte Schurkenstaaten sich anschauen, wie der Irak und wie Nordkorea behan- Dieser Krieg ist eben nicht das letzte Mittel, Herr Glos, delt werden. Da besteht doch die Gefahr, dass ein Land sondern offensichtlich ein gewolltes Mittel, weil man wie der erst recht versuchen wird, an die Bombe sich für eine falsche Strategie entschieden hat. Er ist ein heranzukommen. Diese Bemühungen werden nicht we- gewollter Krieg, weil der Weg, der gangbar gewesen niger werden, wenn hier von der US-Regierung von wäre, die Fortsetzung der Arbeit der Waffeninspekteure, vornherein gesagt wird: Wir verfolgen eine Präventiv- 2722 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. März 2003

Krista Sager (A) kriegsstrategie, um die arabische Region zu ordnen und Krieg legitimiert. Diese Frage haben Sie hier nicht be- (C) Schurkenstaaten aufzumischen. Das führt nicht zu mehr antwortet. Stabilität und nicht zu mehr Sicherheit in der Welt. (Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Die wäre doch (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN damit beantwortet worden!) sowie bei Abgeordneten der SPD) Sie haben sich zu dem Ziel des Regimewechsels und da- Meine Damen und Herren, die größte Gefahr von al- mit auch zu der Strategie eines Präventivkriegs, der zu len ist doch die, dass die Menschen in der islamischen diesem Regimewechsel führen soll, positiv geäußert. und in der arabischen Welt den Eindruck bekommen, es Das Einzige, was Sie stört, ist, dass es keine UN-Resolu- solle ein christlicher Kreuzzug gegen sie eröffnet wer- tion gibt, die das legitimiert. Das müssten Sie den Men- den, es gehe hier um eine Konfrontation der Kulturen. schen aber auch einmal so deutlich sagen; denn damit er- Ich bin froh, dass Millionen Menschen auf der Welt ge- klären Sie im Grunde genommen, Sie hätten sich im gen diesen Krieg demonstriert haben, und ich bin auch Sicherheitsrat für eine kriegslegitimierende Resolution ausgesprochen dankbar dafür, dass der Papst sich so ein- eingesetzt, wenn Sie dazu Gelegenheit gehabt hätten. deutig gegen diesen Krieg positioniert hat. Das wäre in Bezug auf Ihre Position die Wahrheit gewe- sen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Dadurch besteht die Chance, dass die Menschen in der und bei der SPD) islamischen und in der arabischen Welt erkennen, dass es Herr Westerwelle, das hätte ich von Ihnen wirklich er- hier nicht um einen Kreuzzug und nicht um einen Kon- wartet, zumal Sie sagten, man hätte sich hier für die Ein- flikt der Kulturen geht. heit Europas besonders stark machen sollen. Welche Ich bin auch besonders dankbar für den Einsatz der Einheit Europas meinten Sie denn? Wäre das nicht die Bundesregierung. Einheit Europas auf Grundlage der Position von Tony Blair gewesen? Darüber hätten Sie den Menschen hier (Beifall des Abg. Lothar Mark [SPD]) reinen Wein einschenken müssen. So viel zu dem von Ih- nen gebrauchten Begriff „lauwarm“! Was Sie hier gesagt Die Bundesregierung hat viel Respekt bekommen für ih- haben, stellte in Wirklichkeit eine lauwarme politische ren Einsatz für eine friedliche Lösung. Sie hat mit ihrem Erklärung dar, weil Sie die entscheidende Antwort Einsatz für eine friedliche Lösung aber auch deutlich ge- schuldig geblieben sind. macht, dass es hier nicht um einen Konflikt der Kulturen (B) geht, sondern dass auch in der westlichen Welt, in der (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (D) christlichen Welt, Menschen in diesem Krieg Unrecht und bei der SPD) sehen und ihn verhindern wollen. Meine Damen und Herren, die FDP ist in dieser Frage (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN wieder nur in einer einzigen Hinsicht berechenbar: Sie sowie bei Abgeordneten der SPD) hängt ihr Fähnchen wie immer in den Wind. Wir sind in Europa als unmittelbare Nachbarn der is- (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ lamischen Welt auch unmittelbar betroffen. Es ist doch DIE GRÜNEN und der SPD) eine Lehre des alten Europa, dass man mit seinen unmit- telbaren Nachbarn in Frieden und in Sicherheit leben Am 13. März letzten Jahres forderte Herr Westerwelle muss und dass das nur eine gemeinsame Sicherheit und die Bundesregierung auf, unverzüglich in Washington nicht eine Sicherheit gegen die anderen sein kann. gegen einen möglichen US-Angriff auf den Irak zu intervenieren. Im März letzten Jahres forderte er (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Außenminister Fischer auf, zügigst – also nicht erst DIE GRÜNEN) im April, sondern noch im März – nach Washington Meine Damen und Herren, jetzt werfen wir einmal ei- zu fahren, nen Blick auf die Motive der Opposition. Die Motive (Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Das wäre auch der Bundesregierung habe ich dargestellt; es sind ehren- besser gewesen!) werte und gute Motive, auch wenn sie letztlich nicht er- folgreich gewesen ist. und begründete dies damit, dass die deutsch-amerikani- sche Freundschaft es auch verlange, gegen Amerika of- (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ fene kritische Worte zu finden. Zugleich erklärte er im DIE GRÜNEN und der SPD) März letzten Jahres, er habe den Eindruck, dass sich die Aber welches sind die Motive der Opposition? Bundesregierung bereits mit einem Alleingang der USA gegen den Irak abgefunden habe. Schließlich verlangte Die FDP erklärt uns, sie lehne den Krieg ab, weil er er, Fischer müsse in den USA klar machen, dass die wahrscheinlich ohne UN-Legitimation geführt werden Europäer ein militärisches Vorgehen gegen Saddam solle. In derselben Erklärung hat sie sich zu dem Ziel des Hussein ablehnten. – Soweit Herr Westerwelle im März Regimewechsels positiv geäußert. Ich frage die Vertreter letzten Jahres. der FDP, wie sie sich zu diesem Krieg verhalten hätten, wenn es eine UN-Resolution gegeben hätte, die diesen (Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. ) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. März 2003 2723

Krista Sager (A) Im Herbst letzten Jahres hat er dann behauptet, die men Sie sofort zurück! Er setzt sich bei kei- (C) Bundesregierung habe sich viel zu früh festgelegt. Was nem Mann auf den Schoß! Schämen Sie sich!) ist denn das für eine Position! Herr Glos, Sie haben heute hier von Geradlinigkeit (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gesprochen. Der Einzige, der sich in den letzten Tagen und bei der SPD) halbwegs geradlinig geäußert hat, ist der saarländische CDU-Ministerpräsident Peter Müller. Herr Westerwelle, ich habe in den letzten Monaten nicht erkennen können, in welchem europäischen Hühnerhof (Michael Glos [CDU/CSU]: Auch das nehmen Sie am liebsten mitgegackert hätten. Das war ganz offen- Sie sofort zurück! Der Mann äußert sich selten sichtlich unklar. geradlinig!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Er hat gesagt, die Position „Egal was passiert, wir stehen und bei der SPD) an der Seite von Amerika!“ sei nicht seine Haltung. Aber genau dies ist in den vergangenen Wochen und Monaten Bei Ihnen ist nur auf eines Verlass: Sie sind wendig wie die Haltung von großen Teilen der CDU gewesen. Vor ein Wetterhahn und schwankend wie ein Rohr im Wind. allen Dingen war es die Position von Angela Merkel. (Dr. [CDU/CSU]: Ihr Reden- (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ schreiber gehört in ein Rhetorikseminar! Wer DIE GRÜNEN – Michael Glos [CDU/CSU]: Das macht denn solche Vergleiche? Frau Sager, nehmen Sie zurück! – Dr. Peter Ramsauer [CDU/ schämen Sie sich! Sie blamieren sich doch!) CSU]: Sie sind eine Dreckschleuder!) Im März letzten Jahres sind Sie für ein bisschen Frieden Frau Merkel, an Ihrer Position ist wirklich peinlich eingetreten, im Herbst für ein bisschen Krieg und heute und beschämend, dass Sie zu feige sind, den Bürgerin- sind Sie für ein bisschen „Ich weiß nicht mehr recht“. nen und Bürgern reinen Wein über das einzuschenken, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN was Sie wirklich wollen. und bei der SPD) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Michael Glos [CDU/CSU]: Das Einzige, was bei Ihnen immer sicher ist, ist, dass Sie müssten „Unsäglich“ heißen, nicht Sager!) Sie bei jeder Gelegenheit den Versuch machen werden, der Bundesregierung ein neues Stöckchen hinzuhalten. Es ist peinlich und unerträglich, wie Sie bis zum gestri- Aber Stöckchen-Hinhalten ist kein Ersatz für eine ver- gen Tage herumgeeiert sind. Gestern haben Sie gesagt, antwortungsvolle politische Position in einer so wichti- Sie unterstützten das Ultimatum der USA. Es bedurfte (B) gen Frage. dreier Nachfragen, was das denn bezogen auf Ihre Hal- (D) tung zum Krieg bedeutet. Dann haben Sie endlich ge- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sagt, ja, Sie unterstützten das Ultimatum mit allen Fol- und bei der SPD) gen. Das ist aber wirklich zu wenig, wenn es darum geht, Überboten wurde dieses traurige Bild der FDP in den den Bürgerinnen und Bürgern die Wahrheit zu sagen. letzten Monaten in der Tat nur Warum stellen Sie sich nicht hin und sagen ehrlich: Ich bin dafür, dass die Arbeit der Waffeninspekteure beendet (Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Von den wird, ich bin dafür, dass an die Stelle der Arbeit der Waf- Grünen!) feninspekteure der Krieg gegen den Irak tritt. – Das ist von dem traurigen Bild, das die CDU/CSU abgeliefert die Frage, um die es geht. Da hätten Sie ehrlich sein hat, allen voran ihre Vorsitzende Angela Merkel. müssen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) und bei der SPD – Joachim Poß [SPD]: Frau Merkel drückt sich!) Über Herrn Stoiber muss man schon fast kein Wort mehr verlieren. Im Wahlkampf hat er sich mit der Forde- Meine Damen und Herren, wir haben in der Vergan- rung überschlagen, im Falle eines Krieges müsse es ein genheit manch schwierige Frage beantworten müssen. Überflugverbot geben. Wir wissen inzwischen, dass Herr Wir haben uns mancher Auseinandersetzung gestellt und Stoiber für viele Überraschungen gut ist, sicher auch in auch in schwierigen Fällen Verantwortung übernom- der Zukunft. men: in der -Frage, in der Afghanistan-Frage, auch in der Frage, wie man eine weitere Eskalation in (Dr. Angela Merkel [CDU/CSU]: Genau!) Mazedonien verhindern kann. Wir haben uns diesen Fra- gen gestellt und auf all diese Fragen klare Antworten ge- In der Irakfrage hat er sich wie ein Hase im Zickzack geben, genauso wie wir jetzt zum Irakkrieg ganz klar durch die Furchen bewegt. Man musste ja schon Angst Nein sagen. Eine solch klare Aussage aber ist von der haben, dass Herr Stoiber aus Versehen auf dem Schoß CDU eben nicht gekommen. von Christian Ströbele landet. Das ist Christian Ströbele zum Glück erspart geblieben. (Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer) (Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten des Frau Merkel, Sie haben in den letzten Wochen gebets- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der mühlenartig gesagt, eine zweite Resolution wäre hilf- SPD – Michael Glos [CDU/CSU]: Das neh- reich. Verschwiegen haben Sie aber, dass diese zweite 2724 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. März 2003

Krista Sager (A) Resolution, um die es die ganze Zeit schon ging, von den gewusst, worum es geht. Herr Schäuble hat das Thema (C) USA und Großbritannien als kriegslegitimierend ver- am Anfang der Legislaturperiode angesprochen und hat standen worden wäre. Als Sie gesagt haben, eine zweite hier ganz deutlich gesagt, es habe nach dem 11. Septem- Resolution wäre hilfreich, hätten Sie für die Bürgerinnen ber in den USA einen Strategiewechsel gegeben dahin und Bürgern klar hinzufügen müssen: Ja, ich, Angela gehend, Präventivkriege führen zu wollen, um so ge- Merkel, würde im Sicherheitsrat einer kriegslegitimie- nannte Schurkenstaaten unter Kontrolle zu bringen und renden Resolution zustimmen. – Diese klare Antwort diese als Brückenköpfe für eine politische Neuordnung sind Sie den Bürgerinnen und Bürgern schuldig geblie- der arabischen Welt zu nutzen. ben. (Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Das soll (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ich gesagt haben?) und bei der SPD) Er hat weiter gesagt – das können Sie nachlesen –, man Sie haben wochen- und monatelang versucht, den müsse sich mit dieser Strategie der USA auseinander Eindruck zu erwecken, die Bundesregierung sei mit ihrer setzen. Haltung zum Irakkrieg isoliert. Ich frage Sie: Wen, glau- (Abg. Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU] ben Sie, vertreten Sie mit Ihrer Position eigentlich noch meldet sich zu einer Zwischenfrage) in diesem Land? Sie haben landauf, landab verkündet, Sie hätten den Eindruck, dass die Bundesregierung iso- Die Bundesregierung hat sich – im Gegensatz zu Ih- liert sei, und zwar zu einem Zeitpunkt, als sich die Bun- nen – mit dieser Strategie auseinander gesetzt und hat desregierung mit aller Kraft bemüht hat, der Arbeit der festgestellt, dass sie hoch gefährlich ist. Deswegen ha- Waffeninspekteure eine Chance zu geben. Ohne die ben wir uns dieser Strategie nicht angeschlossen und deutsch-französische Initiative hätte es im Sicherheitsrat werden es auch nicht tun. Sie dagegen haben sich mit nicht die Haltung gegeben, der Arbeit der Waffenin- dieser Strategie nicht auseinander gesetzt, obwohl Sie spekteure die Zeit und die Ressourcen zu geben, die sie genau wussten, worum es geht. Jetzt haben Sie sich im gebraucht haben. Ohne die deutsch-französische Initia- Grunde zu Helfershelfern gemacht, indem Sie sagten, tive hätte es keinen Beschluss der EU-Außenminister Sie teilten das Ultimatum mit allen Konsequenzen. und keinen Beschluss der europäischen Regierungschefs gegeben, die damit bewirken wollten, dass es durch die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Arbeit der Waffeninspekteure zu einer friedlichen Ab- und bei der SPD) rüstung kommt. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Und was haben Sie gemacht? – Sie haben diese Bemü- (B) hungen hintertrieben. Sie sind durch Ihre Anbiederei in Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen (D) den USA der Bundesregierung in den Rücken gefallen. Schäuble? (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Krista Sager (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): und bei der SPD) Ja. Dabei haben Sie ganz genau gewusst, worum es in dieser Frage geht; das ist für mich das eigentlich Schlimme. Sie können sich nicht damit herausreden, Sie hätten nicht ge- Dr. Wolfgang Schäuble (CDU/CSU): wusst, worum es geht. Sie haben bei Ihrem Handeln im- Frau Kollegin Sager, ich möchte Sie nach der Beleg- mer das innenpolitische Kalkül gehabt, das Sie der Bun- stelle für das Zitat fragen, das Sie mir eben in den Mund desregierung versucht haben unterzuschieben. gelegt haben. Ich bin einigermaßen überrascht, welche (Dr. Angela Merkel [CDU/CSU]: Was?) bemerkenswerten Ausführungen ich nach dem, was Sie gesagt haben, gemacht haben soll. Ich kenne diese nicht Sie haben gehofft, dass die Bundesregierung im und wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mir die Belegstelle UNO-Sicherheitsrat am Ende mit Syrien alleine dasteht. hierfür nennen würden. Sie waren tief enttäuscht, als sich gezeigt hat, dass der Sicherheitsrat nicht aus einem Haufen käuflicher Länder Krista Sager (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): besteht, sondern dass die Länder – das gilt auch für die kleinen Länder und die Länder Lateinamerikas und Afri- Herr Schäuble, ich habe Sie nicht zitiert. kas – Rückgrat gezeigt haben. (Lachen bei der CDU/CSU – Volker Kauder (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN [CDU/CSU]: Eine Unverschämtheit! – und bei der SPD) Michael Glos [CDU/CSU]: Schämen Sie sich!) Es wäre Ihnen am liebsten gewesen, wenn das eingetre- – Hören Sie bitte zu! – Ich habe Sie nicht zitiert, sondern ten wäre, von dem viele ausgegangen sind, nämlich dass habe lediglich gesagt, dass Sie in dieser Debatte auf diese Länder am Ende nationalen, strategischen, mate- diese entscheidende Frage hingewiesen haben. Das habe riellen und finanziellen Interessen den Vorrang gegeben ich im Protokoll nachgelesen und ich bin gerne bereit, hätten. Ihnen diese Stelle herauszusuchen. Sie haben bei der Frage, was die Wahl der richtigen Im Herbst letzten Jahres haben Sie gesagt, es gebe in Strategie in Bezug auf den Irak angeht, von Anfang an den USA vor dem Hintergrund der Ereignisse des Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. März 2003 2725

Krista Sager (A) 11. September eine Strategiedebatte, die in Richtung sich damit auseinander gesetzt und eine Antwort gefun- (C) eines Präventivkriegs gehe. den, während die CDU/CSU darauf zunächst keine Ant- wort gegeben hat. Jetzt haben Sie eine fatale Antwort ge- (Michael Glos [CDU/CSU]: Das hört sich geben, weil Sie diese Präventivschlagstrategie offensiv etwas anders an!) unterstützen, indem Sie sich zu diesem Ultimatum und Mit dieser Strategie müsse man sich auseinander setzen. seinen Folgen bekennen. Das haben Sie sogar eingefordert. Aber Sie selber haben (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN das, was Sie gefordert haben, nicht erfüllt. und bei der SPD) (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN und der SPD) Herr Schäuble, ich will Ihnen auch gerne etwas zu dem, was Sie angesprochen haben, sagen. Natürlich Und obwohl Sie sich mit dieser Strategie nie ernsthaft müssen wir uns mit der veränderten Sicherheitslage in auseinander gesetzt haben, sind sie ihr im Grunde ge- der Welt auseinander setzen. Ich habe gerade gesagt, nommen jetzt hinterhergelaufen. Das ist das Schlimme. dass die Bundesregierung das sehr deutlich getan hat, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN indem sie sich mit den Risiken der jetzigen Präventiv- und bei der SPD) schlagstrategie auseinander gesetzt hat. Der Fehler – auch der US-amerikanischen Regierung – in dieser Frage ist doch, dass übersehen wird, dass man den internationalen Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Terrorismus nicht durch Erstschläge gegen so genannte Gestatten Sie eine zweite Zwischenfrage des Kolle- Schurkenstaaten bekämpfen kann, weil es beim Terroris- gen Schäuble? mus nicht um Staaten, sondern um international operie- rende Netzwerke geht. Die entscheidende Frage wird sein, ob diese Netzwerke durch das, was wir in der Welt Krista Sager (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): betreiben, stärker oder schwächer werden. Diese Frage Ja. haben Sie falsch beantwortet. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Dr. Wolfgang Schäuble (CDU/CSU): und bei der SPD) Frau Kollegin Sager, nachdem ich jetzt doch beruhigt Meine Damen und Herren, wir werden uns aber auch bin, dass ich offenbar etwas ganz anderes gesagt habe als damit auseinander setzen müssen, wie es jetzt weiterge- das, was Sie gerade vorgetragen haben, hen soll. Natürlich ist es fatal, dass hier ein Alleingang (B) (Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Nein! – vorgenommen wird, jenseits der internationalen Struktu- (D) Zuruf von der SPD: Richtig zuhören!) ren und der internationalen Ordnung. Natürlich ist es auch fatal, dass die einzige militärische Supermacht auf möchte ich Sie gerne fragen, ob Sie bereit sind, zu bestä- der Welt alleine über Krieg und Frieden entscheidet. Ich tigen, dass ich sinngemäß Folgendes gesagt habe: Die sage eines aber ganz deutlich: Gerade weil wir nicht ak- Fragen, die sich die Amerikaner stellen, nämlich was zu zeptieren, dass die einzige militärische Supermacht auf tun ist in einer Zeit, in der die auf gegenseitige Vernich- der Welt alleine über Krieg und Frieden entscheidet, tungsfähigkeit gegründete Abschreckungsstrategie des müssen wir jetzt verstärkt daran arbeiten, die internatio- Kalten Krieges nicht mehr ausreicht, um in der globali- nalen Strukturen zu stabilisieren. Das heißt, wir müssen sierten Welt des 21. Jahrhunderts Sicherheit zu gewähr- an den Fortschritten in der europäischen Integration leisten, müssen wir aufnehmen? hart arbeiten. Vor allen Dingen mit Blick auf die osteuro- (Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- päischen Staaten ist das unbedingt notwendig. Die euro- NEN]: Das ist ein anderes Thema!) päische Integration kann nicht erfolgreich fortgesetzt werden, wenn wir das NATO-Bündnis als eine Basis da- Ob die Antworten, die die Amerikaner geben, richtig für nicht stabilisieren. Deswegen ist es auch richtig, dass sind, ist eine ganz andere Frage. Mit den Fragen müssen die Bundesregierung all ihre Entscheidungen, die sie wir uns aber beschäftigen. jetzt zu treffen hat, auch unter dem Gesichtspunkt trifft, ob die internationalen Strukturen stabilisiert oder desta- Krista Sager (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): bilisiert werden. Herr Schäuble, das, was ich zuerst gesagt habe, haben Wir werden den Dialog über die Sicherheitslage in der Sie offensichtlich nicht wahrnehmen können, weil Sie Welt verstärkt führen müssen, mit den europäischen Ge- noch in Ihre Akte vertieft waren. sellschaften, mit den USA und mit den Menschen in den USA. Wir werden darüber reden müssen, dass am (Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Ich allerwenigsten eine interkulturelle Gesellschaft wie die habe genau zugehört! – Michael Glos [CDU/ USA Konflikte der Kulturen unbeschadet überstehen CSU]: Im Gegensatz zu Ihnen kann er blättern kann. Das halte ich für eine zentrale Aufgabe in dem und zuhören!) Dialog, der uns bevorsteht. Wir müssen den Menschen in Tatsache ist, dass ich immer gesagt habe: Ich finde es den USA deutlich machen, dass wir das Leid und den richtig, dass Sie die Frage bezüglich der Auseinanderset- Schock, den sie am 11. September erlebt haben, nicht zung mit der amerikanischen Regierungsstrategie aufge- verkennen, dass dies aber nicht die Ausgangsbasis dafür worfen haben. Ich sage nur: Die Bundesregierung hat sein kann, Leid über die Menschen in anderen Ländern 2726 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. März 2003

Krista Sager (A) zu bringen. Das kann nicht die richtige Strategie sein. (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Ströbele (C) Wir werden auch darüber reden müssen, dass das Leid, gegen Sager, Sager gegen Ströbele, Fischer ge- das die Menschen in den USA am 11. September erlebt gen Sager, Fischer gegen Ströbele! – Michael haben, für eine politische Strategie von Kräften in der Glos [CDU/CSU]: Machen Sie sich keine fal- US-Administration missbraucht wurde, die ihre politi- schen Hoffnungen!) sche Strategie schon längst vor dem 11. September fest- gelegt hatten. Kein Mensch in diesem Lande kann noch erkennen, wo- hin Sie mit Ihrer Politik wollen. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN SES 90/DIE GRÜNEN – Dr. Guido Westerwelle sowie bei Abgeordneten der SPD) [FDP]: Es war mir klar, dass Herr Ströbele hierbei klatscht! Das ist hanebüchen!) Besonders interessant fand ich die Meldung von dpa, die Fraktion der CDU/CSU sei der Tanker und der Vor- Wir werden in den nächsten Wochen und Monaten sitzende der CSU, Herr Stoiber, sei das Schnellboot. Ich das umsetzen müssen, was der Bundeskanzler am als Hamburgerin habe mich darüber gewundert und ge- Freitag als Programm der Regierung dargestellt hat. Wir fragt: Wenn man einem großen Boot helfen will, in ei- wissen, dass vieles von dem, was wir uns vorgenommen nem schwierigen Gewässer den Kurs zu finden, dann ist haben, den Menschen in diesem Lande etwas abverlan- ein Bugsierer oder ein Schlepper besser. Ein Schnellboot gen wird. Wir wissen, dass dies nicht alles nur frohe Bot- bringt in diesem Falle nichts. Herr Stoiber hat sich offen- schaften sind. Aber ich sage klar und deutlich: Wir wer- sichtlich das Schnellboot ausgesucht, weil er den Tanker den diese Schritte gehen müssen, um unsere sozialen schnell einholen, entern und die Brücke besetzen will. Sicherungssysteme zukunftssicher zu machen. Wir wer- Bei Ihnen wollen offensichtlich viel zu viele auf die Brü- den diese Schritte gehen müssen, um die Lohnnebenkos- cke. Nur diejenige, die auf der Brücke steht, weiß nicht, ten senken zu können und um Chancen für mehr Be- wo es lang geht. schäftigung zu schaffen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Es geht nicht darum, eine dauerhafte Ausgrenzung sowie bei Abgeordneten der SPD) von Menschen in diesem Land einzig und allein mate- riell zu kompensieren. Uns geht es darum, den Men- Solange Sie sich in der CDU/CSU nicht geeinigt haben, schen in diesem Land wirklich die Chance auf Teilhabe ob Sie nun ein Schub-Schub-Verband oder ein Schub- und Beschäftigung zu geben. Das ist das Ziel unserer Schlepp-Verband sein wollen, so lange sollten Sie von Politik und unserer Reformen. Aber wer glaubt, bei der einer großen Fahrt Abstand nehmen. Ich befürchte, dass Verkündigung solcher Schritte „Bravo“ rufen und klat- bei Ihnen niemand das Kapitänspatent besitzt. (B) schen zu müssen, der sollte seine Neigungen vielleicht (D) lieber in irgendwelchen SM-Szenen statt in der Politik (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ausleben. sowie bei Abgeordneten der SPD)

(Michael Glos [CDU/CSU]: Wohin bitte? Sind Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Sie bereit, das zu erklären? – Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Was ist das? – Dietrich Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Austermann [CDU/CSU]: Ist das irgendwel- Kollegen Romer? cher Schweinkram? Wo ist die denn zu Hause?) Krista Sager (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die Umsetzung wird nämlich nicht immer sehr ange- Nein. – Ich möchte Ihnen zum Schluss meiner Rede nehm sein, aber sie ist eben notwendig. einen guten Tipp aus der christlichen Seefahrt geben, weil Sie ihn offensichtlich bitter nötig haben. In der (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- christlichen Seefahrt gibt es eine sichere Regel, an die SES 90/DIE GRÜNEN – Michael Glos [CDU/ man sich auch in der Politik halten sollte: Rot und Grün CSU]: Ich lasse mich nicht in einen SM-Laden markieren das sichere Fahrwasser. Schwarz und Gelb schicken, auch wenn ich nicht weiß, was das sind die Markierungen für Gefahren und Untiefen, da- ist! – Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Mit von sollte man sich fernhalten. ihr schon gar nicht!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Mit Blick auf die CDU/CSU sage ich: Was wir erlebt und bei der SPD – Dr. Guido Westerwelle haben, ist ein buntes Schauspiel. Frau Merkel hat erklärt, [FDP]: Gefahr und Untiefen für die Regie- der Bundeskanzler müsse endlich einmal konkret wer- rung!) den. Am Freitag war der Bundeskanzler konkret. Aber wir müssen feststellen, dass dies die CDU/CSU kalt er- wischt hat. Kaum wird es in diesem Lande einmal kon- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: kret, laufen Sie umher wie ein aufgeschreckter Hühner- Es spricht jetzt der Herr Bundeskanzler Gerhard haufen: Merkel gegen Stoiber, Stoiber gegen Merkel, Schröder. Seehofer gegen Stoiber, Wulff und von Beust auf der Seite von Seehofer und Merkel, Koch und Schäuble für (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Stoiber. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. März 2003 2727

(A) Gerhard Schröder, Bundeskanzler: nicht ausbleiben wird, fair verlaufen wird. Ich denke, das (C) ist die Erwartung angesichts der schwierigen Situation Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und der übergroßen Mehrheit der Menschen in unserem Herren! Frau Merkel hat den Wunsch geäußert – was ich Land. Wir müssen dieser Erwartung gerecht werden. verstehe –, nach mir zu reden; deswegen haben wir die Geschäftsführer um Entschuldigung dafür gebeten, dass (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ wir ihre Spielchen beenden wollen. DIE GRÜNEN) (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Ich sagte: Die Bundesregierung bleibt bei ihrer Haltung. BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Zuruf von Wir lehnen ein militärisches Vorgehen gegen den Irak der CDU/CSU: Ein wahrer Staatsmann!) ab. Die ganz normale Konsequenz ist, dass sich deutsche Soldaten an Kampfhandlungen nicht beteiligen werden. Das Thema ist wichtig genug. Es kann kein Zweifel daran bestehen: Ein Krieg im Irak wird immer wahr- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ scheinlicher. Wir haben von Anfang an – das ist in dieser DIE GRÜNEN) Debatte auch deutlich geworden – unsere feste Überzeu- Dies gilt sowohl für die deutschen Soldaten in den gung klar gemacht, dass wir einen solchen Krieg verhin- AWACS-Flugzeugen als auch für die deutschen ABC- dern wollen. Abwehrkräfte in Kuwait. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Dieses Thema wird, wie das auch hier angeklungen DIE GRÜNEN) ist, in den nächsten Tagen natürlich kontrovers und aus Wir haben das in den internationalen Gremien zum Aus- verschiedenen Perspektiven diskutiert werden. Bevor ich druck gebracht und auch gegenüber der Öffentlichkeit in etwas zur Sache sage, will ich deutlich machen: Ich fand diesem Hohen Hause wiederholt deutlich gemacht. Ich es richtig, dass darauf hingewiesen worden ist – ich freue mich natürlich über die große Unterstützung, die glaube sogar, es war Herr Ströbele, der es getan hat –, diese Position sowohl von der Regierungskoalition als (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Das kann sel- auch vom deutschen Volk erfährt. ten richtig sein!) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ dass die Frage von Krieg und Frieden die zentrale Frage DIE GRÜNEN) ist, mit der wir uns auseinander setzen müssen. Es geht Gerade in Europa, zumal in Deutschland, hat sich tief in erster Linie – immer noch und immer wieder – um die in das kollektive Bewusstsein der Menschen eingegraben Frage, was wir dabei tun können, und nicht um die Dis- – das ist von Generation zu Generation weitergegeben kussion über unterschiedliche Meinungen – die es nun (B) worden –, was Krieg für die Menschen bedeutet. Viel- einmal gibt – zu Fragen des Völkerrechts. (D) leicht liegt hier ein Unterschied in unserer Herangehens- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten weise: Auch das gehört dazu, neben dem, was Frau Sager des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) – ganz eindrucksvoll, wie ich fand – eben dargestellt hat, als sie über das Mitgefühl mit denjenigen gesprochen hat, Die NATO-AWACS-Flugzeuge führen über dem Ter- die als Folge der Ereignisse vom 11. September politisch ritorium der Türkei Routineflüge durch. Dies geschieht handeln und handeln müssen. Auch wenn ich das unter- auf der Basis der Entscheidung des Verteidigungspla- streiche – dies bringt uns nicht ab von unserer festen und nungsausschusses der NATO vom 19. Februar 2003. Ihre eindeutigen Position. Ich fand es aber gut und richtig, ausschließliche Aufgabe ist die strikt defensive Luft- dass sie auch auf diesen Teil der politischen und mensch- raumüberwachung über der Türkei. Sie leisten – das geht lichen Dimension hingewiesen hat. aus den Rules of Engagement hervor – keinerlei Un- terstützung für Einsätze im oder gegen den Irak. Durch (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ die Zuordnung der AWACS-Flugzeuge zum Befehlsbe- DIE GRÜNEN) reich des NATO-Oberbefehlshabers Europa, also des SACEUR, ist eine strikte Trennlinie zu den Aufgaben Mit den politischen Entscheidungen, die wir getroffen des Kommandeurs des US Central Commands, des ame- haben und von denen wir nichts abstreichen werden, ha- rikanischen Generals Franks, gezogen. Übrigens verfügt ben wir alle miteinander für Klarheit gesorgt. Ich hoffe, Herr Franks – so ist mir von unseren Fachleuten mitge- die Union wird das jetzt in gleicher Weise tun. Ich füge teilt worden – für Militäroperationen gegen den Irak aber hinzu: Wir brauchen auch Besonnenheit in der Ar- über fast 100 eigene US-AWACS-Flugzeuge. gumentation. Emotionen – sie werden uns, aber nicht nur uns, sondern ganz viele Menschen im Land in den Räumlich getrennt von diesen und mit gänzlich unter- nächsten Tagen alle miteinander beschäftigen –, so ver- schiedlichem Auftrag überwachen also die NATO-Flug- ständlich sie angesichts des Bevorstehens oder gar des zeuge unter dem Kommando des NATO-Oberbefehlsha- Beginns eines Krieges bei jedem sein mögen, dürfen das bers Europa den Luftraum über der Türkei und sichern politische Handeln nicht dominieren. Das gilt nach au- ihn. Hier liegt der Grund, warum wir davon überzeugt ßen und ich hoffe, das gilt auch nach innen. sind, dass es dazu keines Beschlusses des Deutschen Bundestags bedarf. Die Positionen von Regierung und Opposition sind kontrovers. Das schafft Klarheit, aber wir sollten uns zu- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ sammennehmen und alle unseren Beitrag dazu leisten, DIE GRÜNEN – Dr. Wolfgang Schäuble dass die Debatte bei aller notwendigen Polemik, die gar [CDU/CSU]: Das seht ihr falsch!) 2728 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. März 2003

Bundeskanzler Gerhard Schröder (A) – Herr Schäuble, auf Ihren Zwischenruf bezogen: Ich Sicherheitsorgane unseres Landes – des Bundes wie (C) habe gesagt, wir seien davon überzeugt. Ich habe nicht auch der Länder – keinen Zweifel daran aufkommen las- gesagt, Sie seien davon überzeugt. Wir sind davon über- sen werden – das wird sicherlich jede politische Führung zeugt, dass das richtig ist, und dieser Überzeugung wer- unabhängig von ihrer parteipolitischen Färbung klar stel- den wir auch Rechnung tragen. len –, dass alles Menschenmögliche getan wird, um die Sicherheit der eigenen Bevölkerung zu gewährleisten. (Hans Michelbach [CDU/CSU]: Sie sind von Das ist auch der Fall. Ich bitte ausdrücklich um Ver- sich überzeugt, sonst nichts!) trauen in die Sicherheitsorgane und in diejenigen, die die Auch die Aufgaben der deutschen ABC-Abwehrsol- Sicherheit unseres Landes und damit auch der Menschen daten sind klar begrenzt. Sie handeln auf der Basis eines in unserem Land gewährleisten. Beschlusses des Deutschen Bundestags – anders wäre es (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ auch nicht möglich –, nämlich auf der Basis des Be- DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der schlusses zu Enduring Freedom, wie Sie wissen. Dieses CDU/CSU) Mandat, das der Deutsche Bundestag gegeben hat, ist ein- ziger und ausschließlicher Auftrag dieser Kräfte. Auch In der Debatte ist – ein bisschen durchsichtig – ver- sie werden sich an Einsätzen gegen den Irak nicht betei- sucht worden, in der Frage nach den Ursachen Ursache ligen. Bestandteil dieses Mandats für Enduring Freedom und Wirkung zu verwechseln. Ich will mich zu dieser ist allerdings auch die humanitäre Hilfe in Kuwait. Daher Frage aus guten Gründen nicht weiter äußern. führen die deutschen ABC-Abwehrsoldaten zusammen (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Das sollten mit kuwaitischen Stellen auch entsprechende Übungen Sie aber!) durch. Noch einmal zur Klarstellung: Dafür gibt es ein Mandat in all den Punkten, in denen es benutzt wird. Aber darüber nachdenken sollten Sie schon noch einmal, Dazu bedarf es deshalb auch keines neuen Mandats. Herr Westerwelle. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der CDU/CSU und dem BÜND- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) NIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Sie auch!) Lassen Sie mich noch ein Wort zur Frage der Siche- rung amerikanischer Einrichtungen, zur Nutzung der Ba- Denn ich halte es für absurd, Ursache und Wirkung in die- sen und zu den Überflugrechten sagen. ser Form zu verwechseln. Im Übrigen sollten Sie – auch das ist Ihnen eindrucksvoll vorgehalten worden – sich Unsere Position zum Irakkrieg – ich habe sie noch darum bemühen, das nachzulesen, wozu Sie die Bundes- einmal erläutert – haben wir politisch klar definiert. Aber regierung noch im März und im Sommer vergangenen (B) diese klare Position, die sich von der unserer Bündnis- (D) Jahres aufgefordert haben partner – jedenfalls von jener der Vereinigten Staaten und Großbritanniens – unterscheidet, ändert nichts da- (Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Zu Recht!) ran, dass es sich um Bündnispartner und befreundete Na- und mit welcher Begründung Sie dies getan haben. tionen handelt. (Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Völlig zu (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Recht!) DIE GRÜNEN) Dann würden Ihnen viele Ihrer Worte, die Sie so großspu- Zu diesem Bündnis, zur NATO, gehören Rechte und rig ausgesprochen haben, im Hals stecken bleiben. Des- Pflichten. Diesen Pflichten, die sich aus dem NATO-Ver- sen bin ich mir ganz sicher, meine Damen und Herren. trag und den verschiedenen Stationierungsabkommen er- geben, werden wir auch jetzt Rechnung tragen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Jürgen Koppelin [FDP]: Le- (Beifall des Abg. Michael Glos [CDU/CSU]) sen Sie einmal Ihre eigene Rede!) Das ist der Grund, warum ich von Anfang an gesagt Im Übrigen rate ich Ihnen dringend, sich in diesen habe: Es mag zwar unterschiedliche völkerrechtliche Fragen gelegentlich bei Herrn Genscher, dem früheren Positionen geben, aber vor dem Hintergrund unserer Außenminister, kundig zu machen. Bündnisverpflichtungen werden wir die Nutzung der Basen weiter gestatten, Überflugrechte nicht versagen (Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Heute Morgen und natürlich die Anlagen unserer Freunde und, soweit geschehen! – Lachen bei der SPD) nötig, auch ihrer Familien schützen und sichern. Dann würden Sie auf erstaunliche Gedanken stoßen, die (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, dem BÜND- auch bereits öffentlich geäußert worden sind. NIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP) (Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Das ist heute Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang etwas un- Morgen geschehen! – Rezzo Schlauch [BÜND- terstreichen, das ich bereits öffentlich zum Ausdruck ge- NIS 90/DIE GRÜNEN]: Nichts gelernt!) bracht habe. Selbstverständlich ist es in einer Zeit zuge- – Dass das heute Morgen geschehen ist, hat man aber spitzter internationaler Situation – was gibt es für eine nicht gemerkt. Das war das Problem. größere Zuspitzung als einen Krieg im Nahen Osten, im Irak und um den Irak? – besonders wichtig, den Men- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ schen in unserem Lande deutlich zu machen, dass die DIE GRÜNEN) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. März 2003 2729

Bundeskanzler Gerhard Schröder (A) Es ist dann auf die Situation in Europa hingewiesen schen Motors im wahrsten Sinne des Wortes delektiert (C) worden. Natürlich wäre es gut gewesen, wenn man nicht haben. Jetzt, wo er ganz rund läuft, passt es Ihnen auch nur, aber auch in dieser Frage bereits eine Außenpolitik wieder nicht. in Europa gehabt hätte. Natürlich wäre es gut gewesen, wenn es gelungen wäre, diese in Europa insgesamt zu (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ verankern, gar keine Frage. Hier hat es gewiss Fest- DIE GRÜNEN) legungen gegeben, auch von uns, aber keineswegs nur Es ist schon etwas merkwürdig, wie Sie Außenpolitik von uns und keineswegs nur öffentlich, sondern auch nach jeweiliger Befindlichkeit zu formulieren versuchen. hier. Ich finde, hierhin gehört es, oder etwa nicht? Ich jedenfalls kann nichts Schlechtes daran finden, dass wir zusammen mit unseren französischen Freunden und (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ mit anderen intensivst dafür gearbeitet haben, eine mili- DIE GRÜNEN) tärische Auseinandersetzung im und um den Irak zu ver- Natürlich begann mit der offiziellen Erklärung der hindern, Fünf, der sich später viele der Beitrittsländer angeschlos- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ sen haben, eine erkennbare politische Differenz in der DIE GRÜNEN) Bewertung der Sache, über die wir jetzt reden. Es ist doch gar keine Frage, dass das so war. Das gilt nicht nur und dass wir weiter intensivst dafür arbeiten, dass das für den Brief der Fünf, sondern auch für das, was von auch geschieht. verschiedenen Regierungen der Beitrittskandidaten un- terschrieben worden ist, gar keine Frage. Aber man (Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Das sollte auch verstehen, dass es wenig Sinn macht, sich Gegenteil haben Sie erreicht!) noch jetzt darüber zu beklagen. Es hat schon Sinn ge- – Das Gegenteil haben wir erreicht? Was Europa angeht: macht, das auszusprechen, was der französische Präsi- Es gab eine Zeit, in der Sie durch das Land gezogen sind dent gesagt hat, nämlich darauf hinzuweisen, dass Eu- und behauptet haben, wir hätten uns in Europa und erst ropa nicht nur Rechte materieller und immaterieller Art recht im Weltsicherheitsrat vollständig isoliert. Davon begründet, sondern auch Pflichten mit sich bringt. Das kann indessen wirklich keine Rede sein. war schon in Ordnung. Ich denke, dafür sollte man ihn nicht kritisieren. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Es ist doch wohl eher Ihre Politik als unsere, die, so wie die Dinge liegen, im Weltsicherheitsrat keine Mehrheit (B) Man muss auch verstehen, warum in bestimmten Län- finden würde. Auch das sollten Sie gelegentlich einmal (D) dern so und nicht anders gehandelt worden ist. Dort hat zur Kenntnis nehmen. man größere Schwierigkeiten, als wir sie – Gott sei Dank – in Deutschland haben, Souveränitätsrechte abzutreten, (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ die man so lange so schmerzlich entbehrt hat. Wir hatten DIE GRÜNEN) dazu 50 Jahre Zeit, die anderen noch nicht einmal zwölf. Ich kehre zum Thema Europa zurück. Man kann und Diesen Zusammenhang muss man sehen, wenn man das man darf der deutschen Bundesregierung keine Vorwürfe bewertet, was in Polen, in Tschechien und in anderen machen, was ihr Engagement für Europa und speziell für Ländern geschehen ist. Deswegen bleibt die Aufgabe be- die Erweiterung Europas angeht, die für die baltischen stehen, während und erst recht nach einer militärischen Staaten, für die Polen, für die Tschechen und für die an- Auseinandersetzung dafür zu sorgen, dass diese Differen- deren, die ich jetzt nicht alle aufführen will, so wichtig zen geduldig, aber auch nachhaltig eingeebnet werden. ist. Es sind Frankreich und Deutschland gewesen, die im Auch das ist ein Teil der europäischen Politik, die wir ma- Herbst in Brüssel mit dem schwierigen und gelegentlich chen. auch kritisierten Agrarkompromiss dafür gesorgt haben, (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ dass wir in Kopenhagen eine wahrhaft historische Ent- DIE GRÜNEN) scheidung treffen konnten, die dazu führt, dass auch in Europa zusammenwächst, was zusammengehört. Das Zu dem heute Morgen hier angeklungenen Vorwurf, waren doch französische und deutsche Politik. Deutschland habe es in letzter Zeit an europäischem Engagement gemangelt: Wenn ich gelegentlich Rück- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ schau auf Debatten über Außenpolitik und speziell auf DIE GRÜNEN) die Vorwürfe halte, die uns wegen mangelndem sorg- Natürlich wissen wir, dass diese beiden Länder auf samem Umgang im deutsch-französischen Verhältnis ge- dieser Basis eine besondere Verantwortung dafür haben, macht worden sind, dann wundert mich schon gelegent- dass der Integrationsprozess, also insbesondere das, lich die Debatte, die gerade jetzt auch von Ihnen, Herr was im Konvent beraten wird, die Neuordnung der Be- Schäuble, geführt wird. ziehungen der Institutionen in Europa ein wirklicher Er- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ folg wird. Dafür werden wir ungeachtet der Schwierig- DIE GRÜNEN) keiten, die es aktuell gibt, arbeiten. Es wird sich sehr bald zeigen, dass die französisch-deutsche Zusammen- Ich erinnere mich noch an die Zeit, als Sie sich – so arbeit in diesem Fall wieder einmal im Zentrum dessen wurde das genannt – am Stottern des deutsch-französi- steht, worum es geht. 2730 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. März 2003

Bundeskanzler Gerhard Schröder (A) Wenn Deutschland und Frankreich besonders eng zu- Deswegen war es ein großer Fehler – ich unterstreiche (C) sammenarbeiten, dann werden wir – ich weiß das wohl – das; übrigens: mehr und mehr wird das auch in den Län- gelegentlich von dem einen oder anderen Kollegen dahin dern eingesehen, bei aller denkbaren Kritik an Einzelhei- gehend kritisiert, diese Zusammenarbeit bestimme in ten des Steuerreformgesetzes, das dem Bundesrat vor- Europa zu viel voraus. Aber wenn wir nicht besonders eng liegt –, diesen Teil des Gesetzes nicht zu akzeptieren, zusammenarbeiteten – so sind jedenfalls meine Erfahrun- sondern abzulehnen, weil das die Basis der Kommunen gen –, dann werden wir dafür kritisiert, dass wir es nicht ge- für die Realisierung ihrer Aufgaben nicht stärkt, sondern tan haben. Insofern glaube ich, dass die französisch-deut- schmälert. Diese Verantwortung werden Sie auf sich sche Zusammenarbeit auch bezogen auf die europäische nehmen müssen. Einigung – ich erinnere an die bevorstehenden weiteren (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Schritte zur Integration – von riesigem Wert ist. Deswegen DIE GRÜNEN) bin ich froh, dass diese Zusammenarbeit gerade zu Zeiten einer schweren Krise so gut gestaltet werden konnte. Wir haben deutlich gemacht – der Bundesfinanzmi- nister hat es in der gestrigen Debatte gesagt –, dass wir (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ diesen Prozess eben nicht durch mehr Verschuldung fi- DIE GRÜNEN) nanzieren. Zugleich haben wir aber auch klar gesagt, Lassen Sie mich aus einem bestimmten Grund auf dass die Antwort auf eine sich möglicherweise verschär- eine Frage zu sprechen kommen, die hier insbesondere fende ökonomische Lage – niemand von uns hofft das – am letzten Freitag eine Rolle gespielt hat und die in die nicht prozyklische Politik sein darf. Sondern für den eigentlichen Beratungen des Bundeshaushalts natürlich Fall, dass sich Wachstumserwartungen, die wir im Ein- hineinragt. Ich möchte deutlich sagen: Die Inhalte dessen, klang mit allen wichtigen und großen Instituten formu- was ich am letzten Freitag unter dem Motto Agenda 2010 liert haben, so nicht realisieren lassen, aus welchen vorgestellt habe, werden wir Punkt für Punkt umsetzen. Gründen auch immer, müssen die automatischen Stabi- Ich bin den und dem Vorsitzenden der Koalitionsfraktio- lisatoren wirken, damit es eben nicht zu einer Verschär- nen für ihre Unterstützung sehr dankbar. fung der Situation kommt, die anderswo ihre Ursachen hat. Was der Finanzminister dazu gesagt hat, gilt. Es kommt mir darauf an, dass klar wird: Wir lassen nicht zu, dass der Prozess der Umsetzung durch die – ge- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ genwärtig so schwierige – internationale Lage infrage DIE GRÜNEN) gestellt wird. Es ist gerade in einer schwierigen Zeit ganz Natürlich müssen wir sowohl im Kreis der Finanzmi- wichtig, nicht aufzuhören, den Reformprozess voranzu- nister im Ecofin-Rat – niemand kann ernsthaft etwas da- bringen. In einer solchen Zeit muss die Arbeit vielmehr gegen haben – als auch am Freitag – ich gehe jedenfalls (B) (D) eher noch verstärkt werden. Das begreife jedenfalls ich davon aus – oder jedenfalls im April im Kreis der Staats- als unsere Aufgabe, als die gemeinsame Aufgabe von und Regierungschefs darüber reden, dass wir dann, wenn Regierung und Koalition. ein Krieg im Irak schwerwiegende ökonomische Folgen (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ für die Wirtschaft in Europa und für die Wirtschaft der DIE GRÜNEN) Mitgliedstaaten hat, auch eine faire Debatte mit der Kommission darüber führen müssen, was die Alternative Der drohende Irakkrieg darf nicht als Ausrede dafür ist. benutzt werden, den Reformprozess, der skizziert wor- den ist, zu verzögern oder gar in Teilen nicht zu realisie- (Zurufe von der CDU/CSU: Aha!) ren. Das Gegenteil ist richtig: Gerade in einer schwieri- Dabei geht es niemandem darum, den Stabilitätspakt ein- gen Zeit brauchen wir diese Reformen und wir werden fach wegzudrücken, sondern es geht darum, auf seiner dafür sorgen, dass sie realisiert werden. Basis unter Umständen nötige und vernünftige Entschei- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ dungen zu treffen. Die werden wir dann in aller Offen- DIE GRÜNEN – Dr. Peter Ramsauer [CDU/ heit auch hier im deutschen Parlament diskutieren. CSU]: Sie nutzen den Windschatten! Das (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ kommt wieder zu krass!) DIE GRÜNEN) Es geht dabei um Strukturreformen. Was die Nachfrage- Bei all den Fragen, die die Sozialstaatlichkeit seite betrifft, geht es um das, was unter dem Stichwort Deutschlands betreffen, ist deutlich geworden, was „öffentliche Investitionen“ deutlich geworden ist. Ich wirklich das Ziel dessen ist, was wir vorhaben. Auch da unterstreiche, was der Vorsitzende der SPD-Fraktion hier kann ich an das anschließen, was hier bereits diskutiert zu den kommunalen Investitionen gesagt hat: Es ist wurde. Es geht uns darum, unter radikal veränderten richtig, dass wir den Kommunen mit den 7 Milliarden ökonomischen Bedingungen in Deutschland, in Europa Euro, die wir an zinsverbilligten Krediten zur Verfügung und in der Welt, häufig zusammengefasst – nicht falsch stellen wollen, helfen. Genauso richtig ist es, dass sie die zusammengefasst – unter dem Stichwort der Globalisie- Möglichkeit behalten oder erhalten müssen, diese Kre- rung, die Substanz von Sozialstaatlichkeit zu erhalten. dite auch in Anspruch zu nehmen; denn nur dann werden Dem dienen diese Maßnahmen. Nichts anderem dienen sie in Arbeit umgesetzt werden können. sie. Das halten wir auch fest. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) DIE GRÜNEN) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. März 2003 2731

Bundeskanzler Gerhard Schröder (A) Deshalb kommt es darauf an, auf dem Arbeitsmarkt fassen: Den einen ging es nicht weit genug und den an- (C) eine neue Balance zwischen der Sicherheit der Beschäf- deren ging es zu weit, und zwar in fast allen Fragen. Die tigten einerseits und der Notwendigkeit der Flexibilität Gefahr, die ich sehe und der wir gemeinsam entgegentre- der Unternehmen andererseits zu finden. Das werden wir ten müssen und werden, ist nun, dass eine Blockade da- mit den Maßnahmen, die der Bundesminister für Wirt- durch entsteht, dass sich die unterschiedlichen Kräfte so- schaft und Arbeit zum Kündigungsschutz, zur Frage des zusagen gegenseitig aufheben. Das wäre fatal, meine Zusammenlegens von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe Damen und Herren. sowie auch zur Frage der Dauer des Bezuges von Ar- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ beitslosengeld dargestellt hat, anstreben und auch Positi- DIE GRÜNEN) ves erreichen. Ich bitte Sie darum, dies nicht aufzuhal- ten, sondern dabei mitzuhelfen. Meine herzliche Bitte an die, die es angeht, auch die- Das Gleiche gilt genauso für die anstehende große jenigen, die Öffentlichkeitsarbeit betreiben, ist: Selbst Reform, die wir im Gesundheitswesen brauchen. Dabei wenn einem ein einzelner Schritt im Sinne des Ganzen geht es darum, die Strukturen marktnäher zu machen. und der notwendigen Bewegung nicht weit genug geht, Dabei kann sich aber nicht jeder das heraussuchen, was sollte man sich einmal herablassen, diesen Schritt zu be- er gern hätte, sondern da gilt es, die Marktnähe auch grüßen und zu unterstützen. dann gemeinsam durchzusetzen, wenn die Klientel, die (Michael Glos [CDU/CSU]: Das tun wir von mangelnder Marktnähe bisher etwas hatte, an der ei- doch!) nen oder anderen Stelle einmal aufschreit. Es geht da- rum, auch dies gemeinsam durchzusetzen. Wenn nämlich die Gefahr der Selbstblockade durch die unterschiedlichen Maximalpositionen nicht überwunden (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ wird, dann besteht in der Tat die Gefahr, dass am Ende DIE GRÜNEN) weniger herauskommt, als unser Land braucht. Das müs- Natürlich wissen wir, dass wir im Leistungskatalog sen wir verhindern und das wird die Koalition verhin- etwas verändern müssen. Das haben wir gesagt und das dern. werden wir auch tun, genauso wie es am Freitag darge- Deswegen können Sie sich vorstellen, dass ich für die stellt worden ist. Unterstützung dankbar bin, die in diesem Prozess so- Ich habe sehr genau dem zugehört, was der bayeri- wohl am Freitag als auch heute deutlich geworden ist. sche Ministerpräsident, Herr Stoiber, dazu gesagt hat. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Darüber müssen wir dann ernsthaft reden. Als es beim Thema Abbau von Überbürokratisierung, um mehr Be- (Anhaltender Beifall bei der SPD und dem (B) (D) wegung zu schaffen, um die Handwerksordnung ging, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Michael Glos war auf einmal nicht mehr die Rede vom Abbau der Bü- [CDU/CSU]: Herr Bundeskanzler, die haben rokratie und von mehr Flexibilität, das Aufstehen vergessen!) (Katrin Dagmar Göring-Eckardt [BÜND- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: NIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau!) sondern man hat sich eingegraben und gefordert, dass in Das Wort hat jetzt die Fraktionsvorsitzende der CDU/ diesem Bereich alles so bleibt, wie es ist. Dazu werden CSU, Angela Merkel. Sie etwas sagen müssen. Wir werden Sie dazu auffor- (Beifall bei der CDU/CSU) dern. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Dr. Angela Merkel (CDU/CSU): DIE GRÜNEN) Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die De- Mir kommt es darauf an, dass Folgendes deutlich batte zum Etat des Bundeskanzlers findet in diesem Jahr wird. Bei der Reformdebatte hat sicher der eine oder an- in einer besonderen Zeit statt. Jeder vernünftige Mensch dere Nachholbedarf, gar keine Frage. Aber das Ganze in diesem Lande und auch in diesem Hause hat ein Ziel: immer nur auf der einen Seite des Hauses abzuladen, das Er möchte Krieg und militärische Aktionen vermeiden. ist, wie sich an der Diskussion über die Handwerksord- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) nung gezeigt hat und weiter zeigen wird, ein großer Feh- ler. Das geht Sie in gleicher Weise an und das wird sich Wir alle – mir geht es jedenfalls so, ebenso vielen sehr bald herausstellen. Kolleginnen und Kollegen in unserer Fraktion und, wie ich glaube, auch in anderen Fraktionen – halten deshalb Schließlich und letztlich: in diesen Stunden den Atem an. Wir sind betroffen, dass (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ die Wege, die zu einer friedlichen Lösung hätten führen DIE GRÜNEN) können, vielleicht in einer Sackgasse enden. Wir sind voller Sorge um die Menschen im Irak, um die Soldatin- Es ist sehr interessant, sich anzuschauen, wie die unter- nen und Soldaten und um die Sicherheit. schiedlichen Positionen zu dem, was wir am Freitag dis- kutiert haben, gestaltet worden sind, welcher Verband Wir sind auch unsicher, ob vielleicht andere Länder, und welche Gewerkschaft sich zu welcher Frage wie ge- ob unser Land von Anschlägen betroffen ist. Ich weiß ge- äußert hat. Man kann das kurz und präzise zusammen- nau wie Sie alle in diesem Hause, dass gerade die älteren 2732 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. März 2003

Dr. Angela Merkel (A) Bürgerinnen und Bürger in unserem Lande Sorge und können, so werden Sie es auch nicht Ihren Kollegen in Eu- (C) Angst haben, weil sie persönlich, anders als ich, Krieg ropa unterstellen: Tony Blair, dem portugiesischen Minis- erleben mussten. terpräsidenten, dem spanischen Ministerpräsidenten Auch das Gefühl des Ärgers und der Fassungslosig- (Jörg Tauss [SPD]: Aber Ihnen!) keit darüber, dass der Westen, dass die demokratischen – passen Sie auf, dass Sie niemanden verächtlich ma- Länder sich über diese Sache so haben zerstreiten müs- chen! –, die alle aus ihrer Überzeugung und mit Leiden- sen, kommt dazu. Es gibt die Hoffnung, dass, wenn der schaft dafür eintreten, dass Diktatur verschwindet und Krieg nicht zu vermeiden ist, er wenigstens wenig Opfer dies möglichst mit friedlichen Mitteln. Das ist das eini- kostet und schnell vorbei ist. Ich glaube, wir Politiker gende Band. können und dürfen uns – wir tun es ja auch nicht – nie- mals von diesen Emotionen freimachen. Aber wir müs- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) sen uns auch genau fragen: Was haben wir zu tun? Dafür tragen wir die Verantwortung. Wir tragen die Verant- Deshalb finde ich es ganz wichtig, dass der Unter- wortung genauso für das, was wir nicht tun. schied zwischen uns in diesem Hause nun wirklich nicht in der Frage besteht, ob wir Krieg oder Frieden wollen. Deshalb ist heute die Stunde, in der wir bei aller Ge- meinsamkeit der Gefühle ganz offen und ganz ehrlich, ( [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE wie es auch der Bundeskanzler getan hat, über die Alter- GRÜNEN]: Doch, natürlich! Entweder man ist nativen und über die Unterschiede sprechen. Die Fragen für das Ultimatum und den Krieg oder für den um Frieden und Freiheit können auf gar keinen Fall, Frieden!) auch nicht in Bezug auf den Irak, so beantwortet werden, Der Unterschied in diesem Hause – ich wiederhole es dass man ausschließlich darüber spricht, wie viele Opfer gern – besteht nicht darin, ob wir Krieg oder Frieden es jetzt kosten könnte, wenn militärisch eingegriffen wollen. Der Unterschied besteht vielmehr in der Frage, wird, sondern wir müssen uns auch – ich sage nicht aus- auf welchem Weg man glaubt, das, was man erreichen schließlich – vor Augen führen, wie viele Opfer Saddam will, am besten zu erreichen. Dabei gibt es Unterschiede. Hussein schon gekostet hat, wie viele Leute er auf dem Gewissen hat und wie viele es noch kosten könnte, wenn (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) er weiter im Amt bleibt. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Frau Kollegin Merkel, gestatten Sie eine Zwischen- Wir debattieren in diesem Hause nicht zum ersten frage des Abgeordneten Volmer? (B) Mal über Krieg und Frieden. Wir haben es oft und lei- (D) denschaftlich getan. Vor allen Dingen mussten wir es tun, obwohl wir alle nach 1989 vielleicht gedacht haben, Dr. Angela Merkel (CDU/CSU): diese Debatten blieben uns nach dem Ende des Kalten Nein, ich gestatte keine Zwischenfrage. Krieges erspart. Wir haben es im Zusammenhang mit dem Kosovo und auch im Zusammenhang mit Afghanis- (Unruhe beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) tan getan. Ich weiß, dass es vielen damals gerade auch Frau Sager, als Erstes müssen wir aufhören, einem hier nicht leicht gefallen ist; es ist auch uns nicht leicht Phantom hinterherzujagen. Im Falle des Iraks handelt es gefallen. sich nicht um einen Präventivschlag, sondern um die Die Debatte hatte nur einen Unterschied: Damals war Frage, wie die UNO und der UN-Sicherheitsrat ihre Be- sich die große Mehrheit in diesem Hause darüber einig, schlüsse auch wirklich durchsetzen können. wie wir uns zu entscheiden hatten. Diesmal gibt es mehr (Waltraud Lehn [SPD]: Sie fragt doch keiner Uneinigkeit. Deshalb sage ich mit aller Überzeugung: mehr!) Fangen wir nicht damit an – leider ist das in den letzten Wochen immer wieder und auch heute passiert, Herr Es handelt sich nicht um die erste Resolution, sondern Müntefering –, dass unterschwellig der Eindruck erweckt um die 17. Resolution. Es geht hier natürlich – ich wird: Wer mit Ihrem Kurs nicht einverstanden ist, der komme noch darauf zu sprechen – um die Autorität des wolle den Krieg; UN-Sicherheitsrates und darum, ob er in Zukunft in der Lage sein wird, wichtige Resolutionen auch durchzuset- (Widerspruch beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- zen. Diese Durchsetzung muss uns gelingen, egal zu NEN) welchem Ergebnis wir im Zusammenhang mit dem Irak Sie wollen den Frieden, wir wollen den Krieg. Wir wer- kommen. den diese Arbeitsteilung nicht mitmachen und sie wird (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- auch bei der Bevölkerung nicht ankommen. neten der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Die Unterschiede zwischen Ihnen und uns im Zusam- So wie Sie uns das nicht unterstellen menhang mit dem Irak waren schon zu einem ganz frü- hen Zeitpunkt sichtbar, als Sie nämlich militärische (Katrin Dagmar Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/ Mittel von vornherein ausgeschlossen haben. Ich bin der DIE GRÜNEN]: Was war das gestern, Frau festen Überzeugung, dass man das in diesem Falle Merkel?) niemals hätte tun dürfen, genauso wenig, wie man es in Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. März 2003 2733

Dr. Angela Merkel (A) anderen Fällen getan hat. Die einzige Möglichkeit, einen ben, oder ob man es durch Uneinigkeit besser schafft, (C) Diktator zum Einlenken zu bringen, ist, dass man mit der dass diese Resolution durchgesetzt wird. letzten Konsequenz, also mit militärischen Optionen, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) droht. Es ist unsere Überzeugung, dass man so handeln muss, um 17 Resolutionen Nachdruck verleihen zu kön- Dazu sage ich mit allem Nachdruck – so bedauerlich nen. es ist; wir werden uns mit dieser Frage noch lange be- schäftigen –: Sie haben durch Ihre Haltung, die Einigkeit (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- nicht befördert hat, den Krieg im Irak wahrscheinlicher neten der FDP) und nicht unwahrscheinlicher gemacht.

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zu- rufe von der SPD: Pfui! – Unverschämt! – Un- Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage? anständig! – Sie hetzen! – Jörg Tauss [SPD]: Entschuldigen Sie sich! Sofort! – Joachim Poß Dr. Angela Merkel (CDU/CSU): [SPD]: Mit dieser Bemerkung werden Sie noch lange zu tun haben! – Rezzo Schlauch Nein. [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Kriegstreibe- rei! So weit ist es gekommen!) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: – Herr Poß, regen Sie sich nicht so auf! Sie können es Gestatten Sie überhaupt Zwischenfragen? nachlesen: Vor acht Wochen habe ich dies schon einmal gesagt. Da haben Sie sich nicht ganz so aufgeregt. Dr. Angela Merkel (CDU/CSU): (Jörg Tauss [SPD]: Entschuldigen Sie sich! Nein, ich gestatte keine Zwischenfragen. Jetzt ist Schluss!) (Jörg Tauss [SPD]: Weil Sie keine Antworten Jetzt ist die Sache leider sehr schwierig. haben! – Lothar Mark [SPD]: Sie kommen in Frau Sager, Sie haben von einem EU-Sondergipfel Bedrängnis durch Zwischenfragen!) gesprochen. Wir aber hätten vorgeschlagen, Krieg ist niemals die Fortsetzung von Politik mit nor- (Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- malen Mitteln. Das darf Krieg niemals werden. Aber ich NEN]: Sie hätten! Sie hätten!) sage auch: So wie wir uns als Deutsche die Entschei- einen Gipfel nicht erst im Februar – auf diesem wurde (B) dung, ob wir militärische Aktionen billigen, nicht leicht (D) machen sollten, so dürfen wir es uns wegen unserer Ge- von der Bundesregierung endlich das akzeptiert, was all- schichte auch nicht so leicht machen, sie von vornherein gemein unsere Meinung ist, dass militärische Optionen auszuschließen. das letzte Mittel sind –, sondern sehr viel früher abzuhal- ten. (Beifall des Abg. Dr. Klaus W. Lippold [Of- fenbach] [CDU/CSU]) (Waltraud Lehn [SPD]: Sie hetzen!) Paul Spiegel hat doch Recht gehabt, als er gesagt hat: Warum nicht im September? Warum nicht im Oktober? Die KZs sind nicht von Zivilisten, sondern von Soldaten Dann hätte Europa in der Weltgemeinschaft noch etwas befreit worden. – Auch das ist Teil der deutschen Ge- bewirken können. schichte. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Jörg (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Tauss [SPD]: Die Frau hat keine Moral! Hat sie noch nie gehabt! – Waltraud Lehn [SPD]: Wir sind der Überzeugung: Der erfolgreichste Weg, Solch eine amoralische Rede habe ich über- um militärische Aktionen zu vermeiden, wäre gewesen, haupt noch nicht gehört!) dass wir, die Demokraten dieser Welt, also die Europäi- sche Union und ihre Verbündeten, den Druck auf Sad- Ich sage Ihnen, was wir auch anders gemacht hätten. dam Hussein gemeinsam erhöht hätten. Wir hätten bei der Verabschiedung der Resolution 1441 von Anfang an darauf geachtet, (Jörg Tauss [SPD]: Ach!) ( [Wiesloch] [SPD]: Sie het- Deshalb ist die Alternative, Herr Müntefering, vor die zen! Ungeheuerlich!) Sie uns stellen wollten, dass die Inspektionen eine zeitliche Befristung haben. (Jörg Tauss [SPD]: Die richtige! – Gegenruf Eine solche zeitliche Befristung hätte uns die Möglich- des Abg. Volker Kauder [CDU/CSU]: Seien keit zu einem koordinierten Aufbau von Inspektionen Sie mal still! Schämen Sie sich!) gegeben, die Hans Blix nur deswegen sehr erfolgreich durchführen konnte, vollkommen falsch. Es geht doch nicht um die Frage, ob man Frieden will oder ob man Soldaten in den Irak schi- (Katrin Dagmar Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/ cken will. Es geht vielmehr um die Frage – das ist die DIE GRÜNEN]: Haben Sie gehört, was Herr Alternative –, ob man es durch Einigkeit der Demokra- Blix gesagt hat, dass er Monate braucht? – Zu- ten, die gemeinsam eine Resolution verabschiedet ha- ruf von der SPD: Unmöglich!) 2734 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. März 2003

Dr. Angela Merkel (A) weil parallel dazu eine militärische Drohkulisse entstan- Ich muss Ihnen sagen: Ich habe mir in diesen Wochen (C) den ist. Das sagt er selbst. Hören Sie ihm doch zu! und Monaten oft die Frage gestellt, was richtig ist. Jeder von uns stellt sich diese Frage. Es besteht eine immens (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Waltraud komplizierte Situation. Wenn Sie immer zu 100 Prozent Lehn [SPD]: Hetze statt Inhalt! – Lothar Mark davon überzeugt sind, dass alles richtig ist, was Sie tun, [SPD]: Eine Schande ist das! – Gert Weisskirchen dann gehören Sie zu einer anderen Kategorie. [Wiesloch] [SPD]: Sie hetzen! – [] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das, was den Irak anbelangt, wird uns noch lange be- Schande ist das! – Zuruf des Abg. Winfried schäftigen. Denn dies ist ein Ereignis, das weit über den Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) heutigen Tag hinausgeht Eines ist doch klar: Diktatoren auf dieser Welt haben (Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE manchmal die Eigenschaft, dass sie auf gar nichts reagie- GRÜNEN]: Ganz übel!) ren außer auf militärische Gewalt. und über die Struktur der Welt und die sicherheitspoliti- (Lothar Mark [SPD]: So eine Rede ist ein sche Ordnung viel aussagen wird. Der Bundesaußenmi- Skandal in diesem Bundestag!) nister, der heute nicht hier sein kann, hat oft auf die Risi- Wenn es gut läuft, dann reagieren sie auf gemeinschaftli- ken hingewiesen, die mit einer militärischen Aktion, mit chen Druck, aber eben nicht auf eine zerrissene Weltge- einem Krieg im Irak verbunden sind. Das respektiere meinschaft. Hier gibt es eine unterschiedliche Wahrneh- ich; darüber habe ich viel nachgedacht. mung in unserer Welt. (Widerspruch bei der SPD und dem (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Wir bedauern im Übrigen so wie Sie, dass die Lage Aber ich muss Ihnen sagen: Denken Sie bitte auch darü- im UN-Sicherheitsrat jetzt so ist, dass er – ich betone ber nach, was damit verbunden ist, wenn wir gar nichts das – in keine Richtung handlungsfähig ist. Ich füge tun, wenn wir die 18., 19. und 20. Resolution verab- hinzu, dass an der Entwicklung des Zustandes, so wie er schieden und weitere zwölf Jahre im Irak nichts passiert. jetzt besteht, viele beteiligt gewesen sind. Da nehme ich Lassen Sie uns auch über diesen Fall diskutieren, meine die USA überhaupt nicht aus. Damen und Herren. (Beifall des Abg. Dr. Guido Westerwelle [FDP] – (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE neten der FDP – Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/ GRÜNEN – Zurufe von der SPD und dem DIE GRÜNEN]: Es ist doch etwas getan wor- (B) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Oh!) den! Haben die Inspektoren nichts getan?) (D) Wir sind hier im deutschen Parlament Anfang der 90er-Jahre – die Außenpolitiker werden (Weitere Zurufe von der SPD und dem sich erinnern – haben wir in Europa eine leidenschaftli- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) che Diskussion darüber geführt, dass Hans-Dietrich Genscher und die Bundesregierung damals dafür waren, und wir haben über die deutsche Position zu diskutieren. Kroatien diplomatische Beziehungen anzubieten. Der Ich bin ganz sicher, dass wir es anders gemacht hätten. Bundesaußenminister sagt in diesen Tagen oft: Passt auf, Darüber müssen wir in diesem Hause sprechen. dass es in diesem Raum, im Irak, um den Irak und in (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Kurdistan, nicht zu einer Balkanisierung kommt. Hubert Ulrich [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Katrin Dagmar Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/ NEN]: Vasallen!) DIE GRÜNEN]: Deswegen sind wir gegen Eine Entscheidung im UN-Sicherheitsrat ist bedauer- den Krieg!) licherweise nicht möglich gewesen, weil ein Veto von Meine Damen und Herren, damals wurde gesagt: Wie Frankreich, eines von Russland und vielleicht auch eines könnt ihr diplomatische Beziehungen zu Kroatien auf- von anderen gedroht hätten. Aber eine Entscheidung in nehmen? Das wird zu einer Zersplitterung und nicht zu die andere Richtung ist auch nicht möglich gewesen, mehr Frieden führen. Vor dem Kosovo-Krieg haben wir weil sonst ein Veto von Amerika und Großbritannien ge- uns gefragt, welche Risiken damit verbunden sind. Das droht hätte. Zur Wahrheit der Geschichte gehört, ist doch vollkommen klar. Trotzdem hat sich im Nach- (Waltraud Lehn [SPD]: Das Wort „Wahrheit“ hinein erwiesen, dass diese Region weit entfernt ist von würde ich nicht in den Mund nehmen!) Stabilität; aber sie ist immerhin stabiler, als sie es früher war, und Menschenrechtsverletzungen finden in diesem dass das eine Veto nicht mehr wert ist als das andere, Raum auch nicht statt. sondern dass beide ihre Berechtigung haben und die UNO deshalb leider nicht der Ort der Entscheidungen Über genau dieselben Fragen haben wir jetzt zu ent- ist, wie ich es mir und wie wahrscheinlich auch Sie es scheiden und wir kommen an vielen Stellen zu anderen sich gewünscht hätten. Meinungen als Sie. Das ist doch legitim. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP – Waltraud Lehn [SPD]: Wie neten der FDP – Zurufe vom BÜNDNIS 90/ kann man eine so furchtbare Rede halten?) DIE GRÜNEN: Nein! Nein!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. März 2003 2735

Dr. Angela Merkel (A) Wir kommen zu dieser Meinung, genau wie der Bundes- (Beifall bei der CDU/CSU – Waltraud Lehn (C) außenminister, im Blick auf die Zukunft des Iran, im [SPD]: So etwas Verrücktes! Das ist bewusst Blick auf die Stabilität der Region und der Länder um verlogenes Verhalten! – Gert Weisskirchen den Irak herum, die erkennbar unter dem Diktator Hus- [Wiesloch] [SPD]: Und was dann? Wo ist Ihre sein leiden. Es stellt sich auch die Frage, wie Länder wie Antwort?) Saudi-Arabien und Jordanien in der Lage sind, Terroris- Weil die Frage, wie es mit dem Irak weitergeht, eine mus zu bekämpfen, wenn sie von einem Machtmonopol Frage von zukunftsträchtiger Bedeutung ist, bin ich froh, Irak umzingelt werden. dass der Bundeskanzler sich heute stark für eine Säule (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE der deutschen Außenpolitik ausgesprochen hat, nämlich GRÜNEN]: Machen sie doch überhaupt für die Integration Europas und für die politische Union. nicht!) (Barbara Wittig [SPD]: Das macht er immer!) Und es stellt sich die Frage, wie die Sicherheit Israels Dass sie durch das, was in den letzten Wochen vorgefal- mit einem erstarkenden Irak und einem erstarkenden len ist, nicht einfacher geworden ist, liegt auf der Hand. Iran zu gewährleisten ist. All diese Fragen treiben uns Aber wir, meine Damen und Herren, werden genauso gemeinsam um. Diese Fragen haben wir zu beantworten weiterarbeiten, wie wir es bis jetzt getan haben: und sie sind mit einem einfachen Nein und mit Nichtstun mit Sicherheit nicht zu beantworten. (Waltraud Lehn [SPD]: Bedauerlicherweise!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) durch eine Unterstützung der Konventsarbeit, durch die Unterstützung der Arbeiten an einem Verfassungsver- Es stellt sich mir eine zweite Frage, die für mich ge- trag. Wir werden für eine ausbalancierte Politik sorgen, nauso wichtig ist. Wir haben jetzt die Blockade des UN- die Deutschlands Rolle auch im Hinblick auf alle seine Sicherheitsrates erlebt. So etwas muss für die Zukunft Nachbarn wirklich gerecht wird. verhindert werden. (Gert Weisskirchen [Wiesloch] [SPD]: Wo ist (Lothar Mark [SPD]: Das war eine Androhung Ihre Antwort?) des Vetos! Das ist etwas anderes!) Herr Bundeskanzler, ich habe Ihre Bemerkung zu den Aber wir sagen – und wir alle in diesem Hause sagen mittel- und osteuropäischen Ländern nicht ganz ver- das –: Das Gewaltmonopol muss bei der UNO liegen. standen. Ich weiß nicht, was Sie meinten. Meinten Sie, sie seien noch nicht ganz erwachsen? (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Zurufe (Waltraud Lehn [SPD]: Schon wieder Hetze! – (B) vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Aha!) (D) Dr. Uwe Küster [SPD]: Man kann auch – Meine Damen und Herren, ganz ruhig. – Aber die mili- dumme Fragen stellen! – Lothar Mark [SPD]: tärische Drohkulisse kann und wird auf absehbare Zeit Sie verstehen überhaupt nichts!) von der UNO nicht aufgebaut werden, sondern sie wird durch Nationalstaaten erzeugt werden. – Er hat sich ein bisschen kryptisch ausgedrückt. – Ich rate dazu, dass wir diese Länder ernst nehmen. Wir soll- Kommen wir noch zu den Fragen: Wie sieht es denn ten unseren Nachbarn Polen genauso ernst wie unseren damit aus, mit deutschen, französischen und anderen Fä- Nachbarn Frankreich nehmen. Damit fahren wir gut. higkeiten einen wirklichen Beitrag zu einer solchen Drohkulisse zu leisten? Was können wir denn schaffen, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – wenn es um etwas geht? Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Bravo!) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Die Europäische Union darf niemals ein Eliteklub ihrer neten der FDP – Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/ Gründungsländer werden. DIE GRÜNEN]: Sie befürworten nicht nur die (Joachim Poß [SPD]: Wer will das denn?) Drohkulissen, sondern auch die Folgen!) Die politische Union wird uns nur gelingen, wenn alle Deshalb heißt unsere Schlussfolgerung angesichts der Mitgliedstaaten gleichermaßen akzeptiert und in diese Lage und bedauerlicherweise: Es ist ein ziemliches De- Union einbezogen werden. saster, in dem wir uns befinden. Angesichts dieser Situa- tion haben wir gesagt: Wir unterstützen als letzte Chance (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) des Friedens das Ultimatum, das dem Diktator Saddam Meine Damen und Herren, in diesen Tagen hört man Hussein gestellt ist. von Ihnen in Bezug auf die transatlantischen Bezie- (Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- hungen immer: Das sind unsere Freunde und Partner. NEN]: Und seine Folgen! – Gert Weisskirchen Freundschaft beruht immer auf Gegenseitigkeit. [Wiesloch] [SPD]: Was ist Ihre Konsequenz?) (Waltraud Lehn [SPD]: Das ist ja eine ganz neue Erkenntnis! – Gert Weisskirchen [Wies- Es wäre gut – und ich sage das jetzt mit voller Leiden- loch] [SPD]: Was haben Sie Herrn Rumsfeld schaft –, wenn Sie sich wenigstens in diesen 48 Stunden gesagt? – Weitere Zurufe von der SPD) dazu aufraffen könnten, gemeinsam mit uns dieses Ulti- matum zu unterstützen und die letzte Chance zu nutzen, Das müssen die Amerikaner lernen, aber das müssen den Krieg im Irak wirklich zu verhindern. auch die Deutschen beherzigen. Ich kann Ihnen dazu nur 2736 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. März 2003

Dr. Angela Merkel (A) sagen: Wenn schon der Besuch eines Oppositionsführers (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (C) in Amerika inzwischen zum Gegenstand von wirklich Denn wenn Sie eine multipolare Welt wirklich wollen, absurden Bemerkungen der Regierungsfraktionen ge- dann muss Europa ein Pol in dieser Welt sein, der nach worden ist, meinem Verständnis im Übrigen freundschaftlich mit (Jörg Tauss [SPD]: Schwerer Schaden!) den Amerikanern verbunden ist, und dann muss dieser Pol ökonomische, aber auch sicherheitspolitische Stärke dann stellen Sie sich selber in die Ecke, meine Damen aufweisen. und Herren. Man wundert sich außerhalb Deutschlands über Sie. Damit sind wir beim Thema der heutigen Debatte. Schauen Sie sich bitte Ihren Verteidigungsetat vor dem (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Hintergrund der Worte Ihres Außenministers an. Lothar Mark [SPD]: Entschuldigen Sie sich für den Auslandsbesuch! – Weitere Zurufe von (Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Sehr richtig!) der SPD) Er ist in diesem Jahr und er war im letzen und vorletzten Herr Bundeskanzler, Sie haben heute kein Wort dazu Jahr das genaue Gegenteil dessen, was Sie als politische gesagt, dass eine Achse Paris–Berlin–Moskau und ein Notwendigkeit formulieren. Das ist die Aussage dieses Angebot russischer Politiker, Deutschland Sicherheits- Etats. beistand leisten zu können, nicht das sind, was uns in die (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zukunft führt. Dazu muss man doch ein Wort sagen. So Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- etwas wird jetzt in deutschen Zeitungen geschrieben und NEN]: Wer im Glashaus sitzt, sollte nicht mit bleibt hier völlig unwidersprochen. Für uns sind das Steinen werfen!) transatlantische Verhältnis und die NATO der Sicher- heitsverbund; darauf setzen wir und das wollen wir vor- Deshalb kann ich nur sagen: Machen wir es dann anbringen. doch wenigstens so wie Frankreich. Frankreich hat sei- nen Wehretat um 6 Prozent erhöht. Die französische Ver- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – teidigungsministerin läuft freudig umher. Herr Struck, Lothar Mark [SPD]: Das stellt doch niemand Sie träumen von so etwas. in Frage!) (Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Frau Sager, es ist doch vollkommen richtig, dass Herr NEN]: Struck düst mit seiner Harley Davidson Schäuble darauf hingewiesen hat, dass sich nach dem durch die USA!) 11. September die Lage verändert habe, dass es eine neue Sicherheitsarchitektur geben werde, Sich damit, militärisch stark sein zu wollen, zu brüsten, (B) (D) aber nichts dafür zu tun, ist das, was diese Bundesregie- (Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: rung auszeichnet. Wort und Tat stimmen auf keinem Ja, aber Sie geben falsche Antworten!) Feld überein. dass es neue Bedrohungen geben werde und dass wir auf (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- diese völlig anderen Bedrohungen anders antworten neten der FDP) müssten. Deshalb ist dieser Haushalt kein Haushalt der Stabili- (Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: tät, sondern ein Haushalt der Stagnation und er ist eine Aber wie?) Farce hinsichtlich seiner Glaubwürdigkeit. Am Ende Weil dies wahr ist, habe ich auch mit Interesse das Inter- dieses Jahres wird nichts stimmen, aber – um das gleich view des Bundesaußenministers in der „FAZ“ vom klar zu stellen – es wird nicht wegen des Irakkrieges Montag gelesen, in dem er sagt: nicht stimmen, sondern weil all Ihre Wirtschaftsdaten auf weniger als Sand gebaut sind, weil sie zum Teil er- Die militärische Überlegenheit Amerikas ist nicht funden, erhofft oder erträumt sind, aber mit der Realität das Ergebnis eines großen strategischen Master- nichts zu tun haben. plans finsterer Kräfte zur Beherrschung der Welt, sondern eine Tatsache, die sich aus dem Gang der (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Geschichte ergeben hat. Insofern geht es nicht da- neten der FDP) rum, hier eine antiamerikanische Stimmung zu ver- Herr Müntefering, Sie sprachen von Innovationen breiten, wenn ich sage, dass auch wir Europäer auf – ich bin doch dabei –, aber schauen Sie bitte einmal auf diesem Sektor stärker werden müssen … die Investitionen, die notwendig sind, damit es über- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des haupt Innovationen geben kann. Die Fluthilfe war ein- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) malig und nächstes Jahr fehlen auch die Erlöse aus dem Verkauf der UMTS-Lizenzen. Dann sieht es ganz trübe Wir müssen unsere militärische Kraft verstärken, aus. um auch in diesem Sektor als Faktor ernst genom- men zu werden. Schauen Sie sich einmal an, was bei den Wissen- schaftsorganisationen los ist. Jetzt haben Sie wieder ein (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Versprechen auf das nächste Jahr verschoben. Meinen BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Sie, dass Ihnen in Deutschland noch irgendeine Wissen- Meine Damen und Herren, hier sind wir richtig dabei. schaftsorganisation ein Versprechen für das nächste Jahr Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. März 2003 2737

Dr. Angela Merkel (A) abnehmen wird? Ihr Problem ist, dass Ihnen in Deutsch- genommen und bezichtigen uns jetzt, dass wir Steuer- (C) land innenpolitisch überhaupt kein Mensch mehr ir- erhöhungen nicht zustimmen. gendein Wort glaubt. Wir stimmen Steuererhöhungen nicht zu, sondern wir (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- wollen, dass Sie die Gewerbesteuerumlage wieder auf neten der FDP – Jörg Tauss [SPD]: Die DFG ihr altes Niveau zurückführen. Dann wird es den Kom- hat sich gerade bedankt! munen wieder besser gehen. Das können Sie völlig mühelos machen. – Die DFG hat sich bedankt, (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Jörg Tauss [SPD]: Weil wir aufstocken! Sie ha- neten der FDP) ben keine Ahnung! Das ist das Problem!) Ich wundere mich, dass Sie es nach dem Gegacker weil sie nach langem Ringen überhaupt noch ein biss- des Wochenendes im Blätterwald chen bekommen hat. Soll ich Ihnen sagen, was sie be- kommen hat? Sie hat das bekommen, was Sie voriges (Jörg Tauss [SPD]: Stoiber! Merkel!) Jahr versprochen haben und was die DFG bereits ausge- überhaupt noch wagen, uns wegen kleiner Unterschiede geben hat. in zwei Parteien überhaupt anzusprechen. (Jörg Tauss [SPD]: Quatsch!) (Beifall des Abg. Michael Glos [CDU/CSU]) Die Max-Planck-Gesellschaft hat zum Teil noch über- Schauen Sie doch lieber, dass Sie Ihre eigenen Mehrhei- haupt nichts ausgegeben und sitzt da wie Neese. Wenn ten zusammenbekommen. sich in Deutschland herumspricht, dass man auf nichts hoffen kann, werden noch mehr Wissenschaftler wegge- Worin liegt der Unterschied? Das kann ich Ihnen ganz hen. Sie wissen das viel besser, wenn Sie allein in Ihrem genau sagen. Im Gegensatz zu Ihnen haben CDU und Kämmerchen sind. CSU ein Modell für den Kündigungsschutz vorgelegt. (Jörg Tauss [SPD]: Ihr habt gekürzt!) (Jörg Tauss [SPD]: Welches?) Der gesamte Wissenschaftshaushalt ist ein einziges Be- Nach diesem Modell haben Arbeitnehmer bei Neuein- trübnis. stellung die Möglichkeit, zwischen zwei Optionen, ei- nem normalen Kündigungsschutz oder einer Abfindung, (Waltraud Lehn [SPD]: Was Sie hier betreiben, zu wählen. ist reine Wirklichkeitsverdrehung!) (B) (Jörg Tauss [SPD]: Zu Recht!) (D) Herr Müntefering, er hat mit Innovation leider wenig zu tun. Herr Clement hat dieses Modell verworfen, obwohl er genau weiß, dass es richtig ist; denn es versetzt den Ar- (Beifall bei der CDU/CSU – Joachim Poß beitgeber in die Lage, bereits bei der Einstellung Rechts- [SPD]: Wir haben doch erhöht! Sie haben ge- sicherheit darüber zu haben, wie es bei einer Kündigung kürzt! – Waltraud Lehn [SPD]: Und zwar stän- laufen wird. Deshalb werden wir dieses Modell auch dig!) weiterhin vertreten. Zu den Kommunen. Herr Müntefering hat heute die (Beifall bei der CDU/CSU – Krista Sager Katze aus dem Sack gelassen und gesagt: Na klar, die [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und jetzt das Schwachen bekommen nichts, aber die Starken bekom- Stoiber-Modell!) men etwas, denn sie können noch Kredite aufnehmen. Da habe ich wieder etwas dazugelernt, nämlich dass die Darüber hinaus hat die CSU zusätzlich einen Vorschlag neue sozialdemokratische Politik offensichtlich die Poli- bezüglich einer Mittelstandskomponente gemacht. Jetzt tik ist, die Starken stärker zu machen und die Schwachen warten wir ab, welcher von Ihren drei Vorschlägen auf schwächer zu machen. Das ist etwas ganz Neues. Wenn den Tisch kommt. das zu Ihrem Prinzip wird, müssen wir uns mehr für die (Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie ha- Schwachen einsetzen. ben das Stoiber-Modell vergessen!) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Wir haben – da brauchen Sie sich keine Sorgen zu ma- neten der FDP) chen – noch weiter gehende Vorschläge, die Deutschland besser tun würden als Ihre. Tatsache ist, dass Herr Eichel eine Steuerreform im Jahre 2000 gemacht hat. Damals hatten Sie Angst vor (Jörg Tauss [SPD]: Warten wir es ab! – dem Vermittlungsausschuss und haben sich die Mehrheit Joachim Poß [SPD]: Noch mehr Steuern sen- mehr oder weniger erkauft. ken! Noch weniger Geld für die Kommunen!) (Joachim Poß [SPD]: Sie wollen die Steuern Wenn Ihre Vorschläge einigermaßen verträglich sein doch noch mehr senken! Dann hätten die sollten, dann werden wir ihnen zustimmen. Aber ich ver- Kommunen noch viel weniger!) mute, dass Sie noch lange Zeit damit zubringen werden, um sich zu einigen, was Sie überhaupt wollen. Diese Steuerreform hat fatale Folgen. Dann haben Sie den Kommunen noch die Gewerbesteuerumlage weg- (Beifall bei der CDU/CSU) 2738 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. März 2003

Dr. Angela Merkel (A) Herr Müntefering, da Sie ständig wiederholen, wie (Jörg Tauss [SPD]: Bei Ihnen ist der (C) konkret Sie geworden sind, Lack ab!) (Jörg Tauss [SPD]: Da hat er Recht!) Ich möchte in diesem Zusammenhang Goethe zitieren, muss ich Sie darauf hinweisen, dass der Bundeskanzler der gesagt hat: Die Teile habt ihr in der Hand, allein es das, was er uns über die Zusammenlegung von Arbeits- fehlt das einig Band. – Sie haben keine Vorstellung von losen- und Sozialhilfe gesagt hat, schon seit drei Jahren der Welt in dieser Zeit. verkündet. Aber wie immer liegt die Tücke im Detail. (Lachen bei der SPD) Sollen zum Beispiel die Jobcenter bei der Kommune an- gesiedelt sein? Wenn ja, welche zusätzlichen Aufgaben Sie sind eine Partei, die im Industriezeitalter stecken ge- soll dann die Bundesanstalt für Arbeit bekommen? Unser blieben ist und die in Verbänden, Schichten und Klassen Vorschlag lautet, den Kommunen mehr Geld zu geben, denkt. Sie haben nicht die Kraft, den Menschen in die- weil wir der Meinung sind, dass über die Vermittlung sem Lande wirklich etwas zuzutrauen. Das unterscheidet ortsnah entschieden werden muss. Es kann nicht sein, uns. Das wird sich auch in den kommenden Monaten dass diejenigen, die gut zu vermitteln sind, zur Bundes- zeigen. anstalt für Arbeit kommen und diejenigen, die schlecht Herzlichen Dank. zu vermitteln sind, bei den armen Kommunen verblei- ben. Auf all diese Fragen habe ich von Ihnen noch keine (Lang anhaltender und lebhafter Beifall bei der CDU/ einzige Antwort bekommen. Herr Gerster, die Kommu- CSU – Anhaltender Beifall bei der FDP) nen und Sie in der Fraktion sind in diesen Fragen zerstrit- ten und können uns deswegen nichts Konkretes sagen. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Wir warten darauf, dass Sie uns endlich etwas vorle- gen, was über allgemeine Bekundungen hinausgeht. Sie Es liegen zwei Wünsche nach einer Kurzintervention werden es nicht schaffen – das sage ich Ihnen voraus –, vor. Zunächst erhält der Fraktionsvorsitzende der Sozial- die Arbeitslosen- und Sozialhilfe zusammenzulegen, demokraten, Franz Müntefering, und danach der Abge- ohne die Fragen zur Gemeindefinanzreform zu klären. ordnete Ludger Volmer das Wort. Frau Merkel, Sie kön- Doch davon sind Sie weit entfernt. Sie sind so weit wie nen dann im Zusammenhang darauf antworten. am Anfang der ganzen Diskussion. Wir aber wollen auch (Abg. Franz Müntefering [SPD] begibt sich hier Ergebnisse sehen. zum Rednerpult – Hartmut Schauerte [CDU/ (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- CSU]: Von Ihrem Platz aus! – Weitere Zurufe neten der FDP – Joachim Poß [SPD]: Sie wis- der CDU/CSU) (B) (D) sen doch gar nicht, was Sie wollen! Wollen Sie – Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Worterteilung die Abschaffung der Gewerbesteuer?) und die Beurteilung, ob sie korrekt wahrgenommen Der Bundeskanzler hat einige richtige Maßnamen wird, ist immer noch Sache des Präsidiums. vor; das ist keine Frage. Diese hat er allerdings nur des- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN halb vorgelegt, weil er am Freitag nach Brüssel muss. und bei der SPD) Brüssel hat ihm nämlich Daumenschrauben angelegt: Wenn Anfang Mai nicht Konzepte auf dem Tisch liegen, wie Deutschland den Stabilitätspakt auch nur ansatz- Franz Müntefering (SPD): weise erfüllen will, dann wird Deutschland schwere Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Strafen zu erwarten haben. Weil Sie, Herr Bundeskanz- Herren! Frau Merkel, Sie haben mich an einer bestimm- ler, dort rapportieren müssen, haben Sie endlich die Be- ten Stelle angesprochen. Darauf möchte ich eingehen, richte der OECD und der Bundesbank in die Hand ge- denn ich habe mich ein wenig gewundert. nommen und das getan, von dem wir seit Tag und Jahr wissen, dass es in Deutschland getan werden muss, je- (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Zwei Mi- denfalls ansatzweise. Das ist die Wahrheit. Ohne diesen nuten sind um!) Druck hätten Sie gar nichts gemacht. Diese Stunde, die Diskussion des Kanzleretats am (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Mittwochmorgen, ist immer die große Zeit des Parla- Carl-Ludwig Thiele [FDP]) ments. Das Parlament nimmt sein Recht wahr, die Bun- Aber, Herr Bundeskanzler, Sie müssen zugeben: desregierung zu kontrollieren. Das ist eine besondere Wenn Sie in Ihrem Kämmerlein sitzen und darüber nach- Aufgabe der Opposition. denken, was Deutschland wirklich braucht, dann muss (Dr. Angela Merkel [CDU/CSU]: Genau!) doch auch Ihnen klar werden, dass die Agenda 2010 angesichts der Aufgaben, die vor uns liegen, allenfalls Ich habe vorhin mit Interesse erfahren, dass Sie nicht einen kleinen Prolog bekommen hat, der bis zum Juli bereit waren, vor dem Bundeskanzler zu sprechen und dieses Jahres reicht, aber doch niemals mit Maßnahmen die Regierungspolitik zu kritisieren. Sie haben darum ge- aufgefüllt wurde, die bis zum Jahr 2010 reichen. beten, dass der Bundeskanzler als Erster spricht, damit Sie antworten können. Das haben wir akzeptiert, Das Problem, das Sie haben, ist – das wird in den kommenden Wochen noch deutlicher werden –: Sie kön- (Volker Kauder [CDU/CSU]: Übliches nen den Menschen nicht sagen, wohin die Reise geht. Verfahren!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. März 2003 2739

Franz Müntefering (A) weil wir uns vorstellen konnten, dass Sie ein Interesse alle miteinander darum gebeten haben, hier aktiv zu sein (C) daran haben, auch auf die außenpolitische Situation ein- und alles Mögliche zu tun, damit weiterhin Frieden zugehen. herrscht. Ihre Vorwürfe an diese Menschen und auch an uns weise ich zurück, Frau Merkel. (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Na und?) Ich muss Ihnen aber sagen: Das, was Sie hier abgelie- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ fert haben, war keine Antwort, es war eine vorbereitete DIE GRÜNEN – Dietrich Austermann [CDU/ Frechheit und nichts anderes. CSU]: Quatsch! – Hartmut Schauerte [CDU/ CSU]: Drei Minuten sind um!) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Zurufe von der CDU/CSU: Solange es in Zukunft Menschen gibt, wird es auch Buh! – Pfui! – Dr. Peter Ramsauer [CDU/ Gewalt auf der Welt geben. Es wird in einer veränderten CSU]: Das haben Sie doch überhaupt nicht zu Welt immer komplizierter und schwieriger werden, mit kommentieren, Sie Schlawiner!) dieser Gewalt klarzukommen. Ich sage Ihnen: Wir ste- hen vor einer großen Herausforderung, die am Beispiel – Es tut mir Leid für Sie. Irak exemplarisch zu diskutieren und nachzuvollziehen Sie behaupten, wir hätten durch unsere Politik dazu ist. Der Bundeskanzler, diese Bundesregierung und diese beigetragen, dass der Krieg im Irak wahrscheinlicher Koalition werden mit ihrem Bemühen, bis zum letzten wird. Augenblick dafür zu kämpfen und zu streiten, dass das Problem Irak friedlich gelöst werden kann, historisch ( [Hamm] [CDU/CSU]: Ja!) Recht behalten. Dafür stehen die Sozialdemokraten, da- Ich sage Ihnen: Halten Sie an der Stelle ein! für steht diese Koalition. (Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Wir brau- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ chen uns nicht belehren zu lassen!) DIE GRÜNEN – Hartmut Schauerte [CDU/ CSU]: Das war sehr peinlich! – Gegenruf des Zerstören Sie nicht all das, was in diesem Land unter Abg. Jörg Tauss [SPD]: Frau Merkel war pein- Demokraten miteinander gewachsen ist. Halten Sie ein! lich! Das Peinlichste in diesem Haus! – Weite- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ rer Gegenruf des Abg. Karsten Schönfeld DIE GRÜNEN – Dietrich Austermann [CDU/ [SPD]: Ihre Reaktion war peinlich!) CSU]: Das muss gerade er sagen! – Weitere Zurufe bei der CDU/CSU) Dr. Ludger Volmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (B) (D) Deshalb war Ihre Bitte, nach dem Kanzler zu reden, Sehr geehrte Frau Merkel, ich wollte Ihnen vorhin feige und die Art und Weise, wie Sie uns angegangen gerne eine Zwischenfrage stellen. Da Sie sie abgelehnt sind, frech. haben, muss ich Sie nun in einer Kurzintervention mit (Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Sie brau- dem konfrontieren, was Sie gestern Abend gesagt haben. chen einen Knigge für Politiker!) Sie haben viel über das geredet, was Sie getan hätten, Ich habe mich aber nicht um meinetwillen gemeldet. wären Sie an der Regierung gewesen. Ich will darüber Die deutsche Geschichte zeigt, dass die Sozialdemokra- sprechen, was Sie tun, während Sie in der Opposition ten, seitdem es sie gibt, dazu beigetragen haben, dass sind. Sie haben gestern Abend erklärt, Sie unterstützten Frieden in diesem Land und darüber hinaus herrschte. das Ultimatum von Präsident Bush. An Krieg und ähnlichen Dingen waren wir nie beteiligt. So etwas haben wir auch nie mit ausgelöst. Diese ge- ( [SPD]: Vorbehaltlos!) schichtliche Tatsache merken Sie sich einmal! Auf Nachfrage von Journalisten – das ist zum Beispiel in (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ der heutigen Ausgabe der „Berliner Zeitung“ nachzule- DIE GRÜNEN – Dietrich Austermann [CDU/ sen – haben Sie gesagt: „Wenn wir uns hinter das Ulti- CSU]: Wer hat denn begonnen? – Weitere Zu- matum stellen, dann impliziert das alle Folgen, die sich rufe von der CDU/CSU) mit dem Ultimatum ergeben …“ Ich habe mich gemeldet, weil Sie durch die Art und Folge eins: Die Inspektoren sind abgezogen worden. Weise, mit der Sie hier agierten, Millionen Menschen in Damit ist die erfolgs- und hoffnungsträchtige friedliche diesem Land beschimpft haben. Abrüstungsmission gescheitert. (Michael Glos [CDU/CSU]: Jetzt hört es aber (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN auf!) und bei der SPD) Es geht um die Menschen, die in den vergangenen Tagen Auch für diese Folge müssen Sie die Konsequenzen unterwegs waren – und immer noch unterwegs sind –, mittragen. um zu demonstrieren – Junge und Alte – und um uns Po- litikern zu sagen, dass sie Angst haben und dass wir da- Folge zwei: Just in diesem Moment geht die Meldung für sorgen sollen, dass es diesen Krieg nicht gibt. Darum über die Ticker, dass amerikanische Truppen in die ent- bemühen wir uns. Sie beschimpfen auch all diejenigen, militarisierte Zone im Irak eingerückt sind. Das heißt, die sich in diesen Tagen auf den Weg gemacht und uns der Krieg beginnt in dieser Minute. Sie, Frau Merkel, 2740 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. März 2003

Dr. Ludger Volmer (A) verantworten mit Ihrer Äußerung von gestern Abend (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (C) diese fatale Entwicklung mit. und bei der SPD – Jörg Tauss [SPD]: „Schänd- lich“ ist gut!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Dr. Angela Merkel (CDU/CSU): Frau Merkel, wenn heute oder morgen Nacht der größte militärische Erstschlag der Kriegsgeschichte ver- Herr Müntefering, ich weiß nicht, ob wir uns in die- übt wird, dann mögen die 3 000 Waffen, die dort einge- sem Hause mit Kindererziehungsmethoden beschäftigen setzt werden, noch so zielgenau sein und mancher sollten. Ich nenne nur die Stichworte „Kulleraugen“ – das Schlag noch so chirurgisch präzise sein. Es wird Tau- war Freitag – und „frech“ von heute. sende von Toten und Zehntausende von Verletzten sowie (Jörg Tauss [SPD]: Entschuldigen Sie sich! – Millionen von Flüchtlingen geben. Diese Konsequenzen, Peter Dreßen [SPD]: Eine Entschuldigung Frau Merkel, implizieren Sie mit. wäre jetzt angezeigt!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Wofür soll ich mich denn entschuldigen? Herr und bei der SPD) Müntefering hat diese Äußerungen gemacht. Dazu hätte ich mir von Ihnen eine klare Haltung ge- Erstens. Ich möchte Sie nur daran erinnern, Herr wünscht. Müntefering, dass uns der Bundeskanzler der Bundesre- Ich sage Ihnen: Ich wundere mich über den Stim- publik Deutschland in einer seiner letzten Reden als die mungswechsel in der Union. Zwei Jahre zuvor, im Koalition der Kriegswilligen bezeichnet hat. Frühjahr 2001, hatten wir in den Ausschüssen eine De- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ batte darüber – hören Sie gut zu –, ob nicht das Embargo DIE GRÜNEN – Dr. Guido Westerwelle gegenüber dem Irak aufgehoben werden müsse. Diese [FDP]: So ist es!) Debatte wurde von der CDU/CSU mit der Begründung angemahnt, der Irak sei doch gar nicht mehr gefährlich Dies war eine nicht zu überbietende Äußerung, von der und von ihm gehe keine Gefahr mehr für den Weltfrie- ich noch heute sage, dass sie völlig daneben und unge- den aus. rechtfertigt war. Genau dazu äußern wir uns und das können Sie uns nicht verbieten. Das ist in diesem Parla- (Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: ment immer noch möglich. Hört! Hört!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (B) Die Bundesregierung – das war teilweise meine (D) Rolle – hat damals erklärt: Wir müssen über die Aufhe- Zweitens möchte ich, damit hier keine Missverständ- bung der Sanktionen reden, aber bitte vergessen Sie nisse bei den Menschen, die uns zuschauen, entstehen, sa- nicht, dass der Irak Potenziale zur Herstellung von Mas- gen: Ich habe 35 Jahre lang in einem Land gelebt, in dem senvernichtungswaffen besitzt, die unschädlich gemacht man nicht demonstrieren durfte. Deshalb werde ich die werden müssen. Letzte sein, die nicht respektiert, dass Menschen für das, was sie für richtig halten, in diesem Land demonstrieren. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Herr Kollege Volmer, Ihnen stehen für eine Kurzinter- Ich freue mich darüber, dass das möglich ist. Trotzdem er- vention nur drei Minuten Redezeit zur Verfügung. Diese laube ich mir, ab und zu eine andere Meinung zu haben. sind jetzt vorbei. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Dr. Ludger Volmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Drittens. Herr Volmer, Sorry! (Katrin Dagmar Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Entschuldigen Sie sich Frau Merkel, Ihre Politik ist inkonsistent. Wie Sie jetzt?) versuchen, Ihre inneren Widersprüche – Herr Glos hat heute Morgen erklärt, er verstehe die Politik von Herrn es ist fatal: Die Bundesregierung hat die Resolution 1441 Bush nicht – zu kaschieren, indem Sie diese Bundesre- mit verabschiedet. gierung angreifen, ist schändlich. (Zurufe von der SPD) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: – Die Bundesregierung hat sie auf dem NATO-Gipfel in Prag ausdrücklich unterstützt, obwohl Deutschland da- Herr Kollege Volmer, ich muss Sie jetzt bitten aufzu- mals noch nicht im UN-Sicherheitsrat war. Damit gilt sie hören. als politisch mit getragen durch die Bundesregierung. Das wissen Sie doch auch. Stellen Sie es hier nicht in- Dr. Ludger Volmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): frage! Sie betreiben ein schändliches Spiel mit all denjeni- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – gen, die eine friedliche Lösung suchen. Lothar Mark [SPD]: Ja, und? – Weiterer Zuruf Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. März 2003 2741

Dr. Angela Merkel (A) von der SPD: Deshalb kann man nicht Kriegs- wohl die Stunde der Wahrheit, wie Sie es bezeichnen, of- (C) automatismus betreiben!) fensichtlich gekommen ist. Wie auch immer die Diskussionen im Jahr 2000 ge- Ich möchte als Haushälter auf das zurückkommen, was wesen waren: Irgendetwas muss alle in diesem Haus uns in dieser Woche berührt, und auf den Haushaltsplan dazu veranlasst haben, zu sagen, dass der Irak unverzüg- eingehen. Ich möchte auch zu dem Thema reden, das der lich und als letzte Chance abzurüsten hat, weil ihm an- Kanzler am Freitag, dem 14. März, angesprochen hat, sonsten „serious consequences“, ernsthafte Konsequen- und darüber, was er von diesem Haus erwartet und was zen, drohen. Das haben Sie und wir unterstützt. Dabei wir machen wollen. sollten wir auch am heutigen Tag bleiben. Wir stehen vor schweren Aufgaben. Das haben die (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Verhandlungen über den Haushalt in diesen schwierigen Karsten Schönfeld [SPD]: Eine äußerst schwa- Wochen gezeigt. Die Wachstumsraten sind seit dem che Antwort!) Ende des kurzen – hören Sie gut zu, meine Damen und Herren von der Opposition – Wiedervereinigungsbooms, Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: spätestens jedoch seit 1992 maßgeblich zurückgegangen. Seit über zehn Jahren leidet die deutsche Volkswirtschaft Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte jetzt an einer viel beschriebenen strukturellen Wachstums- doch ein paar Worte sagen. Jeder merkt, dieses Thema schwäche. Bis 1998 ist diese Wachstumsschwäche durch ist für alle Seiten sehr aufwühlend. Ich finde aber, wir eine steigende Staatsverschuldung unter Ihrem damali- müssen unter uns – das sage ich an alle Seiten gerichtet – gen Kanzler Kohl und Bundesfinanzminister Waigel ka- klarstellen, dass der Krieg nicht in diesem Raum stattfin- schiert worden. Deshalb wurden die Lasten und das det, auch nicht in Worten. ganze Ausmaß erst sehr spät erkannt und deutlich. (Zuruf von der SPD: Frau Merkel!) Mit dem Bundeshaushalt 2003 leistet der Bund seinen Beitrag zum notwendigen Abbau des gesamtstaatlichen Wir müssen auch morgen wieder zusammenarbeiten. Ich Defizits. Eine nachhaltige Finanzpolitik darf nicht nur bitte, daran auch in Zukunft zu denken. von einer reinen Sparpolitik geprägt sein, sondern muss (Zuruf von der SPD: Dann muss Sie sich ent- die Strukturen des Bundeshaushalts nachhaltig verbes- schuldigen!) sern. Deshalb verbinden wir Konsolidierung mit gestal- tender Politik. Alles in allem konnte als Ergebnis der Be- Bei dieser Gelegenheit möchte ich auch sagen: In ei- ratungen ein Gesamtvolumen von 247,9 Milliarden Euro ner wirklich sinnvollen Regelung, die historische Ursa- und eine Nettokreditaufnahme von 18,9 Milliarden Euro (B) chen hat, hat man festgelegt, dass die Leitung der Sitzun- beibehalten werden. Dies ist die geringste Neuverschul- (D) gen nicht kritisiert werden darf. Es finden permanent dung des Bundes seit der Wiedervereinigung Eingriffe statt. Ich kann Ihnen versichern: Ich kenne die Geschäftsordnung ziemlich gut und ich weiß, was ich (Beifall bei der SPD) darf und was nicht. Ich weiß auch, dass Kurzinterventio- nen drei Minuten dauern dürfen. Diese Zeit einzuhalten und eine Reduzierung gegenüber dem Ergebnis von ist wirklich die leichteste Übung. Diese können Sie mir 2002 um rund 13 Milliarden Euro. Dennoch – und das überlassen. sei an dieser Stelle auch gesagt, weil ich gerade in den letzten Tagen andere Äußerungen gehört habe – werden (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN die Investitionen mit 26,7 Milliarden Euro unverändert und bei der SPD – Michael Glos [CDU/CSU]: auf einem sehr hohen Niveau gehalten. Vom Platz aus!) Die Ergebnisse der Beratungen sind eine gute Voraus- Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Gerhard setzung dafür, das gesamtstaatliche Defizit dieses Jahres Rübenkönig. unter 3 Prozent zu halten. (Jochen-Konrad Fromme [CDU/CSU]: Das Gerhard Rübenkönig (SPD): glauben Sie doch wohl selber nicht!) Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Bedingung dafür ist natürlich auch – Ihr Zwischenruf Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Werte Frau macht es ganz deutlich –, dass die CDU/CSU-regierten Merkel, das, was Sie heute von sich gegeben haben, be- Länder dem Steuervergünstigungsabbaugesetz in einigen stätigt genau das, was Sie in der „Washington Post“ Passagen zustimmen, damit wir die Kommunen und die schon vor einigen Wochen gesagt haben. Sie haben dem Länder, was vorhin angedeutet worden ist, besser stellen Kanzler unterstellt, er habe Sie als Koalition der Kriegs- können. willigen bezeichnet. Nach Ihrem heutigen Redebeitrag und Ihrem gestrigen Interview muss ich feststellen, dass (Jochen-Konrad Fromme [CDU/CSU]: Das der Kanzler damit völlig richtig liegt. Ich unterstütze von bedeutet weniger Wachstum und dann wird es dieser Stelle aus die Position der Bundesregierung und noch schlimmer!) der sie tragenden Koalition. Ich glaube, dass Sie nicht in der Lage sind, die erfor- Die Initiativen und die Aktivitäten für den Frieden im derlichen Maßnahmen zu beschließen. Frau Präsidentin, Irak gehen weiter. Wir geben die Hoffnung nicht auf, ob- ich darf ganz kurz einen Ausschnitt mit der Überschrift 2742 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. März 2003

Gerhard Rübenkönig (A) „CDU/CSU – Zänkische Schwestern“ aus dem „Han- bitte ich für die notwendigen Gesetzgebungsvorhaben (C) delsblatt“ von gestern zitieren, der das deutlich macht: auch um Ihre Unterstützung. Für die Union neigt sich die bequeme Zeit des blo- Die Besserstellung bringt die Gemeinden in die Lage, ßen Neinsagens dem Ende zu. Seit der Kanzler mit das Investitionsprogramm in Höhe von insgesamt dem Mut der Verzweiflung die Pläne zum Umbau 15 Milliarden Euro zu nutzen. Darüber hinaus werden des Sozialstaats in ungewöhnlicher Genauigkeit die Kommunen ab 1. Januar 2004 von der Zahlung für die arbeitsfähigen Sozialhilfeempfänger entlastet und die – hören Sie genau zu – Gemeindefinanzen reformiert. Dadurch werden die Ge- skizziert hat, müssen CDU/CSU ihrerseits Farbe meinden in Milliardenhöhe entlastet. Sie gewinnen Ge- bekennen. Kaum aber wird es bei den Konservati- staltungsspielraum, den sie zum Beispiel für Investitio- ven konkret, kracht es auch schon mächtig im Ge- nen und Kinderbetreuung nutzen können. Zeigen Sie, bälk. Die CDU-Vorsitzende Angela Merkel unter- liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, breitet Alternativen, aber diese werden vom CSU- auch hier mehr Mut und seien Sie bereit, diese Reformen Vorsitzenden verworfen. mit uns zu tragen! Das ist genau der Punkt, der immer wieder deutlich (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ wird: dass wir bereit sind, einen Rahmen zu schaffen, in DIE GRÜNEN) dem sich die Wachstumskräfte wieder entfalten können. Die Agenda 2010 wird auch zu mehr Beschäftigung füh- Ich denke allerdings, dass wir alle bereit sein müssen, ren. Wir werden die Rahmenbedingungen für den Mittel- diesen Rahmen auszufüllen, damit unser Land wieder stand deutlich verbessern und das Arbeitsrecht an den Stel- nach vorne gebracht wird. len flexibilisieren, an denen sich im Laufe der Jahre – in In diesem Zusammenhang ist es notwendig, dass So- Ihrer Regierungszeit! – Beschäftigungshemmnisse gebildet zialstaat und wirtschaftliche Leistungskraft immer wie- haben. Eingeführt werden der gleitende Kündigungsschutz, der aufs Neue austariert werden. Das ist die Aufgabe, das Optionswahlrecht, die Sozialauswahl und verbesserte vor der wir stehen und der wir uns stellen müssen. Dabei Regelungen für Existenzgründer. Durch diese Neuregelun- verbieten sich radikale Lösungen, wie sie derzeit täglich gen wird die psychologische Hemmschwelle bei Neuein- in vielen Zeitungen von neoliberalen Kommentatoren stellungen unseres Erachtens deutlich vermindert. und auch von einigen von Ihnen angeboten werden. So Gleichzeitig wird aber auch die Handwerksordnung können wir den Staat sicherlich nicht reformieren. flexibilisiert. Auch dabei sind Sie gefordert, meine Da- (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Carl- men und Herren. Denn bei diesem Konzept handelt es sich nicht um eine Sackgasse; vielmehr wird es zu einer (B) Ludwig Thiele [FDP]: Sagen Sie das doch mal (D) dem Bundeskanzler! – Dr. Wolfgang Gerhardt deutlichen Zunahme der Existenzgründungen und Be- [FDP]: Sie haben doch einiges übernommen!) schäftigungsverhältnisse führen. Wir wollen keine andere Gesellschaft in Deutschland. (Beifall bei der SPD) Wir wollen keine Gesellschaft des Hire and Fire, keine Darüber hinaus erhalten Langzeitarbeitslose bessere Entsolidarisierung und Ausgrenzung und keinen schwa- Chancen, wieder Arbeit zu finden. Arbeitslosenhilfe und chen Staat. Sozialhilfe werden zusammengelegt, um Zuständigkeit Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Maßnahmen, die und Leistungen aus einer Hand sicherzustellen. Gleich- der Kanzler in der Regierungserklärung mit der Agenda zeitig werden Langzeitarbeitslosen, die eine Beschäfti- 2010 vorgestellt hat, die Deutschland voranbringen wer- gung aufnehmen, für eine bestimmte Zeit deutlich mehr den und deren Grundgedanken ich nochmals kurz dar- als die bisherigen 15 Prozent der Transferleistungen be- stellen möchte, setzen zu Recht an beiden Seiten an. Die lassen. Wir setzen damit ein deutliches Signal für die Strukturreformen auf der Angebotsseite werden ihre Menschen in unserer Gesellschaft, die länger als zwölf positive Wirkung mittelfristig entfalten. Kurzfristig wer- Monate arbeitslos sind. den die Nachfrageimpulse über die Stärkung kommuna- Die Agenda 2010 entlastet vor allen Dingen diejeni- ler Investitionen bereits in diesem Jahr positiv wirken. gen, die mit ihrer Leistung in stärkerem Maße unser so- ziales System erhalten. Die Menschen, die in den Betrie- Eines steht unverändert fest: Ohne Strukturreformen ben und in den Büros ihre Arbeit tun, erwarten, dass wir verpufft jeder Nachfrageimpuls. Ohne konjunkturpoliti- – auch Sie fordern das ja ständig – die Belastung durch sches Gegensteuern laufen die Reformen ins Leere. Des- Steuern und Abgaben senken. Wir werden wie geplant wegen verbessern wir die Investitionsbedingungen für die Steuern zum 1. Januar 2004 und noch einmal zum die Kommunen und investieren mehr in die Forschung. 1. Januar 2005 senken. Wir reformieren den Arbeitsmarkt über das Hartz-Kon- zept hinaus und senken dadurch die Lohnnebenkosten (Beifall bei der SPD) maßgeblich. Dieses Wachstums- und Beschäftigungs- konzept ist in sich schlüssig und in die Zukunft gerichtet. Zu unseren Maßnahmen zur Erneuerung der sozia- len Sicherungssysteme: Wir erwarten von der Rürup- Die Agenda 2010 wird zu mehr Investitionen führen. Kommission ergänzende Vorschläge für eine Anpassung Die Bundesregierung und die sie tragende Koalition stel- der Rentenformel. Wir werden, wie es der Bundeskanz- len die Gemeinden bereits in diesem Jahr um bis zu ler angekündigt hat, versuchen, durch Umsetzung ord- 2 Milliarden Euro besser. Im Interesse der Kommunen nungs- und strukturpolitischer Maßnahmen die Kranken- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. März 2003 2743

Gerhard Rübenkönig (A) versicherungsbeiträge auf unter 13 Prozent zu drücken. zende des Bündnisses 90/Die Grünen gesagt: „Sie sind (C) Des Weiteren werden wir die Bezugsdauer des Arbeits- eine Dreckschleuder.“ losengeldes für die unter 55-Jährigen auf zwölf Monate und für die über 55-Jährigen auf 18 Monate begrenzen. (Zurufe von der SPD: Oh! – Pfui! – Joachim Ich sage an dieser Stelle ganz deutlich: Dies fällt uns So- Poß [SPD]: Er weiß, worüber er spricht!) zialdemokraten sicherlich nicht leicht. Aber es gibt keine Ich rufe Sie dafür zur Ordnung. andere Alternative. Deshalb ist unsere Entscheidung richtig. Ich denke, wir werden das auch umsetzen. Außerdem rufe ich Sie dafür zur Ordnung, dass Sie der amtierenden Präsidentin gestern „Feigheit“ in der (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Sitzungsleitung vorgeworfen haben. Die Agenda 2010 eröffnet Perspektiven für eine bes- (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD): Das ist sere Zukunft. Aus diesem Grund investieren wir in richtig! – Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Bildung und Forschung, in Kinderbetreuung, in Ganz- Darf ich mich dazu äußern? – Gegenruf des tagsschulen, in neue Technologien wie zum Beispiel den Abg. Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Sie Transrapid und in die Grundlagenforschung deutlich werden gleich rausgetragen, Herr Ramsauer!) mehr als Sie während Ihrer Regierungszeit. Deshalb set- – Nein, Sie dürfen sich zu Ordnungsrufen nicht äußern. zen wir in der gegenwärtig schwierigen wirtschaftlichen Situation ein Zeichen und erhöhen im kommenden Jahr (Widerspruch des Abg. Dr. Peter Ramsauer die Etats der Max-Planck-Gesellschaft und anderer For- [CDU/CSU]) schungseinrichtungen um 3 Prozent. Deshalb fördern – Herr Kollege Ramsauer, wenn ich Sie das dritte Mal wir auch – lassen Sie mich darauf kurz zurückkommen – zur Ordnung rufe, dann müssen Sie diese Sitzung verlas- solche notwendigen Technologien wie den Transrapid mit 2,3 Milliarden Euro. Dies ist kein Unsinnsprojekt, sen. Sie wissen, dass es da einen berühmten Präzedenz- fall gibt. wie Sie es gestern formuliert haben, Herr Austermann, und wie auch Ihr ehemaliger Zukunftsminister ständig (Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Das ist ja behauptet hat. Wir stehen dazu. Wir brauchen solche unglaublich!) neuen Technologien; denn wir sind der Meinung, dass so ein dringend notwendiger Ruck durch den Wirtschafts- Bitte, lassen Sie das! standort Deutschland geht. (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Darauf arbeitet er schon lange hin!) (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Bartholomäus Kalb [CDU/CSU]: Dass wir Jetzt hat der Kollege Kampeter das Wort. (B) diese Technologie brauchen, darüber gibt es (D) keinen Zweifel!) Steffen Kampeter (CDU/CSU): Lassen Sie mich abschließend Folgendes feststellen: Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Wir halten an den Zielen fest, bis 2006 einen ausgegli- Herren! Nach dem Vortrag des Kollegen Rübenkönig zur chenen Haushalt vorzulegen und die Maastricht-Krite- Agenda 2010 muss man klar machen, dass dieses Pro- rien zu beachten, auch wenn der Weg – das sage ich sehr gramm auch „4711“ heißen könnte. deutlich – schwieriger geworden ist und auch wenn das nur bei strikter Ausgabendisziplin und einer wirtschaftli- (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Oder fünf chen Erholung zu meistern ist. Wir haben uns vorgenom- nach neun!) men, das Land zu modernisieren, die Zukunftsfähigkeit Dieses Programm ist ohne jedwede Perspektive für unser Deutschlands zu stärken sowie die Politik der Gerechtig- Land und es enthält keine tief greifende wirtschaftspoli- keit und der Solidarität voranzutreiben. Mit der Agenda tische Analyse. Die Quintessenz der Agenda 2010 wird 2010 und der Konsolidierung des Bundeshaushalts sor- sein, dass man den Haushaltsansatz um 1 Million Euro gen wir für mehr Investitionen im Bereich der Kommu- verändert hat. Soll das ein Zukunftsprogramm mit Blick nen, der Wirtschaft und der privaten Haushalte. Wir auf das Jahr 2010 sein? Das ist eher lächerlich als über- schaffen damit die Voraussetzungen für mehr Beschäfti- zeugend. gung, Wachstum und soziale Sicherheit in Deutschland. (Beifall bei der CDU/CSU) Der Bundeshaushalt 2003 trägt diesen Zielen Rech- nung. Daher stimmen wir dem Einzelplan 04 wie auch Der Haushaltsentwurf der rot-grünen Bundesregie- dem Gesamthaushalt zu. rung ist letztlich ein Dokument wirtschafts- und finanz- politischer Hilflosigkeit. Die Fakten liegen auf dem Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. Tisch. Der Sachverständigenrat, die Bundesbank, die wissenschaftlichen Forschungsinstitute und der Interna- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ tionale Währungsfonds, sie alle glauben, dass Deutsch- DIE GRÜNEN) land vor drei zentralen Herausforderungen steht:

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Erstens. Unser Land hat eine tiefe Konjunkturkrise zu überwinden. Die Binnenkonjunktur liegt am Boden. Ich habe noch einen Ordnungsruf zu erteilen. Herr Vom Export gehen leichte Impulse aus. Die Bundesregie- Kollege Ramsauer hat in Bezug auf die Fraktionsvorsit- rung setzt im Wesentlichen darauf, dass die amerikanische 2744 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. März 2003

Steffen Kampeter (A) Volkswirtschaft zur Lokomotive wird. Während diese eher verschärfen denn überwinden. Damit wird die fal- (C) Bundesregierung im außenpolitischen Bereich gegen die sche Richtung eingeschlagen. Amerikaner arbeitet, setzt sie im wirtschaftspolitischen Bereich Hoffnung auf sie. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Zweitens: die Überwindung der hartnäckigen Struk- Wenn der Kollege Müntefering hier die abenteuerliche turkrisen. Die Strukturkrisen treffen uns insbesondere Behauptung aufstellt, dass Rot-Grün etwas für die Ge- auf dem verkrusteten Arbeitsmarkt. Man kann sie aber meinden tut, dann zeigt das, dass er offensichtlich schon auch im überbordenden Steuersystem identifizieren. lange nicht mehr in einem Rathaus war. In den Rathäu- sern wird darüber geklagt, dass die falsche Wirtschafts- (Vorsitz: Vizepräsident Dr. Hermann Otto und Steuerpolitik die Kommunen in das finanzielle Aus Solms) treibt und dass jede Woche ein neues, dramatisches Steuerloch in den Haushalten entsteht. Kein Kämmerer in Drittens – diese Herausforderung wird diese Bundes- Deutschland freut sich eigentlich über Ihr Programm, mit regierung mit der Agenda 2010 wahrscheinlich nicht be- dem Sie zinsverbilligte Kredite anbieten; denn die meis- wältigen –: die Überwindung einer vielschichtigen, tief ten Kommunen in Deutschland dürfen gar keine weiteren greifenden Vertrauenskrise in unserem Land. Kredite aufnehmen, weil sie schon überschuldet sind. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Meine sehr verehrten Damen und Herren, Sie ignorieren die Lage in Deutschland. Weil Sie die Wirklichkeit nicht Derzeit ist die Vertrauenskrise das Kernübel in der Bun- wahrnehmen wollen, sind Ihre Rezepte völlig falsch. desrepublik. Den Verbraucherinnen und Verbrauchern fehlt es an Vertrauen; denn sie trauen den staatlichen (Beifall bei der CDU/CSU) Entscheidungsträgern nicht mehr und sie haben ange- Heute ist noch einmal gesagt worden, es würde zur sichts von 5 Millionen Arbeitslosen Sorge um ihren Verbesserung der Lage in Deutschland beitragen, wenn Arbeitsplatz. Sie verweigern sich dem Konsum. Als wir das Steuererhöhungsgesetz, das am Freitag im Bun- Ausdruck dieser enormen Vertrauenskrise steigt die desrat abgelehnt worden ist, doch noch in Kraft setzen. Sparquote. Das ist eine Irreführung. Dahinter steht der alte sozialde- Die Unternehmen reagieren auf diese Vertrauenskrise mokratische und damit falsche Glaube, dass höhere dadurch, dass sie Investitionen zurückstellen. Die Anle- Steuersätze zu Steuermehreinnahmen führen. ger bekommen diese Vertrauenskrise dadurch zu spüren, (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Es geht dass der DAX im internationalen Vergleich sehr viel doch gar nicht um höhere Steuersätze! Das ist stärker als die Aktienindizes der übrigen europäischen Demagogie!) (B) Volkswirtschaften zurückgegangen ist. (D) Das Gegenteil ist richtig. (Zuruf von der SPD: Auch falsch!) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Auch unsere sozialen Sicherungssysteme, insbeson- neten der FDP) dere das Rentensystem, spüren diese Vertrauenskrise; denn keiner glaubt, dass dieses soziale Sicherungssystem Niedrigere Steuersätze werden unseren Staatshaushalt noch in der Lage ist, Jüngeren dauerhaft Alterseinkünfte eher konsolidieren, weil sie wachstumsförderlich sind. zu sichern. Deswegen ist die Behauptung des Kollegen Müntefering, dass dieses Steuersatzerhöhungsprogramm den Kommu- Die Hauptursache für die vielfältige Vertrauenskrise nen hilft, irreführend. Das ist eine Täuschung. Das darf in Deutschland hat gewissermaßen ein Gesicht: diese hier nicht unwidersprochen bleiben. Bundesregierung. Die falsche Politik von Rot-Grün muss daher beendet werden. Ebenso wenig darf unwidersprochen bleiben, dass die (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Forschungsinvestitionen in Deutschland auf einem gu- neten der FDP) ten Weg sind. Der Kollege Müntefering hat hier ange- führt, dass Innovationen gesichert werden sollen und Um Deutschland wieder nach vorne zu bringen – da- dass es darum geht, soziale Gerechtigkeit auf hohem Ni- rüber diskutieren wir in dieser Woche –, ist es nötig, die veau zu gewährleisten. Ich glaube nicht, dass Innovatio- vor uns liegenden Aufgaben entschlossen anzugehen. nen das Ziel haben, soziale Gerechtigkeit zu garantieren. Leitlinie und Kompass der Union bleiben dabei die so- Vielmehr sollen sie wirtschaftliche Entwicklungsmög- ziale Marktwirtschaft für das 21. Jahrhundert. Mehr lichkeiten schaffen. Vor diesem Hintergrund ist es schon Wettbewerb und weniger Bevormundung, das muss das einigermaßen erstaunlich, dass die großen Forschungs- Leitmotiv aller Reformschritte der nächsten Wochen, einrichtungen in Deutschland – ich nenne die Max- Monate und Jahre sein. Mehr Eigenverantwortung und Planck-Institute, ich nenne die Fraunhofer-Gesellschaft weniger Bürokratie, daran müssen sich alle Gesetz- und ich nenne die Deutsche Forschungsgemeinschaft – gebungsvorhaben, die uns aus der Krise herausführen entgegen der Zusage der Bundesregierung nicht die zu- sollen, messen lassen. sätzlichen Mittel bekommen, die sie für ihre Arbeit an sich benötigen. Das ist ein Schlag gegen den For- Im Hinblick auf das, was der Kollege Müntefering schungsstandort Deutschland und der Kollege Rübenkönig heute hier vorgetragen ha- ben, muss man feststellen, dass alle von Rot-Grün ge- (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Völliger planten Maßnahmen die Vertrauenskrise in Deutschland Unsinn!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. März 2003 2745

Steffen Kampeter (A) und das ist eine Aufforderung an die Wissenschaftlerin- (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Anders (C) nen und Wissenschaftler, dieses Land, das sich nicht als Ihre Vorsitzende ist er immerhin da! Wo ist mehr um seine Forscherinnen und Forscher kümmert, denn Ihre Vorsitzende?) endlich zu verlassen. Das ist ein Signal, das von diesem Haushalt ausgeht. Das ist ein wesentlicher Grund dafür, sage ich Ihnen: Im Kern geht es darum, ob die sozialde- dass wir den Haushalt ablehnen werden. mokratische Bundestagsfraktion bereit und in der Lage ist, sich der Herausforderung einer gemeinwohlorientier- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) ten Politik in Deutschland zu stellen. Das gilt auch für die hier bereits angesprochenen Es gibt in diesem Zusammenhang eine sehr intensive Strohfeuerprogramme mit Zinsvergünstigungen für den Diskussion darüber, ob der Staat nicht Opfer organisierter Baubereich. Wir sind in der Bundesrepublik Deutsch- Interessen ist. Es gibt einige Hinweise darauf, dass es für land derzeit in einer Niedrigzinsphase. Investitionen Wachstum und Beschäftigung schädlich ist, wenn sich werden durch Zinssubventionen nicht in dem Maß geför- Fraktionen zu sehr bestimmten Partikularinteressen öffnen. dert, wie das vielleicht bei den alten Beschäftigungspro- grammen von Rot-Grün noch der Fall war. Diese Stroh- (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das er- feuerprogramme sind so angelegt, glaube ich, dass es zählen Sie mal Ihren Unternehmervertretern! noch nicht einmal ein Strohfeuer geben wird. Die Pro- Das sagen Sie mal Herrn Göhner! – Waltraud gramme werden verpuffen. Sie werden der Bauwirt- Lehn [SPD]: Diese Selbstansprache ist ja wirk- schaft keinen wesentlichen Impuls geben. Was wir für lich außerordentlich klug!) die Bauwirtschaft brauchen, ist eine Veränderung der Es gibt zum Beispiel eine Analyse eines bekannten steuerlichen Rahmenbedingungen, die es wieder attrak- Ökonomen, von Mancur Olson, der das unter dem Titel tiv machen, im Baubereich zu investieren. Dazu hat die „Aufstieg und Niedergang von Nationen“ belegt hat. Regierung zum gegenwärtigen Zeitpunkt keine Kraft. Diejenigen, die sich nur den Interessengruppen wid- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – men und ausschließlich deren Interessen im Gesetzge- Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Richtig!) bungsverfahren einzubringen versuchen, wirken beim Niedergang von Nationen mit. Noch nicht einmal das, für das sich die Regierung selbst rühmt, klappt, nämlich das Verkaufen. Liebe Kol- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – leginnen und Kollegen, wir lesen in der Zeitung von Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Jawohl, heute, dass der Regierungssprecher schwer angeschla- das ist richtig!) gen ist, weil die Berliner Staatsanwaltschaft ein Ermitt- Die starke Verflechtung einer bestimmten Interessen- (B) lungsverfahren wegen Unterschlagung und anderer De- gruppe mit Ihrer Bundestagsfraktion ist, glaube ich, eine (D) likte gegen ihn eingeleitet hat. wesentliche Wachstumsbremse in der Bundesrepublik (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Hört! Deutschland. Das muss hier vor dem Forum der deut- Hört! – Weiterer Zuruf von der CDU/CSU: schen Öffentlichkeit deutlich ausgesprochen werden. Unglaublich!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ich wüßte nicht, dass es in der Geschichte der Bundesre- Wir sind sehr dafür, die Kompetenz von Verbänden oder publik Deutschland einen Regierungssprecher gegeben Institutionen einzubeziehen. Aber man muss, wenn es Vor- hat, der sich einer solchen Herausforderung gegenüber- schläge gibt – wir haben ja in der Bundesrepublik kein Er- gesehen hat. kenntnis-, sondern ein Handlungsdefizit –, auch handeln. (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Erst mal Ich will am Beispiel des Papieres der Bundesbank ein- vorläufig beurlauben!) mal aufzeigen, in welche falsche Richtung Ihre wirt- Mit jedem Tag, an dem der Bundeskanzler weiter duldet, schaftspolitischen Rezepte zum gegenwärtigen Zeitpunkt dass ein so Beschuldigter für die Regierung spricht – das gehen. Die Bundesbank ist deswegen unverdächtig, eine mag ein Markenzeichen für schlechte Politik sein –, besondere Nähe zu den wirtschaftspolitischen Vorstellun- gen der Opposition zu haben, weil an ihrer Spitze ein ge- (Bartholomäus Kalb [CDU/CSU]: Demnächst standener Sozialdemokrat steht. Sie genießt in der Bevöl- kriegt der noch Prozesskostenhilfe!) kerung ein hohes Maß an Vertrauen. Die Vorschläge, die übernimmt er mehr an Verantwortung für das, was der sie vor wenigen Tagen unterbreitet hat, lassen an Klarheit Grund für die Anklage ist, die offensichtlich vorbereitet nichts vermissen: Die Bundesbank fordert eine Konsoli- wird. Deshalb fordert die CDU/CSU-Bundestagsfraktion dierung auf der Ausgabenseite, insbesondere beim staat- in der Debatte über den Etat des Kanzleramts die Entlas- lichen Konsum, weil sich dies in der Vergangenheit als am sung des Regierungssprechers durch den Bundeskanzler. erfolgreichsten für die Erreichung der Maastricht-Krite- rien erwiesen hat. Das Gegenteil macht diese Bundes- (Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf von der regierung: Der staatliche Konsum wird erhöht und die SPD: Noch nie was von der Unschuldsvermu- Investitionen werden gesenkt. Die Vorschläge der Bun- tung gehört? – Weitere Zurufe von der SPD) desbank finden keine Berücksichtigung. Das schadet un- serem Land, meine sehr verehrten Damen und Herren. Herr Kollege Müntefering, auch wenn Sie glauben, im Augenblick der Parlamentsdebatte nicht folgen zu (Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf von der müssen, SPD: Sie schaden unserem Land!) 2746 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. März 2003

Steffen Kampeter (A) Die Bundesbank fordert, dass die gesamtwirtschaft- deutlich unterhalb von den 580 Milliarden Euro, die wir (C) lichen Annahmen einer Konsolidierungsstrategie vorsich- in den nächsten Jahren zur Finanzierung der Postpensio- tig gesetzt werden. Zu optimistische Prognosen entspre- nen aufbringen müssen. chen nicht einem verlässlichen und vertrauensbildenden (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Konsolidierungskurs. Die Wahrheit aber ist, dass diese der FDP – Waltraud Lehn [SPD]: Herr Bundesregierung das Wirtschaftswachstum in Deutsch- Kampeter, wir wissen ja, Sie sind noch ein land beharrlich zu hoch angibt und die Arbeitslosigkeit bisschen steigerungsfähig!) zu niedrig einschätzt. Vor diesem Hintergrund schadet die Politik der Bundesregierung einem dauerhaften Konsoli- Wenn in diesem Zusammenhang auch noch immer dierungserfolg in Deutschland. wieder Diskussionen darüber aufkommen, dass große Banken schlechte Kredite mit Staatsgarantien absichern, (Beifall bei der CDU/CSU) dann ist das angesichts eines Pleitenrekordes im Mittel- Schließlich fordert die Bundesbank die Einbettung stand nur noch zynisch zu nennen. Diese Politik schadet von Konsolidierungsmaßnahmen in erforderliche struk- Deutschland. Wir werden sie in umfassender Art und turelle Reformen, um die gesamtwirtschaftlichen Wachs- Weise ablehnen. tumsperspektiven zu verbessern. Die Wahrheit bei dieser Bei den anstehenden Reformarbeiten wird es ent- Bundesregierung aber ist – das ist uns seit der angeb- scheidend darauf ankommen, dass die Grundzusammen- lichen Ruckrede vom Freitag klar –, dass es hier nicht hänge erkennbar bleiben. Es ist dem Sachverständigenrat um richtige Reformen, sondern lediglich um Reförm- zur Begutachtung der wirtschaftlichen Lage zuzustim- chen geht. Die Reformen werden nicht entschlossen an- men, wenn er in seinem letzten Jahresgutachten schreibt, gegangen. Keine der notwendigen Strukturreformen, dass das Kurieren an den Symptomen nicht weiterhilft. beispielsweise auf dem Arbeitsmarkt, wird vorangetrie- Ich zitiere: ben. Lediglich in Teilbereichen werden Rezepte angebo- ten. Es schadet unserem Land, dass der Ratschlag der Notwendig ist vielmehr eine schonungslose Dia- Bundesbank auch in dieser Frage nicht entsprechend be- gnose, denn nur auf ihr lässt sich eine langfristig orien- rücksichtigt wird und die Beschreibung von Problemen tierte, ganzheitliche Therapie aufbauen. Nur durch als Ersatz für Handeln dient. grundlegende Strukturreformen kann Deutschland für die zunehmenden Herausforderungen des welt- (Beifall bei der CDU/CSU) weiten Wettbewerbs... angemessen gerüstet werden. Dies gilt leider auch für die Stabilität der gemeinsa- Entscheidend ist, Risikobereitschaft, Leistungswillen men Währung, die wir von der CDU/CSU-Bundestags- und Eigenverantwortlichkeit zu stärken. Die gerechte (B) fraktion durch die Politik der Bundesregierung eher ge- Verteilung der Anpassungslasten ist für die Akzeptanz (D) fährdet als gefördert sehen. In Maastricht haben sich die der Reformen zwar ebenfalls wichtig, aber die Priorität Partner des Euroraumes gegenseitig versprochen, die muss bei Förderung von Wettbewerb und Wachstum lie- Stabilität der gemeinsamen Währung durch Haushalts- gen. In diesem Sinne werden wir die Politik der Bundes- disziplin zu sichern. Dem deutschen Finanzminister steht regierung weiterhin kritisch verfolgen. zwar zum gegenwärtigen Zeitpunkt das Wasser bis zum Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Hals; aber er setzt sich nicht für die Einhaltung des Maastricht-Vertrages ein. Seine Bekenntnisse am gestri- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- gen Tag waren windelweich. Der deutsche Finanzminis- neten der FDP – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] ter wird zum Weichmacher der europäischen Währung. [SPD]: Auf diese Art von Kritik kann man ei- Das ist gegen das deutsche Interesse. Deswegen werden gentlich verzichten!) wir diese Politik nicht weiter unterstützen. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (Beifall bei der CDU/CSU) Das Wort hat jetzt die Kollegin Petra Pau. Im Verlauf dieser Debatte ist auch einiges zur Privati- sierung in Deutschland gesagt worden. Vor wenigen Ta- gen hat die Deutsche Telekom einen Jahresverlust be- Petra Pau (fraktionslos): kannt gegeben, der mit 24,8 Milliarden Euro höher ist Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir als die Nettokreditaufnahme des Bundes. Die Bundes- diskutieren seit gestern über den Bundeshaushalt. Ich regierung sitzt im Aufsichtsrat dieses Unternehmens. finde, wir muten uns und unseren Nerven einiges zu. Wir werden im Verlauf der nächsten Wochen und Mo- Während wir über Haushaltsposten und Einzelpläne nate sehr genaue Auskunft darüber verlangen, ob sie ihre streiten, läuft außerhalb dieses Hauses die Uhr in Rich- Eigentümerposition im Interesse der Steuerzahlerinnen tung Krieg. Es ist ein Krieg, den Hunderte Millionen und Steuerzahler so wahrgenommen hat, dass vom deut- Menschen ablehnen, ein Krieg, der Hunderttausende schen Steuerzahler Schaden abgewendet wird. Denn wir Menschen treffen wird. müssen aus unserem Beteiligungsbesitz bei der Telekom und den Postunternehmen die Postpensionskassen finan- Die PDS im Bundestag hat gestern den Bundestags- zieren. Der Beteiligungsbesitz liegt durch die miese Poli- präsidenten ersucht, eine Sondersitzung des Bundes- tik der Bundesregierung tages zu diesem Thema einzuberufen. Herr Thierse hat das mit Verweis auf die Geschäftsordnung abgelehnt, zu- (Widerspruch bei der SPD) mal der Bundestag ja sowieso tage. Das tut er, allerdings Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. März 2003 2747

Petra Pau (A) nicht ausdrücklich zu diesem bedrückenden Thema. In- Das Grundgesetz enthält in Art. 26 ein Friedensgebot (C) sofern war ich froh, als heute Morgen mit dem Beitrag und stellt mit diesem Artikel eine Beteiligung an einem des Bundeskanzlers die Debatte eine andere Wendung zu Angriffskrieg unter Strafe. Auch eine indirekte Beteili- nehmen schien. Allerdings hat sich das, wenn ich an gung der Bundesrepublik an Angriffskriegen muss aus- meine letzten zwei Vorredner denke, schon wieder erle- geschlossen werden. Darüber ist zu reden – nicht irgend- digt. wann, sondern schnell, und auch nicht irgendwo, sondern hier im Bundestag und da nicht etwa versteckt in der (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch Haushaltsdebatte. [fraktionslos]) Ich finde – das sagen auch Völkerrechtler –: Solange Herr Merz von der CDU hatte seiner Rede gestern AWACS-Flugzeuge mit deutscher Besatzung in der ähnliche Gedanken vorangestellt. Der Unterschied ist Kriegsregion unterwegs sind, solange Kriegseinsätze nur: CDU/CSU könnten kraft Fraktionsstatus eine solche von US-Basen auf deutschem Boden ausgehen und so- Debatte auf die Tagesordnung setzen lassen. Die PDS im lange Bundeswehrkräfte in der Kriegsregion präsent Bundestag kann das nicht. sind, so lange haben wir es schon mit einer indirekten (Zuruf von der CDU/CSU: Das hat einen Beteiligung der Bundesrepublik an einem völkerrechts- guten Grund!) widrigen Angriffskrieg zu tun. Dass die CDC/CSU-Fraktion das nicht getan hat, ent- (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch larvt die Worte von gestern als pure Polemik. [fraktionslos]) (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch Ich stimme also der vom Bundeskanzler heute vorgetra- [fraktionslos]) genen Deutung ausdrücklich nicht zu. Dabei steht die gesamte Haushaltsdebatte unter Genau bei dieser Frage liegt die Messlatte für die Kriegsvorbehalt. Denn die Kriegskosten, die Kriegslas- Grünen. Sie beklagen die Ohnmacht, die uns alle ange- ten und die Kriegsverluste werden auch uns heimsuchen. sichts der Unbeirrbarkeit der US-Führung befällt. Das Das wäre übrigens ein Grund mehr – wenn auch nicht verstehe ich sehr gut; das geht sehr vielen Menschen so. der wichtigste –, vehement gegen den drohenden Krieg Aber bitte: Nutzen Sie wenigstens die Macht, die Ihnen zu sein. als Regierungspartei anheim gestellt wurde! Verhindern Sie, dass Deutschland durch die Hintertür mitschuldig Der Bundeskanzler hat wiederholt, dass er, die Bun- wird! Sie würden sonst selbst mitschuldig. desregierung und die rot-grüne Koalition einen Krieg ge- gen den Irak weiter ablehnen. Das unterstützen wir aus- (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch (B) drücklich und nicht nur im Bundestag. [fraktionslos]) (D) Deshalb möchte ich Klartext reden: Beginnen die Alles Recht der Welt stünde auf Ihrer Seite; denn kein USA, wie angekündigt, einen Feldzug gegen den Irak, Recht und kein Vertrag zwingt die Bundesrepublik, zum dann wäre das Völkerrechtsbruch, Massenmord, ja Helfershelfer zu werden. Sie waren bisher standhaft. Staatsterrorismus. Umso erregter höre ich heute von Nun wagen Sie auch den Folgeschritt! Frau Merkel, dass sie und ihre CDU diesen Kurs der (Klaus Uwe Benneter [SPD]: Wir bleiben USA-Führung unterstützen, und zwar mit allen denkba- standhaft!) ren Folgen. Es tut mir Leid, ich stelle mir die Frage: Sind Sie wirklich von allen guten Geistern verlassen? Ich habe heute das Argument gehört, wir hätten Rechte und Pflichten als NATO-Partner. Richtig! Auch (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch Belgien als NATO-Partner hat Rechte und Pflichten und [fraktionslos]) war trotzdem gestern in der Lage, die Häfen für die US- Mit diesem Kurs werden Sie, Frau Merkel, und wird die Flottille zu sperren. Union der Bundesrepublik ein Fall für das Bundes- (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch verfassungsgericht. Denn mit diesen Äußerungen – da [fraktionslos]) hat die SPD Recht – ist die CDU/CSU Teil der Allianz der Kriegswilligen. Ich möchte auch sagen – Frau Nun noch ein Wort an die CSU. Ich habe in Debatten Merkel hat ja vorhin auf ihre Biografie angespielt –: Das hier schon mehrfach gesagt, dass ich zwölf gute Gründe können Sie unmöglich in der DDR gelernt haben. kenne, ja nicht CSU zu wählen, und dass der 13. Grund Beckstein heißt. Bayerns Innenminister hat bereits vor (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [frak- Wochen gewarnt – nicht vor einem Krieg gegen den tionslos] – Bartholomäus Kalb [CDU/CSU]: Irak, sondern davor, dass Kriegsflüchtlinge aus dem Wo haben Sie 1968 gestanden?) Irak die deutschen Lande erreichen könnten. Sie sollten, so Beckstein, „menschenwürdig in der Kriegsregion un- Wir haben den Bundestagspräsidenten im Übrigen tergebracht werden“. Heute lese ich, dass er außerdem nicht um die Debatte gebeten, um einmal so über Krieg irakische Bürger, welche auf dem Gebiet Bayerns leben, oder Nichtkrieg zu reden, und auch nicht, um eine durch den Staatsschutz überwachen lassen will. Ich weiß außenpolitische Debatte anzuregen, sondern wir haben nicht, was ein solcher Zyniker im Beichtstuhl erzählt. darauf verwiesen, dass wir spätestens mit Kriegsbeginn ein gravierendes innenpolitisches Problem haben wer- (Bartholomäus Kalb [CDU/CSU]: Er ist evange- den. lisch und geht deswegen nicht zur Beichte!) 2748 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. März 2003

Petra Pau (A) Aber ich weiß: Als Politiker und Minister ist er eine spart wird, müssen wir Rahmenbedingungen dafür (C) kreuzgefährliche Fehlbesetzung. schaffen, dass die Kultureinrichtungen flexibler und un- ternehmerischer geführt werden können. (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [fraktionslos]) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Wir können jetzt gern über den Haushalt, auch über den Kanzlerhaushalt weiter debattieren. Die USA und Der Bund unterstützt daher jene Reformprojekte, die die Allianz der Kriegswilligen verschieben derweil die darauf angelegt sind, die kulturelle Arbeit wirkungsvol- gesamte Weltarchitektur. Stabiler wird sie dadurch nicht, ler und einfacher zu machen. Der Bund selbst wird mit auch nicht gerechter und demokratischer – im Gegenteil. gutem Beispiel vorangehen und Reformfreude zum Prin- Danke. zip erheben. Ich erinnere an die bevorstehende Novelle zum Filmförderungsgesetz und an den neuen gesetzli- (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch chen Rahmen für die . Daran werden wir [fraktionslos]) arbeiten. Dass es uns mit tragfähigen Reformen ernst ist, lässt Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: sich am besten an der Rettungsaktion zugunsten des Das Wort hat jetzt die Staatsministerin Christina Deutschen Musikrates ablesen, der längst als Kultur- Weiss. dinosaurier verschrieen war. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Dr. Christina Weiss, Staatsministerin beim Bundes- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – kanzler: Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Dazu haben Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sicher Sie, Frau Ministerin, wenig beigetragen!) könnte man mit einer zackigen Handbewegung die Frage Klare, flache Strukturen, ein gutes kaufmännisches Kon- parieren, ob einem in dem Moment, da der Krieg in die zept und effiziente Kontrolle haben dem Musikrat eine Welt zieht, der Sinn nach Kultur steht. Doch diese Geste neue Perspektive gegeben und die Projekte gerettet. wäre zu einfach; denn Kultur ist auch in Krisenzeiten kein Luxusgut, (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Nachdem wir die Verstaatlichung verhindern konnten!) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Es hat sich schon herumgesprochen, dass es der sondern eine essenzielle Verständigung über die gemein- Druck des Bundes war, der die Berliner Opernstiftung (B) samen Werte des Zusammenlebens der Völker. Darauf ermöglichte. Zehn Jahre nach Schließung des Schiller- (D) müssen wir pochen. Theaters, in denen nicht viel passierte, kann nun zum (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ ersten Mal davon die Rede sein, dass die Berliner Büh- DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der nen an Haupt und Gliedern reformiert werden. FDP) (Beifall bei der SPD – Steffen Kampeter Wir haben gesehen, dass es gerade die kreativen und [CDU/CSU]: Das haben wir im Haushalt gar die kreativsten Köpfe waren, die dem Frieden laut und nicht diskutiert! Das haben Sie am Parlament vernehmbar das Wort redeten. Die diesjährige Berlinale vorbei gemacht!) geriet zu einem manifesten Auftritt der Neinsager. Ame- – Das hat sehr wohl etwas mit dem Haushalt zu tun. – rikanische Schauspielerinnen und Schauspieler wie Ich habe diesen Prozess durch Moderation vorangetrie- Susan Sarandon, Martin Sheen, Dustin Hoffman oder ben. Wir haben dem Land Berlin verdeutlicht, dass wir George Clooney haben gemeinsam mit den deutschen die Probleme nicht durch einfaches Abkaufen lösen kön- Kollegen ihre Stimme erhoben. Das ist nicht folgenlos nen, sondern nur dann Geld einsetzen können, wenn hier für sie geblieben. Sie wollten Anstoß geben, Anstoß, Eigenverantwortung übernommen wird. darüber nachzudenken, ob die Sprache der Waffen wirk- lich die letzte aller Verständigungsmöglichkeiten sein (Beifall bei der SPD – Steffen Kampeter [CDU/ muss. CSU]: Wir reden über den Etat 2003!) Künstlerinnen und Künstler haben uns alle zur Kom- Der neue Hauptstadtkulturvertrag munikation aufgerufen, weil sie selbst etwas davon ver- (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Über den ha- stehen. Der menschliche Geist wäre findig genug, Eska- ben Sie im Haushaltsausschuss noch nicht ge- lationen zu verhindern. Der Umgang mit Kunst ist ein sprochen!) hervorragendes Wahrnehmungstraining, um zu neuen und ungewöhnlichen Lösungen zu gelangen, um aus al- wird Innovationen fördern, Reformen unterstützen und ten Denkmustern auszubrechen. den gesamtstaatlichen Aufgaben Rechnung tragen. Das gilt auch für die Haushaltspolitik, um die es heute Meine Damen und Herren, wenn ich davon gespro- geht. Wir stehen vor einem gewaltigen Umbau unserer chen habe, dass man in schwierigen Zeiten besonders in Kulturlandschaft. Wir brauchen auch hier Mut zur Ver- die Köpfe investieren muss, dann gilt das in besonderem änderung. Da wir nicht zulassen wollen, dass am Ende Maße für die neuen Bundesländer. Bei meiner Reise allein die Verwaltung überlebt, die Kunst aber wegge- nach Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt und Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. März 2003 2749

Staatsministerin Dr. Christina Weiss (A) Thüringen konnte ich mich davon überzeugen, welche Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (C) Bedeutung kulturelle Hilfe für die Identität der Städte hat, Frau Ministerin Weiss, erlauben Sie eine Zwischen- welche Hoffnung die Kultur den Menschen gibt und was frage des Kollegen Lammert? sich damit bewegen lässt. Das Programm „Kultur in den neuen Ländern“ gehört zu den Leuchttürmen einer Bundespolitik, die die deutsche Einheit beim Wort nimmt. Dr. Christina Weiss, Staatsministerin beim Bundes- Neben den Fördermaßnahmen des Solidarpak-tes II und kanzler: dem Investitionsförderungsgesetz werden in diesem Jahr Ja, ich erlaube eine Zwischenfrage. 23 Millionen Euro in die neuen Länder fließen. (Beifall bei der SPD) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Die „FAZ“ schreibt über die Wirkung dieses Pro- Bitte schön, Herr Lammert. gramms: Ein anderes Bild vom Osten Deutschlands scheint Dr. Norbert Lammert (CDU/CSU): hier auf, ein selbstbewusstes und vor allem der ei- Frau Staatsministerin, ich würde gern eine Nachfrage genen Kraft zu Veränderungen bewusstes, das die zu Ihrem Hinweis auf die Position der Bundesregierung allbekannten Katastrophenberichte aus der meck- zur „Topographie des Terrors“ stellen. Nach meiner Er- lenburgischen Provinz wohltuend konterkariert. innerung gab es neben der Absicht der Bundesregierung, Weiter heißt es, dass die Kulturmillionen „hier sehr gut bis zu einem gedeckelten Betrag 50 Prozent der Mittel und vor allem auf Dauer angelegt sind“. Das sind zur Verfügung zu stellen, auch eine zwischen der Bun- 12,5 Prozent mehr, als es ursprünglich im Finanzplan- desregierung und dem Berliner Senat formell oder infor- ansatz vorgesehen war. Das ist ein Erfolg in schwieriger mell abgestimmte Vorstellung über die Höhe dieses Haushaltszeit. Wir alle sollten gemeinsam dafür kämp- gedeckelten Betrages. Darauf genau bezieht sich nun fen, dieses wichtige, Hoffnung machende Programm in meine Frage: Hat die Bundesregierung den Eindruck den nächsten Jahren zu verstetigen. oder die Erkenntnis, dass zu diesem damals von Bundes- regierung und Senat vereinbarten gedeckelten Betrag die (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Realisierung des Zumthor-Bauwerkes überhaupt noch des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) möglich ist? Der Kulturetat der Bundesregierung zeigt aber auch, dass wir uns zum Gedenkstättenkonzept zur Erinne- Dr. Christina Weiss, Staatsministerin beim Bundes- (B) rung an die beiden deutschen Diktaturen bekennen. Der kanzler: (D) Ansatz aus dem Vorjahr konnte um 10,4 Prozent auf ins- Das befindet sich in Prüfung. Es wird uns gesagt, die gesamt 8,5 Millionen Euro erhöht werden. Prüfung könne noch ergeben, dass dieser Entwurf realisiert (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des werden kann. Sollte das nicht der Fall sein: Wir können BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) den gedeckelten Betrag der Finanzierung nicht erhöhen. Hier zeigt sich, dass diese Regierung aufrecht und wach- (Zuruf von der CDU/CSU: Richtig!) sam mit der Erinnerung an die nationalsozialistische Mit der Osterweiterung der Europäischen Union Schreckensherrschaft und mit der Chronik der SED-Ver- geht die Nachkriegszeit auf diesem Kontinent ihrem Ende brechen umgeht. entgegen. Wir reden viel über die wirtschaftliche, viel zu (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Na ja!) selten aber über die kulturelle Dimension der neuen EU- Bewohner. Wenn die Grenzen zu Polen oder Tschechien Wir sind nach wie vor bereit, den großartigen Entwurf abgebaut werden, wird das Interesse aneinander zuneh- des Schweizer Architekten Peter Zumthor für die men müssen. Uns verbinden gemeinsame Wurzeln und „Topographie des Terrors“ in Berlin zu unterstützen. gemeinsame Traditionen. Wir wollen sie nutzen, um einen (Günter Nooke [CDU/CSU]: Das war Ihre gemeinsamen kulturellen Weg in die Zukunft zu finden. erste konkrete Aussage!) Es ist eine Aufgabe für uns alle, den Europagedanken nicht nur als rein wirtschaftliche Angelegenheit zu be- Es bleibt dabei: Der Bund wird bis zu 50 Prozent der ge- trachten, sondern ihn mit kultureller Neugier auszufüllen. deckelten Gesamtkosten übernehmen. Wir hoffen sehr, dass der Berliner Senat endlich die notwendigen Voraus- (Beifall des Abg. Franz Müntefering [SPD]) setzungen für den zügigen Weiterbau schafft. Kunst kann dabei eine ideale Vermittlerin darstellen. Ich unterstütze an dieser Stelle auch noch einmal aus- Ich danke Ihnen, meine Damen und Herren. drücklich den Vorschlag des Bundespräsidenten, in der eine Gedenkstätte für die Menschen einzu- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ richten, die während der Zeit des Nationalsozialismus DIE GRÜNEN) unter Einsatz ihres eigenen Lebens Verfolgten geholfen und Menschen gerettet haben. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Das Wort hat jetzt der Kollege Günter Nooke von der DIE GRÜNEN) CDU/CSU-Fraktion. 2750 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. März 2003

(A) Günter Nooke (CDU/CSU): pertenkommission vor. Doch plötzlich stehen im mit (C) 100 Prozent vom Bund finanzierten Hauptstadtkultur- Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen fonds Mittel in erheblichen Ausmaß für ein Projekt im und Kollegen! Ich will zu Ihrer Vorbemerkung zu den so genannten Palast zur Verfügung. Gleiches gilt für den Künstlern bei der „Berlinale“ nur festhalten: Es wäre Martin-Gropius-Bau: Der Bund übernimmt die Verant- natürlich gut gewesen, wenn die Menschen bei ihrer wortung für diesen exquisiten Ausstellungsort, ohne ihn Meinung bleiben, egal, wo auf der Welt sie ihren Film allerdings mit einem ausreichendem Betrag für, salopp verkaufen, weil so etwas manchmal auch Gefühle gegen- formuliert, Ausstellungsanbahnungen auszustatten. Also über Amerika weckt und der Eindruck entsteht, als sei es muss auch hier der Hauptstadtkulturfonds wieder herhal- doch mehr Mittel zum Zweck als in der Sache begründet ten. gewesen. (Zurufe von der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Hier greift sich der Bund in die eigene Tasche, und DIE GRÜNEN – Klaus Uwe Benneter [SPD]: zwar nicht einmal besonders raffiniert. Es sieht beinahe Richtig fies ist das!) wie Mundraub aus, ist aber einfach nur Betrug: Betrug am Zweck des Hauptstadtkulturfonds und Betrug an den Insofern würde ich das nicht ganz so positiv sehen. Lei- Künstlerinnen und Künstlern, die ihre Projekte nicht der war das nicht ganz eindeutig; ich hätte es mir anders mehr durchführen können. gewünscht. Erlauben Sie mir in diesem Zusammenhang noch ein (Zuruf der Abg. Anja Hajduk [BÜNDNIS 90/ Wort zum Berliner Stadtschloss. Ich habe es oft gesagt, DIE GRÜNEN]) wiederhole es auch heute und werde es noch öfter sagen: Ich möchte zum Haushalt reden und noch einmal das Dieses Parlament hat mit überwältigender, parteiübergrei- Problem deutlich machen, dass wir es hier mit Haus- fender Mehrheit – das wiederhole ich besonders gern – haltsansätzen für Kultur und Medien zu tun haben, zu vor einem Dreivierteljahr beschlossen, das Schloss wie- denen ich bei der Erstellung des Haushalts schon gesagt der zu errichten. habe: Sie lassen vermuten, dass sie deshalb so schlecht (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Nein, sind, weil der bisherige Amtsinhaber nicht mehr anwe- wir wollen das nicht wieder errichten!) send war und die zukünftige Amtsinhaberin noch nicht voll im Amt stand. Die miserablen Zahlen, die wir jetzt Die Bundesregierung hat diesen Beschluss zügig umzu- haben, lassen leider die Vermutung zu, dass die persönli- setzen und sich nicht Gedanken über Probleme zu ma- che Anwesenheit der Staatsministerin eher einen noch chen, die es eigentlich gar nicht geben dürfte. negativeren Einfluss gehabt hat; denn leider hat sich in (B) den vergangenen Monaten an den Zahlen nichts zum Zweitens. So verständlich und richtig das Anliegen (D) Guten verändert. Ganz im Gegenteil, mittlerweile muss der Sinti und Roma ist, ein Mahnmal zum Gedenken sogar der Eindruck entstehen, dass hier eher noch abge- an ihre Opfer der nationalsozialistischen Terrorherr- baut wurde. schaft zu errichten, so grundverkehrt ist auch hier der Weg zu dessen Realisierung. Berlin schafft Fakten, in- Um es sehr konkret darzustellen: Der Entwurf vom dem es ein Grundstück zur Verfügung stellt, und diktiert Sommer sah noch einen Mittelrückgang um rund dem Bund mit dem Hinweis auf dessen originäre Zustän- 24 Millionen Euro vor. Das ist vielleicht – wie schon im digkeit 2 Millionen Euro Baukosten plus jährliche Be- vergangenen Jahr – nicht ganz zufällig die Summe, die triebskosten in Höhe von 300 000 Euro ins Ausgaben- für die neu gegründete Kulturstiftung des Bundes zur buch. Nun beteiligt sich mit ihrer Zustimmung zu dieser Verfügung steht. Der neue Entwurf hingegen sieht eine Zumutung auch die Staatministerin für Kultur und Me- Kürzung um weitere 12 Millionen Euro vor. Das ist eine dien, Frau Weiss, an der Aktion: wohl zuständig, aber reale Kürzung von über 4 Prozent bei unverändert lau- wie in der letzten Zeit immer öfter plan- und ziellos. Be- fendem Betrieb. Jetzt stehen für die Kultur weniger Mit- sonders schwer wiegt nämlich, dass der Entscheidung tel zur Verfügung, obwohl ein größeres Engagement des über dieses neue Mahnmal kein Gesamtkonzept zu- Bundes – zum Beispiel bei den Stätten des Weltkultur- grunde liegt. Völlig ungewiss ist nach wie vor, wie der erbes und in Berlin – angekündigt war. Unter den vielen anderen Opfergruppen gedacht werden soll. Sachverhalten des Koalitionsvertrages ist dies einer der wenigen Punkte, deren Nichteinlösen auch bei der Op- Exakt dies ist das Problem, das die beiden Beispiele position auf Kritik stößt. illustrieren, auch wenn man es als Kulturpolitiker in die- Doch das eigentlich Anstößige ist nicht die überpro- sem Hause nicht gern sagt: Mehr noch als an Geld fehlt portionale Kürzung bei der Kultur; viel schlimmer ist es an seriöser und zukunftsfähiger Planung; mehr noch aus unserer Sicht der plan- und ziellose Umgang mit den als an Geld mangelt es an belastbaren Konzepten. Dies Mitteln, die Ihnen zur Verfügung stehen, Frau Staats- ist besonders in einer Haushaltsdebatte eine ziemlich de- ministerin. Ich belege dies anhand zweier Beispiele aus primierende Erkenntnis. Der erste Schritt hätte hier sein jüngster Geschichte in Berlin, die sich auch auf das be- müssen, dass die Bundesregierung endlich ein Konzept ziehen, was Sie gerade ausgeführt haben. vorlegt, aus dem ihre Vorstellungen für die Zukunft der Gedenkstätten hervorgehen. Das ist bis heute nicht ge- Erstens. Für die kulturelle Nutzung des „Palastes schehen, auch in Ihren Ausführungen nicht, Frau Staats- der Republik“ werde man selbstverständlich keine öf- ministerin. Bei dem, was Sie zum Zumthor-Bau gesagt fentlichen Gelder ausgeben. So schreibt es auch die Ex- haben, habe ich eher herausgehört, dass es wahrscheinlich Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. März 2003 2751

Günter Nooke (A) billiger wäre, die Baustelle komplett zu schließen und übrigens schon die Kulturverträglichkeitsprüfung nicht (C) das Geld, das sie an jedem Tag kostet, zu sparen. hätte überstehen dürfen, Dabei müsste die Gedenkstätten- und Erinnerungs- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) kultur längst ein wichtiges Thema für uns sein. Hier geschweige denn sein Inhalt, wäre auch dem Handel mit habe ich immer die konstruktive Mitarbeit der CDU/ Kulturgütern insgesamt ein Bärendienst erwiesen wor- CSU-Fraktion angeboten. Zum Beispiel ist jetzt die Ge- den. Schon in diesem Gesetzesvorhaben sind mehr kul- denkstätte „Mittelbau Dora“ in den Haushalt eingestellt. turunverträgliche Sachverhalte versteckt, als ein Staats- Die Gedenkstätte in allen Ehren, aber warum wird sie minister oder eine Staatsministerin für Kultur in einer plötzlich vom Bund finanziert? Welches Kriterium gilt vollen Legislaturperiode wiedergutmachen könnte. Mit für den Mittelbau Dora, das für Bautzen nicht gilt? Geld allein ist das nicht zu schaffen. Ich meine damit auch Folgendes: Der Bund muss sich Weil das so ist, hat Ihnen, verehrte Frau Staatsminis- nicht nur der NS-Zeit, sondern auch der SED-Diktatur terin, die CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag annehmen. schon zu Ihrem Amtsantritt konstruktive Mitarbeit ange- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) boten. Ich wiederhole das Angebot ausdrücklich, aber ir- gendwann muss Schluss sein, Die von Ihnen angesprochenen Themen haben dies wie- der deutlich gemacht. Es darf nicht der Eindruck entste- (Franz Müntefering [SPD]: Stimmt, es muss hen, die NS-Zeit sei für die Koalition geschichtspolitisch Schluss sein!) wichtig und deshalb eine Angelegenheit des Bundes, wenn Sie nicht bereit sind, darauf einzugehen. Es könnte während die SED-Zeit nicht Teil gesamtdeutscher Ge- helfen, eklatante Fehlentscheidungen, wie sie hier auch schichte sei und daher bei den neuen Bundesländern an- jetzt wieder getroffen wurden, zu vermeiden, und es gesiedelt bleiben könne. Deutschland hat bei dem Thema könnte mehr konzeptionelle Verlässlichkeit in die De- Diktaturgeschichte eine größere Verantwortung, aber ich batte bringen. will jetzt gar nicht die Summen, die wir im Zusammen- hang mit der „Topographie des Terrors“ diskutieren und (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) die wir für die Normannenstraße oder für Hohenschön- Danke, dass Sie hier zumindest dafür gesorgt haben, hausen bräuchten, gegenüberstellen. dass wir heute über Kultur reden konnten, aber wir müs- Lassen Sie mich bei dieser Gelegenheit eine konkrete sen mehr daraus machen. Frau Staatsministerin, das war Frage zum Haushalt 2003 stellen: Wo ist eigentlich der heute zu wenig. Haushaltsansatz für die anstehenden Feierlichkeiten an- (B) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (D) lässlich des besonderen Gedenkens zum 50. Jahrestag des neten der FDP – Steffen Kampeter [CDU/ Volksaufstandes vom 17. Juni? Ich sehe nichts. Auch das CSU]: Gute Rede!) zeigt, wie einseitig Sie Ihre Gedenkstättenpolitik betreiben. (Beifall bei der CDU/CSU) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Nun noch ein Wort zum FDP-Antrag, in dem es um Das Wort hat jetzt die Kollegin Petra Merkel von der die Mittel für die Kultur in den neuen Ländern geht. SPD-Fraktion. Das haben Sie dankenswerterweise angesprochen. Ich stimme mit Ihnen überein, dass manches Geld, das dort (Beifall bei Abgeordneten der SPD) ausgegeben wurde, vielleicht sinnvoller war als so man- che Wirtschaftsförderung in Gewerbegebieten, die nicht Petra-Evelyne Merkel (SPD): genutzt werden. Insofern lautet meine Frage: Warum Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe sprechen Sie davon, dass dafür Gelder zur Verfügung Kolleginnen und Kollegen! Ich verstehe Kultur als Mit- stehen, wenn der Etat um 10 Millionen Euro gekürzt tel, Bindung und Verbindung zu schaffen. Ich glaube, worden ist? Den Mut, ihren eigenen Antrag auf Auf- dass das in der Situation, in der wir uns im Augenblick stockung der Mittel auch im Haushaltsausschuss zu stel- befinden, ein ganz wesentlicher Vorteil von Kultur ist, len, den jetzt die FDP gestellt hat, hatten die Kollegen den wir auch weiterhin fördern müssen. von der Koalition nicht. Das ist politisch furchtbar un- glaubwürdig und für die Förderung der Kultur in den Ich bin davon überzeugt, dass Kultur als Bindung neuen Ländern einfach furchtbar. Wir haben jetzt die und Verbindung zwischen Menschen und Völkern Chance, es gemeinsam besser zu machen. Meine sehr unter der rot-grünen Regierung in Berlin eine erhebliche verehrten Damen und Herren von der Koalition, nutzen Stärkung erfahren hat, Sie die einmalige Chance, diesem Antrag mit uns und (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP gemeinsam zuzustimmen und damit etwas für des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) die Kulturförderung in den neuen Ländern zu tun. weil die Kultur durch die Anbindung der Kulturpolitik Zum Schluss: Die Verunsicherung bei den Kultur- im Bundeskanzleramt an die höchste Stelle angegliedert schaffenden ist groß und wächst mit diesem Haushalt wurde. leider auch weiter. Erst steht die Spendenabzugsfähigkeit zur Disposition, dann der ermäßigte Mehrwertsteuersatz. Mit Frau Dr. Christina Weiss hat die bundesdeut- Mit dem Steuervergünstigungsabbaugesetz, dessen Titel sche Kulturlandschaft eine Streiterin und Mitstreiterin 2752 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. März 2003

Petra-Evelyne Merkel (A) gewonnen. Ich freue mich, dass ich als neue Abgeord- denkstätten. Bei dieser Aufzählung habe ich sicherlich (C) nete mit Ihnen arbeiten kann, und bin sicher, dass der noch viele Bereiche vergessen. Kulturbereich von Ihrer Energie, Feinsinnigkeit und Durchsetzungsfähigkeit profitieren wird. Als Beispiele möchte ich nennen: Die Mittel für das Stasi-Museum „Runde Ecke“ in Leipzig wurden um (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ 50 000 Euro auf 100 000 Euro erhöht und gesichert. In DIE GRÜNEN) diesem Zusammenhang muss ich eine Bemerkung an Herrn Nooke richten: Sie sind doch Mitglied im Kultur- Bindungen und Verbindungen brauchen wir in unse- ausschuss. Dann müssten Sie eigentlich wissen, dass rem Land und für unser Land. Hätten wir die Bundes- Frau Weiss eine Überarbeitung des Gedenkstättenkon- kulturstiftung, die erstmalig 1973 von Willy Brandt – der zepts vorlegen wird. Sie werden mit unter den Ersten eine Anregung von Günter Grass aufnahm – vorgeschla- sein, mit denen das diskutiert werden wird. gen wurde, nicht Anfang 2002 gegründet, müssten wir sie jetzt erfinden. Ich weiß, Herr Kampeter war damals Eine Vielzahl von Projekten erhalten 2003 erstmalig überhaupt nicht von der Idee begeistert, in der Zwi- Fördermittel. Dazu zählen zum Beispiel das Roma-Thea- schenzeit hat aber auch er damit Frieden geschlossen. ter Pralipe e. V. in Mülheim/Ruhr – Herr Kampeter war davon nicht sehr begeistert, wir dagegen finden es wich- Die Bundeskulturstiftung – auch als Dach für kleinere tig, dass es existiert – oder die Unterstützung deutsch-rus- Stiftungen gedacht – fördert sowohl national als auch in- sischer Begegnungen. Außerdem erhält die Zeche Zoll- ternational bedeutsame Vorhaben und wird durch unseren verein in als Weltkulturerbe der UNESCO einen Haushalt eine Verdoppelung der Mittel, Herr Nooke, er- Zuschuss, um das Industriedenkmal vielfältig nutzbar zu fahren, nämlich von 12,5 Millionen Euro auf 25,565 Mil- machen. Die Förderung beträgt übrigens 300 000 DM. lionen Euro. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des (Beifall bei Abgeordneten der SPD) BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Steffen Die Bundesregierung und die rot-grüne Koalition haben Kampeter [CDU/CSU]: Euro!) hier einen Schwerpunkt gesetzt, und das trotz Haus- – Sie haben Recht: 300 000 Euro. 300 000 DM wäre zu haltssanierung. Das betone ich besonders, da die Maß- wenig. nahmen zur Haushaltssanierung auch an diesem Haus- halt nicht vorbeigehen konnten. Ein anderes Weltkulturerbe liegt direkt vor unserer Tür. Die Stiftung Preußischer Kulturbesitz leistet unter (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten anderem den Wiederaufbau der Museumsinsel. Dort des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) wird es eine der größten Baustellen in der Bundesrepu- (B) Ein weiterer Schwerpunkt ist das Programm „Kul- blik Deutschland geben, die sicherlich über längere Zeit (D) tur in den neuen Ländern“. Wir konnten die Zielset- bestehen wird. Die Zuschüsse hierfür steigen weiterhin zung der Koalitionsvereinbarung zwar nicht vollständig an. Ich kann Ihnen als Berliner Abgeordnete nur empfeh- erfüllen, aber es ist uns gelungen, 2,5 Millionen Euro len: Nehmen Sie sich, falls Sie die Museumsinsel nicht mehr einzustellen, als es im Regierungsentwurf vorgese- schon kennen, eine halbe Stunde Zeit, laufen Sie hinter hen war. Dem Programm stehen vom Bund nun 23 Mil- dem Reichstagsgebäude an der Spree entlang und über- lionen Euro zur Verfügung. Mit diesen Mitteln werden queren Sie die Friedrichstraße. Dann kommen Sie genau überregional bedeutende Kultureinrichtungen in den auf die Museumsinsel. Dort können Sie erkennen, welch neuen Ländern und mit ihnen gefördert. Das bedeutet: ein Schatz, welch ein Erbe der Bundesrepublik Deutsch- Es wird die Infrastruktur verbessert. An dieser Stelle land im Augenblick mit handwerklichem Geschick ge- kann ich deswegen schon sagen: Wir lehnen den Antrag hoben wird. Christina Weiss hat formuliert, es handele der FDP ab. sich wahrlich um eine Aufgabe von nationalem Rang. Im Zusammenhang mit den neuen Ländern möchte (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten ich auf einen anderen Haushalt verweisen. Ein neues des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) kulturelles Angebot in Mecklenburg-Vorpommern wird durch den Haushalt des Ministeriums für Verkehr, Bau-, Viele von Ihnen waren dabei, als wir in Versailles die Wohnungswesen und Aufbau Ost von deutsch-französische Freundschaft gefeiert haben. Diese finanziert, nämlich das Ozeaneum in Stralsund. Es Freundschaft spiegelt sich ebenfalls im Kulturetat wieder. wird zusammen mit dem Meereskundemuseum im Das Berlin-Brandenburgische Institut für deutsch- Nordosten unseres Landes die dort bereits vorhandene französische Zusammenarbeit in Genshagen erhält Attraktivität steigern. 900 000 Euro. Das sind 750 000 Euro mehr, als im Regie- rungsentwurf vorgesehen. Durch Sanierung und Umbau (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Krista des Schlosses Genshagen wird gemeinsam mit dem Land Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) die Grundlage geschaffen, im Umfeld der Bundeshauptstadt ein deutsch-französisches Begeg- Die Aufgaben, die mit dem Kulturetat finanziert wer- nungszentrum arbeitsfähig zu machen. Wichtig ist für den, sind vielfältig. Sie reichen vom Hauptstadtkultur- mich – ich denke, das gilt auch für Sie –, dass mittelfristig vertrag – er wird in diesem Jahr neu verhandelt werden auch Polen in die Kooperation einbezogen wird. müssen – über die -Vereinbarung, die gerade abge- schlossen ist, die Förderung von Musik und Literatur bis (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten zur Pflege von kulturellen Minderheiten und von Ge- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. März 2003 2753

Petra-Evelyne Merkel (A) Eine weitere herausragende Institution im Kultur- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (C) haushalt ist die Deutsche Welle, die den Auftrag hat, als Stimme Deutschlands in der Welt durch unabhängigen noch einmal auf einige Anträge zurück. Herr Kampeter Journalismus und pluralistische Programmgestaltung hat – das war, wie immer, eine Pflichterfüllung – einen Kenntnisse über Deutschland zu verbreiten. Als Kultur- Antrag gestellt, in dem es um die Erhöhung der Mittel träger vermittelt die Deutsche Welle im Ausland im Bereich des kulturellen Eigenlebens fremder Volks- Deutschland als Kulturnation und wirbt für die deutsche gruppen geht. Sprache. Dies ist außerordentlich wichtig, wenn man be- (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Das ist ein denkt, wie viele Menschen in autoritär und totalitär re- guter Antrag, Frau Merkel! Den sollten Sie gierten Staaten leben, die ihren Bürgern das Recht auf nicht so wegwischen!) Presse-, Informations- und Meinungsfreiheit verweigern. Die Deutsche Welle ist in diesen Ländern, insbesondere – Ja, genau. in Krisen- und Konfliktregionen, Garant für objektive, (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Dieses ungefilterte Information. „Ja, genau“ war aber sehr relativierend!) Die Deutsche Welle war der erste Fernsehsender, Ich sagte Ihnen ja: Das war Ihre Pflichtaufgabe. Das tun der internationale Nachrichten nach Afghanistan brin- Sie immer; auch in den Vorgesprächen haben Sie dies gen konnte. Seit August 2002 werden in den beiden gesagt. Wir warten also ab. Alle zwei Jahre gibt es einen Landessprachen Dari und Paschtu täglich zehn Minu- Bericht der Bundesregierung, danach wird evaluiert. Ih- ten Weltnachrichten ausgestrahlt. Das Programm wird ren Antrag werden wir ablehnen. vom Auswärtigen Amt finanziert. In diesem Jahr wird die Deutsche Welle ein neues Haus beziehen, den Den Antrag von Frau Lötzsch und Frau Pau von der Schürmann-Bau. PDS, in dem es um die Erhöhung des Betrages für die Ich möchte jetzt von der Deutschen Welle, die für „Stiftung für das sorbische Volk“ geht, lehnen wir Deutschland wirbt, zu den Internationalen Filmfest- ebenso ab. Auch hier weise ich darauf hin, dass wir das spielen in Berlin kommen, die im Bundeshaushalt ver- Finanzierungsabkommen mit unseren Mitteln mehr als ankert sind und ebenfalls für Deutschland werben. Die erfüllen. Wir haben diesen Bereich also gut bedient und Filmförderung nimmt mit 10,7 Millionen Euro im kultu- die Mittel für die „Stiftung für das sorbische Volk“ nicht rellen Teil und mit 4,7 Millionen Euro im wirtschaft- abgesenkt. Insofern wird auch dieser Antrag von uns lichen Teil einen nicht unwesentlichen Platz ein. Mit die- nicht akzeptiert. sen insgesamt 15,4 Millionen Euro wird Unterstützung Der Gesamtetat der Beauftragten für Kultur und Me- für den Film geboten. (B) dien beträgt 883 Millionen Euro. Es war mein Anliegen, (D) Nach dem Umzug der Filmfestspiele an den Potsda- Ihnen aufzuzeigen, wie viele Anstöße und Initiativen mer Platz ist Deutschland für die internationale Film- und wie viel Bewegung mit diesem Etat ausgelöst wer- wirtschaft wieder interessanter geworden. Auch der den. Herr Kampeter und Herr Rexrodt, vielleicht errei- deutsche Film spielt wieder mit. Ich finde, der Kino- chen wir es ja, dass sich auch die CDU/CSU und die schlager „Good bye, Lenin!“ ist zu Recht ein Erfolg. Das FDP bewegen und diesem Kapitel zustimmen. Gleiche gilt übrigens auch für den Leiter der Filmfest- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ spiele, Dieter Kosslick. Er hat ein sicheres Gespür für DIE GRÜNEN – Zuruf von der SPD: Das die Auswahl der Filme und er ist eine Persönlichkeit, die wäre mal schön!) den Internationalen Filmfestspielen in Berlin gut tut. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: DIE GRÜNEN sowie des Abg. Steffen Kampeter [CDU/CSU]) Frau Kollegin Merkel, ich gratuliere Ihnen zu Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag. Herzlichen Glück- – Ich danke Ihnen, Herr Kampeter. wunsch! Die internationalen und auch die nationalen Topschau- (Beifall) spielerinnen und -schauspieler, -regisseure und -produ- zenten machen um Deutschland keinen Bogen mehr, Liebe Kolleginnen und Kollegen, vor der nament- sondern kommen gern hierher. Ich betone auch noch ein- lichen Abstimmung hören wir noch eine Rede. Der Kol- mal: Wie politisch diese Berlinale sein kann, zeigte die lege Jens Spahn von der CDU/CSU-Fraktion wird das beeindruckende Rede von Dustin Hoffman gegen einen Wort erhalten. Auch er hält seine erste Rede im Deut- möglichen Krieg im Irak. Das war kein Mittel zum schen Bundestag. Ich bitte um Aufmerksamkeit. Zweck. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Jens Spahn (CDU/CSU): Herr Nooke, wenn Sie sich angeschaut hätten, was sich Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In der im Vorfeld der Oscar-Verleihung in Amerika abgespielt letzten Woche haben wir die 36. Regierungserklärung hat, könnten Sie das nicht behaupten. des deutschen Bundeskanzlers gehört. Heute beraten wir Ich komme zum Schluss über den Bundeshaushalt 2003, der uns spätestens jetzt 2754 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. März 2003

Jens Spahn (A) wieder in die harte Realität Ihrer und seiner Politik zu- Vor allem die jungen Menschen erwarten von der gesetz- (C) rückholt. lichen Rente kaum noch einen nennenswerten Beitrag zu ihrer ganz persönlichen Alterssicherung. Ihre verfehlte (Beifall bei der CDU/CSU) Rentenpolitik – steigende Beiträge, Erhöhung der Bei- Als Vertreter der jüngeren Generation will ich an drei tragsbemessungsgrenze und Abschaffung des demogra- Punkten beispielhaft darlegen, wo ich mir deutlichere und phischen Faktors – führt, wenn wir nicht umsteuern, au- mutigere Worte des Bundeskanzlers und mutigere Taten tomatisch in den Generationenkonflikt, spätestens dann, in dem uns vorgelegten Bundeshaushalt gewünscht hätte. wenn jeder Erwerbstätige mit seinem Einkommen einen Rentner finanzieren muss. Erstens. Deutschland braucht ein neues Verhältnis von Staat und Gesellschaft. Wir müssen den Bürgern (Beifall bei der CDU/CSU) mehr Freiheit und Selbstverantwortung zutrauen. Gerade auch die jungen Menschen in diesem Land wollen ihr Deutschland braucht eine ehrliche Rentenreform mit Leben eigenverantwortlich gestalten. Voraussetzung da- realistischen Annahmen für die Zukunft. Dass Ihre An- für ist, den Menschen den dafür nötigen Freiraum zu ge- nahmen für die Zukunft bei der „Jahrhundertreform ben, auch den finanziellen Freiraum. 2001“ nicht realistisch waren, hat der Bundeskanzler am Freitag in seiner Rede selbst zugegeben. Deutschland Ich kenne viele gleichaltrige Handwerker aus meinem braucht eine Reform, die neben der gesetzlichen Vor- Wahlkreis, aus Gronau, Ahaus, Steinfurt oder Rheine, sorge die private und die betriebliche Vorsorge stärkt, junge Maurer oder Zimmerleute, die beim Blick auf ihre eine Reform, die alle gemeinsam – Beitragszahler, Rent- Lohnabrechnung Monat für Monat mit der vollen Wucht ner und der Staat – tragen, eine Reform, die bei einer Ver- der Sozialabgaben in Deutschland konfrontiert werden. längerung der Lebensarbeitszeit durch eine Verkürzung (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- von Bildungszeiten und eine Annäherung des tatsäch- neten der FDP) lichen an das gesetzliche Renteneintrittsalter ansetzt. Sie sind natürlich frustriert und flüchten vielfach in die Ich hätte mich gefreut, wenn der Bundeskanzler am Schwarzarbeit. Es ist doch niemandem begreiflich zu Freitag wie auch Ministerin Schmidt nicht bei nebulösen machen, dass in diesem Land ein Handwerker sechs Andeutungen geblieben wären. Egal ob Rente, Pflege Stunden arbeiten muss, um sich am Ende von seinem oder Gesundheit: Die Taktik dieser Bundesregierung ist Nettolohn selbst einen Handwerker für nur eine Stunde immer die gleiche: beschwichtigen, abwiegeln und nur leisten zu können. auf Druck von außen das Nötige zum Zustand der sozia- len Sicherungssysteme in diesem Land zugeben. (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Sehr richtig!) (B) (Beifall bei der CDU/CSU – Steffen Kampeter (D) Nicht den Menschen, liebe Kolleginnen und Kollegen [CDU/CSU]: Sehr wahr! Das musste einmal von der Sozialdemokratie, sondern dem System muss gesagt werden!) man einen Vorwurf machen. Nicht die Menschen zu äch- ten, wie es der Kanzler am Freitag in seiner Rede ver- Gehen Sie ehrlich mit den Menschen und insbeson- langt hat, ist der richtige Weg, sondern legale Beschäfti- dere mit den jungen Menschen in diesem Land um. Sa- gung attraktiver zu machen, das ist der richtige Weg. gen Sie ihnen offen, wie es um die sozialen Sicherungs- (Beifall bei der CDU/CSU) systeme steht. Fassen Sie endlich den Mut, das Nötige anzugehen, statt den tatsächlichen Zustand immer wie- Wir nehmen den Menschen zu viel von ihrem hart der zu verleugnen. verdienten Geld weg. Parolen zum Konsumverzicht von Herrn Müntefering – Sie erinnern sich – weisen in die (Beifall bei der CDU/CSU) falsche Richtung; denn die Bürger erwirtschaften all das, Drittens. Bildung ist der Schlüssel für individuelle was der Staat verbraucht, nicht umgekehrt. Lebenschancen und Motor für gesellschaftliche Ent- (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Sehr wahr!) wicklungen. Bildung begründet Wohlstand, politische Mündigkeit, kulturelle Teilhabe und berufliche Perspek- In diesem Bewusstsein müssen wir das Verhältnis vom tiven. Bildung ist damit die eigentliche und neue soziale Staat zu seinen Bürgern neu justieren. Die Menschen Frage in Deutschland. Bildung ist die Schlüsselressource wollen keine sozialistische Bevormundung und Rund- für die Zukunft dieses Landes. Wenn ich nach China umbetreuung. oder Südostasien schaue, dann weiß ich, mit welchen (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Wir Potenzialen wir in Zukunft werden Schritt halten müs- übrigens auch nicht, Herr Kollege!) sen, um unsere Position in der Welt und unseren Lebens- standard zu erhalten und auszubauen. Sie verstehen Bil- Sie wollen eine eigenverantwortliche Teilhabe und Be- dung in guter sozialdemokratischer Tradition als reine teiligung. Geldfrage: Pumpen wir noch ein paar Milliarden ins (Beifall bei der CDU/CSU) System, dann wird es schon klappen. Mindestens ge- nauso wichtig ist es aber, im föderalen Wettbewerb Leis- Zweitens. Die Wahrung der Generationengerechtig- tungen von Lernenden und Lehrenden zu fordern, über keit ist die größte sozialpolitische Aufgabe der vor uns Inhalte zu streiten und Werte zu vermitteln. liegenden Jahre. Seit Jahrzehnten – das sage ich aus- drücklich – lebt Deutschland über seine Verhältnisse und (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. verschiebt die Lasten auf nachfolgende Generationen. Carl-Ludwig Thiele [FDP]) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. März 2003 2755

Jens Spahn (A) Sprechen wir zuerst darüber und dann über die Finanzie- Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Ab- (C) rung. Alles andere ist Flickschusterei und beraubt uns stimmung über den Einzelplan 04 in der Ausschussfas- unserer Möglichkeiten für die Zukunft. sung. Hierzu liegen Ihnen drei Änderungsanträge vor, über die wir zuerst abstimmen. Als Vertreter der jungen Generation kann ich zusam- menfassend von der Bundesregierung diese drei genann- Wer stimmt für den Änderungsantrag der Fraktion der ten Dinge für eine generationengerechte Politik einfor- CDU/CSU auf Drucksache 15/650? – Wer stimmt dage- dern: ein gesellschaftliches Klima, in dem Freiheit und gen? – Wer enthält sich? – Der Änderungsantrag ist mit Selbstverantwortung gedeihen können, eine ehrliche den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Zustimmung Rentenreform, die die Rentenhöhe mit der Lebenserwar- der CDU/CSU- und der FDP-Fraktion abgelehnt. tung und der Lebensarbeitszeit verknüpft, und eine ge- Wer stimmt für den Änderungsantrag der Fraktion der meinsam mit den Ländern gestaltete leistungsorientierte FDP auf Drucksache 15/680? – Wer stimmt dagegen? – Bildungspolitik, die anerkennt, dass Bildung die neue Wer enthält sich? – Der Änderungsantrag ist mit den soziale Frage in Deutschland ist. Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Zustimmung von (Beifall bei der CDU/CSU) CDU/CSU und FDP abgelehnt. Nirgendwo sind im vorgelegten Bundeshaushalt die Wir kommen zum Änderungsantrag der Abgeordne- notwendigen großen Neuerungen zu sehen, die unser ten Dr. Gesine Lötzsch und Petra Pau auf Drucksache Land so dringend braucht. Nun mögen einige der Dinge, 15/662. Wer stimmt für diesen Änderungsantrag? – die der Kanzler am Freitag hier angesprochen hat, punk- Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Ände- tuell in die richtige Richtung weisen. Das Schlimme ist, rungsantrag ist mit den Stimmen aller Fraktionen bei dass die jungen Menschen in diesem Land mittlerweile Zustimmung der beiden fraktionslosen Kolleginnen ein ironisch-gleichgültiges Verhältnis zu seiner unsteten abgelehnt. Ankündigungspolitik haben. Wir kommen nun zur Abstimmung über den Einzel- plan 04 in der Ausschussfassung. Die Fraktionen der (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Das ist leider SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen verlangen na- wahr!) mentliche Abstimmung. Elmar Brandts Schröder-Song mit dem viel sagenden Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die Titel „Alles wird gut“ mag dem Letzten als Beweis für vorgesehenen Plätze einzunehmen. – Sind alle Urnen be- diesen Ansehensverlust dienen. setzt? – Das ist der Fall. Ich eröffne die Abstimmung. (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: An so Haben jetzt alle Kolleginnen und Kollegen ihre (B) (D) etwas können Sie sich hochziehen!) Stimmkarte abgegeben? – Das scheint der Fall zu sein. Ich schließe die Abstimmung und bitte die Schriftführe- Wenn wir hier im Deutschen Bundestag dazu beitra- rinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu begin- gen wollen, den zukünftigen Generationen ein anständig nen. bestelltes Land zu hinterlassen, brauchen wir zuallererst eines: einen verlässlichen, einen wirklich mutigen, einen Bis zum Vorliegen des Ergebnisses der namentlichen durchsetzungsstarken und konfliktbereiten Kanzler. Abstimmung unterbreche ich die Sitzung. (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Den (Unterbrechung von 14.08 bis 14.14 Uhr) haben wir!) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Kurzum: Ein neuer Kanzler, wahlweise eine neue Kanz- lerin, wäre ein wirkliches Zeichen des Aufbruchs. Die Sitzung ist wieder eröffnet. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Ich gebe das von den Schriftführerinnen und neten der FDP) Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Haus- haltsausschusses zu dem Entwurf eines Gesetzes über Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: die Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das Herr Kollege Spahn, ich gratuliere auch Ihnen im Na- Haushaltsjahr 2003, hier: Einzelplan 04 – Geschäfts- men des Hauses zu Ihrer ersten Rede im Deutschen Bun- bereich des Bundeskanzlers und des Bundeskanzleram- destag. Herzlichen Glückwunsch! tes –, bekannt. Abgegebene Stimmen 578. Mit Ja ha- ben gestimmt 300, mit Nein haben gestimmt 278. Es (Beifall) gab keine Enthaltungen. 2756 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. März 2003

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms (A) Endgültiges Ergebnis Dieter Grasedieck Gabriele Lösekrug-Möller (C) Abgegebene Stimmen: 579; Götz-Peter Lohmann Gerhard Schröder davon Erika Lotz Gisela Schröter Gabriele Groneberg Dr. Brigitte Schulte (Hameln) ja: 300 Achim Großmann Dirk Manzewski Reinhard Schultz nein: 279 Wolfgang Grotthaus Tobias Marhold (Everswinkel) Karl-Hermann Haack Lothar Mark (Spandau) Ja (Extertal) Dr. Angelica Schwall-Düren Hans-Joachim Hacker Dr. Martin Schwanholz SPD Klaus Hagemann Erika Simm Dr. Lale Akgün Alfred Hartenbach Ulrike Mehl Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk Michael Hartmann Petra-Eveline Merkel Dr. Cornelie Sonntag- Ingrid Arndt-Brauer (Wackernheim) Ulrike Merten Wolgast Nina Hauer Wolfgang Spanier Hermann Bachmaier Hubertus Heil Dr. Margrit Spielmann Sabine Bätzing Ursula Mogg Reinhold Hemker Jörg-Otto Spiller Ernst Bahr (Neuruppin) Michael Müller (Düsseldorf) Rolf Hempelmann Christian Müller (Zittau) Dr. Ditmar Staffelt Doris Barnett Dr. Barbara Hendricks Franz Müntefering Dr. Hans-Peter Bartels Rolf Stöckel Dr. Rolf Mützenich Eckhardt Barthel (Berlin) Christoph Strässer Petra Heß (Starnberg) Gesine Multhaupt Rita Streb- Monika Heubaum Sören Bartol Volker Neumann (Bramsche) Dr. Peter Struck Uwe Karl Beckmeyer Gabriele Hiller-Ohm Joachim Stünker Klaus Uwe Benneter Stephan Hilsberg Dr. Erika Ober Jörg Tauss Dr. Gerd Höfer Holger Ortel Jella Teuchner Jelena Hoffmann (Chemnitz) Heinrich Paula Dr. Gerald Thalheim Hans-Werner Bertl Walter Hoffmann Johannes Pflug Wolfgang Thierse Petra Bierwirth (Darmstadt) Joachim Poß Franz Thönnes (Wismar) Dr. Wilhelm Priesmeier Hans-Jürgen Uhl () Frank Hofmann (Volkach) Rüdiger Veit Eike Hovermann Dr. Jörg Vogelsänger Gerd Friedrich Bollmann Klaas Hübner Karin Rehbock-Zureich () Klaus Brandner Christel Humme Gerold Reichenbach Dr. Eva Marlies Volkmer Lothar Ibrügger Dr. Hans Georg Wagner (B) Brunhilde Irber Christel Riemann- Hedi Wegener (D) (Hildesheim) Renate Jäger Hanewinckel Andreas Weigel Hans-Günter Bruckmann Jann-Peter Janssen Reinhard Weis (Stendal) Marco Bülow Klaus-Werner Jonas Reinhold Robbe Petra Weis Dr. Michael Bürsch Johannes Kahrs René Röspel Matthias Weisheit Hans Büttner () Ulrich Kasparick Dr. Gunter Weißgerber Dr. h.c. Susanne Kastner Karin Roth (Esslingen) Gert Weisskirchen Michael Roth (Heringen) (Wiesloch) Hans Martin Bury Hans-Peter Kemper Gerhard Rübenkönig Dr. Ernst Ulrich von Marion Caspers-Merk Klaus Kirschner Weizsäcker Jochen Welt Dr. Herta Däubler-Gmelin Hans-Ulrich Klose Marlene Rupprecht Dr. Dr. Peter Wilhelm Danckert Astrid Klug (Tuchenbach) Lydia Westrich Dr. Heinz Köhler Thomas Sauer Dr. Martin Dörmann Fritz Rudolf Körper Anton Schaaf Andrea Wicklein Peter Dreßen Axel Schäfer () Jürgen Wieczorek (Böhlen) Detlef Dzembritzki Karin Kortmann Gudrun Schaich-Walch Heidemarie Wieczorek-Zeul Rolf Kramer Dr. Dieter Wiefelspütz Siegmund Ehrmann Bernd Scheelen Brigitte Wimmer () Marga Elser Ernst Kranz Dr. Engelbert Wistuba Nicolette Kressl Siegfried Scheffler Barbara Wittig Petra Ernstberger Volker Kröning Horst Schild Dr. Karin Evers-Meyer Angelika Krüger-Leißner Otto Schily Verena Wohlleben Annette Faße Dr. Hans-Ulrich Krüger Horst Schmidbauer Waltraud Wolff Elke Ferner Horst Kubatschka (Nürnberg) (Wolmirstedt) Ernst Küchler () Heidi Wright Rainer Fornahl Helga Kühn-Mengel (Meschede) Gabriele Frechen Dr. Uwe Küster Wilhelm Schmidt (Salzgitter) Manfred Helmut Zöllmer Ute Kumpf Heinz Schmitt (Landau) Dr. Christoph Zöpel Lilo Friedrich (Mettmann) Iris Gleicke Christian Lange (Backnang) Walter Schöler BÜNDNIS 90/DIE Günter Gloser Christine Lehder Karsten Schönfeld GRÜNEN Uwe Göllner Waltraud Lehn Fritz Schösser Renate Gradistanac Dr. Elke Leonhard Angelika Graf (Rosenheim) Eckhart Lewering Wilfried Schreck () Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. März 2003 2757

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms (A) Volker Beck (Köln) Veronika Maria Bellmann Dr. Martin Mayer (C) Dr. Christoph Georg Bergner Michael Grosse-Brömer (Siegertsbrunn) Markus Grübel Wolfgang Meckelburg Dr. Dr. Grietje Bettin Karl-Theodor Freiherr von Dr. Angela Merkel Alexander Bonde und zu Guttenberg Laurenz Meyer (Hamm) Ekin Deligöz Doris Meyer (Tapfheim) Dr. Thea Dückert Holger-Heinrich Haibach Jutta Dümpe-Krüger Dr. Maria Böhmer Hans Michelbach Franziska Eichstädt-Bohlig Wolfgang Börnsen Klaus-Jürgen Hedrich Klaus Minkel Dr. Uschi Eid (Bönstrup) Hans-Josef Fell Dr. Wolfgang Bötsch Ursula Heinen Stefan Müller (Erlangen) Katrin-Dagmar Göring- Jochen Borchert Siegfried Helias Bernward Müller (Gera) Eckardt Wolfgang Bosbach Uda Carmen Freia Heller Dr. Gerd Müller Anja Margarete Helena Klaus Brähmig Hildegard Müller Hajduk Dr. Ralf Brauksiepe Jürgen Herrmann (Bremen) Winfried Hermann Henry Nitzsche Antje Hermenau Ernst Hinsken Peter Hettlich Monika Brüning Ulrike Höfken Robert Hochbaum Günter Nooke Thilo Hoppe Hartmut Büttner Dr. Georg Nüßlein Michaele Hustedt Joachim Hörster (Schönebeck) Klaus Hofbauer Franz Obermeier Renate Künast Verena Butalikakis Melanie Oßwald Fritz Kuhn Cajus Caesar Hubert Hüppe Undine Kurth (Quedlinburg) (Emstek) Rita Pawelski Markus Kurth Susanne Jaffke Peter H. Carstensen Dr. Dieter Dr. Peter Paziorek Dr. Reinhard Loske (Nordstrand) Dr. Egon Jüttner Ulrich Petzold Anna Lührmann Dr. Bartholomäus Kalb Sibylle Pfeiffer Steffen Kampeter Kerstin Müller (Köln) Dr. Friedbert Pflüger Irmgard Karwatzki Winfried Nachtwei Albert Deß Bernhard Nikolaus Kaster Christa Nickels Siegfried Kauder (Bad Friedrich Ostendorff Thomas Dörflinger Dürrheim) Simone Probst Marie-Luise Dött Daniela Raab Claudia Roth (Augsburg) Volker Kauder Vera Dominke (B) Krista Sager Gerlinde Kaupa (D) Maria Eichhorn Hans Raidel Christine Scheel Dr. Peter Ramsauer Irmingard Schewe-Gerigk (Lübeck) Jürgen Klimke Peter Rauen Rezzo Schlauch Julia Klöckner Christa Reichard (Dresden) Albert Schmidt (Ingolstadt) Dr. Hans Georg Faust Kristina Köhler (Berlin) Albrecht Feibel Norbert Königshofen Hans-Peter Repnik Petra Selg Manfred Kolbe Ursula Sowa Ingrid Fischbach Hartmut Koschyk Dr. Rainder Steenblock Thomas Kossendey Silke von Stokar von Hartwig Fischer (Göttingen) Dirk Fischer () Rudolf Kraus Dr. Norbert Röttgen Neuforn Hans-Christian Ströbele Axel E. Fischer (Karlsruhe- Franz-Xaver Romer Land) Günther Krichbaum Heinrich-Wilhelm Ronsöhr Jürgen Trittin Günter Krings Marianne Tritz Dr. Dr. Klaus Rose Klaus-Peter Flosbach Dr. Hermann Kues Kurt J. Rossmanith Hubert Wendel Ulrich (Zingst) Dr. Antje Vogel-Sperl Dr. Christian Ruck Dr. Karl A. Lamers Dr. Antje Vollmer Dr. Hans-Peter Friedrich Volker Rühe (Heidelberg) Dr. Ludger Volmer (Hof) (Weiden) Dr. Norbert Lammert Josef Philip Winkler Erich G. Fritz Peter Rzepka Barbara Lanzinger Margareta Wolf () Jochen-Konrad Fromme Anita Schäfer (Saalstadt) Hans-Joachim Fuchtel Karl-Josef Laumann Dr. Wolfgang Schäuble Dr. Jürgen Gehb Werner Lensing Hartmut Schauerte Nein Peter Letzgus Ursula Lietz Norbert Schindler CDU/CSU Walter Link (Diepholz) Georg Schirmbeck Georg Girisch Ilse Aigner Michael Glos Dr. Klaus W. Lippold Christian Schmidt (Fürth) Ralf Göbel (Offenbach) Andreas Schmidt (Mülheim) Dietrich Austermann Dr. Reinhard Göhner Dr. Michael Luther Dr. Tanja Gönner Dorothee Mantel Dr. Ole Schröder Dr. Josef Göppel Bernhard Schulte-Drüggelte Günter Baumann Dr. Wolfgang Götzer (Recklinghausen) Ernst-Reinhard Beck (Altötting) Wilhelm Josef Sebastian (Reutlingen) Kurt-Dieter Grill Conny Mayer (Baiersbronn) Horst Seehofer 2758 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. März 2003

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms (A) Kurt Segner Gerhard Wächter Otto Fricke (C) Matthias Sehling Marko Wanderwitz (Bayreuth) Günther Friedrich Nolting Marion Seib Peter Weiß () Hans-Joachim Otto Heinz Seiffert Gerald Weiß (Groß-Gerau) Dr. Wolfgang Gerhardt (Frankfurt) Bernd Siebert Hans-Michael Goldmann Detlef Parr Annette Widmann-Mauz Joachim Günther (Plauen) Klaus-Peter Willsch Dr. Gisela Piltz Jens Spahn Willy Wimmer (Neuss) Dr. Christel Happach-Kasan Dr. Christoph Georg Hartmann Dr. Günter Rexrodt Werner Wittlich (Homburg) Marita Sehn Andreas Storm Dagmar Wöhrl Klaus Haupt Dr. Hermann Otto Solms Elke Wülfing Ulrich Heinrich Dr. Rainer Stinner Matthäus Strebl Wolfgang Zeitlmann Dr. Carl-Ludwig Thiele (Heilbronn) Wolfgang Zöller Dr. Heinrich L. Kolb Dr. Dieter Thomae Michael Stübgen Willi Zylajew Gudrun Kopp Jürgen Türk Jürgen Koppelin Dr. Guido Westerwelle Edeltraut Töpfer FDP Dr. Claudia Winterstein Dr. Hans-Peter Uhl Harald Leibrecht Rainer Brüderle Ina Lenke Fraktionslose Abgeordnete Volkmar Uwe Vogel Sabine Leutheusser- Helga Daub Schnarrenberger Dr. Gesine Lötzsch Andrea Astrid Voßhoff Jörg van Essen Markus Löning Petra Pau

Entschuldigt wegen Übernahme einer Verpflichtung im Rahmen ihrer Mitgliedschaft in den Parlamentarischen Ver- sammlung des Europarates und der WEU, der Parlamentarischen Versammlung der NATO, der OSZE oder der IPU Rauber, Helmut CDU/CSU

(B) (D)

Die Beschlussempfehlung ist angenommen. Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat das Wort der Kollege Dr. Michael Luther von der CDU/ Ich rufe die Punkte I. 19 a und 19 b auf: CSU-Fraktion. a) hier: Einzelplan 15 (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung Dr. Michael Luther (CDU/CSU): – Drucksachen 15/563, 15/572 – Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Berichterstattung: Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! In Abgeordnete Waltraud Lehn diesen Tagen bewegt uns und die Menschen im Land die Anja Hajduk weltpolitische Lage mehr als die Innenpolitik. Das ist Dr. Michael Luther mehr als verständlich. Auch ich habe Sorge. Wir müssen Otto Fricke alles dafür tun, die Krise und die Folgen für unser Land zu bewältigen. Trotzdem müssen wir als Bundespolitiker b) Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD unsere Tagesaufgaben erledigen. Dazu gehört, dass wir und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN einge- über den Bundeshaushalt 2003 abschließend beraten. brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung der Vorschriften zum diagnoseorientierten Fall- Vor einem Jahr hat Bundesfinanzminister Eichel ge- pauschalensystem für Krankenhäuser – Fallpau- meint, der Bundeshaushalt 2002 sei auf Kante genäht. schalenänderungsgesetz (FPÄndG) Was heißt das? Ursprünglich waren 21,1 Milliarden Euro Neuverschuldung vorgesehen. Gelandet sind wir – Drucksache 15/614 – aber bei 31,8 Milliarden Euro Neuverschuldung. Auf Überweisungsvorschlag: Kante genäht heißt also 10 Milliarden Euro mehr Neu- Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung (f) verschuldung. Verteidigungsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Hose ge- platzt!) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache zwei Stunden vorgesehen. – Ich höre Herr Eichel, wenn Sie für dieses Jahr wieder ein Bild keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. gebrauchen wollen, dann sagen Sie bitte nicht wieder, Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. März 2003 2759

Dr. Michael Luther (A) dieser Haushalt sei auf Kante genäht. Ich sage Ihnen: erfahrungsgemäß immer kritisch, weil die Schwan- (C) Der jetzige Haushalt ist auf Sand gebaut. kungsreserve im Jahresverlauf leicht abnimmt. Sie kann erst am Jahresende, beispielsweise durch Rentenabgaben (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) auf das Weihnachtsgeld, wieder aufgefüllt werden. Ich werde die Risiken des Bundeshaushalts anhand des Einzelplans für Gesundheit und Soziale Sicherung Der Bundesrechnungshof warnt uns in seinem Bericht klar benennen. Der Einzelplan 15 hat ein Volumen von vom 4. Dezember 2002, dass die – ich zitiere – „voraus- 82 Milliarden Euro. Er ist also mit Abstand der größte sichtlich verfügbaren kurzfristigen Mittel zeitweilig Einzelplan. Leider kann die Ministerin nicht in vollem nicht ausreichen“ werden. Das heißt, die Aushöhlung der Umfang über diese Summe verfügen; denn davon gehen liquiden Mittel der Schwankungsreserve durch die Bun- 77 Milliarden Euro an die Rentenversicherung. Der desregierung ist mittlerweile gefährlich für den Bundes- Zuschuss an die Rentenversicherung macht mittler- haushalt. weile 31 Prozent des Gesamthaushaltes aus. Diese dra- Ich glaube, das sieht die Koalition inzwischen ge- matische Entwicklung wird noch deutlicher, wenn man nauso. Warum sonst soll durch das Haushaltsgesetz die Entwicklung der letzten drei Jahre betrachtet: Der plötzlich erlaubt sein, dass der Bundeszuschuss in Höhe Zuschuss an die Rentenkasse belief sich im Jahre 2001 von 77 Milliarden Euro nicht mehr in zwölf gleichen auf 69 Milliarden Euro, 2002 auf 72 Milliarden Euro Monatsraten, sondern vorfristig an die Rentenkassen und 2003, wie gesagt, auf 77 Milliarden Euro. Dahinter überwiesen wird? Damit wollen Sie eine – auch von Ih- steckt eine folgenschwere Entwicklung in der gesetz- nen erwartete – Zahlungsunfähigkeit der Rentenkasse im lichen Rentenkasse. Laufe dieses Jahres verhindern; sonst würde die Renten- Heute erkennt der Bundeskanzler an, dass die Annah- kasse über die Bundesgarantie direkt auf den Bundes- men über die Rentenentwicklung – ich zitiere aus seiner haushalt zugreifen. Regierungserklärung vom letzten Freitag – „zu pessimis- Die Renten werden monatlich pünktlich gezahlt, weil tisch im Bezug auf die durchschnittliche Lebenserwar- der Bundeshaushalt gegebenenfalls einspringt. Durch tung“ waren. Was heißt das? Das heißt doch, dass der diesen Passus im Gesetz wollen Sie jedoch verhindern, Bundeskanzler einen demographischen Faktor einführen dass der Haushaltsausschuss, der Deutsche Bundestag will, dass er sich aber noch nicht traut, das dem deutschen und das deutsche Volk von den Hintergründen dafür er- Volk direkt zu sagen. Genau dies haben wir im Übrigen fahren. schon vor der Bundestagswahl 1998 auf den Weg ge- bracht. Aber Sie haben das – auf Ihrer so genannten Ga- (Beifall bei der CDU/CSU) rantiekarte stand damals die Parole „Mehr soziale Ge- Das können wir nicht mitmachen. Wir von der Union rechtigkeit“ und auch, dass Sie die Fehler der Kohl- (D) (B) wollen diesen Verschleierungsparagraphen deshalb aus Regierung beseitigen wollten – 1998 wieder zurückge- dem Haushaltsgesetz streichen. führt. Später sind Sie dann in die steuerfinanzierte Rente eingestiegen. Damit haben Sie – das ist heute festzustel- (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Ja!) len – überhaupt kein Problem gelöst. Wir brauchen nach wie vor – das ist mittlerweile allgemein anerkannt – eine Die momentane Rentenfinanzierung bringt aufgrund nachhaltige Rentenreform, die wir als CDU/CSU schon des dramatischen Anwachsens des Bundeszuschusses vor 1998 vorausschauend begonnen hatten. zunehmend enorme Haushaltsstrukturprobleme mit sich. Durch die Aushöhlung der Schwankungsreserve kom- (Beifall bei der CDU/CSU) men auf den Bundeshaushalt erhebliche Risiken zu. Des- Jetzt gibt es zusätzlich ein katastrophales Haushalts- halb ist der Bundeshaushalt 2003 im Hinblick auf strukturproblem. Einzelplan 15 eben nicht „auf Kante genäht“, sondern auf Sand gebaut. Das beschreibt allerdings noch nicht die ganze Wahr- heit. Die Rentenbeiträge hätten 2002 versicherungsma- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- thematisch steigen müssen. Die Steigerung für 2003 neten der FDP) hätte noch höher ausfallen müssen, als es von der Koali- Nun möchte ich ein Wort zur Gesundheitsreform sa- tion letztendlich beschlossen worden ist. Um ihr Ziel zu gen. Der Bundeskanzler hat in seiner Rede am letzten erreichen, hat die Koalition faktisch zweimal einen Kre- Freitag auch auf die Notwendigkeit einer Gesundheitsre- dit aus der Schwankungsreserve aufgenommen. Ich er- form hingewiesen. Ich will nicht auf die einzelnen Vor- innere: 2001 betrug der Zielhorizont in Bezug auf die schläge eingehen; das werden meine Fraktionskollegen Schwankungsreserve noch eine Monatszahlrate. 2002 im Folgenden sicherlich tun. Ich will etwas zur Haus- haben Sie diesen Zielhorizont auf 0,8 einer Monatszahl- haltsrelevanz sagen. Ich zitiere hier wiederum den Kanz- rate abgesenkt. Erreicht haben Sie 0,66. 2003 soll der ler: Zielhorizont auf 0,5 sinken. Er wird wahrscheinlich we- sentlich niedriger sein. Außerdem werden wir das tun müssen, was wir im Rahmen der Rentenstrukturreform vorgemacht ha- Ich möchte denen, die nicht wissen, was das ist, kurz ben: die Befreiung der gesetzlichen Krankenversi- die Schwankungsreserve erklären. Sie ist nötig, um cherung von einer Reihe so genannter versiche- Schwankungen zwischen den Einnahmen der Renten- rungsfremder Leistungen. kasse, also den Beiträgen, und den Ausgaben, also den Rentenzahlungen, auszugleichen. Der Monat Oktober ist (Dr. Dieter Thomae [FDP]: Hat er gesagt!) 2760 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. März 2003

Dr. Michael Luther (A) Das heißt, der Bundeskanzler will auch in diesem Be- Beispiel die Versorgungsbezüge für Beschädigte nen- (C) reich den Einstieg in die Steuerfinanzierung. nen. 2002 betrug der Bedarf dafür 2,99 Milliarden Euro. Dabei hatten Sie sich um 50 Millionen Euro verschätzt; Ich habe gerade versucht, eindrucksvoll aufzuzeigen, Sie hatten zu wenig etatisiert. Es geht hierbei um die (Elke Ferner [SPD]: Eindrucksvoll war das Kriegsopferfürsorge, bei der die Fallzahlen altersbedingt nicht, was Sie aufgezeigt haben!) sinken. Die Statistiker sagen, dass sie von 2002 auf 2003 um 8 Prozent sinken werden. Im Haushaltsentwurf ha- welche Folgen diese Entwicklung hat. Wenn man glaubt, ben Sie ein Minus von 9 Prozent zugrunde gelegt. Nach damit die Probleme einer Sozialversicherungskasse lö- meiner Rechnung sind das also rund 26 Millionen Euro sen zu können, dann ist man auf dem Holzweg. zu wenig. (Gudrun Schaich-Walch [SPD]: Das fordern Es kommt ein neues Problem hinzu, die Beschaffung Sie doch seit Jahren!) der Pockenimpfstoffe. Auch dafür musste der Haushalt Ich befürchte: Wegen des mangelnden Mutes der SPD herhalten. Was machen Sie? – Sie ziehen bei diesem und der Grünen zu Reformen wäre das Ergebnis einer Titel weitere 13 Millionen Euro ab. Am Jahresende wer- Gesundheitsreform lediglich der Einstieg in die Steuerfi- den wir feststellen – das prognostiziere ich –: In diesem nanzierung. Damit wäre eine Steuerspirale in Gang ge- Haushaltstitel werden mindestens rund 40 Millionen setzt. Das Ende dieser Entwicklung ist für mich nicht ab- Euro fehlen. sehbar. Wir, die Haushälter, dürfen den eingeschlagenen Zweites Beispiel: die Beteiligung des Bundes an der Weg auf keinen Fall mitmachen. knappschaftlichen Rentenversicherung. Etatisiert wa- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) ren 7,321 Milliarden Euro. Sie brauchen Geld für den Pockenimpfstoff. Was machen Sie also? – Sie runden Wir brauchen eine grundlegende Gesundheitsreform, den Ansatz bei diesem Haushaltstitel ab und schon ha- die beitragssenkend wirkt. Wenn es dazu kommt, dann ben Sie 21 Millionen Euro zur Verfügung, die für die kann man sicherlich auch über andere Fragen nachden- Beschaffung von Pockenimpfstoff aufgewendet werden ken. Das darf aber erst dann und nicht vorher geschehen. können. Ich frage Sie: Ist das ein seriöses Herangehen in Zu einer grundlegenden Gesundheitsreform gehören der Haushaltspolitik? – das will ich ehrlich sagen – Ehrlichkeit und Mut; denn Ein drittes Beispiel: der zusätzliche Zuschuss des man muss den Bürgern sagen, was auf sie zukommt. Bundes an die Rentenversicherung der Arbeiter und Momentan verschieben Sie alle Entscheidungen auf Angestellten. In § 213 des SGB VI war vorgesehen, Kommissionen. Frau Schmidt, Sie haben in Ihrem Mi- dass aus dem Ökosteueraufkommen im Jahr 2003 (B) nisterium gute Beamte. Die können eine Gesundheits- 9,51002 Milliarden Euro an die Rentenkasse fließen. (D) reform verfassen. Sie müssen ihnen nur klare Vorgaben Dann mussten Sie die Grundsicherung finanzieren. Was machen. Legen Sie das Ergebnis dann bitte dem Parla- haben Sie gemacht? – Sie haben einfach 400 Millionen ment vor, lassen Sie die Experten im Parlament, im Ge- Euro dort weggenommen und an eine andere Stelle ver- sundheitsausschuss, darüber beraten und lassen Sie ih- schoben. Diese 400 Millionen Euro, die eigentlich als nen Zeit dafür! Wenn Sie diesen Weg beschreiten, dann Zuschuss für die Rentenkassen gedacht waren, fehlen werden Sie feststellen, dass am Ende auch etwas Ver- dort heute. nünftiges dabei herauskommt. Diese drei Beispiele zeigen, wie Rot-Grün Haushalts- (Beifall bei der CDU/CSU) politik versteht. Deshalb sage ich noch einmal: Dieser Ganz nebenbei – das will ich hier auch noch festhalten – Haushalt ist nicht auf Kante genäht, sondern – Frau Lehn können Sie dann die 1 Million Euro, die die Rürup- lacht; sie weiß schon, was kommt – auf Sand gebaut. Kommission kostet, einsparen. In dieser Woche wird vielen bewusst, in welch (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU so- schwieriger Sicherheitslage wir uns befinden. Aber die wie des Abg. Dr. Dieter Thomae [FDP]) Bedrohung in Deutschland durch terroristische An- griffe ist nicht erst seit dieser Woche bekannt, sondern Frau Ministerin, Ihr bisheriges Stückwerkeln bringt bereits vor allem der Bundesregierung seit Sommer letz- nichts. Die Leute trauen Ihnen Reformen nicht mehr zu. ten Jahres. Deshalb hat die Bundesregierung richtiger- Nur eines ist sicher: Rot-Grün ist für eine seriöse Haus- weise zum Beispiel Pockenimpfstoff beschafft. Wie das haltspolitik ein Risiko. Parlament darüber informiert worden ist und wie die Finanzierung erfolgte, ist (Elke Ferner [SPD]: Das Haushaltrisiko sind Sie!) (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Sehr merkwürdig!) Der Haushalt ist vor dem Hintergrund Ihrer Pläne zur Gesundheitsreform eben nicht auf Kante genäht, sondern ein Kapitel für sich. Zu dem Thema hatten wir hier kürz- auf Sand gebaut. lich auch eine Aktuelle Stunde. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Erika Lotz [SPD]: Das war keine Stern- neten der FDP) stunde!) Lassen Sie mich dazu kommen, wie Sie letztlich wei- Dabei – davon bin ich fest überzeugt – darf es nicht tere Haushaltsrisiken eingebaut haben. Ich will als erstes bleiben, sondern es muss weitergehen. Man muss die Öf- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. März 2003 2761

Dr. Michael Luther (A) fentlichkeit informieren. Man muss die Öffentlichkeit (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (C) vorbereiten, und zwar offen und ehrlich. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Für alle Eventualitäten müssen Vorbereitungen getrof- Das Wort hat jetzt die Kollegin Waltraud Lehn von fen werden. Wer wäre dafür zum Beispiel besser prädes- der SPD-Fraktion. tiniert als die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklä- rung? Mir ist während der Haushaltsberatungen unklar Waltraud Lehn (SPD): geblieben, warum Sie der BZgA in dem Titel „Gesund- heitliche Aufklärung der Bevölkerung“ 10 Prozent strei- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Haus- chen. Ich finde, das ist falsch. Wir wollten die BZgA halt 2003 des Bundesministeriums für Gesundheit und arbeitsfähig halten und sind deshalb der Meinung, dass Soziale Sicherung ist zweifellos ein wichtiger, aber er ist gerade dieser Titel hätte aufgestockt werden müssen. auch ein schwieriger Haushalt. Mit rund 82 Milliarden Euro ist der Einzelplan 15 der größte Einzeletat im Bun- An diesem Beispiel kann man zeigen, was man auch deshaushalt und er bindet immerhin rund 30 Prozent der an vielen anderen Stellen im Haushalt zeigen könnte: Sie gesamten Ausgaben. Diese Zahlen belegen, welche Be- setzen die Schwerpunkte im Haushalt falsch. Ob der deutung, aber auch welche Verantwortung diesem Ein- Plan das wert ist, was man von ihm sagt, wird man se- zelplan zukommt. hen. Ich vermute, am Jahresende wird vieles überhaupt nicht mehr stimmen. Meine feste Überzeugung als Haus- Der größte Ausgabenblock ist hierbei mit 77,6 Mil- hälter ist: Dieser Haushalt ist nicht auf Kante genäht, liarden Euro die Sozialversicherung. Allein 73,1 Milliar- sondern auf Sand gebaut. den Euro stehen dabei als Zuschuss zur Rentenversiche- rung zur Verfügung. Davon kommen 17,3 Milliarden Meine Damen und Herren, ab diesem Jahr sind die Euro aus dem Aufkommen der Ökosteuer. Allein die Fachbereiche Gesundheit und soziale Sicherung zusam- letzte Stufe der Ökosteuer bringt der Rentenversicherung mengelegt. Das ist ein richtiger Schritt, der große Chan- seit dem 1. Januar dieses Jahres 3 Milliarden Euro an cen bietet. Das Ministerium muss sich erst finden; das ist Mehreinnahmen. mehr als verständlich. Deshalb habe ich als Haushälter meine konstruktive Unterstützung angeboten. (Ute Kumpf [SPD]: Da schau her!) Ich hoffe nun, dass Sie, Frau Schmidt, die großen Nun kritisiert die Opposition nach wie vor heftig die Chancen, die dieses neue Ministerium bietet, im Inte- Ökosteuer. Herr Stoiber hat am vergangenen Freitag resse Deutschlands nutzen. Sie könnten als echte Re- hier zum wiederholten Male ihre Abschaffung gefordert. (B) formministerin für die sozialen Sicherungssysteme in die Wenn die Opposition das will, dann muss sie auch sagen, (D) Geschichte eingehen. was das im Endeffekt bedeutet. Es bedeutet nämlich, dass sich der Beitragssatz in der Rentenversicherung um (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Die Wahr- 1,7 Prozent auf über 21 Prozent erhöhen würde scheinlichkeit ist nicht groß!) (Zurufe von der SPD: Aha!) Wenn Sie es gut machen, dann haben Sie auch die Union hinter sich. Aber aufgrund dessen, was wir bislang wis- oder – das ist die Alternative – die Rente um den ent- sen, kann man nur eines feststellen: Sie machen es zur- sprechenden Betrag bei allen Rentnerinnen und Rent- zeit sehr schlecht. nern gekürzt werden müsste. Das wäre die Folge. (Erika Lotz [SPD]: Sie entscheiden, was gut ist Aber vielleicht will die Opposition ja auch die Bei- und was nicht?!) träge zur Kindererziehung, die inzwischen über 12 Mil- liarden Euro ausmachen, komplett einstampfen. Deshalb müssen wir das als Opposition entsprechend kritisieren. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (Beifall bei der CDU/CSU) Frau Kollegin Lehn, erlauben Sie eine Zwischenfrage Lassen Sie mich noch einen Satz anfügen. Es waren des Kollegen Bergner? intensive Haushaltsberatungen und es gehört sich, dass man an dieser Stelle den Mitarbeitern des Ministeriums dankt, die uns aktiv begleitet haben. Das sei an dieser Waltraud Lehn (SPD): Stelle getan. Ja, selbstverständlich. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Dr. Christoph Bergner (CDU/CSU): Mein Schlusssatz: Ob der Haushalt das wert ist, was das Papier gekostet hat, auf dem er gedruckt ist, Frau Kollegin, ehe Sie noch weitere Loblieder auf die (Zurufe von der SPD: Oh! – Walter Schöler [SPD]: Ökosteuer singen, – Was hat es denn gekostet? Weißt du das?) Waltraud Lehn (SPD): wird sich am Jahresende zeigen. Wir können diesen Haushalt nur ablehnen. Ich werde das noch ausweiten. 2762 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. März 2003

(A) Dr. Christoph Bergner (CDU/CSU): schuss permanent konfrontiert. Dies hätte bedeutet: (C) Schulden – wie zu Zeiten von Kohl und Waigel – – möchte ich Sie fragen, wie Sie es mit Ihrem Gerech- tigkeitssinn vereinbaren können, dass eine große Zahl (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Das wäre von Bürgerinnen und Bürgern Ökosteuer zahlen müssen, schön!) die von der gesetzlichen Rentenversicherung keine ein- zige Leistung erhalten. rauf. (Lachen bei der SPD) Oder nehmen wir die Forderung nach 7 Prozent – Herr Austermann, da hat Ihnen ja Frau Merkel aus der Seele gesprochen – zusätzlich für Verteidigungsausgaben. Da Waltraud Lehn (SPD): frage ich Sie, Herr Austermann: Woher denn nehmen? Ich finde, das ist wirklich eine außerordentlich gute (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Wirtschaft- Frage. Ich hatte mir schon überlegt, wie ich den Inhalt liches Wachstum durch Steuersenkung!) dieser Antwort in meine Rede einbaue. Insoweit kann ich Ihnen nur danken. Es ist so – das wissen auch Sie –, Diese Antwort sind Sie immer schuldig geblieben. Das dass Sie seit vielen, vielen Jahren Lasten in die Sozial- ist eine unsaubere, unredliche und auch eine verlogene versicherungssysteme geschoben haben, die dort nichts Politik, wenn man so agiert. zu suchen haben. Es hat in den letzten 16 Jahren insge- (Beifall bei der SPD) samt eine Zunahme der Fremdleistungen gegeben, die so gewaltig ist, dass man sagen muss, dass die Versicherten Nein, so geht es nicht. Die Zeit der Streudosengeschenke zu einem ganz erheblichen Teil den Aufbau Ost finan- ist schon lange vorbei. Wer den Sozialstaat im Kern er- ziert haben. halten will, der darf heute weder Schulden machen noch darf er auf gerecht verteilte Einnahmen verzichten. Um die Ungerechtigkeiten zu beseitigen, wenn nur ein Teil und nicht die gesamte Bevölkerung diese Lasten Lassen Sie mich noch einmal auf die Rente zurück- trägt, haben wir die Ökosteuer eingeführt. Das eben ist kommen. Ohne die Rentenreform und ohne die Öko- ein beispielloser Beitrag zu mehr Gerechtigkeit, unter- steuer würden die Beiträge zur Rentenversicherung, wie stützt durch die Möglichkeit, Energieverbrauch selbst zu schon gesagt, auf 21,2 Prozent steigen. Die Renten- steuern, indem man zum Beispiel darauf achtet, ein Auto reform 2001 war richtig. Die ersten Zahlen zeigen: Wir zu fahren, das weniger Benzin verbraucht, oder dafür sind mit dem Aufbau einer kapitalgedeckten privaten Sorge trägt, dass durch den Schornstein nicht unnötig Vorsorge als zweiter Säule der Rentenversicherung auf ei- Energie verpufft. Dadurch, dass den Menschen solche nem guten Weg. Bis zum Ende letzten Jahres haben im- (B) Steuerungsmöglichkeiten gegeben sind, wird dem Ge- merhin 5,4 Millionen Verträge zur individuellen Alters- (D) rechtigkeitsgedanken auch Rechnung getragen. versorgung abgeschlossen werden können. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Dabei hat vor allem die betriebliche Altersvorsorge DIE GRÜNEN) einen starken Zulauf. Die Bundesregierung geht davon aus, dass in den nächsten Jahren circa zwei Drittel bis Ich muss sagen: Wenn die Koalition die Ökosteuer drei Viertel der Beschäftigten ihre zusätzliche Altersver- nicht eingeführt hätte – Sie müssten uns im Nachhinein sorgung über eine Betriebsrente aufbauen werden. Die eigentlich dankbar sein –, hätten wir heute eine noch betriebliche Altersvorsorge steht, nachdem sie 16 Jahre verschärftere Diskussion darüber, wie schlimm und wie unter der Kohl-Regierung praktisch vergessen worden schädlich es gewesen ist, den Aufbau Ost über die So- ist, vor einer starken Wiederbelebung. Auch dies ist ein zialversicherungssysteme zu finanzieren. großer Erfolg der Riester-Rente, den die Opposition (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten nach wie vor leugnet. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall des Abg. Volker Kröning [SPD]) Ehrlich gesagt: Der Spaß, in diesen Zeiten Haushalts- Die Rente, Herr Luther, ist sicher. politik zu machen, hält sich durchaus in engen Grenzen. (Dr. Dieter Thomae [FDP]: Oh Gott! Das hat (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Das liegt schon einmal einer gesagt!) an dem Minister!) Ich finde es problematisch, dass Sie versuchen, die Men- Aber es überkommt mich geradezu ein Grauen, wenn ich schen an dieser Stelle zu verunsichern. Denn zusätzlich mir vorstelle, dass die Opposition derzeit tatsächlich ver- zu der Bundesgarantie, die immer greift und die dafür antwortlich entscheiden müsste; sorgt, dass der Rentner und die Rentnerin jeden Monat (Zuruf von der SPD: Um Gottes willen!) pünktlich ihre Rente bekommen, hat der Gesetzgeber ausdrücklich die Möglichkeit eingeräumt, dass auch ein vor allem, wenn ich mir die Themen Irak sowie Krieg Monat quasi im Vorgriff ausgezahlt werden kann. Dies und Frieden und die Ausführungen von Frau Merkel ist eine weitere Möglichkeit, auf die bei Liquiditätseng- dazu heute Morgen vor Augen halte. Aber das gilt auch pässen zurückgegriffen werden kann. für andere Themen: Fällt die Ökosteuer weg, müssten die Renten runter oder die Beiträge rauf. Weiterhin wur- Es liegt doch im Interesse von Haushaltswahrheit und den wir mit Milliardenforderungen während der Etatbe- -klarheit, wenn man das nicht als Spardose auffasst, son- ratungen in den Ausschüssen und auch im Haushaltsaus- dern wenn man die vorgesehenen Möglichkeiten nutzt Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. März 2003 2763

Waltraud Lehn (A) und nicht mehr Geld zurückstellt, als tatsächlich erfor- Sind Sie mit mir einer Meinung, dass das ursprüngliche (C) derlich ist. Der Rentenversicherungsträger bleibt stets Gesetz für viele eine niedrigere Rente vorgesehen hatte, uneingeschränkt handlungsfähig. dass aber das Bundesverfassungsgericht mit dem Ver- weis, dass es sich um eine Besitzstandswahrung aus Der Zuschuss zur Rentenversicherung unterliegt DDR-Zeit handelt, alle Versuche, mehr Gerechtigkeit bei derzeit im Wesentlichen zwei großen Einflüssen, auf die der Rente zu schaffen, letztendlich zunichte gemacht hat, ich eingehen möchte. was dazu führt, dass mehr Rente gezahlt werden muss? Zum einen wirkt sich die Arbeitslosigkeit direkt auf Sind Sie ferner mit mir einer Meinung, dass das nicht den Zuschuss aus. Das muss uns durchaus Sorgen berei- den Bundeshaushalt, sondern im Wesentlichen die Haus- ten. Mit steigenden Arbeitslosenzahlen entstehen der halte der neuen Länder belastet und dass man vor dem Rentenversicherung Beitragsausfälle, die durch Bundes- Hintergrund, dass man den Aufbau Ost nicht aus den zuschüsse ausgeglichen werden müssen. Deshalb haben Augen verlieren darf, hier Kompensationen schaffen wir in der letzten Zeit einen permanenten und auch er- muss, um die neuen Bundesländer nicht finanziell abzu- heblichen Anstieg des Zuschusses. koppeln? Zum anderen möchte ich angesichts der Tatsache, (Hubert Hüppe [CDU/CSU]: Das müssen Sie dass Herrn Luther und der CDU/CSU offensichtlich im- mit Ja beantworten!) mer nur der demographische Faktor einfällt, wenn es um die Frage geht, wie man im Bereich der Rente zu sinn- Waltraud Lehn (SPD): vollen Veränderungen kommen kann, Folgendes sagen: Wir haben bereits bewiesen, dass wir mit der Schaffung Ich bin davon überzeugt, Herr Luther, dass sicherlich einer zusätzlichen Säule andere Wege gehen können. niemand, als dieses Gesetz erarbeitet worden ist, damit gerechnet hat, dass sich nach und nach alle Gruppen der Aber lassen Sie mich auf eine Fehlentwicklung zu Rentenbezieher aus Ostdeutschland einklagen werden. sprechen kommen. Für das Zusatzversorgungssystem Dieses Gesetz ist aber mit einer derart heißen Nadel ge- Ost müssen inzwischen 2,5 Milliarden Euro bereitge- strickt worden, dass sich die Sozialgerichte – jedenfalls stellt werden. Wohlgemerkt, ich rede von einer Zusatz- im Moment – auf der Grundlage eines Urteils eines Bun- rente. Die Tendenz ist steigend. Die Anzahl der Rentner desgerichtes in die Lage versetzt sehen – das entspricht und Rentnerinnen, die nach dem Anspruchs- und An- dem bestehenden Recht –, so zu entscheiden, dass das wartschaftsüberführungsgesetz, einem Gesetz aus der quasi eine Öffnung für eine unbegrenzte Zahl von Be- Kohl-Ära, und der Rechtsprechung des Bundesozial- troffenen nach sich zieht. gerichtes Anspruch auf höhere Renten haben, nimmt Diese Erkenntnis besteht inzwischen seit langer Zeit. (B) weiterhin zu. Allein von 2002 auf 2003 sind hier (D) 500 Millionen Euro zusätzliche Ausgaben erwachsen. Denn das, was Sie ansprechen, ist neun Jahre alt. Es kann meines Erachtens doch nicht richtig sein, (Dr. Michael Luther [CDU/CSU]: Das ist dass wir 13 Jahre nach der Wiedervereinigung eine Ren- neu!) tenformel Ost haben, die es vielen Rentenbeziehern in – Nein, das ist nicht neu. – In dieser Zeit musste man den neuen Bundesländern erlaubt, sich auf dem Klage- eingreifen. Das Genannte ist eine der Möglichkeiten, um wege höhere Renten als die Rentner in Westdeutschland Fehlentwicklungen zu korrigieren. zu erstreiten, nur weil es damals diese Zusatzversor- gungssysteme gab, in die weder sie noch andere je ein- Ich behaupte nicht, dass wir unterschiedlicher Auffas- gezahlt haben. Wenn man diese Fehlentwicklung er- sung sind, was die Behebung dieses Problemes angeht. kennt, dann muss man an dieser Stelle gegensteuern. Das Denn wir werden das gemeinsam lösen können und lö- kann nur durch die Politik erfolgen. sen müssen. Ich wollte darauf hinweisen, dass eine Kor- rektur bei den Ausgaben nicht zwangsläufig bedeutet, (Beifall des Abg. Volker Kröning [SPD]) dass man den demographischen Faktor, so wie ihn Norbert Blüm angelegt hat, einführen muss. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Meine Damen und Herren, neben der Sozialversiche- Frau Kollegin Lehn, erlauben Sie eine Zwischenfrage rung umfasst der Haushalt weitere Aufgaben, die zwar des Kollegen Luther? quantitativ nicht sehr umfangreich, dafür aber nicht we- niger wichtig in ihrer Bedeutung sind. So haben wir im Waltraud Lehn (SPD): Haushalt 2003 22 Millionen Euro für Modellprogramme im Bereich der Rehabilitation und rund 14 Millionen Ja, selbstverständlich. Euro für Modellprogramme im Bereich der Pflege vor- gesehen. Für das „Europäische Jahr der Menschen mit Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Behinderungen“ stehen 4 Millionen Euro zur Verfügung. Herr Luther, bitte. Rund 153 Millionen Euro haben wir im Haushalt für die Beschaffung von Impfstoffen eingesetzt. Damit sind Dr. Michael Luther (CDU/CSU): wir in der Lage, bis Ende des Jahres für 82 Millionen Bundesbürger, also für die gesamte Bevölkerung, 100 Mil- Ich habe Fragen zu Ihrer Bemerkung hinsichtlich des lionen Dosen Impfstoffe in zentralen Depots vorzuhalten. Anspruchs- und Anwartschaftsüberführungsgesetzes. Jeder von uns hofft, dass wir diesen Impfstoff nicht 2764 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. März 2003

Waltraud Lehn (A) einsetzen müssen. Aber ich glaube, dass es wichtig und den USA landet Deutschland immer auf einem der drei (C) richtig war, angesichts einer nicht wahrscheinlichen, aber schlechtesten Plätze. immerhin möglichen Bedrohungslage die Gefahrenab- Vom Sachverständigenrat für die konzertierte Aktion wehr im Sinne einer Vollversorgung der Bevölkerung si- im Gesundheitswesen wurden gravierende Qualitätsdefi- cherzustellen. zite festgestellt, die zu dieser negativen Entwicklung bei- Der Bundeskanzler hat am vergangenen Freitag in getragen haben. Das deutsche Gesundheitssystem, so die seiner Rede zur Vorstellung der Agenda 2010 betont, ernüchternde Schlussfolgerung des Rates, leiste nicht, dass es zur Konsolidierung des Haushaltes und zum Ab- was es leisten könne. bau der Verschuldung überhaupt keine Alternative gibt. Auf der anderen Seite belegt Deutschland im Ver- Sie bleiben wichtige Ziele der Bundesregierung. gleich mit den erwähnten Ländern für die Zahl der Ärzte Der Bundeskanzler hat außerdem deutlich gemacht, pro Einwohner, für die Zahl der Krankenhausbetten pro welche Maßnahmen erforderlich sein werden, um in Einwohner und für die durchschnittliche Verweildauer Deutschland mehr Wachstum und Beschäftigung zu er- im Krankenhaus jeweils einen der ersten drei Plätze mit reichen und damit einen leistungsfähigen Sozialstaat zu entsprechenden Auswirkungen für die Beitrags- und sichern. Von diesen Maßnahmen ist auch und gerade der Kostenentwicklung. Sozial- und Gesundheitsbereich erheblich betroffen. Der Sachverständigenrat kommt daher zu dem eindeu- Dies wird sich noch nicht in diesem Haushalt, aber zwei- tigen Urteil, dass die Kosten-Nutzen-Relation im deut- felsohne in den zukünftigen Haushalten, und dort über- schen Gesundheitswesen im internationalen Vergleich wiegend unmittelbar in den Sozialversicherungssyste- unbefriedigend sei. Die Qualitätsdefizite und die Quanti- men, niederschlagen. tätsüberhänge im deutschen Gesundheitswesen müssen In der Gesundheitspolitik werden wir grundlegende abgebaut werden, im Interesse der Finanzierbarkeit des Fragen zu beantworten haben. Unser Gesundheitssys- Systems, im Interesse der Beitragsstabilität, aber vor al- tem ist heute nicht mehr nur ein Sozialsystem, sondern len Dingen im Interesse der Patientinnen und Patienten. auch ein großer, in einer alternden Wohlstandsgesell- Kein anderes europäisches Land überlässt den Wettbe- schaft wachsender Wirtschaftszweig mit einem Volumen werbern allein die Entscheidung über Leistungsmenge von mehr als 200 Milliarden Euro pro Jahr. und Qualitätsanforderungen. Die Bestrebungen der Mi- nisterin, gerade in diesem Bereich weiterzukommen, sind (Dr. Dieter Thomae [FDP]: Aha!) nicht nur der gebotene, sondern, wie ich finde, auch der Wir werden klären müssen, ob wir wie FDP ausschließ- einzig sinnvolle Weg. lich mehr Geld in dieses System pumpen (B) (D) (Dr. Dieter Thomae [FDP]: Wartet ab!) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: und damit einen Selbstbedienungsladen für die Anbieter Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss. von Gesundheitsleistungen schaffen wollen oder ob wir durch Qualitätsverbesserungen und eine effektivere Waltraud Lehn (SPD): Steuerung mehr Wirtschaftlichkeit erreichen. Ja, ich komme zum Schluss. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Meine Damen und Herren, weil wir sehr maßvoll ein- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) gespart haben, möchte ich zum Schluss auf ein Potenzial Wahrscheinlich liegt die Lösung in einem Mix. hinweisen, das wir genutzt haben. Durch die Zusammen- legung von drei zu zwei Bundesministerien haben sich Im internationalen Vergleich hat das deutsche Ge- Synergieeffekte ergeben, die auch einen entsprechenden sundheitswesen immer noch Vorbildfunktion. Stellenabbau in der Zukunft ermöglichen werden. Ich (Dr. Dieter Thomae [FDP]: Das ist etwas möchte deshalb zum Schluss beiden Ministern, Frau Mi- anderes!) nisterin Schmidt ebenso wie Herrn Minister Clement, ausdrücklich meinen Dank und meine Anerkennung da- Zu seinen Stärken gehören nach wie vor eine Versorgung für aussprechen, in welch kurzer Zeit sie diese überaus ohne Warteliste, ein umfassender Versicherungsschutz schwierige Aufgabe der Zusammenlegung gemeistert für alle und ein einheitlicher, vom persönlichen Einkom- haben. men unabhängiger Leistungsanspruch, der für alle glei- chermaßen nur durch das medizinisch Notwendige defi- (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Die Zahl niert wird. der Staatssekretäre ist erhöht worden!) Es gibt aber auch Bereiche, in denen wir unsere Vor- In meinen Dank schließe ich ausdrücklich die betrof- bildfunktion längst eingebüßt haben. So liegt die Le- fenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, benserwartung in Deutschland mittlerweile unter dem (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Die sind Durchschnitt in Europa. Sie hat sich in den letzten zehn in der Tat betroffen!) Jahren schlechter entwickelt als in unseren Nachbarlän- dern. Bei einem Vergleich der Sterblichkeitsraten nach aber auch die Verhandlungsführer beider Häuser ein, die einem Schlaganfall, bei Zuckererkrankung oder bei mit sehr hoher Leistungsbereitschaft und mit großem Darm- oder Brustkrebs mit Frankreich, Italien, England, Problemlösungswillen zu einem reibungslosen Gelingen Finnland, Schweden, den Niederlanden und auch mit beigetragen haben. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. März 2003 2765

Waltraud Lehn (A) Ihnen gegenüber stand ein Berichterstatterteam, das Waltraud Lehn (SPD): (C) bisweilen ungeduldig, aber bis zur letzten Minute – ich denke, über alle Parteigrenzen hinweg – fair und kon- Ich bin enttäuscht, dass mir das Wort im Munde ver- struktiv gearbeitet hat. Auch bei ihm möchte ich mich dreht wurde. Mit keinem Wort habe ich die Renterinnen herzlich bedanken. und Rentner in Ostdeutschland kritisiert. Sie haben Rechte wahrgenommen, was sie – das ist völlig klar – Vielen Dank. auch dürfen. Aber hier gibt es eine Entwicklung, die nie- mand so gewollt hat und die dazu führt – hier würde ich (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ mich an Ihrer Stelle einmal kundig machen –, dass wir DIE GRÜNEN) mittlerweile ausschließlich Klagen von Leuten, zum Bei- spiel Technikern, haben, die nicht im öffentlichen Be- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: reich, sondern in privaten Bereichen gearbeitet haben. Sie sagen, sie hätten zwar nie eingezahlt, hätten es aber Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort der getan, wenn das System sie damals gelassen hätte; da Kollegin Dr. Gesine Lötzsch. das System sie daran gehindert habe, sei es nicht ihre Schuld, weswegen sie erwarteten, dass sie jetzt so be- handelt würden, als hätten sie damals eingezahlt. Dieser Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos): Entwicklung gilt es gegenzusteuern. Vielen Dank, Herr Präsident. – Frau Kollegin Als unangemessen empfinde ich den Angriff auf die Lehn, ich bin doch arg befremdet darüber, dass Sie westdeutschen Frauen. Die Tatsache, dass es im Gegen- die Haushaltsdebatte zu einem Angriff auf die Ost- satz zu Westdeutschland, wo Frauen für Familie und rentnerinnen und Ostrentner nutzen. Einmal abgese- Kinder gesorgt haben und in der Regel nicht oder allen- hen davon, dass Ihnen allen bekannt sein dürfte, dass falls auf Teilzeitbasis arbeiten konnten, in Ostdeutsch- der Rentenpunkt Ost noch immer wesentlich niedri- land mehr Krippen und Ganztagsschulen gab, kann man ger ist als der Rentenpunkt West, haben Sie, was die den Frauen im Westen nicht vorwerfen. Eine Diskussion, Zusatzversorgungssysteme betrifft, schlicht die Un- die an dieser Stelle die Menschen in gute und böse, ar- wahrheit gesprochen. beitende und nicht arbeitende, profitierende und nicht (Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Das müssen profitierende unterteilt, empfinde ich als äußerst un- Sie als PDS sagen mit Ihrem Verhältnis zur glücklich; wir sollten alle miteinander die Finger von ihr Wahrheit!) lassen. Wenn aber Systeme dazu führen, dass zusätzliche Ansprüche, die unberechtigterweise geltend gemacht (B) Sie wissen, dass das bei Abschluss des Einigungsvertra- werden, auch befriedigt werden müssen, dann muss man (D) ges – ich sage es ganz neutral – übersehen wurde und die sich die Frage stellen, ob dies Gerechtigkeit für alle be- rechtlichen Konsequenzen nicht beachtet wurden. Vor deutet. Kommt man dann zu dem Ergebnis, dass dies allen Dingen finde ich es nicht fair und nicht redlich, zu nicht Gerechtigkeit für alle bedeutet, muss man die ent- behaupten, die Bürgerinnen und Bürger, die jetzt auf der sprechenden Konsequenzen daraus ziehen. Grundlage eines Urteils des Verfassungsgerichts ihre Rente erstreiten, hätten in diese Systeme nicht einge- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: zahlt. Das stimmt einfach nicht. Sie können die verschie- denen Berufssparten durchgehen und sich zum Beispiel Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Dieter Thomae von die Lehrerinnen und Lehrer oder Eisenbahnerinnen und der FDP-Fraktion. Eisenbahner anschauen; von ihnen ist sehr wohl einge- zahlt worden. Dr. Dieter Thomae (FDP): Abschließend weise ich Sie darauf hin, dass immer Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- gern versucht wird, die Durchschnittsrenten in Ost und ren! Der Bundeskanzler hat am Freitag festgelegt, dass West miteinander zu vergleichen. Insbesondere wird im- der Gesundheitsbereich einer der entscheidenden Punkte mer betont, dass ein Rentnerehepaar im Osten angeblich im Reformkonzept der rot-grünen Regierung sei. Das ist eine höhere Rente als ein Rentnerehepaar im Westen be- gut so. Ich bin froh, dass er erkannt hat, dass die bishe- ziehe. Dabei wird aber häufig außer Acht gelassen, dass rige rot-grüne Gesundheitspolitik gescheitert ist. die Frauen im Osten ein langes und sehr intensives Be- rufsleben hatten. Ich bin also arg befremdet und von Ih- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten nen, Frau Kollegin Lehn, auch enttäuscht, dass Sie nach der CDU/CSU) 13 Jahren staatlicher Vereinigung derart wenig Realitäts- Rot-Grün scheint festgestellt zu haben, dass mit Budge- kenntnis besitzen. tierung ein modernes Gesundheitswesen nicht zu organi- Schönen Dank. sieren ist. (Beifall der Abg. Petra Pau [fraktionslos]) Der Kanzler hat Konzepte auf den Tisch gelegt, die mir sehr bekannt vorgekommen sind. Ich glaubte, Rot- Grün lege Konzepte auf den Tisch, die die Liberalen seit Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: zehn Jahren propagieren. Frau Kollegin Lehn, zur Erwiderung. (Beifall des Abg. Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]) 2766 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. März 2003

Dr. Dieter Thomae (A) Sie haben sehr deutlich gesagt, es gebe keine Alternative Wir haben nie das Wort „Niederlande“ in den Mund ge- (C) dazu, den Mut aufzubringen, über das Leistungspaket zu nommen. Der Erhalt der Freiberuflichkeit ist also wich- reden. Ich war schon erstaunt, dass der Kanzler hier das tig. Krankengeld genannt hat; das war ein mutiger Schritt. Noch mehr, meine Damen und Herren, haben mich die Sie glauben, dass Sie das Gesundheitswesen über Ein- Ausführungen des Bundeskanzlers erstaunt, Selbstbetei- zelverträge organisieren könnten. Wenn Sie die Wün- ligung und Selbstbehalt einzuführen. Zum ersten Mal sche der Patienten berücksichtigen wollen, gibt es im habe ich von der SPD-Seite gehört, dass die Selbstbetei- Grunde nur eine Möglichkeit: Sie müssen die Kosten- ligung steuernde Wirkung hat. erstattung einführen; denn dann steht der Patient im Mittelpunkt und kann entscheiden, welche Leistung er (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten zu welchen Preisen und zu welchen Bedingungen in An- der CDU/CSU – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: spruch nimmt. Das ist der entscheidende Punkt. Späte Einsicht!) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Für diese Einsicht habe ich viele Jahre gekämpft. Ich der CDU/CSU) hoffe, dass sich diese Einsicht bei der SPD insgesamt durchsetzt, damit eine vernünftige Reform auf den Weg Dazu gehören natürlich auch vernünftige Honorare. gebracht wird. Im Krankenhaus haben wir das mit den DRGs ge- schafft. (Vorsitz: Vizepräsident Dr. Norbert Lammert) (Horst Schmidbauer [Nürnberg] [SPD]: Ihr?) Angesichts der ökonomischen Situation in der Bun- desrepublik Deutschland, insbesondere der hohen Ar- – Ja, die Bundesländer, in denen wir vertreten waren, ha- beitslosigkeit – wir alle wissen, es sind nicht 4,7 Millio- ben mitgemacht. Die FDP hat im Bundesrat dafür ge- nen Arbeitslose, denn wenn man auch die Personen hin- stimmt. zurechnet, die sich in Fort- und Weiterbildungsmaßnah- men befinden, ist man ganz schnell bei 7 Millionen –, (Zurufe von der SPD) müssen Regierung und Opposition versuchen, ein Kon- zept auf den Weg zu bringen. – Dann müssen Sie das beobachten. (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Ein sinnvol- Neben den DRGs brauchen wir feste Preise in der am- les!) bulanten ärztlichen Versorgung. Wir haben nicht um- sonst große Probleme, genügend Nachwuchs für den Dabei aber muss natürlich auch das berücksichtigt wer- ambulanten Bereich zu finden. Viele wissen das, weil sie (B) den, für das wir schon viele Jahre eintreten: die Situation in den neuen Bundesländern kennen. Aber (D) auch die Situation in den alten Bundesländern ist nicht Die Liberalen sind der Auffassung, dass die Freibe- viel besser. Die jungen Mediziner gehen aus Deutsch- ruflichkeit eines der tragenden Elemente im Gesund- land weg, vor allem – es geht nicht nur um die Ethik – heitswesen ist. weil ihre finanzielle Situation nicht vernünftig organi- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten siert ist. Das ist versäumt worden. der CDU/CSU) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Die Freiberuflichkeit muss gesichert werden. In den der CDU/CSU) Staaten, in denen die Freiberuflichkeit angegriffen oder Neben dieser Freiberuflichkeit, der Kostenerstattung beseitigt worden ist, ist das Gesundheitswesen erheblich und der Selbstbeteiligung nenne ich einen letzten wichti- teurer geworden und sind Wartezeiten und Altersgrenzen gen Punkt: Wir müssen die Härtefallregelung neu defi- die Konsequenz. nieren. Diejenigen, die die Härtefallregelung in An- Schauen Sie sich einmal die Niederlande an, die von spruch nehmen, müssen all ihre Einkommen offen legen. SPD und Grünen lange Zeit begeistert beobachtet wor- Erst dann haben wir eine vernünftige Härtefallregelung. den sind! Sie stellen fest, dass heute viele niederländi- Eine Quote von 50 Prozent bei der Inanspruchnahme der sche Patienten über die Grenze nach Deutschland kom- Härtefallregelung kann nicht der Wahrheit entsprechen. men, und zwar sowohl zur ambulanten als auch zur Bei Offenlegung aller Einkommensarten werden nur stationären Versorgung, weil es in ihrem Land nennens- 15 Prozent unter eine Härtefallregelung fallen. werte Wartezeiten gibt. Die Niederlande können für uns Wenn wir die von mir angesprochenen Punkte be- kein Beispiel sein. rücksichtigen, haben wir die Voraussetzungen geschaf- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten fen, um ein freiheitliches System zu organisieren: ohne der CDU/CSU – Walter Schöler [SPD]: Aber Planwirtschaft, ohne Dirigismus und ohne Budgetierung. es war immer Ihr Musterland!) Das wollen die Liberalen. Dann stehen wir gern zu Ge- sprächen bereit. – Wir haben das nie gesagt. Sie haben doch keine Ah- nung, hören Sie doch auf! Herzlichen Dank. (Walter Schöler [SPD]: Ihre alte Platte, Herr (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Thomae, hat einen Sprung!) der CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. März 2003 2767

(A) Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: hat den Apothekern versprochen, dafür einzutreten, dass (C) das Beitragssatzsicherungsgesetz aufgehoben wird. Ich erteile das Wort der Abgeordneten Birgitt Bender, Bündnis 90/Die Grünen. (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Richtig!) Auf meine ausdrückliche Nachfrage hin hat er gesagt, er Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): meine nicht nur die Apotheker, Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit mei- (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Auch die nem Vorredner stimme ich überein – bis zum Ende sei- Apothekerinnen!) nes ersten Halbsatzes. sondern alle, die durch das Beitragssatzsicherungsgesetz (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN betroffen sind. Das würde bedeuten, dass der Einspar- und bei der SPD) effekt von 2,8 Milliarden Euro verloren ginge. Es ist wahr: Der Gesundheitsbereich ist eines der ent- (Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]: Wo ist scheidenden innenpolitischen Reformfelder. Das hat denn der Einspareffekt?) auch der Kanzler am Freitag festgestellt. Bis dahin be- Rechnen Sie mit, Herr Kollege Storm: Dadurch würde steht also Einigkeit. sich eine Erhöhung um 0,28 Prozentpunkte ergeben, die Doch dann hören die Gemeinsamkeiten leider schon auf den Beitragssatz aufgeschlagen werden müssten. auf, Herr Dr. Thomae. Sie wollen mehr Geld für die Wie Sie auf diese Weise jemals einen Beitragssatz von Ärzte und wollen dieses Geld von den Patienten neh- 13 Prozent und weniger erreichen wollen, ist mir voll- men. Bereits mit diesen wenigen Worten ist Ihr gesund- kommen schleierhaft. heitspolitisches Konzept umschrieben. Ich kann Ihnen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN nur sagen: Das ist nicht unser Weg. und bei der SPD) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Heute Morgen hat Herr Seehofer wieder das Thema sowie bei Abgeordneten der SPD) Zahnersatz angesprochen. Bei dem Thema sind Sie sich Wir wissen, dass ein grundlegender Umbau des Hauses auch untereinander nicht einig. Erst habe ich gelesen, Sie der Gesundheitsversorgung ansteht. Wir arbeiten an den wollten Zahnbehandlung als Ganzes herausnehmen. Bauplänen. Dann haben Sie aus sozialen Aspekten Bauchschmerzen bekommen und davon Abstand genommen. Eine He- Sehen Sie es mir nach, dass ich mich nun mit den Vor- rausnahme des Zahnersatzes aus dem Katalog – ich schlägen der größeren Oppositionspartei auseinander möchte nicht näher darauf eingehen, was dafür oder was (B) (D) setze. Denn letztendlich brauchen wir die CDU/CSU für dagegen spricht – würde eine Senkung um 0,4 Beitrags- ein gemeinsames Konzept; das wissen wir. satzpunkte bringen. Das entspricht dem, wie Sie den (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Die FDP auch! – Lobbyisten an Mehrausgaben versprochen haben. Da- Dr. Dieter Thomae [FDP]: Ohne Bundesrat läuft durch erreichen Sie also nichts, außer dass Sie den Leis- gar nichts! Ich sage nur: Fünf Regierungen!) tungskatalog ausdünnen. Auf der Suche nach Ihren Zielen habe ich im Beschluss (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN des Fraktionsvorstandes CDU/CSU-Bundestagsfraktion und bei der SPD – Andreas Storm [CDU/ gelesen, man wolle erreichen, dass die Beiträge auf CSU]: Ihr habt nichts verstanden! – Dr. Dieter 13 Prozent gesenkt werden. Das finde ich prima. Thomae [FDP]: Erzählen Sie, was Sie wollen!) (Andreas Storm [CDU/CSU]: Sehr richtig! Ich sage Ihnen, meine Damen und Herren von der Op- Das will der Kanzler auch!) position: Das ist kein Konzept. Der Kanzler hat sogar von einer Senkung auf unter (Dr. Dieter Thomae [FDP]: Was ist denn Ih- 13 Prozent gesprochen. res?) Nun schaue ich mir Ihre Maßnahmen hierzu an, Herr Wir brauchen richtige Reformen. Diese gehen wir an. Kollege Storm. Gestern Abend, als wir zusammen bei Wir werden den Leistungserbringern mehr zumuten, ih- Vertretern der Krankenhäuser waren, haben Sie das nen aber auch Chancen bieten. Füllhorn ausgepackt: Sie haben den Krankenhäusern zu- Ich will von Ihnen wissen: Machen Sie mit, wenn wir gestanden, dass sie mehr Stellen brauchen, ihnen in einem solidarischen Rahmen mehr Wettbewerb orga- 1,7 Milliarden Euro versprochen und gesagt, den Bei- nisieren? Machen Sie mit bei der Umstellung des Hono- tragssatzeffekt würden Sie in Kauf nehmen. Dieser rierungssystems für die ambulant tätigen Ärzte? würde – Herr Kollege Storm, rechnen Sie bitte mit – 0,17 Beitragssatzpunkte zusätzlich ausmachen. (Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]: Wohin umstellen?) (Andreas Storm [CDU/CSU]: Was wollen Sie mit den Krankenhäusern denn machen? Sie Machen Sie mit beim Hausarztmodell? Machen Sie mit ignorieren?) bei der besseren Vernetzung zwischen ambulanter und stationärer Behandlung? Machen Sie mit beim Ausbau Das ist aber noch nicht alles. Eben war ich mit Herrn der integrativen Versorgung? Machen Sie mit, um mehr Seehofer bei Vertretern der Apotheker. Herr Seehofer Rationalität bei der Arzneimittelverordnung zu erreichen? 2768 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. März 2003

Birgitt Bender (A) Machen Sie mit bei Deregulierung des Arzneimittelhan- (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Das haben Sie (C) dels? Machen Sie mit, um mehr Vertragsfreiheit für Kas- wieder rückgängig gemacht!) sen und Leistungserbringer zu erreichen und damit den Patienten mehr Wahlmöglichkeiten zu eröffnen? Der Sachverständigenrat hat dies jüngst noch einmal zum Thema gemacht und eine entsprechende Empfeh- (Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]: lung abgegeben. Das würde übrigens 0,4 Beitragssatz- Schöne Überschriften!) punkte bringen. Ich will wissen, ob Sie bei diesen Reformen dabei sind Man müsste sich auch die Familienmitversicherung oder ob es Ihnen nur um die Themen Zahnersatz und Zu- genauer anschauen; denn es ist zu fragen, warum Frauen, zahlung geht. die keine Kinder erziehen oder Angehörige pflegen, durch die Gemeinschaft der Beitragszahlenden subventi- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN oniert werden sollen. Der Sachverständigenrat hat dazu sowie bei Abgeordneten der SPD) ein Splittingverfahren vorgeschlagen. Das würde die Ich will wissen: Machen Sie sich zum Sprachrohr aller Besserverdienenden in einer Alleinverdienerehe stärker Lobbyisten, die immer nur auf die jeweils anderen zei- belasten, die anderen aber nicht. Dieses Modell halten gen und in der Summe alles so lassen wollen, wie es ist? wir für äußerst diskussionswürdig. Es würde laut Sach- verständigenrat übrigens 0,7 bis 0,9 Beitragssatzpunkte (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Wir wollen bringen. Auch hier will ich wissen, ob Sie dabei wären. wissen, was Sie wollen!) (Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]: Sie Oder stellen Sie sich, wie es notwendig wäre, einer wirk- wollen die Menschen im Nachhinein für ihre lichen Strukturreform? Lebensentscheidung bestrafen!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Meine Damen und Herren, auch das will ich deutlich sa- und bei der SPD) gen: Um das Ziel, auf unter 13 Prozent zu kommen, zu er- Auch wir wissen, dass die gesetzliche Krankenkasse reichen, wird ein Paket auch Zumutungen für Versicherte in der Tat ein Einnahmeproblem hat. enthalten. Es wird mehr Zuzahlungen geben. Ich bin aber dagegen, dies als vorgebliches Allheilmittel anzupreisen (Dr. Dieter Thomae [FDP]: Sie ist pleite!) und sich damit vor den Strukturreformen zu drücken. Dem werden wir uns stellen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Das müsst ihr sowie bei Abgeordneten der SPD – Wolfgang euch auch hier!) Zöller [CDU/CSU]: Wer will das? – Dietrich (B) Austermann [CDU/CSU]: Nur heiße Luft!) (D) Uns geht es darum, den Faktor Arbeit zu entlasten. Es kann nicht dabei bleiben, dass wir die soziale Sicherung Der Kanzler hat es angesprochen: Es gibt auch die in der Gesundheitsversorgung allein über die Lohnein- Überlegung, einzelne Bereiche auszusteuern. Der Aus- kommen finanzieren und damit den Faktor Arbeit ver- steuerung von Unfällen hat er – das finde ich richtig – teuern. aber ausdrücklich eine Absage erteilt; denn letztlich hätte die Botschaft gelautet: Leute, hockt vor dem Fern- Die Perspektive der Grünen dazu heißt Bürgerversi- seher und esst Erdnüsse; denn wenn ihr Sport treibt, cherung. Wir wollen alle versichern, und zwar unabhän- kann euch etwas passieren. – So kann Gesundheitsförde- gig von ihrem Erwerbstätigenstatus und ihrem Einkom- rung eben nicht aussehen. Wir wollen, dass sich die men. Das wäre die Art von Versorgung, die die größte Leute bewegen, weil Bewegungsmangel eine der we- Gerechtigkeit beinhalten würde. Wir wissen aber auch, sentlichen Ursachen unserer Volkskrankheiten ist. dass dies keine kurzfristige Perspektive ist. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie Deswegen reden wir jetzt zum Beispiel – der Kanzler bei Abgeordneten der SPD – Annette Widmann- hat es angesprochen – über versicherungsfremde Leis- Mauz [CDU/CSU]: Das war der erste richtige Satz!) tungen. Diese werden wir uns genau anschauen. Wir se- hen dort Möglichkeiten des Einsparens, etwa beim Ster- Das Krankengeld ist von Gesundheitsvorsorgeleistun- begeld. gen klar abgrenzbar, weil es sich um eine Geldleistung handelt. Nur noch 39 Prozent der Versicherten haben (Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]: Ein überhaupt einen solchen Anspruch. Auch daran kann bisschen wenig!) man erkennen, wie sich die gesetzliche Krankenversi- cherung verändert hat. Es ist kein Vergnügen, diese Leis- Leistungen wie das Mutterschaftsgeld oder die Beitrags- tung zu streichen, im Interesse der Entlastung des Fak- freiheit in der Elternzeit wollen wir aber nicht abschaf- tors Arbeit treten wir dem aber näher. fen, sondern steuerfinanzieren. Kurz und gut: Wir brauchen ein Gesamtkonzept, das Ein weiterer Vorschlag der Grünen auf der Einnah- die Gesundheitsversorgung verbessert und den Faktor meseite lautet, dass auch Vermögenseinkünfte verbei- Arbeit entlastet. Ich will wissen, was die Opposition tragt werden; denn es ist nun einmal eine Gerechtigkeits- dazu beizutragen hat. lücke, wenn nur die Einkommen aus abhängiger Arbeit für die Finanzierung der gesetzlichen Krankenversiche- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN rung herangezogen werden. sowie bei Abgeordneten der SPD – Dietrich Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. März 2003 2769

Birgitt Bender (A) Austermann [CDU/CSU]: Aber selbst nichts (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (C) vorschlagen!) Die Rentenversicherungsträger haben darauf hinge- wiesen: Aus heutiger Sicht droht im nächsten Jahr ein Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Beitragssatzanstieg auf 19,9 Prozent. Aber das ist keine Nächster Redner in der Debatte ist der Kollege pessimistische, eher eine optimistische Sicht der Dinge. Andreas Storm, CDU/CSU-Fraktion. Wenn infolge der Irakkrise oder etwa einer weiteren Ver- schlechterung der Arbeitsmarktlage die Beitragseinnah- (Beifall bei der CDU/CSU) men noch stärker einbrächen, als das in den ersten bei- den Monaten dieses Jahres der Fall war, dann droht im Andreas Storm (CDU/CSU): nächsten Jahr sogar die Überschreitung der 20-Prozent- Marke. Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir alle haben noch die Rede des Bundeskanzlers vom vergange- Angesichts der massiven Warnungen der Rentenversi- nen Freitag im Ohr. Wie ein roter Faden zog sich die cherungsträger ist es unverantwortlich, dass sich der Forderung, die Lohnnebenkosten zu senken, durch die Bundeskanzler des größten Sozialversicherungssystems sozialpolitischen Teile der Rede. nur am Rande angenommen hat. Aber immerhin hat er eingestanden, dass die angebliche Jahrhundertreform der Umso verwunderlicher ist es, dass Sie die Hauptfor- Rente von Walter Riester nach 18 Monaten kläglich ge- derung in diesem Bereich, nämlich das Absenken der scheitert ist. Er hat dazu Folgendes erklärt: Wir waren Sozialabgaben unter die 40-Prozent-Grenze, sang- und bei den Annahmen in Bezug auf die Arbeitsmarktent- klanglos beerdigt haben. wicklung zu optimistisch und in Bezug auf die demogra- (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. phische Entwicklung zu pessimistisch. Deswegen brau- Dr. Dieter Thomae [FDP]) chen wir eine neue Rentenformel. Das war kein Zufall, sondern die logische Konsequenz. (Dr. Dieter Thomae [FDP]: Das hat er gesagt!) Wenn man nämlich unter all diese Maßnahmen einen Das ist nichts anderes als das Eingeständnis, dass die Strich zieht, dann wird deutlich: Von einer Absenkung Rentenreform, die Sie noch im vergangenen Jahr mit der Sozialabgaben sind wir trotz der Kanzlervorschläge Stolz verteidigt haben, kläglich gescheitert ist. meilenweit entfernt. Wenn alle Maßnahmen für das Ge- sundheitswesen, die der Kanzler am Freitag genannt hat, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) realisiert würden, dann würden wir im nächsten Jahr Man muss sich einmal überlegen, was das Herzstück der trotz allem nur mit Mühe unter die 14-Prozent-Marke riesterschen Rentenreform war. (B) kommen; denn der Beitragsdruck bei den Kranken- (D) kassen ist im Moment so hoch, dass der Löwenanteil der Für die gesetzliche Rente galten insbesondere zwei geplanten Einsparungen ausschließlich dafür verwendet Kernelemente. Die erste Aussage war: Wir haben die Bei- werden muss, um ein weiteres Drehen an der Beitrags- tragsentwicklung im Griff. In diesem Jahrzehnt werden satzspirale im nächsten Jahr zu verhindern. die Beiträge unter 19 Prozent liegen. Bis zum Jahr 2020 werden sie nicht über die 20-Prozent-Marke steigen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Auch langfristig, bis zum Jahr 2030, werden sie nicht Dr. Dieter Thomae [FDP]: In diesem Jahr!) mehr als 22 Prozent betragen. – Heute müssen Sie einge- Von dem Ziel eines Beitragssatzes von 13 Prozent blei- stehen: Diese Beitragsziele sind für den gesamten Zeit- ben wir meilenweit entfernt. raum nicht mehr erreichbar. In einem Interview mit der „Welt“ hat Ihr großer Sozialexperte Professor Bert Rürup Es kommt aber noch viel schlimmer. Während bei den bestätigt: Die Beitragsziele sind nicht mehr zu schaffen. gesetzlichen Krankenkassen eine Trendwende zumindest Die 20-Prozent-Marke würde ohne Reformen wahr- in Reichweite ist, sieht es bei der Rentenversicherung scheinlich im nächsten Jahr erreicht oder überschritten. wirklich desaströs aus. Das zweite Kernelement bei der Reform der gesetz- (Dr. Dieter Thomae [FDP]: Was heißt das?) lichen Rentenversicherung war Ihr Versprechen im Hin- blick auf das Leistungsniveau: Das so genannte Netto- Der Bundeskanzler hat zur aktuellen Finanzlage der rentenniveau darf nicht unter 67 Prozent sinken. Rentenkassen am Freitag kein Wort verloren. Einen Tag vorher, am letzten Donnerstag, hat die Bundesversiche- Bei den Verhandlungen über eine Rentenreform – bei rungsanstalt für Angestellte deutlich gemacht, dass nach denen seinerzeit kein Konsens erzielt werden konnte – ihrem Kenntnisstand im nächsten Jahr die Beiträge für haben wir immer wieder darauf hingewiesen, dass es die gesetzliche Rentenversicherung auf 19,9 Prozent an- grob fahrlässig ist, eine Neuordnung der Rentenfinanzen gehoben werden müssen. Dies würde heißen: Das, was vorzunehmen, ohne das wichtige Thema der Neurege- den Menschen auf der einen Seite durch eine Absenkung lung der steuerlichen Behandlung der Altersversorgung der Krankenkassenbeiträge im Rahmen einer großen Ge- anzugehen. sundheitsreform gegeben würde, wird auf der anderen (Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]: Seite bei den Renten wieder abkassiert. Bei einer solch Richtig!) dilettantischen Herangehensweise ist es klar, dass von dieser Rede am Freitag keine positive Signalwirkung Nun haben Sie das Dilemma. Ich finde übrigens, dass es ausgehen konnte. inakzeptabel ist, dass der Kanzler das Thema Neuordnung 2770 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. März 2003

Andreas Storm (A) der Rentenbesteuerung am Freitag nicht erwähnt hat, ob- vorlegen: Wie ist im kommenden Jahr die Situation bei (C) wohl die Vorschläge, die die Rürup-Kommission am Be- den Rentenfinanzen? Von welchen Annahmen gehen Sie ginn dieser Woche vorgelegt hat, bereits überall bekannt bezüglich der langfristigen Entwicklung der Rentenver- waren. Denn die geplante Neuregelung der Rentenbesteu- sicherung aus? erung, der Übergang zu einer so genannten nachgelager- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und ten Besteuerung, über den ja im Grundsatz Konsens be- der FDP) steht, betrifft das Nettorentenniveau in zweierlei Weise. Frau Ministerin, wir sind bereit, mit Ihnen über die Zum einen wird das Nettoeinkommen der jungen Ge- Probleme der Rentenversicherung und auch über eine neration durch die kommende Freistellung der Renten- neue Rentenformel zu sprechen, aber nur dann, wenn die versicherungsbeiträge höher ausfallen. Schon von daher Themen „Neuregelung der steuerlichen Behandlung der sinkt rein rechnerisch das Rentenniveau. Zum anderen Alterseinkünfte“ und „neue Rentenformel“ gemeinsam werden in Zukunft die Renten besteuert. Auch das hat angegangen werden. Denn eines ist klar: Wenn die Ren- natürlich Auswirkungen auf das Rentenniveau. ten Zug um Zug voll in die Besteuerung fallen und eine Meine Damen und Herren, bei der Vorlage des Rürup- neue Rentenformel gilt – im Klartext: dies bedeutet ja Berichts wurde zweierlei deutlich. Zum einen werden, nicht, dass die Rentenerhöhungen größer, sondern dass wenn die Vorschläge zur Besteuerung umgesetzt werden, sie kleiner werden –, dann wird auch das Leistungs- bereits im Jahr 2005 etwa 4 Millionen Rentnerhaushalte niveau der Renten für die heute mittlere und die jüngere betroffen sein, nämlich diejenigen Rentnerhaushalte, die Generation sinken. auch über andere Einkunftsarten verfügen. Zum anderen Deshalb muss man wissen, wo die Grenze für ein ak- werden auch diejenigen Jahrgänge, die ab dem Jahre zeptables Niveau der Rente ist, sodass man mit gutem 2014 in den Ruhestand gehen und eine Standardrente – Gewissen sagen kann, dass man eine angemessene Ge- also die berühmte Eckrente, die im Moment bei gut genleistung für die eingezahlten Beiträge bekommt. 1 000 Euro liegt – bekommen, voll von der Rentenbe- Denn eines werden wir nicht mitmachen: eine Demon- steuerung erfasst, selbst dann, wenn sie keine zusätz- tage der gesetzlichen Rentenversicherung auf Raten. Es lichen Einkommen haben. muss rasch Klarheit geschaffen werden. Jetzt muss man einmal überlegen, um welche Alters- (Beifall bei der CDU/CSU) jahrgänge es sich handelt. Wer im Jahre 2014 in Rente geht, der ist heute Anfang 50. Das heißt, dies ist ein Lassen Sie mich noch einen letzten Punkt ansprechen. Thema, das nicht nur die ganz Jungen, sondern auch bzw. Der Bundeskanzler hat stolz verkündet, die Riester- vor allen Dingen die mittleren Jahrgänge betrifft. Deswe- Rente sei ein großer Erfolg und ein Einstieg in die kapi- (B) gen besteht bei der Umsetzung der Reform auf den steuer- talgedeckte Vorsorge. In Wirklichkeit ist die Riester- (D) lichen Bereich noch erheblicher Diskussionsbedarf. Rente einer der größten Flops aus der ersten Amtszeit von Gerhard Schröder. Er sagt selber, dass nur etwa Meine Damen und Herren, es kann nicht sein, dass 15 Prozent der Anspruchsberechtigten bislang entweder Sie, wie es das Ministerium noch in der letzten Woche einen privaten oder betrieblichen Riester-Vertrag abge- getan hat, die Warnungen der Rentenversicherungs- schlossen hätten. Das bedeutet nichts anderes, als dass träger ignorieren und erklären: Wir warten bis Novem- die große Mehrheit der Menschen in diesem Lande noch ber dieses Jahres, um absehen zu können, wie hoch der nicht ergänzend vorsorgt. Beitrag im nächsten Jahr wird. Insofern ist es völlig inakzeptabel, dass bei der Vor- (Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]: Das ist lage des Berichts der Rürup-Kommission am letzten unverantwortlich!) Montag vorgeschlagen wurde, in Zukunft sollten die tra- Dann wäre das Kind nämlich in den Brunnen gefallen. ditionellen Vorsorgeformen wie etwa Lebensversiche- Dann könnten Sie nicht mehr handeln. Denn Sie können rungen nicht mehr steuerlich begünstigt werden. Wenn nicht, wie Sie das in den letzten beiden Jahren getan ha- Sie ausschließlich Riester-Produkte begünstigen wollen, ben, noch einmal in die Rücklagen der Rentenkassen grei- die die Menschen aus guten Gründen bislang nicht an- fen. Da ist nichts mehr drin. Das werden wir schon in die- nehmen, aber die weit verbreiteten traditionellen Vorsor- sem Sommer merken. Auch können Sie nicht noch einmal geformen in Zukunft diskriminieren, dann wird das Er- die Beitragsbemessungsgrenze für die Rentenkassen an- gebnis sein, dass die ergänzende Vorsorge bei der jungen heben. Hoffentlich wird Ihnen Ihr grüner Koalitionspart- Generation noch weniger verbreitet ist als bei der jetzi- ner hier endlich einen Strich durch die Rechnung machen. gen Rentnergeneration. Denn ein solches Vorgehen würde zu massiven Zusatzlas- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) ten für die künftige Generation führen. Deswegen muss eine große Rentenreform auch be- (Waltraud Lehn [SPD]: Sie schüren ja schon inhalten, dass wir von der untauglichen Riester-Rente wieder neue Ängste!) (Zuruf von der SPD: Was ist daran schlecht?) Das heißt, meine Damen und Herren, dass wir rasch hin zu einer Förderrente wechseln, die attraktiv ist und Klarheit über die tatsächliche Lage der Rentenfinanzen von den Menschen angenommen wird, weil sie wissen, brauchen. Ich nehme die Ankündigung des Kanzlers dass sie ihnen etwas bringt. vom Freitag ernst, dass Sie uns noch vor der Sommer- pause reinen Wein einschenken und eine klare Bilanz (Beifall bei der CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. März 2003 2771

Andreas Storm (A) Wir sind zu einer gemeinsamen Rentenreform bereit, aber trieben. Daran kranken unsere Systeme heute noch. Hät- (C) Sie müssen in Vorlage treten und bitte schön noch bis zur ten Sie die damals wirtschafts- und arbeitsmarktpolitisch Sommerpause deutlich machen, wie Sie sowohl die ge- gebotene Entscheidung anders getroffen, dann wäre der setzliche Rentenversicherung als auch die ergänzende pri- finanzielle Druck auf unsere Sozialsysteme, mit dem wir vate Vorsorge in Zukunft neu ordnen wollen. Der jetzige uns heute befassen müssen, wesentlich geringer. Statt- Weg führt in der Rentenversicherung an die Wand. dessen haben Sie nur die Vision der blühenden Land- schaften kultiviert und sich daran berauscht. Der Rausch (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) aber ist verflogen. Wir sind jetzt dabei, die Sozialsys- teme zu ordnen, zu stabilisieren und zukunftsfest zu ma- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: chen. Das Wort hat Frau Abgeordnete Kühn-Mengel von (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Den Eindruck der SPD-Fraktion. habe ich nicht!) Das machen wir gemeinsam mit der Ministerin. Sie, Helga Kühn-Mengel (SPD): Herr Kollege Thomae, haben doch gegen alles gestimmt, Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und was das Gesundheitswesen transparenter und in der Qua- Kollegen! Ich bin schon sehr erstaunt darüber, was Sie, lität attraktiver gemacht hätte. Herr Kollege Storm, gerade gesagt haben. Ganz deut- (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Wir haben lich: Wir haben die Riester-Reform gemacht und damit Rechnungen eingeführt, die Sie abgeschafft verhindert, dass Rentnerinnen und Rentner in die Sozial- haben!) hilfe abgleiten. Wir haben das Rentensystem durch die Einführung einer kapitalgedeckten Säule stabilisiert. Wenn Sie Nachbarländer wie die Niederlande anfüh- ren, dann sollten Sie zum Beispiel auch erwähnen, dass (Andreas Storm [CDU/CSU]: Das ist doch dort etwa 150 Leitlinien für Patienten und Patientinnen glatter Unsinn!) in eine vernünftige Alltagssprache gebracht wurden. Sie haben dagegen gestimmt. (Dr. Dieter Thomae [FDP]: Deshalb kommen (Andreas Storm [CDU/CSU]: Richtig, weil sie die Patienten auch nach Deutschland!) gescheitert ist!) Genau das wollen wir auch. Wir wollen, dass das von Im Wege der Ökosteuer haben wir dazu beigetragen, das uns geplante Institut für Qualität in der Medizin die Auf- Rentenniveau überhaupt auf einem vernünftigen Niveau gaben wahrnimmt, Leitlinien zu entwickeln, die Qualität (B) zu halten. Dort haben Sie genauso wenig zugestimmt zu verbessern und vor allem Transparenz herzustellen. (D) wie beim Beitragssatzsicherungsgesetz und anderen Ge- Eines ist klar: Wir haben ein teures Gesundheitswe- setzen, die dazu gedient haben, unser System zu stabili- sen. Es ist in vielen Bereichen zu teuer, wenig wirksam sieren. Ohne diese Maßnahmen wären wir in einer viel und erlaubt sich viele Doppelstrukturen. schwierigeren Situation. (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Eine teure Regie- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten rung haben wir!) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vor allem aber ist es zu wenig an den Patienten und Pa- Wir haben die Erfahrung machen müssen, dass eine tientinnen orientiert. Das werden wir in der nächsten Zeit Legislaturperiode zu kurz ist, angehen und eine entsprechende Steuerung vornehmen, (Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]: Wenn um unser Solidarsystem zukunftsfest zu machen. man alles falsch macht!) Wir wollen eine solidarische Finanzierung in der um die Folgen einer über Jahrzehnte verfehlten Gesund- Krankenversicherung, aber dabei ist auch zu berücksich- heits- und Sozialpolitik zu beseitigen. tigen, dass diese Finanzierung zu stark konjunkturabhän- gig ist. Wir haben – darauf weisen wir immer wieder hin (Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Helmut – ein Ausgabenproblem. Kohl muss abgewählt werden!) (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Sie haben ein Sie stricken fortwährend an einer Legende, indem Sie so Einnahmeproblem!) tun, als hätten Sie uns ein intaktes und blühendes Sozial- und Gesundheitswesen überlassen. Dem ist nicht so. In Denken Sie an die gestiegenen Arzneimittelausgaben, Wahrheit leidet unsere Regierung nach wie vor an der die trotz der Vereinbarung der Leistungserbringer in ek- Erblast, die Sie uns hinterlassen haben. Ordnungspo- latante Höhen gestiegen sind und uns große Probleme litisch gesehen hätten zum Beispiel die Steuerzahler und bereiten. Steuerzahlerinnen die vereinigungsbedingten Lasten (Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]: Das schultern müssen, die die Regierung Kohl den Sozialsys- haben Sie doch selber verursacht!) temen aufgebürdet hat. Wir leisten uns Doppelstrukturen und Fachärzte auf ambu- (Peter Dreßen [SPD]: Sehr wahr!) lanter wie auf stationärer Ebene. Wir leisten uns geschlos- Diese eklatanten Fehlentscheidungen haben die sene Sektoren und ein großes Maß an Überversorgung. Zu- Arbeitskosten spürbar und nachhaltig in die Höhe ge- gegebenermaßen gibt es auch eine Unterversorgung. Den 2772 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. März 2003

Helga Kühn-Mengel (A) genauen Umfang der Über-, Unter- und Fehlversorgung Wir werden uns vor dem Hintergrund der demogra- (C) haben die Gutachter auf 1 200 Seiten festgehalten. phischen Entwicklung und der veränderten Struktur der Krankheitsfälle in der Pflegeversicherung den Heraus- (Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]: Das forderungen stellen. neueste Gutachten haben Sie noch nicht gele- sen, scheint mir!) Wir werden die Finanzierungsvorschläge der Rürup- Kommission – diese werden noch in diesem Jahr vorlie- Wir sollten darangehen, die notwendigen Instrumente gen – mit unserer Politik verbinden. zu schaffen, die den Wettbewerb fördern, den Patienten dienen, Transparenz schaffen und vor allem die Qualität Wir werden natürlich auch dem dringenden Reform- verbessern und die sektoralen Systeme aufbrechen. Das bedarf im Sozialhilfebereich nachkommen. Wir werden werden wir in der Strukturreform im Gesundheitswesen das – das ist ganz klar – gemeinsam mit den Gewerk- angehen. schaften, den Kirchen und den Wohlfahrtsverbänden so- wie vor dem Hintergrund des Armuts- und Reichtumsbe- (Beifall bei der SPD) richts machen, den Sie im Übrigen über viele Jahre Wir brauchen diese Strukturreform, um sie mit den hinweg verhindert haben, weil Sie Ihre Umverteilungs- Ergebnissen der Rürup-Kommission zu verbinden. Denn politik verschleiern wollten. es geht nicht an, möglicherweise frisches Geld in ein (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ System fließen zu lassen, das über viele Jahre hinweg In- DIE GRÜNEN) effizienzen aufgebaut hat. So werden wir auch in schwierigen Zeiten die Stränge Richtig ist auch, dass die Krankenversicherungen der Kranken-, der Pflege-, der Renten- und der Unfall- nicht allein an die Löhne gebunden und damit konjunk- versicherung sowie der Sozialhilfe zusammenbinden. turabhängig werden dürfen. Deswegen sollten wir in der Ich denke, dass nur die deutsche Sozialdemokratie in der nächsten Zeit gemeinsam prüfen, ob wir die Einnahme- Lage ist, all diese großen Aufgaben gerecht zu erledigen. basis verbreitern und andere Einnahmen zur Finanzie- rung der Krankenversicherung heranziehen können. Es (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten wird auch über die versicherungsfremden Leistungen zu des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) reden sein. Das Mutterschaftsgeld zum Beispiel ist eine familienpolitisch und gesellschaftspolitisch gewollte Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Größe und muss steuerlich finanziert werden. Das ist ganz selbstverständlich. Das Wort hat nun der Kollege Otto Fricke, FDP-Frak- tion. Genauso wichtig ist es, dass wir gemeinsam mit allen (B) (D) Akteuren im Gesundheitsbereich nach Reserven suchen, Otto Fricke (FDP): die sich noch im System verbergen und die wir aus- schöpfen können. Das ist uns Politikern nur gemeinsam Werter Präsident! Meine Damen und Herren! Herr mit den Akteuren im Gesundheitswesen und den Patien- Luther hat das schöne Beispiel mit dem Haushalt, der auf ten und Patientinnen möglich. Dabei erwarten wir auch Kante genäht ist, erwähnt. Noch besser ist es, wenn man Ihre Mitarbeit, liebe Kolleginnen und Kollegen von der im Zusammenhang mit dem Einzelplan 15 sagt – ich Opposition. weiß, dass die Ministerin das kann –, dass in diesem Haushalt sehr viele Luftmaschen gehäkelt sind. Lassen Ich höre nicht auf, zu betonen, dass wir im Prinzip Sie mich als drittem Haushälter in dieser Runde ein paar über eine gute medizinische Infrastruktur und ein funk- Anmerkungen dazu machen, warum man davon spre- tionstüchtiges System verfügen. Wir müssen aber gleich- chen kann, dass hier Luftmaschen gehäkelt worden sind. zeitig daran arbeiten, dass dieses System durchsichtiger Ich will versuchen – auch wenn manches schon erwähnt und durchlässiger wird und zur Förderung des Wett- worden ist, aber noch nicht von jedem –, das kurz an ein- bewerbs beiträgt. zelnen Punkten darzustellen. Wir werden aber auch gemeinsam mit der Ministerin Wir haben uns im Haushaltsausschuss – das ist für an den anderen Säulen der Sozialpolitik zu arbeiten ha- mich, der in diesem Bereich neu ist, bemerkenswert ge- ben. Gesundheits- und Sozialpolitik sind nicht ein bloßes wesen – regelmäßig mit der Schwankungsreserve und Anhängsel der Wirtschaftspolitik. Vielmehr sind sie ein ihren illiquiden Mitteln auseinander gesetzt, obwohl wir wesentlicher Teil des Kitts, der unsere Gesellschaft zu- das auch schon in den letzten Legislaturperioden getan sammenhält. Deshalb will ich noch kurz etwas zur Pfle- haben. Aufgrund dessen, was ich nun auch durch die Be- geversicherung und zur Sozial- und Arbeitslosenhilfe richte des Bundesrechnungshofs verstanden habe, bin ausführen. ich mir ziemlich sicher – ich werde nicht wetten; denn Die Pflegeversicherung hat sich in den acht Jahren das macht ein guter Jurist nicht –, dass wir hier erheb- ihres Bestehens bewährt. Sie ist und bleibt ein integraler liche Schwierigkeiten bekommen werden, und zwar frü- Bestandteil der Sozialversicherung. Vor kurzem ist sie her – das gebe ich gerne zu –, als Sie es hoffen. Auch wegen ihres Defizits im Jahre 2002 ins Gerede gekom- wenn im Haushaltsgesetz die Möglichkeit geschaffen men und eine für ihre Vereinfachungen bekannte Zeitung wird, Zuschüsse frühzeitig auszuzahlen, muss ich fest- hat sie flugs für pleite erklärt. Aber allen Unkenrufen stellen, dass es so viele Risiken für die Rentenversiche- und aller Panikmache zum Trotz wird sie ihre Leistun- rung gibt, dass wir nie und nimmer bis September damit gen auch in Zukunft erbringen. klar kommen werden. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. März 2003 2773

Otto Fricke (A) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD benannt worden sind; das ist keine Richter- (C) der CDU/CSU – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]): schelte –, das verkündet hat: Hier besteht ein Anspruch, Wetten können Sie mit mir!) da besteht ein Anspruch und dort besteht ein Anspruch. Ich kann nicht erkennen, dass die Abgeordneten aus den – Wetten können Sie also mit dem Kollegen Kolb ab- neuen Bundesländern zu einer Änderung des Bestands- schließen; das ist auch in Ordnung. schutzes bereit sind. Wir können den Bestandsschutz in Schuld ist nicht nur die hohe Arbeitslosigkeit. Das ist diesem Punkt nicht ändern. Das heißt, wir müssen auch – hier gebe ich Ihnen Recht – einer der Gründe. Ein wei- auf diesem Gebiet damit rechnen, dass dem Haushalts- terer Grund ist – das wissen auch Sie –, dass in allen Be- ausschuss auch weiterhin Vorlagen zukommen, die es reichen, zum Beispiel beim Weihnachtsgeld sowie beim mit sich bringen, dass aus dem Bundeshaushalt mehr 13. und 14. Monatsgehalt, eingespart wird, und zwar Geld fließen muss. Die dafür notwendigen Entscheidun- nicht nur im öffentlichen Dienst. Ich erwähne nur, dass gen werden wahrscheinlich mit den Stimmen der FDP die Kommunen – theoretisch – erst 2004 das Weih- herbeigeführt; das geht gar nicht anders. nachtsgeld für 2003 auszahlen können. Sie wissen, was Meiner Meinung nach müssen in den Einzelplan 15 das für die Schwankungsreserve bedeutet, die wesentlich schon zwei Leerstellen eingebaut werden. Ich bin ge- auf den auf das Weihnachtsgeld erhobenen Beiträgen be- spannt, ob das bereits im Entwurf für das Haushaltsge- ruht. Ich erinnere auch daran, dass hier in vielen anderen setz 2004, der uns im Sommer dieses Jahres vorgelegt Bereichen, in denen es – zum Glück – keine Tarifver- wird, der Fall sein wird. träge gibt, eingespart wird, um Arbeitsplätze zu erhalten. Die erste Leerstelle betrifft den Steuerzuschuss für Wenn es so kommt, wie ich es befürchte, dann wird das Mutterschaftsgeld; sofern es das überhaupt geben das großes Misstrauen bei den Bürgern hervorrufen, die wird. entweder in die Rentenversicherung einzahlen oder – für diese gilt das noch viel mehr – die Leistungen aus der Die zweite Leerstelle – das ist die letzte Luftmasche, Rentenversicherung bekommen. Selbst wenn die Bürger die ich nennen will – betrifft den Steuerzuschuss für die es nicht sofort an dem merken, was ausgezahlt wird, die Pflegeversicherung. Zu einem solchen Zuschuss mag es Medien werden – wir alle wissen doch, wie sehr wir von im nächsten Jahr noch nicht kommen. Die Spezialisten diesen abhängig sind – darüber berichten, und zwar sagen, ein solcher Zuschuss werde 2006 oder 2007 nötig manchmal auch vereinfachend. Dagegen müssen wir an- sein. Aber in anderen Bereichen haben sich die Spezia- gehen, sei es in der Regierungsverantwortung oder in der listen, wie Sie selbst wissen, auch schon einmal geirrt. Funktion einer kontrollierenden Opposition. Warum sollten sie sich nicht auch in dieser Frage irren?

(B) Die Rentenbesteuerung – dies ist auch im Zusam- Bei der Pflegeversicherung – das sage ich selbstkri- (D) menhang mit der Riester-Rente zu sehen – wird für Sie, tisch auch in Richtung meiner eigenen Partei – haben wir meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, Fehler gemacht. Wir haben damals die Kapitaldeckung ein „wunderbares“ Problem werden, und zwar deswe- der Pflegeversicherung gegen die CDU nicht durchset- gen, weil Sie die Frage beantworten müssen, wie die zen können. Förderung des Eigentums in den Bereich der Besteue- (Walter Schöler [SPD]: Zugestimmt habt ihr!) rung so hineingebracht werden kann, dass der Weg zum Eigentum, der ja wichtig ist, weiterhin offen bleibt. Ich bitte Sie: Gehen Sie in sich! Versuchen Sie wenigs- tens bei dieser Säule unseres sozialen Sicherungssystems Ein weiterer Punkt, an dem man sehen kann, dass im auf die Kapitaldeckung umzuschwenken! Haushalt Luftmaschen gehäkelt worden sind, ist die Künstlersozialkasse. Der Zuschuss mag zwar nur – das Die Generation, zu der ich gehöre – sie wird oft als ist ein kleiner Titel – 91 Millionen Euro betragen. „Generation Golf“ bezeichnet –, ist wohlbehütet groß geworden. Das will ich gar nicht bestreiten. Es ist uns Aber auch an dieser Stelle werden wir erleben, dass für gut gegangen. Man hat wenig Bedrohung empfunden. den Zuschuss an die Künstlersozialkasse mehr Geld be- Der Sozialstaat funktionierte weitgehend und man nötigt wird, als im Moment etatisiert ist. Das Gleiche dachte, es gehe so weiter. Es geht so aber nicht weiter; es wird im Bereich der Beteiligung an der Bundesknapp- ist schwieriger geworden. Diese Generation trägt die schaft gelten, und das trotz ihrer zusätzlichen Aufgaben. Hauptlast. Sie muss nämlich dafür sorgen, dass die Ren- Ich bin einmal gespannt, welche Zahlungen da notwen- tenversicherung reformiert wird und dass die Schulden, dig sein werden. die wir alle angehäuft haben, getilgt werden – Frau Lehn, ich komme nun zum – bereits angespro- (Ute Kumpf [SPD]: Was sagt denn Ihre Oma chenen – AAÜG. Ich sehe diesen Bereich etwas anders dazu? – Gegenruf des Abg. Walter Schöler als Sie. Es geht in diesem Zusammenhang einzig und [SPD]: Er hat keine Oma!) allein um die Frage, was durch den Einigungsvertrag bestandsgeschützt ist. Der Einigungsvertrag und die unabhängig von der Frage, wer die Schuld daran trägt. entsprechenden Begleitgesetze haben das nicht aus- drücklich geklärt. Diese Klärung nehmen vielmehr die Ich komme zum Schluss. Früher, meine Damen und Gerichte in unserem Land vor. Herren von der Opposition, galt die FDP, wenn sie ge- sagt hat: „Die Rente ist unsicher“, als böser Bube, der in Man muss einmal ehrlich sein: Es war das Bundesso- die Ecke gestellt worden ist. Heute werden diejenigen in zialgericht – dort sind viele Richter tätig, die vonseiten die Ecke gestellt, die sagen: „Die Rente ist sicher.“ 2774 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. März 2003

Otto Fricke (A) Herzlichen Dank. Wir müssen auch eine Perspektive bieten. Wir wollen (C) denjenigen Menschen, die zuvor etwa als Sozialhilfebe- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten ziehende nur begrenzten Zugang zur Sozialversicherung, der CDU/CSU – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: zur Arbeitsvermittlung und zu Maßnahmen der aktiven So ändern sich die Zeiten!) Arbeitsmarktpolitik hatten, Angebote machen. Klar ist: Wir müssen unsere Anstrengungen verstärken, um die Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass auch die Das Wort hat der Abgeordnete Markus Kurth, Bünd- Schwächsten in unserem Land wieder eine Chance auf nis 90/Die Grünen. Teilhabe am gesellschaftlichen Leben und auch auf Teil- habe am Erwerbsleben haben. Wir haben schon bei der Politik für Menschen mit Behinderungen, die ich hier Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): bereits mehrfach als beispielhaft bezeichnet habe, erfolg- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr reich auf Teilhabe statt auf Ausgrenzung gesetzt. Diese Fricke, Ihnen ist es vielleicht gut gegangen. Dass es der Philosophie des SGB IX, des Neunten Buches Sozial- ganzen Generation, die Sie auch noch als „Generation gesetzbuch, muss meiner Ansicht nach auch in anderen Golf“ bezeichnet haben, gut gegangen ist, weise ich als Bereichen der Sozialpolitik als Richtschnur dienen. Mitglied derselben Generation – ich bin Jahrgang 1966 – Ziel unserer Politik muss es sein, allen Menschen eine zurück. Es ist durchaus nicht allen gut gegangen. Auf unabhängige Lebensführung zu ermöglichen. Staatli- diejenigen, denen es nicht immer gut geht, konzentrieren che Unterstützung hat sich in den Dienst genau dieser wir uns trotz der jetzt notwendigen Reformen. Ich Aufgabe, der Ermöglichung einer unabhängigen Lebens- glaube, das ist der Unterschied zwischen uns beiden. führung, zu stellen. Transferleistungen – das sage ich an (Otto Fricke [FDP]: Ist für Sie Gutgehen eine Ihre Adresse – sind auch im Dienst dieser Aufgabe zu Frage des Geldes?) sehen, und zwar nicht allein in der Höhe, sondern auch als Bestandteil eines kompletten Pakets von Angeboten, Nicht erst seit letztem Freitag war und ist klar: Die um Menschen zu aktivieren und ihnen eine unabhängige Sicherung der Zukunft der Sozialsysteme, die Entlastung Lebensführung zu ermöglichen. Ansonsten sind Eigen- des Faktors Arbeit und die Hebung von Wirtschaftlich- verantwortung und Selbstbestimmung, von denen immer keitsreserven in den Sozialsystemen erfordern Schritte, so viel geredet wird, nur Worthülsen. die man nicht leichten Herzens geht. (Dr. Dieter Thomae [FDP]: Aha!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (B) Die Koalition hat Einzelmaßnahmen auf den Tisch ge- An dieser Stelle frage ich mich, welche Handlungs- (D) legt und viele dieser Maßnahmen sind natürlich kein An- spielräume uns Sozialpolitikern noch bleiben, wenn ei- lass für Bravorufe und Begeisterung. Das haben der nige Arbeitgeberfunktionäre oder auch Herr Stoiber der Kanzler und auch unsere Fraktionsvorsitzende Krista Debatte eine Reformlogik aufzwingen wollen, in der die Sager ganz richtig festgestellt. Wirksamkeit einer Reform nur noch an der Schmerzhaf- tigkeit ihrer sozialen Einschnitte gemessen wird. Ich (Dr. Dieter Thomae [FDP]: Aha!) würde mir wünschen, der Exkanzlerkandidat der Union – Ja, Sie freuen sich darüber. könnte mir einmal plausibel erklären, welches Ziel mit einer pauschalen Kürzung der Sozialhilfe für Arbeitsfä- Uns ist sehr wohl bewusst: Etwa die Ausgliederung hige um 25 Prozent erreicht werden soll, außer dem Er- des Krankengeldes aus der gesetzlichen Krankenversi- gebnis, dass damit ganze Familien unter die Armuts- cherung oder die Kürzung des Niveaus der Arbeitslosen- grenze getrieben werden. Man muss sich einmal klar hilfe ist nur vermittelbar, wenn man sich erstens das Ziel machen, was das bedeutet! Das Niveau der Sozialhilfe dieser Schritte vor Augen hält und zweitens eine Per- beschreibt das soziokulturelle Existenzminimum. Des- spektive konkreter Chancen für diejenigen eröffnet, die sen Gewährung stellt meiner Auffassung nach den unan- auf die Leistungen des Sozialstaats angewiesen sind. tastbaren Kern des Sozialstaatsgebotes unserer Verfas- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sung dar. Darüber, finde ich, sollten wir uns in diesem sowie bei Abgeordneten der SPD) Haus schon einig sein. Ich bin auch sehr froh darüber, dass sich Herr Seehofer in dieser Frage klar gegen den Beides, Ziel und Perspektive, haben wir im Blick. bayerischen Ministerpräsidenten stellt und mit beiden Beinen auf dem Boden der Verfassung steht. Es ist unser Ziel, die Finanzierung der Sozialver- sicherungssysteme nicht allein auf abhängige Beschäf- Wenn Herr Stoiber schon die gezielte Verarmung als tigung zu stützen. Mit der Riester-Rente haben wir einen Sparstrategie empfiehlt, dann sollte er auch so ehrlich ersten Schritt getan. Neben der faktischen Inanspruch- sein, in seiner Modellrechnung die gesellschaftlichen nahme darf man auch die Symbolwirkung des Einstiegs Folgekosten mit einzubeziehen. Ich kann Ihnen prophe- in dieses zusätzliche Sicherungssystem nicht unterschät- zeien: Lateinamerikanische Verhältnisse verkraftet un- zen. Wenn dieser Einstieg vorher gelungen wäre – Sie sere Gesellschaft ohne gleichzeitigen Zuwachs an Kri- haben ihn in Ihrer Regierungszeit nicht geschafft –, dann minalität oder an politischem Extremismus nicht. wären wir bei der Entwicklung und Entfaltung dieses Systems jetzt vielleicht insgesamt schon viel weiter. Die- (Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Dann müssten sem Zusammenhang sollten Sie sich einmal stellen. Sie Ihre Währungspolitik ändern!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. März 2003 2775

Markus Kurth (A) Eine solche Entwicklung würde letztlich richtig teuer nicht, wie meine Zeit war; ich weiß nicht, wie Ihre Zeit (C) werden. war. Ich kann nur eines sagen: Ich befinde mich als jun- ger Familienvater, wenn ich mir überlege, was die Zu- Im Übrigen ist die Annahme, Sozialhilfe beziehende kunft für meine Kinder bedeutet, durchaus in einer Re- Personen seien arbeitsunwillig – dazu muss ich doch flexion, die mich sehr unsicher macht. Ich glaube, dass noch kurz ausholen –, empirisch nicht eindeutig belegt; das entsprechend für die Generation, die jetzt kommt, denn immerhin sind bereits 15 bis 20 Prozent der er- gilt. werbsfähigen Sozialhilfeempfänger – das sind rund 150 000 Personen, zumeist Haushaltvorstände – regulär (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) erwerbstätig und beziehen ergänzende Sozialhilfe. Wir müssen des Weiteren sehen, dass Familien mit Kindern Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: im Durchschnitt weniger lange Sozialhilfe beziehen als Alleinstehende, und zwar ganz erheblich weniger lange. Zur Erwiderung, bitte schön. Unterstellt man aber die Logik der so genannten Sozial- hilfefalle – und Edmund Stoiber bemühen Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): diese gern –, dann müsste das genaue Gegenteil festzu- stellen sein. Dass es um Ihre seelische Gesundheit ging, als Sie da- von gesprochen haben, dass es Ihnen gut geht, wurde aus (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Sagen Sie lie- Ihren Ausführungen so nicht erkennbar. ber was über Schröder!) (Zuruf von der SPD: Es ging um den Golf!) – Den beziehe ich mit ein. – Von vielen wird vorgerech- net, gerade bei Bedarfsgemeinschaften mit Kindern – Es ging um den Golf, genau. – Es ging um Ihre zukünf- würde sich die Arbeitsaufnahme nicht lohnen, weil für tigen bzw. jetzigen Belastungen. Sie haben versucht, die sie der Anspruch auf Transferzahlung so hoch sei. Wir Generationen gegeneinander auszuspielen. sehen aber, dass sich diese bemühen, aus der Sozialhilfe (Otto Fricke [FDP]: Das ist doch ein Vor- herauszukommen. Diese Hängemattenideologie trägt bei urteil!) Betrachtung der Realität also offensichtlich nicht sehr weit. Genau auf dieses Spiel sollten wir uns nicht einlassen. Wir sollten neben der Gerechtigkeit zwischen den Gene- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN rationen nicht die Gerechtigkeit innerhalb der verschie- sowie bei Abgeordneten der SPD) denen Lebensalterskohorten vergessen. Ich würde mir wirklich wünschen, dass wir unsere (B) Ich glaube, wir kommen nur zu einer Gesamtbetrach- (D) Debatte über die Schwächsten in unserer Gesellschaft tung, wenn wir die verschiedenen Komponenten von endlich wieder sachlich führen. Nehmen wir uns die Gerechtigkeit – dazu gehören Verteilungsgerechtigkeit, Freiheit und den Mut, einmal wieder positiv über eine Zugangsgerechtigkeit, Teilhabegerechtigkeit und Ge- Politik der sozialen Gerechtigkeit zu debattieren! Versu- rechtigkeit zwischen den Generationen – chen wir doch einmal, uns nicht gegenseitig mit Kür- zungsvorschlägen zu überbieten, sondern machen wir (Otto Fricke [FDP]: Ja!) uns die Mühe, die Politik von ihrem Ende her zu den- in ihrer Dimension gleichberechtigt betrachten. Ich habe ken. Beantworten wir ehrlich die Frage, welche Gesell- ganz erhebliche Zweifel, dass Sie zu dieser gleichge- schaft wir durch unsere Politik schaffen wollen und in wichtigen und übersichtlichen Betrachtung überhaupt in welchen Verhältnissen wir im Jahre 2010 leben wollen. der Lage sind. Bündnis 90/Die Grünen übernehmen da Verantwortung. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Danke. Otto Fricke [FDP]: Oh!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Vizepräsident Dr. Norbert Lammert:

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Nun hat die Kollegin Widmann-Mauz, CDU/CSU- Fraktion, das Wort. Bevor nun die Kollegin Widmann-Mauz die Ausspra- che fortsetzt, hat der Kollege Fricke um eine Kurzinter- Annette Widmann-Mauz (CDU/CSU): vention gebeten. Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Otto Fricke (FDP): Wenn Hans Eichel einen Haushalt vorlegen will, der die Maastricht-Kriterien erfüllt, muss Ulla Schmidt endlich Herr Kollege Kurth, ich fand es schon etwas platt, handeln. Die Reform der gesetzlichen Krankenversiche- dass Sie bei der Frage, ob es einem gut gegangen ist oder rung ist ein ganz wesentlicher Beitrag, um die Lohn- nicht, auf das Materielle abgehoben haben. Aus meiner nebenkosten zu senken, die Wirtschaft zu stärken, Men- Lebensüberzeugung heraus ist auch das Materielle si- schen wieder in Arbeit zu bringen und den Haushalt zu cherlich ein nicht unerheblicher Punkt; aber ich glaube, entlasten. Frau Schmidt, Sie sind unser Maastricht-Pro- dass bei der Frage, ob es einem gut geht oder nicht, das blem. Gerhard Schröder hat dies erkannt, nur Sie ringen Immaterielle, das Seelische viel wichtiger ist. Sie wissen leider noch mit sich. 2776 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. März 2003

Annette Widmann-Mauz (A) Um ganz nüchtern die Bilanz aufzumachen, wo wir in ten und staatliche Anstalten, die Sie planen, sind die (C) der gesetzlichen Krankenversicherung stehen, ist es not- Fortsetzung und das Perpetuum Ihrer Politik. wendig, noch einmal darzustellen, wie hoch die Ver- Der Bundeskanzler hat jetzt erkannt, dass es Zeit ist, schuldung der Kassen eigentlich ist: Defizit im Jahr umzusteuern. Er hat deutlich gemacht, dass Sie Ihren 2001 3 Milliarden Euro, im Jahr 2002 3 Milliarden Euro. Aufgaben nicht gewachsen sind. Er hat Ihnen am letzten Das ist also ein Minus von insgesamt 6 Milliarden Euro, Freitag offensichtlich das Heft aus der Hand genommen. und das trotz einer Welle von Beitragssatzanhebungen Zum wiederholten Mal hat er Ihnen am letzten Freitag seit 2001 um mehr als 0,7 Beitragssatzpunkte auf aktuell ins Stammbuch geschrieben, was die Inhalte einer 14,4 Prozent – Tendenz steigend. Gesundheitsreform sein müssen. Wir stellen fest: Beim Hinzu kommt: Die Kassen sind massiv verschuldet. Bundeskanzler ist ein Sinneswandel zu verzeichnen. Der 2 Milliarden Euro Schulden in 2002; der Schätzerkreis Anfang ist angekündigt, das Ende aber mehr als offen. hat es gerade bestätigt. Es ist ja auch klar. Ottmar Schreiner bringt es so Das ist die Bilanz Ihrer völlig verfehlten Wirtschafts-, schön auf den Punkt, wenn er sagt: Die Maßnahmen, die Arbeits- und Gesundheitspolitik. vorgeschlagen sind, stehen im Widerspruch zu dem, was wir im Wahlkampf gesagt haben. – Deshalb tut es so un- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) endlich weh und ist das Schweigen in Ihren Reihen teil- weise so unendlich groß. Wir haben durchaus Zweifel an Die Leidtragenden sind uns ja bekannt: Arbeitnehmerin- der praktischen Umsetzung. Manche von Ihnen bringen nen und Arbeitnehmer, Patientinnen und Patienten. Sie es auf den Punkt, indem sie sagen: Ja, was ist denn da- alle zahlen immer höhere Beiträge und bekommen eine mals bei Hartz am Ende noch übrig geblieben? Oskar immer schlechtere Versorgung. Lafontaine ruft bereits zum Generalwiderstand auf. Auch das Beitragssatzsicherungsgesetz hat mit den (Peter Dreßen [SPD]: Es ist mehr umgesetzt, Minusrunden und Zwangsrabatten nicht zu stabilen Bei- als Hartz vorgeschlagen hat!) trägen geführt. Im Gegenteil, es hat desaströse Konse- – Ja, Herr Dreßen, Sie bereichern die Debatte ja auch um quenzen für die Versorgung in den Leistungsbereichen. nette Zitate. Ursächlich für diese desolate Situation ist Ihre Politik. Sie, Frau Schmidt, ringen nach wie vor mit der Um- Das Ganze kam ja nicht über Nacht, sondern hat sich setzung. Bleiben Sie dabei, wie Sie einmal so schön ge- längst abgezeichnet, aber Sie wollten es nie wahrneh- sagt haben, dass es eine Lebensgefahr für unseren So- men. Nach den Debattenbeiträgen, die wir von der SPD zialstaat bedeute oder ökonomischer Unsinn sei, wenn (B) bisher gehört haben, scheint mir, dass Sie es nach wie ein Teil der Beiträge in kapitalgedeckte Zusatzversiche- (D) vor nicht wahrnehmen wollen, obwohl der Sachverstän- rungen investiert wird. So haben Sie dies zuletzt beim digenrat ein neues Gutachten vorgelegt hat. Frau Kühn- Bundeskongress der Arbeitsgemeinschaft der Sozialde- Mengel, ich empfehle Ihnen, dieses Gutachten zu lesen; mokraten im Dezember letzten Jahres gegeißelt. denn es macht durchaus deutlich, dass wir das Problem in der gesetzlichen Krankenversicherung bei den kon- Man darf gespannt sein, ob die SPD ihrem Kanzler junkturellen und strukturellen Wachstumsschwächen der bedingungslose Gefolgschaft leistet. Wird denn eins zu Finanzierungsgrundlagen sehen müssen. Dies resultiert eins umgesetzt oder wird der Kanzler von seiner eigenen aus einem unterdurchschnittlichen Anstieg der Arbeits- Truppe wieder weich gespült? Dass Skepsis in Ihren Rei- entgelte und der steigenden Zahl von Arbeitslosen. hen herrscht, haben wir letzte Woche gemerkt. Da braucht man nicht einmal auf die Beiträge von Kollegen Das heißt aber umgekehrt, ohne Reformmaßnahmen wie Herrn Dreßen oder Herrn Schösser näher einzuge- werden wir keine Stärkung der Finanzierungsbasis in der hen. gesetzlichen Krankenversicherung erreichen. Dies ver- kennen Sie, Frau Schmidt, nach wie vor. Ihr Lachen Wir von der Union würden es begrüßen, wenn auch in zeigt es wieder deutlich. Es reicht eben nicht aus, nur der SPD eine echte Reformbereitschaft zum Durch- besser zu wirtschaften. Sie müssen die Finanzbasis stär- bruch käme. Wir von der Union haben bereits vor Wo- ken, sonst haben Sie keine Chance. chen unsere Vorschläge klar formuliert. Wir sind froh, dass der Kanzler erkannt hat, dass die Union die besse- Der Sachverständigenrat sagt es Ihnen deutlich. Er ren Konzepte hat. Sie, Frau Schmidt, sind noch lange schreibt es Ihnen ins Stammbuch. Der Hinweis auf be- nicht so weit. Das wissen und spüren wir. Deshalb habe stehende Unter-, Über- und Fehlversorgung vermag die ich große Zweifel, ob aus Ihnen einmal ein echter Horst anstehenden Finanzierungsprobleme kurzfristig nicht zu Seehofer werden wird. lösen und auch mittelfristig lediglich abzumildern. Sie (Lachen der Bundesministerin Ulla Schmidt) haben dies kontinuierlich ignoriert und bestritten. Sie verfolgen auch seit Jahr und Tag, seit Sie im Amt sind, Wir haben eine anspruchsvolle Aufgabe vor uns. Wir eine allein auf die Ausgabenseite konzentrierte Politik. müssen ganze Leistungsblöcke aus der gesetzlichen Wenn die wenigstens systematisch wäre, könnte man Krankenversicherung ausgliedern. Wir müssen versiche- Verständnis haben. Aber mit Ihren Entscheidungen ver- rungsfremde Leistungen umfinanzieren und eine stär- schlechtern Sie die Versorgung und führen zu finanziel- kere Eigenbeteiligung der Versicherten und der Patienten len Mehrbelastungen. Die Stichworte Bürokratie, DRGs, einfordern. Nur so schaffen wir es, den Arbeitgeberbei- DMPs, Aut-idem-Regelung, Zwangsrabatte, Positivlis- trag auf einem niedrigeren Niveau zu stabilisieren. Bei Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. März 2003 2777

Annette Widmann-Mauz (A) der grundsätzlich richtigen Auswahl der Instrumente, nach dem Alimentationsprinzip davon nicht abhängig (C) wie wir sie in der letzten Woche gehört haben, verhehle sind. ich allerdings nicht, dass wir bei einzelnen Vorschlägen des Kanzlers doch ganz erhebliche Probleme haben. Diese Probleme zeigen, dass es an dieser Stelle große Schwierigkeiten gibt. Die Frage wird sein, ob das Kanz- Lassen Sie mich das an dem Beispiel des Kranken- lerwort, das letzte Woche gesprochen wurde, nicht schon geldes deutlich machen. Die Herausnahme des Kranken- jetzt in sich zusammenfällt. Oder hat er die Konsequen- geldes aus der Leistungspflicht der gesetzlichen Kran- zen, als er hier am Rednerpult stand, einfach nicht ge- kenversicherung, so wie es der Kanzler vorgeschlagen kannt? Diesem Spott müsste sich Gerhard Schröder gar hat, und eine private Absicherung führen an mehreren nicht aussetzen, wenn er das täte, was bei den Fachleuten Stellen zu größeren Bedenken. Die private Krankenver- unumstritten ist. Warum bleiben Sie denn auf halbem sicherung kalkuliert die Prämien risikoäquivalent, was Weg stehen? Oder anders gefragt: Warum können Sie zur Folge hat, dass ältere Menschen, chronisch Kranke nicht über Ihren Schatten springen? Sie selbst haben und Personen mit Vorerkrankungen kaum einen bezahl- Hürden aufgebaut, die sachlich nicht gerechtfertigt sind. baren Versicherungsschutz finden werden. Entgegen der Behauptung des Bundeskanzlers hat die Will man diese Personengruppen in den Versiche- Absicherung des Zahnersatzes mit 5 DM weder zu einer rungsschutz einbeziehen, müsste die Absicherung des Überforderung der Versicherten noch zu einer schlechte- Krankengeldes über Pauschalprämien verpflichtend ge- ren Mundgesundheit der Kinder geführt. Im Gegenteil: macht werden. Es war eine der erfolgreichsten Maßnahmen. (Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Anders als bei der Herausnahme von Unfällen verhält NEN]: So ist es!) es sich bei der Herausnahme der Zahnbehandlung. Hier Die Weigerung der privaten Krankenversicherungen, gibt es keine Abgrenzungsprobleme, sondern eine klare dem Ministerium entsprechende Angebote zu unterbrei- Zuordnung der Zuständigkeiten. Verschiebebahnhöfe sind ten, zeigt deutlich, wie wenig Interesse an diesem Ge- weitgehend ausgeschlossen. Zudem weist der Bereich der schäft besteht. Zahnbehandlung ein Volumen von 11 Milliarden Euro auf. Das entspricht einem Entlastungsvolumen von (Peter Dreßen [SPD]: Richtig) 1,1 Beitragssatzpunkten. Die Herausnahme würde zu ei- Bliebe also die Absicherung des Risikos durch die ge- ner spürbaren Entlastung der lohnbezogenen Beiträge in setzliche Krankenversicherung, allerdings ausschließlich der gesetzlichen Krankenversicherung führen. Eigenver- aus Mitteln der Versicherten. Da aber die Rentner nicht antwortung und Prävention sind in diesem Bereich am mehr mit Arbeitsunfähigkeit konfrontiert werden kön- ehesten möglich. Die Versicherten können durch ein ver- (B) (D) nen, haben sie keinen Anlass, eine Zusatzversicherung antwortliches Verhalten die Beiträge entscheidend mit be- zur Absicherung des Krankengeldes abzuschließen. Bis- einflussen. her sind aber die Beiträge der Rentnerinnen und Rentner (Beifall bei der CDU/CSU) auch in die Finanzierung des Krankengeldes geflossen. Sie könnten also mangels Leistungsanspruchs nicht mehr zur Beitragszahlung verpflichtet werden. Das heißt Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: umgekehrt, dass die Absicherung insgesamt teurer wird, Frau Kollegin, Sie müssen zum Schluss kommen. und zwar von 150 auf 218 Euro pro Mitglied, wie uns dieser Tage vorgerechnet wird. Annette Widmann-Mauz (CDU/CSU): Darüber hinaus würden die gesetzlichen Krankenkas- sen gerne bei der Tarifausgestaltung auch die Leistungs- Ich komme damit zum Schluss. – Es ist doch im höhe und die Bezugsdauer berücksichtigen. Das führt Grunde nicht länger einzusehen, dass wir unsere Kinder aber zu einer Benachteiligung der gewerblich Beschäf- und Enkelkinder mit höheren Beiträgen belasten und da- tigten gegenüber den Angestellten im Dienstleistungsge- mit ganz entscheidend zu Nachteilen in der gesetzlichen werbe. Wir haben nämlich keine einheitlichen Tarifver- Krankenversicherung beitragen, nur weil unsere Genera- träge in unserem Land. Der Malocher, wie es so schön tion zu faul zum Zähneputzen ist. Es gäbe noch vieles zu heißt, in der Metallindustrie müsste sein Risiko bereits erläutern; der Kollege Zöller wird dies nachher fortset- ab der 42. und der Angestellte im Dienstleistungsbereich zen. erst ab der 48. Krankheitswoche absichern. Der Malo- Sie kommen insgesamt in der Kombination Ihrer Vor- cher müsste also höhere Prämien zahlen als der Ange- schläge, was die versicherungsfremden Leistungen anbe- stellte im Dienstleistungsbereich. langt, nicht zu dem Entlastungsvolumen, das Sie brau- (Peter Dreßen [SPD]: Woher haben Sie das chen, um das gesteckte Ziel eines Beitragssatzes von denn mit der 42. und der 48. Woche) 13 Prozent überhaupt zu erreichen. Sagen Sie uns einmal ganz offen, ob Sie sich wieder Wir haben Ihnen Vorschläge vorgelegt. Diskutieren an einer Ungleichbehandlung der abhängig Beschäftig- Sie darüber mit uns vorurteilsfrei und ideologiefrei! ten im Vergleich zu den Beamtinnen und Beamten in un- Bringen Sie einen schlüssigen Gesetzentwurf in den serem Land beteiligen wollen, wie Sie es beim Sterbe- Deutschen Bundestag ein! Dann werden wir unsere Ver- geld schon einmal getan haben? Die Beamtinnen und antwortung wahrnehmen und Gespräche nicht verwei- Beamten brauchen nämlich kein Krankengeld, weil sie gern. 2778 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. März 2003

Annette Widmann-Mauz (A) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) einer Situation, in der man sich manchmal frage, ob (C) mancher Streit, den wir hier führen, eigentlich angemes- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: sen ist. Die Menschen – auch wir – sind unsicher, weil sie nicht wissen, was in den nächsten Stunden passiert. Nun hat die Bundesministerin für Gesundheit und So- Trotzdem müssen wir unsere Aufgaben erfüllen; da ha- ziale Sicherung, Frau Schmidt, das Wort. ben Sie vollkommen Recht. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Wir alle wissen, dass sich in der letzten Zeit die Pro- DIE GRÜNEN) gnosen zur Beschäftigung, zur Wirtschaftsentwicklung und zum Wachstum manchmal von Woche zu Woche Ulla Schmidt, Bundesministerin für Gesundheit und verändert haben. Gerade angesichts der schwierigen Si- Soziale Sicherung: tuation, in der wir uns befinden, kommt es, wenn wir die Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! sozialen Sicherungssysteme erhalten, stärken und zu- Frau Widmann-Mauz, Sie machen mich manchmal sehr kunftsfest machen wollen, darauf an, gemeinsam nach unsicher. Ich frage mich, ob Sie nicht heimlich Mitglied Wegen zu suchen, damit die Generation, die nach uns der SPD geworden sind. Es ist schon das zweite Mal, kommt, sich darauf verlassen kann, dass in diesen Zeiten dass Sie aus SPD-internen Briefen mit der Überschrift des Wandels, in denen wir von den Menschen sehr viel „Liebe Genossen!“ usw. zitieren. Ich habe das, was Sie Mobilität einfordern, Sicherheit besteht und niemand in angesprochen haben, nicht gesagt. Man sollte Aussagen diesem Staat allein gelassen wird, wenn er in Not ist. Ich nicht aus dem Zusammenhang reißen. Es wäre also glaube, darauf können wir uns alle verständigen. schön, wenn Sie mir das nächste Mal Ihre Informationen (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten geben würden. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Es kommt darauf an, was privat abgesichert werden Das wichtigste Ziel im Hinblick auf die Beitragssatz- soll. Das medizinisch Notwendige kann nicht ergänzend entwicklung und die Risiken in den sozialen Sicherungs- abgesichert werden. Denn die Privatversicherungen neh- systemen ist, Beschäftigung zu schaffen. Hierzu hat der men Menschen mit Vorerkrankungen nicht auf. Dass wir Bundeskanzler am vergangenen Freitag eine Vielzahl ein Gesundheitssystem haben, in dem alle Menschen un- von Vorschlägen gemacht, zum Beispiel zur Zusammen- abhängig von ihrem Geldbeutel und ihren Vorerkrankun- führung der Arbeitslosenhilfe und der Sozialhilfe, zu gen sämtliche Leistungen erhalten, ist eine große Errun- Veränderungen im Zusammenhang mit dem Bürokratie- genschaft, die wir gemeinsam fortsetzen sollten. abbau und der mittelständischen Wirtschaft sowie zum (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Gesundheitswesen und zur Rente. Die Sozialpolitik kann (B) keine Arbeitsplätze schaffen. Aber wir müssen schauen, (D) Es geht nicht, einzelne Risiken, die auch medizinisch wie wir den Faktor Arbeit entlasten müssen, und wir bei Notwendiges umfassen, aus dem Leistungskatalog der der Neuorganisation der Systeme folgende Fragen beant- gesetzlichen Krankenkassen herauszunehmen und pri- worten: Was gehört zum paritätisch finanzierten Teil ei- vat zu versichern. Denn diejenigen Menschen, die krank nes Sozialversicherungssystems? Was sind gesamtge- sind, oder diejenigen, die schon krank zur Welt kommen, sellschaftlich notwendige Aufgaben, die erledigt werden hätten keine Chance, sich versichern zu lassen, bzw. müssen? Wo kann man den Menschen zumuten, etwas müssten, weil Leistungen im Krankheitsfall kaum be- individuell, privat abzusichern? Das muss nicht immer in zahlbar wären, sehr viel Geld haben. Wenn das mit dem einer privaten Versicherung erfolgen, Frau Widmann- von Ihnen Zitierte in Einklang steht, dann habe ich das Mauz, sondern man kann auch andere Wege gehen. Man gesagt; dazu stehe ich. könnte zum Beispiel das Krankengeld in der gesetzli- (Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]: Auch chen Krankenversicherung belassen, es aber aus der pa- beim Krankengeld?) ritätischen Finanzierung herausnehmen, sodass die Ar- beitnehmer diesen Teil selber zahlen, weil auf der Lassen Sie mich aber an diesem Tag zunächst einmal anderen Seite die Arbeitgeber die sechs Wochen Lohn- Dank sagen für die gute Zusammenarbeit, die wir trotz fortzahlung auch allein zahlen. So etwa könnten wir es einiger Differenzen mit den Mitgliedern des Haushalts- organisieren. ausschusses hatten. Am heutigen Tag gilt mein besonde- rer Dank den Berichterstattern im Haushaltsausschuss Ich glaube, es wird darauf ankommen, das Solidar- für meinen Geschäftsbereich: Frau Lehn, Frau Hajduk, prinzip nicht außer Kraft zu setzen. Deshalb sind wir Herrn Luther und Herrn Fricke. Wir haben zwar Kontro- gefordert, Regelungen zu finden, die sehr nahe bei den versen gehabt; wir haben uns aber immer wieder geei- Menschen sind. Das gilt für die Absicherung des Kran- nigt. Ich glaube, dass der Haushalt, der heute vorliegt, kengeldes genauso wie für Leistungen aus der Unfallver- eine sehr gute Grundlage für mein Ministerium und die sicherung. Wir müssen eine Regelung finden, die risiko- Arbeit ist. unabhängig allen gleiche Chancen bietet, wenn sie auf Krankengeld angewiesen sind, auch Leistungen zu be- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des kommen. Dasselbe würde für Leistungen nach einem BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Unfall und auch für die Zahnbehandlung gelten, um Es ist schon mehrfach darauf hingewiesen worden, diese drei Blöcke einmal zu nennen. Die Menschen müs- dass wir uns im Moment in sehr schwierigen Zeiten be- sen unabhängig vom individuellen Risiko durch das So- finden. Der Kollege Luther hat gesagt, wir seien heute in lidarsystem abgesichert sein. Sie müssen in diesen Fällen Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. März 2003 2779

Bundesministerin Ulla Schmidt (A) notwendige Leistungen unabhängig von der Frage der Wir müssen vielmehr jeden in diesem System verpflich- (C) individuellen Leistungsfähigkeit bekommen. Das ist die ten, zu fragen: Was kann ich dazu beitragen, dass wir mit Herausforderung, die wir annehmen. den Geldern der Versicherten sparsam umgehen? Wenn ich „jeder“ sage, meine ich auch jeden: die Versicherten, (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ die Patienten genauso wie die Ärztinnen und Ärzte so- DIE GRÜNEN) wie die Apotheker und andere, etwa die, die im Bereich Die Reform wird sich auch dadurch auszeichnen, dass von Heil- und Hilfsmitteln Leistungen erbringen. Wenn wir schmerzhafte Einschnitte, die gemacht werden müs- wir die Über-, Unter- und Fehlversorgungen konsequent sen, um die Lohnnebenkosten zu senken, so absichern, abbauen und Strukturen, die dazu verleiten, dass etwas dass sie für die Menschen verkraftbar sind. doppelt und dreifach gemacht wird, beseitigen, dann ist dies erst die Voraussetzung dafür, Herr Thomae, dass wir Beim Krankengeld müssen wir selbstverständlich die Menschen, die in diesem System arbeiten, auch künf- darauf achten, dass die Verkäuferin, die bei Aldi beschäf- tig für ihre Arbeit anständig und angemessen bezahlen tigt ist und nur sechs Wochen Lohnfortzahlung hat, nicht können. Wir dürfen das Geld nicht mehr für Dinge aus- schlechter gestellt wird als der Beschäftigte im öffentli- geben, die nicht nötig sind. chen Dienst, der nach zehn Jahren Zugehörigkeit erheb- lich länger Anspruch auf Lohnfortzahlung hat. Deshalb (Beifall bei Abgeordneten der SPD) kann der Weg nur sein, in der gesetzlichen Krankenversi- cherung nach solidarischen Regelungen zu suchen. Da- Diesen Weg müssen wir gehen. In diesem Zusammen- mit entlasten wir den Faktor Arbeit und sichern gleich- hang müssen wir – da haben Sie völlig Recht – auch mit zeitig die Menschen so ab, dass sie im Falle einer dem derzeitigen Honorarverteilungssystem Schluss ma- Krankheit nicht auf Sozialhilfe angewiesen sind, weil ih- chen. Man muss eine verlässliche, planbare Vergütung nen kein Krankengeld mehr gezahlt wird. Ich glaube, das mit Pauschalen auf den Weg bringen; anderenfalls blei- ist der Weg, den wir gemeinsam gehen sollten. ben die Strukturen, wie sie sind, die Versorgungsberei- che weiterhin voneinander abgegrenzt. Das wollen wir (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ nicht mehr. Ich hoffe auf Ihre Zustimmung, wenn wir DIE GRÜNEN – Annette Widmann-Mauz dieses Thema angehen werden. [CDU/CSU]: Was machen die Rentner?) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Unser Ziel ist, den Beitragssatz in der GKV auf unter DIE GRÜNEN) 13 Prozent zu senken. Sie wissen alle, dass das ein sehr ehrgeiziges Ziel ist. Bei allen Entwicklungen in diesem Der Kollege Spahn sprach vorhin davon, es müsste Jahr und auch bei Veränderungen, die im Bereich von Ar- klar gesagt werden, wohin die Reise geht. Auch Sie wol- (B) beitslosenhilfe und Sozialhilfe beschlossen werden, um len unter oder auf 13 Prozent kommen. (D) mehr Beschäftigung zu schaffen, müssen wir immer be- Frau Widmann-Mauz, Sie haben einen Antrag vorge- achten, dass sie auch zu Einnahmeausfällen in den sozia- legt, in dem es heißt, Sie wollten den Großhandels- len Sicherungssystemen führen können. Das wissen Sie rabatt wieder rückgängig machen; die 600 Millionen und das weiß ich auch. Wenn wir dieses Ziel erreichen Euro Entlastung sollen also wegfallen. wollen, dürfen wir nicht nur auf die nackten Zahlen sehen, sondern müssen ein Gesamtpaket auf den Weg bringen. (Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]: Gesetzentwurf, ja!) Wir müssen über die Frage der Strukturreform dis- kutieren. Jeder weiß: Es kann in diesem System nicht Außerdem haben Sie einen Verzicht auf alle Nullrunden mehr so weitergehen wie bisher. Wir müssen dafür sor- beschlossen. Drittens sagt der Kollege Seehofer, der gen, dass das Geld der Versicherten effektiv und effizient heute nicht hier ist, man müsse bei den Glaspalästen der eingesetzt wird, dass es genau da ankommt, wo es ei- Krankenkassen etwas machen, während zugleich im gentlich hingehört. Bundesrat eine Nullrunde auch für die Verwaltungsaus- gaben der Krankenkassen blockiert wird. (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Dann fangt doch mal an!) (Andreas Storm [CDU/CSU]: Weil man es nicht mit dem Rasenmäher machen kann!) Dabei werden wir uns mit vielen Lobbyistengruppen in diesem Lande anlegen müssen; das haben wir heute Mit all diesen Forderungen kommen wir wieder auf Morgen gesehen. eine Belastung von vielleicht 2 Milliarden Euro; das sind 0,2 Prozent. Dadurch würde es noch viel schwieriger, (Beifall bei der SPD) auf einen Beitragssatz von 13 Prozent zu kommen. Aber Es wird schwierig, einen Beitragssatz von unter nachdem Sie jetzt erklärt haben, Sie wollten diesen Weg 13 Prozent zu fordern und gleichzeitig die Apotheker- mit uns gemeinsam gehen, hoffe ich, dass Sie sich dafür schaft und die Ärzte außen vor zu lassen und bei den einsetzen, dass wir einen Schritt nach vorn kommen. Krankenhäusern alles zurückzunehmen nach dem Motto: Dies gilt auch für die hochpreisigen Arzneimittel. Frau Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass. Nach Widmann-Mauz, Sie sitzen lange genug im Gesundheits- dieser Methode werden wir keine Gesundheitsreform auf ausschuss und wissen, dass rund 70 Prozent neu einge- den Weg bringen, sondern Belastungen fördern. führter hochpreisiger Arzneimittel keine medizinischen (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Innovationen sind und nicht gegeben werden müssen, DIE GRÜNEN) weil es vergleichbare, aber kostengünstigere Arzneimittel 2780 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. März 2003

Bundesministerin Ulla Schmidt (A) gibt. Nur rund 30 Prozent dieser Arzneimittel stellen halte ich es für richtig, dass wir zu Beginn der Arbeit in (C) wirkliche Innovationen dar. Wenn wir die Innovationen der Rürup-Kommission all diejenigen, die diese Progno- und den mit ihnen verbundenen zusätzlichen Nutzen auf sen machen, einmal zusammenholen. Ich möchte, dass Dauer für alle sicherstellen wollen, dann müssen wir ver- wir wissen, wie es wirklich aussieht, damit wir einen hindern, dass Arzneimittel ohne zusätzlichen Nutzen zu Standpunkt finden und entsprechend handeln können. dreimal so hohen Kosten abgegeben werden. Anders Sie haben angesprochen, dass die Beitragsentwick- werden wir nicht schaffen, was wir uns vorgenommen lung in den kommenden Jahren höher sein wird, als wir haben. Hier darf man es sich nicht zu leicht machen. sie prognostiziert haben. Dazu sage ich Ihnen: Wir haben (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ im Gesetz vorgesorgt. Wir haben die private Säule der DIE GRÜNEN) Rentenversicherung aufgebaut. Sie hatten dazu keinen Mut. Der dritte Punkt, den ich noch ansprechen möchte, ist die Steuerfinanzierung, die vom Kollegen Luther kritisiert (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Wir hatten worden ist, wenn ich es richtig in Erinnerung habe. – Manch- mehr Mut als Sie mit dem demographischen mal lese ich auch das, was meine Kolleginnen und Kollegen Faktor!) aus der CDU/CSU schreiben. – Ich dachte immer, dass wir uns in diesem Punkt einig sind, weil wir dies alles schon Wir haben vorgesorgt: Wenn sich in der in der Voraus- lange fordern. Ich bin sehr froh, dass uns jetzt der Einstieg ge- schau zeigt, dass die Beiträge 2030 die 22-Prozent- lingen wird, den wir bei der Rente bereits geschafft haben. Grenze überschreiten, muss der Staat handeln. Der Staat Herr Kollege Luther, es geht nicht um eine Steuerfinanzie- wird handeln. Wir werden die Entwicklung beobachten rung der Rente. Was haben wir gemacht? und zur Nachjustierung der Rentenformel Vorschläge machen. (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Die Kassen geplündert!) Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: In den letzten zehn Jahren waren wir uns in diesem Frau Ministerin, sind Sie geneigt, nach Beendigung Hause immer einig, dass dies der richtige Weg ist. Wir Ihrer Redezeit noch eine Zusatzfrage des Kollegen haben gesagt: Es gibt Leistungen, die die Beitragszahle- Storm aufzunehmen? rinnen und Beitragszahler zahlen müssen, und es gibt Leistungen in unserem sozialen Sicherungssystem, bei denen es ungerecht wäre, sie nur von Arbeitgebern sowie Ulla Schmidt, Bundesministerin für Gesundheit und Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern zahlen zu lassen. Soziale Sicherung: Solche gesamtgesellschaftlichen Leistungen müssen da- (B) Wenn Sie es gestatten. (D) her über Steuern finanziert werden. Zum Beispiel zahlen wir bei der Rente knapp 12 Milliarden Euro über Steuern, Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: damit Mütter oder Väter – in der Regel sind es Mütter – für die ersten drei Jahre der Kindererziehung Beitragszei- Bitte schön. ten in der Rentenversicherung anerkannt bekommen, so- dass Kindererziehung nicht dazu führt, dass man im Alter (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Einbußen bei der Rente hat. Ich bin froh, dass wir dies für DIE GRÜNEN) die jüngere Generation – die ältere profitiert nicht so sehr davon – haben sicherstellen können. Ulla Schmidt, Bundesministerin für Gesundheit und Soziale Sicherung: Wenn wir alle Bereiche durchforsten, stellen wir fest, dass wir eine ganze Menge machen können. Bei der Ren- Jetzt glaubt Herr Storm, ihr klatscht für ihn! tenversicherung müssen wir die Einnahmeprobleme selbstverständlich berücksichtigen. Der Bundeskanzler Andreas Storm (CDU/CSU): hat hier richtigerweise gesagt, dass unsere Berechnungen der Beschäftigungs- und Wachstumsentwicklung etwas Ich bedanke mich zunächst einmal dafür, dass die zu optimistisch waren. Das wissen wir heute alle. SPD-Fraktion klatscht, wenn ich eine Frage stelle. (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Etwas?) Frau Ministerin, in der letzen Woche haben Sie noch erklären lassen, dass Sie mit der Beitragssatzfestsetzung – Ja, das waren wir. Das waren aber auch alle Institute. bis November warten wollen. Habe ich Sie richtig ver- Herr Austermann, Sie sind Haushälter und wissen, dass standen, dass Sie noch vor der Sommerpause überlegen alle Institute fast jede Woche etwas anderes sagen. Das wollen, wie die Beitragssatzprobleme, die in der Renten- macht es manchmal etwas schwierig. Die Annahmen versicherung im nächsten Jahr drohen, gelöst werden waren optimistisch. Schließlich wollen wir alle, dass es können und nicht bis zum November warten wollen? vorwärts geht. Ich als optimistische Frau will, dass es immer vorwärts geht. Ulla Schmidt, Bundesministerin für Gesundheit und (Beifall der Abg. Irmingard Schewe-Gerigk Soziale Sicherung: [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Herr Kollege Storm, Sie beschäftigen sich mit den Wir mussten auf die Prognose, dass die Lebenserwar- Daten zur Rentenversicherung. Auf der Grundlage der tung – Gott sei Dank – höher ausfällt, reagieren. Deshalb Daten der Rentenversicherungsträger können wir immer Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. März 2003 2781

Bundesministerin Ulla Schmidt (A) erst im Herbst sagen, wie die Entwicklung im kommen- lidarische Prinzip angegriffen und zerstört, das ein kon- (C) den Jahr aussehen wird. Wir arbeiten aber – das wissen stituierendes Element unserer Gesellschaft ist. Es wird Sie – mit der Rürup-Kommission. Wenn die Entwicklun- sozusagen der Leim aufgelöst, der die Gesellschaft zu- gen anders sind, als wir sie prognostiziert haben, brau- sammenhält. chen wir eine Nachjustierung der Rentenformel. Wir als PDS schätzen am bestehenden Gesundheits- Dazu gibt es verschiedene Vorschläge. Ein Vorschlag system vor allem drei Dinge: Erstens die solidarische geht beispielsweise dahin, auf der Einnahmeseite die Versicherung des Krankheitsrisikos, zweitens die paritä- Einkommen aller Beitragszahler, auch der Bezieher von tische Finanzierung der gesetzlichen Krankenversiche- Arbeitslosenhilfe, Arbeitslosengeld usw., einzubeziehen. rung durch Unternehmen und Beschäftigte und drittens Wir werden hier Vorlagen einbringen und im Parlament den umfangreichen Leistungskatalog, der für alle Men- dann darüber beraten. schen gilt, unabhängig von ihrem Krankenversiche- rungsbeitrag. Man kann aber noch nicht sagen, wie die Entwicklung im nächsten Jahr aussehen wird. (Beifall der Abg. Petra Pau [fraktionslos]) (Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]: Sie kennen Unentwegt wird darüber geredet, dass unser Gesund- doch die Zahlen aus Januar und Februar!) heitssystem nicht mehr finanzierbar sei. Alle schauen Es gibt Risiken. Es bestehen aber immer noch Chancen, wie gebannt auf die Ausgaben. Der Kanzler möchte, wie dass das Wachstum in diesem Jahr ansteigt, weil die Ge- er am Freitag gesagt hat, das Krankengeld streichen. Die setze, die wir hier zum Teil gemeinsam verabschiedet Gesundheitsministerin möchte Sportunfälle nicht mehr haben, greifen. Ich höre Sie noch sagen: Wenn wir die durch die Krankenkassen bezahlen lassen. So hat jeder 400-Euro-Jobs regeln, entstehen 800 000 Arbeitsplätze. Politiker eine nette Idee, wo man im Leistungskatalog – Sie können doch nicht so wenig Vertrauen in Ihre eige- noch streichen könnte. Das ist aber keine Strategie; es nen Reformen haben. Wie die Entwicklung im kommen- wirkt eher hilflos. den Jahr aussehen wird, wissen wir im Herbst, Wir als PDS wollen uns in dieses Orchester der Kür- (Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]: Sie zungsvorschläge nicht einreihen, obwohl man gerade machen die Augen vor Januar und Februar hinsichtlich der explodierenden Medikamentenkosten zu!) Vorschläge machen müsste. Diese sind aus Ihren Reihen bisher leider noch nicht gekommen. Aber schauen wir weil dann der VDR und die Rentenversicherungsträger einmal auf die Einnahmeseite. Wo sind Ihre Vorschläge – von denen stammen auch Ihre Zahlen – die Daten vor- zur Erhöhung der Einnahmen? Überall wird erklärt, dass (B) legen. Der Präsident der Bundesversicherungsanstalt für das Gesundheitssystem nicht mehr finanzierbar sei so- (D) Angestellte hat am vergangenen Sonntag gesagt: Im wie die angeblich hohen Lohnnebenkosten zum Abbau kommenden Jahr können die Rentenbeiträge stagnieren, von Arbeitsplätzen führten und die Schaffung von neuen sinken, Arbeitsplätzen verhinderten. Dies wurde uns schon bei (Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]: Sie der Diskussion um die Rentenreform erzählt und war können steigen!) Anlass für den Ausstieg aus der paritätisch finanzierten Rente. aber sie können auch steigen. Das sage auch ich Ihnen, weil man zum jetzigen Zeitpunkt nicht mehr sagen kann. Im Wochenbericht des Deutschen Instituts für Wirt- schaftsforschung wird festgestellt – das ist Heft 7/2003 –, (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ dass das Verhältnis der Gesundheitsausgaben zur Ent- DIE GRÜNEN) wicklung des Bruttoinlandsproduktes relativ konstant ist. Das heißt, das System wäre auch unter den gegebenen Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Bedingungen finanzierbar. Das auffällige Ansteigen der Beitragssätze zur gesetzlichen Krankenversicherung hat Das, was Sie als Letztes gesagt haben, wird so man- andere Ursachen. Es ist auf das Zurückbleiben der Brut- cher schon vermutet haben. tolohn- und -gehaltssumme zurückzuführen. Doch dieser Nun hat die Abgeordnete Frau Dr. Lötzsch das Wort. Rückgang ist nicht von Gott gegeben, sondern durch die Bundesregierung teilweise selbst verursacht: Die Bun- desregierung beklagt einerseits die Finanzprobleme der Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos): Krankenkassen, greift andererseits aber unentwegt in Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Bun- diese Kassen, um Geld für andere Zwecke locker zu ma- desrepublik ist auf dem Weg in die Ich-AG. Die Ich-AG chen. Das ist nicht in Ordnung. wird zum Programm. Dabei geht es nicht nur um den Ich habe kürzlich die Bundesregierung gefragt, welche Umbau des Arbeitsmarktes, sondern auch um den Umbau Auswirkungen die Umsetzung des Hartz-Konzeptes – ich des Sozialstaates: weg von dem solidarischen System hin nenne nur die Minijobs und die Leiharbeit – auf die Kas- zu einem kommerziellen System. Jeder soll sich um seine sen haben werde. Hierauf wollte man mir keine konkrete Risiken selber kümmern, ob er kann oder nicht. Die Ver- Antwort geben. Aber jeder kann sich doch an fünf Fin- sicherungen müssen schließlich auch von etwas leben. gern abzählen, dass billige Leiharbeiter weniger in die Auf diese Weise – so hat uns am Freitag auch der Krankenkassen einzahlen werden als die teuren Stamm- Bundeskanzler seine Vorhaben verkündet – wird das so- belegschaften der Betriebe. 2782 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. März 2003

Dr. Gesine Lötzsch (A) Ich kann noch weitere politische Entscheidungen be- Wolfgang Zöller (CDU/CSU): (C) nennen, die zu Einnahmeverlusten bei der Krankenversi- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ge- cherung führen. Ein Beispiel ist die Absenkung der statten Sie mir eine Vorbemerkung: Wenn hier jemand Krankenversicherungsbeiträge für Arbeitslosenhilfeemp- von Rot spricht, dann spricht er von einem Ausgabepro- fänger. Das führt pro Jahr zu mindestens 0,6 Milliarden blem. Spricht jemand von Grün, dann spricht er von ei- Euro an Mindereinnahmen für die Krankenkassen. Für nem Einnahmeproblem. Ich bin der Auffassung, dass das Jahr 2001 haben die Spitzenverbände der Kranken- man daraus nur eine Schlussfolgerung ziehen kann: Das kassen Einnahmeverluste allein durch politische Ent- Problem ist Rot-Grün. scheidungen von insgesamt 2,5 Milliarden Euro errech- net. (Beifall bei der CDU/CSU) Aber die Bundesregierung greift auch an anderer Stelle Was Sie in der letzten Zeit hier bewegt haben, muss man kräftig in die Taschen der Versicherten. Ich hatte im Rah- einfach mal Revue passieren lassen. men der Diskussion um die Erhöhung des Mehrwertsteu- Frau Kühn-Mengel, Sie stellen sich hier hin und spre- ersatzes für Zahnersatz von 7 Prozent auf 16 Prozent den chen von einer Erblast. Vielleicht war das noch die Rede Wissenschaftlichen Dienst des Bundestages beauftragt, von vor vier Jahren. Wenn Sie es wirklich ernst gemeint die unterschiedlichen Steuersätze für Arzneimittel im eu- haben: Wie kann man von einer Erblast sprechen, wenn ropäischen Vergleich darzustellen. Ich hatte mich dafür man in der Pflegeversicherung einen Überschuss von interessiert, ob im Sinne einer Steuerharmonisierung im 10 Milliarden DM und in der gesetzlichen Krankenversi- Rahmen der Europäischen Union die Steuern bei diesen cherung einen Überschuss von mehreren Milliarden bei Produkten angeglichen werden. Das Ergebnis war erstaun- gleichzeitig niedrigeren Beiträgen als jetzt übernimmt? lich: In Europa wird außer in Deutschland nur in Dänemark Jetzt sind die Beiträge höher und gleichzeitig besteht ein und Österreich auf Arzneimittel der Standardmehrwert- Defizit. Es tut mir Leid: Es ist für mich schwer nachvoll- steuersatz erhoben. In vielen Ländern wird auf verschrei- ziehbar, dass Sie von einer Erblast sprechen. bungspflichtige Arzneimittel gar keine Steuer erhoben, zum Beispiel in Großbritannien oder in Schweden. (Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Das haben die sich selbst vererbt!) (Peter Dreßen [SPD]: Die haben aber höhere Mehrwertsteuersätze!) Frau Ministerin, Sie sagen, dass Sie zum Beispiel bei den Apothekern etwas tun wollen. Können Sie mir erklä- – Diese Länder haben höhere Mehrwertsteuersätze. Aber ren, wieso Sie generell eine Nullrunde verordnen und da sie auf diese Produkte keine Mehrwertsteuer erheben, dabei einen Bereich herausgreifen, der fast 80 Prozent ist Ihre Zwischenbemerkung hinfällig. Sie ergibt keinen der Einsparsumme finanzieren soll? Es wird wohl Ihr (B) (D) Sinn. Geheimnis bleiben, wie das sozial gerecht sein soll. Der Bundesminister saniert seine Haushaltskassen Wir reden heute auch noch über einen weiteren Punkt, also über die Krankenversicherung und mithilfe der nämlich über die Gesetzgebung zum Fallpauschalenände- Mehrwertsteuer auf Arzneimittel. In dieser Frage kann rungsgesetz. Erst seit knapp drei Monaten besteht für die ich nur sagen: Weniger Staat! Mit dem willkürlichen Zu- deutschen Krankenhäuser die Möglichkeit, ihre stationä- griff des Staates auf die Beiträge der Versicherten muss ren Leistungen mit diagnoseorientierten Fallpauschalen endlich Schluss sein. abzurechnen. Gleichzeitig hat die Bundesregierung mit (Beifall der Abg. Petra Pau [fraktionslos]) dem Beitragssatzsicherungsgesetz allen Krankenhäusern, die nicht auf das neue Fallpauschalensystem umsteigen, Wir als PDS fordern erstens die Stärkung der Einnah- eine Nullrunde verordnet. Die Zustimmung zum neuen men der gesetzlichen Krankenversicherung. Die Wege Fallpauschalengesetz wollte man sich mit dem Verspre- habe ich dargestellt. Zweitens fordern wir die Finanzie- chen der Etaterhöhung um 0,81 Prozent quasi erkaufen. rung versicherungsfremder Leistungen durch den Bund. Drittens fordern wir mehr Geld für die Gesundheitsprä- Vergessen wir bitte nicht: In dem Fallpauschalenge- vention. Ich glaube, es würde allen in diesem Hause gut setz werden die Vergütungen in einem Wirtschaftsbe- tun und wir würden uns wohl fühlen, wenn wir den Prä- reich mit einem Jahresumsatz von weit mehr als 50 Mil- ventionsgedanken verwirklichen. Viertens fordern wir liarden Euro völlig neu geregelt. Dass bereits nach so den Erhalt des Krankengeldes, damit die Leute nicht kurzer Zeit Grundsätze dieses Regelungswerkes geän- krank zur Arbeit gehen müssen, sondern etwas für ihre dert werden müssen, bestätigt unsere damalige Ableh- Gesundheit tun können. Ansonsten könnte man, wenn nung. Es besteht ein völlig unnötiger Zeitdruck und Sie man krank zu Hause bliebe, seine Krankheit nicht mehr ignorieren Fachargumente. Jetzt sollen plötzlich nicht finanzieren. zuzuordnende Fälle ausgenommen werden. Das sind ge- nau die Fälle, bei denen wir seit jeher eine Abrechnung Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. mit Fallpauschalen für nicht durchführbar hielten. Ein ernsthafter Dialog mit Fachverbänden, Selbstverwaltun- (Beifall der Abg. Petra Pau [fraktionslos]) gen und Ländern war hier offenbar niemals beabsichtigt.

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Der Hauptfehler war, dass Rot-Grün ein Vergütungs- system zu 100 Prozent übernimmt, obwohl dessen Erfin- Nächster Redner in der Aussprache zum Einzel- der in seinem Heimatland nur 50 Prozent der Leistungen plan 15 ist der Kollege Zöller, CDU/CSU. damit abrechnet. Dies geschieht nach dem Motto, egal, Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. März 2003 2783

Wolfgang Zöller (A) ob es funktioniert oder nicht. Dahinter kann doch nur der tungen häuslicher Krankenpflege in die Pflegeversiche- (C) Gedanke in Richtung einer Staatsmedizin stecken; rung. Wir sind fest davon überzeugt, dass sich eine Verbesserung der Pflegequalität auf Dauer nur durch (Lachen bei der SPD – Horst Schmidbauer mehr und besser aus-, weiter- und fortgebildetes Perso- [Nürnberg] [SPD]: Übertreiben Sie mal nicht, nal bewerkstelligen lässt. Dies bedeutet auch, dass wir Herr Zöller!) bereit sind, mehr Geld zur Finanzierung von mehr Perso- denn wenn sämtliche Leistungen in Fallgruppen erfasst nal zur Verfügung zu stellen. werden, genügt eine Senkung des Basisfallwertes, damit (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) allen Krankenhäusern die Vergütung gekürzt wird. Dies geschieht unabhängig davon, ob die Krankenhäuser we- Da die Leistungen der Pflegeversicherung seit ihrer gen der demographischen oder medizinisch-technischen Einführung im stationären Bereich 1996 unverändert Entwicklung, unabweisbarer Fallzahlen oder Kostenstei- sind, müssen derzeit die steigenden Kosten allein von gerungen mehr Geld benötigen. Das ist keine Gesund- den Heimbewohnern getragen werden. Dadurch werden heitspolitik nach dem medizinisch Notwendigen, son- immer mehr ältere Menschen zum Sozialfall. Das kann dern nach staatlicher Kassenlage. doch nicht unsere Antwort auf die bestehenden Pro- bleme sein. (Beifall bei der CDU/CSU) Ich sage Ihnen voraus, dass diese Reform des Geset- Wir haben konkrete Vorschläge auf den Tisch gelegt. zes nicht die letzte Änderung sein wird. Sie haben näm- Ich darf an die Maßnahmen zur Verbesserung der Pflege- lich die Rechtsprechung bezüglich der Arbeitszeitrege- qualität mit Bürokratieabbau, Finanzierung von Perso- lung nicht entsprechend berücksichtigt. Sie werden in nalmehrung und Personalgewinnung oder an die Bun- sehr kurzer Zeit wieder nachbessern müssen. Hätten Sie desratsinitiativen erinnern, zum Beispiel das Pflege- etwas sorgfältiger gearbeitet und die Vorschläge der Zukunftssicherungsgesetz, mit dem wir besonders die Sachverständigen und auch unsere Vorschläge gebüh- Situation von Demenzkranken verbessern wollten, das rend geprüft, so hätten Sie gleich zu Beginn einen Ge- Gesetz zur Qualitätssteigerung in der Pflege und das Ge- setzentwurf vorlegen können, der allen Beteiligten weni- setz zur Personalstärkung in der Pflege. In der vorletzten ger Verunsicherung, weniger Zeitverlust und bessere Woche ging es um das Hilfsmittelsicherungsgesetz, mit Kalkulierbarkeit beschert hätte. Aber späte Einsicht ist dem wir verhindern wollen, dass weitere Fehlbuchungen besser als keine. Ich empfehle Ihnen im Übrigen die der Krankenkassen bei den Hilfsmitteln im ambulanten Lektüre von Faust. Ich meine nicht den „Faust“ von Bereich zulasten der Pflegeversicherung vorgenommen Goethe, sondern Hans Georg Faust. Er hat in einer sehr werden. Gleichzeitig soll die Sicherstellung der Versor- guten Analyse die Probleme untersucht. gung der Pflegebedürftigen mit Hilfsmitteln in Pflege- (B) heimen geregelt werden. Dies dient der Rechtsklarheit (D) (Dr. Elke Leonhard [SPD]: Dann lesen wir und damit auch der Rechtssicherheit. doch lieber den richtigen Faust!) Zielführende Vorschläge der Union hat die rot-grüne Lassen Sie mich einen zweiten Bereich ansprechen. Mehrheit jedoch überwiegend abgelehnt und die Pflege- In der Pflegeversicherung tickt eine demographische kassen stattdessen zur Sanierung anderer Haushaltstitel Zeitbombe. Der Altersaufbau der Bevölkerung wird un- missbraucht. An dieser Stelle nenne ich das Abschmel- sere Sozialsysteme dramatisch verändern. Deshalb ist es zen der Rücklagen der Pflegeversicherung bei gleichzei- mehr als bedauerlich, dass der Bundeskanzler in seiner tigem Ansteigen des Jahresdefizits. Regierungserklärung das Thema Pflegeversicherung mit keinem Wort erwähnt hat. Meine Kolleginnen und Kollegen, wir wollten mit un- seren Vorschlägen vor allem dafür Sorge tragen, dass (Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]: Ja!) den wirklichen Bedürfnissen der Menschen – sowohl den Bedürfnissen der Pflegebedürftigen als auch denen Wollte der Sachverständigenrat wenige Tage zuvor die der Menschen, die Pflege betreiben – Rechnung getragen Solidargemeinschaft quasi abschaffen, so wäre es am wird und dass die Pflegesituation in den Einrichtungen Freitag eigentlich die Pflicht des Kanzlers gewesen, die- insgesamt verbessert wird. Bei dem Versuch, diese Pro- ses Problem aufzugreifen und Stellung zu beziehen. Lei- bleme zu lösen, kann ich mich manchmal des Eindrucks der Fehlanzeige! nicht erwehren, dass wir hin und wieder vergessen, dass Dabei sind viele Probleme im stationären Bereich un- es sich hier um Menschen handelt, die von den Auswir- gelöst. Es ist ein falscher Ansatz, Qualitätsmängel da- kungen unseres Paragraphenwirrwarrs im wahrsten durch beheben zu wollen, dass Sie Qualität von außen in Sinne des Wortes betroffen sind. Es handelt sich um das System hineinbringen, anstelle genügend ausgebil- Menschen, die unsere besondere Aufmerksamkeit und detes Personal zu finanzieren, damit Qualität geleistet Anstrengung brauchen. Dies gilt ganz besonders für De- werden kann. In diesem Ansatz unterscheiden wir uns menzkranke. ganz wesentlich. Auch Personalgewinnungsprobleme warten auf eine zukunftsweisende Antwort. Wir als Politiker haben die Pflicht, dafür zu sorgen, dass der Verwaltungsaufwand in den Einrichtungen auf- Darüber hinaus dürfen wir die Probleme im ambulan- grund neuer gesetzlicher Regelungen nicht noch größer ten Bereich der häuslichen Krankenpflege nicht einfach wird und dass dadurch noch weniger Zeit bleibt, um die unter den Tisch fallen lassen. Nicht sauber geklärte Zu- Pflege sinnvoll durchführen zu können. Wir haben als ständigkeiten führen zu Verschiebebahnhöfen von Leis- Politiker aber ebenso die Pflicht, zu verhindern, dass 2784 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. März 2003

Wolfgang Zöller (A) sich immer mehr in Pflegeheimen Beschäftigte mit dem Ich darf Ihnen sagen: Es waren nicht 2 Milliarden (C) Gedanken tragen, ihren erlernten Beruf aufzugeben, oder Euro, sondern es war die doppelte Summe, die wir auf- sich nicht mehr in der Lage sehen, so zu pflegen, wie es wenden mussten, um die Regelungen beim Zahnersatz, den fachlichen Anforderungen, ihrer Ausbildung und die Sie vorher kaputtgemacht hatten, wieder in Ordnung vor allem dem entspricht, was die pflegebedürftigen zu bringen. Menschen – worauf sie auch einen Anspruch haben – brauchen. Deshalb fordern wir: weniger Bürokratie und (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Wolfgang mehr Mitmenschlichkeit. Zöller [CDU/CSU]: Sie haben mit Zahlen ein Problem!) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP) Wir wollen im Gesundheitswesen mehr Effizienz, mehr Wirtschaftlichkeit und mehr Gestaltungsmöglichkeiten.

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Ich will nun aber zu unserem zentralen Anliegen kommen, welches heute auch auf der Tagesordnung Nun hat der Kollege Schmidbauer für die SPD-Frak- steht. Das ist die Einbringung des Gesetzentwurfes tion das Wort. zur Änderung des Fallpauschalengesetzes. Ich möchte mich zunächst herzlich dafür bedanken, dass es mög- Horst Schmidbauer (Nürnberg) (SPD): lich war, dieses Gesetz ganz unbürokratisch auf die Ta- gesordnung zu setzen. Damit gewinnen wir natürlich Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich Zeit. Ich hoffe, dass damit ein gutes Signal verbunden glaube, es ist notwendig, ein paar Sätze zu dem, was ist und wir mit diesem Gesetz schnell an das Ziel ge- Herr Kollege Zöller eben angeführt hat, zu sagen. In langen. Die Krankenhäuser in Deutschland verdienen nächster Zeit werden wir – zwar nicht im Rahmen des es, dass wir ihnen in einer schwierigen Situation dabei Haushalts, aber generell – noch genügend Gelegenheit helfen, Entwicklungen im Krankenhausbereich voran- haben, um über das Thema Pflege zu sprechen. Denn das zubringen. ist uns ein Kernanliegen, zu dem wir auch inhaltlich ste- hen. Wir sind uns völlig klar darüber, dass wir immer (Beifall bei Abgeordneten der SPD) wieder vor neuen Herausforderungen stehen werden. Wir werden noch öfter bei der Krankenhausvergütung Herr Kollege Zöller, ich wäre Ihnen nur sehr dankbar zu einer Fortschreibung kommen müssen, weil das ein gewesen, wenn Sie auch etwas dazu gesagt hätten, wie lernendes System ist. Bei einem lernenden System müs- Sie die Frage nach der Finanzierung der Mehrkosten im sen alle Beteiligten aus dem Lernen Konsequenzen zie- Pflegebereich, die Sie eben aufgelistet haben, beantwor- hen. (B) (D) ten. Sind Sie denn der Auffassung, dass – nachdem die (Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]: Pflegeversicherung bisher ausschließlich von den Ar- Hoffentlich nicht!) beitnehmern dieses Landes finanziert wurde – in Zu- kunft auch die Arbeitgeber einen Beitrag dazu leisten Wir haben aus dem Lernen die Konsequenz ziehen müs- sollten? Es wäre interessant, einmal zu hören, wie Sie sen, dass der Gesetzgeber in einigen Bereichen nachjus- sich die Zukunft der Pflegeversicherung vorstellen und tieren muss. Das ändert aber nichts daran, dass das im auf welcher Basis sie aufgebaut werden soll. Endeffekt die Fortschreibung einer Erfolgsstory ist. Ein weiterer Punkt: Sie sprechen immer von der Erb- Ich glaube, dass die Neuorientierung im Kranken- last. Aber ich finde, dass wir nur eine Erblast festzustel- haussektor in Deutschland weniger als im internationa- len haben: dass wir ein sehr teures Gesundheitssystem len Vergleich geschätzt wird. Wir sind endlich das vorgefunden haben, zu dem der Sachverständigenrat 51. Land, das bei einem neuen Vergütungssystem im sagt, dass es sich vor allem durch Überversorgung, Fehl- Krankenhauswesen angelangt ist. Es führt kein Weg versorgung und Unterversorgung auszeichne. Wenn dies mehr zurück, sondern es führt nur noch ein Weg in die keine Erblast ist, dann weiß ich nicht, was mit dem Be- Zukunft. Das ist wichtig. Viele haben der Koalition nicht griff Erblast in Verbindung zu bringen wäre. zugetraut, dass sie den größten Ausgabenblock im Ge- sundheitswesen, nämlich den Krankenhausbereich, an- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des packt und ihn neu ordnet. Das lassen wir uns jetzt nicht BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) kaputtreden. Wenn Sie dann noch davon sprechen, dass wir in der Jetzt wird endlich Leistung sachgerecht bezahlt und gesetzlichen Krankenversicherung 2 Milliarden Euro nach Leistung abgerechnet. Wir haben in diesem neuen von Ihnen geerbt hätten, so verschweigen Sie der Öffent- Jahrhundert nicht mehr die Situation, dass die Kranken- lichkeit nach wie vor, dass ein Jahr bevor Sie abgewählt häuser nach der Zahl der belegten Betten bezahlt wer- worden sind, 30 Prozent der Menschen in unserem den, die Menschen also im Bett „festgehalten“ werden Lande weniger Zahnersatzleistungen in Anspruch neh- müssen, damit die Erträge des Krankenhauses stimmen. men konnten, weil die Differenz zwischen Ihrer Privatre- Mit solchen antiquierten Vorstellungen werden wir die gelung und dem, was die Krankenkassen erstatten durf- Zukunft nicht meistern. ten, so groß geworden ist, dass sich ein Drittel der Menschen keinen Zahnersatz mehr leisten konnte. Das (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Haben Sie mussten wir in den nachfolgenden Jahren wieder aus- schon einmal etwas von Fallpauschalen ge- gleichen. hört?) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. März 2003 2785

Horst Schmidbauer (Nürnberg) (A) Es müssen Systeme her, die die Leistung ordentlich ab- dem Gesetzesvorhaben verbundene Ausbildungsinitia- (C) bilden. tive gut laufen kann. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie der DIE GRÜNEN) Abg. Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]) Viel wichtiger dabei ist, dass endlich der Patient in den Mittelpunkt rückt. Wir sehen in den Krankenhäu- Ich ärgere mich auch über einen weiteren Aufschub. sern, die mit diesen Fallpauschalen arbeiten, dass sich Viele Krankenhäuser – 500 in der ersten Stufe, weitere die Strukturen des Krankenhauses ändern. Der Patient ist 700 in der zweiten Stufe – wollen in diesem Jahr 2003 plötzlich Mittelpunkt des Betriebsablaufs, er wird inten- mit den neuen Fallpauschalen arbeiten. Die Krankenhäu- siver betreut und versorgt. Man weiß, dass die Gewinner ser stellen sich derzeit mit all ihren Einrichtungen und dieser Entwicklung diejenigen sind, die den Patienten in allen Beschäftigten darauf ein. Wir hoffen, dass wir am den Mittelpunkt stellen und den Betriebsablauf auf ihn Donnerstag die Blockade der B-Länder überwinden, ausrichten. Nur wenn das geschieht, haben die Kranken- weil sonst die 700 Krankenhäuser nicht die Chance ha- häuser die Chance, Fortschritte zu erzielen. ben –

Wir sehen einen weiteren Fortschritt für den Patienten Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: darin, dass endlich eine ganzheitliche Betrachtung der Krankengeschichte stattfindet. Wir wollen darüber hi- Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss. naus den informierten Patienten, was Transparenz und Qualität erforderlich macht. Das werden wir mit dem Horst Schmidbauer (Nürnberg) (SPD): Gesetz konsequent in die Tat umsetzen. Das Gesetz führt zu mehr Gerechtigkeit. – ja, Herr Präsident –, das Konzept umzusetzen. Ich bin der Meinung, wir dürfen diese 700 Krankenhäuser, die Es stellte sich die Frage, welche Schlussfolgerungen sich darauf eingestellt haben und motiviert sind, einen wir aus dem Lernprozess ziehen. Es hat sich herauskris- neuen Weg zu beschreiten, nicht gegen die Wand fahren tallisiert, dass wir eine weitere Differenzierung bei den lassen. Ich bitte die Opposition, ihren Einfluss geltend zu Fallpauschalen brauchen. Die Gespräche mit den medi- machen und den Krankenhäusern zu helfen, den neuen zinischen Fachgesellschaften, mit Behindertenorganisa- Weg unbeschadet gehen zu können. tionen und mit Selbsthilfeorganisationen haben gezeigt, dass wir wesentliche Elemente, die in Australien nicht in (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des den Fallpauschalen geregelt sind, in Deutschland regeln BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Wolfgang (B) müssen und auch regeln können. Zöller [CDU/CSU]: Wir helfen allen Kranken- (D) häusern!) Deshalb öffnen wir nun das Gesetz und lassen die Regelung auch für neue Bereiche zu, wie zum Beispiel Epilepsie, Geriatrie, Pädiatrie und die Behandlung von Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: schwerstbehinderten Menschen. Von der Öffnung des Ich schließe die Aussprache. Gesetzes für diese wichtigen Personengruppen profitie- ren die Patienten und letztendlich auch die Kranken- Wir kommen zur Abstimmung über den Einzel- häuser, weil sie eine sachgerechte Vergütung bekommen. plan 15 – Bundesministerium für Gesundheit und Dafür wollen wir das Gesetz ändern. Wir müssen auch Soziale Sicherung – in der Ausschussfassung. Wer für die Konfliktlösungsmechanismen im Gesetz ändern, den Einzelplan 15 in dieser Fassung stimmt, den bitte weil wir gesehen haben, dass sich die Selbstverwaltung ich um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – im vergangenen Jahr stark blockiert hat. Deswegen ist Wer enthält sich? – Der Einzelplan 15 ist mit den auch in diesem Bereich eine Änderung vorgesehen. Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der Oppo- sition so angenommen. Wir müssen leider auch einen Schritt gehen, der uns sicherlich allen wehtut. Zum 1. Januar 2004 hätte erst- Wir kommen zum Fallpauschalenänderungsgesetz. mals die Chance bestanden, eine neue Vergütungsform Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent- für Auszubildende in Krankenhäusern in dem Sinne wurfs auf Drucksache 15/614 an die in der Tagesord- einzuführen, dass endlich die ausbildenden Krankenhäu- nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es ser belohnt würden, während die nicht ausbildenden dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist offensichtlich Krankenhäuser Zahlungen leisten müssten. nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Ich rufe nun Zusatztagesordnungspunkt 1 auf: 1 Beratung des Antrags der Bundesregierung Weil sich die Selbstverwaltungen, das heißt die Kran- Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an dem kenhausgesellschaften auf Länderebene, und die Länder EU-geführten Einsatz auf mazedonischem Territorium nicht auf ein Verfahren zur Bewertung einigen konnten, zur weiteren Stabilisierung des Friedensprozesses und sind wir leider gezwungen, das Gesetz um ein Jahr auf zum Schutz von Beobachtern internationaler Organisatio- 2005 zu verschieben. Das tut weh, aber wir müssen in nen im Rahmen der weiteren Implementierung des politi- schen Rahmenabkommens vom 13. August 2001 auf der der Anhörung nach Lösungsmöglichkeiten suchen, um Grundlage des Ersuchens des mazedonischen Präsidenten uns in der Zwischenzeit so zu positionieren, dass die mit Trajkovski vom 17. Januar 2003 und der Resolution 1371 2786 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. März 2003

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert (A) (2001) des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen vom Der Bundesverteidigungsminister fasst die Tätigkeit (C) 26. September 2001 der Bundeswehr im Ausland unter der etwas plakativen – Drucksache 15/696 – Überschrift zusammen: „Deutschland wird am Hindu- Überweisungsvorschlag: kusch verteidigt.“ Ich glaube, dass das durchaus eine an- Auswärtiger Ausschuss (f) gemessene Beschreibung für einen Teil des Auftrags der Rechtsausschuss Bundeswehr ist, dass dies aber falsch wäre, wenn man Verteidigungsausschuss Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe damit den Gesamtauftrag der Bundeswehr definieren Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und wollte; denn damit verengt man die Tätigkeit der Bun- Entwicklung deswehr auf internationale Einsätze, also auf das, was Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union künftig in stärkerem Maße als Verpflichtung auf die Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO Soldaten und die zivilen Mitarbeiter der Bundeswehr Eine Aussprache ist dazu nicht vorgesehen. Inter- zukommt. Die jetzt angestrebte Neuausrichtung der fraktionell wird die Überweisung des Antrages auf Bundeswehr darf sich meines Erachtens nicht auf inter- Drucksache 15/696 an die in der Tagesordnung aufge- nationale Einsätze beschränken. Sonst müssen die ver- führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Darüber besteht of- fassungsmäßigen Grundsätze über Bord geworfen wer- fensichtlich Einvernehmen. Dann ist die Überweisung so den. beschlossen. Schauen wir uns einmal die Entwicklung der Bun- Ich rufe nun Tagesordnungspunkt I.15 auf: deswehr in den letzten Jahrzehnten an. Seit den Pariser Einzelplan 14 Verträgen ist die Bundesrepublik verpflichtet, einen Bei- Bundesministerium der Verteidigung trag zur Verteidigung der freien Welt zu leisten. Zur Ver- wirklichung dieser Verpflichtung und zur Einhaltung der Drucksachennummer 15/562, 15/572 Wehrgesetzgebung wurden entsprechende Gesetze ge- Berichterstattung: schaffen: Die Wehrhoheit wurde in Art. 17 a des Grund- Abgeordnete Dietrich Austermann Bartholomäus Kalb gesetzes festgeschrieben. Dann wurden ein Soldaten- Dr. Elke Leonard und ein Wehrpflichtgesetz in Kraft gesetzt. Die Verfas- Alexander Bonde sung wurde in Art. 87 a geändert, in dem der Auftrag der Jürgen Koppelin Bundeswehr genau umrissen wird. Danach werden – ich Es liegen drei Änderungsanträge der Fraktion der betone das – Streitkräfte zur Verteidigung aufgestellt. CDU/CSU sowie ein Änderungsantrag der FDP-Frak- Diese Vorschrift macht deutlich, dass alle anderen Maß- tion vor. Des Weiteren liegt ein Entschließungsantrag der nahmen auch noch heute – denn Art. 87 a des Grundge- setzes gilt nach wie vor – die Ausnahme darstellen. Au- (B) CDU/CSU-Fraktion vor, über den wir morgen nach der (D) Schlussabstimmung abstimmen werden. ßer zur Verteidigung darf die Bundeswehr nur dort eingesetzt werden, wo es das Grundgesetz zulässt. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 90 Minuten vorgesehen. – Dazu höre ich Inzwischen ist es nicht mehr streitig, dass die Solda- keinen Widerspruch. Dann ist auch das so beschlossen. ten der Bundeswehr im Rahmen der Beistandsverpflich- tung des NATO-Vertrags auch außerhalb des NATO-Ge- Erster Redner ist der Kollege Dietrich Austermann, biets eingesetzt werden können. Aus der Beteiligung an CDU/CSU-Fraktion. dem kollektiven Sicherheitssystem der UNO und aus ei- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) ner anderen Vorschrift des Grundgesetzes ergibt sich, dass Entsendeentscheidungen, die den Einsatz außer- halb des NATO-Gebiets betreffen, möglich sind – au- Dietrich Austermann (CDU/CSU): ßer bei Gefahr im Verzug –, allerdings nur wenn der Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zurzeit Bundestag zugestimmt hat. Das bedeutet, dass alles, was sind 9 000 Soldaten – darunter 1 700 Wehrpflichtige – außerhalb des NATO-Gebiets stattfinden soll, egal ob es und zivile Mitarbeiter weltweit im Einsatz. nun um AWACS-Flüge oder um eine Neuausrichtung der Bundeswehr jenseits der Landesverteidigung geht, Sie sind eingesetzt, um die Freiheit zu sichern und die ohne Änderung der Verfassung und ohne Zustimmung Menschenwürde wiederherzustellen. Ich glaube, dass es des Bundestags nicht möglich ist. notwendig ist, dass wir von dieser Stelle aus für das ganze Haus und für das ganze Land den Soldaten für ih- Wir streiten gelegentlich darüber, wer die Zuständig- ren schwierigen und gefahrvollen Dienst immer wieder keit hat, ob der Minister – das ist für die Kollegen von danken. besonderer Bedeutung – zum Beispiel die Schließung von Standorten par ordre du mufti anordnen kann oder (Beifall im ganzen Hause) ob es dazu eine Befassung des Parlaments bzw. zumin- Dies ist angesichts der gegenwärtigen Situation, der da- dest eines Teils des Parlaments, des Verteidigungsaus- mit verbundenen Diskussion und beabsichtigter weite- schusses und des Haushaltsausschusses, geben muss. rer Einsätze besonders wichtig; denn die Debatte der Nach der Rechtslage – darin bin ich mir ziemlich sicher – letzten anderthalb Tage wird ja von dem außenpoliti- bedarf jede Veränderung der Struktur unserer Bundes- schen Problem überlagert, das sich mit den Stichwörtern wehr – das hat durchaus etwas mit den Finanzen und vor „Irakkrise“, „Irakkrieg“ und „Irakeinsatz“ beschreiben allem mit dem diesjährigen Haushalt zu tun –, die über lässt. das hinausgeht, was reiner Organisationserlass ist, einer Deutscher Bundestag – 15. 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Dietrich Austermann (A) Diskussion im Parlament. Sie darf also nicht einfach leistet. Die Bundeswehr ist unterfinanziert und das bleibt (C) vom Minister verfügt werden. mit dem Etat für dieses Jahr auch so. Das halte ich deshalb für wichtig, weil die Neuausrich- Vor etwa einem Jahr hieß es aus dem BMF und aus tung der Struktur der Bundeswehr – die Diskussion hat dem Verteidigungsministerium noch übereinstimmend: erst begonnen – in absehbarer Zeit zur Schließung weite- Wir haben eine klare Größenordnung für den Verteidi- rer Standorte beispielsweise in Schleswig-Holstein – in gungsetat gefunden, nämlich 24,4 Milliarden Euro. Es den nächsten Tagen wird bekannt gegeben, um welche hieß, man sei froh darüber, dass das die nächsten Jahre genau es sich handelt; auch andere Bundesländer werden so beibehalten werden könne. betroffen sein – führen wird. Die Schließung von Stand- Wenn Sie sich den heutigen Etat anschauen, dann orten hängt damit zusammen, dass man der Meinung ist, werden Sie feststellen: 250 Millionen Euro sind im die Bundeswehr solle einen völlig anderen Charakter ha- Laufe der Etatberatungen verloren gegangen. ben. Ich habe Bedenken, ob das mit der Verfassung ver- einbar ist. Nach meiner Meinung muss der Bundestag (Christian Schmidt [Fürth] [CDU/CSU]: So, so! – auch in dem sich abzeichnenden Fall der Bundeswehr- Bartholomäus Kalb [CDU/CSU]: In D-Mark soldaten, die in AWACS-Aufklärern an einem internatio- wäre das eine halbe Milliarde!) nalen Einsatz teilnehmen, beteiligt werden. Hier muss – Ja, eine halbe Milliarde. – Ein Grund dafür ist, dass noch einmal unterstrichen werden, dass es ohne diese man Einsparungen, die in einem Chefgespräch verein- Zustimmung nicht geht. bart wurden, zustimmen musste. Bisher war es so – so (Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne kenne ich es –, dass man zur Kürzung eines Etats entwe- Kastner) der eine reale Kürzung – der Etat wird herabgesetzt – oder eine globale Minderausgabe vornimmt, was bedeu- In dieser Debatte über den Bundeswehretat muss man tet, dass an bestimmten Stellen noch Sparbeiträge er- feststellen, dass die Verteidigungshaushalte, die Rot- bracht werden müssen. Grün seit der Regierungsübernahme und damit seit der Übernahme der Verantwortung für die Bundeswehr vor- Mittlerweile gibt es eine neue Form, wie man Etat- gelegt hat, zwar unterschiedlich ausgestaltet waren, aber kürzungen vornehmen kann: Gespräche zwischen einem eigentlich immer das Gleiche zum Ziel hatten: Es wurde Minister und dem Finanzminister. In diesen „Chef- gekürzt, es wurde gestrichen. Die finanzielle Situation gesprächen“ wird zugestanden, dass man im Laufe des der Bundeswehr hat sich verschlechtert. Jahres einen bestimmten Betrag einsparen muss. Das hat den Vorteil, dass ein Etat größer erscheint, als er ist, und (Bartholomäus Kalb [CDU/CSU]: Genau so dass die Verbündeten im Ausland, die die genauen Ge- (B) ist es!) heimnisse unserer Beratungen nicht kennen, glauben: Die (D) Die Finanzen der Bundeswehr sind zu knapp. Deutschen sind wacker und bleiben bei ihrer Linie. In Wirklichkeit sind im Laufe der Etatberatungen, wie ge- Diesen Zustand hat man mit unterschiedlichen Begrif- sagt, eben einmal 250 Millionen Euro verloren gegangen. fen bezeichnet. Man sprach von einem Nothaushalt, von Dass das für den Betrieb der Bundeswehr, für Beschaf- einem Übergangshaushalt oder einem Brückenhaushalt. fungsvorhaben der Bundeswehr sowie für Investitionen Herr Scharping – er hat die Verantwortung für die Bun- der Bundeswehr Konsequenzen hat, dürfte deutlich sein. deswehr jetzt erfreulicherweise nicht mehr; er hat aber viel Durcheinander angerichtet – war in dieser Angele- Schon jetzt ist klar, dass außer den bereits bekannten genheit – wie auch in anderen – sehr erfinderisch. Das Vorhaben in diesem Jahr und in den Jahren bis 2007 hat nicht dazu beigetragen, dass sich die Situation der praktisch keine neuen Beschaffungen mehr getätigt Bundeswehr verbessert hat. Eine Reform aus einem werden können. Guss hat es nicht gegeben und es wird sie auch nicht ge- (Bartholomäus Kalb [CDU/CSU]: Der Struck ben, solange die finanzielle Situation nicht konkret ver- hat Löcher in der Hosentasche! Da fällt das bessert wird. Geld durch!) Jetzt soll offensichtlich eine drastische Reduzierung er- Was das für die Bundeswehr, die gezwungen ist, zu mo- folgen, um finanziellen Spielraum für notwendige Maß- dernisieren, bedeutet, ist für jedermann ersichtlich. Ich nahmen zu bekommen. Eine drastische Reduzierung be- wiederhole: Es werden bis zum Jahre 2007 praktisch deutet für mich, dass es nach der letzten Bundeswehrreform keine neuen Beschaffungen getätigt werden können. Bis unter Scharping, die die Schließung von etwa 70 Standorten dahin besteht nämlich kein Finanzspielraum. Selbst mit sich brachte, zu weiteren 40 bis 50 Standortschlie- wenn Sie die Hälfte der Standorte schließen würden, ßungen und wahrscheinlich zur Auflösung einer Division würde Sie das nicht in die Lage versetzen, von der einge- kommen wird. Ich bin sehr gespannt, was der Verteidi- schlagenen Linie deutlich abzuweichen, es sei denn, man gungsminister heute dazu sagt. Man kennt das ja: An einem beabsichtigt tatsächlich, die Bundeswehr als Steinbruch Tag werden von Regierungsmitgliedern Erklärungen abge- anzusehen. geben, die kurz danach – ich denke in diesem Fall an den 28. März, dann wird der Generalinspekteur seine konkreten Der Auftrag an den Generalinspekteur, nach Einspar- Pläne vorlegen – möglicherweise nicht mehr gelten. möglichkeiten zu suchen, ist nur dann zu erfüllen, wenn die Bundeswehr nicht behutsam reformiert, sondern wei- Sparbeiträge zur Konsolidierung des Bundeshaushal- ter „durcheinander geschüttelt“ wird. Für Letzteres spre- tes werden zulasten der Investitionsmöglichkeiten ge- chen allerdings gewisse Ankündigungen. In Schleswig- 2788 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. März 2003

Dietrich Austermann (A) Holstein zum Beispiel wurden falsche Standortentschei- nicht gerade dafür, dass man auf effektive Abrechnungs- (C) dungen getroffen: die Auflösung der Marineflieger- kontrolle Wert legt. einheit, die Begrenzung der Luftabwehr, die Begrenzung Das Bekleidungsmanagement ist nur deshalb günstig, der Anzahl der Hubschrauber und die Reduzierung der weil man in den letzten Jahren so viel angeschafft hat, Anzahl von gepanzerten Fahrzeugen. Wenn man die dass zur Zeit nichts anzuschaffen ist. Zahl der internationalen Einsätze steigern und die Bun- deswehr stärker auf internationale Einsätze ausrichten Das Liegenschaftsmanagement liegt bisher auf Eis. will, dann muss man vor allen Dingen auf gepanzerte Fahrzeuge und nicht auf Holzgewehre oder andere Ge- Die Wunderwaffe Herkules dürfte in diesem Jahr räte setzen. nicht mehr gezündet werden; das hat inzwischen auch das Ministerium eingesehen. Der Wunsch, weniger gepanzerte Fahrzeuge für das Effizienzgewinne sind wegen der tölpelhaften Art der Heer bereitzustellen, steht auch im Widerspruch zur Privatisierung in den letzten Jahren nicht zu erwarten. Bündnisverpflichtung; denn kein Einsatz im Rahmen ei- Trotzdem stürzt sich die GEBB jetzt auf neue Vorhaben: ner Krisenreaktion ist ohne diese gepanzerten Fahrzeuge die Optimierung handelsüblicher Güter, die Neuordnung möglich. des Verpflegungswesens usw. Wir können Sie, Herr Mi- Der Verteidigungsminister weist immer wieder darauf nister, nur auffordern, diese Gesellschaft endlich aufzu- hin, dass ein gesicherter Etat zur Verfügung steht. Die lösen und dem Spuk ein Ende zu machen. scheinbare Anhebung der Investitionssumme ist aller- (Bartholomäus Kalb [CDU/CSU]: Jawohl! Der dings nur auf die Umbuchung der Mittel für Auslands- größte Unfug aller Zeiten!) einsätze aus dem allgemeinen Etat in den Verteidi- gungsetat zurückzuführen. Im Laufe des Jahres dürfte es Sie schadet der Bundeswehr. Sie verwischt Verantwor- schwierig sein, die Mittel für internationale Einsätze auf- tung. Das ist der größte Unfug, der im Bereich der Bun- zubringen, weil der Etatansatz in diesem Jahr rückläufig deswehr angerichtet worden ist. ist. In diesem Jahr steht die Entscheidung darüber an, wer in Afghanistan Lead Nation wird. Die Franzosen (Beifall bei der CDU/CSU) weigern sich bisher, einer Übernahme dieser Funktion Der Anteil des Verteidigungsetats am Bundeshaushalt durch die NATO insgesamt zuzustimmen. Das bedeutet, sinkt weiter. Er liegt noch bei 9,8 Prozent. Dass das Ist- dass unter Umständen auch Deutschland weitere Kosten ergebnis im letzten Jahr ein Plus aufgewiesen hat, ist nur zu tragen hat. Von anderen internationalen Einsätzen, die auf die Verstärkung aus dem Antiterrorpaket zurückzu- sich in diesem Jahr ergeben werden, will ich gar nicht re- führen. Der Investitionsanteil wächst nur nominal. Wenn den. (B) gleichwohl Finanzierungsspielräume zugunsten von (D) Neuvorhaben aufgezeigt worden sind, dann betrifft das Nun hat der frühere Verteidigungsminister, den man nur Vorhaben, die anfinanziert werden, aber nicht auf leider immer wieder erwähnen muss, weil er viele Stell- Dauer finanziert werden. schrauben im Etat gleichzeitig gedreht und damit viel Schaden angerichtet hat, aus ideologischen oder aus wel- Wir sind uns mit dem Ministerium über die Beschaffung chen Gründen auch immer geglaubt, man könne durch der Großraumtransportflugzeuge einig. Ich glaube, dass Privatisierungsmaßnahmen eine Fülle von effizienz- Einigkeit im ganzen Hause besteht, nachdem inzwischen steigernden Maßnahmen einleiten. Es wurde die Gesell- klar ist, dass die Zahl von 73 nicht mehr gilt, sondern die schaft für Entwicklung, Beschaffung und Betrieb, Zahl von 60 gilt. Wir haben allerdings Zweifel, ob die auch GEBB, gegründet. Sie sollte das Ganze verbessern und vom Vorgänger des jetzigen Ministers geplante Art der gewaltige Erträge erwirtschaften. Sie deckt nach zwei- Finanzierung in Ordnung ist. Man möchte eine Zahlung bei einhalb Jahren Tätigkeit noch nicht einmal ihre eigenen Lieferung. Zurzeit grübeln Finanzministerium und Vertei- Kosten, die inzwischen in der Größenordnung von digungsministerium darüber, wie man das machen kann, 60 Millionen DM liegen. Ich habe den Eindruck, dass ohne dass es im Haushalt beim Bund oder in der Bilanz, des sich auch die Genossen inzwischen von dem Hurra- Unternehmens, das uns den Kredit vermitteln soll, er- Patriotismus gegenüber der GEBB verabschieden. scheint. In beiden Fällen wäre das nämlich für die Beteilig- ten schädlich. Die Fuhrparkgesellschaft, die die gesamten Fahr- zeuge der Bundeswehr übernehmen sollte, scheint er- Ich sage Ihnen: Kommen Sie auf die Rechtslage, die folgreich zu sein, aber nur deshalb, weil offensichtlich Haushaltsordnung, zurück! Machen Sie das Ganze nach nicht richtig gerechnet wird. Sie ist im Laufe der nächs- einem ordentlichen Modell, zumal die Finanzierung ten vier Jahre teurer, als es der herkömmliche Betrieb durch Tabaksteuer und Versicherungsteuer längst gere- durch die Bundeswehr selbst wäre. gelt sein sollte. Interessant ist: Inzwischen kümmert sich die EU um Hinter diesem Thema versteckt sich aber auch noch dieses Vorhaben. Sie prüft zurzeit die Mehrwertsteuerbe- etwas ganz anderes, nämlich dass durch die zu geringen freiung für die Fuhrparkgesellschaft. Aber nur durch die Beschaffungen und den zu geringen Spielraum für die Mehrwertsteuerbefreiung der privaten Gesellschaft, die Modernisierung der Bundeswehr auch unsere deutsche die Bundeswehr einrichten wollte, gibt es überhaupt nur wehrtechnische Industrie in gewaltige Probleme kommt. den Hauch einer Chance, dass sich diese Maßnahme Wenn man das auffangen will, dann muss man endlich rechnen könnte. Dass dann auch noch ein General im dazu übergehen, auf europäischer Ebene eine Harmoni- Aufsichtsrat dieser Fuhrparkgesellschaft sitzt, spricht sierung des Exports anzustreben. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. März 2003 2789

Dietrich Austermann (A) Es kann nicht sein, dass wir neben der Tatsache, dass eine Erhöhung des Etats um 500 Millionen Euro bean- (C) zu wenig Geld für die Modernisierung der Bundeswehr tragt. Verbal stützt die Bundesregierung diesen Kurs. vorhanden ist, auch noch den Firmen die Möglichkeit Minister Fischer hat vor kurzem in der Zeitung gesagt, versagen, innerhalb des NATO-Gebietes Geschäfte zu wir bräuchten eine stärkere Kraft der Militarisierung, die machen, die auch zur Aufrechterhaltung der Verteidi- Europäer müssten sich stärker engagieren. Wenn das so gungsbereitschaft der NATO-Partner notwendig sind. ist, dann kann man dem Antrag, den wir heute stellen Mir leuchtet überhaupt nicht ein, dass man sich hier und in der dritten Lesung noch einmal stellen wollen, noch vor Wochen mit Verve dafür eingesetzt hat, die nämlich den Etat um 500 Millionen Euro – 100 Millio- Türkei in die Europäische Union aufzunehmen, und nen Euro für die Truppe, 400 Millionen Euro für Be- gleichzeitig sagt, Waffenlieferungen dürften nicht statt- schaffungen – aufzustocken, zustimmen. Wir werden die finden. Zustimmung zum Etat, die früher üblich war, von einer Rückkehr der Koalition zu einer soliden Verteidigungs- Die Harmonisierung des Exports auf europäischer politik abhängig machen. Ebene scheint mir notwendig zu sein. Das schließt die Aufforderung ein – das sage ich auch als norddeutscher Herzlichen Dank. Abgeordneter –, die gewünschte Lieferung von U-Booten durch HDW an Taiwan zu prüfen. Interessanterweise hat (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- sich der ehemalige Kollege Opel dafür ausgesprochen. neten der FDP) Meine Damen und Herren, der einzige erfreuliche Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Faktor an dem Verteidigungsetat ist, dass die Ausgaben für Forschung, Entwicklung und Erprobung auf rund Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Elke Leonhard, 1 Milliarde Euro angestiegen sind. Sie erreichen damit SPD-Fraktion. übrigens gerade einmal das Niveau des Jahres 1984. Wenn es richtig ist, dass dieser Ausgabenbereich die Zu- Dr. Elke Leonhard (SPD): kunftsfähigkeit der Bundeswehr reflektiert, dann liegt der jetzigen Bundesregierung die Zukunft der Bundes- Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle- wehr offensichtlich nicht sonderlich am Herzen; denn gen! Aufgrund der aktuellen Situation zwei Punkte vor- dieser Bereich hätte deutlich eher und mehr verstärkt weg: Wir sind gegenwärtig Augenzeugen zweier außen- werden müssen. und sicherheitspolitischer Ansätze; zum einen der „Mili- Wie es ohne zusätzliche Finanzmittel gelingen soll, tarisierung der Außenpolitik“ und zum anderen einer erstens den Reformprozess voranzubringen und die Be- „Renaissance der Diplomatie“, die – wenn auch gegen- (B) triebsstrukturen zu optimieren, zweitens Fähigkeits- wärtig nicht erfolgreich – an Intensität und Dichte für (D) lücken in Ausrüstungen und Material zu schließen und Europa und die Vereinten Nationen Geschichte schrei- drittens den Beitrag der Bundeswehr zur internationalen ben wird. Krisenbewältigung in unverändertem Umfang aufrecht- Der Helsinki-Prozess dauerte 22 Jahre und die Um- zuerhalten, bleibt unerfindlich, wenn man sich die setzung des Korbes III hat humaner und siche- Finanzplanung anschaut. rer gemacht, trotz anfänglicher Skepsis. Zunächst hieß es, der Generalinspekteur habe den Der ehemalige Bundeskanzler der Bundesrepublik Auftrag, durch Strecken, Schieben und Streichen Luft im Deutschland Willy Brandt hat am 11. Dezember 1971 Etat zu gewinnen. Inzwischen scheint dies zu den Akten anlässlich der Verleihung des Friedensnobelpreises in gelegt worden zu sein. Kürzungen der Programmvolu- Oslo gesagt: Der Krieg darf kein Mittel der Politik sein. mina können erst in späteren Jahren Einsparungen brin- Es geht darum, Kriege abzuschaffen, nicht nur, sie zu be- gen. Also bleibt nur der Eingriff in den Betrieb. Dies be- grenzen! deutet eine neue Diskussion um Standorte, die sich über das ganze Bundesgebiet ausdehnen dürfte. Lassen Sie mich zu Beginn ein aufrichtiges Danke an das Bundesministerium der Verteidigung aussprechen, Kein vernünftiger Haushälter wert sich gegen den stellvertretend seien Minister Dr. Struck und die Herren Versuch, die Bundeswehr sparsamer zu machen. Eine Staatssekretäre Wagner, Eickenboom, Biederbick und Reform der Reform Scharpings ist geradezu geboten. Kolbow namentlich genannt. Aber auch die Haushalts- Aber dies darf nicht mit der Brechstange geschehen. abteilung hat die Bücher offen gelegt. Ebenso gilt mein Lassen Sie mich mit einem Hinweis auf den Bericht Dank den Berichterstattern der CDU/CSU-Fraktion. Wir des Wehrbeauftragten schließen, der feststellt, dass haben eben gesehen: Die Sorge ist berechtigt; da reden sich die Zahl der Beschwerden im letzten Jahr und auch wir nicht darum herum. Wir streiten über begründete in den ersten Monaten dieses Jahres erheblich gesteigert Ansätze. Ich werde auf diesen Punkt zurückkommen. hat. Das hängt mit der Unterfinanzierung der Bundes- Mein Dank geht auch in Richtung der FDP und natürlich wehr zusammen. Es hängt damit zusammen, dass immer an meinen Kollegen vom Bündnis 90/Die Grünen. mehr Material und Mittel aus dem täglichen Betrieb ab- Mit der gebotenen Sachlichkeit sind wir bemüht, die gezogen und ins Ausland geschafft werden müssen und Investitionsquote von 24,6 auf 30 Prozent zu steigern. im Inland Lücken entstehen. Ich sage das jetzt, weil viele der Fragen, die Sie auf- Das macht deutlich, dass wir eine Umkehr brauchen. geworfen haben, damit beantwortet werden. Die Diffe- Deswegen haben wir als CDU/CSU in den Beratungen renzen liegen eher im Grundsätzlichen und lassen sich 2790 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. März 2003

Dr. Elke Leonhard (A) auf die Termini Friedensumfang, Heimatschutztruppe, sprochen haben – der Minister wird auf die Einzelheiten (C) Wehrpflicht und Entsendegesetz reduzieren. eingehen –, haben wir oft im Berichterstattergespräch beraten und mittels des Finanzstatuts gesehen, dass sie Entschiedene Vorbehalte habe ich – wenn ich „ich“ solide finanziert sind. sage, ist es nicht mit der Fraktion abgestimmt – bezüg- lich der Vorstellung der Opposition zur verfassungs- Zu den einzelnen Ausgabenbereichen lässt sich Fol- rechtlichen Erweiterung der Aufgaben der Bundeswehr gendes festhalten: Die Betriebsausgaben sind rückläufig, im Innern. Zur Optimierung der Zusammenarbeit von beanspruchen aber mit 18,3 Milliarden Euro immer noch Bundeswehr, Polizei, Grenz-, Zivil- und Katastrophen- über drei Viertel des Verteidigungsetats. Personalausga- schutz sage ich Ja, aber die bestehenden verfassungsmä- ben sind in Höhe von 12,4 Milliarden Euro veranschlagt. ßigen Grundlagen reichen dafür schon aus. Die geltende Obergrenze von 12,5 Milliarden Euro wird trotz der inzwischen bekannten Einkommensverbesse- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des rungen voraussichtlich nicht ganz ausgeschöpft werden. BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Die Ausgaben für Materialerhaltung und die sonstigen Sie müssen nur konsequenter umgesetzt werden. Die Zu- Betriebsausgaben liegen auf der Höhe der Ausgaben des sammenarbeit der verschiedenen Institutionen muss in Vorjahres. Damit kann der Betrieb der Streitkräfte auch gemeinsamen Übungen erprobt werden. auf materiellem Gebiet sichergestellt werden. Dennoch ist eines festzustellen: Wer das Papier der Die verteidigungsinvestiven Ausgaben betragen im Union liest, erkennt, dass es durchaus eine tragfähige kommenden Jahr rund 6 Milliarden Euro. Dies ent- Grundlage für eine weiterführende Diskussion ist, weil spricht einer Investitionsquote von rund 25 Prozent. Herr es keine substanziellen Widersprüche gegen die neuen Kollege Austermann, das Desaster gab es im Jahre 1997, verteidigungspolitischen Richtlinien erwarten lässt. Die als wir eine Quote von nur 21,4 Prozent hatten. Ich habe Schaffung einer Nationalgarde, wie von der FDP vorge- die Reden – damals waren die Rollen anders verteilt – schlagen, des Verteidigungsministers Rühe (Günther Friedrich Nolting [FDP]: Guter Vor- (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Das war schlag!) ein guter!) ist nicht hilfreich. Eine Schattenarmee würde mehr Pro- – wenn Sie einen guten hatten, dann haben wir einen bleme schaffen, Herr Kollege, als sie zu lösen vorgibt. sehr guten Verteidigungsminister – und seiner Kollegen, Dennoch – das muss auch gesagt werden – enthält das die ihn unterstützt haben, nachgelesen. Jetzt liegt die FDP-Papier klar artikulierte sozial-liberale Grundsätze Quote bei 25 Prozent. Wir werden sie weiter steigern. sowie die Ablehnung eines Automatismus, der die deut- (B) (D) schen Soldaten an allen denkbaren Missionen teilnehmen (Beifall bei der SPD) lässt. Gefordert – das ist besonders sympathisch – werden Zum Personal: Auch im Haushalt 2003 wird das eine „Kultur der Zurückhaltung“ und ein stärkerer Ein- Bundesministerium der Verteidigung durch Planstellen- satz – ich sagte es schon – von Politik und Diplomatie. verbesserung die Attraktivität des Dienstes in den Nun möchte ich zum Haushalt 2003 kommen. Der Streitkräften fördern. Im Rahmen des Attraktivitäts- Haushaltsausschuss des Deutschen Bundestages hat am programms sind nahezu 5 000 Planstellenverbesserun- 20. Februar 2003 den Regierungsentwurf des Verteidi- gen für Soldaten, im Wesentlichen für Mannschaften und gungshaushaltes 2003 abschließend beraten. Unter Be- Unteroffiziere, vorgesehen. Auf dieser Basis werden in rücksichtigung der ab 2002 bereitgestellten Zusatzmittel diesem Jahr rund 13 000 Beförderungen möglich, davon des Antiterrorprogramms von rund 767 Millionen Euro rund 10 700 bei den Unteroffizieren und rund 2 100 bei hat der Verteidigungshaushalt unverändert ein Volumen den Mannschaftsgraden. Mit rund 200 Planstellenhebun- von rund 24,4 Milliarden Euro. Der Anteil des Verteidi- gen kann auch im Bereich der mittleren Besoldungs- gungshaushaltes an den Gesamtausgaben des Bundes be- gruppen des Zivilpersonals ein erster Schritt zur Verbes- trägt im kommenden Jahr – es wurde schon gesagt – serung der Beförderungsmöglichkeiten getan werden. 9,8 Prozent. Im Ergebnis ist dies eine Verstetigung der Lassen Sie mich noch ein Wort zur Konsolidierung Ausgaben gegenüber dem Haushalt 2002. sagen. Der Verteidigungshaushalt ist weiterhin in die Innerhalb des Einzelplanes 14 sind eine angemessene von der Bundesregierung fortgesetzte Politik der Haus- finanzielle Vorsorge für die Fortführung der laufenden haltskonsolidierung eingebunden, um die aktuellen kon- internationalen Einsätze, der geplante Aufwuchs bei den junkturellen Verwerfungen aufzufangen und die jährli- Zeit- und Berufssoldaten einschließlich der beschlosse- chen Zins- und Tilgungsverpflichtungen zu begrenzen. nen Attraktivitätsmaßnahmen und der sozialverträgliche Nur so können die notwendigen Gestaltungsspielräume Abbau von Zivilpersonal, der dazu beiträgt, dass die Per- für wichtige Zukunftsinvestitionen auch für den Vertei- sonalausgaben mittelfristig bis auf maximal rund 51 Pro- digungshaushalt zurückgewonnen werden. zent der Verteidigungsausgaben eingefroren werden Zur Konsolidierung des Bundeshaushaltes trägt die können, berücksichtigt. Bundeswehr durch den Verzicht in Höhe von 94 Millio- Über die Mittel für den notwendigen Ausbildungs- nen Euro – ich sage das ganz deutlich – auf Einnahmen und Übungsbetrieb der Streitkräfte und die Finanzierung aus der Veräußerung von Wehrmaterial sowie auf einen laufender Entwicklungs- und Beschaffungsvorhaben, Teil der Verstärkungsmöglichkeiten zugunsten der inter- insbesondere auch der Großvorhaben, die Sie eben ange- nationalen Einsätze bei. Hinzu kommen 151 Millionen Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. März 2003 2791

Dr. Elke Leonhard (A) Euro, die im Haushaltsvollzug im Einzelplan 14 zu er- Risiken und Bedrohungen eine gemeinsame Antwort er- (C) wirtschaften sind. Verstärkungsmöglichkeiten des Ein- fordern. Kooperation mit Partnern und Verbündeten so- zelplans 14 bestehen noch in Höhe von 192 Millio- wie das Zusammenwirken in internationalen Organisati- nen Euro aus dem gesamten Bundeshaushalt zur Finan- onen sind für eine effektive Sicherheitsvorsorge und für zierung der internationalen Einsätze im Zusammenhang die Bewältigung von Krisen unerlässlich. mit der Übernahme der Funktion als Lead Nation in (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Afghanistan. BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Einige Worte zur Perspektive. Der Minister hat am Ein weiterer Punkt in diesem Zusammenhang ist der 5. Dezember 2002 in groben Umrissen die Neuausrich- intelligente Umgang mit Ressourcen. Er ist ebenso be- tung der Bundeswehr skizziert und am 21. Februar mit stimmend für unsere Reformüberlegungen wie der intel- elf Kriterien die Kerngedanken der neuen verteidigungs- ligente Umgang mit knappen Ressourcen. Sie werden politischen Richtlinien konkretisiert. Er wird voraus- künftig noch stärker als bisher vor allem zur Erfüllung sichtlich im Mai dieses Jahres die neuen verteidigungs- der originär militärischen Aufgaben eingesetzt und – wo politischen Richtlinien erlassen. Erst auf der Grundlage immer möglich und zweckmäßig – durch multinationale dieser Richtlinien werden wir, wie er treffend formu- Kooperationen gebündelt werden. So ist es der Bundes- lierte, nicht nur die Leitplanken, sondern auch die Fahr- wehr beispielsweise gelungen, die Ausgaben für interna- bahnmarkierungen der qualitativen Anpassung an die tionale Einsätze seit 1995 zu verzehnfachen, ohne den neuen außen- und sicherheitspolitischen Notwendigkei- Plafond wesentlich zu erhöhen. ten erkennen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Die Etablierung eines gesellschaftlichen Diskurses scheint mir – ich sage „mir“, weil dieser Gedanke nicht Gleichzeitig ist der Verteidigungshaushalt weiterhin in mit der Fraktion abgesprochen ist – erforderlich. Aber die von der Bundesregierung fortgesetzte Politik der wer will, dass die Soldaten für ihren verantwortlichen Haushaltskonsolidierung eingebunden. Auftrag auch weiterhin die Akzeptanz der Gesellschaft Wir haben also folgende Situation: Die Bundeswehr und damit die nötige Rückendeckung haben, muss einen ist erstens zu einer Armee im Einsatz geworden. Derzeit Diskurs, der von den parlamentarischen Gremien und befinden sich rund 10 000 Soldaten in sechs internatio- von den Plenardebatten in die Gesellschaft strömt, etab- nalen Einsätzen. Die Erfahrung aus internationalen Ein- lieren. sätzen zweitens, das mit wachsender Dynamik komple- Wer den Menschen draußen intensiv zuhört, der wird xer werdende sicherheitspolitische Umfeld drittens und erfahren, dass sie Ängste haben. Ich glaube, es ist wich- schließlich viertens die Erfahrungen der Bundeswehr bei (B) tig, dass die Menschen hören, sehen und fühlen, dass al- der Umsetzung der Reformen machen eine Weiterent- (D) les dafür getan wird, die Bedrohung zu erkennen und zu wicklung der Reformen zwingend erforderlich. Dies ist minimieren. Ich bin sicher: Die gegenwärtigen Ängste eine ständige Aufgabe. Sie erfordert enorme Anstren- der Menschen, die, wie Psychologen und Ökonomen sa- gungen bei den Soldaten und den zivilen Mitarbeitern gen, auch ökonomische Folgen haben, werden in dem der Bundeswehr, die seit Jahren erbracht und auch wei- Maße reduziert, wie die Prozesse der Sicherheitspolitik terhin erforderlich sein werden. transparent werden. Insofern steht eine große Aufgabe Lassen Sie mich an dieser Stelle unseren Soldaten vor uns. Dank und Respekt aussprechen. Sie sind gegenwärtig Was muss transparent werden? die besten Botschafter der Bundesrepublik Deutschland. Erstens. Europa ist nicht zuletzt aufgrund der Verän- (Christian Schmidt [Fürth] [CDU/CSU]: Das derungen der sicherheitspolitischen Bedingungen nach stimmt!) 1990 zu einem Stabilitätsraum geworden, der ohne exis- Sie sichern den Frieden und zivile Prozesse! tenzielle Bedrohung ist. Gleichwohl müssen wir gewahr werden, dass terroristische Bedrohungen und die zuneh- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des mende Verbreitung von Massenvernichtungswaffen die BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN sowie der internationale Staatengemeinschaft mit der Gefahr der CDU/CSU und der FDP) Destabilisierung ihrer politischen Ordnungen konfron- Um an die Rede des Bundeskanzlers vom vergange- tieren. nen Freitag anzuschließen: Die Bundeswehr hat die Zweitens. Sicherheit in und für Europa ist unteilbar. Probleme nicht auf die lange Bank geschoben. Die Kein einzelner Staat – auch nicht die USA – kann allein Bundeswehr lässt Lösungen nicht an Einzelinteressen Frieden, Sicherheit und Stabilität für sich oder sein Um- scheitern. Insofern vollzieht sich in der Bundeswehr seit feld garantieren. Moderne militärische Fähigkeiten blei- Jahren beispielhaft, was anderen Bereichen der Gesell- ben daher Teil einer intelligenten, langfristigen und um- schaft, die weit mehr im Blickpunkt stehen, noch bevor- fassenden Vorsorge im Hinblick auf unsere Sicherheit. steht. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts stellen sich komple- Der Weg ist klar vorgegeben: Damit die Ausrüstung xere und immer weniger berechenbare Herausforderun- der Bundeswehr umfassend modernisiert und den neuen gen. Das Aufgabenspektrum unserer Streitkräfte ist Fähigkeiten angepasst werden kann, müssen Freiräume damit vielfältiger und differenzierter geworden. Wir las- für neue Investitionen geschaffen werden. Die Inves- sen uns dabei von dem Prinzip leiten, dass gemeinsame titionsausgaben im Verteidigungshaushalt hatten 1997 2792 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. März 2003

Dr. Elke Leonhard (A) einen Anteil von 21,6 Prozent; das sagte ich soeben. Für – Das ist noch lange nicht vorbei. – Hierfür haben wir (C) eine umfassende Modernisierung der Ausrüstung ist – das das Projekt Herkules zur qualitativen Verbesserung der haben wir hochgerechnet – eine Investitionsquote von Infrastruktur und Kommunikation etabliert. rund 30 Prozent erforderlich. Wir liegen im Übrigen mit (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Jürgen Koppelin unserer Quote von 25 Prozent durchaus in der oberen [FDP]: Das mit Amerika ist vorbei!) Spitze des mit vergleichbaren Nationen besetzten Feldes, müssen uns also nicht verstecken. – Ich war 16 Jahre in Amerika und ich sage Ihnen: Es ist nicht vorbei. Wir haben bald wieder eine andere Regie- Die rot-grüne Koalition hat die Investitionsquote auf rung, dann geht es anders weiter. 24,7 Prozent im Jahre 2002 angehoben und noch im Zeitraum des 36. Finanzplanes bis 2006 wird dieser Wert (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und schrittweise auf über 27 Prozent angehoben. der FDP – Bartholomäus Kalb [CDU/CSU]: Die Revolution ist ausgerufen! – Weitere Zu- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) rufe von der CDU/CSU: Sehr gut!) Aufgrund des konstanten Plafonds müssen die Be- – Nicht hier! Damit es keine Missverständnisse gibt: triebsausgaben gesenkt werden. Nicht in der Bundesrepublik! Die nächsten Wahlen sind Der Verteidigungsminister beabsichtigt, bereits 2004 in den Vereinigten Staaten von Amerika!! die Bundeswehrplanung an die voraussichtlich verfüg- (Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Die Revo- baren Finanzmittel anzupassen. Damit werden erstmals lution entlässt ihre Regierung!) in der Geschichte der Bundeswehr die militärischen Pla- nungen nicht nur an den militärischen Forderungen aus- Entgegen den Ratschlägen des Bundesrechnungs- gerichtet, sondern zusätzlich mit betriebswirtschaft- hofes, dessen Mitarbeitern für ihre Gründlichkeit zu lichen Methoden und Prinzipien in Einklang gebracht. danken ist, haben wir uns entschieden, grünes Licht für Das führt zu einer Optimierung der Leistung der Bun- den nächsten Planungsschritt zu geben, damit nach drei deswehr bei neuem Plafond. Jahren Stillstand in diesem so wesentlichen Prozess kein weiteres Jahr durch unprofessionelle Experimentier- Was heißt das konkret? Bei der Suche nach der je- schritte vertan wird. Die Lösung heißt: strategische Part- weils optimalen Lösung darf es grundsätzlich keine Ta- nerschaft und Kooperation mit der Wirtschaft. bus geben. Die Reform der Bundeswehr ist auf Effektivität und (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Nachhaltigkeit angelegt. Sie ist mit der strikten Ökono- misierung beispielhaft für die notwendigen Anstrengun- Umfang, Struktur und Ausstattung bedürfen ständiger, (B) gen in anderen Bereichen wie Wirtschaft, Arbeitsmarkt, (D) eingehender und kritischer Prüfungen sowie gegebenen- Gesundheit und Rentenpolitik. Die Menschen in der falls neuer Entscheidungen. Dies haben wir bereits in der Bundeswehr haben es verdient, dass wir ihre Leistungen Koalitionsvereinbarung deutlich gemacht. So ist bei- und ihre Reformwilligkeit anerkennen. spielsweise die Umfangzahl von 285 000 Soldaten keine universelle Naturkonstante. Sie muss sich aus den ange- (Beifall des Abg. Jürgen Koppelin [FDP]) sprochenen Randbedingungen ableiten. Wer den Konso- lidierungskurs fortsetzen und den investiven Anteil bis Mit dem Bundeshaushalt 2003 wird ein ausgewoge- auf 30 Prozent steigern will, kommt nicht umhin, über ner Verteidigungshaushalt verabschiedet. Er leistet ei- die Umfangzahl von 280 000 Soldaten nachzudenken. nerseits einen enormen Beitrag zur Konsolidierung und Das ist meine Auffassung. trägt andererseits zur konsequenten Forsetzung der größ- ten Reform der Bundeswehr mit beispielhaften Reform- (Günther Friedrich Nolting [FDP]: Richtig! schritten ohne zusätzliche Ansprüche an den Bundes- Sehr gut!) haushalt bei. Ich habe immer wieder gesagt: Man muss redlich sein Herzlichen Dank. und sorgfältig zwischen dem, was schon Mehrheitsmei- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ nung ist, und dem, was man selbst zu verteidigen ge- DIE GRÜNEN) denkt, trennen.

Die Ökonomisierung der Reform – ich würde den Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Vorgang so bezeichnen – verlangt weitere intelligente Ansätze. Dieser Prozess ist in vollem Gange. Lassen Sie Nächster Redner ist der Kollege Günther Nolting, mich exemplarisch die Konzeption der Informations- FDP-Fraktion. und Kommunikationstechnologie erwähnen. Der Mi- nister formulierte ebenso treffend wie bildhaft: Der Sol- Günther Friedrich Nolting (FDP): dat der Zukunft wird über einen Laptop nicht nur mit sei- nen Vorgesetzten oder seinen Stäben, sondern mit allen Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frau Stellen verbunden sein. Er muss mit amerikanischen Kollegin Leonhard, wenn Sie im Zusammenhang mit oder belgischen Kameraden, die im gleichen Auslands- den transatlantischen Beziehungen davon sprechen, wir einsatz sind, vernetzt sein können. hätten bald eine neue Regierung und dann werde alles besser, dann kann ich dem nur zustimmen. Wir werden (Zuruf von der CDU/CSU: Laptop ist vorbei!) Sie dabei tatkräftig unterstützen. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. März 2003 2793

Günther Friedrich Nolting (A) Meine Damen und Herren, ich danke zu Beginn Die Hauptursache dieser Probleme ist die äußerst (C) meiner Rede allen Soldatinnen und Soldaten sowie allen zögerliche Nachsteuerung der Reform der Bundeswehr zivilen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Bundes- durch Minister Struck, die wieder zu kurz greift und wehr für ihre außerordentlich guten Leistungen, die sie nicht den echten und längst überfälligen Strukturwandel im letzten Jahr erbracht haben, bringt. (Beifall bei der FDP, der SPD und der CDU/ (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten CSU) der CDU/CSU) und zwar, Herr Kollege Austermann, sowohl im Ausland Der gordische Knoten der Bundeswehr heißt Wehr- als auch im Inland, zum Teil unter widrigsten Umstän- pflicht. Wird dieser nicht durchgeschlagen, gibt es keine den. Wir können auf den Leistungswillen und die Leis- auch nur mittelfristige Planungssicherheit für die Solda- tungsfähigkeit der Bundeswehrangehörigen stolz sein. ten und ihre Familien. Stolz können wir allerdings nicht auf die Leistungen Meine Damen und Herren, die FDP hat bereits vor der Bundesregierung sein; vier Jahren praktikable Vorstellungen zur Reform der Bundeswehr vorgelegt. Diese tragen sowohl den sicher- (Widerspruch bei der SPD) heitspolitischen Anforderungen als auch den gesell- denn diese Bundesregierung gibt der Bundeswehr zwar schaftspolitischen Notwendigkeiten Rechnung. Lange immer wieder neue Aufgaben und Aufträge, nicht aber Zeit wurden unsere Reformvorschläge entweder igno- die dazu nötigen Mittel. Frau Kollegin Leonhard, als Sie riert oder als nicht realisierbar abgetan. Doch die heute den Haushalt bejubelt haben, haben Sie vergessen, Weizsäcker-Kommission und andere Institutionen mit aufzuzeigen, dass aus dem jetzigen Haushalt rund Fachverstand griffen die Vorstellungen der FDP auf und 1,2 Milliarden Euro für Auslandseinsätze bezahlt werden schlossen sich diesen an. müssen und dass seit 1999 die Personalkosten um rund 1 Milliarde Euro gestiegen sind. Daher kann ich nur fest- Vier Jahre sind nun vergangen, ohne dass sich für die halten, dass es um diesen Haushalt schlecht bestellt ist. Bundeswehr etwas zum Positiven verändert hat. Aber ei- nige Sicherheitspolitiker aus der Union und auch der (Jürgen Koppelin [FDP]: Sehr wahr!) SPD sind allmählich aufgewacht und nähern sich we- nigstens mit einigen wenigen ihrer zu Papier gebrachten Die Auswirkungen dieser verfehlten Politik sind im Gedanken den FDP-Vorschlägen an. letzten Bericht des Wehrbeauftragten ungeschminkt dargestellt worden. Auch dazu haben Sie heute nichts (Beifall bei der FDP – Bartholomäus Kalb [CDU/ gesagt. Daher zeige ich auf, wie es um die Bundeswehr CSU]: Da können wir nicht klatschen!) (B) wirklich bestellt ist. Wenn mit der Bundeswehr alles in (D) Ordnung ist, wie Sie sagten, Frau Kollegin Leonhard, Die Pläne des Verteidigungsministers jedoch hinken so- warum haben wir dann einen Anstieg der Eingaben beim gar den vorsichtigen Veränderungswünschen seiner eige- Wehrbeauftragten um 32 Prozent? nen Fraktionskolleginnen und -kollegen hinterher. Seine Reformvorstellungen sind mutlos und werden darüber (Beifall bei der FDP) hinaus nur halbherzig weiterverfolgt. Seit Bestehen des Amtes des Wehrbeauftragten, also seit (Beifall bei der FDP) 1959, hat es noch nie eine so hohe Zahl von Eingaben gegeben. Warum gibt es dann ein Fehl von circa 1 200 Herr Minister Struck, Sie sprechen von einer soliden Offizieren und 20 000 Unteroffizieren? Diese Fragen finanziellen Grundlage für den weiteren Weg der Re- möchte ich vom Minister beantwortet bekommen. Wer formen. Sie behaupten, die Planung bis zum Jahr 2006 kann denn ernsthaft von einer hohen Attraktivität des sei eine Weichenstellung, um den angeblich erfolgrei- Dienstes in der Bundeswehr sprechen, Herr Minister chen Weg zu Ende gehen zu können. Herr Struck, ver- Struck, wenn im vergangenen Jahr von 12 000 Oberfeld- gessen Sie dabei eigentlich, dass die von Ihnen gelobte webeln, die die Voraussetzungen zur Beförderung zum gleich bleibende Finanzausstattung in Höhe von Hauptfeldwebel erfüllten, nur 2 500 befördert wurden? 24,4 Milliarden Euro realwirtschaftlich eine Absenkung Warum, Herr Minister Struck, würden mehr als die Ihres Haushaltes pro Jahr bedeutet? Ihre Haushaltslöcher Hälfte der Berufssoldaten, die vom Personalanpassungs- werden von Jahr zu Jahr größer und mit ihnen die Unzu- gesetz betroffen sind, die Bundeswehr vorzeitig verlas- friedenheit der Bundeswehrangehörigen. sen, wenn sie denn könnten? Wenn mit der Bundeswehr (Beifall bei der FDP) alles in Ordnung ist, wie seitens der Bundesregierung immer wieder beteuert wird, warum war dann das Be- Angesichts der steigenden Verantwortung und der Aus- werberaufkommen bei den Offizieren im Jahre 2002 er- weitung von Aufträgen ist das aus unserer Sicht unver- neut rückläufig? Warum halbierte sich dann das Bewer- antwortbar. beraufkommen bei den Sanitätsoffizieren in den fünf Jahren rot-grüner Regierung? Warum verweigerten dann Herr Minister Struck, völlig unverständlich ist für im vergangenen Jahr fast 190 000 Wehrpflichtige, also mich in diesem Zusammenhang – ich will nur ein Bei- rund 45 Prozent eines Jahrgangs, den Wehrdienst? Die- spiel nennen – Ihre Entscheidung zum Transportflug- ser Fragenkatalog ließe sich problemlos erweitern. zeug A400M. Mir ist schleierhaft, wie Sie bei Strei- chung der Evakuierungsoption auf eine Bestellung von (Jürgen Koppelin [FDP]: Leider!) 60 Transportflugzeugen kommen. Der reinen Logik der 2794 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. März 2003

Günther Friedrich Nolting (A) Mathematik folgend, ergibt sich für diesen Fall ein be- Herr Minister Struck, der Bundeskanzler hat erklärt, (C) deutend geringerer Bedarf. dass es keine Neubefassung des Parlaments mit dem Mandat für unsere Soldaten, die in Kuwait stationiert (Beifall bei der FDP) sind, und die Soldaten in den AWACS-Flugzeugen ge- Ich empfehle Ihnen eine erneute Überprüfung dieses ben soll. Am letzten Mittwoch haben Sie erklärt, dass Sachverhaltes. Immerhin sind bei Berichtigung dieses Sie das Parlament selbstverständlich beteiligen wer- Rechenfehlers weit mehr als 1 Milliarde Euro einzuspa- den, wenn es zu einem Krieg kommen sollte. Ich for- ren. dere Sie auf, heute zu erklären, was nun gilt: Ihre Aus- sage vom letzten Mittwoch im Verteidigungsausschuss (Jürgen Koppelin [FDP]: So ist es!) oder die Aussage des Bundeskanzlers von heute Mor- Sie sehen, es gibt viele Möglichkeiten, Gelder einzuspa- gen? In dieser schwierigen Situation brauchen wir ren bzw. umzuschichten. Leider werden diese nicht ge- rechtliche und politische Klarheit für unsere Soldatin- nutzt. nen und Soldaten. Vielen Dank. Jedoch gibt es Bereiche, in denen nicht gespart wer- den darf. Dazu gehört die Anhebung des Ostsoldes auf (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) das Westniveau. (Beifall bei der FDP) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Die Soldaten, die uns seit Jahren die deutsche Einheit Nächster Redner ist der Kollege Winfried Nachtwei, vorleben, werden immer wieder vertröstet. Dieser Zu- Bündnis 90/Die Grünen. stand ist unhaltbar. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wären Sie bereit, sich alle zwei Jahre – häufig viel öf- Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): ter – für ein halbes Jahr oder, wie es bei der Marine der Fall ist, für 180 Tage im Jahr zwecks Auslandseinsat- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! zes von Ihrer Familie zu trennen? Wären Sie bereit, Gestatten Sie mir zunächst eine Vorbemerkung. Wir ha- 100 Prozent Leistung im Auslandseinsatz unter harten ben gerade den Antrag der Bundesregierung zur Verän- Bedingungen zu erbringen, aber zu Hause mit 90 Pro- derung des Mazedonienmandats an die Ausschüsse zent Gehalt abgespeist zu werden, nur weil Sie aus den überwiesen. Gerade in den Stunden vor dem wahr- neuen Bundesländern kommen? Das ist keine Armee scheinlichen Krieg im Irak ist es meiner Meinung nach der Einheit! wichtig, darauf hinzuweisen, dass es dieses Mazedonien- mandat gibt. Denn der Einsatz in Mazedonien ist hervor- (B) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten ragend dafür geeignet, zu zeigen, dass man in dieser (D) der CDU/CSU) Situation auch anders handeln kann. Er steht nämlich für eine Politik, die vorbeugend handeln und möglichst ohne Die FDP hat ihre Vorstellungen zur Reform der Gewaltanwendung gewaltträchtige Konflikte entschär- Bundeswehr wiederholt dargelegt. Unsere Forderungen fen will und dabei erfolgreich ist. lassen sich kurz und klar zusammenfassen: Wir wollen nicht mehr Soldaten in der Gesamtheit, sondern eine (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN höhere Zahl einsatzbereiter Soldaten. Wir fordern nicht und bei der SPD) mehr, sondern modernere Waffensysteme. Wir brauchen Darüber hinaus zeigt dieser – wenn auch zurzeit noch nicht mehr, sondern leistungsfähigere Großverbände. sehr kleine – Einsatz die Bereitschaft und die Fähigkeit Wir brauchen keine gleichartigen, flächendeckenden der Europäischen Union, durch die Erledigung ihrer Strukturen, sondern Einrichtungen und Standorte, die sicherheitspolitischen Hausaufgaben so etwas endlich al- auf die militärischen Anforderungen und örtlichen Gege- leine zu bewältigen. Dies ist, wie ich finde, ein wichtiger benheiten ausgerichtet sind. Wir brauchen keine riesigen Hinweis. Depots und Lager, in denen Material aus Zeiten des Kal- ten Krieges verrottet, sondern Lagerkapazitäten, die den (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Bedarf decken. Anfang Dezember 2000 haben wir hier den Einzel- Herr Kollege Austermann, Sie haben hier das Ent- plan 14 in erster Lesung beraten. Kurz danach gab der sendegesetz angesprochen. Ich würde lieber von einem Minister die ersten Schritte zur Weiterentwicklung der Beteiligungsgesetz sprechen, denn wir wollen für die Bundeswehrreform bekannt. Das waren die Überprü- bewaffneten Einsätze deutscher Streitkräfte Rechts- fung der Beschaffungsvorhaben und die Neujustierung sicherheit schaffen. Ein entsprechender Antrag der FDP bei den Aufgaben der Bundeswehr. Dabei wurde die Pri- liegt vor. An dieser Stelle will ich gleich hinzufügen: orität auf die Krisenbewältigung im Dienste der gemein- Wir wollen die Entscheidung über Auslandseinsätze samen Sicherheit gesetzt. Inzwischen ist bereits der nicht auf die Bundesregierung übertragen. Wir haben dritte Schritt erfolgt, nämlich die Reduzierung von Aus- eine Parlamentsarmee. Das Parlament muss in Gänze rüstung, um Betriebskosten zu sparen, damit dringend in der Verantwortung bleiben. Ich hoffe, dass auch die notwendige Investitionsmittel frei werden. Union an diesem Grundsatz weiterhin festhält. Folgen wird in den nächsten Monaten die Überprü- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten fung von Umfang, Struktur und Wehrform. Wir begrü- der CDU/CSU) ßen ausdrücklich die Zusage des Ministers, dass die Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. März 2003 2795

Winfried Nachtwei (A) Überprüfung der Wehrform nicht erst, wie in der Koali- in der Geschichte der Vereinten Nationen und des Völ- (C) tionsvereinbarung festgelegt, am Ende der Legislatur- kerbundes noch nie gegeben. periode, sondern schon Ende dieses Jahres oder Anfang nächsten Jahres erfolgen soll. Denn das entspricht der (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Konsequenz, bei den ersten Schritten der Weiterentwick- und bei der SPD – Hans Raidel [CDU/CSU]: lung der Bundeswehrreform. Das müssen Sie einmal nachlesen!) Sie schweigen zu den offenkundigen Pressionsversu- Vor vier Wochen hat die CDU/CSU ihren Alternativ- chen eines ganz wichtigen Mitglieds des Sicherheitsrates vorschlag zur Bundeswehrreform vorgelegt. Damals gegenüber vielen anderen, sehr viel kleineren und poten- ging es in der öffentlichen Diskussion vor allem um die ziell erpressbaren Mitgliedern des Sicherheitsrates und so genannte Heimatverteidigung – mir ist bis heute nicht dem deutlichen Übergehen der Mehrheitsmeinung im klar, was das soll – Sicherheitsrat. (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Das ist Dieser Krieg – wenn es zu ihm kommt – wird offen- wahr!) kundig jenseits der Charta der Vereinten Nationen und um die faktische Relativierung des Parlamentsvor- stattfinden. Vor dem Hintergrund Ihres so genannten al- behalts. In der kurzen öffentlichen Diskussion um Ihre ternativen Bundeswehrpapiers ist das offensichtlich kein Alternativvorschläge wurde dagegen kaum wahrgenom- Zufall; denn dort – lesen Sie noch einmal nach – men, dass in ihnen programmatisch die Grundlinie vor- (Christian Schmidt [Fürth] [CDU/CSU]: Ich gezeichnet wird, die die Unionsführung in diesen lese es vor!) Wochen hinsichtlich des Irakkonfliktes vertritt. Ich will das an drei Punkten deutlich machen: spielen die Vereinten Nationen und die VN-Charta prak- tisch keine Rolle. Dabei bilden die Vereinten Nationen Erstens. Wirklich notorisch haben Sie von der und die VN-Charta den entscheidenden einhegenden Unionsführung – das betone ich ausdrücklich; denn etli- Rahmen für den Einsatz von Militär. che Kolleginnen und Kollegen in der Union denken anders – in den letzten Wochen die Arbeit der Rüstungs- (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- inspekteure im Irak kleingeredet und haben, um Worte SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD) von gestern aufzugreifen, den einseitigen Abbruch ihrer erfolgreichen Arbeit ausdrücklich unterstützt. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Herr Kollege Nachtwei, denken Sie bitte an Ihre Zeit. sowie bei Abgeordneten der SPD) (B) (Bartholomäus Kalb [CDU/CSU]: Hatten Sie (D) Dieses Verhalten steht im Einklang mit Ihrem Papier in Ihrem Kaffee heute Nachmittag Tropfen? – zur Bundeswehr. In ihm ist im Grunde genommen nicht Hans Raidel [CDU/CSU]: Es wird Zeit!) mehr die Rede – man findet höchstens ein oder zwei Sätze dazu – von anderen Mitteln wie Rüstungskon- Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): trolle, Abrüstung und Nichtverbreitung. Kollege Raidel, Sie wissen selbst, welche wirksamen Maßnahmen und Wir verrechnen unsere Redezeiten innerhalb der welche Erfolge es in diesem Bereich gegeben hat. Das ist Fraktion. also wirklich eine bewährte Politik. Aber das scheint Über Jahrzehnte hinweg hat gerade die CDU/CSU programmatisch für Sie keine Rolle mehr zu spielen. den Charakter des transatlantischen Bündnisses als Programmatische und reale Politik stehen in diesem Be- Wertegemeinschaft und Partnerschaft demokratischer reich bei Ihnen in einer Linie. Rechtsstaaten betont. Zurzeit verlässt die Regierung der Zweitens. In Ihrem Papier wird, wenn auch in ver- Vereinigten Staaten dieses Wertefundament und – das schlüsselten Formulierungen, deutlich, dass Sie die Tür sage ich in dieser Deutlichkeit – verrät die große Tradi- nicht nur für präventive militärische Einsätze öffnen tion ihrer Vorgängerregierungen, ohne die die Vereinten wollen, sondern auch für präventive kriegerische Mili- Nationen und der Völkerbund wohl gar nicht entstanden täreinsätze. Wenn Sie jetzt das Kriegsultimatum des wären. amerikanischen Präsidenten mit all seinen Konsequen- zen durch Ihre Vorsitzende mittragen, dann unterstützen Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Sie im Klartext genau einen solchen Präventivkrieg. Herr Kollege Nachtwei, gestatten Sie eine Zwischen- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN frage der Kollegin Lenke? sowie bei Abgeordneten der SPD – Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Das habe ich nicht ver- Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): standen!) Nein, jetzt nicht. Ich bin bei meinen Schlusssätzen, da Und schließlich drittens. Es fällt schon auf, was Sie passt das nicht. Sie können meinetwegen eine Kurzinter- inzwischen alles schweigend hinnehmen. Gleichzeitig vention abgeben. höre ich das Getöse Ihrer Kritik an der Politik der Bun- desregierung. Sie nehmen die Ultimaten der USA gegen- (Hans Raidel [CDU/CSU]: Er liegt in den letz- über den Vereinten Nationen schweigend hin. Das hat es ten Zügen! – Bartholomäus Kalb [CDU/CSU]: 2796 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. März 2003

Winfried Nachtwei (A) Ich finde es unkollegial, dass Sie Ihrem Kolle- Rede sehr wohl auf die laufende Bundeswehrreform (C) gen die Zeit wegnehmen!) bezogen. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, Sie (Günther Friedrich Nolting [FDP]: Aber nichts schweigen nicht nur dazu, Sie unterstützen das jetzt Konkretes!) auch. Wenn Sie an der Regierung wären, Ich habe betont, dass die bisher eingeleiteten Schritte (Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Würden wir wie Überprüfung der Beschaffungsplanung, Neujustie- es besser machen!) rung der Aufgaben und schließlich eine Abspeckung bei der Ausrüstung, erste konsequente Maßnahmen im Rah- würden nun auch Bundeswehrsoldaten in den Irakkrieg men der Bundeswehrreform sind. Ich habe auch die geschickt. nächsten Schritte genannt. (Zuruf von der CDU/CSU: So ein Quatsch!) In diesem Zusammenhang habe ich mich allgemein Wir kennen uns lange genug. Deshalb weiß ich, dass zur Wehrform geäußert. Ich habe hier oft genug unsere Sie keine Kriegstreiber sind und lieber Frieden wollen. Haltung zu unserer Meinung nach legitimen und not- Warum aber lassen Sie sich derart in den Krieg treiben? wendigen Wehrform deutlich gemacht. Nach Auffassung Warum brechen Sie in diesen Tagen mit der Politik der der Grünen ist die Zeit der Wehrpflicht abgelaufen. Wir militärischen Zurückhaltung, die hier bisher Konsens halten eine Freiwilligenarmee im Sinne einer modernen war? Offenbar sind Ihnen die Werte einer Sicherheits- und effektiven Bundeswehr für die angemessene Form. politik, die Friedenspolitik sein soll, abhanden gekom- (Ina Lenke [FDP]: Wann?) men. Dies brauche ich aber nicht bei jeder Rede notorisch zu (Beifall bei Abgeordneten der SPD) wiederholen. Das möchte ich dann sagen, wann ich es Am Tag der Haushaltsberatung zum Verteidigungsetat für richtig halte. ist das ein äußerst beunruhigendes und für mich auch äu- (Ina Lenke [FDP]: Bei Ihnen passiert doch ßerst bestürzendes Zeichen. nichts!) Danke. Am heutigen Tag, der unter dem Vorzeichen des Krie- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ges steht, nur wieder über das Wie der Bundeswehr- und bei der SPD) reform zu reden – das ist oft das Kennzeichen dieser De- batte –, aber die ganz entscheidende Frage des Wofür außer Acht zu lassen, halte ich gerade zum jetzigen Zeit- (B) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: punkt für unpassend. Die Tatsache, dass sich bei der (D) Ich gebe der Kollegin Lenke das Wort zu einer Kurz- CDU/CSU ein Paradigmenwechsel zeigt, muss klar an- intervention. gesprochen werden. Das wurde in dieser Deutlichkeit leider bisher noch nicht zum Ausdruck gebracht. Ina Lenke (FDP): Ich bedanke mich für Ihr Angebot, mich zu diesem Thema ergänzend zu äußern. Herr Nachtwei, wir haben heute den Verteidigungs- haushalt zu beraten. Ich habe in Ihrer Rede nichts von (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Reformen der Bundeswehr und von Haushaltsansätzen und bei der SPD – Ina Lenke [FDP]: Das hat gehört. Das bedauere ich außerordentlich, weil anläss- mich jetzt auch nicht erhellt!) lich dieser Haushaltsberatung gerade die Grünen eine Aussage in Bezug auf die Wehrpflicht und die Wehr- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: gerechtigkeit hätten machen müssen. Nächster Redner ist der Kollege Christian Schmidt, Ich wundere mich schon sehr, dass die grüne Fraktion CDU/CSU-Fraktion. die in dieser Republik bestehende Wehr- und Zivildien- stungerechtigkeit zulässt. Von Ihnen gab es kein Wort Christian Schmidt (Fürth) (CDU/CSU): zur Bundeswehrreform und zur Umgestaltung der Bun- deswehr hinsichtlich der Wehrpflicht. Das bedauere ich. Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen Daher möchte ich Sie fragen, ob Sie als Grüner noch und Kollegen! Lieber Winfried Nachtwei, irgendetwas dazu eine Aussage machen wollen. ist heute mit Ihnen durchgegangen. Zur Bundeswehr- reform möchte ich Folgendes sagen: Die Frage nach (Beifall bei der FDP) dem Wie ist der eine Punkt. Die Frage nach dem Wozu ist der andere Punkt. Auch wir stellen uns diese Fragen Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: gerade im Hinblick auf die Reihenfolge, in der die Re- form der scharpingschen Reform – das darf man inzwi- Herr Kollege Nachtwei, bitte. schen auch in Koalitionskreisen ungestraft sagen – vor- genommen wird. Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wenn diese Reform dazu führt, dass die vorher fest- Frau Kollegin, Sie haben offenkundig nicht ganz zu- zulegenden Aufgaben und dazu notwendigen Fähigkei- gehört. Ich habe mich nämlich im ersten Teil meiner ten der Bundeswehr besser entwickelt werden können, Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. März 2003 2797

Christian Schmidt (Fürth) (A) dann ist sie in Ordnung. Wenn sie nach den Vorgaben thos hier hinstellt und sagt, dass er an diesem Tag und in (C) des Bundesministers der Finanzen gestaltet wird, dann dieser Stunde nicht über die Wehrpflicht sprechen könne ist sie sehr fragwürdig. Das muss man gerade bei den und über ein anderes Thema sprechen müsse, dann müs- Haushaltsberatungen sagen. sen Sie sich das, was ich sage, anhören. Kollege Austermann hat in seinen Ausführungen ei- Die Lebenserfahrung zeigt uns, dass man Forderun- nen wichtigen Punkt angesprochen. Es ist nicht so, dass gen nur dann durchsetzen kann, wenn sie mit Sanktio- der Verteidigungsetat von der Opposition automatisch nen unterlegt sind. abgelehnt wird. Das ist nie so gewesen. Er muss aber dann abgelehnt werden, wenn er nicht den Herausforde- (Günther Friedrich Nolting [FDP]: Ja!) rungen entspricht, die ich gerade definiert habe. Ich werfe Herrn Fischer vor, dass er unehrlich ist, wenn (Beifall bei der CDU/CSU) er so tut, als ginge es nur um die Bereitstellung von In- spektoren und die Möglichkeit, nach Waffen zu suchen, Manchmal muss man dem Verteidigungsminister in nicht aber um das politische und militärische Drohszena- diesen Kampflinien – um in dieser Sprache zu bleiben – rio. sogar helfen, um seinen Etat zu verteidigen, wenn es Aussicht auf Erfolg gibt. (Zuruf von der SPD: Jetzt kritisieren Sie auch noch die Waffeninspektoren! Wissen Sie das Kommen wir doch noch einmal auf die aktuelle Frage eigentlich?) zurück. Herr Müntefering hat sich heute Vormittag in seiner Entgegnung auf Frau Kollegin Merkel in eine Be- Über all die anderen Fragen möchte ich gar nicht disku- hauptung verstiegen, die ich schlechterdings nicht nach- tieren. vollziehen kann. Er hat die Gelegenheit nicht ungenutzt (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) gelassen, die große Sozialdemokratische Partei als die Partei des Friedens darzustellen und zu suggerieren, alle Wenn man kurz vor Toresschluss sagt, dass man doch anderen Parteien seien dies nicht. Dabei ist ihm eine mitmacht und Blauhelme in den Irak schickt – wer auch kleine Unaufmerksamkeit passiert, indem er gesagt hat, immer das gesagt hat, es war nicht der Verteidigungs- die SPD habe noch nie für einen Krieg gestimmt. minister; er wusste, warum –, der muss sich vorhalten lassen, dass er diese Fragen unseriös, unpräzise und (Günther Friedrich Nolting [FDP]: Ja!) nicht tiefgehend behandelt hat Ich möchte nicht bis zum Ersten Weltkrieg und auf (Hans Raidel [CDU/CSU]: Und keine Ahnung die Fragen, die damals in diesem Haus bzw. im kaiserli- hat!) chen Reichstag beschlossen worden sind, zurückblicken. (B) (D) Ich frage Sie nur: Was war denn dann der Kosovo- und dass er keine Ahnung von den Konsequenzen hatte, Krieg? die zu verhindern gewesen wären. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Auch Herrn Volmer mag manches im Halse stecken Günther Friedrich Nolting [FDP]: Ohne Man- bleiben, wenn er daran denkt, was vor zwei oder drei dat!) Jahren im diplomatischen Bereich nicht getan worden ist. Wir waren schon einmal in einer solchen Situation. Erfolgte er auf der Basis einer Resolution des Sicher- Übrigens haben wir alle uns bei der Kosovo-Entschei- heitsrats der Vereinten Nationen oder nicht? Ich möchte dung fragen müssen, ob wir nicht nach Dayton versagt nur, dass wir – bei allem Pathos – die Kirche im Dorf haben. Über solche Fragen muss man über die Par- lassen. Bei jedem – ich schließe mich selbst sein – ist der teigrenzen hinweg diskutieren. Magen im Moment keine besonders ruhige Gegend. Man empfindet es als unangenehm und es schmerzt ei- Lieber Kollege Erler, ich bin allerdings nicht wie an- nen, dass wir in eine Situation gekommen sind, in der die dere bereit, hier Zusammenhänge zu konstruieren. Ein Diplomatie versagt hat und der Ausdruck Ultima Ratio Kollege meinte heute Nachmittag, kurz nachdem Herr eine Rolle spielt. Müntefering gesprochen hat, er müsse noch einmal das Wort, mit dem wir belegt worden waren, aufgreifen. Da- Frau Kollegin Leonhard, an dieser Stelle möchte ich gegen verwahre ich mich energisch. Wir streiten über Ihre Worte von der „Renaissance der Diplomatie“ auf- vieles. Aber wenn es um meine Friedensgesinnung geht, greifen. Ich glaube, es lohnt sich schon, den Blick auf lasse ich mir von niemandem etwas vorschreiben. Auch uns Europäer zu richten, um zu klären, wo die Diploma- der großen sozialdemokratischen Bewegung muss klar tie versagt hat und wo sie bis heute unehrlich gewesen sein, dass sie das zu respektieren hat. ist. Joschka Fischer ist unehrlich, wenn er sagt – – (Beifall bei der CDU/CSU – Marianne Tritz (Gernot Erler [SPD]: Jetzt geht es aber los! – [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das hätten Marianne Tritz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Sie mal zeigen sollen!) NEN]: Blödsinn!) Jetzt komme ich noch auf Ihre Vorlesung zu sprechen, – Hört doch einmal zu! Herr Kollege Nachtwei. Ich werde Ihnen sofort per In- (Gernot Erler (SPD): Nein!) ternet und E-Mail unser Papier zur Verfügung stellen. – Gut, Herr Erler, wenn Sie nicht zuhören wollen, ist das (Alexander Bonde [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Ihr Problem. Aber wenn sich Herr Nachtwei voller Pa- NEN]: Davon wird es auch nicht besser!) 2798 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. März 2003

Christian Schmidt (Fürth) (A) Darin steht – ich zitiere sozusagen uns selbst –: Herr Kollege Austermann war heute freundlich. Er (C) hat über den A400M gesprochen und nicht die knifflige Prinzipiell wird angesichts denkbarer Szenarien Frage gestellt – aber ich gebe dem Minister jetzt die Ge- und einer praktisch nicht gegebenen Vorwarnphase legenheit, darauf zu antworten –, wie es mit der Zwi- eine allein reaktive Handlungsweise nicht ausrei- schenlösung aussieht. chen. Politische Maßnahmen genießen prinzipiell Vorrang. Als Instrumentarium zur Risikominderung (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Er hört nicht muss das gesamte völkerrechtliche Handlungsspek- einmal zu!) trum von diplomatischen Maßnahmen, Kontrolle und Verifikation bis hin zur militärischen Option als Auch die muss finanziert werden. Ich habe den Ein- „ultima ratio“ politisch verfügbar sein. Entschei- druck, dass die Bündnispartner von uns erwarten, dass dungen von großer Tragweite müssen in den Foren wir Lösungen anbieten und diese auch schnellstmöglich der Weltgemeinschaft unter der Prämisse der Erhal- umsetzen. tung des Weltfriedens getroffen und dann gemein- Das Gleiche gilt übrigens für die politisch äußerst schaftlich umgesetzt werden. schwierige Frage der NATO-Response-Force, diese Einheit, die 21 000 Soldaten umfassen, gemeinsam üben Das ist der Punkt, der uns jetzt eine unangenehme und nach kurzer Vorwarnzeit einsatzfähig sein soll. Situation kommentieren lässt. Alle, die wir hier sitzen, können leider nur kommentieren. Wir sind nicht Han- Herr Kollege Nachtwei, Sie werden nicht daran vor- delnde, wir sind nicht aktiv. beikommen, darüber reden zu müssen. Ich will nicht den Parlamentsvorbehalt aufheben. Im Gegenteil: Wenn man Jetzt komme ich zur Bundeswehr. Kein Mensch in der ihn neu strickt, käme man vielleicht zu einem Initiativ- CDU/CSU hat die Forderung erhoben, die Bundeswehr recht des Parlaments. Dann würden Sie allerdings gegen- solle quasi die letzte verfügbare Heeresdivision, die sie wärtig mit einem Antrag konfrontiert, der AWACS be- noch hat, in den Irak entsenden. Nein, wir haben nur von trifft, über den Sie dann abstimmen könnten. Das können den Anforderungen gesprochen, die heute zum großen wir gegenwärtig nicht. Die Gründe dafür ergeben sich Teil vom Bundeskanzler akzeptiert sind, zum Beispiel die aus der Verfassungslage. Überflugrechte, aber auch die Unterstützung des türki- schen Bündnispartners, die Frage der Zahl der Patriot-Ra- Aber zurück zu der Frage des Parlamentsvorbehalts: keten und derer, die sie bedienen, die AWACS-Flugzeuge Wie wollen Sie die NATO-Response-Force, die nicht nur und die ABC-Abwehrkräfte in Kuwait. Mehr ist übrigens innerhalb kürzester Zeit einsatzbereit sein soll, sondern nie gefordert worden. In diesen Punkten sollten wir uns ei- Kraft ihrer Funktion und Existenz auch ein Instrumenta- nigen, damit kein Popanz entsteht, der von den wahren rium der nicht militärischen Sicherheitspolitik ist, als (B) Fragen ablenkt. Die wahre Frage besteht darin, wie das glaubwürdige Komponente darstellen, wenn davon aus- (D) Bündnis NATO, die Europäische Union und wir unter zugehen ist, dass sie in vielen Fällen sozusagen nur hin- Wahrung unserer Interessen sicherheitspolitisch überle- kend eingesetzt werden kann? Ich bin dafür, dass wir uns ben, wenn dieser Konflikt, was immer wahrscheinlicher im Parlament grundsätzlich die politische Entscheidung wird, nicht mehr friedlich zu lösen ist und Saddam darüber vorbehalten sollten. Aber wir sollten mit der Hussein militärisch entwaffnet worden ist. Flexibilität nicht so weit gehen, dass Instrumente wie die NATO-Response-Force – sofern es zu ihrer Gründung Damit bin ich bei der Reform der Bundeswehr. Die kommt; aber sie wird notwendig sein, um die NATO zu Reform, die momentan angedacht wird, muss durchge- erhalten – politisch und militärisch belastet werden. führt werden. Sie muss uns befähigen, unsere Interessen Über diese Themen werden wir reden müssen. im Bündnis zu vertreten. Das ist nichts Neues. Es ist eine alte Formulierung, die aber umso mehr Bedeutung hat, Der Kollege Nolting hat das Entsendegesetz ange- als wir merken, dass wir in Europa in den letzten Jahren sprochen. Zu dem Gesetz liegt ein Antrag der FDP vor. noch nicht einmal in der Lage waren, die Konflikte in Ich habe nichts dagegen, wenn wir auch weiterhin wie der Region mit europäischen Mitteln zu lösen, die man bisher verfahren; wir haben das Thema nämlich sehr als geographischen Hinterhof bezeichnen könnte. sachlich und nüchtern diskutiert. Wir sollten in dieser Frage, die das Parlament als Ganzes betrifft, durchaus Das Kosovo ist nicht größer als zwei Landkreise und versuchen, gemeinsame Wege zu gehen. Wir haben aus es hat einer amerikanischen Intervention bedurft. Gott Karlsruhe bereits eine Grundlage erhalten. Über die Aus- sei Dank herrscht dort – Sie haben Mazedonien ange- gestaltung können wir noch reden. Ob wir uns in allen sprochen – einigermaßen Stabilität, ich will nicht von Fragen einig werden, wird sich dann zeigen. Frieden sprechen. Wir hoffen, dass wir nicht auf die Probe gestellt werden und mehr als die 70 Soldaten, die Ich bin aber – das sage ich an die Bundesregierung lobenswerterweise in Mazedonien im Einsatz sind, in gewandt – durchaus bereit, solche Fragen in einer kon- eine Situation schicken müssen, die wir möglicherweise struktiven und diskursiven Weise zu erörtern. Es geht wieder nicht ohne die Amerikaner beherrschen können. nämlich darum, den Soldaten ein möglichst hohes Maß an Rechts- und Einsatzsicherheit zu bieten. Das haben Deswegen sei klug und überlege, wie man ein Bünd- die Soldaten verdient. nis halten kann, das nach wie vor die gemeinsame Wer- teorientierung zur Basis hat. Das ist das transatlantische Was die Änderung der Verfassung bei einer Ausdeh- Bündnis. Dazu gehört, dass wir die Aufforderung, die nung im Zuge der Neuabgrenzung von Aufgabenberei- wir alle in Prag unterzeichnet haben, umsetzen. chen angeht, bitte ich Sie: Machen Sie das Thema nicht Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. März 2003 2799

Christian Schmidt (Fürth) (A) zum ideologischen Popanz! Versuchen Sie, nüchtern zu darüber muss geredet werden – eine Bedrohungsanalyse (C) überlegen, welche Verpflichtungen wir unserer Bundes- erstellt werden, die genau darlegt, ob unser Land oder wehr auferlegen müssen! Denn letztlich handelt es sich unser Bündnis bedroht wird. Ich denke, dies ist Anlass um eine Frage der äußeren Sicherheit. Insofern geht es genug – das ist Ihre Aufgabe –, wieder einmal ein Weiß- darum, zu prüfen, wo einerseits Fähigkeiten der Bundes- buch vorzulegen, in dem zu diesen Fragen Stellung ge- wehr nutzbar gemacht werden müssen und wo anderer- nommen wird. seits die Grenze zur rein polizeilichen Aufgabe verläuft. Wenn wir zu dem Schluss kommen sollten, dass die Meiner Meinung nach kann es nicht darum gehen, Landesverteidigung schon am Hindukusch beginnt, dann Planstellen von der Polizei auf die Bundeswehr zu über- brauchen wir die Bundeswehr auch in Hindelang. Das tragen. Zwar könnte die Bundeswehr mehr Planstellen gut heißt, wir müssen die Verteidigung der Sicherheit in un- gebrauchen, aber die Polizei hat eine andere Aufgaben- serem eigenen Land nach wie vor als Aufgabe sehen. Ich stellung als die Bundeswehr. Das wird auch so bleiben. glaube, dass diejenigen – das richtet sich nicht an Ihren kleinen Koalitionspartner, sondern an die FDP –, die die Aber es gibt andere Fragestellungen, die vor 20, 30 oder Wehrpflicht beibehalten wollen, dann ein Problem be- 40 Jahren außerhalb unserer Vorstellungskraft lagen, die kommen werden, wenn sie die Landesverteidigung über- aber heute auf uns zukommen können, haupt nicht mehr im Katalog haben. Wir können die (Bartholomäus Kalb [CDU/CSU]: So ist es!) Landesverteidigung zwar nicht deshalb in den Katalog aufnehmen, weil wir – das würde ich ablehnen – die zum Beispiel eine Bedrohung durch ABC-Waffen, an- Wehrpflicht beibehalten wollen. Wenn aber das Bedürf- dere Bedrohungslagen, so genannte Renegade-Situatio- nis besteht, die Wehrpflicht beizubehalten – ich meine, nen oder Luftangriffe und die bestimmter Regelungen es besteht noch zumindest bei einer latenten Problematik bedürfen. Für mich ist die Verfassungsänderung kein und bei dem akuten Problem der asymmetrischen Vertei- Selbstzweck. Es geht vielmehr darum, nüchtern zu klä- digung in noch sehr viel stärkerem Maße –, dann heißt ren, wie wir Rechtssicherheit schaffen und uns sicher- das, dass die Wehrpflicht weiterhin ihre Bedeutung hat. heitspolitisch optimal aufstellen können. Die Bundeswehr darf dann aber keine reine Einsatzar- mee sein. Daran müssen sich die verteidigungspoliti- (Bartholomäus Kalb [CDU/CSU]: So ist es! schen Richtlinien und die daraus abgeleiteten Planungs- Das ist aber auch wichtig!) weisungen orientieren. Darüber müssen wir reden. Herr Minister, ich warte darauf, dass Sie Richtlinien (Bartholomäus Kalb [CDU/CSU]: Das darf nicht erlassen, damit der Generalinspekteur weiß, wie er die am Widerstand von Schily scheitern!) Bundeswehr umzubauen hat. Schon jetzt Fähigkeiten ab- (B) zubauen und Standorte zu schließen – – (D) – Ich denke, dass auch in der Innenpolitik diese Erkenntnis gewonnen werden muss. Ich kann diejenigen in der Koali- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: tion und in der Regierung, die bei den apodiktischen Äuße- rungen des Herrn Schily die Stirn gerunzelt haben, nur dazu Herr Kollege Schmidt, schauen Sie bitte auf die Uhr ermuntern, bei ihrer Position zu bleiben. Wir aber werden an Ihrem Rednerpult. Herrn Schily auch weiterhin sehr scharf beobachten. (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: 18.16 Uhr, (Bartholomäus Kalb [CDU/CSU]: Der Minis- Frau Präsidentin!) ter nickt zustimmend!) Christian Schmidt (Fürth) (CDU/CSU): Die verteidigungspolitischen Richtlinien, die angekün- digt sind, werden sich mit der Neudefinition der Aufgaben Ich bedanke mich für diesen Hinweis. Ich finde, ich beschäftigen. Sie werden sich auch mit der Frage beschäf- könnte noch länger über das sprechen, was notwendig ist. tigen müssen, wo die Bundeswehr zu welchen Zwecken eingesetzt werden kann. Es ist nicht von einer Bundes- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: wehr auszugehen, die weltweit an allen Gefahrenherden Herr Kollege Schmidt, ich finde nicht, dass Sie noch eingesetzt werden kann. Das ist personell und materiell länger reden können. nicht zu schaffen und das ist auch nicht die Aufgabe un- seres Landes. Im Verbund wird das allerdings bei einer ge- Christian Schmidt (Fürth) (CDU/CSU): meinsamen Interessendefinition notwendig sein. Frau Präsidentin, dann werden wir das zu gegebener Daraus ergibt sich die Frage, wie die Bundeswehr Zeit in den Ausschüssen und in diesem Hause fortsetzen. verstanden wird. Wird sie als reine Interventionsarmee verstanden? Der Satz, dass die Landesverteidigung (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Deutschlands am Hindukusch beginne, hat schon etwas für sich; denn so halten wir Gefahren für unser Land auf Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Distanz. Um Landesverteidigung im verfassungsrechtli- chen Sinne handelt es sich deswegen aber noch nicht. Das Wort hat der Bundesminister der Verteidigung, Dr. Peter Struck. Herr Kollege Austermann hat kürzlich darauf hingewie- sen, dass sich dann sehr schnell die verfassungsrechtlich (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ relevante Frage stellen werde, wofür wir unsere Armee DIE GRÜNEN – Günther Friedrich Nolting eigentlich aufstellten. Vielleicht muss zukünftig – auch [FDP]: Jetzt werden alle Fragen beantwortet!) 2800 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. März 2003

(A) Dr. Peter Struck, Bundesminister der Verteidigung: tragen. Die NATO hat bei der Ausübung des Mandats, (C) das das Deutsch-Niederländische Korps wahrnimmt, bei Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Force Protection, bei Force Generation, bei Kommuni- Herren! Nicht nur als ehemaliges Mitglied des Haus- kationstechnologien usw. viel geholfen. haltsausschusses, sondern auch aus fester Überzeugung gehört es sich, dass ich als Minister gleich zu Beginn den Ich glaube allerdings, dass wir eine noch größere Berichterstattern für meinen Haushalt danke. Ich tue das Beteiligung der NATO erreichen sollten. Ich habe am auch, weil ich weiß, dass der Einzelplan 14 ein schwieri- Wochenende in Athen mit George Robertson darüber ge- ger, umfangreicher und in der Materie oft kontrovers dis- sprochen, der diese Linie durchaus unterstützt. Das gilt kutierter Haushalt ist. Ich bedanke mich besonders bei auch für den amerikanischen Präsidenten und den ameri- der Kollegin Elke Leonhard, die zum ersten Mal als Be- kanischen Verteidigungsminister, mit dem ich darüber in richterstatterin mit dem Einzelplan 14 befasst war, bei München gesprochen habe. Sie wissen, dass es bei unse- Alexander Bonde, bei Dietrich Austermann, der sich als ren französischen Freunden noch Vorbehalte gibt. Neu- Berichterstatter schon länger mit dem Einzelplan 14 be- erdings gibt es auch bei unseren belgischen Freunden fasst, bei Bartholomäus Kalb und bei Jürgen Koppelin. Vorbehalte. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Wir müssen spätestens im April Klarheit über die DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der Nachfolge des Deutsch-Niederländischen Korps haben; CDU/CSU) denn wenn es schwierig wird, eine andere Nation als Wenn ich das Ergebnis der Beratungen im Haushalts- Nachfolger zu finden, dann müssen wir natürlich auch ausschuss – auch nach den intensiven Vorbereitungen klären, wie sich Deutschland verhält. Nach den Gesprä- durch die Berichterstatter – bewerte, dann muss ich als chen mit den niederländischen Kollegen ist ziemlich Bundesminister der Verteidigung sagen: Ich kann mit klar, dass die Niederlande ihren Beitrag dort nicht mehr dem zufrieden sein, was mir die Koalitionsfraktionen be- leisten werden. In den Niederlanden wird eine neue Re- schert haben. Ich wäre noch zufriedener, wenn auch das gierung gebildet. Das bedeutet, dass man über die bishe- Realität werden würde, was die Oppositionsfraktionen rige Haltung noch einmal nachdenken wird. beantragen. Allerdings muss ich als jemand, der auch et- Ich strebe nicht an, dafür zu sorgen, dass das Deutsch- was von Finanzen versteht, sagen: Ich bin natürlich froh, Niederländische Korps seine bisherige Funktion länger dass Sie mir mehr Geld geben wollen. Aber ich weiß als vorgesehen wahrnimmt. Die Soldatinnen und Solda- ganz genau, dass das Geld nicht da ist. Insofern ist das ten dieses Korps sind einer hohen Belastung ausgesetzt, nicht mehr als eine Geste. Deshalb verlasse ich mich lie- auch in finanzieller Hinsicht. ber auf die handfesten Aussagen meiner Fraktion. (B) Wenn es nicht gelingt, der NATO eine federführende, (D) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ zumindest eine größere Verantwortung zu übertragen, DIE GRÜNEN) dann werden wir versuchen, eine Lösung zu finden, die Ich möchte zuerst etwas zu dem Thema Auslands- unterhalb der NATO-Ebene angesiedelt ist. Das Wehen einsätze sagen. Ich muss nicht betonen, dass ich als der NATO-Flagge in Kabul könnte ein Hauptproblem Bundesminister der Verteidigung meinen Soldatinnen darstellen, allerdings nicht aus der Sicht der Afghanen. und Soldaten danke, die im Ausland eingesetzt sind. Ich Präsident Karzai hat mir erklärt, er habe damit überhaupt möchte aber wegen der aktuellen Situation meiner Sorge keine Schwierigkeiten. Wir werden also versuchen, von über die Sicherheit unserer Soldatinnen und Soldaten an unseren Bündnispartnern unterhalb der NATO-Ebene den Standorten außerhalb des Bündnisgebiets Ausdruck mehr Hilfe zu bekommen. Wir werden in diesem Parla- verleihen. ment im Einzelnen zu klären haben, wie sich die Rolle Deutschlands künftig darstellt. Wir wissen, dass die Situation in Afghanistan ohne- hin nie ruhig und nie stabil war. Über dem Lager hat es Wir werden auch über die Zukunft des Einsatzes deut- häufiger Schüsse gegeben. Es ist allerdings überhaupt scher Soldaten in Mazedonien eine Entscheidung treffen. nicht auszuschließen, dass diejenigen Kräfte in Afgha- Eine meiner schwierigsten Aufgaben als Vorsitzender der nistan, die die Präsenz der ausländischen Schutztruppe SPD-Bundestagsfraktion war – viele erinnern sich noch ohnehin ablehnen, einen Krieg im Irak zum Anlass neh- an die entsprechenden Debatten –, eine einheitliche Be- men, gegen die ISAF-Truppe verschärft vorzugehen. schlussfassung zu Mazedonien zu erreichen. Damit waren Was ich dargestellt habe, gilt auch für die Situation unse- bittere Stunden verbunden. Diese Beschlussfassung war rer Marinesoldaten am Horn von Afrika und für die Situ- nicht nur in der SPD-, sondern auch in der FDP- und in der ation der Soldaten auf dem Balkan. CDU/CSU-Fraktion heftig umstritten. Herr Austermann hat die Frage gestellt: Was wird ei- Wenn man ein Fazit im Hinblick auf den Mazedo- gentlich, wenn Deutschland und die Niederlande ihre nien-Einsatz zieht, dann muss man sagen: Es steht außer bisherige Funktion in Afghanistan nicht mehr wahrneh- Frage, dass der Einsatz in Mazedonien ein Erfolgsmodell men? Wir, die Bundesregierung, arbeiten auf der Grund- gewesen ist. Die Bedenken, die viele hatten, haben sich lage eines Bundestagsbeschlusses, der uns ermächtigt, im Nachhinein als völlig unberechtigt erwiesen. Ich bin bis zum 10. August die so genannte Lead-Nation-Funk- jetzt sehr froh darüber – ich denke, das Parlament wird tion in Kabul wahrzunehmen. Wir versuchen – Herr der entsprechenden Vorlage am Donnerstag, also mor- Austermann, Sie haben das zu Recht angesprochen –, gen, zustimmen –, dass die Europäische Union die Füh- der NATO mehr Verantwortung in Afghanistan zu über- rung der internationalen Schutztruppe in Mazedonien Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. März 2003 2801

Bundesminister Dr. Peter Struck (A) übernimmt; denn es entspricht einer neuen europäischen wissen, dass wir sie bis zum Jahr 2007 realisiert haben (C) Sicherheits- und Verteidigungspolitik, Verantwortung wollen. Es scheitert an den Ländern und an den Gemein- von der NATO zu übernehmen. Diese Verantwortungs- den in den neuen Ländern, weil sie das Geld nicht er- übernahme ist ein Beweis für die Leistungsfähigkeit der wirtschaften können. Womit sollen sie das bezahlen? Europäischen Union. Was das Heer angeht, so werden wir auf das zweite (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Los „Tiger“, also 30 Hubschrauber, verzichten. Damit DIE GRÜNEN) werden wir im Zeitraum von 2008 bis 2013 zusätzliche Mittel in Höhe von rund 700 Millionen Euro für Rüs- Darauf können wir, auch als Bürger eines wichtigen tungsinvestitionen freischaufeln. Staates in Europa, stolz sein. Die Luftwaffe wird ihre Flugabwehrraketenverbände Ich will etwas zu dem Thema Standortschließungen „Hawk“ und „Roland“ außer Dienst stellen. Es ist klar, sagen. Herr Kollege Austermann hat es angesprochen. an welchen Standorten das sein könnte. Das, was er dazu gesagt hat, ist aus der Sicht Schleswig- Holsteins – ich erinnere an die Debatten über das Nachdem diese Weisung, mit meiner Zustimmung, er- Marinefliegergeschwader 2 – vielleicht verständlich. Ich gangen war, hat es in den entsprechenden Standorten so- will den Hintergrund der Entscheidungen, die ich vom fort Aufregung gegeben. Ich kann das nachvollziehen. Generalinspekteur der Bundeswehr erbitte, erläutern. Es Dazu muss ich Ihnen aber deutlich sagen, meine Damen ist völlig klar, dass wir die Reform der Bundeswehr vor- und Herren: Man kann nicht einerseits vom Bundes- antreiben müssen. Wir müssen Stückzahlen weiterhin minister der Verteidigung erwarten, dass er seine Aufga- senken, wie wir es bei bestimmten Beschaffungsvorha- ben mit einem bestimmten Finanzrahmen erfüllt – diesen ben getan haben. Die Reduzierung der Stückzahlen und Finanzrahmen akzeptiere ich; ich bin mit dem Finanz- die damit verbundenen Maßnahmen werden sich für minister gut befreundet; wir bekommen das auch eini- meine Nachfolgerin oder meinen Nachfolger – ich ver- germaßen hin; natürlich hätte ich gern ein bisschen mute nicht, dass ich im Jahr 2010 oder 2012 noch Bun- mehr, aber er hat ja nichts –, und auf der anderen Seite desminister der Verteidigung sein werde; man weiß es von ihm verlangen, an Waffensystemen oder Standorten aber nicht – festzuhalten, obwohl sie nicht mehr in sein Konzept zum Betrieb der Bundeswehr passen. Das – diese Bemerkung (Heiterkeit im ganzen Hause) muss erlaubt sein – passt nicht zusammen! aber nicht finanziell auswirken. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Wir müssen aber auch noch weitere Maßnahmen er- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) greifen. Wir wollen uns so schnell wie möglich von ver- (B) Wir werden die Situation an jedem einzelnen Standort (D) altetem und wartungs- und kostenintensivem Material noch einmal ausführlich diskutieren. trennen. Wir konzentrieren uns bei der Beschaffung auf das Material, das die Bundeswehr für den Einsatz heute Wir haben 304 Tornados. Inhalt der Weisung ist, 80 bis und auch morgen braucht. Wir verfolgen multinationale 90 Tornados – ich habe gestern zum ersten Mal öffent- Kooperationslösungen. Wir vermeiden unnötige Redun- lich gesagt, dass es auch 100 sein können – außer Be- danzen und gestalten den Betrieb effizient. Das ist trieb zu nehmen. Dadurch wird die Verteidigungsfähig- Grundlage für die Weisung des Generalinspekteurs, die keit der Bundesrepublik Deutschland überhaupt nicht bekanntlich ergangen ist. beeinträchtigt. Wir sparen aber eine Menge Betriebskos- ten. Wir können umstrukturieren. Auch das wird natür- Das Heer wird eine ausgewogene Struktur mit in sich lich zu Debatten führen. Es wird die Frage gestellt wer- lebensfähigen und zu flexibler Truppeneinteilung befä- den: Sind auch die 46 Marineflieger-Tornados aus higten Großverbänden entwickeln und realisieren, alles Eggebek dabei? unter der Überschrift: Die Bundeswehr im Einsatz. Ich glaube nicht, dass wir darüber politischen Streit haben Um auch hier öffentlich etwas zu Schleswig-Holstein werden. zu sagen, Herr Kollege Austermann: Der 28. März ist nicht das Fallbeildatum. Der 28. März ist das Datum, zu Wir wollen zum Beispiel die Durchhaltefähigkeit von dem mir der Generalinspekteur den Vorschlag der In- Fernmeldepionieren und ABC-Abwehrkräften verbes- spekteure der Teilstreitkräfte vorlegen soll. Ich bewerte sern. Vor allem die Soldaten sind es, die beim Wehr- ihn dann. Es ist eine politische Entscheidung zu treffen. beauftragten vorstellig werden. Von Christian Schmidt Weil es massive Maßnahmen in der Region gibt – ich und auch von Günther Nolting ist die gestiegene Zahl weiß von ihnen und sie beeindrucken mich auch –, wollte von Eingaben beim Wehrbeauftragten angesprochen ich klarstellen: Das ist nicht der Tag der Entscheidung. worden. Das hat natürlich auch etwas mit den Auslands- einsätzen zu tun. Wenn man mehr Auslandseinsätze (Christian Schmidt [Fürth] [CDU/CSU]: Da wird durchführt, braucht man sich nicht darüber zu wundern, erst der Kopf unter die Guillotine gelegt!) dass es Soldaten gibt, die sich dadurch beschwert fühlen Bis zur Entscheidung wird es noch etwas länger dauern. und das auch vortragen. Ich nehme das alles sehr ernst. Meine Damen und Herren, ich will Ihre Geduld nicht Herr Nolting, Sie haben einige Vorschläge unterbrei- überstrapazieren, tet, zum Beispiel zur Besoldungsanpassung Ost/West. Die Besoldungsanpassung Ost/West würde ich gern ma- (Günther Friedrich Nolting [FDP]: Wir sind chen. Sie scheitert nicht an der Bundesregierung. Sie leidensfähig! Bei dem Vorgänger!) 2802 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. März 2003

Bundesminister Dr. Peter Struck (A) aber ich will noch etwas zu den gestellten Fragen sagen. Krieges gegen den Irak mit unverändertem Auftrag dort (C) Zu Strategic Airlift ist, glaube ich, von Christian verbleiben. Schmidt gefragt worden. Das heißt, wir wollen Groß- (Beifall der Abg. Petra Heß [SPD]) raum-Lufttransportkapazität schaffen, bis der erste A400M bei uns steht. Sie wissen, dass wir uns in Prag Die Abkürzung für das ABC-Abwehrkontingent – ich verpflichtet haben, dafür die Federführung zu überneh- musste als Verteidigungsminister auch erst einmal ler- men. Es hat verschiedene Gespräche mit den anderen nen, dass man viel in Abkürzungen denken muss – ist neun Staaten gegeben, die sich an diesem Projekt beteili- Combined Joint Task Force Consequence Management, gen wollen. Es hat Berechnungen gegeben. Das Ergebnis was nichts anderes heißt, als dass deutsche, amerikani- ist – darüber werden wir noch verhandeln und auf einer sche und tschechische ABC-Abwehrkräfte in dieser Task Verteidigungsministerkonferenz voraussichtlich im Juni Force zusammengefasst sind. entscheiden –, dass es auf ein Mixmodell zwischen Kau- fen und Leasen wahrscheinlich von Antonow-Groß- Die Amerikaner haben ihre Abwehrkräfte teilweise raumflugzeugen hinausläuft, die in Konkurrenz zu den abgezogen. Die Tschechen haben uns mitgeteilt, dass großen Boeings, den Galaxys, die Sie ja alle kennen, ste- auch sie ihre Abwehrkräfte abziehen werden, wenn die hen. Aber wenn man die Daten zur Kenntnis nimmt, die Situation im Irak entsprechend ist. Wir erwarten also, uns bisher vorgelegt worden sind, dann muss man sagen, dass die amerikanischen und tschechischen Einheiten dass das Angebot, das wir da bekommen haben, in wirt- vollständig verlegt werden. Vor diesem Hintergrund gilt schaftlicher Hinsicht das realistischste ist. es, den Eigenschutz, die Durchhaltefähigkeit und die Fä- higkeit zur Eigendekontamination des in Kuwait verblei- Nun erheben die amerikanischen Freunde verständli- benden deutschen Kontingents zu verbessern. cherweise einige Einwände. Wir sind aber bei dem Stra- Das heißt – um das dem Parlament konkret mitzutei- tegic Airlift, auf einem guten Weg. len –, dass wir dieses Kontingent so schnell wie möglich Dann ist angesprochen worden, wie weit ich mit dem durch in Deutschland bereitgehaltene Kräfte – der Be- Kollegen Otto Schily bin, was den Einsatz der Bundes- reitstellungsbefehl ist gestern ergangen – auf etwa 200 wehr in bestimmten Situationen angeht. bis 250 Mann verstärken. Das ist zur Erfüllung der Auf- gabe und zum Schutz der deutschen Soldaten in Kuwait (Bartholomäus Kalb [CDU/CSU]: Sehr rich- erforderlich. Das ist unsere Verantwortung, meine Da- tig!) men und Herren, und wir werden sie im Interesse der Der Kollege Otto Schily hat in der Arbeitsgruppe, die Soldaten in Kuwait wahrnehmen. wir eingerichtet haben, jetzt ein so genanntes Luftpoli- (Beifall bei der SPD) (B) zeigesetz vorgelegt. Es geht um den Frankfurter Fall, (D) den wir alle kennen. Zuletzt ein kurzes Wort zum Thema Wehrverfas- sung. Ich weiß, dass es zwei Fraktionen in diesem Hause (Günther Friedrich Nolting [FDP]: Aber reicht gibt, die die Auffassung vertreten, eine Berufsarmee das denn?) könne die Aufgaben, die auf uns zukommen, besser be- wältigen als die jetzige Wehrpflichtarmee. Sie wissen, Ich glaube, es ist klar, dass ein Eingriff jedenfalls bei ei- ich als Bundesminister der Verteidigung vertrete eine an- nem solchen Fall nur mit einer klaren gesetzlichen Kom- dere Auffassung. Ich – genauso wie die Sicherheitspoli- petenz für die Luftwaffe erfolgen kann. tiker meiner Fraktion – bin aus verschiedenen Gründen (Bartholomäus Kalb [CDU/CSU]: Richtig!) für die Beibehaltung der Wehrpflicht. Ob das Luftpolizeigesetz reicht oder ob man nicht (Beifall bei der SPD) vielleicht, wie die Verteidigungspolitiker der SPD-Frak- Was ich aber nicht bestreiten will, ist der Umstand, tion dargelegt haben, auch noch andere Fälle im Kopf dass man, wenn man die Bundeswehr zu einer Armee im haben muss, zum Beispiel Gefährdungen unseres Landes Einsatz macht, natürlich auch zu berücksichtigen hat, in terroristischer Art über Wasser, bei denen vielleicht nur welcher Weise der Wehrdienst dann ausgestaltet werden die Marine helfen kann, werden wir klären. Aber die muss. Ich will hier ausdrücklich sagen, dass diejenigen, Antwort auf die Frage ist: Wir werden in Kürze inner- die uns beraten, die Mitarbeiter meines Hauses, aber halb der Bundesregierung dazu eine abschließende Ent- auch Berater von außerhalb, darüber nachdenken sollen, scheidung herbeiführen und diese dann den Koalitions- wie lange der Wehrdienst dauern soll und welche Aufga- fraktionen und den zuständigen Ausschüssen vorlegen. ben zu erfüllen sein werden. Mit Blick auf den bevorstehenden Irakkrieg will ich Ich schließe also ausdrücklich nicht aus, dass ich den noch etwas zur Situation unserer Soldaten in Kuwait Koalitionsfraktionen – wenn es geht, noch vor der Som- sagen. Das deutsche ABC-Abwehrkontingent besteht merpause, wenn nicht, dann danach – einen Vorschlag zurzeit aus knapp 100 Soldaten. Sie werden dort bleiben, über die Ausgestaltung und über die Dauer des Wehr- und zwar ausschließlich im Rahmen des Mandates, das dienstes unterbreiten werde. Wenn der Vorschlag dazu ihnen der Bundestag gegeben hat. Im Falle eines terroris- führen sollte, Herr Kollege Schmidt, dass man das Ge- tischen Anschlages gegen die im Camp Doha stationier- setz über die Wehrpflicht ändern muss, werde ich die ten US-Streitkräfte oder gegen die Zivilbevölkerung des Koalitionsfraktionen darum bitten, das möglichst bald Landes werden sie humanitäre Hilfe leisten. Die deut- auf den Weg zu bringen. Denn wenn man zum Beispiel schen ABC-Abwehrkräfte werden auch im Falle eines weniger als neun Monate Wehrpflicht festlegt, braucht Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. März 2003 2803

Bundesminister Dr. Peter Struck (A) die Bundeswehr eine gewisse Zeit, um das umzustellen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (C) Insbesondere im Heer ist die Umstellung groß, wenn die und bei der SPD – Christian Schmidt [Fürth] Wehrpflicht um einige Monate gekürzt wird. In dieser [CDU/CSU]: Das ist immer ein Genuss!) Frage brauchen wir möglichst bald eine Entscheidung – Nein, es ist kein Genuss, Herr Schmidt. Ich muss Ihnen des Parlaments. ehrlich sagen: Nach den Argumenten von heute Morgen Es ist sehr wichtig, wenn ich zum Schluss noch ein- – wenn Sie das jetzt noch bestätigen, macht mich das mal betone: Ich bedanke mich sehr dafür, dass wir in den noch ein Stück weit bedrückter – hatte man zum Teil grundsätzlichen politischen Fragen, was die Aufgaben schon die Sorge, dass es auch hier im Hause Menschen und auch die Fähigkeiten der Bundeswehr angeht, in die- gibt, die heute weniger gern über den Haushalt unserer sem Hause einen breiten Konsens haben. Das ist im Soldaten und stattdessen lieber über Marschbefehle für Sinne unserer Soldatinnen und Soldaten gut und sollte unsere Soldaten reden wollen. auch so bleiben. Herr Austermann, da Sie eben Außenminister Fischer (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ zitiert haben, muss ich Ihnen sagen: Mir wäre viel woh- DIE GRÜNEN) ler, wenn die Opposition in den letzten Wochen und Mo- naten sehr viel häufiger auf Fischer gehört hätte. Sie Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: wäre dann jetzt nicht in der Situation, hier rumeiern zu müssen und nichts darüber sagen zu können, was denn Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Alex eigentlich ihre Position zum amerikanischen Ultimatum Bonde, Bündnis 90/Die Grünen. ist. Sie wäre auch nicht in der Situation, hier – wenn sie aufrichtig wäre – zugeben zu müssen, dass sie mit ihrer Alexander Bonde (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Position den Kriegseinsatz, der heute, morgen oder in den nächsten Tagen stattfinden kann, legitimiert. Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich möchte zum Anfang meiner Rede kurz Wenn Sie schon nicht auf Außenminister Fischer hö- einen Zuhörer begrüßen. Ein herzliches Willkommen an ren, dann hören Sie doch wenigstens auf Ihren Kollegen den ehemaligen Vorsitzenden des Verteidigungsaus- Gröhe, der in einem „Spiegel online“-Artikel von ges- schusses, Helmut Wieczorek. Schön, dass Sie uns auch tern, bezeichnenderweise mit der Überschrift „Müller ru- zu später Stunde die Treue halten. dert zurück, Merkel schlingert“, mit der Aussage zitiert wird, dass er die Unterstützung des Ultimatums durch (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN die Fraktion nicht mittragen könne, da dies einen Mili- und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der tärschlag einschließt. Ich glaube, wir wissen damit, wer (B) CDU/CSU und der FDP) in dieser Frage auf welcher Seite steht. Da hilft Ihnen (D) Rot-Grün hat hinsichtlich des Plafonds des Verteidi- auch das Rumeiern und ein Beschönigen dieser Frage gungsministeriums Wort gehalten. Der Plafond ist bei nichts. 24,4 Milliarden Euro stabil. Dennoch haben wir auch Ich finde es traurig, dass der jahrzehntelange Konsens in diesem Bereich einen notwendigen Konsolidie- in der Weltgemeinschaft bei der Frage des Einsatzes rungsbeitrag in Höhe von 94 Millionen Euro geleistet. von Militär bedroht ist. Ich finde es auch sehr bedauer- Damit schaffen wir eine verlässliche Basis für weitere lich, dass dieser Konsens – trotz aller Beschönigungs- Reformen und für die Modernisierung der Bundes- reden – in diesem Hause offensichtlich nicht mehr exis- wehr. tiert. Die Opposition hat auch in diesem Feld durch Auf- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN wuchswünsche auf Pump in Höhe von einer halben und bei der SPD) Milliarde Euro hier und von über 1 Milliarde Euro im Verteidigungsausschuss auf sich aufmerksam gemacht; Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: nicht durch einen seriösen Umgang mit Finanzen. Ich schließe die Aussprache. Ich muss Ihnen sagen, dass ich heute, an einem Tag, an dem Befürchtungen und Meldungen die ganze Pro- Wir kommen zur Abstimmung über den Einzelplan 14 blematik des Einsatzes von Militär deutlich machen, in der Ausschussfassung. Es liegen drei Änderungsan- meine Schwierigkeiten habe, hier nur auf einer Zahlen- träge der Fraktion der CDU/CSU sowie ein Änderungs- ebene das Militär zu diskutieren. antrag der Fraktion der FDP vor, über die wir zuerst ab- stimmen. Ich finde dies auch schwierig in einer Situation, in der wir sehr deutlich sehen, welche unheilvollen Reize von Wer stimmt für den Änderungsantrag der Fraktion der militärischen Mitteln ausgehen können und wie hoch CDU/CSU auf Drucksache 15/668? – Wer stimmt dage- der Reiz des Einsatzes militärischer Mittel sein kann – gen? – Enthaltungen? – und das, obwohl zivile, friedliche Mittel zur Problemlö- (Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Hammel- sung noch nicht ausgeschöpft sind. In der Debatte heute sprung!) Morgen hier im Plenum habe ich sehr unterschiedliche Kulturen im Umgang mit Militär erlebt. Ich muss sagen: Der Änderungsantrag ist mit den Stimmen der Koalition Herrn Glos und Frau Merkel zuzuhören ist schon sehr gegen die Stimmen der CDU/CSU bei Enthaltung der beklemmend. FDP abgelehnt. 2804 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. März 2003

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner (A) Wer stimmt für den Änderungsantrag der Fraktion der Trotz dieses Anstiegs werden Sie bei dieser mittel- (C) CDU/CSU auf Drucksache 15/669? – Wer stimmt dage- fristigen Finanzplanung auch bei einem noch höheren gen? – Enthaltungen? – Der Änderungsantrag ist mit den Schuldenerlass Ihr Ziel, bis zum Jahr 2006 0,33 Prozent Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der CDU/ des Bruttosozialprodukts für die Entwicklungspolitik CSU und der FDP abgelehnt. auszugeben, ganz sicher nicht erreichen. Die Notwen- digkeit eines Schuldenerlasses für hoch verschuldete Wer stimmt für den Änderungsantrag der Fraktion der Entwicklungsländer möchte ich durchaus unterstrei- CDU/CSU auf Drucksache 15/670? – Wer stimmt dage- chen. Aber neben einem Schuldenerlass brauchen diese gen? – Enthaltungen? – Der Änderungsantrag ist mit den Länder vor allem eine weitere finanzielle Unterstüt- Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der CDU/ zung. CSU und der FDP abgelehnt. Der Vergleich der finanziellen Ausstattung des Einzel- Wer stimmt für den Änderungsantrag der Fraktion der plans 23 von 1998 mit dem des Jahres 2003 wird von Ihnen FDP auf Drucksache 15/683? – Wer stimmt dagegen? – verständlicherweise nicht so gern dargestellt. Der Einzel- Enthaltungen? – Der Änderungsantrag ist mit den Stim- plan 23 für das Jahr 2003 hat nach Abschluss der Haus- men der Koalition gegen die Stimmen der CDU/CSU haltsberatungen ein Volumen von 3 768 000 000 Euro. Da- und der FDP abgelehnt. von können vom BMZ 30 Millionen Euro nicht eingesetzt Wir kommen zur Abstimmung über den werden. Sie werden vielmehr vom AA, vom Auswärtigen Einzelplan 14 in der Ausschussfassung. Wer stimmt da- Amt, bewirtschaftet. Das soll auch in den Jahren 2004 bis für? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der 2006 der Fall sein. Einzelplan 14 ist mit den Stimmen der Koalition gegen Frau Ministerin, dies zeigt: Sie haben sich im Kabi- die Stimmen der CDU/CSU und der FDP angenommen. nett bei den Haushaltsberatungen nicht gegenüber Ihrem Ich rufe auf: grünen Kollegen Fischer durchsetzen können. Einzelplan 23 (Ulrich Heinrich [FDP]: Komische Konstruk- Bundesministerium für wirtschaftliche Zusam- tion!) menarbeit und Entwicklung Im nächsten Jahr, im Jahr 2004, sollen sogar weitere – Drucksachen 15/568, 15/572 – 50 Millionen Euro aus dem Einzelplan 23 durch das Auswärtige Amt bewirtschaftet werden. Diesmal sind sie Berichterstattung: für Südosteuropa vorgesehen. Abgeordnete Brigitte Schulte (Hameln) Frau Ministerin, bereinigt um diese 30 Millionen Euro, (B) Jochen Borchert (D) Antje Hermenau stehen Ihnen in diesem Jahr lediglich 3 738 000 000 Euro Jürgen Koppelin zur Verfügung. Im Vergleich zum Haushalt 1998, also zu dem im letzten Jahr vor dem Regierungswechsel – damals Es liegen ein Änderungsantrag der Fraktion der CDU/ umfasste der Einzelplan 23 4 052 000 000 Euro –, stehen CSU sowie ein Entschließungsantrag der Fraktion der Ihnen in diesem Jahr 314 Millionen Euro bzw. knapp FDP vor. Über den Entschließungsantrag werden wir 8 Prozent weniger zur Verfügung. morgen nach der Schlussabstimmung abstimmen. (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Unglaublich!) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre keinen Dies ist wahrlich kein Ruhmesblatt der rot-grünen Ent- Widerspruch. Dann ist es so beschlossen. wicklungspolitik. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Jochen Borchert, CDU/CSU-Fraktion. Aber auch im Vergleich zum Haushalt 2002 ist die Bi- (Beifall bei der CDU/CSU) lanz negativ. Im vergangenen Jahr hatte der Einzelplan 23 ein Volumen von 3 699 000 000 Euro. Hinzu kamen 152 Millionen Euro aus dem Antiterrorprogramm und Jochen Borchert (CDU/CSU): Mittel aus dem Einzelplan 60 für Afghanistan. Damit Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! konnten Sie über insgesamt 3 851 000 000 Euro verfü- Wir beraten heute einen Haushalt für das Bundesministe- gen. Im Vergleich zum Jahr 2002 haben Sie in diesem rium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwick- Jahr 113 Millionen Euro bzw. knapp 3 Prozent weniger lung, der finanziell eine völlig unzureichende Basis für Mittel zur Verfügung. Während der Bundeshaushalt um die deutsche Entwicklungspolitik darstellt. rund 0,4 Prozent sinkt, sinkt der Einzelplan 23 um knapp 3Prozent. (Beifall bei der CDU/CSU) Frau Ministerin, Sie und die Entwicklungspolitik sind Daran ändert auch der Hinweis, der heute sicherlich die Verliererinnen der Haushaltsberatungen 2003. Die wieder kommen wird, auf den Anstieg der ODA-Zahlen Debatte in diesen Tagen hat gezeigt: Der gescheiterte nichts, auch wenn dies immer als Erfolg der Regierungs- Versuch einer Haushaltskonsolidierung geht zulasten der politik dargestellt wird. Der Anstieg um 11 Prozent seit Entwicklungshilfe. Die Haushaltskonsolidierung ist ge- 1998 ist fast ausschließlich auf den gestiegenen Schul- scheitert; die schmerzhaften Einschnitte in die Entwick- denerlass für Entwicklungsländer zurückzuführen. lungshilfe bleiben bestehen. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. März 2003 2805

Jochen Borchert (A) Frau Ministerin, Sie haben in der ersten Lesung des vornehmen. Diese Abstimmung soll vorgenommen wer- (C) Haushaltes darauf hingewiesen, dass die Entwicklungs- den, um Kohärenz und Synergieeffekte der deutschen politik weit mehr umfasst als die Maßnahmen des Einzel- bilateralen Entwicklungszusammenarbeit sicherzustel- plans 23. Auch die Beiträge anderer Ressorts und anderer len. staatlicher Ebenen müssten berücksichtigt werden. Wenn man sich die Zusammenstellung der entwicklungspoliti- Meine Damen und Herren, Kohärenz und Synergieef- schen Ausgaben, die im Einzelplan 23 veröffentlicht fekte wären sichergestellt, wenn diese Mittel und die worden sind, unter Zugrundelegung internationaler Mittel der anderen Ressorts im Einzelplan 23 veran- Richtlinien ansieht, dann kommt man zu dem Ergebnis, schlagt worden wären und durch die bewährten Instru- dass wir uns gemeinsam fragen sollten, ob alle Mittel mente der Entwicklungspolitik eingesetzt würden. sinnvoll eingesetzt worden sind. Der Zusammenhang Dann wären weder Lenkungsausschüsse noch Koordi- zwischen der entwicklungspolitischen Zusammenarbeit nierungsgespräche zwischen den Ministerien nötig. und den Ausgaben für humanitäre Hilfsmaßnahmen au- Hieran zeigt sich: Erfolgreiche Entwicklungspolitik ßerhalb der Entwicklungshilfe sowie den Ausgaben der ist nicht nur eine Frage des Inputs, des Umfangs der zur Gemeinden gemäß dem Asylbewerberleistungsgesetz Verfügung stehenden Mittel, sondern auch eine Frage leuchtet sicherlich kaum jemandem ein. des Outputs, das heißt des effizienten Einsatzes im Rah- Bei dem Hinweis auf die Beiträge anderer Ressorts men einer konzeptionell überzeugenden Entwicklungs- stellt sich aber auch die Frage, wie diese Maßnahmen politik. koordiniert werden. Einer der zentralen Bereiche der (Beifall bei der CDU/CSU) Entwicklungspolitik ist die bilaterale technische Zu- sammenarbeit. Die Maßnahmen in diesem Bereich wer- Die Verlagerung der Mittel in andere Ressorts vergrößert den von der GTZ, der Deutschen Gesellschaft für Tech- die Probleme einer kohärenten Regierungspolitik und nische Zusammenarbeit, durchgeführt. Die GTZ hat ihre belastet die Glaubwürdigkeit der deutschen Entwick- Leistungsfähigkeit auch im internationalen Wettbewerb lungspolitik. mit anderen Durchführungsorganisationen bewiesen. Im Jahr 2002 wurde der Titel 687 05, Aktions- Welchen Sinn macht es da, dass 23 Millionen Euro der programm 2015, als deutscher Beitrag zur Armuts- GTZ durch das Auswärtige Amt bewirtschaftet und in bekämpfung neu eingerichtet. Was verbirgt sich hin- eigener Regie in Afghanistan eingesetzt werden? Das ter diesem Titel? Hier wurden aus Gründen der BMZ und das AA wollen die Maßnahmen durch monat- Optik 40 Millionen Euro zusammengefasst und mit liche Treffen eines Lenkungsausschusses koordinieren. Deckungsvermerken wieder auf eine Vielzahl von Der Zugriff des AA auf die Mittel der TZ erfolgte Empfängern verteilt. Das BMZ weist darauf hin, (B) (D) nicht, um knappe Mittel möglichst effizient einzusetzen. dass die Erfahrungen positiv seien, da unter ande- Vielmehr ist auch dies die Auswirkung eines rot-grünen rem der administrative Aufwand gering gehalten Streits innerhalb des Kabinetts um Einfluss auf die Ent- werde, weil keine zusätzlichen Projektbewilligungs- wicklungspolitik. Und in diesem Streit unterliegen Sie, verfahren eingeführt werden müssten. Frau Ministerin, im Gegensatz zu all Ihren Ankündigun- Ohne diesen Sammeltitel, bei einem Verzicht auf gen. diese Optik, könnten die Mittel gleich für Kirchen, Stif- Das Auswärtige Amt macht Ihnen inzwischen sogar tungen und andere Nichtregierungsorganisationen einge- die Sprecherrolle bei der Geberkoordinierung streitig. setzt werden. Die Organisationen wüssten früher, wie Das war bisher ein herausragender Bestandteil des viele Mittel ihnen zur Verfügung stehen, die Planung BMZ-Profils. muss sich grün ärgern, und Durchführung der Projekte würde erleichtert und der wenn er sieht, wie Sie sein Erbe aufs Spiel setzen und administrative Aufwand wäre für alle Beteiligten gerin- wie Sie hilflos nach Worten suchen, um Ihre Niederlage ger. Dies wäre ein Beitrag zur immer wieder geforderten zu kaschieren. Stärkung der zivilgesellschaftlichen Zusammenarbeit. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Beifall bei der CDU/CSU) neten der FDP) Aus der Sicht der Haushälter und auch aus der Sicht Das Ergebnis der Verteilung der Mittel der Zusam- des Parlaments gehen die vielen Deckungsvermerke im menarbeit auf mehrere Etats ist in erster Linie ein Be- Einzelplan 23 zulasten der Haushaltsklarheit. Auch nach schäftigungsprogramm in den Ministerien zulasten ei- Abschluss der Haushaltsberatungen bleibt aufgrund der ner effizienten Entwicklungspolitik. Ich will dies am vielen Deckungsvermerke offen, in welchem Bereich Beispiel eines anderen Ressorts ansprechen. Im Einzel- wie viele Mittel eingesetzt werden. Wenn die Politik der plan 10, Bundesministerium für Verbraucherschutz, sind vergangenen Jahre, immer mehr Deckungsvermerke bei in diesem Jahr neu 10 Millionen Euro für die bilaterale den einzelnen Haushaltstiteln anzubringen, fortgesetzt Zusammenarbeit mit der FAO eingestellt worden. Das wird, werden wir in Kürze nur noch den Gesamtplafond BMVEL will die Mittel unter anderem in Afghanistan für den Einzelplan 23 beschließen und es dann dem einsetzen für den Aufbau staatlicher Strukturen zur Um- BMZ überlassen, wo die Mittel eingesetzt werden. Wenn setzung des Rechts auf Nahrung sowie zur Förderung wir das Haushaltsrecht des Parlaments ernst nehmen, von Organen der Zivilgesellschaft. Die Projektplanung dann kann diese Entwicklung weder im Interesse der will das BMVEL mit der FAO in enger Zusammen- Opposition noch im Interesse der Koalitionsfraktionen arbeit mit dem BMZ, der GTZ, dem AA und dem BMF liegen. Der Haushaltsklarheit widerspricht es eben auch, 2806 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. März 2003

Jochen Borchert (A) dass in diesem Jahr 30 Millionen Euro im Einzelplan 23 der NATO-Parlamentarier ab 1995 auf dem Balkan und (C) ausgewiesen werden, die aber nicht dem BMZ, sondern in Bosnien-Herzegowina gemacht habe. dem Auswärtigen Amt zur Verfügung stehen. (Vorsitz: Vizepräsident Dr. Norbert Lammert) Insgesamt ist der Einzelplan 23 durch eine fehlende Das Positive war, dass in den letzten Jahren durch zi- Gesamtkonzeption und eine Aufsplitterung der finanzi- vile Hilfsorganisationen, durch internationale Organisa- ellen Ressourcen auf verschiedene Ressorts geprägt. Der tionen und durch den bedeutenden Einsatz militärischer Einzelplan 23 wird in der vorliegenden Form den He- Kräfte einiges wieder aufgebaut worden ist. Es ist für rausforderungen der entwicklungspolitischen Zusam- mich schwierig, an dem Abend vor einer zweiten militä- menarbeit weder konzeptionell noch finanziell gerecht. rischen Eskalation um den Irak – über die auf uns zu- Deshalb lehnen wir den Einzelplan 23 ab. kommenden Ausmaße wissen wir relativ wenig – über Vielen Dank. die Erfolge deutscher Entwicklungspolitik zu sprechen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Frau Bundesministerin, liebe Heidemarie Wieczorek- Ulrich Heinrich [FDP]) Zeul, ich bin völlig anderer Meinung als der Kollege Borchert. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (Zurufe von der CDU/CSU: Was? – Warum Nächste Rednerin ist die Kollegin Brigitte Schulte, denn?) SPD-Fraktion. Ich finde, Sie, Ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Ministerium, die Abgeordneten im Fachausschuss sowie Brigitte Schulte (Hameln) (SPD): die Außenpolitiker, Wirtschaftspolitiker und Haushalts- politiker – das sind nicht zuletzt die Kolleginnen und Frau Präsidentin! Meine Kolleginnen und Kollegen! Kollegen, die ich hier sehe und die an dieser Debatte Herr Kollege Borchert, wir beide gehören zu den Abge- teilnehmen – das UN-Ziel, die Armut in der Welt bis ordneten – ich sehe unseren Ausschussvorsitzenden ge- zum Jahr 2015 zu halbieren, mit viel Schwung und En- rade nicht –, die schon lange in der Politik sind und des- gagement angegangen. Wenn der Finanzminister noch wegen auch Erinnerungen an Oppositions- und mehr Geld zur Verfügung gestellt hätte, dann wären wir Regierungszeiten haben. Wir können uns daher sehr gut schon ein Stück weiter. daran erinnern, dass der frühere Berichterstatter zum Einzelplan 23 – das waren Sie nämlich früher schon ein- (Beifall bei der SPD) mal – sehr viel Wünschbares vorschlug, aber bei der Re- Überlegen Sie einmal, was der militärische Einsatz im (B) gierung von Helmut Kohl leider nicht durchsetzen Irak kostet. Was könnte man mit dem Geld alles tun? (D) konnte. Ich war nun auch ein paar Jahre lang nicht or- Wie viele Waffen würden nicht eingesetzt? Wie viele dentliches Mitglied des Haushaltsausschusses des Bun- Menschen, Soldaten und Zivilisten würden nicht ums destages. Gleichwohl stelle ich heute fest, dass es die Leben kommen? Wie viel Infrastruktur – die anschlie- Bundesregierung zu Beginn der 90er-Jahre versäumte, ßend mit Beträgen in Milliardenhöhe wieder aufgebaut die wohlgeordneten Finanzverhältnisse unter Herrn Kol- wird – würde nicht zerstört werden? Wie viele natürliche legen Stoltenberg – er war der letzte Finanzminister, der Lebensgrundlagen würden bewahrt bleiben? den Haushalt halbwegs im Griff hatte – beizubehalten. In den 90er-Jahren ging die Struktur des Bundeshaushaltes Dabei haben die Teilnehmer der 55. UN-Generalver- völlig aus dem Leim, weil großzügig Geschenke an alle sammlung in ihrer Millenniumserklärung beschlos- Welt gemacht worden sind. Deshalb haben wir heute das sen, dass der Anteil der Bevölkerung, deren Einkom- Problem, dass wir manches Wünschbare leider nicht be- men weniger als 1 Dollar pro Tag beträgt, und der zahlen können. Anteil der Menschen, die Hunger leiden, halbiert wer- den solle. Sie hatten sich vorgenommen – die Bundesre- Mir macht es wirklich Spaß, die Welt einmal nicht nur gierung und Heidemarie Wieczorek-Zeul waren dabei aus der nationalen Sicht eines Regierungsmitglieds, ei- besonders beteiligt –, dass endlich möglichst vielen nes Mitglieds einer Regierungspartei oder einer Opposi- Leuten auf der Erde hygienisches Trinkwasser zur Ver- tionspolitikerin, sondern im internationalen Kontext zu fügung stehen solle. Außerdem – das scheint mir per- betrachten, weil man dann lernt, dass die Perspektiven sönlich das Wichtigste zu sein – sollten Jungen und andere sind. Allerdings hätte ich mir gewünscht, meine Mädchen gleichberechtigten Zugang zu allen Bildungs- Damen und Herren, dass wir den Haushalt heute in einer gängen erhalten. anderen Situation beraten könnten. Ich weiß nicht, ob es Ihnen genauso geht. In den vielen Jahren meiner politi- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ schen Arbeit habe ich zwei besonders schreckliche Situ- DIE GRÜNEN) ationen erlebt: Ich meine die entsetzliche Erfahrung des Diese Aufgaben zu lösen ist ein Wettlauf gegen die Auseinanderbrechens Jugoslawiens, die damit verbunde- Zeit, an dem sich sehr viele engagierte Menschen auf der nen Bürgerkriege und schließlich das militärische Ein- Welt beteiligen müssen. Ich bin mir sicher, dass Sie da- greifen bis hin zu Kampfeinsätzen, an denen auch die bei auf meiner Seite sind. In diesem Punkt stehen wir Bundeswehr im Jahre 1999 beteiligt war. Ich kann mich alle beieinander. recht gut daran erinnern, wie viel Gewalt und Zerstörung ich bei den vielen Besuchen gesehen habe, die ich als Eine hat in den letzten vier Jahren mit aller Kraft, mit Vorsitzende des Ausschusses für zivile Angelegenheiten ihrer Durchsetzungsfähigkeit, mit ihrer Zähigkeit und Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. März 2003 2807

Brigitte Schulte (Hameln) (A) mit ihrem Namen viel geleistet. Frau Bundesministerin, wird von heute 72 Millionen Menschen auf 121 Millio- (C) ich finde, Sie haben der deutschen Entwicklungspolitik nen Menschen im Jahr 2050 anwachsen. In Afghanistan wieder einen Namen und ein Gesicht gegeben. Das sollte – dort leisten deutsche Soldaten im Moment einen man in aller Deutlichkeit anerkennen. schweren Dienst – leben heute 23 Millionen Einwohner, nach den Prognosen der UN sollen es im Jahr 2050 (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten 72 Millionen sein. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Deshalb wollen die Mitglieder des Haushaltsausschusses Wir alle können uns vorstellen, welche Konflikte die und die Berichterstatter – Kollege Borchert bringt das in Staaten untereinander um genügend sauberes Trinkwas- seinen Anträgen zum Ausdruck – helfen, damit die ge- ser und ausreichend Nahrungsmittel aushalten und aus- setzten Ziele von Deutschland realisiert werden können. tragen müssten, wenn sie keine tatkräftige Hilfe – nicht nur Almosen – von ihren nördlichen Nachbarn erhalten Nicht alle Felder der nationalen und internationalen würden. Politik haben für den Bürger nachvollziehbare Ziele. An- ders ist das auf dem Gebiet der wirtschaftlichen Zusam- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten menarbeit. Im Jahr 2002 betrug die Weltbevölkerung des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) 6,211 Milliarden Menschen. Davon lebten – man kann Was für eine Herausforderung angesichts der Zahlen, es auch den Bürgern in Deutschland nicht oft genug sa- die ich genannt habe! Die Milleniumserklärung zur Be- gen – nicht einmal 1,2 Milliarden Menschen in den stär- kämpfung der Armut ist also keine Lyrik, vor allem, ker entwickelten Regionen der Welt, also beispielsweise bei uns, im westeuropäischen und nordamerikanischen wenn man bedenkt, dass die Bevölkerungen der von mir Teil der Welt, über 5 Milliarden lebten in weniger ent- erwähnten Staaten – ich könnte noch mehr nennen – wickelten Regionen und 700 Millionen in den ärmsten mehrheitlich aus Analphabeten bestehen, von denen die Ländern der Erde. Hälfte jünger als 20 Jahre ist. Dort können weder die meisten Jungen, geschweige denn die Mädchen auf ei- Nur jemand, der an seiner eigenen Zukunft in nen Zugang zu Bildung hoffen. Deutschland und der seiner Angehörigen nicht interes- siert ist, der kann darüber hinwegsehen, wie die Lage bei Um die Lage der Frauen in den von mir nur bei- unseren Nachbarn im südlichen und östlichen Mittel- spielhaft aufgrund ihrer Nähe zur EU genannten Staa- meerraum bereits aussieht. Ich möchte Sie ein bisschen ten – ich sage immer, die Menschen könnten von dort nachdenklich machen: Marokko hat heute schon eine fast zu Fuß, zumindest aber mit dem Schlauchboot Bevölkerung von 31 Millionen. Nach den Prognosen der kommen – darf sich der Deutsche Bundestag nicht nur (B) UN wird sie bis 2050 auf über 50 Millionen anwachsen. im Entwicklungshilfeausschuss kümmern und nicht nur (D) Algerien hat 31 Millionen Einwohner. Ich kann mich dann, wenn wir den Haushalt beraten. Er muss die Mi- noch an die Zahlen erinnern, die wir in der Schule ge- nisterin und die Parlamentarische Staatssekretärin Frau lernt haben; da lag deren Einwohnerzahl bei weit unter Eid, die sich bereits darum kümmern, stärker als bisher 20 Millionen. Sie wird bis 2050 auf 51 Millionen Men- unterstützen. schen anwachsen. Ägypten liegt bei 70 Millionen Ein- wohnern. Als ich das Land vor zehn Jahren privat be- (Beifall der Abg. Uta Zapf [SPD]) sucht habe, waren es 60 Millionen Einwohner. Ich Über den Haushalt, den wir später verabschieden empfand es schon damals als hoffnungslos übervölkert. werden, kann ich nur sagen: Es stimmt, auch ich Die Bevölkerungszahl Ägyptens wird bis 2050 auf wünschte mir natürlich, er wäre höher. Den höchsten 114 Millionen anwachsen. Die Einwohnerzahl von Pa- Anteil am Gesamthaushalt hat dieser Einzelplan 1982 lästina wird demnach von 3,4 Millionen auf 11,8 Millio- unter der Regierung von Helmut Schmidt gehabt. Spä- nen wachsen. Israel wächst von 6 Millionen auf 10 Mil- ter haben Sie es versäumt, ihn auf die gewünschten An- lionen Einwohner. Der arabische Anteil der Bevölkerung teile zu bringen, und auch heute würde ich den Anteil ist daran ganz erheblich. Ich meine nicht die besetzten gerne erhöhen. Deswegen haben wir auch kein Ver- Gebiete; die habe ich Palästina zugerechnet. Der Irak, ständnis gehabt – das sage ich an die Haushälter, die in über den wir zurzeit häufig reden, hat eine Bevölkerung der vorangegangenen Legislaturperiode zuständig wa- von 24 Millionen Einwohnern. ren –, dass Sie ihn im Jahre 2000 mithilfe des Finanz- (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE ministeriums um 8,5 Prozent gekürzt haben. Das ist an- GRÜNEN]: Jetzt werden es weniger!) gesichts der Zahlen, die ich Ihnen genannt habe, kontraproduktiv. Sie wird bis 2050 auf 53,6 Millionen ansteigen. Die Be- völkerung Jordaniens wird sich von 5 Millionen Men- Herr Kollege Borchert, auch wenn Sie heute nicht nett schen auf 10 Millionen verdoppeln, die von Syrien von geredet haben – ich weiß, dass Sie das besser können –, 17 Millionen Menschen auf 36 Millionen. Die Türkei, muss ich Ihnen sagen: Ich hätte Ihnen bei der Forderung deren Zukunft uns besonders wichtig sein muss, hat nach einer Anhebung der Verpflichtungsermächtigung heute 69 Millionen Einwohner – denken Sie an die Zah- gerne zugestimmt. Aber der Finanzminister hat keine len, die Sie in der Schule gelernt haben – und wird im Deckung gefunden. Wir könnten den Kollegen Diller Jahr 2050 auf etwa 100 Millionen Einwohner kommen. bitten, dass er für den nächsten Haushalt auf jeden Fall Die Bevölkerung im Iran – es kann uns nicht gleichgül- einen entsprechenden Deckungsvorschlag vorbereiten tig sein, wie es bei der Nachbarnation des Iraks aussieht – soll. 2808 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. März 2003

Brigitte Schulte (Hameln) (A) Zur FDP: Hat sich mein Kollege Jürgen Koppelin ziert haben – sie belief sich im letzten Jahr auf 1 395 –, (C) vorsichtshalber verflüchtigt? und die Zahl der Fach- und Führungskräfte, die wir im letzten Jahr nach Deutschland geholt haben – es waren (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Er hat sich 6 446 –, in den nächsten Jahren erhöhen würde. nicht „verflüchtigt“, er ist im Fraktionsvor- stand, Frau Kollegin!) Noch besser wäre es, wenn die deutschen Unterneh- men im Ausland diese, nachdem sie in ihre Heimatländer Ich glaube, Ihr Vorschlag, das Ministerium aufzulösen zurückgekehrt sind, auch beschäftigen würden. Investi- und die Aufgaben in das Auswärtige Amt einzugliedern, tionen in Menschen zahlen sich für die Menschen viel- ist angesichts der vor uns liegenden Aufgaben ein ver- fach aus. Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen späteter Karnevalsscherz. und Kollegen, kämpfen wir gemeinsam weiter für eine (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Hans- Erhöhung dieses Haushalts! Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Aprilscherz, das liegt näher!) Ich danke Ihnen. Die Bundesrepublik Deutschland hat erfolgreich da- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ rum gekämpft, dass Einrichtungen der UN nach Bonn DIE GRÜNEN) kommen. Es sind schon einige dort, es könnten aber ru- hig noch mehr werden. Das würden sie auch wollen. Be- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: sonders erfreulich ist, dass das Develop- Das Wort hat nun der Kollege Markus Löning, FDP- ment Programme dabei ist und dass dessen Mitarbeiter Fraktion. nicht mehr nur am East River sitzen, sondern inzwischen auch am Rhein arbeiten. Wie ich festgestellt habe, fühlen sie sich dort auch wohl. Markus Löning (FDP): Notwendig wäre es – ich hoffe auf Ihre Unterstützung –, Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe dass wir die Mittel im nächsten Jahr und in den Jahren Frau Kollegin, Sie haben unseren Antrag zur Fusion von kräftig aufstocken, um gerade diese Programme zu för- BMZ und AA als Karnevalsscherz bezeichnet. dern. Auch mir gefällt es nicht, dass viele Aufgaben, die (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE im Einzelplan 23 gut aufgehoben sind, aufgeteilt werden GRÜNEN]: Der 1. April ist ja bald!) auf verschiedene Einzelpläne. Wir haben deswegen den Auftrag an den Rechnungshof gegeben, zu überprüfen, – Lieber Herr Ströbele, dann müssten Sie Ihren ge- ob diese Aufgaben nicht im Einzelplan 23 konzentriert schätzten Herrn Außenminister eigentlich als Faschings- (B) werden müssten. prinz bezeichnen; denn auch er wollte ja die Integration (D) des BMZ in das AA. Wer in der Weltliga mitspielen will – das wollen wir –, (Beifall bei der FDP) (Zurufe von der CDU/CSU: Oh!) Das war schon damals ein vernünftiger Vorschlag von der muss im eigenen Interesse mehr für die Entwick- ihm und daran hat sich – der Antrag liegt vor – nichts ge- lungsarbeit tun, der muss Krankheiten und Analphabe- ändert. tentum, Armut, Familienplanung und Sexualaufklärung zu seinen Aufgaben machen. Kollege Borchert hat es dargestellt: Der Einzelplan wird zerfleddert und aus anderen Häusern dirigiert. Ein Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Großteil der Entwicklungshilfe – unter finanziellen As- pekten – findet in anderen Häusern statt. Noch sehr viel Frau Kollegin, auch wenn es mir schwer fällt, muss entscheidender aber ist: Zum Beispiel aus Afghanistan ich Sie an die Überschreitung der Redezeit erinnern. hören wir von Reibungsverlusten, die dadurch entstehen, dass die Abstimmung zwischen dem Auswärtigen Amt Brigitte Schulte (Hameln) (SPD): und dem BMZ nicht funktioniert. Geld, Effizienz und Einsatz gehen hier verloren. Wir setzen uns mit unserem Ich bin sofort fertig, Herr Präsident. Die anderen ha- Entschließungsantrag dafür ein, dass diese Effizienz ben auch überzogen. wieder hergestellt und im Sinne der Entwicklungshilfe, Meine Damen und Herren, wir haben hervorragende zum Beispiel bei der Minenräumung und anderen sinn- Leute bei der UN – in Bonn und in New York. Wir haben vollen Projekten – anstatt bei der Verwaltung –, genutzt aber auch hervorragende Mitarbeiter in unseren interna- wird. tionalen und nationalen Organisationen. Es würde sich Frau Ministerin, ich habe gerüchteweise gehört, dass lohnen, all diese hier einmal zu erwähnen. In der Kürze Sie unserem Entschließungsantrag nicht folgen wollen. der Zeit kann ich das leider nicht. Trotzdem möchte ich auf einige Strukturvorschläge für Herr Präsident, Sie gestatten, dass ich noch zwei Ihr Haus eingehen, die Sie in letzter Zeit vorgebracht ha- letzte Zahlen nenne: Ich finde, es stünde der Bundesre- ben. Man hört das eine oder andere. Teilweise ist es be- publik gut an, wenn sie die Zahl der jungen Akademiker, grüßenswert, teilweise aber auch nicht. Auf einen Punkt die sich auf Einladung der Bundesrepublik Deutschland will ich hier besonders eingehen: Sie haben sich – dies wurde mit Mitteln aus dem Haushalt finanziert – entschlossen, einen größeren Teil Ihres Hauses nach Ber- nach ihrem Studium hier in Deutschland weiter qualifi- lin zu verlegen. Das begrüße ich ausdrücklich. Diesen Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. März 2003 2809

Markus Löning (A) Vorschlag finde ich sehr vernünftig. Leider konnten Sie auslegen. Möglicherweise haben wir nicht genügend ent- (C) sich nicht dazu durchringen, Ihr ganzes Haus hierher zu schuldet. verlegen und ins AA zu integrieren. Vielmehr muss man sehr kritisch nachfragen: Ist dies (Karin Kortmann [SPD]: Berlin/Bonn- vielleicht nicht der richtige Weg gewesen? Haben wir an Gesetz!) der einen oder anderen Stelle die Kriterien falsch ausge- – Ich kann und darf hier doch wohl Wünsche äußern, legt? Haben wir zu wenig Druck ausgeübt und die Er- Frau Kollegin. Ich hoffe, das ist durchaus auch in Ihrem wartungen an unseren Partner nicht deutlich genug ge- Sinne. macht? Ich glaube, diese Fragen muss man sich allen Ernstes stellen. Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: (Beifall bei der FDP) Lieber Herr Kollege, wir sollten der Bundesregierung Ich möchte zum Schluss betonen, dass wir als FDP aber in der Tat nicht vorwerfen, dass sie sich an geltende der Entschuldungsstrategie nicht grundsätzlich ab- Gesetze hält. lehnend gegenüberstehen. Aber ich habe oft den Eindruck – wir sehen die Diskussion über das internationale Insol- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten venzverfahren auf uns zukommen; zu diesem Thema wird der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE in zwei Wochen eine Anhörung stattfinden –, dass es hier GRÜNEN) zwar sehr viel guten Willen gibt, aber mit zu wenig kauf- männischem und politischem Wissen vorgegangen wird, Markus Löning (FDP): um überprüfen zu können, ob unsere Partner die ge- Gut, trotzdem möchte ich hier noch einmal den machten Auflagen tatsächlich einhalten und ob wir diese Wunsch äußern: Ich glaube allen Ernstes, dass es der Länder mit der Entschuldung in eine Lage versetzen, die Entwicklungspolitik gut täte, wenn wir die Kompetenz besser ist als vorher. Ich habe an dieser Stelle meine in diesem Bereich in Berlin – wo sich die ausländischen Zweifel und möchte darauf hinweisen, dass wir das Gesprächspartner befinden und wo sich auch die ent- Thema Entschuldung weiter auf der Tagesordnung hal- sprechenden Institutionen gruppieren – konzentrieren. ten und kritisch begleiten werden. Ich glaube, das würde der Entwicklungspolitik schluss- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten endlich größere Durchschlagskraft und Effizienz ver- der CDU/CSU) schaffen. Lassen Sie mich noch zu einem anderen Thema kom- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: (B) men, nämlich zu den Entschuldungsstrategien. Frau (D) Ministerin, Sie tragen Ihr Engagement auf diesem Gebiet Nun erteile ich dem Abgeordneten Thilo Hoppe, immer mit einem großen Stolz vor sich her. Den Weg, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort. den die Bundesregierung hier geht, teile ich – wenn auch mit Abstrichen. Thilo Hoppe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): In der letzten Woche aber mussten wir im Ausschuss Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es in Sachen Bolivien einiges zur Kenntnis nehmen, das ruft schon sehr gemischte Gefühle hervor, am Vorabend mich bezogen auf die Entschuldungsstrategien schon eines Krieges über den Haushalt für wirtschaftliche Zu- sehr nachdenklich gemacht hat. Bolivien hat vor knapp sammenarbeit und Entwicklung zu debattieren. zwei Jahren seinen Completion Point erreicht und ist um 2 Milliarden US-Dollar entschuldet worden. Der deutsche (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE Steuerzahler hat sich daran mit 380 Millionen Euro betei- GRÜNEN]: Das stimmt!) ligt. Die bolivianische Regierung bemüht sich nun darum – diese Situation muss man sich einmal vorstellen –, wei- Es fällt schwer, eine Rede über die Fortschritte in der tere 35 Millionen Euro als Budgethilfe zu erhalten, um Entwicklungszusammenarbeit zu halten, die sich auch auf dieser Basis einen nochmaligen Kredit in Höhe von im Haushalt widerspiegeln, wenn man weiß, dass in we- 117 Millionen Euro zu bekommen. Das heißt, sie bemüht nigen Stunden die Bomben fallen, die das Elend nur sich um einen Kredit von insgesamt 150 Millionen Euro, noch größer machen. und zwar knapp anderthalb Jahre nach ihrer Entschul- Es macht mich traurig und wütend, dass in den nächs- dung. ten Tagen Milliarden für Krieg, Zerstörung und Tod aus- Das ist ein ernstes Warnsignal. Ich habe in meiner gegeben werden, Geld, das dringend für einen ganz an- Rede im Dezember des letzten Jahres an dieser Stelle auf deren Kampf benötigt wird, den Kampf gegen den ähnliche Probleme in Uganda hingewiesen. Auch aus Hunger. Äthiopien kommen negative Signale. Dort scheint sich (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN die Lage nicht so zu entwickeln, wie wir uns das wün- und bei der SPD) schen. Wenn wir mit dem Geld der deutschen Steuerzah- ler entschulden, was die FDP – wie auch ich – im Prinzip Genaue Zahlen kann es jetzt natürlich noch nicht geben. richtig findet, können wir dann, wenn es schief geht, Aber Schätzungen aller Experten gehen davon aus, dass nicht einfach sagen: Die Kriterien waren vielleicht zu allein in den nächsten beiden Wochen mehr Geld im weich angelegt. Man muss sie ein wenig großzügiger Krieg verpulvert wird – im wahrsten Sinne des Wortes –, 2810 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. März 2003

Thilo Hoppe (A) als alle Staaten dieser Welt in einem Jahr gemeinsam für Vielleicht wird Sie das, was ich jetzt sage, wundern. (C) die Entwicklungszusammenarbeit ausgeben. Aber ich mache keinen Hehl daraus, dass ich die Kritik der Opposition in einem Punkt durchaus teile und unter- Dass sich die Bundesregierung mit allem Nachdruck stützen kann: Es wäre gut gewesen, sowohl im Einzel- für eine friedliche Lösung engagiert hat, ist allen Bürge- plan 23 als auch im Bereich der humanitären Hilfe des rinnen und Bürgern bewusst. Im Rahmen einer entwick- Auswärtigen Amtes insgesamt mehr Geld zur Verfügung lungspolitischen Debatte möchte ich aber auch die Rolle zu stellen. Auch mache ich keinen Hehl daraus, dass es der Entwicklungsländer in diesem Konflikt hervorheben. uns Entwicklungspolitikerinnen und Entwicklungspoliti- Besonders betonen möchte ich die Rolle der Entwick- kern von der SPD und vom Bündnis 90/Die Grünen lungsländer im Weltsicherheitsrat, die Anerkennung nicht gelungen ist, den Einzelplan 23 von der globalen und Respekt verdient, insbesondere die Haltung der afri- Minderausgabe auszunehmen und den Einzelplan 05 von kanischen Staaten. 40 auf 53 Millionen Euro aufzustocken. (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Auch der lateinamerikanischen!) Dennoch bin ich froh, dass das BMZ – zu diesem Er- gebnis muss man kommen, wenn man die Budgets der – Natürlich, ebenso der lateinamerikanischen Staaten! – verschiedenen Häuser miteinander vergleicht – noch Sie haben trotz massiven Drucks seitens der USA, der recht glimpflich davongekommen ist und dass der Etat auch die Androhung der Streichung von Entwicklungs- für die Entwicklungszusammenarbeit unter dem Strich hilfe beinhaltet haben soll, Rückgrat bewiesen und die um 2 Prozent angehoben werden konnte. deutsch-französischen Friedensvorschläge unterstützt. Das weist in die richtige Richtung. Auch die Schwer- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN punktsetzung ist richtig: mehr Geld für die Nichtregie- sowie bei Abgeordneten der SPD) rungsorganisationen und die Kirchen, mehr für den zivilen Sie haben sich in dieser wichtigen Frage allen Unkenru- Friedensdienst, mehr für die Nutzung der erneuerbaren fen zum Trotz als nicht käuflich erwiesen. Energien in den Entwicklungsländern und mehr für die entwicklungspolitische Bildungsarbeit hier bei uns. Un- Nach diesem Krieg wird nichts mehr so sein, wie es ter Letzteres fällt auch eine stärkere Förderung des Fair- war – weder politisch noch wirtschaftlich. Der völker- Trade-Sektors mit einer neuen, pfiffigen und professio- rechtswidrige Präventivschlag gegen den Irak wird die Welt nellen Öffentlichkeitsarbeit. weiter entzweien, neue Konfliktherde schüren und den Glauben an Konfliktprävention und Friedenspolitik nach- Ich meine nicht, dass – wie dies von der CDU/CSU haltig beeinträchtigen. Auch wird dieser Krieg über die gemacht wird – die bilaterale gegen die multilaterale Menschen im Irak unermessliches Leid bringen; nicht nur (B) Entwicklungszusammenarbeit ausgespielt werden sollte; (D) durch die Bomben, sondern auch durch die Unterbrechung denn beide Ebenen müssen sich ergänzen. Statt sich, der Nahrungsmittellieferungen und durch die Zerstörung trotz berechtigter Kritik an einigen multilateralen Orga- der Infrastruktur, zum Beispiel der Wasserversorgung. nisationen, von der internationalen Ebene zurückzuzie- Es ist Schlimmstes zu befürchten. Aber – auch wenn hen, wie Sie das empfehlen, sollte sich Deutschland auf das paradox klingt – ich hoffe und bete, dass ich mit die- dieser Ebene eher für Reformen einsetzen. Gerade im sen Befürchtungen nicht Recht behalten werde, dass in Hinblick auf die ernste Lage am Vorabend eines Krieges letzter Sekunde noch ein Wunder geschieht bzw. dass muss es darum gehen, die multilaterale Ebene und die der Krieg, wenn er nicht mehr verhindert werden kann, internationale Zusammenarbeit zu stärken. sehr schnell über die Bühne gehen wird. Alles in allem kann sich der Einzelplan 23 sehen las- Wir müssen uns aber auch darauf einstellen, dass die- sen. Er weist in die richtige Richtung. Aber – wie gesagt, ser Krieg die Not erheblich vergrößert und dass die inter- hier gebe ich der Opposition Recht –: Es sind größere nationale Gemeinschaft im Bereich der humanitären Anstrengungen – dies bedeutet: auch höhere Haushalts- Hilfe und des Aufbaus großen Herausforderungen ge- ansätze – nötig, damit wir im Jahre 2006 tatsächlich genüberstehen wird. Dabei ist es wichtig, darauf zu ach- unser Etappenziel, 0,33 Prozent des Bruttonationalein- ten, dass die humanitäre Hilfe nicht instrumentalisiert kommens für die Entwicklungszusammenarbeit zur Ver- wird, dass die Hilfsorganisationen freien Zugang haben fügung zu stellen, erreichen. und dass die Vereinten Nationen die humanitäre Hilfe nach wie vor koordinieren. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Ich denke, in dieser Situation ist es auch für Deutsch- land sehr wichtig, die humanitäre Hilfe und den Aufbau Wenn ich den Kolleginnen und Kollegen von der unter dem Dach der Vereinten Nationen politisch, finan- CDU/CSU in diesem einen Punkt Recht gebe, dann ziell und mit Personal zu unterstützen. Das kann unter möchte ich damit aber nicht sagen, dass ich Ihnen, wenn Umständen auch bedeuten, dass wir mit den Mitteln, die Sie an die Regierung gekommen wären, zugetraut hätte, dafür im Haushalt eingestellt sind, nicht auskommen dies auch umzusetzen. Ihre Haushälterinnen und Haus- werden, und dass, zumindest was den Haushalt 2004 be- hälter hätten Ihrem Finanzminister bei weitem weniger trifft, sowohl im Einzelplan 23 als auch im Einzelplan 05 Geld für die Entwicklungszusammenarbeit zur Verfü- – ich meine den Bereich der humanitären Hilfe im Haus- gung gestellt. Unter Kohl hatte die ODA-Quote einen halt des Auswärtigen Amtes – nachgebessert werden historischen Tiefstand erreicht. Das wurde schon von muss. Frau Kollegin Schulte gesagt. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. März 2003 2811

Thilo Hoppe (A) Lassen Sie mich zum Schluss sagen, dass es in der weniger aus, als das noch vor fünf Jahren der Fall war. (C) Entwicklungspolitik nicht allein auf das Geld und den „Versprochen, gebrochen“ – was sich wie ein rot-grüner Haushalt ankommt. Seit 1998 verstehen wir Entwick- Faden durch Ihre Politik zieht, gilt leider auch für die lungspolitik auch als internationale Strukturpolitik, als Entwicklungspolitik. Querschnittsaufgabe, als einen Beitrag für eine gerechte, soziale und ökologische Gestaltung der Globalisierung. (Beifall bei der CDU/CSU) Dazu wäre vieles zu sagen, was aber in der mir zur Es ist schon von den Möglichkeiten gesprochen wor- Verfügung stehenden Redezeit nicht unterzubringen ist. den, die entwicklungspolitischen Anstrengungen, auch Exemplarisch möchte ich auf einen Antrag zu den lau- die berühmte ODA-Quote, zu erhöhen. Es ist angesichts fenden WTO-Agrarverhandlungen hinweisen, der am des in weiter Ferne liegenden 0,7-Prozent-Ziels – das letzten Donnerstag hier in diesem Haus von den Koali- auch früher schon in weiter Ferne lag – durchaus konse- tionsfraktionen eingebracht wurde. Das ist ein Antrag, quent, sich Zwischenziele zu setzen. Mit dem 0,33-Pro- der auf mehr Kohärenz bezüglich der Agrar- und Ent- zent-Ziel ist das auch EU-weit erfolgt. Angesichts Ihrer wicklungspolitik zielt, ein Antrag, der sich für den voll- mittelfristigen Finanzplanung aber muss man feststellen, ständigen Abbau der handelsverzerrenden Agrarexport- dass dieses Ziel auch nicht annähernd zu erreichen sein subventionen einsetzt und zugleich fordert, dass ein Teil wird, jedenfalls wenn man davon ausgeht, dass etwa der dadurch frei werdenden Mittel gezielt für die Ent- 70 Prozent der ODA aus dem BMZ-Haushalt kommen. wicklungszusammenarbeit eingesetzt wird, insbesondere Eine andere Möglichkeit, die Erhöhung der ODA- für den Aufbau der ländlichen Struktur und die Stärkung Quote zu erreichen, ist hier schon mehrfach angespro- einer nachhaltigen Landwirtschaft. chen worden. Sie könnten theoretisch versuchen, den Auch so versteht die Koalition umfassende Entwick- Schuldenerlass massiv zu verstärken. Ein Schulden- lungspolitik. Wenn wir auf diesem Weg weiter mutig vo- erlass, den wir grundsätzlich unterstützen, macht dann rangehen, dann bin ich optimistisch, dass wir einen nen- Sinn, wenn die durch die Entschuldung frei werdenden nenswerten, wertvollen Beitrag zur Verwirklichung der Mittel wirklich in die Armutsbekämpfung, die Bildung Millenniumsziele liefern werden, nämlich bis zum Jahr und andere entwicklungsfördernde Maßnahmen inves- 2015 die Zahl der in Armut und Hunger lebenden Men- tiert werden. Wir sehen aber am Beispiel Boliviens, wie schen zu halbieren. verheerend es sein kann, wenn stattdessen dieses Geld aufgrund der Haushaltsnot in den allgemeinen Haushalt Ganz zum Schluss noch ein Wort zu dem Antrag der eingestellt wird. Der entwicklungsfördernde Effekt einer FDP: Rot und Grün lassen sich nicht auseinander divi- solchen Entschuldungsinitiative ist damit verpufft. Das dieren. Sowohl das Auswärtige Amt als auch das BMZ kann kein Königsweg in der Entwicklungspolitik sein. (B) haben ihre spezifischen wichtigen Aufgaben und ergän- (D) zen sich. Das ist auch gut so. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Nun gibt es mit Recht Kritik an der ODA-Quote in und bei der SPD) früherer Zeit. Herr Kollege Hoppe, Sie haben es ange- sprochen, dass auch in unserer Regierungszeit die Zah- len nicht so ausfielen, wie wir sie uns selbst gewünscht Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: hätten. Es gab aber einen Unterschied: Die ODA-Quote Das Wort hat nun der Kollege Dr. Ralf Brauksiepe, setzt sich aus der Höhe der öffentlichen Entwicklungs- CDU/CSU-Fraktion. hilfe im Verhältnis zum Bruttosozialprodukt zusammen. Zu unserer Zeit gab es in Deutschland aber noch wirt- schaftliches Wachstum, das zur Senkung der Quote bei- Dr. Ralf Brauksiepe (CDU/CSU): getragen hat. Sie sind inzwischen bei einem Wirtschafts- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! wachstum von 0,2 Prozent angekommen, Tendenz Herr Kollege Hoppe, wir alle teilen Ihre Besorgnis über sinkend. Wenn Sie den BMZ-Etat bei 70 Prozent der die aktuelle weltpolitische Lage. Ich respektiere auch die ODA belassen, können Sie die ODA-Quote von Selbstkritik, die Sie in Bezug auf die entwicklungspoliti- 0,33 Prozent bis 2006 nur dann erreichen, wenn die schen Anstrengungen und den BMZ-Etat hier zum Aus- Wirtschaft um fast 5 Prozent jährlich schrumpft. Diese druck gebracht haben. Art entwicklungspolitischer Innovation stellen wir von der CDU/CSU uns allerdings nicht vor. Man muss schon feststellen, dass der Kollege Borchert wie üblich Recht mit seiner Voraussage hatte, (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. dass von Rot-Grün wieder wortreich der untaugliche Markus Löning [FDP]) Versuch unternommen wird, das Absenken der Entwick- Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich denke, wir stim- lungshilfe, das Zurückbleiben der entwicklungspoliti- men in einem überein: Es geht nicht nur um die Quanti- schen Anstrengungen gegenüber Ihren eigenen Erwar- tät der Entwicklungszusammenarbeit, sondern auch um tungen und Ankündigungen zu kaschieren. die Qualität. Dabei kommen wir nicht um die Feststel- (Beifall bei der CDU/CSU) lung herum, dass für uns ein entwicklungspolitisches Gesamtkonzept bei Rot-Grün nicht erkennbar ist. Sie haben eine merkliche Erhöhung des BMZ-Etats ver- sprochen. Sie geben im Kernbereich der deutschen Ent- Ich will nur ein Beispiel nennen. Sie versuchen zur- wicklungszusammenarbeit – und das ist der BMZ-Etat – zeit, im Bundestag und im Bundesrat eine Vielzahl von 2812 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. März 2003

Dr. Ralf Brauksiepe (A) Steuererhöhungen auf anderen Gebieten durchzubekom- nicht haben korrumpieren lassen. Das mag zwar Ihrem (C) men. Das BMZ hat im vergangenen Jahr eine Studie Weltbild entsprechen, aber die Verhältnisse in den aller- über die Durchführbarkeit einer so genannten Devisen- meisten afrikanischen Staaten zeigen, dass die internen transaktionssteuer veröffentlicht, die jetzt im Raum Rahmenbedingungen alles andere als entwicklungsför- steht. Bisher hat die Bundesregierung diese Steuer nicht dernd sind. Auch das sollten wir wenigstens in der Ana- gefordert. Wir fragen uns nun: Wollen Sie jetzt auch lyse gemeinsam zur Kenntnis nehmen. noch eine solche Devisentransaktionssteuer in die De- batte einbringen? Ist das Ihre Position und/oder die der (Beifall bei der CDU/CSU) gesamten Bundesregierung? Um es deutlich zu sagen: Ich will noch etwas ansprechen, das unserer Ansicht Wir wollen sie nicht, aber wir würden gerne Ihre Posi- nach zu einer Entwicklungspolitik aus einem Guss ge- tion kennen, damit wir uns mit Ihnen konzeptionell aus- hört. Es sollten Hilfen geschaffen werden, dass die Ent- einander setzen können. Darauf warten wir noch. wicklungsländer erfolgreich am internationalen Wirt- In der jüngsten Überprüfung der deutschen Entwick- schaftsleben teilnehmen können, weil dies nach unserer lungszusammenarbeit, die die OECD vorgenommen hat, Überzeugung der Hauptgarant für Wohlstandsmehrung kommt sie zu einem kritischen Ergebnis. Die deutsche auch in den Entwicklungsländern ist. Deswegen habe ich Entwicklungszusammenarbeit wird als ein wenig koor- das, was Sie gerade gesagt haben, sehr interessiert zur diniertes und untereinander unzureichend kooperieren- Kenntnis genommen; denn mein Eindruck in der Ver- des, unüberschaubares Instrumentarium dargestellt, das gangenheit war, dass wir uns hier weitgehend einig wa- durch eine zentralistische Entscheidungsstruktur behin- ren. Wir haben in der letzten Legislaturperiode beispiels- dert wird. weise eine Anhörung zur Konsistenz von europäischer Subventionspolitik und Entwicklungspolitik durchge- Es liegt uns fern, zu behaupten, dass alle diese Pro- führt. Ich stoße aber in letzter Zeit auf Veranstaltungen, bleme völlig neu sind, aber wichtig ist für uns die Frage, an denen auch Vertreter der jetzigen Regierung teilneh- in welche Richtung es weitergehen soll. Vor dem Hinter- men, zunehmend auf Skepsis, wenn es um die Öffnung grund der bereits angesprochenen Probleme planen Sie der Märkte geht, und höre häufig die Frage, ob eine Ab- nun in Ihrem Hause gegen den einstimmigen Willen der schottung der Märkte nicht eher hilfreich für die Ent- Personalversammlung eine Umstrukturierung im BMZ, wicklungsländer sei. Daher war es interessant, das heute die von Experten unter anderem mit den Begriffen „de- so von Ihnen zu hören. Ich möchte für CDU und CSU saströses Management“ und „Geringschätzung der Mit- ganz deutlich sagen: Es ist natürlich wichtig, dass die arbeiterinnen und Mitarbeiter“ qualifiziert wird. Früchte des Freihandels auch in den Entwicklungslän- dern gerecht verteilt werden. Aber es ist hier wie auch in (Beifall bei der CDU/CSU) (B) anderen Bereichen: Es muss zuerst das erwirtschaftet (D) Daraus folgt für uns: Form und Inhalt Ihrer Planungen werden, was anschließend gerecht verteilt werden soll. lösen die Strukturprobleme der deutschen Entwicklungs- Deswegen betonen wir weiter – das ist unsere Überzeu- zusammenarbeit nicht, sondern sie verschärfen sie. gung –: Handel ist der beste Entwicklungshelfer. Unsere Vorstellungen einer modernen Entwicklungs- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) zusammenarbeit aus einem Guss gehen davon aus, dass Bezogen auf einzelne Ländergruppen – ich denke, ge- Entwicklungspolitik ohne humanitäre Beweggründe rade in diesen Tagen sind wir uns hierüber einig – wird nicht sinnvoll betrieben werden kann, dass aber Ent- auch in Zukunft ein besonderes Augenmerk auf die In- wicklungspolitik sowohl im Interesse der Empfängerlän- tensivierung des Politik- und Kulturdialogs mit den isla- der als auch in unserem eigenen nationalen Interesse mischen Entwicklungsländern sowie auf die Intensivie- liegt, wenn wir sie richtig gestalten. rung der Wirtschafts-, der Wissenschafts- und der Ich will kurz ein paar Beispiele skizzieren. Ich denke, Hochschulbeziehungen mit Schwellenländern zu legen wir müssen den Sektor Bildung und Ausbildung wieder sein. Auch dies ist im gemeinsamen Interesse von Ge- in den Mittelpunkt der Entwicklungspolitik stellen. Das ber- und Nehmerländern. ist zurzeit nicht der Fall. Die Verbesserung des Ausbil- dungsstandes gerade der jungen Menschen ist für die Zu- Nun ist eben behauptet worden, CDU und CSU woll- kunftschancen der Entwicklungsländer von herausragen- ten die bilaterale und die multilaterale Hilfe gegeneinan- der Bedeutung. Denn um Hilfe zu einer wirksamen der ausspielen. Das ist mitnichten der Fall. Wir sind sehr Selbsthilfe leisten zu können, ist es unerlässlich, Men- wohl für multilaterale Entwicklungszusammenarbeit. schen zu qualifizieren und sie dadurch in die Lage zu Aber multilaterale Entwicklungsinstitutionen müssen versetzen, sich selbst zu helfen. sich reformieren. Wir denken dabei natürlich auch an die Entwicklungszusammenarbeit der Europäischen Union. Ich denke, es ist darüber hinaus in diesem Haus auch un- Es kann doch wohl nicht hingenommen werden, dass das strittig, dass verstärkte Anstrengungen zum Schutz der na- Geld, das in die europäische Entwicklungszusammenar- türlichen Lebensgrundlagen unternommen werden müs- beit fließt, in Brüssel nicht abfließt, auf Konten lagert sen und dass gleichermaßen verstärkte Anstrengungen und so für die Bekämpfung von Hunger und Not in den notwendig sind, um die oft mangelhaften staatlichen Rah- Entwicklungsländern nicht zur Verfügung steht. Das menbedingungen in Entwicklungsländern zu verbessern. kann doch nicht die Lösung sein. Herr Kollege Hoppe, Sie sprachen eben von den afri- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie kanischen Ländern, die sich von den Vereinigten Staaten bei Abgeordneten der SPD) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. März 2003 2813

Dr. Ralf Brauksiepe (A) Ich möchte in diesem Zusammenhang eine, wie ich machen. Dafür ist uns die Entwicklungszusammenarbeit (C) denke, aus Ihrer Sicht eher unverdächtige Zeugin zitie- viel zu wichtig. Eigentlich sollte der Entwicklungszu- ren: Die britische Entwicklungsministerin Claire Short sammenarbeit doch unser gemeinsames Interesse in die- erklärte erst jüngst, die europäische Entwicklungspolitik sem Hause gelten. sei eine Schande, und drohte damit, wenn sich nicht bald etwas ändere, werde man die Beiträge streichen und das Vielen Dank. Geld wieder selbst ausgeben. Auch die Deutsche Welt- (Beifall bei der CDU/CSU) hungerhilfe denkt in diese Richtung. Uns ist natürlich klar, dass so etwas nicht von heute auf morgen möglich Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: ist. Schließlich gibt es völkerrechtliche Verpflichtungen, die es einzuhalten gilt. Aber zumindest mittelfristig muss Was die gut gemeinten Zwischenrufe angeht: Es geht es eine solche Perspektive geben und darf eine solche hier mit einer freundschaftlichen Strenge zu. Maßnahme kein Tabu sein. Das Geld muss endlich den Armen zur Verfügung stehen und darf nicht irgendwo Zum Schluss der Beratungen des Einzelplans 23 hat gelagert werden. die Bundesministerin für wirtschaftliche Zusammenar- beit und Entwicklung, Frau Wieczorek-Zeul, das Wort. Wir gehen als CDU und CSU eigentlich davon aus, dass es bei allen Differenzen, die wir hier haben, auch Themen von gemeinsamem Interesse gibt und auch in Heidemarie Wieczorek-Zeul (SPD): Zukunft geben wird. Eigentlich sollte es das gemeinsame Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! An Interesse von uns Parlamentariern sein, die schleichende diesem Abend richten sich unser aller Gedanken an die Selbstentmachtung des BMZ zu verhindern, die ja schon Menschen, die von diesem Krieg betroffen sein werden. in vollem Gange ist. Natürlich ist der BMZ-Etat und Diejenigen, die diesen Krieg beginnen, tragen eine große seine Höhe – im Gegensatz zum Etat des Auswärtigen Verantwortung und laden die Schuld für das Leid und Amtes – ein Instrument der politischen Auseinanderset- den Tod von Hunderttausenden von Menschen auf zung. Sie stellen beispielsweise auch Mittel, die das sich. Die Entwaffnung dieses Landes, die Entwaffnung Auswärtige Amt bewirtschaftet, in den BMZ-Etat ein, Saddam Husseins wäre dank der Arbeit der UN-Waffen- um den Eindruck zu erwecken, Sie täten mehr in diesem inspekteure ohne Krieg möglich gewesen. Bereich, als Sie tatsächlich tun. Im Bereich des Stabili- tätspaktes Afghanistan und des Stabilitätspaktes Südost- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ europa sind bis zum Jahr 2006 240 Millionen Euro vor- DIE GRÜNEN) gesehen, die Sie zum Schein beim BMZ-Etat einstellen, Dieser Krieg aber wird verheerende Folgen für die Zi- (B) die Sie aber zur Bewirtschaftung an das Auswärtige Amt vilbevölkerung mit sich bringen. Bereits jetzt sind (D) geben. 60 Prozent der Bevölkerung von den Nahrungsmittelhil- Eben wurde gesagt, der Entschließungsantrag der fen aus dem so genannten Food-for-Oil-Programm voll- FDP – auch wir weisen ihn mit Abscheu und Empörung ständig abhängig. Aufgrund des Krieges werden zukünf- zurück; ich sage das nur, um keinen Zweifel aufkommen tig etwa 10 Millionen Menschen versorgt werden zu lassen – sei ein verspäteter Karnevalsscherz. Meine müssen. Man schätzt, dass bis zu 3 Millionen Flüchtlinge Damen und Herren von der Regierung, wenn Sie das so entweder versuchen werden, in die Nachbarländer zu sehen, dann frage ich, warum Sie vorauseilenden Gehor- kommen, oder im Land selbst auf der Flucht sein werden. sam leisten. Im Entschließungsantrag der FDP steht: Eine entsprechende Entwicklung können wir zum Teil „Die finanziellen Mittel aus dem Einzelplan 23 werden schon jetzt verfolgen. in den Einzelplan 05“ – das ist der Etat des Auswärtigen Ich sage an dieser Stelle: Dieser Krieg ist falsch. Er Amtes – „übertragen.“ Mit 240 Millionen Euro bis zum bedeutet eine Missachtung jeder moralischen, ethischen Jahr 2006 leisten Sie vorauseilenden Gehorsam. Lassen und christlichen Verantwortung. Ich danke den Kirchen, Sie das doch und handeln Sie stattdessen im Sinne der dass sie unser aller Gewissen dafür geschärft haben. Haushaltstransparenz und aus inhaltlichen Gründen! (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Das Auswärtige Amt hat eine andere Aufgabe. Dieser Krieg ist politisch wie im Übrigen auch wirt- schaftlich für die gesamte Welt eine Katastrophe. Wenn Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Sie vernetzt denken würden – die Kollegen, die sich hier Herr Kollege Brauksiepe, ich muss Sie an die Rede- über die Entschuldung eines Landes wie Bolivien geäu- zeit erinnern. ßert haben –, wäre Ihnen doch klar: Auf alle Länder wirkt sich die Kriegsangst in Form sinkender Wachs- tumsraten aus. Wenn ein Land, das selbst kaum expor- Dr. Ralf Brauksiepe (CDU/CSU): tieren kann, in einer solchen Situation in wirtschaftliche Jawohl. – Es bleibt also dabei: Es ist nicht nur eine Schwierigkeiten gerät, dann dürfen wir das nicht diesem Frage der Haushaltstransparenz, sondern auch eine Frage Land vorwerfen, sondern wir müssen dazu beitragen, unterschiedlicher inhaltlicher Schwerpunkte und unter- dass sich die Situation verbessert. Dass wir die Auswir- schiedlicher Konzepte von AA und BMZ. Mit uns ist kungen dieser Situation gesehen haben, war einer der eine solche schleichende Selbstentmachtung nicht zu Gründe dafür, dass wir gesagt haben: Ein solcher Krieg 2814 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. März 2003

Heidemarie Wieczorek-Zeul (A) ist fatal für alle, aber vor allen Dingen für die schwächs- ben gesagt: Ihr von der Bundesregierung tut auch etwas (C) ten Entwicklungsländer. für uns. Wir können uns schlechter zur Wehr setzen als ihr. Wenn ihr dafür kämpft, dass in dieser Welt gleichbe- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ rechtigt entschieden wird, dann tut ihr auch etwas für DIE GRÜNEN) uns. – Wir freuen uns darüber, dass wir das tun konnten. Wir wissen uns mit den Millionen von Menschen in (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: So erfolg- der Welt und auch in unserem Land, die gegen diesen reich wie in Tschetschenien!) Krieg sind, einig. Wir wollten – wie alle UN-Organisati- onen – diesen Krieg mit all unseren Möglichkeiten ver- Ich warne vor einer neuen Rüstungsspirale. Die Rüs- hindern, weil wir eine humanitäre Katastrophe verhin- tungsausgaben weltweit – das muss man sich vor Augen dern wollten. Ich sage aber auch: Gerade deshalb werden halten – sind von 761 Milliarden US-Dollar im Jahr wir den betroffenen Menschen im Irak selbst und in den 2000 auf 839 Milliarden US-Dollar im Jahr 2002 gestie- Nachbarländern humanitäre Hilfe und Nothilfe leisten; gen. Die Finanzmittel dieser Welt werden aber viel denn es geht um die Menschen. Wir fordern, dass alle dringlicher im Kampf gegen Hunger, Armut und Krank- Mittel, die noch im Food-for-Oil-Programm vorhanden heit gebraucht. sind, ausschließlich und umgehend für die Versorgung der irakischen Bevölkerung mit Nahrungsmitteln und le- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ bensnotwendigen Medikamenten verwendet werden. DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Jedes Jahr sterben 10 Millionen Kinder unter fünf DIE GRÜNEN – Dr. Christian Ruck [CDU/ Jahren an vermeidbaren Krankheiten und viele Kinder CSU]: Mit welchem Geld?) haben nicht die Chance, in die Schule zu gehen. Ich halte es daher für obszön, Mittel in Kriegen zu verschwenden. Wir sind in enger Abstimmung mit der EU darauf Niedrig geschätzt betragen die Kosten eines Irakkriegs vorbereitet, die UN-Hilfsorganisationen bei Ihrer Versor- 200 Milliarden US-Dollar. Das ist viermal so viel, wie in gung und Unterbringung von Menschen auch finanziell der Welt in einem Jahr für Entwicklungszusammenarbeit zu unterstützen. Das gilt sowohl für das Welternährungs- ausgegeben wird. Das ist obszön. Wir müssen dazu bei- programm als auch für das Internationale Rote Kreuz tragen, dass das so benannt und auch so erkannt wird. und für den UN-Hochkommissar für Flüchtlinge. Dies habe ich gegenüber Ruud Lubbers, dem zuständigen (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ UN-Hochkommissar, zum Ausdruck gebracht. Wir wer- DIE GRÜNEN – Dietrich Austermann [CDU/ den für diese Initiativen 10 Millionen Euro zusätzlich CSU]: Ein ganz schlichter Beitrag!) zur Verfügung stellen. (B) Ja, liebe Kolleginnen und Kollegen, es geht um die (D) Der UN-Sicherheitsrat – das ist heute Morgen und Umsetzung der Resolution 1441 auch jetzt mehrfach angesprochen worden – hat in sei- (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Aha!) nen Beratungen mit seiner Mehrheit – das gilt auch für die große Mehrheit in den Vereinten Nationen – den mit nichtmilitärischen Mitteln. Wunsch der Völker nach Frieden unüberhörbar artiku- (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Aha!) liert. Die Völker haben damit deutlich gemacht, dass sie eine Weltordnung wollen, die dem 21. Jahrhundert ent- Die Nummer dieser Resolution kennt jeder. Ich möchte, spricht, eine Weltordnung von Partnern und Gleichbe- dass die Weltgemeinschaft mit der gleichen Leidenschaft rechtigten und nicht eine solche der Unterordnung. für die Umsetzung der Resolution 55/2 kämpft. Das ist die UN-Resolution, die im Jahr 2000 auf der UN-Gene- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ ralversammlung von der internationalen Gemeinschaft DIE GRÜNEN) beschlossen wurde, in der sich die Gemeinschaft vorge- Ich möchte an dieser Stelle besonders den Entwick- nommen hat, eine drastische Reduzierung der weltwei- lungsländern im UN-Sicherheitsrat danken. Sie haben ten Armut und des Hungers, den Zugang zu sauberem alle die beschämt, die meinen, Entwicklungsländer lie- Wasser für alle, den Zugang aller Kinder zum Schulun- ßen sich ihre Zustimmung zu einem Krieg abpressen terricht zu erreichen und die Bekämpfung von HIV/Aids oder abkaufen. Sie haben deutlich gemacht, dass sie al- voranzutreiben. Das sind die Aufgaben. Die Nummer len Pressionen zum Trotz eine Weltordnung der Glei- dieser Resolution muss jeder kennen. Die internationale chen wollen. Das ist ein ermutigendes Zeichen für die Gemeinschaft muss alle Anstrengungen unternehmen, künftige Weltordnung. Um langfristig Stabilität und um das zu erreichen, so wie auch wir dies tun. Frieden in der Welt zu schaffen, brauchen wir keine Ko- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ alition der Kriegswilligen, sondern wir brauchen eine DIE GRÜNEN – Georg Schirmbeck [CDU/ multipolare Ordnung des Friedens und des Rechts; denn CSU]: Sie dürfen nicht nur reden, sondern gerade sie schützt die Schwächeren in dieser Welt. müssen mehr tun! – Dr. Christian Ruck [CDU/ (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ CSU]: Reden Sie einmal vom Haushalt!) DIE GRÜNEN – Dietrich Austermann [CDU/ Ich möchte an dieser Stelle auch daran erinnern, dass CSU]: Sehr schlichter Beitrag!) wir über den Konflikten im Nahen und Mittleren Osten Viele Menschen aus Entwicklungsländern, die ich ge- nicht die Konflikte und den Wiederaufbau in anderen troffen habe, und zwar aus allen Regionen der Welt, ha- Regionen vergessen dürfen. Ich gedenke in dieser Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. März 2003 2815

Heidemarie Wieczorek-Zeul (A) Debatte eines guten Freundes unseres Landes, eines nau beobachten, ob die Versprechen von Doha nach dem (C) Hoffnungsträgers für die Perspektiven des Balkans, 11. September 2001 zur Frage, ob die Welthandelsrunde Zoran Djindjic, der vor wenigen Tagen ermordet wurde eine Entwicklungsländerrunde wird, eingelöst werden und dessen Tod uns alle erschüttert hat. Er stand für den oder nicht. Solange jährlich 350 Milliarden Euro zur Ab- Aufbau von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit und für sicherung und Protektion der Agrarmärkte in den Indus- das friedliche Zusammenleben verschiedener ethnischer trieländern verwandt werden, so lange ist in dieser Welt Gruppen. Wir danken ihm für das Engagement, das er etwas nicht in Ordnung. Wir müssen dazu beitragen, für sein Land, für Frieden und Stabilität sowie gutes Zu- dass dieser Skandal beseitigt wird. sammenleben erbracht hat. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall im ganzen Hause) DIE GRÜNEN) Wir haben in dieser Situation aber auch alle zusam- Liebe Kolleginnen und Kollegen, es geht uns um die men gespürt, wie wichtig es ist, diese Ordnung in weitere konsequente Reform der Strukturen der Ent- Südosteuropa weiter zu stabilisieren und den demokrati- wicklungszusammenarbeit. Ich bin ganz sicher, dass schen und wirtschaftlichen Wiederaufbau mit mindes- wir jenseits der einzelnen Formulierungen diese notwen- tens so viel Engagement zu begleiten wie das Eingreifen digen Reformen im Interesse der Effizienz gemeinsam während eines Konfliktes. Ich freue mich, dass wir in voranbringen werden. Es geht darum, zu verzahnen zwi- den zweieinhalb Jahren unsere Leistungen gegenüber schen dem, was wir an bilateralen Fähigkeiten haben, Serbien und auch gegenüber Zoran Djindjic im Umfang was wir in den großen internationalen Organisationen von 100 Millionen Euro haben erbringen und damit ei- leisten können und was wir in bestimmten Sektoren zum nen Beitrag zur Unterstützung des Aufbaus haben leisten Beispiel über die Weltbank voranbringen können. können. Ich habe zugesagt, dass ich in den nächsten Ta- gen weitere Gespräche führen werde, damit diese Hilfen Höhere Finanzmittel zu haben ist wichtig. Aber ich auch für die Zukunft abgesichert und möglicherweise weise darauf hin: Während das Soll des Gesamthaushal- ausgeweitet werden können. tes gegenüber 2002 um 1,7 Prozent sinkt, steigt der Pla- fond des Einzelplans 23 um runde 2 Prozent auf 70 Mil- Liebe Kolleginnen und Kollegen, Entwicklungspoli- lionen Euro. tik muss sich aber trotz aller aktuellen Konflikte immer auch als Krisenprävention verstehen und einbringen. (Dr. Christian Ruck [CDU/CSU]: So ein Übrigens ist – das sage ich denen, die sich da Sorgen ma- Schmarren! – Dietrich Austermann [CDU/ chen, damit sie die Relationen sehen können – der Haus- CSU]: Sinkt um 3 Prozent!) halt des BMZ, den natürlich auch ich gern finanziell Einige haben festgestellt, dass auch andere Ressorts (B) noch besser ausgestattet sähe – das werden wir auch beteiligt sind. Das ist eben das neue Denken. Wir wollen (D) schaffen –, fast doppelt so groß wie der Haushalt des nicht, dass nur ein Ressort international und global Auswärtigen Amtes. Uns geht es entwicklungspolitisch denkt, sondern wir wollen, dass alle Ressorts mitdenken um die Stärkung regionaler Kooperation. Wir wollen, und zur Gestaltung der Welt beitragen. dass Krisenprävention in den Mittelpunkt gestellt wird. Wir müssen dazu beitragen, dass die Konkurrenz um na- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ türliche Ressourcen entschärft und der Zugang zu saube- DIE GRÜNEN) rem Trinkwasser ermöglicht wird. Meine Güte, da sind Sie wirklich noch weit hinterher. (Dr. Christian Ruck [CDU/CSU]: Das wollen (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Gestelz- doch alle!) tes Gutmenschentum, was Sie hier demonstrie- Das hat praktische Konsequenzen; denn täglich ster- ren!) ben fast 6 000 Kinder an Krankheiten, die durch ver- Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich habe gehört, schmutztes Wasser übertragen wurden. Es ist doch jede was der Bundeskanzler heute Morgen gesagt hat. Ich ge- Anstrengung von uns allen, und zwar in der internationa- stehe: Ich habe Angst vor diesem Krieg, Angst vor der len Gemeinschaft, wert, Gleichgültigkeit einer Kriegsmaschinerie, in der das (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Dietrich Menschenleben nichts mehr zählt; Angst vor den großen Austermann [CDU/CSU]: Wer ist dagegen?) Kriegsstrategen, die in den nächsten Tagen und Wochen über der angeblichen Faszination von Taktik, militäri- dass diesem Skandal entgegengewirkt wird und die not- schem Gerät und Strategie das Leid der Zivilbevölke- wendigen Investitionen, die wir in diesem Haushalt in rung verdunkeln; Angst vor der Gewöhnung an Krieg. einem Umfang von 350 Millionen Euro vorgesehen ha- ben, tatsächlich realisiert werden. Das werden wir tun. (Dr. Christian Ruck [CDU/CSU]: Was haben Sie denn in den letzten Jahren gegen Saddam (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Hussein getan? Nichts!) DIE GRÜNEN) Aber ich will an dieser Stelle auch sagen: Diese Angst Wenn ich das sagen darf: Auch da gilt Kohärenz beim lähmt mich nicht. Als Mensch, als Politikerin und Ent- Handel. Da kann man gut von Freihandel reden. Aber wicklungsministerin stehe ich hier, man muss dann auch – Sascha Raabe hat das zusammen mit anderen in seinem Antrag getan – die Schlussfolge- (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Die Ver- rungen ziehen. Die Entwicklungsländer werden sehr ge- letzung von Menschenrechten!) 2816 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. März 2003

Heidemarie Wieczorek-Zeul (A) weil ich dieses Gefühl der Angst umsetze in Entschlos- stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Antrag ist (C) senheit, in Handlungswillen und die Überzeugung, dass abgelehnt. es einen Weg gibt, wie die Welt trotz alledem friedlich Wer für den Einzelplan 23 in der Fassung des Aus- gestaltet werden kann. schusses stimmt, den bitte ich um das Handzeichen. – (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Dann ist der DIE GRÜNEN – Dietrich Austermann [CDU/ Einzelplan mit den Stimmen der Koalition gegen die CSU]: Giftgas und all diese Dinge! Übel ist Stimmen der Opposition so angenommen. das doch, diese einseitige Betrachtungsweise! Ich rufe nun auf: Eine obszöne Verzerrung!) Einzelplan 10 Ich muss ehrlich sagen: Als wir Saddam Hussein Bundesministerium für Verbraucherschutz, schon als Verbrecher bezeichnet haben, da haben die Ernährung und Landwirtschaft USA und andere – vermutlich auch mit Ihrer Unterstüt- zung und Kenntnis – – Drucksachen 15/560, 15/572 – (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Vor allen Berichterstattung: Dingen!) Abgeordneter Jürgen Koppelin Ernst Bahr (Neuruppin) Saddam Hussein noch militärisch ausgerüstet. Da wollen Ilse Aigner wir doch einmal ganz offen und ehrlich sein. Franziska Eichstädt-Bohlig (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Dietrich Austermann [CDU/ Es liegen ein Änderungsantrag der Fraktion der CDU/ CSU]: Hat es genutzt?) CSU und neun Änderungsanträge der FDP-Fraktion vor. Ihre Heuchelei ist wirklich unerträglich. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 90 Minuten vorgesehen. – Dazu höre ich Ich will sagen: Wenn wir den Menschen eine Perspek- keinen Widerspruch, dann ist das so beschlossen. tive bieten, sich zu entwickeln, wird es Gerechtigkeit ge- ben. Wenn wir andere Länder und Regierungen als Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der gleichberechtigte Partner akzeptieren, Kollegin Ilse Aigner für die CDC/CSU-Fraktion. (Christian Schmidt [Fürth] [CDU/CSU]: Ja, (Beifall bei der CDU/CSU) Ja!) Ilse Aigner (CDU/CSU): (B) wird es eine multipolare Weltordnung geben, in der die (D) Stärke des Rechtes gilt. Wenn wir diese Welt gerechter ge- Sehr geehrter Herr Präsident! Wir beraten heute den stalten, wird es friedlichere Verhältnisse geben. Denn Frie- Einzelplan Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirt- den und Gerechtigkeit gehören untrennbar zusammen. schaft. Ich werde mich im Wesentlichen auf die Land- wirtschaft beschränken. Die Kollegin Ursula Heinen Ich bin davon überzeugt, dass wir diese gerechtere wird sich dann um die Stellungnahme der Union zum Weltordnung gemeinsam schaffen und voranbringen Verbraucherschutz kümmern. können. Ich bin überzeugt, dass die Bundesregierung mit ihrer Haltung im Irakkonflikt Frieden und Gerechtigkeit Vorab möchte ich mich aber noch bei der Kollegin langfristig gestärkt hat. Eichstädt-Bohlig, beim Herrn Kollegen Koppelin und beim Herrn Kollegen Bahr für die gute Zusammenarbeit (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Das ist ein im Berichterstattergespräch genauso wie bei den Mit- Besinnungsaufsatz!) arbeiterinnen und Mitarbeitern der Ministerin und des Ich bin überzeugt, dass Frieden und Gerechtigkeit mög- Bundesrechnungshofes für die guten Vorlagen, die wir lich sind. Für diese Art der Entwicklungszusammen- bekommen haben, bedanken. arbeit stehe ich mit meiner politischen Überzeugung und (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) mit unserer Regierung und Koalition. Die deutsche Landwirtschaft wird derzeit von mehre- Ich danke Ihnen. ren Seiten förmlich in die Zange genommen. Auf der ei- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ nen Seite stehen die fordernden und teilweise auch sehr DIE GRÜNEN) misstrauischen Verbraucher, die von unserer Landwirt- schaft die höchste Qualität unter Einhaltung aller höhe- ren nationalen Auflagen aus dem Bereich des Tier-, Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Landschafts- und Umweltschutzes verlangen. Dies allein Ich schließe die Aussprache. ist an sich nicht zu kritisieren. Ein Problem wird es erst dann, wenn bei der konkreten Nagelprobe an der La- Wir kommen zur Abstimmung über den Einzel- dentheke aus Preisgründen doch wieder die niedrigeren plan 23 – Bundesministerium für wirtschaftliche Zusam- Standards akzeptiert und die entsprechenden Produkte menarbeit und Entwicklung – in der Ausschussfassung. gekauft werden. Es liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der CDU/ CSU vor, über den wir zuerst abstimmen. Wer stimmt für Auf der anderen Seite kommen auf die Landwirt- den Änderungsantrag auf Drucksache 15/672? – Wer schaft sowohl von der EU als auch von der WTO Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. März 2003 2817

Ilse Aigner (A) gravierende Einschnitte zu. Ich sehe nicht, dass die deut- – richtig, so ist es –, nämlich aus dem Bereich der Förde- (C) sche Ministerin hier eine vehemente Vorkämpferin für rung von Investitionen im Bereich artgerechter Tierhal- die deutschen Interessen ist und sich auch dafür einsetzt, tung. Das muss man sich ebenfalls genau ansehen. Hier dass die Bauern eine verlässliche Basis bekommen. waren im Haushalt 2002 13 Millionen Euro vorgesehen. Abgerufen wurden 0 Euro. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Die Agenda 2000 war für einen Zeitraum bis 2006 (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Hört! vorgesehen. Dieser sollte zwingend eingehalten werden. Hört!) Frühzeitig vor 2007 sollten die neuen Rahmenbedingun- Man könnte nun meinen, dass bei ordentlicher Haus- gen festgesetzt werden. Wie sollen denn sonst unsere haltsführung dieser Titel im Regierungsentwurf gekürzt deutschen Landwirte eine vernünftige Planung vorneh- worden wäre. Weit gefehlt! Dieser Titel wurde auf men können? 50 Millionen Euro angehoben. In der Bereinigungssit- Zurück zu der heutigen Beratung des Einzelplans 10, zung hat die Koalition diesen Titel zwar auf 31 Millio- den Sie, Frau Ministerin, vollkommen allein zu verant- nen Euro gekürzt, worten haben. Sie können keine Schuld auf andere (Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/ schieben. In diesem Haushalt sind wesentliche Verände- CSU]: Größenwahn à la Künast!) rungen vorgesehen. aber auch das ist nicht gerechtfertigt. Vertraglich gebun- Die Union hätte die Schwerpunkte anders gesetzt. Wir den sind ganze 860 000 Euro. Das ist wohl das kom- haben dies durch Anträge auch dokumentiert. Unter die- plette Gegenteil vom Grundsatz der Klarheit und Wahr- sen Anträgen waren nicht nur Erhöhungsanträge, wie heit in der Haushaltsführung. uns die Koalitionsseite immer vorwirft, sondern im We- sentlichen Kompensationsvorschläge, die von Ihnen (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zuruf rundum abgelehnt wurden. von der CDU/CSU: Eine Sauerei ist das!) (Beifall bei der CDU/CSU – Walter Schöler Nun fragt man sich: Wofür das Ganze? Die Erklärung [SPD]: Aber welche!) liegt eben in einem neuen Titel, dem so genannten Ak- Im Bereich der landwirtschaftlichen Sozialpolitik tionsprogramm „Bäuerliche Landwirtschaft“, der de- sind weitere Einschnitte durch eine globale Minderaus- ckungsfähig mit dem vorher genannten Titel sein soll. gabe in Höhe von 20 Millionen Euro vorgesehen. Wenn Im Gegenzug dazu werden die Mittel für die Gemein- ich die Statements beim gestrigen Parlamentarischen schaftsaufgabe „Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes“ um 107 Millionen Euro auf 764 Millio- (B) Abend richtig verstanden habe, sind sich die landwirt- (D) schaftlichen Sozialversicherungsträger mit der Regie- nen Euro gekürzt, obwohl praktisch alle Vorschläge aus rung über diese Einschnitte einig. Dies kann ich nur so diesem Programm über die GAK abgewickelt werden interpretieren, dass es bei der Verwaltung offensichtlich könnten. noch erhebliche Einsparpotenziale gibt. Eine erneute Dazu ein Beispiel. Im Aktionsprogramm waren die Anhebung der Unfallversicherungsbeiträge für die Bau- Förderung der Übernahme von bäuerlichen Betrieben ern können wir mit Sicherheit nicht mittragen. Wir wer- und gegebenenfalls die Existenzgründung in Verbindung den ganz genau hinschauen, ob diese Einsparung bei den mit neuen Einkommensquellen vorgesehen. In der GAK Landwirten vorgenommen wird oder ob bei der Verwal- wurden dagegen bis 2002 unter anderem gefördert: die tung eingespart wird. Darauf können Sie sich verlassen. Zuweisung zur Verbilligung von Zinsen für die Förde- (Beifall bei der CDU/CSU) rung der Wiedereinrichtung und Modernisierung bäuerli- cher Familienbetriebe, die Zuweisung zur Verbilligung Dass die Gasölbeihilfe im letzten Haushalt deutlich von Zinsen im Rahmen der Gewährung von Starthilfen gekürzt wurde und jetzt erneut gekürzt wurde, sei der zur Umstrukturierung von landwirtschaftlichen Unter- Vollständigkeit halber nur noch einmal erwähnt und in nehmen usw., usf. Erinnerung gerufen. Diese und weitere Maßnahmen wir- ken sich eindeutig als Standortnachteil für Deutschland (Peter H. Carstensen [Nordstrand] (CDU/ aus. CSU): Unerhört ist das! – Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Da wird gekürzt?) Ein wohl einmaliges haushaltstechnisches Vorgehen ist die Einführung eines Titels ohne Haushaltsmittel. – Genau. (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Ja!) Über die eigentlichen Ursachen dafür, warum immer Es ist nicht ein Cent im Haushalt dafür vorgesehen. Man weniger Kinder von Landwirten den Betrieb überneh- rechnet allerdings mit Mitteln aus einem anderen Be- men wollen, hat sich die rot-grüne Regierung offensicht- reich, den man offensichtlich als Sparbüchse vorgesehen lich keine Gedanken gemacht. Die Landwirtschaft an- hat dauernd von nationaler Seite zusätzlich zu belasten – zweistellige Einkommensrückgänge in den letzten Jah- (Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/ ren, Arbeitszeiten von 60 bis 70 und mehr Stunden pro CSU]: Und uns im Fachausschuss vorenthal- Woche und dann auch noch der Buhmann der angebli- ten hat! Das war die größte Sauerei, die ich er- chen Ministerin für Landwirtschaft zu sein – ist für die lebt habe!) Zukunft nicht sonderlich motivierend. Daran wird auch 2818 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. März 2003

Ilse Aigner (A) eine noch so schön klingende Existenzgründungsoffen- – So ist es. – Da freut man sich in diesen Ländern natür- (C) sive nichts ändern. lich, dass man sein eigenes Nichtstun mit einer Bundes- förderung vertuschen kann. Da sieht man wieder einmal (Beifall bei der CDU/CSU) den Unterschied zwischen rot-grünem theoretischen An- All diese Maßnahmen, die in dem so genannten Ak- spruch und praktischem Handeln. tionsprogramm vorgeschlagen werden, sind problemlos (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- über die Gemeinschaftsaufgabe auszuführen. neten der FDP) (Beifall des Abg. Hans-Michael Goldmann [FDP]) Dass durch die Bundesprogramme konkurrierend zu Länderprogrammen Parallelstrukturen aufgebaut werden Warum ist aus unserer Sicht eine Förderung über die und darüber hinaus zur Umsetzung eine zusätzliche Ver- GAK besser? – Übrigens, Frau Ministerin, auch die Um- waltung im Ministerium aufgebaut werden muss, sei nur weltverbände fordern dies. Der BUND, der Deutsche nebenbei bemerkt. Dies trifft praktisch auf alle Pro- Naturschutzring, der NABU und der WWF haben lang- gramme zu: auf den Ökolandbau, auf tiergerechte Hal- fristig eine Verstetigung und Absicherung der GAK ge- tungsverfahren, auf Modell- und Demonstrationsvorhaben fordert. – Der entscheidende Vorteil für die Landwirt- und auf das so genannte Aktionsprogramm „Bäuerliche schaft selbst ist, dass die Bundesmittel um 60 Prozent Landwirtschaft“. Dies ist aus Effizienzgesichtspunkten durch Ländermittel aufgestockt werden. Deshalb verliert kontraproduktiv, sowohl was die verwaltungsmäßige die Landwirtschaft durch die vorgesehene Kürzung nicht Umsetzung als auch die Übersichtlichkeit der Förderpro- nur die Bundesmittel, sondern zusätzlich in diesem gramme betrifft. Haushaltsjahr die Förderung der Länder in Höhe von 160 Millionen Euro. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Jetzt bleibt die Frage: Warum wird dieses Programm Wir haben deshalb den Bundesrechnungshof gebeten, an der GAK vorbei neu aufgelegt? Ein gängiges Argu- diesen Sachverhalt genauestens zu prüfen. Ich gehe da- ment ist, dass die Länder die Mittel nicht abgerufen ha- von aus, dass er dies auch tun wird. ben oder sie nicht mehr abrufen werden können. Ein Posten im Haushalt ist zwar sehr „gering“; aber er Schauen wir uns also die letzten Jahre an: In den Jahren hat mich erheblich gestört: die einseitige Förderung des 1999, 2000 und 2001 wurden die Mittel zu 98,5, zu 97,6 Zertifizierungssystems für Forstwirtschaft, FSC. und zu 98,7 Prozent abgerufen. Als Ergebnis bleibt, dass die Mittel zwar kontinuierlich gekürzt wurden, die ver- (Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Das ist ein bleibenden Mittel aber jeweils fast vollständig abgerufen Skandal! Unverschämt! Gerade deshalb (B) wurden. Wer sagt denn eigentlich, dass die Mittel bei müsste die Dame zurücktreten!) (D) gleich hohem Ansatz nicht mehr abgerufen werden? Die Bundesregierung hat laut Koalitionsvereinbarung (Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/ beschlossen, allein diese Zertifizierung zuzulassen bzw. CSU]: Das waren zwei Länder, die nicht abge- zu bevorzugen. Warum stört mich dies? Weil die Bun- rufen haben: Schleswig-Holstein und Nieder- desregierung damit eindeutig gegen deutsche Interessen sachsen! Immer dieselben!) handelt. Der deutsche Forst und Privatwald ist zu über 60 Prozent der Fläche nach dem vollkommen gleichwer- – Genau. tigen europäischen Zertifizierungssystem PEFC zertifi- Also scheint der Grund an anderer Stelle zu liegen. ziert. Nur fünf von 16 Bundesländern haben ihren Man will damit wohl insbesondere diejenigen Länder Staatsforst nach FSC zertifiziert, eines davon nur des- fördern, die nicht dazu bereit sind, ihre landwirtschaftli- halb, weil es zu dem damaligen Zeitpunkt PEFC noch chen Strukturen im Sinne der Umwelt zu fördern. Zufäl- nicht gegeben hat. lig sind dies meist Länder, die der Couleur der Bundesre- Worin besteht der Unterschied? FSC wurde in erster gierung entsprechen oder ihr bis vor kurzem entsprochen Linie für Länder mit großflächigen Waldbesitzen ge- haben. schaffen. Kanada zum Beispiel ist solch ein Land. (Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/ 95 Prozent der Waldflächen sind in staatlichem Besitz. CSU]: So ist es! Und in Schleswig-Holstein Sie vergeben den Holzeinschlag über Konzessionen und wird das geändert!) man kann nicht immer davon ausgehen, dass die Nutzer auch die Nachhaltigkeit im Hinterkopf haben. Dass es hier gravierende Unterschiede gibt, zeigt die Förderung der Länder bei Agrarumweltmaßnah- Diese Struktur trifft mitnichten auf die deutsche men. Laut Agrarbericht förderte 2001 und 2002 Baden- Forstwirtschaft zu. Über die Hälfte der Flächen ist tradi- Württemberg diese Maßnahmen mit 104 Euro pro Hek- tionell in Privathand, etwa ein Drittel in Staatshand, der tar, Bayern mit 64 Euro pro Hektar und – jetzt kommt es – Rest sind kommunale Flächen. Auf alle Fälle kennzeich- Nordrhein-Westfalen mit ganzen 11 Euro pro Hektar, nen wesentlich kleinere Flächen diese Struktur. Niedersachsen mit 4 Euro pro Hektar und Schleswig- Diese Besitzer haben seit Jahrzehnten auf eine nach- Holstein mit 1 Euro pro Hektar. haltige Waldbewirtschaftung geachtet. Der Begriff (Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Unglaub- „Nachhaltigkeit“ kommt übrigens direkt aus der Forst- lich! – Dietrich Austermann [CDU/CSU]: wirtschaft. Hier gilt und galt die Regel, immer einen Bauernfresser!) hundertjährigen Bestand zu haben, um sich selbst und Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. März 2003 2819

Ilse Aigner (A) der nachfolgenden Generation nicht das Wasser abzugra- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (C) ben. Das Wort hat jetzt der Kollege Ernst Bahr von der (Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: So ist das! Da- SPD-Fraktion. von kann die Bundesregierung viel lernen!) Um die Verhältnisse in Deutschland noch einmal et- Ernst Bahr (Neuruppin) (SPD): was deutlicher darzustellen: 6,33 Millionen Hektar sind nach PEFC zertifiziert, ganze 432 000 Hektar nach FSC. Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle- Das ist ein Verhältnis von 93,6 Prozent zu 6,4 Prozent. gen! Auch ich habe die Zusammenarbeit unter uns Haus- Was reitet also die Bundesregierung eigentlich, FSC zu haltsberichterstattern als angenehm empfunden. Ich fördern und auch noch die Verlagerung des Sitzes nach denke, dass wir trotz der unterschiedlichen Auffassun- Deutschland mit 256 000 Euro zu fördern? gen ganz gut zurechtgekommen sind. (Zuruf von der CDU/CSU: Weil die Bundes- Ihre Aussagen bestätigen eigentlich eher unsere Auf- regierung in die falsche Richtung läuft!) fassung. Die Betriebsübernahmen sind ein Problem, das nicht in der politischen Landschaft an sich liegt, son- Sollte da vielleicht jemandem in eine Spitzenposition ge- dern auch in der Struktur der Landwirtschaft. Bereits seit holfen werden? Oder wollen Sie dadurch besonders den 40, 50 Jahren wollen die jungen Leute die Betriebe, die Import tropischen Holzes fördern? nicht mehr rentabel zu bewirtschaften sind, aus diesem (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Grund und auch aus anderen Gründen nicht mehr über- nehmen. Wir versuchen seit 40 Jahren und länger, ge- Eine Entwicklung ist schließlich nicht nur in diesem genzusteuern, aber diese Entwicklung wird sich wohl Einzelplan zu hinterfragen: der Aufwuchs bei den Aus- nicht aufhalten lassen. hilfskräften. Im Jahr 1998 beliefen sich die Ausgaben für Aushilfskräfte noch auf 4,15 Millionen Euro, im Jahr Zu dem, was Sie zur Gemeinschaftsaufgabe „Verbes- 2003 beträgt der Ansatz 25,7 Millionen Euro, also fünf- serung der Agrarstruktur und Küstenschutzes“ gesagt mal so viel allein in diesem Haushalt. Selbst wenn ich haben, muss ergänzt werden, dass das eben so, wie Sie es zwei Positionen herausrechne, die vorher nicht in diesem hier vorgestellt haben, nicht möglich ist. Es ist eben Titel enthalten waren, ist es ein gravierender Aufwuchs. nicht alles aus diesem Bereich bezahlbar und deshalb ist es sinnvoll, darüber nachzudenken, wie man die bäuerli- (Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/ che Landwirtschaft auf andere Weise fördert. Wir haben CSU]: Wobei man sagen muss: Die braucht deshalb einen Leertitel eingerichtet, der mit dem Pro- viel Hilfe, das nützt nun alles nichts! Die kann gramm, das wir dazu erstellen, die Finanzierung dieser (B) nichts allein!) Förderung sichert. Dass das mit dem Titel „Tiergerechte (D) Sie können sicher sein, dass wir diese Entwicklung zu- Haltungsverfahren“ tauschbar ist, hat seinen Hintergrund sammen mit der rasant ansteigenden Summe für Sach- darin, dass der Titel im vergangenen Jahr in der Tat nicht verständigengutachten in den nächsten Haushalten äu- ausgeschöpft wurde, aber zum Teil eben nicht ausge- ßerst genau unter die Lupe nehmen werden. Ich glaube, schöpft werden konnte bzw. man ihn nicht ausschöpfen auch der Bundesrechnungshof wird das tun. wollte. Ein Grund ist wohl, dass manche Leute in dieser Republik, gerade unter denen, die diese Tiere, deren Hal- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) tung wir verbessern wollen, halten, gedacht haben, nach Zum Schluss: Sehr geehrte Frau Ministerin, sorgen dem 22. September würde es keine solche Haltungsrege- Sie dafür, dass die Bauern verlässlich planen können. lung mehr geben. Da haben sie sich aber geirrt, wie wir Sorgen Sie dafür, dass die Landwirte für die Erhaltung alle gesehen haben. Wir werden die Haltungsverfahren unserer Kulturlandschaft auch die Anerkennung erfah- so ändern, wie wir es vorgesehen haben. Dies werden ren, die sie verdienen. Eine staatliche Pflege unserer wir fördern müssen; die Deckungsfähigkeit scheint mir Landschaft ist nicht unser Ziel; ich hoffe, das ist auch in Ordnung zu sein. nicht das Ziel der Bundesregierung. Sorgen Sie dafür, (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ dass unsere Bauern gleiche Wettbewerbsbedingungen DIE GRÜNEN – Hans-Michael Goldmann zumindest auf europäischer Ebene haben. [FDP]: Hat es seit dem 22. September Anträge (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) aus diesem Bereich gegeben? Keinen einzi- gen!) Sie können von einem 100-Meter-Läufer nicht verlan- gen, dass er dieselbe Zeit wie seine Konkurrenten läuft, – So, wie Sie es sagen, ist es nicht. wenn Sie ihm beide Beine zusammenbinden. Zur EU-Agrarreform. Frau Aigner, fast zeitgleich Sehr verehrte Frau Ministerin, stellen Sie in der mit unserer Regierungsübernahme im Jahre 1998 fand nächsten Zeit unter Beweis, dass Sie nicht eine Ministe- eine Reform der EU-Agrarpolitik statt, in die wir zu- rin gegen Landwirtschaft, sondern eine Ministerin für gunsten der konventionellen Landwirtschaft stark einge- Landwirtschaft sind. Ich glaube, unsere Landwirte haben bunden waren. Dass uns auch die konventionelle Land- das durchaus verdient. wirtschaft am Herzen liegt, haben wir mit unserer bisherigen Arbeit immer wieder gezeigt. Es ist uns auch Vielen Dank. gelungen, diese Landwirtschaft in ihrem Bestand zu si- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) chern und zu stärken. 2820 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. März 2003

Ernst Bahr (Neuruppin) (A) Ich werde heute auf die Bereiche etwas näher einge- die die Stiftung ansparen soll. Davon soll sie Zinsen ein- (C) hen, die immer wieder in der Kritik stehen – Sie haben nehmen. Von diesen Zinsen soll sie sich jährlich finan- es zum Teil angesprochen, Frau Aigner – und die eine zieren. Die Frage ist, wie das gehen soll: Sie soll fünf moderne Landwirtschaft ausmachen: die Stärkung des Jahre warten, den Betrag ansparen, um dann Zinsen zu Verbraucherschutzes, Verfahren tiergerechter Haltung bekommen. sowie die Förderung, Verarbeitung und Marktfähigkeit der nachwachsenden Rohstoffe. (Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/ CSU]: Frag doch einmal die Stiftung!) Wir haben den Verbraucherschutz gestärkt, indem wir die Mittel dafür auf über 78 Millionen Euro erhöht Selbst wenn man einen Zinssatz von 6 Prozent zugrunde haben. Dieser Aufwuchs kann sich sehen lassen. Ein legte, würde man bei jährlich 3,3 Millionen Euro landen. großer Anteil kommt der Aufklärung der Verbraucher Selbst wenn das möglich wäre, wäre das nur die Hälfte zugute. Allein in diesem Bereich haben wir die Mittel dessen, was wir der Stiftung zur Verfügung stellen. Inso- auf 21 Millionen Euro angehoben. Dies entspricht einem fern haben wir einen Schritt in die richtige Richtung getan. Zuwachs von 60 Prozent und ist auch notwendig. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) DIE GRÜNEN) Wir wollen der Landwirtschaft neue Impulse geben. Im Gegensatz zur Opposition haben wir erkannt, dass Wir wollen ihr helfen, neue Wege zu gehen, und den die Verbraucher zu Recht wissen wollen, was in den Le- bäuerlichen Betrieben eine weit reichende Perspektive bensmitteln enthalten ist. Das zeigen nicht zuletzt die geben. Deswegen gilt unsere Förderung verstärkt den Lebensmittelskandale der Vergangenheit und leider auch nachwachsenden Rohstoffen. Allein in diesem Bereich der Gegenwart. Die Leidtragenden sind die Landwirte haben wir 43 Millionen Euro bereitgestellt. Wir hoffen, und die landwirtschaftlichen Betriebe, weil man in Zei- dass die Entwicklung von neuen Technologien dazu bei- ten der Verunsicherung seine Produkte nur schlecht trägt, dass wir in der Landwirtschaft und den nachfol- absetzen kann. Es gibt keine bessere Werbung für die genden Bereichen Arbeitsplätze erhalten und neue Ar- landwirtschaftlichen Produkte als eine offene und unvor- beitsplätze schaffen können. Weltweit zeigt sich, dass eingenommene Aufklärung und Information der Ver- diese Produkte gute Zukunftschancen haben. braucher. Ich wünsche mir, dass sich diese Einsicht auch Die Entwicklung im Bereich der ökologischen Land- in den Reihen der Opposition durchsetzt und sie unsere wirtschaft zeigt ebenfalls deutlich positive Zeichen. politischen Maßnahmen unterstützt. 2001 stieg die Anzahl der Betriebe in diesem Bereich auf Mit der Verabschiedung des Verbraucherschutzgeset- 14 702. Das entspricht im Vergleich zum Vorjahr einer (B) (D) zes haben wir den Verbraucherschutz gestärkt; in diesem Steigerung um 15 Prozent. Im Vergleich zu 1995 hat sich Bereich können wir einiges vorweisen. Wir haben ein die Anzahl der Betriebe sogar verdreifacht und die bear- Bundesinstitut für Risikobewertung eingerichtet und beitete Fläche verdoppelt. Das zeigt, dass es auf diesem jetzt mit fast 40 Millionen Euro ausgestattet. Dieses In- Gebiet vorwärts geht. Das zeigt sich auch, wenn man das stitut soll die wissenschaftliche Beratung zum gesund- Einkommen betrachtet. 2001 erzielte jede Arbeitskraft heitlichen Verbraucherschutz intensivieren. Wir wollen im Ökolandbau ein Jahreseinkommen von 28 227 Euro. damit erreichen, dass in Zusammenarbeit mit den euro- Das ist ein höheres Einkommen als in der konventionel- päischen Behörden der Verbraucherschutz auch über die len Landwirtschaft. Das belegt, dass die Zukunft der Grenzen hinweg besser funktioniert. Damit stellen wir ökologischen Landwirtschaft gesichert ist. uns, wie ich glaube, einer wichtigen Aufgabe. Zusam- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ men mit dem Bundesamt für Verbraucherschutz und DIE GRÜNEN) Lebensmittelsicherheit werden wir die Qualität der Ver- braucheraufklärung deutlich verbessern. Wir haben auch die Sicherung der sozialen Systeme ins Auge gefasst. Wir wollen, dass die Kosten für die Wichtig ist uns die wirtschaftliche und politische Un- soziale Absicherung der Landwirte weiterhin von uns abhängigkeit der prüfenden Instanzen; daran wollen wir mitgetragen werden. Sie wissen, dass das für die Alters- mit allen politischen Kräften arbeiten. Hier geht es uns sicherung genauso zutrifft wie für die Kranken- und die insbesondere um die Stiftung Warentest, für die wir Rentenversicherung. Bei der Unfallversicherung haben eine finanzielle Ausstattung zu besorgen haben, die ihre wir eine leichte Absenkung vorgenommen. Frau Aigner, Unabhängigkeit sichert. Sie sagten richtigerweise, dass wir diese Absenkung mit (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Zustimmung der Unfallversicherer vorgenommen haben. DIE GRÜNEN – Peter H. Carstensen [Nord- Insgesamt haben wir diesen Bereich aber um 25 Millio- strand] [CDU/CSU]: Ehrlich? Stimmt ihr un- nen Euro aufgestockt. Das heißt, dass die sozialen Siche- serem Antrag zu?) rungssysteme der Landwirtschaft weiterhin gesichert sind. Dieser Bereich hat im Haushalt des Ministeriums – Das werden wir nicht tun, Peter Harry. Wir haben ei- ein Volumen von 3,8 Milliarden Euro. Man kann nicht nen Zuschuss von 6,5 Millionen Euro für diese Stiftung übersehen, dass ein großer Betrag für die soziale Siche- bereitgestellt, mit dem die Stiftung sehr zufrieden ist. rung bereitgestellt wird. Aber euren Antrag kann man leider schon rein rechne- risch nicht nachvollziehen. Es sollen über fünf Jahre je- (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Das wird weils 12 Millionen Euro zur Verfügung gestellt werden, ja blümerant!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. März 2003 2821

Ernst Bahr (Neuruppin) (A) Ich bin damit leider am Ende meiner Redezeit ange- Die Politik von Frau Künast ist auf einen einfachen Nen- (C) kommen. ner zu bringen: Der konventionellen Landwirtschaft wird der Hals umgedreht. Dafür wird alles, was auch nur (Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/ den Namen „Öko“ trägt, mit staatlichen Subventionen CSU]: Ich hätte dir stundenlang zuhören kön- gefördert. Das ist Ihre Politik. nen!) (Beifall bei Abgeordneten der FDP) – Peter Harry, ich denke, wir könnten uns noch eine Weile unterhalten; über andere Themen aber sicherlich mehr und Als Strafe müssen allerdings alle Landwirte die Öko- besser. – Ich denke, ich habe deutlich machen können, steuer zahlen. dass wir den Verbraucherschutz stärken wollen. Wir wol- len der Landwirtschaft durch die Neuausrichtung unserer Aus dem Munde der Ministerin heißt das: Neuaus- Agrarpolitik eine Perspektive geben, sodass die Arbeits- richtung der Agrarpolitik. Würde Ministerin Künast plätze der Landwirte und im ländlichen Raum insgesamt einmal einen Betrieb besuchen, dann würde sie feststel- gesichert werden. Wir wollen den Bestand der Landwirt- len, wie sehr unsere Landwirte bemüht sind, Produkte schaft, auch der konventionellen Landwirtschaft, sichern. von hoher Qualität auf den Markt zu bringen, und wie engagiert unsere Landwirte sind, was die Bereiche Um- (Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/ welt- und Tierschutz angeht. Doch das alles zählt bei CSU]: Und warum tut ihr es dann nicht?) dieser Ministerin nicht, weil sie ihre ideologischen Wir haben eine entsprechende finanzielle Ausstattung Scheuklappen aufgesetzt hat. zur Verfügung gestellt. Unsere Ziele werden wir umset- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten zen. der CDU/CSU) Herzlichen Dank. Während der bisherigen Haushaltsberatungen haben (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ wir auch über die knappen Finanzmittel diskutiert. Wir DIE GRÜNEN) müssen allerdings feststellen, dass das nicht für den Haushalt von Frau Künast gilt. Dort fließt der Finanz- strom, allerdings nur in die Bereiche, die sich in ir- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: gendeiner Weise „Öko“ nennen. So gibt es, um zwei Das Wort hat jetzt der Kollege Jürgen Koppelin von Beispiele zu nennen, höhere Beiträge für Ökobetriebe der FDP-Fraktion. und es sind üppige finanzielle Polster eingeplant, um Aufträge für Gutachten zu vergeben. Die Ergebnisse Jürgen Koppelin (FDP): dieser Gutachten – das kennen wir schon – stehen ei- (B) gentlich schon fest oder zumindest können wir erahnen, (D) Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In wie die Ergebnisse aussehen werden. Dafür ist unglaub- der deutschen Landwirtschaft herrscht Katastrophen- lich viel Geld vorhanden. Der Höhepunkt in diesem stimmung. Die Landwirtschaft leidet nicht nur unter der Haushalt ist, dass man Geld für nicht wissenschaftliche schlechten Konjunktur in unserem Land, sondern auch Gutachten, wie die Ministerin das bezeichnet, heraus- – das ist bekannt – unter der rot-grünen Steuer- und schmeißt. Ich weiß, was damit gemeint ist. Finanzpolitik, die die Einkommenssituation der Land- wirte erheblich verschlechtert hat. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Frau Künast ist die Spitze der Bewegung und zeigt be- sonders deutlich, dass die Grünen eine reine Klientelpar- Für die Landwirte ist in den kommenden Jahren keine tei sind und nichts anderes. Einkommensverbesserung in Sicht. Auch das Höfe- sterben – das ist schon angesprochen worden – geht wei- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) ter: weitere 17 000 Landwirte haben ihren Hof stillgelegt. Das macht die Ministerin natürlich auch deswegen, da Das macht überaus deutlich, dass die rot-grüne Landwirt- bestimmte Bereiche der Landwirtschaft, nämlich die schaftspolitik keine Zukunftsperspektiven bietet. Ökobetriebe, eine noch schlechtere Ertragslage hätten (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten als heute, wenn sie diese nicht in diesem Maße päppeln der CDU/CSU) würde; das weiß sie ganz genau. Das ist zu bedauern; das muss ich ganz offen sagen. Die Hoffnungslosigkeit der deutschen Landwirte zeigt sich auch darin, dass die Investitionen in den Be- (Peter Bleser [CDU/CSU]: Sie finanziert ihre trieben ebenfalls erheblich zurückgegangen sind. Per- eigenen Wähler! – Friedrich Ostendorff spektiven – das ist das Problem – können die Landwirte [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das stimmt von der Bundesministerin Künast nicht erwarten. doch nicht!) Wenn man sich den Einzelplan 10 anschaut, kann Mit diesem Haushalt betreibt Ministerin Künast nach man sehr schnell erkennen, dass für die Ministerin unserer Auffassung nur ein Ziel – das können Sie sehen, Künast – obwohl sie offiziell für die Landwirtschaft zu- wenn Sie ihn intensiv lesen –: Sie will die Landwirt- ständig ist; das steht auf Seite 2 des Haushaltsplanes – schaft spalten. Nichts anderes will sie mit diesem Haus- die Landwirtschaft überhaupt keinen Stellenwert hat. halt erreichen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) 2822 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. März 2003

Jürgen Koppelin (A) Gerüchteweise hört man, dass die Ministerin auch für Deswegen stellen wir fest – Herr Präsident, ich (C) den Verbraucherschutz zuständig sein soll. Ich sage: komme zum Schluss –: Unsere Landwirte haben von gerüchteweise; denn es gibt kaum Aktivitäten des Minis- diesem Ministerium nichts zu erwarten. Frau Ministerin, teriums in diesem Bereich. Das wird zum Beispiel beim Sie haben Vorgänger mit großen Namen gehabt. Ich Thema BSE deutlich. Der Rechnungshof hat uns mitge- nenne , , Jochen Borchert, der in teilt, das Referat Fleischhygiene sei personell ausge- unseren Reihen sitzt, oder selbst Karl-Heinz Funke von dünnt worden, obwohl sich gerade dieses Referat mit den Sozialdemokraten. Deren Politik haben Sie in weni- BSE beschäftigt. Das müssen Sie uns erklären. gen Jahren zerschlagen. Sie werden verstehen, dass wir Ihrem Haushalt nicht zustimmen können. Ein weiteres Beispiel betrifft die Stiftung Warentest. Diese Stiftung leistet hervorragende Arbeit. Damit das (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) so bleibt, fordert die FDP, dass sie als unabhängige Stif- tung etabliert wird. Wir wollen, dass diese Stiftung unab- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: hängig von dem Einfluss aus der Politik wird und unab- hängig arbeiten kann. Das Wort hat jetzt die Kollegin Eichstädt-Bohlig vom Bündnis 90/Die Grünen. (Beifall des Abg. Jochen Borchert [CDU/ CSU]) Franziska Eichstädt-Bohlig (BÜNDNIS 90/DIE Ministerin Künast versteht unter Verbraucherschutz GRÜNEN): nicht den Schutz der Verbraucher, sondern allein den Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Schutz der Verbraucherverbände. Gegenüber den Ver- Liebe Kollegin Aigner und lieber Kollege Koppelin, ich brauchern steht sie mit leeren Händen da. Das ist ihre muss schon sagen, die Katastrophenstimmung, die Sie Politik. hier verbreiten, kann ich überhaupt nicht verstehen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- Im Ministerium werden – auch das ist sehr interes- SES 90/DIE GRÜNEN – Dietrich Austermann sant – mehr und mehr neue Stellen geschaffen. Wir be- [CDU/CSU]: Kommen Sie doch einmal nach streiten nicht, dass die eine oder andere dieser Stellen Schleswig-Holstein!) notwendig ist, aber die Zahl der in diesem Ministerium Es war Renate Künast, die die Agrarpolitik aus der Krise geschaffenen Stellen ist ein einziger Skandal. herausgeführt hat. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/ (B) Da diese Stellen nicht im Bereich des Verbraucher- CSU]: Aus der Krise herausgeführt?) (D) schutzes angesiedelt sind, muss ich fragen, wofür Minis- Sie wollen sich wohl überhaupt nicht mehr an den BSE- terin Künast diese Stellen braucht. Der Haushalt gibt Skandal, die Maul- und Klauenseuche, den Tiermehlfut- Aufklärung und der Bundesrechnungshof hat uns das be- terskandal, die Schweinepest und den Nitrofen-Skandal stätigt: Die Leitung des Ministeriums mit Frau Künast an erinnern. der Spitze saugt sich mit Stellen voll. (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Das gab es (Lachen bei der SPD sowie bei Abgeordneten vorher alles gar nicht!) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Wir hatten enorme Probleme im Landwirtschaftsbe- – Es gibt Berichte des Rechnungshofes, in denen das ge- reich. Im Endeffekt sagen Sie jetzt nichts anderes, als schrieben steht. Das können Sie nicht bestreiten. Sie dass alles wieder dahin zurück soll, wo es bereits vor müssen den Rechnungshof kritisieren und nicht mich. zwei bis drei Jahren war. Der Bericht liegt vor. Wenn Sie ihn nicht kennen, dann (Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/ stelle ich ihn Ihnen gerne zur Verfügung. Darin können CSU]: Nein, nur Künast soll zurück!) Sie lesen, wie die Stellen angehoben wurden und wo sich diese Stellen befinden. Das alles ist vom Bundes- Das kann doch wirklich nicht das Ziel sein. Das, was Sie rechnungshof kritisiert worden. Darüber haben wir im hier bieten, ist erbärmlich. Haushaltsausschuss beraten. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Frau Künast verfolgt mit der Schaffung dieser Stellen sowie bei Abgeordneten der SPD) nur ein einziges Ziel, nämlich aus dem Landwirtschafts- Sie haben überhaupt keine Reformperspektive, son- ministerium in der Wilhelmstraße die ideologische Zen- dern handeln sowohl hier als auch da nur schlicht nach trale für Bündnis 90/Die Grünen zu machen. Nichts an- dem Motto: Rollback, Rollback, Rollback. deres hat sie vor. Kollege Koppelin, ich muss wirklich sagen: Der Satz (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) mit der ideologischen Zentrale war richtiger Stuss. Das sollten Sie sich einmal klar machen. Die Sorgen der Landwirte interessieren diese Ministerin überhaupt nicht. Diese sind für sie Nebensache. Haupt- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sache, sie kann als Heilige für die Legehennen durch das und bei der SPD) Land ziehen. Das ist das Ergebnis dieser Politik. Es geht nämlich um ganz klare Inhalte, zu denen man (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) ernsthaft Stellung nehmen muss; man muss über sie Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. März 2003 2823

Franziska Eichstädt-Bohlig (A) diskutieren. Insofern ist völlig klar: Renate Künast ist (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (C) eine Ministerin für die Landwirtschaft, und bei der SPD) (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Nein!) In meinen nächsten Sätzen komme ich ganz konkret zur artgerechten Tierhaltung. Im Haushaltsausschuss die Reformen für eine zukunftsfähige Landwirtschaft an- haben wir uns intensiv darum gestritten. Ich finde es rich- strebt. Mir ihr wird es kein Zurück in eine Zeit geben, in tig und wichtig, den Landwirten und dem landwirtschaft- der es Skandale, Gift, Chemie und Pestizide gab. lichen Gewerbe – es geht ja nicht nur um die Bauern und (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Es gab so Landwirte selbst, sondern auch um Gewerbestrukturen – viele Skandale in den letzten vier Jahren!) die Chance zu geben, ihre Ställe und Legehennenbatte- rien Es ist also völlig richtig, dass es hier einen ganz klaren Unterschied gibt. (Albert Deß [CDU/CSU]: Ins Ausland verle- gen zu lassen!) Kollege Bahr hat eben auch schon darauf hingewie- sen, dass wir zu diesen Reformen, für die wir in der Schritt für Schritt umzubauen, damit es zu einer artge- Landwirtschaft zunehmend Unterstützung gewinnen, rechten Tierhaltung kommt. stehen. Wir können den Tierschutz doch nicht ins Grundge- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN setz schreiben, entsprechende gesetzliche Regelungen und bei der SPD – Peter H. Carstensen [Nord- und Verordnungen weiter befördern und es dabei belas- strand] [CDU/CSU]: Wann waren Sie denn das sen. Wir wollen eine Politik, in der wir fordern und in letzte Mal da?) der wir das Geforderte dann auch fördern. – Das ist ziemlich klar. – Es geht eben nicht nur um den (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ökologischen Landbau, sondern auch um die konventio- und bei der SPD) nelle Landwirtschaft. Unser Haushalt enthält einige Re- formbausteine. Diese haben wir gesichert, obwohl wir Das sollte eigentlich Ihre Unterstützung haben. Ich bin teilweise auch Kürzungen vornehmen mussten. Das war mir sicher, dass es gelingt, die Bauern und Landwirte nicht immer ganz leicht. Obwohl wir unser Konsolidie- schrittweise zu überzeugen, dass sie durch dieses Pro- rungsziel erreichen wollen, war es uns wichtig, die Re- gramm wirklich etwas für ihr eigenes Unternehmen und formbausteine zu sichern. für die Tierhaltung in ihrem Bereich tun können. Zu den nachwachsenden Rohstoffen hat Kollege Ich möchte auf einen weiteren Punkt zu sprechen kommen. Ich bin erstaunt, dass Sie sich so sehr gegen (B) Bahr das Wichtigste schon gesagt. Hierfür haben wir (D) 63,6 Millionen Euro zur Verfügung gestellt. Das ist ein das Aktionsprogramm „Bäuerliche Landwirtschaft“ wichtiger Baustein, um für die Landwirtschaft neue wirt- stellen, wohingegen Sie sich gleichzeitig beschweren, es schaftliche Perspektiven zu eröffnen, um dem Landwirt, werde für die traditionellen Landwirte zu wenig getan. der gleichzeitig Energiewirt ist, neue Chancen zu geben (Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/ und um in den anderen Bereichen landwirtschaftliche CSU]: Schauen Sie sich doch einmal an, was Rohstoffe, beispielsweise Hanf, zu Stoffen zu verarbei- damit gefördert werden soll!) ten, sodass hier ganz neue Perspektiven eröffnet werden, anstatt immer nur in dem Bereich zu wirtschaften, in – Wir warten darauf und werden das ebenso wie die dem bisher schon gearbeitet wurde. Fachpolitiker von der Ministerin einfordern. Dann wird diskutiert und in die Praxis umgesetzt. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN) (Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/ CSU]: Das steht doch schon im Internet!) Ich komme zum Bereich Ökolandbau. Ich muss ganz deutlich sagen, dass es nicht darum geht, einfach nur die Auf der Grünen Woche hat sich herausgestellt, dass Nische Ökolandbau auszuweiten. Das ist der eine Teil. Der die Beteiligten genau an diesem Baustein der Reform zur andere Teil ist aber genauso wichtig. Die konventionelle Stabilisierung des ländlichen Raumes sehr interessiert Landwirtschaft muss mehr Chancen bekommen, naturnah sind. zu produzieren. Deswegen haben wir das Biosiegel einge- (Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/ führt, das eben nicht nur für den engeren Bereich des öko- CSU]: Ich-AG in der Landwirtschaft und so logischen Landbaus gedacht ist, sondern durch das auch ähnlich beknackter Kram!) die Chance eröffnet wird, im Zwischenbereich ein Siegel dafür zu erhalten, dass ökologisch, naturverträglich und Genauso verhält es sich mit dem Modellvorhaben und gesund produziert wird, sodass entsprechende Nahrungs- dem Projekt „Regionen aktiv“. mittel zur Verfügung gestellt werden können. (Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/ (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Was CSU]: Das ist von der Landwirtschaft so weit haben Sie denn bisher gemacht?) entfernt wie die Erde von der Sonne!) Eigentlich sollten Sie inzwischen so weit sein, dass Sie Sie sind ein wichtiger Schritt auf dem Weg dahin, die das unterstützen, anstatt hier einfach herumzupöbeln. Landwirtschaft nicht nur separat, sondern zusammen mit Das trägt nichts Konstruktives zur Sache bei. der Natur zu sehen. Erzeuger sollen mit Verbrauchern 2824 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. März 2003

Franziska Eichstädt-Bohlig (A) zusammengebracht werden, um so die Landwirtschaft hinaus den Landwirten Angebote zur Reform machen, (C) als integrierte Form wahrzunehmen. wie wir sie eben dargestellt haben. Wenn Sie immer nur jammern können und keine bes- (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ seren Rezepte haben, DIE GRÜNEN und der SPD) (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Doch!) Zu den Einsparungen in der landwirtschaftlichen Sozialpolitik. Sie haben gestern erlebt, dass mit den Ver- sollten Sie lieber still sein. Sie können nicht immer nur bänden eine einvernehmliche Lösung erzielt wurde. Da- das Rollback fordern. Solange Sie keine guten Ideen ha- her sollte es in diesem Punkt keine Kritik geben. Dass ben, brauchen wir Ihr Gerede – ich hätte beinahe Ge- wir zum Gesamtvolumen der Konsolidierung auch in blöke gesagt – nicht ernst zu nehmen. Aber wir sind ja in diesem Bereich unseren Beitrag zum Sparen erbringen der Landwirtschaftsdebatte. müssen, sollte nicht weiter strittig sein. (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Das ist Ich möchte noch ein paar Takte zu Ihren Anträgen sa- aber sehr primitiv! – Peter H. Carstensen gen. In ihnen spiegelt sich die Grundhaltung wider, ge- [Nordstrand] [CDU/CSU]: 40 Prozent Verlust gen alles zu sein. Die CDU/CSU möchte die Mittel für in diesem Jahr! Künast-Effekt!) die Gemeinschaftsaufgabe gerne erhöhen. Das wird praktisch nicht gelingen, weil die Länder nicht kofinan- Ein Wort zum Verbraucherschutz – Kollege Bahr hat zieren können. Das ist also ein Luftantrag. schon einiges dazu gesagt –: Wir wollen und werden Ver- braucherschutz und Verbraucherinformationen Schritt für (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Das Schritt ausweiten und intensivieren. Als Erstes werden stimmt doch gar nicht!) wir uns den Nahrungsmittelbereich vornehmen; denn ge- Zur FDP muss ich sagen: Sie hat in ihren vielen An- sunde Ernährung ist sehr wichtig. Aber gesundheitlicher trägen – wir haben die rosa Anträge vorhin erhalten – Verbraucherschutz geht noch weiter. Nicht nur die Nah- nach der Rasenmähermethode die Kürzung aller Mittel rungsmittel, sondern auch die Produktsicherheit steht im verlangt. Die Landwirtschaft der 80er-Jahre lässt herz- Vordergrund. Danach werden wir uns Schritt für Schritt lich grüßen. Wir wünschen Ihnen dabei viel Spaß. dem wirtschaftlichen Verbraucherschutz bis hin zu Fi- nanzdienstleistungen zuwenden, bei denen der Verbrau- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN cher manchmal übers Ohr gehauen wird. Wir informieren und bei der SPD) darüber, was dagegen getan werden kann. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Insofern habe ich überhaupt kein schlechtes Gewis- (B) sen, dass wir dafür nicht nur Geld, sondern auch ein paar Das Wort hat jetzt die Kollegin Klöckner von der (D) Stellen bereitgestellt haben. Kollege Koppelin, sagen Sie CDU/CSU-Fraktion. einmal konkret, was Sie dagegen haben, wenn wir diesen (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Bereich stärken. Ich verstehe die Bedenken der FDP neten der FDP) nicht, aber offenbar braucht sie das, weil sie gegen alles ist. Julia Klöckner (CDU/CSU): (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN) Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin neu im Bundestag und dachte immer, dass uns Pole- Ich möchte ein paar Worte zur Gemeinschaftsauf- mik gegen die Regierung nicht weiterbringt. gabe „Verbesserung der Agrarstruktur und des Küs- (Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE tenschutzes“ sagen. Wir haben uns gegen Ambitionen GRÜNEN]: Da haben Sie Recht! Da stimmen gewandt, hier die Mittel zu kürzen; das wissen Sie ganz wir zu!) genau. Darüber haben wir intensiv miteinander disku- tiert. Aber Sie wissen auch, dass sich inzwischen die Deswegen bin ich davon ausgegangen, dass eine sachli- Länder Zug um Zug – das sind nicht nur Schleswig-Hol- che Auseinandersetzung hilfreich sein würde. Aber man stein und Niedersachsen – aus der Finanzierung zurück- stößt sehr schnell an die Grenzen des guten Willens, ziehen. wenn man sich anschaut, wie Sie Agrarpolitik betreiben und den Agrarhaushalt aufstellen. (Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/ CSU]: Wie bitte?) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP) – Die Mittel werden immer geringer. Sie haben nicht ge- sagt, in welcher Höhe die Länder gegenfinanzieren. Da bleibt wenig Raum für rationales Argumentieren. (Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/ Hier wird ein negatives Bild von den Bauern gezeich- CSU]: Das stimmt nicht!) net und es wird ein Landwirtschaftstraum geträumt, der nicht mit den Bauern geträumt wird. Wenn Sie von Öko- Der Beitrag der Länder wird von Jahr zu Jahr immer ge- wiesen sprechen und sagen, dass es den Bauern gut gehe ringer. Dem hat sich die Finanzplanung schrittweise an- und wir nicht wüssten, wie es den Bauern gehe, dann gepasst. Aber wir halten die Mittel auf dem Level, den weiß ich nicht, welche Pappmascheebauern Ihnen vorge- die Länder mittragen. Richtig ist aber, dass wir darüber stellt worden sind. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. März 2003 2825

Julia Klöckner (A) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Ja! – Peter (C) Franziska Eichstädt-Bohlig [BÜNDNIS 90/ H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/CSU]: So DIE GRÜNEN]: Was? Ganz kleine!) ist das!) Glauben Sie mir: Unsere Bauern verlangen gewiss Den Bauern muss angst und bange werden, bedenkt keine Wunder. Sie verlangen in ihrer Situation einfach man, dass mit den gestrichenen Mitteln das Bundespro- nur Unterstützung. Liebe Frau Künast, mancher Bauer gramm „Tiergerechte Haltungsverfahren in der Legehen- wünschte, einmal mit solcher Sorge bedacht zu werden, nenhaltung“ von 13 auf 50 Millionen Euro aufgestockt wie Sie sie den Blumen, Pflanzen und Tieren zukommen wird. Entfallen sind im Haushalt die Mittel für die Gas- lassen. ölverbilligung. Aber die Ökosteuerbelastung in Höhe von etwa 460 Millionen Euro dürfen die Bauern wie- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) derum tragen. Leider sind Sie in erster Linie Anwältin Ihrer Partei. Ist Ihnen, liebe Frau Ministerin, eigentlich bewusst, dass die Landwirtschaft zwischen 1999 und 2002 gut die (Jürgen Koppelin [FDP]: Wieso? Sie hat die Hälfte des Rückgangs der Bundessubventionen, also Steuern angehoben!) 400 Millionen Euro, getragen hat? Mittlerweile hat – Ja, aber das geschieht erst im Jahre 2005, dann sind wir Deutschland im EU-Vergleich neben dem Vereinigten alle gerettet. – Sie sind viel zu wenig Agrarministerin. Königreich die niedrigsten nationalen Beihilfen. Alle an- Das ist schade. deren Länder haben also mehr für ihre Landwirtschaft übrig als Sie. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Genau das (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- ist der Punkt!) neten der FDP – Zuruf von der CDU/CSU: Skandal!) Es heißt, auch die Landwirtschaft müsse ihren Beitrag Fatal ist, dass der Begriff Wettbewerbsfähigkeit in zu den BSE-Folgekosten leisten. Das Gleiche wird ge- der derzeitigen Agrarpolitik der Bundesregierung gar sagt, wenn es um die Erhöhung der Mehrwertsteuer oder nicht vorzukommen scheint. Deutlich wird dies an der um die Ökosteuer geht. Überall sollen die Bauern also belastenden Steuer- und Haushaltspolitik, an der ein- ihren Beitrag leisten. Aber Sie sollten wissen: Kühe seitigen und ideologischen Ausrichtung Ihrer Agrar- kann man nicht ewig melken. politik und an der untragbar gewordenen Bürokratisie- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – rung. (B) Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/ (Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/ (D) CSU]: Ein bisschen Futter brauchen die auch!) CSU]: Ja!) – Ja, ein bisschen Futter brauchen sie auch. Denn Sie sollten wissen: Gute Produkte werden nicht am Ärger erregend ist die Tatsache, wie und wo Sie Schreibtisch gemacht. Das wäre nämlich ein Wunder. die Kürzungen vornehmen. Wir erwarten mehr Fan- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- tasie und Verständnis für die Bauern. Landwirtschaft neten der FDP) hat – das sagt das Wort – nämlich auch etwas mit Wirtschaften zu tun. Bauern sind auch da, um Ein- In der jetzigen Zeit sagen Sie ja: Wunder brauchen kommen zu erzielen. manchmal etwas länger. Aber ich sage Ihnen: Wir brau- chen keine Wunder. Wir brauchen Taten, die man aber (Beifall bei der CDU/CSU: Richtig!) – gerade wenn man in der Regierung ist – selbst angehen muss. Eines muss klar gesagt werden: Nur wirtschaftlich ge- sunde Betriebe können auf Dauer nachhaltig arbeiten (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- und letztlich auch die Auflagen, von denen ihnen immer neten der FDP) mehr gemacht werden, erfüllen. Das, was Sie noch für Die eigentumsfeindliche Naturschutzgesetzgebung den Berufsstand der Bauern übrig haben, ist eine andere und die nationalen Alleingänge zum Schaden der heimi- Art der Sterbehilfe. schen Landwirtschaft müssen endlich rückgängig ge- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) macht werden. Wir müssen zu einer konstruktiven Zu- sammenarbeit kommen. Es geht nicht, dass die Bauern Die Mittel für die Gemeinschaftsaufgabe – GAK – wer- dafür, dass sie gute Arbeit leisten, mit Abzügen, Lasten den um 107 Millionen Euro geringer ausfallen. Mit die- und letztlich auch Missachtung belohnt werden. sen Kürzungen und Umschichtungen setzen Sie in dieser Zeit gerade die falschen Zeichen. Wie schon im Jahre 1998 wird die Schaffung leis- tungs- und wettbewerbsfähiger Betriebe als Ziel Ihrer Sie verhalten sich innerhalb Ihres Agraretats übrigens Agrarpolitik hingestellt. Wenn Sie das tun wollen – das sehr widersprüchlich. Auf der einen Seite verlangen Sie hört sich ja sehr gut an; Papier ist auch geduldig –, von der EU den Ausbau der zweiten Säule. Auf der an- dann frage ich Sie: Warum haben Sie vier Jahre lang deren Seite streichen Sie in Deutschland die Kofinanzie- das Gegenteil gemacht? Jetzt beginnt das Gleiche rungsmittel dafür. Der Weg geht einfach in die falsche von vorn. Der verhängnisvolle Irrweg, die moderne, Richtung. nachhaltige Landwirtschaft und die ökologische 2826 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. März 2003

Julia Klöckner (A) Landwirtschaft gegeneinander auszuspielen, wird lei- Nach Angaben Ihres Ministeriums wurden im ver- (C) der weiterhin beschritten. gangenen Jahr 13,56 Millionen Euro für den Posten Auf- klärung der Verbraucher im Ernährungsbereich ausgege- (Franziska Eichstädt-Bohlig [BÜNDNIS 90/ ben. Sage und schreibe 7,6 Millionen, also mehr als die DIE GRÜNEN]: Das machen doch Sie! – Ge- Hälfte, wurden in das Biosiegel gebuttert. Dabei gilt genruf des Abg. Peter H. Carstensen [Nord- selbst unter den Ökobauern das Biosiegel als Etiketten- strand] [CDU/CSU]: Erzählen Sie doch keine schwindel. Das ist bitter, eine Art Ökolight. Märchen!) – Schauen Sie sich doch einmal die einzelnen Haushalts- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) pläne an. Schauen Sie sich doch an, wer gefördert wird. Bei Investitionen wird also gekürzt und in einem an- Fragen Sie die Biobauern, die Biomilch herstellen. Sie deren Bereich, der gar nicht zu den Aufgaben der Bun- klagen und rüsten jetzt wieder auf konventionelle Pro- desregierung gehört, wird plötzlich Geld für Werbung duktion um, weil die Preise im Keller sind. für Ökoprodukte ausgegeben. Da laufen Sie mit Spen- dierhosen herum. Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: (Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/ Frau Kollegin Klöckner, erlauben Sie eine Zwischen- CSU]: So ist es!) frage des Kollegen Ostendorff? Es kann doch nicht sein, dass einseitig Werbemaßnah- men forciert werden. Wenn ständig Reklame für Um- Julia Klöckner (CDU/CSU): weltschutz betrieben wird, dann sollte das konsequenter- Er kann jetzt mal entspannt sein. Das ist meine erste weise vom Budget des Herrn Trittin abgezogen werden. Rede. Ich habe ihm auch keine Zwischenfrage gestellt. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Ein Auseinanderdividieren der so genannten biologi- Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/ schen und der konventionellen Landwirtschaft ist ein- CSU]: Der hat schon bei der Lohmann-Stif- fach nur Unsinn. Das tun die Marktteilnehmer nicht, das tung genug Unsinn erzählt!) tun die Verbraucher nicht und das sollte auch die Politik Sie haben vor, in den nächsten zehn Jahren den Anteil bitte sein lassen. Manchmal ist die Welt einfacher, als des Ökolandbaus auf 20 Prozent zu puschen. Das ist man denkt. Gute Produkte sind gute Produkte, egal ob doch fern jeglicher Marktmechanismen, das ist Planwirt- sie biologisch oder konventionell erzeugt worden sind, schaft. egal ob sie importiert sind oder hier produziert wurden. (B) Schlechte Produkte bleiben schlechte Produkte. (D) (Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/ CSU]: So ist es!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Sagen Sie nicht, dass Sie nicht zwischen ökologisch Etwas weniger Ideologie und Feindbilder, dafür etwas wirtschaftenden und konventionell wirtschaftenden Be- mehr Verständnis und Fairness, das wünschen sich die trieben unterscheiden. Durch diese Politik werden unsere Bauern. Wenn Sie mit ihnen sprechen würden, dann einheimischen Ökolandwirte selbst in wirtschaftliche würde Ihnen das auch klar werden. Schwierigkeiten kommen, weil ein höheres Angebot un- weigerlich zu niedrigen Preisen führt. Wir müssen dankbar sein, dass der Bundesrat das so genannte Steuervergünstigungsabbaugesetz abgelehnt (Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/ hat. CSU]: Das hat es schon!) (Beifall bei der CDU/CSU – Peter H. Ökonomie durch Ökologie zu ersetzen, das ist der fal- Carstensen [Nordstrand] [CDU/CSU]: Das sche Weg und nicht gerade sehr weise. Man kann zwar war ja auch im Interesse der SPD-Kollegen! – einmal die Worte vertauschen, weil sie beide mit Öko Widerspruch bei der SPD) anfangen, aber das Nachsehen haben dann die Betriebe, weil sie bluten müssen. Fragen Sie doch einmal Ihre Kollegen, warum sie Scheinänderungsanträge eingebracht haben. Gerade vor 2,5 Millionen Euro sollen für Anzeigen in Zeitschrif- den Landtagswahlen haben sie gesagt, sie unterstützten ten ausgegeben werden, hat Staatssekretär Thalheim uns die Gartenbauern und die Bauern, was die Pauschalie- in der vergangenen Fragestunde geantwortet. Ich habe ge- rung und die Umsatzsteuer angeht. Als es so weit war, fragt, ob er uns sagen könne, ob die Nachfrage gestiegen gab es überhaupt keine Änderungsanträge mehr. sei und ob er eine Korrelation zwischen den geschalteten Anzeigen und der Nachfrage herstellen könne. Man hört Wo bleibt die Logik bei den Umsatzsteuersätzen für und staunt und PR-Fachleute schütteln mit dem Kopf: landwirtschaftliche Vorprodukte und Futtermittel? Darf Das könne man nicht nachvollziehen. Also wird hier Geld jetzt der Kampfhund zu einem Umsatzsteuersatz von einfach in die Luft geblasen. Er sagte, Image könne man 7 Prozent futtern, die arme Kuh aber zu einem Umsatz- nicht nachvollziehen. Die Bauern pfeifen auf ein grün- steuersatz von 16 Prozent? Das kann es nicht sein. In äugiges Image, das nur für eine Ministerin kreiert ist. Frankreich beträgt der Umsatzsteuersatz 5,5 Prozent. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Dr. Uwe Küster [SPD]: Was Sie erzählen, neten der FDP) geht auf keine Kuhhaut!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. März 2003 2827

Julia Klöckner (A) Wenn Sie jetzt noch sagen, Sie unterstützten die deut- (Heiterkeit beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (C) sche Landwirtschaft, dann ist das blanker Hohn. NEN und bei der SPD – Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/CSU]: Setz dich wieder (Beifall bei der CDU/CSU) hin!) Mit dem, was Sie vorhaben, können Sie keine goldene Das eine hätten Sie allerdings wissen können, näm- Kuh gewinnen. Ich glaube, für ein lahmendes Ökokälb- lich dass wir alle rot-grünen Anträge zur landwirtschaft- chen reicht es auch nicht mehr. lichen Besteuerung durchbekommen haben. Das wissen Was müssen wir tun, um die Kuh vom Eis zu bekom- Sie sicherlich auch. men? Dringend erforderlich sind Maßnahmen zur Ent- (Zurufe von der CDU/CSU: Na, na!) bürokratisierung. Wir müssen auch Wettbewerbsbehin- derungen der EU im Binnenmarkt unterbinden. Ihre andere Behauptung betrifft die Gasölverbilli- Bei einem Blick in den aktuellen WTO-Antrag der gung, die seit 1999 nicht mehr im Agrarhaushalt aufge- Koalition wird einem angst und bange. führt ist. (Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/ (Ilse Aigner [CDU/CSU]: Nein, sie war noch CSU]: Das kann ich dir sagen!) bis 2001 drin!) Wessen Regierung sind Sie eigentlich? Wen vertreten Das kann man nachlesen, wenn man sich vorbereitet. Sie? 99 Prozent des Antrags beschäftigen sich mit der Diese Steuermindereinnahme befindet sich im Etat des Entwicklungshilfe. Das ist zwar sehr edel und gut, aber Finanzministers. Das Agrarressort ist seit 1999 nicht dem nationalen und dem europäischen Markt wird nur mehr dafür zuständig. ein Satz gewidmet. Vielleicht verstehen Sie zu wenig (Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/ von Entwicklungshilfe; denn die gut funktionierende Zu- CSU]: Was soll das? – Dietrich Austermann ckermarktordnung hat sehr wohl die Entwicklungsländer [CDU/CSU]: Dafür hätte ich mich nicht ge- im Blick. Ich möchte im Übrigen keine Produkte essen, meldet!) die in Ländern hergestellt werden, in denen die Men- schen verhungern müssen. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Wollen Sie etwas erwidern, Frau Kollegin Klöckner? neten der FDP) Bitte schön. Verehrte Ministerin Künast, auch die Union tritt für gesunde Nahrungsmittel ein, die über jeden Zweifel er- (B) Julia Klöckner (CDU/CSU): (D) haben sind. Auch die Union tritt für Tier- und Natur- schutz ein. Aber die Union tritt auch für diejenigen ein, Die Gasölverbilligung war eindeutig bis 2001 im die sich der Arbeit in der Landwirtschaft widmen. Wir Agrarhaushalt aufgeführt. Wenn Ihnen das nicht bekannt wollen keine Politik gegen die Bäuerinnen und Bauern, ist, dann haben Sie sich nicht gut vorbereitet. sondern wir wollen die Politik mit ihnen und für sie ge- (Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/ stalten. Deshalb stimmen wir Ihrem Haushaltsplan auf CSU]: Das kann er nicht wissen! Er ist neu keinem Fall zu. hier!) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Ich unterhalte mich auch mit Kollegen von der SPD. neten der FDP) Vielleicht informieren Sie sich auch einmal dort.

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/ CSU]: Aber er ist genauso beratungsresistent Frau Kollegin Klöckner, ich gratuliere Ihnen im Na- wie alle anderen bei den Grünen!) men des ganzen Hauses zu Ihrer ersten Rede im Deut- schen Bundestag. Herzlichen Glückwunsch! Auch wenn ein Titel nicht im Agrarhaushalt aufgeführt ist, kann man sich darüber austauschen, wenn es in die- (Beifall) sem Zusammenhang etwas zu monieren gibt. Ich erteile dem Kollegen Friedrich Ostendorff zu ei- (Beifall bei der CDU/CSU) ner Kurzintervention das Wort. Man sollte den schwarzen Peter nicht anderen zuschie- ben. Friedrich Ostendorff (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN): (Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es bleibt eine Steuer!) Frau Kollegin, auch von mir herzlichen Glückwunsch zu Ihrer ersten Rede. – Vielleicht hören Sie zu, wenn ich Ihnen antworten soll. Es hat mir fern gelegen, Ihnen eine Frage zu stellen. Ihrer Äußerung, Sie hätten alle Änderungsanträge Vielmehr wollte ich Ihnen nur helfen, zwei wichtige Irr- durchbekommen, ist entgegenzuhalten: Wenn Sie den tümer in Ihrer Rede zu korrigieren. Sie können das noch Gartenbauern kurz vor den beiden Wahlen, die kürzlich nicht wissen; Sie sind ja neu hier. Das bin ich zwar auch, stattgefunden haben, versprechen, dass die Mehrwert- aber ich habe es schon gelernt. steuer für Blumen und Pflanzen nicht von 7 Prozent auf 2828 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. März 2003

Julia Klöckner (A) 16 Prozent erhöht wird, ist das zwar zu begrüßen, aber schaft. Ich muss leider feststellen, dass weder Sie, Frau (C) die Gartenbauern können sich schon langsam darauf vor- Aigner, noch Sie, Frau Klöckner, mit einem einzigen bereiten, ihre Betriebe zu schließen, weil die Erhöhung Wort den Verbraucherschutz und den Verbraucherhaus- 2005 doch erfolgen wird. Ob es besser ist, langsamer zu halt angesprochen haben. Sie haben lediglich über den sterben als sehr schnell, weiß ich nicht. Landwirtschaftshaushalt geredet. (Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: (Widerspruch bei der CDU/CSU) Haben Sie schon mal was von Marktwirtschaft gehört?) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: – Das ändert nicht viel. Frau Kollegin Teuchner, erlauben Sie eine Zwischen- Sie haben außerdem vielen Bauern versprochen – das frage der Kollegin Klöckner? haben wir nachgelesen; die Kopien haben uns im Aus- schuss bzw. in der Arbeitsgruppe vorgelegen –, dass der Jella Teuchner (SPD): Vorsteuerabzug für landwirtschaftliche Futtermittel nicht so umgesetzt wird wie vorgesehen. Nein danke. (Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Wir haben zu Beginn des Jahres 2001 die Kompeten- NEN]: Das stimmt nicht! – Friedrich zen für den Verbraucherschutz in einem Ministerium Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: gebündelt und haben versprochen, dass wir dort einen Das haben wir nie versprochen!) Schwerpunkt unserer Politik setzen werden. Wer sich den Haushalt 2003 genau anschaut, wird erkennen, dass – Es lag etwas Schriftliches vor; es war drin, nachher wir Wort gehalten haben. nicht mehr. Ich denke, hier steht Behauptung gegen Be- hauptung. Jeder kann sich selber sein Urteil bilden. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wir setzen also das fort, was wir schon im letzten Jahr be- gonnen haben: Trotz Haushaltskonsolidierung setzen wir Schwerpunkte und stellen die notwendigen Mittel – das Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: ist eindeutig – zur Verfügung. Mit einem Plus von Das Wort hat jetzt die Kollegin Jella Teuchner von der 18 Prozent bzw. 5,9 Millionen Euro gehört die Verbrau- SPD-Fraktion. cherpolitik dazu. Das ist notwendig. Mit dem Haushalt 2003 setzen wir das, was wir angekündigt haben, auch um. (B) Jella Teuchner (SPD): (D) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Klöckner, auch von meiner Seite herzlichen Glück- Wir finanzieren mit diesen Mitteln eine Verbraucher- wunsch zu Ihrer ersten Rede. Wenn Sie aber Ihre Rede politik, die weit mehr ist als nur eine Politik für sichere mit dem Hinweis beginnen, dass Sie die Polemik nicht Lebensmittel. Verbraucherpolitik darf weder auf den ge- fortsetzen wollten bzw. dass Sie kein Verständnis für Po- sundheitlichen Verbraucherschutz reduziert noch mit lemik hätten, dann sollten Sie sich selber daran halten Wettbewerbspolitik gleichgesetzt werden. Mit den Mit- und dürfen die Polemik nicht in diesem Maße überzie- teln für die Verbraucherpolitik stärken wir über die Zu- hen. schüsse für die „Verbraucherzentrale Bundesverband“ die Vertretung der Verbraucherinnen und Verbraucher (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ sowie die rechtliche Vertretung kollektiver Verbraucher- DIE GRÜNEN – Julia Klöckner [CDU/CSU]: interessen. Dann haben Sie nicht zugehört!) (Jürgen Koppelin [FDP]: Die Ministerin gän- Sie, die Sie als ehemalige Weinkönigin mit Sicherheit gelt!) auf Anzeigen des Weinhandels und der Winzer angewie- sen waren, dürfen eine derartige Aussage nicht machen, Wir bieten den Konsumenten außerdem über die Mit- wenn es – Sie haben eine Anzeigenkampagne angespro- tel für die Stiftung Warentest – im Gegensatz zu manch chen – um Werbemittel geht. anderen haben wir lange Gespräche mit den Verantwort- lichen dieser Stiftung geführt – und die Projektförderung (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Hilfestellung für eine bewusste Konsumentenentschei- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Peter H. dung. Carstensen [Nordstrand] [CDU/CSU]: Das ist doch primitiv!) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) So etwas wollen wir hier nicht haben. Wir wissen, dass zuverlässige Informationen eine wich- (Abg. Julia Klöckner [CDU/CSU] meldet sich tige Grundlage für eigenverantwortliche Konsumenten- zu einer Zwischenfrage) entscheidungen sind. Mit diesen Mitteln bieten wir den – Nein danke, ich lasse keine Zwischenfrage zu. Verbraucherinnen und Verbrauchern diese Informationen. Wir beraten heute über den Einzelplan 10, den Haus- Die Liste der geförderten Projekte zeigt, dass wir im halt für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirt- Haushalt wichtige Impulse setzen. Sie zeigt aber auch, Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. März 2003 2829

Jella Teuchner (A) dass die Finanzierung von Informationen nur ein Teil der (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (C) Verbraucherpolitik ist. Der Verbraucher ist ein aktiver DIE GRÜNEN) Teilnehmer am Marktgeschehen, der als Einzelner das Recht auf Schutz hat und der die Möglichkeit zur Ge- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: genwehr braucht. Stärkere Handelsverflechtungen, grenzüberschreitender Handel sowie komplexer wer- Bevor ich der Kollegin Klöckner das Wort zur einer dende Produkte und Dienstleistungen bedingen eine Ver- Kurzintervention erteile, will ich darauf hinweisen, dass braucherpolitik, die verstärkt die Grundsätze des Ver- ich wegen der fortgeschrittenen Stunde danach keine hältnisses von Verbrauchern und Anbietern regelt. Die weitere Kurzintervention zulassen werde. Politik muss Regelungen schaffen, die einen vorsorgen- (Beifall – Dr. Uwe Küster [SPD]: Ein sympa- den Verbraucherschutz und die Verantwortlichkeit der thischer Präsident!) Anbieter über den Einzelfall hinaus sicherstellen. Ich bitte um Ihr Verständnis. Wir werden uns weiterhin um den gesundheitlichen Verbraucherschutz kümmern. Wir werden die Produkt- Frau Kollegin Klöckner, bitte schön. sicherheitsrichtlinie so umsetzen, dass das Produkt- sicherheitsgesetz zu einer Auffangvorschrift für alle Julia Klöckner (CDU/CSU): sicherheitsrelevanten Aspekte von Produkten wird. Dazu gehören verbesserte Kriterien für die Sicherheitsbeurtei- Vielen Dank, Herr Präsident. – Frau Teuchner, es ehrt lung und ein besserer Zugang für die Öffentlichkeit zu Sie, dass Sie an den deutschen Wein denken. Aber es ist Produktinformationen. eigentlich schon eine Unverschämtheit, einen solchen Vergleich mit dem Deutschen Weininstitut zu ziehen. Verbraucherpolitik ist eine Querschnittsaufgabe, die Das Deutsche Weininstitut – Sie haben dieses Thema alle Ressorts betrifft. Es ist eine Aufgabe, die die Zusam- angesprochen – hat einen Plan, aus dem genau hervor- menarbeit von EU, Bund und Ländern bedingt. Ich freue geht, was es mit welcher Werbekampagne, also mit wel- mich, dass wir es geschafft haben, dieser Aufgabe ein chen Kaufanreizen, erreichen möchte. Letztlich wird es stärkeres Gewicht innerhalb der Politik zu geben. einen Bericht darüber geben, ob und wie das, was man erreichen wollte, erreicht worden ist oder nicht. Plan- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ wirtschaft hat nicht nur etwas mit dem Wort „Plan“ zu DIE GRÜNEN) tun. Sie sollten sich einmal informieren, was Planwirt- schaft wirklich bedeutet. Wir haben ein hohes Verbraucherschutzniveau er- (B) reicht, sei es beim gesundheitlichen Verbraucherschutz, Frau Teuchner, Sie haben mich vielleicht nicht rich- (D) sei es beim wirtschaftlichen Verbraucherschutz oder sei tig verstanden. Herr Thalheim antwortete auf eine Frage es bei der rechtlichen Stellung der Verbraucherinnen und in der Fragestunde: Nein, es gibt keine nachweisbaren Verbraucher. Dieses Verbraucherschutzniveau werden Korrelationen in dieser Sache; dabei geht es nur um das wir auch auf den sich wandelnden Märkten halten. Wir Image. Wenn die Bundesregierung Geld für Imagewer- greifen dabei die Initiativen der Wirtschaft und der Ver- bung ausgibt, dann dürfen wir, die Oppositionspoliti- braucherverbände gerne auf. Auch wir sehen in Selbst- ker, schon fragen, für welches Image Geld ausgegeben verpflichtungen eine Möglichkeit, Regelungen einver- wird. nehmlich zu treffen. Damit solche Selbstverpflichtungen Wirkung zeigen, müssen Regelungen für die Nichtum- (Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/ setzung getroffen werden. Auch außergerichtliche Streit- CSU]: Freiheit für das Ei!) schlichtungsverfahren, die von Verbrauchern und Unter- – „Freiheit für das Ei“ ist für die Bauern wirklich zu we- nehmen akzeptiert werden, können den Zugang zum nig. Recht erheblich erleichtern und für schnelle und unbüro- kratische Lösungen sorgen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/ Eigeninitiative ergänzt in vielen Bereichen das bishe- CSU]: Das muss ich auch sagen!) rige staatliche Handeln. Gleichzeitig entsteht insbeson- dere durch das Zusammenwachsen Europas ein breite- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: res, aber auch ein unübersichtlicheres Angebot an Dienstleistungen und Waren. Die private Altersvorsorge Frau Kollegin Teuchner hat das Wort zur Erwiderung. gewinnt dabei genauso an Bedeutung wie die verschie- densten Angebote zur Aus- und Weiterbildung. Diese Jella Teuchner (SPD): Herausforderung nehmen wir an. Wir geben den Ver- braucherinnen und Verbrauchern Informationen und vor Fakt ist doch wohl, dass Sie von dem Parlamentari- allem die Möglichkeit zur politischen Vertretung. schen Staatssekretär eine Antwort auf Ihre Frage nach der Anzeigenkampagne, die praktisch erst jetzt anläuft, (Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/ bekommen haben. CSU]: Kein Wort zur Agrarpolitik!) (Julia Klöckner [CDU/CSU]: Nein! Sie sind In den Haushalt 2003 wurden die dazu notwendigen falsch informiert! Ich habe es hier schriftlich Mittel eingestellt. vorliegen!) 2830 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. März 2003

Jella Teuchner (A) Wenn man nicht weiß, ob eine Kampagne angelaufen ist Herr Ostendorff, da brauchen Sie gar nicht böse zu gu- (C) oder nicht, dann kann man sich nicht in dem von Ihnen cken. Für uns ist unternehmerische Landwirtschaft gewünschten Sinne äußern. durchaus auch im ökologischen Bereich notwendig und richtig. Dort, wo es durch Kreativität und eigenes Ich kann mich nur daran erinnern, dass seitens der Tun des landwirtschaftlichen Betriebes eine unterneh- CMA Anzeigen geschaltet werden, denen ein festgeleg- merische ökologische Chance gibt, soll sie genutzt tes Konzept zugrunde liegt. Nachdem die entsprechen- werden. den Kampagnen gelaufen sind, kann man feststellen, welchen Effekt sie gehabt haben. (Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/ CSU]: Jawohl!) (Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/ CSU]: Was hat denn dieses Plakat am Check- Wir sollten nur nicht so tun, als ob am ökologischen We- point Charlie gebracht? Es ist geschmacklos, sen die deutsche Landwirtschaft genesen könnte; das ist am Checkpoint Charlie solch eine Anzeige zu der Fehler, der bei diesem Haushalt gemacht wird. schalten!) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Ich gehe davon aus, dass Ihnen der Staatssekretär der CDU/CSU) Thalheim nach Ablauf dieser Kampagne eine Antwort auf Ihre Frage geben kann. Ich denke, einen unmittel- Frau Eichstädt-Bohlig, ich will nicht wieder unterstel- baren Zusammenhang, wie Sie ihn andeuten, gibt es len, dass Sie das nicht wissen, aber es ist doch so: Wir nicht. diskutieren im Moment über Cross Compliance. Es gibt von der europäischen Ebene 38 Vorschläge dazu, was eingehalten werden soll. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (Matthias Weisheit [SPD]: 48!) Das Wort hat jetzt der Kollege Michael Goldmann von der FDP-Fraktion. – 38. (Beifall bei Abgeordneten der FDP) (Matthias Weisheit [SPD]: 48!) – 38! – Wissen Sie eigentlich, dass schon jetzt 35 von Hans-Michael Goldmann (FDP): diesen 38 Vorschlägen von deutschen Bauern in guter Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und fachlicher Praxis eingehalten werden, weil sie selbst die Kollegen! Wir müssen den Einzelplan 10 – Verbraucher- Verantwortung für ihr agrarisches Tun wahrnehmen, schutz, Ernährung und Landwirtschaft – unter dem Ge- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (B) sichtspunkt prüfen, ob er die Weichen für eine zukunfts- der CDU/CSU) (D) fähige Landwirtschaft richtig stellt. Frau Eichstädt- Bohlig, ich gebe Ihnen Recht: Wir müssen die Weichen da sie ganz genau wissen, dass sie im internationalen für eine zukunftsfähige Landwirtschaft stellen. Niemand Wettbewerb nur mit Qualitätsprodukten werden bestehen von uns will, wie Sie es gesagt haben, zu den Skandalen können? Tun Sie also nicht so, als ob wir den Bauern sa- zurück. Ich würde da auch sehr vorsichtig sein. Sehr gen müssten, was gut für sie ist! viele Vorgänge, die mit dem Begriff „Skandal“ belegt (Franziska Eichstädt-Bohlig [BÜNDNIS 90/ sind, waren nicht zu Zeiten der Regierung von Schwarz/ DIE GRÜNEN]: Genau!) Blau-Gelb, sondern zu Zeiten von Rot-Grün: Wir müssen die Weichen dafür stellen, dass die Bauern (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten das umsetzen können, von dem sie wissen, dass es gut der CDU/CSU) für sie ist. Nitrofen, Nitrofuran, Dioxin, Apolda, Acrylamid. Ich (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – nenne das nicht „Skandale“, aber die Ereignisse werden Franziska Eichstädt-Bohlig [BÜNDNIS 90/ von dem einen oder anderen Verbraucher als Skandal DIE GRÜNEN]: Das tun wir!) empfunden. All das ist unter Ihrer Regierung und nicht unter unserer Regierung in den Medien gewesen. Genau das passiert mit diesem Haushalt nicht. (Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Ich bin in Sorge um diesen Haushalt. Ich habe mir das Lang ist es her!) lange überlegt und mich gefragt, ob ich mit dieser Posi- tion falsch liege. Sie gaukeln den Ökobetrieben vor, dass – Das ist nicht lange her. es für sie eine Marktchance von 10, 12, 15, 20 Prozent Liebe Frau Eichstädt-Bohlig, lassen Sie uns die Dis- gibt. Diese Marktchance gibt es schlicht und ergreifend kussion nicht so platt und so falsch führen nach dem nicht, weil der Qualitäts- und Sicherheitsunterschied Motto: Die blöken und stellen Anträge, die uns um Jahr- zwischen dem konventionellen Produkt und dem ökolo- zehnte zurückwerfen. – Lesen Sie sich die Anträge gischen Produkt nicht so ist, wie es Ihrer Ideologiewelt schlicht und ergreifend einmal durch! Wenn Sie das tun, entspricht. werden Sie zu dem Ergebnis kommen, dass unsere An- (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der träge darauf abzielen, unternehmerische Landwirtschaft CDU/CSU – Peter H. Carstensen [Nordstrand] im Markt zu halten. [CDU/CSU]: Woher sollen sie das auch wis- (Beifall bei der FDP) sen?) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. März 2003 2831

Hans-Michael Goldmann (A) Wir haben es doch vor kurzem bei der Präsentation ei- (Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE (C) ner ernst zu nehmenden Untersuchung der Lohmann- GRÜNEN]: Der Markt spricht eine andere Stiftung erlebt. Herr Ostendorff war dabei. Ich habe es Sprache!) als normal und richtig empfunden, dass Sie davon be- troffen waren. Der Vergleich von Intensiv- und Freiland- – Herr Ostendorff, der Agrarbericht hat es dargelegt. Die haltung, der Vergleich zwischen Intensiv-, Freiland- und Einbußen bei den konventionellen Landwirten waren er- ökologischer Haltung war vernichtend für die ökologi- heblich, bei den ökologisch orientierten Landwirten wa- sche Haltung. ren sie dramatisch. (Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten GRÜNEN]: Das stimmt doch überhaupt der CDU/CSU – Friedrich Ostendorff [BÜND- nicht!) NIS 90/DIE GRÜNEN]: So ein Quatsch! Das ist doch keine Märchenstunde hier! Wir sind in Nehmen Sie doch einfach mal zur Kenntnis, dass Sie der Haushaltsdebatte!) dort auf dem falschen Weg sind. – Herr Kollege Ostendorff, Sie können sich gern zu einer (Beifall bei der FDP) Zwischenfrage melden. Ich antworte Ihnen dann auch. Herr Professor Ellendorf hat eine wissenschaftliche Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Untersuchung vorgestellt. Herr Kollege Goldmann, kommen Sie bitte zum Schluss. (Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ach du liebe Zeit! Das war doch Pseudowissenschaft, was dort stattfand! Wir Hans-Michael Goldmann (FDP): sind hier im Bundestag und besprechen den Ich komme zum Schluss. Agrarhaushalt!) Ich fordere Frau Künast sehr nachdrücklich auf: Le- – Sie könnten einen Ökobeitrag leisten, indem Sie nicht gen Sie Ihre ideologischen Scheuklappen ab. Ich sage so furchtbar herumbrüllen. das auch im Hinblick auf die Geflügelpest. Frau Künast, (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten fordern Sie Ihre Kollegin Höhn in Nordrhein-Westfalen der CDU/CSU) mit Nachdruck auf, einzustallen. Es ist eine Katastrophe, dass in Niedersachsen eingestallt werden muss und drei Ich finde es unangenehm, wie Sie hier durch Lautstärke Kilometer südlich in Nordrhein-Westfalen nicht. Das (B) und Aggressivität ein Thema an sich reißen, bei dem Sie versteht kein Mensch. Das ist unfachlich. Das ist in mei- (D) schlichtweg falsch liegen. nen Augen – das sage ich Ihnen ganz ehrlich – ein Ver- brechen an der Geflügelwirtschaft und an den Tieren; (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Es waren Kollegen von Ihnen da, die diese wissen- schaftliche Untersuchung im Grunde genommen bestä- denn die kommen dabei zu Tode und sind die Leidtra- tigt haben. genden einer ideologischen Politik, die meiner Meinung nach keinerlei Rechtfertigung hat. (Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wer hat das denn bestätigt?) Herzlichen Dank. Sie wissen genauso wie ich – ich kenne mich in der Ge- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) flügelwirtschaft aus –, dass dort, wo Geflügel frei läuft, besondere ökologische Belastungen für den Boden ent- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: stehen. Das Wort hat jetzt der Kollege Matthias Weisheit von (Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE der SPD-Fraktion. GRÜNEN]: Das ist alles völliger Quatsch, was (Dr. Uwe Küster [SPD]: Jetzt zeig es ihm aber! Sie erzählen!) Vornehm bleiben, aber deutlich!) Reden Sie also nicht so an der Sache vorbei! Matthias Weisheit (SPD): (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie mich noch einen Punkt ansprechen. Frau Herr Goldmann, ich finde es immer wieder wunder- Künast, Sie betreiben mit dieser grundökologischen schön, wenn auf der einen Seite der unternehmerische, Orientierung meiner Meinung nach eine Politik, die in selbstständige und wissenschaftlich gut ausgebildete die Sackgasse führt, die die ökologisch orientierten Be- Landwirt in den Himmel gehoben wird und man ihm auf triebe an die Wand fährt. Die Menschen, die in dieser der anderen Seite vorschreibt, er solle seine Hühner ein- Glaubenshaltung – so muss ich fast sagen – wirtschaften, stallen. beuten sich selbst aus. Sie haben mit ihrer Produktorien- tierung im Regelfall keine Marktchancen. (Widerspruch bei der FDP) 2832 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. März 2003

Matthias Weisheit (A) – Das ist so! Man braucht das den Leuten nicht vorzu- (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Peter H. (C) schreiben, sondern sie machen das von allein. Carstensen [Nordstrand] [CDU/CSU]: Er kann sich hier nicht wehren!) (Beifall bei der SPD -– Hans-Michael Goldmann [FDP]: Das ist doch dummes Zeug, Ich halte Folgendes für frivol: Seit den BSE-Fällen was Sie hier sagen! – Abg. Peter H. Carstensen ist die Öffentlichkeit wirklich aufmerksam, was Lebens- [Nordstrand] [CDU/CSU] meldet sich zu einer mittel und Verstöße gegen die Lebensmittelsicherheit an- Zwischenfrage) geht. Vorher war diese Aufmerksamkeit nicht allzu groß, obwohl sie auch damals schon vorhanden war. Aber in – Ich lasse keine Zwischenfrage zu, denn ich habe über- den letzten Jahren sind eine ganze Reihe von Dingen haupt keine Lust, die Debatte heute Abend zu verlän- aufgekommen und ruck, zuck aufgeklärt worden. gern. (Helmut Heiderich [CDU/CSU]: Wo denn?) Ich möchte auf einen zweiten Punkt eingehen, Herr Goldmann. – Ja, das sind sie. Sie haben zwar in Fragestunden und durch endlose Debatten im Ausschuss versucht, das zu (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Ein biss- verdrehen, und behauptet, dass die Bundesregierung chen mehr Fachkenntnis!) schuld sei, dass das nicht funktioniert. Aber was Sie in – Ihre Fachkenntnis bezieht sich natürlich auf das, was dem Zusammenhang probiert haben, war immer erfolg- von Professor Ellendorf und von der Lohmann-Stiftung los. Die Arbeit auf Bundesebene funktioniert hervorra- erzählt wird. gend. Es wäre auch ganz schön gewesen, wenn einmal ein lobendes Wort (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Sie waren doch gar nicht da!) (Ursula Heinen [CDU/CSU]: Welches?) – Da gehe ich auch nicht mehr hin. über das Institut für Risikoabschätzung und über das Bundesamt für Verbraucherschutz gekommen wäre. (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Sie haben sich doch entschuldigt, weil Sie nicht konn- (Ursula Heinen [CDU/CSU]: Warum?) ten!) Sie arbeiten nämlich hervorragend. – Nein, ich habe mich gar nicht erst angemeldet, weil ich (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – nicht mehr zu Lobbyveranstaltungen gehe, wo die In- Franziska Eichstädt-Bohlig [BÜNDNIS 90/ teressen von vornherein klar sind. DIE GRÜNEN]: Dann machen wir es jetzt!) (B) (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- Das wäre besser gewesen als die einseitige Polemik. (D) SES 90/DIE GRÜNEN) Eigentlich wollte ich Sie heute loben. Der Name Ellendorf spricht für sich. Das wissen wir doch. Da gibt es eine Geschichte im Zusammenhang mit (Ursula Heinen [CDU/CSU]: Das glaubt kei- Hühnerhaltung in Celle, die ein paar Jahre zurückliegt. ner!) Über den Mann brauchen wir hier nicht zu reden. Nachdem ich mir die Anträge angesehen habe, habe ich (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Herr festgestellt: Da werden wenigstens keine Luftnummern Thalheim war da! – Gegenruf des Abg. gebaut. Ich meine, die Gesamtdiskussion über den Haus- Dr. Gerald Thalheim [SPD]: Wegen des Es- halt war ja schon eine kabarettreife Leistung. Auf der ei- sens! – Das war gut!) nen Seite wird geklagt, dass der Haushalt von den Ein- nahmen her sowieso nicht stimme. Auf der anderen Seite satteln Sie in jedem Ressort Milliarden drauf, Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (Julia Klöckner [CDU/CSU]: Das ist doch Liebe Kolleginnen und Kollegen, Herr Weisheit hat Quatsch!) das Wort. ohne dass irgendwo ein Ausgleich dafür da ist. Matthias Weisheit (SPD): (Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/ CSU]: Natürlich!) Dann kommt die nächste Geschichte, Herr Goldmann. Ich finde es ganz schön frivol, was Sie hier machen. – Nein, nein, das war sehr kabarettreif, was heute und gestern geboten wurde. (Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/ CSU]: Nein! Frivol ist, so über Ellendorf zu (Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/CSU]: reden, Matthias! Ich finde das unerhört! Weil Ich denke, du hast als Lehrer einmal Mathema- euch das Ergebnis nicht passt, wird der Mann tik unterrichtet!) heruntergeredet!) Ich habe gesagt: Ich wollte Sie loben, dass Sie das mit – Peter Harry, ich kann meine private Meinung in dem Ihren Anträgen im Bereich des Einzelplanes 10 nicht ge- Zusammenhang durchaus äußern und sagen, dass der macht haben. Auf der anderen Seite ist es mit dem Lob Name für sich spricht und dass ich zu Veranstaltungen schon vorbei. Denn wie Sie einsammeln – das ist klar –, mit ihm nicht gehe. Dann ist der Fall erledigt. das ist die alte – ich sage es ganz deutlich – ideologische Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. März 2003 2833

Matthias Weisheit (A) Linie gegen alles, was Öko heißt und in eine neue Rich- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (C) tung geht. Das Wort hat jetzt die Kollegin Ursula Heinen von der (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten CDU/CSU-Fraktion. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/CSU]: (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Falsch! – Hans-Michael Goldmann [FDP]: Sie neten der FDP) können mit Öko keinen Strukturwandel gestal- ten!) Ursula Heinen (CDU/CSU): Mit der Linie werden Sie keinen Erfolg haben. Diese Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Koalition und die Ministerin werden dagegen Erfolg ha- Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vorweg ein Wort zu ben. Ihnen, Frau Teuchner: Ich fand es schon ein ganz schön starkes Stück, was Sie vorhin zu meiner Kollegin Julia Jetzt komme ich zu etwas, von dem Sie überhaupt Klöckner gesagt haben, als Sie kritisiert haben, wie wir nicht denken, dass mir das heute Abend noch einfallen bei uns die Reden inhaltlich aufteilen, zumal meine Kol- würde. legin Ilse Aigner von vornherein gesagt hat, worüber wir (Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/CSU]: heute sprechen werden. Ich denke, es ist schon eine Ent- Ihr seid inzwischen dichter an den 18 Prozent schuldigung dafür fällig, dass Sie so mit uns umgehen. als die FDP!) Ich finde, das entspricht nicht dem Stil des Hohen Hau- ses. – Ach Peter Harry, hör doch auf mit dem blöden Ge- schwätz. Das ist wirklich nicht mehr zu ertragen. (Beifall bei der CDU/CSU) (Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/CSU]: Das Zweite. Herr Weisheit, es leuchtet doch ein Du kannst doch jetzt nicht vom Erfolg der Koa- – selbst dann, wenn man kein Agrarexperte oder Tier- lition reden!) experte ist –, dass die Übertragungsrate bei der Geflü- gelpest bei frei laufenden Hühnern wesentlich größer ist – Doch, natürlich ist sie erfolgreich, auch in der Land- als dann, wenn die Tiere eingestallt sind. Ich denke, das wirtschaftspolitik. Ich will jetzt die Ministerin loben. ist eine Logik, die man nachvollziehen kann. Ansonsten (Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/CSU]: hätte das Land Niedersachsen nicht so gehandelt, wie Die Bauern haben 40 Prozent weniger Gewinn!) Herr Goldmann es uns eben gesagt hat. – Ja, ja, jetzt lass mich doch einmal ausreden. Das macht (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – (B) keinen Sinn. Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (D) NEN]: Treten Sie den Beweis an!) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Ich wollte eigentlich vor allem über Verbraucher- Also liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist kein Re- schutzpolitik sprechen. Wir haben am vergangenen deduell, sondern das Wort hat der Kollege Weisheit. Samstag das 20-jährige Jubiläum des Weltverbraucher- tags begangen. Dabei ist deutlich geworden, dass Ver- braucherpolitik in den letzten 20 Jahren stetig an Bedeu- Matthias Weisheit (SPD): tung gewonnen hat. National und international ist die Wir hatten vor über einem Jahr auch auf Druck der Verbraucherpolitik immer mehr zu einer Kernaufgabe Opposition permanent und ständig Ärger. Es hieß, diese des Staates geworden. Dies ist eine Meinung – ich bin Bundesregierung verhindere Pflanzenschutz, sie mache heute gar nicht so sehr auf eine Auseinandersetzung mit die Obstbauern kaputt und so fort. In der Zwischenzeit Ihnen aus –, die von Ihnen geteilt wird. Schließlich ist hat diese Ministerin gemeinsam mit den Naturschutzver- das Ministerium im Jahre 2001 entsprechend aufgewer- bänden, gemeinsam mit den Obstbauern, gemeinsam mit tet worden und hat eine zusätzliche Bedeutung bekom- dem UBA, gemeinsam mit dem neuen Amt – die frühere men. BBA – eine Regelung erarbeitet, die den Einsatz von Aber – das ist das Traurige –: Worte und Taten stim- Plantomycin erlaubt, wenn es unbedingt notwendig ist, men hier leider nicht mehr überein. Den Worten der und mit der Lücken im Pflanzenschutz geschlossen wur- Bundesregierung und der Ministerin folgen leider keine den. Das ist eine hervorragende und gute Arbeit, die hier Taten. Heute, also zwei Jahre, nachdem das Verbraucher- geleistet worden ist. Das nützt den Bauern sehr viel schutzministerium geschaffen wurde, haben wir es nur mehr; das erkennen sie übrigens auch an. noch mit einer reinen Ankündigungspolitik der Ministe- Bei den Abstandsregelungen sind ähnliche Dinge rin zu tun. Deutliche Impulse und auch ein schlüssiges auf dem Weg. Diese nützen sehr viel mehr als die stän- Konzept müssen wir heute vermissen. dige einseitige Polemik gegen die Ministerin, gegen die (Beifall bei der CDU/CSU) Regierung, gegen die rot-grüne Koalition und alles, was man neu machen will. Lassen Sie mich ein paar Beispiele nennen. Da ist ein- mal die auch von Herrn Weisheit vorhin angesprochene Herzlichen Dank. Reorganisation der Behörden. Dass wir dieser Neuord- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ nung sehr skeptisch gegenübergestanden haben, haben DIE GRÜNEN) wir hier im Hause und auch im Ausschuss hinlänglich 2834 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. März 2003

Ursula Heinen (A) diskutiert. Wir haben die Trennung, die vorgenommen kenntnisse ergibt? Wo kommen wir da eigentlich hin! (C) worden ist, abgelehnt. Zudem kommt es gerade im Be- Wir sind gespannt auf Ihre Antwort. reich des Risikomanagements entscheidend auf die Fä- higkeit zur schnellen Reaktion an. Das zeigen auch die (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- negativen Erfahrungen mit der Eistorte, die wir vor we- neten der FDP) nigen Wochen gemacht haben. Das Stichwort Sachverständige hat meine Kollegin Aigner schon netterweise angesprochen. Ich will nur noch Die Trennung hat eben nicht zu einer Vereinfachung einen Punkt hinzufügen. Wie kann man den Etatposten für der Kommunikationswege und der Entscheidungspro- Sachverständige um 650 000 Euro erhöhen – ursprüng- zesse geführt, sondern sie hat nur ein neues, ein ganz lich betrug die Erhöhung 751 000 Euro, von denen Sie schwerfälliges System geschaffen, mit dem im Krisen- 100 000 Euro wieder zurückgenommen haben –, wenn fall nicht effizient reagiert werden kann. Die Zweiteilung sich unter Ihrer Obhut zehn Bundesforschungsanstalten, führte im Fall der Eistorte zu einem heillosen Durchei- eine Zentralstelle für Agrardokumentation, das Bundes- nander, bei dem die eine Hand nicht wusste, was die an- amt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit, dere Hand machte. Das Ergebnis waren ein erheblicher das Bundesinstitut für Risikobewertung und schließlich Imageschaden und Umsatzeinbußen für das betroffene die Wissenschaftlichen Beiräte zur Agrarpolitik – da läuft Unternehmen. zurzeit die Neuberufung – und zur Verbraucher- und Er- (Beifall bei der CDU/CSU) nährungspolitik befinden? Darüber hinaus gibt es die Le- bensmittelbuch-Kommission und die Tierschutz-Kom- Ich will in Erinnerung rufen: An ein und demselben mission. Da fragen wir uns natürlich schon: Wozu Tag hat das Land A Entwarnung, das Land B eine zu- brauchen Sie 650 000 Euro mehr für Sachverständige? rückhaltende Bewertung gegeben und das Land C hat gar eine Gesundheitsgefährdung nicht ausgeschlossen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wir müssen uns als mündige Verbraucher fragen: Was Um zur Stiftung Warentest zurückzukommen: In die- soll das eigentlich? Als Abgeordnete müssen wir sagen: sem Jahr erhält die Stiftung Warentest 6,5 Millionen Hier gibt es einen klaren Bedarf an Koordinierung zwi- Euro. Das ist in der Tat mehr, als sie im Vorjahr zur Ver- schen den Ländern. Das ist eine Aufgabe, die doch fügung hatte. Deshalb stimmen wir Ihrer Tendenz zu: Es eigentlich das Bundesamt für Verbraucherschutz und ist löblich, dass Sie die Stiftung Warentest etwas besser Lebensmittelsicherheit, jedenfalls nach dem Neuorgani- ausstatten. sationsgesetz, wahrnehmen sollte. Leider sind Sie aber immer noch nicht auf unsere An- (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. regung eingegangen, die Stiftung Warentest tatsächlich (B) Hans-Michael Goldmann [FDP]) in die Selbstständigkeit zu entlassen. Herr Bahr irrt näm- (D) Sie, Frau Künast, haben in einem Interview – ich lich, wenn er sagt, dass die Stiftung Warentest angesichts glaube, in der vergangenen Woche – selbst gesagt, dass der 6,5 Millionen Euro, die sie nach wie vor aus dem dieses Amt über die „Defizite des Föderalismus hinweg- Haushalt benötigt – dabei ist sie davon abhängig, wie die hilft“. Doch bei dem einzigen Fall, bei dem das tatsäch- Haushälter konkret damit umgehen –, vollständig unab- lich in jüngster Zeit verlangt worden wäre, muss man sa- hängig von der Politik ist. gen: Fehlanzeige. Die Regierung hat das Problem aber Wir haben einen Sockelbetrag vorgeschlagen, damit selber erkannt; denn anderenfalls wäre es nicht zu erklä- die Stiftung Warentest in Zukunft weiter vernünftig arbei- ren, warum Sie bereits im September letzten Jahres ein ten kann. Der sollte – Herr Weisheit, von wegen Gegen- Consultingunternehmen beauftragt haben, vorschläge, die ausgeblieben sein sollen! – über den Titel (Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/CSU]: „Aufklärung der Verbraucher“ finanziert werden. Sie ha- Das muss man sich einmal vorstellen!) ben das abgelehnt, auch wenn Sie selbst im Ausschuss eine entsprechende Notwendigkeit gesehen haben. Ich eine exakte Aufgabenabgrenzung zwischen dem Bun- denke, heute Abend werden CDU und CSU die Anträge desinstitut für Risikobewertung auf der einen Seite und der FDP unterstützen, die sich damit befassen, die Stif- dem Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebens- tung Warentest in die Unabhängigkeit zu entlassen. mittelsicherheit auf der anderen Seite zu eruieren. (Beifall bei der CDU/CSU) In den Erläuterungen zu dem entsprechenden Haus- Ein anderer Bereich, in dem falsch gespart wird, sind haltstitel heißt es dieses Jahr: die Verbraucherzentralen. Sie machen einen hervorra- Bis zu diesem Zeitpunkt genden Job. Aber sie haben zurzeit erhebliche finanzielle Probleme. In einigen Bundesländern bzw. in einigen Re- – sprich: bis das Gutachten vorliegt – gionen drohen Schließungen. Das dürften Sie eigentlich nicht zulassen, wenn Sie es mit der Stellung des Ver- ist die Verlagerung von Stellen und Mitteln auf die braucherschutzes tatsächlich ernst meinen. neuen Einrichtungen … als vorläufig zu betrachten. Deshalb verlangen wir von Ihnen, dass Sie die Ver- So steht es im Haushaltsplan. Da frage ich mich: Heißt braucherzentralen besser ausstatten. das, dass die Stellenverlagerung zwischen den beiden In- stituten im Rahmen der Neuorganisation wieder zurück- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und genommen werden kann, wenn das Gutachten andere Er- der FDP) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. März 2003 2835

Ursula Heinen (A) Denn, Frau Künast, sind die Informationskampagne zur davon auch einiges. Es gibt eine ganze Menge Themen, (C) Legehennenverordnung, für die 500 000 Euro vorgese- die zurzeit wirklich auf der Straße liegen und die eine hen sind, und die Informationskampagne zur Bekannt- starke Verbraucherschutzministerin benötigen. Das sind machung des neuen Biosiegels, für die 6,5 Millionen zum Beispiel Fragen zum Thema Dialer, zur UWG-No- Euro vorgesehen sind, tatsächlich so viel wichtiger als velle, zur Verbraucherkreditrichtlinie, zur Kennzeich- die Ausstattung der Verbraucherzentralen? nung von Lebensmitteln usw. usw. Ein anderes Thema ist die , die Sie selber im letzten Winter in (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Richtig!) die Öffentlichkeit gerückt haben. Oder wird es bei den Verbraucherzentralen so zugehen, Wir fordern Sie auf, dieses Initiativrecht wirklich zu wie Sie es auch in anderen Politikbereichen machen, nutzen und ein vernünftiges Verbraucherkonzept vorzu- nämlich dass Sie den Kommunen eine Mitfinanzierung legen. Wenn Sie das tun, können wir eine vernünftige aufs Auge drücken? Politik machen. Dazu ein Beispiel: In der Stadt Köln gibt es seit Mitte Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. der 90-er Jahre die Verabredung, dass die Stadt mitfinan- ziert. Es sind mittlerweile fast 50 Prozent geworden, die (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) wir der ansässigen Verbraucherzentrale geben müssen: 200 000 Euro pro Jahr. Das ist für die Kommunen heut- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: zutage ein ordentlicher Betrag. Deshalb erwarten wir von Ihnen, dass Sie das ändern. Das Wort hat jetzt die Kollegin Waltraud Wolff von der SPD-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP) Waltraud Wolff (Wolmirstedt) (SPD): Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass mit dieser Bundesregierung Verbraucherpolitik in diesem Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Land nur noch unter dem Aspekt der Öffentlichkeitswir- Kollegen! Frau Klöckner, auf Ihre Rede würde ich gern kung vollzogen wird. Anders ist die Diskussion, die Sie ganz kurz zu sprechen kommen. Ich habe mich wirklich pünktlich zur Grünen Woche zum Thema Preisdumping gefreut, als Sie hier sagten, Sie wollten keine Polemik, ins Leben gerufen haben, nicht zu erklären. Der Bundes- Sie hätten die Polemik im Ausschuss als sehr negativ kanzler hat sie zum Glück kassiert. Aber diese Diskus- empfunden. Mir geht es in diesem Ausschuss seit 1998 sion taucht immer wieder bei Ihnen auf. so und ich habe mich gefreut, dass es jemanden gibt, der das genauso erlebt. (B) Wir sagen dazu: Jeder soll selbst entscheiden, ob er (D) beim Discounter oder beim Einzelhändler einkauft. Sie (Julia Klöckner [CDU/CSU]: Ich empfinde es dürfen nicht vergessen, dass die Menschen heutzutage jetzt aber auch so!) dank Ihrer Politik verdammt wenig Geld in der Tasche Aber ich bin nun tief enttäuscht; haben, um sich teure Nahrungsmittel leisten zu können. (Zurufe von der CDU/CSU: Oh!) (Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/CSU]: Die klauen es den Leuten erst aus der Tüte und denn alle Reden der Opposition – das muss man auch dann dürfen sie keine Sonderangebote kaufen!) einmal festhalten – haben vor Polemik gestrotzt. Dann zu sagen: „Wir machen eine Initiative gegen das (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Preisdumping“, ist wirklich eine Verkennung der tat- DIE GRÜNEN – Manfred Grund [CDU/ sächlichen Lebensverhältnisse in Deutschland. Mit dem CSU]: Zum Schluss gibt es Zensuren!) Gehalt eines Abgeordneten bzw. einer Ministerin kann Meine Damen und Herren, 2003 ist kein einfaches man das alles locker bezahlen. Jahr, auch global gesehen. Deutschland hat wirklich (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Ja?) große wirtschaftliche Aufgaben zu meistern und wir ha- ben niemals einen Hehl daraus gemacht, dass es ein stei- – Herr Goldmann vielleicht nicht, aber alle anderen. niger Weg wird, 1,5 Billionen Staatsschulden abzu- (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Ich habe zu bauen. viele Kinder!) Der Weltwirtschaft machen die Auswirkungen des Schauen Sie sich aber einmal an, was die Menschen 11. September 2001 noch immer zu schaffen. Der Zu- in diesem Lande wirklich verdienen. sammenbruch der New Economy und die Skandale an der Börse haben ihre Wirkung immer noch nicht verlo- (Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/CSU]: ren. Warum bringe ich das an dieser Stelle an? Ganz ein- Wenn die Ministerin das kriegen würde, was sie fach, weil man die Lage des Bundeshaushaltes eben nicht wirklich verdient, dann würde auch sie auf Son- isoliert betrachten kann, weil Deutschland eben nicht die derangebote angewiesen sein!) Insel der Glückseligen ist und weil wir morgen mit gro- ßer Verantwortung den Haushalt 2003 beschließen wer- Seit Beginn dieser Legislaturperiode besteht ein Ini- den: selbstbewusst, reformorientiert und sparsam. tiativrecht für Fragen des wirtschaftlichen und recht- lichen Verbraucherschutzes. So weit, so gut! Das be- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ grüßen und das unterstützen wir. Aber wir erwarten uns DIE GRÜNEN) 2836 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. März 2003

Waltraud Wolff (Wolmirstedt) (A) Wir können und wollen nicht Geld verteilen, das nicht hin, Kürzungen und Einsparungen vorzunehmen. Das (C) da ist. Meine Damen und Herren der Opposition, das war gilt auch für unseren Einzelplan. Ihre Gangart, unsere ist das nicht. Gerade in Bezug auf unseren Haushaltstitel ist es wichtig, sich auf das We- Uns war es wichtig, neben der Stabilisierung der sozi- sentliche zu konzentrieren und da zu investieren, wo die alen Sicherungssysteme auch Spielräume für die aktive Mittel zukunftsorientiert, verbraucherschutzorientiert, Gestaltung der Agrar- und Verbraucherpolitik zu eröff- umweltschutzgerecht und dem Tierschutz entsprechend nen. Jeder hier im Hause weiß, dass die agrarsoziale Si- eingesetzt werden. Kurz gesagt: Der Einzelplan 10 ist cherung 71 Prozent des Haushalts ausmacht. Von daher Ausdruck einer nachhaltigen Agrarpolitik. sind die Optionen ziemlich begrenzt. Dennoch ist es uns gelungen, hier zukunftsorientierte Schwerpunkte zu set- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ zen, die finanziell solide untersetzt sind. DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Nachhaltigkeit bedeutet auch Prävention. Ein Bei- DIE GRÜNEN) spiel ist die Hochwasserkatastrophe an der Elbe. Alle Wir haben Raum für die Förderung von tiergerechten drei Landkreise meines Wahlkreises waren betroffen. Ich Haltungssystemen, für die weitere Ausweitung des An- nenne nur das Wörlitzer Gartenreich und das Dörfchen baus von nachwachsenden Rohstoffen und für den öko- Gübs, das heute auch bundesweit bekannt ist. Die hoch- logischen Landbau geschaffen. wassergeschädigten Landwirte in ganz Deutschland er- hielten durch die Sofortmaßnahmen schnelle Hilfe. Pro- Die Opposition bemängelt die Höhe der Ausgaben für bleme gab es nur, weil sich die Länderregierungen mit die tiergerechten Haltungssysteme; das ist hier auch in der Auszahlung so schwer getan haben. Mit dem Son- mehreren Beiträgen zum Ausdruck gebracht worden. derprogramm Hochwasser stellte das Bundesministe- rium für Verbraucherschutz 30 Millionen Euro unter an- (Ilse Aigner [CDU/CSU]: Nur, wo gefördert derem zur Deichsicherung und Deichsanierung zur wird!) Verfügung. Wir wollen die Einführung dieser Systeme unterstützen. Das Argument, im letzten Jahr sei aus diesem Titel recht (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Selbstlos!) wenig abgeflossen, ist vordergründig richtig. In diesem Jahr ist im Bundeshaushalt ein Betrag von (Ilse Aigner [CDU/CSU]: Es ist richtig, nicht 320 Millionen Euro für den Hochwasserschutz einge- nur vordergründig!) stellt. Diese Präventivmaßnahmen sind für die Landwirt- schaft von großer Bedeutung. – Es wäre schön, wenn die – Ja, natürlich, vordergründig ist es richtig; das kann (B) Opposition auch einmal zuhören würde. – man auch so diskutieren. Aber ich bin der festen Über- (D) zeugung, dass man neuen Programmen auch eine (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Chance geben muss, sich entwickeln zu können. DIE GRÜNEN – Peter H. Carstensen [Nord- strand] [CDU/CSU]: Frau Lehrerin, geben Sie (Ilse Aigner [CDU/CSU]: Das ist seit Juni um- uns mal ein paar Zensuren!) gesetzt!) Die hochwassergebeutelte Landwirtschaft wurde bei- Man darf sich bei Neuerungen nicht sofort ins Bocks- spielsweise durch die erhöhte Flächenstilllegungsprä- horn jagen lassen, wenn die erhofften positiven Auswir- mie und auch durch Ausgleichszahlungen von bis zu kungen nicht augenblicklich eintreten; dann würde ei- 50 000 Euro pro Betrieb umgehend direkt unterstützt. gentlich alles stagnieren. An dieser Stelle muss man auch ein bisschen Weitsicht zeigen. Ich will auch daran erinnern, dass Solidarität heute in Deutschland noch immer in beeindruckender Weise (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ praktiziert wird. DIE GRÜNEN) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Meine Damen und Herren, da es, wie gesagt, um 71 Prozent des Haushalts geht, sage ich noch etwas zur Aus vielen Gesprächen weiß ich, dass die Menschen in Sozialpolitik. Uns kommt es darauf an, dass die landwirt- unserem Land sehr gut verstanden haben, dass wir die schaftliche Sozialversicherung nur in einem vertretbaren nächste Stufe der Steuerreform um ein Jahr verschoben Maß von den Kürzungen in Mitleidenschaft gezogen haben. Ich komme aus Sachsen-Anhalt, das ist nicht ge- wird. Deshalb haben wir uns auf die Glättung der Bundes- rade das reichste Land. ausgaben für die Unfallversicherung auf 250 000 Euro (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ verständigt. Diese Zuschüsse werden damit für die DIE GRÜNEN) nächste Zukunft stabilisiert. Daneben wird für den Be- reich der landwirtschaftlichen Sozialversicherung in die- Unsere Pflicht gegenüber den Bürgerinnen und Bür- sem Jahr – das ist auch schon angesprochen worden – gern ist es, in extremen Situationen schnell zu helfen. eine globale Minderausgabe von 20 Millionen Euro aus- Gegenüber den Steuerzahlern haben wir aber auch die gebracht. Dies war keine Entscheidung vom grünen Pflicht, einen von Verantwortungsbewusstsein geprägten Tisch, sondern das haben wir mit dem Bundesverband Haushalt vorzulegen. Es gilt also, die Haushaltskonsoli- der Berufsgenossenschaften besprochen. Hier ist Einver- dierung weiter voranzubringen. Das heißt doch auf gut nehmen hergestellt worden, was sich gestern auch auf Deutsch, wie wir alle wissen: Wir kommen gar nicht um- dem parlamentarischen Abend gezeigt hat. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. März 2003 2837

Waltraud Wolff (Wolmirstedt) (A) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich komme zum Jetzt fordern Sie das Gegenteil. Sie emotionalisieren und (C) Schluss: Die Welt wächst immer mehr zusammen. Die sagen, wo man überall kein Geld kürzen dürfe, sondern Regierungskoalition meint es mit ihrem Bekenntnis zur mehr Geld ausgeben müsse. Erweiterung der EU ernst. Wir meinen es auch mit un- (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Wer hat Ih- seren Ankündigungen zu einer fairen Ausgestaltung der nen denn das aufgeschrieben?) nächsten WTO-Runde ernst. Dann allerdings werden wir nicht umhinkommen, die Zuweisungen zu den Markt- Man muss feststellen – das muss ich Ihnen ehrlich sa- ordnungen weiter abzusenken. Daher bin ich der Auffas- gen –, dass hier einiges gesagt wurde, was von mangeln- sung, dass die Bundesregierung den eingeschlagenen der Sachkenntnis zeugt. Frau Heinen hat vorhin kriti- Weg weitergehen muss, der durch Entkoppelung, die siert, dass einige Kooperationen und Koordinationen Stärkung der verbraucherorientierten Maßnahmen und durch das Bundesamt nicht stattgefunden haben. Sie kam eine umwelt- und tiergerechte Landwirtschaft gekenn- auf das schöne Beispiel der Torten zu sprechen. Ich zeichnet ist. Die Schwerpunkte in diesem Haushalt sind nehme ja gerne einiges auf meine Schultern; die sind richtig gesetzt. Deshalb können wir uns darauf freuen, tragfähig. Sie sollten aber zumindest das ABC der Bund- morgen diesen Haushalt zu beschließen. Länder-Zuständigkeiten kennen. Wenn Sie möchten, dass wir die Länderzuständigkeiten aufheben, dann müs- Schönen Dank. sen Sie das auch im Rahmen der Föderalismusreform (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ unterstützen. DIE GRÜNEN) (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist überhaupt nicht das Thema!) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Dann kann kein Bundesland – egal ob es von Rot-Grün Die Bundesministerin Renate Künast hat jetzt aus- oder der CDU geführt wird – mehr sagen, es sei zustän- nahmsweise als letzte Rednerin das Wort. Normaler- dig. Dann kann nicht jeder Landesvertreter zum Thema weise sollen die Mitglieder der Bundesregierung nicht Torte jede Woche eine andere Aussage machen. als letzte Redner das Wort haben. Aber es hat keinen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Einwand dagegen gegeben. und bei der SPD – Abg. Ursula Heinen [CDU/ (Beifall bei der SPD) CSU] meldet sich zu einer Zwischenfrage) – Frau Heinen, ich weiß, dass Sie einen Satz, den ich ge- Renate Künast, Bundesministerin für Verbraucher- schrieben habe, ansprechen wollen. Ich sage Ihnen: Es stimmt, wir wollen mehr koordinieren. Wir wollen die (B) schutz, Ernährung und Landwirtschaft: (D) Problemfälle und Auswüchse des Föderalismus mithilfe Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es war des Bundesamtes aufheben. Das haben wir an vielen nicht mein spezieller Wunsch; ich hatte das Gefühl, mich Punkten – Stichworte: Acrylamid und Nitrofen – längst nur den Wünschen anderer gefügt zu haben. getan. Ich habe aber nicht geschrieben, dass ich die föde- (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Es wäre rale Zuständigkeit aufheben möchte. Wenn Sie mich schön, wenn es beim nächsten Mal anders aber dazu animieren und mir zusagen, dass Sie zustim- wäre!) men, dann tue ich das gerne, weil dann in den Bereichen Lebensmittelsicherheit und Agrarverwaltung manches – Das machen wir gerne. Wir können es noch zehn Jahre besser wird. lang so machen, dass ich als Erste rede. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Heiterkeit und Beifall beim BÜNDNIS 90/ und bei der SPD) DIE GRÜNEN und bei der SPD) Ich finde es komisch, dass Sie die Einsetzung eines Das gilt insbesondere dann, Herr Goldmann, wenn das Consultingunternehmens kritisieren. Das ist nun wirk- Vergnügen so wie jetzt ist, dass – – lich bar jeden Wissens über den Aufbau von Organisati- onen. Das ist nämlich völlig normal. Es gibt einige (Zuruf von der CDU/CSU) Schnittstellen in Bezug auf die Zuständigkeiten. Ich – Wir können es ja zu einer früheren Uhrzeit machen, finde es besser, ein Consultingunternehmen zu beauftra- dann wird auch diesem Gesichtspunkt entsprochen. gen, das die Arbeitsabläufe bis zum letzten durchspielt, weil man dann alles sauber klären kann. Wir haben mit Ist Ihnen aufgefallen, dass diese Debatte das Gegen- dem Föderalismus an dieser Stelle genug Probleme. Die teil einer Generaldebatte ist? Einige standen am Redner- Probleme habe im Übrigen nachher nicht ich, sondern pult, machten weit ausholende Bewegungen und sagten, die haben zum Beispiel die Landwirte und die Verbrau- es werde zu wenig gespart, man müsse vielmehr nach cher. Die Verbraucher wissen nicht, wie sie sich bei ei- dem Rasenmäherprinzip – wahrscheinlich mit einem nem Problem verhalten sollen, und die Landwirte haben atombetriebenen Rasenmäher – vorgehen, damit man Einkommenseinbußen. möglichst viele Subventionen auf einmal streichen kann. Ihre grundsätzlichen Aussagen, die über den Ver- braucherschutzbereich hinausgingen, erinnern mich an (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Auf welcher die alte Weisheit „Wir selber schaffen unsere Zukunft Veranstaltung waren Sie denn?) und nennen sie Schicksal“. Nach diesem Motto haben 2838 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. März 2003

Bundesministerin Renate Künast (A) Sie sich heute wieder verhalten. Das tun Sie immer wie- Themen weiterzuverfolgen, wie zum Beispiel nicht han- (C) der, und zwar auf Kosten der Landwirtschaft, zulasten delsbezogene Kriterien durchzusetzen und Verbraucher- der Bäuerinnen und Bauern. schutz zu verankern; auch das gehört in diesen Bereich. Darüber hinaus ist es richtig, auch wenn Sie das kritisiert (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN haben, dass sowohl Programme zum Ökolandbau wie zur und bei der SPD) bäuerlichen Landwirtschaft in den Bereich der nachhalti- Sie können so lange reden, wie Sie wollen. Die Post, gen Landwirtschaft gehören, da wir die einen Betriebe die bei uns eingeht, klingt mittlerweile anders: Lieber erhalten und die anderen fördern müssen. Beide Formen unsere Politik, die der Zukunft zugewandt und an den machen Sinn; beide muss es in Deutschland geben. Erfordernissen der Zukunft orientiert ist, als eine Politik, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN die immer nur erzählt, es würde sich nichts verändern. und bei der SPD – Ilse Aigner [CDU/CSU]: In Mittlerweile verfügt jeder Bauer über einen Internetzu- der GAK!) gang und weiß, dass es demnächst WTO-Verhandlun- gen gibt. Es nützt ihm nichts, wenn Sie ihm Sand in die – Frau Aigner, Sie haben Recht. Genau das möchte ich Augen streuen und so tun, als würde man dort zu keinem im Rahmen der GAK erreichen. Sie müssen mir dabei Ergebnis kommen. Wir bereiten die Bauern darauf vor aber helfen. Die GAK ist nämlich nicht darauf ausge- und zeigen ihnen entsprechende Einnahmemöglich- richtet, den bäuerlichen Familienbetrieben zu helfen. keiten. Hier besteht eine Schieflage. Angesichts der Tatsache, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN dass die 16 Agrarminister, auch die der B-Länder, bei ei- und bei der SPD) ner Sitzung des PLANAK-Ausschusses die Fördertatbe- stände für das nächste Jahr nicht umgeändert haben, Der vorliegende Haushalt zeigt, dass wir die Moder- brauche ich Ihre Hilfe, und zwar noch in diesem Jahr. nisierungslinien zur gesellschaftlichen und wirtschaft- Diese nehme ich gerne in Anspruch. Ihr Angebot werde lichen Erneuerung umsetzen. Das will ich Ihnen an eini- ich nicht vergessen, Frau Aigner. gen Punkten erläutern. Modernisierung – das muss man an dieser Stelle sagen – heißt Wohlstand für alle und Wenn wir das Aktionsprogramm „Bäuerliche Land- nicht nur für einige wenige. Auf den Vorwurf, ich würde wirtschaft“ in der GAK hätten – das will ich erreichen –, die Arbeit meiner Vorgänger zerstören, reagiere ich mit dann könnten wir viele andere Programme wie zum Bei- der Antwort: Ich habe noch gar nicht richtig angefangen, spiel zum Wegebau ersatzlos streichen; denn dieses Ak- das alte System zu beenden, nach dem immer nur die tionsprogramm käme den Bauern wirklich zugute. Dazu Großen gewinnen und die kleine bäuerliche Landwirt- reicht es allerdings nicht aus, hier nur Reden zu halten, sondern dann müssen Sie sich bei den Landwirtschafts- (B) schaft und die Familienbetriebe ziemlich leer ausgehen, (D) nach dem die Grünlandstandorte und die Milchbauern ministern der Bundesländer dafür entsprechend enga- bei der Verteilung der großen Prämien immer leer ausge- giert einsetzen. hen. Natürlich werde ich das beenden. Daran werde ich (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN arbeiten. und bei der SPD) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Angesichts der Kürze der Zeit will ich nicht mehr viel und bei der SPD) zum Ökolandbauprogramm sagen. Nur so viel: Bei ei- Sie wissen selbst, welch ungeheurer Preisdruck durch nem Verhältnis von über 700 Millionen Euro zu 30 Mil- dieses System entsteht. Herr Deß, in Bayern spielen die lionen Euro – das eine ist eine dreistellige Zahl, das an- vielen kleinen mittelständischen Molkereien die Milch- dere eine zweistellige – kann man nicht ernsthaft bauern gegeneinander aus. Ich weiß, dass in diesem Be- behaupten, dass die eine Gruppe die andere wirtschaft- reich Gelder umgeschichtet werden müssen, und zwar lich knebeln und aushungern würde. Ich glaube, man auch aus dem Ackerbaubereich, wo die Bauern so viel sollte die Kirche im Dorf lassen. verdienen, dass sie im Zweifelsfall im Winter mehrere Monate Urlaub machen können. Es ist wissenschaftlich außerdem noch offen – das muss ich Ihnen an dieser Stelle sagen –, ob die Inhalts- (Albert Deß [CDU/CSU]: In keinem Bundes- stoffe der Produkte der beiden verschiedenen Sparten land bekommen die Bauern einen so guten oder die Produkte selbst unterschiedlich sind oder wel- Milchpreis wie in Bayern!) che besser sind. Darüber möchte ich jetzt auch nicht dis- kutieren. Ich will auch die kleinteilige Landwirtschaft und die Landwirtschaft in benachteiligten Gebieten. Das ist das Für mich ist viel spannender, in diesem und dem Ziel unseres Haushaltes. nächsten Jahr eine Debatte über Preise zu führen, die für (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN die Landwirte reell sind, egal ob in der konventionellen und bei der SPD) oder der ökologischen Landwirtschaft. Ich freue mich, dass die Bauern diese Debatte aufgenommen haben, Nachhaltige Landwirtschaft im Bereich des konven- auch wenn sie neidisch waren, dass sie gerade zur Grü- tionellen und des ökologischen Landbaus heißt für uns, nen Woche begonnen hat. Aber ich bin der Meinung, dass wir zu einer WTO-kompatiblen Produktion kom- dass sie in diesen Rahmen gehört hat. Ich freue mich, men und die WTO-Verhandlungen entsprechend dass die Bauern, auch die in Bayern, das Heft in die beeinflussen müssen. Dann gilt es, eine Reihe anderer Hand genommen haben, sich nun verbünden und sogar Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. März 2003 2839

Bundesministerin Renate Künast (A) Kartelle bilden wollen, um gegen die ablehnende Hal- Wir bemühen uns, die GAK zu halten. Ich bitte Sie (C) tung der Wirtschaft anzugehen. von der Opposition, hier nicht nur Krokodilstränen zu weinen und ganze Stauseen damit zu füllen. Sorgen Sie (Peter Bleser [CDU/CSU]: Was tun Sie denn dafür, dass die von Ihnen und Ihren Parteien regierten dafür?) und geführten Bundesländer in der Föderalismusdebatte Ich freue mich auch, dass selbst der Einzelhandel in die- nicht sagen, dass sie die GA gänzlich zerschlagen wol- ser Frage Maßnahmen ergreift. Das werden wir auch len. Sie erzählen doch Unsinn: Sie heulen hier, machen gerne im Rahmen der Debatte um das UWG diskutieren. und tun und die von Ihnen geführten Bundesländer prak- Die Reformierung des UWG ist längst beschlossene Sa- tizieren am Ende das genaue Gegenteil. che, was bei einigen Ihrer Redebeiträge dagegen nicht zum Ausdruck gekommen ist. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Ich will nun ein Stichwort zum Thema Verbraucher- Frau Kollegin Künast. information sagen. Dazu wurde hier viel geredet und es wurden viele Aspekte angesprochen. Ich kann Ihnen nur sagen: Daran arbeiten wir schon längst. Ich würde mir Renate Künast, Bundesministerin für Verbraucher- wünschen, wenn Sie in dieser Frage nicht nur an mir he- schutz, Ernährung und Landwirtschaft: rummäkeln würden. Legen doch auch Sie hierzu einmal Ich möchte Sie an dieser Stelle um eines bitten: Las- Vorschläge auf den Tisch. sen Sie uns diese Hektik herausnehmen, diesen Haushalt (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN verabschieden und wieder zu einer positiven und sach- und bei der SPD) orientierten Debatte kommen. Die Bauern und Verbrau- cher werden es Ihnen danken. Schon Ihre Fraktionsvorsitzende hat gesagt hat, die CDU/CSU habe in den Städten wegen eines mangelnden (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Verbraucherschutzes verloren. Ich fordere Sie auf: Legen und bei der SPD) Sie ein Programm vor. Von uns werden Sie noch in die- sem Jahr ein Programm bekommen, nämlich einen Ak- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: tionsplan zum Verbraucherschutz. So etwas möchte ich auch von Ihnen gerne lesen. Und ich sage Ihnen: Ma- Ich schließe die Aussprache. chen Sie keine mittelalterliche Politik. Legen Sie endlich (B) (D) ein Angebot für ein Verbraucherinformationsgesetz Ich darf darauf hinweisen, dass der nächste Tagesord- vor. Das ist doch an Ihnen gescheitert, weil Sie – zulas- nungspunkt – er ist zugleich der letzte – zu Protokoll ge- ten der Bauern und der Verbraucher – die Information geben werden soll. Deswegen bitte ich Sie, noch ein we- nicht zulassen wollten. nig hier zu bleiben, damit wir das ordentlich abwickeln können. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Albert Deß [CDU/CSU]: Wir kommen zur Abstimmung über Einzelplan 10 Das Gesetz war doch überhaupt nicht praktika- – Bundesministerium für Verbraucherschutz, Ernährung bel! Sie können froh sein, dass wir das verhin- und – in der Ausschussfassung. Es liegen ein Ände- dert haben!) rungsantrag der Fraktion der CDU/CSU und neun Ände- rungsanträge der Fraktion der FDP vor, über die wir zu- Meine Damen und Herren, heute sind in dieser De- erst abstimmen. Ich bitte um Aufmerksamkeit. batte viele Details angesprochen worden, zum Beispiel auch zum Personalabbau im Bereich der Tierhygiene, Wer stimmt für den Änderungsantrag der Fraktion der der angeblich zulasten der Bekämpfung von BSE geht. CDU/CSU auf Drucksache 15/673? – Wer stimmt dage- Ich muss Ihnen empfehlen, sich kundig zu machen, wo gen? – Wer enthält sich? – Der Änderungsantrag ist mit die Stelle zur BSE-Bekämpfung bei uns ressortiert ist. den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stim- Das ist nämlich nicht der Bereich der Tierhygiene. Wir men von CDU/CSU und FDP abgelehnt. haben nichts zu befürchten. Wir haben die Abteilungen 2 Wer stimmt für den Änderungsantrag der Fraktion der und 3, die nur 16 neue Stellen bekommen haben, trotz- FDP auf Drucksache 15/675? – Gegenstimmen? – Der dem mit insgesamt 30 Stellen ausgestattet, weil wir um- Änderungsantrag ist mit gleichem Stimmenverhältnis geschichtet haben. Vielleicht könnten wir noch besser abgelehnt. umschichten; Empfehlungen hierzu nehme ich von Ih- nen gerne entgegen. Wer stimmt für den Änderungsantrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 15/677? – Gegenstimmen? – Ent- Wir haben, dem Beschluss folgend, Bonn zu einer haltungen? – Der Änderungsantrag ist mit gleichem Stadt mit vielen internationalen Organisationen auszu- Stimmenverhältnis abgelehnt. bauen, die FEC nach Bonn geholt. Ich weiß gar nicht, was Sie wollen. Sie haben gedacht, wir würden Bonn zu Wer stimmt für den Änderungsantrag der Fraktion der einer internationalen Stadt machen und Jobs bieten, aber FDP auf Drucksache 15/678? – Gegenstimmen? – Der in einer Weise, die Ihnen passt. Dass das nicht immer Änderungsantrag ist mit gleichem Stimmenverhältnis geht, damit müssen Sie in einer Demokratie leben. abgelehnt. 2840 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. März 2003

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms (A) Wer stimmt für den Änderungsantrag der Fraktion der Franziska Eichstädt-Bohlig (C) FDP auf Drucksache 15/679? – Gegenstimmen? – Ent- Otto Fricke haltungen? – Der Änderungsantrag ist mit gleichem Stimmenverhältnis abgelehnt. Es liegen drei Änderungsanträge der Fraktion der FDP vor. Mit Ihrem Einverständnis sollen alle Reden zu Wer stimmt für den Änderungsantrag der Fraktion der Protokoll gegeben werden. Gibt es Widerspruch? – Das FDP auf Drucksache 15/681? – Gegenstimmen? – Ent- ist nicht der Fall. haltungen? – Der Änderungsantrag ist mit gleichem Wir kommen zur Abstimmung über den Stimmenverhältnis abgelehnt. Einzelplan 16 – Bundesministerium für Umwelt, Natur- Wer stimmt für den Änderungsantrag der Fraktion der schutz und Reaktorsicherheit – in der Ausschussfassung. FDP auf Drucksache 15/682? – Gegenstimmen? – Ent- Zunächst stimmen wir über die Änderungsanträge der haltungen? – Der Änderungsantrag ist mit gleichem FDP-Fraktion ab. Wer stimmt für den Änderungsantrag Stimmenverhältnis abgelehnt. auf Drucksache 15/687? – Gegenstimmen? – Enthaltun- gen? – Der Änderungsantrag ist mit den Stimmen der Wer stimmt für den Änderungsantrag der Fraktion der Koalitionsfraktionen bei Zustimmung der FDP-Fraktion FDP auf Drucksache 15/684? – Gegenstimmen? – Ent- und Enthaltung der CDU/CSU-Fraktion abgelehnt. haltungen? – Der Änderungsantrag ist mit gleichem Stimmenverhältnis abgelehnt. Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksache 15/688? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Wer stimmt für den Änderungsantrag der Fraktion der Der Änderungsantrag ist mit den Stimmen der Koaliti- FDP auf Drucksache 15/686? – Gegenstimmen? – Das onsfraktionen bei Zustimmung von CDU/CSU und FDP gleiche Ergebnis. abgelehnt. Wer stimmt für den Änderungsantrag der Fraktion der Wer stimmt für den Änderungsantrag auf FDP auf Drucksache 15/697? – Gegenstimmen? – Glei- Drucksache 15/689? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – ches Stimmenverhältnis. Der Änderungsantrag ist mit den Stimmen der Koali- Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den tionsfraktionen bei Zustimmung der FDP-Fraktion und Einzelplan 10 in der Ausschussfassung. Wer stimmt da- Enthaltung der CDU/CSU-Fraktion abgelehnt. für? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Abstimmung über den Einzelplan 16 in der Aus- Einzelplan 10 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktio- schussfassung: Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dage- nen gegen die Stimmen von CDU/CSU und FDP ange- gen? – Enthaltungen? – Der Einzelplan 16 ist mit den nommen. Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen (B) (D) Ich rufe auf: von CDU/CSU und FDP angenommen. Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tages- Einzelplan 16 ordnung. Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundes- tages auf morgen, Donnerstag, den 20. März 2003, – Drucksachen 15/564, 15/572 – 9Uhr, ein. Berichterstattung: Die Sitzung ist geschlossen. Abgeordnete Elke Ferner Albrecht Feibel (Schluss: 21.55 Uhr) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. März 2003 2841

(A) Anlagen zum Stenografischen Bericht (C) Anlage 1

Liste der entschuldigten Abgeordneten Mehrausgaben bei den Titeln für Hilfskräfte zu umge- hen. Negative Begleiterscheinung bei dieser Personalpo- litik von Herrn Trittin ist, dass zwar vordergründig regu- entschuldigt bis läre Dienstposten abgebaut werden, aber gleichzeitig die Abgeordnete(r) einschließlich weniger sichere Beschäftigung von Hilfskräften ver- stärkt wird. Hier soll den Bürgern und nicht zuletzt auch Falk, Ilse CDU/CSU 19.03.2003 dem Parlament Sand in die Augen gestreut werden. Fischer (Frankfurt), BÜNDNIS 90/ 19.03.2003 Die Koalition redet gerne über den Schutz des Kündi- Joseph DIE GRÜNEN gungsschutzes und lässt gleichzeitig zu, dass der Um- Flach, Ulrike FDP 19.03.2003 weltminister eine Politik zulasten geschützter Arbeits- verhältnisse in seinem Haus betreibt. Das verdient Götz, Peter CDU/CSU 19.03.2003 schärfste Kritik und Ablehnung durch das Parlament, zu- mal die Vermutung auf der Hand liegt, dass eine solche Dr. Götzer, Wolfgang CDU/CSU 19.03.2003 Personalpolitik dazu missbraucht werden soll, dem Mi- Hartnagel, Anke SPD 19.03.2003 nister ihm genehme Mitarbeiter Zugang in den sicheren öffentlichen Dienst zu verschaffen. Homburger, Birgit FDP 19.03.2003 Der Mittelansatz für Hilfskräfte für 2003 ist ange- Lengsfeld, Vera CDU/CSU 19.03.2003 sichts der tatsächlichen Ausgaben im Vorjahr so gering, dass man schon heute davon ausgehen kann, dass dieser Otto (Godern), Eberhard FDP 19.03.2003 Betrag – wie inzwischen bei Ihnen üblich – gewaltig Rauber, Helmut CDU/CSU 19.03.2003* überschritten wird. Dieses Vorgehen widerspricht den Grundsätzen der Bundeshaushaltsordnung. Schmidt (Eisleben), SPD 19.03.2003 Silvia „Zu viel Geld für die Verwaltung und zu wenig Geld für den praktischen Umweltschutz“, ist der Vorwurf, den Dr. Stadler, Max FDP 19.03.2003 wir auch nach den Beratungen des Haushalts aufrechter- halten müssen. Weil Sie zu viel Geld ausgeben, um sich Violka, Simone SPD 19.03.2003 selbst zu verwalten, bleibt weniger für Innovation im (B) (D) Wettig-Danielmeier, Inge SPD 19.03.2003 Bereich einer nachhaltigen Umweltpolitik übrig. Seit Amtsantritt von Minister Trittin hat sich das BMU immer mehr zu einer „Sich-selbst-Verwaltungs- * für die Teilnahme an Sitzungen der Westeuropäischen Union Behörde“ gewandelt. Die unnötigen Mehrausgaben für Verwaltung und Bürokratie zehren notwendige Gelder auf, die für die Förderung von Umweltschutzmaßnah- Anlage 2 men oder von Verbänden, die sich den Umweltschutz zur Aufgabe gemacht haben, nicht mehr zur Verfügung ste- Zu Protokoll gegebene Reden hen. zur Beratung über den Entwurf eines Gesetzes Auch der Bundesrechnungshof kritisiert, dass die oh- über die Feststellung des Bundeshaushaltsplans nehin schon knappen Ressourcen zu einem großen Teil für das Haushaltsjahr 2003; hier: Einzelplan 16 – nicht zielgerichtet eingesetzt werden. Ein markantes Bei- Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz spiel dafür ist die Kritik am Programm „Investitionen und Reaktorsicherheit zur Verminderung von Umweltbelastungen“, dessen Ef- fizienz ins Visier der unabhängigen Prüfer geraten ist. (Tagesordnungspunkt I.21) Der BRH meldet erhebliche Zweifel an. dass das Pro- gramm seiner Anreizfunktion gerecht wird; eher sei da- Albrecht Feibel (CDU/CSU): In den letzten Wochen mit zu rechnen, „dass das Programm seine Anreizfunk- haben wir den Haushaltsplan für das Jahr 2003 einge- tion weitgehend verfehlt und in vielen Fällen lediglich hend beraten. Leider hat sich kaum etwas zum Positiven eine Mitnahme von Fördergeldern stattgefunden hat.“ hin verändert. Konstruktive Vorschläge der CDU/CSU Dies war ein Zitat aus einem Bericht des BRH vom wurden einfach abgelehnt, ohne für diese Entscheidun- 6. Dezember 2002 an die Mitglieder des Haushaltsaus- gen Argumente vorzutragen. „Mehrheit ist Mehrheit“ – schusses. diese Aussage, für viele Menschen eher eine Drohung, wurde von Kanzler Schröder konsequent durchgezogen. Ein weiteres Beispiel für einen fragwürdigen Umgang mit Steuermitteln ist die Vorgehensweise von Minister Beispielhaft nenne ich hierfür den ausufernden Etat Trittin bei der Vergabe von Fördermitteln für Umweltver- für Hilfskräfte im gesamten Einzelplan 16. Hier macht bände. In der ersten Lesung des Haushalts 2003 habe ich der Umweltminister den Versuch, notwendige Einspa- bereits auf die einseitige Vergabe der Mittel hingewiesen, rungen im Personalhaushalt mit unverantwortlichen nach dem Motto: „Hauptsache regierungsfreundlich!“ 2842 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. März 2003

(A) Anders lässt sich nicht erklären, dass vornehmlich Um- Ihre Energiepolitik im Allgemeinen ist eine Belastung (C) weltorganisationen gefördert werden, deren Umgang mit für die wirtschaftliche Entwicklung in Deutschland. Spendengeldern kürzlich von der Zeitschrift „Ökotest“ Selbst wenn Sie die Arbeitsplätze bei der Erzeugung er- kritisiert wurde. neuerbarer Energien gegenrechnen, vernichten Sie per Saldo Arbeitsplätze, weil deutsche Unternehmen mit ih- Meine Kritik am Umgang des Ministers mit dem ren Produkten aufgrund beachtlich gestiegener Energie- Bund, Heimat und Umwelt wurde damals mit dem Hin- kosten nicht mehr wettbewerbsfähig sind. weis auf eine Umstellung der Förderung von der institu- tionellen hin zur Projektförderung abgetan. Festzustellen Der „Spiegel“ schrieb in dieser Woche: Seit Eichels bleibt, dass es für den BHU weder eine Förderung des Amtsantritt wurden die Schulden um 116 Milliarden Verbandes noch seiner Projekte geben soll. Dass wäh- Euro erhöht, die Zahl der Arbeitslosen legte um rend der gesamten Amtszeit von Herrn Trittin kein Pro- 21 Prozent zu. Die Unternehmensinsolvenzen stiegen jekt des BHU förderungswürdig gewesen sei, verrät die um 35 Prozent. – Das sind Kennziffern rot-grüner Poli- eigentliche Absicht: Der BHU entspricht eben nicht dem tik, an denen Sie, Herr Trittin, kräftig mitgeschrieben ha- Grundsatz „Hauptsache regierungsfreundlich!“ und ben. muss daher gewissermaßen regierungsamtlich abge- Weil Sie nicht endlich zu einer sparsamen, ideologie- straft werden. freien Politik bereit sind, kann die CDU/CSU Fraktion Ganz im Gegensatz dazu steht der Verkehrsclub dem Einzelplan 16 nicht zustimmen. Deutschland, VCD, der bei „Öko-Test“ zwar am schlechtesten abschnitt, weil er für 2000 und 2001 keine Elke Ferner (SPD): Zunächst einmal vielen herzli- Jahresabschlüsse vorlegen konnte, dessen ungeachtet chen Dank an das Bundesministerium für Umwelt, Na- aber seit 2000 vom Umweltminister mit üppigen Förder- turschutz und Reaktorsicherheit – insbesondere an Herrn mitteln belohnt wird. Hinrichs-Rahlwes und Herrn Püschel – sowie an das Ein weiterer Kostenfaktor sind die Zwischen- und Bundesministerium für Finanzen – an Herrn Suhr und Endlagerungen für Kernbrennstäbe. Ganz wesentlich die Mitberichterstatterin und die Mitberichterstatter im werden die anfallenden Kosten hierfür von den Elektrizi- Ausschuss für die angenehme und konstruktive Atmo- tätsversorgungsunternehmen oder besser gesagt von den sphäre, auch wenn wir zwischen Opposition und Koali- Stromkunden bezahlt. tion in der Sache teilweise unterschiedliche Auffassun- gen haben. Da stellt sich schon die Frage, wie Sie, Herr Minister Trittin, mit diesen Geldern umgehen. Wir können uns Unser Haushalt folgt der Maxime Konsolidieren und Gestalten sowie dem Prinzip der Nachhaltigkeit. Das Ge- (B) angesichts Ihrer energiepolitisch einseitigen Festlegung (D) gegen die Kernenergie nicht vorstellen, dass es ihnen da- samtvolumen beläuft sich auf 248,2 Milliarden Euro. Mit bei auf ein paar hundert Millionen Euro ankommt. 18,9 Milliarden Euro haben wir die niedrigste Neuver- schuldung der letzten zehn Jahre erzielt. Die Nettokredit- Ende letzten Jahres mussten wir aus Ihrem Munde, aufnahme des letzten Haushalts in der Regierungsverant- Herr Minister, hören, dass der Standort für ein wortung von CDU/CSU und FDP lag bei 28,9 Milliarden solches Endlager nicht mehr infrage komme, weil es sich Euro. Allein in den letzten vier Jahren Ihrer Regierungs- um einen „verbrannten Standort“ handele. Nicht etwa na- zeit haben Sie 127,1 Milliarden Euro neue Schulden ge- turwissenschaftliche und geologische Gründe spielten bei macht. Von 1999 bis 2002 waren es im Vergleich dazu le- der Ablehnung des Standortes eine Rolle, sondern allein diglich 104,6 Milliarden Euro. Wir halten am Ziel fest, die angeblich massiven Proteste der Bevölkerung. Mit im Jahr 2006 einen ausgeglichenen Haushalt vorzulegen dieser Argumentation haben Sie der von Ihnen beabsich- und die Kreditneuaufnahme auf null zu senken. Konsoli- tigten Suche nach einem neuen Standort für die sichere dieren und Gestalten statt unseriöse Anträge und Mies- Endlagerung von Brennstäben einen Bärendienst erwie- machereien! sen. Ihre leichtfertige Äußerung ist geradezu ein Appell Wir haben das notwendige Sparvolumen sinnvoll ver- an die Menschen, möglichst massiv gegen einen solchen teilt, ohne die Leistungsfähigkeit des Bundes einzu- Standort in ihrer Nähe zu demonstrieren, um diesen dann schränken. Auch der Einzelplan 16 musste seinen Kon- zu verhindern. Bei Gorleben handelt es sich um den weit solidierungsbeitrag erbringen. und breit am besten erkundeten möglichen Standort für ein Endlager; rund l,3 Milliarden Euro wurden dafür be- Mit einem lnvesititionsniveau von 26,7 Milliarden reits aufgewandt. Euro liegen wir trotz der angespannten Haushaltslage deutlich über dem 98er-Etat von 22,9 Millionen Euro. Sie selbst. Herr Minister, haben doch erkannt, dass Wir investieren für die Zukunft unseres Landes und un- Gorleben der eigentlich geeignete Standort in Deutsch- serer Kinder und Kindeskinder mehr in Verkehrsinfra- land ist. Anscheinend ist es Ihnen aber gleichgültig, struktur, in Forschung und Bildung, in Klimaschutz, in wenn für diese Pseudosuche nochmals 2 bis 3 Milliarden erneuerbare Energien, in Wohnungs- und Städtebau. Euro aufgewandt werden. Nicht sachliche Gründe und wissenschaftlich fundierte Ergebnisse sind entscheidend. Die Ausgaben für den Bereich Bildung und For- Sie kommen aus Ihrem ideologischen Denken nicht he- schung – die ja überwiegend auch investive Ausgaben raus – wollen es wohl auch gar nicht. Ich fordere Sie auf. sind – wurden von uns zum wiederholten Male erhöht. dieses teure Treiben, das alle Stromverbraucher zu be- Sie betragen jetzt inklusive Betreuungsausgaben zahlen haben, endlich zu beenden. 9,1 Milliarden Euro. Das sind 25 Pozent mehr als zu der Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. März 2003 2843

(A) Regierungszeit der jetzigen Opposition. Die Verkehrsin- eben erwähnten Zinsverbilligungsprogramme für Private (C) vestitionen sind so hoch wie nie zuvor. Wir wollen mit und die Gemeinden. mehr Ganztagsschulen bessere Bildungschancen für un- sere Kinder und mehr Chancen für die bestausgebildete Des Weiteren werden über Bundesministerium für Frauengeneration, die wir je hatten, ihre familiären und wirtschaftliche Zusammenarbeit globale Umweltprojekte beruflichen Ziele miteinander zu vereinbaren. realisiert. In vielen Ländern der Welt ist die Wasserquali- tät eines der drängenden Probleme. Daher werden vor Aufgrund der Investitionsschwäche der Gemeinden Ort kommunale Programme zu Wasserversorgung und helfen wir ihnen mit verbilligten Krediten bei der Be- Abwasserentsorgung realisiert. standssanierung der kommunalen Infrastruktur, vor al- lem für den Wasser- und Abwasserbereich. Aber auch Der Schwerpunkt der bundespolitischen Umweltpoli- bei der Altbausanierung erhalten Kommunen und Pri- tik liegt aber natürlich in der Verantwortung des Um- vate zukünftig Unterstützung für ihre Investitionen. Das weltministeriums. Gemessen an den Etats der anderen Gesamtvolumen dieser Förderungsprogramme beläuft Häuser ist das BMU eher ein „bescheidenes“ Ministe- sich auf 15 Milliarden Euro. Dieses wird zu positiven rium mit einem ursprünglichen Etat von 533,447 Millio- Umwelt- und Arbeitsmarkteffekten auf regionaler und nen Euro. Durch die Übertragung der Verantwortung des lokaler Ebene führen. Bereiches erneuerbare Energien vom Bundesministe- rium für Wirtschaft und Arbeit auf das BMU ergibt sich Durch den Verzicht auf den kommunalen Beitrag für in diesem Haushaltsjahr ein Mittelzuwachs von 260,58 Mil- den Fluthilfefonds erhalten die Kommunen zusätzlich lionen Euro. Dadurch beläuft sich das Volumen des Um- Handlungsspielraum. Es liegt nun an der Union, ob die welthaushaltes insgesamt auf 794,02 Millionen Euro. Einnahmebasis von Ländern und Gemeinden durch den Damit liegt er deutlich über dem Haushalt von 1998 mit Abbau von Steuersubventionen weiter verbessert wird 619,89 Millionen Euro. Damals aber auch noch 120 Mil- oder nicht. lionen Euro mehr für den Endlagerbereich im Haushalts- Die Opposition verweigert sich, Verantwortung für volumen enthalten. bessere Staatseinnahmen zu übernehmen, sie scheut sich Der Programmhaushalt liegt mit 191,0 Millionen Euro aber nicht, bei den Haushaltsberatungen Erhöhungsan- in der Kontinuität der letzten Jahre. Der Verwaltungs- träge in einer beträchtlichen Größenordnung zu stellen. haushalt fällt mit 213,5 Millionen Euro etwas höher aus, Die CDU/CSU belastet den Haushalt mit circa 3 Milliar- was aber durch die Bauprojekte für das Umweltbundes- den Euro mehr. Bei der FDP verabschiedet sich dann amt in Dessau und das Bundesamt für Naturschutz in jede haushälterischen Vernunft: Zusätzliche 4,8 Milliar- Bonn begründet ist. Beide Vorhaben werden über den den Euro bleiben nach der Zusammenrechnung ihrer (B) Verwaltungshaushalt abgedeckt. Insofern ist Ihre Aus- (D) Einsparungen und Mehrausgaben unter dem Strich ste- sage zum Verwaltungshaushalt irreführend. hen. Das ist mir unter den gegebenen Rahmenbedingun- gen vollkommen unverständlich. Die Opposition muss Ein Blick auf die ausgabenrelevanten Anträge der Op- sich entscheiden, was sie will. Steuersenkungen und position zeigt deutlich ihr finanzpolitisches Unvermö- mehr Ausgaben und Schuldenabbau und Einhaltung der gen: Insgesamt belaufen sich die Forderungen auf eine Maastricht-Kriterien: Das geht nicht zusammen. In der Summe von: 115,816 Millionen Euro in den ausgabe- ganzen Debatte haben Sie nur gesagt, was Sie nicht wol- wirksamen Änderungsanträgen der FDP – ohne jede Ge- len. Aber kein einziges Mal habe ich von Ihnen gehört, genfinanzierung. In den Haushaltsberatungen wird die was Sie anders machen wollen. Wo Sie sparen wollen Konzeptionslosigkeit der Opposition am deutlichsten: oder welche anderen Maßnahmen Sie ergreifen wollen. Bei jedem Weg, den wir gehen, rennen Sie blind in eine andere Richtung. Wir sparen – Sie wollen Geld ausge- Umweltpolitik ist für uns nach wie vor eine Quer- ben. Wir investieren und je nach Tageslaune ist es Ihnen schnittsaufgabe. Daher verteilen sich die umweltrelevan- zuviel oder zu wenig. Steuern runter, Ausgaben rauf, ten Ausgaben und Aufgaben im Gesamthaushalt. Insge- Neuverschuldung runter, Maastricht-Kriterien einhalten – samt werden in diesem Haushalt 4,365 Milliarden Euro das ist der Kanon Ihrer Forderungen und das zeigt Ihre für Aufgaben im Umwelt- und Naturschutz sowie für die mangelnde Seriosität und Ihre Unfähigkeit, konkrete Reaktorsicherheit zu Verfügung gestellt. Vorschläge zu machen. Ich möchte an diese Stelle einige Beispiele aus den anderen Ressorts nennen: Wie ich eben bereits kurz andeutete, ist der Ausstieg aus der Atomenergie ein wesentlicher Erfolg rot-grüner Im Bundesministerium für Verkehr, Bau- und Woh- Umweltpolitik. Wir konnten dadurch die unkalkulierte nungswesen wird ein neues Programm aufgelegt, das der Energiegewinnung auf Kosten nachfolgender Generatio- CO2-Reduzierung bei Altbauwohnungen dient. Mit ei- nen beenden. Statt dessen fördern wir zukunftsorien- nem Investitionsvolumen von 160 Millionen Euro pro tierte Techologien und erschließen damit neue Energie- Jahr – der Baransatz liegt für 2003 bei 5 Millionen Euro – träger und schaffen zukunftssichere Arbeitsplätze. sollen Gebäudesanierung und Heizungsmodernisierung Bisher haben bereits 120 000 bis 130 000 Menschen im im Altbaubereich realisiert werden. Dadurch wird eine zukunftsträchtigen Bereich erneuerbare Energien Arbeit deutliche Reduzierung des CO2-Ausstoßes erzielt. Die- gefunden. Für die Atomenergie arbeiten gerade einmal ses Programm ergänzt das bereits bestehende CO2-Pro- 35 000 Menschen. Das ist nachhaltig für die Beschäfti- gramm im Rahmen des Zukunftssinvestitionsprogramms gung und es ist nachhaltig für die Umwelt und die künfti- in Höhe von 204 Millionen Euro. Hinzu kommen die gen Generationen. 2844 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. März 2003

(A) Die erneuerbaren Energien sind jetzt in der politi- Anraten des Bundesrechnungshofes und aufgrund von (C) schen Verantwortung des Umweltministeriums. Diese finanziellen Erfordernissen wurde die Zahlungsweise Verantwortung bedeutet natürlich auch eine Vielzahl der Fördergelder verändert. Die Umstellung auf Raten- neuer Aufgaben und Herausforderungen. Die Schaffung zahlung spart zusätzlich 4 Millionen Euro bei den Pilot- einer internationaler Agentur für erneuerbare Energien projekten Inland. soll auf den Weg gebracht werden und die Förderpro- gramme zur energetischen Errichtung und Modernisie- Die Pilotprojekte Ausland erhalten eine erweiterte rung von Häusern müssen umgesetzt werden. Gebietskulisse, die nicht nur die angrenzenden Staaten berücksichtigt, sondern alle Beitrittskandidaten zur EU. Den Anteil erneuerbarer Energien am gesamten Ener- Das ist ein richtiges Zeichen für EU-Erweiterung, wo- gieaufkommen wollen wir von derzeit 8 Prozent bis 2010 durch eine Etablierung westeuropäischer Umweltstan- auf 12,4 Prozent steigern. Dazu wird von uns unter ande- dards in Beitrittsländern ermöglicht wird. Zusätzlich er- rem die Kraft-Wärme-Kopplung und damit die dezent- hält hier deutsches Umwelt-Know-how eine Chance, rale Energieversorgung vorangetrieben. Bereits in der sich auf einem gesamteuropäischen Markt gut zu positi- letzten Legisaturperiode haben wir deshalb das KWK- onieren. Gesetz auf den Weg gebracht. Bis 2010 sollen 3 000 MW Strom aus Offshore-Windkraft-Anlagen kommen und Die Unterstützung von Umweltverbänden wird von bereits in vier Jahren soll die Fläche an Sonnenkollekto- der institutioneilen Förderung zur Projektförderung ver- ren verdoppelt werden. Große Potenziale sehen wir auch schoben. Damit kommen die Gelder konkreten Projekten in der Nutzung von Biomasse und Geothermie; diese und dadurch direkt der Umwelt zugute. Die Projektför- wollen wir nutzen. derung ist in diesem Jahr nochmals um 7,1 Prozent er- höht worden und liegt nun 71 Prozent höher als 1998. Da die Umwelt und ihre Belastungen nicht an politi- schen Grenzen Halt machen, wollen wir unsere Erkennt- Die großen Programmtitel werden natürlich auf ho- nisse und Fortschritte auch an andere Länder weiterge- hem Niveau fortgeschrieben. So erhalten die Natur- ben. Deshalb wird die Exportinitiative erneuerbare schutzgroßprojekte 18 Millionen Euro, Erprobungs- und Energien fortgesetzt und verstärkt. Entwicklungsvorhaben auf dem Gebiet des Naturschut- zes 5,7 Millionen Euro und Umweltforschungstitel Das Marktanreizprogramm für erneuerbare Energien 61,8 Millionen Euro. ist mit 190 Millionen Euro der größte Titel der auf das BMU übergeht. Bis zum Jahr 2006 soll er sich auf Der Vertragsnaturschutz gehört nicht in die Unterstüt- 230 Millionen Euro steigern; das ist im Koalitionsver- zung für Großprojekte. Er liegt in finanzieller und inhalt- trag so festgehalten und so wird es auch gemacht. Dieses licher Verantwortung bei den Ländern, auch wenn wir (B) Förderprogramm wird die nötigen Impulse für die Ener- diese Variante des Naturschutzes politisch für sehr sinn- (D) giewirtschaft setzen und neue Dynamik in den Einsatz voll halten. Hier könnten Optionen ausgebaut werden, da erneuerbarer Energien bringen. Für die Forschung und die Erfahrungen mit der Landwirtschaft bisher sehr posi- Entwicklung in diesem Bereich werden natürlich auch tiv waren. Eventuell sollte geprüft werden, ob auch im Mittel zur Verfügung gestellt, um weiterhin unsere Spit- Rahmen der Altlastensanierung mittelständische Unter- zenposition auf diesem Gebiet zu sichern. Wir müssen nehmen am Vertragsnaturschutz partizipieren können. aber auch die vorhandenen Einsparungspotenziale bei Diesem ist im Einzelfall der Vorzug vor ordnungsrechtli- Heizungen in Gebäuden, in der Wirtschaft und Industrie cher Regelung zu geben. Generell muss aber die Mög- mobilisieren. Wir brauchen auch mehr Energieeffizienz. lichkeit zu ordnungsrechtlichem Handeln beibehalten Das muss bei den häufigen Forschungsvorhaben berück- werden zum Beispiel bei Landschaften von gesamtstaat- sichtigt werden. Damit, mit der effezienten Nutzung der lich repräsentativer Bedeutung. heimischen Kohle und dem Ausbau der erneuerbaren Der Schwerpunkt des BMU ist nach wie vor die Ent- Energien schaffen wir die Brücke von der Atomenergie wicklung umweltpolitischer Leitlinien und guter Ge- hin zu einer nachhaltigen Energiepolitik. setze. Deren Umsetzung und Finanzierung ist dann zum Die Forschung im Bereich Mobilfunk erhält verstärk- größten Teil Aufgabe der Landesbehörden und – nach tes öffentliches Interesse. Die Mittel für den zukünftigen Verursacherprinzip – derjenigen, die für die Umweltbe- Bedarf in diesem sensibeln Bereich sind über die Erhö- lastungen verantwortlich sind. hung von Verpflichtungsermächtigungen um 3,0 Millio- Auch personell ist das BMU gut aufgestellt. Es ver- nen Euro gesichert. Die Industrie steuert ebenfalls so viel fügt über engagierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu dieser Forschung bei. Bereiche dieser Forschung sind und erhält lediglich einen sehr geringen gegenfinanzier- zum Beispiel die Wirkung elektromagnetischer Felder ten Zuwachs für die sehr umfangreichen Aufgaben der bei Handy-Nutzung, die Wirkung elektromagnetischer neuen Abteilung erneuerbare Energien. Die globale Min- Felder der drahtlosen Datenübertragung und die thermo- derausgabe ist im Rahmen der Haushaltsberatungen physiologische Wirkung elektromagnetischer Hochfre- sinnvoll im Endlagerbereich aufgelöst worden. Trotz des quenzfelder. Konsolidierungskurses konnte für das Bundesministe- Die Pilotprojekte Inland werden gerne von der Union rium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ein kritisiert. Das Rheinisch-Westfälisches Institut für Wirt- solider Haushalt mit den richtigen politischen Schwer- schaftsforschung e.V., RWI, hingegen stellt fest, dass es punkten beschlossen werden. Die Veränderungen im sich hierbei um ein „wesentliches Kernelement zur Fort- BMU-Haushalt und die Übertragung der Verantwortung entwicklung der deutschen Umweltpolitik“ handelt.• Auf für die erneuerbaren Energien zeigen die voranschrei- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. März 2003 2845

(A) tende strategische Neuausrichtung. Der 1998 begonnene Neue Kompetenzen für das BMU erfordern auch (C) ökologische Umbau unserer Gesellschaft kann damit mehr Man Power. So konnten Planstellen aus dem trotz schwieriger Haushaltsrahmenbedingungen fortge- BMWi ins BMU übertragen und zusätzlich zwei neue setzt werden. Stellen für das Marktanreizprogramm eingerichtet wer- den. Winfried Hermann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die Deutsche Energie-Agentur ist die zentrale Unter dem Diktat des Sparens politische Gestaltungsfä- Schnittstelle für die Förderung und Nutzung erneuerba- higkeit zu bewahren, ist schwer. Dies gilt für alle Res- rer Energien. Mit 2,7 Millionen Euro kann sie Klima- sorts im Bundeshaushalt. Angesichts der Megathemen schutzprojekte auf den Weg bringen. „Haushaltskonsolidierung, Umbau der Sicherungssys- teme und Arbeitslosigkeit“ müssen wir dafür sorgen, Mit der haben wir einen zukunftsfähi- dass Umweltpolitik nicht ins Abseits gerät. gen Weg in das 21. Jahrhundert eingeschlagen. Auch eine Finanzpolitik, die auf Haushaltskonsolidierung Wir dürfen nicht aus den Augen verlieren, dass es zielt, ist ein Schritt zur Nachhaltigkeit. Wir müssen un- langfristige ökologische Aufgaben gibt. Ein behutsamer sere politischen Strategien und das Haushalten an die- Umgang mit Ressourcen ist wesentlicher Kern einer sem Ziel ausrichten. Dazu gehört es auch, ökologisch nachhaltigen Entwicklung. Nachhaltigkeit heißt: Die Le- kontraproduktive Subventionen aufzudecken und abzu- bensgrundlagen für die kommenden Generationen be- bauen, zum Beispiel beim Bauen im Grünen, in der wahren und Ressourcen gerecht verteilen. Es heißt auch: Landwirtschaft, bei den Steuerprivilegien – etwa für Heute nicht unbegrenzt Schulden machen, damit die Kohle und Flugbenzin. Die Grundidee der Ökosteuer ist kommende Generation die Gestaltungsspielräume unter Ausdruck einer nachhaltigen Finanzpolitik: wir müssen der Zinslast nicht verliert. Und Nachhaltigkeit heißt: Umweltschutz und Arbeit verbinden, die ökologische Heute Geld ausgeben für die ökologische Modernisie- Modernisierung da voranbringen, wo sie Arbeitsplätze rung unseres Landes, die Entwicklung umweltfreundli- schafft. cher Technologien, die Abschätzung und Begrenzung Wir haben in der Umweltpolitik in den letzten vier von Risiken, für Vorsorge, für den Schutz von Mensch Jahren einiges bewegt und vieles angestoßen. Trotz gro- und Natur. ßer Anstrengungen stehen wir noch vor einer Vielzahl Wir haben im Koalitionsvertrag vereinbart, dass die ungelöster Probleme: Der Verlust der biologischen Viel- Zuständigkeiten im Bereich der erneuerbaren Energien falt hält an, der Klimawandel ist im Gang, Flächen wer- vom BMWA ins BMU wechseln. Dem Bedeutungszu- den über das verträgliche Maß hinaus beansprucht. Un- ser Fahrplan für die Zukunft ist die nationale (B) wachs entsprechend hat der BMU-Haushalt ein Volumen (D) von gut 800 Millionen Euro. Davon stammen 533,4 Mil- Nachhaltigkeitsstrategie. Sie ist eine gute Basis für un- lionen Euro aus dem BMU und 267 Millionen Euro aus sere Arbeit. Jetzt heißt es, sie fortzuschreiben und zu er- dem BMWi. Der BMU-Haushalt geht deutlich gestärkt weitern. Denn wir haben uns ehrgeizige Ziele gesetzt. aus den Koalitionsverhandlungen hervor. Jetzt müssen wir Instrumente und Maßnahmen entwi- ckeln, um diese Ziele zu erreichen. Der Einzelplan 16 trägt mit einer globalen Minderaus- Politik der Nachhaltigkeit kann nur als Querschnitts- gabe von knapp 13 Millionen Euro zur Konsolidierung aufgabe erfolgreich sein. Das heißt, wir müssen alle Sek- des Haushalts bei. Wir halten das bisherige Endlager- toren konsequent nach negativen Umwelteffekten durch- konzept für falsch. Deshalb haben wir den AK End eta- forsten. Hierfür brauchen wir keine UVP, sondern einen bliert und deshalb werden die Einsparungen im Endla- Nachhaltigkeitscheck für alle Bereiche. gerbereich erbracht. Die Jahrhundertflut im vergangenen Jahr hat gezeigt, Für die Übernahme des Bereichs „erneuerbare Ener- was passiert, wenn wir die Komplexität der Risiken und gien“ musste zusätzlich ein Anteil an der globalen Min- damit auch immer der Lösungen unterschätzen. Es derausgabe erbracht werden. Zu unserem Bedauern trifft scheint für die Schifffahrt erforderlich, ja rational, die die Kürzung von gut 2 Millionen Euro den Bereich Ener- Flüsse auszubaggern, zu begradigen und zu verbreitern. gieforschung. Es scheint für die anliegenden Kommunen rational, Flä- chen am Deich zu verpachten, ob für Industrieanlagen Mit dem neuen Ressortzuschnitt bringen wir den Kli- oder Siedlungen. Und wer wohnt nicht gern im eigenen maschutz weiter voran. Im BMU werden jetzt die Förder- Haus im Grünen am Fluss. Es scheint für die Landwirt- programme im Bereich der erneuerbaren Energien umge- schaft sinnvoll und ungefährlich, die alten Überschwem- setzt: Das Marktanreizprogramm wird trotz Sparhaushalt mungswiesen zu beackern. Die Ereignisse an der Elbe auf dem Vorjahresniveau – mit einem Fördervolumen haben uns gezeigt, dass Hochwasser nicht nach der Ra- von 190 Millionen Euro in 2003 – fortgeschrieben; das tionalität von Einzelinteressen fragt. ist ein großer Erfolg. Das 100 000-Dächer-Programm wird mit 25 Millionen Euro deutlich aufgestockt. Ganze Um eine solche Katastrophe in Zukunft zu vermeiden, 40 Millionen Euro stehen für Forschung und Entwick- müssen wir an verschiedenen Stellschrauben gleichzeitig lung im Bereich der erneuerbaren Energien zur Verfü- drehen: in der Infrastruktur-, Besiedlungs- und Baupoli- gung. Knapp 13 Millionen Euro dienen der Erforschung tik, in der Landwirtschaft, bei den Wasserstraßen, und und Entwicklung umweltschonender Energieformen im zwar auf Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene. Rahmen des Zukunftsinvestitionsprogramms. Flussausbau darf nur noch unter ökologischen Vorzei- 2846 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. März 2003

(A) chen geschehen. Wir müssen Flussauen und Über- Doch nicht nur die Politik ist gefordert. Wir müssen (C) schwemmungsgebiete zurückgewinnen und Schutzge- den Dialog mit den Menschen führen und uns gemein- biete ausweisen. Wenn wir weiter Flächen versiegeln, sam fragen: Wie soll unsere Landschaft in 50 Jahren aus- Naturlandschaften zerschneiden, Flüsse schneller durch sehen? Wie viel naturnahe Wälder und Wiesen wollen ihr Bett jagen, kommt das nächste Hochwasser be- wir unseren Enkeln hinterlassen? Welche Qualität soll stimmt. der Boden haben, den sie beackern? Viele Menschen ha- ben – trotz anderer Sorgen – Interesse am Schutz ihrer Politik muss sich als lernfähig erweisen. Deshalb soll- Umwelt. Umwelt- und Naturschutzverbände stehen stell- ten wir bei der laufenden Planung zum Bundesverkehrs- vertretend für dieses Anliegen, für Umweltinteressen. wegeplan darauf achten, dass wir durch Ausbau von Sie tun dies mit großem Engagement und leisten oft her- Schifffahrtsstraßen nicht dem nächsten Hochwasser Vor- vorragende Arbeit. Deshalb haben wir die Projektförder- schub leisten. Wir müssen aufhören mit einer Perspek- mittel für diese Verbände um 7,1 Prozent auf 4,124 Mil- tive, die nur Ausschnitte in den Blick nimmt und bei- lionen Euro erneut erhöht. spielsweise das Ökosystem Fluss auf eine seiner Funktionen – die als Wasserstraße – reduziert. Das ist Der Naturschutz hat für uns auch in dieser Legislatur- nicht nachhaltig. periode einen hohen politischen Stellenwert. Dies zeigen die vorgesehenen Mittel für Naturschutzgroßprojekte Die Flächeninanspruchnahme auf 30 Hektar pro Tag von 18 Millionen Euro und bei den Erprobungs- und bis 2020 zu reduzieren ist eines unserer zentralen Ziele Entwicklungsvorhaben im Naturschutz von 5,726 Mil- der Nachhaltigkeitsstrategie. Wir brauchen hier einen lionen Euro. Wir werden große Teile der Aarhus-Kon- großen Wurf und neue Grundsätze in der Steuer- und vention umsetzen und so den Zugang zu Informationen Förderpolitik, der Stadt- und Raumplanung bis zur Bau- und Verfahren für die Öffentlichkeit verbessern. Nur gesetzgebung. Auch vor Ge- und Verboten sollten wir Bürger, denen Partizipation ermöglicht wird, können uns nicht scheuen, warum nicht zur Nutzung von Bra- engagierte Bürger sein. chen verpflichten, bevor sie neue Flächen versiegeln. Nicht vordergründig Restriktion, sondern Mut zu Große Aufgaben stehen in den nächsten Jahren vor neuen Ansätzen ist gefragt. Umgestaltung von Vertrau- uns. Zukunftsfähige Konzepte sind gefragt und mutige tem führt immer auch zu Abwehr, trifft auf Widerstände Schritte. Ziele sind benannt, wenn auch noch nicht alle und Beharrungskräfte. Politik muss sich auf Problemlö- Wege klar konturiert. Doch wir arbeiten daran. Und Ho- sungen konzentrieren, die Akteure einbinden, die in die- raz sagte einmal: „Wer begonnen hat, der hat schon halb sem Prozess beteiligt sind und sein wollen. vollendet.“ Für neue Ansätze müssen wir die vorhandenen Struk- (B) Birgit Homburger (FDP): Der rot-grüne Umwelt- (D) turen nutzen, aber auch erweitern. Wir haben bereits haushalt rutscht in die Bedeutungslosigkeit. Gegenüber wichtige Gremien etabliert: den Rat für Nachhaltige Ent- dem Jahr 2002 ist der Umwelthaushalt 2003 um wicklung und das Grüne Kabinett, den Staatssekretärs- 3 Prozent gesunken. Der Programmhaushalt, das heißt ausschuss. Diese wollen wir stärken. Dafür müssen wir die Ansätze für die inhaltliche umweltpolitische Arbeit, gemeinsame Aufgaben definieren, wie es weitergehen wird um 5 Prozent gekürzt. Gerade in Zeiten leerer Kas- soll mit der Nachhaltigkeitsstrategie. sen ist es sicher richtig, sparsam mit Haushaltsmitteln Wir brauchen ein parlamentarisches Pendant zu die- umzugehen. Die Politik muss aber gerade in wirtschaft- sen Foren, wie etwa die kanadische „Commission for lich schwierigen Zeiten Schwerpunkte setzen. Dies tut sustainable development“, ein Gremium, das den Nach- der rot-grüne Umwelthaushalt nicht. Er ist nur ein be- haltigkeitscheck durchführt. langloses Sammelsurium. Die vielen guten Ideen und klugen Expertisen aus Wenn aber schon derartig wenig Geld zur Verfügung RNE, SRU, WBGU und Enquete-Kommissionen müs- steht, dann muss es zwingend sparsam ausgegeben wer- sen übersetzt werden in die Sprache und Funktionswiese den. Leider achtet die Bundesregierung hierauf auch der einzelnen Ressorts und dann verknüpft werden zu ei- nicht. Es werden Verbände unterstützt, deren Finanzge- ner einheitlichen Strategie. Dafür brauchen wir Abstim- baren zweifelhaft erscheint. Es wird nicht sichergestellt, mung und Austausch zu den einzelnen Handlungsschrit- dass Hochwasserhilfen nicht zum Wiederaufbau in den ten, die am Problem orientiert sind, nicht am Zuschnitt Hochwassergebieten von Morgen gewährt werden. Sei- der Ressorts. tens der FDP wurden hier so genannte qualifizierte Sperrvermerke beantragt, die von Rot-Grün aber abge- Das gemeinsame Tun im Hochwasserschutz und bei lehnt wurden. der Flächensicherung muss – wie auch das Wasser – über Kompetenzgrenzen und Zuständigkeitsbereiche Wo aber umweltpolitisches Handeln gefragt wäre, ist hinwegführen. Bund, Länder und Kommunen gehören Bundesumweltminister Trittin ein Totalausfall. Im Kli- an einen Tisch. Dann kann es Synergieeffekte geben und maschutz werden im Koalitionsvertrag Ziele propagiert, dann wird es gelingen, die Probleme zu lösen. Denkbar die zugleich an utopische Bedingungen geknüpft werden sind Sektorkonferenzen, die sich Schwerpunktthemen und vom DIW bekommt der Minister kürzlich beschei- zuwenden, zum Beispiel zur Verkehrswende, zur Gewäs- nigt, dass selbst das Kioto-Ziel kaum erreichbar ist. Die ser- und Flusspolitik oder zur Flächenpolitik. Unsere Po- EU erarbeitet eine Richtlinie zum Emissionsrechtehan- litik ist dem Vorsorgegedanken verpflichtet. Dem muss del und Deutschland kann sich nicht effektiv an deren sie mit intelligenter Steuerung Rechnung tragen. Gestaltung beteiligen, weil sich BMU und BMWi nicht Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. März 2003 2847

(A) einigen können, ob sie den Emissionsrechtehandel über- umweltpolitische Vision, sie haben die Umweltpolitik (C) haupt wollen, und, wenn ja, zu welchen Bedingungen. nicht vorangebracht. Damit bestimmen andere Länder die Spielregeln und Deutschland kann nicht mehr agieren, sondern nur noch Ihre umweltpolitische Bilanz ist verheerend: reagieren. Erstens. In der Klimaschutzpolitik stehen Sie vor ei- In der Abfallpolitik sieht es nicht besser aus. Bürge- nem Scherbenhaufen. Das Klimaschutzziel, das Sie noch rinnen und Bürger sowie die Wirtschaft werden mit dem im Klimaschutzprogramm des Jahres 2000 festgelegt ha- Dosenpfand ohne ökologischen Sinn belastet und auf- ben, nämlich bis zum Jahre 2005 ein Minus von 25 Pro- grund einer überholten Regelung verunsichert. Zwi- zent beim CO2-Ausstoß, werden wir nicht erreichen. schenzeitlich fällte der Gerichtshof der Europäischen Diese Regierung hat klimapolitisch versagt, wir liegen Gemeinschaften zwei Urteile, die Regelungen des deut- bei einem Minus von circa 16,5 Prozent. Sie sprechen schen Abfallrechts infrage stellen. Und was unternimmt dagegen nur vom Kioto-Ziel für das Jahr 2012. Das wol- die Bundesregierung? Sie arbeitet an einer „kleinen No- len Sie nun erreichen. Ich sage Ihnen voraus: Wenn der velle“ der Verpackungsverordnung, anstelle das Abfall- Trend so weitergeht, werden Sie dieses Ziel in 2012 auch recht generell zu überarbeiten. Die geplante Novelle be- nicht erreichen. trifft lediglich Getränkeverpackungen. Ausschließlich Zweitens. Nun zur Abfallpolitik. Zwei neue Entschei- um die kartellrechtliche Zulässigkeit von Unternehmens- dungen des Europäischen Gerichtshofes zur grenzüber- vereinbarungen zur Erfüllung der Pflichten der Verpa- schreitenden Abfallverbringung haben gezeigt, dass das ckungsverordnung sicherzustellen, will die Bundesregie- deutsche Abfallrecht nicht so bleiben kann, wie es ist. rung das Kreislaufwirtschafts- und Abfallgesetz ändern. § 6 Kreislaufwirtschafts-/Abfallgesetz ist durch den Eu- Die Problematik des faktischen Monopols des DSD wird ropäischen Gerichtshof verworfen worden. In Folge da- gar nicht gesehen, die zentralen Probleme des Abfall- von wird die neue Gewerbeabfall-Verordnung ins Leere rechts werden gar nicht erst in Angriff genommen. Trotz laufen. Von Ihnen hört man nur Sprachblasen, keine kon- drängender Probleme erarbeitet die Bundesregierung kreten Initiativen. Wenn Sie so weitermachen, fahren Sie also kein Gesamtkonzept für die künftige deutsche Ab- die deutsche Abfallwirtschaft vor die Wand! fallpolitik, sondern verliert sich im Klein-Klein grüner Pfand-Ideologie. Drittens. Ihr Kurs in Sachen erneuerbare Energien ist nicht mehr nachvollziehbar. Damit meine ich in erster In der Hochwasserpolitik herrscht ebenso Stillstand. Linie nicht das Eckpunktepapier zur EEG-Novelle. Mit Vor der Bundestagswahl wurde eilig eine Konferenz ein- diesem Eckpunktepapier zeigen Sie zwar, wie wenig Sie berufen, Arbeitsgruppen en masse eingesetzt und damit von der augenblicklichen Problemlage verinnerlicht (B) Aktivität vorgetäuscht. Ergebnisse hat die Bundesregie- haben: überzogene Förderung der Windkraft an nicht (D) rung bis heute nicht vorgelegt. Erforderlich wären Ab- windgünstigen Standorten, zu geringe Förderung von stimmungen zwischen allen Flussanliegern in Europa. Biomasse und Biogas und die Frage der volkswirtschaft- Aber noch nicht einmal von einer Koordinierung der lichen Gesamtkosten. Ich meine hier Ihre Entscheidung, deutschen Bundesländer hat man etwas gehört. Ein Ge- einen Offshore-Windpark Butendiek vor Sylt in einem samtkonzept zum Hochwasserschutz ist nicht ansatz- besonderen Vogelschutzgebiet zu genehmigen. Es ist un- weise zu erkennen. fassbar. Als Umweltminister lösen Sie den Konflikt Windkraft-Naturschutz nicht, sie rufen einen Konflikt Zu all diesen Bereichen hat die FDP Vorschläge vor- sogar hervor. Dies ist verantwortungslos. gelegt. Herr Trittin kann sicher sein, dass die FDP ihn auch in Zukunft mit Lösungsvorschlägen konfrontieren Viertens. Sie haben sich nicht energisch genug dafür wird. Deutschland ist unter dieser rot-grünen Bundesre- eingesetzt, dass die Zusagen der rot-grünen Bundes- gierung umweltpolitisch handlungsunfähig. regierung an die Naturschutzverbände eingehalten wer- den, 100 000 Hektar an Naturschutzflächen an der ehe- maligen innerdeutschen Grenze in zwei Stufen diesen Dr. Peter Paziorek (CDU/CSU): Es gab eine Zeit, Verbänden zur Pflege zu übergeben. da verdiente sich Deutschland zu Recht das Prädikat ei- nes internationalen Vorreiters in der Umweltpolitik. Das Fünftens. Sie treffen fragwürdige personalpolitische war vor 1998. Seit 1998 hat die Umweltpolitik an Be- Entscheidungen in Ihrem Haus. deutung verloren, und das unter einer rot-grünen Bun- desregierung bei einem Umweltminister Trittin. Sechstens. Sie stellen in der Endlagerfrage laut Pres- semeldungen sozialwissenschaftliche Kriterien auf die Herr Trittin, von Ihnen haben wir in den letzten Tagen gleiche Stufe mit naturwissenschaftlichen Kriterien, was viel gehört, und zwar zur Außenpolitik, zur Verschul- in höchstem Maße bedenklich wäre. Stellen Sie bitte dungspolitik und zur Wirtschaftspolitik, nur zur Um- klar, dass dies nicht Ihre Position ist. Wer Sicherheit für weltpolitik haben wir von Ihnen nichts gehört. ein Endlager verlangt, der muss letztlich nach naturwis- senschaftlichen Kriterien entscheiden. Umweltminister Trittin, der Richard Kimble der deut- schen Umweltpolitik: Immer auf der Flucht vor umwelt- Siebentens. Herr Minister, provozieren Sie nicht das politischen Themen. Für Sie mag das ja interessant sein, Scheitern der Novelle zur Verpackungs-Verordnung. Sie aber es zeigt doch ganz deutlich, dass Sie sich in der haben die Verpflichtung, einen Entwurf vorzulegen, der Umweltpolitik nur als Statthalter fühlen. Sie haben keine auch mehrheitsfähig ist. Ihr jetziger Entwurf ist es nicht. 2848 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. März 2003

(A) Während in den Erläuterungen zum Haushaltsplan die Titels „Internationale Zusammenarbeit auf dem Umwelt- (C) Ausgaben für Umweltpolitik auf insgesamt 4,4 Milliar- gebiet“ werden zwischen 2002 und 2004 insgesamt den Euro beziffert werden, beträgt der Gesamthaushalt 500 000 Euro für das UNEP-Projekt zur Verbesserung des BMU mit rund 533 Millionen Euro lediglich der Umweltrechtssituation in Afrika bereitgestellt. 12,1 Prozent der veranschlagten Ausgaben für Umwelt- schutz. Doch nicht nur ein weiter schrumpfender Haus- Internationaler Umweltschutz ist ein wichtiger Bei- halt des BMU – nein –, vielmehr die Art und Weise, wie trag zur globalen Arrnutsbekämpfung und kann einen Umweltpolitik durch diese Regierung gestaltet wird, ge- Beitrag zu Krisenprävention leisten. Wasser und Energie ben Anlass zu großer Sorge um die Umweltpolitik in sind die Ressourcen, an denen sich die kommenden Deutschland. Dieser Haushaltsentwurf zeigt nicht nur Konflikte entzünden werden. das Misstrauen des Kabinetts gegenüber einer offensiven Umweltpolitik; er zementiert leider auch eine Umwelt- Wir müssen intensiv an der Erreichung des Ziels ar- politik, die nur aus Einzelmaßnahmen besteht, eine beiten, die Anzahl der Menschen, die keinen Zugang zu durchdachte Strategie aber vermissen lässt. sauberem Wasser und einer angemessenen Abwasserbe- handlung haben, zu halbieren. Ebenso ist es unsere Daher kann dieser Haushaltsplan keine Unterstützung Pflicht, im Rahmen der laufenden GATS-Verhandlun- der Union bekommen. gen, also des Dienstleistungsabkommens der WTO, da- rauf zu achten, dass nicht die Wasserver- und Abwasser- entsorgung international ohne Rahmenbedingungen libe- Ulrike Mehl (SPD): Gerade in diesen Tagen wird uns ralisiert wird. Bei allen Chancen werden in den meisten deutlich, wie sehr Deutschland ein Teil des globalen Fällen die Armen und Ärmsten die Verlierer sein. Das Ganzen ist und wie wenig wir die Augen verschließen gilt übrigens für die WTO-Bedingungen insgesamt. können vor internationalen und außenpolitischen Ent- Wenn wir es nicht schaffen, über kurz oder lang den wicklungen. Es mag vor dem aktuellen Hintergrund ne- Welthandel auf die Basis von Nachhaltigkeit zu stellen, bensächlich erscheinen, dass wir hier im Bundestag über dann werden wir im globalen Umweltschutz viel zu den Bundeshaushalt debattieren, umso mehr noch, wenn langsam vorankommen. es sich um den Umwelthaushalt handelt, der insgesamt weniger als 800 Millionen Euro umfasst. Dennoch muss In diesem Sinne hat Bundeskanzler Schröder in Jo- uns klar sein, dass wir es auch hier mit Problemen von hannesburg zu einer Internationalen Konferenz für er- globalen Ausmaßen zu tun haben. neuerbare Energien eingeladen, die im kommenden Jahr National haben wir im Umweltbereich viel erreicht. hier in Deutschland stattfinden wird. Es wurden je eine Ich bin stolz darauf, dass wir gerade in den letzten vier halbe Milliarde Euro über fünf Jahre verteilt zur Steige- (B) Jahren wichtige Weichenstellungen für die ökologische rung der Energieeffizienz und für den Ausbau der erneu- (D) Modernisierung unseres Landes erreicht haben, im Be- erbaren Energien in Entwicklungsländern zugesagt. Da- reich des Natur- und des Gewässerschutzes und vor al- rüber hinaus hat die Bundesregierung die Initiative lem auch im Bereich des Ausbaus der erneuerbaren ergriffen für eine Internationale Agentur für erneuerbare Energien. In dieser Richtung werden wir weiter arbeiten. Energien, die IRENA. Der internationale Austausch von Erfahrung und Know-how ist von zentraler Bedeutung Doch Sie wissen und ich weiß es, dass die großen und kann mit diesen Instrumenten hervorragend geleistet Umweltprobleme der Zukunft in globalen Dimensionen werden. stattfinden werden. Die Folgen der Gefährdung und der Zerstörung der Umwelt machen nicht an nationalen Auch vor unserer Haustür sehen wir die Notwendig- Grenzen halt. keit für aktive Partnerschaften. Die Zusammenarbeit mit den Staaten Mittel- und Osteuropas ist für die deutsche Die Lösung liegt in grenzüberschreitenden und inter- Umweltpolitik gerade vor dem Hintergrund der EU-Ost- nationalen Kooperationen. Deutschland hat als im Zen- erweiterung von besonderer Bedeutung. trum Europas liegendes Land ein besonderes Interesse und als reiches und freies Land eine besondere Verant- Die Erweiterung der Europäischen Union stellt für wortung, aktiv und konstruktiv gegen die Erwärmung uns eine historische Chance dar. Durch sie wird die Iden- der Erdatmosphäre, gegen den Verlust an biologischer tität Europas gestärkt, die auf der Vielfalt der Kulturen Vielfalt, gegen die zunehmende Wüstenbildung, gegen basiert. Dieser Prozess wird trotz der derzeit herrschen- die Verschmutzung der Meere und nicht zuletzt gegen den Meinungsverschiedenheiten andauern. den verantwortungslosen Umgang mit den Süßwasser- ressourcen zu arbeiten. Für die Umweltpolitik und die Umweltstandards in Europa bedeutet die Erweiterung zweierlei: Durch den Der Umwelthaushalt 2003 spiegelt ebenso wie die po- Beitritt der mittel- und osteuropäischen Staaten gewinnt litischen Festlegungen für diese Wahlperiode diese inter- die EU einen einzigartigen Reichtum an ökologisch wert- nationale Verantwortung wider. So leistet beispielsweise vollen Naturflächen, die so weit wie möglich erhalten Deutschland einen Beitrag zum Umweltfonds der UNEP werden müssen. Gleichzeitig kommt auf die Beitritts- in Höhe von 6 Millionen Euro, der Beitrag zum Sekreta- staaten die große Herausforderung zu, das gemeinschaft- riat der Klimarahmenkonvention beläuft sich auf über liche Umweltrecht zu übernehmen und umzusetzen und 4,5 Millionen Euro. Die projektbezogenen Beiträge an in vielen Bereichen effektive Umweltverwaltungen auf- internationale Organisationen im Umweltbereich wurden zubauen. Hier sind wir gefordert, finanzielle, technische trotz des Sparzwangs nochmals erhöht. Im Rahmen des und administrative Hilfe zu leisten. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. März 2003 2849

(A) Zwei Titel im Umwelthaushalt unterstreichen die Be- den Umweltschutz im Bundeshaushalt um ein Vielfaches hö- (C) deutung der umweltpolitischen Zusammenarbeit im sich her ist als der Etat des Umweltministers, dies liegt vor al- erweiternden Europa: lem daran, dass Umweltschutz als Querschnittsaufgabe eine Verpflichtung für viele Ressorts ist. Erstens. Die Beratungshilfe für den Umweltschutz in den Staaten Mittel- und Osteuropas sowie den neuen un- Für die Umweltpolitik unter Minister Trittin ist diese abhängigen Staaten ist seit ihrer Einführung im Jahr Verteilung der Haushaltsmittel aber auch ein Sinnbild: 2000 kontinuierlich erhöht worden, im Haushalt 2003 Umweltpolitik wird in der Bundesregierung weitgehend nochmals um fast 22 Prozent. Der Schwerpunkt liegt von anderen als von Minister Trittin gemacht. Der Um- hier in der fachlichen Begleitung von Twinning-Projek- welthaushalt ist ein Spiegelbild über die Verantwortung ten und hier insbesondere im Abfallbereich. für die Umweltpolitik in Deutschland. Dort, wo Ideolo- gie vor Sachverstand regiert, zeigen sich insbesondere Zweitens. Die Förderung von Investitionen zur Ver- die Schwachpunkte einer verfehlten Umweltpolitik. minderung grenzüberschreitender Umweltbelastungen – die so genannten Pilotprojekte Ausland – wird eben- Besonders verheerend wird dies im Bereich der Ener- falls auf hohem Niveau fortgeführt. Hier geht es vor al- gie- und Klimapolitik deutlich. Dabei lautet die zentrale lem um die Förderung von technischen Demonstrations- Frage: Wie kann man auf die Kernkraft langfristig ver- projekten. Unbestritten und bei allen Problemen ist dies zichten, ohne die Atmosphäre zusätzlich zu belasten, also eine sehr wichtige Aufgabe, und ich halte die in den Be- ohne einen verstärkten Einsatz fossiler Brennstoffe? Die ratungen erreichte Öffnung des Geltungsbereichs auf FDP will deshalb unbedingt eine preiswerte, sichere und Staaten, zu denen Deutschland keine direkte Grenze hat, zugleich klimafreundliche Energieversorgung. Selbstver- für sinnvoll. ständlich geht es dabei auch um die Förderung erneuerba- rer Energien. Dafür braucht man konsistente und glaub- Lassen Sie mich beispielhaft ein aktuelles Projekt würdige Konzepte. Niemals sind sonst die ehrgeizigen nennen, das verdeutlicht, wie mit diesen Mitteln ganz Ziele zu erreichen, die wir uns gemeinsam gesetzt haben. konkret in den EU-Beitrittsstaaten praktischer Umwelt- schutz betrieben und damit die Akzeptanz für die euro- Was leistet zum Beispiel Ihr Gesetz zur Förderung erneuer- päischen Standards verbessert wird: Am Montag wurde barer Energien tatsächlich? Erstens: die Anmaßung von tech- hier in Berlin ein Ressortabkommen zum ersten deutsch- nologischem Wissen durch den Staat; zweitens: eine in der lettischen Umweltschutz-Pilotprojekt auf Ressortebene Summe und im Zeitverlauf erhebliche steigende Belastung der unterzeichnet. Dabei sollen in Lettland elf Plattenbauten Stromkunden, die ohnehin durch die Ökosteuer betroffen sind; mit insgesamt etwa 770 Wohnung energetisch saniert drittens – für die FDP besonders bedeutsam –: ein Außer- werden, durch den Einbau neuer Fenster, durch Wärme- kraftsetzen des Wettbewerbs. Die bisherigen Festpreise sind (B) dämmung der Außenwände und Dächer und durch die vielfach zu hoch, sie hemmen dadurch Innovation und Kos- (D) Modernisierung der Heizsysteme. Der Kohlendioxidaus- tenbewusstsein. stoß soll so um etwa 1 100 Tonnen pro Jahr gesenkt wer- Die FDP fordert die Bundesregierung auf, endlich ein den. 2 Millionen Euro werden von BMU für diese Maß- schlüssiges energiepolitisches Gesamtkonzept vorzule- nahme zur Verfügung gestellt, die KfW beteiligt sich mit gen. Erneuerbare Energien müssen glaubwürdig dort ge- verbilligten Krediten bis zu insgesamt 5 Millionen Euro. fördert werden, wo dies ökologisch sinnvoll und zu- gleich kostengünstig möglich ist. Die wirtschaftliche und Die schwierigen außenpolitischen Probleme, denen zielgenaue Förderung erneuerbarer Energien verlangt wir uns derzeit stellen müssen, sind groß und drängen transparente und ehrliche Instrumente. Hören Sie auf da- manchmal langfristig angelegte Projekte und Vorhaben mit, Ihre ideologischen Konzepte zu verstecken: an run- in den Hintergrund der Wahrnehmung. Der vorliegende den Tischen oder hinter der Stromrechnung, die der Ener- Umwelthaushalt zeigt aber: Die Arbeit an der Verbesse- gieversorger dann seinem Kunden präsentiert! rung unserer Lebensqualität wie auch die unserer Nach- barn in Europa und der Menschen in Entwicklungslän- Die FDP bietet für die Umweltpolitik schlüssige Kon- dern bleibt eine wichtige Aufgabe unserer Politik. Die zepte mit klaren Prioritäten: Die FDP setzt auf Glaubwür- internationale und die bilaterale Zusammenarbeit und digkeit und Zukunftsorientierung. Anders die Bundesre- unsere Vorreiterrolle im Bereich des Umweltschutzes ist gierung: Mit dem so genannten Sofortausstieg aus der ein zentrales Element unserer internationalen Partner- Kernenergie hat Rot-Grün von Beginn an falsche Erwar- schaften, und wir werden diese Verantwortung weiter er- tungen geweckt. Ausgerechnet der grünen Wählerschaft füllen. wurde mit einem als kurzfristig vorgegaukelten Atom- ausstieg Sand in die Augen gestreut. Nach wie vor hat Dr. Christian Eberl (FDP): Finanzwissenschaftler die Bundesregierung kein Entsorgungskonzept für radio- bezeichnen den Haushaltsplan gern als das „Schicksals- aktiven Abfall. Wenn Sie sich Sorgen machen über die Si- buch der Nation“. Ein besonders trauriges Kapitel in die- cherheit deutscher Kernkraftwerke, wie steht es dann um die sem Buch ist die Umweltpolitik unter Minister Trittin. Sicherheit standortnaher Zwischenlager? Anstatt Atommüll unzugänglich, tief unter der Erde, zu lagern, erzwingen Sie Die Umweltschutzausgaben in manchen Ressorts sind provisorische Zwischenlager auf der grünen Wiese ohne dort zum Teil höher als der gesamte Etat des Umweltmi- Rücksicht auf riskante Langfristfolgen. Die FDP kritisiert es nisters – beispielsweise in den Ministerien für Wirtschaft, schon seit langem: Sie opfern die dringend erforderliche Ent- entwicklungspolitische Zusammenarbeit oder Bildung sorgung von Atommüll dem tagespolitischen Opportunismus und Forschung. Dass auch die Summe aller Ausgaben für von Rot-Grün. Die Suche nach fragwürdigen Alternativen für 2850 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. März 2003

(A) die Endlagerprojekte Schacht Konrad und Gorleben ist au- der Bundesregierung gestaltet? Der Sachverhalt ist, dass (C) ßerdem eine groteske Geldverschwendung – Geld, das an an- Sie in den vergangenen Jahren international immer mit derer Stelle dringend gebraucht wird. dem Minderungsziel von 25 Prozent bis 2005 durch die Gegend gezogen sind, welches wir aufgestellt haben, Die Erkundungsarbeiten in Gorleben wurden unter- dass Sie mit der Minderungsrate, die wir bei den Koh- brochen, obwohl es längst keine sachlich begründeten lendioxidemissionen bis 1998 für Sie erreicht haben, in- Zweifel an der Eignung von Gorleben als Endlagerstand- ternational Eindruck geschunden haben, dass heute, wo ort mehr gibt. Selbst im so genannten Atomkonsens Ihre Regierungsarbeit anfängt zu wirken, die CO2-Emis- heißt es, dass alle bisher gewonnenen geologischen Be- sionen in Deutschland nicht weiter sinken, sondern seit funde für eine „Eignungshöffigkeit“ des Salzstocks Gor- fast zwei Jahren wieder ansteigen. leben sprechen. Die FDP fordert die Bundesregierung auf, endlich ein Konzept zur Entsorgung des Atommülls In einer vor kurzem vorgelegten Studie kommt das vorzulegen und die zur Erkundung des Salzstocks Gorle- Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung, DIW, zur ben erforderlichen Mittel in den Umwelthaushalt einzu- nüchternen Feststellung, dass das 25-Prozent-Minde- stellen. rungsziel bis 2005 nicht mehr realisierbar ist. Angst ist ein schlechter Ratgeber. Aus Angst vor den Sie konnten diese Entwicklung schon frühzeitig er- Protesten grüner Klientel minimieren Sie die Zahl der kennen und haben fix mit einem Ablenkungsmanöver re- Atommülltransporte, Herr Minister Trittin. Transporte mini- agiert: Das 25-Prozent-Minderungsziel 2005 haben Sie mieren bedeutet aber nichts anderes als eine Maximierung des klammheimlich unter den Tisch fallen lassen und Ihren Atommülls auf dem Gelände der Kraftwerke. Ihre Politik Koalitionsvertrag mit einer auf den ersten Blick ambitio- ist unverantwortlich, Herr Minister Trittin. Deutschland niert erscheinenden neuen Zielfestlegung – 40 Prozent war über Jahrzehnte international führend bei der Weiterent- Reduktion der Treibhausgase bis 2020 – garniert. Dieses wicklung der Kerntechnik und ihrer Sicherheit. Deutsche Ziel ist unrealistisch, da es an die utopische Bedingung Kernkraftwerke sind noch immer die sichersten der Welt. geknüpft ist, dass sich Europa zu einer 30-Prozent-Min- Was aber wird morgen sein? Weltweit ist derzeit kein Ersatz derung verpflichtet. für die Kernenergie in dem von Ihnen vorgegaukelten Zeitraum denkbar. Ihr so genannter Atomausstieg wird Das ist eine Politik des Rückschritts, die wir so nicht deshalb an deutschen Hochschulen in diesem Bereich akzeptieren können. Das ist auch keine Basis, um andere eine Forschungswüste hinterlassen. Zur Weiterentwicklung überzeugen zu können. Deutschland ist weit davon ent- moderner Sicherheitstechnik wird Deutschland auf internatio- fernt, noch eine Vorreiterrolle im Klimaschutz einzuneh- naler Ebene künftig nichts mehr beitragen können. Wie auf men. Es ist notwendig, dass wir am 25-prozentigen CO2- (B) dem diplomatischen Parkett wird der von dieser Regierung Reduktionsziel bis 2005 festhalten. Dies ist ein Beitrag, (D) wieder erfundene „Deutsche Weg“ in einer Sackgasse en- den wir leisten können, um globalen Klimaschutz wieder den. Deutsche Wissenschaftler und Ingenieure werden nicht anzukurbeln. Dazu brauchen wir ein weltweit geschlos- mehr mitreden können. senes Vorgehen. Das verlangt, dass wir künftig zu einem Die FDP fordert die Bundesregierung auf, für die drän- gerechten burden sharing zwischen Industrie- und Ent- genden Fragen der nationalen und internationalen Umwelt- wicklungsländern kommen, die Einbindung der Ent- politik endlich schlüssige Konzepte vorzulegen. Glaubwür- wicklungsländer in den Gesamtprozess, Überwindung dige und verantwortliche Politik lässt keinen Raum für der zurzeit über dem Atlantik vorherrschenden Funk- Ideologie: Kein Raum für eine Insel der Glückseligen, kein stille durch erneute und stetige Versuche, die USA zu- Raum für eine Bedienung grüner Klientel. Es geht stattdessen rück ins Boot des Kioto-Protokolls zu holen, und direkte um die Bereitschaft und vor allem auch um die Fähigkeit, poli- und persönliche Werbung gegenüber Russland. Denn die tische Verantwortung zu übernehmen. Nicht zuletzt auf eine bislang immer noch ausstehende Ratifikation durch vernünftige, pragmatische Umweltpolitik wartet Deutschland Russland, hat das noch für das vergangene Jahr ange- bis heute vergebens. Umweltschutz braucht liberalen Sachver- strebte In-Kraft-Treten des Kioto-Protokolls weiter ver- stand statt Gängelung. Umweltpolitik braucht Kompetenz statt zögert. grünem Dirigismus. Unabdingbar ist, dass national klare Prioritäten durch ein solides Klimaschutzkonzept gesetzt werden. Gefragt Dr. Klaus Lippold (Offenbach) (CDU/CSU): Wenn sind dabei praktikable und wirtschaftsverträgliche Lö- der Haushalt des Bundesumweltministeriums beraten sungen. wird, bekommen wir in aller Regelmäßigkeit von Ihnen, Herr Bundesumweltminister, mehr oder weniger deut- „Die Klimaschutzziele der Bundesregierung sind lich zwei Hinweise: Erstens, die Masse der Umweltaus- alleine mit dem Ausbau erneuerbarer Energien gaben der Bundesregierung ist nicht im Haushalt des nicht zu erreichen. Besonders die Energieeinspar- Bundesumweltministeriums ausgewiesen, und zweitens, potenziale sind noch nicht ausgeschöpft. Verstärkte die Arbeit des BMU liegt in der Gesetzgebung, in der Anstrengungen zur CO2-Reduktion sind insbeson- Schwerpunktarbeit. Beide Hinweise sind richtig. Und dere bei den privaten Haushalten notwendig. Hier deshalb müssen wir uns zu allererst mit diesen Schwer- ist unter anderem dringend ein Programm zur Sa- punkten auseinandersetzen. nierung des Altbaubestandes geboten.“ Ganz oben auf der Agenda der Umweltpolitik steht Dies ist keine Forderung, die die CDU/CSU allein er- der Klimaschutz. Wie wird aber Klimaschutzpolitik von hebt. Dies ist der Auszug aus einer gemeinsamen Presse- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. März 2003 2851

(A) erklärung der Umweltverbände und der Union vom droht. Über zwei Jahre nach der Beschlussfassung wurde (C) 20. Februar dieses Jahres. mit der Übertragung von Flächen an Naturschutzorgani- sationen noch nicht begonnen, und die zögerliche Über- Der Punkt ist, dass in der energetischen Gebäude- tragung an die Länder ist zwischenzeitlich auch wieder sanierung das größte Potenzial für die Reduktion von zum Erliegen gekommen. Kohlendioxid schnell und kostengünstig erschlossen werden kann. Die Wissenschaft ist zu dem Ergebnis ge- Für den Schutz des Naturhaushaltes ist es unabding- kommen, dass sich die Kosten zur CO2-Minderung nach bar, eine Trendwende bei der Flächeninanspruchnahme heutigem Stand wie folgt beziffern lassen: zu erzielen. Hier fehlen konkrete Schritte, die dieses Pro- blem angehen. 500 Euro pro Tonne CO2-Einsparung durch Photovol- taik, 50 Euro pro Tonne CO2-Einsparung durch Wind- Ansatzpunkte, die auch heute noch aktuell sind, fin- kraft, 5 Euro pro Tonne CO2-Einsparung durch energeti- den Sie in Ihrem eigenen Haus. Lassen Sie sich das von sche Maßnahmen im Gebäudebestand. der damaligen Bundesumweltministerin Merkel entwi- Das jetzt im Haushalt Wohnungsbau aufgelegte Ge- ckelte umweltpolitische Schwerpunktprogramm vorle- bäudesanierungsprogramm über KfW-Zuschüsse ist ein gen. Erforderlich ist hier natürlich die enge Zusammen- Tropfen auf den heißen Stein. Notwendig ist, dass bei arbeit mit den Ländern und Kommunen. Auch hier sehe der Altbausanierung mit steuerlichen Anreizen gearbei- ich keine Ansatzpunkte. Geradezu konterkariert Ihre Po- tet werden muss. Wir haben da ganz klare Vorstellungen litik die umweltpolitische Zielsetzung, die Flächeninan- entwickelt. Einen kleinen Ansatz davon kann man in ei- spruchnahme zu reduzieren. Beispiel ist der Wildwuchs ner Passage Ihrer Koalitionsvereinbarung wiederfinden, von Windkraftanlagen selbst an weniger günstigen jedoch nicht den Hauch eines Ansatzes dafür, dass mit Standorten. Beispiel sind Ihre Überlegungen im Eck- der Umsetzung begonnen wird. punktepapier zur Novelle des EEG. Danach bestehen bei Ihnen Überlegungen, auch Photovoltaikanlagen auf Frei- Unsere Vorstellungen sind hier klar und deutlich: flächen in das EEG einzubeziehen. Aus Gründen des Erstens. Wir brauchen eine massive steuerliche Förde- Flächenverbrauchs ist dies scharf zu kritisieren, da für rung über die Wiedereinführung des ehemaligen § 82 a die Nutzung der Photovoltaik genügend bereits versie- EStDV, der Abschreibungen bei Wärmeschutzmaßnah- gelte Flächen zur Verfügung stehen. Paradebeispiel, wie men im Bestand ermöglicht. Sie großzügig über Belange des Naturschutzes hinweg- sehen, ist nach wie vor die Genehmigung des Offshore- Zweitens. Wir brauchen ergänzend eine steuerliche Be- Windparks Butendiek mitten in einem EU-Schutzgebiet. günstigung von allen Investitionen zur Energieeinspa- Auch wenn Sie ständig wiederholen, dass alle Bedenken rung und CO -Minderung bei Eigentumsübergängen (B) 2 der Naturschutzverbände ausgeräumt werden konnten, (D) durch Absetzbarkeit bei der Erbschaftssteuer. so ist dies schlicht falsch. Die Naturschutzverbände for- Drittens. Wir brauchen auch eine Berücksichtigung dern die Rücknahme dieser Entscheidung. Die Natur- über die Eigenheimzulage beim Erwerb und bei der Mo- schutzverbände fordern aber auch, die Novelle des EEG dernisierung von Altbauwohnungen. Wir erzielen damit zum Anlass zu nehmen, das Verhältnis erneuerbare Ener- zusätzlich einen weiteren positiven Umwelteffekt, die gie zum Naturschutz zu klären. Reduzierung der Flächeninanspruchnahme. Wir treten Ich meine, wir sollten uns mit diesem Anliegen sehr deshalb uneingeschränkt dafür ein, dass die Eigenheim- sorgfältig auseinandersetzen. Auch hier finde ich in Ih- zulage nicht gekürzt wird. Denn ren Eckpunkten zum EEG keinen Ansatzpunkt. Wir Ein weiteres elementares umweltpolitisches Anliegen brauchen regenerative Energien. Sie unterstellen uns im- ist der Natur- und Artenschutz. Herr Trittin, Sie müssen mer zu Unrecht, dass wir diese nicht wollten. Aber wenn sich den Vorwurf gefallen lassen, dass in diesem Bereich wir erneuerbare Energien und Naturschutz wirklich vor- Funkstille herrscht. Nach dem Sie in der letzten Legisla- anbringen wollen, dann brauchen wir nicht den Konflikt. turperiode das Bundesnaturschutzgesetz novelliert ha- Wir brauchen die Zusammenarbeit mit den Naturschüt- ben, lassen Sie jetzt völlig offen, wie sie Naturschutz zern, mit den Landwirten, mit allen Beteiligten. weiter voranbringen wollen. Wir setzen im Umweltschutz auf Kooperation und Völlig offen ist wie der Aufbau eines dringend not- nicht auf ideologische Fixierung. wendigen großflächigen Biotopverbundsystems ange- gangen werden soll. Petra Bierwirth (SPD): Arthur Schopenhauer stellte Ein weiterer Punkt, der völlig offen ist, ist der Aufbau einmal zutreffend fest: „Es ist nicht genug, dass man ver- des Nationalen Naturschutzerbes. Dessen Grundlage ist stehe, der Natur Daumenschrauben anzulegen; man die Übertragung von 100 000 Hektar ökologisch wert- muss auch verstehen können, wenn sie aussagt!“ voller Flächen in den neuen Bundesländern. Bislang sind Die Natur hat eine Aussage getroffen. Elbe, Oder und Ihrer Absichtserkärung, dass die Sicherung des nationa- Rhein – sie alle hatten innerhalb weniger Jahre eine Jahr- len Naturerbes fortgeführt werden soll keine Aktivitäten hundertflut. Hochwasser und Überschwemmungen an gefolgt. Flüssen gab es zwar schon immer, aber die Häufung in Tief enttäuschte Umweltverbände müssen vielmehr den letzten Jahren ist jedoch auffällig. Die Ursache für feststellen, dass das bereits in der letzten Wahlperiode die zunehmende Zahl von Hochwasser sind von uns verabschiedete Ziel in seiner Umsetzung zu scheitern Menschen hausgemacht. Jahrzehntelang wurde zum Bei- 2852 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. März 2003

(A) spiel die Begradigung von Bächen und Flüssen, der Bau ternationalen Workshop zu Schiffssicherheit und Meeres- (C) von Staustufen und der damit verbundene Verlust von umweltschutz in der Ostsee“ oder an die im Juni dieses Auen und Feuchtgebieten, die zunehmende Versiegelung Jahres auf Einladung der Bundesrepublik stattfindende von Flächen und auch die großflächige Entwässerung Ministerkonferenz zum Meeresumweltschutz des Nord- praktiziert. atlantiks und des Ostseegebietes. Die Notbremse wurde gezogen. Mit dem im vergan- Drittens: Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Ar- genem Herbst beschlossenen 5-Punkte-Programm sind mutsbekämpfung ist nicht ohne Grund das übergreifende verbindliche Maßnahmen für einen vorbeugenden Hoch- Ziel der deutschen Entwicklungszusammenarbeit. Maß- wasserschutz auf den Weg gebracht worden. Dies ist für nahmen zur Verbesserung des Zugangs zu Wasser und mich einmal mehr ein Zeichen dafür, dass der Gedanke Abwasserversorgung sind ein bedeutendes Element des der nachhaltigen Entwicklung in das tagespolitische Ge- „Aktionsprogramms 2015“ der Bundesregierung zur Ar- schehen Einzug gehalten hat. Es gilt, die nachhaltige Po- mutsbekämpfung. 798 Millionen Euro stehen dem Bun- litik der Bundesregierung fortzuschreiben. Der vorlie- desministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und gende Entwurf des Haushaltsplanes des BMU bietet Entwicklung für Umweltschutzprojekte und nachhaltige hierfür die finanziellen Rahmenbedingungen. Entwicklung in Ländern der dritten Welt zur Verfügung. Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, Haushaltkonsoli- Die globale Wasserkrise erreicht mit der „ansteigen- dierung und verantwortungsvolles umweltpolitisches den Hauptknappheit an Wasser ein beispielloses Niveau Denken schließen sich nicht aus. Unter der rot-grünen Re- in vielen Teilen der Dritten Welt“ so der Bericht der Ver- gierung ist Umweltpolitik zur Querschnittsaufgabe ge- einten Nationen. Bevölkerungswachstum, Verunreini- worden. Die Umweltpolitik wurde aus dem Aschenputtel- gungen und die zu erwartenden Klimaveränderungen dasein befreit. Die einzelnen Fachministerien können so sind die Ursachen für die Abnahme der Wasserressour- mit den für sie in ihren Haushalt eingestellten finanziellen cen. Ungefähr 2 Millionen Tonnen Abfall werden welt- Mitteln für Umweltschutzaufgaben erforderliche Maß- weit jeden Tag in Flüsse, Seen und Ströme geleitet. nahmen einleiten. Man möge sich an dieser Stelle vorstellen: Ein Liter Lassen Sie mich das anhand von drei Beispielen kurz Abwasser verschmutzt ungefähr acht Liter Trinkwasser. erläutern. Weltweit gibt es circa 12000 km3 verschmutztes Wasser. Erstens: Die Bundeswehr hat bei der Erfüllung ihres Täglich sterben rund 6 000 Kinder an Krankheiten, die Auftrages darauf zu achten, dass die Belastung für durch unsauberes Wasser übertragen werden. Nach UN- Mensch und Umwelt so gering wie möglich gehalten Angaben sind verschmutztes Trinkwasser und fehlende wird. In der Grundsatzweisung der Bundeswehr vom Entsorgung der Hauptgrund für 80 Prozent aller Krank- (B) (D) November 1998 sind die Aufgabengebiete für Umwelt- heiten in den Entwicklungsländern. Derzeit haben den schutzmaßnahmen definiert. 439 Millionen Euro sind für Angaben zufolge rund 1,1 Milliarden Menschen keinen das BMVg unter anderem für den Umweltschutz im Be- Zugang zu sauberem Wasser. Bis zum Jahr 2015 soll die reich der Bundeswehr vorgesehen. Zahl halbiert werden. Für eine weltweit notwendige was- serbezogene Infrastruktur werden globale Investitionen Jährlich gibt die Bundeswehr 30 Millionen Euro für in Höhe von 180 Milliarden US-Dollar benötigt. das Altlastenprogramm aus. Dazu gehören unter ande- rem vorbeugende und sanierende Maßnahmen im Ge- Der Bericht der UNESCO bildet die entscheidende wässer- und Bodenschutz. Im Sinne einer hohen Effekti- Grundlage für das derzeit stattfindende 3. Weltwasserfo- vität und Effizienz werden neue Sanierungstechniken rum in Kioto. „Von all den sozialen und natürlichen Kri- wie Elektrokinetik und Sanierung durch Pflanzen ange- sen die wir Menschen jemals gegenüberstanden“, so der wandt. UNESCO-Generalsekretär in seinem Bericht „ist die Wasserkrise die einzige, die über unser Überleben und Zweitens: Im Ressort des Bundesministers für Ver- das der Erde entscheidet.“ Der am Sonnabend stattfin- kehr nimmt der Meeresumweltschutz einen beachtlichen dende „Tag des Wassers“ soll dies uns allen eindringlich Platz ein. Hier geht es insbesondere um Maßnahmen zur ins Gedächtnis rufen! Vorbeugung und Bekämpfung von Schiffsunfällen sowie für einen besseren Schutz der maritimen Umwelt. Tan- Liebe Kolleginnen und Kollegen, in Deutschland ist kerunfälle, wie sie bereits schon in diesem Jahr zu ver- jederzeit und allerorts eine gesicherte Versorgung der zeichnen waren, hätten für ein solch ökologisch sensibl- Bevölkerung mit hygienisch einwandfreiem Wasser ge- es Binnenmeer wie die Ostsee verheerende Auswirkun- währleistet. Die Wasserwirtschaft in unserem Land bie- gen. Nicht nur auf die Natur und Umwelt, sondern auch tet seit Jahrzehnten eine flächendeckend hohe Versor- auf die Wirtschaft und das soziale Gefüge der Anrainer- gungssicherheit und Trinkwasserqualität. Die Bedeutung staaten. dieser Errungenschaft sollten wir uns nicht nur im dies- jährigen Internationalen Jahr des Süßwassers vor Augen Das auf den EU-Beschlüssen basierende 8-Punkte- führen. Programm für mehr Sicherheit auf See ist nur ein Maß- nahmenpaket zur Erreichung von mehr Sicherheit und Die in der WTO und in der EU diskutierte Öffnung Umweltschutz. Die Bundesregierung trägt hier nicht nur des Wassermarktes würde nicht nur erhebliche Folgen nationale Verantwortung, sondern sie wird hier auch ihrer für die Trinkwasserqualität und den Gesundheitsschutz internationalen Mitverantwortung gerecht. Ich denke da mit sich bringen, sondern unter anderem auch für den unter anderem an den vor 9 Tagen stattgefundenen „In- Schutz der Wasserressourcen und der Versorgungssi- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. März 2003 2853

(A) cherheit. Eine Marktöffnung ist außerdem nicht mit den festgestellt: „Dieser Haushalt ist ein Trauerspiel für die (C) Prinzipien einer nachhaltigen Wasserwirtschaft zu ver- Umweltpolitik“. einbaren. Wenn wir uns die Zahlen genauer betrachten, ist da- Wir haben diesen Fakt ausführlich in der letzten Le- mit eigentlich alles Wesentliche über diesen Etatentwurf gislaturperiode diskutiert und auch einen Antrag dazu gesagt. Aber so billig will ich Sie, meine Kollegen von hier in diesem Haus verabschiedet. Mit Besorgnis be- Rot-Grün, nicht davon kommen lassen und den Zuhö- trachte ich daher die Aktivitäten des Magdeburger Land- rern einige der wesentlichen Kritikpunkte erläutern: tages. Die CDU/FDP-Koalition will durch das in diesem Monat im eingebrachte „Zweite Investitionser- Der Einzelplan 16 spiegelt die Handschrift und die leichterungsgesetz“ die Privatisierung der Wasserversor- falschen Weichenstellungen des Bundesumweltministers gung forcieren. Wasser, der sensibelste und schwierigste und der rot-grünen Parlamentsmehrheit wider. Statt end- Bereich der Daseinsvorsorge kann nicht, wie es hier von lich auf eine nachhaltige Umweltpolitik zu setzen, stehen der Koalition pauschal gefordert wird, analog privatisiert weiterhin Ideologie, ein Durcheinander von teilweise werden wie zum Beispiel Post und Telekommunikation. kontraproduktiven Maßnahmen, fehlende Innovationen, Dem muss entschieden entgegengetreten werden. umweltpolitischer Stillstand, wachsende Bürokratie und das Abgleiten der Umweltpolitik in die Bedeutungslo- Die Kommunen müssen hier die Entscheidungsträger sigkeit im Vordergrund dieses Haushaltes. bleiben. Es geht hier um einen Qualitätswettbewerb, nicht um einen Marktwettbewerb mit diesem Lebens- Ich will diese Aussage gerne mit einigen Kennziffern grundstoff. des aktuellen rot-grünen Umwelthaushalts untermauern: Der Umweltetat wird gegenüber 2002 schrumpfen. Be- Liebe Kolleginnen und Kollegen, ohne Umweltschutz rücksichtigt man die schon absehbare Haushaltssperre, gibt es keine zukunftsfähige Entwicklung. Die Forde- wird die Schrumpfrate sogar weit über 3 Prozent liegen. rung an die Politik, die Wirtschaft und an die Gesell- Doch nicht nur der schrumpfende Haushaltsansatz, son- schaft kann nur lauten: Die Sicherung und der Ausbau dern vor allem die Art und Weise der internen Weichen- der wirtschaftlichen und sozialen Lebensbedingungen stellungen sowie die Wertigkeit und das Amtsverständ- muss einhergehen mit dem dauerhaften Schutz unserer nis des Ministers geben Anlass zu großer Sorge. Im natürlichen Lebensgrundlagen. Bundeshaushalt werden die Gesamtausgaben für die Eine Nachhaltige Umweltpolitik national und global Umweltpolitik auf 4,4 Milliarden Euro beziffert. Im Um- heißt nicht nur, erforderliche Umweltschutzmaßnahmen welthaushalt finden sich davon aber nur 533 Millionen zielgerichtet einzuleiten, sondern verlangt ein effizientes Euro. Damit sind gerade einmal 12,1 Prozent aller Um- (B) Umweltmanagement. weltschutzausgaben im Einzelplan 16 zu finden. Damit (D) ist eine verantwortungsvolle und nachhaltige Umwelt- Die rot-grüne Regierung kommt mit dem vorliegen- politik nicht zu gestalten. Wenn es noch einen Beweis dem Haushalt diesem Anspruch nach. für die Bedeutungslosigkeit des Umweltministers in die- ser Regierung bedurft hätte, dann wäre er damit erbracht. Georg Girisch (CDU/CSU): In diesen Tagen ist es Für besonders problematisch halte ich den großen schwierig, sich auf die Beratungen zum Einzelplan 16 bürokratischen Aufwand im Umweltbereich. Satte des Bundeshaushalts 2003 zu konzentrieren. Ein Krieg 52,8 Prozent des Stammhaushaltes entfallen auf den Ver- im Irak scheint unvermeidlich. Damit verbunden ist viel waltungshaushalt; zwei Drittel davon sind Personalaus- menschliches Leid, was wir uns auch in diesen Stunden gaben. Das zeigt einmal mehr: Unter Rot-Grün wird der immer wieder in Erinnerung rufen sollten. Zugleich erin- bürokratische Aufwand immer höher und werden zu- nere ich mich in diesen Stunden an die Bilder des ersten gleich die Ausgaben zur Förderung von konkreten Pro- Golfkriegs, der auch eine ökologische Katastrophe dar- jekten immer geringer. stellte: brennende Ölquellen, die den Himmel verdun- keln und das Atmen schier unerträglich machen, und sie- Lassen Sie uns aber auch gemeinsam betrachten, was chende Menschen, die noch heute unter den Spätfolgen bisher von Ihnen konkret umweltpolitisch erreicht von toxischen Kampfmitteln leiden. Wir müssen be- wurde: fürchten, dass auch dieses Mal Saddam Hussein wieder zum Mittel des Öko-Terrors greifen wird. Deshalb ist es Stichwort „Hochwasserschutz“. Als es darum ging, auch aus umweltpolitischer Sicht zu bedauern, dass kein mithilfe der Flutkatastrophe eine Wahl zu gewinnen, da Weg zur nachhaltigen Entwaffnung und friedlichen war Umweltpolitik Chefsache. Doch wo stehen wir Durchsetzung der UN-Resolutionen gefunden wurde heute beim Hochwasserschutz? Der Kanzler kündigt jetzt in anderen Bereichen viel an, um dann wenig bis Lassen Sie mich von der Weltpolitik zur deutschen gar nichts zu tun. Und was hat der Bundesumweltminis- Politik zurückkehren. In Deutschland hat das Versagen ter seit sieben Monaten für den tatsächlichen Hochwas- in Wirtschaftspolitik einen Namen: Gerhard Schröder. serschutz erreichen können? Fast nichts! Für das Versagen in der Haushaltspolitik steht der Name Hans Eichel. Und für das Versagen in der Umweltpolitik Stichwort „Schutz der Alpen“. Welche durchschla- steht der Name Jürgen Trittin. Das ist für die meisten genden Erfolge haben Sie bisher beim Schutz der Alpen von uns nichts Neues; denn am 3. Dezember letzten Jah- erzielen können? Keine! Dabei führt Deutschland sogar res hat mein Kollege Dr. Peter Paziorek an diesem Pult seit Monaten den Vorsitz bei der Alpenkonvention. 2854 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. März 2003

(A) Stichwort „Mobilfunk“, ein weiteres Feld rot-grünen passen. Dabei ist dieses Thema wirtschaftlich und ökolo- (C) Versagens. Die Menschen sind verunsichert, doch im gisch maßgeblich für die Zukunft. Hier muss der Bun- BMU herrscht in weiten Bereichen Funkstille. desumweltminister endlich klar Position beziehen, damit der vorherrschende unklare Zustand ein Ende hat und Stichwort „Abfallwirtschaft“. Aus dem Urteil des Eu- wir uns in der EU klar positionieren können. ropäischen Gerichtshofs ziehen Sie die völlig falschen Schlüsse; wir brauchen kein Reförmchen beim Kreislauf- Stichwort „Altbausanierung“. Bei dieser wirtschaftlich wirtschaftsgesetz. Was wir brauchen, ist eine richtige schwierigen Lage werden zinsvergünstigte Kredite allein Reform, eine Reform, die das Umwelt- und Wettbe- nicht ausreichen. Hier werden Sie noch weitere Maßnah- werbsrecht entsprechend verbessert, eine Reform, die men ergreifen müssen. Ökonomie und Ökologie nicht länger gegeneinander Stichwort „erneuerbare Energien“. Das bisherige ausspielt. EEG hat zwar der Windkraft einen Schub gegeben, ist Stichwort „Zwangspfand“. Besonders beim Zwangs- aber nicht überzeugend. Eine einseitige Begünstigung pfand müssen die tief greifenden Auswirkungen auf der Windkraft greift zu kurz, vielmehr darf kein Energie- Handel, Verbraucher, Recyclingwirtschaft und Umwelt träger diskriminiert werden. Deshalb müssen wir bei der berücksichtigt werden. Die Lösung in einer Verschär- dringend notwendigen Novellierung des EEG die Förde- fung der EU-Rechtsgrundlage zu suchen, wie Sie es tun, rung der Windkraft verringern und die Förderung für ist ein Irrweg. Richtiger wäre es, über eine EU-konforme andere erneuerbare Energien – wie Biogas oder Bio- Ausgestaltung der deutschen Gesetze nachzudenken. Es masse – erhöhen. Denn Windmühlen in unsinnigen Vor- ist schließlich kein Geheimnis, dass die EU Ihr Zwangs- ranggebieten sind nicht nur unwirtschaftlich, sondern pfand kritisch beäugt. Es ist ebenso bekannt, dass die verschandeln auch unsere Heimat. Deshalb brauchen wir EU-Kommission Ihre Verpackungsverordnung geprüft eine schlüssige, nachhaltige und zukunftsfähige Energie- und für nicht vereinbar mit dem Binnenmarkt befunden und Klimapolitik. Diese muss die Kräfte des Marktes hat. Sollte der Europäische Gerichtshof der Kommission auch vor dem Hintergrund eines liberalisierten EU-Bin- Recht geben, dann wird es neue Sonderregelungen in nenmarktes nutzen. deutschen Regalen und noch mehr Chaos geben. Aber Beim EEG sollten wir an dieser Stelle auch über die augenscheinlich wollen Sie das. Oder was sollen die Härtefallklausel sprechen. Da sagt Clement dies und Menschen von einem Zwangspfand auf Milchbecher Trittin das. Zwar sprechen beide miteinander, aber offen- sonst halten? Wenn Sie so weitermachen, dann brauchen bar verstehen sie sich nicht. Da verbreitet beispielsweise wir nicht nur Experten in der Entsorgungsbranche, son- das BMU eine Meldung über die Einigung auf eine neu- dern dann brauchen die Bürger bereits für das Einkaufen trale Kontrollinstanz, der umgehend ein Dementi aus ein abgeschlossenes Studium, um alle Ihre Pfandrege- (B) dem Hause Clement folgt. So kann man nicht das not- (D) lungen verstehen zu können. wendige Vertrauen bei den Bürgern und Unternehmen Stichwort „CO2-Reduktion“. Hier versagt die Bun- schaffen. Genauso ungeeignet ist eine einseitige Bevor- desregierung mehr als kläglich. Die Klimaschutzkonfe- zugung der Windenergie oder auch die einseitige Belas- renz in Neu Delhi war ein glatter Fehlschlag. Deutsch- tung für bestimmte Industriezweige. Deshalb müssen wir land konnte dort keine Gesamtlösungen für die Senkung diese Punkte bei der Novellierung des EEG berücksichti- des CO2-Ausstoßes erreichen. Dies verwundert nicht, da gen. Deutschland unter Rot-Grün viel von seiner umweltpoli- Stichwort „Bundesnaturschutzgesetz“. Die Neufas- tischen Glaubwürdigkeit verloren hat. Die Regierung sung blieb weit hinter den umweltpolitischen Notwen- Kohl hatte sich zum Ziel gesetzt, die CO -Emissionen 2 digkeiten zurück. Wir haben beim Naturschutz immer bis 2005 um 25 Prozent zu senken. Von diesem ehrgei- auf die notwendige Unterstützung durch Bürger und zigen Ziel hat sich Rot-Grün inzwischen verabschiedet Landnutzer gebaut. Dafür ist die Herstellung eines brei- und damit seine Vorreiterrolle im Klimaschutz faktisch ten gesellschaftspolitischen Konsenses unverzichtbar. aufgegeben. Dies gilt auch und besonders für die Harmonisierung des Dass wir bei der CO2-Reduktion so versagen, liegt landwirtschaftlichen Naturschutzes. Und was machen auch an der Ihrer Ausstiegsstrategie bei der Kernenergie. Sie? Erst entwickeln Sie viele verschiedene Kategorien Zurzeit werden von den deutschen Kernkraftwerken rund von Schutzgebieten und werfen irrsinnige Zahlen in den 160 Milliarden Kilowattstunden Strom pro Jahr erzeugt, Raum. Jetzt halten Sie diese Zusagen nicht ein. Somit die vor allem die Grundlast abdecken. Diesen Bedarf wer- reihen Sie einmal mehr Einzelmaßnahmen aneinander, den wir in absehbarer Zeit nicht aus alternativen Energien ohne dass eine Strategie erkennbar ist. ersetzen können. Die Folge wird sein, dass wir entweder Strategie ist bei diesem Bundesminister nur in einem wieder mehr fossile Brennstoffe für die Stromerzeugung Sektor zu erkennen: bei der Ideologisierung der Perso- verbrennen müssen und damit den CO -Ausstoß unnötig 2 nalpolitik. Da versetzen Sie zwei führende Ministerial- erhöhen oder den Strom im Ausland zukaufen müssen. beamte aus ausschließlich parteipolitischen Gründen in Den Atomstrom aus dem Ausland zu beziehen heißt aber den einstweiligen Ruhestand. Wer sich die Neubesetzun- weniger Schutz für die Bürger, da viele KKWs im Aus- gen anschaut, dem wird rasch klar: Hier handelt es sich land einen niedrigeren Sicherheitsstandard haben. um grünen Filz und die Versorgung von „grünen Altlas- Stichwort „Emissionshandel“. Während in der EU ten“. Diese Versorgung hat nicht nur einen faden Beige- dieses Thema immer intensiver diskutiert wird, droht schmack, sondern treibt die Personalkosten noch weiter Deutschland in diesem Bereich den Anschluss zu ver- in die Höhe. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. März 2003 2855

(A) Fazit: für Photovoltaikanlagen und Speicher- und Regeltechnik (C) bei der Solarthermie. Die Bundesregierung ist mit dem Anspruch, mehr für die Umwelt tun zu wollen, gescheitert. Besonders fatal Schon heute arbeiten in Deutschland 1,3 Millionen ist es dabei, dass sie auf mehr Aktionismus, mehr Ideolo- Menschen im Umweltbereich – das sind mehr als im gie, mehr Bürokratie und mehr Steuern statt auf mehr Maschinenbau, im Fahrzeugbau oder im Ernährungsge- Freiraum, mehr Selbstverpflichtungen und mehr Innova- werbe. Allein in den erneuerbaren Energien sind mehr tionen setzt. als 130 000 Menschen tätig, davon rund 40 000 in der Windenergie. Diese Tatsache lässt sich nicht nur mit dem vielen fal- schen politischen Weichenstellungen der letzten fünf Die Errichtung von Offshore-Windparks in der Nord- Jahre belegen, sondern auch mit diesem Einzelplan 16. see wird allein in Niedersachsen bis 2005 800 Arbeits- Von einer nachhaltigen Umweltpolitik ist bei dieser Bun- plätze schaffen, bis 2010 weitere 2 500, bis 2016 noch- desregierung und den sie tragenden Fraktionen weiterhin mal 2 700 und bis 2020 weitere 4 600. Das sind 10 600 nichts zu erkennen. insgesamt. Bau und Betrieb der Offshore-Windparks werden auf dem Arbeitsmarkt die Rolle der Werften Stattdessen müssen wir uns auch heute wieder mit ei- übernehmen. Der Windkraftanlagenhersteller Enercon nem Dokument der verpassten Chancen für die Umwelt ist heute der größte Arbeitgeber in Sachsen-Anhalt. Was befassen. Deshalb kann dieser Haushaltsplan von der als Tüftlerwerkstatt belächelt wurde, ist heute ein multi- Union nicht unterstützt werden. nationales Unternehmen mit über 5 000 Mitarbeitern. Vom Bau der Windparks profitieren wieder andere Be- Jürgen Trittin, Bundesminister für Umwelt, Natur- reiche, zum Beispiel die Stahlindustrie. Allein die Ener- schutz und Reaktorsicherheit: In den vergangenen Wo- gie- und Klimaschutzpolitik der Bundesregierung wird chen wurde gewarnt, wir dürften nicht vom Kurs der nach einer Prognos-Studie bis 2020 zur Schaffung von Haushaltssanierung abweichen. Wenn wir dieses Ziel er- 200 000 zusätzlichen Arbeitsplätzen führen. reichen wollen, müssen wir in Arbeit investieren. Das entlastet die Sozialsysteme und schafft nachhaltiges In welchen Bereichen können wir Win-Win-Situatio- Wirtschaftswachstum. Dabei müssen wir klug in Arbeit nen für Arbeit und Umwelt schaffen und nachhaltiges investieren: nicht nur den Arbeitsmarkt, sondern gleich- Wirtschaftswachstum stimulieren? Die Bauwirtschaft zeitig unser Umweltkonto sanieren. Denn der Schulden- wird von Maßnahmen zur energetischen Sanierung von berg, den wir im Umweltbereich anhäufen, wird die Gebäuden – Wärmedämmung, Modernisierung der Heiz- nächste Generation sehr viel teurer zu stehen kommen technik – profitieren. Das gilt vor allem für kleine und als die Staatsverschuldung. Allein die Sachschäden des mittlere Betriebe, die Lehrstellen bieten. Das unterstüt- (B) Elbehochwassers belaufen sich auf mehr als 9 Milliarden zen wir beispielsweise durch Kreditprogramme. Eine (D) Euro. Und der Klimawandel hat gerade erst begonnen. Fortschreibung der Ökosteuer wird weitere Impulse ge- ben. Wir sollten die Investitionsprogramme, die die Bun- Business as usual rechnet sich in der Zukunft nicht. desregierung jetzt auflegt, ganz gezielt zur energetischen Die Summe der dem Klimawandel zugerechneten Versi- Sanierung nutzen. cherungsschäden schnellten 2002 weltweit auf 55 Mil- Der ländliche Raum wird vom Ausbau der Biomasse- liarden Dollar. Sie lag damit erstmalig über der Summe kraftwerke, vom Anbau und der Vermarktung solarer der weltweiten Ausgaben der öffentlichen Entwick- Kraftstoffe profitieren. Die geplante Reform des EEG lungshilfe in Höhe von 51,4 Milliarden Dollar. soll die Vergütungssätze für kleine Bioenergieanlagen Ich möchte eine andere Rechnung dagegensetzen: Die anheben. Mittelfristig soll das Potenzial von 2 Terawatt- Förderung der erneuerbaren Energien kostet den deut- stunden auf 20 Terawattstunden verzehnfacht werden. schen Durchschnittshaushalt 8 Euro im Jahr – und damit Schon heute gibt es in der Biomassenutzung circa 50 000 spart er Kosten zur Beseitigung von Umwelt- und Ge- Arbeitsplätze. sundheitsschäden in Höhe von 65 Euro. Wir können Investitionen in ÖPNV und die Bahn schaffen Ar- künftig Wohlstand nur sichern, wenn wir zwei Fliegen beitsplätze und schonen die Umwelt. Das können wir mit einer Klappe schlagen und in Arbeitsplätze speziell mit einer Fortschreibung der Ökosteuer und der Einfüh- im Umwelt- und Klimaschutz investieren. Ich erinnere rung einer Kerosinsteuer inklusive einer 16-prozentigen an Lauchhammer, einen der ältesten Industriestandorte Mehrwertsteuer für Flugtickets forcieren. Wenn die Poli- Deutschlands. Dort entstehen jetzt 450 neue Arbeits- tik diesen Kraftakt unternimmt, muss die Bahn aller- plätze in der Produktion von Rotorblättern. Lauchham- dings auch das Ihre tun: nämlich ein vernünftiges Preis- mer ist für die Menschen in der Lausitz ein Lichtblick. system und ein kundenorientiertes Buchungssystem Nur die ökologische Modernisierung der Wirtschaft einführen. führt nachhaltig aus der Krise am Arbeitsmarkt. Umwelt- Selbst der Atomausstieg führt an den betroffenen schutz ist eine Jobmaschine, und zwar in der Produktion Standorten nicht zu einem Verlust an Arbeitsplätzen, da und im Dienstleistungsbereich. Mit fortschreitendem der Rückbau sofort begonnen wird und Arbeitskräfte Klimawandel gibt es die größten Exportchancen im Be- braucht. reich der Umwelt-, Effizienz- und Energietechnologien: Kalifornien importiert unsere modernen Gaskraftwerke Umwelt- und Klimaschutz sind kein Kostenfaktor, mit einer Effizienz von 90 Prozent. Deutschland expor- sondern eine Arbeitsplatzmaschine und damit der nach- tiert weltweit Wechselrichter und elektronische Bauteile haltigste Weg, Haushaltskonsolidierung zu betreiben. 2856 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 34. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 19. März 2003

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