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Plenarprotokoll 15/56

Deutscher

Stenografischer Bericht

56. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2003

Inhalt:

Begrüßung des Marschall des Sejm der Repu- rung als Brücke in die Steuerehr- blik Polen, Herrn Marek Borowski ...... 4621 C lichkeit (Drucksache 15/470) ...... 4583 A Begrüßung des Mitgliedes der Europäischen Kommission, Herrn Günter Verheugen . . . 4621 D in Verbindung mit Begrüßung des neuen Abgeordneten ...... 4581 A Benennung des Abgeordneten Rainder Tagesordnungspunkt 19: Steenblock als stellvertretendes Mitglied im a) Antrag der Abgeordneten Dr. Michael Programmbeirat für die Sonderpostwert- Meister, , weiterer Ab- zeichen ...... 4581 B geordneter und der Fraktion der CDU/ Nachträgliche Ausschussüberweisung ...... 4582 D CSU: Steuern: Niedriger – Einfa- cher – Gerechter Erweiterung der Tagesordnung ...... 4581 B (Drucksache 15/1231) ...... 4583 A b) Antrag der Abgeordneten Dr. Hermann Zusatztagesordnungspunkt 1: Otto Solms, Dr. , weiterer Abgeordneter und der Fraktion Abgabe einer Erklärung durch den Bun- der FDP: Steuersenkung vorziehen deskanzler: Deutschland bewegt sich – (Drucksache 15/1221) ...... 4583 B mehr Dynamik für Wachstum und Be- schäftigung 4583 A Gerhard Schröder, Bundeskanzler ...... 4583 C Dr. CDU/CSU ...... 4587 D in Verbindung mit Franz Müntefering SPD ...... 4592 D Dr. FDP ...... 4596 D Tagesordnungspunkt 7: BÜNDNIS 90/ a) Erste Beratung des von den Fraktionen DIE GRÜNEN ...... 4600 A der SPD und des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN eingebrachten Ent- Dr. Guido Westerwelle FDP ...... 4603 B wurfs eines Gesetzes zur Förderung Krista Sager BÜNDNIS 90/ der Steuerehrlichkeit DIE GRÜNEN ...... 4603 C (Drucksache 15/1309) ...... 4583 A CDU/CSU ...... 4603 D b) Erste Beratung des von den Abgeord- neten Dr. , SPD ...... 4608 A Dr. Andreas Pinkwart, weiteren Ab- Dr. Gesine Lötzsch fraktionslos ...... 4610 D geordneten und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Geset- BÜNDNIS 90/ zes zur vereinfachten Nachversteue- DIE GRÜNEN ...... 4611 D II Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 56. Sitzung. , Donnerstag, den 3. Juli 2003

Dietrich Austermann CDU/CSU ...... 4612 D Wirtschaftsprüfungsexamens (Wirt- schaftsprüfungsexamens-Reform- Gabriele Frechen SPD ...... 4615 B gesetz – WPRefG) Dr. CDU/CSU ...... 4617 C (Drucksache 15/1241) ...... 4644 B Dr. SPD ...... 4619 A b) Erste Beratung des vom Bundesrat ein- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Bundesnatur- Tagesordnungspunkt 3: schutzgesetzes (Drucksache 15/776) ...... 4644 B Zweite Beratung und Schlussabstimmung über den von der Bundesregierung einge- c) Erste Beratung des von den Abgeord- brachten Entwurf eines Gesetzes zu dem neten , Joachim Günther Vertrag vom 16. April 2003 über den (Plauen), weiteren Abgeordneten und Beitritt der Tschechischen Republik, der Fraktion der FDP eingebrachten der Republik Estland, der Republik Zy- Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur pern, der Republik Lettland, der Repu- Bereinigung von SED-Unrecht blik Litauen, der Republik Ungarn, der (Drittes SED-Unrechtsbereinigungs- Republik , der Republik Polen, gesetz – 3. SED-UnBerG) der Republik Slowenien und der Slowa- (Drucksache 15/1235) ...... 4644 D kischen Republik zur Europäischen Union in Verbindung mit (Drucksachen 15/1100, 15/1200, 15/1300, 15/1301) ...... 4621 B Dr. Angelica Schwall-Düren SPD ...... 4622 A Zusatztagesordnungspunkt 2: Dr. Wolfgang Schäuble CDU/CSU ...... 4623 D a) Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/ Joseph Fischer, Bundesminister AA ...... 4626 C DIE GRÜNEN eingebrachten Ent- Dr. Wolfgang Schäuble CDU/CSU . . . . . 4629 B wurfs eines Gesetzes zur Änderung des Tabaksteuergesetzes und ande- Dr. Friedbert Pflüger CDU/CSU ...... 4629 D rer Verbrauchsteuergesetze CDU/CSU ...... 4630 B (Drucksache 15/1313) ...... 4644 D Joseph Fischer, Bundesminister AA ...... 4631 A b) Antrag der Abgeordneten Brunhilde Irber, Annette Faße, weiterer Abgeord- Sabine Leutheusser-Schnarrenberger neter und der Fraktion der SPD sowie FDP ...... 4631 D der Abgeordneten Undine Kurth (Wiesloch) SPD ...... 4633 A (Quedlinburg), Dr. Reinhard Loske, weiterer Abgeordneter und der Frak- Dr. Hans-Peter Uhl CDU/CSU ...... 4634 C tion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- SPD ...... 4636 C NEN: Reisen ohne Handicap – Für ein barrierefreies Reisen und Na- Dr. Hans-Peter Uhl CDU/CSU ...... 4637 A turerleben in unserem Land fraktionslos ...... 4637 B (Drucksache 15/1306) ...... 4644 D SPD ...... 4638 A c) Antrag der Abgeordneten Hans Büttner (Ingolstadt), Reinhold Hemker, Michael Stübgen CDU/CSU ...... 4639 B weiterer Abgeordneter und der Frak- tion der SPD sowie der Abgeordneten Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Thilo Hoppe, Hans-Christian Ströbele, zur namentlichen Abstim- weiterer Abgeordneter und der Frak- mung ...... 4640 C tion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- NEN: Unterstützung von Landrefor- Namentliche Abstimmung ...... 4642 A men zur Bekämpfung der Armut und der Hungerkrise im südlichen Ergebnisse ...... 4642 A Afrika (Drucksache 15/1307) ...... 4645 A d) Antrag der Abgeordneten Reinhold Tagesordnungspunkt 25: Hemker, Sören Bartol, weiterer Abge- a) Erste Beratung des von der Bundesre- ordneter und der Fraktion der SPD so- gierung eingebrachten Entwurfs eines wie der Abgeordneten Thilo Hoppe, Gesetzes zur Reform des Zulas- (Köln), weiterer Abge- sungs- und Prüfungsverfahrens des ordneter und der Fraktion des BÜND- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2003 III

NISSES 90/DIE GRÜNEN: Verbesse- f) Zweite Beratung und Schlussabstim- rung der Welternährungssituation mung über den von der Bundesregie- und Verwirklichung des Rechts auf rung eingebrachten Entwurf eines Ge- Nahrung setzes zu dem Vertrag vom 27. Juni (Drucksache 15/1316) ...... 4645 B 2001 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik In- e) Antrag der Abgeordneten Gabriele dien über die Auslieferung Lösekrug-Möller, Ulrike Mehl, weite- (Drucksachen 15/1073, 15/1285) . . . . 4646 D rer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Undine g) Beschlussempfehlung und Bericht des Kurth (Quedlinburg), Volker Beck Rechtsausschusses zu der Unterrich- (Köln), weiterer Abgeordneter und der tung durch die Bundesregierung: Vor- Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE schlag für eine Richtlinie des Euro- GRÜNEN: Naturschutz geht alle päischen Parlaments und des Rates an – Akzeptanz und Integration des zur Änderung der Richtlinien 72/ Naturschutzes in andere Politikfel- 166/EWG, 845/5/EWG und 90/232/ der weiter stärken EWG des Rates sowie der Richtlinie (Drucksache 15/1318) ...... 4645 B 2000/26/EG über die Kraftfahrzeug- Haftpflichtversicherung f) Antrag der Abgeordneten Hubert (Drucksachen 15/103 Nr. 2.34, 15/985) 4647 A Hüppe, Christa Nickels und weiterer Abgeordneter: Forschungsförderung h) Beschlussempfehlung und Bericht des der Europäischen Union unter Re- Finanzausschusses zu der Unterrich- spektierung ethischer und verfas- tung durch die Bundesregierung: Ent- sungsmäßiger Prinzipien der Mit- schließung des Europäischen Parla- gliedstaaten ments zu der Mitteilung der (Drucksache 15/1310) ...... 4645 C Kommission an den Rat und das g) Antrag der Abgeordneten Ulrike Europäische Parlament „Clearing Flach, und weiterer und Abrechnung in der Europäi- Abgeordneter: Kein Ausstieg aus der schen Union. Die wichtigsten politi- gemeinsamen Verantwortung für die schen Fragen und künftigen Heraus- europäische Stammzellforschung forderungen“ (Drucksachen 15/611 Nr. 1.7, 15/1169) (Drucksache 15/1346) ...... 4645 C 4647 A i) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz Tagesordnungspunkt 26: und Reaktorsicherheit zu der Verord- nung der Bundesregierung: Drei- a) Zweite und dritte Beratung des von zehnte Verordnung zur Durchfüh- den Fraktionen der SPD und des rung des Bundes-Immissionsschutz- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN ein- gesetzes (Verordnung über Großfeue- gebrachten Entwurfs eines Vierten rungs- und Gasturbinenanlagen – Gesetzes zur Änderung des Europa- 13. BImSchV) wahlgesetzes und eines Neunzehnten (Drucksachen 15/1074, 15/1154 Nr. 1, Gesetzes zur Änderung des Europa- 15/1281) ...... abgeordnetengesetzes 4647 B (Drucksachen 15/1205, 15/1340) . . . . 4645 D j) Beschlussempfehung und Bericht des c) Zweite und dritte Beratung des von der Ausschusses für Umwelt, Naturschutz Bundesregierung eingebrachten Ent- und Reaktorsicherheit zu der Verord- wurfs eines Zweiten Gesetzes zur nung der Bundesregierung: Verord- Änderung des Zollverwaltungsgeset- nung zur Umsetzung EG-rechtlicher zes und anderer Gesetze Vorschriften, zur Novellierung der (Drucksachen 15/1060, 15/1342) . . . . 4646 A Zweiundzwanzigsten Verordnung zur Durchführung des Bundes-Immissions- d) Zweite und dritte Beratung des von der schutzgesetzes (Verordnung über Bundesregierung eingebrachten Entwurfs Immissionswerte für Schadstoffe in eines Gesetzes zur Durchführung der Luft – 22. BImSchV) und zur gemeinschaftsrechtlicher Vorschriften Aufhebung der Dreiundzwanzigsten über die grenzüberschreitende Be- Verordnung zur Durchführung des weisaufnahme in Zivil- oder Han- Bundes-Immissionsschutzgesetzes delssachen in den Mitgliedstaaten (Verordnung über die Festlegung von (EG-Beweisaufnahmedurchführungs- Konzentrationswerten – 23. BImSchV) gesetz (Drucksachen 15/1178, 15/1272 Nr. 2.2, (Drucksachen 15/1062, 15/1283) . . . . 4646 C 15/1351) ...... 4647 C IV Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2003

k)–o) wurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über die Tätigkeit euro- Beschlussempfehlungen des Petitions- päischer Rechtsanwälte in Deutsch- ausschusses: Sammelübersichten 45, land und weiterer berufsrechtlicher 46, 47, 48 und 49 zu Petitionen Vorschriften für Rechts- und Patent- (Drucksachen 15/1242, 15/243, 15/244, anwälte, Steuerberater und Wirt- 15/245, 15/246) ...... 4647 D schaftsprüfer (Drucksachen 15/1072, 15/1284) . . . . 4649 D in Verbindung mit

Tagesordnungspunkt 5: Zusatztagesordnungspunkt 3: a) Unterrichtung durch die Bundesregie- a)–e) rung: Ernährungs- und agrarpoli- Beschlussempfehlungen des Petitions- tischer Bericht 2003 der Bundes- ausschusses: Sammelübersichten 50, regierung 51, 52, 53 und 54 zu Petitionen (Drucksache 15/405) ...... 4650 A (Drucksachen 15/1335, 15/1336, 15/1337, b) – Zweite und dritte Beratung des von 15/1338, 15/1339) ...... 4648 B den Abgeordneten Hans-Michael Goldmann, Birgit Homburger, wei- teren Abgeordneten und der Frak- Zusatztagesordnungspunkt 8: tion der FDP eingebrachten Ent- wurfs eines Gesetzes zur Beschlussempfehlung des Vermittlungs- Aufhebung des Gesetzes zur Mo- ausschusses zu dem Gesetz zur Regelung dulation von Direktzahlungen im des Urheberrechts in der Informations- Rahmen der Gemeinsamen gesellschaft Agrarpolitik und zur Änderung (Drucksachen 15/38, 15/837, 15/1066, des GAK-Gesetzes 15/1353)...... 4648 D (Drucksachen 15/754, 15/1158) 4650 B – Zweite und dritte Beratung des Zusatztagesordnungspunkt 9: vom Bundesrat eingebrachten Ent- wurfs eines Gesetzes zur Aufhe- Beschlussempfehlung des Vermittlungs- bung des Modulationsgesetzes ausschusses zu dem Gesetz zur Förde- und zur Änderung des GAK- rung von Kleinunternehmen, zur Ein- Gesetzes dämmung der Schattenwirtschaft und (Drucksachen 15/948, 15/1158) 4650 B zur Verbesserung der Untermehmens- finanzierung c) Beschlussempfehlung und Bericht des (Drucksachen 15/537, 15/900, 15/1042, Ausschusses für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft 15/1197, 15/1354) ...... 4648 D – zu dem Antrag der Abgeordneten Waltraud Wolff (Wolmirstedt), Zusatztagesordnungspunkt 10: Matthias Weisheit, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion der SPD Beschlussempfehlung des Vermittlungs- sowie der Abgeordneten Ulrike ausschusses zu dem Gesetz zur Bekämp- Höfken, Volker Beck (Köln), wei- fung des Missbrauchs von 0190er-/ terer Abgeordneter und der Frak- 0900er-Mehrwertdiensterufnummern tion des BÜNDNISSES 90/DIE (Drucksachen 15/907, 15/1068, 15/1126, GRÜNEN: EU-Agrarreform mu- 15/1198, 15/1355) ...... 4649 A tig angehen und ausgewogen ge- stalten Tagesordnungspunkt 26: – zu dem Antrag der Abgeordneten Peter H. Carstensen (Nordstrand), b) Zweite und dritte Beratung des von der , weiterer Abge- Bundesregierung eingebrachten Ent- ordneter und der Fraktion der wurfs eines Gesetzes zur Abwicklung CDU/CSU: Mit der Reform der der Bundesanstalt für vereinigungs- Gemeinsamen Agrarpolitik die bedingte Sonderaufgaben (BvSAb- Landwirtschaft und die ländli- wicklungsgesetz – BvSAbwG) chen Räume in der EU stärken (Drucksachen 15/1181, 15/1352) . . . . 4649 B – zu dem Antrag der Abgeordne- e) Zweite und dritte Beratung des von der ten Hans-Michael Goldmann, Bundesregierung eingebrachten Ent- Dr. Christel Happach-Kasan, weite- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2003 V

rer Abgeordneter und der Fraktion Albert Deß CDU/CSU ...... 4665 A der FDP: Marktwirtschaftliches Modell einer flächengebundenen Ulrike Höfken BÜNDNIS 90/ Kulturlandschaftsprämie verwirk- DIE GRÜNEN ...... 4667 A lichen Matthias Weisheit SPD ...... 4668 A (Drucksachen 15/462, 15/422, 15/435, 15/1025) ...... 4650 C Tagesordnungspunkt 6: d) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verbraucherschutz, Erste Beratung des von den Abgeordneten Ernährung und Landwirtschaft Maria Eichhorn, Dr. Maria Böhmer, wei- teren Abgeordneten und der Fraktion der – zu dem Antrag der Abgeordneten CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Reinhold Hemker, Dr. Sascha Dritten Gesetzes zur Änderung des Raabe, weiterer Abgeordneter und Achten Buches Sozialgesetzbuch (Drit- der Fraktion der SPD sowie der tes SGB VIII-Änderungsgesetz – Abgeordneten Ulrike Höfken, 3. SGB VIII-ÄndG) Thilo Hoppe, weiterer Abgeordne- (Drucksache 15/1114) ...... 4670 A ter und der Fraktion des BÜND- NISSES 90/DIE GRÜNEN: Für CDU/CSU ...... 4670 B eine nachhaltige Agrarpolitik und einen gerechten Interessen- Christel Riemann-Hanewinckel, ausgleich bei den laufenden Parl. Staatssekretärin BMFSFJ ...... 4672 A WTO-Verhandlungen Klaus Haupt FDP ...... 4673 D – zu dem Antrag der Abgeordneten Jutta Dümpe-Krüger BÜNDNIS 90/ Peter H. Carstensen (Nordstrand), DIE GRÜNEN ...... 4674 D Albert Deß, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Ingrid Fischbach CDU/CSU ...... 4675 D WTO-Verhandlungen – Europäi- sches Landwirtschaftsmodell ab- Christel Humme SPD ...... 4677 C sichern (Drucksachen 15/550, 15/534, 15/1133) 4650 D Tagesordnungspunkt 9: e) Antrag der Abgeordneten Hans- a) – Zweite und dritte Beratung des von Michael Goldmann, Dr. Christel den Fraktionen der SPD und des Happach-Kasan, weiterer Abgeord- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN neter und der Fraktion der FDP: eingebrachten Entwurfs eines Agrarpolitische Herausforderungen Gesetzes zur Änderung der Vor- der WTO und EU-Osterweiterung schriften über die Straftaten mit der Kulturlandschaftsprämie gegen die sexuelle Selbstbestim- meistern mung und zur Änderung anderer (Drucksache 15/1232) ...... 4651 A Vorschriften f) Antrag der Abgeordneten Hans- (Drucksachen 15/350, 15/1311) 4679 B Michael Goldmann, Dr. Christel – Zweite und dritte Beratung des von Happach-Kasan, weiterer Abgeord- den Abgeordneten Wolfgang neter und der Fraktion der FDP: Imp- Bosbach, Dr. Norbert Röttgen, wei- fen statt Töten – Grundlage für den teren Abgeordneten und der Frak- Einsatz von Markerimpfstoffen tion der CDU/CSU eingebrachten schaffen Entwurfs eines Gesetzes zur Ver- (Drucksache 15/1004) ...... 4651 B besserung des Schutzes der Be- Renate Künast, Bundesministerin BMVEL 4651 B völkerung vor Sexualverbrechen und anderen schweren Straftaten CDU/CSU ...... 4653 C (Drucksachen 15/29, 15/1311) . . . 4679 B Waltraud Wolff (Wolmirstedt) SPD ...... 4655 D b) Beschlussempfehlung und Bericht des Hans-Michael Goldmann FDP ...... 4657 C Rechtsausschusses zu dem Antrag der Abgeordneten , Peter H. Carstensen (Nordstrand) CDU/ Dr. Norbert Röttgen, weiterer Abge- CSU ...... 4658 D ordneter und der Fraktion der CDU/ Reinhold Hemker SPD ...... 4659 D CSU: Sozialtherapeutische Maßnah- men für Sexualstraftäter auf den Josef Miller, Staatsminister (Bayern) ...... 4661 A Prüfstand stellen Dr. Wilhelm Priesmeier SPD ...... 4662 D (Drucksachen 15/31, 15/1311) ...... 4679 C VI Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2003

c) Erste Beratung des vom Bundesrat ein- Tagesordnungspunkt 11: gebrachten Entwurfs eines Gesetzes a) Antrag der Abgeordneten Dr. Sigrid zur Erweiterung des Einsatzes der Skarpelis-Sperk, , weite- DNA-Analyse bei Straftaten mit rer Abgeordneter und der Fraktion sexuellem Hintergrund der SPD sowie der Abgeordneten (Drucksache 15/410) ...... 4649 D Michaele Hustedt, Volker Beck (Köln), d) Erste Beratung des vom Bundesrat ein- weiterer Abgeordneter und der Frak- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes tion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- zur Änderung des Strafvollzugs- NEN: Sicherung eines fairen und gesetzes nachhaltigen Handels durch eine (Drucksache 15/778) ...... 4649 D umfassende entwicklungsorientierte Welthandelsrunde e) Erste Beratung des vom Bundesrat ein- (Drucksache 15/1317) ...... 4702 D gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Schutz vor schweren Wiederho- b) Antrag der Abgeordneten Erich G. lungstaten durch nachträgliche An- Fritz, Karl-Josef Laumann, weiterer ordnung der Unterbringung in der Abgeordneter und der Fraktion der Sicherungsverwahrung CDU/CSU: Für ein höheres Libera- (Drucksache 15/899) ...... 4649 D lisierungsniveau beim Welthandel mit Dienstleistungen – GATS-Ver- , Bundesministerin BMJ . . . . 4680 A handlungen zügig voranbringen Dr. Norbert Röttgen CDU/CSU ...... 4681 D (Drucksache 15/1008) ...... 4702 D Irmingard Schewe-Gerigk BÜNDNIS 90/ c) Antrag der Abgeordneten Katherina DIE GRÜNEN ...... 4684 A Reiche, , weiterer Ab- geordneter und der Fraktion der CDU/ Siegfried Kauder (Bad Dürrheim) CSU: Qualitätssicherung im Bil- CDU/CSU ...... 4685 A dungswesen und kulturelle Vielfalt bei GATS-Verhandlungen garan- FDP ...... 4685 D tieren Renate Gradistanac SPD ...... 4687 B (Drucksache 15/1095) ...... 4703 A Dr. , Staatsminister (Hessen) 4688 B d) Antrag der Abgeordneten Gudrun Kopp, Rainer Brüderle, weiterer Abge- Joachim Stünker SPD ...... 4689 C ordneter und der Fraktion der FDP: In- Daniela Raab CDU/CSU ...... 4691 B ternationale Rechtssicherheit und transparente Regeln für den Dienst- Siegfried Kauder (Bad Dürrheim) CDU/CSU 4692 C leistungshandel – GATS-Verhand- lungen voranbringen (Drucksache 15/1010) ...... 4703A Tagesordnungspunkt 8: Antrag der Abgeordneten Günter Nooke, in Verbindung mit (Bremen), weiterer Ab- geordneter und der Fraktion der CDU/ CSU: Umsetzung des Bundestags- Zusatztagesordnungspunkt 4: beschlusses zur Wiedererrichtung des Antrag der Abgeordneten Erich G. Fritz, Berliner Stadtschlosses Karl-Josef Laumann, weiterer Abgeord- (Drucksache 15/1094) ...... 4694 B neter und der Fraktion der CDU/CSU: Günter Nooke CDU/CSU ...... 4694 C WTO-Doha-Runde zum Erfolg führen – Voraussetzungen schaffen für eine er- Dr. Gesine Lötzsch fraktionslos ...... 4695 B folgreiche WTO-Ministerkonferenz in Dr. Christina Weiss, Staatsministerin BK . . . . 4696 B Cancun/Mexico (Drucksache 15/1323) ...... 4703 B Dr. Günter Rexrodt FDP ...... 4697 A in Verbindung mit Dr. BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN ...... 4698 A CDU/CSU ...... 4698 D Zusatztagesordnungspunkt 5: Eckhardt Barthel (Berlin) SPD ...... 4699 D Antrag der Abgeordneten Gudrun Kopp, Rainer Brüderle, weiterer Abgeordneter Dr. Günter Rexrodt FDP ...... 4700 B und der Fraktion der FDP: Mehr Wohl- stand für alle durch mutige Marktöff- Petra Pau fraktionslos ...... 4701 C nung Dr. Christina Weiss, Staatsministerin BK . . . . 4702 B (Drucksache 15/1333) ...... 4703 B Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2003 VII

Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk SPD ...... 4703 C Stadtumbau Ost – ein wichtiger Bei- trag zum Aufbau Ost Dr. Michael Fuchs CDU/CSU ...... 4705 A (Drucksachen 15/1091, 15/352, 15/750, Jörg Tauss SPD ...... 4706 B 15/1331) ...... 4724 A Michaele Hustedt BÜNDNIS 90/ Ernst Kranz SPD ...... 4724 B DIE GRÜNEN ...... 4707 A Henry Nitzsche CDU/CSU ...... 4725 C Gudrun Kopp FDP ...... 4708 B Franziska Eichstädt-Bohlig BÜNDNIS 90/ Dr. SPD ...... 4709 C DIE GRÜNEN ...... 4726 D Erich G. Fritz CDU/CSU ...... 4711 B Joachim Günther (Plauen) FDP ...... 4727 D SPD ...... 4713 A Iris Gleicke, Parl. Staatssekretärin BMVBW 4728 C Thomas Rachel CDU/CSU ...... 4714 A CDU/CSU ...... 4729 D

Tagesordnungspunkt 10: Tagesordnungspunkt 12: Antrag der Fraktionen der SPD, der CDU/ Erste Beratung des von den Abgeordneten CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- Wolfgang Bosbach, Dr. Norbert Röttgen, NEN und der FDP: Einsetzung einer weiteren Abgeordneten und der Fraktion Enquete-Kommission „Kultur in der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs Deutschland“ eines Gesetzes zur Änderung des Bür- (Drucksache 15/1308) ...... 4715 B gerlichen Gesetzbuches (Gesetz zur Be- Eckhardt Barthel (Berlin) SPD ...... 4715 C seitigung der Rechtsunsicherheit beim Unternehmenskauf) CDU/CSU ...... 4717 A (Drucksache 15/1096) ...... 4730 D Ursula Sowa BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 4718 A Helga Daub FDP ...... 4719 A Tagesordnungspunkt 14: Matthias Sehling CDU/CSU ...... 4720 A Beschlussempfehlung und Bericht des Siegmund Ehrmann SPD ...... 4721 B Ausschusses für Verkehr, Bau- und Woh- nungswesen zu dem Antrag der Abgeord- Günter Nooke CDU/CSU ...... 4722 C neten Wolfgang Börnsen (Bönstrup), Dirk Fischer (), weiterer Abgeord- neter und der Fraktion der CDU/CSU: Tagesordnungspunkt 13: Vorrang für die Ostseesicherheit (Drucksachen 15/465, 15/1194) ...... Beschlussempfehlung und Bericht des 4731 A Ausschusses für Verkehr, Bau- und Woh- nungswesen Tagesordnungspunkt 15: – zu dem Antrag der Abgeordneten Ernst Unterrichtung durch die Bundesregierung: Kranz, Wolfgang Spanier, weiterer Ab- Bericht der Bundesregierung zum geordneter und der Fraktion der SPD Stand der Bemühungen um Rüstungs- sowie der Abgeordneten Franziska kontrolle, Abrüstung und Nichtverbrei- Eichstädt-Bohlig, Volker Beck (Köln), tung sowie über die Entwicklung der weiterer Abgeordneter und der Fraktion Streikräftepotenziale (Jahresabrüstungs- des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN: bericht 2002) Stadtumbau Ost auf dem richtigen (Drucksache 15/1104) ...... Weg 4731 B – zu dem Antrag der Abgeordneten Henry Nitzsche, Dirk Fischer (Ham- Tagesordnungspunkt 16: burg), weiterer Abgeordneter und der Beschlussempfehlung und Bericht des Fraktion der CDU/CSU: Stadtent- Rechtsausschusses zu der Unterrichtung wicklung Ost – Mehr Effizienz und durch die Bundesregierung: Vorschlag Flexibilität, weniger Regulierung für eine Richtlinie des Europäischen und Bürokratie Parlaments und des Rates zur Harmo- – zu dem Antrag der Abgeordneten nisierung der Rechts- und Vewaltungs- Joachim Günther (Plauen), Horst vorschriften der Mitgliedstaaten über Friedrich (Bayreuth), weiterer Abge- den Verbraucherkredit ordneter und der Fraktion der FDP: (Drucksachen 15/457 Nr. 2.2, 15/1288) 4731 C VIII Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2003

Tagesordnungspunkt 17: Anlage 5 Antrag der Fraktionen der SPD, der CDU/ Erklärung nach § 31 GO des Abgeordneten CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- Dr. Egon Jüttner (CDU/CSU) zur Abstim- NEN und der FDP: Für eine Verbesse- mung über den Entwurf eines Gesetzes zu rung der privaten Vermittlung im Aupair- dem Vertrag vom 16. April 2003 über den Bereich zur wirksamen Verhinderung Beitritt der Tschechischen Republik, der von Ausbeutung und Missbrauch Republik Estland, der Republik Zypern, (Drucksache 15/1315) ...... 4731 D der Republik Lettland, der Republik Li- tauen, der Republik Ungarn, der Repu- Nächste Sitzung ...... 4732 C blik Malta, der Republik Polen, der Re- publik Slowenien und der Slowakischen Republik zur Europäischen Union (Tages- Anlage 1 ordnungspunkt 3) ...... 4734 A Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . 4733 A

Anlage 6 Anlage 2 Erklärung nach § 31 GO des Abgeordneten Neuabdruck der Antwort der Parl. Staats- Jochen-Konrad Fromme (CDU/CSU) zur sekretärin Dr. Uschi Eid auf die Fragen der Abstimmung über den Entwurf eines Geset- Abgeordneten Sibylle Pfeiffer (CDU/CSU) zes zu dem Vertrag vom 16. April 2003 (55. Sitzung Drucksache 15/1264, Fragen 34 über den Beitritt der Tschechischen Repu- und 35): ...... 4733 B blik, der Republik Estland, der Republik Welche Haltung wird die Bundesregierung Zypern, der Republik Lettland, der Repu- auf der UN-Konferenz in zur weiteren Fi- blik Litauen, der Republik Ungarn, der nanzierung des GFATM einnehmen? Republik Malta, der Republik Polen, der Ist die Bundesregierung prinzipiell bereit, Republik Slowenien und der Slowakischen zusätzliche Mittel zu den bereits zugesagten 200 Millionen Euro innerhalb von fünf Jahren Republik zur Europäischen Union (Tages- für den GFATM bereitzustellen? ordnungspunkt 3) ...... 4734 C

Anlage 3 Anlage 7 Neuabdruck der Antwort der Parl. Staats- sekretärin Dr. Uschi Eid auf die Fragen der Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Abgeordneten Conny Mayer (Baiersbronn) Matthias Sehling und (beide (CDU/CSU) (55. Sitzung Drucksache 15/1264, CDU/CSU) zur Abstimmung über den Ent- Fragen 38 und 39): ...... 4733 C wurf eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 16. April 2003 über den Beitritt der Tsche- Trifft es zu, dass die Bundesregierung die europäische Zusage, den GAFTM bis Ende 2004 chischen Republik, der Republik Estland, mit 1 Milliarde Euro zu unterstützen, hat schei- der Republik Zypern, der Republik Lett- tern lassen, und wenn ja, wie begründet die Bun- land, der Republik Litauen, der Republik desregierung ihre Haltung? Ungarn, der Republik Malta, der Republik Inwieweit stand die Bundesregierung seit der Polen, der Republik Slowenien und der Gründung des GAFTM hinter dessen Zielen, und ist die Bundesregierung entschlossen, an diesen Slowakischen Republik zur Europäischen Zielen in Zukunft festzuhalten? Union (Tagesordnungspunkt 3) ...... 4735 B

Anlage 4 Anlage 8 Erklärung nach § 31 GO des Abgeordneten Erklärung nach § 31 GO der Abgeordne- (CDU/CSU) zur Ab- stimmung über den Entschließungsantrag der ten Axel E. Fischer (Karlsruhe), Ingo CDU/CSU zu dem Entwurf eines Gesetzes zu Wellenreuther und dem Vertrag vom 16. April 2003 über den (alle CDU/CSU) zur Abstimmung über den Beitritt der Tschechischen Republik, der Entwurf eines Gesetzes zu dem Vertrag vom Republik Estland, der Republik Zypern, der 16. April 2003 über den Beitritt der Tsche- Republik Lettland, der Republik Litauen, chischen Republik, der Republik Estland, der Republik Ungarn, der Republik Malta, der Republik Zypern, der Republik Lettland, der Republik Polen, der Republik Slowe- der Republik Litauen, der Republik Un- nien und der Slowakischen Republik zur garn, der Republik Malta, der Republik Europäischen Union (Tagesordnungspunkt 3) 4733 D Polen, der Republik Slowenien und der Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2003 IX

Slowakischen Republik zur Europäischen SPD ...... 4737 C Union (Tagesordnungspunkt 3) ...... 4735 C Dr. Günter Krings CDU/CSU ...... 4738 B Dr. Norbert Röttgen CDU/CSU ...... 4739 B Anlage 9 BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN ...... 4740 B Erklärung nach § 31 GO des Abgeordneten Dr. Wolfgang Götzer (CDU/CSU) zur Ab- Rainer Funke FDP ...... 4741 B stimmung über den Entschließungsantrag der Alfred Hartenbach SPD ...... 4741 D CDU/CSU zu dem Entwurf eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 16. April 2003 über den Beitritt der Tschechischen Republik, der Republik Estland, der Republik Zy- Anlage 13 pern, der Republik Lettland, der Republik Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung Litauen, der Republik Ungarn, der Repu- über den Antrag: Vorrang für die Ostsee- blik Malta, der Republik Polen, der Repu- sicherheit (Tagesordnungspunkt 14) ...... 4742 C blik Slowenien und der Slowakischen Republik zur Europäischen Union (Tages- Dr. SPD ...... 4742 C ordnungspunkt 3) ...... 4736 A Wolfgang Börnsen (Bönstrup) CDU/CSU ...... 4743 B CDU/CSU ...... 4744 D Anlage 10 Rainder Steenblock BÜNDNIS 90/ Erklärung nach § 31 GO des Abgeordneten DIE GRÜNEN ...... 4745 D (Weiden) (CDU/CSU) zur Hans-Michael Goldmann FDP ...... Abstimmung über den Entwurf eines Geset- 4746 D zes zu dem Vertrag vom 16. April 2003 SPD ...... 4747 C über den Beitritt der Tschechischen Repu- blik, der Republik Estland, der Republik Zypern, der Republik Lettland, der Repu- Anlage 14 blik Litauen, der Republik Ungarn, der Republik Malta, der Republik Polen, der Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung Republik Slowenien und der Slowakischen über die Unterrichtung: Bericht der Bun- Republik zur Europäischen Union (Tages- desregierung zum Stand der Bemühungen ordnungspunkt 3) ...... 4736 B um Rüstungskontrolle, Abrüstung und Nichtverbreitung sowie über die Entwick- lung der Streitkräftepotenziale (Jahres- abrüstungsbericht 2002) (Tagesordnungs- Anlage 11 punkt 15) ...... 4749 B Erklärung nach § 31 GO des Abgeordneten Dr. Rolf Mützenich SPD ...... 4749 B Klaus Brähmig (CDU/CSU) zur Abstim- Karl-Theodor Freiherr von und mung über den Entwurf eines Gesetzes zu zu Guttenberg CDU/CSU ...... 4751 A dem Vertrag vom 16. April 2003 über den Beitritt der Tschechischen Republik, der Harald Leibrecht FDP ...... 4752 C Republik Estland, der Republik Zypern, der Republik Lettland, der Republik Li- Kerstin Müller, Staatsministerin AA ...... 4753 A tauen, der Republik Ungarn, der Republik Malta, der Republik Polen, der Republik Slowenien und der Slowakischen Republik Anlage 15 zur Europäischen Union (Tagesordnungs- Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung punkt 3) ...... 4736 C über die Beschlussempfehlung und den Be- richt: Vorschlag für eine Richtlinie des Euro- päischen Parlamemts und des Rates zur Anlage 12 Harmonisierung der Rechts- und Verwal- tungsvorschriften der Mitgliedstaaten über Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung den Verbraucherkredit (Tagesordnungs- über den Entwurf eines Gesetzes zur Än- punkt 16) ...... 4754 A derung des Bürgerlichen Gesetzbuches Michael Grosse-Brömer CDU/CSU ...... 4754 A (Gesetz zur Beseitigung der Rechtsun- sicherheit beim Unternehmensverkauf) Ulrike Höfken BÜNDNIS 90/ (Tagesordnungspunkt 12) ...... 4737 C DIE GRÜNEN ...... 4755 D X Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2003

Sibylle Laurischk FDP ...... 4757 B Ausbeutung und Missbrauch (Tagesord- nungspunkt 17) ...... 4758 C Alfred Hartenbach SPD ...... 4757 C Angelika Krüger-Leißner SPD ...... 4758 C

Anlage 16 Rita Pawelski CDU/CSU ...... 4760 C Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung Jutta Dümpe-Krüger BÜNDNIS 90/ über den Antrag: Für eine Verbesserung DIE GRÜNEN ...... 4762 A der privaten Vermittlung im Aupair- bereich zur wirksamen Verhinderung von FDP ...... 4762 C

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2003 4581

(A) (C) Redetext

56. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2003

Beginn: 9.00 Uhr

Präsident : Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Sitzung ist eröffnet. Haushaltsausschuss Als Nachfolger für den verstorbenen Abgeordneten c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Hans Büttner (Ingolstadt), Reinhold Hemker, Karin Kortmann, weite- Jürgen W. Möllemann hat der Abgeordnete Michael rer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Kauch am 14. Juni 2003 die Mitgliedschaft im Deut- Abgeordneten Thilo Hoppe, Hans-Christian Ströbele, schen Bundestag erworben. Ich begrüße den neuen Kol- Volker Beck (Köln), weiterer Abgeordneter und der legen herzlich. Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Unter- stützung von Landreformen zur Bekämpfung der (Beifall) Armut und der Hungerkrise im südlichen Afrika – Drucksache 15/1307 – Für die noch zu besetzende Position eines stellvertre- Überweisungsvorschlag: tenden Mitglieds im Programmbeirat für die Sonderpost- Auswärtiger Ausschuss (f) (B) wertzeichen schlägt die Fraktion des Bündnisses 90/Die Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und (D) Grünen den Kollegen Rainder Steenblock vor. Sind Sie Landwirtschaft Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und damit einverstanden? – Ich höre keinen Widerspruch. Entwicklung Dann ist der Kollege Steenblock als Stellvertreter im d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Reinhold Programmbeirat bestimmt. Hemker, Sören Bartol, Dr. Herta Däubler-Gmelin, weite- rer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Abgeordneten Thilo Hoppe, Volker Beck (Köln), Katrin Tagesordnung zu erweitern. Die Punkte sind in der Zu- Dagmar Göring-Eckardt, Krista Sager und der Fraktion satzpunktliste aufgeführt: des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Verbesserung der Welternährungssituation und Verwirklichung des 1 Abgabe einer Erklärung durch den Bundeskanzler: Deutsch- Rechts auf Nahrung – Drucksache 15/1316 – land bewegt sich – mehr Dynamik für Wachstum und Be- schäftigung Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und 2 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren (Er- Landwirtschaft (f) gänzung zu TOP 25) Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und a) Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD und des Entwicklung BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Ent- e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Gabriele wurfs eines Gesetzes zur Änderung des Tabaksteuer- Lösekrug-Möller, Ulrike Mehl, , weiterer gesetzes und anderer Verbrauchssteuergesetze Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abge- – Drucksache 15/1313 – ordneten Undine Kurth (Quedlinburg), Volker Beck Überweisungsvorschlag: (Köln), , weiterer Abgeordneter und Finanzausschuss (f) der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Na- Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung turschutz geht alle an – Akzeptanz und Integration Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO des Naturschutzes in andere Politikfelder weiter stär- b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Brunhilde Irber, ken – Drucksache 15/1318 – Annette Faße, Renate Gradistanac, weiterer Abgeordne- Überweisungsvorschlag: ter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Undine Kurth (Quedlinburg), Dr. Reinhard Loske, Volker Reaktorsicherheit (f) Beck (Köln), weiterer Abgeordneter und der Fraktion des Sportausschuss BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Reisen ohne Handi- Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und cap – Für ein barrierefreies Reisen und Naturerleben Landwirtschaft in unserem Land – Drucksache 15/1306 – Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Tourismus Ausschuss für Tourismus (f) f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Hubert Hüppe, Rechtsausschuss Christa Nickels, René Röspel und weiterer Abgeordneter: 4582 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2003

Präsident Wolfgang Thierse (A) Forschungsförderung der Europäischen Union unter Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung (C) Respektierung ethischer und verfassungsmäßiger Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Prinzipien der Mitgliedstaaten – Drucksache 15/1310 – Entwicklung Überweisungsvorschlag: 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Renate Jäger, Ulrike Ausschuss für Bildung, Forschung und Mehl, Michael Müller (Düsseldorf), weiterer Abgeordneter Technikfolgenabschätzung (f) und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Rechtsausschuss Dr. Reinhard Loske, Volker Beck (Köln), , Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNIS- Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und SES 90/DIE GRÜNEN: Den Flüssen mehr Raum geben – Landwirtschaft Ökologische Hochwasservorsorge durch integriertes Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Flussgebietsmanagement – Drucksache 15/1319 – Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe Überweisungsvorschlag: Ausschuss für die Angelegenheiten Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f) der Europäischen Union Innenausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit g) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrike Flach, Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Cornelia Pieper, (Homburg) und Landwirtschaft weiterer Abgeordneter: Kein Ausstieg aus der gemein- Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen samen Verantwortung für die europäische Stammzell- Ausschuss für Tourismus forschung – Drucksache 15/1346 – Überweisungsvorschlag: 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Birgit Homburger, Ausschuss für Bildung, Forschung und , Hans-Michael Goldmann, weiterer Ab- Technikfolgenabschätzung (f) geordneter und der Fraktion der FDP: Hochwasserschutz – Rechtsausschuss Solidarität erhalten, Eigenverantwortung stärken Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit – Drucksache 15/1334 – Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Überweisungsvorschlag: Landwirtschaft Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Innenausschuss Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Ausschuss für die Angelegenheiten Landwirtschaft der Europäischen Union Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen 3 Weitere abschließende Beratungen ohne Aussprache (Er- Ausschuss für Tourismus gänzung zu TOP 26) a) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsaus- Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll – so- schusses (2. Ausschuss) weit erforderlich – abgewichen werden. Sammelübersicht 50 zu Petitionen (B) Außerdem sollen die Tagesordnungspunkte 7 und 19 in (D) – Drucksache 15/1335 – Verbindung mit der Aussprache zur Regierungserklärung b) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsaus- aufgerufen werden. Die Tagesordnungspunkte 8 – Berli- schusses (2. Ausschuss) ner Stadtschloss – und 9 – Sexualstrafrecht –, 10 – Ein- Sammelübersicht 51 zu Petitionen setzung einer Enquete-Kommission – und 11 – WTO/ – Drucksache 15/1336 – GATS-Verhandlungen – sowie 12 – Änderung des BGB c) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsaus- – und 13 – Stadtumbau Ost – sollen jeweils getauscht schusses (2. Ausschuss) werden. Der Tagesordnungspunkt 4 – Gemeindefinanz- Sammelübersicht 52 zu Petitionen reform – wird am Freitag um 9 Uhr beraten. – Drucksache 15/1337 – d) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsaus- Weiterhin mache ich auf eine nachträgliche Aus- schusses (2. Ausschuss) schussüberweisung im Anhang zur Zusatzpunktliste auf- Sammelübersicht 53 zu Petitionen merksam: – Drucksache 15/1338 – Der in der 49. Sitzung des Deutschen Bundestages e) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsaus- überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätz- schusses (2. Ausschuss) lich dem Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungs- Sammelübersicht 54 zu Petitionen wesen zur Mitberatung überwiesen werden. – Drucksache 15/1339 – Gesetzentwurf der Abgeordneten , , 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Erich G. Fritz, Karl- Günter Baumann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der Josef Laumann, Dagmar Wöhrl, weiterer Abgeordneter und CDU/CSU: Drittes Gesetz zur Bereinigung von SED-Unrecht der Fraktion der CDU/CSU: WTO-Doha-Runde zum Erfolg (Drittes SED-Unrechtsbereinigungsgesetz – 3. SED-Un- führen – Voraussetzungen schaffen für eine erfolgreiche BerG) WTO-Ministerkonferenz in Cancun/Mexico – Druck- sache 15/1323 – – Drucksache 15/932 – 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Gudrun Kopp, überwiesen: Rainer Brüderle, Hans-Michael Goldmann, weiterer Abgeord- Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung (f) neter und der Fraktion der FDP: Mehr Wohlstand für alle Innenausschuss durch mutige Marktöffnung – Drucksache 15/133 – Rechtsausschuss Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f) Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Sind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? – Landwirtschaft Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2003 4583

Präsident Wolfgang Thierse (A) Ich rufe den Zusatzpunkt 1 sowie Tagesordnungs- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (C) punkte 7 a und 7 b sowie 19 a und 19 b auf: DIE GRÜNEN) ZP 1 Abgabe einer Erklärung durch den Bundeskanz- ler Gerhard Schröder, Bundeskanzler: Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Deutschland bewegt sich – mehr Dynamik für Herren! Vorweg eine Bemerkung zu einem anderen Wachstum und Beschäftigung Thema: Der italienische Ministerpräsident hat es für 7 a) Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD richtig gehalten, einen deutschen Kollegen des Europäi- und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN einge- schen Parlamentes mit einem Nazivergleich zu belegen. brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Förde- Ich denke, ich stelle hier für das ganze Hohe Haus fest: rung der Steuerehrlichkeit Diese Äußerung ist in Inhalt und Form eine Entgleisung und völlig inakzeptabel. – Drucksache 15/1309 – Überweisungsvorschlag: (Beifall im ganzen Hause – Michael Glos Finanzausschuss (f) [CDU/CSU]: Das gehört ins Europaparlament Rechtsausschuss und nicht hierher!) Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung – Herr Glos, ich hoffe, das gilt auch für Sie. Mehr will Haushaltsausschuss ich dazu nicht sagen. b) Erste Beratung des von den Abgeordneten (Michael Glos [CDU/CSU]: Ich sagte, das ge- Dr. Hermann Otto Solms, Dr. Andreas Pinkwart, hört ins Europaparlament und nicht hierher!) Rainer Brüderle, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Ich habe die Erwartung, dass sich der italienische Minis- Gesetzes zur vereinfachten Nachversteuerung terpräsident für diesen inakzeptablen Vergleich in aller als Brücke in die Steuerehrlichkeit Form entschuldigt. – Drucksache 15/470 – (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der Überweisungsvorschlag: CDU/CSU und der FDP) Finanzausschuss (f) Rechtsausschuss Bezogen auf unser Thema gibt es Zeiten, in denen 19 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten hart gestritten werden muss, und Zeiten, in denen Zu- Dr. Michael Meister, Friedrich Merz, Heinz sammenarbeit angesagt ist. Es gibt Grundsatzfragen, (B) (D) Seiffert, weiterer Abgeordneter und der Fraktion über die wir uns intensiv und, wo nötig, auch hartnäckig der CDU/CSU auseinander setzen müssen. Steuern: Niedriger – Einfacher – Gerechter Heute geht es aber um etwas anderes. Heute geht es darum, sorgsam die Bedingungen zu definieren und ver- – Drucksache 15/1231 – antwortungsbewusst den Rahmen dafür abzustecken, Überweisungsvorschlag: dass unser Land wieder Tritt fasst und sich abermals als Finanzausschuss (f) eine leistungsfähige, aber eben auch solidarische Gesell- Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit schaft erweist. Diese Herausforderung werden wir nur Haushaltsausschuss bewältigen, wenn wir unsere Kräfte gemeinsam auf die- b) Beratung des Antrags der Abgeordneten ses Ziel richten, wenn wir einmal vergessen, was uns an- Dr. Hermann Otto Solms, Dr. Andreas Pinkwart, sonsten trennt, und wenn wir bereit sind – das sage ich Carl-Ludwig Thiele, weiterer Abgeordneter und auch an die Mitglieder des Bundesrates –, die Verant- der Fraktion der FDP wortung wahrzunehmen, die die Menschen in Deutsch- land von uns erwarten. Steuersenkung vorziehen (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ – Drucksache 15/1221 – DIE GRÜNEN) Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss (f) Mir ist klar, dass auch das nicht ohne Streit abgehen Innenausschuss wird, ohne Auseinandersetzungen in der Sache. Das ist Rechtsausschuss auch richtig so. Aber im Vordergrund muss gerade jetzt Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und das gemeinsame Bemühen um konstruktive Lösungen Landwirtschaft stehen. Mein Eindruck ist, dass wir etwa bei der Ge- Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit sundheitsreform auf einem guten Weg sind, und ich be- danke mich bei der Opposition ausdrücklich für die Be- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für reitschaft zur Mitarbeit. die Aussprache im Anschluss an die Regierungserklä- rung zweieinhalb Stunden vorgesehen. – Ich höre keinen (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Widerspruch. Dann ist so beschlossen. DIE GRÜNEN) Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat Die Fragen, die wir heute und in den kommenden Ta- der Bundeskanzler Gerhard Schröder. gen und Wochen diskutieren, beschäftigen nicht nur die 4584 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2003

Bundeskanzler Gerhard Schröder (A) Menschen in Deutschland; sie beschäftigen auch und ge- Das ist es, worum es nach unserer Auffassung geht, (C) rade Europa. Das hat Gründe. Unsere Volkswirtschaft, wenn von Konsum und im Zusammenhang damit von die deutsche Volkswirtschaft, ist ungeachtet all dessen, der Förderung der Binnennachfrage gesprochen wird, was wir zu verbessern haben, die stärkste Europas. Etwa dass nämlich Menschen mehr von dem, was sie erarbei- 30 Prozent der Wertschöpfung in Gesamteuropa werden tet haben, für die Qualität ihres eigenen Lebens und für von der deutschen Volkswirtschaft und damit von den ihre Kinder ausgeben können, ohne dass die Grundlagen Menschen in Deutschland erwirtschaftet. des gemeinsamen Staates infrage gestellt werden. Dies bedeutet, dass wir gewiss für das verantwortlich Ich habe dem Deutschen Bundestag am 14. März die sind, was in unserem Land geschieht, dass wir aber da- Agenda 2010, unser Programm zur strukturellen Erneu- rüber hinaus auch eine besondere Verantwortung für die erung und zur Modernisierung des Sozialstaates, vorge- europäische Entwicklung tragen. Dieser Verantwortung stellt. Genau das ist das Fundament, auf dem die Politik wollen wir uns stellen; denn ohne ein starkes Deutsch- für Wachstum und Beschäftigung gründet. land ist Europa schwächer, als es sein müsste. Ich will das mit einigen zentralen Punkten in Erinne- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ rung rufen. Einerseits gehen wir damit die lange ver- DIE GRÜNEN) nachlässigten strukturellen Ursachen unserer Wachs- tumsschwäche energisch an und andererseits bauen wir Ich füge hinzu: Es gilt auch, dass Deutschland ohne unseren Sozialstaat und die sozialen Sicherungssysteme einen europäischen Binnenmarkt und ohne die europäi- so um, dass sie uns und auch künftigen Generationen sche Integration weit weniger Chancen hätte, im globa- eine gute Zukunft ermöglichen. len Wettbewerb zu bestehen. Das gilt ökonomisch, das gilt aber auch politisch. Es gilt übrigens auch für unser Bis 2010 können wir durch die strukturellen Refor- Sozialmodell der Teilhabe und der sozialen Marktwirt- men der Agenda 45 Milliarden Euro im Bundeshaushalt schaft. Deshalb stellen wir uns unserer Verantwortung einsparen. Wir haben die Strukturreform nicht vorrangig für Deutschland und Europa im wohlverstandenen ge- und schon gar nicht ausschließlich unter dem Gesichts- meinsamen Interesse, weil das eine ohne das andere punkt der Kosten ausgerichtet. Wir betreiben das Sparen nicht mehr geht. eben nicht als Selbstzweck. Im Vordergrund stand und steht für uns immer die Orientierung, die Ausgaben für Vor diesem Hintergrund stimmen wir unsere struktu- das Bestehende auf das Notwendige zu begrenzen, rellen und konjunkturellen Maßnahmen aufeinander ab schlicht deshalb, um Mittel für die Gestaltung der Zu- und übernehmen auf der Basis des europäischen Paktes kunft zur Verfügung zu haben und diese zu mobilisieren. für Stabilität und Wachstum die Verantwortung für ge- (B) nau dies: Stabilität und Wachstum. Deshalb haben wir in (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (D) einem für Deutschland bisher beispiellosen Kraftakt Ent- DIE GRÜNEN) scheidungen getroffen, die für mehr Dynamik, mehr Dabei ist klar geworden, dass wir in Deutschland Wachstum und mehr Beschäftigung sorgen. Deshalb wirklich ein neues Denken brauchen, und zwar eine Ver- sind wir in der Lage, die Bürgerinnen und Bürger, aber änderung auch und gerade in der Mentalität, weg von der auch die mittelständischen Unternehmer ab Anfang Besitzstandswahrung und hin zur Gestaltung von Zu- nächsten Jahres dramatisch von Steuern zu entlasten. kunftschancen. Dieses Umdenken hat in den dreiein- halb Monaten seit unserer Initiative zur Agenda 2010 (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ eingesetzt. Ich glaube, es ist spürbar geworden, dass es DIE GRÜNEN) sich gerade in den vergangenen Tagen und Wochen ver- Ab dem 1. Januar nächsten Jahres werden die Bürge- stärkt hat. Auch im Ausland wird mittlerweile positiv rinnen und Bürger im Durchschnitt 10 Prozent weniger wahrgenommen: Deutschland ist bereit, sich zu verän- Steuern zahlen müssen. Wir senken den Eingangssteuer- dern; Deutschland bewegt sich. satz auf 15 Prozent. Ich will daran erinnern, dass vor (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ fünf Jahren der Eingangssteuersatz noch bei 26 Prozent DIE GRÜNEN) lag. Mit der Agenda 2010 und den Reformen zugunsten (Jörg Tauss [SPD]: Ah ja!) des Arbeitsmarktes und des Mittelstandes haben wir den Weg zur strukturellen Modernisierung Deutschlands, zur Was das insbesondere für die Bezieher der unteren Ein- Innovation und zur Weiterentwicklung von Teilhabe und kommen bedeutet, kann man sich nicht häufig genug Gerechtigkeit vorgezeichnet. Im Gesundheitswesen bei- klar machen. spielsweise brauchen wir mehr Marktwirtschaft, mehr (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Wettbewerb und mehr Transparenz. Dabei werden wir DIE GRÜNEN) nicht auf die hervorragende Qualität der medizinischen Versorgung in Deutschland verzichten. 10 Prozent weniger Steuern sind 10 Prozent mehr, die den Menschen zur Verfügung stehen, um ihr Leben ent- Auf dem Arbeitsmarkt haben wir durch die bereits sprechend ihren eigenen Wünschen zu gestalten. umgesetzten so genannten Hartz-Reformen im Niedrig- lohnsektor und bei den geringfügigen Beschäftigungs- ( [CDU/CSU]: Die liefern sie verhältnissen so hohe Beschäftigungschancen erreicht an der Tankstelle wieder ab!) wie nie zuvor. Durch die Einrichtung von Personal-Ser- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2003 4585

Bundeskanzler Gerhard Schröder (A) vice-Agenturen und die vertraglichen Regelungen zur mittelständischen Wirtschaft – ergibt die Botschaft und (C) Zeit- und Leiharbeit verschaffen wir nicht nur deutlich den Inhalt dessen, was die Agenda 2010 ausmacht. Im mehr Arbeitswilligen Zugang zum Arbeitsmarkt – und Kern geht es bei allen Maßnahmen um ein und dasselbe: zwar zum ersten Arbeitsmarkt –, sondern haben wir auch dass wir den Schritt zu mehr Verantwortung, mehr Initia- den gesamten Bereich der Leiharbeit aus dem geholt, tive und mehr Gemeinwohl hinbekommen. was man die „Schmuddelecke“ nennt, (Anhaltende Zurufe eines Zuschauers von der (Michael Glos [CDU/CSU]: Wer hat sie denn Besuchertribüne – Der Zuschauer wirft Flug- vorher in diese Ecke gestellt?) blätter in den Saal) in der sich die entsprechenden Angebote und die Nach- Wir müssen zu größeren Zukunftschancen statt sturem frage früher großenteils bewegt haben. Beharren auf den Besitzständen, zu einer neuen Balance zwischen ökonomischer Notwendigkeit, sozialem Zu- Die Förderung der Selbstständigkeit durch die so ge- sammenhalt und gesellschaftlichem Aufbruch kommen. nannten Ich-AGs und damit verwandte Maßnahmen sind ein Angebot, das schon jetzt sehr stark angenom- Wir haben uns in diesem Jahr große Chancen zur poli- men wird. Ich bin sicher: Schon im nächsten Jahr wer- tischen Gestaltung erkämpft. „Erkämpfen“ ist schon das den wir in Deutschland einen Arbeitsmarkt geschaffen richtige Wort; denn der Prozess, Zustimmung für die haben, der weit offener und anpassungsfähiger ist, als es Agenda 2010 und die Strukturreformen zu gewinnen, jahrzehntelang der Fall war. war nicht leicht und – wie könnte es anders sein – für manche auch schmerzhaft. Aber wir können heute sa- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ gen: Dieser Prozess ist gelungen. Der Umschwung im DIE GRÜNEN) Denken findet statt. Die Menschen in Deutschland sind Das liegt im Interesse derer, die Arbeit und Dienstleis- bereit, die Veränderungen mitzutragen. tungen nachfragen, aber vor allem im Interesse derer, die (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ heute noch arbeitslos sind. DIE GRÜNEN) Meine Damen und Herren, natürlich gilt unser Au- Ich bin mir nicht sicher, ob Sie die letzten Passagen genmerk ganz besonders dem Mittelstand, der weit meiner Rede angesichts der Unruhe auf der Besuchertri- mehr als die Hälfte der Bruttowertschöpfung in Deutsch- büne vollständig mitbekommen haben. Trotzdem will land erwirtschaftet und mit rund 70 Prozent der Arbeit- ich sie nicht wiederholen. nehmerinnen und Arbeitnehmer weitaus die meisten Menschen beschäftigt. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Hei- terkeit bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (B) Die Maßnahmen sind Ihnen bekannt. Ich fasse sie als DIE GRÜNEN) (D) Stichworte noch einmal zusammen: Novellierung der Handwerksordnung, Wie gesagt, der Umschwung im Denken findet statt. Die Menschen in Deutschland sind bereit, die Verände- (Dr. [CDU/CSU]: Sehr mittel- rungen mitzutragen. Hier beziehe ich die Gewerkschaf- standsfreundlich! – Michael Glos [CDU/ ten ausdrücklich ein, ohne die Deutschland – ich betone CSU]: Schlimmes Bubenstück!) das gerade jetzt durchaus bewusst – nie so leistungsstark geworden wäre, wie es ist. Flexibilisierung des Kündigungsschutzes, Förderung von Existenzgründern, Abbau von Bürokratie und Stär- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ kung der Eigenkapitalbasis. DIE GRÜNEN) (Zurufe von der CDU/CSU: Wo denn?) In ihren eigenen Reihen haben die Gewerkschaften einen Klärungsprozess durchlaufen, der ganz gewiss zeigt: Dazu kommt, wohlgemerkt, die Strategie zur Sen- Auch die Gewerkschaftsmitglieder wollen Akteure des kung der Lohnnebenkosten und Abgaben. Das heißt, wir Wandels, nicht seine Opfer und erst recht nicht seine geben dem Mittelstand die Möglichkeiten an die Hand, Bremser sein. sein Engagement und seine Innovationskraft – also das, was unser Land so stark gemacht hat – aufs Neue voll- Den Weg, die gesellschaftlichen Mehrheiten für die ständig zur Geltung zu bringen. Agenda 2010 zu gewinnen, ist die Regierungskoalition so konsequent gegangen, wie das die Bürgerinnen und Deshalb ist es so wesentlich, was wir am vergangenen Bürger von denen erwarten, die Verantwortung tragen: Wochenende in Neuhardenberg beschlossen haben: klar in der Auseinandersetzung, aber geschlossen in den Mittelständische Unternehmen müssen ab dem nächsten Entscheidungen und vor allen Dingen entschlossen, die Jahr fast 10 Milliarden Euro weniger Steuern zahlen. richtigen Koordinaten für unser Land und seine Zukunft Damit geben wir in einer wirtschaftlich schwierigen Si- zu setzen. tuation ein klares Signal an die Wirtschaft: Weniger Steuern für mehr Investitionen und mehr Investitionen Zu den strukturellen Reformen, über die ich geredet für mehr Beschäftigung! habe, musste der Bundeshaushalt 2004 passen. Der Bun- desfinanzminister hat deshalb einen Haushalt vorgelegt, (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ der den wirtschaftlichen und den politischen Anforde- DIE GRÜNEN) rungen – entsprechend den geschilderten Koordinaten – Rechnung trägt. Das alles zusammen – strukturelle Reformen bei Rente und Gesundheit, auf dem Arbeitsmarkt und in der (Widerspruch bei der CDU/CSU und der FDP) 4586 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2003

Bundeskanzler Gerhard Schröder (A) Dieser Haushalt folgt der Linie der Konsolidierung. Er den Subventionsabbau betreffen, kritisieren und nicht (C) macht Ernst mit einem nachhaltigen Einstieg in den mitmachen wollen – es gibt entsprechende Erklärungen, Subventionsabbau und er gibt damit Raum für zukünf- jedenfalls gab es sie –, muss und von denen wird ver- tiges Wachstum. Nun weiß auch ich: Subventionsabbau langt werden, dass sie Gegenvorschläge machen. Nur ist ein Ziel, das in der Regel alle gut finden, außer es be- Nein sagen geht nicht mehr; der Neinsager ist zu trifft sie selber. Ende. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) DIE GRÜNEN) Viele Subventionen – seien es Finanzhilfen oder seien es Wir sind bereit – ich habe das angekündigt und dazu steuerliche Subventionen –, an die wir uns aus rechtlichen stehen wir –, mit jedem, der Verantwortung trägt – ich Gründen langzeitig gebunden haben, könnten auch dann denke an die Opposition oder an die Mehrheit im Bun- nicht sofort reduziert werden, wenn wir das aus Gründen desrat –, über die Vorschläge, die wir gemacht haben, gesamtwirtschaftlicher Vernunft tun wollten. Aber gerade ihre Durchsetzung, ihre innere Gestaltung und auch ihre weil wir durch die Agenda 2010 im Prozess der Struktur- Veränderung zu reden. reformen vorankommen und weil wir mit dem (Michael Glos [CDU/CSU]: Das wäre etwas Bundeshaushalt 2004 einen nachhaltigen Subventionsab- Neues!) bau betreiben, haben wir uns den Freiraum erarbeitet, durch vorgezogene Steuerentlastungen dieses wichtige Si- Wenn sich erweist, dass die Vorschläge anderer zum gnal für Wachstum und damit für Beschäftigung zu geben. Subventionsabbau sinnvoller sind, dann sind wir bereit, diese Vorschläge aufzugreifen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) (Michael Glos [CDU/CSU]: Ach so! Andere sollen Vorschläge machen!) Mir kommt es insbesondere darauf an, diesen Zusam- menhang darzustellen. Man kann es auch umgekehrt for- Ich will dabei nur eines deutlich machen: Es geht mir mulieren: Ohne die Festlegungen in der Agenda 2010, darum, dazu beizutragen, dass in unserem Land die aktiv ohne den dazu passenden Haushalt, der eine vernünftige Beschäftigten, die das Einkommen für sich selbst und Balance zwischen Konsolidierung und dem Setzen von für ihre Familien durch Arbeit in den Dienstleistungs- Wachstumsimpulsen enthält, ohne beides wäre es nicht zentren, in den Fabriken beziehen, der Maßstab für den verantwortbar gewesen, die Steuerreformstufe 2005 vor- Abbau von Subventionen sind. In den letzten Jahren zuziehen. Nur alle drei zusammen ergeben jenen Drei- wurden in Betrieben freiwillige Leistungen – das ist teil- weise nachvollziehbar – abgebaut. Weil das so ist, darf (B) klang, der uns nach vorne bringen kann und wird, jenen (D) Dreiklang, der für mehr Wachstum und damit für mehr unser Augenmerk nicht allein darauf gerichtet sein, die Beschäftigung in Deutschland sorgen wird. Transfereinkommen möglichst ungeschmälert zu erhal- ten. Dies wäre gegenüber denjenigen, die die Leistungs- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ träger bei der Entwicklung der volkswirtschaftlichen DIE GRÜNEN) Wertschöpfung sind, nicht gerecht. Natürlich haben wir uns die Antwort auf die Frage, (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ wie man in der jetzigen Situation handeln kann und han- DIE GRÜNEN) deln muss, nicht leicht gemacht. Tatsache ist, dass wir – neben der Einleitung der Strukturreformen – in einer Ich möchte abschließend auf das zurückkommen, wo- Situation sind, in der die Konjunkturforscher – mit rauf ich eingangs hingewiesen habe: Vor uns liegen ge- Recht – auf ermutigende Zeichen verweisen. Die Ge- wiss schwierige Monate, in denen eine große Kraftan- schäftsklimaindizes haben sich positiv entwickelt. Die strengung notwendig sein wird, um wirksam werden zu Binnennachfrage bewegt sich etwas nach vorne, insbe- lassen, was für Deutschland notwendig ist. Wir suchen sondere die Konsumnachfrage. die konstruktive Zusammenarbeit mit der Mehrheit im Bundesrat; denn die Menschen in Deutschland wissen, Daneben gibt es – wer weiß das nicht? – natürlich dass wir diese Zusammenarbeit jetzt brauchen. Sie er- auch Zeichen, die Sorgen machen müssen, zum Beispiel warten sie von uns, weil es um unser Land geht. die veränderten Euro-Dollar-Relationen, die dem Export mehr Schwierigkeiten machen, als wir uns wünschen Die Bundesregierung ist zu dieser Gemeinschaftsleis- würden; aber gerade deshalb kommt es jetzt darauf an tung bereit. Sie begrüßt sehr, dass die Gespräche über – dieser Zusammenhang ist mir wichtig –, die ermuti- die Gesundheitsreform offenbar gut vorankommen. Als genden Zeichen zu verstärken, damit diese und nicht die vertrauensbildende Maßnahme haben wir deshalb den anderen Tendenzen dominieren. Termin für die abschließende Lesung unseres Gesetzent- wurfs im Bundestag storniert. Wir denken allerdings, (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ dass die Erwartung, dass es zu weiterer konstruktiver DIE GRÜNEN) Zusammenarbeit kommt, gerechtfertigt ist. Darum konnten wir es verantworten, die ohnehin be- (Friedrich Merz [CDU/CSU]: Ohne Sub- schlossene dritte Stufe der Steuerreform vorzuziehen. stanz!) Von all denjenigen, die – aus welchen Gründen auch Was die Rentenversicherung angeht, so will ich zu- immer – jene Teile der Finanzierung des Vorziehens, die nächst noch einmal darauf hinweisen, dass die Rentne- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2003 4587

Bundeskanzler Gerhard Schröder (A) rinnen und Rentner am 1. Juli – das war vorgestern – tur- große Zustimmung zur vorgezogenen Steuersenkung: (C) nusgemäß erhöhte Rentenzahlungen bekommen haben. von den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern und von all denen, die in diesem Land etwas unternehmen wol- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) len. Was wir tun, haben wir vernünftig durchgerechnet. Ich will noch einmal an Folgendes erinnern: Wir haben (Lachen bei der CDU/CSU) mit der Rentenreform in der letzten Legislaturperiode die Säule der Kapitaldeckung neben die der Umlagefi- Wir wissen deswegen, dass Deutschland das schultern nanzierung gestellt. Damit haben wir in Deutschland be- kann und dass Deutschland das schaffen wird. reits in großen Teilen das umgesetzt, was Partner- und Nachbarländer noch vor sich haben. Aber wir haben da- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ mals noch zu sehr auf die konjunkturelle Entwicklung DIE GRÜNEN – [Hamm] vertraut. Deswegen und wegen der dramatischen Verän- [CDU/CSU]: Da muss er selbst lachen!) derungen in der Demographie werden wir in dieser Ich denke, meine Damen und Herren, es ist deutlich ge- Frage strukturell noch einmal nacharbeiten müssen. Das worden: Die Menschen in unserem Land wollen Bewe- Ziel bleibt: Die Rentner müssen einen guten Lebensstan- gung. dard haben. Die arbeitenden Generationen dürfen nur mit einem Beitrag belastet werden, den sie auch tragen (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Lachen können. Deshalb wollen wir erreichen, dass der Bei- und Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU tragssatz in diesem Jahr bei 19,5 Prozent bleibt. Wir und der FDP) wollen und müssen den weiteren Anstieg der Lohnne- Sie haben verstanden, dass das notwendig ist. benkosten begrenzen. Ich möchte Ihnen in aller Deutlichkeit sagen: Wer von (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Ihnen sich mit welchen Tönen auch immer verweigert, der DIE GRÜNEN) sollte aufpassen, dass er sich nicht darin irrt, ob die Men- In der zweiten Hälfte dieses wichtigen schen in Deutschland jene Form der Zusammenarbeit, die Reformjahres 2003 werden wir uns darauf konzentrie- ich Ihnen noch einmal anbiete, nicht doch wollen. ren, wie die Menschen in Deutschland für gute Arbeit gutes Geld verdienen können. Wir machen die Struktur- (Michael Glos [CDU/CSU]: Sie sind aber reform nur aus einem einzigen übergeordneten Grund: großzügig heute, Herr Bundeskanzler!) (Friedrich Merz [CDU/CSU]: Um Wahlen zu Ich glaube nicht, dass Sie sonderlich viel davon haben gewinnen!) werden, wenn Sie dieses Angebot ausschlagen. (Michael Glos [CDU/CSU]: Also keinen zwei- (B) damit Deutschland auch in Zukunft ein guter Sozialstaat (D) und eine moderne Volkswirtschaft bleiben kann. Beides ten Gunsterweis!) gehört untrennbar zusammen. In diesem Sinne: Vielen Dank für die Aufmerksam- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ keit. DIE GRÜNEN – Hans Michelbach [CDU/ (Lang anhaltender Beifall bei der SPD und CSU]: Nur Allgemeinplätze!) dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Wir werden deshalb ein hohes Tempo einschlagen, wenn es um Innovation und Familienpolitik, um bessere Präsident Wolfgang Thierse: Bildung und Betreuung, um bessere Möglichkeiten für Ich erteile das Wort Kollegin Angela Merkel, CDU/ Forschung und Entwicklung geht. Wir wollen nicht nur CSU-Fraktion. ein kurzfristiges Signal des Aufbruchs. Wir sagen den Menschen in Deutschland nicht nur: Konsumiert und (Beifall bei der CDU/CSU) gebt euer Geld aus! Wir sagen ihnen vielmehr: Es lohnt sich, in diesem Land zu arbeiten und zu leben, zu inves- Dr. Angela Merkel (CDU/CSU): tieren und zu konsumieren. Wir sagen ihnen: Lasst euch nicht irremachen von denen, die schon wieder warnen Herr Präsident! Meine Damen und Herren! „Deutsch- oder den Impuls zerreden, den wir mit den Steuersen- land bewegt sich“ – so der Titel Ihrer Regierungserklä- kungen gerade geben wollen! rung, Herr Bundeskanzler. Für mich und viele andere stellt sich allerdings, nach der Regierungserklärung noch (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ mehr als vorher, die Frage: Wohin? DIE GRÜNEN) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Ich habe am 14. März über die Neunmalklugen in der neten der FDP – Hubertus Heil [SPD]: Nach öffentlichen Diskussion gesprochen, über diejenigen, de- vorne!) nen immer alles entweder zu weit oder nicht weit genug geht. Wir können heute sagen, denke ich, dass wir mitt- Was ist die Richtung dieser Bewegung? Ich zitiere: lerweile einen gewaltigen Schritt vorangekommen sind. Wir werden – wie geplant – die nächsten Stufen der (Michael Glos [CDU/CSU]: Wohin?) Steuerreform … am 1. Januar 2004 und … am 1. Januar 2005 ohne Abstriche umsetzen. Heute haben wir einen großen gesellschaftlichen Kon- sens über die Notwendigkeit und über die Richtigkeit … Mehr ist nicht zu verkraften. Das muss man klar der Agenda 2010. Wir haben aus der Bevölkerung eine gegenüber denjenigen sagen, die als Patentrezept 4588 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2003

Dr. Angela Merkel (A) Steuersenkungen, bis der Staat draufzuzahlen hat, Deshalb heißt es: Wir brauchen Reformen aus einem (C) anbieten. Guss. Das hat nicht irgendwann irgendwer gesagt, sondern das (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Dann haben Sie, Herr Bundeskanzler, uns zur Einleitung der machen Sie doch mit!) neuen Etappe Ihrer Politik bei der Vorstellung der Reformen muss man richtig machen. Natürlich ist es so Agenda 2010 am 14. März dieses Jahres erklärt. Das wa- – niemand von uns bezweifelt das –, dass die Menschen ren Ihre Worte. in diesem Land Entlastungen brauchen, steuerliche Ent- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- lastungen, auf die sie sich verlassen können und die neten der FDP – Katrin Dagmar Göring- haltbar und tragfähig sind. Deshalb drängt die Zeit. Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das (Hubertus Heil [SPD]: Hört! Hört!) ist kleinkariert, Frau Merkel!) Aber, meine Damen und Herren, die Menschen in die- Herr Bundeskanzler, damals hatten wir 4,5 Millionen sem Land haben genug Enttäuschungen erlebt. Deshalb Arbeitslose, damals hatten wir Nullwachstum. An dieser haben und ich Ihnen, Herr Bundeskanz- Situation hat sich nichts verändert. ler, geschrieben (Hubertus Heil [SPD]: Deshalb brauchen wir (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: In der den Impuls!) „Bild“-Zeitung! – Katrin Dagmar Göring- Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was Heute aber behaupten Sie, den Freiraum dafür zu haben, ist mit Koch und Merz?) Steuersenkungen vorschlagen zu können. Ihr Bundesfi- – bleiben Sie ganz ruhig –, dass die Zeit drängt und dass nanzminister erklärt, eine Neuverschuldung im Bundes- wir natürlich, genau wie Sie, wollen, dass für die Men- haushalt für das nächste Jahr, den er gestern vorgestellt schen Entlastungen, solide Finanzen und keine zusätzli- hat, von über 7 Milliarden Euro über der verfassungs- chen Belastungen geschaffen werden. Aber aus Ihrer rechtlichen Grenze sei ganz normal. Antwort schließe ich, dass dabei ein Missverständnis Jetzt frage ich Sie einfach: Was ist die Richtung Ihrer entstanden ist. Wir haben nicht darum gebeten, außer- Politik? halb der normalen Ordnung mit Ihnen Gespräche zu füh- ren, sondern wir haben darauf gepocht, dass Sie das tun, (Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: was Ihre Arbeit ist, dass Sie nämlich das, was Sie wol- Das sollten Sie sich einmal selber fragen, Frau len, ganz konkret untermauern Merkel! – Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Hubertus Heil [SPD]: Das können Sie auch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Fragen Sie (B) mal machen!) (D) einmal Herrn Merz, was die Richtung der Poli- tik ist! Herr Merz kann Ihnen das beantwor- und dass Sie Vorschläge machen, wie diese Dinge umge- ten!) setzt werden sollen. Man muss ja wenigstens wissen, wie die Richtung im je- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – weiligen Quartal aussieht. Joachim Poß [SPD]: Sie eiern rum, Frau Merkel!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wir haben dazu bei uns in der Fraktion eine ganz Ich sage Ihnen, das Problem Ihrer Politik besteht darin, klare Beschlusslage. dass Sie nur ein Entweder-oder kennen. Aus diesem Ent- (Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ weder-oder entsteht für die Menschen in diesem Lande DIE GRÜNEN – Hubertus Heil [SPD]: Rum- genau das nicht, was wir so dringend brauchen, nämlich eierei!) Verlässlichkeit der Politik und Vertrauen in die Verände- rungen, die notwendig sind. Diese heißt: Wir wollen ein Vorziehen der Steuer- reform 2005. (Beifall bei der CDU/CSU – Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Oha, Verläss- (Hubertus Heil [SPD]: Weiß das der Merz? – lichkeit! Wie ist das denn in Ihrer Politik?) Joachim Poß [SPD]: Sie machen politischen Wackelpudding!) Deshalb kann die Gleichung eben nicht lauten: Entweder – Ihr Bundeskanzler hat Ihnen eigentlich gerade ins Steuerentlastung, aber dafür unsolide Finanzen oder so- Stammbuch geschrieben, wie die Stimmung im Land ist lide Finanzen, aber dafür Steuerbelastung, sondern die und wie man sich angesichts dessen zu verhalten und Gleichung – dafür steht die Union in diesem Lande – über vernünftige Lösungen zu reden hat. (Hubertus Heil [SPD]: Hört! Hört!) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) muss lauten: Solide Finanzen ja, Steuerentlastungen ja, Wenn Sie glauben, Sie könnten hier rumgackern, dann Strukturreformen ja. Das brauchen wir. Dreimal ja und sind Sie fehl an diesem Platz; das sage ich Ihnen ganz kein Entweder-oder, so lautet unsere Alternative. klar. (Beifall bei der CDU/CSU – Hubertus Heil (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – [SPD]: Klatscht der Merz jetzt? Schönen Gruß Hubertus Heil [SPD]: Das bestimmt der Wäh- an Koch! – Weitere Zurufe von der SPD) ler, nicht Sie!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2003 4589

Dr. Angela Merkel (A) Wohl niemand von Ihnen wird doch infrage stellen, Dies ist die Arbeitsteilung, die man in einem Land er- (C) dass man für ein Vorziehen der Steuerreform eine seriöse warten kann, in dem die einen die Regierung stellen und Finanzierung braucht, dass man aufpassen muss, dass die anderen in der Opposition sitzen. Wenn Sie, Herr nicht das, was in die rechte Tasche gegeben worden ist, Bundeskanzler, glauben, dass Sie diese Arbeitsteilung aus der linken wieder herausgenommen wird, aufheben müssen, weil Sie nicht in der Lage sind, selber Vorschläge zu machen, dann bleibt nur eines: Dann müs- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- sen Sie den Platz, auf dem Sie sitzen, verlassen, und neten der FDP) zwar umgehend. dass man schauen muss, was an strukturellen Reformen (Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU und der wirklich erreicht worden ist. FDP – Hubertus Heil [SPD]: Wunschdenken Deshalb sage ich Ihnen: Uns geht es – die Grundsätze ist das!) sind klar – jetzt um die konkrete Umsetzung. Herr Bun- deskanzler, von Sprüchen allein erneuert sich dieses Herr Bundeskanzler, der Stabilitätspakt kam in Ihrer Land nicht. Rede nur ansatzweise vor. Der für die Finanzen zustän- dige EU-Kommissar Pedro Solbes hat Ihnen am 1. Juli (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) dieses Jahres ins Stammbuch geschrieben: „Ein Defizit über 3 Prozent im Jahre 2004“ – das wäre im dritten Jahr In Neuhardenberg haben Sie dem Publikum verkündet, in Folge – „würde inkompatibel mit den Haushaltsregeln Sie wollten das Vorziehen der Steuerreform durch einen der Europäischen Union sein.“ Sie sagen hier, dass die- Mix aus Kreditfinanzierung, marktgerechtem Erlös von ser Haushalt der Linie der Konsolidierung folgt. Privatisierungen und Subventionsabbau erreichen. Ges- tern hat Ihr Finanzminister einen Haushalt vorgelegt, (Lachen bei der CDU/CSU) (Dr. [FDP]: Kein Mix!) Als Tüpfelchen auf dem i sagen Sie: Was wir tun, haben in dem die gesamte Finanzierung der Steuerreform mit, wie wir gut durchgerechnet. er so nett sagte, einem technischen Detail versehen wurde, (Lachen bei der CDU/CSU) nämlich einer Neuverschuldung von 7 Milliarden Euro. Man kann zwar vieles versuchen, aber man darf die (Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Menschen im Lande nicht verhöhnen. Es ist doch offen- Einer Ermächtigung, mehr nicht!) sichtlich – Herr Eichel, Sie wissen es besser als alle an- Das eine war am Sonntag, das andere am Mittwoch. Ich deren, weil es Ihre Beamten Ihnen sagen –, frage Sie: Was gilt? (Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Er weiß es!) (B) (D) Wir haben heute früh alle aufmerksam verfolgt, wie dass dieser Haushalt auf Sand gebaut ist, weil er ein au- Herr Poß im Deutschlandfunk gesagt hat, ßergewöhnliches Produkt von Luftbuchungen sowie von (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Dass getürkten und geschönten Zahlen ist, die vorne und hin- Sie dann doch noch so eine Rede halten, ist ten nicht stimmen. merkwürdig!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) es werde die Zeit kommen, zu der Sie konkrete Vor- Bei diesem Haushalt setzen Sie – auch das ist einzigartig schläge vorlegen. Herr Bundeskanzler, Sie haben Edmund in Deutschland – die Zustimmung zu Gesetzesvorhaben Stoiber und mir geantwortet: Wir werden dem Deut- voraus, die Ihnen im Bundesrat vor zwei Monaten ver- schen Bundestag Vorschläge vorlegen und – das haben weigert wurde. Sie übrigens gleich als freudsche Fehlleistung hinzuge- fügt – dafür eine Mehrheit bekommen; das haben wir gar (Joachim Poß [SPD]: Sie kriegen noch einmal nicht infrage gestellt. Wenn Sie diese Vorschläge vorle- die Chance!) gen – das ist mein Angebot –, dann werden wir unver- Noch bevor Sie von Steuersenkungen gesprochen ha- züglich mit Ihnen in Beratungen eintreten, ben, wurden die Vorschläge der Ministerpräsidenten (Katrin Dagmar Göring-Eckardt [BÜND- Koch und Steinbrück zum Subventionsabbau berück- NIS 90/DIE GRÜNEN]: Nur selber keinen sichtigt, damit dieser Haushalt überhaupt verfassungs- Vorschlag machen, Frau Merkel!) konform ist. egal ob es in der Sommerpause, vorher oder nachher, im ( [CDU/CSU]: Ja!) Juli oder im August ist – wann immer Sie wollen –, aber Herr Bundeskanzler, Sie versuchen, uns immer einzure- Sie müssen diese Vorschläge vorlegen, Herr Bundes- den, wir brauchten noch mehr Subventionsabbau, kanzler. (Katrin Dagmar Göring-Eckardt [BÜND- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) NIS 90/DIE GRÜNEN]: Brauchen wir Ich sage Ihnen dies in aller Deutlichkeit: Wir verlan- auch!) gen diese klare Vorlage und es wird über das Vorziehen zusätzlich zu dem, der schon im Haushalt eingerechnet der Steuerreform keine Detaildebatte geben, bevor Sie worden ist. Dann sagen Sie doch bitte einmal, an wel- nicht gesagt haben, wie Sie es finanzieren wollen. cher Stelle. Halten Sie die Menschen in diesem Lande (Hubertus Heil [SPD]: Und Sie?) nicht für dumm und unterstellen Sie ihnen nicht, dass sie 4590 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2003

Dr. Angela Merkel (A) nicht unterscheiden können zwischen dem Subventions- Es bestreitet doch überhaupt kein Mensch, dass in der (C) abbau, der schon im Haushalt eingerechnet worden ist, Agenda 2010 Schritte in die richtige Richtung enthalten und dem Subventionsabbau, der für ein Vorziehen der sind. Steuerreform zusätzlich notwendig ist! So dumm sind (Hubertus Heil [SPD]: Hört! Hört!) die Menschen in diesem Lande nicht. Deshalb werden sie sich das nicht gefallen lassen. Ich will an dieser Stelle noch einmal Kommissar Solbes zitieren. Er hat gesagt, es sei nur ein erster Schritt und es (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – würden noch weitaus profundere und wichtigere Refor- Katrin Dagmar Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Das ist nur Ihre Hilflosig- men notwendig sein. keit!) (Katrin Dagmar Göring-Eckardt [BÜND- Es kommen noch weitere Unsicherheiten hinzu. Sie NIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber nicht mit Ih- wollen zwar den Mittelstand entlasten und diejenigen nen, Frau Merkel!) fördern, die den Weg in die Selbstständigkeit gehen. Herr Bundeskanzler, Sie sprechen von einem beispiel- Aber schauen Sie sich einmal an, welche Unsicherheiten losen Kraftakt, den Sie bewältigt haben. Dieser mag sozusagen noch im Hintergrund lauern: ein SPD-Partei- nach innen stattgefunden haben. Aber das Land hat von tagsbeschluss, ein Parteitagsbeschluss von den Grünen, diesem Kraftakt noch nichts gemerkt. Die Situation ist die Erbschaftsteuer, die Vermögensteuer und eine Aus- die gleiche wie im März. bildungsabgabe. All das soll im November beraten wer- den. Glauben Sie wirklich, dass sich ein Klima für Inves- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- titionen und von Aufbruch in diesem Lande einstellt, neten der FDP) wenn die Menschen mit diesen Unsicherheiten leben Ich muss sagen, dass wir viele unerledigte Aufgaben müssen? haben: die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und So- (Katrin Dagmar Göring-Eckardt [BÜND- zialhilfe und die Gemeindefinanzreform. Das Jahr ist NIS 90/DIE GRÜNEN]: Es hat sich schon bald zu Ende. eingestellt! Haben Sie es noch nicht ge- (Lachen bei der SPD – Wilhelm Schmidt merkt?) [Salzgitter] [SPD]: Das ist ja ganz schön Ich glaube es nicht. Wir verstehen, dass die Menschen in schnelllebig!) diesem Lande nicht investieren, sondern dass sie Klar- heit und Wahrheit über das, was notwendig ist, wollen. Sie haben über die Rentner gesprochen. Sollen wir Sie eigentlich dafür loben, dass die Rentner die gesetz- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- lich zugesagte Rentenerhöhung am 1. Juli pünktlich be- (B) (D) neten der FDP – Joachim Poß [SPD]: Miesma- kommen? Wohin sind wir eigentlich gekommen? Die cherin!) Rentner wissen nicht, was im nächsten Jahr Sache sein Deutschland bewegt sich – aber sehr vieles nur auf wird. Sie wissen nicht, ob sie eine Erhöhung ihrer Ren- der Stelle. Es gibt seit dem 14. März nicht ein einziges ten bekommen werden oder ob die Schwankungsreserve Gesetzgebungsvorhaben, auf Null gestellt werden wird. Sie sind voll und ganz in der Hand eines Finanzministers, der seinen Haushalt (Joachim Poß [SPD]: Miesmacherin!) nicht mehr im Griff hat. Das ist die Wahrheit für die das schon im Gesetzblatt steht. Manches ist zwar we- Menschen in diesem Lande. nigstens auf den Weg gebracht worden, aber das Aller- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) meiste ruht noch. Es war immer ein gemeinsames Gut dieses ganzen (Hubertus Heil [SPD]: Sie verweigern sich Hauses, dass Menschen, die auf eine Lebensleistung im doch!) Arbeitsleben zurückblicken, nicht von der Kassenlage – Es liegt nicht daran, dass wir uns verweigern. des Bundeshaushalts abhängig sind. Wir werden dafür Sorge tragen, dass Rentnerinnen und Rentner wieder auf (Zurufe von der SPD: Oh!) eine verlässliche Rentenformel bauen können und nicht – Die Ausblendung der Wirklichkeit war noch nie ein gu- mehr länger Spielball Ihrer politischen Interessen sein ter Ratgeber. Wir haben hier Woche für Woche gewartet. werden. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Katrin Dagmar Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) DIE GRÜNEN]: Dann müssen Sie mal einen Vorschlag machen!) Aber Sie kamen nicht zu Potte, weil Sie Ihre Sonderpar- teitage – die SPD hat am 1. Juni und die Grünen haben Meine Damen und Herren, Solbes sagte, wir benötig- erst am 14. Juni getagt – abwarten mussten. Wir könnten ten mutige Reformen für den Arbeitsmarkt. Nach lan- in diesem Lande schon viel weiter sein. Das ist doch die gem Zögern und Warten hat Herr Clement etwas vorge- Wahrheit. legt. Aber ich sage Ihnen ganz ehrlich: Von Mut kann an dieser Stelle keine Rede sein. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Joachim Poß [SPD]: Sie sitzen da und warten (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: auf Koch und Merz!) Ignoranz ohne Ende!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2003 4591

Dr. Angela Merkel (A) Wir haben einen alternativen Gesetzentwurf in die Bera- meinsame Nenner, sondern eine tragfähige Grundlage (C) tungen zur Reform des Arbeitsmarktes eingebracht, der sein wird, die den Menschen in diesem Lande ein Stück seinen Namen verdient. Ich nenne nur einige Punkte aus Sicherheit gibt. diesem Gesetzentwurf. (Dr. [SPD]: Vor allen Din- Herr Clement, Sie gehen an den Kündigungsschutz gen darf es nicht zahnlos sein!) – das wissen Sie selbst – mehr kosmetisch heran, als dass es wirklich hilft. Was bedeutet es eigentlich, wenn Aber Tatsache ist auch, dass Sie in vielen Bereichen in einem Betrieb mit fünf Beschäftigten der sechste bis weit weg davon sind, die notwendigen strukturellen Re- hundertste Beschäftigte nicht mehr gezählt wird, wenn formen anzupacken. Ihnen ist bis heute überhaupt nicht er einen befristeten Arbeitsvertrag hat? Das fördert doch das gelungen, was dieses Land eigentlich braucht: eine nur das Abschließen befristeter Arbeitsverträge, bringt Diskussion über die Ziele dessen, was Sie tun. Womit aber den Menschen, die einen Job annehmen, keine Ver- sollen und wollen die Menschen in diesem Land in den lässlichkeit. Deshalb haben wir hierzu viel bessere Vor- nächsten zehn Jahren ihr Geld verdienen? Welche Ar- schläge gemacht. Übernehmen Sie sie; dann ist dieses beitsplätze braucht Deutschland und was tun wir dafür, Land besser dran. damit sie erhalten werden? Schauen Sie einmal in Ihren Haushalt: Die Ausgaben für die Verkehrsinfrastruktur (Beifall bei der CDU/CSU) sind trotz Mautgebühren geringer als im vergangenen Jahr, Meine Damen und Herren, zum Kernstück unserer Arbeitsmarktreform: Sie werden nicht daran vorbei- (Zuruf von der CDU/CSU: Unglaublich!) kommen, sich dem Thema betriebliche Bündnisse für es gibt Unsicherheit in der Forschungslandschaft auf- Arbeit zu widmen. In den vergangenen Wochen haben grund des Wegfalls der Mittel aus den UMTS-Lizenzen. wir einen Streik der IG Metall erlebt, der an den Men- schen dieses Landes, vor allen Dingen an den Beschäf- Schauen Sie sich einmal die Debatte über die Verpa- tigten in den neuen Bundesländern, vollkommen vorbei- ckungsverordnung an. Es dürfte überhaupt nur ein Ka- gegangen ist. Zum Schluss haben die binettsmitglied geben, das dieses Thema mit Freude er- Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit den Füßen füllt. Deutschland diskutiert Stunden und Aberstunden abgestimmt, weil sie keine rechtliche Grundlage dafür und verliert wegen hirnrissiger Vorschläge des Bun- hatten, für sich betriebliche Regelungen zu finden, wie desumweltministers zur Verpackungsverordnung Ar- wir sie in unserem Gesetzentwurf vorschlagen. Wenn Sie beitsplätze. es mit dem Schutz von Arbeitnehmerinnen und Arbeit- nehmern wirklich ernst meinen und sie letzten Endes (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – (B) nicht unter den Druck von ganz anderen Kräfteverhält- Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Haben (D) nissen kommen sollen, dann sollten Sie aus dem Verhal- Sie schon mit Töpfer gesprochen? – Weitere ten der ostdeutschen Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh- Zurufe von der SPD und dem BÜNDNIS 90/ mer lernen und endlich das Thema betriebliche DIE GRÜNEN) Bündnisse für Arbeit auf die Tagesordnung setzen, damit Glauben Sie wirklich allen Ernstes, dass es das zentrale vernünftige Lohnvereinbarungen möglich werden. So Problem Deutschlands ist, ob nunmehr auch kleine Glas- könnten die Beteiligten auch die Flexibilität aufbringen, fläschchen mit Apfelsaft bepfandet werden sollen? Ha- die man in Zeiten der Globalisierung braucht, damit die ben Sie schon einmal überlegt, dass man bestimmte Sor- Arbeitsplätze nicht in andere Länder, etwa nach Mittel- ten von Colaflaschen überhaupt nicht mehr bekommt, und Osteuropa, abwandern. Das ist die Wahrheit. weil man sie nur noch dort abgeben kann, wo man sie (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) gekauft hat, und keine Flaschen mehr bei Coca-Cola an- kommen? Der Schwachsinn kennt an dieser Stelle keine Ich kann Ihnen nur eines anbieten: Machen Sie das, Grenzen! Machen Sie endlich etwas Vernünftiges dar- was Sie im Niedriglohnbereich gemacht hatten. Gehen aus! Sie in den Vermittlungsausschuss und übernehmen Sie unseren Gesetzentwurf. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Katrin Dagmar Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der CDU/CSU – Katrin Dagmar DIE GRÜNEN]: Das haben Sie eingeführt! Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Das ist Ihr Gesetz, Frau Merkel! – Weitere Zu- NEN]: Dünner Beifall aus den eigenen Rei- rufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) hen!) Herr Bundeskanzler, es reicht nicht, wenn Sie auf ir- Dann wird Deutschland einen wirklichen Schritt nach gendeiner Versammlung sagen, dass Ihnen das Regime, vorn machen. Sie loben inzwischen ja selbst, was im nach dem die CO2-Lizenzen in Deutschland berechnet Niedriglohnbereich geschehen ist. werden sollen, suspekt erscheint. Sie müssen auf euro- päischer Ebene darauf achten, dass solche Regelungen Meine Damen und Herren, wir haben die Kooperation handhabbar sind. Sie müssen auf europäischer Ebene da- im Bereich des Gesundheitssystems mit der Absicht an- für eintreten, dass keine Chemikalienrichtlinie geschaf- genommen, redliche, ehrliche, faire Verhandlungen zu fen wird, die in Deutschland die gesamte chemische In- führen. Unser gemeinsames Ziel ist die Begrenzung des dustrie zu Boden reißt. Beitrags auf 13 Prozent. Wir werden darauf achten, dass das Ergebnis dieser Verhandlungen nicht der kleinste ge- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) 4592 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2003

Dr. Angela Merkel (A) Sie müssen darauf achten, dass der gesamte pharmazeu- dass Sie eine Politik betrieben haben, die in diesem (C) tische Bereich nicht durch eine Positivliste kaputtge- Lande kein Wachstum ermöglicht, sondern es zurückge- macht wird. Wenn Sie die Arbeitsplätze der Zukunft ha- drängt hat und dass Deutschland deshalb in der derzeiti- ben wollen, dann geht das über die Strukturreformen, die gen Lage ist. Sie bisher benannt haben, weit hinaus (Joachim Poß [SPD]: Welches Steuermodell (Katrin Dagmar Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/ haben Sie denn für die Kommunen? – Gegen- DIE GRÜNEN]: Es reicht nicht, an allem fest- ruf des Abg. [CDU/CSU]: Sie zuhalten!) haben keine Ahnung!) und erfordert Forschungsfreundlichkeit sowie Technolo- Wir glauben an die Kraft der Menschen in diesem giefreundlichkeit – und die vermisse ich bei denjenigen, Lande. Wir glauben daran, dass Deutschland seinen An- die in der Mitte dieses Saales sitzen, ganz besonders. teil an der Globalisierung und seine Chancen nutzen kann. Wir glauben daran, dass wir bestimmte Dinge (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) punktuell gemeinsam machen können. Aber, Herr Bun- Deshalb sage ich Ihnen: Deutschland muss wieder deskanzler, es bleibt auch die Zeit des Streites über den nach vorne kommen. besten Weg dafür, dass, wenn man dieses Land verlässt und sich im Ausland über Deutschland unterhält, wieder (Joseph Fischer, Bundesminister: Aha!) gesagt wird: Dieses Land ist wirklich in Bewegung. – Das ist unser aller Anliegen. Wenn Sie heute nach Brüssel, nach Washington oder nach Peking fahren, dann fragen die Menschen: Warum (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Sie ha- schafft ihr es nicht, den Transrapid zu bauen? Warum ben doch eben die Strecke rückwärts beschrie- schafft ihr es nicht, Wachstum zu generieren? Warum ben!) seid ihr die Letzten in Europa? Sie haben in den letzten viereinhalb Jahren nichts, aber Deshalb sage ich Ihnen: Ohne Streit werden Sie nicht auch gar nichts dazu beigetragen. voranzubringen sein. Wir sind die Kraft, die Sie in Be- (Joachim Poß [SPD]: Sie haben doch mies ge- wegung setzt. macht! Sie sind die größte Miesmacherin!) (Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ – Herr Poß, ich habe das heute früh schon einmal gehört DIE GRÜNEN) und möchte deshalb darauf eingehen: Wer hat wen mies Dabei wollen wir Ihnen weiterhelfen. gemacht und wer hat die Realitäten beim Namen ge- (B) nannt? Herzlichen Dank. (D) (Hubertus Heil [SPD]: Wo ist Ihr Vorschlag?) (Lang anhaltender Beifall bei der CDU/CSU – Beifall bei der FDP) Wenn wir im vorigen Jahr gesagt hätten: „Es wird in die- sem Jahr im Bundeshaushalt eine Nettoneuverschuldung von 40 Milliarden Euro geben“, dann hätten Sie uns ge- Präsident Wolfgang Thierse: ziehen, dass wir Deutschland schlechtreden. Inzwischen Ich erteile das Wort Kollegen Franz Müntefering, ist dies die Realität. SPD-Fraktion. Es hat doch keinen Sinn, dass wir den Kopf in den (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Sand stecken und uns nicht mit den realen Fakten aus- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) einander setzen. Der Bundeskanzler hat hier wieder ein kleines Gemälde von Hoffnung und Freude gezeichnet. Franz Müntefering (SPD): Aber schauen Sie sich doch einmal die Lage der Ge- meinden bzw. der Kommunen an! Schauen Sie sich ein- Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und mal an, wie hoch zurzeit die Investitionen in Deutsch- Herren! Frau Merkel, die Antwort auf Ihre Eingangs- land sind! frage ist ganz einfach: Wohin geht die politische Reise in Deutschland? Nach vorne! (Katrin Dagmar Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Wir wären schon viel (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten weiter! – Weitere Zurufe vom BÜNDNIS 90/ des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) DIE GRÜNEN) Die Wahrheit ist einfach – Ihre Kurzsichtigkeit ist keine Schulen können nicht mehr renoviert werden, Bibliothe- Entschuldigung dafür, dass Sie hier so tun, als ob das ken erhöhen die Gebühren und Schwimmbäder schließen. nicht zu erkennen wäre –: In den rund 100 Tagen seit dem 14. März, seit der Agenda 2010 (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Was wollen Sie denn machen? Sie wollen doch nur ( [CDU/CSU]: Ist nichts pas- den Griff in die Bundeskasse!) siert!) Verschließen Sie doch nicht die Augen davor, ist in Deutschland vieles in Bewegung gekommen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des neten der FDP) BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Manfred Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2003 4593

Franz Müntefering (A) Grund [CDU/CSU]: Nicht ein Arbeitsloser ist keine Politik entlang der Zahlen des „Politbarometers“ (C) von der Straße!) und werden das auch in Zukunft nicht tun. Vielmehr ori- entieren wir uns an den Interessen dieses Landes. Das Sie könnten das erkennen, wenn Sie wollten. Sie wollen wird sich zum guten Schluss auszahlen. es nicht erkennen. Deshalb haben Sie heute eine Selbst- findungsrede gehalten. Sie haben eine Fraktionsrede ge- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ halten. Wenn der eigene Laden so durcheinander ist wie DIE GRÜNEN) bei Ihnen, dann muss man seine eigene Truppe anspre- chen. Das haben Sie getan. Aber Sie haben nichts zu der Wer in dieser Gesellschaft Vertrauen gewinnen will, Frage gesagt, wie es in unserem Land weitergeht. der muss aufhören, nach der Melodie zu singen, die viele von uns – auch Sie, auch wir – sich in den vergangenen (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Jahren angewöhnt haben: Mal schauen, was die Men- DIE GRÜNEN) schen meinen. – Nein, wir müssen hören, was sie wollen Wir haben mit der Agenda 2010, in diesen 100 Tagen und was ihre Sorgen sind, aber dann die politischen beginnend und verstärkt, den Paradigmenwechsel der Konsequenzen daraus ziehen und die Menschen auf die- Politik in Deutschland eingeleitet. Das war schwer. Das sem Weg mitnehmen. Das werden wir auch in Zukunft bleibt schwer. Da gibt es viele Widerstände. Wir haben tun. Wir werden nicht auf das „Politbarometer“ schauen. uns an vielen Stellen durchgesetzt. Die Einsicht und die Wir werden mit unserem praktischen Handeln das Ver- Zustimmung zu diesem Projekt wachsen. trauen der Menschen gewinnen. Das wollen wir und das erreichen wir auch. Wir haben vor allen Dingen mit der gefährlichen Selbstzufriedenheit Schluss gemacht, die in den 90er- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Jahren in Deutschland gang und gäbe war. Jahr für Jahr DIE GRÜNEN) haben wir und haben auch Sie auf eine starke Konjunk- Wir haben uns in den letzten Tagen natürlich die tur gehofft, die die Strukturfragen des Landes irgendwie Frage gestellt: Wo ist die Opposition? Frau Merkel, ich löst oder überdeckt. Wir haben darauf gehofft, dass ein habe gelernt: Sie sitzen im Wartehäuschen. Das haben hohes Wachstum in Deutschland uns davor bewahrt, Sie uns eben mitgeteilt. Strukturen verändern zu müssen, die nicht mehr zeitge- mäß sind. Wer dieser Erkenntnis ausweicht, der kann (Lachen und Beifall bei Abgeordneten der den Ansprüchen der Politik für die Zukunft nicht gerecht SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- werden. Wir haben daraus die Konsequenzen gezogen. NEN) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Sie hatten über lange Zeit Gelegenheit, sich im Wind- (B) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) schatten unseres Regierungshandelns einen weißen Fuß (D) zu machen. Die Agenda 2010 ist längst ein Bündel konkreter Maßnahmen geworden. Sie ist auch im europäischen (Lachen des Abg. Hartmut Schauerte [CDU/ Ausland und in der Welt zum Synonym für die Hand- CSU]) lungsfähigkeit und Handlungswilligkeit in Deutschland – Herr Schauerte auch. Das ist so weit in Ordnung. Aber geworden. nun kommt der Punkt, an dem auch Sie eine Meinung (Dirk Niebel [FDP]: Die übernehmen das!) haben müssen. Ich weiß nicht, was bei Ihnen eigentlich passiert ist. Der Bundeskanzler hat die Gesetze am – Sie mögen das leicht nehmen. Aber es ist so. Herr 14. März angekündigt und wir haben sie vorbereitet. Niebel, wenn man sich mit den Politikern in anderen europäischen Ländern – dazu hatten wir am letzten Wo- (Zurufe von der CDU/CSU: Auf Parteitagen!) chenende Gelegenheit –, aber auch darüber hinaus unter- hält, dann merkt man: Die Welt, Europa zumal, schaut Nun stellen wir fest: keine Ideen, keine Richtung, keine darauf, was wir in Deutschland mit der Agenda 2010 Zuversicht, keine Meinung bei der Opposition. machen, ob wir den Mut und die Kraft haben, sie umzu- (Elke Wülfing [CDU/CSU]: Es wurde doch setzen und aus ihr in vielerlei Hinsicht praktische Politik nichts gemacht!) zu machen. Ihr Problem ist, Frau Merkel, dass Sie zu viel daran den- Ziel ist, Innovationen zu stärken, den Kommunen zu- ken, wer wann bei Ihnen Kanzlerkandidat oder -kandida- sätzliche Investitionskraft zu geben, den Arbeitsmarkt zu tin für 2006 werden könnte, und dass Sie zu wenig an die modernisieren, die sozialen Sicherungssysteme zu- Interessen dieses Landes denken. kunftsgerecht zu machen – immer mit der Zielsetzung, Wohlstand zu sichern und soziale Gerechtigkeit zu er- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ möglichen. DIE GRÜNEN – Michael Glos [CDU/CSU]: Das war aber gelungen!) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Vergessen Sie das mit der Kanzlerkandidatenfrage, Frau Merkel. Bis dahin wird hinter den Anden noch so man- Nun sind die Umfrageergebnisse für uns, die Sozial- cher Pakt geschlossen werden. demokraten, in den letzten Wochen und Monaten nicht gut. Das sehen wir. Auch damit muss man sich aus- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des einander setzen; das tun auch Sie. Aber wir machen BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) 4594 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2003

Franz Müntefering (A) Als es in den vergangenen Tagen nun darauf ankam, dungen zu treffen haben, sowohl im Bundestag als auch (C) gab es bei der Union kein Konzept zum Gesundheitsmo- im Bundesrat. Im zweiten Halbjahr liegt die härtere Stre- dernisierungsgesetz und kein Konzept zur Handwerks- cke des Jahres vor uns. Aber es wird sich in diesem Jahr, ordnung. in 2003, im Wesentlichen entscheiden, ob Deutschland den Weg nach vorn findet – wirtschaftspolitisch, finanz- (Elke Wülfing [CDU/CSU]: Sie können doch politisch, sozialpolitisch. zur Sache gar nichts sagen! Sie haben lediglich pauschal alles abgelehnt, was wir auf (Elke Wülfing [CDU/CSU]: Dann legt doch den Tisch gelegt haben. Da werden Sie sich noch korri- endlich mal etwas vor!) gieren müssen. – Die Maßnahmen liegen auf dem Tisch. – Ich finde es (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Das ist Quatsch!) gut, dass wir begonnen haben, im Bereich des Gesund- heitsmodernisierungsgesetzes zu verhandeln. Sie, Frau Bei Ihnen war kein Konzept zu erkennen. Das wurde Merkel, haben eben angesprochen, dass ein Beitragssatz nun auch am Wochenende deutlich, als es um das Vor- von 13 Prozent erreicht werden soll. Ich sage: Ja, daran ziehen der Steuerreform ging. Solange Sie es selbst ge- werden wir mitarbeiten; das ist auch unser Ziel. Aber ei- fordert haben, fanden Sie es gut; jetzt, wo es konkret nes muss klar sein: Es kann nicht nur darum gehen, das wird, Geld, das für das Gesundheitswesen gebraucht wird, ( [CDU/CSU]: Was wird anders zu finanzieren, sondern die Struktur des Gesund- denn konkret?) heitswesens muss so verändert werden, dass die Produk- tivität im Gesundheitswesen steigt und im Gesundheits- wissen Sie nicht mehr, ob Sie dafür oder dagegen sein wesen auch gespart werden kann. Das ist Bedingung für sollen. Wenn man sich anguckt, was dazu in den letzten das, was wir miteinander erreichen wollen. Wochen und Monaten von Ihnen gesagt wurde, dann wird das deutlich. Friedrich Merz am 21. Juni: „Wir sind (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ nicht bereit, Harakiri zu machen.“ CDU-Vorstand am DIE GRÜNEN) 21. Juni 2003: „Die CDU Deutschlands will, dass die Deshalb kann nicht die einfache Formel gelten: Was Bürger weniger Steuern zahlen. Sie erwartet, dass die die Arbeitgeber nicht mehr zahlen, damit die Lohnne- Bundesregierung einen Gesetzentwurf vorlegt, der die benkosten sinken, das müssen jetzt die Arbeitnehmer al- dritte Steuerreformstufe vorzieht.“ Das Ganze ist dann in lein bezahlen, sondern wir werden einen vernünftigen unnachahmlicher Weise von Herrn Stoiber am 30. Juni Mix erreichen müssen. Ich glaube, dass wir es das schaf- auf den Punkt gebracht worden. fen. (B) (Elke Wülfing [CDU/CSU]: Zitieren Sie mal (D) Zum Thema Kommunen. Frau Merkel, es ist richtig, Herrn Clement! – Hans Michelbach [CDU/ dass die Investitionskraft der Kommunen gestärkt wer- CSU]: Zitieren Sie doch mal Herrn Steinbrück!) den muss. Das wissen wir schon lange. Sie aber haben Edmund Stoiber: „Die Union sagt ja nicht Nein, sondern vor einigen Wochen nicht verhindert – vielleicht konnten die Union sagt: Ja, aber.“ Sie es auch nicht –, dass im Bundesrat das Steuerver- günstigungsabbaugesetz aufgehalten wurde. Dadurch (Lachen bei der SPD) wären den Städten und Gemeinden bis zum Jahr 2006 Das ist die Situation, in der Sie sich bewegen. Das kann 6 Milliarden Euro zugekommen. Das haben Sie verhin- man gar nicht toppen, das ist kabarettreif. Aber Sie wer- dert. den sich entscheiden müssen, wenn Sie dabei sein wol- (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: So ist len, meine Damen und Herren. es!) (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- SES 90/DIE GRÜNEN) Es ist nicht ehrlich, dass sich die Bürgermeister und Oberbürgermeister der CDU darüber beschweren, sie Es könnte sein, dass bei einigen von Ihnen nicht die hätten kein Geld, während Sie im Bundesrat verhindern, Interessen Deutschlands im Mittelpunkt ihrer Überle- dass sie Geld bekommen. Das ist nicht in Ordnung. gungen stehen, sondern dass sie sich in ihrem Oppositi- onsdenken verlieren. Das geht nicht, Frau Merkel. Wir (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ brauchen die Opposition im Bundesrat in diesem Herbst, DIE GRÜNEN) wobei ich weiß, dass es besonders für Sie, Frau Merkel, Wir werden eine Gemeindefinanzreform auf den Weg schwer ist, wenn mitten im warmen Sommer in der bringen und die Gewerbesteuer aktivieren. Wir werden CDU/CSU der März ausbricht. Dadurch entsteht bei Ih- die freien Berufe einbeziehen. Wir werden dafür sorgen, nen ein ziemliches Chaos, das haben wir schon festge- dass die Kommunen durch die Zusammenlegung von stellt. Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe angemessen entlastet (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE werden. Denn wir wissen: Es ist besonders für die Hand- GRÜNEN – Zurufe von der CDU/CDU) werksbetriebe, für die kleinen und mittleren Unterneh- men wichtig, Aber, meine Damen und Herren, die eigentliche An- strengung beginnt erst; wir wissen das. Wir werden im (Hans Michelbach [CDU/CSU]: Die zwangs- zweiten Halbjahr 2003 eine Reihe wichtiger Entschei- besteuert werden!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2003 4595

Franz Müntefering (A) dass die Arbeit, die es vor Ort in den Städten und Ge- sieren. Allerdings ist Folgendes unverzichtbar – dazu (C) meinden gibt, auch getan werden kann. stehen wir –: Wir müssen in Deutschland erreichen, dass die jungen Menschen, die aus der Schule kommen, die Es gibt auch weiterhin eine hohe Investitionsquote im Chance haben, eine Ausbildung oder eine Arbeit zu be- Haushalt des Bundes. Frau Merkel, Sie haben gesagt, die kommen oder in berufsvorbereitenden Maßnahmen auf Investitionsquote sei im Jahr 2004 niedriger als in die- ihr Berufsleben vorbereitet zu werden. Wenn nicht aus- sem Jahr. Das hängt im Wesentlichen damit zusammen, reichend viele Ausbildungsplätze zur Verfügung stehen dass im Haushalt des nächsten Jahres keine Mittel für – es wird sich am 30. September zeigen, ob das Angebot Flutopferhilfe enthalten sind. Das war nämlich der ausreicht oder nicht –, dann müssen wir als Politiker da- Grund für die Höhe in diesem Jahr. Auch im nächsten raus Konsequenzen ziehen und dafür sorgen, dass die Jahr liegt die Investitionsquote bei etwa 25 Milliarden jungen Menschen eine Chance bekommen. Da sind wir Euro. Ein Großteil davon fließt in Maßnahmen in Ost- in der Pflicht. Das werden wir auch erreichen. deutschland. Das ist gut so und soll auch so bleiben, weil dort noch vieles aufzuarbeiten ist. Wir bleiben bei einer (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ hohen Investitionsquote des Bundes, auch zugunsten des DIE GRÜNEN) Ostens Deutschlands. Wir werden auch Entscheidungen im Bereich Inno- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten vationen zu treffen haben. Hierzu haben wir in der letz- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) ten Legislaturperiode viel getan und viel von dem aufge- Mit dem Zuschuss für die Bundesanstalt für Arbeit ist arbeitet, was Sie in den 90er-Jahren haben liegen lassen. gesichert, dass die ABM- und die SAM-Maßnahmen, so Wir werden auch im nächsten Jahr 3 Prozent mehr für wie am 14. März vom Bundeskanzler zugesagt, in Ost- Großforschungseinrichtungen geben. Hier gibt es auch deutschland im erforderlichen Umfang zur Verfügung Erfolge. Durch die Halbleiterförderung zum Beispiel ha- stehen. Wir wissen, dass es diese Maßnahmen nicht ben inzwischen allein in Dresden etwa 11 000 Menschen mehr flächendeckend wie bisher in Deutschland geben in diesem Bereich Beschäftigung gefunden, bei etwa muss. Dort, wo sie nötig sind, werden die notwendigen 16 000 Menschen in der Bundesrepublik insgesamt. Mittel aber zur Verfügung stehen. Wenn man die Rechnung über Kosten und Nutzen auf- macht, dann kommt man zu dem Ergebnis, dass etwa Wir haben die Änderung der Handwerksordnung 2 Milliarden Euro an öffentlichen Mitteln hineinfließen, auf den Weg gebracht. Dazu gibt es Kritik, auch aus Ih- dass aber etwa 6 Milliarden Euro bis zum Jahre 2010 er- ren Reihen. Was mich nur wundert, ist, dass nach dem wirtschaftet werden. Motto diskutiert wird: Alles oder nichts. Dabei wissen wir doch ganz genau, dass mit Blick auf die Handwerks- Wir haben erreicht, dass die Zahl der Menschen, die (B) (D) ordnung etwas verändert werden muss, alleine um sie in Unternehmen beschäftigt sind, welche sich schwer- europafest zu machen. Denn es besteht in Deutschland punktmäßig mit Biotechnologie befassen, seit 1999 um die absurde Situation, dass Gesellen aus anderen Län- 66 Prozent gestiegen ist; das sind 15 000 Arbeitsplätze. dern Europas zu uns kommen und Betriebe aufmachen (Zuruf von der FDP) können, ohne dass sie den Meisterbrief dafür brauchen. Das bringt die Freizügigkeit in Europa mit sich. Umge- Auch um die Intention, über Innovation, über neues kehrt gehen deutsche Gesellen aus Nordrhein-Westfalen Wissen, über neue Fähigkeiten den Wohlstand langfris- in die Niederlande und gründen dort Unternehmen, um tig zu sichern, wird es in diesem Herbst in Deutschland in Deutschland am Arbeitsmarkt tätig zu sein. gehen. Ich kann nur hoffen, dass Sie dabei sein werden. Es besteht also die Notwendigkeit, die Handwerks- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ ordnung zu verändern und sie europakompatibel zu ma- DIE GRÜNEN – Hans Michelbach [CDU/ chen. Dem dürfen wir nicht aus dem Weg gehen. Des- CSU]: Lächerlich!) halb lautet meine herzliche Bitte an Sie, auch in diesem Punkt aus der Totalopposition herauszukommen. Wir Wir werden in diesem Herbst bei allen Themen, über wollen im Interesse des Handwerks, im Interesse der Ge- die wir zu diskutieren haben, auch über die Finanzpoli- sellen, im Interesse des Arbeitsmarktes in Deutschland tik, über die Stabilität und über das Wachstum, die damit und im Interesse der Bekämpfung der Schwarzarbeit die verbunden sind, sprechen. Wir werden dabei des Weite- Handwerksordnung modernisieren. Wir wollen sie öff- ren über unser gemeinsames Anliegen, uns durch Sub- nen und so dafür sorgen, dass es in diesem Bereich mehr ventionsabbau Finanzierungsspielräume für öffentliche Impulse geben kann. Aufgaben zu verschaffen, sprechen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Dabei werden wir Sie zunächst einmal an unser An- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) liegen erinnern, die Gewinnmindestbesteuerung mög- lich zu machen. Das haben Sie im Bundesrat abgelehnt. Wir werden in diesem Herbst Entscheidungen im Be- Wenn ich mir manche Gesichter hier anschaue, dann reich Ausbildung zu treffen haben. Wir wissen, dass wir habe ich den Eindruck, es tut Ihnen ein bisschen Leid, mit unseren Ankündigungen den einen oder anderen in dass Sie dort so damit umgegangen sind. der Wirtschaft verschrecken. Das wollen wir eigentlich nicht. Wir wollen den Unternehmen nicht drohen, es (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ werde, wenn nicht eine ausreichende Zahl an Ausbil- DIE GRÜNEN – Zuruf von der CDU/CSU: dungsplätzen zur Verfügung gestellt werde, etwas pas- Aber nun gar nicht!) 4596 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2003

Franz Müntefering (A) Das Ziel, dass die großen Unternehmen Körperschaft- Im Wesentlichen wird es hierbei um den Nachhaltig- (C) steuer mindestens für die Hälfte dessen zahlen, was sie als keitsfaktor bzw. um die Frage gehen, wie beim Anstieg Gewinn haben, ist nämlich ein legitimes Ziel. Wir werden der Renten eine gewisse Analogie zu dem erreicht wer- das erneut auf die Tagesordnung bringen. Sie werden sich den kann, was die Aktiven erhalten. Das ist nämlich das dann entscheiden müssen, was Sie tun wollen. Geheimnis des Nachhaltigkeitsfaktors. Bisher ist das in Deutschland nicht bzw. nicht in hinreichendem Maße Außerdem werden wir einen Vorschlag zur Verände- gegeben. Deshalb besteht hier Regelungsbedarf. Es muss rung der Eigenheimzulage machen. Damit soll erreicht in Gesetzen neu fixiert werden, wohin die Reise gehen werden, dass mehr in den Bestand investiert und mehr soll. Rücksicht auf die veränderte Lage am Wohnungsmarkt und bei der Bevölkerungsentwicklung genommen wird. Meine Damen und Herren, was wir in den letzten Jah- Die Bevölkerungszahl wird in fünf bis zehn Jahren ren und insbesondere in der allerletzten Zeit gelernt ha- schrumpfen. Die Zahl der Wohnungen in Deutschland ist ben, ausreichend, aber die Wohnungen sind nicht immer am richtigen Platz. Deshalb ist es richtig, jetzt verstärkt da- (Volker Kauder [CDU/CSU]: Sie haben etwas rauf zu setzen, dass in den Bestand in den Stadt- und gelernt? Das ist bemerkenswert!) Ortskernen investiert wird. Diesen Weg werden wir ist, dass nichts von dem, was errungen worden ist, was Schritt für Schritt gehen. Das bedeutet, dass wir bis zum erstritten worden ist, sicher ist auf immer, auch nicht der Jahre 2010 etwa 4,4 Milliarden Euro für Investitionen in Wohlstand. Das haben wir alle in Deutschland lange ge- den Bestand einsetzen, dies allerdings unter Aufgabe glaubt; Herr Glos, Sie und ich auch. Das ist eine Genera- dessen, was bisher an Eigenheimzulage gewährt worden tionenfrage. ist. Diese Tendenz ist richtig; gar keine Frage. (Michael Glos [CDU/CSU]: Nein! Ich habe im- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ mer geglaubt, dass das nur mit Arbeit geht!) DIE GRÜNEN) – Doch, das haben Sie. – Wir hatten fünfzig gute Jahre Meine Damen und Herren, wir werden ferner über die und haben geglaubt, das sei selbstverständlich. Nun mer- Entfernungspauschale sprechen. Dabei wird es um die ken wir plötzlich, dass das nicht so ist und dass wir den Modalitäten gehen. Die Frage ist hier, ob Sie sich an der Menschen sagen müssen: Ihr müsst vorsorgen und an Stelle bewegen. Wir wissen, dass wir in dieser Frage auf- morgen und übermorgen denken. Das nimmt natürlich einander zugehen müssen. Es gibt Argumente dafür, Impulse aus der Wirtschaft und aus dem Handeln der hiermit sozialpolitisch und regionalpolitisch vernünftig Menschen heraus. umzugehen. Mehr möchte ich dazu heute nicht sagen. (B) Den Hinweis darauf, dass wir mehrere Vorschläge dafür Die Menschen in Deutschland müssen verstehen, dass (D) gemacht haben, welcher Weg beschritten werden kann, es anstrengend wird, sie müssen hier und dort Abstriche wollte ich hier allerdings noch kurz geben. Nun sind Sie machen. Dieses Land ist aber stark genug, um wieder dran und müssen auch einmal deutlich machen, was Sie nach vorne zu kommen. Wir haben alle Potenziale, um sich eigentlich vorstellen, wenn Sie, Herr Merz, sagen, Deutschland wieder nach vorne zu bringen. Das werden dass es dafür einen Gegenfinanzierungsvorschlag geben wir mit Gerhard Schröder, dieser Bundesregierung und müsse. Was, bitte schön, meinen Sie damit? dieser Koalition tun. In diesem Herbst gibt es ein weiteres ganz wichtiges Vielen Dank. Thema, das auch der Kanzler angesprochen hat – die (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Renten, die Alterssicherung –, das auch mit dem DIE GRÜNEN – Volker Kauder [CDU/CSU]: Haushalt 2004 in Verbindung steht. Wir haben entschie- Ohne Lob und ohne Tadel: Vier!) den, dass im Haushalt festgelegt werden soll – so steht es jetzt auch dort –, dass der Rentenversicherungsbeitrag Präsident Wolfgang Thierse: im Jahre 2004 nicht über 19,5 Prozent steigen soll und dass der Bundeszuschuss für die Alterssicherung, für die Ich erteile Kollegen Guido Westerwelle, FDP-Frak- Rente um 2 Milliarden Euro reduziert wird. Das hat fi- tion, das Wort. nanzielle Konsequenzen in einer Größenordnung von (Beifall bei der FDP – Anhaltende Zurufe ei- etwa 5 oder 6 Milliarden Euro insgesamt. Darüber und nes Zuschauers von der Besuchertribüne – Der wahrscheinlich zeitgleich auch über die Pflegeversiche- Zuschauer wirft Flugblätter in den Saal) rung wird zu sprechen sein, wenn im Oktober, so denke ich, im Deutschen Bundestag die Rentengesetzgebung Bitte schön, Kollege Westerwelle. Jetzt ist die nötige auf der Tagesordnung steht. Ich weiß, dass dieses Thema Ruhe wieder eingekehrt. nicht populär ist. Ich möchte das bei dieser Gelegenheit aber schon ankündigen, damit sich alle darauf einstellen Dr. Guido Westerwelle (FDP): können, vielleicht dieses Mal auch Sie. Nutzen Sie also Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- die drei Monate und bilden Sie sich eine eigene Meinung ren! Herr Bundeskanzler, Sie haben am Wochenende auf zu diesen Themen, damit Sie dann, wenn wir die Gesetze Ihrer Klausurtagung beschlossen, dass Sie die Schritte auf den Tisch legen, handlungsfähig sind. zur Steuersenkung vorziehen, also den Weg der Steuer- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ senkungen gehen wollen. Für die liberale Opposition in DIE GRÜNEN) diesem Hause will ich erklären: Wenn Sie den Weg von Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2003 4597

Dr. Guido Westerwelle (A) Steuersenkungen wirklich gehen wollen und wenn Ihren Sie heute sogar zitiert – zu den Neunmalklugen der öf- (C) Worten auch Taten folgen, dann werden Sie die Unter- fentlichen Diskussion gestempelt. – Herzlich willkom- stützung der Freien Demokraten in diesem Hause dafür men im Klub der Neunmalklugen, Herr Bundeskanzler. haben. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE In Wahrheit ist es doch so, dass Sie den Weg der Steu- GRÜNEN) ersenkungspolitik nicht aus innerer ordnungspolitischer Ich sage das deshalb, weil wir Liberale uns natürlich Überzeugung gehen wollen, sondern weil Sie, getrieben an das erinnern, was wir selber in Wahlkämpfen immer durch Meinungsumfragen, erkennen, dass Ihr bisheriger wieder gesagt haben. Regierungsweg ein Crashkurs für unser Land war und dass die Menschen dies bemerkt haben. Aber Sie müssen (Hubertus Heil [SPD]: Im Gegensatz zur jetzt konkret werden. Ich sage noch einmal: Wenn Sie CDU/CSU!) konkret werden und den Weg der marktwirtschaftlichen Im Bundestagswahlkampf und in jedem anderen Wahl- Erneuerung gehen wollen, dann werden wir mit unserem kampf sowie bei jeder wirtschaftspolitischen Debatte in gewachsenen Gewicht in den Ländern dafür sorgen, dass es keine Blockadepolitik gegen die Interessen unseres diesem Hause haben wir gesagt: Herr Bundeskanzler, Landes gibt. gehen Sie den Weg der Steuersenkungspolitik! Eine Steuersenkungspolitik ist das beste Beschäftigungspro- Aber Sie müssen auch konkret werden. Sagen Sie der gramm. Opposition bitte nicht, sie würde nur darauf warten, dass Sie etwas vorlegen. Von den Freien Demokraten gibt es Herr Bundeskanzler, erhöhen Sie sich aber bitte nicht, zu jedem Reformprojekt in diesem Lande konkrete Ge- indem Sie das als eine geniale Erkenntnis an diesem Wo- setzesinitiativen. Lesen Sie sie! Vielleicht kommen Sie chenende für sich vereinnahmen. Seit Jahren werden Sie dann zu besseren Erkenntnissen. in Richtung Steuersenkungen getrieben. Jahrelang waren Sie nicht bereit dazu. Hätten Sie den Weg der Steuersen- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten kungspolitik früher beschritten, dann hätten heute Hun- der CDU/CSU) derttausende von Menschen mehr eine Arbeit. Ich möchte noch einmal darauf aufmerksam machen: (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Wir in der Opposition der CDU/CSU) (Hubertus Heil [SPD]: Werdet dort bleiben!) Das wollen wir an dieser Stelle auch klar machen. werden uns heute anders verhalten, als Sie sich damals (B) in der Opposition verhalten haben; denn wir kennen un- (D) Sie sagen hier, die Opposition habe dieses und jenes sere staatspolitische Verantwortung für Deutschland. nicht mitgemacht. So weit sind wir noch gar nicht; denn Wir werden nicht so wie Sie 1997 die Petersberger Be- von Ihnen liegt überhaupt nichts vor. schlüsse, die vermutlich beste Steuersenkungsreform, (Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Richtig!) die in diesem Hause jemals beschlossen worden ist, im Bundesrat blockieren. Die Verantwortung dafür tragen So sehr ich den Ansatz der Mitwirkung auch bei den Herr Lafontaine, Sie, Herr Bundeskanzler, und Herr Kolleginnen und Kollegen der Union teilweise nicht Eichel als Ministerpräsident. Sie haben damals diese teile, so sehr ist aber die Kritik an dem, was Sie heute Blockadepolitik zum Schaden für unser Land durchge- Morgen hier geboten haben, berechtigt. Wir kommen führt. Wir haben das damals kritisiert. Wir werden es hierher und denken, dass es nach dieser Klausurtagung heute nicht so machen. eine Regierungserklärung gibt, in der uns der Bundes- kanzler sagen wird, wo die Privatisierung, der Subventi- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) ons- und der Bürokratieabbau erfolgen werden und wie Dieses Land wäre weiter, wenn Sie nicht jedes Mal viel Schulden er machen will. Nichts davon haben Sie nur auf Meinungsumfragen, bevorstehende Wahlen und hier gebracht – Lyrik, Paraphrasen und Märchenstunde. Wahlergebnisse reagieren würden. Sie sprechen hier von einem beispiellosen Kraftakt. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (Hubertus Heil [SPD]: Stimmt!) Das ist für eine Regierungserklärung in einer solch ver- heerenden Situation für unser Land zu wenig. Ich muss wirklich fragen: Was war das bisher? Bisher bestand der beispiellose Kraftakt des Bundeskanzlers da- (Volker Kauder [CDU/CSU]: Mehr kann er rin, dass er als SPD-Vorsitzender einen Parteitag der nicht!) SPD hinter sich gebracht hat. Sie sagen, Sie berufen sich auf das, was Sie in Ihrer (Hubertus Heil [SPD]: Das kennen Sie ja von Regierungserklärung am 14. März hier gesagt haben. Ich der FDP!) erinnere mich noch sehr genau daran, weil ich die Ehre hatte, Ihnen für unsere Fraktion auf diese Regierungser- Wenn schon das ein Kraftakt sein soll – dass dies klärung zur so genannten Agenda 2010 zu antworten. schwierig ist, weiß jeder Parteivorsitzende –, dann muss Wir haben Ihnen mit Anträgen nicht nur einmal, sondern die deutsche Einheit dagegen ein Spaziergang gewesen sein. dutzendfach deutlich gemacht: Ziehen Sie diese Steuer- senkungsschritte vor. Damals haben Sie uns – das haben (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) 4598 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2003

Dr. Guido Westerwelle (A) Gleiches gilt für mit der Einführung der Ich möchte Ihnen jetzt gern einmal sagen, welche (C) sozialen Marktwirtschaft. Der Kraftakt liegt nicht hinter konkreten Finanzierungsvorstellungen wir zu diesem Ihnen, sondern vor Ihnen und vor dem ganzen Haus. Zu Punkt vorgelegt haben. Auch diese Debatte ist aberwit- dieser notwendigen Erkenntnis müssen Sie in der deut- zig. Sie sagen, es gebe keine Vorschläge der Opposition. schen Politik endlich gelangen. Jeder Bürger, der uns jetzt zuschaut, kann in dieser Stunde im Internet nachlesen, dass wir Freie Demokra- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten ten Ihnen auf Euro und Cent vorgerechnet haben, wie die der CDU/CSU) Steuersenkungspolitik zu finanzieren ist. Gehen wir ins Anlässlich Ihres gestrigen Besuchs im sächsischen Detail und fangen wir mit der Privatisierungsstrategie Pirna, Herr Bundeskanzler, erinnere ich an die Debatte an, die Sie, Herr Bundeskanzler, zu Recht nach Ihrer im August 2002 vor der Bundestagswahl, in der wir über Klausurtagung vor der imposanten Kulisse des Schlosses die Finanzierung der Hochwasserhilfen gesprochen vorgetragen haben. Das macht Ihnen übrigens keiner haben. Als Sie seinerzeit beschlossen haben, die weite- nach. ren Schritte der Steuersenkungen zu verschieben, um die (Katrin Dagmar Göring-Eckardt [BÜND- Hilfen für die Flutkatastrophe finanzieren zu können, ha- NIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist Ihr ben wir Ihnen gesagt: Für Deutschland wäre es besser, Neid!) die Katastrophe des Hochwassers nicht mit der Katastro- phe von mehr Steuern und damit mehr Arbeitslosigkeit Das muss man professionell anerkennen. Sie machen bekämpfen zu wollen. Wir haben Ihnen geraten: Gehen eine Show, die wirklich unvergleichlich ist. Dagegen ist Sie den Weg der Steuersenkungen. – Ich habe einmal der Auftritt von George Bush auf dem Flugzeugträger nachgelesen, was damals für Zwischenrufe gemacht rein gar nichts. Es ist wirklich beeindruckend, wie Sie wurden. Der Kollege Tauss hat gerufen: Freibier für alle. das machen. Dieser Zwischenruf kam aus den Reihen der SPD. Der Kollege Tauss nimmt anstandshalber wenigstens an die- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten ser Debatte nicht teil. Er müsste rote Ohren bekommen, der CDU/CSU – Krista Sager [BÜNDNIS 90/ wenn er seine Zwischenrufe von damals hören würde. DIE GRÜNEN]: Nur kein Neid, Herr Westerwelle!) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Ich möchte Ihnen jetzt einmal vorlesen, was in Wahr- heit das Sparbuch dieser Republik ist. Reden wir einmal Frau Scheel, was haben Sie noch vor wenigen Tagen über die Privatisierungsstrategie. Im Beteiligungs- alles erzählt? Ich habe die Zeitungsausschnitte noch ein- bericht der Bundesregierung stehen mittlerweile (B) mal nachgelesen, die mir Herr Kollege Solms vorgelegt 426 Beteiligungen nur des Bundes. Das beginnt im (D) hat, der das zusammen mit unseren anderen Freunden, alphabetischen Verzeichnis mit der „Abwicklungsgesell- die in diesem Bereich arbeiten, noch viel detaillierter schaft Kabelsysteme GmbH & Co. KG“ in Hagen- verfolgt. Frau Scheel, Sie haben den Freien Demokraten Erkrath und hört mit der Nummer 426 mit der „ZugBus gesagt, Steuersenkungspolitik im Interesse eines Auf- Schleswig-Holstein GmbH“ in Kiel auf. Wir stellen fest, schwungs zu verfolgen, sei Voodoo-Ökonomie. Offen- dass wir Reisebüros besitzen und erhebliche Anteile an sichtlich sind auch Sie diesem Zauber endlich erlegen. Personalberatungsbüros haben. Gott sei Dank, kann ich dazu nur sagen. (Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordne- Wer, die FDP?) ten der CDU/CSU – Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist – Wir, das Volk. Sie haben ein spannendes Staatsver- auch Voodoo-Kultur!) ständnis. – Frau Scheel, weil Sie es immer noch nicht – Frau Scheel, schweigen Sie. verstanden haben: Wir Politiker sind nicht die Eigen- tümer von Steuergeldern, sondern die Treuhänder. Ent- (Heiterkeit beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- sprechend müssen wir uns verhalten. NEN) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Lesen Sie in aller Ruhe nach, was Sie gesagt haben. Ich der CDU/CSU) glaube, fast jede Ihrer Reden sollten Sie genüsslich auf- essen. Bringen Sie endlich dieses Buch auf den Markt. Wenn Sie es selber nicht können, dann beauftragen Sie eine (Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Unternehmensberatung, die Ihnen zeigt, wie man so et- Das hat noch keiner geschafft!) was macht. Das ist kein Tafelsilber, das wir verscherbeln wollen, sondern das ist in Wahrheit Senkblei um den Es ist ein Treppenwitz, was von Ihnen dazu gekommen Hals der Steuerzahler. Das gehört endlich privatisiert. ist. Dann können wir jede Steuersenkungsreform lässig fi- (Beifall bei der FDP) nanzieren. Für diese Debatte sollten Sie, Frau Scheel, aus Gründen (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten des Stils Buße tun und sagen: Jawohl, ihr Liberalen, ihr der CDU/CSU – , Bundesminister: seid Klasse. Dazu haben Sie wirklich Grund. Quatsch!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2003 4599

Dr. Guido Westerwelle (A) Der Bundesfinanzminister ruft „Quatsch“ dazwischen. weisen und konkret dazu Stellung nehmen, was Sie vor- (C) Herr Bundesfinanzminister, ich sage Ihnen voraus: Ge- haben. Dass Sie – nachdem am Wochenende die Streiks nau das werden Sie machen. Dass dieser Finanzminister in Ostdeutschland Gott sei Dank zusammengebrochen immer zur besseren Erkenntnis getrieben werden muss, sind – in Ihrer heutigen Regierungserklärung das Thema ist meines Erachtens auch ein Problem in diesem Lande. „Tarifrecht und Arbeitsmarkt“ im Grunde genommen wieder völlig aussparen, ist ein weiteres großes Problem. (Beifall bei der FDP) Mit der Steuersenkungspolitik werden mit Sicherheit Sie, Herr Finanzminister, sind ein Buchhalter, aber von ein paar Fortschritte in diesem Land erzielt. Wenn aber einer dynamischen Wirtschaftspolitik verstehen Sie gar die notwendigen Strukturreformen ausbleiben, scheitert nichts. das Vorhaben schon, bevor die Umsetzung richtig begin- Gehen wir weiter zur Subventionspolitik. Auch dazu nen konnte. gibt es einen konkreten Vorschlag von den Freien Demo- (Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Richtig!) kraten in diesem Hause. Wir sagen Ihnen: Nach der Pri- vatisierung kürzen Sie die Subventionen. Wir sagen Ih- Ich möchte an dieser Stelle betonen: Es ist ein Ver- nen nicht nur gezielt, welche Subventionen gekürzt dienst der Ostdeutschen, dass sie den Gewerkschafts- werden können, wir haben Ihnen auch vorgerechnet, wie funktionären endlich gezeigt haben, dass eine solche die Subventionen durch einen linearen Abbau in Höhe Politik nicht gegen die Arbeitnehmerinnen und Arbeit- von 20 Prozent zurückgeführt werden können. Das ist nehmer in diesem Land betrieben werden kann. Es ist ohnehin ordnungspolitisch dringend geboten. Es ist ein Verdienst der Ostdeutschen, dass dieses Tarifkartell nämlich verdammt unfair, dass die Großen Subventionen endlich durchbrochen wurde. Gehen wir endlich noch bekommen und dann mit Dumpingangeboten die Klei- weiter! Wenn sich 75 Prozent der Belegschaft eines Un- nen kaputtmachen. ternehmens mit der Unternehmensführung auf ein be- stimmtes Vorgehen verständigen wollen, dann soll das (Beifall bei der FDP) auch gelten dürfen, ohne dass es ein Funktionär verhin- Aber was machen Sie? Holzmann. Das ist typisch Bun- dern kann. deskanzler Schröder. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (, Bundesminister: !) Wenn Sie das nicht schaffen, dann wird über das, was Deswegen fordern wir eine Subventionskürzung von Sie bisher vorgelegt haben, hinaus nichts erreicht wer- 20 Prozent, sie ist in diesem Land notwendig. den. Lassen Sie mich abschließend feststellen: Der Unter- (B) (Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne (D) Kastner) schied zwischen dem, was Sie bisher vorgelegt haben, und unserer Politik ist der Unterschied zwischen einer Ich möchte darauf aufmerksam machen, dass diese buchhalterischen und einer dynamischen Wirtschaftspo- Opposition konstruktive Vorschläge vorgelegt hat. Wenn litik. Sie diese jetzt nach und nach aufnehmen, soll uns das herzlich willkommen sein, denn es geht um unser Land (Hubertus Heil [SPD]: Genau! Unsere ist dy- und darum, dass Arbeitsplätze entstehen. Es geht um namisch!) Wirtschaftswachstum und es wäre besser, wir würden Sie wollen schon jetzt und mit hohem Tempo die Neu- mehr machen als das, was von Ihnen jetzt zaghaft begon- verschuldung erhöhen. Wir hingegen weisen Sie darauf nen wurde. hin, dass eine Steuersenkungspolitik in diesem Lande Das ist das zweite große Thema. Wir glauben viel- nicht nur im Interesse neuer Arbeitsplätze nötig ist, son- leicht, dass wir durch diese wenigen marktwirtschaftli- dern dass sie auch ohne zusätzliche Neuverschuldung fi- chen Ansätze, die jetzt von der Regierung vorgeschlagen nanzierbar ist. Wir haben im Zusammenhang mit dem werden, in der Lage wären, die Kurve in Deutschland zu Subventionsabbau und der Privatisierungspolitik vorge- kriegen. Das ist falsch. Das Reformkonzept, das Sie bis- rechnet, wie das funktioniert. her vorgelegt haben, ist – wenn alles gut geht – besten- Hüten Sie sich davor, zu schnell das süße Gift der falls dazu geeignet, einen weiteren Anstieg der Arbeits- Schulden zu nehmen, nur weil Sie damit auf den ge- losigkeit zu verhindern. Einen Rückgang der ringsten Widerstand in Ihren eigenen Reihen stoßen! Arbeitslosigkeit werden Sie damit aber nicht bewirken; denn in Wahrheit bleiben Sie wieder in sämtlichen Fra- (Hubertus Heil [SPD]: Das kennen Sie von gen auf halber Strecke – manchmal bereits auf den ersten Kohl!) 10 Prozent der Strecke – stehen. Ob in der Privatisie- Schlagen Sie den vernünftigen Weg der Strukturrefor- rungspolitik, beim Subventionsabbau oder beim Büro- men ein! Deutschland hat das verdient. Wir kennen un- kratieabbau – wo bleiben denn die Gesetzentwürfe, die sere staatspolitische Verantwortung. Sie mit der Agenda 2010 im März angekündigt haben? Wo bleibt die Zusammenlegung der Arbeitslosenhilfe (Dr. Reinhard Loske [BÜNDNIS 90/DIE und der Sozialhilfe, die wir immer wieder gefordert ha- GRÜNEN]: Wer hat denn die ganzen Schulden ben? Setzen Sie sie um! Wir machen gerne mit. aufgebaut? Das waren doch Sie!) Es reicht nicht aus, eine lyrische Regierungserklärung Wir werden Sie auf Ihrem Weg begleiten, wenn es denn vorzulesen. Als Bundeskanzler müssen Sie Taten vor- ein Weg der Vernunft ist. 4600 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2003

Dr. Guido Westerwelle (A) Den Worten zur Steuersenkung müssen aber endlich – Ich kann Ihnen das aus dem Pressespiegel heraussu- (C) Taten folgen. Die Menschen wollen nicht mehr, dass Sie chen. Das ist überhaupt kein Problem. nur reden, Herr Bundeskanzler. Sie wollen sehen, dass (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Das ist un- Sie handeln. Sie hatten genug Zeit. Hauptsache, Sie keh- fair!) ren endlich um! Besser für dieses Land wäre allerdings, Sie würden abtreten. Neuwahlen wären das beste Be- Ich sage Ihnen noch etwas: Sie haben hier mit Häme schäftigungsprogramm für Deutschland! über die Streiks in Ostdeutschland gesprochen. Ich bin davon überzeugt, dass das, was dort geschehen ist, den (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – kritischen Diskussionsprozess, der in den Gewerkschaf- Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Ziemlich ten längst begonnen hat, weiter befördern wird. Aber die einfallslos! – Joachim Poß [SPD]: Herr Häme, die Sie hier zum Ausdruck gebracht haben, teilen Westerwelle steigert sich! Er wird immer fla- wir nicht; denn wir wissen, wohin wir kommen würden cher!) – das wollen Sie ja –, wenn es keine starken Gewerk- schaften in Deutschland mehr gäbe. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Nächste Rednerin ist die Kollegin Krista Sager, und bei der SPD) Bündnis 90/Die Grünen. Das Gesetzespaket für die Gesundheitsreform liegt Krista Sager (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): vor. Die Reformen der Rentenversicherung und der Pfle- geversicherung werden wir im Herbst dieses Jahres be- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In den schließen. Auch die Gemeindefinanzreform werden wir vergangenen Tagen und Wochen hat diese rot-grüne Re- im Herbst anpacken, egal ob sich die Kommission, die gierung etwas auf den Weg gebracht, das sich sehen las- dafür eingesetzt wurde, einigen wird oder nicht. sen kann. (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Mit Steuer- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN erhöhungen!) und bei der SPD) Damit sind wir auf dem Weg, die zentralen Aufgaben zu Wir sind auch aus grüner Sicht mit den Vereinbarungen, lösen. Wir werden die sozialen Sicherungssysteme in die in Neuhardenberg getroffen worden sind, hochzufrie- Deutschland finanzierbar halten und sie damit zukunfts- den. fest machen. Wir sorgen so dafür, dass sich die Men- Herr Westerwelle, auf die Frage, welches der bessere schen in Zukunft auf die solidarischen Systeme, auf die Weg ist, gibt es nur eine Antwort: lieber mit dem Kanz- sie tatsächlich angewiesen sind, verlassen können. Des- (B) (D) ler in Neuhardenberg als mit Ihnen im Container! halb unternehmen wir die erwähnten Anstrengungen. Die Koalition hat sich inzwischen nicht nur darauf ver- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ständigt, dass die Lohnnebenkosten in Deutschland ge- und bei der SPD) senkt werden müssen, sondern ist auch dabei, die Struk- Wir machen jetzt unter schwierigen Rahmenbedin- turreformen umzusetzen, die tatsächlich zu einer gungen Ernst mit den notwendigen Strukturreformen. Senkung der Lohnnebenkosten führen werden. Wir bringen auch Bewegung in den Arbeitsmarkt. Wir (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- haben bereits damit angefangen und werden im Herbst SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD) fortfahren. Darüber hinaus unternehmen wir besondere Anstrengungen, damit junge Menschen unter 25, aber Das wird entscheidend dafür sein, dass der Faktor Arbeit auch ältere Langzeitarbeitslose eine Chance haben, wie- in Deutschland nicht mit Abgaben überbelastet wird und der in den Arbeitsmarkt zu kommen. dass Arbeitslose wieder eine bessere Chance in Deutsch- land haben, in Beschäftigung zu kommen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Gleichzeitig schlagen wir mit dem Haushaltsentwurf 2004 noch radikalere und noch konsequentere Schritte Herr Westerwelle, ein Mitglied Ihrer Fraktion hat zu zum Subventionsabbau vor. Wir sind besonders dank- den besonderen Anstrengungen, älteren Arbeitslosen bar, dass der Bundesfinanzminister in seinem jetzigen wieder eine Chance zu geben, gesagt, man solle kein Haushaltsentwurf noch radikaler an die ökologisch fal- Geld für hoffnungslose Fälle ausgeben. Das unterschei- schen bzw. fragwürdigen Subventionen herangegangen det uns in der Politik. ist als in der Vergangenheit. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) und bei der SPD) Wenn Sie das unter Dynamik verstehen, dann kann ich Gerade mit dem geplanten Subventionsabbau werden Ihnen nur sagen, dass Sie damit alleine dastehen. Das ist wir Bewegung in die verfestigten Strukturen in Deutsch- Ausdruck Ihrer Ellbogenmentalität und hat mit Dynamik land bringen. Warum machen wir das? Wir machen das, nichts zu tun. Das ist nur zynisch. weil solche Strukturen den Weg für Neues und Wichti- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ges blockieren, nämlich für Investitionen in Bildung und und bei der SPD – Dr. Guido Westerwelle Forschung, in Innovationsfähigkeit, in die ökologische [FDP]: Namen! Wer, wo, wann?) Modernisierung und auch in eine moderne Kinderpoli- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2003 4601

Krista Sager (A) tik. Dafür brauchen wir Luft und diese verschaffen wir trieren, wie eine alternde Gesellschaft ihre Innovations- (C) uns jetzt. fähigkeit unter den Bedingungen der Globalisierung nicht nur erhalten, sondern auch weiterentwickeln kann. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Deutschland und Europa brauchen die besten Köpfe und und bei der SPD) die besten Ideen, um sich nachhaltig weiterzuentwi- Wir wissen, dass die Strukturreformen, die wir jetzt ckeln. Meine Damen und Herren von der Opposition, in den sozialen Sicherungssystemen, aber auch beim dazu gehört ein modernes Zuwanderungsrecht. Auch Subventionsabbau durchführen, nicht sofort, sondern was diesen Bereich angeht, müssen Sie von der Bremse erst mittel- und langfristig wirken. Die Wirkung wird gehen. aber dauerhaft und nachhaltig sein. Das ist der Grund, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN warum diese Reformen Priorität für uns haben, warum sowie bei Abgeordneten der SPD) sie auf Platz eins der Agenda 2010 stehen. Das ist der Grund, warum wir sagen: Strukturreformen zuerst! Wir Ein zukunftsfähiges Deutschland kann sich keine Oppo- wissen auch, dass wir den Bürgerinnen und Bürgern et- sition leisten, die bei der Schaffung eines modernen Zu- was abverlangen müssen. Aber ich glaube, dass viele wanderungsrechts auf der Bremse steht oder im Warte- Menschen in diesem Land begriffen haben, warum wir saal sitzt. das alles tun. Wir machen diese Reformen, um das Land in den Bereichen nach vorne zu bringen, die wirklich Die Opposition hat langsam begriffen – das ist inte- wichtig sind, nämlich in den Zukunftsbereichen. ressant –, dass es offensichtlich nicht besonders günstig ist, sich dem Vorhaben der Regierung, Steuern zu sen- Wir haben uns darauf verständigt – darüber sind wir ken, zu verweigern. Aus unserer Sicht ist es angesichts besonders froh –, dass wir im Herbst dieses Jahres noch der Durchführung von Strukturreformen und des Abbaus einmal Änderungen im Bereich der Rentenversicherung von Subventionen akzeptabel, jetzt einen Impuls zu set- und der Pflegeversicherung vornehmen werden, um zen, der sich auf die Konjunktur in diesem Lande positiv diese sozialen Sicherungssysteme tragfähig zu gestalten, auswirken soll. Wer sagt, wir sollten Steuersenkungen und dass wir ebenfalls im kommenden Herbst die möglichst nicht durch zusätzliche hohe Schulden finan- Grundlagen legen werden, um im nächsten Jahr den Bei- zieren, der hat die Grünen sofort auf seiner Seite. tragssatz in der Rentenversicherung bei 19,5 Prozent- punkten zu stabilisieren. Wir sind auch darüber froh, (Volker Kauder [CDU/CSU]: Dann müssen Sie dass wir über das Gesundheitspaket jetzt ernsthaft ver- sich einen neuen Koalitionspartner suchen! – handeln. Ich bin sehr zuversichtlich, dass wir gemeinsam Michael Glos [CDU/CSU]: Da müssen Sie etwas zustande bringen, wenn die Opposition es ehrlich vorsichtig sein!) (B) meint. Wir sollten gemeinsam dafür sorgen, dass der kreditfi- (D) Eines sage ich ganz klar: Es wird mit uns keine Eini- nanzierte Teil der Steuerreform – auch aus Gründen der gung geben, die nur den Patientinnen und Patienten et- Generationengerechtigkeit – möglichst gering ist. was abverlangt. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Friedrich sowie bei Abgeordneten der SPD) Merz [CDU/CSU]: Sind Sie überhaupt noch in dieser Koalition?) Gerade weil der Gesundheitsbereich im Hinblick auf Arbeitsplätze und Innovationen immer wichtiger wird, Zumindest ein Teil der CDU hat es möglicherweise gerade weil wir wollen, dass das medizinisch Notwen- gerade noch geschafft, mit quietschenden Reifen die dige auch in Zukunft gewährleistet ist, müssen wir dort Kurve zu kriegen. Die „Alpen-Connection“ von Frau für mehr Effizienz, mehr Transparenz und mehr Wettbe- Merkel funktioniert offensichtlich etwas besser als ihre werb sorgen. Deswegen wird es mit uns keine Einigung „Anden-Connection“. Einige kritische Kommentare geben, die nur auf Finanzen ausgerichtet ist und weder dazu kann ich Ihnen aber nicht ersparen. In Ihren eige- eine Strukturreform noch ein Aufbrechen der Machtkar- nen Reihen haben sie offensichtlich erhebliche Pro- telle vorsieht. bleme. Dabei denke ich nicht nur an Herrn Koch, den hessischen „Doktor No“, sondern vor allen Dingen an Ich bekomme immer mehr Signale – auch das sage Mitglieder Ihrer Fraktion. Die Diskussion in Ihrer Frak- ich ganz deutlich – von unserem Koalitionspartner, aber tion hat offensichtlich sehr viel damit zu tun, dass Sie auch von anderen, dass es im Herbst zu einer ernsthaften sich über die Kanzlerkandidatur bis heute nicht verstän- Diskussion über die Bürgerversicherung kommen digt haben. wird. Ich kann die Opposition nur dazu einladen, sich an dieser Diskussion konstruktiv zu beteiligen. Herr (Widerspruch bei Abgeordneten der CDU/ Seehofer hat wirklich Recht: Die Schaffung einer Bür- CSU) gerversicherung ist eine Zukunftsaufgabe, die wir ange- Frau Merkel hat in ihrem Brief an den Bundeskanzler hen müssen. eine verlässliche Politik eingefordert. Ich frage mich in (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN der Tat, wo Ihre Verlässlichkeit in der Steuerpolitik sowie bei Abgeordneten der SPD) bleibt. Im Herbst werden wir uns auf die Umsetzung der (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Agenda 2010 und darüber hinaus auf die Frage konzen- sowie bei Abgeordneten der SPD) 4602 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2003

Krista Sager (A) Da ist von Verlässlichkeit keine Spur; da herrscht das diesem Land, sondern sie muss auch noch die Opposi- (C) blanke Chaos. Das stellen nicht nur wir fest. tion mitschleppen – das ist doch das Problem! –, (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Solide muss (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN es sein!) und bei der SPD – Lachen des Abg. Heinz Seiffert [CDU/CSU]) Als wir eine Steuerreform längst beschlossen hatten, durch die die Steuersätze in Deutschland ein Rekordtief und zwar eine Opposition, die sich mit ihrem ganzen erreichen – sie werden um circa 10 Prozentpunkte ge- „Nein“, „Jein“, „Ja, aber“ auch noch gegen das Mit- senkt –, haben Sie gesagt: Das reicht alles nicht; die schleppen wehrt. Um über Ihre schlechten Haltungsno- Steuersätze müssen noch viel weiter sinken. Was ist ten bei dieser unglücklichen Übung hinwegzutäuschen, jetzt? Jetzt machen Sie total die Rolle rückwärts. Was ist sagen Sie auch noch: Schneller, schneller, schneller, denn mit der Gegenfinanzierung? Herr Merz hat uns da- schneller! – Aber es kann doch nicht schneller gehen, mals erzählt: So eine Steuersenkung finanziert sich prak- wenn Sie ständig auf der Bremse stehen! tisch aus sich selbst heraus. (Beifall der Abg. Katrin Dagmar Göring- (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) SES 90/DIE GRÜNEN) Die Regierung hat im letzten Jahr genügend Vor- Was ist jetzt? Jetzt sagt er: große Verschuldungsproble- schläge dazu gemacht, wie man Subventionen in diesem matik, alles nur Teufelszeug. – Herr Merz weiß offen- Land abbauen kann, wie man gerade auch an Subventio- sichtlich nicht, wovon er redet. nen herangehen kann, die inzwischen überholt sind und Investitionen in Neues blockieren. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Es waren sowie bei Abgeordneten der SPD) Steuererhöungen, die Sie vorgeschlagen ha- Was erzählt uns eigentlich Frau Merkel? Frau Merkel ben!) sagt in der „Bild“-Zeitung: Subventionsabbau zur Ge- Was ist von Ihnen gekommen? Von Ihnen ist nichts wei- genfinanzierung muss sein. In der gleichen Ausgabe der ter gekommen als taktische Spielchen. Sie dürfen nicht „Bild“-Zeitung sagt sie: Subventionsabbau ja, aber nie- denken, dass die Menschen in diesem Land das nicht mandem in diesem Land irgendetwas wegnehmen. – langsam durchschauen. Herr Stoiber sagt wiederum: Doch, natürlich, allen etwas wegnehmen, nämlich gleichmäßig 10 Prozent. – Frau Sie sagen: Die Regierung soll einmal einen Vorschlag Merkel sagt in der „Bild“-Zeitung: Aber auf keinen Fall machen. Dann macht die Regierung einen Vorschlag. (B) (D) mit Schulden. – Was sagt der Konfusionsrat, Herr Stoi- (Volker Kauder [CDU/CSU]: Bis jetzt haben ber? Er sagt: Doch, 30 Prozent davon mit Schulden. – Sie noch keinen gemacht!) Frau Merkel sagt: Herr Steinbrück und Herr Koch sollen doch jetzt einmal Gegenfinanzierungsvorschläge ma- Sie sagen: Nein, gerade der gefällt uns nicht. Dann chen. macht die Regierung einen neuen Vorschlag. Sie sagen: Jetzt hat die Regierung schon wieder einen gemeinen (Heinz Seiffert [CDU/CSU]: Was sagen Sie ei- Vorschlag gemacht. – Das ist doch Ihr Spiel! Mit diesen gentlich? – Weiterer Zuruf von der CDU/CSU: Tricksereien werden wir in diesem Land nicht weiter- Was sagen Sie denn?) kommen. Das sagt sie in der „Bild“-Zeitung. Hier sagt sie wie- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN derum: Die Regierung soll Vorschläge machen. – Wenn sowie bei Abgeordneten der SPD – Volker die Regierung Vorschläge macht, dann sagen Sie aber Kauder [CDU/CSU]: Der Fischer hat schon immer nur Nein und stehen auf der Bremse. keine Lust mehr! Der will ja weg! – Weiterer (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Zuruf von der CDU/CSU: Mit dieser Regie- und bei der SPD) rung nicht!) Herr Müntefering hat völlig zu Recht gesagt, dass Sie Kein Mensch in diesem Land begreift, wohin Sie ei- diese taktischen Spielereien ausschließlich auf Kosten gentlich wollen. Es ist auch nicht so, dass Sie nur ein der Länder und Gemeinden betreiben. Sie wissen ganz Kommunikationsdesaster haben. Sie haben vor allem genau, dass über die Hälfte der Subventionen, die im auch ein Konzeptdesaster, Subventionsbericht aufgeführt sind, in Form von Steuer- (Volker Kauder [CDU/CSU]: Schreien Sie vergünstigungen gewährt werden. Wenn Sie jedes Mal, doch nicht so!) wenn eine Steuervergünstigung abgebaut wird, behaup- ten, das sei jetzt aber eine ganz gemeine Steuererhöhung, weil Sie kein Konzept vorlegen können, aus dem hervor- dann meinen Sie es überhaupt nicht ehrlich damit, Sub- geht, wohin es eigentlich gehen soll. ventionen in diesem Land abbauen zu wollen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) und bei der SPD) Tatsache ist doch, dass die Regierung den Karren in Sie wissen doch: Wenn Subventionen in Form von Steu- diesem Land zieht. Sie zieht aber nicht nur den Karren in ervergünstigungen und nicht in Form von Finanzhilfen Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2003 4603

Krista Sager (A) abgebaut werden, dann dient das ganz besonders den Mühe nicht mehr lohne. Ich möchte Sie bitten, jetzt hier (C) Ländern und Gemeinden. Sie haben mit Ihrer verfluch- vor diesem Hohen Hause zu sagen, wo das gewesen ist ten Taktik – Sie haben im Bundesrat vernünftige Maß- und von wem dieses Zitat stammt, da ich dem als Partei- nahmen blockiert – dazu beigetragen, dass die Haushalte vorsitzender, wie Sie verstehen werden, natürlich nach- der Länder und Gemeinden so sind, wie sie sind. gehen möchte. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Michael Glos [CDU/CSU]: Oder nehmen Sie sowie bei Abgeordneten der SPD – Hartmut es zurück! – Dr. Hans-Peter Friedrich [Hof] Schauerte [CDU/CSU]: Wer hat denn die Kör- [CDU/CSU]: Entschuldigen Sie sich, und perschaftsteuer zerstört?) gut! – Hartmut Schauerte (CDU/CSU): Das ist bösartig, was Sie da gesagt haben!) Jetzt kommen wir zum Kern der Sache. Was sich jetzt zeigt – die Wartesaalpolitik von Frau Merkel hat es deut- lich gemacht –, ist, dass Sie mit Ihrer Taktik gründlich Krista Sager (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): gescheitert sind. Sie haben das ganze halbe Jahr im Bun- Herr Westerwelle, ich habe diesen Kommentar zu der desrat mit der Blockierung der Finanzpolitik ausschließ- Verabschiedung des Programms für Langzeitarbeitslose lich darauf gesetzt, dass Sie die Regierung möglicher- gestern einer Tickermeldung entnommen. Ich werde weise destabilisieren können. Das Gegenteil haben Sie diese Tickermeldung aus meinen Unterlagen heraussu- erreicht: Nie ist diese rot-grüne Koalition so stabil gewe- chen und sie Ihnen dann übergeben. Es wird sich ja fest- sen wie zurzeit. stellen lassen, ob diese Tickermeldung stimmt. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Bevor man so etwas weitergibt, überprüft man das! – Un- Nie ist diese rot-grüne Koalition so handlungsfähig ge- ruhe bei der FDP) wesen wie zurzeit. Nicht handlungsfähig ist die CDU/ CSU. In der CDU/CSU herrscht völliges Durcheinander. – Entschuldigen Sie, ich werde sie Ihnen geben. Sie stehen nicht nur vor einem Kommunikations- und Konzeptdesaster, sondern auch vor einem Strategiede- (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Peinlich! – saster, weil Ihre Strategie auf ganzer Länge gescheitert Jörg van Essen [FDP]: Setzen!) ist. Sie wurde gestern veröffentlicht, darin wurde ein Mit- glied Ihrer Fraktion zitiert. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD – Ernst Meine Damen und Herren, immer mehr Menschen in (B) Hinsken [CDU/CSU]: Wohl falsch getickt!) (D) diesem Lande begreifen, dass wir in einer schwierigen Situation sind, Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Seit fünf Jahren regieren Sie!) Nächster Redner in dieser Debatte ist der Kollege Michael Glos, CDU/CSU-Fraktion. die aber auch eine Chance bietet, um schmerzhafte, aber notwendige Veränderungen in diesem Land voranzu- (Beifall bei der CDU/CSU) bringen. Immer mehr Menschen verstehen, dass auch eine Chance darin besteht, wenn man sich auf den Weg Michael Glos (CDU/CSU): macht, um eine neue Balance zwischen Selbstbestim- Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und mung, Solidarität und Gemeinwohl zu finden. Herren! Ich glaube, dass die Reden in der Debatte, die Ein schweizer Historiker hat einmal gesagt: Nur in wir heute führen, bis auf die Rede von Frau Merkel, ins- der Bewegung, so schmerzlich sie sei, ist Leben. Die Re- besondere die vorausgegangene Rede, erklären, warum gierung handelt danach; die Menschen verstehen es in- es in diesem Land so wenig Vertrauen gibt. Wenn dieje- zwischen. Ich hoffe, dass langsam auch Bewegung in die nigen, die uns regieren sollen, so konfus handeln und Opposition kommt, und zwar nicht nur in den eigenen weder ein noch aus wissen und sich vor allen Dingen in Reihen, sondern nach vorne zum Nutzen dieses Landes. dem, was sie tun und sagen, sprunghaft verhalten, dann müssen wir uns überhaupt nicht wundern, wenn sich die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Konsumenten und die Investoren in diesem Land zu- und bei der SPD) rückhalten. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Herr Bundeskanzler, Sie haben Ihre Rede mit Pathos, Das Wort zu einer Kurzintervention hat der Kollege soweit nicht Lustlosigkeit überwogen hat, vorgetragen. Guido Westerwelle. Sie haben sich ein Stück weit dafür entschuldigt, dass fünf Jahre nichts geschehen ist, Dr. Guido Westerwelle (FDP): (Hubertus Heil [SPD]: Quatsch!) Frau Kollegin, Sie haben ganz am Anfang Ihrer Rede gesagt, ein Vertreter meiner Fraktion habe erklärt, dass und erklärt, warum Sie sich jetzt möglicherweise be- er der Meinung sei, dass sich bei älteren Arbeitslosen wegen wollen. Wir wissen, dass sich bisher vor allen 4604 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2003

Michael Glos (A) Dingen der Fuhrpark zwischen Neuhardenberg und Ber- Meine sehr verehrten Damen und Herren, uns allen (C) lin hin und her bewegt hat. Das waren die einzig wirk- wäre es sehr recht, wenn das, was Sie angekündigt ha- lich erkennbaren Bewegungen, die es in der ganzen ben, viel bringen würde. Wir wollen auch gerne dazu Szene gegeben hat. beitragen; denn wir haben kein Interesse daran, dass die- ses Land untergeht. Im Gegenteil, wir wollen hier leben (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- und wir wollen, dass unsere Kinder hier leben und dass neten der FDP – Joseph Fischer, Bundesminis- auch unsere Enkel noch eine Zukunft haben. Zu dem ter: Die CDU/CSU-Fraktion hat sich auch be- Thema komme ich noch. wegt!) Ich will ein Beispiel nennen, woran sich zeigt, dass Ansonsten herrscht in Deutschland leider immer noch die Menschen kein Vertrauen haben. Es gibt Zeitungen, Stillstand. Diese rot-grüne Bundesregierung ist die Ursa- allen voran die Boulevardpresse, che dafür. Sie, Herr Bundeskanzler, erinnern mich an ei- nen Schiffbrüchigen, der, wenn er irgendwo Treibholz (Joachim Poß [SPD]: Das ist doch Ihre Zei- sieht, sofort ruft: Land in Sicht! tung!) (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und in denen Tabellen abgedruckt werden, an denen man ab- der FDP) lesen kann, wie viel jeder mehr in der Tasche hat, wenn die Steuerreform 2005 vorgezogen wird. Wie viel das Die Situation ist leider ein bisschen ernster. Wir be- finden uns nämlich in einer Vertrauensfalle und es fehlt tatsächlich ist, werden wir ganz am Schluss feststellen. die Aufbruchstimmung. Ich frage mich, woher die Auf- Aber in diesem Zusammenhang werden die Menschen bruchstimmung eigentlich kommen soll. Wir haben seit schon gefragt: Was machen Sie mit dem Geld, falls es drei Jahren Stagnation. Das DIW sagt, wir hätten es in tatsächlich bei Ihnen in der Tasche ankommt? Darauf diesem Jahr mit einer schrumpfenden Wirtschaft zu tun. antworten 52 Prozent, sie wollten sparen oder Schulden Kein anderes Land in Europa ist in diesem schlimmen tilgen. In den Konsum fließt diesen Umfragen zufolge Zustand. Die Arbeitslosigkeit liegt um 350 000 über nicht allzu viel. Das zeigt, dass die Menschen kein Ver- dem Vorjahreswert. Selbst die Nürnberger Bundesan- trauen haben. stalt, an deren Spitze Sie für ein hohes Jahresgehalt ei- Aber Sie, Herr Bundeskanzler, versuchen seit drei nen Chefpropagandisten gesetzt haben, spricht inzwi- Jahren, uns einzureden, es gehe wieder aufwärts. Dabei schen für den Winter von 5 Millionen Arbeitslosen. verweisen Sie immer wieder auf die zweite Jahreshälfte Jeder dritte Arbeitnehmer in Deutschland hat Angst um und das letzte Quartal. Es fragt sich nur, Herr Bundes- seinen Arbeitsplatz. Im letzten Jahr hatten wir 38 000 In- kanzler: In welchem Jahr geht es aufwärts? solvenzen und Betriebsaufgaben. Auch in diesem Be- (B) reich wird es in diesem Jahr einen neuen Rekord geben. (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: 2010!) (D) Statt den Mittelstand zu ermutigen, wird das Hand- – 2010 und folgende, aber nur, weil wir dann schon werk durch die Ankündigungen in diesem Gesetzent- lange wieder regieren. wurf weiter verunsichert, und das in einer konjunkturell (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- schwierigen Lage. Die Bauern, die ebenfalls zum Herzen neten der FDP) unserer mittelständischen Wirtschaft gehören, sind in den Zangengriff genommen worden, vorgetragen aus der Die preiswerteste Maßnahme – ich kann mir sogar EU und nachgesetzt durch Frau Künast. Der Rest wird vorstellen, dass man das Geld dafür über Bürgerinitiati- dann von Eichel besorgt. ven sammelt – wäre eine Neuwahl in diesem Land. Das würde sich auszahlen; denn das wäre stabilisierend und (Joachim Poß [SPD]: Die Landtagswahl lässt vertrauensbildend. grüßen! – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Jetzt kommt die Klientelpolitik! So Meine sehr verehrten Damen und Herren, an der kennen wir Sie!) Wachstumsprognose von 0,75 Prozent für 2003 hält Herr Eichel noch immer fest. – Herr Schmidt, dass Sie für die Bauern und für das Handwerk überhaupt nichts übrig haben, ist bekannt. In- (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Wo ist er teressieren Sie sich wenigstens für die Lage der Bauar- eigentlich?) beiter! – Er ist schon gegangen. (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Solche (Joachim Poß [SPD]: Er ist in der Gemeinde- Sprüche sind nicht in Ordnung!) finanzkommission!) In der Bauwirtschaft haben wir einen Rückgang um Er schämt sich. Er dürfte nicht Hans Eichel heißen, son- 15 Prozent. Die öffentlichen Haushalte laufen aus dem dern müsste inzwischen Ali Eichel genannt werden; man Ruder, insbesondere die Kommunalhaushalte. Wenn die kennt ja die Prognosen, die in Bagdad von einem gewis- Kolleginnen und Kollegen von der SPD noch ein biss- sen Ali – genannt Lügen-Ali – abgegeben worden sind. chen Beziehung zur Basis in ihren Wahlkreisen, wo sie um die Stimmen buhlen, hätten, dann wüssten sie, was in (Heiterkeit bei der CDU/CSU) den Städten und Gemeinden los ist und wie gering die Wenn schon die politisch Verantwortlichen bei uns im Investitionsfähigkeit noch ist. Land das kleine Einmaleins nicht beherrschen, wie sol- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) len es dann die Schüler bei der PISA-Studie können? Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2003 4605

Michael Glos (A) Wir sprechen über Zahlen und Fakten. Da lässt sich vie- den: „Rauchen fördert die Gesundheit“, weil das Geld (C) les nicht schön- und weichreden. Die Unterstellung einer angeblich in den Gesundheitsbereich fließen soll. Wachstumsprognose von 2 Prozent für den Haushalt Wir sollten vor allen Dingen niedrige Steuersätze bei 2004 ist reiner Zweckoptimismus. Nun wissen wir, Opti- einer breiten Bemessungsgrundlage in den Vordergrund mismus ist wichtig; er ist in der Wirtschaft ein wichtiger stellen. Faktor. Aber es muss auch ein bisschen Realismus zu- grunde gelegt werden. Diese Annahme ist unrealistisch. (Joachim Poß [SPD]: Das machen wir ja! Deswegen kann ich gut verstehen, dass der Bundesfi- 70 Ausnahmen beschlossen!) nanzminister inzwischen anderen Hausaufgaben nach- Die Steuerreform, die Sie auf den Weg gebracht haben, geht. erfüllt diesen Anspruch nicht. Wir reden über das Vor- Ich finde, dass Prognosen immer schwierig sind, da ziehen einer Stufe der Steuerreform, die wir besser kon- sie die Zukunft betreffen. Aber ich glaube, manches lässt zipiert hatten und die wir besser gemacht hätten. Aber sich besser vorhersagen, als es diese Bundesregierung letztendlich wird ein Vorziehen der dritten Stufe an uns getan hat. nicht scheitern. Darüber werde ich noch sprechen. Wir wissen natürlich auch, dass die Steuerpolitik sehr Ich will noch Folgendes sagen. Die dritte Stufe, die viel dazu beitragen kann, in einem Land Wachstum zu für 2005 vorgesehen war, würde auch dann in Kraft tre- schaffen. Deswegen treten wir für niedrigere Steuern ten, wenn der Bundestag jetzt in Urlaub gehen würde und niedrigere Abgaben ein. Das ist ein permanenter und seine Mitglieder überhaupt nicht mehr zurückkom- Kampf, der immer wieder neu geführt werden muss. Es men würden. Dann aber säße Eichel vollends in der kann nämlich nicht angehen, dass jemandem etwas aus der Falle, weil die Stufe 2005 so, wie sie konzipiert worden linken Tasche genommen wird und dass ihm etwas – mög- ist, direkt in Kraft treten würde. licherweise weniger – in die rechte Tasche gesteckt wird. Nun wird der Versuch gemacht, das, was beim Steuer- Wir dürfen natürlich nicht nur die Steuern betrach- zahler in der Tasche bleibt und was ihm versprochen wor- ten. International gesehen ist unsere Steuerbelastung den ist, zu schmälern. Wenn ich es richtig weiß, reden Sie nicht so hoch. Aber wir haben die höchste Steuer- und von der Abschaffung der Entfernungspauschale. Abgabenlast. (Joachim Poß [SPD]: Das ist falsch! Über eine (Beifall bei der CDU/CSU) Abschaffung hat keiner geredet!) Das muss man natürlich berücksichtigen. Diese hohe – Die Einschränkung der Entfernungspauschale steht im Belastung durch Abgaben und Steuern – Herr Poß, Sie Haushaltsentwurf. (B) (D) beschäftigen sich schon lange damit – hat maßgeblich zu (Joachim Poß [SPD]: Aber nicht die Abschaf- diesem Wirtschaftseinbruch beigetragen und dazu ge- fung!) führt, dass wir jetzt in dieser Falle stecken. Es wird selbstverständlich auch über den Abbau der (Hubertus Heil [SPD]: Schönen Gruß an Steuerfreiheit von Sonn-, Feiertags- und Nachtzuschlä- !) gen geredet. Auch dieser Vorschlag geistert immer wie- Jetzt wollen Sie die dritte Stufe der Steuerreform der herum. Sie wollen auch noch andere Subventionen vorziehen, obwohl die zweite Stufe noch nicht in Kraft abbauen, um das Vorziehen der dritten Stufe gegenzufi- getreten ist. Ich sage immer: Wenn man den dritten nanzieren. Schritt nach dem ersten macht, dann besteht die Gefahr, (Hubertus Heil [SPD]: Sind Sie gegen Subven- dass man stolpert. tionsabbau?) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Nun wissen Sie, dass die Maßnahmen zur so genann- Hubertus Heil [SPD]: Stoibert! – Joachim Poß ten Gegenfinanzierung, von denen Sie dankenswerter- [SPD]: Stoiber!) weise wieder gesprochen haben, dauerhaft bestehen blei- – Stolpert. Putzen Sie sich die Ohren! ben. Aber man hat im Rahmen der dritten Stufe 2005 eine Senkung versprochen, ohne dass das Geld auf der Frau Sager, die jetzt nicht mehr anwesend ist, wollte anderen Seite genommen wird. Es ist also so: Durch das wissen, wie wir zu dieser Steuerreform stehen. Einer der Vorziehen der Steuerreform um ein Jahr wird dem Steu- Fehler dieser Steuerreform, die nicht unsere Steuerre- erzahler etwas in die rechte Tasche gesteckt, aber aus der form war, ist, dass sie nicht aus einem Guss ist, sondern linken Tasche wird ihm das Geld dauerhaft genommen. in drei Stufen erfolgen soll. Die erste Stufe wurde, wie jedermann weiß, sofort durch die Einführung der Öko- (Hans Michelbach [CDU/CSU]: Sehr richtig!) steuer und durch die Erhöhung der Tabaksteuer und Ver- Das übersehen die Menschen bei dieser Diskussion. sicherungsteuer konterkariert. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Joachim Poß [SPD]: Anders wäre das gar nicht zu finanzieren gewesen!) Ihre Kalkulierbarkeit und Stetigkeit, Herr Bundes- kanzler, – Frau Merkel hat vorhin vorgelesen, was Sie Jetzt gibt es eine weitere Erhöhung der Tabaksteuer. Frü- noch am 14. März gesagt haben – erinnert an einen ku- her stand auf den Zigarettenpackungen: „Rauchen ge- gelgelagerten Wetterhahn, der sich nach dem Wind fährdet die Gesundheit“. Jetzt muss darauf gedruckt wer- dreht. Andreas Hoffmann hat in der „Süddeutschen 4606 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2003

Michael Glos (A) Zeitung“ über Ihre Vorschläge geschrieben: „Vorhang soll es an uns nicht scheitern. Vielleicht mache ich mich (C) auf für Harry Potter... “. nicht bei allen Kolleginnen und Kollegen beliebt, wenn ich sage: Für uns ist die Sommerpause kein Tabu, wenn (Heiterkeit bei der CDU/CSU) es darum geht, unserem Land wirklich zu helfen. Nur Herr Bundeskanzler, Sie haben Chuzpe und eine ge- müssen die Voraussetzungen dafür von Ihnen geschaffen wisse Unverschämtheit. Sie hat Ihnen oft geholfen. Ob werden. Erst dann kann man miteinander reden. diese Chuzpe Ihnen diesmal hilft, ist sehr fraglich. Sie (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) besteht darin, dass Sie das Versprechen einer Steuersen- kung oder des Vorziehens einer Steuersenkung, die po- Ich spreche ein anderes, hochgelobtes Prinzip von pulär ist, damit verbinden, dass Sie sagen: Liebe Opposi- Rot-Grün an, das Prinzip der Nachhaltigkeit. Tatsäch- tion, wenn du keine neuen Schulden bis zum lich findet sich das Bekenntnis zur Nachhaltigkeit immer Gehtnichtmehr haben willst, dann sage doch, wie das nur in Sonntagsreden. Eine hemmungslose Lastenver- Ganze zu bezahlen ist. – Diese Arbeitsteilung machen schiebung auf kommende Generationen ist aber mora- wir nicht mit; das bringe ich hier ganz klar zum Aus- lisch nicht vertretbar. Deswegen muss die Bundesregie- druck. rung selbstverständlich Antwort darauf geben, wie es mit der Nachhaltigkeit in der Finanzpolitik aussieht. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zu- ruf des Abg. Joachim Poß [SPD]: Ein absolu- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) ter Spezialist für Unverschämtheiten!) Meine sehr verehrten Damen und Herren, vorhin – Herr Poß, Sie sind Steuerpolitiker, lassen sich aber wurde der italienische Ministerpräsident zitiert, dem of- zum Beispiel auch vom Sachverständigenrat beraten, fensichtlich in einem anderen Parlament eine Entglei- dessen Vorsitzender ein SPD-Mitglied ist. Er mahnt al- sung unterlaufen ist. Er hat sich dafür in dem anderen lerdings zur Vorsicht, was die Verschuldung anbelangt. Parlament auch entschuldigt. Die Regierung glaubte, es werde eine Euphorie an (Joachim Poß [SPD]: Er hat sich nicht ent- den Finanzmärkten geben, wenn sie das Vorziehen der schuldigt!) Steuersenkung verkündet. Eine solche Euphorie ist aber – Im Gegensatz zu Frau Sager habe ich Pressemeldun- ausgeblieben. Die Wirklichkeit ist die Reaktion der gen hier, die besagen, dass er sich entschuldigt hat. Märkte und ein Stück weit auch die Reaktion der Men- schen auf solche Maßnahmen. Die Menschen misstrauen (Dr. Uwe Küster [SPD]: Er hat sich nicht ent- der SPD, weil sie wissen, dass die Versuche aller SPD- schuldigt!) Bundesregierungen Ende der 70er-Jahre gescheitert sind, Vergleiche wie der, den Herr Berlusconi gebraucht hat, (B) (D) die Konjunktur durch Deficitspending, wie es damals so sind unzulässig; aber wir sind hier in Deutschland. schön hieß, anzukurbeln. Heute müssen wir und unsere Kinder immer noch die Zinsen dafür zahlen. Diese Poli- (Hubertus Heil [SPD]: Und in Europa!) tik, alles auf die nächste Generation zu verlagern, die üb- – Im deutschen Parlament. rigens immer kleiner wird, halte ich für eine falsche Po- litik. Hier in diesem Parlament ist der Stabilitätspakt seinerzeit einstimmig abgesegnet worden. Der Euro-Stabilitätspakt (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zu- war für uns eine Bedingung, diese neue Währung einzu- ruf von der SPD: Sagen Sie bitte noch einen führen, weil wir wollten, dass die Menschen Vertrauen in Satz zu Herrn Waigel?) die neue Währung haben können. Meine sehr verehrten Damen und Herren, niemand, (Hubertus Heil [SPD]: Berlusconi will ihn der etwas von der Sache versteht, bestreitet, dass es den nicht!) so genannten Laffer-Effekt, gibt. Ronald Reagan arbei- tete mit diesem Effekt; aber Reagan, den die SPD nicht Nicht zuletzt unsere italienischen Freunde – die Franzo- gemocht hat, war auch ansonsten kalkulierbar. Für die sen sowieso –, die den Stabilitätspakt immer als Fessel Leute ist immer wichtig, wer welches Instrument in die einer expansiven Finanzpolitik gesehen haben, warten Hand nimmt. Es gibt Leute, denen man es aus der Erfah- doch nur darauf, dass wir Deutsche diesen Stabilitäts- rung heraus nicht zutraut. Sie, Herr Bundeskanzler, ha- pakt sprengen. Diesen Gefallen dürfen wir niemandem ben noch wenig dazu getan, Vertrauen zu gewinnen. Was tun; denn dies wäre nur ein kurzfristiger Gefallen für be- nun diesen Laffer-Effekt, den Effekt des Vorziehens stimmte Länder, in denen die Schuldenmentalität stärker positiver Wirkungen angeht, sagen die Ökonomen, verbreitet war. Bei uns war sie nicht verbreitet. Sie ist man könne 30 Prozent einkalkulieren, wenn ansonsten erst in den allerletzten Jahren gewachsen. alles stimmt. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP – Lachen und Widerspruch bei Wir können erst dann darüber verhandeln, Herr Bun- der SPD – Hubertus Heil [SPD]: Waigel!) deskanzler, wenn Sie Fakten auf den Tisch gelegt und Vorschläge gemacht haben. Dies geht selbstverständlich – Ja, das ist leider der Fall. Ich kann, wenn Sie es hören in einem parlamentarischen Verfahren viel besser. Ich wollen, Zahlen nennen: In den letzten zwei Jahren der halte nichts von Kungelrunden, in denen etwas mit hei- Regierung Helmut Kohl konnte – darüber ßer Nadel genäht wird; dies geht bei so komplizierten brauchen Sie überhaupt nicht zu lachen; auch damals war Vorhaben wie Steuergesetzen ohnehin nicht. Ansonsten eine schwierige Wirtschaftslage, Sie haben damals vier Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2003 4607

Michael Glos (A) Jahre lang Steuerreformen blockiert – im Hinblick auf die Aber es ist ja nicht so wichtig, wer sich auf welchem (C) Defizitgrenze jeweils 2,2 bis 2,5 Prozent vorweisen. Sessel tummelt. (Zuruf von der CDU/CSU: Hört! Hört!) (Dr. Uwe Küster [SPD]: Ein schlechter Verlie- rer spricht da! Wie schlecht Sie dabei ausse- Jetzt überschreiten wir, wie vorhin richtig gesagt wor- hen!) den ist, das dritte Mal das Maastricht-Ziel von 3 Prozent. In diesem Jahr wird sogar mit mehr als 4 Prozent bzw. mit – Das hat überhaupt nichts mit einem schlechten Verlie- bis zu 5 Prozent gerechnet. Von diesem Jahr spricht ja rer zu tun. schon keiner mehr, wie man gnädigerweise auch nicht mehr über die Haushaltszahlen, über die Neuverschul- (Dr. Uwe Küster [SPD]: Erzählen Sie ruhig dung im Bundeshaushalt von 40 Milliarden Euro – nicht mehr! Die Menschen warten auf diese Nach- D-Mark –, spricht. So etwas hat es noch nie gegeben. Da- richt!) rüber spricht man nach dem Motto „Über Schulden spricht Schlimm ist vielmehr die Tatsache, dass bei der Wahl für man nicht; Schulden hat man“ – dies ist natürlich eine Deutschland viel verspielt worden ist. starke Abwandlung eines alten Sprichworts – nicht mehr. Herr Bundeskanzler, ich fasse zusammen: Uns muss (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – man zu Steuersenkungen weder treiben noch jagen. Aber Joachim Poß [SPD]: Von welchen 40 Milliar- das Ganze muss natürlich seriös sein. den redet der?) (Volker Kauder [CDU/CSU]: Was ist denn bei Ich stelle noch einmal fest: Wenn die großen Volks- dieser Regierung seriös?) wirtschaften des Euroraums, Deutschland und Frank- Es dürfen nicht zu viele Lasten nach vorne verschoben reich, den Stabilitätspakt vorsätzlich infrage stellen, werden. Es darf nicht zu tief in gewachsene Strukturen dann berührt das zutiefst das Vertrauen der Bürgerinnen eingegriffen werden. Änderungen bei der Entfernungs- und Bürger und auf Dauer auch das Vertrauen der Fi- pauschale sind so eine Geschichte. Dass sich unser Land nanzmärkte in diese Währung. Wir wollen nicht, dass es sehr gleichmäßig entwickelt hat, liegt auch an solchen heißt: Europa einig Euroland, einig Inflationsland! Dingen wie der Entfernungspauschale. Wenn man dies (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- plötzlich beendet, gibt es möglicherweise andere Sied- neten der FDP) lungsstrukturen. Wer dies tut, legt die Axt an die Wurzeln Europas. (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Da ist in Niedersachsen ganz viel Begeisterung!) (Joachim Poß [SPD]: Wo ist die Inflationsge- Man kann sich nicht einfach mit einem Hauruck über die (B) fahr?) (D) Dinge hinwegsetzen. Europa kann ohne eine stabile Währung nicht bestehen; Aber das Verfahren muss über das Bundeskabinett das wissen wir alle. Wie schnell Europa in anderen Fra- und die Koalitionsfraktionen erfolgen. Die Parteien, die gen auseinander fällt, ist erst in diesem Jahr wieder de- diese Regierung tragen, müssen dahinter stehen. Sie hat- monstriert worden; das brauche ich vor diesem fachkun- ten ja bei den ersten kleinen Schritten Mühe, Ihre eigene digen Publikum nicht zu wiederholen. Partei hinter sich zu versammeln. Ich habe Sie bewun- Herr Bundeskanzler, wir müssen dafür sorgen, dass dert, uns insgesamt ein Kraftakt gelingt, der natürlich in aller- (Joachim Poß [SPD]: Oh, „bewundert“!) erster Linie von der Bundesregierung gestemmt werden muss. Eine Opposition ist klassischerweise dazu da, die wie Sie bei den Genossinnen und Genossen angetreten Regierung zu kontrollieren und eigene Vorschläge auf sind, sie beschworen haben und am Schluss wieder mit den Tisch zu legen. Das haben wir vor der Wahl getan. dem Feindbild „Dann kommen die bösen Konservativen Das ist leider nicht voll goutiert worden. und machen alles kaputt“ gearbeitet haben. (Joachim Poß [SPD]: 3 mal 40! Das war alles Also noch einmal: Bringen Sie Ihre Vorhaben durch gut finanziert!) Ihre Partei, aber dieses Mal rascher! In der Verfassung steht nämlich nicht, dass Parteitage darüber beschließen – Ich spreche von 6 037 Menschen in Deutschland, die müssen. bewirkt haben, dass die SPD noch einmal stärker gewor- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- den ist als die Union. neten der FDP) (Hubertus Heil [SPD]: Mit Recht!) Wir haben vielmehr ein ordnungsgemäßes parlamentari- Mehr waren es nicht. sches Verfahren, das so aussieht: Das Bundeskabinett beschließt. Der Bundestag überweist den Entwurf an die (Zuruf von der SPD: Darüber ist er immer Ausschüsse. Wir können, wie gesagt, über Fristverkür- noch nicht hinweggekommen!) zungen reden. Dann beraten wir miteinander in den Gre- Frau Präsidentin, Sie würden vielleicht trotzdem dort mien. An uns wird der Aufschwung in diesem Land oben auf Ihrem Platz sitzen, aber nicht Präsident Thierse. nicht scheitern. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. (Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) 4608 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2003

(A) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Neuhardenberg deutlich –, um die private Nachfrage und (C) Nächster Redner ist der Kollege Hubertus Heil, SPD- die Investitionen in Deutschland anzuregen, die geplan- Fraktion. ten Stufen der Steuerreform vorziehen. (Beifall bei der SPD) Wir senken ab dem 1. Januar des kommenden Jahres die Einkommensteuer für alle um rund 10 Prozent. Davon profitieren besonders die Bezieher kleiner und mittlerer Hubertus Heil (SPD): Einkommen. Durch diese Stärkung der Kaufkraft kann Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr und wird es gelingen, die Binnennachfrage anzukurbeln. Glos, man möchte fast fragen: Was ist eigentlich mit die- Auch bei den Investitionen bringt diese Reform neue Im- ser Opposition los? Beim Vorziehen der Steuerreform pulse. Besonders Personengesellschaften – meine Damen sagen Merkel und Stoiber „Hü!“; Koch und Merz sagen und Herren, Sie haben im Wahlkampf auf jeder Veranstal- „Hott!“, Austermann und Milbradt sagen: Steuern mit tung das Hohelied auf die kleinen und mittleren Unter- der Bundesregierung zusammen senken. Merz sagt: Mit nehmen gesungen – werden von dieser Tarifsenkung pro- mir auf gar keinen Fall. Ich frage: Was gilt jetzt eigent- fitieren. lich? Herr Glos, auch nach Ihrer Rede wissen wir das noch nicht. Wir setzen also auf einen Mix aus Erneuerung unserer Strukturen auf der einen Seite und Maßnahmen zur Bele- Meine Damen und Herren von der CDU/CSU, Sie bung der Konjunktur auf der anderen Seite. Ziel dieser hatten nun wirklich lange genug Zeit, sich auf das Wo- umfassenden Erneuerung ist es, weitaus mehr private chenende in Neuhardenberg vorzubereiten. Die Presse und auch öffentliche Investitionen auszulösen, um mehr hat ja schon vorher darüber spekuliert, dass das Vorzie- Dynamik, mehr wirtschaftliches Wachstum und neue Ar- hen der Steuerreform möglich ist. Aber Sie haben es beitsplätze zu schaffen. nicht geschafft. Vielmehr gackern Sie durcheinander wie ein wild gewordener Hühnerhaufen. Das ist nicht gut für Dazu kommt – das wäre nicht möglich, wenn wir die Deutschland. Strukturen nicht verändern würden – eine Strategie zur Senkung der Lohnnebenkosten. Eine zu hohe Belas- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten tung des Faktors Arbeit durch Beiträge zu den Sozialver- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) sicherungen wirkt gerade im Dienstleistungssektor, wo Herr Glos, ich will mich nicht dabei aufhalten, Ihr menschliche Arbeit meist nicht durch Maschinen ersetzt Chaos weiter zu beschreiben. Nur so viel: Wir wünschen werden kann, faktisch wie eine Strafsteuer auf Beschäfti- und wir hoffen, dass sich die Kräfte der Vernunft in Ih- gung. Mit der Senkung der Lohnnebenkosten durch die ren Reihen gegen die Blockadestrategen – oder soll ich Reform unserer sozialen Sicherung und mehr Flexibilität (B) (D) sagen: „Gegen den Andenpakt“? – durchsetzen. Ihr Ge- am Arbeitsmarkt werden wir dafür sorgen, dass die bot der Stunde muss heißen, Verantwortung für Deutsch- Schwelle, oberhalb derer Wirtschaftswachstum in land zu übernehmen, statt eine Strategie von Sonthofen Deutschland zu mehr Beschäftigung führt, tatsächlich zu fahren, die schon in den 70er-Jahren das Land und Sie sinken kann. nicht weitergebracht hat. In diesem Sinne wünsche ich CDU und CSU an dieser Stelle ganz einfach gute Besse- Keine Frage, Deutschland – das führt ja gerade die rung. FDP so gern im Mund – braucht mehr Flexibilität. Die deutsche Definition von Freiheit kann und darf nicht hei- Mein Appell geht besonders an die jüngeren Kolle- ßen: Freiheit bedeutet bei uns in Deutschland Rege- ginnen und Kollegen in der Unionsfraktion; vielleicht lungslücke. Ich sage aber an die Adresse der Union und sind ja noch ein paar da. Ich sage den Jüngeren in allen auch an die Adresse der FDP: Sie fordern mehr Flexibili- Fraktionen des Hauses: Wir müssen heute für Reformen tät immer nur von denen im Blaumann. Wenn es um kämpfen, damit auch künftige Generationen in Sicher- Wettbewerb und Flexibilität bei denen im weißen Kittel heit und Wohlstand leben können. Deshalb meine Bitte, oder mit weißem Kragen geht, kehrt bei Ihnen auffälli- mein Appell an diejenigen, die 1998 oder 2002 das erste ges Schweigen ein, Herr Westerwelle, auch heute. Mal ins Parlament gekommen sind: Lassen Sie sich nicht für billige Blockademanöver missbrauchen, sondern hel- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ fen Sie mit, Deutschland wirklich voranzubringen! DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten CDU und CSU machen sich zurzeit vielerorts – im des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Paul-Löbe-Haus war das vernehmlich zu hören – zu Lobbyisten der Besitzstandswahrer. Wer wie CDU/CSU Worum es in der Sache geht, hat der Bundeskanzler und FDP Deregulierung nur bei Arbeitnehmern und An- heute Morgen klargemacht. Um die konjunkturellen und gestellten, nicht aber in Bezug auf Ärzte, Apotheker, die strukturellen Probleme unseres Landes zu lösen, Selbstständige und Handwerker fordert, wer wie Sie ver- brauchen wir eine Doppelstrategie. Dazu gehören zum sucht, die Modernisierung der Handwerksordnung und einen die Strukturreformen am Arbeitsmarkt, im Ge- mehr Wettbewerb im Bereich der Arzneimittel zu ver- sundheitswesen, bei der Alterssicherung und zur Stär- hindern, der hat nicht begriffen, dass es wirklich darauf kung der Leistungsfähigkeit unserer Kommunen. Das ist ankommt, alle zu bewegen, um Deutschland zu erneu- alles Bestandteil der Agenda 2010. Wir haben das auf ern. den Weg gebracht und werden das in diesem Jahr ins Ge- setzblatt bringen. Zum anderen wollen wir – das ist seit (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2003 4609

Hubertus Heil (A) Das müsste man Ihnen einmal deutlich ins Stammbuch gie. An anderen Stellen, beispielsweise im Bereich der (C) schreiben – ich hoffe, Sie hören mir noch zu – und inso- Informations- und Kommunikationstechnologien, müs- fern werden wir Ihnen das auch noch einmal schriftlich sen wir aufholen, da sind wir im Hintertreffen. Ich bitte geben. Sie ganz herzlich, miteinander – wir haben gestern zumindest im Ausschuss darüber sehr einvernehmlich Wir werden diese Reformen angehen, meine Damen diskutiert – die notwendigen Anstrengungen zu unter- und Herren. Da, wo sie nicht zustimmungspflichtig sind, nehmen, beispielsweise bei der Reform des Telekommu- machen wir sie allein, und bei den anderen Punkten wer- nikationsgesetzes, die in diesem Jahr ansteht, um in die- den wir Sie haarklein stellen. Wir wollen wissen, ob es sem Bereich Impulse für mehr Investitionen und mehr – ich sage es einmal ganz deutlich – blödes Geschwätz technologischen Fortschritt in Deutschland zu geben. ist, wenn Sie von Flexibilität sprechen, oder ob Sie Fle- xibilität in jedem Bereich und nicht nur von einer Seite Der dritte Standortvorteil war und ist nach wie vor die der Gesellschaft fordern. hervorragende Infrastruktur in Deutschland. Unsere Straßen sind im Vergleich zu denen in anderen Ländern (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ immer noch in einem hervorragenden Zustand. Damit DIE GRÜNEN) das auch in Zukunft so bleiben kann, brauchen wir neue Es waren vor allen Dingen vier Standortvorteile, die Wege in der Finanzierung auch öffentlicher Infrastruk- unser Land nach dem Zweiten Weltkrieg zu einem der tur. Dazu gehören neue Betreibermodelle, auch Public wirtschaftlich erfolgreichsten Länder dieser Erde ge- Private Partnership kann und muss in Deutschland wei- macht haben, das ein hohes Maß an sozialem Ausgleich ter entwickelt werden. Es geht ganz einfach darum, auch organisieren konnte. An diese vier Standortvorteile kön- privates Kapital für öffentliche Aufgaben mobilisieren nen und wollen wir mit unseren Reformen wieder an- zu können. knüpfen. Es gibt aber einen Bereich, meine Damen und Herren, Unser erster Standortvorteil war und ist immer noch in dem wir in der öffentlichen Infrastruktur nach wie vor die hohe Qualifikation der Menschen in unserem Land. weit im Hintertreffen sind, das ist die Kinderbetreuung. Keine Frage, es sind in allen Bereichen Bildungsrefor- Ein Blick nach Skandinavien zeigt sehr deutlich: Eine men notwendig, wenn wir wieder an die Spitze kommen bessere Kinderbetreuung schafft bessere Bildungsmög- oder an der Spitze bleiben wollen. Ein Land, das kein lichkeiten. Gold im Boden hat, so hieß es einmal in einem interes- santen Kommentar, muss das Gold in den Köpfen der (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Menschen heben. Vor allem aber müssen wir auch in des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) diesem Jahr jedem Schulabgänger und jeder Schulab- (B) Eine bessere Kinderbetreuung führt zu einer besseren (D) gängerin die Chance auf einen Ausbildungsplatz bieten. Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Eine bessere Kin- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ derbetreuung sorgt dafür, dass mehr Frauen die Chance DIE GRÜNEN) haben, ihr Können im Arbeitsleben einzubringen. Wir werden das Unsere dafür tun und unsere Mittel nut- Eine bessere Kinderbetreuung und damit eine höhere zen. Wir sagen aber auch der Wirtschaft sehr deutlich: Frauenerwerbstätigkeit gehen in diesen Ländern auch Bildet aus! Es ist in eurem eigenen Interesse. mit einer höheren Geburtenrate einher, sind also gut für die demographische Entwicklung. Auch das sollten vor (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten allen Dingen Sie, meine Damen und Herren von der des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) CSU, zur Kenntnis nehmen, wenn Sie versuchen, aus Wer glaubt, sich heute Ausbildungskosten sparen zu ideologischen Gründen gegen bessere Kinderbetreu- können, und von der Politik morgen die Einreise auslän- ungsmöglichkeiten und gegen Ganztagsschulen zu pole- discher Fachkräfte fordert, hat sich geschnitten, um es misieren. ganz klar zu sagen. Wir werden die Wirtschaft dort in die (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Verantwortung nehmen. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Dr. Hans-Peter Friedrich [Hof] [CDU/CSU]: So ein Quatsch! Das ist unglaublich!) Unsere jungen Leute haben eine Ausbildungschance ver- dient, hier und heute. Das ist ganz wichtig, um den – Dann frage ich Sie: Welches Land in Deutschland hat Standortvorteil Qualifikation für Deutschland zu erhal- denn die schlechtesten Kinderbetreuungsmöglichkeiten ten. und die wenigsten Ganztagsschulen? Das ist der Frei- staat Bayern. Der zweite Standortvorteil war und ist immer noch in- novative Wissenschaft und Forschung in Deutschland. (Dr. Klaus Rose [CDU/CSU]: Aber die besten Es hat „Made in “ immer ausgezeichnet, dass Schulergebnisse!) hier kluge Menschen Produkte und Verfahren entwickelt Um es auf den Punkt zu bringen: Unsere Volkswirtschaft haben, die hier auch zu Produktion und zu Arbeitsplät- kann sich schlechte Kinderbetreuungsangebote einfach zen geführt haben. Hier sind wir an manchen Stellen nicht länger leisten. noch in der Weltspitze und ich möchte die Opposition bitten, das nicht kaputt zu reden. Ich erinnere an den Ma- Ich komme zu einem weiteren Standortfaktor, zum schinenbau, an den Anlagenbau und an die Biotechnolo- sozialen Frieden in unserem Lande. Darüber möchte ich 4610 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2003

Hubertus Heil (A) sprechen, nicht nur weil er seit langem stabile demokra- standen. Herr Glos sagt, wir sollten ja keinen Subven- (C) tische Verhältnisse in Deutschland bewirkt sondern tionsabbau vornehmen, dieser würde Effekte wieder zu- auch, weil er für die Wirtschaft wichtig ist. Der soziale nichte machen. Frieden als wirtschaftlicher Standortfaktor wird oft un- terschätzt. Schaut man sich das Ergebnis eines internati- (Michael Glos [CDU/CSU]: Sie machen beim onalen Vergleiches an, so haben wir relativ wenige Zuhören sogar noch Fehler! – Dietrich Streiks – trotz der Berichterstattung der letzten Wochen Austermann [CDU/CSU]: Falsch!) und Monate – und so gut wie keine sozialen Verwerfun- Was denn nun? – Sie haben verhindert, dass die Kom- gen oder Unruhen in Deutschland gehabt. Man kann so- munen in diesem Jahr 6 Milliarden Euro zur Verfügung gar sagen: In Deutschland wird mehr Zeit durch Gruß- haben, um ihre Investitionskraft zu stärken. worte oder durch Reden von Herrn Westerwelle verschwendet als durch Streiktage. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD – Erika Lotz [SPD]: So ist das!) Herr Hinsken, der dort sitzt, versucht, das Handwerk ge- gen diese Bundesregierung aufzuhetzen, weil wir die Insofern ist es auch aus wirtschaftlichen Überlegungen notwendigen Schritte unternehmen, um die Handwerks- von Interesse, den sozialen Frieden zu erhalten. ordnung in Deutschland zu modernisieren. Sie sind eine Das müssen wir unter dramatisch veränderten Rah- Opposition der Verweigerer. Zurzeit werden Sie Ihrer menbedingungen tun. Die wirtschaftliche Globalisierung, Verantwortung nicht gerecht. die demographische Entwicklung und der technische Deshalb lautet meine Bitte an Sie: Kommen Sie auf Fortschritt machen es dringend erforderlich, unseren So- den Boden der Realität zurück. Es soll Ihr Schaden nicht zialstaat umzubauen, damit soziale Sicherheit auch in sein. Wir alle arbeiten für Deutschland, auch Sie. Ich Zukunft möglich ist. Auf diesen Weg haben wir uns ge- wünsche Ihnen – wie gesagt – gute Besserung. Einige macht, nicht erst seit gestern oder seit Beginn dieser Le- bei Ihnen haben das begriffen, andere noch nicht. gislaturperiode, sondern auch schon in der vergangenen Legislaturperiode. Wir sagen sehr deutlich: Unser Sozi- Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. alstaat der Zukunft konzentriert die Hilfen auf diejeni- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten gen, die unverschuldet in Not geraten sind; er setzt dar- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) auf, zu fördern und zu fordern; er verbindet gleiche Rechte für den Einzelnen mit gleichen Pflichten gegen- über der Gemeinschaft und sorgt für einen fairen Aus- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (B) gleich der Lasten und Chancen zwischen den Generatio- Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Gesine (D) nen. Lötzsch. Für diesen Sozialstaat lohnt sich so manche Mühe und so mancher Ärger, die wir schon jetzt haben, aber Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos): auch noch vor uns haben. Vor allem lohnt sich diese Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Mühe aber für unser Land. Ich bitte das gesamte Parla- Herren! Liebe Gäste! Wo liegt eigentlich Neuharden- ment, auch die Opposition, um Unterstützung. Die Men- berg, das ehemalige Marxwalde, und wie kommt man schen erwarten von uns zu Recht kein kleinkariertes po- dahin? Diese praktischen Fragen werden sich einige Ab- litisches Gezänk, sondern Lösungen. Sie erwarten von geordnete sicherlich gestellt haben. Der Kanzler Opposition und Regierung, vom Bund, aber auch von brauchte nicht auf die Autokarte zu schauen oder den den Bundesländern, dass die Politik ihrer Verantwortung Fahrplan der Deutschen Bahn zu studieren, sondern er gerecht wird. kam und verschwand dann wieder mit dem Hubschrau- ber. Das ist das eigentliche Problem. Als Erich Honecker Meine herzliche Bitte an CDU/CSU lautet: Wir haben durch die Lande fuhr, wurden die Häuserreihen, an de- in vielen Bereichen zu streiten. Aber denken Sie bei den nen er mit seinem Auto vorbeikam, notdürftig angestri- Diskussionen, die anstehen, in erster Linie an Deutsch- chen und die Menschen, die er auf den Marktplätzen traf, land und nicht so sehr an die bayerische Landtagswahl. waren vertrauenswürdige Statisten. Erfüllen Sie Ihre Pflicht als Opposition, die Ihnen die Verfassung durchaus zuweist. Es muss Ihr Schaden nicht (Joachim Poß [SPD]: Sie sollten sich solche sein, meine Damen und Herren von der Opposition, Vergleiche aber genau überlegen!) wenn die Menschen in Deutschland zur Abwechslung Der Kanzler sieht die Welt aus der Vogelperspektive, auch einmal stolz auf die Opposition sein können. aus einem Hubschrauber. Er erklärt, Deutschland be- (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Auf die wege sich. Dabei kann er allerdings gar nicht sehen, was Regierung bestimmt nicht! – Hartwig Fischer sich mehrere Tausend Meter unter ihm tut. Er fliegt über [Göttingen] [CDU/CSU]: Sie leiden unter Re- das Land und liest Umfrageergebnisse. Dabei hat er nur alitätsverlust!) noch eine Zahl im Kopf, nämlich die Zahl, die den pro- zentualen Abstand zwischen der CDU und der SPD be- – Zum Thema Realitätsverlust möchte ich gerne etwas schreibt. sagen. Ich habe mir eben die Rede von Herrn Glos ange- hört. Frau Merkel hat in ihrer Rede gesagt, Subventionen Nun haben Sie mit dem Versprechen einer steuer- müssten abgebaut werden; so habe ich sie vorhin ver- lichen Entlastung von circa 15 Milliarden Euro für Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2003 4611

Dr. Gesine Lötzsch (A) 2004 in den Umfragen einen Prozentpunkt hinzugewon- schen Bank, mit einem Jahresgehalt von 6,9 Millionen (C) nen. Wir als PDS haben am Wochenende nicht eine Steu- Euro wird auf die Eigenheimzulage, die Pendlerpau- erentlastung von 15 Milliarden Euro versprochen, son- schale und die Steuerbefreiung von Nacht- und Sonn- dern einen Bundesparteitag abgehalten. tagsarbeit nicht angewiesen sein. Ihn wird der Subven- wurde zum Parteivorsitzenden gewählt und hat die Op- tionsabbau nicht treffen. position zur Agenda 2010 präzisiert – die PDS hat auch Meine Damen und Herren, die nächste Stufe der Steu- einen Prozentpunkt hinzugewonnen. Letzteres scheint erreform wird genauso wenig den Massenkonsum an- mir aus ökonomischer Sicht die geeignetere Strategie zu kurbeln wie die bisherigen Steuerreformen der Bundes- sein. regierung. Was Sie den Leuten an Steuern zurückgeben, (Beifall der Abg. Petra Pau [fraktionslos]) holen Sie sich beim Subventionsabbau wieder zurück. Eine Linie ist nicht erkennbar. Der Bundeskanzler ist offensichtlich bereit, für einen Prozentpunkt mehr in den Umfragen die Wahlpro- Meine Damen und Herren, ich habe den Eindruck, gramme der CDU komplett zu übernehmen, um so Frau dass der Kanzler mit einem ernsten Hubschraubersyn- Merkel und Herrn Stoiber unter Druck zu setzen. Die po- drom zu kämpfen hat. Wir nannten das zu DDR-Zeiten litische Debatte hat mit der Realität nichts mehr zu tun. das Wandlitz-Syndrom. Ich empfehle Ihnen, einfach mal Sie ist quasi zu einer Hasenjagd konvertiert. Es stellt wieder mit der Straßenbahn zu fahren oder die Deutsche sich nur noch die Frage, wer gerade Hase und wer Jäger Bahn zu nutzen. Dann werden Sie Deutschland mit an- ist, die CDU oder die SPD. deren Augen sehen. Meine Damen und Herren, die Bundesregierung will Übrigens: Mit der Bahn kommt man mit dem DB Re- die Steuerreform vorziehen. Schauen wir uns doch ein- gio, Linie 7 – Berlin–Eberswalde–/Oder – nach mal die Ergebnisse der letzten großen, unsozialen Steu- Neuhardenberg. Der Bahnhof liegt circa zehn Kilometer erreformen der Bundesregierung an: von Neuhardenberg entfernt. Die tägliche Verbindung gibt es allerdings nur im Zweistundentakt. Wer von den Erstens. Sie haben gigantische Steuerentlastungen für Ministern ist eigentlich mit der Bahn gekommen? große Aktiengesellschaften durchgesetzt. Die Einnah- men aus der Körperschaftsteuer fielen zum Beispiel Vielen Dank. von 24 Milliarden Euro auf unter null. Sie mussten Steu- (Beifall der Abg. Petra Pau [fraktionslos]) erguthaben in gigantischen Größenordnungen an Kon- zerne auszahlen. Die gewünschten Investitionen und die erwartete konjunkturelle Belebung blieben jedoch aus. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Nächste Rednerin ist die Kollegin Anja Hajduk, (B) (D) Zweitens. Die Steuerreform führte dazu, dass die Ein- Bündnis 90/Die Grünen. nahmen der Städte und Gemeinden und auch die der Länder dramatisch abstürzten. Sie sind kaum noch in der Anja Hajduk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Lage, ihre gesetzlichen Pflichtaufgaben zu erfüllen. Al- lein meine Heimatstadt Berlin wird aufgrund der vorge- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir ge- zogenen Steuerreform weitere 460 Millionen Euro jähr- hen bald in die Sommerpause, aber wir werden uns in ei- lich im Stadtsäckel vermissen. nem Herbst wieder treffen, der mit Sicherheit sehr schwierig wird. Was hat die Bundesregierung aus ihrer ersten Steuerre- form gelernt? – Augenscheinlich nichts; denn die Losung Wir werden eine hohe Arbeitslosigkeit haben, die bis lautet: Weiter so! Die von Ihnen geplante Steuerreform an die Fünfmillionengrenze heranreichen kann, und wir bedeutet bei einem Jahreseinkommen von 15 000 Euro befinden uns – das wissen wir; darüber haben wir ges- eine Steuerersparnis von 267 Euro. Das sind im Monat tern auch im Haushaltsausschuss gesprochen – im dritten gut 22,25 Euro Ersparnis. Jahr hintereinander in einer Stagnation. Das ist in erster Linie für die betroffenen Arbeitslosen ein großes Pro- (Zuruf von der Regierungsbank: Besser als blem; das wird aber auch ein großes Problem bei der nichts!) Aufstellung des Haushaltes 2004 sein. Deswegen reicht – Das ist besser als nichts, das ist richtig. Aber bei einem es nicht, nur darüber zu jammern und zu klagen, dass wir Jahreseinkommen von 1 Million Euro kommt man schon in einer schwierigen Situation sind und – ich kann mir auf 67 000 Euro Steuerersparnis im Jahr. Das soll Ge- vorstellen, dass mein Kollege Austermann von der rechtigkeit sein? CDU/CSU das hier möglicherweise strapazieren wird – so unglaublich schlechte Haushaltszahlen haben. Interessant ist, dass die „FAZ“, aber auch die „Bild“- Im Haushalt 2004 wollen wir 14 Milliarden Euro ein- Zeitung die Steuerersparnisse in ihren Tabellen nur bis sparen – das sehen wir in unserem Entwurf vor –, mehr zu einem Jahresgehalt von 100 000 Euro berechnet ha- als die Hälfte davon im Übrigen auf der Ausgabeseite. ben. Einkommensmillionäre gibt es in diesen Blättern Wenn wir gleichzeitig auch auf der Einnahmeseite kon- gar nicht. solidieren, Klar ist, dass von 22,25 Euro nicht viel übrig bleiben (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Luftbuchungen!) wird, wenn sich die große Koalition von SPD und CDU auf einen Subventionsabbau einigt. Ich glaube, zum dann sollten Sie das – dafür möchte ich werben – nicht Beispiel Herr Ackermann, Vorstandssprecher der Deut- nur als Luftbuchungen bezeichnen. Im Zweifel sollten 4612 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2003

Anja Hajduk (A) Sie uns noch überholen. Dann schauen wir, ob Ihre Vor- Deshalb brauchen wir Ihre Kooperation, weil die Mehr- (C) schläge besser sind. heitsverhältnisse so sind, wie sie sind. Herr Glos, Sie ha- ben auch von der Nachhaltigkeit gesprochen. Ich bitte (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Sie, die Verantwortung, die Sie im Bundesrat tragen und und bei der SPD) die Sie sich erkämpft haben, auch wahrzunehmen. Es geht jedenfalls nicht, von Luftbuchungen zu spre- (Michael Glos [CDU/CSU]: Ja!) chen und sich auf der anderen Seite darüber zu beschwe- ren, dass zum Beispiel die Rentner belastet werden sol- Es kann nicht sein, dass die Eigenprofilierungssucht ei- len. Sie müssen dann schon den Mut haben, Alternativen nes Herrn Koch ein solches Durcheinander bewirkt, so- gegenüberzustellen. Wir haben sehr ehrgeizige Einspar- dass Sie sich hinterher nicht mehr bewegen können. Ei- vorschläge vorgelegt und bereits – das muss ich einmal genprofilierung darf jetzt nicht sein. ganz deutlich sagen, weil Sie uns immer vorwerfen, es sei noch nichts genannt; das wissen Sie aber auch – einen (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- massiven Subventionsabbau konkretisiert. SES 90/DIE GRÜNEN) (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Wir haben zur Dazu sind die Probleme in unserem Land zu groß. Auch Steinkohle Beschlüsse gefasst!) Sie tragen Verantwortung in unserem Land. Ob Sie wol- len oder nicht: Die Lage ist nun einmal so. – Die Steinkohlesubventionen werden weiter abgebaut. Ich weiß, dass Sie uns dabei unterstützen werden. Das (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN finde ich im Übrigen gar nicht schlecht. und bei der SPD) (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- Ich will zum Abschluss Folgendes sagen: Niemand SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD – Carl- von uns bestreitet, dass die Hauptprobleme nicht unbe- Ludwig Thiele [FDP]: Entschuldigung, der dingt nur mit den Steuern zu tun haben. Vielmehr müs- Herr Fischer war doch dagegen auf den Barri- sen jetzt Strukturreformen Priorität haben. Sie wissen, kaden!) dass wir mit der Agenda 2010 nicht nur Ankündigungen gemacht haben, sondern auch die entsprechenden Ge- Ich will Ihnen sagen: Sie können nicht nur Vorwürfe setzentwürfe bereits vorgelegt haben: Die Beratungen machen. Ich möchte dafür werben, dass Sie auch Alter- zur Gesundheitsreform laufen. Über die Veränderungen nativen vorlegen. Es wäre gut, wenn Sie das täten; denn auf dem Arbeitsmarkt haben wir schon strittig diskutiert. dann könnten wir darüber streiten. Im Herbst werden wir noch über eine ganz entschei- Es reicht nicht, nur zurückzublicken und zu klagen, dende Frage debattieren, nämlich die Reform der Alters- (B) dass Sie dies und das früher falsch gefunden haben. Es sicherung. (D) reicht auch nicht, zu sagen, früher hätten wir verspro- Ich fordere Sie auf, mutiger zu sein und dabei auch chen, die Situation werde besser. Wir alle dürfen näm- den Konflikt mit Lobbyisten nicht zu scheuen. Der Weg lich den Blick für die Realität nicht verlieren. Die Reali- zur Lösung ist nun einmal steinig. Die Bevölkerung tät ist heute schwierig. Wir haben eine immens hohe weiß, dass Reformen schmerzhaft sein können. Das Arbeitslosigkeit und befinden uns in der Stagnation; da- müssen Sie anerkennen. Wir werden Vorschläge ma- mit gilt es umzugehen. Das gilt auch für die Opposition, chen. Aber bei einem Teil der Vorschläge werden wir die das zur Grundlage ihrer Argumentation machen Ihre Zustimmung brauchen. Wir sind bereit, gewisse muss. Das erwarte ich von Ihnen und auch von meinen Kompromisse zu machen. Aber Neinsager können wir Kollegen im Haushaltsausschuss. uns in diesem Land nicht leisten. Deswegen fordere ich, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN dass Sie sich nicht nur darauf beschränken, unsere Vor- und bei der SPD – Ernst Hinsken [CDU/CSU]: schläge abzulehnen. Bei dieser Regierung warten Sie umsonst!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN In der Kürze der mir noch verbliebenen Zeit möchte und bei der SPD) ich noch über das Vorziehen der Steuerreform reden. Ihre Fraktionschefin sagte, sie hätten „gesessen und ge- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: wartet“. Das wäre für uns ja noch bequem gewesen. Nächster Redner ist der Kollege Dietrich Nein, es ist viel schlimmer: Ihre Reaktion darauf, Ihr un- Austermann, CDU/CSU-Fraktion. geordnetes Vorgehen beim Vorziehen der Steuerreform, zeigt, dass Sie nicht zu einer ehrlichen Debatte bereit (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) sind. Ich will Ihnen ehrlich sagen: Das geht in diesem Land und auch für Sie auf Dauer nicht gut. Dietrich Austermann (CDU/CSU): Die Bevölkerung empfindet das Vorziehen der Steuer- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wer die reform zu Recht als Entlastung. Sie sagt aber mehrheit- Diskussion verfolgt, der hat sich sicherlich darüber ge- lich – das Gleiche gilt auch für uns –, dass wir uns das wundert, dass in einer Debatte im Anschluss an die Re- Vorziehen auf Pump eigentlich nicht leisten können. gierungserklärung des Bundeskanzlers weder dieser noch ein Minister aus seinem Kabinett hier anwesend ist. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Michael Glos [CDU/CSU]: Schlagen Sie doch (Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Er war einen anderen Weg vor!) sehr lange hier!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2003 4613

Dietrich Austermann (A) Es sind zwar eine ganze Reihe von Stellvertretern hier, Sparen heißt zunächst einmal, dass die Regierung ih- (C) aber der Kanzler selber eben nicht. ren eigenen Konsum zurückfährt. Dabei wäre es gut, man könnte sich mit ihm über das (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) unterhalten, was sich in der vergangenen Zeit getan hat und weshalb wir heute diese Debatte nach der Regie- Es vergeht fast kein Tag, an dem nicht eine neue Kom- rungserklärung führen müssen. Heute Nachmittag wird mission, ein Gutachterausschuss oder ein Beratergre- der Bundeskanzler im Untersuchungsausschuss, dem mium eingesetzt wird oder neue Subventionen initiiert Lügenausschuss, aussagen müssen. Der Lügenausschuss werden. Fast täglich werden neue, für den Haushalt kos- soll aufklären, wie mit den Menschen in diesem Land tenträchtige Maßnahmen eingeleitet. Sie aber weigern vor der Bundestagswahl umgegangen worden ist. sich, eine Haushaltssperre zu verhängen, ein Haushalts- sicherungsgesetz zu machen und einen Nachtragshaus- (Dr. Uwe Küster [SPD]: Bleiben Sie beim halt vorzulegen. Thema!) Wir fordern Sie auf, zur Haushaltsklarheit und Ich sage: Die Lügen von 2002 sind offensichtlich die Haushaltswahrheit zurückzukehren. Grundlage für den Haushalt von heute, den Herr Eichel (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- vorgelegt hat. Wenn man sich den Haushalt anschaut, neten der FDP) stellt man fest, dass er ein einziges Lügengebäude ist. Innerhalb einer Woche gibt es inzwischen den zweiten (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Haushaltsentwurf. Am Mittwoch vor einer Woche hat neten der FDP) Eichel einen ersten Haushaltsentwurf vorgelegt, der mit Ich will das konkret deutlich machen: In unserem einer Verschuldung endete, die scheinbar gerade noch Land findet kein Wirtschaftswachstum statt. Der „Han- innerhalb der Verfassungsgrenze lag. Er hat gestern ei- delsblatt“-Indikator weist heute Stagnation aus. Der nen zweiten Haushaltsentwurf vorgelegt, der diese Ver- Bundesfinanzminister hat gestern im Haushaltsaus- fassungsgrenze überschreitet. Man kann den Bürgern gar schuss, als wir ihn gefragt haben, warum er auf unsere nicht genug demonstrieren, dass das Parlament gezwun- Vorschläge zu Steuersenkungen nicht eher eingegangen gen ist, die Verfassung, die von diesem Parlament ge- ist, geantwortet, er habe das dritte Jahr der Stagnation schaffen worden ist, einzuhalten. Wenn eine Regelung in abwarten wollen. Das heißt, der Regierung war bewusst, der Verfassung existiert, die verbietet, dass wir mehr dass sie spätestens nach zwei Jahren Stagnation hätte neue Schulden machen, als wir Mittel für Investitionen, handeln müssen, aber sie hat trotzdem nichts gemacht also für die Zukunft, einsetzen, dann kann man doch nicht leichtfertig sagen: Das interessiert uns überhaupt (B) und die notwendigen Maßnahmen nicht umgesetzt. Im (D) dritten Jahr der Stagnation ist die Regierung dazu end- nicht, lich bereit. (Anja Hajduk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ein Teil der Redner der Koalition hat uns heute vorge- Das ist doch billig!) halten, es gebe hie und da unterschiedliche Stimmen in wir überschreiten die Verschuldungsgrenze um 6 oder unseren Reihen. Wenn ich mir die Eckdaten unseres 7 Milliarden Euro oder umgerechnet 14 Milliarden DM, Landes anschaue, dann muss ich sagen: Viele Menschen es wird sich im Laufe der Zeit schon richten. in diesem Lande – das gilt selbst für mich, der ich von Herrn Poß und anderen vor der Bundestagswahl immer Nun haben Sie gesagt, wir sollten uns an der einen als Kassandra gescholten worden bin, weil ich die Situa- oder anderen Maßnahme beteiligen, die Sie vorschlagen tion realistisch beschrieben habe – haben sich nicht vor- wollen. Ich unterstreiche noch einmal, was unsere Frak- stellen können, wie desaströs die Lage zurzeit in tionsvorsitzende gesagt hat: Alles, was Sie jetzt genannt Deutschland ist. Deshalb muss man heute klar benennen, haben, ist bereits im ersten Haushaltsentwurf, den Sie wer an dieser Entwicklung schuld ist. eine Woche zuvor vorgestellt haben, enthalten gewesen, von der Entfernungspauschale über die Eigenheimzulage (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- bis – das ist besonders interessant – hin zu dem, was neten der FDP) Koch und Steinbrück erst noch ermitteln sollen. Bei allen wesentlichen Kennziffern der wirtschaftlichen (Rainer Brüderle [FDP]: Richtig!) Entwicklung wie Wachstum, Beschäftigung und Kauf- kraft ist Deutschland nach vier Jahren Reformstau unter Da ist im Haushalt eine Einsparung eingestellt, ohne Schröder im Vergleich zu anderen führenden Nationen dass die Einigung über diese Position bisher herbeige- zurückgefallen. In diesen vier Jahren wurde den Bürgern führt worden ist. Das kann man nicht anders als Luftbu- etwas vorgegaukelt. chungen, Luftlöcher und Hoffnungswerte bezeichnen. Trotz dieser Regelung ist es dem Bundesfinanzminister Wenn man heute der Realität ins Auge sehen will, nicht gelungen, einen Haushalt vorzulegen, der die Ver- dann ist es dringend geboten, auf der Grundlage des fassungsgrenze einhält. Haushalts 2003 eine Zwischenbilanz zu ziehen. Dies hätte zur Folge, dass ein Nachtragshaushalt auf den (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Tisch gelegt werden müsste, aus dem hervorgeht, wo wir neten der FDP – Anja Hajduk [BÜNDNIS 90/ zurzeit stehen. Jetzt muss mit dem Sparen wirklich ange- DIE GRÜNEN]: Sind Sie jetzt dafür oder da- fangen werden. gegen?) 4614 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2003

Dietrich Austermann (A) – Die Frage stellt sich überhaupt nicht. Zivildienstleistende sind betroffen und Häuslebauer. (C) Die Eigenheimzulage und die Wohnungsbauprämie fal- (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- len weg. Alle Arbeitnehmer erfahren eine Einschrän- NEN]: Die Frage ist gestellt worden!) kung der Entfernungspauschale. Ich sage Ihnen noch Wir haben in der letzten Legislaturperiode 1 078 An- einmal: Sie haben die Einschränkung der Entfernungs- träge vorgelegt. Wir haben in dieser Wahlperiode pauschale bereits in dem ersten Haushaltsentwurf verar- 256 Anträge vorgelegt. Darunter war eine Fülle von Vor- beitet. schlägen, an welcher Stelle gestrichen werden soll. (Anja Hajduk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Was sagen Sie denn nun? Sie spielen wieder Welche Vorschläge haben Sie denn jetzt?) den Neinsager!) Auch im Monat Juni haben wir einen Antrag vorgelegt, Wie werden Sie reagieren, wenn später die Arbeitneh- der unsere grundsätzliche Position unterstreicht, näm- mer nicht auf die Pauschale setzen, sondern die Kosten lich: Die Steuertarife müssen herunter, die Ausnahmen extra abrechnen? Unternehmen: Einschränkung der zeit- müssen weg. Das ist die grundsätzliche Position der anteiligen AfA für bewegliche Wirtschaftsgüter im Jahr Union. der Anschaffung. Was Sie jetzt vorschlagen, ist die zweitbeste Lösung. Sie haben ein Konvolut von Maßnahmen vorgelegt, in Wir sind auch für die zweitbeste Lösung, wenn mehr dem – um die Balance des Haushalts einigermaßen zu nicht zu machen ist, aber es macht keinen Sinn, eine wahren – so viele Kürzungen zulasten der Menschen in Steuersenkung vorzunehmen, bei der von vornherein si- unserem Land vorgesehen sind, dass kaum Grund zu der cher ist, dass, nur um den Haushalt auszugleichen, den Annahme besteht, das Vorziehen der Steuerreform könne Menschen das Geld, das sie durch den denkbaren wirt- einen Wachstumsimpuls auslösen. schaftlichen Wachstumsimpuls erhalten, wieder aus der (Hubertus Heil [SPD]: Jetzt kommen Ihre Vor- Tasche gezogen wird. schläge!) Ich kann Ihnen sagen, was bisher Bestandteil des – Unsere Vorschläge liegen bereits vor. Ich darf sie Haushalts ist. Sie sollten überlegen, woher Sie die weite- Herrn Heil noch einmal nennen: erstens Haushaltssiche- ren 7 Milliarden Euro nehmen wollen. Sie haben bisher rungsgesetz, zweitens Haushaltssperre, drittens Nach- zur Rente keine klare Aussage gemacht. Der Bundesfi- tragshaushalt nanzminister ist von Neuhardenberg mit dem Auftrag zurückgekommen, er möge sich mit der Ministerin (Anja Hajduk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was steht denn da drin?) (B) Schmidt einigen. (D) und viertens ein verfassungsmäßiger Haushalt für das (Hubertus Heil [SPD]: Hat er schon!) nächste Jahr. – Nein, das hat er nicht. – Wir wissen bisher nicht, ob er (Beifall bei der CDU/CSU) die Schwankungsreserve auflösen will. Wie will er die Schwankungsreserve auflösen, wenn diese im Wesentli- Dazu gehört meines Erachtens – das kann nicht oft chen aus Immobilien besteht? Soll der Beitrag gesenkt genug festgestellt werden –, dass wir endlich anfangen werden? Nach dem Finanzplan des Bundes für die zu sparen. Das fängt bei der Regierung an. Es gibt kei- nächsten vier Jahre ist davon auszugehen, dass die Rent- nen Tag, an dem sie nicht irgendein Vorhaben ankündigt, ner in Deutschland in den nächsten vier Jahren Einkom- mit dem sie den Bürgern hier und da neue Geschenke zu- menseinbußen haben werden, ohne dass Sie bisher eine stecken möchte. Entscheidung getroffen haben. (Volker Kauder [CDU/CSU]: Ich habe einen Einkommenseinbußen wird es auch bei den Land- Alternativvorschlag: Die Regierung muss wirten geben. Michael Glos hat auf die Zangenbewe- weg!) gung – EU, Frau Künast, Bundeshaushalt – hingewiesen. – Der Kollege Kauder hat völlig Recht. Wenn es ein we- Einschränkungen bei der Alters- und Krankenversiche- sentliches Problem in diesem Land gibt, dann ist das die rung: Die Beiträge für die Krankenversicherung werden Tatsache, dass die Menschen kein Vertrauen in das um 30 bis 40 Prozent steigen. Wir wollten eigentlich Handeln der Regierung haben. eine Politik machen, mit der die Beiträge und die Ab- gabenlast gesenkt werden. Versorgungsempfänger: Hal- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) bierung der jährlichen Sonderzuwendungen; aktive Wenn kein Vertrauen vorhanden ist, fehlt es an Kon- Beamten, Richter und Soldaten: Kürzung des Weih- sum und an Investitionen. Viele Unternehmer in meinem nachtsgeldes, Streichung des Urlaubsgeldes, Einschrän- Wahlkreis, aber auch darüber hinaus, teilen mir mit, sie kungen bei der Beihilfe; Arbeitslose: Einschränkungen müssten zugunsten der weiteren Entwicklung ihres Be- der Leistungen; Familien: Einschränkung des Kreises triebes zwar eigentlich Investitionen vornehmen und sie der Berechtigten für den Bezug von Erziehungsgeld; Al- könnten dies auch, aber solange diese Politik fortgeführt leinerziehende: Einschränkung des Kreises der Berech- werde, würden sie nicht investieren. tigten für den Bezug von Unterhaltsvorschuss. Was Sie hier tun, finde ich besonders unanständig, weil das die (Günter Gloser [SPD]: Ach was! – Joachim Schwächsten der Gesellschaft, die Familien und die un- Poß [SPD]: Das ist doch das Ergebnis Ihrer vollständigen Familien betrifft. Propaganda!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2003 4615

Dietrich Austermann (A) Das Gleiche gilt für die Konsumenten. Obwohl sie tober 2000 gefunden, das den Einstieg in die große (C) zum Konsum in der Lage wären, legen sie lieber das Steuerreform darstellte und mit der Umsetzung der letz- Geld auf das Sparbuch, weil sie davon ausgehen müssen, ten beiden Stufen nunmehr abgeschlossen werden soll. dass, wenn die Regierung weiter so vor sich hin wurstelt, Was das Vorziehen der dritten Stufe der Steuerreform das Wirtschaftswachstum auch im nächsten Jahr nicht si- im Einzelnen bedeutet, möchte ich noch einmal kurz ins cher ist und dass sich das vorgesehene Wachstum als Gedächtnis rufen. Der Eingangssteuersatz sinkt auf Trugbild erweist. 15 Prozent, der Spitzensteuersatz auf 42 Prozent. Der (Joachim Poß [SPD]: Ermutigen Sie die Unter- Grundfreibetrag steigt auf 7 664 Euro. Gleichzeitig ha- nehmer zu Investitionen oder nicht?) ben wir das Kindergeld auf 154 Euro angehoben. Gegen- über 1998 bedeutet das für eine allein erziehende Mutter – Herr Poß, der Unternehmer entscheidet sich dann für mit einem Kind und einem Einkommen in Höhe von Investitionen, wenn es der Regierung gelingt, den Ein- 20 000 Euro eine Reduzierung der Belastung von 804 auf druck zu vermitteln, dass sie eine berechenbare Politik 182 Euro. Das sind mehr als 77 Prozent. Bei einem ver- gestaltet. Schröder aber blinkt links und fährt nach heirateten Alleinverdiener mit einem Kind und einem zu rechts. Dass er nach rechts fährt, kann einem manchmal versteuernden Einkommen in Höhe von 35 000 Euro be- gefallen, aber am nächsten Tag blinkt er dann rechts und deutet das eine Reduzierung von 3 429 auf 1 074 Euro, fährt nach links. also um fast 69 Prozent. Aber auch alle anderen Steuer- Solange bei der Regierung kein klarer Kurs erkennbar pflichtigen werden entlastet, und zwar im Durchschnitt ist, wird sie kein Vertrauen erzielen. um 10 Prozent. Davon profitieren aber nicht nur Fami- lien. Auch Einzelfirmen und Personengesellschaften (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- werden dadurch deutlich mehr Geld in der Kasse haben. neten der FDP) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Deswegen müssen jetzt die richtigen Vorschläge auf den des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Tisch kommen. Dann wird die Union ihre Alternative vorlegen. Erst dann kommt Deutschland voran. Das schafft zusätzliche Impulse für Konsum und In- vestitionen. Beides brauchen wir, um unserer Wirtschaft Herzlichen Dank. Dynamik für Wachstum und Beschäftigung zu verleihen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ich schlage ein steuerpolitisches Sofortprogramm zum Ankurbeln der Wirtschaft vor: Vorziehen der Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: zweiten und dritten Steuerentlastungsstufe … (B) Nächste Rednerin ist die Kollegin Gabriele Frechen, So ist es – von Edmund Stoiber – am 29. September (D) SPD-Fraktion. 2001 in der „Welt am Sonntag“ zu lesen. Am 29. Juni (Beifall bei der SPD) 2003 war dagegen bei Reuters zu lesen: Der CSU-Vorsitzende und bayerische Ministerprä- Gabriele Frechen (SPD): sident Edmund Stoiber hat das Nein der Union zu dem vom Bundeskabinett beschlossenen Vorziehen Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! der Steuerreform bekräftigt. „Es ist immer das Gleiche: Man nimmt eine Gesetzes- sammlung zur Hand, um eine Rechtsregel nachzuschla- Doch am vergangenen Sonntag kam – hoffentlich – die gen, und steht vor der Frage, wo man suchen soll.“ – endgültig letzte Wendung – und zwar diesmal zum Gu- Dieser Satz aus dem Vorwort zum Einkommensteuerge- ten – in einem Brief an Bundeskanzler Gerhard setz trifft natürlich auch und besonders für das Steuer- Schröder. recht zu. Die Transparenz der Steuergesetze ist für die (Zuruf von der SPD: Edmund-Pirouette! – Umsetzung unserer modernen Steuerpolitik, die die Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Hat er den Brief Grundlage der Klausurtagung des Bundeskabinetts in schon beantwortet?) Neuhardenberg und der Agenda 2010 darstellt, eine wichtige Voraussetzung. – Ja, er hat ihn beantwortet. Lesen Sie keine „Bild“-Zei- tung, Herr Hinsken? Modernisierung und Vereinfachung sind Ziele unserer Steuerpolitik und Voraussetzung für Steuergerechtigkeit. (Heiterkeit und Beifall bei der SPD) Doch neben Vereinfachung und Transparenz gibt es noch andere Ansprüche, die eine nachhaltige Steuerpo- Einhergehen muss mit den geplanten Steuersenkun- litik erfüllen muss. Sie muss Grundlage für die notwen- gen für alle Steuerpflichtigen selbstverständlich ein dige Finanzausstattung zur Erfüllung der staatlichen umfassendes Programm zum Abbau von Steuersubven- Aufgaben sein, wirtschaftliche Impulse setzen, auf kon- tionen. Subventionsabbau darf nicht nur ein Wahl- junkturelle Veränderungen reagieren können und dem kampfversprechen sein. „Die Wahlversprechen von Grundsatz auf eine gerechte Lastenverteilung gerecht heute, sind die Steuern von morgen.“ Diesen Satz werden. möchte ich heute ganz besonders meinen bayerischen Kolleginnen und Kollegen mit auf den Weg geben. Ein Besondere Beachtung bei der Umsetzung dieser Auf- einfaches Steuersystem mit niedrigen Steuersätzen zu gaben hat das Gesetz zur Senkung der Steuersätze und fordern ist eine Sache, die konkrete Umsetzung eine ganz zur Reform der Unternehmensbesteuerung vom 23. Ok- andere. Wenn man pauschal Forderungen nach einem 4616 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2003

Gabriele Frechen (A) einfachen Steuersystem erhebt, erntet man auf breiter zustimmt. Allein im Bereich der Umsatzsteuer werden (C) Front Zustimmung. Sobald es aber konkret wird, sieht Bund, Ländern und Kommunen jährlich 14 Milliarden die Welt plötzlich ganz anders aus. Euro vorenthalten. Der Grund dafür sind betrügerische Machenschaften, die zulasten aller Menschen und aller (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Unternehmen in diesem Land gehen. Wir müssen diese des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vergehen mit aller Konsequenz ahnden und verfolgen. Das gilt auch beim Thema Subventionsabbau. Jeder befürwortet grundsätzlich einen Abbau von Finanzhilfen (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten oder Steuervergünstigungen, und zwar völlig zu Recht; des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) denn sie entlasten Einzelne und belasten alle. Doch jedes Wir müssen ein Bewusstsein dafür schaffen, dass Stopfen von Steuerschlupflöchern, das Eindämmen von Steuerhinterziehung eben kein Kavaliersdelikt ist. Sie Umgehungsmöglichkeiten und der Abbau von Vergüns- stellt eine Flucht Einzelner aus der Verantwortung für tigungen wirken natürlich umgekehrt: für Einzelne be- das Gemeinwesen dar, die zulasten des Gemeinwesens lastend, aber für alle anderen entlastend. geht. Würde uns die hinterzogene Umsatzsteuer zur Ver- (Beifall bei der SPD) fügung stehen, hätte Hans Eichel sicherlich eine Sorgen- falte weniger. Wer also allgemein nach Subventionsabbau ruft, dann aber in jedem konkreten Fall mit der Parole „Hilfe, hier Das gilt sicher auch für manche Kämmerer in den droht eine Steuererhöhung!“ die Umsetzung verhindert, Städten, die den Ergebnissen der Kommission zur Re- erweist der Sache einen Bärendienst. Gerade die Diskus- form der Gemeindefinanzen mit Spannung entgegense- sion über den Abbau von Steuervergünstigungen im hen. Die Kommission erarbeitet derzeit konkrete Vor- Frühjahr dieses Jahres hat gezeigt, dass Lobbyarbeit bei schläge zur Lösung der drängenden Probleme des Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposi- kommunalen Finanzsystems. Die Weiterentwicklung der tion, auf sehr fruchtbaren Boden fällt. Leider hat sich Gewerbesteuer zu einer kommunalen Wirtschaftsteuer wieder einmal erwiesen, dass Sie noch nicht einmal Ih- soll zentraler Punkt einer umfassenden Gemeinde- ren eigenen Sonntagsreden glauben. Doch das Motto finanzreform sein. Es muss sich für die Gemeinden loh- „Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass“ wird nen, Infrastruktur zur Verfügung zu stellen und Belästi- hier genauso wenig funktionieren wie überall. gungen, die Industriegebiete mit sich bringen, in Kauf zu nehmen. Durch den Wegfall des lokalen Hebesatzrechtes Es gab in den letzten Tagen Hunderte von Schlagzei- als Quelle der eigenen Wirtschaftskraft einer Gemeinde len oder widersprüchlichen Aussagen aus den Reihen würde dieser Anreiz gänzlich entfallen. Die freien Be- der CDU/CSU, die ich versucht bin zu zitieren. Aber ich rufe sollen zur Verbreiterung der Bemessungsgrundlage (B) habe mir just das Zitat herausgesucht, das sich auch un- und zur Verstetigung in diese kommunale Wirtschafts- (D) ser Fraktionsvorsitzender herausgepickt hat – ich denke, steuer einbezogen werden. Sobald die Ergebnisse der man kann es ruhig noch einmal vortragen, weil es die Si- Kommission vorliegen, werden wir einen entsprechen- tuation der CDU/CSU so schön beschreibt –: den Entwurf ins Gesetzgebungsverfahren einbringen. Die Union sagt ja nicht Nein, sondern die Union Ich bin zuversichtlich, dass wir unser Ziel zum 1. Januar sagt: Ja, aber … 2004 erreichen werden. Dieses entschiedene Sowohl-als-auch ist ein Zitat von (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Edmund Stoiber im „heute journal“ vom 30. Juni dieses BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Jahres. Aber so kann es nicht gehen. Die Aufgaben in Auch hierbei lade ich Sie zur Zusammenarbeit ein! der Steuerpolitik sind viel zu ernst, als dass Sie hier Ihre Kommen Sie mit auf den Weg, die kommunale Selbst- taktischen Spielchen spielen können. verwaltung auch bezüglich der finanziellen Seite zu er- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ halten; denn rasche Hilfe tut hier Not. Das Ergebnis des DIE GRÜNEN) Vermittlungsausschusses zum Steuervergünstigungs- abbaugesetz kommt zu den Problemen, die die Kommu- Die Menschen im Lande erwarten Entscheidungen. nen bereits haben, erschwerend hinzu. Bevor der Ver- Diese Entscheidungen können zum großen Teil nur in mittlungsausschuss eingeschaltet worden war, konnten Zusammenarbeit von Bundestag und Bundesrat getrof- die Kommunen aufgrund dieses Gesetzes mit Mehrein- fen werden. Hier sind Sie in der Pflicht. Wir wollen nahmen in Höhe von 6,7 Milliarden Euro rechnen; ge- diese Zusammenarbeit. Die Länder haben ein ureigenes blieben sind 600 Millionen Euro. Die Mehrheit im Bun- Interesse an Ergebnissen; denn sie haben die Verantwor- desrat hat die Verbesserung der Einnahmesituation durch tung für ihren Haushalt und für die Kommunen. ein schlichtes Nein zunichte gemacht. Wir brauchen einen Abbau von Subventionen und Ich denke, wir müssen in diesem Zusammenhang Ausnahmen, nicht nur im Interesse der Staatsfinanzen; deutlich machen, wer die Verantwortung trägt, wenn er ist ein wirkungsvoller Beitrag zur Steuervereinfa- Schwimmbäder geschlossen oder Gebühren erhöht wer- chung und zur Steuergerechtigkeit. den. Die Reduzierung der Subvention bei der Wohn- Die Bekämpfung von Steuerbetrug ist eine große bauförderung, der größten Subvention schlechthin, ist Herausforderung für die nächste Zeit. Ich glaube, es ist dem Nein des Bundesrates ebenso zum Opfer gefallen niemand hier in diesem Hohen Haus anwesend, der mir wie die Besteuerung von privaten Veräußerungsgewin- – bei allen Differenzen, die wir vielleicht haben – nicht nen beim Verkauf von Aktien. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2003 4617

Gabriele Frechen (A) Zur kurzfristigen Stärkung der kommunalen Einnah- Dr. Michael Meister (CDU/CSU): (C) men haben wir Zinsverbilligungsprogramme für kom- Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und munale Investitionen aufgelegt. Außerdem werden die Herren! Wir können eines festhalten: Die Union ist die Kommunen durch den Bund von Beiträgen zum Flutop- seriöse Steuersenkungspartei Deutschlands. fersolidaritätsfonds vollständig freigestellt. Das bringt unmittelbar 800 Millionen Euro in die Gemeindekassen. (Beifall bei der CDU/CSU – Lachen bei der Für meine Heimatstadt Hürth, eine Stadt mit 55 000 Ein- SPD) wohnern, macht dies den stattlichen Betrag von immer- Wir sind jederzeit bereit, seriöse Steuersenkungen mit- hin 640 000 Euro aus. Das freut unseren roten Bürger- zutragen. Alle Vorschläge, die wir zur Steuersenkung ge- meister und es freut ebenso unseren schwarzen macht haben, haben wir mit seriösen Finanzierungsvor- Kämmerer. schlägen verbunden. Wenn der Herr Bundeskanzler jetzt Wir alle wissen, dass Geld im Ausland liegt, das sagt, er wolle die Steuern senken, dann ist er aufgefor- – offiziell ausgewandert oder geflohen – in Deutschland dert, seriöse Finanzierungsvorschläge dafür vorzutragen. weder versteuert wird noch den Unternehmen zur Verfü- (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. gung steht. Diesem Kapital wollen wir eine Brücke zu- Dr. Hermann Otto Solms [FDP]) rück nach Deutschland und zurück in die Steuerehrlich- keit bauen. Es ist vorgesehen, dass eine einfache, Der Vorschlag, den uns der Bundeskanzler vorlegt, vollständige Erklärung über bisher nicht versteuerte Ein- besteht aus zwei Teilen. Erstens soll die Neuverschul- nahmen und die Zahlung eines Pauschalbetrages von dung um über 7 Milliarden Euro angehoben werden 25 Prozent bzw. 35 Prozent eine strafbefreiende Wir- – die Steuersenkung wird also voll schuldenfinanziert – kung hat. und zweitens – das hat er heute im Laufe des Tages vor- geschlagen – soll die Tabaksteuer, also eine Verbrauch- Gleichzeitig müssen wir aber auch – das sage ich in steuer, erhöht werden. Ich habe mir noch einmal seine aller Deutlichkeit – Kontrollen einführen. Die Lösung, Rede vom 14. März dieses Jahres angeschaut. In der gro- die jetzt gefunden wurde, nämlich die unbürokratische ßen Agenda-Rede hat er hier am Pult gesagt: Meine Da- Kontrolle durch das Bundesamt für Finanzen über die men und Herren, wer Steuersenkungen fordert und diese Kontenevidenzzentrale, ist sehr wirkungsvoll. Dieser über neue Schulden oder Verbrauchsteuererhöhungen fi- Lösung kann sich hier im Haus niemand entziehen, denn nanzieren will, handelt verantwortungslos. – Herr Bun- eines muss klar sein: Wir können nicht heute Straffrei- deskanzler, mit dem Vorschlag, den Sie jetzt gemacht ha- heit gewähren und hinnehmen, dass morgen das gleiche ben, handeln Sie verantwortungslos. Spiel von vorn losgeht. (Beifall bei der CDU/CSU) (B) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (D) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Deshalb sind Sie aufgefordert, ein seriöses Finanzie- rungskonzept vorzulegen. Es kann nicht die Aufgabe der Die EU-Richtlinie wird uns dabei helfen. Opposition sein, Ihre Hausaufgaben zu erledigen und zu Unsere Philosophie ist eindeutig: Statt neue Steuertat- sagen, wie finanziert werden soll, sondern der Herr Bun- bestände zu schaffen, sollen vorhandene Steuerquellen deskanzler mit seiner Regierung und seinem Finanzmi- ausgeschöpft werden. Niedrigere Steuern für alle statt nister hat diese Aufgabe zu leisten. Wir fordern dies ein. wenige Ausnahmen für Einzelne! Das erhöht die Steuer- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/ gerechtigkeit und die Akzeptanz. Dazu brauchen wir Ih- CSU – Zurufe von der SPD) ren Beitrag. Bei Johann Michael Möller in der „Welt“ vom 30. Juni 2003 heißt es so schön: – Ich sage Ihnen zu, Herr Binding: Wenn Sie ein seriöses Finanzierungskonzept auf den Tisch legen, werden wir Zweifel hat auch die Opposition. Doch die muss es konstruktiv diskutieren. sich nicht nur nach den Alternativen fragen lassen, sondern der Öffentlichkeit auch erklären, warum Wir verengen hier das Thema „Steuersenkungen in plötzlich falsch sein soll, was sie selbst immer mit Deutschland“ allerdings allein auf die Frage, ob eine vollen Backen für richtig befunden hat. Steuerreform, die schon längst im Gesetzblatt steht, 2005 oder 2004 stattfinden soll. Das ist, glaube ich, eine (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten zu starke Verengung des Themas. Wird denn die steuer- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) rechtliche Lage in Deutschland für den Bürger einfacher, wenn wir den Reformschritt um ein Jahr vorziehen? – Machen Sie mit Ihrem Ja zur Steuervereinfachung Nein, die Steuerformulare bleiben gleich kompliziert! und zum Subventionsabbau Ernst! Wir sind bereit, die- Wird das Steuerrecht transparenter, wenn wir ihn vorzie- sen mutigen Schritt zu gehen. Seien Sie es auch! hen? – Nein, kein Mensch, der eine Steuererklärung in (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten diesem Land unterschreibt, ist in der Lage, zu verstehen, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) was er da eigentlich tut! Bei einer Grenzbelastung bei den Abgaben von 67 Prozent wird nach wie vor die Schattenwirtschaft gefördert. Deshalb sagen wir: Es Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: kann nicht allein um das Vorziehen gehen, sondern wir Nächster Redner ist der Kollege Michael Meister, brauchen ein Konzept für eine durchgreifende Steuer- CDU/CSU-Fraktion. reform: einfach, transparent, mit niedrigen Steuersätzen 4618 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2003

Dr. Michael Meister (A) und einer breiten Bemessungsgrundlage. Dazu wird die Gestatten Sie mir noch ein paar Worte zum Bundes- (C) Union Vorschläge unterbreiten. finanzminister. Er hat in dem Jahr, als er sein Amt ange- treten hat, angekündigt, im Jahr 2004 würden wir einen (Beifall bei der CDU/CSU) ausgeglichenen Bundeshaushalt haben. Wenn wir über Gegenfinanzierung sprechen, geht es (, Parl. Staatssekretär: Stimmt natürlich auch um Vertrauen. Ich will Ihnen klar und nicht!) deutlich sagen, was Sie in den vergangenen Monaten in der Diskussion zum Steuervergünstigungsabbaugesetz – Sie haben es dann modifiziert und von 2006 gespro- getan haben. chen, aber ursprünglich war von 2004 die Rede. (Joachim Poß [SPD]: Was Sie gemacht haben! (Joachim Poß [SPD]: Nein, immer 2006!) Sie haben die Öffentlichkeit getäuscht! Sie Dass wir im nächsten Jahr keinen ausgeglichenen Bun- sind darauf auch noch stolz!) deshaushalt haben, ist unser Hauptproblem. Weil Sie das nicht erreichen, müssen wir jetzt überhaupt darüber dis- Sie haben massiv Vertrauen verspielt, Herr Poß, Ver- kutieren, wie eine Steuersenkung finanziert werden trauen, das jetzt fehlt, weshalb die Menschen „angst- kann. Wenn Ihr Finanzminister das eingehalten hätte, sparen“ und die Unternehmen in diesem Land nicht in- was er damals versprochen hatte, müssten wir die De- vestieren. Deshalb geht Ihre Rechnung auch nicht auf, batte, die hier heute stattfindet, nicht führen. Die Aus- neues Vertrauen schaffen zu können, indem Sie die Re- sage des Bundesfinanzministers damals lautete, die formstufe um ein Jahr vorziehen. Wir brauchen eine ver- Schulden von heute sind die Steuern von morgen, Frau lässliche Politik. Die Damen und Herren, die auf der Re- Frechen. Im nächsten Jahr marschiert er unter Einbezie- gierungsbank sitzen, haben leider jegliches Vertrauen hung aller Risiken im Bundeshaushalt auf 50 Milliarden verspielt und werden es mit solchen Vorschlägen auch Euro an neuen Schulden in einem einzigen Jahr zu. Ich nicht zurückgewinnen. glaube, das können wir den kommenden Generationen (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. nicht vermitteln. Carl-Ludwig Thiele [FDP]) Schauen wir uns die Verfassungslage an: Im Jahr 2002 haben Sie hier am Pult geleugnet, dass der Haus- Auf der Tagesordnung dieser Debatte steht heute auch halt verfassungswidrig sein könnte, also die Schulden noch das Thema „Brücke in die Steuerehrlichkeit“. höher als die Investitionen seien. Diese Frage wird im Wir wollen Menschen animieren, Kapitalerträge, die sie Laufe des Tages noch im Wahrheitsfindungsausschuss in ihrer Steuererklärung nicht angegeben haben, in die beraten werden. Sie haben es nun aufgegeben, für das (B) Legalität zurückzuführen. Wir werden das demnächst (D) Jahr 2003 einen verfassungsgemäßen Haushalt vorzule- hier im Bundestag beraten. gen, denn es gibt kein Haushaltssicherungsgesetz, es gibt Im gleichen Atemzug kündigen Sie eine Vermögen- keinen Nachtragshaushalt, es gibt keinerlei Initiativen, steuerdebatte im Herbst an. Wie kann denn jemand Ver- den Verfassungsrahmen wieder einzuhalten. Für 2004 trauen in Deutschland bilden, wenn er einerseits zu Steuer- – das wäre das dritte Jahr in Folge – planen Sie ebenso ehrlichkeit auffordert und Brücken für die nachträgliche den Bruch der Verfassung, indem Sie wieder mehr Legalisierung bauen will, andererseits aber mit einer Schulden aufnehmen, als Sie investieren. Vermögensteuerdebatte droht? Sie können auch nicht auf der einen Seite Ihren Fi- nanzdaten für 2004 ein Wachstum von 2 Prozent zu- (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Abenteuerlich!) grunde legen und auf der anderen Seite gleichzeitig die Sie kündigen eine Debatte über die Erhöhung der Erb- Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts fest- schaft- und Schenkungsteuer an. Wer von Ihnen glaubt stellen lassen. denn, dass man dadurch Vertrauen gewinnt? Auch hin- sichtlich der Besteuerung von Kapitalerträgen lassen Sie Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: die Menschen vollkommen im Unklaren. Kein Mensch weiß, was auf uns zukommt. Herr Kollege Meister, Ihre Redezeit ist zu Ende.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Dr. Michael Meister (CDU/CSU): Wie soll denn in diesem Land Vertrauen entstehen, Was ist denn jetzt die Wahrheit? Werden wir ein wenn hier so gearbeitet wird? Sie müssen Ihre Vorhaben Wachstum von 2 Prozent haben oder wird das gesamt- zusammenführen, Sie brauchen ein einheitliches Kon- wirtschaftliche Gleichgewicht gestört sein? zept. Dies ist nicht vorhanden. Schnelle Sprüche des Ich fordere von Ihnen Konzepte, die durchdacht sind, Bundeskanzlers, die dasselbe am 14. März als verant- die wahr sind und auf die man vertrauen kann. Dann wortungslos und heute als eine richtige politische Maß- können wir auch gerne seriös diese Fragen miteinander nahme bezeichnen, schaffen kein Vertrauen in Deutsch- diskutieren. land. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2003 4619

(A) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: gen auch, dass sich die Kultusministerkonferenz auf Bil- (C) Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Ernst dungsstandards im mittleren Schulbereich geeinigt hat. Dieter Rossmann, SPD-Fraktion. Wir wünschen uns, dass dieser dynamische gute (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Schritt, der zwischen SPD- und CDU-Ländern für mehr Chancen, für mehr Qualifikation, auch für mehr Wettbe- werbsfähigkeit entwickelt worden ist, in Zusammenar- Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD): beit mit dem Bund vervollkommnet werden kann. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Weshalb ist uns das so wichtig? Ich schiebe eine Be- Der Bundeskanzler hat heute in seiner Regierungserklä- merkung ein, die vielleicht weniger mit Haushaltszahlen rung den Faden seiner Rede vom 14. März dieses Jahres als mit Grundverständnis zu tun hat. Mehr Chancen wieder aufgenommen, als er in Bezug auf die Entwick- heißt auch mehr Durchlässigkeit. Es muss uns eine neue lung in Deutschland sagte, dass er den Sozialstaat erneu- Warnung sein, dass auch die erweiterte PISA-Studie ge- ern, die Wirtschaft beleben und neue Chancen für Bil- zeigt hat, dass Deutschland nicht nur nicht so gut ist, wie dung und Forschung schaffen wolle. wir gerne sein möchten, sondern auch einen Spitzenplatz Am Ende dieser langen Debatte möchte ich darauf zu- im internationalen Bildungsvergleich hat, den es nicht rückkommen, womit Frau Merkel Ihre Rede in dieser haben will, nämlich bei der Anbindung von Bildungswe- Debatte eingeleitet hat, nämlich mit der Frage: Was soll gen an Einkommen und Status der Familie. Deutschland die Richtung sein? Unser Fraktionsvorsitzender hat da- ist in seinen Bildungschancen nicht durchlässig. raufhin gesagt: Die Richtung ist die nach vorne. Ich Weshalb ist uns Durchlässigkeit so wichtig? Durch- möchte das insoweit ergänzen, als es auch darum gehen lässigkeit in Bezug auf Bildungschancen ist der indivi- muss, mehr Chancen in Deutschland zu schaffen: Chan- duelle Ausdruck gesellschaftlicher Dynamik insofern, cen für die Wirtschaft, Chancen für die Gesellschaft, als man nicht an den Status gebunden ist, sondern sich aber auch individuelle Chancen und Chancen für neue mit eigenem Vermögen, aber auch mit eigenem Wollen Formen der Zusammenarbeit. In diesem Rahmen möchte weiterentwickeln kann. Das ist gesellschaftliche Dyna- ich die möglichen Chancen in drei bis vier Bereichen mik. aufzeigen. An dieser Stelle haben wir zu starke konservative Ich komme zum ersten Bereich. Man hat ja manchmal Strukturen. Wir haben nicht genug Durchlässigkeit. Bei den Eindruck, dass das Parlament lieber untereinander uns hat die begabte Tochter eines Arbeiters zu selten die diskutiert und über jede Frage die Debatte zu jeder Zeit Gelegenheit Rechtsanwältin zu werden. Bei uns wird der gerne aufnimmt, statt einmal Rückschau zu halten, zu fleißige, aber nicht so begabte Sohn des Bankdirektors (B) schauen, was sich eigentlich seit der Zeit, als der Bun- (D) nicht ehrbarer Handwerker, sondern vielleicht schlechter deskanzler im März die Agenda 2010 im Parlament vor- Rechtsanwalt oder nicht auskömmlicher Betriebswirt. gestellt hat, positiv verändert hat. Es gibt Beispiele da- Hier brauchen wir Durchlässigkeit; denn hier gibt es Re- für, wo Menschen neue Chancen eröffnet wurden und an serven, die etwas an aggressiver wirtschaftlicher Betäti- denen aufgezeigt werden kann, wie neue Formen der Zu- gung, an neuen Ideen, an Wertschöpfung in die Gesell- sammenarbeit mehr Chancen eröffnen. schaft hineintragen, die allen zugute kommen. Der Bundeskanzler hat im März davon gesprochen, (Beifall bei der SPD) dass ein 4-Milliarden-Euro-Programm zur Einrichtung von mehr Ganztagsschulen und Ganztagsbetreuungs- Das Werben um Durchlässigkeit ist, wenn wir Dynamik möglichkeiten in Deutschland aufgelegt werden soll. Er in unsere Gesellschaft bringen wollen, ein Kredo, ein ge- hat es im März angesprochen, mittlerweile ist es Wirk- meinsames Anliegen, wie es in der Agenda 2010 vorge- lichkeit. Das ist Dynamik in der Gesellschaft, die nicht zeichnet ist. nur beschworen, sondern die praktisch wirksam wird, wenn Bund, Länder und Gemeinden an einem Strang Wenn ich positiv anspreche, dass das im Zusammen- ziehen. Diese gemeinsame Dynamik, von uns eingelei- wirken von Bund und Ländern, von Opposition und Re- tet, aber von den Ländern aufgenommen, hat zu dem er- gierung gelingt, dann will ich den Hochschulbereich folgreich verwirklichten Versprechen geführt, mehr dabei nicht ausnehmen. Auch im Hochschulbereich ha- Ganztagsbetreuungsmöglichkeiten und damit mehr ben wir seit mehreren Jahren einen positiven Prozess: ei- Chancen für Kinder, Jugendliche und Familien zu schaf- nen Anstieg der Studierendenquote auf fast 40 Prozent fen. und eine stärkere Einbeziehung von sozial nicht so star- ken Kindern und Jugendlichen aus entsprechenden Fa- (Beifall bei der SPD) milien in den Hochschulbesuch mit einer deutlichen An- hebung der Gefördertenquote. Mehr ausländische Da wir wissen, dass wir auf die Zusammenarbeit zwi- Studenten kommen zu uns und mehr deutsche Studenten schen den Verfassungsorganen, zwischen Regierung und können ins Ausland gehen. Wir haben auch mehr Stu- Opposition, zwischen Bund und Ländern angewiesen denten im technischen Bereich. Das ist eine Gemein- sind, schauen wir auch, wie sich Positionen entwickeln. schaftsleistung, an der wir weiterarbeiten können. Uns hat es gefreut, dass sich zwischen März und heute auch die CDU/CSU über Frau Dr. Böhmer mit einem Ich möchte meinen Blick auch darauf richten, dass Konzept für mehr Ganztagsschulen, für mehr Ganztags- wir uns heute in Bezug auf Steuersenkungen so lange betreuung neu positioniert hat. Gut so! Gut ist im Übri- vor allem auf der fiskalischen Ebene auseinander gesetzt 4620 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2003

Dr. Ernst Dieter Rossmann (A) haben, statt den Bürgerinnen und Bürgern, die auch feststellen: In den Unternehmen, gerade in den kleinen (C) diese Debatte verfolgen, deutlich zu machen, was wir und mittleren Unternehmen, die in der Forschung sehr uns davon erwarten. Natürlich kann man etwas erwarten; aktiv sind, gibt es deutliche Zuwächse an Arbeitsplätzen, denn die vorgezogene Steuersenkung schafft zusätzliche während dort, wo keine Forschungsaktivitäten vorhan- Chancen, zum Beispiel für die wirtschaftlichen Unter- den sind, ein besonders starker Abbau von Arbeitsplät- nehmen. 10 Milliarden Euro Steuerentlastung bedeuten zen zu verzeichnen ist. Chancen. Vielleicht schaffen wir es gemeinsam, uns alle bewegende Probleme in der Gesellschaft so zu debattie- Mittelständische Unternehmen müssen sich überle- ren, dass die Chance, die mit der Steuersenkung verbun- gen, wo sie etwas Neues schaffen können und wie sie den ist, zu einer Lösung dieser Probleme beiträgt. das Wissen aus dem Umfeld von Fachhochschulen und Universitäten im Rahmen von Transferprogrammen nut- Wir finden es gut, wenn die Industrie- und Handels- zen können. Darin liegt eine Chance. Die Steuerentlas- kammern auf breiter Ebene in den Betrieben für Lehr- tung drückt sich nicht nur in Prozentzahlen aus. Sie stellen werben. Sogar der Bundeskanzler, die Minister, hängt auch mit soliden Staatsfinanzen zusammen. Es auch auf Landesebene, und wir alle als Abgeordnete kommt aber entscheidend darauf an, ob wir wichtige Be- werben dafür. Aber man könnte doch das Argument reiche der Wirtschaft modernisieren können. bringen: Mittelständische und kleine Unternehmen, überlegt euch, ob ihr die Einstellung eines zusätzlichen Wissenschaftler müssen sich mehr auf wirtschaftli- Auszubildenden vorziehen könnt, weil auch die steuerli- chem Gebiet betätigen und die Wirtschaft muss mehr an che Entlastung vorgezogen wird. die Wissenschaft angebunden werden; die Wirtschaft muss sich sozusagen an die Wissenschaft wenden. Diese (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Bereitschaft ist im Bereich der kleinen und mittleren Un- Das ist kein kleines, sondern ein großes Segment; denn ternehmen, der unsere Volkswirtschaft im Wesentlichen die kleinen und mittleren Unternehmen sowie die Perso- trägt, zu gering ausgebildet. Wir schaffen jetzt die Rah- nengesellschaften erfahren jetzt eine deutliche Entlas- menbedingungen, dass sich dieser Prozess verstärken tung. Dieser Bereich trägt im Wesentlichen zur Wert- kann. schöpfung, zur Schaffung von Arbeitsplätzen und vor (Beifall bei der SPD) allen Dingen auch zur Schaffung von vielen Ausbil- dungsplätzen bei. Eine weitere Bemerkung. Es darf nicht untergehen, was sich in dem Zeitraum vom März dieses Jahres bis (Vorsitz: Präsident Wolfgang Thierse) heute verfestigt hat und in welchen Bereichen es Verläss- Ich möchte noch einmal an die Diskussion über die lichkeit gibt. Der Bundeskanzler hat im März angekün- (B) Handwerksordnung anknüpfen. Herr Hinsken, wir haben digt, dass die Mittel für die großen deutschen For- (D) da noch eine kleine Auseinandersetzung offen. Wir ha- schungsorganisationen um 3 Prozent steigen werden. ben doch nicht – und das mit Ihnen zusammen – das Dieses wird auch geschehen. Damit, Herr Kollege Meister-BAföG verbessert, um auf der anderen Seite den Austermann, haben wir Verlässlichkeit an einer Stelle Meisterbrief abschaffen zu wollen. Man kann doch geschaffen, die nicht nur wegen ihres Finanzumfangs, nicht glauben, dass eine Regierung die diesbezügliche sondern auch wegen der Breite der Forschung wichtig Förderung auf 90 Millionen Euro erhöht und gleichzeitig ist: die Grundlagenforschung der Max-Planck-Institute, den Meisterbrief entwerten will. die anwendungsbezogene Forschung der Fraunhofer-Ge- sellschaft und die auf nationale Ziele ausgerichtete For- (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Das kann man wirk- schung der Helmholtz-Institute. Für die Deutsche For- lich nicht glauben! Da haben Sie Recht!) schungsgemeinschaft haben Bund und Länder eine – Das ist auch nicht so. – Wir haben jetzt die Chance, Verpflichtung. Die Zusage des Bundeskanzlers, die Bun- dem Handwerk und den kleinen und mittleren Unterneh- desmittel um 3 Prozent zu erhöhen, ist auch gleichzeitig men etwas Luft zu verschaffen, damit sie langfristig qua- eine Verpflichtung für die Länder, sich kooperativ zu lifizieren können. Mit der langfristigen Qualifizierung verhalten. bereiten diese Unternehmen den Boden, um auch in Zu- Wir verstärken auch die Nachwuchsförderung. In die- kunft gute Dienstleistungen und gute Produkte anbieten sem Bereich werden schon jetzt 50 Prozent mehr Mittel zu können. eingesetzt. Wir arbeiten auch in dem Bereich der Inter- Dieses neue Denken „Fordern und Fördern“ im so- nationalisierung. Eine Delegation von Forschungspoliti- zialpolitischen Bereich muss auch im steuerpolitischen kern, die gerade in Amerika war, hat dort vielfach ge- Bereich Einzug halten; der Bundeskanzler hat heute da- hört, dass die Max-Planck-Institute und die Deutsche rüber gesprochen. Damit schafft man die Chance auf Forschungsgemeinschaft wirkungsvolle Wissenschafts- Entlastung und gibt den Unternehmen die Möglichkeit, institutionen sind. Wegen der Juniorprofessur ist es at- ihre Selbstverpflichtung einlösen zu können. Die Belas- traktiv, aus anderen Ländern nach Deutschland zu kom- tung wird geringer. Damit haben die Unternehmen bes- men und sich hier wissenschaftlich zu betätigen. Wir sere Möglichkeiten, mehr Lehrlinge einzustellen und wollen gerade in der Forschungspolitik die Gemeinsam- mehr Weiterbildung anzubieten. keit betonen. Die Unternehmen haben ferner die Möglichkeit, im Ich glaube, diese verstärkten Aktivitäten, die schon in Bereich Forschung und Entwicklung mehr zu tun, was der März-Rede des Bundeskanzlers und die auch heute für die Zukunft sehr wichtig ist. Wir können nämlich von ihm und unserem Fraktionsvorsitzenden angespro- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2003 4621

Dr. Ernst Dieter Rossmann (A) chen worden sind, sind hinsichtlich der Investitionen b) Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss) (C) und der Dynamik im Bereich dieser Zukunftsfelder gemäß § 96 der Geschäftsordnung wichtig. – Drucksache 15/1301 – Schlussbemerkung: Der Bundeskanzler hat seine Re- gierungserklärung unter das Motto „Sozialstaat erneu- Berichterstattung: ern“ gestellt: Wir wollen über die Erneuerung des Sozi- Abgeordnete Dietrich Austermann alstaats mehr Chancen für Bildung, Forschung und Walter Schöler Innovation in Bezug auf den Einzelnen, aber auch die Antje Hermenau Gesellschaft insgesamt schaffen. Unser Fraktionsvorsit- Dr. Günter Rexrodt zender drückte es so aus, dass es jeder auch für sich per- sönlich versteht: Das Saatgut muss trocken gehalten und Zu dem Gesetzentwurf liegen ein Änderungsantrag eingebracht werden. Es muss auch Zeit finden, sich zu und ein Entschließungsantrag der Fraktion der CDU/ entwickeln. Mit der Zusage, dass wir den steuerlichen CSU vor. Über den Gesetzentwurf werden wir später na- Rahmen dafür schaffen werden, dass sich das Saatgut mentlich abstimmen. bei den einzelnen Menschen und in den einzelnen Unter- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für nehmen entwickeln kann, machen wir einen guten die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. – Ich Schritt nach vorn. Diese Saat wird für uns alle gut aufge- höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen. hen. Deshalb sollten wir nicht den parteipolitischen Streit, sondern das gemeinsame Bemühen, zu Lösungen Meine Damen und Herren, zu Beginn dieses Tages- zu kommen, in den Vordergrund stellen. ordnungspunktes darf ich auf der Tribüne zwei Gäste be- grüßen, die anlässlich unserer heutigen Abstimmung Danke schön. über das Gesetz zum Beitritt der zehn bisherigen Kandi- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ datenländer zur Europäischen Union in den Deutschen DIE GRÜNEN) Bundestag gekommen sind. Es ist mir eine Freude, meinen Kollegen, den Mar- Präsident Wolfgang Thierse: schall des Sejm der Republik Polen, Herrn Marek Borowski, begrüßen zu können, dessen Land am 8. Juni Ich schließe die Aussprache. 2003 dem Beitritt zur Europäischen Union zugestimmt Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf hat. Herzlich willkommen! den Drucksachen 15/1309, 15/470, 15/1231 und 15/1221 (B) (Beifall) (D) an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist Ebenso herzlich begrüße ich Herrn Günter Verheugen, der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Mitglied der Europäischen Kommission und zuständig für Fragen der EU-Erweiterung. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 3 auf: (Beifall) Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs Die Erweiterung der Europäischen Union um zehn eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 16. April Länder wird ein weiterer wesentlicher Schritt zur Reali- 2003 über den Beitritt der Tschechischen Re- sierung der Vereinigung Europas sein. Ich bin zuver- publik, der Republik Estland, der Republik sichtlich, dass sich auch die erweiterte Europäische Zypern, der Republik Lettland, der Republik Union der gemeinsamen Verantwortung für die Schaf- Litauen, der Republik Ungarn, der Republik fung und die Sicherung des Friedens in der Welt bewusst Malta, der Republik Polen, der Republik Slo- ist und in diesem Sinne wirken wird. Nicht zuletzt auf- wenien und der Slowakischen Republik zur grund unserer eigenen Erfahrungen in Deutschland bin Europäischen Union ich davon überzeugt, dass mit dem Vollzug der Erweite- – Drucksachen 15/1100, 15/1200 – rung am 1. Mai 2004 eine Aufgabe erst richtig beginnt, die uns über die nächsten zehn oder 20 Jahre begleiten (Erste Beratung 53. Sitzung) wird: die wirkliche Gestaltung der Einheit Europas. Eine europäische Verfassung wird dabei ebenso unverzichtbar a) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- sein wie die enge Zusammenarbeit der Parlamente. ses für die Angelegenheiten der Europäischen Union (20. Ausschuss) Ich danke Ihnen, Herr Borowski, und Ihnen, Herr Ver- heugen, dass Sie es ermöglicht haben, an dieser für – Drucksache 15/1300 – Deutschland sehr wichtigen Plenardebatte teilzunehmen. Berichterstattung: (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der Abgeordnete Günter Gloser FDP) Peter Hintze Rainder Steenblock Ich eröffne die Aussprache und erteile der Kollegin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger Angelica Schwall-Düren, SPD-Fraktion, das Wort. 4622 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2003

(A) Dr. Angelica Schwall-Düren (SPD): trotz Mauer und Stacheldraht zueinander zu kommen (C) Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und die Verbindung aufrechtzuerhalten. und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Meine Damen und Herren, die Unterschiedlichkeit Der Herr Präsident hat es schon gesagt: Mit der Ratifi- der Lebensverhältnisse hat in den vergangenen Jahr- zierung der EU-Beitrittsverträge von zehn europäischen zehnten ein Übriges getan. Der Westen konnte sich in Ländern durch den Deutschen Bundestag – in einigen Freiheit und Demokratie entwickeln – auch West- Jahren werden auch Rumänien und Bulgarien zur EU ge- deutschland. Dass Frankreich den Deutschen die Hand hören – vollzieht sich ein wichtiger Schritt zur europäi- zur Versöhnung gereicht hat, hat entscheidend dazu bei- schen Wiedervereinigung. Machen wir uns die Größe getragen. Der europäische Weg wurde durch die euro- dieses Ereignisses bewusst: Wer hätte 1989 ernsthaft da- päische Integration geprägt. Diese Zusammenarbeit ran geglaubt, dass die EU nur 15 Jahre später ihre Türen brachte den Menschen in den beteiligten Staaten Stabili- für zehn überwiegend ost- und mitteleuropäische Staaten tät, Wohlstand, Freiheit und Frieden. Auch die Ziel- öffnen würde? Wohl nur wenige. setzung, zu einer politischen Zusammenarbeit zu kom- An dieser Stelle gratuliere ich zunächst den Beitritts- men, wurde nicht aus dem Auge verloren. staaten, deren Vertreter heute auf der Tribüne bei uns zu Doch die Wunde des geteilten Europa blieb: Während Gast sind, zu der großartigen Leistung, die sie auf dem die eine Hälfte des Kontinents immer mehr zusammen- Weg in die EU erbracht haben. wuchs und sich die Menschen daran gewöhnten, frei rei- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten sen und handeln zu können, erduldete man noch immer des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der langwierige Kontrollschikanen, wenn man – was selten CDU/CSU und der FDP) genug vorkam – vom goldenen Westen in den grauen Osten fuhr. Wir wussten nicht viel über unsere östlichen Die hohe Zustimmung, die der EU-Beitritt in den Bei- Nachbarn. Aber interessierten wir uns wirklich für sie? trittsreferenden zahlreicher zukünftiger Mitgliedstaaten Hatten wir es uns nicht längst in unserem satten Wohl- erfährt, ist keine Selbstverständlichkeit. Sie ist Ausdruck stand bequem gemacht und horchten wir nicht nur gele- dafür, dass die EU-Mitgliedschaft für die Menschen trotz gentlich auf, wenn sich irgendwo im Osten freiheitslie- aller Härten auf dem Weg dorthin vor allem Grund zu bende und verzweifelte Menschen gegen die aus Moskau großer Hoffnung ist. ferngesteuerte Willkürherrschaft auflehnten? Ja, die Umgekehrt fehlt aber in einem Teil unserer Gesell- Menschen dort haben sich nie mit der Unfreiheit und ih- schaft leider noch das Bewusstsein, dass es sich bei den rer Abspaltung von den gemeinsamen kulturellen Wur- Beitrittsstaaten nicht um ferne, exotische Länder han- zeln abgefunden. (B) delt, sondern dass diese Staaten unsere kulturellen, re- Ich selbst erfuhr das, als ich 1971 in der Folge der (D) ligiösen und politischen Traditionen teilen. Unsere neuen Ostpolitik Willy Brandts zum ersten Mal nach Kulturen waren über Jahrhunderte in immer neuer Weise Polen und wenige Jahre später als junge Lehrerin nach miteinander verschränkt und haben sich gegenseitig be- Prag kam. Seit dieser Zeit habe ich Freunde in Polen. fruchtet. Unsere Kinder sind im gleichen Alter. Den einen – im Wir brauchen nur nach Krakau, Riga, Prag oder Westen – standen viele Möglichkeiten offen. Die ande- Budapest zu reisen, um dies zu verstehen. In Prag wurde ren – im Osten – wuchsen in der Sehnsucht auf, die 1348 die erste Universität in Zentraleuropa gegründet. Weite und die Freiheit zu gewinnen. Der Pole Chopin verzaubert vom 19. Jahrhundert bis 1989 endlich waren die Bürgerrechtsbewegungen heute die Musikliebhaber in Europa und in der ganzen am Ziel: Die kommunistischen Regime waren am Ende. Welt. Ungarn ließ Hunderte von DDR-Bürgern ausreisen, die (Beifall der Abg. Franziska Eichstädt-Bohlig sich in die deutsche Botschaft in Budapest geflüchtet [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) hatten. Auch in Polen erfuhren die Flüchtlinge aus der DDR sehr viel Hilfe. Dafür haben wir zu danken. Die Städte der baltischen Staaten blühten dank der Hanse auf. Viele Länder, die nun der EU beitreten, haben (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ durch die Habsburger Monarchie ein gemeinsames Erbe. DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Aber die Nationalismen des 19. und des 20. Jahrhunderts trennten unsere Bevölkerungen. Die Schließlich wurden die Mauern eingerissen. Germanisierungsversuche gegenüber den Polen im spä- ten 19. Jahrhundert sind hier ein böses Beispiel. Die Un- Nun gibt uns die Vergrößerung der EU endlich wieder terdrückung und die Ermordung unserer Nachbarvölker die Chance, näher zusammenzurücken und vom vielfäl- im Osten durch Nazi-Deutschland sind der schreckliche tigen Reichtum in Kunst, Kultur, Wissenschaft und Wirt- Höhepunkt von Nationalismus und Rassenwahn. schaft erneut zu profitieren. Mit dem Beitritt der zehn neuen Länder wird es auch einen Zuwachs an Sicherheit Aber auch die Niederringung des Nationalsozialismus für alle an der EU beteiligten Länder geben. Jetzt haben brachte keineswegs die Befreiung aller europäischen wir die Chance, gemeinsam unseren Wohlstand zu si- Völker von Diktatur und Unterdrückung. Über einen chern und unsere Lebensverhältnisse auf hohem Niveau Teil Europas senkte sich der Eiserne Vorhang. Nur sel- zu stabilisieren. Denn die Vergrößerung des Binnen- ten und nur wenigen Menschen gelang es in dieser Zeit, marktes wird einen Wachstumsimpuls auslösen. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2003 4623

Dr. Angelica Schwall-Düren (A) Auch politisch wird die EU von dem Beitritt der den. Diese Notwendigkeit wird in allen alten und neuen (C) neuen Länder profitieren. Denn die bevorstehende Ver- Mitgliedstaaten gesehen. größerung um zehn Mitgliedsländer hat den Reform- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ druck in der EU stark erhöht. Schon in den vergangenen DIE GRÜNEN) Jahren war es immer schwieriger geworden, eine Ge- meinschaft von zuletzt 15 Staaten mit Instrumenten und Aber diese gemeinsame Politik entsteht nicht automa- Methoden zu managen, die ursprünglich für sechs Grün- tisch, sondern muss – und kann – erarbeitet werden. Der dungsmitglieder geschaffen worden waren. Dass die Wille dazu ist vorhanden. Bürgerinnen und Bürger sich immer mehr fragten, wer Differenzen heute festzustellen heißt nicht, eine Krise denn was in Brüssel entscheidet, weist auf die fehlende zu konstatieren, sondern bedeutet zu allererst, die Nor- Transparenz des Institutionengefüges hin und wirft malität der europäischen Vielfalt zur Kenntnis zu neh- gleichzeitig die Frage nach der demokratischen Legiti- men. Dabei gibt es nicht die Trennung zwischen „altem“ mation auf. und „neuem“ Europa – um an dieser Stelle die Zuschrei- So brachte die Entscheidung in Nizza, bis 2004 zehn bung von Donald Rumsfeld zu zitieren. Der Konvents- weitere Länder in die EU aufzunehmen, gleichzeitig den prozess hat nämlich deutlich gemacht, das es keine Fron- Beschluss, in einer Regierungskonferenz eine grundle- ten zwischen Alt- und Neumitgliedern gibt, wie auch gende Reform zu verabschieden. Die deutschen Sozial- nicht zwischen großen und kleinen Staaten. Nein, wir demokraten haben einen gewichtigen Anteil daran, dass alle stehen gemeinsam vor großen Herausforderungen. diese Reform durch einen Konvent vorbereitet wurde, in Die erweiterte Europäische Union wird entsprechend ih- dem europäische und nationale Abgeordnete eine bedeu- rer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit ihr politisches tende Rolle spielten. Vor wenigen Tagen hat der Euro- Gewicht stärken müssen. Diese EU wird in der Lage päische Rat in Thessaloniki den Verfassungsentwurf sein, für ihre Bürgerinnen und Bürger mehr soziale Ge- als Grundlage für seine Entscheidung in der Regierungs- rechtigkeit, mehr innere und äußere Sicherheit zu ge- konferenz entgegengenommen. währleisten. Diese EU wird als attraktives Gesell- schaftsmodell auf andere Regionen ausstrahlen. Meine Damen und Herren, auch wenn nicht alle Wün- Ich bin deshalb ganz sicher, dass die große Mehrheit sche an eine europäische Verfassung erfüllt werden der Kolleginnen und Kollegen in diesem Bundestag, konnten, so ist es doch ein großer Erfolg, dass die über alle Parteigrenzen hinweg, mit uns für die Ratifizie- Rechte des Parlaments gestärkt sind, dass mit einem rung des Beitrittsvertrages stimmen wird. europäischen Außenminister die Voraussetzung dafür geschaffen wurde, dass die EU ihre Gemeinsame Außen- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (B) und Sicherheitspolitik weiterentwickeln kann, und dass des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (D) die Grundrechtecharta in die Verfassung integriert ist. Europa kommt heute seiner Wiedervereinigung ein gro- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ ßes Stück näher – ein schöner Grund zum Feiern. DIE GRÜNEN) Herzlichen Dank. An dieser Arbeit haben die Vertreter der zukünftigen (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Beitrittsländer gleichberechtigt mitgewirkt. Sie werden DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der diese Rolle auch in der Regierungskonferenz haben. Für CDU/CSU und der FDP) mich ist dies ein Beleg dafür, dass wir gemeinsam den Weg in eine politische Union gehen können. Präsident Wolfgang Thierse: Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, nach dem glückli- Ich erteile dem Kollegen Wolfgang Schäuble, CDU/ chen Abschluss der Beitrittsverhandlungen im Dezem- CSU-Fraktion, das Wort. ber in Kopenhagen mussten wir allerdings erschrocken (Beifall bei der CDU/CSU) erkennen, dass sich die Europäer in der Frage gespalten zeigten, wie mit der Irakkrise umzugehen sei. Gemein- sam mit Großbritannien und Spanien unterstützten ins- Dr. Wolfgang Schäuble (CDU/CSU): besondere unsere zukünftigen EU-Mitglieder die Posi- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die tion der Vereinigten Staaten, im Irak militärisch zu CDU/CSU-Bundestagsfraktion stimmt dem Gesetz zur intervenieren. Diese Situation warf die Frage auf, ob die Ratifizierung des Beitrittsvertrags zu. Wie wir in unse- GASP in der EU schon zu Ende war, bevor sie über- rem Entschließungsantrag formulieren, eröffnet sich mit haupt richtig in die Wege geleitet worden war. Es wurde der Osterweiterung der Europäischen Union nach den diskutiert, ob die politische Union mit den Neumitglie- bitteren Erfahrungen vor allem in der ersten Hälfte des dern in weite Ferne rückte, ob sich die Union demnach 20. Jahrhunderts die historische Chance, Frieden, Frei- auf einen gemeinsamen Markt reduzieren würde. heit und Sicherheit in ganz Europa nachhaltig zu stär- ken. Die Einigung Europas ist das wertvollste Erbe der Ich bin ganz anderer Meinung. Gerade die divergie- zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Dabei ist klar: Die renden Positionen in der Irakfrage haben mit aller Dring- neuen Mitglieder in der Europäischen Union werden lichkeit deutlich gemacht, dass wir eine Gemeinsame nicht erst jetzt Europäer, sie sind es immer gewesen. Außen- und Sicherheitspolitik brauchen. Die zarten Keime dieser Zusammenarbeit, wie sie sich in Mazedo- (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, dem BÜND- nien zeigten, müssen unbedingt weiterentwickelt wer- NIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP) 4624 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2003

Dr. Wolfgang Schäuble (A) Europa erweitert sich nicht, sondern Europa überwindet verschweigen. Aber ich bin mir ganz sicher: Auf mittlere (C) seine Teilung. Der Prozess ist übrigens noch nicht zu Sicht bedeutet ein größerer einheitlicher Wirtschafts- Ende. Auch Sofia, Bukarest, Zagreb oder Belgrad sind raum mit mehr Dynamik Wachstumschancen für alle. schließlich Europa. Die Erweiterung der Europäischen Union ist eben kein Nullsummenspiel, in dem die einen verlieren müssen, Weil in der Literatur, im Bundesrat und in den Frakti- was die anderen gewinnen sollen, sondern alle werden onen dieses Hauses unterschiedliche Auffassungen dazu Vorteile haben. vertreten werden, ob das Ratifizierungsgesetz eine Ver- fassungsänderung darstellt oder nicht, schlagen wir mit Das gilt übrigens ganz besonders für die Gebiete in einem Änderungsantrag vor, zur Sicherheit die formalen der Nachbarschaft der neuen Mitgliedstaaten, also für Voraussetzungen der Art. 23 und 79 des Grundgesetzes die Grenzregionen. Ich habe eben von der deutsch-fran- zu wahren. zösischen Grenzregion gesprochen. Das gilt genauso für die Grenzregion der im Osten gelegenen Bundesländer. Die Europäische Union als Rechts- und Wertegemein- Ich füge hinzu: Diese Regionen sollten in der Zukunft, schaft bietet auch die Chance, Wunden der Vergangen- nach dem Beitritt unserer Nachbarn, vor allem die heit zu heilen. Das Fortbestehen von Dekreten, die als Chance grenzüberschreitender regionaler Zusammenar- Rechtfertigung für Tötungen, Vertreibungen und Ent- beit verstärkt nutzen. rechtungen gedient haben, verträgt sich damit nicht. Wir alle profitieren aber nicht nur wirtschaftlich, son- (Beifall bei der CDU/CSU) dern auch politisch; denn wir sind schließlich von den Wir begrüßen die jüngsten Erklärungen der tschechi- Entwicklungen in allen Teilen der Welt betroffen, viel schen Regierung vom 19. und 29. Juni und wir fordern stärker als früher, positiv und negativ. Das nennt man die Bundesregierung in unserem Entschließungsantrag üblicherweise Globalisierung. Ich bin mir ganz sicher, auf, entsprechend der Aufforderung des Europäischen dass wir als Europäer gemeinsam mehr erreichen und Parlaments schon aus dem Jahre 1999 mit der Tschechi- bewirken können. In dem Maße, in dem die europäische schen Republik über die Aufhebung dieser Dekrete zu Einigung gelingt, ist sie übrigens auch ein Modell, eine verhandeln. Vision der Hoffnung für andere Teile der Welt. Jahrhun- dertelange Streitigkeiten, Kriege und Spaltungen hinter Verehrte Kolleginnen und Kollegen, welch großartige sich zu lassen – das muss man sich vorstellen –, kul- Entwicklung die europäische Einigung gerade angesichts turelle und nationale Identitäten und Verschiedenartig- der Lasten der Vergangenheit nimmt, habe ich persönlich keiten zu wahren und zugleich zu gemeinsamem Han- am vergangenen Samstag wieder einmal empfunden. deln fähig zu sein, Einheit und Vielfalt richtig Beim Appell anlässlich der Beförderung der Offiziersan- (B) auszutarieren – je besser uns das in Europa gelingen (D) wärter der 10. Heeresdivision war auch ein Ehrenzug der wird, umso mehr kann das auch für andere Regionen in deutsch-französischen Brigade angetreten. Deshalb unserer krisengeschüttelten Welt ein Modell sein. wurde am Ende dieses Appells nicht nur die deutsche, sondern auch die französische Nationalhymne gespielt. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie Man muss sich das vorstellen: die Marseillaise im Rastat- bei Abgeordneten der SPD) ter Schloss anlässlich der Beförderung deutscher Solda- Viele in dieser Welt schauen deshalb voller Interesse und ten zu Offizieren. Wer etwas von der deutsch-französi- voller Hoffnung auf diesen europäischen Einigungspro- schen Geschichte oder auch vom Schicksal unserer zess. badischen Grenzlandschaft weiß, der kann in einem sol- chen Augenblick nicht unberührt bleiben. Wenn wir die globale Rolle, die globalen Interessen und die globale Verantwortung Europas richtig beden- Ein einiges Europa ist die beste Chance für uns, nicht ken, dann wird auch klar – auch das muss am heutigen nur die Wunden der Vergangenheit zu heilen, sondern Tag gesagt werden –, dass europäische Einigung und at- auch unseren Interessen und unserer Verantwortung in lantische Partnerschaft keine Alternativen darstellen, dieser komplizierten Welt am Beginn des 21. Jahrhun- sondern zusammengehören und wie zwei Seiten dersel- derts gerecht zu werden. Aber damit Europa diese Auf- ben Medaille untrennbar sind. gabe erfüllen kann, muss es die erste Bewährungsprobe bestehen und seine Teilung überwinden. Auch deshalb (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Klaus Rose liegt die Erweiterung der Europäischen Union nicht nur [CDU/CSU]: Das ist völlig klar!) im Interesse der künftigen Mitglieder, sondern genauso in unserer aller Interesse und vor allem im Interesse Nach dem Ersten Weltkrieg – daran muss man angesichts Deutschlands, das schließlich in der Mitte Europas gele- der Debatte der zurückliegenden Monate erinnern – sind gen ist. Ansätze zur europäischen Einigung auch deshalb ge- scheitert, weil sich Amerika zu schnell aus Europa zu- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- rückgezogen hatte. Dass nach dem Zweiten Weltkrieg neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN die europäische Einigung so glücklich gelungen ist und und der FDP) wir heute an diesem Punkt stehen, hat ganz wesentlich mit amerikanischem Engagement in Europa zu tun. Das gilt auch für die Wirtschaft. Angesichts ganz un- terschiedlicher wirtschaftlicher Verhältnisse und Struk- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- turen wird es in diesem Bereich natürlich Übergangs- neten der FDP – Zuruf von der CDU/CSU: schwierigkeiten geben; das sollten wir auch heute nicht Genau so ist es!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2003 4625

Dr. Wolfgang Schäuble (A) Wer Europa gegen Amerika einen wollte, der wird sagt. Wir haben einen entscheidenden Beitrag dazu ge- (C) Europa am Ende nur spalten. Das war in den letzten Mo- leistet, dass die Italiener bei den Gründungsmitgliedern naten zu besichtigen. der Europäischen Währungsunion gewesen sind, weil sie die notwendigen Reformen in ihrem Lande zustande ge- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- bracht haben, an denen diese Bundesregierung scheitert, neten der FDP) wie wir bei der Diskussion heute Vormittag feststellen Ich will das heute nicht vertiefen. Aber unabhängig konnten. Auch das ist die Wahrheit. von der Frage, wer in der Irak-Debatte welchen Fehler (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zu- gemacht hat – Fehler sind nicht nur auf einer Seite ge- ruf des Bundesministers Joseph Fischer – Gert macht worden –, musste uns doch alle erschrecken, Weisskirchen [Wiesloch] [SPD]: Sie lesen welch schwere Spaltung quasi über Nacht in Europa rückwärts anders!) wieder eingetreten ist und wie sehr unsere östlichen Nachbarn und künftigen Mitglieder der Europäischen – Ich weiß doch, was ich damals geschrieben habe. Sie Union, vor allem die Polen, betroffen waren, weil sie haben es damals nicht gelesen und jetzt wollen Sie es plötzlich die Sorge haben mussten, sie würden vor eine verfälschen und es in falscher Form in Anspruch neh- Wahl zwischen Europäischer Union und atlantischer Si- men. cherheit gestellt werden. Frau Kollegin Schwall-Düren (Unruhe bei der SPD) und ich waren mit dem polnischen Außenminister zu- sammen und mussten ihm sagen, sein Land brauche sich Lassen Sie mich noch etwas sagen, wenn ich schon als künftiges Mitglied der Europäischen Union nicht da- bei dieser Intellektuellendebatte bin. Fast noch span- für zu entschuldigen, dass es mit Amerika freundschaft- nender zu sein scheint mir, dass ein Mann wie Jürgen liche Beziehungen unterhält. So weit haben wir es ge- Habermas, der so oft für Verfassungspatriotismus plä- bracht, meine Damen und Herren. Wir sollten schnell diert hat, jetzt ein Gefühl der politischen Zusammen- daraus lernen. gehörigkeit für Europa voraussetzt. (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Klaus Rose (Gert Weisskirchen [Wiesloch] [SPD]: Wieso [CDU/CSU]: Sehr gut!) „jetzt“? Das war schon immer so!) Ich finde es gut, dass jetzt auch Intellektuelle – wer – Weil das etwas anderes ist als Verfassungspatriotis- immer Intellektueller sei; das definieren die ja selbst und mus. – Darauf will er eine europäische Identität gründen. üblicherweise gehört man dann, wenn man anderer Mei- In seinem zusammen mit Jacques Derrida veröffentlich- nung ist als sie, nicht dazu – eine Debatte über die politi- ten Aufruf fragt er – ich zitiere ihn –: (B) sche Verantwortung Europas angestoßen haben. Es geht (D) aber nicht, verehrte Kolleginnen und Kollegen, in dieser Gibt es historische Erfahrungen, Traditionen und Diskussion diejenigen außen vor halten zu wollen, die in Errungenschaften, die für europäische Bürger das einer konkreten Frage anderer Meinung sind. Karl Bewusstsein eines gemeinsam erlittenen und ge- Lamers und ich haben – darauf lege ich schon Wert – in meinsam zu gestaltenden politischen Schicksals der politischen Debatte wohl eine Art Copyright für den stiften? Begriff Kerneuropa. Deswegen sage ich im Sinne Das ist die Grundlage für nationale wie für europäische authentischer Interpretation: Kerneuropa war für uns Zugehörigkeit und Identität, und das ist eben sehr viel eben gerade nicht ein Element der Spaltung, mehr als Verfassungspatriotismus. (Widerspruch des Bundesministers Joseph (Widerspruch bei Abgeordneten der SPD) Fischer) Geteilte Erinnerungen und Gefühle stiften ein solches – nein, sondern es war und muss bleiben ein Element dy- Verständnis von Zugehörigkeit und Identität. namischer Führung für ganz Europa. Genau das, Herr Fischer, haben Sie falsch gemacht. Ich meine, dass der Austausch zwischen Osten und Westen in Europa in seiner langen Geschichte ganz we- (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. sentlich dazugehört. Unser Kollege Arnold Vaatz Sabine Leutheusser-Schnarrenberger [FDP] – schreibt in der Vorbemerkung zu einer von ihm noch Peter Hintze [CDU/CSU]: Genau! – Joseph nicht veröffentlichten, aber hoffentlich irgendwann zu Fischer, Bundesminister: Das war nicht veröffentlichenden „Geschichte Mitteldeutschlands“ falsch!) über die politische Dynamik der Geschichte, die aus dem – Ich weiß doch, was wir damals geschrieben haben. Spannungsfeld zwischen Osten und Westen im Laufe der Jahrhunderte immer wieder entstanden ist. (Zuruf von der SPD: Wir wissen es auch! – Joseph Fischer, Bundesminister: Die Italiener (Gert Weisskirchen [Wiesloch] [SPD]: Wo ist wollten die raus haben!) denn dann der Osten Deutschlands?) – Auch das stimmt nicht. Das gilt nicht nur für Deutschland, sondern für ganz Europa. Das müssen wir jetzt fruchtbar gestalten. Dann (Joseph Fischer, Bundesminister: Doch!) wird das für uns alle in Europa von Nutzen sein. Da fragen Sie mal den italienischen Staatspräsidenten, (Beifall bei der CDU/CSU – Gert der damals Schatzminister war. Der hat genau das ge- Weisskirchen [Wiesloch] [SPD]: Wo ist denn 4626 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2003

Dr. Wolfgang Schäuble (A) dann der Osten Deutschlands? Da wird jetzt cen in dieser Zeit so aufregender Veränderungen in der (C) aber einiges konfus!) Welt klar zu werden. – Verehrter Herr Weisskirchen, damit drehen Sie auf De- Auch in diesem Sinne wird der Beitrag unserer neuen batten zurück, die wir vor mehr als zehn Jahren geführt Mitglieder in der Europäischen Union dringend ge- haben. Wollen Sie den Begriff Mitteldeutschland wirk- braucht. lich aus der deutschen Sprache streichen? Ich glaube, Sie (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) haben nicht alle Tassen im Schrank. Das tut mir wirklich Leid. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: (Beifall bei der CDU/CSU – Unruhe bei der Das Wort hat jetzt der Herr Außenminister Joschka SPD) Fischer. Dass wir über die deutsche Einigung im Jahre 2003 an- lässlich des anstehenden Beitritts von Polen und anderer Joseph Fischer, Bundesminister des Auswärtigen: Länder zur Europäischen Union noch streiten müssen, ist wirklich steinerweichend. Wir sind uns doch darüber Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir be- im Klaren, dass wir im Zuge der europäischen Einigung raten heute abschließend über die Erweiterung der Euro- über Grenzen nicht mehr streiten, sondern dass wir päischen Union. Die Vorrednerin und der Vorredner Grenzen durch die europäische Einigung überwinden. haben zu Recht darauf hingewiesen: Bei dieser Erweite- Deswegen ist es doch ein Freudentag, wenn zehn unserer rungsrunde um zehn neue Mitgliedstaaten handelt es Nachbarn im Osten der Europäischen Union beitreten sich nicht nur um die größte Erweiterung; allein auf- wollen. grund dessen würde sie das Prädikat „historisch“ schon verdienen. Zugleich gehören überwiegend Nachbarstaa- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- ten dazu, die bisher jenseits des Eisernen Vorhanges zu neten der FDP) leben hatten. Das heißt, neben der größten Erweiterung ist es zugleich ein Überschreiten des ehemaligen Eiser- Deswegen müssen wir aber unsere Sprache und unsere nen Vorhangs, weswegen man, wie es Kollege Schäuble Begriffe doch nicht ändern. getan hat, durchaus sagen kann, dass es der entschei- Ich würde gerne noch einen weiteren Gesichtspunkt dende Schritt zur Wiedervereinigung Europas ist. ansprechen. Der Beitritt der künftigen EU-Mitglieder Deswegen freue ich mich ganz besonders, dass das muss auch unsere Nachbarschaft im Osten stärker in un- Haus insgesamt Zustimmung signalisiert hat. Lassen Sie ser Blickfeld rücken. Auch hier muss sich Europa be- es mich so sagen: Die neuen Mitgliedstaaten sind uns als (B) währen und auch hier liegen für alle Europäer große gleichberechtigte Mitglieder der erweiterten Union recht (D) Chancen. herzlich willkommen. Ich will einige Worte zu Russland sagen. Russland ist (Beifall im ganzen Hause) zum Teil Europa und es ist zugleich auch eine Weltmacht. Übrigens belegt auch die Beziehung zu Russland wieder, Die Gleichheit der Mitgliedstaaten ist eines der ganz dass die europäische Einigung und die atlantische Part- entscheidenden Prinzipien. Dass dieses Prinzip der nerschaft zusammengehören; die Polen wissen das. Ich Gleichheit gilt, haben wir bereits im Konvent gezeigt. glaube, die deutsch-russische Zusammenarbeit ist mit Obwohl die neuen Mitgliedsländer noch nicht formal Amerika für Polen sehr viel weniger mit Sorgen verbun- beigetreten waren, arbeiteten wir dort als Gleichberech- den denn als Alternative zur atlantischen Partnerschaft. tigte zusammen. Das hat auch der Europäische Rat in Für Europa allein ist Russland zu groß. Deshalb bietet die Thessaloniki gezeigt, wo die Staats- und Regierungs- euro-atlantische Gemeinschaft auch für Russland die bes- chefs und die Außenminister der 25 bereits gemeinsam sere Perspektive für eine dauerhafte Zusammenarbeit. gearbeitet haben. (Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer) (Zuruf des Abg. Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]) Im Übrigen zeigt jeder Blick auf die aktuelle Agenda der – Bitte? Weltpolitik, wie sehr wir auf einen gestaltenden Beitrag (Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Warum ist die Europas, auf eine enge atlantische Partnerschaft und auf Türkei im Konvent noch nicht dabei?) eine fruchtbare Zusammenarbeit mit Russland angewie- sen sind. – Ich gebe zu, es war ein Fehler, dass ich „Bitte“ gesagt habe. Die guten Ansätze, die sich in den letzten Wochen etwa im Quartett für den Fahrplan zum Frieden im Na- (Beifall der Abg. Krista Sager [BÜNDNIS 90/ hen Osten oder auch bei den Treffen in Petersburg und DIE GRÜNEN]) Evian gezeigt haben, müssen genutzt und weiterentwi- Wenn ich über die größte Erweiterungsrunde rede, dann ckelt werden. Auch deshalb ist der Beitritt der zehn versteht der Abgeordnete Müller, München, CSU, nur neuen Mitglieder zur Europäischen Union nicht nur ein Türkei. Dies ist eine spezifische Form der Übersetzung historisches Ereignis, indem nach bitterer Vergangenheit von Ihnen. Wenn ich aber schon dabei bin – – ein neues und hoffnungsvolles Kapitel in der Geschichte aufgeschlagen wird. Dieser Beitritt muss für uns auch (Michael Glos [CDU/CSU]: „Müller aus Mün- Anstoß sein, uns über unsere Verantwortung und Chan- chen“ nehmen Sie sofort zurück!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2003 4627

Bundesminister Joseph Fischer (A) – Auf Geheiß Ihres Landesgruppenvorsitzenden nehme Nichts wäre uns lieber, als dass die Nachkommen der (C) ich es sofort zurück. Sudetendeutschen – inzwischen handelt es sich über- wiegend um die zweite und dritte Generation; dies gilt (Michael Glos [CDU/CSU]: Aus Schwaben! auch für alle anderen Heimatvertriebenen – und die Ver- Sie bringen alles durcheinander!) antwortlichen in der Tschechischen Republik wie auch Wir werden Ihrem Antrag auf eine Zweidrittelmehr- die Gesellschaften miteinander in einen Dialog kommen. heit nicht zustimmen. Dieser Dialog soll nicht mehr durch Konfrontation, son- dern durch ein Aufeinander-Zugehen und Aufeinander- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Zudenken geprägt sein. Deswegen wird alles, was uns in und bei der SPD) eine ultimative Verhandlungssituation in Bezug auf die Es ist doch völlig klar, was damit intendiert ist. Obwohl Aufhebung der Benes-Dekrete bringen soll, das Gegen- es gar nicht notwendig ist, wollen Sie damit die Mög- teil von dem bewirken, was gegenwärtig gemacht wird. lichkeit erhalten, bei kommenden Erweiterungsrunden Das werden wir nicht mitmachen. der Union mit einer Minderheit Beschlüsse zu blockie- ren. Deswegen lehnen wir diesen Antrag als gute und Wir wollen diesen offenen Prozess des Aufeinander- überzeugte Europäer ab. Zugehens fördern. Ich wünsche mir, dass sich der Geist, den Ministerpräsident Spidla in seiner jüngsten Rede ge- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zeigt hat, in einem Antrag niederschlägt. Dann würde ich und bei der SPD) Zustimmung empfehlen. Aber diesen kann ich in Ihrem Der Kollege Schäuble wollte eine intellektuelle De- Antrag nicht finden. Darin kommt vielmehr sehr stark batte führen. Das finde ich gut und richtig; ich werde der bayerische Landtagswahlkampf zum Vorschein. Des- gleich darauf eingehen. Aber Herr Schäuble ist mit eini- halb werden wir dem Antrag nicht zustimmen. gen knappen Bemerkungen sehr schnell über den zwei- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ten Entschließungsantrag hinweggegangen. Ich verstehe auch, warum. Dort wird nämlich erneut auf das deutsch- und bei der SPD) tschechische Verhältnis eingegangen. Ich kann Ihnen Jenseits dessen ist es wichtig, dass wir über die Zu- nur sagen: Für uns gilt die unter Bundeskanzler Helmut kunft des erweiterten Europas diskutieren. Ich stimme Kohl und unter Beteiligung vieler Kolleginnen und Kol- Kollege Schäuble ausdrücklich zu: Es ist faszinierend, zu legen aus der Opposition und auch der Frau Vizepräsi- sehen, was dieses Europa, das angeblich bewegungsun- dentin mühselig erarbeitete Deutsch-Tschechische Er- fähig ist, seit der Zeitenwende von 1989 geleistet hat. Die klärung. europäische Einigungsidee ist schon lange vorher gebo- Das Verhältnis ist schon schwierig genug. Auf der ei- ren worden und ist damit wesentlich älter. Sie ist eine (B) nen Seite bestreitet niemand die Verantwortung unseres Antwort auf das Europa der Schlachtfelder des 19. und (D) Landes für die Verbrechen des Nationalsozialismus. Das 20. Jahrhunderts. Sie bedeutet eine Überwindung der gehört konstitutiv zur Identität des demokratischen Konfrontation der europäischen Nationalstaaten im Deutschlands. Aber auf der anderen Seite muss auch das Staatensystem, indem die Interessen, beginnend mit den erlittene Unrecht und das Leiden derer, die vertrieben ökonomischen Zielen, zusammengefügt wurden. wurden und ebenfalls ein großes Opfer zu bringen hat- ten, betont werden. Auf dieser gemeinsamen Grundlage Dahinter stand aber auch die Überwindung der politi- und gründend auf der historischen Verantwortung unse- schen Teilung, der Grenzen. Aus der Sicht der 50er- res Landes für die Verbrechen des Nationalsozialismus Jahre sollten eines späteren und ferneren Tages Teile der wurde damals die Deutsch-Tschechische Erklärung for- Souveränität, soweit es notwendig war, ohne dass die muliert, die wir nach wie vor für die Basis der Entwick- europäischen Nationen deswegen ihr Gesicht, ihre Iden- lung unserer Beziehungen halten. tität, ihre Geschichte, ihre Sprache und ihre Eigenheiten verlieren, zusammengefügt werden. Dieses Europa wird (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN nie ein kontinentaler homogener Staat werden. Dies und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der steht nicht nur im Widerspruch zur Geschichte der euro- FDP) päischen Staaten, sondern – das ist viel älter – zur Ge- In diesem Zusammenhang begrüßen wir die jüngste schichte der europäischen Völker. Die Deutschen, die Rede von Ministerpräsident Spidla, die sehr mutig und Franzosen und die Polen gab es schon lange, bevor es couragiert war. Nationalstaaten in diesem Sinne gab. Diese sind in der Geschichte eine kurzzeitige Erscheinung. (Beifall beim BÜNDIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Die Europäische Union, diese Einigungsidee, ist die Ich möchte auch die sehr positiven Reaktionen von Spre- Antwort auf das Europa der nationalen und nationalisti- chern der sudetendeutschen Landsmannschaft hervorhe- schen Konfrontationen. Das ist das Eigentliche. Wir ben. mussten in den 90er-Jahren beim Auseinanderbrechen Jugoslawiens die Schattenseite der europäischen Vielfalt (Dr. Klaus Rose [CDU/CSU]: Das zeigt, dass erkennen. es weitergeht!) Ich meine – das habe ich Jürgen Habermas in einem – Richtig. Aber Ihr Antrag ist eher rückwärts gewandt. privaten Gespräch gesagt –, dass wir weiter sind als bei (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- der damaligen Debatte über Kerneuropa. Diese Vorstel- SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD) lung ist im Übrigen nicht richtig. Ich kann mich an die 4628 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2003

Bundesminister Joseph Fischer (A) Debatte erinnern. Die Idee von Kerneuropa ist im Zu- vor allem Ihr Petitum – wird in der Verfassung verankert (C) sammenhang mit dem Vertrag von Maastricht und der und die Wächterrolle der nationalen Parlamente wird Einführung des Euro aufgekommen. Sie stand im Zu- festgeschrieben. Sie muss nur noch genutzt werden. sammenhang mit der Angst, vor allem mit der CSU ein Es ist aber auch klar, dass wir die Europäische Union Problem zu bekommen, wenn auch Italien der demokratischer machen müssen. Ich erinnere an den beitritt. gestrigen Vorfall im Europäischen Parlament. Ich hoffe, Schon damals habe ich euch als Oppositionspolitiker dass das in einem Gespräch zwischen dem Bundeskanz- entgegengehalten, dass diese Debatte weder dem deut- ler und Ministerpräsident Berlusconi unmissverständlich schen noch dem bayerischen Interesse dient. Wer sich richtig gestellt wird und die Angelegenheit mit einer die Wirtschaftsbeziehungen zwischen Norditalien und Entschuldigung abgeschlossen wird. Der gestrige Tag Bayern anschaut, der wird das wissen. Es geht vor allen macht auch die Bedeutung Europas und des Europäi- Dingen nicht, dass wir ein Land, das zum Kern der euro- schen Parlaments klarer. Wir werden bei den Wahlen er- päischen Integration gehört, beim Euro außen vor lassen. leben, dass das erweiterte Europa eine größere Bedeu- Das war der entscheidende Punkt. Das war das Spal- tung bekommt. tungselement. Für mich war es eine Erfahrung, als ich mit dem pol- Ich kritisiere das nicht unter dem Gesichtspunkt, dass nischen Staatspräsidenten und meinem Kollegen, dem an der Kerneuropadebatte nicht viel Konstruktives ge- polnischen Außenminister, in der Nähe von Oppeln im wesen wäre. Aber sich heute als der große europäische Kampf für das Referendum zum ersten Mal in Polen „Integrator“ hinzustellen, das unter den Tisch fallen zu aufgetreten bin. Das war sozusagen ein Wahlkampf, um lassen und die Bundesregierung wegen der Entwicklung für das Ja zu Europa zu werben. Das zeigt, wie sich im Zusammenhang mit dem Irak zu kritisieren zeugt da- Europa politisiert und demokratisiert und wie Grenzen von, dass man die Geschichte nicht so wahrnimmt, wie überschritten werden. Wir haben die Erfahrung inner- sie tatsächlich gewesen ist. deutsch gemacht und machen sie jetzt auf gesamteuro- päischer Ebene mit Ländern, die bis vor kurzem durch (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Mauer und Stacheldraht von uns getrennt waren, heute und bei der SPD) aber mit uns verbunden sind. Das ist wahrhaft eine histo- Ich bin der Meinung, dass eine „Lokomotive“, die nur rische Entwicklung. aus wenigen Mitgliedstaaten der Europäischen Union (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN besteht, nur die zweitbeste Lösung ist. Schauen Sie doch und bei der SPD) die Realität an. Es war manchmal sinnvoll, Regelungen nur für einige Mitgliedstaaten der Europäischen Union Der Prozess wird Geduld und ein Aufeinander-Zuge- (B) vorzusehen. Das Schengener Abkommen war eine wich- hen erfordern. Die alten Mitgliedstaaten haben über (D) tige Initiative. Heute ist dieses Abkommen für die meis- Jahrzehnte im wahrsten Sinne des Wortes Europa „ge- ten Mitgliedstaaten Vertragsbestandteil. Das heißt, der lernt“ und die Bevölkerungen sind langsam in die Euro- innere Freiraum von Recht und Justiz wird mehr und päische Union hineingewachsen. mehr Realität. Wir haben im deutsch-deutschen Einigungsprozess Dabei ist es wichtig, dass die Europäische Grund- erlebt, dass vieles, was sich im Westen über Jahrzehnte rechte-Charta jetzt in die Verfassung kommt. Wenn hinweg langsam entwickelt hat, von den Menschen in europäische Institutionen im Zusammenhang mit der Ostdeutschland quasi über Nacht übernommen werden Kriminalitätsbekämpfung Eingriffe in die Grundrechte musste. Dasselbe gilt im europäischen Einigungsprozess der Bürgerinnen und Bürger vornehmen, dann gebietet für die Menschen in den Beitrittsländern. Dabei bedarf es einer der Grundsätze der Demokratie, dass auch die es Verständnisses und Sensibilität füreinander und auch Grundrechte, das heißt der Schutz der Bürgerinnen und – wie wir Deutsche im deutsch-deutschen Einigungspro- Bürger gegenüber quasistaatlichem Handeln, gesichert zess gelernt haben – Geduld. Aber letztendlich ist es ein werden. Genau das wird mit der Aufnahme der Grund- großer Erfolg. rechte-Charta in die Verfassung gewährleistet. Dieses Europa wird auch in der Außenpolitik seinen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eigenen Weg finden müssen. Es nützt nichts, wenn wir und bei der SPD) jedes Mal dasselbe wiederholen. Ohne die USA hätte es keinen europäischen Einigungsprozess gegeben. Ge- Darüber hinaus ist diese Verfassung die Konsequenz rade wir Deutsche wissen: Wenn die USA in einem sich der Erweiterung. Was wurde uns alles in Sonntagsreden vereinigenden Europa gewisse Befürchtungen, Ängste entgegengehalten, wenn wir gesagt haben, dass wir die und meinetwegen auch Vorurteile ausbalancieren, dann Erweiterung für historisch unausweichlich halten, dass liegt das auch in unserem Interesse. Aber gleichzeitig diese Erweiterung dann allerdings einer Neugestaltung müssen wir erkennen, dass der europäische Pfeiler der der europäischen Institutionen bedarf, um die erweiterte transatlantischen Brücke ohne ein stärkeres Europa lang- Union handlungsfähiger zu machen, weil sie zugleich sam mürbe werden würde. Das heißt, nicht „weniger größer und per definitionem mit 450 Millionen Bürge- Amerika“, sondern „mehr Europa“ ist die Aufgabe, die rinnen und Bürgern und 25 und mehr Mitgliedstaaten wir gemeinsam zu lösen haben. unübersichtlicher und noch weniger verstehbar wird! (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Die Europäische Union muss für die Menschen trans- und bei der SPD – Dr. Friedbert Pflüger parenter werden. Das Subsidiaritätsprinzip – das war [CDU/CSU]: Natürlich!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2003 4629

Bundesminister Joseph Fischer (A) – Nach Ihrer Methode wird das nicht funktionieren, Herr tion der deutschen und der französischen Regierung auf (C) Pflüger. Im transatlantischen Bündnis müssen Sie auch die polnische Kritik in einer bestimmten Frage Stellung kritikfähig bleiben, wenn Sie anderer Meinung sind. Das nehmen? ist der entscheidende Punkt. (Dr. Angelica Schwall-Düren [SPD]: Die deut- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sche aber nicht!) und bei der SPD – Dr. Friedbert Pflüger [CDU/CSU]: Natürlich, das hat auch nie je- Joseph Fischer, Bundesminister des Auswärtigen: mand bestritten!) Herr Kollege Schäuble, bei der Beantwortung dieser Sie sind dabei im wahrsten Sinne des Wortes kein Maß- Frage würde ich gerne differenzieren. Das wissen Sie stab für mich, Herr Kollege Pflüger. auch. (Dr. Friedbert Pflüger [CDU/CSU]: Das gilt (Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Dann umgekehrt auch!) sagen Sie es!) Denn was Sie unter einer kritischen Meinung verstehen, – Ich will es Ihnen gerne erläutern. – Ich habe damals ist mir, ehrlich gesagt, ein Rätsel. ausgeführt, dass ich von einer bestimmten Sprache oder (Dr. Friedbert Pflüger [CDU/CSU]: Ja?) auch Art des Umgangs mit Partnern – wen auch immer das betreffen mag – nichts halte. Ich bin vielmehr der – Hören Sie doch auf! Es ist doch so: Von einer be- Meinung, dass wir aufeinander zugehen und auch das stimmten Stelle erfolgt eine Ansage und dann gibt Fried- notwendige Verständnis für kritische Positionen – auch bert Pflüger Laut. Sie wissen so gut wie ich, dass das die wenn es in der Familie einmal etwas konfrontativer zu- Realität ist. geht, was in Familien gerade in Sachfragen immer mög- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN lich ist – aufbringen müssen und dass dies immer auf sowie bei Abgeordneten der SPD) Augenhöhe und von Gleich zu Gleich zu geschehen hat. Das war und ist die Haltung der Bundesregierung und Ihre Position wird von der überwiegenden Mehrheit Ih- das wird auch so bleiben. rer Kollegen nicht geteilt; sie sehen es vielmehr genauso kritisch wie ich. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) (Widerspruch bei der CDU/CSU) Ich habe hinzugefügt, dass dies von unseren Erfah- Es gab zwischen uns einen Dissens beim Thema Irak. rungen im deutschen Vereinigungsprozess geprägt ist. (B) Ich betone ausdrücklich: Das war nicht nur eine Frage Seien wir doch dankbar dafür, (D) der Spaltung – die wir alle bedauert haben –, sondern es war eine Herausforderung für uns alle, wie wir uns auf (Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Dass die Men- die neuen Gefahren einstellen sollen. Ich meine, dass es schen schnell vergessen!) für die beiden Positionen eine große Chance bedeutet, dass wir einen gemeinsamen Erfahrungsvorlauf haben, wenn sie aufeinander zugehen. Aufeinander zugehen den wir auf europäischer Ebene einbringen können. Des- heißt aber nicht, dass sozusagen die eine Seite die Segel wegen möchte ich noch einmal allen, aber besonders un- streicht und gegenüber der anderen Seite klein beigibt. seren polnischen und tschechischen Nachbarn zurufen: Was wir in der Europäischen Union mit dem neuen Seien Sie uns herzlich willkommen! strategischen Papier erreicht haben, zeigt die Richtung, Vielen Dank. die wir einschlagen müssen. Angesichts der Herausfor- derungen und Probleme, vor denen wir gerade im erwei- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN terten Nahen Osten stehen, halte ich das für dringend ge- und bei der SPD) boten. Voraussetzung dafür ist aber ein Europa, das handlungsfähig und sich einig ist. Das wird unter Demo- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: kraten nie ohne Streit zustande kommen. Herr Pflüger, mir ist eine Kurzintervention des Abge- ordneten Hintze angekündigt worden. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Gestatten Sie, dass der Kollege Schäuble eine Frage Dr. Friedbert Pflüger (CDU/CSU): stellt? Ich habe nicht gesehen, dass sich auch der Kollege Joseph Fischer, Bundesminister des Auswärtigen: Hintze zu einer Kurzintervention gemeldet hat. Bitte. (Joseph Fischer, Bundesminister: Irgendwie haben Sie mit Ihren Kurzinterventionen immer Dr. Wolfgang Schäuble (CDU/CSU): Pech!) Herr Bundesminister, könnten Sie nach Ihren Ausfüh- rungen über die Bereitschaft zur Kritik – die wohl auch Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: die Bereitschaft, Kritik zu ertragen, einschließt; aber da- Gut, dann erteile ich Ihnen als Erstem das Wort zu rauf wollte ich nicht hinaus – noch zu der Art der Reak- einer Kurzintervention. Bitte, Herr Pflüger. 4630 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2003

(A) Dr. Friedbert Pflüger (CDU/CSU): tritte schaffen, und das nur, weil wir in unserem Ände- (C) Frau Präsidentin! Herr Bundesaußenminister Fischer rungsantrag auf die verfassungsmäßigen Grundlagen hat sich eben zu der Art und Weise geäußert, wie wir mit dieser Entscheidung hinweisen. Herr Bundesaußenmi- unseren Freunden in Amerika umgehen. Ich möchte sehr nister, es geht darum, in einer wichtigen Schicksalsfrage deutlich sagen, dass ich unterschiedliche Meinungen in- Europas ein Präjudiz zulasten der Rechte des Deutschen nerhalb der Allianz für das Normalste auf der Welt halte. Bundestages zu verhindern. Wir alle sind der Ansicht, dass es in einem Bündnis (Beifall bei der CDU/CSU) freier Länder richtig und notwendig ist, auch Meinungs- unterschiede auszutragen. Tun Sie doch nicht so, Herr Deswegen treten wir aufgrund unserer verfassungsmäßi- Bundesminister, als ob dies der Streitpunkt in den letzten gen Überzeugung dafür ein, dass Art. 23 in Verbindung sechs Monaten gewesen wäre! Das ist er nie gewesen. mit Art. 79 des Grundgesetzes die rechtliche Grundlage Der Streitpunkt ist vielmehr die Art und Weise gewesen, für Erweiterungen der EU ist. wie die Bundesregierung ihre Position vorgetragen hat, wie Amerika beschimpft worden ist – bis hin zu Verglei- Als überzeugte Europäer – das möchte ich aus politi- chen von Bush mit Cäsar und Hitler – und wie den Ame- scher Sicht hinzufügen – treten wir dafür ein, die Euro- rikanern Abenteurertum unterstellt worden ist. Diese Art päische Union stets so zu erweitern, dass jede Erweite- und Weise sowie die Tatsache, dass es über Monate hin- rungsrunde ein politischer und kultureller Gewinn für weg keinen Kontakt zwischen der Bundesregierung und Europa ist. Die jetzige Erweiterung ist ein solcher Ge- der Führung in Washington gegeben hat, haben wir winn. Wir werden ihr zustimmen. Das haben wir im kritisiert. Europaausschuss bereits einstimmig getan. Aber wir wollen uns bei jeder neuen Erweiterungsrunde das kriti- Herr Bundesminister, Sie haben davon gesprochen, sche Urteil darüber vorbehalten, ob das, was Sie uns vor- dass Sie mehr Europa haben wollen. Es ist richtig, dass schlagen, Europa tatsächlich gut tut. Das lassen wir uns wir mehr Europa brauchen. Aber das Problem ist, dass von niemandem nehmen. Das ist übrigens – damit gehe Europa in den letzten sechs Monaten schwächer und un- ich auf eine andere Bemerkung ein – kein Sonderanlie- einiger geworden ist und dass es gespalten gewesen ist. gen der CSU, sondern die gemeinsame Überzeugung Diese Politik, die Sie zu verantworten haben, führt in die von CDU und CSU. Irre. Meinungsunterschiede sind in Ordnung. Aber sie müssen auf vernünftige Art und Weise ausgetragen wer- (Beifall bei der CDU/CSU) den. Vor allen Dingen sollte man miteinander und nicht Als Letztes möchte ich darauf hinweisen, dass Sie übereinander und auch nicht auf den Marktplätzen re- sich zu meiner positiven Überraschung über die inakzep- den. Darum ist es uns in den letzten Wochen gegangen. (B) table Aussage, die der italienische Ministerpräsident im (D) (Beifall bei der CDU/CSU) Europäischen Parlament gestern getätigt hat, maßvoll geäußert haben. Allerdings habe ich heute Morgen mit Verwunderung zur Kenntnis genommen, dass der Bun- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: deskanzler von diesem Pult aus mit großer Geste eine öf- Herr Abgeordneter Hintze, möchten Sie noch eine fentliche Rüge erteilte. Kurzintervention machen? – Das ist der Fall. Herr Mi- nister, Sie können dann auf die beiden Kurzinterventio- (Widerspruch der Abg. Katrin Dagmar Göring- nen erwidern. Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Bitte, Herr Hintze. – Moment, fangen Sie nicht an zu schreien!

Peter Hintze (CDU/CSU): Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Der Bundesaußenminister hat eben so viel unerfreuli- Herr Kollege Hintze, Sie dürfen jetzt keinen Debat- chen Diskussionsstoff geliefert, dass man darauf einge- tenbeitrag mit mehreren Punkten leisten. Die Redezeit hen muss. von drei Minuten ist abgelaufen. (Widerspruch bei der SPD) Peter Hintze (CDU/CSU): – Doch, das ist wichtig. – Ich finde es bedauerlich, dass Ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin. die Regierung versucht, ihren Frust über die Probleme im deutsch-amerikanischen Verhältnis am außenpoli- Ich hätte mir gewünscht, dass der Herr Bundeskanzler tischen Sprecher der CDU/CSU-Fraktion abzureagie- von diesem Pult aus eine öffentliche Rüge ausgespro- ren. So können Sie Ihre Fehler nicht wieder gutmachen. chen hätte, nachdem seine eigene Justizministerin in ähnlicher Weise entgleist war. (Beifall bei der CDU/CSU) Danke schön. Der Grund meiner Kurzintervention ist aber ein ande- rer. Der Bundesaußenminister hat der Opposition mit (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- mächtiger Stimme vorgeworfen, sie wolle anlässlich des neten der FDP – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] Beitritts der zehn Staaten aus Mittel- und Osteuropa so- [SPD]: Es ist doch blanker Unsinn, das zu ver- wie dem Mittelmeerraum ein Präjudiz für weitere Bei- gleichen!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2003 4631

(A) Joseph Fischer, Bundesminister des Auswärtigen: er halte das im Interesse der deutsch-italienischen (C) Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Beziehungen für eine Selbstverständlichkeit. Kollege Hintze hat sich in diesem Debattenbeitrag ein Jeder von uns hat sich schon einmal vergaloppiert, weiteres Mal als großer Realist – um nicht zu sagen: als meinetwegen auch böse. Wenn Sie hier schon Vergleiche großer Realo – gezeigt. ziehen: Ich kann mich an den Gorbatschow-Vergleich er- (Heiterkeit bei Abgeordneten des BÜNDNIS- innern, der völlig daneben war. Später haben sich die SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD) beiden Herren zum Nutzen aller sehr gut verstanden. Dieser Vergleich war genauso daneben. In einer Biogra- Herr Hintze, Sie gehen nämlich davon aus, dass Sie wei- fie wurde er, wenn ich mich richtig entsinne, im Nach- tere Beitrittsrunden – sie werden in den Jahren bis 2010 hinein als Fehler qualifiziert. Niemand, der sich für und danach stattfinden – von der Oppositionsbank aus einen Fehler entschuldigt, bricht sich einen Zacken aus begleiten. der Krone. Wo Menschen sind, da passieren Fehler, manchmal auch schlimme. Das kann man mit einem of- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN fenen Wort geraderücken, indem man sich entschuldigt. und bei der SPD) Das hat der Bundeskanzler gesagt. Dem stimme ich voll Da pflichte ich Ihnen ausdrücklich bei. zu. Das hat mit Anprangern oder Ähnlichem überhaupt nichts zu tun. Kollege Hintze, ich pflichte Ihnen allerdings nicht bei, was die juristischen Begründungen angeht. Die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Pflicht der Opposition ist sowohl heute als auch in Zu- und bei der SPD) kunft – – Auch etwas anderes, was Kollege Pflüger behauptet (Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Das ist Arro- hat, lasse ich so einfach nicht stehen. ganz!) Erstens. Dass es zwischen den Führungen monatelang – Das hat mit Arroganz überhaupt nichts zu tun. Ich greife keinen Kontakt gegeben hat, ist – das wissen Sie auch – lediglich das auf, was Kollege Hintze gerade gesagt hat. schlechterdings Unfug. Ich stand in permanentem Kon- Wenn er meint, dass wir die Erweiterungsrunde im Jahr takt mit meinem Kollegen. Sie können natürlich sagen: 2007 noch in dieser Rollenverteilung begleiten, dann Der Außenminister, der Secretary of State, der Innenmi- stimme ich ihm zu. Ich werde versuchen, alles dazu bei- nister und andere gehören nicht zur Führung. Das mag zutragen, dass diese Rollenverteilung aufrechterhalten Ihre Perspektive sein. Ich teile sie nicht. bleibt. Zweitens. Wir hatten einen Streit darüber, ob militä- (B) Ich würde Ihr Recht, zu bewerten, ob Sie zustimmen rische Mittel angemessen sind. So etwas kommt zwi- (D) können oder nicht, niemals negieren. Im Gegenteil: Das schen Demokratien vor. Das wissen Sie so gut wie ich. ist nicht nur Ihr Recht, sondern auch Ihre Pflicht. Dass Dieser Streit wurde ausgetragen. Ich bin froh, dass wir Sie allerdings schon jetzt sozusagen in Umkehrung der ihn hinter uns haben. Verfassungsrealitäten andere Spielregeln wollen, um am Schließlich, Kollege Pflüger, lassen Sie mich zu Ihrer Ende über eine Blockademinderheit zu verfügen, das Behauptung, die Bundesregierung führe uns in die Irre, wird nicht funktionieren können, Kollege Hintze. Folgendes sagen: Darüber, wer hier wen in die Irre führt, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN müssen und werden Sie gegenwärtig in der CDU disku- und bei der SPD) tieren. Darüber sind wir nicht traurig. Im Übrigen möchte ich mich nicht am Kollegen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Pflüger abreagieren. Meine Meinung ist seit meinem Er- und bei der SPD) lebnis auf der letzten Münchener Sicherheitskonferenz unverändert. Die Höflichkeit gebietet es, das hier so dar- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: zustellen, wie es in Wirklichkeit ist. Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Sabine (Dr. Friedbert Pflüger [CDU/CSU]: Das hat Leutheusser-Schnarrenberger. Sie schwer getroffen!) Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP): – Das hat mich überhaupt nicht getroffen. Mich haben amerikanische Kollegen, aber auch bedeutende Reprä- Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol- sentanten der NATO gefragt, ob das bei uns so üblich legen! Damit bei Ihnen, meine Herren aus Polen, die Sie sei. Darauf habe ich geantwortet: Leider ja. Mich abzu- heute hier in dieser ganz wichtigen Debatte zuhören, reagieren, habe ich gar nicht nötig. keine Irritationen entstehen, möchte ich eines ganz deut- lich machen: Die FDP-Fraktion ist die Fraktion im Deut- Ich möchte auf Ihren letzten Punkt, Kollege Pflüger, schen Bundestag, die nie einen Zweifel daran gelassen zu sprechen kommen. Ich teile ausdrücklich die Mei- hat, dass sie diesen Beitrittsprozess, und zwar beginnend nung des Bundeskanzlers, dass die Äußerungen von Mi- mit dem ersten Beitritt zur Europäischen Union, immer nisterpräsident Berlusconi inakzeptabel sind und über wollte und immer zielstrebig verfolgt hat. Was für viele eine Entschuldigung aus der Welt geschafft werden müs- sehr lange eine Vision war, wird heute Realität – dank li- sen. Übrigens hat Herr Fini, der stellvertretende Minis- beraler Außenminister. Die FDP hat auch nie einen terpräsident Italiens, das genauso gesehen. Er hat gesagt, Zweifel daran gelassen, dass der Vertrag über den 4632 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2003

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (A) Beitritt in diesem Haus wie ein ganz normaler Ratifizie- italienischen Ministerpräsidenten als Ratspräsident im (C) rungsvertrag mit einfacher Mehrheit ratifiziert wird. Europäischen Parlament gestern völlig missglückt ist. Wir sind in Kontinuität mit der Regierungspolitik der Gerade jetzt, in dieser Phase, braucht die Europäische früheren CDU/CSU-FDP-Koalition. Union einen Ratspräsidenten, der überzeugt und den europäischen Verfassungsprozess weiter voranbringt, (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der integriert und nicht mit seinen Ausfällen im Europäi- der SPD) schen Parlament Misstrauen sät. Alles andere birgt die 1994, als es um den Beitritt dreier Länder ging, haben Gefahr in sich, dass die Ratspräsidentschaft mit diesen wir genau dieselbe Position wie heute vertreten. In die- Belastungen nicht zu dem Erfolg kommt, den wir von sem Punkt gehören wir eindeutig zur Minderheit in die- diesem Prozess erwarten. sem Haus; denn da hat es jetzt bei CDU/CSU und SPD die Rochaden gegeben. Anscheinend spielt auch bei der (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Bewertung juristischer Fragen eine nicht unwesentliche der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE Rolle, in welcher Verantwortung man in diesem Hause GRÜNEN) ist. Wir haben an unserer Position nie Zweifel aufkom- Das Allermindeste ist doch, dass sich der italienische men lassen und haben diese Position klar, eindeutig, Ministerpräsident dafür entschuldigt, damit diese Aus- nachvollziehbar und so vertreten, dass keine Irritationen einandersetzung nicht die Beratungen in den kommen- entstehen. den Monaten und insbesondere die Regierungskonfe- (Beifall bei der FDP) renz, die im Herbst beginnt, überlagert. Wir von der FDP-Fraktion begrüßen herzlich die Bür- Wir Liberale begrüßen ausdrücklich, dass es jetzt gerinnen und Bürger der Beitrittsstaaten, nicht nur die einen ersten Entwurf einer europäischen Verfassung aus Polen, sondern die aus allen zehn Ländern, die am gibt. Er stellt in vielen Bereichen die Weichen richtig 1. Mai 2004 zur Europäischen Union gehören werden. und gibt Antworten darauf, wie mit den Herausforderun- Natürlich gilt das uneingeschränkt auch für die gen im Rahmen der Erweiterung umzugehen ist. Für uns Tschechische Republik. Wir sind froh darüber, dass die sind beide Prozesse – Erweiterung und Vergrößerung so- Tschechische Republik zur Europäischen Union gehören wie Vertiefung der Europäischen Union – unabdingbar wird – gerade mit Blick auf die deutsche Vergangenheit miteinander verbunden. Wir erwarten aber auch, dass und das Unrecht, das vielen Menschen, Deutschen und auf den noch verbleibenden Konventssitzungen über ent- Tschechen, widerfahren ist. Gerade deshalb ist es ein scheidende Punkte und noch mögliche Verbesserungen entscheidender historischer Schritt. verhandelt wird. In den letzten Beratungsrunden zum dritten Teil geht es nicht nur um technische Fragen, son- (Beifall bei der FDP und der SPD) (B) dern auch darum, in der Ausgestaltung wichtiger Kom- (D) Das Bekenntnis der tschechischen Bevölkerung zum petenzfragen klare Regelungen und nicht solche, die EU-Beitritt, die Erklärung des tschechischen Parlaments nachher zulasten der Mitgliedstaaten ausgelegt werden und des tschechischen Ministerpräsidenten Spidla sind können, zu treffen. eindeutig ein Schritt hin zu einem neuen Kapitel auch in den Beziehungen der beiden Staaten Bundesrepublik Deshalb wollen wir, dass die Kompetenzen etwa be- Deutschland und Tschechische Republik. Ich bin davon züglich der Daseinsvorsorge nicht verlagert werden, dass überzeugt, dass gerade in der Unionsmitgliedschaft von die Binnenmarktkompetenz eingeschränkt wird sowie in Deutschland und Tschechien eine hervorragende Grund- der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik über lage dafür liegt, auch immer noch offene und zu debat- qualifizierte Mehrheiten der Europäischen Union bes- tierende Fragen in gegenseitigem Einvernehmen zu lö- sere Handlungsmöglichkeiten gegeben werden. Dieser sen. Aber belasten wir diese gemeinsame Zukunft bitte Versuch muss jetzt in den Beratungen, aber möglicher- nicht mit Versprechungen und Entschließungen! weise auch noch, ohne dass das ganze Paket aufge- schnürt wird, in den Beratungen der Regierungskonfe- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten renz unternommen werden. der SPD) Dass wir in der Europäischen Union eine offene De- Jetzt steht die Europäische Union vor der Herausfor- batte über die Konzeption ihrer Außenpolitik brauchen, derung, die Erweiterung auch tatsächlich zu vollziehen, ist ja unstreitig. Das hat ja auch die Diskussion heute die Chancen zu nutzen und die Risiken, die natürlich Morgen zum Ausdruck gebracht. Wir als FDP wollen ein ebenfalls vorhanden sind, zu minimieren. Wirtschaftli- selbstbewusstes und starkes Europa, das sich nicht allein che Kooperation, besonders in grenzüberschreitenden aus einer schlichten Abgrenzung zu den Vereinigten Regionen, Ausbildungs- und Bildungsoffensiven sowie Staaten von Amerika bzw. einer schlichten Unterwer- grenzüberschreitende Verkehrsmaßnahmen haben natür- fung unter amerikanische Vorstellungen definiert, son- lich hohe Priorität. Aber gerade der italienischen Rats- dern das seine eigene Außen- und Sicherheitspolitik in präsidentschaft kommt in dieser für die Europäische Partnerschaft zu unseren amerikanischen Freunden defi- Union, für ihre Integration und für ihren Weiterentwick- niert und dadurch Vertrauen aufbaut. Hierfür müssen lungsprozess wichtigen Zeit eine ganz herausragende Mechanismen geschaffen und Verfahrensabläufe festge- Bedeutung zu. Gerade jetzt, in dieser Stunde, muss das legt werden, Vertrauen der neuen Mitgliedstaaten gewonnen werden und muss gegenseitiges Verständnis gestärkt werden, um (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten auf dieser Grundlage Interessengegensätze zu überwin- der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE den. Deshalb ist besorgniserregend, dass das Debüt des GRÜNEN) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2003 4633

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (A) damit nach strittigen Diskussionen über wichtige Einzel- des Ostens niemals verloren geht, die Geschichte des (C) fragen ein gemeinsames Handeln der Europäischen europäischen Judentums, das in Europa eine Klammer Union möglich wird, und zwar ohne dass es durch Irrita- bedeutet hat um den Westen, den Osten und die Mitte tionen, die nach wie vor nach der emotionalen Auseinan- Europas und das Deutschland damals zerstört hat. Er dersetzung der letzten Monate um den Irakkrieg beste- sagt: Seitdem ist das Wort „Holocaust“ in den Namen hen, überlagert wird. meines Landes eingebrannt auf alle Zeit. Wir also haben klare Vorstellungen von einem starken Oder Jan Józef Lipski aus Polen. Er lebt nicht mehr. handlungsfähigen Europa. Die vielen Kulturen und Tra- Wie würde er sich freuen, wenn er diesen Tag, den ditionen sind eine Bereicherung für uns. Wir Liberale 1. Mai 2004, erleben könnte, er, der den demokratischen sind froh, dass wir wirklich für uns in Anspruch nehmen Sozialismus damals als PPS-Vorsitzender – so nannte dürfen, entscheidende Weichenstellungen für die heute man das – im Exil am Leben gehalten hat, nach Polen anstehenden Entscheidungen mit vorgenommen zu ha- zurückgebracht hat, sich der Solidarnosc und zuvor der ben. Menschenrechtsbewegung angeschlossen hat. Vielen Dank. Was für Menschen, was für Männer und Frauen! Sie gehören jetzt zu uns. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Häufig wird gesagt, die Europäische Union erweitere Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Gert sich nach Osten. Nein. Jiri Grusa hat es richtig erkannt Weisskirchen. und beschreibt als Lyriker und Diplomat sensibel und analytisch genau, worauf die meisten hoffen und worü- Gert Weisskirchen (Wiesloch) (SPD): ber der Deutsche Bundestag heute entscheiden wird: Der Westen verlängert sich. Alle hinzukommenden Mitglie- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! der wollen Teil des Westens sein. Freiheit und Gerech- Prag vor über 20 Jahren, die Charta 77 gerade wenige tigkeit, Demokratie und Solidarität – in der EU haben sie Jahre alt. Anglicka 8, nahe am Wenzelsplatz – Milan ihren Platz, fest und unverrückbar. Jetzt gilt es, das, was Horacek, der auf der Tribüne sitzt, kennt es –: Anna sich die Länder mit der Sehnsucht nach Freiheit er- Sabatova und Petr Uhl wohnen hier, streng bewacht; kämpft haben, was sie sich erstritten haben, in der Euro- sie leise und eindringlich, er blickt mich verschmitzt aus päischen Union zu sichern. Wir und alle anderen Mit- den Augenwinkeln an und zitiert Konrad György: Wir (B) glieder der Europäischen Union sind dazu bereit, euch (D) leben im unglücklichen Teil Europas, uns geht es um die den Platz zu geben, gemeinsam mit uns die Zukunft der Freiheit, uns geht es darum, dass wir als Europäer die Europäischen Union zu gestalten! gleichen Rechte wie ihr als Europäer habt. Auch unser Teil Europas will glücklich werden. – Das haben sie da- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ mals zu mir gesagt. DIE GRÜNEN) (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Das bleibt, wenn auch manchmal der eine oder andere BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Punkt ärgerlich ist, wenn auch mit der Brüsseler Techno- kratie gerungen werden muss – Günter, du verzeihst, Um die Freiheit geht es. Prag liegt westlich von Wien. dass ich das so sage –: Die Europäische Union ist der Istvan Szent-Ivanyi aus Budapest zeigt mir im glei- Rahmen, in dem diese Freiheit, Gerechtigkeit und Soli- chen Jahr, wie die Dissidenz miteinander ringt, um Soli- darität ihren festen Platz gewinnen. Das ist ein ungeheu- darität und wieder um Freiheit debattiert. Er sagt: Das ist rer qualitativer Sprung in der Geschichte Europas. Das, unser Wollen, unser Ziel – Freiheit, so wie bei euch im was jahrhundertelang unsere eigene Geschichte geprägt Westen Europas. Heute ist er liberaler Vorsitzender des hat, der unendliche schreckliche Strom der Gewalt, der Europaausschusses. Er hat gezeigt, was Solidarität in durch die Zeiten gegangen ist, ist gestoppt. Zeiten der Diktatur heißt. Kollege Pflüger, an diesem Punkt kann es doch keine Oder Marju Lauristin, die große estnische Sozialde- Frage sein, dass die USA zu Beginn der Wächter gewe- mokratin. Wer einmal in Tallin war, war vielleicht auch sen ist, der uns diese Freiheit gesichert hat. Das wissen vor dem Parlament und hat auf die wunderbare Altstadt wir doch. Nur mit den USA kann es gelingen, die Frei- und das weite baltische Meer geblickt. Marju Lauristin heit in der ganzen Welt zu sichern und mitzuhelfen, dass hat, die Büste ihres Vaters zeigend, gesagt – das war alle Menschen, die es wollen, eine Chance auf Freiheit Mitte der 80er-Jahre –: Er hat Estland in die Diktatur ge- bekommen. In diesem Punkt gibt es keine Meinungsver- bracht, ich, Marju Lauristin, will das, was mein Vater ge- schiedenheiten mit den USA. tan hat, rückgängig machen; ich will, dass Estland Mit- glied der Familie der europäischen Demokratien wird. – Es wäre merkwürdig, wenn gerade die Sozialdemo- Ich war erstaunt, überrascht, erfreut. kratie, die in den 20er-Jahren die einzige Partei in Deutschland gewesen ist, die die innere Verbindung zwi- Oder Emmanuelis Zingeris, ehemals Mitglied des schen den USA und Europa aufrechterhalten hat, diese Parlaments in Vilnius, heute als Mitglied der jüdischen Gemeinsamkeit aufkündigen würde. Wir haben 1925 die Gemeinde in Vilnius dafür sorgend, dass das Jerusalem Forderung nach Schaffung der Vereinigten Staaten von 4634 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2003

Gert Weisskirchen (Wiesloch) (A) Europa in unser Programm geschrieben. Wenn in Europa Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: (C) das, was die Sozialdemokratie 1925, also ein paar Jahre Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Hans-Peter Uhl. vor der Hitler-Diktatur, gefordert hat, durchgesetzt wor- den wäre, dann hätten wir diesem Kontinent und der (Beifall bei der CDU/CSU) ganzen Menschheit viel Leid und Schrecken ersparen können. Dr. Hans-Peter Uhl (CDU/CSU): (Beifall bei der SPD) Frau Präsidentin! Meine verehrten Kolleginnen und Herr Kollege Schäuble, ich nehme gerne das auf, wo- Kollegen! Mit dem 1. Mai 2004 werden zehn neue Mit- von Sie gesprochen haben: Worin besteht das innere gliedstaaten aus Osteuropa sowie Malta und Zypern der Band, das uns verbindet? Wir Deutsche bringen in die Europäischen Union beitreten. Die CDU/CSU begrüßt Europäische Union die Erfahrung ein, dass man in die die Erweiterung der Europäischen Union. Barbarei und in die Diktatur abstürzen kann. Die Länder, (Beifall bei der CDU/CSU – Peter Dreßen die jetzt dazukommen, bringen die Erfahrung mit, dass [SPD]: Hört! Hört!) diejenigen, die die Freiheit wollen, die Diktatur überwin- den können. Diese beiden Grundgedanken werden die Der Osten Europas hat über vier Jahrzehnte lang unter Klammer sein, die die Europäer in Ost und West mit- der Sowjetherrschaft gelitten. Jetzt muss endlich poli- einander verbindet. Die Sehnsucht nach Freiheit sowie tisch stabilisiert werden, was zu uns, nach Europa, heim- der Kampf gegen die Diktatur und die Unterdrückung geholt wird. Nach einem von Krieg und Spaltung ge- sind das innere Band, das die Europäer im Osten und im prägten Jahrhundert können die Völker Europas in Westen miteinander verbindet. Das ist der Schatz der Frieden, Freiheit, Sicherheit und Wohlstand zusammen- historischen Erfahrung und die gemeinsame Grundlage leben. Die Osterweiterung – hier hat Ministerpräsident für das neue Europa. Teufel mit seiner Formulierung Recht – ist deshalb vor allem eine Stärkung der europäischen Friedensordnung. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Sie ist auch eine politische, wirtschaftliche und kultu- DIE GRÜNEN sowie der Abg. Sabine relle Notwendigkeit, zu der es überhaupt keine vernünf- Leutheusser-Schnarrenberger [FDP]) tige Alternative geben kann. Es gibt noch eine zweite gemeinsame Erfahrung; ich Mit dieser Erweiterung sind aber – das wissen auch bitte alle, sich diesen qualitativen Sprung vor Augen zu Europaeuphoriker – viele Herausforderungen und vor al- führen. In Art. 1 unserer Verfassung steht: „Die Würde lem viele Verteilungskämpfe verbunden. Bei der Ost- des Menschen ist unantastbar.“ Das ist die Grundlage für erweiterung handelt es sich um die größte Erweiterung (B) die Schaffung einer gemeinsamen europäischen Unions- in der Geschichte der EU; sie hat ganz erhebliche Aus- (D) bürgerschaft. Ja, die Zeit der klassischen nationalstaatli- wirkungen auf die deutschen Hoheitsrechte. Deshalb chen Souveränität, die an das Territorium und die, wie fordern wir, die CDU/CSU-Fraktion, dass der Beitritts- Carl Schmitt es gesagt hat, an den Nomos der Erde ge- vertrag gemäß Art. 79 Grundgesetz im Bundestag und bunden war, ist glücklicherweise vorbei. Aber wir müs- im Bundesrat mit Zweidrittelmehrheit ratifiziert wird. sen eine neue Souveränität erarbeiten. Jürgen Habermas hat Recht: Diese neue Souveränität ist die des postnatio- (Beifall bei der CDU/CSU) nalen Denkens, wodurch die alten Krankheiten des Kontinents, nämlich der Nationalismus, überwunden Bereits durch die Ausweitung der qualifizierten werden. Mehrheitsentscheidungen im Vertrag von Nizza hat Deutschland Hoheitsrechte auf die EU übertragen. Diese Mehrheitsentscheidungen werden jetzt im Beitrittsver- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: trag rechtsverbindlich festgeschrieben und in einigen Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen. Teilen sogar noch geändert. Schon um mögliche Verfah- rensfehler bei diesem historischen Schritt der Osterwei- terung, den wir alle wollen, zu vermeiden, gilt: Was bei Gert Weisskirchen (Wiesloch) (SPD): der Nizza-Abstimmung einer Zweidrittelmehrheit be- Ja, ich komme zum Schluss. durfte, muss auch jetzt mit einer Zweidrittelmehrheit be- schlossen werden. Dies ist der Inhalt unseres Ände- Paul Valéry hat einmal gefragt, was aus diesem rungsantrags. Europa einmal werden wird; es sei doch eigentlich ein kleines Vorgebirge des asiatischen Kontinents. Nein, die- (Beifall bei der CDU/CSU) ses Europa ist, was es wird. Die Menschen wollen, dass dieses Europa ein Entwurf für die Zukunft und ein Labo- Eine unserer größten Herausforderungen liegt im Zu- ratorium der Moderne wird. Damit können wir ein neues sammenwachsen Europas, in der Schaffung einer ge- universales Zusammenleben entwickeln, das etwas an- meinsamen europäischen Identität. Wie schwierig das deres ist als Globalisierung. Zusammenwachsen von lange Getrenntem ist, wissen wir Deutsche aus eigener Erfahrung am allerbesten. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Nahe liegt deswegen die besorgte Frage: Wie soll sich DIE GRÜNEN – Dr. Peter Ramsauer [CDU/ ein Europa, das sich schon mit 15 Mitgliedern oft nicht CSU]: Was heißt das im Klartext? So ein einigen konnte, mit 25 Mitgliedern verständigen kön- Blödsinn!) nen? Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2003 4635

Dr. Hans-Peter Uhl (A) Vor allem beim Treffen von Nizza wurde das Wieder- Frage zu lösen. Wir hätten in den Beitrittsverhandlun- (C) erstarken nationaler Interessen offenkundig. gen gute Chancen dafür gehabt. (Günter Gloser [SPD]: Nizza liegt doch hinter Aber es war Bundeskanzler Schröder, der bereits uns!) 1999 gegenüber dem tschechischen Ministerpräsidenten gesagt hat – ich zitiere – Herr Weisskirchen, mit fortschreitendem Alter müssten Sie auch als glühender Anhänger von Habermas Folgen- (Gert Weisskirchen [Wiesloch] [SPD]: Die hat des erkennen: Die Menschen identifizieren sich zualler- schon Herr Kohl abgeschlossen!) erst mit ihrer Heimat und ihrer Nation. Auch wenn es Ih- „dass wir Deutsche uns nicht mehr mit der Vergangen- nen Leid tun sollte, so wird es bleiben. heit belasten wollen und wir deshalb diese Fragen als ab- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – geschlossen betrachten“. Originalton Schröder! Gert Weisskirchen [Wiesloch] [SPD]: Das ist (Gert Weisskirchen [Wiesloch] [SPD]: Das doch kein Gegensatz!) war doch unter Herrn Kohl!) Deshalb werden die Nationen und die Regionen auch in Heute erzählt uns Außenminister Fischer, dass diese Zukunft stets die zentralen Elemente einer europäischen Frage ein – wörtlich – „offener Prozess des Aufeinander- Identität bleiben. zugehens“ sei. (Beifall bei der CDU/CSU) (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Was ist Wir Deutsche wollten das lange Zeit nicht wahrha- denn das für eine abstruse Wahrheit?) ben; Sie wollen es noch heute nicht wahrhaben. Wir sa- Was gilt jetzt? Ist dies eine von Schröder abgeschlossene hen die europäische Integration als bequemen Ausweg Frage oder ein offener Prozess? aus unserer deutschen Identitätskrise. Die Bundesrepu- blik wurde von manchen – Sie haben es kurioserweise (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) heute wiederholt – als „postnationales“ Gebilde empfun- den. So sagte es Habermas wörtlich; so hat es Herr Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Weisskirchen heute wiederholt. Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des (Dr. Hans-Peter Friedrich [Hof] [CDU/CSU]: Abgeordneten Meckel? Unglaublich!) Psychologen würden dies als eine Ersatzhandlung be- Dr. Hans-Peter Uhl (CDU/CSU): (B) zeichnen. Ich möchte jetzt zum Schluss kommen. (D) Aber es war auch Besserwisserei im Spiel: Die Ur- (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ sache hierfür liegt im 19. Jahrhundert, als wir Deutsche DIE GRÜNEN]: Das ist auch besser!) – Deutschland als verspätete Nation – die Letzten waren, Mit dieser Aussage hat Bundeskanzler Schröder in die zum Nationalstaat fanden. Nun wollten wir endlich Wahrheit die Interessen unserer Vertriebenen verraten. einmal die Ersten sein, die in Europa ankommen. Diese deutsche Besserwisserei ist hier incidenter im Spiel. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Jetzt wundern sich manche Deutsche, warum die euro- Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ päischen Nachbarn an diesem deutschen Wesen nicht ge- DIE GRÜNEN]: Ach! Unglaublich! Was ist nesen wollten und uns nicht folgen wollen. das denn?) (Günter Gloser [SPD]: Wo haben Sie das her?) – Herr Fischer, warum brüllen Sie denn so dazwischen? Spätestens jetzt, nach der Wiedervereinigung, muss (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ der Bezug zur eigenen Vergangenheit geklärt werden. DIE GRÜNEN]: Weil Sie so einen Unfug er- Gerade für uns Deutsche heißt dies: Die Reduzierung der zählen!) eigenen Geschichte auf die NS-Zeit reicht für eine ge- Ich habe Ihnen doch gerade einen Widerspruch aufge- sunde nationale Identität nicht aus. Eine solche Identi- zeigt. Sie sagen, es sei ein offener Prozess, und Schröder tät braucht auch positive Erinnerungen. Bei allem kol- sagt, es sei ein abgeschlossener Prozess. lektiven Schuldbewusstsein muss es auch ein natürliches nationales Selbstbewusstsein der Deutschen geben. (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Sie werfen Bundeskanzler (Beifall bei der CDU/CSU) Schröder vor, er habe die Interessen der Ver- Nur durch einen ehrlichen Umgang mit der deutschen triebenen verletzt! Das ist das Allerletzte!) Geschichte kann eine europäische Identität entstehen. Wer hat denn hier das Sagen, Sie oder Schröder? Das gilt nicht nur für uns. Das gilt auch für die Beitritts- kandidaten. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP – [SPD]: Bayeri- Wir Deutsche bemühen uns seit langem um Versöh- scher Wahlkampf!) nung und um materiellen Ausgleich für das von deut- scher Seite verursachte Leid. Seit der Wende versuchen Eine Diskussion über die Struktur und die Grenzen wir mit viel Engagement die offene sudetendeutsche Europas ist jetzt dringender erforderlich denn je. Wir 4636 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2003

Dr. Hans-Peter Uhl (A) haben uns ehrgeizige Ziele gesetzt. Von einem hand- Zustimmung zur Osterweiterung, die wir alle begrüßen, (C) lungsfähigen Staatenbund, von einem Raum der Sicher- die neuen Beitrittsländer, vertreten in diesem Saal durch heit, der Freiheit und des Rechts, von einer Wirtschafts- Polen, herzlich willkommen heißen. und Währungsunion wurde gesprochen. Sind das noch unsere Ziele? Das ist die Frage. (Beifall bei der CDU/CSU – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Die möchten mit einer sol- (Michael Roth [Heringen] [SPD]: Ich dachte, chen Rede nichts zu tun haben!) Sie wollten zum Schluss kommen!) Deswegen sagen wir: Es muss und wird jetzt zusam- Ein Mehr an Erweiterung bedeutet zwangsläufig ein menwachsen, was in Europa zusammengehört. Weniger an Vertiefung. Wenn wir weitere 80 Millionen Menschen muslimischen Glaubens aufnehmen – Herr (Beifall bei der CDU/CSU – Rudolf Bindig Fischer, Sie wollen das ja –, [SPD]: Pfui! – Günter Gloser [SPD]: Das war die CSU-Quote!) (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Genau! Zu wenig! 160 Mil- lionen!) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Es gibt eine Kurzintervention des Kollegen Meckel. wenn wir die EU, so wie Sie es wollen, vom Atlantik bis hinüber nach Georgien, Armenien, den Iran und den Irak überdehnen, Markus Meckel (SPD): Verehrter Herr Kollege, sind Sie bereit, anzuerken- (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Was ist nen, dass das, was Sie soeben dargestellt haben, sehr das für eine Rede?) stark dem widerspricht, was wir heute im Zusammen- werden wir kein europäisches Wir-Gefühl erzeugen. hang mit dem Beitritt von zehn neuen Staaten in gemein- samem Geist erklären sollten? (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Der Kalif der CSU! – (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Herr BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Schäuble, ist es eigentlich in Ihrem Sinne, dass eine solche Rede gehalten wird?) Ihre Wortwahl – Sie reden von einer offenen sudeten- deutschen Frage – ist in dem Kontext, dass wir in Wir können die Türkei nicht aufnehmen. Sie, Herr Deutschland in früheren Zeiten von einer offenen deut- Fischer, sagen, die Aufnahme der Türkei sei ein wesent- schen Frage geredet haben, wirklich ein Skandal. licher Baustein im Kampf gegen den Terrorismus. Da (B) gebe ich Ihnen sogar Recht. Aber wenn Sie sagen, die (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (D) Europäisierung der Türkei könne sich nur durch eine DIE GRÜNEN) Vollmitgliedschaft in der EU entwickeln, so ist das ein- Zum anderen möchte ich Ihnen sehr deutlich sagen, fältig und fantasielos, Herr Fischer. dass ich für richtig halte, was der Bundesaußenminister (Beifall bei der CDU/CSU – dargestellt hat: Der Umgang mit der Vergangenheit ist [SPD]: Sie vertreten ja antiamerikanische ein offener Prozess, dem wir uns gemeinsam stellen. Ge- Auffassungen!) rade das, was der tschechische Ministerpräsident vor we- nigen Tagen sehr klar und sehr deutlich zum Ausdruck Mit dieser Position vertreten Sie mehr türkische als deut- gebracht hat, ist ein großer und mutiger Schritt in diesem sche Interessen. Das ist der Punkt. Prozess. Er sagte, dass er die moralische Verantwortung Wo wollen wir Europa enden lassen? Unlängst hat anerkennt und auf diesem Wege voranschreiten will. Berlusconi vorgeschlagen, Russland in die EU aufzuneh- Dies ist gerade auch für die tschechische Gesellschaft men. Die Ukraine klopft seit langem an. Bald findet sich wichtig und bringt sie weiter. ein Fürsprecher für die Maghreb-Staaten. (Beifall bei der SPD) (Rudolf Bindig [SPD]: China nicht vergessen!) Davon klar unterschieden – übrigens schon in der von Die EU ist eine Wirtschaftsgemeinschaft und auch eine Helmut Kohl mitgetragenen Deutsch-Tschechischen Er- Wertegemeinschaft, aber deswegen noch lange kein Sa- klärung aus dem Jahre 1997 – ist die Rechtsfrage. mariterbund. Rechtsfragen sind hier nicht mehr offen. Sie müssen ab- geschlossen sein. Auch dies hat der tschechische Minis- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – terpräsident in aller Klarheit gesagt: Aus den damaligen Rudolf Bindig [SPD]: Schämen Sie sich nicht Dekreten folgen heute keine neuen Rechtsakte mehr. Ich für einen solchen Redner?) denke, dies ist eine klare Aussage. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Übrigens hat der tschechische Präsident schon im Herr Kollege, achten Sie auf Ihre Redezeit. März gesagt, dass er die Vertreibungen aus heutiger Sicht für inakzeptabel und für Unrecht hält. Ihr Partei- kollege , Vorsitzender des Auswärtigen Aus- Dr. Hans-Peter Uhl (CDU/CSU): schusses des Europäischen Parlamentes, hat dies für die Trotz dieser nötigen und eher skeptischen Gedanken vom Europäischen Parlament erwartete Erklärung gehal- zur Europäischen Union sollten wir heute, am Tag der ten. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2003 4637

Markus Meckel (A) Ich möchte Sie fragen: Sind Sie bereit, diesen Prozess Nur so können Bürgerinnen und Bürger die erweiterte (C) anzuerkennen und klar zwischen moralischer Verantwor- EU erschließen und in ihr von Anfang an mitbestimmen. tung und Rechtsakten zu unterscheiden? Wer eine erweiterte EU will, der muss auch für diese werben, nicht nur bei fernen Fototerminen, sondern da- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ heim im Alltag. DIE GRÜNEN) De facto geschieht allerdings im Moment das Gegen- Dr. Hans-Peter Uhl (CDU/CSU): teil. Nehmen wir nur den Metallerstreik der letzten Wo- chen. Es ging um die Angleichung der Lebensverhält- Herr Kollege Meckel, da Sie den Europaparlamenta- nisse Ost an die im Westen. Die Botschaft an die rier Brok zitieren, möchte ich darauf aufmerksam ma- Streikenden war: Wenn ihr aufmuckt, dann wandern die chen, dass es eine Aufforderung des Europäischen Parla- Arbeitsplätze weiter gen Ost. So wird die osterweiterte ments aus dem Jahre 1999 gibt, fortbestehende Gesetze EU als Drohung aufgebaut und nicht als Chance, auch und Dekrete aus den Jahren 1945 und 1946 – also die für die ostdeutschen Länder. Benes-Dekrete – aufzuheben, soweit sie sich auf die Ver- treibung von einzelnen Volksgruppen aus der ehemali- (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch gen Tschechoslowakei beziehen. Das ist die Position des [fraktionslos]) Europäischen Parlaments. Zu den Ängsten gehört auch die Frage, ob und wie (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) strukturschwache Gebiete in den neuen Bundesländern durch die EU künftig noch gefördert werden; denn allein Hier wird nun moralisch argumentiert. Es wird ge- dadurch, dass die erweiterte EU noch größere Problem- sagt, dass hier Unrecht geschehen ist. Da fragen wir uns regionen kennt, werden die Sorgen zwischen Thüringen und vor allem die Vertriebenen sich doch zu Recht, wa- und Rügen nicht kleiner. Die Arbeitsminister in Berlin rum aus diesem moralischen Unwerturteil nicht auch die und Mecklenburg-Vorpommern, Harald Wolf und rechtlichen Konsequenzen gezogen werden können. Helmut Holter, haben deshalb ein Innovationspro- Dazu ist das Parlament der Tschechei bisher nicht bereit. gramm für die neuen Bundesländer vorgestellt. Es ist Dies allein fordern wir ein. ein Diskussionsangebot der PDS, wie die neuen Bundes- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – länder wirtschaftlich gestärkt und sozial stabilisiert wer- Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das ist den können, auch und gerade vor dem Hintergrund der doch peinlich! Unglaublich!) EU-Osterweiterung. Die Reaktion der Bundesregierung darauf: bislang Null. Ich sage: arrogant Null. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: (B) (Unruhe – Glocke der Präsidentin) (D) Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Petra Pau. Liebe Kolleginnen und Kollegen, nun komme ich noch zu dem seit gestern Abend vorliegenden Antrag der Petra Pau (fraktionslos): CDU/CSU. Er trägt die Überschrift „Bundesgrenzschutz Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! für die EU-Osterweiterung tauglich machen“. Mit ihm Die PDS im Bundestag hat die EU-Osterweiterung im- sollen die Sicherheit der Bürger gewahrt und der Schutz mer grundsätzlich befürwortet – im Unterschied zur Ost- vor Kriminalität erhöht werden. So weit, so gut; denn erweiterung der NATO, die wir für falsch hielten und wer in diesem Hause will das nicht? Dann aber kommt weiterhin halten. das ganze Arsenal der sattsam bekannten bayrischen Instrumente. CDU und CSU wollen den Bundesgrenz- (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch schutz hochrüsten und seine Befugnisse ausweiten. Sie [fraktionslos]) verdächtigen noch mehr Menschen ohne Anlass, sie Das Ob der EU-Osterweiterung war daher nicht unsere schüren das Misstrauen gegen alle, die nicht deutsch Frage, wohl aber das Wie: Wie soll der Beitritt neuer aussehen, sie fordern Sondereinsatzrechte auf Flughäfen EU-Länder vollzogen werden? Wie und wohin soll sich und Bahnhöfen und sie wollen noch mehr überwachen, die Union insgesamt entwickeln? im Inland und EU-weit. Sie streben eine europäische Sicherheitsordnung an, die nach allen bisherigen Rege- Die PDS hat immer dafür geworben, dass die EU eine lungen weder demokratisch legitimiert noch parlamenta- demokratische Sozialunion mit einer friedensbewah- risch kontrollierbar ist. renden Außen- und Sicherheitspolitik wird. In diesem Sinne hat auch die PDS-Abgeordnete Sylvia-Yvonne Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CSU, ist Ih- Kaufmann für die Europäische Linke im Konvent agiert. nen eigentlich schon einmal aufgefallen, dass Sie na- mens der EU-Osterweiterung Grenzregimes und Zu- Der Konvent hat den Entwurf einer EU-Verfassung stände fordern, die Sie zu Ostblockzeiten zu Recht vorgelegt. Das ist gebührend gefeiert worden. Wichtiger scharf kritisiert haben? Die PDS im Bundestag lehnt das ist meines Erachtens etwas ganz anderes. Deshalb be- jedenfalls, auch aus Erfahrung klug geworden, ab. grüße ich, dass nach der PDS nun auch die FDP-Fraktion Volksabstimmungen über die künftige EU-Verfassung (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch fordert. [fraktionslos]) (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch Mein Schlusssatz: Die EU-Osterweiterung naht mit [fraktionslos]) Riesenschritten. Sie darf für die Bürgerinnen und Bürger 4638 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2003

Petra Pau (A) nicht hereinbrechen oder über sie kommen, sie muss durch den Eisernen Vorhang gegen ihren Willen von (C) willkommen sein. Dafür gilt es aber, erheblich mehr und Europa getrennt waren. Lassen Sie uns gemeinsam nach anderes zu tun, als bisher, auch durch dieses Parlament, vorne sehen. getan wurde. Zugleich darf die EU-Osterweiterung nicht (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ für Interessen missbraucht werden, die einer friedlieben- DIE GRÜNEN) den demokratischen und sozialen EU entgegenwirken. An dieser Stelle möchte ich allen Ländern, die nun (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch beitreten, ein ausdrückliches Dankeschön sagen, insbe- [fraktionslos]) sondere aber den Ländern, die aus dem ehemaligen Ost- block kommen. Sie haben uns in den letzten 13 Jahren Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: vorgemacht, was es heißt, wirkliche Reformen zu beste- Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben noch hen, was es heißt, schmerzliche Einschnitte zu machen, zwei kürzere Redebeiträge und eine Erklärung zur Ab- die auch die Bevölkerung treffen, um für Europa fit zu stimmung. Ich bitte Sie, den Lärmpegel ein bisschen zu sein. Sie haben die wirkliche Leistung vollbracht. Ihnen senken, damit man die Redner verstehen kann. schulden wir Dank, dass sie zu uns kommen. Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Dietmar Nietan. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Dietmar Nietan (SPD): Lassen Sie mich stellvertretend für die vielen Men- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! schen, die darum gekämpft haben, den Einigungsprozess Man muss aufpassen, wenn man Wörter wie „historisch“ zu einem guten Ende zu bringen, eine Person herausstel- bemüht, aber ich glaube, wir erleben jetzt im Bundestag len; bitte sehen Sie mir das nach. Wir haben mit Günter schon eine besondere Stunde. Endlich – ich glaube, ich Verheugen einen Kommissar nach Brüssel geschickt, kann das für alle hier im Hause betonen – sind wir so der in wirklich hervorragender Manier diese EU-Erwei- weit, dass wir mit frohem Herzen der Erweiterung der terung vorangebracht hat und der mit seiner ihm eigenen Europäischen Union zustimmen können. Ich glaube, das Art alles getan hat, um geräuschlos und am Ende mit ei- ist wirklich ein historischer Moment. nem guten Kompromiss die Erweiterung schnell voran- zubringen. Das erfüllt mich mit Stolz. Lieber Herr Kom- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten missar Verheugen, ich glaube, ich kann Ihnen auch im des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der Namen des ganzen Bundestages ein herzliches Danke- CDU/CSU) schön für das sagen, was Sie für Europa getan haben. (B) Es ist natürlich immer schwierig, einem solchen his- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (D) torischen Moment gerecht zu werden. Ich glaube, der DIE GRÜNEN) Kollege Gert Weisskirchen hat mit seiner Rede gezeigt, wie man das machen kann. Gert, dir ein herzliches Dan- Lassen Sie uns also nach vorne schauen. Lassen Sie keschön dafür. Das war die Rede eines überzeugten uns erkennen, welche große Chance diese erweiterte Europäers, aus dem Herzen heraus. Ich finde, solche Re- Europäische Union bietet. Lassen Sie uns überlegen, ob den braucht das Parlament viel öfter. wir nicht auch bei uns etwas ändern müssen. Ein Beitritt bedeutet nicht einfach nur einen Beitritt zu einem beste- (Beifall bei der SPD) henden Gebilde – ich glaube, das hätten wir aus der Was wir in einer solchen historischen Debatte nicht deutschen Wiedervereinigung lernen müssen –, sondern brauchen, sind rückwärts gewandte Reden. Ich möchte bedeutet, dass Europa eine neue Qualität bekommt, dass keine parteipolitische Schärfe in die Diskussion hinein- auch wir uns ändern müssen, dass auch wir bereit sein bringen, aber dass der Kollege Schäuble in einer solchen müssen, von unseren neuen Mitbürgern in der Europäi- historischen Stunde in seiner Rede das Hauptaugenmerk schen Union ernsthaft zu lernen und nicht als Schulmeis- darauf richtet, uns allen zu erklären, was er damals mit ter des alten Westens aufzutreten. Ich glaube, wir können Kerneuropa gemeint hat, und dass er der Meinung ist, eine Menge von den Beitrittsstaaten lernen. zum zigstenmal aufwärmen zu müssen, was wir mit den (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Amerikanern angestellt haben, ist für Sie vielleicht be- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) friedigend, es ist aber nicht das, was wir brauchen: Wir müssen in Europa nach vorne sehen. Sie haben mich mit Durch die Erweiterung haben wir die große Chance, Ihrer Rede – das sage ich sehr deutlich – enttäuscht. dafür zu sorgen, dass Europa ein starkes Europa wird. Wenn wir von einem starken Europa sprechen, dann ist (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten diese Formulierung nicht gegen die USA gerichtet, wie des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) man es uns vonseiten der Union immer wieder einreden will. Nein, wer starke transatlantische Beziehungen will, Angesichts der Rede des Kollegen Uhl, der über eine braucht ein starkes und großes Europa. Auch für die gesunde nationale Identität und von einer offenen transatlantische Partnerschaft ist die EU-Erweiterung ein sudetendeutschen Frage gesprochen hat, muss ich Ih- wichtiger Meilenstein. Es liegt an uns, das sinnvoll zu nen sagen: Was wir von der Union bisher in dieser De- nutzen. batte gehört haben, ist dem Anlass nun wirklich nicht an- gemessen, den wir hier feiern, nämlich die Erweiterung (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Europas und die Rückkehr von Staaten nach Europa, die des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2003 4639

Dietmar Nietan (A) Wenn ich davon gesprochen habe, dass wir uns än- Ich sage das insbesondere deshalb, weil sich die Euro- (C) dern müssen, dann heißt das auch, zu überdenken, wie päische Union in diesem Jahr bei der Gemeinsamen Au- wir gemeinsam mit den neuen Partnern neue Impulse ßen- und Sicherheitspolitik bedauerlicherweise als noch und neue Schwerpunkte in der neuen Europäischen nicht reif genug gezeigt hat. Union setzen können. Ich bin sehr froh darüber, dass der In diesem Zusammenhang ist es mir wichtig zu er- französische Staatspräsident, der polnische Präsident wähnen, dass der Abschluss dieses Prozesses auch ein und der Bundeskanzler in Breslau im Rahmen des Wei- Beispiel für die Solidarität innerhalb der Europäi- marer Dreiecks deutlich gemacht haben, dass Deutsch- schen Union ist; denn nicht nur Länder wie Deutsch- land und Frankreich im neuen Europa die anderen nicht land, das aufgrund seiner langen Grenze nach Mittel- vergessen wollen. Wir wollen gemeinsam mit unseren und Osteuropa geradezu ein existenzielles Interesse an Partnern Europa gestalten. Deshalb ist die Initiative einem Beitrittsprozess hat, haben dieses Projekt unter- „Weimarer Dreieck“ eine wichtige und weitsichtige stützt, sondern auch westeuropäische Länder wie Irland, Initiative, die entstanden ist, weil sich Hans-Dietrich Frankreich, Spanien und Portugal haben dies getan und Genscher dafür eingesetzt hat. Wir sollten dieses unterstützen den Prozess weiterhin. Dies sind Länder, Weimarer Dreieck nutzen, um Europa weiterzubringen. die in ihren Grenzgebieten zum großen Teil ganz andere (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Probleme haben. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) In diesem Zusammenhang müssen die enormen Leis- Im neuen Europa liegt die Bundesrepublik Deutsch- tungen, die die Kandidatenländer in den letzten Jahren land in der Mitte. Sie liegt in der Mitte eines Europas, vollbracht haben, ganz besonders erwähnt werden. das die Teilung des Kontinents durch den Kalten Krieg (Beifall im ganzen Hause) endlich beendet hat. Ich glaube, daraus erwächst die Ver- antwortung, zusammen mit unseren neuen europäischen Die Beitrittsländer mussten die schwierigen so genann- Partnern die Zukunft zu gestalten. In diesem Sinne wün- ten Kopenhagener Kriterien erfüllen, den äußerst kom- sche ich dem neuen Europa: Glück auf! plexen und komplizierten Acquis communautaire über- nehmen und implementieren und zum Teil drastische (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Reformen in der Wirtschaftspolitik, der Sozialpolitik des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) und der Verwaltung durchführen. Es gab in diesen Län- dern Irrungen und Wirrungen. Es gab dort Wahlergeb- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: nisse mit erdrutschartigen Veränderungen der Mehrheits- Das Wort hat der Abgeordnete Michael Stübgen. verhältnisse. Trotzdem haben diese Länder, haben deren Regierungen, deren Politiker, an dem Beitrittsprozess (B) (D) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) festgehalten. Die Referenden in verschiedenen mittel- und osteuropäischen Ländern zum Beitritt zeigen auch Michael Stübgen (CDU/CSU): deutlich, dass dies keine Politik ausschließlich von Poli- tikern, sondern der Bürger dieser Länder ist. Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Mit der Ratifizierung der Gesetze zum Beitritt (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) von zehn mittel- und osteuropäischen Ländern zur Euro- päischen Union haben wir den Höhepunkt eines 13 Jahre Zum vorläufigen Abschluss dieses Beitrittsprozesses währenden europäischen Prozesses erreicht. Er begann möchte ich auf den Europäischen Rat von Thessaloniki 1990 mit dem Abschluss von Assoziierungsabkommen am vergangenen Wochenende hinweisen. Mir persönlich mit einigen mittel- und osteuropäischen Ländern. 1993 – ich glaube, auch der großen Mehrheit dieses Hauses – wurden die so genannten Kopenhagener Kriterien, das wäre es lieber gewesen, wenn es möglich gewesen wäre, heißt die Voraussetzungen für den Beitritt weiterer Län- die Beitrittsurkunden von Bulgarien und Rumänien der zur Europäischen Union, definiert. Der Europäische schon heute zu ratifizieren. Aber ich glaube, der Euro- Rat von Luxemburg hat 1997 beschlossen, dass mit päische Rat am vergangenen Wochenende hat sehr deut- sechs Kandidatenländern Beitrittsverhandlungen aufge- lich gemacht, dass wir alles dafür tun müssen und alles nommen werden. 1999 hat der Europäische Rat in Hel- dafür tun werden, dass die Verhandlungen mit den bei- sinki beschlossen, mit den sechs weiteren Kandidaten- den Ländern im Jahre 2004 abgeschlossen werden kön- ländern Beitrittsverhandlungen zu beginnen. Im Jahre nen und dass diese beiden Länder spätestens im Jahre 2002 wurden die Beitrittsverhandlungen mit zehn Kan- 2007 Vollmitglieder der Europäischen Union sein wer- didatenländern abgeschlossen. Im nächsten Jahr, 2004, den. wird es Wahlen zum Europäischen Parlament in (Beifall des Abg. Markus Meckel [SPD]) 25 europäischen Ländern geben. Meine sehr verehrten Damen und Herren, lassen Sie Meine sehr verehrten Damen und Herren, dass die mich zum Schluss noch auf ein Thema zu sprechen kom- Europäische Union in der Lage war, diesen langen Pro- men, das in dieser Debatte gelegentlich schon eine Rolle zess, in dem in allen Mitgliedsländern der Europäischen gespielt hat. Es geht um die gesetzliche Grundlage, auf Union Regierungen gewechselt haben, erfolgreich abzu- der wir dieses Gesetz jetzt verabschieden wollen. schließen, ist ein Reifezeugnis für die Europäische Union. Es gibt Dinge, die sich mit unterschiedlichem Vorzei- chen wiederholen. 1994, als der Deutsche Bundestag die (Beifall bei der CDU/CSU) Beitrittsverträge mit drei EFTA-Staaten ratifiziert hat, 4640 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2003

Michael Stübgen (A) hat die SPD als Opposition verlangt, dass diese Ratifi- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: (C) zierung mit einer verfassungsändernden Mehrheit erfol- Ich schließe damit die Aussprache. gen muss. Die Koalition von CDU/CSU und FDP hat für die einfache Mehrheit votiert. Zur Abstimmung zum Entschließungsantrag der CDU/CSU liegt eine schriftliche Erklärung des Abge- (Gert Weisskirchen [Wiesloch] [SPD]: Wir ha- ordneten Singhammer1) vor. Zur namentlichen Abstim- ben keinen Antrag gestellt!) mung liegen schriftliche Erklärungen von den Abgeord- neten Fromme2) und Jüttner3) vor. Frau Kollegin Heute schlägt die rot-grüne Bundesregierung vor, dieses Steinbach möchte eine mündliche Erklärung zur nament- Gesetz mit einer einfachen Mehrheit zu verabschieden. lichen Abstimmung abgeben. Die CDU/CSU ist für eine Abstimmung nach Art. 23 Grundgesetz. Erika Steinbach (CDU/CSU): Ich selber befinde mich in einer etwas skurrilen Situa- Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und tion, weil ich vor neun Jahren im Bundestag die Position Herren! Der Deutsche Bundestag beschließt heute in ei- der CDU/CSU vertreten habe, die heute die Position der nem Gesamtpaket über die Erweiterung der Europäi- SPD ist. schen Union. Der Beitritt zur Europäischen Union ist für jedes der zehn Länder an Kriterien geknüpft, die zuvor (Anna Lührmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- erfüllt sein müssen. Zu diesen Voraussetzungen gehört NEN]: Das ist unglaubwürdig!) auch die Beachtung der Menschenrechte. Deshalb will ich Ihnen kurz erläutern, warum ich unse- Ich stelle fest, dass nicht alle Beitrittsländer die Men- rem Antrag zustimme und dies vor neun Jahren wahr- schenrechtsnormen erfüllt haben. Nach wie vor gibt es in scheinlich auch hätte tun sollen. vier Ländern Vertreibungs- und Entrechtungsgesetze, deren Auswirkungen bis zum heutigen Tage – es gibt ak- (Lachen des Abg. Gert Weisskirchen [Wies- tuelle Urteile – zu spüren sind. Diese Gesetze widerspre- loch] [SPD]) chen den Menschenrechten, dem Völkerrecht und den – Hören Sie mir zu, dann werden Sie merken, dass ich Kriterien von Kopenhagen. Die Europäische Kommis- Recht habe. sion hat in ihren Beitrittsberichten bewusst darüber hin- weggesehen. Die Bundesregierung hat dem leider nicht Erstens. Wir können hier und heute nicht zweifelsfrei entgegengewirkt, sondern diese Haltung sogar noch ge- feststellen, welche Rechtsgrundlage bei der Verabschie- stützt. Das ist fahrlässig. dung dieses Gesetzes zu berücksichtigen ist. Deshalb ist (B) Wer Menschenrechte nicht nur als wohlfeile Vokabel (D) es richtig, den absolut sicheren Weg über Art. 23 des in Sonntagsreden verwendet und ihnen im konkreten Grundgesetzes zu gehen, auch wenn er möglicherweise Einzelfall dann, wenn es möglich ist, nicht zum Durch- nicht zwingend notwendig ist. bruch verhilft, vergeht sich an den Menschenrechten. Zweitens. Da sowohl im Bundestag als auch im Bun- (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/DIE desrat überhaupt keine Gefahr besteht, dass die notwen- GRÜNEN]: Das ist schwer erträglich!) dige Zweidrittelmehrheit für dieses Gesetz nicht zu- stande kommen wird – das Ergebnis wird noch weit – Herr Außenminister, halten Sie an sich. – Wohin das höher ausfallen –, sollten wir es auch auf dieser Grund- führt, haben wir insbesondere am Beispiel der Tschechi- lage verabschieden. schen Republik seit Monaten in Ohr und Augen. Ein Mann wie Benes, der die Verantwortung für Mord, Drittens – das ist für mich der wichtigste Punkt –: Ich Zwangsarbeit und Vertreibung von Millionen Menschen denke, dass wir als Deutscher Bundestag mit der Ratifi- zu verantworten hatte, wird wenige Tage vor dieser Ab- zierung dieses Gesetzes nach Art. 23 Grundgesetz das stimmung zur europäischen Erweiterung, im Jahre 2003, klare, deutliche, stabile und positive Signal zu unseren sozusagen zum Volkshelden erklärt. Das ist mir uner- europäischen Partnern senden würden, dass wir als träglich. Deutscher Bundestag es uns leisten können, solche Ge- (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/DIE setze mit verfassungsändernder Mehrheit zu verabschie- GRÜNEN]: Unerträglich ist diese Rede!) den, und dass das deutsche Parlament unabhängig von allen innenpolitischen Auseinandersetzungen keinen Die Europäische Union ist nicht nur eine Wirtschafts-, Zweifel an seiner europäischen Ausrichtung lässt; das sondern auch eine Wertegemeinschaft. Es schadet ihr in galt für gestern, das gilt für heute und das gilt für mor- der Substanz, wenn menschenrechtsfeindliche Gesetze gen. als Morgengabe eingebracht werden und nicht einmal der gute Wille zur Heilung der Wunden erkennbar ist. Meine sehr verehrten Damen und Herren, es gibt kei- Das Versagen in dieser Frage liegt zum überwiegenden nen Grund, unserem Antrag nicht zuzustimmen, es gibt Teil – das sage ich ausdrücklich – nicht bei den Beitritts- aber viele Gründe, unserem Antrag zuzustimmen. Da- ländern, sondern bei der Europäischen Kommission. Sie rum bitte ich Sie. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. 1) Anlage 4 2) Anlage 5 (Beifall bei der CDU/CSU) 3) Anlage 6 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2003 4641

Erika Steinbach (A) hat die Menschenrechte nicht mit dem nötigen Nach- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: (C) druck durchgesetzt und dadurch den Eindruck vermittelt, Es liegen noch zwei schriftliche Erklärungen zur Ab- dass alles in bester Ordnung sei. stimmung von den Abgeordneten Götzer1) und 2) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Rupprecht vor, die wir auch zu Protokoll nehmen. Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ Jetzt kommen wir zur Abstimmung über den von der DIE GRÜNEN]: Das Ganze ist ein Unsinn!) Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zu dem Vertrag vom 16. April 2003 über den Beitritt der Tsche- Wir brauchen ein versöhntes Europa, in dem die vie- chischen Republik, der Republiken Estland, Zypern, len Völker friedvoll miteinander leben können; Lettland, Litauen, Ungarn, Malta, Polen, Slowenien und (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ der Slowakischen Republik zur Europäischen Union. DIE GRÜNEN]: Ich muss mir das nicht anhö- Der Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäi- ren! – Gegenrufe von der CDU/CSU: Gehen schen Union empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussemp- Sie doch raus!) fehlung auf Drucksache 15/1300, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Es liegt ein Ände- denn unsere europäischen Völker leben bewusst und un- rungsantrag der Fraktion der CDU/CSU vor, über den bewusst auf einem gemeinsamen kulturellen Fundament. wir zuerst abstimmen. (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ Wer stimmt für den Änderungsantrag der CDU/CSU- DIE GRÜNEN]: Der Kommission Vorhaltun- Fraktion auf Drucksache 15/1358? – Wer stimmt dage- gen zu machen ist das Allerletzte!) gen? – Enthaltungen? – Der Änderungsantrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sind für unsere der CDU/CSU und der FDP abgelehnt worden. Völker sehr eng miteinander verwoben. Europa endet – das wissen wir alle – nicht an Oder, Neiße oder im Wir kommen nun zur Abstimmung über den Gesetz- Bayerischen Wald. Günter Grass und der polnische Jour- entwurf in der Ausschussfassung. Es wurde verlangt, nalist Adam Michnik haben in großer Einheit festge- über den Gesetzentwurf namentlich abzustimmen. Ich stellt, dass historische Versöhnung nicht stattfinden bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorge- kann, wenn düstere Kapitel der Vergangenheit tabuisiert sehenen Plätze einzunehmen. werden. Aber genau das ist im Beitrittsverfahren gesche- Ich eröffne die Abstimmung. hen. Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine Stimme nicht abgegeben hat? – Das ist nicht der Fall. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Dann schließe ich jetzt die Abstimmung. (B) (D) Frau Kollegin, Sie müssen Ihr Abstimmungsverhalten Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit begründen, keine Rede halten. der Auszählung zu beginnen und teile mit, dass sich die (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Abgeordneten Matthias Sehling und Beatrix Philipp3) DIE GRÜNEN) der Erklärung der Abgeordneten Steinbach angeschlos- sen haben und dass es persönliche Erklärungen zur Ab- stimmung von den Abgeordneten Fischer (Karlsruhe- Erika Steinbach (CDU/CSU): Land), Wellenreuther und Bellmann4) gibt. Sie wurden Frau Präsidentin, das ist meine Begründung. nach der Abstimmung über den Entschließungsantrag der CDU/CSU abgegeben. (Zuruf von der SPD: Ziemlich peinlich!) Bis zum Vorliegen des Ergebnisses der namentlichen Da wir heute mit nur einem einzigen Votum über alle Abstimmung unterbreche ich die Sitzung. Beitrittskandidaten, auch über die nicht davon betroffe- nen Länder beschließen, werde ich der Vorlage mit die- (Unterbrechung von 14.29 bis 14.35 Uhr) sem eben angebrachten Vorbehalt zustimmen. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: (Ute Kumpf [SPD]: Unglaubwürdig!) Die unterbrochene Sitzung ist wieder eröffnet. Ich danke gleichzeitig der CDU/CSU-Bundestagsfrak- tion, dass sie die Defizite in einem Entschließungsantrag Ich gebe das wichtige Ergebnis der namentlichen Ab- benannt hat. stimmung über den Entwurf eines Gesetzes zu dem Ver- trag vom 16. April 2003 über den Beitritt der Tschechi- (Peter Dreßen [SPD]: Das ist unehrlich, was schen Republik, der Republik Estland, der Republik Sie machen! – Gernot Erler [SPD]: Das ist Zypern, der Republik Lettland, der Republik Litauen, nicht mehr zu ertragen!) der Republik Ungarn, der Republik Malta, der Republik Polen, der Republik Slowenien und der Slowakischen Ich schließe die Hoffnung an, dass trotz der Defizite in Republik zur Europäischen Union bekannt. Abgegebene allen betroffenen Ländern ein wirklicher Heilungspro- Stimmen 580. Mit Ja haben gestimmt 575. zess einsetzen möge. Die Menschen unserer Nachbarlän- der sind mir herzlich willkommen. 1) Anlage 9 (Beifall bei der CDU/CSU – Dietmar Nietan 2) Anlage 10 [SPD]: Dass sie klatschen, ist wirklich ein 3) Anlage 7 Skandal!) 4) Anlage 8 4642 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2003

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer (A) Endgültiges Ergebnis Renate Gradistanac Dr. Elke Leonhard Karsten Schönfeld (C) Abgegebene Stimmen: 580; Angelika Graf (Rosenheim) Eckhart Lewering Wilfried Schreck davon Dieter Grasedieck Götz-Peter Lohmann Monika Griefahn Gabriele Lösekrug-Möller Gerhard Schröder ja: 575 Erika Lotz Gisela Schröter nein: 1 Gabriele Groneberg Dr. Christine Lucyga Brigitte Schulte (Hameln) enthalten: 4 Achim Großmann Dirk Manzewski Reinhard Schultz Wolfgang Grotthaus Tobias Marhold (Everswinkel) Ja Karl Hermann Haack Lothar Mark (Spandau) (Extertal) Dr. Angelica Schwall-Düren SPD Hans-Joachim Hacker Dr. Martin Schwanholz Dr. Lale Akgün Klaus Hagemann Markus Meckel Erika Simm Alfred Hartenbach Ulrike Mehl Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk Ingrid Arndt-Brauer Michael Hartmann Petra-Evelyne Merkel Dr. Cornelie Sonntag- (Wackernheim) Ulrike Merten Wolgast Hermann Bachmaier Anke Hartnagel Angelika Mertens Wolfgang Spanier (Neuruppin) Nina Hauer Ursula Mogg Dr. Margrit Spielmann Doris Barnett Hubertus Heil Michael Müller (Düsseldorf) Jörg-Otto Spiller Dr. Hans-Peter Bartels Reinhold Hemker Christian Müller (Zittau) Dr. Ditmar Staffelt Eckhardt Barthel (Berlin) Rolf Hempelmann Gesine Multhaupt (Starnberg) Dr. Barbara Hendricks Franz Müntefering Rolf Stöckel Sören Bartol Dr. Rolf Mützenich Christoph Strässer Sabine Bätzing Petra Heß Volker Neumann (Bramsche) Rita Streb- Uwe Karl Beckmeyer Monika Heubaum Dietmar Nietan Dr. Peter Struck Gabriele Hiller-Ohm Dr. Erika Ober Joachim Stünker Dr. Stephan Hilsberg Holger Ortel Jörg Tauss Gerd Höfer Heinz Paula Jella Teuchner Hans-Werner Bertl Jelena Hoffmann (Chemnitz) Dr. Gerald Thalheim Petra Bierwirth Johannes Pflug Walter Hoffmann Rudolf Bindig Joachim Poß Wolfgang Thierse (Darmstadt) () Dr. Wilhelm Priesmeier Franz Thönnes (Wismar) Hans-Jürgen Uhl Gerd Friedrich Bollmann Frank Hofmann (Volkach) Dr. Sascha Raabe Rüdiger Veit Klaus Brandner Eike Hovermann Karin Rehbock-Zureich Simone Violka (B) Klaas Hübner Gerold Reichenbach Jörg Vogelsänger (D) Christel Humme Dr. (Pforzheim) (Hildesheim) Lothar Ibrügger Christel Riemann- Dr. Marlies Volkmer Hans-Günter Bruckmann Brunhilde Irber Hanewinckel Hans Georg Wagner Renate Jäger Hedi Wegener Marco Bülow Jann-Peter Janssen Reinhold Robbe Andreas Weigel Johannes Kahrs René Röspel Reinhard Weis (Stendal) Dr. Michael Bürsch Ulrich Kasparick Dr. Ernst Dieter Rossmann Petra Weis Hans Martin Bury Dr. h.c. Susanne Kastner Karin Roth (Esslingen) Gunter Weißgerber Hans Büttner (Ingolstadt) Michael Roth (Heringen) Matthias Weisheit Marion Caspers-Merk Hans-Peter Kemper Gerhard Rübenkönig Gert Weisskirchen Dr. Klaus Kirschner (Wiesloch) Dr. Herta Däubler-Gmelin Hans-Ulrich Klose Marlene Rupprecht Dr. Ernst Ulrich von Karl Diller Astrid Klug (Tuchenbach) Weizsäcker Martin Dörmann Dr. Heinz Köhler (Coburg) Thomas Sauer Jochen Welt Peter Dreßen Anton Schaaf Dr. Detlef Dzembritzki Fritz Rudolf Körper Axel Schäfer (Bochum) Lydia Westrich Karin Kortmann Gudrun Schaich-Walch Inge Wettig-Danielmeier Siegmund Ehrmann Rolf Kramer Dr. Hans Eichel Bernd Scheelen Andrea Wicklein Marga Elser Ernst Kranz Dr. Jürgen Wieczorek (Böhlen) Gernot Erler Nicolette Kressl Siegfried Scheffler Heidemarie Wieczorek-Zeul Petra Ernstberger Volker Kröning Horst Schild Dr. Dieter Wiefelspütz Karin Evers-Meyer Angelika Krüger-Leißner Otto Schily Brigitte Wimmer (Karlsruhe) Annette Faße Dr. Hans-Ulrich Krüger Horst Schmidbauer Engelbert Wistuba Elke Ferner Horst Kubatschka (Nürnberg) Barbara Wittig Ernst Küchler (Aachen) Dr. Wolfgang Wodarg Rainer Fornahl Helga Kühn-Mengel Silvia Schmidt (Eisleben) Verena Wohlleben Gabriele Frechen Ute Kumpf (Meschede) Waltraud Wolff Dr. Uwe Küster Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (Wolmirstedt) Lilo Friedrich (Mettmann) Christine Lambrecht Heinz Schmitt (Landau) Heidi Wright Iris Gleicke Christian Lange (Backnang) Günter Gloser Christine Lehder Walter Schöler Manfred Helmut Zöllmer Uwe Göllner Waltraud Lehn Dr. Christoph Zöpel Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2003 4643

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer (A) CDU/CSU Dr. Michael Luther Kurt Segner (C) Georg Girisch Dorothee Mantel Matthias Sehling Ulrich Adam Ralf Göbel Heinz Seiffert Tanja Gönner (Recklinghausen) Bernd Siebert Peter Götz (Altötting) Dietrich Austermann Dr. Wolfgang Götzer Conny Mayer (Baiersbronn) Johannes Singhammer Dr. Martin Mayer Dr. (Siegertsbrunn) Erika Steinbach Günter Baumann Kurt-Dieter Grill Wolfgang Meckelburg Ernst-Reinhard Beck Dr. Michael Meister (Reutlingen) Hermann Gröhe Andreas Storm Veronika Bellmann Michael Grosse-Brömer Dr. Angela Merkel Dr. Markus Grübel Friedrich Merz Matthäus Strebl Manfred Grund Laurenz Meyer (Hamm) (Heilbronn) Dr. Karl-Theodor Freiherr von Doris Meyer (Tapfheim) Magdalene Strothmann und zu Guttenberg Michael Stübgen Hans Michelbach Peter Bleser Holger Haibach Klaus Minkel Edeltraut Töpfer Gerda Hasselfeldt Stefan Müller (Erlangen) Dr. Hans-Peter Uhl Dr. Maria Böhmer Klaus-Jürgen Hedrich Dr. Gerd Müller Arnold Vaatz Hildegard Müller Volkmar Uwe Vogel Wolfgang Börnsen Ursula Heinen Bernd Neumann (Bremen) Andrea Astrid Voßhoff (Bönstrup) Siegfried Helias Gerhard Wächter Wolfgang Bosbach Uda Carmen Freia Heller Marko Wanderwitz Klaus Brähmig Günter Nooke Peter Weiß (Emmendingen) Dr. Jürgen Herrmann Dr. Georg Nüßlein Gerald Weiß (Groß-Gerau) Franz Obermeier Monika Brüning Ernst Hinsken Annette Widmann-Mauz Peter Hintze Melanie Oßwald Klaus-Peter Willsch Verena Butalikakis Robert Hochbaum Rita Pawelski Hartmut Büttner Klaus Hofbauer Dr. Peter Paziorek Werner Wittlich (Schönebeck) Joachim Hörster Dr. Dagmar Wöhrl Cajus Caesar Hubert Hüppe Sibylle Pfeiffer Elke Wülfing (Emstek) Susanne Jaffke Dr. Friedbert Pflüger Wolfgang Zeitlmann Peter H. Carstensen Bartholomäus Kalb Beatrix Philipp Willi Zylajew (B) (Nordstrand) Steffen Kampeter (D) Gitta Connemann Irmgard Karwatzki Daniela Raab BÜNDNIS 90 / DIE Bernhard Kaster Thomas Rachel GRÜNEN Siegfried Kauder (Bad Dr. Peter Ramsauer Albert Deß Dürrheim) Helmut Rauber Volker Kauder Peter Rauen (Bremen) Vera Dominke Gerlinde Kaupa Christa Reichard (Dresden) Volker Beck (Köln) Thomas Dörflinger Eckart von Klaeden Cornelia Behm Marie-Luise Dött Jürgen Klimke Hans-Peter Repnik Maria Eichhorn Julia Klöckner Kristina Köhler (Wiesbaden) Dr. Grietje Bettin (Lübeck) Manfred Kolbe Norbert Königshofen Franz-Xaver Romer Ekin Deligöz Hartmut Koschyk Dr. Klaus Rose Dr. Thea Dückert Dr. Hans Georg Faust Thomas Kossendey Kurt J. Rossmanith Jutta Dümpe-Krüger Albrecht Feibel Rudolf Kraus Dr. Norbert Röttgen Franziska Eichstädt-Bohlig Enak Ferlemann Dr. Christian Ruck Dr. Uschi Eid Ingrid Fischbach Günther Krichbaum Volker Rühe Hans-Josef Fell Hartwig Fischer (Göttingen) Günter Krings Albert Rupprecht (Weiden) Joseph Fischer (Frankfurt) Dirk Fischer (Hamburg) Dr. Martina Krogmann Peter Rzepka Katrin Göring-Eckardt Axel E. Fischer (Karlsruhe- Dr. Hermann Kues Anita Schäfer (Saalstadt) Anja Hajduk Land) (Zingst) Dr. Wolfgang Schäuble Winfried Hermann Dr. Dr. Hartmut Schauerte Antje Hermenau Klaus-Peter Flosbach Barbara Lanzinger Andreas Scheuer Peter Hettlich Karl-Josef Laumann Georg Schirmbeck Ulrike Höfken Dr. Hans-Peter Friedrich Vera Lengsfeld Thilo Hoppe (Hof) Werner Lensing Christian Schmidt (Fürth) Michaele Hustedt Erich G. Fritz Peter Letzgus Andreas Schmidt (Mülheim) Jochen-Konrad Fromme Ursula Lietz Dr. Renate Künast Dr. Michael Fuchs Walter Link (Diepholz) Dr. Ole Schröder Undine Kurth (Quedlinburg) Hans-Joachim Fuchtel Bernhard Schulte-Drüggelte Markus Kurth Dr. Jürgen Gehb Dr. Klaus W. Lippold Dr. Reinhard Loske (Offenbach) Wilhelm Josef Sebastian Anna Lührmann Jerzy Montag 4644 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2003

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer (A) Kerstin Müller (Köln) FDP Gudrun Kopp Jürgen Türk (C) Jürgen Koppelin (Münster) Dr. Guido Westerwelle Rainer Brüderle Sibylle Laurischk Dr. Claudia Winterstein Simone Probst Angelika Brunkhorst Harald Leibrecht (Augsburg) Ina Lenke Fraktionslose Abgeordnete Krista Sager Helga Daub Sabine Leutheusser- Christine Scheel Schnarrenberger Dr. Gesine Lötzsch Jörg van Essen Petra Pau Irmingard Schewe-Gerigk Ulrike Flach Markus Löning Rezzo Schlauch (Bayreuth) Dirk Niebel (Berlin) Rainer Funke Günther Friedrich Nolting Nein Petra Selg Dr. Wolfgang Gerhardt Hans-Joachim Otto Ursula Sowa Hans-Michael Goldmann (Frankfurt) CDU/CSU Rainder Steenblock Joachim Günther (Plauen) Detlef Parr Silke Stokar von Dr. Cornelia Pieper Wolfgang Zöller Neuforn Dr. Christel Happach-Kasan Gisela Piltz Hans-Christian Ströbele Christoph Hartmann Dr. Andreas Pinkwart Enthalten Marianne Tritz (Homburg) Dr. Günter Rexrodt Hubert Ulrich Klaus Haupt Marita Sehn CDU/CSU Dr. Antje Vogel-Sperl Ulrich Heinrich Dr. Hermann Otto Solms Dr. Antje Vollmer Birgit Homburger Dr. Dr. Ludger Volmer Dr. Dr. Rainer Stinner Dr. Josef Philip Winkler Michael Kauch Carl-Ludwig Thiele Dr. Egon Jüttner Margareta Wolf (Frankfurt) Dr. Heinrich L. Kolb Dr. Dieter Thomae Henry Nitzsche

(Beifall im ganzen Hause) Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f) Es gab eine Neinstimme und vier Enthaltungen. Der Ge- Rechtsausschuss setzentwurf ist damit angenommen. Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung auf Druck- Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen sache 15/1300 empfiehlt der Ausschuss für die Angele- Ausschuss für Tourismus (B) genheiten der Europäischen Union, eine Entschließung c) Erste Beratung des von den Abgeordneten Rainer (D) anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh- Funke, Joachim Günther (Plauen), Horst lung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Be- Friedrich (Bayreuth), weiteren Abgeordneten und schlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitions- der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs ei- fraktionen, der FDP und der Stimme einer fraktionslosen nes Dritten Gesetzes zur Bereinigung von SED- Abgeordneten gegen die Stimmen von CDU/CSU ange- Unrecht (Drittes SED-Unrechtsbereinigungs- nommen worden. gesetz – 3. SED-UnBerG) Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie- – Drucksache 15/1235 – ßungsantrag der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache Überweisungsvorschlag: 15/1359. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? – Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung (f) Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Entschließungs- Innenausschuss antrag ist mit den Stimmen des ganzen Hauses gegen die Rechtsausschuss Stimmen von CDU/CSU abgelehnt worden. Finanzausschuss Haushaltsausschuss Ich rufe die Tagesordnungspunkte 25 a bis 25 c sowie gemäß § 96 GO die Zusatzpunkte 2 a bis 2 g auf: ZP 2a)Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD 25 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN einge- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Reform brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Zulassungs- und Prüfungsverfahrens des des Tabaksteuergesetzes und anderer Ver- Wirtschaftsprüfungsexamens (Wirtschaftsprü- brauchsteuergesetze fungsexamens-Reformgesetz – WPRefG) – Drucksache 15/1313 – – Drucksache 15/1241 – Überweisungsvorschlag: Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss (f) Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f) Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Finanzausschuss Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO b) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines ... Gesetzes zur Änderung des b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Bundesnaturschutzgesetzes Brunhilde Irber, Annette Faße, Renate Gradistanac, weiterer Abgeordneter und der – Drucksache 15/776 – Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2003 4645

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer (A) Undine Kurth (Quedlinburg), Dr. Reinhard Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (C) Loske, Volker Beck (Köln), weiterer Abgeordne- Ausschuss für Tourismus ter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Hubert GRÜNEN Hüppe, Christa Nickels, René Röspel und weite- Reisen ohne Handicap – Für ein barrierefreies rer Abgeordneter Reisen und Naturerleben in unserem Land Forschungsförderung der Europäischen Union – Drucksache 15/1306 – unter Respektierung ethischer und verfas- Überweisungsvorschlag: sungsmäßiger Prinzipien der Mitgliedstaaten Ausschuss für Tourismus (f) Rechtsausschuss – Drucksache 15/1310 – Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Ausschuss für Bildung, Forschung und Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Technikfolgenabschätzung (f) Haushaltsausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Hans Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Büttner (Ingolstadt), Reinhold Hemker, Karin Landwirtschaft Kortmann, weiterer Abgeordneter und der Frak- Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend tion der SPD sowie der Abgeordneten Thilo Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Hoppe, Hans-Christian Ströbele, Volker Beck Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe (Köln), weiterer Abgeordneter und der Fraktion Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN g) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrike Unterstützung von Landreformen zur Be- Flach, Cornelia Pieper, Christoph Hartmann kämpfung der Armut und der Hungerkrise im (Homburg) und weiterer Abgeordneter südlichen Afrika Kein Ausstieg aus der gemeinsamen Verant- – Drucksache 15/1307 – wortung für die europäische Stammzellfor- schung Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss (f) – Drucksache 15/1346 – Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft Überweisungsvorschlag: Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ausschuss für Bildung, Forschung und Entwicklung Technikfolgenabschätzung (f) Rechtsausschuss (B) d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (D) Reinhold Hemker, Sören Bartol, Dr. Herta Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Däubler-Gmelin, weiterer Abgeordneter und der Landwirtschaft Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Thilo Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Hoppe, Volker Beck (Köln), Katrin Dagmar Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe Göring-Eckardt, Krista Sager und der Fraktion Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Es handelt sich um Überweisungen im vereinfach- Verbesserung der Welternährungssituation ten Verfahren ohne Debatte. und Verwirklichung des Rechts auf Nahrung Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an – Drucksache 15/1316 – die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu Überweisungsvorschlag: überweisen. Die Vorlage auf Drucksache 15/1235 soll Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft (f) zusätzlich an den Ausschuss für Verkehr, Bau- und Woh- Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und nungswesen überwiesen werden. Sind Sie einverstan- Entwicklung den? – Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Gabriele Lösekrug-Möller, Ulrike Mehl, Petra Bierwirth, Ich rufe die Tagesordnungspunkte 26 a bis 26 o sowie weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD die Zusatzpunkte 3 a bis 3 e auf. Es handelt sich um die sowie der Abgeordneten Undine Kurth (Quedlin- Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aus- burg), Volker Beck (Köln), Winfried Hermann, sprache vorgesehen ist. weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Tagesordnungspunkt 26 a: Naturschutz geht alle an – Akzeptanz und In- Zweite und dritte Beratung des von den Fraktio- tegration des Naturschutzes in andere Politik- nen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE felder weiter stärken GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Vierten Gesetzes zur Änderung des Europawahlgeset- – Drucksache 15/1318 – zes und eines Neunzehnten Gesetzes zur Ände- Überweisungsvorschlag: rung des Europaabgeordnetengesetzes Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f) Sportausschuss – Drucksache 15/1205 – Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft (Erste Beratung 53. Sitzung) 4646 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2003

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer (A) Beschlussempfehlung und Bericht des Innenaus- Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Ich stelle fest, dass (C) schusses (4. Ausschuss) der Gesetzentwurf einstimmig angenommen worden ist. – Drucksache 15/1340 – Tagesordnungspunkt 26 d: Berichterstattung: Zweite und dritte Beratung des von der Bundes- Abgeordnete Barbara Wittig regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes Dorothee Mantel zur Durchführung gemeinschaftsrechtlicher Vor- Josef Philip Winkler schriften über die grenzüberschreitende Beweis- Dr. Max Stadler aufnahme in Zivil- oder Handelssachen in den Der Innenausschuss empfiehlt in seiner Beschluss- Mitgliedstaaten (EG-Beweisaufnahmedurch- empfehlung auf Drucksache 15/1340, den Gesetzent- führungsgesetz) wurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetz- – Drucksache 15/1062 – entwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Stimmt jemand dagegen? – Gibt es Enthaltungen? – Das (Erste Beratung 51. Sitzung) ist nicht der Fall. Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus- Beratung einstimmig angenommen worden. schusses (6. Ausschuss) Dritte Beratung – Drucksache 15/1283 – und Schlussabstimmung. Ich bitte Sie, sich zu erheben, wenn Sie zustimmen wollen. – Stimmt jemand dage- Berichterstattung: gen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit in Abgeordnete Dirk Manzewski dritter Lesung angenommen worden. Ingo Wellenreuther Jerzy Montag Tagesordnungspunkt 26 c: Rainer Funke Zweite und dritte Beratung des von der Bundes- Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschluss- regierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten empfehlung, Drucksache 15/1283, den Gesetzentwurf Gesetzes zur Änderung des Zollverwaltungs- anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzent- gesetzes und anderer Gesetze wurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Gegen- – Drucksache 15/1060 – stimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist da- mit in zweiter Beratung einstimmig angenommen (Erste Beratung 53. Sitzung) worden. (B) (D) Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzaus- Dritte Beratung schusses (7. Ausschuss) und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem – Drucksache 15/1342 – Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Berichterstattung: Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf Abgeordnete Simone Violka ist damit einstimmig angenommen worden. Elke Wülfing Tagesordnungspunkt 26 f: Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschluss- Zweite Beratung und Schlussabstimmung über empfehlung auf Drucksache 15/1342, den Gesetzent- den von der Bundesregierung eingebrachten Ent- wurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte wurf eines Gesetzes zu dem Vertrag vom diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, 27. Juni 2001 zwischen der Bundesrepublik um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Enthal- Deutschland und der Republik Indien über die tungen? – Ich bin mir über das Abstimmungsverhalten Auslieferung nicht ganz im Klaren. Stimmen Sie zu? (Ilse Falk [CDU/CSU]: Bei welchem Tages- – Drucksache 15/1073 – ordnungspunkt sind wir denn jetzt?) (Erste Beratung 51. Sitzung) – Wir sind in der zweiten Lesung. Der Finanzausschuss Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus- empfiehlt auf Drucksache 15/1342, den Gesetzentwurf schusses (6. Ausschuss) in der Ausschussfassung anzunehmen. – Drucksache 15/1285 – (Ilse Falk [CDU/CSU]: Wir stimmen zu!) Berichterstattung: – Auch Sie stimmen zu. – Der Gesetzentwurf ist damit in Abgeordnete Erika Simm zweiter Beratung mit den Stimmen des ganzen Hauses Wolfgang Zeitlmann gegen eine Stimme aus der CDU/CSU angenommen Jerzy Montag worden. Rainer Funke Dritte Beratung Der Rechtsausschuss empfiehlt auf Drucksache und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem 15/1285, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte die- Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – jenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2003 4647

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer (A) zu erheben. – Stimmt jemand dagegen? – Der Gesetzent- nung über Großfeuerungs- und Gasturbinen- (C) wurf ist einstimmig angenommen worden. anlagen – 13. BlmSchV) Tagesordnungspunkt 26 g: – Drucksachen 15/1074, 15/1154 Nr. 1, 15/1281 – Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Berichterstattung: richts des Rechtsausschusses (6. Ausschuss) zu Abgeordnete Astrid Klug der Unterrichtung durch die Bundesregierung Marie-Luise Dött Winfried Hermann Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Birgit Homburger Parlaments und des Rates zur Änderung der Der Ausschuss empfiehlt, der Verordnung auf Richtlinien 72/166/EWG, 845/5/EWG und Drucksache 15/1074 zuzustimmen. Wer stimmt für diese 90/232/EWG des Rates sowie der Richtlinie Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltun- 2000/26/EG über die Kraftfahrzeug-Haft- gen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen pflichtversicherung von SPD und Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stim- KOM (2002) 244 endg.; Ratsdok. 9864/02 men von CDU/CSU und FDP angenommen worden. Tagesordnungspunkt 26 j: – Drucksachen 15/103 Nr. 2.34, 15/985 – Beratung der Beschlussempfehung und des Be- Berichterstattung: richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz Abgeordnete Axel Schäfer (Bochum) und Reaktorsicherheit (15. Ausschuss) zu der Michael Grosse-Brömer Verordnung der Bundesregierung Jerzy Montag Sibylle Laurischk Verordnung zur Umsetzung EG-rechtlicher Vorschriften, zur Novellierung der Zweiund- Der Ausschuss empfiehlt in Kenntnis der Unterrich- zwanzigsten Verordnung zur Durchführung tung durch die Bundesregierung, eine Entschließung an- des Bundes-Immissionsschutzgesetzes (Ver- zunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh- ordnung über Immissionswerte für Schad- lung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Diese Be- stoffe in der Luft – 22. BImSchV) und zur schlussempfehlung ist ebenfalls einstimmig angenom- Aufhebung der Dreiundzwanzigsten Ver- men worden. ordnung zur Durchführung des Bundes- Immissionsschutzgesetzes (Verordnung über Tagesordnungspunkt 26 h: die Festlegung von Konzentrationswerten – Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- 23. BImSchV) (B) (D) richts des Finanzausschusses (7. Ausschuss) zu – Drucksachen 15/1178, 15/1272 Nr. 2.2, 15/1351 – der Unterrichtung durch die Bundesregierung Berichterstattung: Entschließung des Europäischen Parlaments Abgeordnete Astrid Klug zu der Mitteilung der Kommission an den Rat Marie-Luise Dött und das Europäische Parlament „Clearing Winfried Hermann und Abrechnung in der Europäischen Union. Birgit Homburger Die wichtigsten politischen Fragen und künfti- Der Ausschuss empfiehlt, der Verordnung auf gen Herausforderungen“ Drucksache 15/1178 zuzustimmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltun- (KOM [2002] 257 – C5-0325/2002 – 2002/2169 gen? – Die Beschlussempfehlung ist damit einstimmig [COS]) (EuB-EP 959) angenommen worden. – Drucksachen 15/611 Nr. 1.7, 15/1169 – Wir kommen nun zu den Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses. Berichterstattung: Abgeordnete Jörg-Otto Spiller Tagesordnungspunkt 26 k: Georg Fahrenschon Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- Der Ausschuss empfiehlt in Kenntnis der Unterrich- ausschusses (2. Ausschuss) tung durch die Bundesregierung, eine Entschließung Sammelübersicht 45 zu Petitionen anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh- – Drucksache 15/1242 – lung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Be- schlussempfehlung ist einstimmig angenommen worden. Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun- gen? – Sammelübersicht 45 ist einstimmig angenommen Tagesordnungspunkt 26 i: worden. Beratung der Beschlussempfehung und des Be- Tagesordnungspunkt 26 l: richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- und Reaktorsicherheit (15. Ausschuss) zu der ausschusses (2. Ausschuss) Verordnung der Bundesregierung Sammelübersicht 46 zu Petitionen Dreizehnte Verordnung zur Durchführung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes (Verord- – Drucksache 15/1243 – 4648 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2003

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer (A) Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun- Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun- (C) gen? – Auch Sammelübersicht 46 ist einstimmig ange- gen? – Sammelübersicht 52 ist ebenfalls einstimmig an- nommen worden. genommen worden. Tagesordnungspunkt 26 m: Zusatzpunkt 3 d: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- ausschusses (2. Ausschuss) ausschusses (2. Ausschuss) Sammelübersicht 47 zu Petitionen Sammelübersicht 53 zu Petitionen – Drucksache 15/1244 – – Drucksache 15/1338 – Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun- Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun- gen? – Sammelübersicht 47 ist ebenfalls einstimmig an- gen? – Sammelübersicht 53 findet aufseiten der Koaliti- genommen worden. onsfraktionen Zustimmung und stößt aufseiten der Op- positionsfraktionen CDU/CSU und FDP auf Ablehnung. Tagesordnungspunkt 26 n: Zusatzpunkt 3 e: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- ausschusses (2. Ausschuss) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- ausschusses (2. Ausschuss) Sammelübersicht 48 zu Petitionen Sammelübersicht 54 zu Petitionen – Drucksache 15/1245 – – Drucksache 15/1339 – Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun- gen? – Sammelübersicht 48 ist mit den Stimmen der Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun- Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposi- gen? – Sammelübersicht 54 ist mit den Stimmen von tionsfraktionen angenommen worden. SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP gegen die Stim- men von CDU/CSU angenommen worden. Tagesordnungspunkt 26 o: Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- heutige Tagesordnung um die Beratung von drei Be- ausschusses (2. Ausschuss) schlussempfehlungen des Vermittlungsausschusses er- weitert werden. Die Punkte sollen gleich anschließend Sammelübersicht 49 zu Petitionen aufgerufen werden. Sind Sie mit dieser Erweiterung ein- – Drucksache 15/1246 – verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist so beschlossen. (B) (D) Wer stimmt dafür? – Gibt es Gegenstimmen? – Ent- Ich rufe den Zusatzpunkt 8 auf: haltungen? – Sammelübersicht 49 ist wieder einstimmig Beratung der Beschlussempfehlung des Vermitt- angenommen worden. lungsausschusses zu dem Gesetz zur Regelung Zusatzpunkt 3 a: des Urheberrechts in der Informationsgesell- schaft Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- ausschusses (2. Ausschuss) – Drucksachen 15/38, 15/837, 15/1066, 15/1353 – Sammelübersicht 50 zu Petitionen Berichterstattung: Abgeordneter Hans-Joachim Hacker – Drucksache 15/1335 – Wird das Wort zur Berichterstattung gewünscht? – Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun- Wird das Wort zur Erklärung gewünscht? – Beides ist gen? – Sammelübersicht 50 ist ebenfalls einstimmig an- nicht der Fall. genommen worden. Dann kommen wir zur Abstimmung. Wer stimmt für Zusatzpunkt 3 b: die Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- auf Drucksache 15/1353. Wer stimmt dagegen? – Ent- ausschusses (2. Ausschuss) haltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stim- men von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und CDU/CSU Sammelübersicht 51 zu Petitionen gegen die Stimmen der FDP angenommen worden. – Drucksache 15/1336 – Ich rufe den Zusatzpunkt 9 auf: Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun- Beratung der Beschlussempfehlung des Vermitt- gen? – Keine. Sammelübersicht 51 ist einstimmig ange- lungsausschusses zu dem Gesetz zur Förderung nommen worden. von Kleinunternehmern, zur Eindämmung Zusatzpunkt 3 c: der Schattenwirtschaft und zur Verbesserung der Unternehmensfinanzierung Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- ausschusses (2. Ausschuss) – Drucksachen 15/537, 15/900, 15/1042, 15/1197, 15/1354 – Sammelübersicht 52 zu Petitionen Berichterstattung: – Drucksache 15/1337 – Abgeordneter Jörg-Otto Spiller Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2003 4649

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer (A) Wird das Wort zur Berichterstattung gewünscht? – Das Antje Hermenau (C) ist nicht der Fall. Wird das Wort zur Erklärung ge- Jürgen Koppelin wünscht? – Auch das ist nicht der Fall. Der Haushaltsausschuss empfiehlt in seiner Be- Dann kommen wir zur Abstimmung. Der Vermitt- schlussempfehlung auf Drucksache 15/1352, den Gesetz- lungsausschuss hat gemäß § 10 Abs. 3 Satz 1 seiner Ge- entwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte schäftsordnung beschlossen, dass im Deutschen Bundes- diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfas- tag über die Änderungen gemeinsam abzustimmen ist. sung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Gegen- Das Gleiche gilt auch für die folgende Beschlussempfeh- stimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist da- lung des Vermittlungsausschusses. mit in zweiter Beratung mit den Stimmen der Wer stimmt für die Beschlussempfehlung des Ver- Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von CDU/CSU mittlungsausschusses auf Drucksache 15/1354? – Ge- und FDP angenommen. genstimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfeh- lung ist einstimmig angenommen worden. (Zurufe von der CDU/CSU: Mehrheit!) Ich rufe den Zusatzpunkt 10 auf: Dritte Beratung Beratung der Beschlussempfehlung des Vermitt- und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Ge- lungsausschusses zu dem Gesetz zur Bekämp- setzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer fung des Missbrauchs von 0190er-/0900er- stimmt dagegen? – Gibt es Enthaltungen? – Mehrwertdiensterufnummern (Zurufe von der CDU/CSU: Mehrheit!) – Drucksachen 15/907, 15/1068, 15/1126, 15/1198, 15/1355 – Es bestehen Unklarheiten über die Mehrheit, Berichterstattung: (Zurufe von der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Abgeordneter Ludwig Stiegler DIE GRÜNEN: Nein!) Wird das Wort zur Berichterstattung gewünscht? – Das demzufolge müssten wir leider einen Hammelsprung ist nicht der Fall. – Wird das Wort zu einer Erklärung ge- durchführen. wünscht? – Das ist auch nicht der Fall. (Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer berät sich Dann kommen wir zur Abstimmung. Wer stimmt für mit den Parlamentarischen Geschäftsführern) die Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses auf Drucksache 15/1355? – Gegenstimmen? – Enthal- Niemand, auch keiner der Geschäftsführer der Oppo- tungen? – Auch diese Beschlussempfehlung ist einstim- sition, ist der Meinung, dass dieses ein sinnvoller Anlass (B) mig angenommen worden. für einen Hammelsprung ist. (D) (Dr. Werner Hoyer [FDP]: Die Abstimmung (Beifall bei Abgeordneten der SPD) über 26 b fehlt noch! Dadurch ist die Verwir- rung vorhin entstanden!) Ich werde deshalb jetzt die Abstimmung wiederholen. – Ich muss mich eben erkundigen. Einen Moment bitte. Wer stimmt für den Gesetzentwurf? – Wer stimmt da- gegen? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Bera- (Ute Kumpf [SPD]: 26 e!) tung angenommen worden. Kommen Sie bitte zum Präsidium! Dritte Beratung (Abg. Dr. Werner Hoyer [FDP] und Abg. Ilse Falk [CDU/CSU] begeben sich zum Präsi- und Schlussabstimmung. Ich bitte Sie, sich zu erheben, dium) wenn Sie dem Gesetzentwurf zustimmen wollen. – – Wir müssen in der Tat noch Abstimmungen durchfüh- (Zurufe von der CDU/CSU: Minderheit!) ren. Wer stimmt dagegen? – Ich rufe den Tagesordnungspunkt 26 b auf: (Zurufe von der CDU/CSU: Mehrheit!) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes Gibt es Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit in zur Abwicklung der Bundesanstalt für vereini- dritter Lesung angenommen worden. gungsbedingte Sonderaufgaben (BvSAbwick- Tagesordnungspunkt 26 e: lungsgesetz – BvSAbwG) – Drucksache 15/1181 – Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes (Erste Beratung 53. Sitzung) zur Änderung des Gesetzes über die Tätigkeit Beschlussempfehlung und Bericht des Haushalts- europäischer Rechtsanwälte in Deutschland ausschusses (8. Ausschuss) und weiterer berufsrechtlicher Vorschriften für Rechts- und Patentanwälte, Steuerberater – Drucksache 15/1352 – und Wirtschaftsprüfer Berichterstattung: – Drucksache 15/1072 – Abgeordnete Jochen-Konrad Fromme Klaas Hübner (Erste Beratung 51. Sitzung) 4650 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2003

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer (A) Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus- hebung des Modulationsgesetzes und zur Än- (C) schusses (6. Ausschuss) derung des GAK-Gesetzes – Drucksache 15/1284 – – Drucksache 15/948 – Berichterstattung: (Erste Beratung 44. Sitzung) Abgeordnete Christoph Strässer Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- Joachim Stünker ses für Verbraucherschutz, Ernährung und Land- Michael Grosse-Brömer wirtschaft (10. Ausschuss) Jerzy Montag Rainer Funke – Drucksache 15/1158 – Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschluss- Berichterstattung: Abgeordnete Waltraud Wolff (Wolmirstedt) empfehlung auf Drucksache 15/1284, den Gesetzent- Bernhard Schulte-Drüggelte wurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte Ulrike Höfken diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfas- Hans-Michael Goldmann sung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Gegen- stimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist da- c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- mit in zweiter Beratung mit den Stimmen des ganzen richts des Ausschusses für Verbraucherschutz, Hauses angenommen worden. Ernährung und Landwirtschaft (10. Ausschuss) Dritte Beratung – zu dem Antrag der Abgeordneten Waltraud Wolff (Wolmirstedt), Matthias Weisheit, Sören und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Bartol, weiterer Abgeordneter und der Fraktion Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – der SPD sowie der Abgeordneten Ulrike Gibt es Gegenstimmen? – Gibt es Enthaltungen? – In Höfken, Volker Beck (Köln), Cornelia Behm, schöner Einstimmigkeit beenden wir damit die Abstim- weiterer Abgeordneter und der Fraktion des mungen. Tagesordnungspunkt 26 e findet einstimmig BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Zustimmung. EU-Agrarreform mutig angehen und ausge- Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 5 a bis 5 f auf: wogen gestalten a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre- – zu dem Antrag der Abgeordneten Peter H. (B) gierung Carstensen (Nordstrand), Gerda Hasselfeldt, (D) Dr. Wolfgang Schäuble, weiterer Abgeordne- Ernährungs- und agrarpolitischer Bericht ter und der Fraktion der CDU/CSU 2003 der Bundesregierung Mit der Reform der gemeinsamen Agrarpo- – Drucksache 15/405 – litik die Landwirtschaft und die ländlichen Räume in der EU stärken Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und – zu dem Antrag der Abgeordneten Hans- Landwirtschaft (f) Michael Goldmann, Dr. Christel Happach- Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Kasan, Ulrich Heinrich, weiterer Abgeordneter Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung und der Fraktion der FDP Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Marktwirtschaftliches Modell einer flächen- Entwicklung Ausschuss für Tourismus gebundenen Kulturlandschaftsprämie ver- Haushaltsausschuss wirklichen b) – Zweite und dritte Beratung des von den Abgeord- – Drucksachen 15/462, 15/422, 15/435, 15/1025 – neten Hans-Michael Goldmann, Birgit Berichterstattung: Homburger, Dr. Christel Happach-Kasan, weite- Abgeordnete Waltraud Wolff (Wolmirstedt) ren Abgeordneten und der Fraktion der FDP ein- Albert Deß gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Aufhe- Friedrich Ostendorff bung des Gesetzes zur Modulation von Hans-Michael Goldmann Direktzahlungen im Rahmen der gemeinsamen Agrarpolitik und zur Änderung des GAK-Geset- d) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- zes richts des Ausschusses für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft (10. Ausschuss) – Drucksache 15/754 – – zu dem Antrag der Abgeordneten Reinhold (Erste Beratung 44. Sitzung) Hemker, Dr. Sascha Raabe, Matthias Weisheit, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der – Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat SPD sowie der Abgeordneten Ulrike Höfken, eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Auf- Thilo Hoppe, Friedrich Ostendorff, weiterer Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2003 4651

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer (A) Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNIS- des drohenden Hammelsprungs hier auf heißen Kohlen (C) SES 90/DIE GRÜNEN saß, weil ich das Flugzeug bekommen muss, um zum Bauerntag zu kommen, wo ich nicht gänzlich absent sein Für eine nachhaltige Agrarpolitik und einen möchte. Dafür haben Sie sicherlich Verständnis. gerechten Interessenausgleich bei den lau- fenden WTO-Verhandlungen Ich habe aber hier eine schöne Aufgabe, nämlich von – zu dem Antrag der Abgeordneten Peter H. dem Erfolg in Luxemburg zu berichten. Carstensen (Nordstrand), Albert Deß, Gerda (Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/ Hasselfeldt, weiterer Abgeordneter und der CSU]: Wessen Erfolg?) Fraktion der CDU/CSU – Ich weiß, dass es da wieder Kritik gibt. Jetzt überneh- WTO-Verhandlungen – Europäisches Land- wirtschaftsmodell absichern men Sie aber nicht gleich mit Zwischenrufen den O-Ton des Deutschen Bauernverbandes. Ein Kommissar hat Ih- – Drucksache 15/550, 15/534, 15/1133 – nen doch in dieser Woche in Nordrhein-Westfalen ge- Berichterstattung: sagt, dass Sie sich nicht vor dessen Karren spannen las- Abgeordnete Reinhold Hemker sen sollen. Überlegen Sie selber! Peter H. Carstensen (Nordstrand) (Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/ Ulrike Höfken CSU]: Eben!) Hans-Michael Goldmann Ich will Ihnen dazu einiges sagen. Beim Thema Re- e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Hans- formen in Deutschland ist ein interessantes Phänomen zu Michael Goldmann, Dr. Christel Happach-Kasan, beobachten: Alle fordern ständig Bewegung, aber wenn Gudrun Kopp, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP es mit den Reformen ernst wird, sagen alle: Wir hätten aber lieber Stillstand. Agrarpolitische Herausforderungen der WTO und EU-Osterweiterung mit der Kulturland- (Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/ schaftsprämie meistern CSU]: Nein!) – Drucksache 15/1232 – Komischerweise ist das in allen Bereichen so – wir ken- Überweisungsvorschlag: nen das – und komischerweise trifft sich an exakt dieser Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Stelle die CDU/CSU mit dem Bauernverband. Deshalb Landwirtschaft (f) hat es mich auch nicht gewundert, als ich hörte, dass (B) Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Herr Fischler bei der Rüttgers-Veranstaltung in Nord- (D) Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union rhein-Westfalen vor einigen Tagen gesagt hat, der Deut- f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Hans- sche Bauernverband habe eine Tendenz zu Worst-Case- Michael Goldmann, Dr. Christel Happach-Kasan, Szenarien. Gudrun Kopp, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Jeder tut, was er kann, meine Damen und Herren. Ich meine, dass wir gut beraten sind, eine solche Politik an Impfen statt Töten – Grundlage für den Ein- dieser Stelle nicht zu machen, um nicht die Zukunftsfä- satz von Markerimpfstoffen schaffen higkeit der Landwirtschaft zu verspielen – übrigens des – Drucksache 15/1004 – Berufsstandes, den Sie angeblich immer verteidigen wollen. Ich glaube, dass man, wenn man will, dass sich Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und der Standort Deutschland weiterentwickelt, anfangen Landwirtschaft (f) muss, das Richtige zu tun und positiv zu strukturieren. Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Aber dazu hat der Bundeskanzler heute früh das Not- Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union wendige gesagt. Haushaltsausschuss Zum Ernährungs- und agrarpolitischen Bericht 2003 Warum brauchen wir eine Agrarreform? Ich will Ih- liegen je ein Entschließungsantrag der Fraktionen der nen ein paar Punkte aufzählen: erstens weil es um die SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen sowie der Frak- Zukunft der Bäuerinnen und Bauern in Deutschland tion der CDU/CSU vor. geht, die man schlicht und einfach mit Passivität nicht regeln wird; zweitens weil die Verbraucherinnen und Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für Verbraucher Erwartungen an die Landwirtschaft haben, die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. – Wi- die nicht mit den Erwartungen von vor 50 Jahren iden- derspruch höre ich nicht. tisch sind – sie sind heute klar auf Nachhaltigkeit ausge- richtet –; drittens weil alle Subventionen aus Steuergel- Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst dern, die wir zahlen, gesellschaftliche Akzeptanz die Frau Bundesministerin Renate Künast. brauchen – das heißt, dass auch im Agrarbereich alles auf dem Prüfstand steht und neu begründet und legiti- Renate Künast, Bundesministerin für Verbraucher- miert werden muss –; viertens weil wir wissen, dass ab schutz, Ernährung und Landwirtschaft: 2004 die „EU 25“ Realität ist und deshalb die Finanz- Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnen mittel knapper sind; fünftens weil im September die und Kollegen! Die Fachleute wissen, dass ich angesichts WTO-Verhandlungen in Cancun anstehen. 4652 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2003

Bundesministerin Renate Künast (A) Ich sage Ihnen ehrlich: Bevor ich alle Wirtschafts- strand] [CDU/CSU]: Deswegen reduzieren Sie (C) und Finanzminister in den Regelungen des Agrarbe- im Haushalt die Mittel für die nachwachsen- reichs herumrühren lasse, strukturieren wir den Bereich den Rohstoffe! 60 Millionen Verlust und lieber selber so, dass wir, auch in Abgrenzung zu den 10 Millionen packen Sie noch drauf!) USA, die passiv sind, erhobenen Hauptes nach Cancun gehen können. Genau das haben wir erreicht. Das heißt, wir können 185 Millionen Euro investieren; das ist mehr, als wir es mit geringen Ausgleichszahlun- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gen im zweistelligen Bereich gekonnt hätten. und bei der SPD) (Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Man kann nicht über die Zukunftsfähigkeit der Land- Kastner) wirtschaft in Europa reden, ohne das Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. Ebenso kann man nicht, auch nicht Wir tun Wesentliches für den Natur- und Tierschutz mit einem christlichen Anspruch, darüber reden, dass die sowie für die Pflege der Kulturlandschaft. Auf unsere Entwicklungsländer eine Chance haben sollen, ohne sich Initiative hin hat die Kommission bei der Förderung des an Reformen im Agrarbereich zu machen. ländlichen Raumes einige neue Punkte aufgenommen: der Fördergrundsatz „Tierschutz“, das eigene Kapitel Was haben wir erreicht? In Luxemburg haben wir den „Lebensmittelqualität“ – wir in Deutschland wissen, notwendigen Paradigmenwechsel erreicht. Man kann dass wir das brauchen – und ein Kapitel zur Förderung ihn an einigen wenigen Kernpunkten gut darstellen: höherer Standards im Tier- und Umweltschutz sowie Erstens. Die Direktzahlungen werden von der Pro- – das ist für mittelständische und Familienbetriebe nicht duktion abgekoppelt. Das gibt den Bauern mehr Ent- unwichtig – die Unterstützung lokaler Partnerschaften scheidungsfreiheit. zur Förderung von integrierten Entwicklungsstrategien. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) und bei der SPD) Das ist wichtig; denn nun können sie auf einer bestimm- Wir alle wissen nämlich, dass man den einzelnen Famili- ten Basis von Zahlungen, die sie erhalten, sagen: Jetzt enbetrieb nicht sich selbst überlassen darf, sondern dass überlege ich mir, was am Markt funktioniert und was ich es Sinn macht, auf regionaler Ebene gemeinsame Strate- anbauen will. gien zu entwickeln. Zweitens. Die Direktzahlungen werden in Zukunft an Wir alle wissen auch, dass das Hauptproblem im Be- die Einhaltung von Umwelt-, Tierschutz- und Qualitäts- reich der Milchwirtschaft liegt; denn für die meisten vorschriften gebunden. Das ist ein richtiger Schritt, den (B) Bauern in Deutschland ist die Milch die Haupteinkom- (D) die Verbraucher und Steuerzahler erwarten, weil es ihr mensquelle. Die Milchbauern tun sehr viel für den Erhalt Geld ist, das ausgegeben wird. der Kulturlandschaft. Nirgendwo in der Landwirtschaft Drittens. Ab 2005 gibt es die obligatorische Modula- wird so viel gearbeitet wie in der Milchwirtschaft. tion. Ich habe Ihnen vor zweieinhalb Jahren vorherge- sagt, dass sie kommen wird. Jetzt ist sie da. Sie stärkt die (Albert Deß [CDU/CSU]: Und die werden am nachhaltige Entwicklung ländlicher Räume und ist sozu- stärksten geschröpft!) sagen WTO-sicher. Dieses Geld geben wir im Interesse Deswegen haben wir in Luxemburg hart gekämpft. Herr der Steuerzahler aus. Über diesen Punkt werden wir im Deß, auch Sie wissen, wie der Vorschlag des Kommis- Zusammenhang mit dem Subventionsabbau nicht disku- sars aussah. tieren müssen. Das Ergebnis der längeren Beratung an der Stelle war: (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Erstens. Die Quotenregelung wird bis 2015 verlängert. und bei der SPD) Sie alle wissen, dass noch im Januar/Februar die Mehr- Wir haben mit der Entkopplung den alten Mechanis- heit des Agrarrates gegen diese Verlängerung war. Herr mus „Je mehr man produziert, desto mehr Steuergelder Deß, wenn Sie merken, dass im Juni etwas heraus- bekommt man“ durchbrochen. Mit der Modulation ha- kommt, wovon Sie im Januar nicht zu träumen wagten, ben wir eine ganze Reihe von Möglichkeiten für den könnten Sie ruhig ein freundliches Gesicht machen. ländlichen Raum geschaffen. Die Bauern müssen zwar entsprechende Anträge stellen. Aber das ist der Wille der (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Steuerzahler. und bei der SPD – Albert Deß [CDU/CSU]: Es war ja diese Bundesregierung, die verkündet Die Regel ist, dass EU-weit 80 Prozent der Modulati- hat, dass es auslaufen soll!) onsmittel in dem Mitgliedstaat verbleiben, in dem sie an- fallen. Wir haben für Deutschland die Sonderregelung, Zweitens. Die von der Kommission vorgeschlagene dass in Deutschland als einzigem Mitgliedstaat 90 Pro- Milchquotenerhöhung ab 2007/08, die den Druck auf zent der Modulationsmittel verbleiben. Die 10 Prozent den Markt noch mehr erhöht hätte, ist erst einmal vom extra können wir ganz gezielt in Roggenanbauregionen Tisch. investieren, um dort Umstiegsmöglichkeiten und Alter- Drittens. Wir haben durchgesetzt – Sie haben sich nativen zu finanzieren. noch nicht einmal getraut, das zu fordern –, dass die be- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN reits in der Agenda 2000 beschlossenen Regelungen zur und bei der SPD – Peter H. Carstensen [Nord- Milchquotenerhöhung erst einmal verschoben werden. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2003 4653

Bundesministerin Renate Künast (A) Die Senkung der Interventionspreise fällt deutlich gerin- Wir zahlen doch in Bayern bereits diese Prä- (C) ger aus, als von Fischler vorgeschlagen. mie!) Meine Damen und Herren, nun tun Sie nicht so, als Meine Damen und Herren, wir haben mit den Be- seien wir das letzte kleine gallische Dorf. Reden Sie schlüssen von Luxemburg viele flexible Regelungen ge- nicht immer von Marktwirtschaft, wenn Sie das Gegen- schaffen, die es uns ermöglichen, mit Blick auf die deut- teil haben wollen. sche Situation zielgenau etwas aufzubauen, was am Ende so effektiv und rational ist, dass es bei den Ländern (Albert Deß [CDU/CSU]: Das ist doch Schön- nicht mehr Verwaltungsarbeit auslöst. rednerei! Das hat nichts mit der Realität zu tun!) (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Frau Künast, das wird nicht klappen!) Tun Sie nicht so, als ob Deutschland seine Exportinteres- sen wahren könnte, wenn beispielsweise der Butterpreis Ich kann Sie nur auffordern, hier nicht nachzukarten, – es gibt 70 000 Tonnen eingelagerte Butter, die der sondern die Beschlüsse, die es nun einmal gibt, umzuset- Steuerzahler vom Markt kauft – gestützt wird. Jeder, der zen. Hier hoffe ich auf Ihre konstruktive Arbeit. nur einen Hauch Ahnung von internationaler Politik hat, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN weiß doch, dass man diese künstliche Konstruktion – auf und bei der SPD) der einen Seite Überproduktion und auf der anderen Seite Preisstützung – nicht halten kann. Es kann daher nur langfristig darum gehen, einen Ausgleich zu schaf- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: fen und dem einen oder anderen die Möglichkeit zu ge- Nächster Redner ist der Kollege Peter Bleser, CDU/ ben, zu überlegen, was er mit seiner Produktion macht. CSU-Fraktion. Deshalb bin ich froh, dass bei der Senkung der Interven- tionspreise nur 4 Prozent und nicht 10 Prozent, wie (Beifall bei der CDU/CSU) Fischler vorgeschlagen hatte, herausgekommen sind und dass wir einen Preisausgleich von 80 Prozent erreicht Peter Bleser (CDU/CSU): haben; bei der Agenda 2000 waren es seinerzeit nur Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Erlau- 50 Prozent. Ich glaube, dass sich dies sehen lässt. ben Sie mir bitte eine Vorbemerkung: Peter Harry (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Carstensen, an dessen Stelle ich hier stehe und der im und bei der SPD) Moment leider nicht im Saal ist, musste gestern zu ei- nem Check-up ins Krankenhaus. Als er heute wieder- Zum Schluss weise ich noch auf einen wichtigen kam, sagte er, er habe einen hundertprozentigen Frei- (B) Punkt hin: Wir haben es alle miteinander in der Hand, spruch erhalten. Wir alle sind froh, dass er gesund ist. (D) die Probleme im Milchbereich durch eine Grünland- prämie auszugleichen. Ich fordere Sie dazu auf, an die- (Beifall) ser Stelle offen zu diskutieren. Meine Damen und Herren, bei der Vorbereitung die- (Albert Deß [CDU/CSU]: Die zahlen wir in ser Rede habe ich lange darüber nachgedacht, wie ich sie Bayern längst, Frau Ministerin!) anlege. Soll ich hier die schonungslose Wahrheit über die derzeitige Agrarpolitik der Bundesregierung vortra- Eine Grünlandprämie hilft den Landwirten tatsächlich, gen und die Ergebnisse der Brüsseler Agrarbeschlüsse weil sie in diesen Kulturlandschaften gesellschaftliche nüchtern erläutern, um damit noch mehr Pessimismus zu Arbeit leisten. verbreiten, als in der Landwirtschaft ohnehin schon vor- handen ist, oder soll ich den Optimismus, den ich per- (Albert Deß [CDU/CSU]: Wie viel bekommen sönlich schon immer bevorzuge, in den Vordergrund sie pro Hektar?) stellen? Der Weg dahin ist mit den Luxemburger Beschlüssen Frau Künast, lassen Sie mich Ihnen vorweg eines sa- bereitet. Bund und Länder müssen dies gemeinsam um- gen: Sie bekämpfen den Bauernverband als einen per- setzen. Aber hier müssen Sie natürlich den Mut haben, sönlichen Feind. Der Bauernverband besteht aus ge- an den Stellen, an denen einige Landwirte sehr viel be- wählten Vertretern; er vertritt die Interessen der in Not kommen, etwas wegzunehmen, damit die Grünland- befindlichen bäuerlichen Familien. standorte von den zu verteilenden Mitteln etwas abbe- kommen. In Zeiten der Agenda 2010 und von (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: So ist es!) Sparhaushalten in Bund und Ländern wissen alle, dass es Diese Interessenvertretung sollten Sie achten und schät- nicht mehr Geld gibt und dass wir Gerechtigkeit herstel- zen, nicht aber bekämpfen. len müssen. Wer über die Situation der Milchbauern klagt, meine Damen und Herren, muss das Instrument (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) der Grünlandprämie anwenden und dafür sorgen, dass diejenigen, die sehr viel bekommen, ein Stück zugunsten Meine Damen und Herren, würde hier Pessimismus der Milchbauern abgeben. Ich werde Sie daran messen, verbreitet, führte dies zu einem weiteren Investitionsstau ob Sie den Mut haben, diese Prämie einzuführen. in der Agrarwirtschaft, verunsicherte das die Menschen, die in der Ernährungswirtschaft einen Arbeitsplatz (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN haben, und verleidete das den jungen Menschen auf und bei der SPD – Albert Deß [CDU/CSU]: den Bauernhöfen die Lust, die Betriebe ihrer Eltern 4654 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2003

Peter Bleser (A) fortzuführen. Auf der anderen Seite ist es Aufgabe der sere Kollegen in Frankreich je Liter Diesel nur 5,5 Cent (C) Opposition, die Dinge so zu benennen, wie sie sind. Tut Steuern und die Dänen sogar nur 3,2 Cent zahlen. Wir man dies, kann daraus durchaus eine Entscheidungs- zahlen schon heute 25,6 Cent Steuern auf die Prozess- grundlage erwachsen, die zu einer Erneuerung führt. energie von Sondermaschinen, die auf dem Acker einge- setzt werden. Dies ist keine Benutzung von öffentlichen Die Agrarreform der EU ist ein perspektivloser, bü- Verkehrswegen, womit diese Steuer einmal gerechtfer- rokratischer Murks, dessen Verfallsdatum in wenigen tigt wurde. Das wird jetzt noch einmal verschärft und Jahren schon abgelaufen sein wird. Dieses Datum das bekämpfen wir entschieden. könnte mit einem Regierungswechsel in Deutschland zu- sammentreffen, sofern dieser nicht noch vorher eintritt. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Damit ist in der Ferne die Morgenröte der Hoffnung neten der FDP) sichtbar, dass die Agrar- und Verbraucherpolitik in Ein Zweites ist gestern beschlossen worden: die Zu- Europa und Deutschland wieder vorangebracht werden schüsse für die landwirtschaftlichen Krankenversi- kann. cherungen um 20 Prozent, um 243 Millionen Euro, zu (Beifall bei der CDU/CSU – Manfred Helmut kürzen. Zöllmer [SPD]: Aber nicht von Ihnen!) (Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/CSU]: Meine Damen und Herren, bis es aber so weit ist, ge- Totengräber der Familienbetriebe!) hen wir durch ein Tal drastischer und dramatischer Ein- Wissen Sie eigentlich, was Sie da getan haben? Diese kommensverluste. Wir werden den Verlust Tausender Zuschüsse hatten einmal den Sinn, den hohen Anteil an Arbeitsplätze in den vor- und nachgelagerten Bereichen älteren Menschen, die in landwirtschaftlichen Versiche- der Agrarwirtschaft zu beklagen haben. Wir werden den rungen versichert sind, abzufedern. Wenn dies so umge- Rückgang der Marktanteile von hochwertigen heimi- setzt wird, dann werden wir in einigen regionalen Kran- schen Lebensmitteln zugunsten von unter ganz anderen kenversicherungen – speziell in Rheinland-Pfalz – Qualitäts- und Tierschutzbedingungen erzeugten, impor- Beitragserhöhungen von bis zu 51 Prozent haben. Das tierten Lebensmitteln bejammern. bedeutet das Aus für diese Versicherungsform, eine Ver- (Albert Deß [CDU/CSU]: Das ist die Realität! sicherungsform, die die Möglichkeit geschaffen hat, auf Genauso ist es!) Besonderheiten in der Landwirtschaft einzugehen. Darüber hinaus werden wir von einem gewaltigen und Ich sage Ihnen ganz offen: Das ist eine unanständige noch mehr verschärften bürokratischen Gestrüpp gefes- Politik. selte landwirtschaftliche Unternehmer bedauern müssen. (Beifall bei der CDU/CSU) (B) (D) Dafür tragen Sie, Frau Künast, mit Ihrer linksideolo- Ich frage ganz besonders die sozialdemokratischen Kol- gischen Politik die volle Verantwortung. legen, ob sie das noch mit ihrem Gewissen vereinbaren (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- können. Das sind Sonderlasten, die keine andere gesell- neten der FDP) schaftliche Gruppe zu tragen hat, und Sie packen immer noch drauf. Ihr Bundeskanzler, der Ihnen diese gesellschaftliche und ideologische Spielwiese überlassen hat, trägt sie eben- Diese Meldungen erreichen die Bauernfamilien vor falls. dem Hintergrund, dass die Einkommen in den letzten Jahren, wie schon geschildert, zurückgegangen sind, sie Bevor ich nun die EU-Beschlüsse näher erläutere, im laufenden Wirtschaftsjahr ebenfalls rückläufig sind möchte ich kurz die dramatische Situation der deut- und die Ernteaussichten in diesem Jahr – allerdings wit- schen Landwirtschaft beleuchten. Laut Agrarbericht terungsbedingt – nicht die besten sind. Gesteigert wird der Bundesregierung, den wir heute mit beraten, sank diese Stimmungslage der Bauern auch nicht durch Ihr der Gewinn pro landwirtschaftliches Unternehmen im Frohlocken, Frau Künast, über die EU-Agrarreform, die Wirtschaftsjahr 2001/2002 um 6,6 Prozent. Die Schät- weitere Einkommensrückgänge in Höhe von 1,5 Milliar- zung der Bundesregierung für das jetzt abgelaufene den Euro zur Folge haben wird. Verständlich, dass sich Wirtschaftsjahr 2002/2003 ist schon bei einem Minus auf den Höfen Resignation und Verzweiflung ausbreiten! von 15 Prozent angelangt. Der Gewinn wird aber leider noch mehr sinken. Damit komme ich zur Agrarreform, die Sie letzte Wo- che mit beschlossen haben. Anstatt die ursprünglich bis (Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/CSU]: zum Ende des Jahres 2006 laufende Agenda 2000 fortzu- Kann das der Künast-Effekt sein?) führen und sie als Verhandlungsgrundlage der EU heran- – Der Künast-Effekt wirkt derzeit und in Zukunft sogar zuziehen, haben Sie sich in Brüssel über den Tisch zie- noch verstärkt. hen lassen. Es ist ein Tor, wer glaubt, dass solche Erklärungen des Verzichts auf Marktanteile und letztlich Vor diesem Hintergrund einer frustrierenden Einkom- auf Arbeitsplätze bei den WTO-Verhandlungen hono- menssituation unserer bäuerlichen Familien müssen wir riert würden. Im Gegenteil: Es wird sicher draufgesattelt. die gestern im Kabinett beschlossenen Sonderlasten für So werden wir schon kurze Zeit nach der WTO-Runde die deutschen Bauern scharf verurteilen. Die Einnahmen eine neue Agrarreform beschließen müssen. Wie sollen aus der Mineralölsteuer für Agrardiesel sollen um die Menschen planen, wenn sie sich bei der 157 Millionen Euro erhöht werden. Sie wissen, dass un- Agenda 2000 schon vor Ablauf der Hälfte der Zeit auf Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2003 4655

Peter Bleser (A) neue Daten einstellen müssen? So behaupte ich, dass Alle diese Fragen werden wir leider mit Nein beant- (C) auch die neue Agrarreform wenig Planungssicherheit worten müssen. bieten wird. (Beifall bei der CDU/CSU) Frau Künast, eines muss man Ihnen lassen – das gilt Damit ist diese Reform im Ergebnis geschildert. Sie ha- auch für den hoffentlich im nächsten Jahr ausscheiden- ben sich in Brüssel über den Tisch ziehen lassen. den Agrarkommissar Fischler –: Sie haben es geschafft, die Reform so kompliziert zu machen, dass es kaum (Renate Künast, Bundesministerin: Ich war gar möglich ist, einem Bürger, der nicht mit Spezialwissen nicht in Brüssel!) ausgestattet ist, diese plausibel zu erläutern. Dies geschah, weil Sie ohne Vision dorthin gegangen (Manfred Helmut Zöllmer [SPD]: Das war ja sind und keine eigenen Vorstellungen in die Verhandlun- früher alles anders!) gen eingebracht haben. – Ich werde Ihnen gleich erklären, welche Position wir (Lachen und Widerspruch bei der SPD) haben. Das war die Grundlage. Sie haben vorher keine Ent- würfe gefertigt und mussten sich so mit dem zufrieden Die genannten Ziele sind noch zu akzeptieren: mehr geben, was Ihnen angeboten wurde. Tierschutz, mehr Landschaftspflege, von mir aus auch mehr ökologisch ausgerichteter Landbau. Das alles ist Meine Damen und Herren, wir, die CDU/CSU-Frak- durchaus anerkennenswert. tion, haben Ihnen klare Positionen entgegengestellt. In unserem Husumer Papier haben wir die richtigen Wei- Aber die Realität ist genau das Gegenteil. Ich frage chenstellungen für eine langfristige Reform skizziert. Sie: Glaubt jemand, dass die Absenkung des Milch- preises um circa 25 Prozent auf Weltmarktniveau – das (Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/ sind etwa 20 Cent pro Liter – die Milchqualität steigert CSU]: Das hätten Sie mal lesen sollen, Frau oder einen mit höheren Kosten verbundenen Tierschutz Künast! Dann hätten Sie Ihre Rede nicht ge- ermöglicht? Glaubt jemand, dass Milcherzeuger statt ei- halten!) nes kostendeckenden Milchpreises lieber einen Teilaus- Sie können sie gern übernehmen. Damit würden Sie gleich für Preisrückgänge vom Steuerzahler haben wol- bei den Bauern auf Verständnis stoßen. len?

Glaubt jemand, dass eine nicht mehr an die Nahrungs- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (B) mittelproduktion gekoppelte Flächenprämie mehr Land- Herr Kollege, Ihre Redezeit ist zu Ende. (D) schaftspflege bedeutet? Glaubt jemand, dass ein nicht mehr durchschaubares Peter Bleser (CDU/CSU): Prämiensystem mit teilentkoppelter, regional unter- Ich bin gleich fertig, Frau Präsidentin. schiedlicher, an 18 EU-Auflagen gebundener, eventuell von einer Zwangsberatung abhängiger und einer Modu- Wir wollen, dass auch bei den WTO-Verhandlungen lation – also einer Umverteilung – unterworfener Aus- die flächendeckende, multifunktionale Landwirtschaft in gleichszahlung dem Steuerzahler oder den Landwirten Europa durchgesetzt wird. Wir wollen, dass die Bäuerin- noch vermittelbar ist? nen und Bauern, die in Verantwortung vor den Verbrau- chern, den Tieren und der Natur als unabhängige Unter- Glaubt jemand, dass das Verkaufen oder das Ver- nehmer handeln, von ihrer Arbeit leben können. pachten von Prämienrechten und die damit verbundene Schaffung eines neuen Berufsbildes – Hängematten- Damit komme ich an den Anfang meiner Ausführun- landwirt – auch nur von einem Bürger verstanden wer- gen zurück. Tun wir alles, damit die Laufzeit dieser den? Glaubt jemand, dass ein Flickenteppich von mit Agrarreform möglichst kurz ist und diese Regierung unterschiedlichen Prämienrechten versehenen Flächen, möglichst schnell ihr Ende findet. Dann haben wir wie- das Ganze womöglich noch von Bundesland zu Bun- der Platz für Hoffnung in den Köpfen der Menschen ge- desland unterschiedlich, administrativ noch zu „han- schaffen. deln“ ist? Ich bedanke mich. Glaubt jemand, dass die drastischen Erzeugerpreis- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- senkungen in Form von niedrigen Brot-, Milch- oder neten der FDP) Fleischpreisen je einen Verbraucher erreichen? Glaubt jemand, dass Sie, Frau Künast, die von Brüs- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: sel erlaubte Umverteilung von 10 Prozent der Direktzah- Nächste Rednerin ist die Kollegin Waltraud Wolff, lungen – immerhin über 500 Millionen Euro – für eine SPD-Fraktion. Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Landwirtschaft einsetzen werden? Waltraud Wolff (Wolmirstedt) (SPD): (Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/ Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und CSU]: Spielwiesengeld!) Kollegen! Herrn Blesers Rede kann ich kurz wie folgt 4656 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2003

Waltraud Wolff (Wolmirstedt) (A) zusammenfassen: Subventionsabbau ja, aber nicht bei WTO-Verhandlungen im September sind wir auf diese (C) uns! Art und Weise sehr gut aufgestellt. Ich möchte meiner Rede ein ganz herzliches Danke- Die EU befindet sich in der Offensive. Das ist eine schön an Sie, Frau Bundesministerin Künast, voranstel- ungeheure Stärkung unserer gemeinsamen Position, ge- len. rade auch gegenüber den USA. Denn der Abbau von di- rekten Preisstützungssystemen war neben der Export- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ erstattung und neben dem Abbau der Zölle ein wesentli- DIE GRÜNEN – Kurt J. Rossmanith [CDU/ cher Forderungspunkt der letzten WTO-Ministerratsta- CSU]: Bauernvernichterin!) gung im Jahre 2001. Andere Länder sind noch lange Denn bei den Agrarverhandlungen haben Sie nicht zu- nicht so weit, wie wir in der EU jetzt sind. letzt durch Ihr ausgezeichnetes Verhandlungsgeschick (Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/ einen für Deutschland wirklich guten Kompromiss er- CSU]: Und was ist mit den Bauern?) zielt. Über den finanziellen Rahmen hinaus wurde nun die (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Marschrichtung für zehn Jahre festgelegt. DIE GRÜNEN) , dass du so krank gewesen Keiner der Fachpolitiker, selbst die CDU-Kollegen bist, tut mir Leid. Aber ich würde sagen: Halte dich jetzt nicht, hätte ein solches Ergebnis erwartet. Sie waren am einfach mal zurück. Anfang sogar sprachlos. (Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/ (Max Straubinger [CDU/CSU]: So schlimm CSU]: Wenn das im Sinne meiner Gesundheit hat es keiner erwartet! – Kurt J. Rossmanith sein soll, ja!) [CDU/CSU]: So die Bauern mit Füßen zu tre- ten!) Der Deutsche Bauernverband kritisiert die EU-Agrar- reform als Flickschusterei. Ich finde diese Kritik schon Die sehr unterschiedlich strukturierte Landwirtschaft sehr erstaunlich, in Deutschland ist wirklich nicht leicht zu vertreten und gerade deshalb ist das Ergebnis im Sinne dieser Vielfalt (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Nein, die ist ein großer Erfolg. Ich beglückwünsche Sie dazu. berechtigt!) (Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/ denn allen Mitgliedstaaten – das wissen wir, das haben CSU]: Und was ist mit den Bauern?) wir auch vorhin noch einmal von der Ministerin gehört – ist ein gewisser Teil an Selbstbestimmung geblieben. Ein (B) Ich möchte gern auf Peter Bleser eingehen, der gesagt Beispiel dafür ist die Möglichkeit der freien Entschei- (D) hat: Frau Künast allein trägt die Verantwortung. – Ich dung für eine Betriebsprämie denke, der deutsche Bundeskanzler, Frau Künast und auch der französische Staatschef sowie der französische (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Genau!) Landwirtschaftsminister tragen hier Verantwortung, oder für eine Angleichung von Ackerbau- und Grünland- nämlich die Verantwortung für eine gemeinsame euro- prämien. Das ist doch im Sinne der Landwirtschaft. Wir päische Zukunft. Das ist ein sehr wichtiger Punkt; ich müssen endlich lernen, europäisch zu denken. denke dabei auch an die heutige Debatte über die EU- Osterweiterung. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Hans-Michael Goldmann (Albert Deß [CDU/CSU]: Die Bauern werden [FDP]: Was ist denn daran europäisch? – Peter sich noch wundern!) H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/CSU]: Vor vier Wochen war das doch noch ein Abschied Deutschland und Frankreich haben hier gezeigt, wie von der gemeinsamen Agrarpolitik, wenn je- europäische Zukunft gemeinsam gestaltet werden kann. der machen konnte, was er wollte!) (Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/ Interessen fallen aufgrund unterschiedlicher regionaler CSU]: Und was ist mit den Bauern?) Gegebenheiten – ich erinnere nur an das Klima – nun Liebe Kolleginnen und Kollegen, die EU hat bewie- einmal unterschiedlich aus. Wir können das auch positiv sen, dass sie reformfähig ist, obwohl ich während der gestalten, wenn wir nur wollen; denn alle Länder haben drei Verhandlungswochen wirklich oft an eine Papstwahl die Möglichkeit, die für sie günstigsten Lösungen zu fin- erinnert wurde und mich immerzu gefragt habe: Wann den. Genau aus diesem Grund finde ich die harsche Kri- endlich steigt der weiße Rauch auf? tik des DBV einfach nicht berechtigt, (Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/ (Zuruf von der CDU/CSU: Die bösen Buben!) CSU]: Die Bauern werden verbrannt!) auch vor dem Hintergrund, dass Deutschland aufgrund Nun endlich ist es vollbracht. Die neue Ausrichtung ist der wegfallenden Roggenintervention als einziges Land gekennzeichnet durch die starke Entkopplung – wir ha- 90 Prozent der modulierten Mittel behalten darf, wäh- rend die anderen Länder nur 80 Prozent der Mittel zur ben das eben schon von der Bundesministerin gehört –, Auszahlung für die ländlichen Räume erhalten. durch die Stärkung der ländlichen Räume und durch die Bindung der Direktzahlungen an die Einhaltung von (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Umwelt-, Tierschutz- und Qualitätsvorschriften. Für die DIE GRÜNEN – Peter H. Carstensen [Nord- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2003 4657

Waltraud Wolff (Wolmirstedt) (A) strand] [CDU/CSU]: Das stimmt doch nicht! akzeptieren, dass die Weichenstellung, die wir nach dem (C) Griechenland kriegt doch mehr! Die kriegen Auftreten von BSE vorgenommen haben, richtig war. das Geld! Das ist Quatsch! Das wird doch ver- (Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/ teilt, bloß in andere Länder!) CSU]: Was hat das mit der Roggenintervention An dieser Stelle möchte ich auch auf die Bundesrats- zu tun?) initiative, auf den Entwurf eines Gesetzes zur Aufhe- In der Rede von Peter Bleser wurde deutlich, dass Sie bung des Modulationsgesetzes und zur Änderung des die Neuausrichtung der Agrarpolitik anscheinend emoti- GAK-Gesetzes, eingehen. Wir wollen möglichst rasch onal noch zu bewältigen haben. Kommen Sie damit end- die EU-weite Modulation erlangen, aber wir unterstüt- lich zum Ende und versuchen Sie, aus der Opposition zen nicht die auch mit diesem Entwurf gestützte Gangart heraus mitzugestalten! Denn es gilt der alte Spruch: Wer der CDU/CSU und der FDP, die besagt, dass nichts ver- zu spät kommt, den bestraft das Leben. ändert werden soll. Das ist nicht die richtige Lösung und wir haben dafür auch in Brüssel die rote Karte bekom- Danke schön. men. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Albert Deß [CDU/CSU]: Wir sind ja direkt DIE GRÜNEN – Albert Deß [CDU/CSU]: Mit stolz darauf, wenn man dort die rote Karte be- Ihrer Agrarpolitik werden die Bauern be- kommt!) straft!) Die Aufhebung der nationalen Modulation ist falsch und wir lehnen diesen Gesetzentwurf deshalb strikt ab. Im Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Gegensatz dazu wird die nationale Modulation in der Nächster Redner ist der Kollege Hans-Michael europäischen aufgehen. Goldmann, FDP-Fraktion. Meine Damen und Herren von der CDU/CSU-Frak- tion, Sie schreiben in Ihrem Entschließungsantrag – der Hans-Michael Goldmann (FDP): Kollege Peter Bleser hat das vorhin auch noch einmal Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und benannt –, Kollegen! Lassen Sie mich eine Vorbemerkung machen. Sie gilt Frau Künast, die schon auf dem Weg nach Frei- (Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/ burg ist, was ich sehr bedauere. Ich hätte mir gewünscht, CSU]: Der muss es doch wissen!) dass sie uns im Plenum zuhört. die anhaltende mangelnde Investitionstätigkeit sei be- (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Sehr richtig!) sorgniserregend. Erstens sagt der Agrarbericht 2003 et- (B) (D) was anderes aus. Wenn Sie ihn gelesen haben, werden Sie hat nämlich behauptet, dass wir immer Bewegung Sie festgestellt haben, dass die Höhe der Nettoinvestitio- fordern würden, dass wir aber, wenn es ernst wird, lieber nen im Vergleich zum Vorjahr um circa 1,4 Prozent ge- Stillstand hätten. Es hätte ihr gut getan, einem FDP-Red- stiegen ist. ner zuzuhören; denn dann hätte sie gemerkt, dass das ge- nau nicht unsere Position ist. Im Gegenteil, lieber Kol- (Albert Deß [CDU/CSU]: Aber von äußerst lege Bleser: Ich meine, dass auf europäischer Ebene im niedrigem Niveau aus! Das muss man dazusa- Hinblick auf unternehmerische Marktwirtschaft und un- gen! Die Eigenkapitalbildung war um ternehmerische Landwirtschaft von Frau Künast eine 40 Prozent rückläufig!) große Chance verspielt worden ist und dass wir in Zu- Zweitens haben viele Betriebe die Halbzeitbewertung kunft bitter darunter leiden werden. der EU abgewartet; denn diese Regelungen sind für die Wir Liberale wollen eine Agrarpolitik, die all das zum Entwicklung logischerweise entscheidend. Die Land- Ziel hat, was sich eigentlich jeder wünscht: gute Quali- wirtschaft wird in Zukunft nur noch dann Akzeptanz in tät, artgerechte Haltungsformen und natürlich höchsten der Bevölkerung erhalten, wenn sie vermehrt umwelt- Verbraucherschutz. Vor allen Dingen aber wollen wir und tiergerechte Verfahren einsetzt. uns sichtbar vor die Bauern stellen, die gerade in der jet- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ zigen Zeit, in der es um Subventionskürzungen und DIE GRÜNEN) Haushaltskürzungen geht, zum Teil äußerst ungerecht- fertigten Angriffen ausgesetzt sind. Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Landwirt- schaftsministerinnen und Landwirtschaftsminister der (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Bundesländer sind nun an der Reihe, hier aktiv mitzuar- Es ist fachlich nicht begründet und es macht wirklich beiten. Frau Künast hat für die nächste Woche eingela- keinen Spaß, wenn zum Beispiel Sabine Christiansen den. Ich kann mir vorstellen, dass es möglich ist, gemein- eine Abenddiskussion damit eröffnet, gerade bei den sam an zukunftsorientierten Maßnahmen zu arbeiten, Subventionen für die Bauern könne besonders viel ge- über Ländergrenzen und – wie ich mir wünsche – über kürzt werden, und meint, man könne das auf nationaler Parteigrenzen hinweg, für unsere Bauern und für unsere Ebene machen. Wer sich damit nie beschäftigt hat, der ländlichen Räume. weiß nicht, dass wir seit langem auf dem Weg zu einer Auch wenn es die Opposition in diesem Hause nicht europäischen Agrarpolitik sind. Für mich bleibt eine wahrhaben will: Die Neuausrichtung der EU-Agrarpoli- europäische Agrarpolitik die Voraussetzung für eine tik bestätigt den Kurs der Bundesregierung. Sie müssen globale Agrarpolitik. Eine solche globale Agrarpolitik 4658 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2003

Hans-Michael Goldmann (A) brauchen wir, wenn wir bei den WTO-Verhandlungen Kommentieren von Ergebnissen, möglicherweise auch (C) bestehen wollen. manchmal in der Presse, hinterher dargestellt wird. Auch beim Tierarzneimittelgesetz – das möchte ich ganz klar (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten sagen – wollen wir eine gemeinsame Lösung. der CDU/CSU) Lassen Sie mich jetzt zurückkommen auf die ge- Den deutschen Bauern geht es nicht gut, wie der Er- nannte blitzsaubere agrarpolitische Linie. Lieber Peter nährungsbericht belegt. Aber die deutschen Bauern ver- Harry Carstensen, lieber wirklich sehr geschätzter Albert fügen wie der Landwirtschaftsbereich insgesamt über Deß, lieber Herr Bleser, hier gibt es einen riesigen Kon- ein hohes Maß an Wissen und Können, sodass es mir um flikt in eurer Fraktion. Schaut mal, wer eure WTO-An- die Zukunft nicht bange sein müsste, wenn man ihnen träge unterschreibt nicht dauernd Knüppel zwischen die Beine werfen würde (Manfred Helmut Zöllmer [SPD]: Richtig, (Beifall bei der FDP) richtig! So ist das!) und wenn man endlich der Idee folgen würde, die wir Li- und was die zum Inhalt haben! Die Botschaft ist – das berale seit langem vertreten, nämlich weg von der Pro- muss man sich einmal vorstellen –, dass die WTO-Ge- duktsubvention hin zur Zuwendung in die Fläche zu spräche sozusagen auf der Basis der Vereinbarungen, kommen. Die von uns vorgeschlagene Kulturland- die jetzt auf europäischer Ebene getroffen worden ist, schaftsprämie ist die kluge Antwort auf die Herausfor- fortgeschrieben werden sollen. derungen, vor denen wir stehen. Sie hat einen riesengro- (Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/ ßen Vorteil: Sie ist unbürokratisch und bewirkt – bei CSU]: Ja, und?) erheblicher Einsparung im System –, dass das Einkom- men des Bauern über die gut bewirtschaftete Fläche um Ich sage euch: Eure WTO-Anträge sind richtiger als eure das Doppelte erhöht wird. Das wäre der Weg gewesen, Agraranträge. den wir hätten gehen sollen. Lieber Albert – ich sage das auch vor dem Hinter- Die FDP zieht seit Jahren unter Günther Bredehorn, grund der Wahlen in Bayern –, wer glaubt, dass man mit unter Uli Heinrich und den anderen Mitstreitern eine Schutzzöllen, mit einer nationalen Quote den globalen glasklare agrarpolitische Linie. Wir brauchen mehr Herausforderungen am Agrarmarkt wird begegnen kön- Marktorientierung und – ich sage das hier noch einmal – nen, der liegt falsch. Ich bin dafür, dass man den Bauern wir brauchen die entschiedene, unbürokratische, volle die Wahrheit sagt. Unternehmerische Bauern, tüchtige Entkopplung. Bauern werden in einem globalen Wettbewerb bestehen. (B) Aber es macht keinen Sinn, einen Schutzzoll hochzuzie- (D) (Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/ hen in einer Situation, in der Produkte aus der weiten CSU]: Er hat unser Programm gelesen!) Welt weit unter den Schutzzollpreisen in unseren Markt – Nein, nein, Peter Harry; ich will dich ja gesundheitlich hineinkommen können. Das ist keine zukunftsorientierte schonen. Auf euer Programm komme ich gleich noch zu Agrarpolitik. sprechen. (Beifall bei der FDP, der SPD und dem Jetzt möchte ich erst einmal etwas zu den Sozialde- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) mokraten und den Grünen sagen. Sie betreiben meiner Meinung nach an vielen Stellen eine ideologische Politik Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: gegen die Bauern. Herr Kollege Goldmann, gestatten Sie eine Zwischen- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) frage des Kollegen Carstensen? Sie diskriminieren die Bauern. Sie setzen europäische Vorgaben nicht im Verhältnis von 1 : 1 in nationales Hans-Michael Goldmann (FDP): Recht um – das machen Sie übrigens nicht nur in der Ja, klar. Agrarwirtschaft, sondern im gesamten grünen Bereich – und vermindern so die enormen Chancen des grünen Be- Peter H. Carstensen (Nordstrand) (CDU/CSU): reichs im Hinblick auf volkswirtschaftliches Wohlerge- hen, Ausbildungsplätze, Arbeitsplätze und Investitionen. Herr Kollege Goldmann, eigentlich wollte ich Ihnen ja nicht noch zusätzliche Redezeit verschaffen. Aber ich (Beifall bei der FDP) möchte Sie doch Folgendes fragen: Sind Sie bereit, in unser Husumer Papier zu schauen? Dann würden Sie Sie sollten das schlicht und ergreifend lassen. Das macht nämlich feststellen, dass es gewaltige Parallelen gibt. In überhaupt keinen Sinn. Das bringt uns gegenüber den Ihrem Antrag treten Sie für eine „Kulturlandschaftsprä- Nachbarn im Westen wie den Gartenbaubetrieben in den mie“ ein; in unserem Papier finden sich Maßnahmen Niederlanden ins Hintertreffen und wird uns auch gegen- für eine Entkopplung, um in einem sehr einfachen Ver- über den Nachbarn im Osten, die wir Gott sei Dank ha- fahren der Finanzierung dafür zu sorgen, dass der ben, den Polen, ins Hintertreffen bringen. Bauer, der zum Beispiel am 1. Juli den Antrag stellt, am Wir wollen die Probleme ja gemeinsam lösen. Im 7. Juli sein Geld bekommen kann. Sind Sie also bereit, Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Land- sich das einmal anzuschauen, damit Ihnen bei einigen wirtschaft sind wir uns häufig viel näher, als es beim Dingen die Parallele deutlich wird, und sind Sie auch Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2003 4659

Peter H. Carstensen (Nordstrand) (A) bereit, dies bei Ihrem Vergleich mit dem für mich in der von uns entfernt, bei den Niederländern, wird es ein an- (C) Tat nicht leicht verständlichen Beschluss, den die Euro- deres Modell geben als bei uns in Niedersachsen. In Nie- päische Union uns jetzt auf den Tisch gelegt hat, zu be- dersachsen wird es möglicherweise wieder ein anderes rücksichtigen? Modell geben als in Nordrhein-Westfalen. Es kommt zur Regionalisierung und zu einem erhöhten bürokratischen Hans-Michael Goldmann (FDP): Aufwand. In diesem Punkt ist das, was auf europäischer Ebene vereinbart worden ist, schlicht und ergreifend Ich bin zu jeder Form der fachlichen Zusammenarbeit schlecht. mit Christdemokraten bereit. Diese Bereitschaft brauche ich nicht mehr zum Ausdruck zu bringen. Ich habe das Liebe Freunde, ich sage das unter uns Agrarpoliti- Papier bereits gelesen. kern: Wir waren doch schon viel weiter. Als Herr Fischler im Ausschuss war, hatten wir wirklich die Hoff- (Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/ nung, dass es zu einer substanziellen Entkopplung, zu ei- CSU]: Aber nicht verstanden! – Heiterkeit bei ner Vereinfachung im System und zu einer Weichenstel- der CDU/CSU) lung in Richtung eines Wettbewerbs im europäischen – Peter Harry Carstensen, ich glaube, Sie waren gestern und im globalen Rahmen kommt. Wir waren uns doch gesundheitlich geschädigt. Entweder sind wir jetzt be- darin einig, dass wir diesen Schritt gehen müssen, um reit, uns verstehen zu wollen, oder wir lassen es bleiben. die WTO-Gespräche chancenreich zu bestehen. Wir wa- ren uns doch auch darin einig, dass dieser Beitrag gerade (Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/ den Entwicklungsländern hilft. Nach dem Besuch von CSU]: Okay!) Herrn Chirac in der Bundesrepublik Deutschland aller- Ich habe das Papier gelesen und bilde mir auch ein, es dings wurden – Herr Schröder und Herr Chirac waren verstanden zu haben. Ich meine, dass es in der CDU- sich einig – die klugen Ansätze, die es gab und die auch Sprache so simpel ist, dass mir das auch wirklich ge- die Frau Ministerin im Ausschuss vertreten hat, plötzlich glückt ist. aufgegeben. Frau Künast hat bei diesen Agrargesprächen auf der ganzen Strecke verloren. Wir werden die Diskussion miteinander fortsetzen. Dann werden Sie zu der Erkenntnis kommen, dass un- Das ist bedauerlich; denn die riesige Chance, gesell- sere Kulturlandschaftsprämie, unsere Flächenprämie schaftliche Akzeptanz für ein Agrarmodell zu gewinnen, wesentlich unbürokratischer, wesentlich effektiver ist als wie es sich die FDP vorstellt und wie es viele Vernünf- jede Form von Teilentkopplung, die in Ihrer Grünland- tige mittlerweile begleiten, wurde vertan, indem die un- prämie zum Ausdruck kommt. bürokratische und an die bewirtschaftete Fläche gebun- dene Kulturlandschaftsprämie auf der Strecke geblieben (D) (B) (Beifall bei der FDP – Peter H. Carstensen ist. Wir haben eine riesige Chance für gesellschaftliche [Nordstrand] [CDU/CSU]: Keine Teilentkopp- Weichenstellungen in Richtung einer klugen unterneh- lung!) merischen Agrarpolitik verpasst. Das ist bedauerlich. Lieber Peter Harry Carstensen, ich könnte auch zu- (Beifall bei der FDP) rückfragen: Sind Sie bereit, den Antrag, den Sie hier stellen, mit den Anträgen zu vergleichen, die Sie bei der WTO-Debatte heute Abend stellen werden, und kommen Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Sie vielleicht dann nicht selbst ins Grübeln, weil Sie Nächster Redner ist der Kollege Reinhold Hemker, feststellen, dass einige Ihrer agrarpolitischen Ausführun- SPD-Fraktion. gen sehr oberflächlich sind? (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Reinhold Hemker (SPD): DIE GRÜNEN) Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle- gen! Ich glaube, es ist noch nicht ausreichend deutlich Lassen Sie mich noch einmal auf den Kern der Ge- geworden, dass es bei der heutigen Debatte – das gibt schichte zurückkommen – das ist mir wichtig –: Wir sind auch der Bericht der Bundesregierung wieder – letztlich für eine schnelle, zielorientierte und unbürokratische um den Dreiklang Verbraucherschutz, Ernährung und Entkopplung. In der Tat gibt es auch mit den europäi- Landwirtschaft geht. Darüber hinaus geht es aber auch schen Beschlüssen kleine Trippelschritte hin zu einer um folgenden Dreiklang: Entkopplung. Teilweise gibt es eine Flächenprämie, es gibt aber auch noch jede Menge Betriebsprämien. Im Erstens geht es um die Weiterentwicklung einer Grunde genommen gibt es von allem ein bisschen – aber standortgerechten und für die Verbraucher transparenten nicht den großen Wurf. Das, was vorhin hier ausgeführt Agrar- und Ernährungswirtschaft in Deutschland unter worden ist, ist völlig richtig: Wir werden ein bürokrati- Berücksichtigung der unterschiedlichen Bedingungen in sches Gebilde erhalten, das sehr hohe Kosten verursa- unterschiedlichen Regionen. Es geht also um nationale chen und dazu führen wird, dass doch wieder viel zu we- und regionale Aspekte und um die Weiterentwicklung nig Geld bei den wirklich Betroffenen ankommt. der Methoden, wie sie gerade auf EU-Ebene beschlossen worden sind. Ich bin für eine europäische Agrarpolitik und sehe größte Probleme darin, dass man jetzt sozusagen regio- Zweitens geht es um die Reform und die Erweiterung nale Lösungen finden kann. Als Beispiel nenne ich das der EU mit dem wichtigen – ich nenne es bewusst so – Grenzgebiet in meiner Heimatregion. Fünf Kilometer Teilbereich der gemeinsamen europäischen Agrarpolitik 4660 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2003

Reinhold Hemker (A) unter den jetzt und in Zukunft noch vermehrt auftreten- funktionalität der Landwirtschaft und damit die Maßnah- (C) den neuen Bedingungen. Es geht also um den europäi- men zur Förderung des Natur- und Landschaftsschutzes, schen Aspekt. Das ist insbesondere nach dem, was wir der Entwicklung ländlicher Räume, der Arbeitsplatz- vorhin in einer namentlichen Abstimmung beschlossen sicherung, des ländlichen Tourismus und regionaler haben, wichtig zu sagen. Wirtschaftskreisläufe als förderungswürdig im Rahmen der Greenbox anerkannt werden. Drittens geht es um die Entwicklung in der einen Welt; das ist mir besonders wichtig. Dazu gehören – wir All das unterstützt die Bundesregierung für die Wei- haben das in unserem Antrag mit der Drucksachennum- terentwicklung der Regionen, in denen standortge- mer 15/550 niedergeschrieben – eine nachhaltige Agrar- rechte und nachhaltige Landwirtschaft nach wie vor ein politik und ein gerechter Interessenausgleich bei den lau- Standort- und Raumfaktor ist. Das bedeutet dann auch fenden WTO-Verhandlungen. Erforderlich ist ein mehr Sicherheit für die Entwicklung der Betriebe in globales Konzept mit mehr Freizügigkeit und Liberali- Deutschland und in Europa im nächsten Jahrzehnt. Wir sierung, aber auch Schutz und Hilfe für die Armen in wollen aber auch, dass bei den Verhandlungen dafür den armen Ländern, und zwar weltweit. Sorge getragen wird, dass bestehende Präferenzen für Bei allen Entwicklungen und Reformen geht es um die ärmsten Entwicklungsländer sowie die AKP-Staaten die Bemühungen zugunsten von mehr Nachhaltigkeit erhalten bleiben. Es muss Maßnahmen zum Schutz der auf einer globalen Agenda. Seit der Rio-Konferenz be- Landwirtschaft der ganz armen Länder geben. deutet das: (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Erstens. Die ökonomischen Rahmenbedingungen DIE GRÜNEN) müssen weiterentwickelt werden. Das geschieht im Billigimporte von Nahrungsmitteln aus reichen Ländern WTO-Verhandlungsprozess und wird in einigen Mona- be- bzw. verhindern deren Entwicklung, die meistens ten – da bin ich sicher – bei der Ministerkonferenz in von Kleinbauern getragen wird. Im Blick haben wir na- Cancun auf der Tagesordnung sein. türlich auch die Instrumente der bilateralen und mul- Zweitens. Die ökologischen Notwendigkeiten im tilateralen Entwicklungszusammenarbeit. Im Rah- Kontext dessen, was nicht nur wir Christen Schöpfungs- men der Umsetzung des Aktionsprogramms 2015 wird verantwortung nennen, müssen international und global – vorwiegend in der Verantwortung des BMZ – schon berücksichtigt werden. viel Gutes getan. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Die Grundlagen sind gelegt. Die EU-Agrarreform DIE GRÜNEN) kommt voran, wenn auch anders, als es manche wollen. (B) (D) Drittens. Es gilt, einen Gerechtigkeitsausgleich als so- Die EU-Erweiterung erschließt neue Märkte, auf denen zialen Auftrag für all diejenigen, die gesellschaftliche sich unsere Leistungsträger – der Kollege Goldmann hat und politische Verantwortung tragen, als Auftrag zur So- darauf schon hingewiesen – nicht nur aus dem Bereich lidarität zu begreifen und entsprechend zu handeln. Agrar- und Ernährungswirtschaft gut platzieren können. Der neue WTO-Rahmen wird neue Möglichkeiten schaf- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten fen, auch wenn vieles erst im Laufe der Zeit zum Tragen des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) kommt. Natürlich gab und gibt es noch viele Ungerech- Vor diesem Hintergrund kann es bei den WTO-Ver- tigkeiten, egoistische Verhandlungsstrategien und Son- handlungen nicht mehr vorwiegend um die Absiche- derwege, zum Beispiel der USA und einzelner Staaten rung des europäischen Landwirtschaftsmodells – so der so genannten Cairns-Gruppe. Auch bedeuten die un- steht es im Antrag der Union unter der Drucksachen- terschiedlichen Vorschriften und Standards, zum Bei- nummer 15/534; so hat sie es sogar als Überschrift for- spiel in Brasilien bei der Zuckerproduktion und in muliert – gehen. Vielmehr muss darauf hingewirkt wer- Argentinien bei der Fleischproduktion, Wettbewerbsvor- den, dass im Zuge einer Weiterentwicklung die teile. Darüber muss man bei den Verhandlungen reden. Maßnahmen im Rahmen der EU-Agrarreform WTO- Das ist dann selbstverständlich Gegenstand der Verhand- konform gemacht werden. Die Kollegin Waltraud Wolff lungen. hat deutlich gemacht, wie das schon jetzt geschieht. Die Die Vorschläge, die wir in unseren Anträgen, insbe- EU-Vereinbarungen helfen, dass es diejenigen, die für sondere in dem Antrag auf Drucksache 15/550, gemacht uns auf der WTO-Ebene verhandeln, nun leichter ha- haben, können dabei hilfreich sein im Sinne einer, wie ben. wir es genannt haben, nachhaltigen Agrarpolitik und ei- Vor diesem Hintergrund und dem, was die Bundes- nes gerechten Interessenausgleichs weltweit. regierung im Ernährungs- und agrarpolitischen Bericht Herzlichen Dank. 2003 in dieser Hinsicht feststellt, ist es wichtig, sich für einen verbesserten Marktzugang auch für schon weiter- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ entwickelte Länder in Afrika, Asien und Lateinamerika DIE GRÜNEN) einzusetzen und das Problem der handelsverzerrenden Exportsubventionen mit klaren quantitativen Vorgaben und einer klaren Zielperspektive offensiv anzugehen. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Für die weitere Qualifizierung des Agrarbereichs im glo- Das Wort hat der bayerische Staatsminister für Land- balen Kontext ist es natürlich wichtig, dass die Multi- wirtschaft und Forsten, Josef Miller. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2003 4661

(A) Josef Miller, Staatsminister (Bayern): Es besteht wirklich kein Grund, über die Entscheidun- (C) Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen des gen zur gemeinsamen Agrarpolitik zu jubeln. Lesen Sie Deutschen Bundestages! Die Frau Bundesministerin nach, wie vor drei Jahren die Agenda 2000 als großes streut Sand in die Augen und redet den Menschen an- Reformwerk bejubelt worden ist. Heute sind drei Jahre schließend nach dem Mund. vergangen und Sie sprechen von einer völlig neuen Agrarpolitik. Also kann die letzte Reform wirklich nicht (Beifall bei der CDU/CSU) gut gewesen sein. Die Halbwertszeit dieser Reform wird Noch nie lagen Anspruch und Wirklichkeit so weit aus- auch nicht länger sein. Das sage ich Ihnen voraus. einander. Das zeigt dieser Agrarbericht. (Beifall bei der CDU/CSU) Der Strukturwandel hat sich beschleunigt und das Hö- Die Bundesministerin schmückt sich jetzt mit frem- festerben hat mit 4,2 Prozent einen Spitzenwert erreicht, den Federn und sagt, sie habe Schlimmeres verhindert wie es Jahrzehnte nicht mehr der Fall war. und Großes erreicht. Vergleichen Sie doch unsere Situa- tion mit der in Frankreich, Österreich, Portugal oder Ita- (Zuruf von der CDU/CSU: Leider wahr!) lien: Wir liegen weit hinten. Die Bundesministerin hat Eine positive Entwicklung der Zahl der Betriebe gibt es nichts erreicht, außer dem Durchbruch ihrer ideologi- nur noch bei Betrieben über 100 Hektar LF. Die Frau schen Vorstellungen. Bundesministerin redet den bäuerlichen Betrieben das (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: So ist es!) Wort, treibt aber in Wirklichkeit eine Politik für die Großstruktur. Es gehört schon Mut dazu, sich hier hinzustellen und zu sagen: Wir haben doch die Garantiemengenregelung (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- durchgesetzt. Vor einem halben Jahr – das können Sie in neten der FDP) allen Fachblättern nachlesen – hat sich die Bundesminis- Rot-Grün gibt vor, den Tierschutz und den Umwelt- terin massiv gegen die Beibehaltung der Garantiemen- schutz besonders ernst zu nehmen. Die rot-grün regier- genregelung ausgesprochen. ten Länder bilden aber das Schlusslicht, wenn es um Tatsache ist, dass die in der Agenda 2000 vorgesehe- Mittel für Agrarumweltmaßnahmen geht. nen Interventionspreissenkungen um ein Jahr vorgezo- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) gen werden, dass der Interventionspreis für Butter um 25 Prozent sinkt und dass eine drastische Reduzierung Die Einkommen in der Landwirtschaft fallen gegen- der Interventionsmenge auf 30 Tonnen – also praktisch über dem Vergleichslohn in der gewerblichen Wirtschaft auf null – vorgesehen ist, obwohl es in der Produktion (B) immer mehr zurück. Sinkende Gewinne, besonders in durchaus nicht nur um den Verkauf oder um Lagerhal- (D) Futterbaubetrieben und benachteiligten Gebieten, führen tung, sondern auch um den Ausgleich jahreszeitlicher dazu, dass dort das Land nicht mehr bewirtschaftet wird. Schwankungen geht. Wenn Sie mit Ihrer Politik so weitermachen, dann ist die Gefahr groß, dass es dort, wo es landschaftlich am Es ist schon ein besonderes Verständnis von Mathe- schönsten ist, keine Bauern mehr gibt, die das Land pfle- matik, wenn man beschließt, den Grünlandgebieten et- gen. Das ist die Wirklichkeit. was wegzunehmen und dies nur zu 50 Prozent auszu- gleichen, um dies anschließend als Stärkung der Das ist die Schreckensbilanz der Bundesregierung im Grünlandgebiete zu verkaufen. Jeder Mathematiklehrer Agrarbereich. Das ist wahrlich eine Wende, aber eine würde eine solche Rechnung mit einer Sechs benoten, Wende, die allen schadet: den Bauern – das beweisen die weil die einfachsten Grundrechenarten nicht beherrscht Zahlen –, den ländlichen Räumen, der Umwelt, den Tie- werden. ren und den Verbrauchern. (Beifall bei der CDU/CSU – Friedrich Nationale Alleingänge mit weit überzogenen Regle- Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: mentierungen verteuern die Produktion in Deutschland. Sie haben überhaupt nichts verstanden!) Die Frau Bundesministerin hat das Verbraucherverhal- ten völlig falsch eingeschätzt. Die Bürgerinnen und Bür- Das Grünlandprogramm, das Sie angemahnt haben, ger greifen im Gegensatz zu Ihren Ankündigungen zu- wird in Bayern erfolgreich durchgeführt. Auch die Kul- nehmend zu Produkten, die unter wirtschaftlich turlandschaftsprämie, die hier vorgeschlagen wurde, gibt günstigeren, oft auch weit weniger kontrollierten Bedin- es bereits. Tatsache ist, dass zum Beispiel die bayeri- gungen hergestellt werden, nämlich im Ausland. Noch schen Milchbauern 5 000 Euro ihres Gewinnes einbüßen nie ist so viel bei den Discountern eingekauft worden, werden. Ein Preisrückgang um 1 Cent bedeutet Einbu- wie es derzeit der Fall ist. Das spiegeln die Zahlen unbe- ßen in Höhe von 70 Millionen für die bayerischen streitbar wider. Milchbauern. Das lässt sich für die Bundesrepublik Deutschland entsprechend hochrechnen. Dabei findet (Beifall bei der CDU/CSU – Kurt J. Rossmanith kein Ausgleich statt; es erfolgt vielmehr eine Umvertei- [CDU/CSU]: Leider wahr!) lung. Das von der Bundesregierung erklärte Ziel, eine ver- Die Landwirtschaft wird von Brüssel gebeutelt. Die braucher-, umwelt- und tiergerechte Landwirtschaft zu deutsche Landwirtschaft hat am schlechtesten abge- fördern, wird angesichts dieses Berichtes und der Reali- schnitten. An dieser Stelle wäre die Hilfe der Bundesre- tät zur Farce. gierung gefordert. Was aber macht sie? Wer geglaubt 4662 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2003

Staatsminister Josef Miller (Bayern) (A) hat, dem würde mit entsprechenden Hilfen Rechnung Dieser Tage war in den Zeitungen die interessante (C) getragen, der wird enttäuscht: Das Gegenteil ist der Fall. Nachricht zu lesen, dass heuer Obst und Gemüse doppelt In keinem Ressort sind so starke Kürzungen vorgesehen so teuer wie im vergangenen Jahr seien. wie im Agrarhaushalt: 7,4 Prozent! Weiter hieß es, die Verbraucher könnten aber hoffen, (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – dass dann, wenn die Produkte aus heimischer Erzeugung Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Unmöglich!) auf den Markt kämen, die Preise nach unten gingen. Das Problem ist nur: Die heimische Erzeugung spielt in Ihren Das ist der Stellenwert, den Sie der Landwirtschaft, der Überlegungen überhaupt keine Rolle mehr. Das zeigt ge- Ernährung, dem Tierschutz und der Umwelt schließlich rade Ihr Umgang mit den Ökoprodukten, dem sensibels- beimessen. ten Bereich. Dort hat man die rechtlichen Anforderun- Wen treffen die Kürzungen? Im sozialen Bereich sind gen in Deutschland auf das niedrige europäische Niveau die kleinen und mittleren Betriebe am stärksten betrof- gesenkt, weil man in erster Linie – das haben Sie heute fen. Allein in der landwirtschaftlichen Krankenversiche- bestätigt – auf Importe von vermeintlich billigeren Nah- rung ist mit Beitragssteigerungen bis zu 40 Prozent zu rungsmitteln aus dem Ausland setzt. rechnen. Ich erinnere in diesem Zusammenhang auch Die deutsche Landwirtschaft hat nicht nur die Auf- daran, dass es in Ihrer Regierungszeit in der Alterskasse gabe, Nahrungsmittel und Rohstoffe zu produzieren. Die schon zu Beitragssteigerungen um 100 Prozent gekom- land- und forstwirtschaftlichen Betriebe pflegen auch men ist. Welchem anderen Berufsstand in der Bundesre- etwa 80 Prozent der Fläche unseres Landes. Die Land- publik mutet man so etwas zu? Sie haben die Bauern ab- wirtschaft ist außerdem das wirtschaftliche Standbein in geschrieben und meinen inzwischen, dass es auch ohne den Dörfern und trägt entscheidend zur sozialen Stabili- die Bauern geht. tät im ländlichen Raum bei. Sie ist deshalb nicht mit (Beifall bei der CDU/CSU) der Landwirtschaft in anderen Ländern vergleichbar. Die deutsche Landwirtschaft kann nicht länger neue Regle- Sie planen darüber hinaus eine Kürzung der Agrar- mentierungen, nationale Alleingänge und Belastungen dieselrückvergütung. Während Ihrer Regierungszeit ist ertragen, die ihre Wettbewerbskraft gegenüber Landwirt- der Steueranteil des Agrardieselpreises von 11 Cent um schaften in anderen EU-Staaten entscheidend schwä- 15 Cent auf 26 Cent gestiegen. Damit liegen wir inner- chen. Die deutsche Landwirtschaft braucht vielmehr ver- halb der Europäischen Union an der Spitze, gefolgt von lässliche Rahmenbedingungen und Rückhalt in der Italien mit 8 Cent. In Frankreich sind es nur 2,5 Cent, in Gesellschaft. Belgien gar 0 Cent. Das bedeutet für die Landwirte eine Ich bitte Sie, unserem Gesetzesantrag zuzustimmen, weitere Belastung in Höhe von 157 Millionen Euro pro den wir im Bundesrat eingebracht haben, mit dem wir (D) (B) Jahr. Allein daraus ergibt sich für einen 40-Hektar-Be- erreichen wollen, dass die nationale Modulation zumin- trieb ein Nachteil von 1 100 Euro pro Jahr gegenüber ei- dest ausgesetzt wird. Die EU-Modulation wird dann das nem vergleichbaren französischen Betrieb. ihrige tun. Ich bitte Sie, die Landwirtschaft als eine (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Hört! Hört!) wichtige Daseinsvorsorge für unsere Bevölkerung zu se- hen. Sie ist es, die Lebensraum gestaltet und Lebensmit- Diese Agrarpolitik führt zur Vernichtung von Arbeits- tel erzeugt und die damit einen ganz wesentlichen Ein- plätzen im ländlichen Raum. Sie führt dazu, dass die Be- fluss auf unsere Lebensqualität hat. wirtschaftung in vielen Gebieten des ländlichen Raumes auf Dauer voraussichtlich nicht mehr sichergestellt wer- Herzlichen Dank. den kann. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Beifall bei der CDU/CSU) neten der FDP – Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Das war eine sehr gute Rede für die Bauern! Das reicht Ihnen aber noch nicht. Sie ziehen die Respekt!) Modulation vor und schwächen damit die Wettbewerbs- fähigkeit unserer Landwirtschaft zusätzlich, indem Sie Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: mit einem ungeheuren Verwaltungsaufwand für nur zwei Jahre eine nationale Modulation einführen, obwohl in- Nächster Redner ist der Kollege Dr. Wilhelm zwischen feststeht, dass 2005 die Modulation auf Priesmeier, SPD-Fraktion. EU-Ebene eingeführt wird. Sie erschweren damit die Ar- beit der Landwirtschaftsverwaltungen und erhöhen den Dr. Wilhelm Priesmeier (SPD): ohnehin nicht unbeträchtlichen Bürokratieaufwand für Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Kolle- die Landwirtschaft. ginnen und Kollegen! Ich kann Sie beruhigen: Die Stim- Kennen Sie denn die Stimmungen draußen im Lande mung ist durchaus nicht so schlecht, wie die eben vorge- nicht? Spielt es keine Rolle, wie die Steuermittel ver- tragene Schulmeisterei und Schwarzmalerei vermuten wendet werden? Sie sollten nicht der Verwaltung, son- lassen. Ich war gerade am letzten Wochenende in Aus- dern den Bauern zugute kommen. Für Sie ist die Agrar- übung meines Berufs in einem landwirtschaftlichen Be- politik ein Experimentierfeld geworden. Der Ausgang trieb. Nach der Geburt hat es den traditionellen Schnaps bleibt ungewiss. gegeben. Ich glaube, wenn man die ehrliche Auseinan- dersetzung mit den Landwirten sucht, dann hat man auch (Beifall bei der CDU/CSU) in der jetzigen Situation, die weiß Gott nicht einfach zu Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2003 4663

Dr. Wilhelm Priesmeier (A) bewältigen ist, die Chance auf eine Agrarpolitik mit Zu- Eines möchte ich hier klarstellen: Die Notimpfung (C) kunft. Schwarzmalerei allein nutzt uns jedenfalls wenig. hat bei der Bekämpfung von Schweinepest und Maul- und-Klauenseuche durchaus ihre Berechtigung. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Ernst Hinsken [CDU/CSU]: (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Siehste!) Nach wie vielen Schnäpsen sind Sie darauf ge- kommen?) Das zeigt sich natürlich auch ganz deutlich daran, dass auf der Brüsseler Ebene die Impfstrategie geändert wor- Unter Tierärzten gibt es das alte Sprichwort: Wo man den ist. Mittlerweile gibt es eine Alternative zu den bis- impft, da lass dich nieder; denn Seuchen kehren immer lang erfolgten exzessiven Massentötungen. Die Umset- wieder. zung erfolgt konsequent. Die neue MKS-Richtlinie ist (Heiterkeit) dafür ein Beispiel. Für den Bereich Schweinepest wird es in absehbarer Zukunft vermutlich eine ähnliche neue Wenn man ehrlich ist, muss man zugeben, dass das auch Richtlinie geben, die uns zumindest der Sorge enthebt, einen materiellen Hintergrund hat. Das gilt natürlich wieder solche Zustände zu erleben – Sie haben darüber auch für die Geflügelpest. Erfahrungen aus den Verei- zu Recht geklagt –, wie sie in Großbritannien zuletzt zu nigten Staaten und vor allen Dingen aus Italien zeigen, beobachten waren. dass die Seuchen in der Tat wiederkehren und dass sie selbst mit Impfungen nicht in den Griff zu bekommen Es ist nicht damit getan, aus einem zwei Jahre alten sind. Antrag einfach bestimmte Passagen zu streichen, etwas Neues hinzuzufügen, das Ganze mit ein bisschen Popu- (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Die Maul- lismus zu versehen, alles sozusagen zweimal umzurüh- und Klauenseuche gibt es in Niedersachsen ren und diesen Antrag dann erneut zu stellen. Darauf schon lange nicht mehr!) kommt es hier weiß Gott nicht an. Vorbeugende Impfungen haben in beiden Ländern kei- (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Das machen nen Erfolg gezeitigt. Der Grund dafür liegt auf der Hand: Sie erst beim Tierarzneimittelgesetz so!) Wir haben es zum Beispiel bei der Geflügelpest mit ei- nem Erreger zu tun, der in über 100 Subtypen auftritt. – Wenn man aus einem Antrag alles wegstreicht, was Niemand wird wohl in der Lage sein, für jeden Anwen- nicht hineingehört und auch sachlich nicht richtig ist, dungs- und Einsatzfall einen adäquaten Markerimpf- dann bleibt eines übrig: Impfen statt Töten. Das klingt stoff zu entwickeln. Theoretisch ist das natürlich mög- zwar nach aktivem Tierschutz, ist aber zumindest in mei- lich. Aber praktisch ist das nicht zu realisieren. nen Augen bloß eine hohle Phrase und blanker Populis- mus. (B) Deshalb ist der heutige Antrag der FDP „Impfen statt (D) Töten – Grundlage für den Einsatz von Markerimpfstof- (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Das wollte fen schaffen“ eigentlich unsinnig und fehl am Platz. Frau Höhn in Nordrhein-Westfalen!) (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Forschungs- Diesen Populismus übertrifft die Union noch bei der auftrag!) Auseinandersetzung über die Geflügelpest. Da wollte Bereits in der vergangenen Legislaturperiode gab es ei- man der Öffentlichkeit doch allenthalben weismachen, nen ähnlichen Antrag der FDP. Dort wurde unter dem Ti- dass man mit einem 10 Kilometer langen Cordon sani- tel „Impfen statt Töten“ eine flächendeckende MKS- taire ein neues Instrument zur Bekämpfung von Tierseu- Impfung verlangt. chen erfunden hat. Das ist zweifellos nicht richtig, wie uns die Erfahrungen gelehrt haben. Die Seuche wäre (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Auf diesem durch die Anwendung einer solchen Maßnahme nicht Gebiet hat sich eine Menge getan!) verhindert worden; dadurch wären vielmehr Hundertau- – Sicherlich hat sich eine Menge getan, und zwar sowohl sende von Tieren – an sich sinnlos – getötet worden; auf der europäischen Ebene als auch bei den Initiativen denn die Seuche ist westlich von so einem potenziellen der Bundesregierung. Das konzediere ich Ihnen ja. Dass Cordon sanitaire ausgebrochen. sich aber damit der wesentliche Teil Ihres heutigen An- (Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- trags bereits erledigt hat, sollten Sie wohl klar und ein- NEN]: Genau!) deutig erkennen, Herr Kollege Goldmann. Ich weiß nicht, ob die Union weitergehende Pläne in (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Bezug auf Regelungen zur Bekämpfung von Tierseu- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) chen in der Tasche hat. Wenn das der Fall ist, dann Sie als Tierarzt wissen doch ganz genau, dass Virus nicht möchte ich darum bitten, diese Pläne letztendlich an den gleich Virus ist und dass eine Kuh nicht genauso wie ein Realitäten und an den wissenschaftlichen Erkenntnissen Huhn behandelt werden kann. Ein Huhn läuft – wie Sie – zu orientieren und Forderungen dieser Art nicht wieder auf zwei und eine Kuh auf vier Beinen; trotzdem gibt es aufzustellen. erhebliche Unterschiede im Hinblick auf die Bekämp- fung von Seuchen bei diesen beiden Spezies. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Peter H. Carstensen [Nord- (Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD und des strand] [CDU/CSU]: Wir holen sie dann aus BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) der Tasche, wann wir es für es richtig halten!) 4664 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2003

Dr. Wilhelm Priesmeier (A) Man kann die Idee eines Cordon sanitaire auch weiter- – Aber selbstverständlich! Sie gehen, was die Flächen- (C) entwickeln. Wenn dann irgendwann alle Tiere getötet zumessung betrifft, erheblich darüber hinaus. sind, ist auch das Problem der Seuche gelöst. (Hans-Michael Goldmann [FDP]: In keinem (Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/ einzigen Punkt!) CSU]: Gib uns noch einen Ratschlag!) Es ist nicht an der Zeit, wieder hinter das zurückzuge- Wir Sozialdemokraten und die rot-grüne Koalition hen, was sich schon als Stand der Technik etabliert hat; denn das hieße wirklich, den Tierschutz mit Füßen zu haben einige andere Vorstellungen von praktischem treten. Es hat sich auch schon in Brüssel herumgespro- Tierschutz. Wir haben uns maßgeblich dafür eingesetzt, chen, dass wir höhere Werte und eine Anhebung der dass der Tierschutz als Staatsziel im Grundgesetz veran- Standards brauchen. kert wird. (Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/ (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten CSU]: Dann müssen wir was machen! Wir des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – sind auch dazu bereit!) Albert Deß [CDU/CSU]: Und was hat es ge- bracht? – Kurt J. Rossmanith [CDU/CSU]: 2005 wird es eine solche Anhebung geben. Dann werden Nennen Sie einmal eine Erfolgsmeldung!) wir vielleicht noch einmal eine Diskussion um weitere Anhebungen der Standards führen müssen. Im Vorfeld – ich denke an das Jahr 2000 – haben Sie sich (Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/ dabei nicht unbedingt mit Ruhm bekleckert. Das muss CSU]: 1 : 1 umsetzen!) man einmal deutlich sagen. Die rot-grüne Koalition ist dabei – das ist klar und deutlich –, die geltenden Rechts- Wir werden unter Berücksichtigung der wirtschaftli- vorschriften, insbesondere zur Tierhaltung, Stück für chen Gegebenheiten dafür Sorge tragen – das ist meine Stück zu überprüfen und auf der Grundlage von wissen- Politik und das ist die Politik der SPD-Arbeitsgruppe in schaftlichen Erkenntnissen an die Erfordernisse anzu- diesem Hause –, dass die Standards sukzessive erhöht passen. Alles andere überlassen wir denjenigen, die mei- werden, dabei aber wirtschaftliche Nachteile weitestge- nen, sie hätten davon Ahnung, obwohl das in hend beherrschbar gehalten werden. Wirklichkeit gar nicht der Fall ist. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Hans-Michael Goldmann (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ [FDP]: Das geht doch gar nicht!) DIE GRÜNEN)

(B) Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen von Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (D) der Opposition, wie ernst es Ihnen mit dem Tierschutz Herr Kollege, denken Sie bitte an Ihre Redezeit. ist, zeigt im Augenblick die Auseinandersetzung über die Schweinehaltungsverordnung. Dr. Wilhelm Priesmeier (SPD): (Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Ja. – Im Zusammenhang mit der Anhörung, die in der NEN]: Ja!) letzten Woche stattgefunden hat, möchte ich der Opposi- tion ein Lob aussprechen. Ich möchte mich für die Ko- Ihre Agrarpolitiker in den Bundesländern und auch Sie operationsbereitschaft der Union und der FDP, auch be- selbst stellen regelmäßig Anträge, Standards, die älter züglich des Tierarzneimittelgesetzes, noch einmal recht als 13 Jahre sind, im Verhältnis eins zu eins umzusetzen. herzlich bedanken. Das kann nicht Sinn einer zukunfts- und tierschutzorien- (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Damit fan- tierten Politik sein. gen wir erst an!) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Wir haben zusammen eine ganz gute Linie gefunden. In DIE GRÜNEN – Hans-Michael Goldmann dem Zusammenhang kann ich nur noch einmal an die [FDP]: Was wollt ihr denn?) rechte Seite des Hauses appellieren. Im Klartext heißt das nämlich: Ungefähr 0,65 Quadrat- meter pro Zweizentnermastschwein. 0,65 Quadratmeter Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: sind vielleicht so viel wie das Kopfkissen von Peter Herr Kollege, Sie können nicht mehr lange appellie- Harry, aber nicht mehr. ren. Ihre Redezeit ist zu Ende.

(Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/ Dr. Wilhelm Priesmeier (SPD): CSU]: Damit kommst du nicht aus!) Ich hoffe, dass wir da zu einer gemeinsamen Lösung Die in anderen Bundesländern, unter anderem in mei- kommen, die letztlich den Tieren, den beteiligten Land- nem Heimatland Niedersachsen, geltenden gesetzlichen wirten, den Tierärzten und damit auch dem Tier- und Regelungen gehen, was die Flächenzumessung angeht, Verbraucherschutz dient. zum Teil schon erheblich darüber hinaus. Danke schön. (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Das stimmt (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ nicht!) DIE GRÜNEN) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2003 4665

(A) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: niemand den dümmlichen Schluss, dass die deutschen (C) Herr Kollege Priesmeier, ich gratuliere Ihnen zu Ihrer Autos nicht klasse Autos sind. ersten Rede in diesem Hohen Hause sehr herzlich und (Beifall des Abg. Dr. Peter Ramsauer [CDU/ wünsche Ihnen alles Gute. CSU] – Hans-Michael Goldmann [FDP]: (Beifall) Bravo!) Das Wort hat der Kollege Albert Deß, CDU/CSU- Der Berichtsteil über die wirtschaftliche Lage der Fraktion. Landwirtschaft im Wirtschaftsjahr 2001/2002 umfasst erstmals einen Zeitraum, den Frau Künast als Ministerin (Beifall bei der CDU/CSU) voll und ganz zu verantworten hat. In dieser Periode hat sich die wirtschaftliche und strukturelle Lage der deut- Albert Deß (CDU/CSU): schen Landwirtschaft in beängstigender Weise ver- schlechtert. Dafür trägt Rot-Grün die Verantwortung. Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lieber Kollege Priesmeier, nach Ihrem Ausflug (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) in die Impfpolitik würde ich Ihnen raten: Lassen Sie Die Einkommen der deutschen Landwirte sind in diesem doch einen Impfstoff gegen rot-grüne Agrarpolitik ent- Zeitraum um 6,6 Prozent zurückgegangen. Für das lau- wickeln. Mehr als 400 000 Portionen würden in fende Wirtschaftsjahr 2002/2003 ist mit einem dramati- Deutschland schnellstens angefordert. schen Einkommensrückgang von bis zu 20 Prozent zu Der Ernährungs- und agrarpolitische Bericht 2003 be- rechnen. In einigen Gebieten – dafür kann die Frau Mi- legt an vielen Stellen deutlich, dass seit dem Amtsantritt nisterin nichts – mit starken Trockenschäden wird der einer ohne Sachkunde ins Amt gekommenen, dafür Einkommensrückgang noch wesentlich gravierender umso stärker ideologisch fixierten Ministerin Künast ausfallen. Frau Künast könnte sich aber doch in Brüssel festgestellt werden muss: Die rot-grüne Bundesregie- dafür einsetzen, dass die Bauern in den Trockengebieten rung hat sich von einer Politik für die Bauern in unserem wenigstens den Futteraufwuchs auf den Stilllegungsflä- Land verabschiedet. chen nutzen dürfen, weil ihnen sonst die Futtergrundlage entzogen wird. (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Hans-Michael Goldmann [FDP] – Kurt J. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Rossmanith [CDU/CSU]: Leider wahr!) der FDP – Matthias Weisheit [SPD]: Tut sie doch schon längst!) (B) Wenn infolge dieser Agrarpolitik die Agrarproduktion (D) immer mehr aus Deutschland verlagert wird, dann er- – Dann hoffen wir auf ein schnelles Ergebnis, weil es zu reicht man damit weniger Verbraucherschutz. spät für die Betriebe wäre, wenn das Ergebnis erst im Herbst käme. Frau Künast hat von Anfang an versucht, unsere Bau- ern in die Ecke zu stellen und mit Kampfbegriffen wie Das Ziel des Landwirtschaftsgesetzes, der Landwirt- „Agrarfabriken“, „industrialisierte Landwirtschaft“, schaft eine Teilhabe an der allgemeinen Einkommens- „Massentierhaltung“, „Agrarwende“, „Klasse statt entwicklung zu ermöglichen, wurde laut Agrarbericht Masse“ zu diffamieren. Ihr Trommeln für „Klasse statt deutlich verfehlt. Nach einer Veröffentlichung des Statis- Masse in der deutschen Landwirtschaft“ unterstellt, dass tischen Amtes der Europäischen Union betrug der Ein- die Bauern in Deutschland keine hochwertigen und ge- kommensrückgang je Arbeitskraft in Deutschland bezo- sunden Nahrungsmittel produzieren. Mit einer solchen gen auf das Kalenderjahr 2002 sogar 19,5 Prozent. Noch Diffamierung wird die Arbeit unserer Bauern und Bäue- schlimmer war die Situation nur noch in Dänemark. An- gesichts solch einer negativen Einkommensentwicklung rinnen – sie sind gut ausgebildet und produzieren nach kann sich Rot-Grün nicht mehr mit dem Marktgeschehen guter fachlicher Praxis – in Misskredit gebracht. Richtig herausreden. Vielmehr sind diese Ergebnisse größten- muss es heißen – das habe ich schon oft gesagt –: Die teils den von Rot-Grün gesetzten politischen Rahmenbe- Masse unserer Nahrungsmittel ist klasse. – Die Frau Mi- dingungen zuzuschreiben. Die derzeitige Politik der rot- nisterin hätte nur das Bundesinstitut für gesundheitlichen grünen Bundesregierung setzt jedoch alles daran, dass Verbraucherschutz und Veterinärmedizin befragen müs- die Ziele des Landwirtschaftsgesetzes noch stärker ver- sen. Dort ist festgestellt worden, dass es bei 98,4 Prozent fehlt werden. der untersuchten Lebensmittel in Deutschland nicht die geringsten Beanstandungen gegeben hat. Selbst bei den Besonders betroffen macht die Tatsache, dass viele restlichen 1,6 Prozent waren die Beanstandungen nicht Betriebe aufgrund des agrarpolitischen Kurses der rot- des Inhalts, dass eine Gesundheitsgefährdung besteht. grünen Bundesregierung rat- und mutlos in die Zukunft schauen müssen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Peter Bleser [CDU/CSU]: Das Ge- (Peter Bleser [CDU/CSU]: So ist es!) genteil wird immer suggeriert!) Das mindert auch die Investitionsbereitschaft der Da die Frau Künast immer von Massenproduktion Betriebe. Die Steigerung um 1,4 Prozent, die Sie, spricht, möchte ich hier einmal anmerken: Aus der Mas- Frau Kollegin Wolf, angesprochen haben, bezieht sich senproduktion der deutschen Autoindustrie zieht auch auf eine ganz niedrige Basis. Im Jahr zuvor war die 4666 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2003

Albert Deß (A) Investitionsbereitschaft der deutschen Landwirtschaft Wie man die Interessen seines eigenen Landes und (C) auf dem niedrigsten Stand seit Jahrzehnten angelangt. seiner Bauern erfolgreich vertritt, hat wieder einmal Frankreich gezeigt. Der französische Landwirtschafts- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – minister konnte seine Interessen durchsetzen. Er hat ver- Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE hindert, dass eine Getreidepreissenkung beschlossen GRÜNEN]: Stimmt doch gar nicht! – Zurufe wurde. Außerdem hat er eine Totalentkoppelung der Di- von der SPD) rektzahlungen verhindert. Ich sage Ihnen, warum er das Aus dem Agrarbericht geht ganz deutlich hervor – Sie getan hat – darüber wurde bisher überhaupt noch nicht müssten ihn dazu lesen, meine lieben Kolleginnen und diskutiert –: Frankreich wird nicht entkoppeln, damit die Kollegen –, dass die bereinigte Quote der Eigenkapital- Produktion zu 100 Prozent erhalten bleibt. Deutschland bildung der Betriebe gegenüber dem Vorjahr um wird, soweit das möglich ist – ich gehe davon aus, dass 40 Prozent zurückgegangen ist. Diese Zahl sagt alles Rot-Grün entsprechende Vorschläge machen wird –, ent- über den Erfolg der rot-grünen Agrarpolitik aus. koppeln. Deutschland wird dadurch massiv Marktanteile verlieren, weil die deutschen Landwirte – insbesondere (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – in schlechten Lagen – zu einem großen Teil nicht mehr Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/ in der Lage sein werden, zu diesen Bedingungen zu pro- CSU]: Das ist der Künast-Effekt!) duzieren. Hauptursache für die fehlenden Investitionen ist ein- Inwiefern hat Frau Künast die Interessen der deutschen mal die Verunsicherung der Landwirte durch zahlreiche Milcherzeuger vertreten? Mir liegt ein Presseartikel aus nationale Alleingänge – sie wurden heute schon ange- Niederbayern vor. Ich kenne den Landwirt, der in diesem sprochen – sowie die Vernachlässigung deutscher Agrar- Artikel die Auswirkungen der Maßnahmen auf seinen interessen bei der EU-Agrarreform und den WTO- Betrieb berechnet hat: Er hat in einen Milchkuhstall in- Verhandlungen durch Rot-Grün. Die rot-grüne Bundes- vestiert, der eine Jahresproduktion von 400 000 Kilo regierung hat in der EU auch im Agrarbereich durch Milch ermöglicht. Er hat berechnet, dass ihm aufgrund nationale Alleingänge einen deutschen Sonderweg be- dieser Beschlüsse am Jahresende 14 200 Euro weniger schritten und für unsere Landwirte große Wettbewerbs- Milchgeld übrig bleiben. nachteile geschaffen. Statt die EU-Verordnungen eins zu (Kurt J. Rossmanith [CDU/CSU]: Fast eins umzusetzen, werden den deutschen Bauern zusätz- 30 000 Mark! – Peter Bleser [CDU/CSU]: Ge- liche Lasten aufgebürdet und sie werden auf nationaler nau! Das ist die Wahrheit!) Ebene benachteiligt. In dem Artikel heißt es weiter: (B) Ein weiteres Beispiel für den investitionshemmenden (D) Kurs der rot-grünen Bundesregierung ist die beabsich- Beim Verlassen der Stube schüttelt er den Kopf: tigte Novellierung des Baurechts. Ziel muss es sein, „Und woanders streiken sie wegen drei Stunden dass auch weiterhin die bisherige Privilegierung der mehr Freizeit.“ Landwirtschaft im Außenbereich erhalten wird, sonst kann dort nicht mehr gebaut werden. Daran sieht man, was unseren Bauern zugemutet wird. Dieser Landwirt hat 15 000 Euro weniger Einkom- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) men in der Tasche. Wenn seine Familie ein Jahresein- kommen von 30 000 Euro brutto hat, bedeutet das einen Die von Rot-Grün verursachte schlechte Einkom- Einkommensverlust in Höhe von 50 Prozent. Und das menslage würde laut Landwirtschaftsgesetz Maßnahmen stellt man noch als großen Erfolg dar! zur Einkommensverbesserung erfordern. Statt sich ge- setzeskonform zu verhalten, will Rot-Grün den Agrar- Man sagt – das bedrückt mich besonders –, dass mit haushalt, der in den vergangenen Jahren bereits massive diesen Beschlüssen die Voraussetzungen für die im Kürzungen verkraften musste, weiter stark kürzen und Herbst stattfindenden WTO-Verhandlungen geschaffen hier – ganz unsozial – die Beiträge zu den Krankenversi- wurden. Wir haben bereits 1999, bei den Debatten über cherungen in einem Ausmaß erhöhen, das schlichtweg die Agenda 2000, vom Bundeskanzler und vom damali- unverantwortlich ist. Ich frage mich, wo da das soziale gen Minister Funke gehört, dass mit dieser Agenda die Gewissen der Sozialdemokraten bleibt. Voraussetzungen für die WTO-Verhandlungen geschaf- fen worden seien. Warum muss man diese jetzt erneut (Beifall bei der CDU/CSU) schaffen? Die düstere Stimmung in der deutschen Landwirt- (Manfred Helmut Zöllmer [SPD]: Das steht schaft kann auch der von Frau Künast gepriesene Agrar- doch in Ihrem Antrag! Lesen Sie den doch ein- kompromiss von letzter Woche nicht aufhellen. Ganz fach einmal!) im Gegenteil: Wenn das Luxemburger Ergebnis in Teilen der veröffentlichten Meinungen positiv beurteilt wird, Die Begründung, dass jetzt die Voraussetzungen für meine sehr geehrten Damen und Herren, liegt das daran, die WTO-Verhandlungen geschaffen worden seien, wird dass die Propagandakunst von Frau Künast bei weitem sehr schnell ad absurdum geführt werden. Nach den im ihre Kunst, sich bei Verhandlungen für deutsche Interes- Herbst stattfindenden WTO-Verhandlungen werden wir sen einzusetzen, übertrifft. sehr schnell – Peter Bleser hat das schon angesprochen – über neue Einschnitte bei der Landwirtschaft diskutie- (Zuruf von der SPD: Bierzeltargumente!) ren. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2003 4667

Albert Deß (A) Frau Präsidentin, ich will meine Redezeit nicht über- gen sind. Die Gelder der EU wurden an die verarbei- (C) schreiten. Ich habe aber noch einen Vorschlag für die tende Industrie und an den Handel durchgereicht. Frau Ministerin – sie hat uns leider schon verlassen –: Damit die Öffentlichkeit weniger getäuscht wird, wäre (Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/ es besser, wenn Frau Künast ihre Amtsbezeichnung CSU]: Da hat Herr Thalheim eine völlig an- schnellstens in Bundesministerin für Verbrauchertäu- dere Antwort gegeben!) schung, Bauernverunsicherung und Arbeitsplatzvernich- Die Wirtschaft ist dafür verantwortlich, diese Probleme tung ändern würde. Das würde ihre Arbeit treffender be- zu lösen und dafür zu sorgen, dass sich im Wege der schreiben. Marktorientierung vernünftige Erzeugerpreise entwi- Vielen Dank. ckeln können. Dafür sind auch die Geschäftsführer in den großen Molkereien verantwortlich. (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Hans-Michael Goldmann [FDP] – Wilhelm (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Was haben wir und bei der SPD) von Herrn Deß anderes zu erwarten?) Der Agrarbericht macht ganz deutlich, wie diese un- befriedigende Situation entstanden ist. Deswegen gibt es Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: auch die Reformen, die zum Teil schon im Jahr 2000 Nächste Rednerin ist die Kollegin Ulrike Höfken, verabredet worden sind. Der Ministerin gebührt Dank; Bündnis 90/Die Grünen. denn es ist ein großer Vermittlungserfolg, dass die Be- schlüsse zustande kommen konnten. Ohne die deutsch- französische Absprache wäre dies nicht möglich gewe- Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): sen. Frau Präsidentin! Man muss schon sagen, die CDU/ CSU hat den absoluten Tunnelblick. Natürlich sind im Reformpaket schwierige Elemente enthalten. Diese Elemente ergeben sich immer, wenn es (Peter Bleser [CDU/CSU]: Was haben wir?) zum Schluss eine Art Teppichhandel gibt. Die mit der Kopplung verbundene Bürokratie im Milchbereich ist An Ihren Ausführungen sieht man sehr deutlich, dass die zwar nicht in unserem Sinne. Aber man muss sagen, dass Isolation der Agrarpolitiker in der CDU/CSU ganz be- die Probleme im Milchbereich ihren Ursprung in frühe- sonders groß ist. ren Beschlüssen und Marktentwicklungen haben. Wenn Die Luxemburger Beschlüsse bedeuten einen Sys- die deutsche Milchwirtschaft heute 104 Prozent über (B) temwechsel, zu dem es keine Alternative gab. Wer dem Bedarf produziert, dann ist klar, dass es keine ver- (D) glaubt, wir hätten auf diese Reformschritte verzichten nünftige Erzeugerpreisentwicklung geben kann. Hätten können, der lebt in einer anderen Welt: wir damals unter Minister Funke unsere Vorstellungen zum Lieferrecht realisieren können, dann hätten wir (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN heute andere Verhandlungsgrundlagen und andere Mög- und bei der SPD) lichkeiten für eine Reduzierung der Menge. Mit diesen Beschlüssen wurde die Finanzierbarkeit Es gibt in den Reformbeschlüssen sehr wichtige Ele- der weiteren Entwicklung der EU gewährleistet, wurden mente, die in ihrer Wirkung auf die zukünftige Entwick- die Voraussetzungen für die Osterweiterung der EU ge- lung beurteilt werden müssen. Dazu zählt auch das ein- schaffen und wurde der Weg für die WTO-Verhandlun- heitliche Vorgehen der Länder. Wir brauchen keine gen frei gemacht. Auch die CDU/CSU hat verfolgen Wettbewerbsverzerrung zwischen den Bundesländern. können, dass es vonseiten der Außen- und der Wirt- Wir möchten die heutigen Ungleichgewichte zwischen schaftspolitik einigen Druck gegeben hat. Ackerbau und Grünland beseitigen sowie eine Stärkung der Viehwirtschaft erreichen. Wir möchten möglichst Die Akzeptanz der Agrarpolitik wird deutlich größer. unbürokratische Ansätze aus den Vorgaben entwickeln Das können Sie an der Presseresonanz, insbesondere bei und die Probleme im Milchbereich lösen. Wir möchten den Berichten, die sich mit der Bewertung der Reformen außerdem die Probleme im Bereich der Schafhaltung befassen, erkennen. und der Ziegenhaltung lösen. Es gibt tatsächlich mehr Unterstützung für ländliche (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Räume. Der Umweltschutz, der Tierschutz und die Kul- und bei der SPD) turlandschaftspflege werden gestärkt. Der Weg hin zu mehr Marktorientierung – das scheint Ihnen am schwers- Die Position der Landwirtschaft am Markt muss ten zu fallen – wird beschritten. Herr Goldmann hat auf gestärkt werden. Es gibt daher große Gemeinsamkeiten die Widersprüchlichkeit in Ihren Äußerungen schon hin- zwischen dem Bauernverband, der Arbeitsgemeinschaft gewiesen: Auf der einen Seite ist Ihr Antrag, bezogen bäuerliche Landwirtschaft und den Grünen. Es gibt auch auf die WTO, absolut liberalistisch; auf der anderen Differenzen und Kritikpunkte, die wir klar benennen. Es Seite propagieren Sie im Grunde eine massive Staats- ist aber falsch, dass Peter Bleser von „Feind“ und von orientierung. Wir alle wissen inzwischen, dass dieser „Ideologie“ spricht. Ganz im Gegenteil: Wir instrumen- Weg nicht mehr gangbar ist. Auch Sie wissen ganz ge- talisieren die Bauern nicht, was besonders im nau, dass die Subventionen an den Bauern vorbeigegan- Wahlkampf – ich sage das an die Adresse von Herrn 4668 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2003

Ulrike Höfken (A) Miller – geschieht. Wir möchten, dass es zu einer ver- – Die Milchquote hat zwar eine Zeit lang geholfen. Aber (C) nünftigen Entwicklung kommt. es ist heute schon einmal klargestellt worden, dass Men- genbegrenzungs- und Abschottungsstrategien in einer Ich komme zum Schluss. Der heute schon im Rahmen offenen Welt nichts bringen. Heute haben wir die neuen der steuerpolitischen Debatte angesprochene Dreiklang, Beitrittsländer begrüßt – – nämlich Strukturreformen, Vorziehen der Steuerreform und Haushaltskonsolidierung, wird unserer Volkswirt- (Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/ schaft insgesamt zugute kommen. Die Landwirtschaft CSU]: Wenn das so ist, dann nehmt doch die wird ihren Beitrag leisten müssen. Sie von der CDU/ Milchquote weg!) CSU und von der FDP fordern einen massiven Subven- – Peter Harry, reg dich nicht auf, bleib ganz ruhig! tionsabbau. Wir möchten natürlich, dass dieser Subven- tionsabbau für die Landwirtschaft gerecht ausgeht. Wir (Albert Deß [CDU/CSU]: Aber Abschotten werden uns in den Beratungen damit auseinander setzen. am Arbeitsmarkt, das schon!) Danke schön. – Nein, hör doch auf! Diese Diskussion müssen wir noch einmal intensiver führen. Die Fehler liegen in der Ver- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gangenheit. und bei der SPD) Jetzt sind mutige Schritte notwendig. Ein sehr muti- ger Schritt ist in Luxemburg gemacht worden. Herr Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Staatsminister Miller aus dem Nachbarwahlkreis in Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Memmingen, der hier erklärt hat, Frau Künast streue Matthias Weisheit, SPD-Fraktion. Sand in die Augen, liegt damit etwas auf dem Niveau des Bauernverbandspräsidenten, der sagte, Frau Künast Matthias Weisheit (SPD): und Franz Fischler seien Märchenerzähler. An dieser Stelle ist zu fragen, wer in Wirklichkeit die Märchen er- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! zählt. Das sind doch diejenigen, die so tun, als könne Vorhin geriet ich in Gefahr, bei der Rede von Peter man in Zukunft weitermachen wie bisher und dieses fal- Bleser Beifall zu klatschen. sche System erhalten. (Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Richtig!) GRÜNEN]: Aber nur kurz!) Frau Künast und Herr Fischler und schon vorher auch (B) Das hatte aber nichts mit dem Inhalt seiner Rede zu tun. Karl-Heinz Funke haben nie einen Zweifel daran gelas- (D) Es war vielmehr so, dass ich mir gestern Abend überlegt sen, in welche Richtung es gehen muss. Ihr wesentliches habe, was uns der Kollege heute erzählt. Meine Vermu- Ziel war und ist Marktorientierung, also die Landwirt- tung ist eingetroffen. Es war nämlich fast dieselbe Rede schaft marktfähig zu machen. wie die nach der Verabschiedung der Agenda 2000. Es war inhaltlich der enge Schulterschluss mit dem, was der (Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/ Präsident des Deutschen Bauernverbandes, Sonnleitner, CSU]: Dann müsst ihr für gleiche Wettbe- auf dem Bauerntag verkündet hat. werbsbedingungen sorgen!) (Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/ – Gemach, gemach! CSU]: Ist es denn falsch?) Wenn ich Zwischentöne höre, aus denen hervorgeht, dass alle Lebensmittelprodukte, die aus dem Ausland Was Sie sagen, ist natürlich Humbug. Wenn hier be- kommen, von vornherein von schlechterer Qualität als hauptet wird, es werde keine Politik für die Bauern ge- unsere seien, dann wird es natürlich ganz schlimm. Dass macht, möchte ich zu bedenken geben, dass die Fehler, die Produktionsstandards in den einzelnen Staaten unter- mit denen wir heute in der europäischen Agrarpolitik zu schiedlich sind, lässt sich nicht verhindern. Das gibt es kämpfen haben, vor 20 Jahren gemacht worden sind, als übrigens bei allen Produkten; ich denke hier etwa an Au- die Überschüsse auftauchten und kein Mensch den Mut tos. Auch die Umweltstandards sind wenn nicht in jedem hatte, zu sagen: Hier muss es eine Marktorientierung ge- Betrieb, so in jedem Land andere. Deswegen sind ja ben und an dieser Stelle ist Schluss. Es war falsch, dass auch manche, die ausgewandert sind, wieder zurückge- immer weiter gezahlt wurde und dass der Staat die Pro- kommen. dukte, die nicht zu verkaufen waren, aufkaufte. Bei der Diskussion, die ich vom Bauerntag mitbe- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ kommen habe, gab es einen Lichtblick: In Zukunft muss DIE GRÜNEN sowie des Abg. Hans-Michael man sich mit der aufnehmenden Hand mit denen anle- Goldmann [FDP] – Peter H. Carstensen [Nord- gen, die Handel betreiben, den Discountern, dem Le- strand] [CDU/CSU]: Agrarreform 1984!) bensmitteleinzelhandel und den Milchaufkäufern. Die – Die waren alle nicht mutig genug. Das gilt im Endef- Interessenvertreter des Bauernverbandes sollten sich mit fekt auch für die Reform von 1990. ihnen auseinander setzen – das ist der richtige Weg –, anstatt dauernd auf die Politik einzuschlagen und von ihr (Albert Deß [CDU/CSU]: 1984 ist die Milch- zu erwarten, dass sie das regelt, was in der Wirtschaft quote beschlossen worden, Matthias!) geregelt werden muss. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2003 4669

Matthias Weisheit (A) Wir unterscheiden uns hier in der Grundtendenz mas- Wer stimmt für den Entschließungsantrag? – Wer stimmt (C) siv: Sie wollen, dass alles über den Staat zu regeln und dagegen? – Enthaltungen? – Der Entschließungsantrag vom Staat zu leisten sei. ist mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der CDU/CSU und der FDP angenommen. (Albert Deß [CDU/CSU]: Genau das wollen wir nicht!) Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktion der FDP zur Aufhebung des Gesetzes zur Modulation – Doch, ihr möchtet immer oben draufpacken und wollt, von Direktzahlungen im Rahmen der gemeinsamen dass der Staat das regelt, was in der Wirtschaft von den Agrarpolitik und zur Änderung des GAK-Gesetzes Bauern selbst geregelt werden muss. Das kann auf Dauer auf Drucksache 15/754. Der Ausschuss für Verbrau- nicht vom Staat geregelt werden. Diese Ideen von einer cherschutz, Ernährung und Landwirtschaft empfiehlt Planwirtschaft in der Landwirtschaft solltet ihr euch end- unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung auf Druck- lich abschminken. sache 15/1158, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich bitte (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, DIE GRÜNEN) um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Enthal- tungen? – Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung Es bleibt noch eine Aussage zu den notwendigen mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der Kürzungen im Agrarbereich, die im kommenden CDU/CSU und der FDP abgelehnt. Damit entfällt nach Haushalt anstehen, übrig: Es gibt für die Landwirtschaft unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung. kein Grundrecht auf verbilligten Diesel; das sollte klar sein. Darüber wird man sprechen müssen. Wenn ich Abstimmung über den Gesetzentwurf des Bundesra- Subventionen abbauen will, dann gehört auch dieser tes zur Aufhebung des Modulationsgesetzes und zur Än- Punkt dazu. derung des GAK-Gesetzes auf Drucksache 15/948. Der Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Land- (Albert Deß [CDU/CSU]: Aber dann müsst ihr wirtschaft empfiehlt unter Nr. 2 seiner Beschlussemp- europaweite Regelungen durchsetzen! Alles fehlung auf Drucksache 15/1158, den Gesetzentwurf ab- andere ist Wettbewerbsverzerrung!) zulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf – Europaweite Regelungen durchzusetzen habt schon ihr zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt nicht geschafft. Für uns ist es genauso schwierig, solche dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist in Regelungen zu schaffen. zweiter Beratung mit demselben Stimmenverhältnis wie zuvor abgelehnt. Damit entfällt nach unserer Geschäfts- Ihr habt eben – das ist ganz einfach – Geld ausgege- ordnung die weitere Beratung. ben, das nicht vorhanden war, (B) Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus- (D) (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des schusses für Verbraucherschutz, Ernährung und Land- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) wirtschaft auf Drucksache 15/1025. Der Ausschuss emp- um das auszugleichen, was ihr auf europäischer Ebene fiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung die nicht hinbekommen habt. So kann man angesichts der Annahme des Antrages der Fraktionen der SPD und des derzeitigen Situation nicht mehr arbeiten, vielleicht un- Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 15/462 mit ter anderem deshalb, weil damals zu viel Geld ausgege- dem Titel „EU-Agrarreform mutig angehen und ausge- ben worden ist. wogen gestalten“. Wer stimmt für diese Beschlussemp- fehlung? – Gegenprobe! – Enthaltungen? – Die Be- Herzlichen Dank. schlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalition (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten gegen die Stimmen der CDU/CSU und der FDP ange- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) nommen. Unter Nr. 2 empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: des Antrags der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache Ich schließe die Aussprache. 15/422 mit dem Titel „Mit der Reform der gemeinsamen Agrarpolitik die Landwirtschaft und die ländlichen Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Räume in der EU stärken“. Wer stimmt für diese Be- Drucksache 15/405 an die in der Tagesordnung aufge- schlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Der Entschlie- tungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stim- ßungsantrag der Fraktion der CDU/CSU auf Druck- men der Koalition gegen die Stimmen der CDU/CSU bei sache 15/1325 soll an dieselben Ausschüsse überwiesen Enthaltung der FDP angenommen. werden. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Schließlich empfiehlt der Ausschuss für Verbraucher- schutz, Ernährung und Landwirtschaft unter Nr. 3 seiner Wir kommen zum Entschließungsantrag der Fraktio- Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/1025 die Ab- nen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen auf lehnung des Antrags der Fraktion der FDP auf Drucksache 15/1324, über den wir nach interfraktionel- Drucksache 15/435 mit dem Titel „Marktwirtschaft- ler Vereinbarung heute abstimmen. liches Modell einer flächengebundenen Kulturland- (Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/ schaftsprämie verwirklichen“. Wer stimmt für diese Be- CSU]: Den wollen sie nicht im Ausschuss ha- schlussempfehlung? – Gegenprobe! – Enthaltungen? – ben!) Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der 4670 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2003

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner (A) Koalition gegen die Stimmen der FDP bei Enthaltung 1. Januar 1991 über all die Jahre grundsätzlich bewährt (C) der CDU/CSU angenommen. hat. Jetzt geht es darum, die einzelnen Bereiche auf Wirksamkeit und nach einer Kosten-Nutzen-Analyse zu Beschlussempfehlung des Ausschusses für Verbrau- überprüfen. Im Übrigen ist dieser Vorgang in der freien cherschutz, Ernährung und Landwirtschaft auf Druck- Wirtschaft selbstverständlich. sache 15/1133: Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 sei- ner Beschlussempfehlung die Annahme des Antrages Ich will den weiteren Beratungen nicht vorgreifen. der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grü- Man soll ja nie das Hoffen aufgeben, dass die Koaliti- nen auf Drucksache 15/550 mit dem Titel „Für eine onsparteien bei einem Unionsgesetzentwurf mitmachen. nachhhaltige Agrarpolitik und einen gerechten Interes- Aber wenn nicht, dann stellt sich die Frage, meine Da- senausgleich bei den laufenden WTO-Verhandlungen“. men und Herren von Rot-Grün, nach Ihrer grundsätz- Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer lichen Fähigkeit, notwendige Veränderungen vorzuneh- stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp- men. Wenn Sie hier nicht mitmachen, dann haben Sie fehlung ist mit den Stimmen der Koalition gegen die weiter Glaubwürdigkeit im Hinblick auf Korrekturen in Stimmen der CDU/CSU und der FDP angenommen. unserem System verloren. Unter Nr. 2 empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung Wie oft haben wir von der Opposition in diesem Ho- des Antrages der Fraktion der CDU/CSU auf hen Haus schon Anträge zur Verbesserung der kom- Drucksache 15/534 mit dem Titel „WTO-Verhandlungen munalen Finanzsituation eingebracht! Ihnen war das – Europäisches Landwirtschaftsmodell absichern“. Wer immer egal. Wir von der Union sehen bei unserer Politik stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt über den Tellerrand des Bundestages hinaus, weil es dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ohne ein schlüssiges Gesamtkonzept und eine Verzah- ist mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen nung der verschiedenen Ebenen keine in sich schlüssige der CDU/CSU bei Enthaltung der FDP angenommen. Politik in unserem Lande gibt. Wie einige von Ihnen, meine Damen und Herren von Rot-Grün, den Spagat Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf zwischen einem Mandat in einem Kommunalparlament den Drucksachen 15/1232 und 15/1004 an die in der Ta- vor Ort und Ihrer kommunalfeindlichen Politik hier im gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Deutschen Bundestag hinbekommen, das müssen Sie Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann mir noch einmal erklären. sind die Überweisungen so beschlossen. (Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf von der Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf: SPD: Steuervergünstigungsabbaugesetz!) Erste Beratung des von den Abgeordneten Maria Eines ist aber ganz klar: Dieser Gesetzentwurf ist kein (B) (D) Eichhorn, Dr. Maria Böhmer, Antje Blumenthal, Kahlschlag in der Jugendhilfe. Es muss doch erlaubt weiteren Abgeordneten und der Fraktion der sein, Regelungen auf den Prüfstand zu stellen und bei CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Dritten Fehlentwicklungen aus den Praxiserfahrungen heraus Gesetzes zur Änderung des Achten Buches Korrekturen vorzunehmen. Unser aller Wille muss doch Sozialgesetzbuch (Drittes SGB VIII-Ände- sein, Mitnahmeeffekte, Missbrauchsfälle und Ungerech- rungsgesetz – 3. SGB VIII-ÄndG) tigkeiten zu vermeiden oder auszuschalten. – Drucksache 15/1114 – Uns geht es um eine gerechte und nachhaltige Kinder- Überweisungsvorschlag: und Jugendhilfe für die Menschen, die sie wirklich brau- Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f) Innenausschuss chen. Wenn Sie gegen diesen Gesetzentwurf sind, dann Finanzausschuss haben Sie, meine Damen und Herren von der Koalition, Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit offenbar keinen Kontakt mehr zur kommunalen Basis. Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Ausschuss für Bildung, Forschung und (Jutta Dümpe-Krüger [BÜNDNIS 90/DIE Technikfolgenabschätzung GRÜNEN]: Das Gegenteil dürfte der Fall Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die sein!) Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich Reden Sie doch einmal mit den Jugendämtern vor Ort, höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. den Bürgermeistern und Landräten! Sie werden schnell Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, die der Aus- über Fälle in Kenntnis gesetzt, über die man nur den sprache nicht folgen wollen oder können, den Saal zu Kopf schütteln kann und die draußen im Land keiner verlassen. mehr versteht. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Eine Bitte für die Beratungen: Kommen Sie nicht mit Andreas Scheuer, CDU/CSU-Fraktion. einer hoch emotionalisierten Sozialromantik und einer absichtlichen Nichtbeachtung der Fakten und der Praxis! (Beifall bei der CDU/CSU) Argumentieren Sie bitte nicht nur mit Ihrer Kritik an der Kostendämpfung, sondern lassen Sie uns über die Ziel- Andreas Scheuer (CDU/CSU): richtung und den Zweck einer gerechten und nachhal- tigen Leistungsgewährung streiten. Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle- gen! Eines gleich vorweg: Man muss klar feststellen, Wir wollen zudem bürokratische Hemmnisse ab- dass sich das Kinder- und Jugendhilfegesetz vom bauen, Länderkompetenzen stärken und zurückholen Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2003 4671

Andreas Scheuer (A) und durch Deregulierung auf diesem Gebiet eine Opti- Leistungen der Jugendhilfe spätestens mit Vollendung (C) mierung erreichen. Klar ist, meine Damen und Herren des 21. Lebensjahres beendet werden. Notwendige Hilfe von der Koalition, dass Sie als Zentralismusfans sich zur Selbsthilfe kann jungen Volljährigen effektiver durch hier immer etwas schwer tun. Das wissen wir. Aber jetzt moderne und qualifizierte Ansätze der Sozialhilfe, Woh- wäre die Zeit, einmal über den Schatten zu springen. nungsvermittlung oder Schuldnerberatung angeboten werden. (Beifall bei der CDU/CSU) Meine Damen und Herren, wir wollen mit diesem Ich möchte auf drei Regelungen in unserem Gesetz- Entwurf unter anderem eine praxisnahe Ausgestaltung entwurf eingehen, erstens auf die Änderung des § 10. der Regelung des Datenschutzes, eine Optimierung der Mit unserem Vorschlag werden die Zuständigkeitsstrei- Jugendhilfeplanung und eine Rückholung von Länder- tigkeiten und Vollzugsprobleme zwischen der Jugend- kompetenzen bei Struktur- und Organisationsfragen und der Sozialhilfe entfallen. Durch die Neufassung der durchsetzen. Diese Analyse des SGB VIII ist nach rund Vorschrift wird erreicht, dass für die seelisch behinder- einem Jahrzehnt erforderlich und notwendig. Die Kor- ten oder von einer solchen Behinderung bedrohten jun- rekturen müssen aus unserer Sicht unbedingt gemacht gen Volljährigen vorrangig die Träger der Sozialhilfe, werden. nicht die der Jugendhilfe zuständig sind. Gerade bei die- ser Zielgruppe ist es zum Teil besonders schwierig, eine (Beifall bei der CDU/CSU) klare Trennlinie zwischen erzieherischem Bedarf und Meine Damen und Herren, der heutige Plenartag Rehabilitation zu ziehen. Während die körperliche Be- wurde mit einer Regierungserklärung des Bundeskanz- hinderung klassifiziert ist, gibt es für den Begriff der lers eröffnet. Die Ankündigungen der letzten Tage und seelischen Behinderung keine rechtliche Definition, Wochen bedeuten, dass endlich auch in den Reihen von sondern nur einen Katalog von Beispielfällen. Durch SPD und Grünen ein Hauch von Bewegung zu verspüren diese Neuregelung gäbe es mehr Klarheit und mehr Ver- ist. Es ist festzustellen: Die Bewegung ist noch sehr dif- einfachung, weil das Drohen einer seelischen Behinde- fus und Sie wissen nicht, in welche Richtung Sie laufen rung erstmals definiert ist. Jetzt gibt es trotz fachärztli- müssen. Sie scheuen sich selbst beim Reförmchenpaket cher Gutachten Unklarheiten, sodass letztlich Agenda 2010, das ja den Namen deshalb hat, weil diese Verwaltungsgerichte entscheiden müssen. Agenda spätestens am 20. 10. dieses Jahres schon wie- Zweitens: § 35 a. Es gibt neben der enormen Kosten- der veraltet sein wird. Sie bringen diese Agenda 2010 steigerung für die Kommunen in den letzten Jahren deut- nicht einmal ins Parlament ein, weil Sie sich der eigenen liche Mitnahmeeffekte sowie erhebliche Auslegungspro- Mehrheiten in diesem Hohen Haus nicht sicher sind. bleme aufgrund der ausgedehnten und unbestimmten Ihre Kommissionsstrategie verpufft auch bei der Ge- (B) (D) Reichweite des Leistungstatbestandes nach § 35 a. Der meindefinanzreform. Leistungstatbestand würde enger und klarer gefasst wer- den. Die ausgeuferten Hilfen zum Beispiel bei Lese- und (Zuruf von der SPD: Thema!) Rechtschreibschwäche oder auch bei Rechenschwäche Sie wollen ganz einfach nicht kapieren, dass die Kom- werden eingeschränkt. Meine Damen und Herren von munen für Investitionen die Luft zum Atmen und für Rot-Grün, es gibt hier eine klar bessere Möglichkeit, kommunale Entscheidungen Planungssicherheit brau- junge Menschen mit solchen Schwächen zu fördern, chen. nämlich eine gute Schulpolitik. Das müssen Sie nur Ih- ren zuständigen Länderministern erklären. Dass unions- (Widerspruch des Abg. Anton Schaaf [SPD]) geführte Länder bei PISA besser abgeschnitten haben, In Sachen aktuelle Steuerreform haben Sie in Zukunft brauche ich hier nicht zu vertiefen; das wissen Sie. auch nicht gerade Wohltaten für die Kommunen zu ver- (Beifall bei der CDU/CSU) teilen, Herr Kollege Schaaf. Jetzt rächt es sich, dass sich die Gemeindefinanzreform so lange hinzieht und dass Die Neufassung hat zur Folge, dass a) die wesentlich Sie hier völlig verpennt haben. seelische Behinderung zum Rechtsanspruch auf Einglie- derungshilfe führt und dass b) ein einheitliches Recht für Sie machen Politik nach dem Motto: Wasch mir den alle jungen Menschen mit Behinderungen entsprechend Pelz, aber mach mich nicht nass. So werden Sie sich der Intention des SGB VIII geschaffen wird. Ziel ist eine nicht durchschlängeln können. Jetzt gilt es, Entscheidun- Gleichbehandlung und mehr Gerechtigkeit; deshalb gen zu treffen. Der vorliegende Entwurf ist ein Beispiel von unserer Seite der Vorschlag für eine Neuregelung. von vielen, bei denen Sie sich bewegen müssen. Deutschland muss sich bewegen. Drittens: § 41. Junge Volljährige können bis zum (Jutta Dümpe-Krüger [BÜNDNISS 90/DIE Ende des 27. Lebensjahres erstmals Jugendhilfeleistun- GRÜNEN]: Aber in die entgegengesetzte gen in Anspruch nehmen. Dies sollte die Ausnahme sein, Richtung!) jedoch hat es sich in der Praxis zum Regelfall entwi- ckelt. Durch die Neuregelung schaffen wir eine saubere Wir von der Opposition geben Ihnen Orientierung; denn Abgrenzung, es werden Zuständigkeiten geklärt und diese haben Sie dringend nötig. Reibungsverluste durch den hohen Verwaltungsaufwand Herzlichen Dank. sowie Mitnahmeeffekte vermieden. Durch die Neufas- sung wird erreicht, dass bei jungen Volljährigen nur be- (Beifall bei der CDU/CSU – Lachen bei Abge- gonnene Jugendhilfemaßnahmen fortgesetzt und die ordneten der SPD) 4672 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2003

(A) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: ternschaft und Erwerbstätigkeit miteinander zu vereinba- (C) Das Wort hat die Parlamentarische Staatssekretärin ren. Christel Riemann-Hanewinckel. Die anderen Aufgaben, die im Wesentlichen für die Kostenentwicklung verantwortlich sind, sind die Hilfen Christel Riemann-Hanewinckel, Parl. Staatssekre- zur Erziehung und Hilfen für junge Volljährige. tärin bei der Bundesministerin für Familie, Senioren, Wenn der Gesetzentwurf des Bundesrates nun darauf Frauen und Jugend: abzielt, eine weitere Kostenbelastung der Kommunen zu Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! vermeiden oder wenigstens deutlich einzudämmen, so Meine Damen und Herren! Mit dem Achten Buch Sozi- ist diese Zielsetzung bezogen auf die Haushaltssitua- algesetzbuch hat die Kinder- und Jugendhilfe im ver- tion der Kommunen gut zu verstehen und nachzuvoll- einten Deutschland Ende 1990/Anfang 1991 eine neue ziehen. Zu fragen bleibt aber, welche Folgen mit den Rechtsgrundlage erhalten. Das vorrangige Ziel dieses vom Bundesrat beabsichtigten Leistungskürzungen für Gesetzes war und ist die Stärkung der elterlichen Erzie- junge Menschen und Familien verbunden sind. Bei stei- hungskompetenz als zentraler Voraussetzung für die Ein- genden Kosten in diesem Feld einfach die Leistungen zu lösung des Rechtes eines jeden Kindes und Jugendlichen kürzen wäre etwa so, als wenn wir bei vermehrten Feu- auf Erziehung und Entwicklung zu einer eigenverant- erwehreinsätzen das Wasser für die Feuerwehr rationie- wortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit. ren würden. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) In den 13 Jahren der Geltung dieses Gesetzes ist es mehrfach verbessert worden. Ich erinnere hier nur an die Deshalb haben wir als Politikerinnen und Politiker die Einführung des Rechtsanspruches auf einen Kindergar- Pflicht, uns mit den Ursachen für die steigende Inan- tenplatz zum 1. Januar 1996 und an die Verbesserung der spruchnahme von Leistungen der Kinder- und Jugend- Beratungsangebote der Jugendhilfe im Zusammenhang hilfe auseinander zu setzen. Wir müssen also weiterhin mit der Kindschaftsrechtsreform zum 1. Juli 1998. die Rahmenbedingungen verändern, damit Eltern Part- nerschaft, Elternschaft und ihre beruflichen Verpflich- Dieses Gesetz hat sich in seinen Zielsetzungen be- tungen unter den berühmten einen Hut bringen können. währt. Zentrales Anliegen der Bundesregierung ist es des- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten halb, in guter Kooperation mit Verbänden und Initiativen des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) die Kompetenzen von Eltern zu stärken. Das ist mög- (B) Darin sind sich die Bundesregierung, die fachliche Pra- lich durch die Stärkung der sozialen Netzwerke und der (D) xis und der Bundesrat einig. Wir haben damit die Verant- Infrastruktur der Familien vor Ort. Ein wichtiges Anlie- wortung, die bewährte Zielsetzung dieses Gesetzes auch gen ist auf den Weg gebracht, der Ausbau der Tagesbe- in Zukunft im Auge zu behalten. Ich hoffe, Herr Kollege treuung für Kinder, eng verbunden mit einer Qualitäts- Scheuer, dass wir vorrangig eine Sachdebatte führen offensive in Bildung und Erziehung. werden, die den Kindern und Jugendlichen dient. Die Bundesregierung wird Länder und Gemeinden (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten beim Ausbau nicht nur der Ganztagsbetreuung, sondern des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – auch der Betreuung der unter dreijährigen Kinder unter- Andreas Scheuer [CDU/CSU]: Wir schon!) stützen. Gerade Kindern aus Familien, die auf weniger Ressourcen zurückgreifen können, wird auf diese Weise Die Änderungsvorschläge, die der Bundesrat bzw. die bekanntlich die Chance auf gute und gleiche Bildungs- CDU/CSU-Fraktion zum SGB VIII unterbreiten, sollen möglichkeiten eröffnet. Die soziale Herkunft dieser Kin- vor allem die Kostenentwicklung in der Kinder- und Ju- der darf nicht über ihre soziale Zukunft entscheiden. gendhilfe stoppen. In der Tat sind die öffentlichen Aus- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ gaben für die Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland DIE GRÜNEN) von 14,3 Milliarden Euro im Jahr 1992 auf 19,2 Milliar- den Euro im Jahr 2001 angestiegen. Wenn der Bundesrat nun beabsichtigt, Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe an verschiedenen Stellen zu Ein genauerer Blick in die Statistik zeigt, dass es im kürzen bzw. einzuschränken, dann lehnt die Bundesre- Wesentlichen zwei Aufgabenfelder sind, die zu dieser gierung Gespräche darüber grundsätzlich nicht ab. Aber Steigerung geführt haben. Zum einen ist es die Umset- es muss geprüft werden, ob durch die beabsichtigten zung des Rechtsanspruches auf einen Kindergarten- Einsparungen tatsächlich nicht die Folgekosten in ande- platz. Die Aufwendungen für diesen Bereich sind in den ren Bereichen erhöht werden und ob die Einsparungen alten Bundesländern in diesem Zeitraum um fast den Kindern und Jugendlichen und jungen Volljährigen, 3 Milliarden Euro gestiegen, während sie in den neuen die auf solche Leistungen angewiesen sind, nicht Chan- Bundesländern aufgrund der demographischen Entwick- cen der Entwicklung und der Integration in unsere Ge- lung um 1 Milliarde Euro gesunken sind. Diese Ausga- sellschaft nehmen. ben beruhen auf einem klaren Gesetzesauftrag des Deutschen Bundestages im Zusammenhang mit der Neuordnung Die Bundesregierung hat in ihrer Stellungnahme zu des § 218 und damit dem Schutz des ungeborenen Le- dem Gesetzentwurf des Bundesrates, die am 9. Juli im bens. Eltern sollen bessere Möglichkeiten haben, ihre El- Kabinett beschlossen werden wird, zu den einzelnen Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2003 4673

Parl. Staatssekretärin Christel Riemann-Hanewinckel (A) Vorschlägen dezidiert Stellung genommen. Ich möchte kommunalen Kassen entlasten, tatsächlich aber würden (C) jetzt hier nur drei Themen kurz herausgreifen. damit vielen jungen Menschen in dieser sensiblen Phase wichtige Leistungen für ihre gesellschaftliche Integra- Erstens geht es um den § 35 a – das sind die Vor- tion vorenthalten. Die Folge wäre, dass sie den Einstieg schläge zur Einschränkung des Rechtsanspruchs auf Hil- in Beruf und Gesellschaft nicht fänden, sondern ausstie- fen für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche –, gen. Deshalb ist auch dieser Änderungsvorschlag sehr der wohl bei allen eine wichtige Rolle spielt. Auch die genau zu prüfen. Bundesregierung verfolgt die Entwicklung der Ausga- ben nach diesem Paragraphen im SGB VIII mit Sorge. (Andreas Scheuer [CDU/CSU]: Ich denke, Sie Dabei fällt insbesondere die starke Inanspruchnahme haben schon geprüft!) von Eingliederungshilfen wegen so genannter Teilleis- tungsstörungen wie Legasthenie oder Dyskalkulie auf. Drittens möchte ich auf den Vorschlag des Bundesrats zu sprechen kommen, den Ländern durch einen so ge- In letzter Zeit wird auch Eingliederungshilfe für hoch nannten Landesrechtsvorbehalt die Möglichkeit zu er- begabte Kinder gewährt. öffnen, die Aufsicht über Tageseinrichtungen für Kinder anderen Behörden als den Landesjugendämtern zuzu- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: weisen. Die Aufgabenwahrnehmung soll auf die Kreis- Frau Staatssekretärin, gestatten Sie eine Zwischen- verwaltungsbehörden delegiert und die Aufsicht damit frage des Kollegen Scheuer? dezentral angesiedelt werden. Die Aufsicht über Tages- einrichtungen hat eine wichtige Aufgabe zum Schutz von Kindern. Sie gewährleistet nämlich Mindeststan- Christel Riemann-Hanewinckel, Parl. Staatssekre- dards für das Wohl der dort betreuten Kinder und Ju- tärin bei der Bundesministerin für Familie, Senioren, gendlichen. Eine Kommunalisierung dieser Aufsicht Frauen und Jugend: würde bedeuten, dass Finanzverantwortung und Fach- Nein, ich gestatte keine Zwischenfrage, weil ich da- aufsicht in einer Hand liegen, wodurch die große Sorge von ausgehe, dass wir im Ausschuss genügend Zeit ha- entstünde, dass eine so organisierte Aufsicht nicht in ers- ben werden, um hierüber zu diskutieren. ter Linie dem Kindeswohl, sondern vorrangig dem Kas- senwohl dient. Alle diese Beispiele weisen darauf hin – darin sind wir uns fast einig –, dass vorrangig zuständige Institutionen (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des mit Hilfesystemen, allen voran die Schule, hier ihrer Pri- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Andreas märverantwortung nicht in ausreichendem Maße gerecht Scheuer [CDU/CSU]: Sie haben ja ein großes werden mit der Folge, dass die Kinder- und Jugendhilfe Vertrauen in die Kommunen! Ihr Verhältnis als nachrangiges Leistungssystem hier in größerem Um- zur Kommunalpolitik ist gestört!) (B) (D) fang eintreten muss. Es ist die vordringliche Aufgabe der Meine Damen und Herren, der Staat kann nur das Länder, und zwar die aller Bundesländer – da müssen wir Geld ausgeben, das ihm zur Verfügung steht. Das wissen uns nicht gegenseitig etwas vorrechnen –, im Rahmen wir alle; das ist eine Binsenweisheit. Daher muss auch der Schule spezifische Förderprogramme für diese die Kinder- und Jugendhilfe kostenbewusst agieren und Kinder vorzusehen. alle Möglichkeiten für eine noch bessere Effektivität und (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Qualität der Aufgabenwahrnehmung ausschöpfen. Darü- DIE GRÜNEN) ber werden wir in den Ausschüssen beraten. Ich hoffe, dass wir für die Kinder und Jugendlichen gute und ver- Die Bundesregierung unterstützt durchaus die Ab- antwortliche Entscheidungen treffen. sicht des Bundesrates, § 35 a auf seine Zielgenauigkeit hin zu überprüfen. Allerdings haben wir zurzeit große Vielen Dank. Zweifel daran, dass die angestrebten Ziele mit dem Än- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ derungsvorschlag tatsächlich erreicht werden können. DIE GRÜNEN – Andreas Scheuer [CDU/ Zweitens komme ich auf die beabsichtigte Änderung CSU]: Ein guter Schlusssatz!) von § 41 SGB VIII – Hilfe für junge Volljährige – zu sprechen. Die Verbesserung der Hilfen für junge Volljäh- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: rige war eines der zentralen Ziele der Neuordnung des Nächster Redner ist der Kollege Klaus Haupt, FDP- Kinder- und Jugendhilferechts im Jahre 1990/91. Fraktion. Die individuelle Persönlichkeitsentwicklung richtet sich nicht immer nach dem juristisch abstrakt bestimm- Klaus Haupt (FDP): ten Zeitpunkt der Volljährigkeit. Das Erwachsenwerden Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! und der Prozess der Ablösung vom Elternhaus sind häu- Das 1991 in Kraft getretene Kinder- und Jugendhilfege- fig mit besonderen Schwierigkeiten verbunden. Der setz ist ein gutes Beispiel für den Stellenwert der Ju- Übergang in Ausbildung und Arbeit gestaltet sich nicht gendpolitik der damaligen liberal-konservativen Bun- immer reibungslos. desregierung. Es hat sich insgesamt bewährt. Das haben auch meine Vorredner schon festgestellt. Zwölf Jahre In dieser sensiblen Phase werden für viele junge Men- nach dem In-Kraft-Treten ist eine kritische Überprüfung schen die Weichen dafür gestellt, ob sie gesellschaftlich jedoch sicherlich sinnvoll. integriert werden oder nicht. Eine Reduzierung der Leis- tungen für junge Volljährige mag vordergründig die (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) 4674 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2003

Klaus Haupt (A) Das Ausgabevolumen in der Kinder- und Jugend- Auch die Einschränkung der Leistungen für junge (C) hilfe von 19,2 Milliarden Euro im Jahre 2001 ist ange- Volljährige auf die Fälle, in denen Jugendhilfemaßnah- sichts der Finanzmisere der öffentlichen Haushalte men vor der Volljährigkeit begonnen wurden, trägt zu ei- durchaus kritisch zu analysieren. Generell kann Sparen ner Klärung der Zuständigkeiten bei. Grundsätzlich ein Beitrag zur Nachhaltigkeit einer politischen Maß- sollte sich die Jugendhilfe auf die Förderung der betrof- nahme sein. Kostendämpfung in der Jugendhilfe kann fenen Jugendlichen beschränken; denn dadurch würden man als Maßnahme zur Sicherung des Fortbestandes der auch hier Reibungsverluste durch Abgrenzungsprobleme Jugendhilfe verstehen. Das gilt natürlich insbesondere vermieden. für die finanziell besonders belasteten Kommunen. Wer jedoch in der Jugendhilfe sparen will, darf nicht verges- Die FDP begrüßt vor allem den Vorschlag zur Auf- sen, dass Ausgaben für unsere Kinder und Jugendlichen wertung der Jugendhilfeplanung im Hinblick auf einen Investitionen in die Zukunft unserer Gesellschaft sind kontinuierlichen Prozess und einen höheren Gesamtstel- und dass falsches Sparen an dieser Stelle schlimme Fol- lenwert. Der Vorschlag, Kollege Scheuer, durch Landes- gen haben kann. recht veränderte Zuständigkeiten für die Aufsicht über Tageseinrichtungen für Kinder zu ermöglichen, kann ei- (Beifall bei der FDP, der SPD und dem nen positiven Beitrag zur Verwaltungsvereinfachung BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) leisten. Allerdings darf es nicht zu Interessenkollisionen auf der Ebene der örtlichen Träger der Jugendhilfe kom- Wenn die Jugendarbeit den heute sehr großen Anfor- men. derungen nicht gerecht werden kann, dann trägt die ganze Gesellschaft die negativen – auch die finanziellen – Fol- Ebenso wird die FDP die Vorschläge zu Änderungen gen. Außerdem ist im Blick zu behalten, dass die Kin- im Datenschutz kritisch beleuchten. Auch hier müssen der- und Jugendhilfe im Ausgabenblock des Sozialbud- wir zwar Kostendämpfung in Verwaltungsverfahren im gets unseres Landes im Jahre 1998 ohnehin einen sehr Blick haben, doch dürfen mit doppelter Zielsetzung an- bescheidenen Anteil von 7 Prozent einnahm und dass vertraute Daten nicht einfach aus dem Vertrauensschutz auch der Anteil an den Ausgaben der Kommunalhaus- herausgenommen werden. halte mit 9,4 Prozent keineswegs sehr hoch ist. Vor die- (Vorsitz: Vizepräsident Dr. Hermann Otto sem Hintergrund sind Vorschläge für Leistungsein- Solms) schränkungen in der Jugendhilfe stets kritisch zu prüfen. Alles in allem ist die Diskussion um Reformen in der Mit dem vorliegenden Entwurf werden vor allem Kinder- und Jugendhilfe sinnvoll. Es wird jedoch eine zwei Ziele verfolgt: sehr genaue Prüfung der einzelnen Vorschläge notwen- dig sein. Daher spricht sich die FDP dafür aus, dass der (B) Erstens soll angesichts der katastrophalen Finanzlage (D) federführende Ausschuss zu dem Gesetzentwurf eine eine finanzielle Entlastung der Kommunen geschaffen Anhörung mit Experten durchführt, die uns eine Basis werden. für eine sachgerechte Entscheidung unter Berücksichti- Zweitens sollen bürokratische Hemmnisse abgebaut gung der Wirkungen für Kinder und Jugendliche sowie und die Effizienz in der Jugendhilfe durch Deregulie- für Länder und Kommunen gibt. rung gesteigert werden. Ich danke. Beide Ziele teilt die FDP uneingeschränkt. Es wird (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten aber noch näher zu prüfen sein, ob erstens die in dem der CDU/CSU) Gesetzentwurf gewählten Maßnahmen uneingeschränkt geeignet sind, diese Ziele zu erreichen, und ob zweitens inakzeptable negative Wirkungen für die Kinder- und Ju- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: gendhilfe dabei auszuschließen sind. Das Wort hat jetzt die Kollegin Jutta Dümpe-Krüger von Bündnis 90/Die Grünen. (Beifall bei der FDP und der SPD) Zu den einzelnen Vorschlägen in dem Gesetzentwurf Jutta Dümpe-Krüger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): wird die FDP-Fraktion daher einen konstruktiven Dialog Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir leh- führen. Wir halten zum Beispiel eine Angleichung der nen die von CDU/CSU geplanten Änderungen zum Kin- Eingliederungshilfe für seelisch Behinderte oder von der- und Jugendhilfegesetz ab, einer solchen Behinderung bedrohte junge Menschen an die Regelungen, die für körperlich und geistig behin- (Andreas Scheuer [CDU/CSU]: Ach nein!) derte Kinder und Jugendliche nach dem Sozialhilfege- und zwar nicht deshalb, Herr Scheuer, weil wir Zentra- setz bestehen, grundsätzlich für sinnvoll und diskussi- lismusfans wären, sondern weil damit einschneidende onswürdig. Die bisherige Unterscheidung zwischen Leistungseinschränkungen im Bereich der Eingliede- geistig und körperlich Behinderten auf der einen und rungshilfen für Kinder und Jugendliche eintreten würden. seelisch Behinderten auf der anderen Seite ist nicht ganz Der Antrag beinhaltet außerdem Verschlechterungen bei überzeugend. Deshalb geht auch der Vorschlag, den Un- den Hilfen für junge Volljährige. terschied der Leistungszuständigkeit zwischen den Trä- gern der Jugend- und der Sozialhilfe aufzuheben, in eine (Andreas Scheuer [CDU/CSU]: Im Bundesrat plausible Richtung. hat das noch ganz anders geklungen!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2003 4675

Jutta Dümpe-Krüger (A) Im Grunde genommen hat er nur ein einziges Ziel, zialpädagogische Ressourcen und verursacht in hohem (C) nämlich Einsparungen in Höhe von 150 bis 250 Millio- Maße Kosten. nen Euro. Das ist der einzige Grund, warum das KJHG Mit der geplanten Neuregelung des § 41 beabsichti- auf den Prüfstand soll – auf Kosten von Kindern und Ju- gen Sie unter anderem ein generelles Maßnahmeende gendlichen. Ich bin der Ansicht: So geht das nicht. mit Vollendung des 21. Lebensjahres. In der Begründung (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN heißt es, dass sich Jugendhilfeleistungen von der Aus- und bei der SPD) nahme zum Regelfall entwickelt hätten. Ich weiß nicht, wie Sie zu dieser Annahme kommen. Sie wird in keiner Sie wollen § 10 KJHG dahin gehend ändern, dass Weise durch die statistischen Zahlen der Dortmunder Leistungen für junge Volljährige in den Zuständigkeits- Zentralstelle für Kinder- und Jugendhilfe untermauert. bereich des Bundessozialhilfegesetzes verschoben wer- den. Damit wäre der Vorrang der Jugendhilfe aufgeho- Was Ihre weiteren Vorschläge angeht, nämlich keine ben. Das wäre so ziemlich das Dümmste, was wir Ersthilfe mehr ab dem 18. Lebensjahr und Weiterfüh- machen könnten. Ganz deutlich: Es geht um Hilfemaß- rung von Maßnahmen für über 18-Jährige nur noch als nahmen für junge Menschen, die körperlich behindert Kannleistung, sage ich Ihnen: Sie gefährden bedarfsge- oder von Behinderung bedroht sind. Es geht um Volljäh- rechte Hilfeleistung und Sie gefährden damit die berufli- rige, die seelisch behindert oder von einer solchen Be- che und soziale Integration junger Menschen. hinderung bedroht sind. Gerade für diese jungen Men- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN schen wäre es fatal, wenn Effekte begonnener und bei der SPD) Hilfeleistungen in hohem Maß infrage gestellt würden. Ihnen würden nämlich wichtige Unterstützungsleistun- Ich habe mit Interesse im Bundesratsprotokoll vom gen entzogen und sie würden im Zuständigkeitsgeran- 23. Mai nachgelesen, dass Bayern der Auffassung ist – ich gel – das ist wirklich ein ganz großes Manko – zwischen zitiere –, die Jugendhilfe könne nicht auf Kosten der Sub- Jugendhilfe und Sozialhilfe auf der Strecke bleiben. stanz leben und man müsse „ausufernde“ Leistungen vermeiden. Dazu ist zu sagen – der Kollege Haupt hat es (Andreas Scheuer [CDU/CSU]: Jetzt haben angesprochen –: Bei einem Wechsel von einem örtlichen wir ein Zuständigkeitsgerangel!) zu einem überörtlichen Träger werden keine nennens- Der von Ihnen geplante Kahlschlag werten Kosten eingespart, sondern nur verschoben. Ge- rade Bayern ist das Paradebeispiel für die Unsinnigkeit (Andreas Scheuer [CDU/CSU]: Ich habe ge- einer Neuregelung wegen angeblicher Einspareffekte. wusst, dass das Wort kommt!) Das dortige Landesjugendamt weist in seiner Jugendhil- in der Jugendhilfe ist unter allen Umständen zu verhin- (B) (D) festatistik von 1999 nämlich nur 36 Fälle von Eingliede- dern. Unsere Aufgabe ist es, dafür zu sorgen, dass junge rungshilfen für 18- bis 21-Jährige und ganze sechs Fälle Menschen mit Benachteiligungen jede Unterstützung be- von Hilfen für junge Menschen von 21 bis 27 Jahren aus. kommen, die sie brauchen, um sich positiv entwickeln Sie wollen § 35 a KJHG neu fassen. In dem Gesetz- zu können. Wir alle müssen endlich zu der Einsicht kom- entwurf ist vorgesehen, dass Kinder und Jugendliche men, dass das keine Ausgaben, sondern Investitionen von einer wesentlichen Behinderung bedroht sein müs- sind. Wenn wir die nicht tätigen, dann werden wir Kos- sen. Dasselbe soll für die Fähigkeit zur Teilhabe an der ten haben, und zwar doppelt und dreimal so hohe. Gesellschaft gelten. Dabei wissen Sie genau: Die Wider- Ich danke Ihnen. sinnigkeit der Unterscheidung in „wesentliche“ und „un- wesentliche“ Behinderung ist hinlänglich und differen- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ziert belegt. und bei der SPD)

Meine Damen und Herren von der Union, Ihre Vor- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: schläge tragen außerdem zur Unschärfe und Verkompli- Das Wort hat die Kollegin Ingrid Fischbach von der zierung bei. Entscheidungen der Jugendämter würden CDU/CSU-Fraktion. nämlich stärker als bisher im willkürlichen Ermessen ge- troffen werden müssen. (Beifall bei der CDU/CSU)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Ingrid Fischbach (CDU/CSU): Frau Kollegin, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kollegen Scheuer? Kolleginnen und Kollegen! Es ist schon erstaunlich, dass sowohl die Frau Staatssekretärin als auch die Kollegin der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen keine Zwi- Jutta Dümpe-Krüger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): schenfragen gestatten. Nein, ich gestatte keine Zwischenfrage. – Das bedeu- (Jutta Dümpe-Krüger [BÜNDNIS 90/DIE tet, dass die geplante Neuregelung zum Nachteil von be- GRÜNEN]: Das macht Frau Reiche auch troffenen Kindern und Jugendlichen ausgelegt würde. nicht!) Da solche Ermessensentscheidungen aber juristisch sehr fragwürdig sind, heißt das auch, es würde zu einer Zu- Das wundert deshalb, weil sie sonst immer gern bereit nahme von Klageverfahren kommen. Das vergeudet so- sind, selber Fragen zu stellen und auch zu beantworten. 4676 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2003

Ingrid Fischbach (A) Frau Kollegin Dümpe-Krüger, das Wort „Kahlschlag“ In der Vergangenheit traten aber in der Praxis häufig (C) habe ich vor einiger Zeit schon einmal gehört. Das ist ein Abgrenzungs- und Zuständigkeitsprobleme zwischen paar Jahre her und es ging um die Einführung des demo- der Sozialhilfe und der Jugendhilfe auf, die zum Teil auf graphischen Faktors. Damals war es auch Ihre Seite, die die fehlende rechtliche Definition des Begriffs „seelisch von einem Kahlschlag gesprochen hat. Heute führen Sie Behinderte“ zurückgehen. Dadurch wiesen sowohl die in ähnlicher Form einen Faktor ein und Sie sprechen Inanspruchnahme als auch die Bewilligung von Hilfen nicht mehr von einem Kahlschlag. nach § 35 a SGB VIII bei genauerer Analyse deutliche regionale Disparitäten auf. (Klaus Haupt [FDP]: Das ist Reform!) Ich habe an einer Veranstaltung kommunaler Träger Wenn wir am Ende der Diskussion über dieses Gesetz teilgenommen, Frau Dümpe-Krüger, die deutlich ge- sind, dann werden auch Sie das Wort Kahlschlag aus Ih- macht hat, dass es sehr wohl Disparitäten gibt. Das müs- rem Vokabular gestrichen haben. sen wir ändern. Es geht nicht an, dass es vom Wohnort ab- (Beifall bei der CDU/CSU) hängt, ob junge Leute bestimmte Leistungen bekommen. Anhand Ihrer Fallzahlen aus Bayern haben Sie das als un- Wir haben heute einen Gesetzentwurf auf der Tages- sinnig bezeichnet. Das Land Rheinland-Pfalz, das nicht ordnung, der sich mit der Änderung des Kinder- und Ju- im Verdacht steht, der CDU nahe zu stehen, hat im Bun- gendhilfegesetzes beschäftigt. Man muss ganz deutlich desrat erklärt: Das Land Rheinland-Pfalz unterstützt die sagen: Es steht außer Frage, dass das KJHG sich bisher bayerische Initiative zur Änderung des § 35 a SGB VIII. im Großen und Ganzen bewährt hat und dass es richtig war, seinerzeit diese Entscheidung zu treffen und das (Beifall bei der CDU/CSU) KJHG auf den Weg zu bringen. Was die Fallzahlen angeht, hat das Land Rheinland- Aber die Praxiserfahrungen zeigen auch, dass es gilt, Pfalz angegeben, dass knapp 25 Prozent des gesamten sich einzelne Bereiche dieses Sozialleistungsgesetzes Kostenanstiegs bei den Hilfen nach den §§ 27 bis 35 a anzuschauen und diese auf ihre Wirksamkeit und gerade sowie nach § 41 SGB VIII auf die Hilfen für seelisch be- in der heutigen Zeit auf ihre Kosten-Nutzen-Relation zu hinderte Kinder zurückgehen. Diese Angaben stammen, überprüfen. wie gesagt, nicht aus Bayern, sondern aus Rheinland- Pfalz. Seit dem In-Kraft-Treten des KJHG am 1. Januar 1991 haben sich die Zahlen dramatisch verändert. 1992 – die (Christel Humme [SPD]: Schaffen wir die see- Frau Staatssekretärin hat es schon gesagt – betrugen die lisch behinderten Kinder doch ab!) Jugendhilfeausgaben 14,3 Milliarden Euro, 2001 19,2 Nicht nur aus diesem Grunde fordern wir die Anglei- Milliarden Euro. Das ist knapp ein Drittel mehr. Die (B) chung der Eingliederungshilfe für seelisch Behinderte an (D) Klage der kommunalen Spitzenverbände ist deshalb die Eingliederungshilfe für körperlich und geistig behin- durchaus gerechtfertigt, wenn in ihr darauf hingewiesen derte Kinder und Jugendliche. Aber auch dabei ist wird, dass ein durch ein Bundesgesetz geregelter Rechts- selbstverständlich sicherzustellen – das ist mir besonders anspruch letztlich einzig und allein im Wirkungskreis wichtig –, dass seelisch behinderten jungen Menschen der Kommunen angesiedelt ist und diese die finanziellen über die Sozialhilfeträger die erforderlichen Leistungen Belastungen haben. Wir sollten mit Blick auf das zukommen, die im Rahmen der rehabilitativen Maßnah- Konnexitätsprinzip zukünftig darüber nachdenken, ob men zum Wohle der jungen Menschen erforderlich sind. wir nicht dahin kommen müssen, dass derjenige, der Ge- Aber dazu hat schon mein Kollege Scheuer ausführlich setze erlässt, auch die finanziellen Mittel bereitstellen Stellung genommen. muss. (Nicolette Kressl [SPD]: Wie war das mit dem Kin- Ich möchte noch kurz auf einige andere Schwer- punkte des Gesetzentwurfs eingehen, zum Beispiel auf dergartenplatz unter der CDU-Regierung?) den Datenschutz. Der Kollege Haupt hat schon darauf – Das wird kommen. Ich bin gespannt, ob Sie zustim- hingewiesen. Das Wohl der Kinder und Jugendlichen er- men, wenn wir das Konnexitätsprinzip hier thematisie- fordert oft eine zeitnahe Weitergabe der Daten innerhalb ren werden. des Jugendamtes. Es geht nicht darum, Daten nach au- ßen zu tragen. Es muss möglich sein, die Daten inner- Insofern sind der Wunsch und die Aufforderung der halb des Jugendamtes zügig weiterzugeben. In diesem Kommunen zu verstehen, das KJHG auf den Prüfstand Zusammenhang darf der Datenschutz nicht zu Reibungs- zu stellen. Ich sage hier ganz deutlich: Es darf keinen verlusten führen bzw. die Zusammenarbeit innerhalb ei- Kahlschlag geben. Es darf auch keinen Qualitätsverlust nes Jugendamtes erschweren. Daten, die mitgeteilt wor- geben. den sind, um Sach- und Geldleistungen zu erhalten, sind (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- unserer Meinung nach „nicht anvertraut“ und können neten der FDP) deshalb weitergegeben werden. Ich denke, auch in die- sem Bereich würde eine Änderung zu einer größeren Dennoch gilt auch in der Jugendhilfe das Prinzip der Rechtssicherheit und Verwaltungsvereinfachung führen. Nachhaltigkeit, das Ihnen bestens bekannt ist. Damit auch die jungen Menschen von morgen eine Chance auf Um den jungen Menschen und ihren Familien im Ein- positive Entwicklungsbedingungen haben, gilt es stärker zelfall rasch und zielgerichtet zu helfen, um Fehlinvesti- als bisher, die knapper werdenden Ressourcen ziel- und tionen zu vermeiden und Synergieeffekte zu nutzen, zweckgerichtet einzusetzen. brauchen wir ein kompatibles Netz an Jugendhilfeleistun- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2003 4677

Ingrid Fischbach (A) gen. Dazu muss – auch das hatten Sie schon angespro- aufzubürden. Nicht nur die jungen Menschen von heute, (C) chen, Herr Haupt – die Jugendhilfeplanung regelmäßig sondern auch die von morgen müssen eine Chance auf fortgeschrieben werden. Diese Notwendigkeit wollen wir gute Entwicklungsbedingungen haben. mit unserem Antrag gesetzlich klarstellen. Nur so können die Kontinuität der Jugendhilfeplanung in der Praxis Ich bitte Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen insbe- verbessert, die Aktualität und Prozesshaftigkeit betont sondere von den Koalitionsfraktionen, in diesem Sinne und dem Prinzip der Nachhaltigkeit – wie bereits er- in die Beratungen zu gehen und mit uns gemeinsam et- wähnt – Rechnung getragen werden. was für die jetzige und die zukünftige Jugend zu tun. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ein weiterer Punkt Ich danke. unseres Gesetzentwurfs ist die Rückholung von Länder- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) kompetenzen in Struktur- und Ordnungsfragen. Bereits seit 1998 wurden länder- und parteiübergreifend – auch Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: das zu Ihrer Information – Initiativen zur Änderung des § 85 SGB VIII bzw. zur Öffnungsklausel eingebracht, Das Wort hat jetzt die Kollegin Christel Humme von zum Beispiel durch das Land Schleswig-Holstein. Noch der SPD. ist Schleswig-Holstein rot, aber auch daran kann sich et- was ändern. Christel Humme (SPD): Bisher sind für die Wahrnehmung der Aufgaben zum Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen! Liebe Frau Schutz von Kindern und Jugendlichen in Einrichtungen Fischbach, Sie schreiben in der Maiausgabe der Zeit- nach § 85 SGB VIII grundsätzlich die überörtlichen Trä- schrift „Jugendpolitik“ des Deutschen Bundesjugend- ger der Jugendhilfe zuständig. Die beabsichtigte Neu- rings: regelung soll den Ländern die Möglichkeit geben, die Investitionen in die junge Generation sind die er- Aufsichtskompetenz für Kindertageseinrichtungen auf folgreichsten und wirksamsten Zukunftsinvestitio- die örtliche Ebene zu übertragen. Allerdings handelt es nen unserer Gesellschaft. sich hierbei um ein Kanngesetz, Frau Dümpe-Krüger. Der Text der Bestimmung lautet: (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Im Bereich der Tageseinrichtungen für Kinder kann Diese Aussage ist richtig. Ich kann sie nur voll und ganz durch Landesrecht die Zuständigkeit abweichend unterstützen. von Abs. 2 Nr. 2 bis 7 bestimmt werden. Umso überraschter war ich allerdings, meine Herren Damit wird den Ländern eine eigene Gestaltungsmög- und Damen von der Union, als ich Ihren Gesetzentwurf (B) (D) lichkeit gegeben. Wer will, kann davon Gebrauch ma- – er und der Gesetzesantrag, den Bayern in den Bundes- chen. Wer es nicht will, weil sich die alte Regelung be- rat eingebracht hat, sind wortgleich – gelesen hatte; denn währt hat, kann es lassen. von der richtigen Erkenntnis, dass wir dringend Investi- tionen in die junge Generation benötigen, haben Sie sich (Zuruf des Abg. Anton Schaaf [SPD]) offensichtlich bei der Formulierung Ihres Gesetzent- – Herr Schaaf, ich hoffe nicht, dass Ihr Zuruf, das nach wurfs nicht leiten lassen. Sie schlagen nämlich Leis- Kassenlage zu entscheiden, an die Adresse von Schles- tungskürzungen für Kinder und Jugendliche vor. So wol- wig-Holstein gerichtet ist. len Sie – das behaupten Sie jedenfalls – die Kommunen entlasten und für Nachhaltigkeit in der Jugendhilfe sor- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) gen, Frau Fischbach. Wenn man aber genau hinschaut, Als Letztes möchte ich auf die Anrechnung des Kin- dann stellt man fest, dass Sie tatsächlich nur die Verlage- dergeldes bei bestimmten Jugendhilfeleistungen einge- rung von Kosten und – das ist entscheidend – die Ver- hen. Es ist nachvollziehbar, dass insbesondere Eltern, die schlechterung von Bildungschancen erreichen. Mit selbst keine Aufwendungen für ihre Kinder haben, da sie Zukunftspolitik und Nachhaltigkeit haben Ihre Vor- außerhäuslich in einer Einrichtung oder in Wohnformen schläge nichts zu tun. des betreuten Wohnens untergebracht sind und dort auch (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ betreut werden, nicht mehr das volle Kindergeld bezie- DIE GRÜNEN) hen können. In diesen Fällen, wenn also das Jugendamt den Lebensunterhalt des Kindes sicherstellt, muss es Ich werde Ihnen das an zwei Punkten verdeutlichen, möglich sein, das Kindergeld anzurechnen. Die bishe- und zwar an Ihren Vorschlägen zum Umgang mit behin- rige Schlechterstellung der Eltern, die ihre Kinder selbst derten Kindern und Jugendlichen und an Ihren Vorschlä- betreuen, wird damit beseitigt. gen zur Zuständigkeit bei der Aufsicht über die Kinder- tagesstätten. Die gerade von mir dargestellten Änderungsvor- schläge haben insgesamt den Sinn, in Zukunft Hilfen Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, und Finanzen ziel- und zweckgerichteter einsetzen zu Sie wollen die Leistungen für seelisch behinderte Kinder können. Wir alle sind uns sicherlich einig, dass unsere und Jugendliche einschränken sowie jungen Volljährigen jungen Menschen ein Recht auf kindgerechte und ju- mit seelischen Behinderungen den Anspruch auf Ein- gendgemäße Förderung haben. Dafür muss die Politik gliederungshilfe gänzlich verwehren. Sie unterstellen die Rahmenbedingungen schaffen. Das bedeutet aber damit, dass die Leistungsgewährung für viele dieser jun- auch, der jungen Generation nicht weitere Hypotheken gen Menschen nicht nötig sei. 4678 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2003

Christel Humme (A) Wer sind denn diese jungen Menschen mit seelischen chen, Herr Scheuer? Das ist doch nichts anderes als ein (C) Behinderungen, die Eingliederungshilfen bekommen? Verschiebebahnhof. Es sind sehr häufig Kinder und Jugendliche mit so ge- nannten Teilleistungsschwächen, also Kinder und Ju- Ganz abgesehen davon ist zu sagen, dass die Fallzahlen gendliche, die große Schwierigkeiten haben, richtig le- sehr niedrig sind – in diesem Zusammenhang bin ich Frau Dümpe-Krüger sehr dankbar – und der Einspareffekt da- sen, schreiben oder rechnen zu lernen. Davon können mit bedeutungslos ist. In Bayern gab es ganze 42 Fälle. viele betroffen sein, der Sohn des Arbeiters bei BMW Das zeigt, dass wir an der falschen Stelle sparen. genauso wie die Tochter des Hochschulprofessors. Das gebe ich natürlich zu. Aber ich weiß aus meiner Zeit als (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Kommunalpolitikerin und Lehrerin, dass für diese BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Gruppe Eingliederungshilfen sehr wohl notwendig sind; denn aufgrund ihrer Lese- und Schreibschwäche werden Ihre vermeintliche Sparpolitik wird die Kommunen die Betroffenen vielfach ausgegrenzt. Herr Scheuer, es – das ist das Problem – teuer zu stehen kommen; denn hat nichts mit Sozialromantik zu tun, wenn wir erken- jeder Jugendliche, der heute nicht integriert wird, be- kommt morgen keinen Ausbildungsplatz, hat übermor- nen, dass aus Kindern mit einfachen Lernschwächen Au- gen keine Arbeit und schließlich keinen eigenen Renten- ßenseiter der Gesellschaft mit psychischen Problemen anspruch. Dies verursacht deutlich höhere Kosten als ein werden können. Eingliederungshilfeanspruch nach dem KJHG. Ihr Vor- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ schlag hat mit Nachhaltigkeit überhaupt nichts zu tun. DIE GRÜNEN) (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Ich sage Ihnen: Das müsste allerdings nicht so sein. BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Herr Scheuer, ich gebe Ihnen vollkommen Recht: Wenn Eine solche Politik können wir nicht zulassen. Herr ein Kind Probleme hat, zu lernen, dann braucht es unsere Scheuer, bei allem Verständnis für die kommunale Haus- Unterstützung; das ist keine Frage. Vor allem müssten haltssituation werden wir sicherstellen, dass bedürftige die Schulen – das ist richtig – spezielle Förderangebote Kinder Hilfe erhalten. Es bringt uns nicht weiter, Pro- machen, um diese Kinder an das Leistungsniveau ihrer bleme zu ignorieren, indem man sie als nicht wesentlich Mitschüler heranzuführen. So könnte Ausgrenzung un- bezeichnet, und Kosten einfach auf andere Träger abzu- terbunden werden. wälzen. Das führt uns in eine Sackgasse. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Weil die öffentliche Verantwortung an dieser konkre- (B) Eltern und Kinder in schwierigen Situationen brau- (D) ten Stelle fehlt, steht die Jugendhilfe in der Pflicht. So chen oft professionelle Hilfe. Sie bekommen sie von den wird die Jugendhilfe zum Auffangbecken für Aufgaben örtlichen Jugendämtern. Das ist gut und das ist richtig gemacht, die eigentlich von anderen erledigt werden so. Das haben wir gewollt; dazu haben wir das KJHG müssten. Es ist also kein Wunder, dass die Kosten bei geschaffen. Es bringt uns nicht weiter, wenn wir diesen der Jugendhilfe steigen. Familien die Hilfe, die sie brauchen, nehmen. Es bringt Wenn Sie, meine Damen und Herren von der Union, uns aber sehr wohl weiter, wenn wir für die Familien die Jugendhilfe von diesen Kosten entlasten wollen, ha- vernünftige Rahmenbedingungen schaffen, damit sie gar ben Sie in Ihren Bundesländern dazu die Möglichkeit. nicht erst in schwierige Situationen kommen. Hierfür müssen Sie nicht das Kinder- und Jugendhilfege- Genau das tut die Bundesregierung: Sie setzt nicht auf setz ändern, sondern zum Beispiel von München oder einfallslose Sparpolitik, sondern auf einen investieren- Wiesbaden aus für mehr Personal an den Schulen sorgen. den Sozialstaat. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des (Andreas Scheuer [CDU/CSU]: Wo investie- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) ren Sie denn etwas? Haben Sie die Herr Scheuer, das wäre eine echte Entlastung für die Agenda 2010 nicht komplett durchgelesen?) Kommunen und eine wirkliche Hilfe für die jungen Sie setzt auf den Ausbau der Infrastruktur für Kinder und Menschen. Familien. Unser Schlüsselwort heißt: Bildung, Bildung (Ingrid Fischbach [CDU/CSU]: Warum spre- und nochmals Bildung. Bildung ist nämlich ein Ticket chen Sie nicht Nordrhein-Westfalen an? – für die Zukunft. Andreas Scheuer [CDU/CSU]: Haben Sie sich (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des die Zahl der Einstellungen von Lehrern in BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Bayern schon einmal vor Augen geführt?) Deshalb bauen wir die Betreuung und die Bildung von Kommen wir nun zu der Gruppe der jungen Erwach- Kindern in Kindertageseinrichtungen und in Ganztags- senen mit seelischen Behinderungen. Diesen jungen grundschulen aus. Kinder früh groß und stark zu machen Menschen wollen Sie den Anspruch auf Eingliederungs- heißt, sie zu stabilen Persönlichkeiten heranzubilden, die hilfe nach dem KJHG gänzlich verwehren. Sie wollen später möglichst keine Eingliederungshilfe nach dem stattdessen, dass diese jungen Menschen Leistungen aus KJHG benötigen. Chancengleichheit in der Bildung der Sozialhilfe beziehen. Wie wollen Sie so Einsparun- bedeutet aber auch, dass wir – möglichst bundesweit – gen für die Kommunen, die Sie so gerne wollen, errei- einheitliche Standards entwickeln müssen. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2003 4679

Christel Humme (A) Damit komme ich zu einem weiteren Ihrer Vor- Günter Baumann, weiteren Abgeordneten und (C) schläge: Lockerung von Zuständigkeiten. Sie wollen der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Ent- erreichen, dass Kindertageseinrichtungen künftig nicht wurfs eines Gesetzes zur Verbesserung des mehr vom überörtlichen Träger, sondern von der Kom- Schutzes der Bevölkerung vor Sexualverbre- mune selbst beaufsichtigt werden. Das heißt, die Kom- chen und anderen schweren Straftaten mune, die einen Kindergarten unterhält, könnte künftig – Drucksache 15/29 – selbst die Qualität dieser Einrichtung kontrollieren. Ich denke, das ist absurd, vor allen Dingen dann, wenn Stan- (Erste Beratung 10. Sitzung) dards eingehalten werden sollen. Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus- (Andreas Scheuer [CDU/CSU]: Mit Delegie- schusses (6. Ausschuss) ren haben Sie es nicht!) – Drucksache 15/1311 – Herr Scheuer, Sie fordern, die Kommunen zu entlasten. Berichterstattung: Aber dadurch tun Sie es in diesem Bereich nicht: Den Abgeordnete Erika Simm Kommunen werden mehr Kosten aufgebürdet, weil sie Joachim Stünker diese Aufsicht durchführen müssen. Also gilt auch hier: Dr. Norbert Röttgen Ziel nicht erreicht! Jerzy Montag Sibylle Laurischk Wir brauchen keine Leistungskürzungen, Verschiebe- bahnhöfe und Verschlechterung der Bildungschancen, b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- wie Sie sie vorschlagen. Wir brauchen Rahmenbedin- richts des Rechtsausschusses (6. Ausschuss) zu gungen, die § 1 des Kinderjugendhilfegesetzes entspre- dem Antrag der Abgeordneten Wolfgang chen, nämlich Rahmenbedingungen, die gewährleisten, Bosbach, Dr. Norbert Röttgen, Günter Baumann, dass jeder einzelne junge Mensch ein Recht auf Förde- weiterer Abgeordneter und der Fraktion der rung seiner Persönlichkeitsentwicklung erhält. CDU/CSU Sozialtherapeutische Maßnahmen für Sexual- Die Bundesregierung schafft diese Rahmenbedingun- straftäter auf den Prüfstand stellen gen mit ihren Investitionen in Bildung und Betreuung. Liebe Frau Fischbach, das sind diejenigen Zukunftsin- – Drucksachen 15/31, 15/1311 – vestitionen, die Sie selbst in der am Anfang meiner Rede Berichterstattung: erwähnten Zeitschrift fordern. Abgeordnete Erika Simm (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Joachim Stünker (B) DIE GRÜNEN) Dr. Norbert Röttgen (D) Jerzy Montag Wir haben die Weichen richtig gestellt. Ich lade Sie herz- Sibylle Laurischk lich ein, gemeinsam mit uns auf diesem richtigen Weg weiterzugehen. c) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Erweiterung des Vielen Dank. Einsatzes der DNA-Analyse bei Straftaten mit sexuellem Hintergrund (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) – Drucksache 15/410 – Überweisungsvorschlag: Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Rechtsausschuss (f) Innenausschuss Ich schließe die Aussprache. Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent- wurfs auf Drucksache 15/1114 an die in der Tagesord- d) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. – Strafvollzugsgesetzes Dann ist die Überweisung so beschlossen. – Drucksache 15/778 – Ich rufe die Tagesordnungspunkte 9 a bis 9 e auf: Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss (f) a) – Zweite und dritte Beratung des von den Fraktio- Innenausschuss nen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE e) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Geset- Entwurfs eines Gesetzes zum Schutz vor schwe- zes zur Änderung der Vorschriften über die ren Wiederholungstaten durch nachträgliche Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestim- Anordnung der Unterbringung in der Siche- mung und zur Änderung anderer Vorschriften rungsverwahrung – Drucksache 15/350 – – Drucksache 15/899 – (Erste Beratung 22. Sitzung) Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss (f) – Zweite und dritte Beratung des von den Abgeord- Innenausschuss neten Wolfgang Bosbach, Dr. Norbert Röttgen, Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 4680 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2003

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms (A) Zu dem Gesetzentwurf der Fraktionen der SPD und was ändert. Wir sind uns aber einig darüber, dass es kei- (C) des Bündnisses 90/Die Grünen liegt ein Entschließungs- nen Sinn macht, ein Gesetz zu schaffen, wenn die Be- antrag der Fraktion der FDP vor. troffenen von vornherein sagen, dass sie damit nicht arbeiten wollen und nicht arbeiten werden. Deshalb ha- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die ben wir darauf verzichtet. Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Die Frage ist nur, was es für Alternativen gibt. Das Bedauerliche ist, dass ich weder aus diesem Haus noch Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin hat die von den Opferverbänden Alternativen gehört habe, die Bundesministerin Brigitte Zypries das Wort. man umsetzen sollte, um zu einer Verbesserung der Situ- ation zu kommen. Deswegen sollten wir an diesem Brigitte Zypries, Bundesministerin der Justiz: Thema gemeinsam weiterarbeiten. Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- Wir schlagen jetzt zunächst vor, eine Öffentlichkeits- ren Abgeordnete! Bei Straftaten gegen die sexuelle kampagne unter dem Motto „Hinschauen statt Weg- Selbstbestimmung geht es nicht nur um so spektakuläre schauen“ zu starten. Fälle wie den Fall des kleinen Pascal im Saarland, der vor einiger Zeit durch die Presse ging. Es geht um viele (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Tausend Übergriffe. Im Jahr 1999 waren es rund DIE GRÜNEN) 20 000 Kinder, die die Polizei als Opfer von sexueller Dieses Prinzip wollten wir ja auch mit der Anzeige- Gewalt registrierte. Das aber – das wissen wir alle – ist pflicht stärken. Das ist das, was wirklich wichtig ist. Das nur die Spitze des Eisbergs. Im Bereich des sexuellen Bundesministerium der Justiz wird gemeinsam mit dem Missbrauchs von Kindern ist eine Dunkelziffer von Bundesfamilienministerium Maßnahmen dazu unterneh- rund 70 Prozent zu verzeichnen. Kinderschutzexperten men. Wir werden uns auch gemeinsam an Bund und nehmen sogar an, dass die Dunkelziffer noch deutlich Länder wenden, um zu erreichen, dass in den Schulen in- höher ist. sofern für mehr Sensibilität geworben wird. Da gibt es Trotz aller Fortschritte, die wir gemacht haben, ist es offenbar noch Erlasse, die Lehrer daran hindern, in ein- immer noch eine traurige Realität, dass Kinder über Mo- zelnen Bereichen tätig zu werden. Wir werden dafür nate und Jahre hinweg gequält werden, ohne dass sich werben, dass ehrenamtliche Mitarbeiter besser geschult jemand für sie einsetzt oder ihnen beisteht. Dagegen werden und vor allen Dingen auch im Bereich von Justiz sollten wir etwas tun. Das war die einhellige Meinung in und Polizei die Fortbildung weiter ausgebaut wird. dem Gesetzgebungsverfahren. Nur: Darüber, wie dieses Wir haben von den Opferverbänden gelernt, dass die (B) Tun aussehen soll, sind die Meinungen doch sehr deut- Fortbildung gerade bei der Polizei, was den Umgang (D) lich auseinander gegangen. Im Ergebnis muss ich kon- mit den Opfern angeht, schon relativ weit gediehen ist, statieren, dass es keine Einigkeit gibt. während bei der Justiz sehr häufig mangelnde Sensibili- Ich hatte mit der Fraktion der SPD und der Fraktion tät beklagt wird. der Grünen vorgeschlagen, eine Anzeigepflicht einzu- (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE führen. Dieser Vorschlag hat sich als der wohl umstrit- GRÜNEN und der FDP) tenste Punkt in dem ganzen Gesetzgebungsverfahren überhaupt erwiesen. Sie wissen, dass wir uns nun ent- Das Thema werde ich mit den Kolleginnen und Kollegen schlossen haben, auf die Anzeigepflicht zu verzichten. im Rahmen der Justizministerkonferenz besprechen. Wir Das beruht zum Teil auf der Kritik der Opferverbände. werden auch in den Fortbildungseinrichtungen, die der Sie haben bei der Anhörung im Bundesministerium der Bund mitfinanziert, spezielle Angebote ins Programm Justiz verschiedene Punkte dafür angeführt, dass sie die aufnehmen, weil, wie ich meine, diesem Missstand ein Anzeigepflicht nicht mittragen können. Im Ergebnis war Ende gemacht werden muss. Dazu gehört auch, dass die dafür vor allem die Unsicherheit über ihren eigenen Zusammenarbeit zwischen Jugendämtern, Opferschutz- Rechtsstatus in dem Verfahren maßgebend. Insoweit verbänden, Polizei, Gerichten und Staatsanwaltschaften kann ich einen Teil der Argumente nachvollziehen. In verbessert werden muss. Wir werden hierzu eine Tagung dem anderen Teil geht es mehr um Fragen des Glaubens veranstalten, auf der wir die jeweils Verantwortlichen daran, dass eine bestimmte Entwicklung so oder so ihren zusammenbringen und gemeinsam überlegen, wo es am Lauf nimmt. Das ist einer empirischen Prüfung nicht so meisten hakt. recht zugänglich. Betroffene Jugendliche haben uns ge- sagt, dass sie eine Anzeigepflicht für richtig halten und Lassen Sie mich noch zu einem weiteren Punkt kom- dafür eintreten würden. Man sieht also: Die Wahrneh- men, der uns sehr wichtig war. Es geht um den Schutz mungen können auch in dem Bereich sehr unterschied- behinderter Menschen vor sexuellen Übergriffen. lich sein. Dieses Thema vermisste man im Entwurf des von der Opposition eingebrachten Gesetzes zunächst völlig. Im Ich kann Ihnen versprechen: Ich werde das Thema Laufe des Gesetzgebungsverfahrens sind wir uns auch nicht fallen lassen. Ich meine nach wie vor, dass die An- da ein wenig näher gekommen. Beim sexuellen Miss- zeigepflicht ein richtiger Weg ist, und werde weiter die brauch widerstandsunfähiger Personen haben wir nun Diskussion zu verschiedenen Punkten führen, um zu se- den Gleichlauf zum strukturell verwandten sexuellen hen, ob sich vielleicht in der öffentlichen Wahrnehmung Missbrauch bei Kindern hergestellt und die Strafrahmen und insbesondere in der Wahrnehmung der Verbände et- entsprechend angepasst. Das heißt, es gibt in Zukunft Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2003 4681

Bundesministerin Brigitte Zypries (A) keine minderschweren Fälle des sexuellen Missbrauchs Kindes oder eine Gewalttat vorausgegangen; das ist ja (C) widerstandsunfähiger Personen mehr. nötig, damit so etwas fotografiert werden kann. Darauf zielen wir auch eigentlich hin. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Schließlich – das ist der nächste Punkt – werden wir Damit wird es auch grundsätzlich keine Geldstrafen für mit der vorgeschlagenen Möglichkeit der vorbehalten- solche Taten mehr geben, sondern nur noch Freiheits- den Sicherungsverwahrung bei Heranwachsenden, strafen von mindestens sechs Monaten. Besonders die nach Erwachsenenstrafrecht verurteilt werden, eine schwere Fälle werden mit einer Mindestfreiheitsstrafe Gesetzeslücke schließen. Die Gerichte können sich von einem Jahr belegt. künftig auch bei den 18- bis 21-Jährigen, die nach Er- wachsenenstrafrecht abgeurteilt werden, die Entschei- Mit einer anderen Regelung erfüllen wir eine schon dung über eine Sicherungsverwahrung bis zur Entlas- seit Jahren vorgebrachte Forderung der Behindertenver- sung des Täters vorbehalten. Das setzt voraus, dass der bände. Künftig wird der Beischlaf mit einem wider- Heranwachsende schwere Straftaten mit erheblicher standsunfähigen Menschen ebenso wie die Vergewalti- Schädigung seiner Opfer begangen hat und entspre- gung bestraft, nämlich mit mindestens zwei Jahren chende Taten von ihm auch in Zukunft zu befürchten Freiheitsstrafe. sind. Wir haben bei sehr vielen Fällen des sexuellen Miss- Mit dieser Regelung tragen wir zum einen dem Si- brauchs von Kranken und Hilfsbedürftigen in Einrich- cherheitsinteresse der Allgemeinheit Rechnung; wir be- tungen oder unter Ausnutzung eines spezifischen Macht- rücksichtigen zum anderen aber auch – darauf möchte verhältnisses dafür gesorgt, dass die Verjährung ebenso ich gerne besonders hinweisen – die Besonderheiten die- wie bei anderen Fällen ruht. Das heißt, künftig wird die ser Altersgruppe und die besondere Verantwortung des Verjährungsfrist für diese Taten bis zu dem Zeitpunkt, zu Staates zur Förderung einer positiven Entwicklung von dem das Opfer 18 Jahre alt wird, nicht laufen. Dann tritt jungen Menschen, selbst wenn sie schwere Straftaten be- vielmehr die normale Verjährungsfrist ein. Das heißt, gangen haben. jede Frau und jeder Mann kann, wenn er oder sie er- wachsen ist und sich die schweren Folgen von Vergewal- Der Vorschlag eröffnet nicht pauschal – wie der Ent- tigungen im Kindesalter, wie es häufig der Fall ist, dann wurf der CDU/CSU-Fraktion es vorsieht – die Vorschrif- einstellen, noch den Täter zur Anzeige bringen und ten des allgemeinen Strafrechts zur Sicherungsverwah- Klage einreichen. rung, sondern es wird eine spezifische Lösung für diese Altersgruppe geschaffen, die wir auch angesichts der (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der wissenschaftlichen Diskussion für erforderlich halten. (B) FDP) (D) Ich meine, dass der Gesetzentwurf mit den vom Zugunsten der Opfer haben wir auch geregelt, dass Rechtsausschuss empfohlenen Änderungen eine ausge- Opfern, die ihre eigenen Interessen nicht hinreichend wogene und in sich geschlossene Lösung für die anste- wahrnehmen können, ein kostenloser Opferanwalt bei- henden Fragen des Sexualstrafrechts darstellt. Die Kin- geordnet wird; sie erhalten insofern eine Unterstützung. der- und Opferschutzverbände haben das im Übrigen (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ auch zum Ausdruck gebracht: Sie haben gesagt, dass sie DIE GRÜNEN) die vorgesehenen Regelungen sehr gut fänden, dass sie sich einzig und allein an der Anzeigepflicht gestört hät- Zwei weitere Punkte möchte ich gerne noch erwäh- ten. nen: Die Opposition fordere ich auf: Nehmen Sie den Op- Zum einen war es uns ein Anliegen, die Verbreitung ferschutz ernst und stimmen Sie mit uns für dieses Ge- von Kinderpornographie über das Internet wirksa- setz. mer zu bekämpfen. Sie wissen, dass sich diese über die- ses Medium sehr schnell verbreitet. Wir mussten fest- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ stellen, dass die diesbezüglichen Strafandrohungen, die DIE GRÜNEN) wir im Gesetzbuch hatten, bei weitem nicht mehr ausrei- chen. Der Handel in den so genannten geschlossenen Benutzergruppen im Internet war von unserem Strafge- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: setzbuch nämlich nicht umfasst. Deswegen bedurfte es Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Norbert Röttgen einer Änderung. Es können jetzt Freiheitsstrafen von bis aus – – zu fünf Jahren verhängt werden, um dem Handel gerade in diesen geschlossenen Benutzergruppen Einhalt zu bie- (Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Aus dem ten. Rhein-Sieg-Kreis!) (Beifall der Abg. Kerstin Griese [SPD]) – Von der CDU/CSU-Fraktion. – Ich hätte hinzufügen können: Aus dem Rhein-Sieg-Kreis. Wir versprechen uns davon nicht nur eine Reduzierung der Nachfrage nach solchen Bildern, sondern darüber hi- naus vor allen Dingen eine Reduzierung der Produktion. Dr. Norbert Röttgen (CDU/CSU): Man muss sich ja eines klar machen: Jedem Bild, das im Es ist eine besondere Ehre, dass mein schöner Wahl- Internet gehandelt wird, ist ja vorher ein Missbrauch des kreis hier Erwähnung findet. 4682 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2003

Dr. Norbert Röttgen (A) Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- Recht behalten, auch wenn er in der Sache nicht Recht (C) ren! Die Gesetzgebung auf dem Gebiet des Sexualstraf- hatte. rechts erfordert von uns als Gesetzgeber eine Gratwande- Unsere erste Forderung ist es, Kindesmissbrauch rung. Geboten ist sowohl konsequente Entschlossenheit nicht so zu behandeln wie Ladendiebstahl und Sachbe- als auch die Wahrung des rechtsstaatlichen Maßes. schädigung, sondern deutlich zu machen, dass Kindes- (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE missbrauch die schwerste Einstufung als abscheuliches GRÜNEN]: Richtig!) Verbrechen verdient. Emotionale Anteilnahme an Einzelschicksalen ist legi- (Beifall bei der CDU/CSU) tim. Die politische Instrumentalisierung solcher Einzel- Dieses gesellschaftspolitische Signal müssen wir geben. schicksale, wie wir sie leider erlebt haben, ist nicht legi- Alle Ihre Kampagnen nützen nichts, wenn der Gesetzge- tim, sie ist abstoßend. ber selber diese Wertung nicht ernsthaft ausspricht. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Joachim Stünker [SPD]: Reine Polemik!) Sagen Sie das Ihrem Bundeskanzler. – Dann richtet sich dieser Vorwurf der reinen Polemik an Ihre Bundesjustizministerin, die unsere Position vertre- Die Erwartung der Bevölkerung an den Staat ist wahr- ten hat. scheinlich höher, als sie der auf Rationalität und Rechts- staatlichkeit verpflichtete und dadurch begrenzte Staat (Beifall bei der CDU/CSU) erfüllen kann. Rechtsstaatlichkeit und grundrechtlicher Zweitens. „Wer bei Kindesmissbrauch wegschaut, Schutz der Bürger bilden aber nicht nur eine Grenze des muss ins Gefängnis.“ Diese Überschrift der „Bild am staatlichen Handelns, sondern auch ein Handlungsgebot, Sonntag“ drückte das nunmehr wichtigste Anliegen der wenn und weil es um den Schutz von Schwachen, den Frau Justizministerin aus. Sie haben für diese Auffas- Schutz von Kindern, von Behinderten und von Frauen, sung gekämpft, aber Sie sind mit dieser Auffassung al- gegen sexuelle Gewalt geht. Darum ist das rechtsstaat- leine geblieben. Ich finde es bemerkenswert, mit welcher lich Mögliche zugleich das rechtsstaatlich Nötige. Offenheit Sie heute eingeräumt haben, dass Sie sich Die Koalition, unter Einschluss des Bundeskanzlers, nicht haben durchsetzen können und dass Sie diesen Ge- ist in den letzten Monaten bei dieser Gratwanderung ein setzentwurf, der gleich beschlossen werden wird, in die- paar Mal abgerutscht. Frau Zypries, auch Sie haben bei sem für Sie entscheidenden Punkt nicht für richtig hal- Ihrem ersten wichtigen Gesetzgebungsvorhaben nicht si- ten. Das ist auch das Eingeständnis mangelnder cher geführt. Nicht nur der Weg, sondern auch das Er- politischer Durchsetzungsfähigkeit. gebnis ist nicht überzeugend. Das möchte ich anhand (Beifall bei der CDU/CSU) (B) von fünf konkreten Punkten nachweisen: (D) Sie sind die Bundesjustizministerin und nicht nur ir- Erstens. Frau Zypries, am Anfang stand Ihre Forde- gendein Mitglied des Bundestages, das sich auf diese Art rung, sexuellen Missbrauch nicht mehr nur als Verge- äußern kann. hen, sondern als Verbrechen zu verfolgen. In einem In- terview der „taz“ vom 20. November 2002 haben Sie Sie sind, wie gesagt, mit Ihrer Auffassung allein ge- dazu erklärt: blieben. In der Sachverständigenanhörung des Rechts- ausschusses haben alle Ihrer Auffassung widersprochen. Diese Heraufstufung soll deutlich machen, dass der Die Rechtspraktiker haben gesagt, diese Vorschrift, die Kindesmissbrauch zu den abscheulichsten Strafta- die Justizministerin immer noch für richtig hält, sei nicht ten überhaupt gehört. praktikabel. Die Rechtswissenschaftler haben davon ge- Ich zitiere weiter: sprochen, dass sie überflüssig sei. Die Vertreter der Op- ferverbände waren der Meinung, sie sei kontraproduktiv. Es geht darum, der Gesellschaft ein Signal zu ge- Ich zitiere den Bundesgeschäftsführer der Arbeitsge- ben, dass auch die nicht ganz schweren Fälle beson- meinschaft deutscher Kinderschutzzentren, der in einem ders verwerflich sind … Aber selbstverständlich Gespräche mit „Spiegel Online“ sagte: Wenn das Gesetz müssen die angedrohten Strafen angemessen sein. geworden wäre, hätte das einen Sprengsatz in das ge- Deshalb muss es die Möglichkeit geben, minder samte System der Jugendhilfe gelegt. – Sie haben Ihre schwere Fälle auch mit weniger als einem Jahr Haft Meinung nicht geändert und Sie haben sich nicht durch- zu bestrafen. setzen können. Diese Aussage der Bundesjustizministerin, die sie Für den Verzicht auf Ihr wichtigstes Anliegen wurde Ih- während ihrer Amtszeit machte, entspricht exakt der Po- nen von den Grünen eine kleine Konzession bei der Siche- sition der CDU/CSU-Bundestagsfraktion. Stimmen Sie rungsverwahrung gemacht. Die Sicherungsverwahrung ihr also zu. In der letzten Runde haben Sie bekannt, das soll nun bei Heranwachsenden, auf die Erwachsenen- sei ein Irrtum gewesen. strafrecht angewendet wird, möglich sein. Diese Forde- (Brigitte Zypries, Bundesministerin: Kein rung – das ist auch eine Forderung von uns – hatten Sie Irrtum!) immer vehement abgelehnt, weil das Ganze nach Ihrer Meinung verfassungsrechtlich nicht möglich sei. Vielleicht war es nicht nur ein Irrtum; denn der rechts- politische Sprecher der Grünen hatte in Reaktion auf (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE Ihre Ankündigungen sofort erklärt, Frau Zypries habe GRÜNEN]: Vorbehalte! Sie müssen genau le- dabei nur „für sich“ gesprochen. Politisch hat er leider sen!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2003 4683

Dr. Norbert Röttgen (A) Ihre Bereitschaft, auf Kommando in die entgegenge- Das bestätigt unsere These von der strukturellen Hand- (C) setzte Richtung zu laufen, ist schon beachtlich, meine lungsunfähigkeit der Koalition auf diesem Gebiet. Damen und Herren von der SPD und von den Grünen. Wir halten das, was Sie vorschlagen, immer noch nicht (Beifall bei der CDU/CSU) für ausreichend. Es bleibt noch eine Lücke. Sie können aus politischen Gründen nicht handeln und Wir halten es im Hinblick auf die potenziellen Opfer das Notwendige tun. von Sexualverbrechen für nicht hinnehmbar – ja für Ich komme zum genetischen Fingerabdruck. Was skandalös –, dass der Staat Verbrecher, die wahrschein- spricht eigentlich dagegen, dieses präventive Instrument lich erneut ein Gewaltverbrechen begehen werden, auf konsequent auszunutzen und den genetischen Fingerab- freien Fuß setzt. Diese gegenwärtige Rechtslage wollen druck auf alle Straftäter anzuwenden, die eine Straftat Sie nicht ändern. Natürlich ist das ein großer Eingriff in mit sexuellem Hintergrund begangen haben? Das würde die Freiheit des Straftäters. Darum sind hohe Anforde- dem Straftäter klar machen, dass er bei der nächsten rungen an das Verfahren zu stellen. Straftat erwischt wird. Sie setzen aus ideologischen (Joachim Stünker [SPD]: Die haben Sie aber Gründen dieses Instrument nicht ein. nicht!) Der letzte Punkt betrifft den sexuellen Missbrauch von Widerstandsunfähigen. Die betroffenen Behinder- Aber wenn unabhängige Gutachter zu dem Ergebnis ten halten es für diskriminierend, dass das Ausnutzen ih- kommen, dass die Wiederholungswahrscheinlichkeit rer Widerstandsunfähigkeit nicht in gleicher Weise be- hoch ist, dann muss die Abwägung zugunsten des Opfers straft wird wie das Brechen des Widerstandes. und nicht zugunsten des Täters ausfallen. Es ist ein rechtsstaatliches Gebot, Opfer zu schützen. (Joachim Stünker [SPD]: Wird es doch!) (Beifall bei der CDU/CSU) – Nein, das ist falsch. – Der sexuelle Missbrauch von Widerstandsunfähigen ist kein Verbrechen. Unsere For- Wir können dem Bürger doch nicht vermitteln, dass derung ist, diese Tat als Verbrechen einzustufen. Warum der Staat nicht anders handeln kann und den Täter auf weigern Sie sich, dieser Forderung nachzugeben? freien Fuß setzen muss, obwohl dieser Mensch mit hoher Wahrscheinlichkeit erneut ein Verbrechen begehen wird. Ich zitiere den früheren sozialdemokratischen Kolle- Erst wenn er erneut ein Verbrechen begeht, sind Sie be- gen – – reit, ihn in Sicherungsverwahrung zu nehmen. Das ist zynisch und absurd. Diese Verweigerung des Schutzes Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (B) von Opfern und der Bevölkerung ist keinem Menschen (D) zu erklären. Nein, Herr Röttgen, Ihre Redezeit ist schon erheblich überschritten. Sie haben zu der nachträglichen Sicherungsverwah- rung unterschiedliche Auffassungen. Die Grünen haben dazu noch im Ausschuss erklärt, sie sei aus materiell- Dr. Norbert Röttgen (CDU/CSU): verfassungsrechtlichen Gründen nicht haltbar. Herr Ich ende mit dem Zitat des früheren sozialdemokrati- Stünker hat ebenfalls erhebliche verfassungsrechtliche schen Abgeordneten Antretter, der mir in einem Schrei- Bedenken geäußert und davon gesprochen, dass die ben mitgeteilt hat: nachträgliche Sicherungsverwahrung hoch problema- tisch sei. Sowohl Frau Ministerin Däubler-Gmelin als auch Frau Ministerin Zypries hatten uns zugesagt, sich (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE für eine entsprechende Änderung des StGB einzu- GRÜNEN]: Das ist Ihre Auffassung!) setzen. In der Sitzung des Rechtsausschusses war Ihr Minis- Gemeint ist damit die Einstufung des sexuellen Miss- terium auf mehrere Nachfragen des Kollegen Krings brauchs von Widerstandsunfähigen als Verbrechen. nicht in der Lage, zu sagen, was denn Ihre verfassungs- Auch diese Ankündigung ist nicht realisiert worden. Sie rechtliche Auffassung zu diesem Punkt ist. Der Parla- halten die Forderungen nicht ein, die Sie an sich selbst mentarische Staatssekretär hat sich herausgewunden. gestellt haben. (Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär: Sie müs- Dieses Gesetz ist eine Kette eingestandener Irrtümer, sen einmal zuhören, Herr Dr. Röttgen!) erzwungener Korrekturen und fauler Kompromisse. Da- rum findet es unsere Zustimmung nicht. Wir haben einen Sie, Frau Zypries, halten materiell-verfassungsrechtlich überlegenen Entwurf eingebracht. Wenn Sie ihm zustim- eine nachträgliche Sicherungsverwahrung für zulässig; men, tun Sie etwas für den Opferschutz. denn Sie haben die Länder aufgefordert, eine entspre- chende Vorschrift zu erlassen. Das ist erneut ein offener (Beifall bei der CDU/CSU) Dissens! Was gilt eigentlich in der Koalition auf dem Gebiet der Rechtspolitik? Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE Das Wort hat jetzt die Kollegin Irmingard Schewe- GRÜNEN]: Lesen Sie es nach!) Gerigk von Bündnis 90/Die Grünen. 4684 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2003

(A) Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/DIE sonderes Aufsehen. Hier haben wir Strafbarkeitslücken (C) GRÜNEN): geschlossen. Bisher waren teilweise schwer wiegende Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Was lange Gefährdungen von Kindern straffrei, zum Beispiel das währt, wird endlich gut. So könnte man das Gesetzge- Anbieten von Kindern im Internet. Der Gesetzentwurf bungsverfahren zum Sexualstrafrecht beschreiben. An- reagiert auf die neuen Entwicklungen bei der Internetkri- hörungen, produktiver Streit und die Lehre, dass das, minalität. So können in Zukunft auch Täter verfolgt wer- was gut gemeint ist, manchmal doch nicht gut ist, haben den, die Kinder im Internet anbieten. jetzt zu einem guten Ergebnis geführt: Der Schutz der Daneben haben wir auch den Strafrahmen für Kin- Opfer wird verbessert, die Strafwürdigkeit einer Tat wird derpornographie angehoben; denn Kinderpornographie im Strafmaß deutlich gemacht und Strafbarkeitslücken ist für uns keine Bagatelle. werden geschlossen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Leider gehören alle Formen von sexualisierter Gewalt und bei der SPD) zu den alltäglichen Verbrechen in Deutschland. Sie wis- sen, dass viele dieser Straftaten die Opfer an Körper und Ebenso wird es keine bloße Geldstrafe mehr bei sexu- Seele verletzen und ihre Persönlichkeit tiefgreifend ver- ellem Missbrauch geben. Stattdessen wird die Mindest- ändern. Die Zahlen der Kriminalstatistik belegen es: strafe eine Freiheitsstrafe von drei Monaten sein. Dies Die sexualisierte Gewalt an Kindern hat im letzten Jahr macht den Unrechtsgehalt der Tat deutlicher. um 6 Prozent zugenommen. Ich benutze den Begriff „se- Die Möglichkeiten, einen minder schweren Fall an- xualisierte Gewalt“ bewusst; denn das Wort „Miss- zunehmen, haben wir stark eingeschränkt. Bei sexuellen brauch von Kindern“ impliziert, dass es auch einen Ge- Übergriffen empfinden die Opfer die Bezeichnung „min- brauch von Kindern gibt. Dies werden wohl alle in der schwer“ oft als Verharmlosung. Daher wurde diese diesem Hause ablehnen. Möglichkeit auch nur für den Einzelfall beibehalten. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU, und bei der SPD) die von Ihnen vorgeschlagene Mindeststrafe von einem Auch bei sexueller Nötigung und Vergewaltigung hat Jahr für jede Form von sexuellem Missbrauch von Kin- es 2002 eine Erhöhung um bis zu 14 Prozent gegeben. dern ist eine Mogelpackung. Ich sehe darin eine erhöhte Bereitschaft, diese Delikte (Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Im minder anzuzeigen. Dies ist sicherlich auch ein Erfolg des 2002 schweren Fall, im Gegensatz zu Ihnen!) in Kraft getretenen Gewaltschutzgesetzes, das Frauen in die Rechtsposition versetzt, sich effektiver gegen Ge- Auf der einen Seite suggerieren Sie, es handle sich in je- (B) walttäter zur Wehr zu setzen. Das ist praktizierter Opfer- dem Fall um einen Verbrechenstatbestand, selbst wenn (D) schutz. es um eine einvernehmliche sexuelle Handlung zwi- schen einer 13-Jährigen und einem 15-Jährigen geht. Auch mit dem vorliegenden Gesetzentwurf und den Auf der anderen Seite wollen Sie den minder schweren dazu eingebrachten Änderungen verfolgen wir das Ziel, Fall beibehalten, der sogar mit einer Geldstrafe geahndet die Opfer zu stärken. Unsere Leitlinie – sozusagen der werden kann. rot-grüne Faden der Reform – ist die Verbesserung des Opferschutzes. Dabei gilt unser Augenmerk ganz be- sonders den Kindern und den Menschen mit Behinde- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: rung. Frau Schewe-Gerigk, erlauben Sie eine Zwischen- Unser Bemühen, zusammen mit der Bundesregierung frage? dieses Gesetz in allen Punkten optimal auf die Erforder- (Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Hat sich er- nisse der Praxis abzustimmen, ist auch daran zu erken- ledigt!) nen, dass noch im Gesetzgebungsverfahren wesentliche Verbesserungen erreicht wurden. Den Rat der Fachex- Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/DIE pertinnen und -experten aus den Verbänden und der ge- GRÜNEN): richtlichen Praxis haben wir aufgenommen. Herr Kol- lege Röttgen, es gibt hier überhaupt keinen Anlass für Dies hat sich mit meinem letzten Satz erledigt. – Herr Häme gegenüber der Ministerin. Für mich ist es ein Zei- Röttgen, Sie sollten warten, bis ich fertig bin. Dann stim- chen von Stärke, die eigene Position zu verändern, wenn men auch Sie mir zu. man damit etwas Besseres bewirken kann. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Menschen mit Behinderungen sind besonders gefähr- und bei der SPD – Dr. Norbert Röttgen [CDU/ det, Opfer von sexualisierter Gewalt zu werden. Auch CSU]: Hat sie ja nicht getan!) sie erhalten endlich den gleichen strafrechtlichen Schutz Dafür danke ich Ihnen, Frau Ministerin, ausdrücklich. wie alle anderen. Meine Damen und Herren, ich gehe zunächst auf die Änderungen zum Schutz von Kindern vor sexualisierter Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Gewalt ein. Gerade diese verabscheuungswürdigen Ver- Frau Kollegin Schewe-Gerigk, Herr Kauder möchte brechen erregen in der Öffentlichkeit immer wieder be- eine Zwischenfrage stellen. Sie genehmigen das? Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2003 4685

(A) Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/DIE Absicht, Menschen verstärkt zum Hinschauen zu bewe- (C) GRÜNEN): gen, anstatt wegzuschauen, hat die Praxis begrüßt. Ernst Selbstverständlich. zu nehmende Bedenken haben dazu geführt, die geplante Anzeigenpflicht wieder zurückzunehmen. Missbrauchs- opfer brauchen Zeit. Sie brauchen unterstützende Hilfe Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: durch Vertrauenspersonen, bevor sie im Strafverfahren Bitte schön, Herr Kauder. aussagen können. Eine Pflicht zur Anzeige hätte für die Opfer die Hemmschwelle angehoben, sich jemandem Siegfried Kauder (Bad Dürrheim) (CDU/CSU): anzuvertrauen. Erfahrungsgemäß ist das betroffene Kind Frau Kollegin, weil es zum zweiten Mal falsch gesagt dann zu keinerlei Aussage mehr bereit. Möglicherweise wird, erlaube ich mir eine Zwischenfrage: Sind Sie be- bliebe es dem sexuellen Missbrauch länger ausgeliefert. reit, zur Kenntnis zu nehmen, dass nach § 47 Abs. 2 Wir brauchen präventive Maßnahmen, Aufklärungs- StGB Freiheitsstrafen von bis zu einem halben Jahr auch aktionen und ein möglichst breites Angebot an Bera- als Geldstrafen verhängt werden können und dass Ihre tungsmöglichkeiten. Ich stimme mit dem FDP-Antrag Behauptung, die Mindestfreiheitsstrafe von drei Mona- überein. Es tut gut, dass die FDP ihr Rechtsstaatsprofil ten lasse eine Geldstrafe nicht zu, demnach falsch ist? schärfen möchte. Denn der Ausfall von Frau Pieper, Menschen für etwas zu bestrafen, was andere getan ha- Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/DIE ben, hatte mit Rechtsstaatlichkeit und liberalem Denken GRÜNEN): nicht sehr viel zu tun. Diese Mindeststrafe haben wir auf drei Monate fest- Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen von der gesetzt. Natürlich besteht die Möglichkeit, in jedem ein- CDU/CSU, wir sind in vielen Punkten auf Sie zugegan- zelnen Falle eine Geldstrafe zu verhängen; das wissen gen. Wir haben die Möglichkeit der DNA-Analyse auf wir. Trotzdem ist es wichtig, ein Signal zu geben, dass alle Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung er- ein sexualisierter Missbrauch nicht mit Geld entkräftet weitert, im Einzelfall bei einer geringfügigen Tat. Aber werden kann. Für die Opfer, die Unrecht erlitten haben, das ist Ihnen noch immer nicht genug: Sie fordern eine ist es sehr wichtig, zu wissen, dass der Täter möglicher- umfassende Erweiterung auf andere Delikte. Für uns ist weise auch ins Gefängnis gehen muss. – Vielen Dank. das rechtsstaatlich äußerst bedenklich. Da machen wir nicht mit. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Hans- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- und bei der SPD) (B) NEN]: Siehe Anhörung!) (D) Ebenso sieht es mit der Sicherungsverwahrung für Ich möchte jetzt auf die widerstandsunfähigen Perso- Heranwachsende aus. Sie wollen eine nachträgliche nen und damit auch gleich auf die Position der CDU/ Anordnung bis zum Tage vor der Entlassung, ohne dass CSU eingehen: Auch hier haben Sie gefordert, dass der das Gericht das im Urteil vorgesehen hat. Das halten wir Grundtatbestand der Vergewaltigung mit einem Jahr für verfassungsrechtlich sehr bedenklich. Stattdessen ha- Strafe belegt wird. Wir haben gesagt: Wir belassen die ben wir uns für einen eng eingegrenzten Bereich ent- jetzige Regelung. Aber die Mindeststrafe haben wir ge- schieden, zum Beispiel wenn jemand zu einer Strafe von strichen. Insofern ist das zwar rechtsdogmatisch etwas fünf Jahren verurteilt wurde und der Vollzug der Strafe anderes; aber wir kommen zu dem gleichen Ergebnis. grundsätzlich in einer sozialtherapeutischen Anstalt er- Wir haben mit den Behindertenverbänden sehr intensiv folgt. darüber gesprochen. Die Vergewaltigung einer wider- Im vorliegenden Gesetzentwurf und im Entschlie- standsunfähigen Person ist mit zwei Jahren Freiheits- ßungsantrag wird der Fokus auf die strafrechtlichen As- strafe belegt. In anderen Fällen wird § 177 StGB in An- pekte gelegt. Allerdings kann das beste Strafrecht nicht rechnung gebracht; das wissen Sie genauso wie ich. ersetzen, was wir alle zu verantworten haben: eine sen- (Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Das ist ein sible und aufmerksame Gesellschaft, die jede Form von Verbrechenstatbestand! Das ist das Entschei- sexualisierter Gewalt ächtet und den Opfern Schutz und dende!) Hilfe bietet. Wir haben weitere Verbesserungen zum Schutz von Ich danke Ihnen. Menschen mit Behinderungen erreicht. Ich nenne hier (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN nur die zwingende Nebenklagevertretung bei Menschen und bei der SPD) mit einer geistigen Behinderung, die Gleichstellung im ambulanten und stationären Bereich und die Strafbarkeit des sexuellen Missbrauchs in der Therapie bei körperlich Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Behinderten, die bisher davon ausgenommen wurden. Das Wort hat jetzt die Kollegin Sibylle Laurischk von der FDP-Fraktion. Aber alle gesetzlichen Verbesserungen – so nötig sie sind – haben eine Grenze und die heißt: Strafanzeige. Denn es lässt sich nur das verfolgen, was vorher zur An- Sibylle Laurischk (FDP): zeige gebracht wurde. Deshalb muss es in unser aller In- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich freue teresse sein, die Anzeigenbereitschaft zu erhöhen. Die mich, dass wir bei der Beratung der verschiedenen 4686 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2003

Sibylle Laurischk (A) Gesetzesinitiativen zum Sexualstrafrecht von einer an- gen einen Flickenteppich, je nach Regelung auf Landes- (C) fänglich sehr emotionalen Diskussion doch zu einer der ebene. Das ist letztendlich nicht wirklich überzeugend. Sache angemessenen Debatte gefunden haben. (Beifall bei der FDP) (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Sehr gut!) Die Einführung der DNA-Analyse unabhängig von Damit können wir der Ernsthaftigkeit des Themas ge- der erheblichen Bedeutung der Anlasstat greift eine For- recht werden. derung auf, die auch aus der FDP stammt. Sie stellt auf Die Tatsache, dass man nach den umfassenden Refor- die mittlerweile wissenschaftlich fundierte Erkenntnis men der vergangenen Legislaturperioden erneut zu einer ab, dass ein erheblicher Anteil der zunächst als Exhibi- Reform dieses Themenkomplexes kommt, zeigt, wie tionisten auffällig gewordenen Menschen später Täter sehr dieser Bereich in den Blickpunkt der Öffentlichkeit eines gewalttätigen Sexualdelikts wird. Gerade hier kann gerückt ist. Trotzdem dürfen wir nicht der Versuchung nach meiner Auffassung in dem uns allen am Herzen lie- erliegen, die notwendige juristische Feinarbeit hinter genden präventiven Bereich eine Menge getan werden. plakativen Aktionismus zurücktreten zu lassen. Hier liegt auch der Schwachpunkt der vorliegenden (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Entwürfe der Regierungskoalition und der CDU/CSU- der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE Fraktion. Um die Zahl der Missbrauchsfälle zu verrin- GRÜNEN) gern, ist ein integriertes Maßnahmenpaket erforderlich, das sich nicht in der Änderung von Strafgesetzen er- Hier sind gerade die Aufstufung des Strafrahmens bei schöpft. Vielmehr muss die psychosoziale Versorgung sexuellem Missbrauch von Kindern vom Vergehen zum von missbrauchten Kindern – ich greife sehr gerne Ihre Verbrechen sowie der Wegfall des minder schweren Fal- Aussage, Frau Schewe-Gerigk, auf, dass es sich hier um les zu nennen. Dies mag den Eindruck der Handlungsfä- Opfer von sexualisierter Gewalt handelt, und stelle den higkeit des Gesetzgebers bei der Bevölkerung hervorru- Begriff „Missbrauch“ infrage; das Thema ist sexuelle fen, hat aber den gegenteiligen Effekt, da absehbar ist, Gewalt an Kindern – gewährleistet und die Präventions- dass in der Praxis die Neigung zur Einstellung von Baga- arbeit gestärkt werden. Daran müssen wir arbeiten. tellfällen steigen wird. Zu Recht sollte aber hier die Strafbarkeitsschwelle schon früh einsetzen, um einen Auch eine weitere Stärkung von Opferrechten ist möglichst hohen Schutz von Opfern gerade in Anfangs- ein Schritt in die richtige Richtung. Hierzu gehören eine bereichen solcher Straftaten zu erreichen. Im Übrigen weitere Stärkung der Nebenklage, die Bereitstellung ei- kann man durch die Verschiebung von Strafrahmen kei- nes Opferanwalts sowie die Beteiligung des Opfers im nen Richter veranlassen, diese Strafrahmen tatsächlich Fall einer Einstellung des Verfahrens, um ihm auch dann (B) auszuschöpfen. Hier ist die Regierung ebenso wie die noch eine echte Mitwirkungsmöglichkeit zu geben. (D) CDU/CSU-Fraktion schlichtweg auf dem Holzweg. (Beifall bei der FDP) Zu begrüßen sind die Maßnahmen gegen die Verbrei- Vor Gericht muss vermieden werden, dass die Kinder tung der Kinderpornographie. Hier sind die Vorschläge ein zweites Mal zu Opfern werden. von Rot-Grün geeignet, dem offenbar bestehenden Handlungsbedarf gerecht zu werden. Der eigenständige (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Sehr richtig!) Straftatbestand macht deutlich, dass wir das besondere Dazu ist es auch erforderlich, besser auf die bereits ge- Unrecht dieser Handlungen würdigen und der durch die schaffenen zahlreichen Möglichkeiten zu ihrem Schutz Entwicklung gerade des Internets stark veränderten Ver- im Verfahren hinzuweisen, sodass diese stärker in An- breitungssituation ernsthaft Rechnung tragen. spruch genommen werden. Dies kann auch mit einer ge- (Beifall bei der FDP) setzlichen Hinweispflicht auf das Opferentschädigungs- gesetz geschehen. Ein weiteres Problemfeld, das in der Diskussion im- mer wieder angeschnitten wurde, ist die nachträgliche Im präventiven Bereich muss eine verstärkte Aufklä- Anordnung der Sicherungsverwahrung bei Heran- rung mit einer erhöhten Sensibilität gegenüber den An- wachsenden. Hier ist grundsätzlich zu sagen, dass die zeichen und Phänomenen der sexualisierten Gewalt an FDP-Fraktion die Einführung dieses Instruments für Kindern einher gehen. Gerade die Stärkung des Selbst- sinnvoll erachtet. Aus rechtsstaatlicher Sicht sind wir bewusstseins der Kinder ist der beste Schutz vor Über- aber für die Vorbehaltslösung, das heißt das Vorsehen griffen. Es ist für Kinder sehr wichtig zu erleben, dass der nachträglichen Anordnung der Sicherheitsverwah- ihnen geglaubt wird. Wenn ihre Geschichte aufgrund rung durch das erkennende Gericht. falsch verstandener Loyalität mit dem Täter oder dessen Umfeld, welches häufig dasselbe ist wie das des Kindes, In diesem Zusammenhang sind wir auf die Entschei- mit einem Achselzucken abgetan wird, ist es nur noch dung des Verfassungsgerichts gespannt, die uns hoffent- leichter Opfer. Es handelt sich hier ganz häufig um Be- lich bei der Frage, ob diese Materie im Rahmen der Ge- ziehungsstraftaten und selten um die in der Presse wahr- fahrenabwehr bei den Ländern oder als strafprozessuale genommenen spektakulären Fälle. Frage in der Kompetenz des Bundes zu regeln ist, Klä- rung bringen wird. Aus meiner Sicht wäre hier eine bun- In diesem Zusammenhang begrüßen wir, dass die desweit einheitliche Regelung sehr zu begrüßen, um im Nichtanzeige von Sexualstraftaten nicht in den Katalog gesamten Bundesgebiet einheitliche Sicherheitsstan- des § 138 StGB aufgenommen worden ist. Dies würde dards zu gewährleisten. Im Moment haben wir da sozusa- zu einer unerträglichen Belastung für potenzielle Zeugen Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2003 4687

Sibylle Laurischk (A) führen, die dann immer in einer Grauzone stehen und von Kindern und Jugendlichen vor sexueller Gewalt (C) sich letztendlich häufig auch dem Vorwurf der falschen und Ausbeutung. Daran möchte ich ausdrücklich erin- Verdächtigung ausgesetzt sehen würden. nern. (Beifall bei der FDP) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Für sehr wichtig, Frau Ministerin, halte ich Ihren Vor- schlag, der mich sehr positiv überrascht hat, die Fortbil- Der Aktionsplan geht zurück auf den Zweiten Weltkon- dung für Richter und Staatsanwälte zu forcieren. Hier gress gegen die kommerzielle sexuelle Ausbeutung von besteht ein großer Nachholbedarf und die Justiz, auch Kindern, der im Dezember 2001 in Yokohama stattge- die Justiz der Länder, muss sich sehr ernsthaft darum funden hat. Wir durften mitreisen; Herr Haupt, Sie wis- kümmern. Nach meiner Meinung müssen das auch die sen bestimmt noch – ich erinnere mich besonders gut da- Familienrichter – es betrifft nicht nur die Strafjustiz, son- ran –, dass sich die teilnehmenden Staaten verpflichtet dern auch die Ziviljustiz, soweit sie mit dieser Problema- haben, anhand einer nationalen Gesamtstrategie die se- tik zivilrechtlich befasst ist – tun. xuelle Gewalt gegen Kinder und Jugendliche umfassend zu bekämpfen. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Der Aktionsplan bündelt ressortübergreifend einen Katalog von Maßnahmen, die vier Ziele verfolgen: den Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: strafrechtlichen Schutz von Kindern und Jugendlichen weiterzuentwickeln – darüber diskutieren wir heute –, Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss. Prävention und Opferschutz zu stärken, internationale Strafverfolgung und Zusammenarbeit sicherzustellen Sibylle Laurischk (FDP): und die Vernetzung der Hilfs- und Beratungsangebote zu Den Vorschlag der CDU/CSU-Fraktion, die Therapie- fördern. Frau Ministerin, Sie haben vorhin einige Bei- möglichkeiten für Täter einer Evaluierung zu unterzie- spiele dazu genannt. hen und ein Forschungsprojekt in diesem Feld durchfüh- Die Reform des Sexualstrafrechts ist eine – ich ren zu lassen, halten wir für sehr richtig und notwendig. möchte herausstellen: eine – zentrale Maßnahme bei der Sie sehen, meine Damen und Herren, dass alle von Umsetzung dieser Ziele. Dabei geht es uns im Gegensatz der FDP-Fraktion gemachten Vorschläge im Entschlie- zur CDU/CSU-Fraktion nicht um eine grundsätzliche ßungsantrag der FDP-Fraktion ihren Niederschlag fin- Verschärfung. Wir wollen Lücken im Gesetz schließen den. Wir hoffen, dass damit tatsächlich dem Thema der und eine differenzierte Anpassung vornehmen. (B) Sexualstraftaten fachlich sehr viel besser entsprochen (Beifall bei der SPD) (D) wird und letztendlich auch für die Opfer eine Entwick- lung eintritt, die ihnen hilft und ihnen die Möglichkeit Das will ich an einigen Beispielen verdeutlichen: bietet, sich wieder in der Gesellschaft zurechtzufinden, Der strafrechtliche Schutz von Kindern gegen sexuel- nachdem sie Schweres erlebt haben. len Missbrauch wird durch neue Straftatbestände verbes- Danke schön. sert. So macht sich bei einfachem sexuellen Missbrauch ohne Körperkontakt künftig auch strafbar, wer durch (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Schriften auf ein Kind einwirkt, wer ein Kind zu sexuel- der CDU/CSU) lem Missbrauch anbietet und wer sich mit einem anderen zum sexuellen Missbrauch eines Kindes verabredet. Da- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: mit wird eine große Lücke im Strafgesetz geschlossen. Als nächste Rednerin hat das Wort die Kollegin (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Renate Gradistanac von der SPD-Fraktion. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) In diesem Zusammenhang möchte ich herausstellen, Renate Gradistanac (SPD): dass wir das so genannte elterliche Erzieherprivileg ein- Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! schränken. Dadurch wollen wir die Verantwortung der Meine sehr verehrten Damen und Herren! Sexueller Eltern und Sorgeberechtigten, die zum Beispiel porno- Missbrauch von Kindern – ich bleibe jetzt bei dem ein- graphische Schriften zugänglich machen, einfordern. geführten Begriff, obwohl ich sehr viel mehr Sympathie für den Begriff sexualisierte Gewalt habe, den Sie ver- Die Strafbarkeit der Darstellung von Gewalttätigkeit wendet haben –, Kinderpornographie, Kinderhandel und wird um das Merkmal „menschenähnliche Wesen“ er- Kinderprostitution sind abscheuliche Straftaten und weitert. Gemeint sind künstliche Wesen, Außerirdische müssen konsequent verfolgt und bestraft werden. Die- oder auch gezeichnete Menschen. Die schockierenden sem Ziel kommen wir mit der heutigen Reform des Se- Ereignisse von Erfurt erfordern die verbesserte Bekämp- xualstrafrechts ein großes Stück näher. fung von Gewaltdarstellungen. Die heutige Reform umfasst auch den wichtigen Be- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten reich des Kinderhandels. Mündel und Pfleglinge werden des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) in den Kreis der geschützten Personen aufgenommen. Gleichzeitig ist die Reform ein wichtiger Beitrag zur Die Schutzaltersgrenze wird von 14 auf 18 Jahre ange- Umsetzung des nationalen Aktionsplans zum Schutz hoben. 4688 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2003

Renate Gradistanac (A) Wichtig und richtig ist, dass Nebenklageberechtigte, gung in eine neue Balance gebracht werden. Der jetzige (C) die aufgrund ihrer psychischen und physischen Situation Gesetzestext erweckt den Eindruck, als müsse der Straf- nicht in der Lage sind, ihre Interessen ausreichend wahr- vollzug ausschließlich auf die Resozialisierung des Tä- zunehmen, einen so genannten Opferanwalt bestellen ters ausgerichtet sein. können. Unser Anliegen ist Folgendes: Der Schutz der Allge- Im EU-Jahr für Menschen mit Behinderungen – das meinheit vor dem Straftäter darf keine bloß nachrangige wurde heute schon verschiedene Male angesprochen – Aufgabe des Strafvollzugs sein. freut es mich, dass wir die Forderungen der Behinderten- (Beifall bei der CDU/CSU) verbände aufnehmen und erfüllen konnten. Im Gesetzestext muss eindeutig zum Ausdruck gebracht (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten werden, dass der Schutz der Allgemeinheit vor weiteren des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Straftaten ebenfalls ein Vollzugsziel ist und dass dieses Angeglichen werden die Strafrahmen des sexuellen gleichrangig neben das Ziel der Resozialisierung tritt. Missbrauchs widerstandsunfähiger Personen an die Die geltende Fassung des § 2 lautet wie folgt: Strafrahmen der sexuellen Nötigung bzw. der Vergewal- tigung nach § 177 StGB. Im Vollzug der Freiheitsstrafe soll der Gefangene fähig werden, künftig in sozialer Verantwortung ein Die Einführung einer Anzeigepflicht bzw. Mittei- Leben ohne Straftaten zu führen … lungspflicht ist nicht weiter verfolgt worden. Wir haben die Bedenken der Praktikerinnen und Praktiker ernst ge- Folgendes soll angefügt werden: nommen; ich bedanke mich an dieser Stelle für die kon- Zugleich dient der Vollzug der Freiheitsstrafe dem struktive Unterstützung. Damit wird deutlich, dass das Schutz der Allgemeinheit vor weiteren Straftaten Kindeswohl oberste Priorität hat und keine Mechanis- (Vollzugsziele). men in Gang gesetzt werden, die dem Strafrecht gerade in diesem hoch sensiblen Bereich einen Vorrang einräu- Die derzeitige Struktur des § 2 Strafvollzugsgesetz ver- men. leitet zu dem Schluss, dass der Schwerpunkt des Voll- zugs in der als Vollzugsziel genannten Resozialisierung Frau Ministerin Zypries, wir unterstützen ausdrück- liegt und dass der Schutz der Allgemeinheit zwar eine lich Ihre Auffassung, dass Menschen mehr Zivilcourage Aufgabe, jedoch nicht das Ziel des Strafvollzugs sei. In zeigen müssen und „hinschauen statt wegschauen“ sol- der Rechtsprechung und der Literatur wird daher konse- len. quenterweise die Auffassung vertreten, dass der Reso- zialisierung der uneingeschränkte Vorzug gelte. (B) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (D) Eine breit angelegte Präventionskampagne mit dem (Joachim Stünker [SPD]: So ist es!) Ziel, das Bewusstsein der Öffentlichkeit für das drän- Die Resozialisierung sei oberste Richtschnur für die gende Problem des sexuellen Missbrauchs zu schärfen, Gestaltung des Vollzugs im Allgemeinen und im Einzel- begrüßen wir nachdrücklich. nen. Alle übrigen Aufgaben, also auch der Schutz der Einen besonderen Handlungsbedarf sehen wir in der Allgemeinheit, und die allgemeinen Strafzwecke des Tourismuswirtschaft, die aufgerufen ist, ihren eigenen Strafgesetzbuchs, zu denen ich hier auch gern reden Ehrenkodex endlich einmal ernst zu nehmen und umzu- würde, dies aber aus Zeitgründen nicht tun kann, seien setzen. nachrangig. Die damit notwendig verbundene Inkauf- nahme von Risiken etwa bei der Gewährung von Aus- Vielen Dank. gang, Freigang, Urlaub aus der Haft und offenem Voll- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ zug sei gerechtfertigt. Dem Prinzip der Eröffnung von DIE GRÜNEN) Freiheitsspielräumen zur Einübung sozialer Verantwor- tung gebühre der Vorrang. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Meine Damen und Herren, diese Auffassung teile ich Das Wort hat der Justizminister des Landes Hessen, ausdrücklich nicht. Ich halte es nicht für akzeptabel, im Christean Wagner. Zweifel der Resozialisierung den Vorrang vor der Si- cherheit der Allgemeinheit zu geben. Strafvollzug darf nicht auf dem Rücken potenzieller Opfer stattfinden. Dr. Christean Wagner, Staatsminister (Hessen): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Mit der Fixierung auf die Resozialisierung als einzi- Herren! Ich spreche zu einer Bundesratsinitiative des gem Vollzugsziel wird verkannt, dass Freiheitsstrafe Landes Hessen betreffend das Strafvollzugsgesetz. selbstverständlich auch dann zu vollziehen ist, wenn klar ist, dass dieses Vollzugsziel nicht erreicht werden kann. Nach unseren Vorstellungen soll § 2 dieses Gesetzes Meine Damen und Herren, im Übrigen möchte ich dahin gehend geändert werden, dass der Schutz der noch auf Folgendes hinweisen: Die Gefangenenpopula- Allgemeinheit als gleichrangiges Vollzugsziel neben der tion mit den Problemgruppen der Ausländer, der Resozialisierung Berücksichtigung findet. Drogenabhängigen und der Gewalttäter hat sich in den Die im Strafvollzugsgesetz genannten Ziele und Auf- letzten Jahrzehnten nachhaltig verändert. Bundesweit ist gaben des Strafvollzugs müssen nach meiner Überzeu- der Ausländeranteil von 9 Prozent im Jahre 1977 auf Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2003 4689

Staatsminister Dr. Christean Wagner (Hessen) (A) 30 Prozent im Jahre 2002 gestiegen. Hessen liegt mit ei- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (C) nem Ausländeranteil von 44 % an der Gesamtzahl der Das Wort hat jetzt der Kollege Joachim Stünker von Gefangenen bundesweit an der Spitze. In der Untersu- der SPD-Fraktion. chungshaft beträgt dieser Anteil in Hessen sogar etwa 64 Prozent. Joachim Stünker (SPD): Es muss heute auch zur Kenntnis genommen werden, Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe dass immer mehr Gefangene für Behandlungen ungeeig- Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Röttgen, ich net sind. Unter den ausländischen Strafgefangenen be- meine, das Thema, das wir heute am späten Nachmittag findet sich eine steigende Anzahl Gefangener ohne jegli- hier behandeln, ist viel zu ernst, als dass man derart po- che soziale Wurzel in Deutschland. Das Vollzugsziel der lemisch und populistisch damit umgehen kann, wie Sie Resozialisierung läuft hier völlig ins Leere. es in Ihrer Rede heute wieder getan haben. Lassen Sie mich deshalb Folgendes feststellen: Im Ge- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ setzentwurf des Bundesrates wird – das will ich zur Ver- DIE GRÜNEN – Dr. Norbert Röttgen [CDU/ meidung von Missverständnissen ausdrücklich sagen – CSU]: Man muss doch mal Kritik vertragen keine Alternative zum Resozialisierungsauftrag, sondern können!) die längst überfällige Aufwertung des gleichrangigen Auftrages des Staates zur Sicherheitsgewährleistung Vor allen Dingen die Vorwürfe, die Sie an die Justizmi- postuliert. nisterin gerichtet haben, wiederholen sich; es perpetuiert sich langsam. (Beifall bei der CDU/CSU) (Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Welcher Um es noch einmal mit anderen Worten zu sagen: Das war denn falsch?) Ziel der Resozialisierung ist parteiübergreifend völlig Herr Kollege Röttgen, Sie haben jede Woche dieselbe unbestritten. Melodie drauf. Ich glaube, Sie sollten das in Zukunft ein (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE wenig zurückfahren. Es würde der Zusammenarbeit die- GRÜNEN]: Na ja!) nen. Es ist ein vernünftiges Ziel, dafür zu kämpfen, dass ein (Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Soll er lieber straffällig gewordener Straftäter nach Verbüßung der singen?) Haft als – ich will es einmal mit meinen Worten sagen – Ich möchte mich heute schwerpunktmäßig noch ein- (B) rechtstreues Mitglied unserer Rechtsgemeinschaft wie- mal mit dem Thema beschäftigen, das auch bei Ihnen (D) der in die Gesellschaft eingegliedert werden kann. Dage- wieder eine große Rolle gespielt hat, nämlich mit der gen kann doch niemand etwas haben, auch ich nicht. Anordnung einer nachträglichen Sicherungsverwah- rung. Sie möchten von uns, dass wir das ins – ich (Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE betone – Strafgesetzbuch schreiben; das ist Ihr Begeh- GRÜNEN): Fast nichts! ren. – Nicht „fast“. Ich bin seit 1998 im Bundestag und glaube, dass ich Ich sage aber gleichzeitig: Auch die Sicherheitsbe- heute meine siebte Rede zu diesem Thema halte. So lange der Bevölkerung müssen beim Vollzug der Strafe lange schon kommen Sie fortwährend mit dem gleichen beachtet werden. Anliegen. Heute beraten wir den über den Bundesrat uns zugeleiteten Entwurf aus Baden-Württemberg mit. (Beifall bei der CDU/CSU – Wilhelm Schmidt (Siegfried Kauder [Bad Dürrheim] [CDU/ [Salzgitter] [SPD]: Das tun wir doch!) CSU]: Wir wollen den § 106 JGG ändern und – Herr Schmidt, so steht es aber nicht im Gesetzent- nicht das materielle Strafrecht, Herr Kollege!) wurf. – Ich füge hinzu: Wenn ich zwischen dem Ziel der – Nein, Sie wollen den § 66 StGB ändern. Resozialisierung des Straftäters auf der einen Seite und dem Ziel des Schutzes der Bevölkerung auf der anderen (Siegfried Kauder [Bad Dürrheim] [CDU/ Seite abwägen muss – das ist ein schwieriger Vorgang –, CSU]: Nein, den § 106 JGG, schauen Sie dann muss ich im Zweifel für den Schutz der Bevölke- nach!) rung votieren. Ich bin sehr gespannt darauf, von Ihnen zu – Ja, das ist die sich anschließende Geschichte. Das an- hören, ob Sie das aufgrund Ihrer Erfahrungen aus der dere ist der Entwurf aus Baden-Württemberg, Herr Kol- Praxis anders sehen. lege. Das ist der Punkt, um den es Ihnen hierbei geht. (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE Herr Kollege Röttgen hat vorhin ja auch darauf hinge- GRÜNEN]: Also gar kein Freigang mehr?!) wiesen. Ich jedenfalls plädiere dafür, dass § 2 des Strafvoll- Wie sieht die Rechtslage heute aus? Ich glaube, das zugsgesetzes in dem vorgetragenen Sinne novelliert müssen wir noch einmal kurz darstellen. Im vorigen Jahr wird. haben wir hier die Regelung getroffen, nach der sich der Tatrichter im Urteil eine Sicherungsverwahrung vorbe- (Beifall bei der CDU/CSU) halten kann. Nach Verbüßung einer Freiheitsstrafe von 4690 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2003

Joachim Stünker (A) mehreren Jahren wird durch das Tatgericht endgültig ge- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (C) prüft, ob es zu verantworten ist, einen Straftäter aus der Herr Kollege Stünker, erlauben Sie eine Zwischen- Haft zu entlassen oder ob die Sicherungsverwahrung frage des Kollegen Kauder? vollzogen werden muss. Sie fordern von uns immer wieder eine Regelung, die Joachim Stünker (SPD): es ermöglicht, auch nachträglich noch eine Sicherungs- Nein, jetzt keine Zwischenfrage. verwahrung anzuordnen. Dabei denken Sie an Straftäter, für die das Gericht bei der Verurteilung zwar keine Si- (Siegfried Kauder [Bad Dürrheim] [CDU/ cherungsverwahrung angeordnet hat, die aber während CSU]: Das wird auch besser sein!) des Vollzugs bei bestimmten Personen den Eindruck er- Ein weiterer, aus unserer Sicht durchschlagender Ein- wecken, sie seien so gefährlich, dass sie zukünftig ver- wand ist prozessrechtlicher Natur; auch darauf gehen Sie gleichbare Straftaten begehen werden. Genau darum nie ein. Stattdessen haben Sie vorhin erklärt, das, was geht es. Zu dieser Frage – darum widme ich mich diesem Sie vorschlagen, sei ein rechtsstaatlich sicheres Verfah- Thema – verbreiten Ihre Kolleginnen und Kollegen in ren. Die von Ihnen vorgeschlagene Regelung unterläuft der Lokalpresse Polemik, die teilweise wirklich abstrus aus unserer Überzeugung die rechtsstaatlichen Garantien ist. der Strafprozessordnung, wie sie für jeden Beschuldig- ten zu gelten haben. In Ihren Entwürfen ist vorgesehen, (Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Wer macht die schwere Sanktion der Sicherungsverwahrung durch das denn? – Hartwig Fischer [Göttingen] Beschluss im Wege eines Anhörungsverfahrens vor der [CDU/CSU]: Guter Mann!) Strafvollstreckungskammer nachträglich zu verhängen. – Auch Ihr Kollege Grindel ist ein guter Mann, aber von Durch einen Beschluss soll also im Nachhinein die mate- rechtsstaatlichen Dingen versteht er wenig; das ist rich- rielle und formelle Rechtskraft des Strafurteils durchbro- tig. chen werden. (Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Nein!) (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Damit werden dem rechtskräftig Verurteilten im Er- gebnis die grundlegenden rechtsstaatlichen Garantien Wir haben Ihnen schon von Anfang an gesagt, dass vorenthalten. Diese gelten für jeden und sind: die münd- wir gegen eine solche Regelung schwerwiegende ver- liche öffentliche Hauptverhandlung, Beteiligung von fassungsrechtliche Bedenken haben. Sie sind auch Schöffen an der Urteilsfindung, Unmittelbarkeit der Be- heute nicht ein einziges Mal bereit gewesen, sich mit weisaufnahme, das durch die Möglichkeit der Revision (B) diesen Bedenken auseinander zu setzen. Ich nenne Ihnen gesicherte Beweisantragsrecht und die Pflichtverteidi- (D) noch einmal die drei wesentlichen Gründe: gung in der Hauptverhandlung. Ein verurteilter Straftäter hat diese Garantien nach Ihren Vorschlägen nicht mehr. Erstens. Die nachträgliche Sicherungsverwahrung, Sie schaffen zwei Arten von Strafprozessrecht. Ich frage wie von mir skizziert und von Ihnen gefordert, verstößt mich: Warum gehen Sie, Herr Röttgen, so fahrlässig mit nach Art. 103 Abs. 2 des Grundgesetzes gegen das Rechtsstaatsgarantien unserer Verfassung um? Sie tun Rückwirkungsverbot. Sie treffen damit einen Personen- dies, kreis, der zu einem Zeitpunkt verurteilt worden ist, als es eine solche Regelung gar nicht gegeben hat. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Zweitens. Die nachträgliche Sicherungsverwahrung verstößt nach Art. 103 Abs. 3 des Grundgesetzes gegen um in der Tagespolitik populistisch Stimmung zu ma- das Verbot der Doppelbestrafung. Bei ihrer Anordnung chen, wie dies die vorhin gemachten Ausführungen zum würden gegen einen Straftäter durch zwei konstitutive Strafvollzugsgesetz gezeigt haben. Entscheidungen nacheinander eine Freiheitsstrafe ver- (Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Lassen Sie fügt. doch mal eine Frage zu! Dann können wir uns (Siegfried Kauder [Bad Dürrheim] [CDU/ darüber unterhalten! Entziehen Sie sich nicht CSU]: Das ist Unsinn!) der Diskussion!) – Ich sage Ihnen noch einmal: Die Fälle, von denen Sie Drittens – das ist das wesentliche Argument –: Die meinen, sie würden durch unsere Regelung der vorbe- nachträgliche Sicherungsverwahrung, die von Ihnen ge- haltenen Sicherungsverwahrung nicht erfasst, sind nach fordert wird, ist mit Art. 5 Abs. 1 der Europäischen wie vor Fälle der Prävention, des Polizeirechts. Poli- Menschenrechtskonvention unvereinbar; denn danach ist zeirecht ist nach unserer Verfassung nun einmal Länder- nur die in einer strafrechtlichen Verurteilung angeord- sache. Die Länder müssen diese Regelungen treffen. Das nete Sicherungsverwahrung zulässig. Sie wollen dies zu- müssen wir sauber trennen, sonst bewegen wir uns auf künftig durch Beschluss auf der Grundlage einer Ge- einem sehr schmalen Grat. fährdungsprognose zulassen. Ich meine, das ist nicht tragbar. Die Bedenken, die ich Ihnen eben genannt habe, Um Ihren Gedankengang zu Ende zu führen und um sind in mehreren Anhörungen, die wir seit 1998 gemein- Ihnen zu verdeutlichen, wie abstrus es werden kann, sam durchgeführt haben, von den Sachverständigen be- wenn man Ihren Vorstellungen folgen würde, möchte ich stätigt worden. Ihnen dazu einiges sagen. Ich habe Ihnen das schon ein- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2003 4691

Joachim Stünker (A) mal vorgehalten, aber Sie hören gar nicht zu, Herr Kol- (Beifall bei der CDU/CSU) (C) lege Röttgen. Wenn Sie die Sicherungsverwahrung nach- träglich anordnen wollen, wie Sie es von uns fordern, Zurzeit enthält die Datenbank des BKA 265 000 Daten- dann taucht die Frage auf, warum die nachträgliche Si- sätze. Allein 2002 hat die Datenbank geholfen, dass cherungsverwahrung nicht auch für bereits entlassene 66 Fälle von Mord und Totschlag, 135 Sexualverbre- Straftäter gelten soll, chen, 250 Raubüberfälle, Erpressungen und mehr als 3 000 Eigentumsdelikte aufgeklärt werden konnten. Otto (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Schily wird es gefreut haben. DIE GRÜNEN – Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau!) (Beifall des Abg. Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]) die fünf Jahre Führungsaufsicht haben, wenn innerhalb der fünf Jahre Führungsaufsicht festgestellt wird, dass Bei solchen Ergebnissen, meine Damen und Herren die Gefährlichkeit besteht. Wollen Sie auch dann durch von der Regierung, müssten Sie doch eigentlich bemüht Beschluss einer Kammer diesen Weg gehen? Mit Sicher- sein, das geltende, unserer Meinung nach zu enge Recht heit nicht. Polizeirecht ist hier die richtige Lösung. zu erweitern und neue Voraussetzungen zu schaffen, um wirklich effektiv vorbeugen zu können. Ich kann das auf die Spitze treiben, um Ihnen zu ver- deutlichen, wie gefährlich das für den Rechtsstaat ist, Wie erklären Sie sonst einem Opfer, dass es leider nur was Sie machen, und wie Sie mit diesen Überlegungen möglich ist, gegen den Willen eines Betroffenen DNA am Rechtsstaat zündeln. Wie verhält es sich denn mit der zu entnehmen, wenn seine Straftat erhebliche Bedeutung Sicherungsverwahrung ohne Straftat? Wie ist es, wenn hatte oder wenn vorhersehbar ist, dass künftig Strafver- wir feststellen, dass ein Mensch herumläuft, von dem fahren von erheblicher Bedeutung gegen den Betroffe- zwei Sachverständige sagen, dass er so gefährlich sei, nen geführt werden? dass er möglicherweise erhebliche Straftaten begehen Es ist unerlässlich – das steht deutlich in unserem kann? Auch das ist ein Fall des Polizeirechts. Das ist Gesetzentwurf –: Der Katalog der Anlasstaten muss er- überhaupt keine Frage. Das ist eine Sache, die die Län- weitert werden, und zwar auf alle Taten mit sexuellem der regeln müssen. Hintergrund. Ich habe versucht, Ihnen heute noch einmal deutlich (Beifall bei der CDU/CSU) zu machen, dass Sie mit diesen Vorschlägen zur nach- träglichen Sicherungsverwahrung auf dem Irrweg sind. Es ist genau dieser sexuelle Hintergrund, auf den es uns Wir werden Ihnen nicht folgen. Was Sie nach wie vor ankommt. Denken Sie zum Beispiel an sexualbezogene (B) vorschlagen, ist aus unserer Sicht rechtsstaatlich äußerst Straftaten wie Beleidigung mit sexuellem Hintergrund, (D) bedenklich. denken Sie an sexuell motivierte Drohanrufe. Hier han- delt es sich natürlich nicht um Straftaten von erheblicher Vielen Dank. Bedeutung. Jedoch hat eine Studie der Universität Göt- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ tingen vom April 2002 ergeben, dass bei exhibitionisti- DIE GRÜNEN) schen Straftätern mit einer Wahrscheinlichkeit von im- merhin rund 2 Prozent mit der späteren Begehung eines Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: sexuellen Gewaltdelikts zu rechnen ist. Eine schwere Straftat ist in diesem Bereich oft der traurige Höhepunkt Das Wort hat jetzt die Kollegin Daniela Raab von der einer sexuell geprägten Straftatenserie. CDU/CSU-Fraktion. Dieser Erkenntnis hat sich die Bundesregierung zwar (Beifall bei der CDU/CSU) angeschlossen, die notwendigen Konsequenzen aber lei- der nicht gezogen. Der sexuelle Hintergrund vieler Taten Daniela Raab (CDU/CSU): wird in Ihrem Gesetzentwurf nicht gebührend gewür- Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und digt. Es geht hier – da sollten wir uns alle einig sein – Herren! Erneut diskutieren wir heute über das Sexual- um das Sicherheitsbedürfnis unserer Bürger und die strafrecht. Meine Kollegen haben dazu nicht nur heute, Funktionsfähigkeit der Strafverfolgung. Dem muss drin- sondern auch in anderen Debatten genauestens und zum gend Rechnung getragen werden. Teil verständlicherweise hoch emotional Stellung ge- Gerade vor dem Hintergrund, dass 56 Prozent der ver- nommen und Fakten und Fälle aufgezeigt, die verdeut- urteilten Exhibitionisten innerhalb der nächsten zehn licht haben, dass eine strikte Verschärfung des Sexual- Jahre wieder ein Sexualdelikt begehen, ist ein Eingriff strafrechts dringend notwendig ist. in das informationelle Selbstbestimmungsrecht unse- Ich möchte zunächst auf die DNA-Analyse eingehen. rer Meinung nach klar gerechtfertigt und auch sachlich Es freut uns zu hören, dass Sie die Möglichkeiten der begründet. DNA-Analyse nun doch ausweiten wollen. Denn eines (Beifall bei der CDU/CSU) ist nun offenbar auch Ihnen klar geworden: Die DNA- Analyse ist inzwischen zu einem der wichtigsten rechts- Aus diesem Grund plädieren wir dafür, Straftaten mit se- medizinischen Erkenntnismittel geworden, einem Mittel, xuellem Hintergrund in den Anlasstatenkatalog mit auf- das man sich nicht mehr wegdenken kann und dessen zunehmen. Diese Lösung ist sachgerecht und prägnant. Möglichkeiten man deshalb voll ausschöpfen muss. Schließen Sie sich unserer Forderung an! 4692 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2003

Daniela Raab (A) Die DNA-Analyse ist ein Weg der Strafverfolgung, Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (C) bei dem wir scheinbar einen gemeinsamen Ansatz ge- Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat funden haben. Wir fordern Sie aber in einem weiteren jetzt der Kollege Siegfried Kauder von der CDU/CSU- Punkt auf, unserer Forderung zu folgen, und zwar hin- Fraktion das Wort. sichtlich der nachträglichen Sicherungsverwahrung. Wir fordern konsequente Maßnahmen, die Wiederho- lungstäter daran hindern, erneut Kinder, Frauen und Be- Siegfried Kauder (Bad Dürrheim) (CDU/CSU): hinderte zu überfallen und zu vergewaltigen. Eine Lösung Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen! Ich in solchen Fällen ist die nachträgliche Sicherungsverwah- habe heute Nachmittag das Wort Opferschutz zu oft ge- rung, deren Notwendigkeit ich Ihnen in der Hoffnung, hört. Opferschutz muss man von Herzen wollen, aber Sie überzeugen zu können, gerne näher bringen möchte. man muss ihn auch umsetzen können. Als ich die Bei- träge gehört habe, hat sich mein Verdacht verstärkt, dass Die nachträgliche Sicherungsverwahrung gibt es im Sie nicht etwa den perfekten Opferschutz nicht wollen, geltenden Recht bereits, jedoch nur in den Fällen, in de- sondern dass Sie ihn nicht perfektionieren können. nen das erkennende Gericht im Urteil einen entsprechenden Anordnungsvorbehalt ausgesprochen hat. Nicht erfasst Herr Kollege Stünker hat über die Sicherungsver- werden die Fälle, in denen während des Strafvollzugs er- wahrung räsoniert und den Eindruck erweckt, es sei ein kannt wird, dass es sich um einen gemeingefährlichen Verbot der Doppelbestrafung zu diskutieren. Die Siche- Täter handelt. rungsverwahrung ist eine Maßregel der Besserung und Sicherung. Deswegen ist die Doppelbestrafung in die- (Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: So ist es!) sem Zusammenhang kein Thema. Es geht uns auch in diesem Zusammenhang – ich wie- (Beifall bei der CDU/CSU – Lachen bei der derhole mich an dieser Stelle gerne – um den Schutz SPD – Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/ möglicher Opfer und damit um den Schutz unserer Be- DIE GRÜNEN]: Ja, aber das sagen Sie mal völkerung. dem Sicherungsverwahrten! – Joachim Stünker [SPD]: Zweites Semester, Herr Kauder!) (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Da laboriert man fachunkundig am Grunddelikt des se- Harald Leibrecht [FDP]) xuellen Missbrauchs von Kindern herum, weil man es Der Justiz sind gegenwärtig die Hände gebunden, wenn nicht fachkundig kann. sich während des Strafvollzugs herausstellt, dass ein Tä- (Joachim Stünker [SPD]: So etwas Dünnes! (B) ter nicht therapierbar ist. Darf das sein? Entspricht das Dünnbrettbohrer!) (D) Ihrem Rechtsgefühl? Ich frage Sie vor allem: Wird das dem Sicherheitsbedürfnis unserer Bürger gerecht? Ich Dass die Kollegin Schewe-Gerigk feststellt, deshalb, beantworte diese Frage eindeutig mit Nein. weil die Mindeststrafe in einigen Fallvarianten auf drei Monate erhöht worden sei, sei eine Geldstrafe nicht (Joachim Stünker [SPD]: Haben Sie schon mal mehr möglich, sehe ich ihr nach. im Strafrecht gearbeitet?) (Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ „Wegsperren – und zwar für immer“ hat sogar Ihr DIE GRÜNEN]: Im Normalfall nicht! Das ha- Kanzler gefordert. Im Nachhinein stellt sich aber heraus, ben wir doch schon geklärt! – Joachim Stünker dass sich diese Forderung im Gesetzentwurf nicht wie- [SPD]: Der Oberlehrer ist wieder dran!) derfindet. Es war wohl nur Wahlkampfgetöse. Er hat im Aber von einer Justizministerin darf ich erwarten, dass Juli 2001 sogar noch einen draufgesetzt, indem er sagte, sie § 47 Abs. 2 des Strafgesetzbuchs kennt; den kennt je- ein Sexualstraftäter müsse komplett weggesperrt wer- der Jurastudent im zweiten Semester. Danach ist bei den, wenn sich während der Haft herausstellt, dass er einer Mindeststrafe bis zu sechs Monaten eine Geld- weiter gefährlich ist. strafe möglich und auch weitgehend üblich. Einige Bundesländer – darunter Bayern – haben sich (Alfred Hartenbach [SPD]: Erbsenzähler!) dieser Auffassung angeschlossen und entsprechende Landesgesetze geschaffen. Wir können nicht damit rech- Meine Damen und Herren, Sie ändern den Grundtat- nen, dass sich weitere Länder anschließen. Deswegen bestand des sexuellen Missbrauchs von Kindern und fordere ich Sie auf – es ist Aufgabe des Bundes, in die- schaffen den minder schweren Fall ab. Dafür führen Sie sem Bereich tätig zu werden –: Tun Sie etwas! Schützen den besonders schweren Fall ein und dienen damit nie- Sie unsere Bürger und die potenziellen Opfer! Führen mandem. Sie die nachträgliche Sicherungsverwahrung auch ohne (Joachim Stünker [SPD]: Das haben Sie doch Anordnungsvorbehalt ein! Wenn Sie sich dazu durchrin- gefordert!) gen können, haben Sie uns selbstverständlich auf Ihrer Seite. Das ist nicht die Botschaft, die Eltern, die Angst um die Entwicklung ihrer Kinder haben, hören wollen. Ich danke Ihnen. (Beifall bei der CDU/CSU – Wilhelm Schmidt (Beifall bei der CDU/CSU) [Salzgitter] [SPD]: Das ist doch Unsinn!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2003 4693

Siegfried Kauder (Bad Dürrheim) (A) Die richtige Botschaft wäre gewesen, § 176 StGB so zu damit erst einmal nichts zu tun! – Gegenruf (C) ändern, dass der sexuelle Missbrauch eines Kindes als des Abg. Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Verbrechen angesehen wird, so wie wir es verlangen. Se- Deswegen haben wir ja auch ein Opferschutz- xueller Missbrauch eines Kindes ist nämlich – das habe gesetz vorgelegt!) ich in diesem Hohen Haus schon einmal gesagt – Mord an einer kleinen Seele. Die Antwort kann nur heißen: Min- – Es hat schon etwas damit zu tun; denn der Opferanwalt deststrafe ein Jahr. Aber es sollte die Möglichkeit des hat – jedenfalls nach Ihrem Vorschlag – auch Bedeutung minder schweren Falls geben, damit sich der Täter, der für das Sexualstrafrecht. ein Geständnis ablegt und damit dem missbrauchten (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE Kind das Auftreten in der Hauptverhandlung erspart, GRÜNEN]: Quatsch!) eine Strafmilderung erarbeiten kann. Man sieht, dass Sie nicht bereit sind, den Opferschutz Rückfalltäter – darauf haben wir Sie bereits aufmerk- und das Sexualstrafrecht unter dem Blickwinkel eines sam gemacht – müssen ebenfalls als Verbrecher behan- Tatopfers, eines Kindes, zu betrachten. Sonst würden Sie delt werden. Auch hier kannten Sie das Gesetz nicht; eine solche Flickschusterei nicht machen! denn Sie haben zuerst § 12 StGB übersehen. Sie hätten beinahe aus Nachlässigkeit ein Verbrechen zu einem (Zuruf von der SPD: Das ist einfach unver- Vergehen herabgestuft. Ich danke Ihnen, dass Sie das schämt!) korrigiert haben. Wenn es um Opferschutz und Opferentschädigung Aber nun haben Sie den nächsten Fehler eingebaut. und insbesondere wenn es um den Schutz von Kindern Wenn ein Straftäter ein Kind sexuell missbraucht und gegen sexuelle Übergriffe geht, dann ist auf eines immer das Ergebnis für pornographische Zwecke verwenden Verlass: Sie sitzen im Bremserhäuschen. will, dann ist das ein Verbrechen. Bisher gab es die (Zuruf von der SPD: Ich finde es furchtbar, Möglichkeit des minder schweren Falls. Und das war dass Sie dieses Thema für parteipolitische auch gut so. Es handelt sich hier um ein so genanntes un- Zwecke missbrauchen! – Wilhelm Schmidt echtes Unternehmensdelikt mit weit vorverlagerter [Salzgitter] [SPD]: Wissen Sie, was Sie da sa- Strafbarkeit, bei dem außerdem der Gehilfe die gleiche gen, Herr Kauder? Das ist unfassbar!) Strafe wie der Täter bekommt und die Strafmilderungs- möglichkeit nach § 27 Abs. 2 StGB nicht nutzen kann. Das werden wir nicht zulassen. Wir werden Sie jagen. Es Der Gesetzgeber sagt, dass man die Möglichkeit des gibt noch zwei offene Baustellen: den Opferschutz und minder schweren Falls braucht, damit der Gehilfe, der die Opferentschädigung. Auch hier haben Sie sich als nur die Videokamera besorgt, die Möglichkeit hat, sich Bedenkenträger profiliert. Das steht Ihnen aber nicht zu. (B) (D) Strafmilderung mit einem Geständnis zu verdienen. Sie sollten lieber an die Opfer denken, anstatt grund- rechtliche Bedenken vorzutragen, deren Tragweite Sie (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE überhaupt nicht abschätzen können. GRÜNEN]: Der Gesetzgeber sagt etwas ande- res! – Gegenruf des Abg. Dr. Norbert Röttgen Vielen Dank. [CDU/CSU]: Sie wissen gar nicht, was Sie sa- gen! Das ist das Problem!) (Beifall bei der CDU/CSU – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Pharisäer! Hagestolz! – Ich empfehle Ihnen, hierzu im gängigen Praktikerkom- Joachim Stünker [SPD]: Das ist unglaublich!) mentar Tröndle/Fischer Anmerkung 13 zu § 176 a StGB zu lesen. Dann kennen Sie die Gründe. Auch hier ist Ih- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: nen ein gesetzgeberischer Fehler unterlaufen. Ich schließe die Aussprache. (Beifall bei der CDU/CSU) Wir kommen zur Abstimmung über den von den Wir haben über den Opferschutz zuletzt am 8. Juni Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen dieses Jahres diskutiert. Ich habe damals erklärt, dass eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Änderung der beim Opferschutz nie ein großer Wurf gelungen ist. Dan- Vorschriften über die Straftaten gegen die sexuelle kenswerterweise war es der Kollege Ströbele, der einge- Selbstbestimmung und zur Änderung anderer Vorschrif- worfen hat, dass das Flickschusterei sei und dass man ten, Drucksache 15/350. Der Rechtsausschuss empfiehlt das einmal richtig machen müsse. Heute hätten Sie Gele- unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf genheit. Sie wollen § 387 a StPO so ändern, dass Men- Drucksache 15/1311, den Gesetzentwurf in der Aus- schen, die nicht allein in der Lage sind, ihre Rechte schussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die wahrzunehmen, einen Opferanwalt auf Staatskosten dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzei- erhalten. Hier haben Sie meine Sympathie. Wir haben chen. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetz- aber am 8. Juni 2003 auch darüber gesprochen, dass die entwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen. Hinterbliebenen von Mordopfern ebenfalls einen Opfer- anwalt benötigen. Das haben Sie nicht berücksichtigt. Dritte Beratung Das ist Flickschusterei. Warum haben Sie nicht auch das und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Ge- geregelt? Heute wäre die Zeit dafür gewesen. setzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Gegen- (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE stimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist in GRÜNEN]: Das ist Sexualstrafrecht! Das hat dritter Lesung angenommen. 4694 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2003

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms (A) Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungs- Günter Nooke (CDU/CSU): (C) antrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 15/1344. Wer Herr Präsident, ich danke für die Aufmerksamkeit, stimmt für diesen Entschließungsantrag? – Gegenprobe! – die Sie dem wichtigen Thema „Berliner Stadtschloss“ Enthaltungen? – Der Entschließungsantrag ist mit den durch Ihren Hinweis beigemessen haben. Das freut uns Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Enthaltung der ganz besonders. CDU/CSU und Zustimmung der FDP abgelehnt. Herr Präsident! Sehr verehrte Kolleginnen und Kolle- Abstimmung über den von der Fraktion der CDU/ gen! Morgen ist es genau ein Jahr her, dass der Deutsche CSU eingebrachten Gesetzentwurf zur Verbesserung des Bundestag die Wiedererrichtung des Berliner Stadt- Schutzes der Bevölkerung vor Sexualverbrechen und ande- schlosses unter Berücksichtigung der historischen Fassa- ren schweren Straftaten, Drucksache 15/29. Der Rechtsaus- den mit großer und fraktionsübergreifender Mehrheit be- schuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussemp- schlossen hat. Das ist die positive Botschaft. fehlung auf Drucksache 15/1311, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf Sehr geehrter Herr Kollege Barthel, Sie haben sich in zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Gegenstim- der letzten kulturpolitischen Debatte darüber beklagt, men? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist in zweiter dass ich das Positive nicht angemessen in den Vorder- Beratung abgelehnt. Damit entfällt nach unserer Ge- grund stelle. schäftsordnung die weitere Beratung. (Eckhardt Barthel [Berlin] [SPD]: Heute Tagesordnungspunkt 9 b: Beschlussempfehlung des werde ich Sie enttäuschen!) Rechtsausschusses auf Drucksache 15/1311 zu dem An- Ich wiederhole: Dass wir vor einem Jahr – fraktionsüber- trag der Fraktion der CDU/CSU mit dem Titel „Sozial- greifend und mit Zweidrittelmehrheit – den Beschluss therapeutische Maßnahmen für Sexualstraftäter auf den zur Wiedererrichtung dieses Schlosses gefasst haben, ist Prüfstand stellen“. Der Ausschuss empfiehlt unter Buch- ein gutes Zeichen gelungener parlamentarischer Zusam- stabe c seiner Beschlussempfehlung, den Antrag auf menarbeit: orientiert an der Sache, einig im politischen Drucksache 15/31 abzulehnen. Wer stimmt für diese Be- Willen, entschlossen im Weg. Ich wiederhole gern: Das schlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- ist die positive Botschaft. tungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stim- men der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von Wie Sie wissen, hat die Unionsfraktion diesen Jahres- CDU/CSU und FDP angenommen. tag zum Anlass genommen, mit einem Antrag an den da- maligen Beschluss zu erinnern. Das ist für parlamentari- Tagesordnungspunkte 9 c bis 9 e: Interfraktionell sche Beratungen zwar nicht ganz üblich; in diesem Falle wird die Überweisung der Gesetzentwürfe auf den erscheint es uns aber notwendig. Wir müssen leider fest- (B) Drucksachen 15/410, 15/778 und 15/899 an die in der stellen, dass es bisher wenig konkrete Schritte zur Um- (D) Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. setzung dieses – eben zitierten – Beschlusses gegeben Gibt es anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der hat. Das ist die schlechte Nachricht. Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Da unser Antrag bewusst kurz gehalten ist, erlauben Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 8 auf: Sie mir, dass ich die zentralen Forderungen hier noch einmal mündlich vortrage: Beratung des Antrags der Abgeordneten Günter Nooke, Bernd Neumann (Bremen), Renate Erstens. Wir sehen es als erforderlich an, dass die Blank, weiterer Abgeordneter und der Fraktion Bundesregierung das für das Frühjahr 2003 angekün- der CDU/CSU digte Nutzungs- und Finanzierungskonzept der Ar- beitsgruppe, die von der Beauftragten für Kultur und Umsetzung des Bundestagsbeschlusses zur Medien geleitet wurde, nunmehr vorlegt. Es ist schlicht Wiedererrichtung des Berliner Stadtschlosses unverständlich, warum der Bundestagsbeschluss so – Drucksache 15/1094 – stiefmütterlich behandelt wird. Es ist ein Papier, das für das Frühjahr angekündigt war. Wir stehen kurz vor der Überweisungsvorschlag: Sommerpause. Zumindest jetzt sollte es vorgelegt wer- Ausschuss für Kultur und Medien (f) Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen den. Haushaltsausschuss (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Es liegt mir fern, Mutmaßungen darüber anzustellen, Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre warum man da in Verzug ist. Aber wir müssen unsere keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Sorge darüber zum Ausdruck bringen, dass dieser ge- Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat der meinsame Beschluss nicht die angemessene Würdigung Kollege Günter Nooke das Wort. und Umsetzung erfährt. – Zumindest das wollte ich zu Protokoll gegeben haben. (Unruhe) Zweitens. Aus dem eben Gesagten ergibt sich folge- Herr Kollege Nooke, warten Sie bitte noch einen Mo- richtig, dass wir die Bundesregierung hiermit auffordern, ment, damit diejenigen, die der Beratung dieses Tages- die für die Umsetzung des Beschlusses des Deutschen ordnungspunktes nicht beiwohnen wollen, den Saal ver- Bundestages von vor einem Jahr erforderlichen Maßnah- lassen können. men unverzüglich zu ergreifen. Verbunden damit ist die Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2003 4695

Günter Nooke (A) Forderung nach Vorlage eines Zeitplans für die Umset- sondern dem Bund und dem Land Berlin gemeinsam ge- (C) zung des Beschlusses. hört? Hätte also nicht zumindest ein gemeinsamer Be- schluss Voraussetzung für die Forderung sein müssen, Drittens. Wir wünschen uns darüber hinaus, dass an das Stadtschloss wieder aufzubauen? der Ecke Schlossfreiheit/Unter den Linden ein Areal als Ort für die in dem Bericht der Expertenkommission vor- gesehene Einwerbung von privaten Mitteln zur Verfü- Günter Nooke (CDU/CSU): gung gestellt wird. Für die Realisierung einer Infobox Wir als Verfassungsorgan sind sehr darauf bedacht, laufen Gespräche mit Sponsoren. Wir sollten uns durch- hier auch rechtmäßige Beschlüsse zu fassen. Da wir öf- aus bewusst machen, dass es wichtige private Initiativen fentlich tagen, hat der Regierende Bürgermeister in Ber- gibt, die es voranzutreiben und nicht zu behindern gilt. lin diesen Beschluss auch mitbekommen. Ich habe nie Der Schlossaufbau ist auf private Initiative angewiesen. den Eindruck gehabt, dass er das Grundstück nicht zur Es wäre leichtfertig und fahrlässig, die privaten Initiati- Verfügung stellen will, wenn wir den Schlossbau be- ven nicht nach Kräften zu unterstützen. schließen. Ich will viertens deutlich sagen: Eine finanzielle wie (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- ideelle, direkte oder indirekte Unterstützung einer Nut- neten der FDP und der Abg. Dr. Antje Vollmer zung des Palastes der Republik durch den Bund lehnen [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) wir ab. Es könnte ein Signal sein, auch für Berlin, wenn wir (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. mit dem finanzpolitischen Gezerre aufhören. Es könnte Dr. Günter Rexrodt [FDP]) natürlich auch ein Signal sein, wenn der Bund klar sagte, Auch in Bezug darauf ist die Einigkeit in der Sache groß. womit denn zu rechnen ist. Es wäre sicherlich ein Signal, Erst kürzlich hat sich der Regierende Bürgermeister Ber- wenn auch ein schlechtes, wenn der Bund sagte: Das be- lins bei der Eröffnung der Ausstellung des Werkes von schlossene Verhältnis von kultureller zu kommerzieller Paul Kleihues für den schnellen Abriss des Gebäudes Nutzung von 80 : 20 wird umgekehrt. ausgesprochen. Folgendes geht sicherlich nicht: Man (Eckhardt Barthel [Berlin] [SPD]: Was?) kann nicht beteuern, dass die Nutzung des Palastes nur ohne öffentliches Geld möglich ist, und gleichzeitig Mit- Ich möchte das nicht, aber selbst das wäre besser, als tel aus dem Hauptstadtkulturfonds für Projekte im Palast wenn gar nichts passiert und nur die Zwischennutzung mobilisieren. vorangetrieben wird. Wir müssen jetzt die Grundlagen für eine Entscheidung schaffen und müssen unser ge- (Eckhardt Barthel [Berlin] [SPD]: Das war meinsames Anliegen meines Erachtens gemeinsam wei- (B) eine autonome Entscheidung! Darauf haben ter vorantreiben. (D) wir keinen Einfluss!) Wir haben keine Zeit zu verlieren, sondern uns konse- Einige mögen das als trickreich ansehen. Ich finde: Das quent für die Umsetzung des vor einem Jahr gefassten ist ein Versuch der Täuschung, zumindest ist es grober Beschlusses zu engagieren. Das Argument, dass in der Unfug. Dass im Hauptstadtkulturfonds zu 100 Prozent jetzigen Situation die Realisierung des Schlossbaus ein Bundesmittel sind, haben zumindest wir nicht vergessen. zu vernachlässigendes Thema ist, über das man besser Wir müssen uns heute, ein Jahr nach dem Beschluss, nicht redet, lasse ich nicht gelten. Wir haben uns nie vor- fragen: Was wollen wir eigentlich und was brauchen wir gemacht, dass der Bau in zwei Jahren fertig sein wird. jetzt? Wir brauchen keine Bekräftigung des Beschlusses, Wir sollten uns in ein paar Jahren aber auch nicht nach- sondern wir brauchen deutliche Signale, dass der Bund sagen lassen müssen, wir hätten unseren Beschluss von und damit die Staatsministerin für Kultur und Medien zu vor einem Jahr nicht ernst genommen. Dafür brauchen diesem Beschluss steht. wir keine weiteren Beschlüsse im Bundestag zu fassen. Eine neue Phase für den Schlossbau muss jetzt begin- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: nen. Das meine ich auch aus Prinzip. Wir müssen das, Herr Kollege Nooke, erlauben Sie eine Zwischen- was wir vor einem Jahr beschlossen haben, ernst neh- frage der Kollegin Gesine Lötzsch? men. Der Beginn der neuen Phase könnte, ganz pragma- tisch, wie folgt aussehen: Für die Vorbereitung und Durchführung des Wettbewerbs sind zwei Jahre zu ver- Günter Nooke (CDU/CSU): anschlagen. Jetzt ist es erforderlich, dass diese zwei Bitte schön. Jahre genutzt werden. Dafür ist die Unterstützung durch eine Projektierungsgesellschaft nötig, die mit einer Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos): überschaubaren Vorfinanzierung von 2,5 Millionen Euro arbeiten kann. Vielen Dank, Herr Präsident. – Herr Kollege Nooke, Sie haben gerade zutreffend festgestellt, dass im Haupt- Die 2,5 Millionen Euro sind jetzt erforderlich und wä- stadtkulturfonds zu 100 Prozent Bundesmittel sind. ren gut angelegt, weil so keine Zeit verloren geht. Unser Würden Sie mir darin zustimmen, dass der Beschluss Beschluss bekäme damit eine realistische Grundlage. des Deutschen Bundestages zum Wiederaufbau des Ohnehin wird die Summe zurückgezahlt, da sie in den Stadtschlosses eigentlich gar nicht rechtmäßig gefasst Baunebenkosten enthalten ist. Mit dem Vorliegen der wurde, da das Areal Schlossplatz nicht dem Bund allein, Wettbewerbsergebnisse ist, wenn alles gut läuft, in 4696 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2003

Günter Nooke (A) frühestens zwei Jahren zu rechnen. Dann hat unser Be- Wenn ich die Ernsthaftigkeit betrachte, mit der in der (C) schluss eine anschauliche Grundlage. An Anschaulich- Arbeitsgruppe und in den entsprechenden Institutionen keit mangelt es dem Projekt „Stadtschloss Berlin“ ja an der Zukunft des Berliner Stadtzentrums gearbeitet jetzt noch etwas. Mit Worten allein ist das Projekt offen- wurde und noch weiter gearbeitet werden wird, über- sichtlich nicht so leicht zu beflügeln. rascht mich immer wieder der Argwohn der Opposition. Ganz offensichtlich nimmt man dort noch immer an, die Ich komme zum Schluss: Dass es weitergeht, muss Bundesregierung werde den Beschluss des Hohen Hau- unser vordringliches gemeinsames Interesse sein. Unser ses zur Neugestaltung des Schlossplatzes torpedieren. Antrag bietet dazu die notwendigen Ansatzpunkte und Doch, meine sehr verehrten Damen und Herren, Sie irren ermöglicht es, eine breite, fraktionsübergreifende, bisher sich. Die Neugestaltung der Berliner Mitte ist und bleibt in der Sache positive Zusammenarbeit im Deutschen ein zentrales Ziel auf der baupolitischen Agenda der Bundestag fortzuführen. Bundesregierung. Es handelt sich für uns auch um ein (Beifall bei der CDU/CSU) kulturpolitisches Bekenntnis, das unumstößlich ist. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Ich wiederhole für den Kollegen Barthel meine Bot- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Günter schaft: Die positive Zusammenarbeit wünsche ich mir Nooke [CDU/CSU]: Woran liegt es?) weiter. Wir sollten uns die Situation ersparen, im Jahre 2004 – vielleicht wieder am 3. oder 4. Juli – hier sagen Es zwingt uns schlicht und ergreifend die Finanzdiszi- zu müssen: Wir haben auch im vergangenen Jahr nichts plin dazu, alle verfügbaren Kräfte zunächst und zumin- erreicht; wir stehen mit leeren Händen da. Vielmehr soll- dest parallel auf die Sanierung der Berliner Museums- ten wir die Zeit nutzen. Das ist das Anliegen unseres An- insel zu konzentrieren. Als Teil des UNESCO- trages. Weltkulturerbes genießt die Museumsinsel zu Recht oberste Priorität. Sie dürfen auch nicht vergessen, meine Danke schön. sehr verehrten Damen und Herren, dass es gerade diese (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Museumslandschaft ist, die wir durch die Neugestaltung neten der FDP) des Schlossplatzes inhaltlich wie architektonisch vollen- den wollen. Am Ort des zerstörten Hohenzollern-Schlos- ses soll das so oft beschriebene und klug konzipierte Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Humboldt-Forum entstehen, zu dem es keine ernsthafte Für die Bundesregierung hat jetzt das Wort die Staats- Alternative gibt; ministerin Christina Weiss. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des (B) BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (D) Dr. Christina Weiss, Staatsministerin beim Bundes- es sei denn, man provoziert einen Schlossbau um seiner kanzler: selbst willen. Das allerdings hat für mich mit einer nach- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist haltigen und wirkungsvollen Kulturpolitik, die Verant- richtig, auf den Tag genau vor einem Jahr hat die Bun- wortung auch für nachfolgende Generationen trägt, desregierung mein Haus gebeten, gemeinsam mit den nichts zu tun. Bundesministerien für Finanzen sowie für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen, dem Berliner Senat und den zu- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ künftigen Trägern eines Humboldt-Forums ein Nut- DIE GRÜNEN) zungs- und Finanzierungskonzept für den Berliner Erlauben Sie mir noch ein Wort zum Thema Verant- Schlossplatz zu erarbeiten. wortungsbewusstsein und Ernsthaftigkeit, mit denen sich die Bundesregierung der Wiedergewinnung der his- Die Arbeitsgruppe hat intensiv gearbeitet und ein torischen Mitte stellt. Verantwortungsbewusst- praktikables Raumkonzept und mehrere Finanzie- sein und Ernsthaftigkeit sind nämlich die Tugenden ei- rungskonzepte vorgelegt. ner modernen Kulturpolitik, die der Opposition Die Finanzierungsoptionen – Sie haben schon Recht, inzwischen wohl abhanden gekommen sind. Das merkt dass sich darin das Problem verbirgt – werden derzeit man, wenn der Kollege Nooke regelmäßig kommunisti- gewertet und gewichtet. Wir werden sie Ihnen, meine sche Morgenluft wittert, nur weil wir nicht sofort mit verehrten Damen und Herren, nach der Sommerpause dem Schleifen des Palastes der Republik beginnen. als Teil unseres Abschlussberichtes vorstellen. Niemand (Günter Nooke [CDU/CSU]: Das haben Sie sollte doch meinen, man könne einen 600 Millionen nicht nötig, Frau Staatsministerin! Das hat je- Euro teuren Stadtmittelpunkt einfach so über Nacht pla- mand aufgeschrieben!) nen. Wer es mit einem Projekt, das Generationen über- dauern soll, eilig hat, der meint es mit ihm schlicht nicht Sie schlottern regelrecht vor diesem Skelett, das doch ei- ernst. gentlich so harmlos ist. Aber auch Ihnen, Herr Nooke, kann geholfen werden. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Günter Nooke [CDU/CSU]: Ich habe positive Erinnerungen an den Palast der Republik, Mit einem wolkigen Luftschloss ist auch niemandem ge- wahrscheinlich als einer der wenigen in die- dient. sem Hause!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2003 4697

Staatsministerin Dr. Christina Weiss (A) Der Abschlussbericht, den Sie nach der Sommerpause Dr. Günter Rexrodt (FDP): (C) lesen können, wird nämlich – ganz gerecht – auch auf Herr Präsident, so weit sind wir noch nicht. Es geht die Möglichkeiten eingehen, wie der Palast der Republik um den Palast. beseitigt werden kann. Es gibt eine unheilige Allianz zwischen denen, die (Vorsitz: Vizepräsident Dr. Norbert Lammert) sich selbst zur kulturpolitischen Elite befördert haben, Allen Unkenrufen zum Trotz wird die Zukunft dieses und jenen, die aus verschiedenen politischen, antiroya- geschundenen Ortes im Herzen unserer Hauptstadt nicht listischen Überlegungen heraus den Aufbau eines Kubus durch die Bundesregierung bedroht, sondern eher durch mit der Fassade eines Schlosses nicht wollen. den Aktionismus von Grabenkämpfern. Ich glaube, wir sollten diesen Aktionismus beenden und gemeinsam auf (Horst Kubatschka [SPD]: Sind Sie Royalist?) die Zukunft des Schlossplatzes schauen und gemeinsam – Dieser Umkehrschluss ist nicht zulässig. Dagegen darum ringen, wie wir ihn für nachfolgende Generatio- brauche ich aber auch keine Verteidigung. nen am besten gestalten können. Diese unheilige Allianz hat noch nicht aufgegeben; (Zuruf von der CDU/CSU: Schauen hilft deshalb geht die Sache nicht voran. Ich bin äußerst be- nicht! Anpacken!) trübt darüber, dass es erst des Antrages der CDU/CSU Ich danke Ihnen. bedurfte, um überhaupt einmal etwas über den Fortgang zu erfahren. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Ich wünsche mir dringend, dass der Bundestag in den Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Haushalt für 2004 2 oder 2,5 Millionen Euro einstellt, Nächster Redner ist der Kollege Günter Rexrodt für die es möglich machen, die Planung dieses Kubus in die FDP-Fraktion. Angriff zu nehmen. Mit der Planung muss eine private Planungsgesellschaft beauftragt werden können. Ich Dr. Günter Rexrodt (FDP): wünsche mir die Beauftragung einer privaten Planungs- gesellschaft mehr als die Einschaltung der Bundesbaudi- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau rektion. Staatsministerin, auch ich bin damit einverstanden, dass wir hier keine Grabenkämpfe führen und nicht in Aktio- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie nismus verfallen. Sie haben allerdings für spätestens der Abg. Dr. Antje Vollmer [BÜNDNIS 90/ (B) Juni einen Bericht angekündigt, diesen dann aber nicht DIE GRÜNEN]) (D) vorgelegt und als Begründung angegeben, die Arbeits- gruppe arbeite ernsthaft. Obwohl Sie nicht zu Potte ge- Ich wünsche mir auch, dass der Bundestag in den kommen sind, darf man Ihnen nun nicht einmal vorwer- Haushalt 2004 Geld für den Abriss des Palastes der fen, dass es später wird. Das ist nicht zielführend. Republik einstellt, um endlich deutlich zu machen, dass er abgerissen wird. Der Palast der Republik – Frau (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Staatsministerin, niemand schlottert hier vor einem, wie Sie sprechen davon, dass bezogen auf den Wiederauf- Sie sagen, harmlosen Gerüst oder Gestell – ist über alle bau des Schlosses und den Abriss des Parlaments Aktio- Maßen unansehnlich, nismus festzustellen sei. (Renate Blank [CDU/CSU]: Er ist häßlich!) (Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD, der er ist ein häßliches Relikt aus den Zeiten der DDR. Es ist CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- ein Ausdruck der Unfähigkeit unseres Staates, dass man NEN und der FDP sowie der Abg. Dr. Gesine immer noch nicht mit diesem Relikt fertig geworden ist Lötzsch [fraktionslos] und der Abg. Petra Pau [fraktionslos]) und es beseitigt hat. Nachdem ich mir Ihre Formulierungen, die Sie sehr fein- Ich würde mir wünschen, dass wir die hohen Zuwen- sinnig vorgetragen haben, angehört habe, habe ich den dungen, die die Bundesregierung dem Land Berlin, dem starken Eindruck gewonnen, dass eine unheilige Allianz Senat macht, mit der Auflage verbinden, dass das Land noch nicht aufgegeben wurde. Berlin – Frau Kollegin, Sie haben das eben angespro- chen – endlich zu einer eindeutigen Aussage, was das Stadtschloss angeht, kommt. Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Herr Rexrodt, es ist gerade eine gewisse Unruhe ent- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten standen, da aufgrund eines Versprechers der Eindruck der CDU/CSU) entstanden ist, die FDP wolle das Parlament abreißen. Das Herummogeln des Berliner Senats um dieses Pro- Ich nehme an, dass es sich hierbei um ein Missverständ- blem ist nicht mehr erträglich. Es ist im Übrigen auch nis handelt, welches wir so nicht im Protokoll erscheinen ein Alibi dafür, dass sich die „unheilige Allianz“, die ich lassen sollten. hier eben zitiert habe, immer wieder auf den Weg macht, (Günter Nooke [CDU/CSU]: Ein halbes Jahr um am Ende doch noch eine Entwicklung zu verhindern, lang war das ein richtiges Parlament, Herr Prä- die der Bundestag vor einem Jahr dankenswerterweise sident!) mit überzeugender Mehrheit beschlossen hat. 4698 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2003

Dr. Günter Rexrodt (A) Ich wünsche mir sehr – als Parlamentarier sind wir dies zum Teil schon erfüllt – auch deswegen verstehe ich (C) aufgefordert, dies zu tun; ich tue es aber auch aus vollem den CDU/CSU-Antrag nicht –; es heißt nämlich in dem Herzen –, dass nicht mehr nur lange diskutiert wird, son- Bericht, dass durch die temporäre Nutzung keine Risi- dern dass endlich Taten zu sehen sind. Das ist wichtig, ken oder Kosten für die öffentliche Hand entstehen dür- um mit diesem Platz, mit der Mitte Berlins Schritte nach fen, dass es zu keinen Verzögerungen bei der weiteren vorne zu tun, die die Menschen in diesem Lande wün- Planung kommen darf und dass der Abriss des Palastes, schen und die dieses Land braucht. etwa durch eine Verfestigung der Nutzung, nicht infrage gestellt werden darf. Ich unterstreiche das; das ist auch Danke schön. meine Absicht. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Ich finde aber auch, dass man die Kirche im Dorf las- sen muss. Ich selbst lese mit großem Interesse die Be- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: richte in den Zeitungen über die ersten Besichtigungen Das Wort hat die Kollegin Dr. Antje Vollmer, Bünd- des Palastes der Republik und achte dabei auch auf die nis 90/Die Grünen. Tonlage. Ich sage Ihnen meine ganz persönliche Mei- nung: Ich empfinde dies als richtig deutsch. Die Deut- Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): schen mögen offensichtlich Stätten, die als leicht gruse- lig gelten. So gibt es auch schon alle möglichen Verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kol- Nutzungsvorschläge von der Hochzeit bis zur Wagner- legen! Der vorliegende Antrag der CDU/CSU scheint oper. mir eine fürsorgliche Belagerung der Bundesregierung an den Punkten, an denen sie schon längst katholisch ist (Horst Kubatschka [SPD]: Wo gruselt es einen zu sein. mehr?) (Günter Nooke [CDU/CSU]: Nicht alle! Es Dies erinnert mich an das Wort des französischen Philo- gibt welche, vereinzelt!) sophen Alain Badiou, man habe stets den Eindruck, das Wenigstens die wunderbare Opern-Entscheidung am Sein an sich spreche noch Deutsch. Er meint damit, dass gestrigen Tage sollte Sie, liebe Kolleginnen und Kolle- alles, was einen besonders tiefen Sinn hat, unserer Seele gen von der Opposition, doch überzeugt haben, dass die besonders nahe stehe. Wenn dies so ist, dann bin jeden- nachhaltigsten und entschlossensten Kämpfer für die falls ich bereit, das mit einiger Ironie und Großzügigkeit Mitte Berlins und für die Kulturpolitik Berlins gerade in zu ertragen, allerdings nur, solange die französische der Bundesregierung sitzen. In diesem Zusammenhang: Klarheit herrscht, die besagt, dass ein einmal gefasster Herzlichen Glückwunsch, Christina Weiss! Beschluss nicht mehr geändert wird. (B) (D) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Geld, das in der Berliner Kulturszene so knapp ist, und bei der SPD) soll nicht an falscher Stelle ausgegeben werden. Die Öf- fentlichkeit braucht ein Signal, in welche Richtung es Der Beschluss – über den auch ich mich sehr gefreut geht, und Gewissheit, dass wir diesen Platz vor allen habe –, der im letzten Jahr in freier Abstimmung der Ab- Dingen für kulturelle und öffentliche Zwecke nutzen geordneten mit großer Mehrheit gefasst wurde, war von wollen. Auch muss möglichst bald angefangen werden so eindeutiger Klarheit, dass niemand auch nur wagen können, für den Wiederaufbau des Stadtschlosses Geld kann, an diesem Beschluss zu rühren. Er wurde von der zu sammeln. Wir werden sehr bald nach der Sommer- Mehrheit dieses Parlamentes gefasst und ist damit bin- pause aktiv werden. Insoweit sind die Dinge diesmal dend für jede Bundesregierung. wirklich auf dem richtigen Weg und in den richtigen Wichtig ist auch, dass man mit diesem Beschluss so Händen. sorgfältig umgeht, dass die richtigen Signale an die Zi- Danke. vilgesellschaft ausgesendet werden, sodass zum Beispiel die Bereitschaft besteht, dafür auch Geld zu spenden. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Darum finde ich es richtig, dass wir sofort nach der und bei der SPD) Sommerpause den Bericht bekommen, in dem genau aufgezeigt werden soll, wie das Stadtschloss genutzt und Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: wie es finanziert werden soll. Ich möchte ausdrücklich Nächste Rednerin ist die Kollegin Vera Lengsfeld, meinen Wunsch unterstreichen, dass es öffentlich ge- CDU/CSU-Fraktion. nutzt wird. Wenn man eine so große Anstrengung unternimmt – in diesem Parlament und mit der Mobili- sierung von Geldern –, dann muss das einfach sein; et- Vera Lengsfeld (CDU/CSU): was anderes fände ich der Würde des Platzes nicht ent- Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle- sprechend. gen! Von der Gestaltung eines offenen Bürgerforums in der Mitte der Spreeinsel war in einem PDS-Antrag von (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN vor etwa einem Jahr die Rede. Dies war der klar erkenn- und bei der SPD sowie des Abg. Günter Nooke bare Versuch, den Beschluss des Bundestages zum Wie- [CDU/CSU]) deraufbau des zerstörten Berliner Stadtschlosses pole- Der Zwischenbericht der Arbeitsgruppe Schlossareal, misch zu unterlaufen. Bekanntlich unterlag die PDS der uns im Februar dieses Jahres gegeben wurde, hat damit; der Beschluss zur Wiedererrichtung des Stadt- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2003 4699

Vera Lengsfeld (A) schlosses ist in diesem Hause mit überwältigender Mehr- weise“? Das heißt, ein Erhalt des Palastes der Republik (C) heit getroffen worden. wäre das eigentliche Ziel des Vereins – zu erreichen über die Zwischennutzung –, das er aber aus politischen Trotzdem geht der Kampf weiter; denn bis heute gibt Gründen jetzt nicht so deutlich nennen will. es keine konkreten Schritte zur Umsetzung dieses Be- schlusses. Mittlerweile wird mehr davon geredet, was (Beifall bei der CDU/CSU) man mit der Ruine des Palastes der Republik anfangen könnte, als davon, wie man sie los wird, obwohl jede Die Zwischennutzung wird also von diesem gleichnami- Nutzung der Palastruine indirekt ein Unterlaufen der gen Verein als Chance begriffen, um – ich zitiere – be- Umsetzung des Bundestagsbeschlusses bedeutet. Zudem wusst Abschied zu nehmen von einem Gebäude, das wie kostet diese Zwischennutzung sehr viel Geld. Manche kein anderes für die DDR-Gesellschaft von zentraler Be- Schätzungen sprechen von 10 bis 16 Millionen Euro. deutung war und dessen unvermeidbare Asbestsanierung Der Verein für die Zwischennutzung des Palastes, der von vielen als symbolischer Akt eines kalten Abrisses sich im Mai dieses Jahres gegründet hat, nennt selbst angesehen wurde. – Das, liebe Frau Weiss, sind nun schamhaft 1,5 Millionen Euro, die nötig seien, um die wirklich Grabenkämpfe. Die werden nicht im Antrag der Ruine wieder in einen begehbaren Zustand zu versetzen. CDU/CSU geführt, sondern in Presseerklärungen wie Nach einer Pressemitteilung des Vereins sollen diese dieser. 1,5 Millionen Euro zunächst – ich betone das Wörtchen Deshalb ist es nicht vermessen, den Initiatoren zu un- „zunächst“ – aus privaten Mitteln aufgebracht werden. terstellen, dass es ihnen um Ostalgie geht, um eine Wer- Hier stellt sich sofort die Frage, was geschehen wird, bung für die Wiederherstellung des Palastes, um ihr wenn die Mittel nur zur Hälfte oder zu drei Vierteln pri- ewiggestriges Anliegen, die DDR nicht vergehen zu las- vat aufgebracht werden können. Sicherlich wird dann sen. wieder nach Bundesmitteln gerufen werden. (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE Immer wieder ist zu lesen, der so genannte Palast ver- GRÜNEN]: Die gibt es doch schon lange nicht diene eine Gnadenfrist. Was heißt denn Gnadenfrist, mehr!) liebe Kolleginnen und Kollegen? Es ist unstreitig, dass das Stadtschloss vor allen Dingen durch seine barocke Deshalb erwarte ich eine ganz klare Haltung der Bun- Erweiterung zu einer der kulturhistorisch bedeutendsten desregierung zur Umsetzung des Beschlusses des Parla- Residenzen Europas wurde. Der Palast der Republik, der mentes. Ich denke, es wäre eine tolle Sache, wenn wir in den 70er-Jahren auf dem Grund des abgerissenen am 3. Oktober 2010 – passend zur Agenda des Kanz- Stadtschlosses errichtet worden war, war niemals ein Pa- lers – gemeinsam die Schlosseröffnung feiern könnten. (B) last des Volkes. Er war beim Volk in etwa so beliebt wie (Horst Kubatschka [SPD]: Wann?) (D) die DDR-Regierung. Er wurde allerdings zum Symbol für all jene, die sich mit dem ruhmlosen Verschwinden – 2010. Ich sagte: Passend zur Agenda Ihres Kanzlers der DDR niemals abfinden konnten und mithilfe des Pa- sollten wir gemeinsam die Schlosseröffnung feiern und lastes der Republik ihre ewig gestrigen Grabenkämpfe damit einen symbolischen Schlussstrich unter die DDR- weiterführen wollen. Nostalgie setzen. Frau Staatsministerin Weiss, Sie haben vorhin die Vielen Dank. Grabenkämpfe beklagt. Ich weise Sie auf eine Presse- (Beifall bei der CDU/CSU) erklärung des Vereins „Zwischennutzung“ hin, dem Sie laut Internet ebenfalls angehören sollen. Ich persönlich empfinde es als sehr problematisch, wenn Sie einen Par- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: lamentsbeschluss durchsetzen sollen und gleichzeitig ei- Ich erteile dem Kollegen Eckardt Barthel, SPD-Frak- ner Bürgerinitiative angehören, die sich für eine Zwi- tion, das Wort. schennutzung stark macht. Das ist ein Interessenkonflikt, dem ich mich, wenn ich Kulturstaatsministerin wäre, (Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- nicht aussetzen würde. NEN]: Jetzt, bitte schön, ein gutes Schluss- wort!) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Widerspruch bei der SPD und dem BÜND- Eckhardt Barthel (Berlin) (SPD): NIS 90/DIE GRÜNEN) Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Auch ich – Ich hätte mich auch unhöflicher ausdrücken können. würde gern höflich sein. Aber bei dem letzten Beitrag Ich wollte einfach nett sein hatte ich das Gefühl: Ich bin im falschen Film. (Horst Kubatschka [SPD]: Oh!) (Jörg Tauss [SPD]: Das hatten wir auch!) und nett das rüberbringen, was eigentlich eine skanda- Denn es geht hier nicht darum, den Palast der Republik löse Tatsache ist. wieder aufzubauen. Soviel ich weiß, geht die Debatte da- rum, was mit dem Schloss geschehen soll bzw. wann es In dieser Pressemitteilung des Vereins „Zwischennut- wieder aufgebaut werden soll. zung“ steht zu lesen, dass eine Zwischennutzung nicht notwendigerweise den Erhalt des Palastes der Republik (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten zum Ziele habe. Was heißt denn „nicht notwendiger- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) 4700 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2003

Eckhardt Barthel (Berlin) (A) Es ist inzwischen eine wirklich nervende Geisterdis- nicht wissen! – Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk (C) kussion darüber im Gange, ob eine Zwischennutzung [SPD]: Vielleicht vom Geheimdienst! – Ge- richtig oder falsch ist. Eine solche wird es kaum geben. genruf der Abg. Vera Lengsfeld [CDU/CSU]: Denn das kann keiner bezahlen; so simpel ist die Ge- Das ist eine Fragestellung! Es geht um Trans- schichte. Im vorliegenden Antrag wird gefordert, dass es parenz in der Politik! – Dr. Sigrid Skarpelis- keine ideelle Unterstützung seitens der Bundesregierung Sperk [SPD]: Das ist eine Zumutung! Sie kön- geben soll. Ich stelle mir einmal vor, im Palast der Repu- nen sie ja direkt fragen!) blik fände eine Veranstaltung statt und Frau Weiss würde sich eine Eintrittskarte kaufen und in den Palast hinein- Eckhardt Barthel (Berlin) (SPD): gehen. Ist das dann eine ideelle oder gar materielle Un- Herr Rexrodt, ich gestehe, dass ich gar nicht alle Ver- terstützung der Bundesregierung im Hinblick auf eine eine kenne, denen ich angehöre. Erst recht weiß ich Zwischennutzung? nicht, in welchen Vereinen die Staatsministerin ist. Ich (Günter Nooke [CDU/CSU]: Wir sind ein mache Ihnen einen einfachen Vorschlag: Fragen Sie sie freies Land!) nachher selbst. Ich finde das alles sehr merkwürdig. Diejenigen, die (Heiterkeit und Beifall bei der SPD und dem sich immer auf die Expertenkommission berufen, ver- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) gessen an diesem Punkt die Aussage der Expertenkom- Wir sind ja gleich fertig. Vielleicht kriegen wir das dann mission. Denn gerade die Expertenkommission hatte den noch heraus. Vorschlag einer Zwischennutzung gemacht, und zwar mit der Bedingung – die Bundesregierung hat sie aufge- (Zurufe von der CDU/CSU und der FDP) nommen –, dass es keine Verfestigung der Nutzung ge- – Ich finde das jetzt wirklich ein bisschen kleinkariert. ben darf und dass keine Mittel hineingesteckt werden dürfen. Trotzdem immer wieder diese Mühle der Zwi- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ schennutzung! Ich begreife es nicht. Aber vielleicht ist DIE GRÜNEN) das auch der leichteste Teil des gesamten Problems. Wir reden über ein Projekt, das vielleicht 700 oder (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten 800 Millionen Euro kosten wird, und Sie fragen nach der des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Mitgliedschaft der Staatsministerin in einer Initiative. Was ist eigentlich der Kern dessen, worüber wir spre- (Günter Nooke [CDU/CSU]: Vielleicht sollte chen? die Staatsministerin ihre ganze Kraft dafür ein- setzen und nicht auf anderen Hochzeiten tan- (B) (D) (Michael Kretschmer [CDU/CSU]: Das hätten zen!) Sie sich vorher überlegen können!) – Wenn Sie mir jetzt die Chance gäben, weiterzureden, – Danke! – Sie fordern ja einen zügigen Wiederaufbau wäre ich Ihnen sehr dankbar. des Stadtschlosses. Ich nenne drei Punkte, die den Rah- men dieser Diskussion bilden, und zwar zunächst unse- Um die augenblickliche Situation richtig ermessen zu ren Beschluss. Ich wiederhole ihn nicht; ich lege nur können, sollte man sich noch einmal die Eckpunkte vor Wert darauf, ihn im Rahmen dessen, was ich vorschla- Augen halten. gen möchte, zu erwähnen. Der erste Eckpunkt ist unser Beschluss. Er steht. Das sage ich ganz bewusst, auch angesichts dessen, was ich Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: noch sagen werde. Herr Kollege Barthel, darf der Kollege Rexrodt eine Zweitens. Der Schlossplatz ist potthässlich. Er schreit Zwischenfrage stellen? nach Veränderung und nach Gestaltung. (Beifall bei der SPD) Eckhardt Barthel (Berlin) (SPD): Natürlich. Drittens. Nach meiner Wertung – ich bin sicher, Sie teilen diese Meinung – haben wir ein grandioses Nut- zungskonzept für dieses Schloss. Dr. Günter Rexrodt (FDP): (Beifall der Abg. Monika Griefahn [SPD]) Herr Kollege Barthel, Ihre Ausführungen zur Zwi- schennutzung veranlassen mich zu der Frage an Sie als Jetzt beginnt mein Problem, Herr Nooke. Das Konzept Mitglied einer Fraktion, die die Regierungskoalition geht von 80 Prozent öffentlicher Nutzung aus. Sie sagen trägt, ob Sie bestätigen können, was die Kollegin jetzt leichtfertig, Sie wollten es zwar nicht, aber es könn- Lengsfeld eben geäußert hat: dass die Staatsministerin ten auch 20 Prozent öffentliche Nutzung sein. Weiss Mitglied einer Initiative sei, die sich für die Zwi- (Günter Nooke [CDU/CSU]: Das ist eine Un- schennutzung des Palastes der Republik einsetzt. Dies terstellung!) möchte ich gerne von Ihnen bestätigt oder dementiert ha- ben, wenn Sie das können. Um Gottes willen! Dann lieber nichts dorthin bauen. (Horst Kubatschka [SPD]: Woher soll der das Was gehört zum Nutzungskonzept? Die außereuropäi- denn wissen? Das kann doch Herr Barthel sche Sammlung aus Dahlem, die wissenschaftliche Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2003 4701

Eckhardt Barthel (Berlin) (A) Sammlung Humboldt und Teile der Stadtbibliothek soll- Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk [SPD]: Das sind die (C) ten dort hinein. Das ist eine sinnvolle Nutzung. Subventionsabbauer!) (Beifall bei der SPD) Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Das ist nur möglich, wenn mindestens 80 Prozent des Gebäudes öffentlich genutzt werden. Ich erteile das Wort der Kollegin Petra Pau.

Ich glaube, wir müssen einen vierten Eckpunkt for- Petra Pau (fraktionslos): mulieren. Wir haben heute Morgen alle die Regierungs- erklärung und die Debatte zur finanziellen Situation un- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es seres Landes gehört. Jetzt erlaube ich mir, einen ganz ist richtig: Vor Jahresfrist hat der Bundestag beschlos- persönlichen Vorschlag zu machen. In Anbetracht der fi- sen, den Berliner Schlossplatz neu zu gestalten, den Pa- nanziellen Situation dieses Landes und dieser Stadt soll- last der Republik abzureißen und eine Schlossattrappe ten wir – obwohl der Bau des Schlosses zulasten des aufzubauen. Die PDS war dagegen; das wurde heute Bundes gehen wird – ehrlich sagen: Wir verschieben schon gewürdigt. Ich hatte für mein Nein politische, dieses Projekt, städtebauliche, historische, ökonomische und demokrati- sche Gründe und ich habe sie mehr denn je. Die Debatte (Zuruf von der CDU/CSU: Aha!) vom Vorjahr ist nachlesbar, wir müssen sie heute hier bis wir ein Finanzierungskonzept entwickeln können, nicht wiederholen. (Günter Nooke [CDU/CSU]: Wir haben doch (Renate Blank [CDU/CSU]: Ihr wollt wieder einen Vorschlag gemacht!) zurück!) das dem Nutzungskonzept entspricht. Als Berlinerin wiederhole ich: Der Schlossplatz ist alles andere als ein werbendes Kleinod unserer Stadt. Er ist ein (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ totes Areal, und das schon seit 13 Jahren. Deshalb hat die DIE GRÜNEN sowie der Abg. Dr. Gesine PDS vorgeschlagen, den Platz mit Zwischennutzungen zu Lötzsch [fraktionslos] – Günter Nooke [CDU/ beleben, die anziehend und gefragt sind. Vor einer Wo- CSU]: Frau Vollmer hat etwas anderes gesagt!) che zog Beachvolleyball Tausende auf den Platz. In den – Das ist meine persönliche Meinung. Das wäre Ehrlich- nächsten Tagen wird die Aktion „Schaustelle Berlin“ keit. Das wäre Klarheit. Sie können dagegen sein. Ge- wiederum Tausende anziehen. Der asbestsanierte Palast statten Sie mir eine eigene Meinung! Vielleicht ist Ihnen kann von innen besichtigt werden. Das ist gut und das so etwas fremd. klappt nur, weil es Ideen und Initiativen gibt. (B) (D) (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Dr. Günter [fraktionslos]) Rexrodt [FDP]: Empfindlich ist er!) Damit Sie nicht noch eine Zwischenfrage stellen, ge- Ich bitte Sie wirklich, sich zu überlegen, ob das nicht stehe ich: Ich habe für ganze 5 Euro schon eine Eintritts- eine Möglichkeit wäre. karte erworben und werde mir morgen um 16 Uhr den Palast ansehen. Die erste Führung ist schon seit drei Wo- (Günter Nooke [CDU/CSU]: Wie lange? – chen ausverkauft. Dr. Günter Rexrodt [FDP]: Das ist doch euer Traum!) (Dr. Günter Rexrodt [FDP]: Sie kennen den doch schon, Frau Pau! Das ist doch gar nicht Aber auch dazu gehörte erstens eine Schleifung des Pa- nötig! – Gegenruf des Abg. Horst Kubatschka lastes der Republik – so schnell wie möglich – und zwei- [SPD]: Herr Nooke kennt ihn auch!) tens eine Gestaltung dieses Areals; ich könnte mir eine gärtnerische Gestaltung gut vorstellen. Damit bin ich beim Antrag der CDU/CSU. In diesem Antrag wird gefordert, jede finanzielle wie ideelle di- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ rekte und indirekte Unterstützung einer Nutzung des Pa- DIE GRÜNEN) lastes der Republik abzulehnen. Dann können wir – ohne unseren Beschluss infrage zu (Dr. Günter Rexrodt [FDP]: Nachtigall, ick hör stellen – die Zeit nutzen. dir trapsen!) Wir sollten der nächsten Generation vielleicht nicht Im Klartext: Sie fordern, dass der Bundestag jedwede nur – das betonen Sie ja immer – große Schulden, son- Initiative ablehnen soll, die dazu führen könnte, dass der dern auch eine Aufgabe übertragen, die zu lösen wir zur- Palast zwischengenutzt und der Platz belebt wird. Frau zeit aus finanziellen Gründen nicht in der Lage sind. Merkel, Herr Nooke, Frau Lengsfeld, ich finde, so viel Ich danke Ihnen. Kalk und Berlin-Ferne wurden selten zu Papier gebracht. (Beifall bei der SPD – Dr. Günter Rexrodt (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [fraktions- [FDP]: Kleinkariert! – Horst Kubatschka [SPD]: los] und bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ 700 Millionen Euro sind für Sie kleinkariert? – DIE GRÜNEN – Vera Lengsfeld [CDU/CSU]: Jörg Tauss [SPD]: Das bei 35 Prozent Steuern! Ach Gott, es gibt auch noch ein anderes als das Das ist nicht kleinkariert, das ist unseriös! – PDS-Berlin!) 4702 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2003

Petra Pau (A) Deshalb verspreche ich Ihnen in Anlehnung an eine ost- Ich erlaube mir allerdings, die Vorschläge der Kommis- (C) bekannte Satire: Am Ende des Sommers wird es heißen: sion sehr ernst zu nehmen, und ich habe immer die Posi- „Die Berliner lächelten sehr finster“, zumal es inzwi- tion vertreten: Wenn in der Zwischenzeit eine gute privat schen über 200 Ideen und Anträge gibt, den Palastroh- finanzierte Zwischennutzung des Palastes möglich ist, bau zu nutzen. werde ich sie unterstützen. Wenn es diese Möglichkeit nicht gibt, richte ich mich nach der Realität. (Vera Lengsfeld [CDU/CSU]: Wie viel davon sind von ehemaligen Palastmitarbeitern?) Vielen Dank. Dass garantiert nicht nur DDR-Nostalgiker an einer Zwi- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ schennutzung interessiert sind, zeigt mir meine Post- DIE GRÜNEN – Dr. Günter Rexrodt [FDP]: mappe, denn merkwürdigerweise kommen die Interes- Das war doch sehr aufschlussreich!) senten aus den westlichen Bundesländern und aus der Architektenkammer, ehemals Westberlin. Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Zum Schluss noch zum großen Thema Geld. Die Frau Staatsministerin, ich vermute, dass die Offenle- Schlossfans haben immer wieder behauptet, das Finanz- gung Ihrer für Parlamentarier völlig untypisch niedrigen problem sei ihr kleinstes Problem. Warum also belästi- Zahl von Vereinsmitgliedschaften Ihnen eine Flut von gen Sie heute den Bundestag mit Kleinkram, anstatt sich Zuschriften mit entsprechenden Angeboten einbringen dafür zu engagieren, dass nicht noch mehr Kulturein- wird. richtungen gefährdet werden, (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU so- (Renate Blank [CDU/CSU]: Der Palast der wie bei Abgeordneten der SPD – Monika Republik ist also eine Kultureinrichtung!) Griefahn [SPD]: Das hängt damit zusammen, dass sie kein Amt hat!) weil den Ländern und Kommunen bundesweit immer Ich schließe die Aussprache. mehr Gelder entzogen werden? Sagen Sie mir bitte nicht, die allgemeine Finanznot hätte allein Rot-Grün Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf verschuldet. Vor einem Jahr zog die CDU/CSU durchs Drucksache 15/1094 an die in der Tagesordnung aufge- Land und forderte: Die Steuern müssen runter. – SPD führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit und Grüne sagten „Aber“ und fragten besorgt, wodurch einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überwei- denn die Ausfälle im Staatssäckel kompensiert werden sung so beschlossen. sollen. Nun hat Rot-Grün das Gleiche beschlossen und Ich rufe die Tagesordnungspunkte 11 a bis 11 d sowie (B) Sie fragen, wie es kompensiert werden soll. Dieses Wirr- (D) warr herrscht also bei Rot-Grün genauso wie bei Ihnen. die Zusatzpunkte 4 und 5 auf: Und unisono weichen Sie unserer Frage aus, nämlich der 11 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Frage nach gerechten Steuern – ganz wie Kaiser Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk, Doris Barnett, Uwe Wilhelm weiland im Stadtschloss. Beckmeyer, weiterer Abgeordneter und der Frak- tion der SPD sowie der Abgeordneten Michaele (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [frakti- Hustedt, Volker Beck (Köln), Ulrike Höfken, onslos] – Dr. Günter Rexrodt [FDP]: Wie ist weiterer Abgeordneter und der Fraktion des das denn nun mit dem Stadtschloss?) BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Sicherung eines fairen und nachhaltigen Han- dels durch eine umfassende entwicklungsori- Zum Schluss dieses Tagesordnungspunktes erteile ich entierte Welthandelsrunde der Staatsministerin das Wort zu einer Erklärung zur Aussprache. – Drucksache 15/1317 – (Dr. Günter Rexrodt [FDP]: Na siehste, dann b) Beratung des Antrags der Abgeordnten Erich G. haben wir doch Klarheit!) Fritz, Karl-Josef Laumann, Dagmar Wöhrl, wei- terer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/ CSU Dr. Christina Weiss, Staatsministerin beim Bundes- kanzler: Für ein höheres Liberalisierungsniveau beim Welthandel mit Dienstleistungen – GATS-Ver- Herr Nooke! Frau Lengsfeld! Meine Damen und Her- handlungen zügig voranbringen ren! Ich kann Ihnen mitteilen, dass ich außer in einem einzigen Kunstverein und in einem einzigen Literatur- – Drucksache 15/1008 – hausverein in keinem anderen Verein Mitglied bin. Viel- Überweisungsvorschlag: leicht beruhigt Sie das in Bezug auf die politische Sau- Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f) berkeit. Auswärtiger Ausschuss Innenausschuss (Horst Kubatschka [SPD]: Herr Rexrodt hat Rechtsausschuss deswegen graue Haare gekriegt! – Gegenruf Finanzausschuss Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und des Abg. Dr. Günter Rexrodt [FDP]: Die Landwirtschaft grauen Haare haben Sie!) Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2003 4703

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert (A) Ausschuss für Bildung, Forschung und Überweisungsvorschlag: (C) Technikfolgenabschätzung Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f) Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Auswärtiger Ausschuss Entwicklung Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Ausschuss für Tourismus Landwirtschaft Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Ausschuss für Kultur und Medien Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Katherina Reiche, Thomas Rachel, Günter Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für Nooke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion die Aussprache 45 Minuten vorgesehen. – Dazu höre ich der CDU/CSU keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Qualitätssicherung im Bildungswesen und kul- Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der turelle Vielfalt bei GATS-Verhandlungen ga- Kollegin Dr. Skarpelis-Sperk, SPD-Fraktion. rantieren – Drucksache 15/1095 – Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk (SPD): Überweisungsvorschlag: Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ausschuss für Bildung, Forschung und Meine sehr geehrten Damen und Herren! Mit dem vor- Technikfolgenabschätzung (f) liegenden Antrag der Koalitionsfraktionen geben wir Rechtsausschuss Bundesregierung und EU-Kommission klare Richtlinien Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit für die laufende Welthandelsrunde und die GATS-Ver- Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und handlungen an die Hand. Landwirtschaft Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Dies ist umso wichtiger, weil sich die Weltwirtschaft Ausschuss für Kultur und Medien und das Welthandelssystem in einer kritischen Situation befinden: Seit der deutlichen Abschwächung der Welt- d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Gudrun wirtschaft vor drei Jahren ist es immer noch nicht zu ei- Kopp, Rainer Brüderle, Dirk Niebel, weiterer Ab- ner dauerhaften Erholung gekommen; auch der Ausblick geordneter und der Fraktion der FDP auf das kommende Jahr ist nicht sonderlich rosig. Eine Internationale Rechtssicherheit und transpa- stagnierende Weltwirtschaft mit schwachem Wachstum rente Regeln für den Dienstleistungshandel – und steigenden Arbeitslosenzahlen in der Europäischen GATS-Verhandlungen voranbringen Union und den USA macht es den Industrienationen schwer, substanzielle und schnell wirksame Handelszu- (B) – Drucksache 15/1010 – geständnisse zu machen und zügig umzusetzen. Damit (D) Überweisungsvorschlag: entwickelt sich eine Vertrauenskrise zwischen den gro- Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f) ßen WTO-Mitgliedern und den Entwicklungsländern, Auswärtiger Ausschuss Innenausschuss die auf die Erfüllung des Versprechens von Doha po- Rechtsausschuss chen, eine Entwicklungsrunde zu machen. Finanzausschuss Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Zur gleichen Zeit wird die Glaubwürdigkeit und Legiti- Landwirtschaft mität des Welthandelssystems in Zweifel gestellt. Für große Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Teile der Öffentlichkeit bleibt fraglich, ob das derzeitige Ausschuss für Bildung, Forschung und System tatsächlich zu mehr nachhaltigem Wachstum, höhe- Technikfolgenabschätzung Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und rem Lebensstandard, besseren Arbeitsbedingungen, besse- Entwicklung rem Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen und einer Ausschuss für Tourismus entscheidenden Reduzierung der Armut führt. Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Ausschuss für Kultur und Medien Für Deutschlands Wirtschaft und seine Arbeitsplätze ist die Entwicklung des Welthandels von zentraler Be- ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Erich G. deutung; schließlich sind wir Vizeweltmeister im Ex- Fritz, Karl-Josef Laumann, Dagmar Wöhrl, wei- port. Wir müssen aber auch erkennen, dass eine befriedi- terer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/ gende und stabile Aufwärtsentwicklung nicht allein in CSU der Zunahme des Handelsvolumens, sondern auch in WTO-Doha-Runde zum Erfolg führen – Vor- dessen gleichgewichtiger Entwicklung besteht. Gerade aussetzungen schaffen für eine erfolgreiche im Kontext eines sich stets verlangsamenden weltweiten WTO-Ministerkonferenz in Cancun/Mexico Wachstums müssen wir erkennen, dass lange Zeit beste- hende hohe Handelsbilanzdefizite, aber auch -über- – Drucksache 15/1323 – schüsse früher oder später auf den weltweiten Wäh- ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Gudrun rungs- und Finanzmärkten Ungleichgewichte und zum Kopp, Rainer Brüderle, Hans-Michael Goldmann, Teil nicht unerhebliche Finanzkrisen hervorrufen. weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP (Jörg Tauss [SPD]: Das ist wahr!) Mehr Wohlstand für alle durch mutige Markt- Diese Finanzkrisen haben häufig nicht nur negative öffnung ökonomische Auswirkungen in den betroffenen Staaten – Drucksache 15/1333 – und Regionen, sondern führen zunehmend zu mehr 4704 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2003

Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk (A) Armut und Verelendung von Hunderten von Millionen Wenn wir ein faires und für kleinere und ärmere Län- (C) Menschen. Der Handel und seine Liberalisierung bringt der umsetzbares Handelssystem wollen, dann müssen gewiss Wohlstandsgewinne, dies aber, wie UNCTAD- wir auch darauf achten, dass administrative Vorschrif- Studien zeigen, nicht automatisch und nicht in allen Län- ten für sie tragbar und umsetzbar sind. Wenn wir in un- dern. Es bedarf mehr, damit der Handel eine Erfolgs- seren Ländern von einem „small business act“ sprechen, story für viele wird. dann müssen wir uns auch überlegen, ob wir in der Welt- handelsorganisation nicht so etwas wie eine „small and (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ poor countries clause“ brauchen, sozusagen eine „WTO DIE GRÜNEN) light“, damit diese Länder die Vorschriften auch wirklich Auf dem Weltgipfel für nachhaltige Entwicklung in handhaben können. Johannesburg wurde überzeugend aufgezeigt, dass Han- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ del ohne Zweifel eine wichtige Säule der Entwicklung DIE GRÜNEN) ist, aber nur dann, wenn gleichzeitig und gleichrangig ein umfassender Schuldenerlass, die Sicherung ange- Viertens. Wir brauchen eine WTO-Reform an Haupt messener Beschäftigung einschließlich der grundlegen- und Gliedern, um die Organisation wieder politisch und den Arbeits- und Sozialrechte, die Verwirklichung von sozial hoffähig zu machen. Wenn die WTO in ihrem Ver- Demokratie und Menschenrechten, die Armutsbekämp- handlungsprozess nicht möglichst offen, transparent und fung und die Sicherung der natürlichen Lebensgrundla- partizipativ agiert und mit den anderen UNO-Organisati- gen angestrebt und schrittweise erreicht werden. onen kooperiert, dann wird sie nicht erfolgreich sein können. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Wer diese Zusammenhänge nicht sieht, wird mit Han- delspolitik pur scheitern. Was wir im Vorfeld bei den letzten Verhandlungen auch im Zusammenhang mit GATS als Parlamente erlebt ha- Das Welthandelssystem ist verwundbarer, als wir häu- ben, von den Gewerkschaften, den Nichtregierungsorga- fig glauben. Das haben uns nicht nur die Ereignisse vom nisationen und der breiten Öffentlichkeit einmal ganz zu 11. September und der Irakkrieg gezeigt, sondern auch schweigen, das geht auf keine Kuhhaut. Geheimdiplo- die schädlichen Auswirkungen von letztlich kleinen Epi- matie des 19. Jahrhunderts ist in einer modernen Mas- demien wie SARS. Deswegen müssen wir, wenn wir vor, sendemokratie des 21. Jahrhunderts fehl am Platze. Das während und nach der Konferenz in Cancun verhandeln, müssen sich die WTO, die EU-Kommission und unsere (B) unsere Prioritäten für eine erfolgreiche Handels- und Beamten endlich einmal hinter die Ohren schreiben. (D) Entwicklungspolitik deutlich machen: (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Erstens. Jede Maßnahme in der WTO muss zu mehr DIE GRÜNEN – Zuruf von der CDU/CSU: nachhaltigem Wachstum, weniger Armut, mehr Wohl- Wieso haben wir dann eine öffentliche Anhö- stand und vor allem zu mehr Arbeitsplätzen, möglichst rung?) regional gleichgewichtig verteilt, führen. – Das Parlament muss sich das nicht hinter die Ohren (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ schreiben. DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Zweitens. Jede Ausweitung des multilateralen Welt- DIE GRÜNEN) handelssystems muss sich als Bestandteil einer kohären- Wir haben versucht, diesen Prozess klarzustellen und ten Politik verstehen, die internationale Konventionen durchzusetzen und wir haben zum ersten Mal in der Par- und Verträge, die Ziele der UN-Organisationen wie lamentsgeschichte einen Parlamentsvorbehalt zu Außen- UNEP, UNCTAD oder ILO – zum Beispiel beim Klima- wirtschaftsverhandlungen eingelegt, um genau dies zu und Umweltschutz, bei den Menschenrechten sowie bei sichern. Arbeits- und Sozialrechten – nicht nur selbstverständlich akzeptiert, sondern diese in ihren Streitschlichtungsver- (Beifall der Abg. Monika Griefahn [SPD]) fahren auch respektiert. Fünftens. Wir wollen bei GATS volle Flexibilität ge- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ sichert wissen, weil es hierbei nicht nur um wirtschafts- DIE GRÜNEN) nahe Dienstleistungen geht, sondern um den ganzen Be- reich von Bildung, Kultur, Gesundheitswesen und um Drittens. Die WTO muss wirklich multilateral sein viele andere Dinge, über die unsere Kolleginnen und und von den kleineren und ärmeren Ländern auch als Kollegen noch sprechen werden. Schutzschild gegenüber der Übermacht und – auch das sage ich – dem politischen Übermut großer Handels- (Beifall bei der SPD) mächte dienen. Wir wollen, dass künftige deutsche Parlamente Entschei- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ dungen auch wieder rückgängig machen können, weil DIE GRÜNEN) ein demokratisch beschlossener Sozialvertrag auf Zeit, wie nationale Gesetze nun einmal sind, nicht durch einen Das war in der Vergangenheit nicht immer der Fall. faktisch nicht mehr revidierbaren internationalen Ver- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2003 4705

Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk (A) trag, wie es GATS ist, abgelöst werden soll. Ich sage Leider gibt es in Ihrem wunderschönen weitschweifen- (C) nachdrücklich: Wir dürfen künftige Parlamente nicht den Antrag eine Reihe von Formulierungen, die genau politisch entmündigen und in ihrer Souveränität be- dieses Geschäft mit betreiben bzw. nach vorne bringen. grenzen. Das ist unsere Aufgabe. Darauf müssen wir In Cancun soll beispielsweise eine Entscheidung über achten, und zwar auch beim GATS und auch gegenüber zukünftige WTO-Themen von vornherein verhindert der EU-Kommission. werden. Wir halten das für grundsätzlich falsch. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Wir müssen nicht nur die Dienstleistungsmärkte öff- DIE GRÜNEN) nen. Natürlich müssen wir auch die Agrarverhandlungen weiterbringen und bei den Zöllen weiterkommen. Es Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: müssen aber auch neue Themen her. Ich nenne nur Han- del und Investitionen sowie Handelsvereinfachungen. Nächster Redner ist der Kollege Dr. Michael Fuchs, Wir können nicht einfach darüber hinweggehen; denn CDU/CSU-Fraktion. diese Themen werden uns in der Zukunft beschäftigen. Im Wesentlichen geht es dabei auch um Entbürokratisie- Dr. Michael Fuchs (CDU/CSU): rung und Deregulierung. Das jedoch sind Felder, auf de- Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen! Liebe nen Rot-Grün sowohl national als auch international Kollegen! Der heutigen Debatte liegen vier Anträge zu- keine besonders gute Rolle spielt. grunde, davon drei von der Opposition. Daran sehen Sie, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dr. Sigrid wie fleißig wir sind. In allen Anträgen geht es darum, Skarpelis-Sperk [SPD]: Unsinn!) dass wir an dem globalen Welthandel weiterarbeiten, dass wir die Welthandelsrunden endlich zum Abschluss Die CDU/CSU-Fraktion fordert die Regierung auf, bringen. die europäische Verhandlungsposition bezüglich einer Abstimmung über neue Themen zu verändern. Wir wol- Dabei ärgert es mich, dass durch falsche Behauptun- len diese neuen Themen und wir wollen nicht erst war- gen, durch falsche Darstellungen von Fakten immer wie- ten, bis die nächsten Runden vorbei sind. der Ängste geschürt werden. (Jörg Tauss [SPD]: Was sind die neuen (Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk [SPD]: Welche Themen?) denn?) Die EU befindet sich nach dem Agrarkompromiss Frau Skarpelis-Sperk, Sie haben gerade ein Beispiel da- von Luxemburg endlich auf einem besseren – wenn auch für gegeben, wie man das tun kann. noch nicht immer richtigen – Weg. Trotz der französi- (B) (Jörg Tauss [SPD]: Sie sind eine falsche schen Totalverweigerung gab es in Luxemburg einen (D) Tatsache!) Kompromiss, den wir begrüßen. Es ist notwendig, dass den Entwicklungsländern gerade auf diesem Sektor ge- – Herr Tauss, ich erkläre es Ihnen ja. Wenn Sie zuhören, holfen wird. Ich hoffe – hier sind wir sicherlich einer dann werden Sie einiges lernen. Meinung –, dass wir das gemeinsam so sehen. (Jörg Tauss [SPD]: Ich bin neugierig!) Lassen Sie mich zum Inhalt der GATS-Liberalisie- Bei der ganzen Debatte wird immer wieder behauptet, rung nur ganz kurz das Wichtigste sagen. Cancun muss dass die öffentliche Daseinsvorsorge liberalisiert wer- in dieser Welthandelsrunde in allen Bereichen, ob das den soll. Das aber ist, wie wir wissen, überhaupt kein GATS, TRIPS oder GATT ist, so zügig wie möglich wei- Thema und davon steht auch in den gesamten Papieren tergeführt werden. Es darf keine Handelsbehinderungen nichts. geben. Ich erinnere noch einmal an den Krimi von Lu- xemburg. (Beifall der Abg. Gudrun Kopp [FDP] – Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk [SPD]: Das haben (Beifall der Abg. Gudrun Kopp [FDP]) wir ja ausgeschlossen durch unsere Be- Der internationale Dienstleistungshandel besitzt schlüsse!) eine immense Bedeutung für die WTO. Zugleich ist dies Wenn wir bei GATS diesen Bereich ausklammern – er ist auch der Bereich, der zu Unrecht die größten Sorgen in sauber ausgeklammert –, dann haben wir den NGOs im der Bevölkerung hervorruft. Prinzip den Wind aus den Segeln genommen. Wir sollten (Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk [SPD]: Aber nicht hier in diesem Hohen Hause nicht ständig darüber disku- zu Unrecht!) tieren, weil wir die Leute dadurch nur verunsichern. Dagegen sollten wir gemeinsam vorgehen. Hier besteht (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) ein Bedarf an Aufklärung. Wir alle sind aufgefordert – das ist auch meine Bitte an (Beifall der Abg. Gudrun Kopp [FDP]) Sie –, das Geschäft mit der Angst, welches Gruppen wie VENRO, Attac und leider auch der DGB immer wieder Für die Konsumenten bringt die Liberalisierung der betreiben, zu ignorieren und eine intensive Öffentlich- Dienstleistungen nämlich jede Menge: mehr Wahlmög- keitsarbeit dafür zu betreiben, dass genau das zukünftig lichkeiten, bessere Preise und höhere Qualität. nicht mehr läuft. (Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk [SPD]: Und wel- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) che Arbeits- und Sozialbedingungen?) 4706 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2003

Dr. Michael Fuchs (A) – Frau Skarpelis-Sperk, die Dienstleistungen sind zudem wird bei GATS ausdrücklich ausgeklammert und liegt (C) ausgesprochen arbeitsintensiv und eine wichtige Quelle nach wie vor in der nationalen Hoheit der Parlamente. für zukünftige Arbeitsplätze. Fragen Sie Ihre Kollegin Frau Skarpelis-Sperk! Sie wird es Ihnen erklären. (Thomas Rachel [CDU/CSU]: Jawohl!) Insofern stehen diese Fragen überhaupt nicht zur Dis- Dass wir in Deutschland durch Ihre falsche Politik dies- kussion. Es wird immer genau das falsch gemacht, was bezüglich einen erheblichen Bedarf haben, weiß ja wohl auch Sie gerade falsch machen, nämlich dass dieser eigentlich jeder. Punkt in die Debatte über Dienstleistungen aufgenom- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) men wird. Das ist nach wie vor national zu regeln. Jedes Parlament hat weiter die Möglichkeit, dies zu tun. Mehr als 60 Prozent der Arbeitsplätze in der EU be- finden sich im Dienstleistungssektor. Über 70 Prozent (Jörg Tauss [SPD]: Darf ich trotzdem nach unseres BIP werden dort erwirtschaftet. Die EU ist so- Dienstleistungen fragen? Das war meine wohl der größte Importeur als auch der größte Exporteur Frage!) von Dienstleistungen. Deswegen besitzen Dienstleistun- gen eine gewaltige Bedeutung für das Wachstum und die – Sie haben gerade nach der Daseinsvorsorge gefragt. Beschäftigung. Seit den 90er-Jahren ist der Handel mit Zur Frage der Dienstleistungen sage ich Ihnen klar, dass Dienstleistungen im Schnitt immer etwa 10 Prozent auch bei Dienstleistungen über Deregulierung nachge- schneller gewachsen als der Exporthandel mit Waren. dacht werden kann. Die französische Position zur Kultur – sprich: die Beschränkung beim Einkauf amerikani- scher Filme, die jeder sehen will – kann ich nicht nach- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: vollziehen. Herr Kollege Fuchs, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Tauss? (Jörg Tauss [SPD]: Seid ihr jetzt schlauer?) Eine zügige Liberalisierung bedeutet auch den Dr. Michael Fuchs (CDU/CSU): Abbau von Handelshemmnissen. Hier ist die Regie- Ich habe es befürchtet. Bitte schön. rung in der Handlungsverantwortung. Ich fordere Sie auf: Schließen Sie dauerhaft nationale Regelungen aus. Dadurch werden nämlich Anbieter und Investoren im Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Dienstleistungsbereich benachteiligt. Ich denke vor allen Er wird das auch mit der Zusage der Reduzierung sei- Dingen an die Entwicklungsländer; sie sind mir beson- ner Zwischenrufe verbinden. ders wichtig. Frau Skarpelis-Sperk, für mich ist die beste (B) Formel für die Entwicklungsländer: Trade is better than (D) Jörg Tauss (SPD): aid. Lieber Herr Kollege Fuchs, es war ja unvermeidlich, (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- nachdem Sie mir versprochen hatten, ich könnte etwas neten der FDP – Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk lernen. Bisher konnte ich nämlich noch nichts lernen. [SPD]: Das stimmt nicht ganz!) (Michael Kretschmer [CDU/CSU]: Das liegt Wir müssen den Entwicklungsländern die Chance geben, aber an Ihnen!) die Produkte, die sie herstellen können, zu exportieren. Sie haben viele Dinge gesagt, die natürlich zu unter- Das gilt natürlich auch für den Agrar- und Textilbereich, streichen sind. Ich habe nur die Bitte, ob Sie freundli- in dem in jedem Fall Hilfen vereinbart werden müssen. cherweise konkret werden können. Sie haben mehrfach (Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk [SPD]: Lesen Sie davon geredet, dass Dienstleistungen liberalisiert wer- doch mal die Berichte dazu!) den sollten. Welche Dienstleistungen meinen Sie? Ge- hört für Sie die Bildung – hier könnte man differenzie- Der Antrag der Regierungskoalition konzentriert sich ren: die öffentliche Bildung, die der Universitäten, die nicht auf das Wesentliche. Es gibt darin eine Menge an Weiterbildung – dazu? Gehören für Sie auch die Kultur Sozialschwärmerei. Dies stellt man fest, wenn man die und das Wasser dazu? Was gehört an Daseinsvorsorge Ausführungen zu Geschlechtergleichbehandlung, Tier- für Sie dazu? Haben Sie meine Frage verstanden? – und Umweltschutz und vielen anderen Bereichen liest. Dann habe ich einfach die Bitte, dass Sie mir antworten, Sie wollen die WTO mit allen erdenklichen Politikfel- damit das allen klar wird. dern zuschütten. Davon halte ich nichts. Wir brauchen eine World Trade Organization und keine World Social Dr. Michael Fuchs (CDU/CSU): Organization. Unterscheiden Sie bitte zwischen Daseinsvorsorge (Widerspruch bei der SPD) und Dienstleistung, Herr Tauss. Das hatte ich eben schon Die Bundesregierung praktiziert dies schon in Deutsch- einmal gesagt; Sie geben mir aber die Gelegenheit, das land zur Genüge. Ich glaube, die Ergebnisse sind nicht zu wiederholen, weil Sie eben anscheinend nicht zuge- so gut, als dass wir die dirigistischen Einflüsse, die wir hört haben. in diesem Land durch Ihre Regulierungswut haben, ex- Die öffentliche Daseinsvorsorge portieren sollten. (Jörg Tauss [SPD]: Ist Dienstleistung!) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2003 4707

Dr. Michael Fuchs (A) Handel braucht einen Rahmen, in dem sich Unterneh- Terrorismusbekämpfung und Friedenssicherung in der (C) mer ihrer Handels- und Handlungsfreiheit erfreuen kön- Welt sprechen, dann bedeutet das auch, dass wir Ent- nen. Vertreten Sie uns in Cancun mit dem Motto: Weni- wicklungs- und Schwellenländern eine Chance zur Ent- ger ist mehr! wicklung geben, damit auch sie eine Perspektive haben. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Dazu gehört sicher – das wurde schon angespro- neten der FDP) chen –, dass die WTO demokratischer und transparenter wird und es keine informellen Absprachen zwischen den Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Industrienationen und den größeren Schwellenländern gibt. Ein wichtiger Punkt ist, dass wir abgehen von glei- Nächste Rednerin ist die Kollegin Michaele Hustedt, chen Regeln für alle und hinkommen zu Regeln, die dem Bündnis 90/Die Grünen. Entwicklungsstand der Länder angepasst sind.

Michaele Hustedt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Welt- handelsrunde in Cancun ist eine Zwischenetappe, aber Das heißt, dass die Schwächeren die Chance auf eine eine sehr bedeutsame. Aus unserer Sicht besteht spätes- spezielle und differenzierte Behandlung haben. Das gilt tens nach dem Golfkrieg die Gefahr einer Krise des Mul- für die Streitschlichtung genauso wie für die Umsetzung tilateralismus. Die Frage ist berechtigt, ob von der WTO der Verpflichtung und die Regeln für die Öffnung des wie auch von anderen multilateralen Institutionen ein Marktzugangs. konstruktives Signal ausgeht, dass das multilaterale Sys- Weil der Kernpunkt ist, Herr Fuchs, dass wir der tem eine Zukunft hat. Ob dies gelingt, ist allerdings of- WTO-Runde zum Erfolg verhelfen, halten wir es für fen. Multilaterale Spielregeln im Handel sind nicht nur falsch, die WTO-Runde mit den so genannten Singapur- für eine Exportnation wie Deutschland wichtig, sondern Themen zu überfordern. insbesondere ärmere und kleinere Länder sind bei der zunehmenden Tendenz, bilaterale Verträge zu schließen, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN deutlich benachteiligt, da sie keine Möglichkeiten haben, und bei der SPD) strategische Allianzen zu bilden und so ihre Verhand- Wir glauben, dass es ein Problem wird, wenn wir immer lungsposition zu stärken. noch etwas obendrauf packen, und dass das Ergebnis Worum geht es bei der Doha-Runde? Gerade nach nicht Fortschritt, sondern Blockade ist. den Ereignissen des 11. September hat die Staatenge- Die Parlamente müssen aus meiner Sicht – deswegen meinschaft beschlossen, dass dies eine Runde für die (B) hoffe ich, dass wir beim nächsten Mal diese Frage zu ei- (D) Entwicklungsländer werden muss, aus der sie einen Be- ner zentraleren Zeit debattieren – eine größere Rolle nefit vom internationalen Welthandel ziehen sollen. Das übernehmen. Ich finde es gut, dass wir uns vorgenom- hat einen guten Grund. Bisher – so war die Analyse der men haben, mit regelmäßigen weltweiten Parlaments- Staatengemeinschaft – waren es die Industrienationen, konferenzen diesen Prozess zu begleiten. die von der WTO-Runde profitiert haben. Vielleicht wa- ren es auch einige Schwellenländer. Aber die große Ich wiederhole: Der Erfolg der WTO-Runde muss Masse der Entwicklungsländer, insbesondere die ärms- substanzielle Zugeständnisse an die Entwicklungsländer ten Länder, haben nur draufgezahlt und eben keinen Be- bedeuten. Das steht im Zentrum. Wichtig ist ein besserer nefit vom internationalen Welthandel gehabt. Marktzugang für die Entwicklungsländer, besonders in den Bereichen, in denen sie exportfähig sind, das heißt Nun ist es so, dass gerade die Entwicklungs- und Landwirtschaft und Textilien. Schwellenländer – das stimmt mich optimistisch – durch- aus keine schwachen und hilflosen Länder mehr sind, Bedeutsam ist auch ein Abbau der Exportsubven- sondern die Schwellenländer werden zunehmend zu star- tionen. Herr Fuchs, Sie haben die Ergebnisse der Agrar- ken Verhandlungspartnern. Auch die ärmeren Länder bil- verhandlungen gelobt. Mein Kollege aus dem Agraraus- den Allianzen, wodurch sie sich Gehör verschaffen kön- schuss hat mir gesagt, dass Ihre Kollegen im Ausschuss nen. Die Zeit, in der die Industrienationen einseitig ihre heute genau das Gegenteil gesagt haben und kein einzi- Interessen durchsetzen konnten, ist vorbei. Hier liegt ges Lob, sondern nur Kritik über die Verhandlungser- auch ein entscheidender Unterschied zur Uruguay- gebnisse geäußert haben. Runde. Es ist völlig klar: Wenn die Entwicklungsländer (Thomas Rachel [CDU/CSU]: Herr Fuchs hat in dieser Runde keinen Benefit mit nach Hause nehmen viel differenzierter gesprochen! – Dr. Sigrid können, dann droht die Blockade der gesamten Verhand- Skarpelis-Sperk [SPD]: Gespaltene Zunge!) lung. Das wäre für uns als Exportnation fatal. Deswegen liegt es in unserem ureigenen, auch wirtschaftlichen Inte- In Europa subventionieren wir jede Kuh mit 2,50 Dollar resse, dass bei dieser Runde ein Fortschritt für die Ent- pro Tag. wicklungs- und Schwellenländer herausspringt. (Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: Ich habe über (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Steuern gesprochen, die Sie erhöhen!) und bei der SPD) Das ist mehr, als die Hälfte der Weltbevölkerung zum Im Übrigen ist mehr globale Gerechtigkeit auch aus Leben hat. Mit diesen hoch subventionierten Produkten anderen Gründen von Interesse. Denn wenn wir über gehen wir in die Entwicklungsländer und zerstören dort 4708 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2003

Michaele Hustedt (A) die heimischen Märkte. Das ist ein untragbarer Zustand, noch einmal besonders hervor, weil dies in diesem Haus (C) der sofort beendet werden muss. offenbar auch nach der Enquete-Kommission „Globali- sierung der Weltwirtschaft“, in der wir uns schon sehr (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN mühsam mit diesen Binsenweisheiten herumschlagen und bei der SPD) mussten, immer noch nicht klar geworden ist. In einem Punkt bin ich besonders stolz auf unseren An- (Thomas Rachel [CDU/CSU]: Wohl wahr! – trag: Wir wollen zumindest einen Teil der frei werden- Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk [SPD]: Immer noch den Gelder als Wiedergutmachung den Entwicklungs- nichts gelernt!) ländern zur Verfügung stellen. Das ist eine sehr gute Position. Ich möchte wegen der knappen Redezeit, die mir noch bleibt, nur kurz auf zwei Punkte eingehen. Es geht (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN nicht darum, weitere Themen zu verhindern oder die und bei der SPD) WTO-Konferenz zu überfrachten. Zunächst muss – das Ich möchte noch einen Punkt ansprechen, der die Ent- ist völlig klar – die bestehende Agenda abgearbeitet wer- wicklungsländer betrifft. Ich finde, es ist ein Skandal, den. Danach aber müssen wir sie weiterentwickeln und dass wir die Einigung, die wir beim TRIPS-Abkommen weitere Themen auf die Tagesordnung setzen – das und beim Zugang der ärmeren Länder zu Medikamenten finde ich sehr wichtig, Herr Kollege Fuchs –; denn es in Doha erzielt haben, jetzt nachträglich von den USA geht darum, die WTO erfolgreich zu gestalten. Insofern infrage gestellt wird. Ich erwarte und hoffe, dass nicht geht es nicht um Stillstand und Blockade, sondern um weitere Zugeständnisse von den Entwicklungsländern den Fortschritt. verlangt werden, sondern dass wir eine akzeptable Lö- (Beifall bei der FDP) sung finden. Als exportorientierte Nation eröffnen sich bei einem (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN erfolgreichen Abschluss der GATS-Verhandlungen für und bei der SPD) Deutschland enorme Chancen durch mehr Transparenz Abschließend möchte ich etwas zu den GATS-Ver- und internationale Rechtssicherheit. Die FDP wendet handlungen sagen. Die Thematik hier betrifft weniger sich deshalb strikt gegen alle Versuche – diese werden die europäischen Märkte. Aber ich finde es absolut un- im rot-grünen Antrag an mehreren Stellen deutlich –, die verständlich, dass die Europäische Union die Entwick- Bemühungen um mehr Rechtssicherheit auf internatio- lungsländer auffordert, ihre Wassermärkte und Finanz- naler Ebene beim Dienstleistungshandel zu blockieren märkte zu liberalisieren. Das ist erstens unglaubwürdig, und sich von der übrigen Welt abzuschotten. Auch bei den GATS-Verhandlungen erleben wir diese Zurückhal- (B) weil wir die Wassermärkte im eigenen Land nicht öffnen (D) wollen. Zweitens glaube ich, dass Wassermärkte nicht tung. pauschal liberalisiert werden sollten. (Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk [SPD]: Das ist (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN doch ein Märchen!) und bei der SPD) Gemäß der Zahlungsbilanzstatistik der Deutschen Wenn man zum Beispiel Chile und Argentinien ver- Bundesbank standen im Jahre 2002 – diese wichtigen gleicht, dann stellt man fest, dass es besser ist, wenn sich Zahlen möchte ich an dieser Stelle nennen – den Erlösen Entwicklungsländer punktuell gegen Krisen schützen aus dem Dienstleistungsexport in Höhe von 110 Milliar- können und nicht eine pauschale Liberalisierung der Fi- den Euro Ausgaben für Dienstleistungsimporte nach nanzmärkte vollzogen wird. Deutschland in Höhe von 140 Milliarden Euro gegenü- ber. Zwei Drittel der deutschen Direktinvestitionsbe- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN stände im Ausland entfallen auf die Dienstleistungs- und bei der SPD) branchen. In dieser Branche sind 1,6 Millionen Menschen für deutsche Firmen im Ausland tätig. Es han- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: delt sich dabei um einen Markt mit einem Umsatz von Ich erteile der Kollegin Gudrun Kopp, FDP-Fraktion, 640 Milliarden Euro. Man muss sich einmal vor Augen das Wort. führen, worüber wir eigentlich sprechen. (Thomas Rachel [CDU/CSU]: Jetzt kommt ein (Beifall bei der FDP sowie des Abg. guter Beitrag!) Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]) Deutschland ist eine führende Exportnation. Wir dür- Gudrun Kopp (FDP): fen aber nicht zögerlich handeln – das gilt auch für die Behandlung der vorliegenden Anträge –, sondern müs- Herr Präsident! Meine sehr geehrten Herren und Da- sen dazu beitragen, dass die Verhandlungen vorankom- men! Ich möchte an dieser Stelle betonen, dass ich die men, um den Entwicklungsländern auf diese Weise mehr Öffnung der Märkte für eine sehr wichtige Vorausset- Chancen zu bieten. zung für den Wohlstand gerade auch der Entwicklungs- länder halte, die einen Impuls für die Verbesserung der Wir als FDP sind entschlossen dagegen – und werden Lebensverhältnisse und Chancen auf Bildung, Gesund- entsprechende Versuche durchweg abwehren –, dass im- heit und Rechtsstaatlichkeit bieten kann. Die Öffnung mer neue Bereiche zur so genannten Daseinsvorsorge der Märkte ist deshalb nicht zu verteufeln. Ich hebe das erklärt werden, nur um sie auf diese Weise einer Libera- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2003 4709

Gudrun Kopp (A) lisierung zu entziehen. Auch diese Tendenz war heute Liebe Frau Kollegin Skarpelis-Sperk, das, was Sie vor- (C) wieder festzustellen. schlagen, ist nach wie vor dazu geeignet, Reformen zu verhindern. (Beifall bei der FDP) (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Genau!) Eines steht fest: Die WTO-Ministerkonferenz muss besonders für die Entwicklungsländer ein Erfolg wer- Ich hoffe, dass wir diesen Duktus der 70er-Jahre bald den. Sie ist schließlich als Entwicklungsrunde vorgese- alle überwunden haben und wirklich nach vorne blicken hen. Wir als FDP bekennen uns auch ausdrücklich dazu. können. Wir dürfen nicht länger in den Dimensionen des Mein Kollege Michael Goldmann hat heute im Laufe des Protektionismus und in kleinen Schritten denken. Tages schon einmal zur Agrarpolitik, die ein sehr wich- Ich bitte Sie alle, mitzuhelfen, damit die WTO-Ver- tiger Punkt auf der Agenda sein wird, Stellung genom- handlungen ein Erfolg werden. men. Wir halten das Ergebnis des Agrarrates für einen Schritt in die richtige Richtung. Aber dieser Weg ist Vielen Dank. längst noch nicht so konsequent beschritten worden, wie (Beifall bei der FDP) wir uns das vorstellen. Wir haben schon im Jahr 2000 mit der Kulturlandschaftsprämie ein Modell entwickelt, Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: das weitaus zukunftsfähiger ist. Frau Kollegin Hustedt, ich bitte um Nachsicht, dass (Zuruf von der FDP: Sehr richtig!) ich nach deutlich überschrittener Redezeit nicht zur Ver- längerung derselben auch noch Zusatzfragen zugelassen Wir hätten uns gewünscht, dass wir uns damit stärker habe. hätten durchsetzen können. Von der rot-grünen Regie- rung wünschen wir uns, dass sie ihre Abschottungspoli- (Zuruf der Abg. Michaele Hustedt [BÜND- tik nicht länger fortsetzt. NIS 90/DIE GRÜNEN]) Herr Kollege Fuchs, bitte reden Sie noch einmal mit Nun hat das Wort der Kollege Dr. Raabe für die SPD- den Agrariern, damit Sie auf einen gemeinsamen Nenner Fraktion. kommen. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der FDP – Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das schaffen Dr. Sascha Raabe (SPD): sie doch nie!) Sehr geehrter Herr Präsident! Meine geehrten Damen und Herren! „Gerechtigkeit jetzt!“ – das ist das Motto (B) Im Antrag von Rot-Grün – da ich das sehr bemer- der Welthandelskampagne verschiedener Nichtregie- (D) kenswert finde, möchte ich Ihnen das kurz zitieren – be- rungsorganisationen mit Blick auf die kommende WTO- finden sich Formulierungen, die den Geist des Rück- Runde im September in Cancun. In der Tat geht es nicht wärtsgewandten ganz hervorragend zum Ausdruck darum, den Entwicklungsländern irgendwelche handels- bringen. Hier ist die Rede von einer „gerechten Vertei- politischen Geschenke zu machen, sondern endlich für lung der Handelsgewinne“ – wer will die denn vertei- Gerechtigkeit im internationalen Handelssystem zu len? – und von einer „Überprüfung aller Liberalisie- sorgen. Deswegen muss ich erstaunt feststellen, dass in rungsmaßnahmen auf ihre Kulturverträglichkeit“. einer Debatte, in der es um Strukturpolitik und nicht, wie es oft dargestellt wird, um Almosen für die Entwick- (Michaele Hustedt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- lungsländer geht, kein Entwicklungspolitiker von Union NEN): Was ist an einer gerechten Verteilung und FDP anwesend ist. Das zeigt mir, dass Sie überhaupt rückwärts gewandt? nicht begriffen haben, worum es in der Debatte am heu- Des Weiteren heißt es – auch das halte ich für ein hervor- tigen Abend geht, ragendes Beispiel Ihrer Politik –: (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Vor Unterzeichnung von Handelsabkommen sollen geschlechtsspezifische Folgenabschätzungen durch- und dass in Ihren Parteien noch immer von einem Ent- geführt werden; wicklungsverständnis ausgegangen wird, das den heuti- gen Anforderungen nicht mehr gerecht wird. Das merkt (Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk [SPD]: Ja, natürlich! – man auch an solch platten Sprüchen wie von Ihnen, Herr Helga Daub [FDP]: So ein Blödsinn!) Dr. Fuchs, dass die WTO keine Weltsozialorganisation Ich empfehle, einmal über die Folgenabschätzungen Ih- sein solle. Ich sage Ihnen: Doha ist als Entwicklungs- rer Politik zu diskutieren, runde definiert und das muss sie auch werden. Es geht darum, den Entwicklungsländern faire Handelschancen (Beifall bei der FDP) zu geben. Wir wollen mit unserem Antrag das Ziel errei- chen, die Globalisierung sozial, ökologisch, nachhaltig insbesondere über die Bremswirkung Ihrer Politik auf und gerecht zu gestalten. Dazu sollten Sie endlich Ihren Verhandlungen über notwendige internationale Abkom- Teil beitragen, anstatt auf diese Weise die ärmsten Men- men. schen zu diffamieren. (Michaele Hustedt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ NEN] meldet sich zu einer Zwischenfrage) DIE GRÜNEN) 4710 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2003

Dr. Sascha Raabe (A) Da das Kräfteverhältnis zwischen dem reichen Nor- Nach Schätzungen der Konferenz der Vereinten Na- (C) den und dem armen Süden extrem ungleich ist, können tionen für Handel und Entwicklung könnte ein entspre- die WTO-Verhandlungen in Cancun nur dann zu einem chender Zugang zu den Märkten der Industrieländer gerechten Ergebnis führen, wenn den Entwicklungslän- den Entwicklungsländern bis 2005 zu zusätzlichen Ein- dern bei den geplanten Liberalisierungen eine Sonder- nahmen von jährlich 700 Milliarden US-Dollar verhel- und Vorzugsbehandlung, ein „special and differential fen. Dies entspricht 35 Prozent ihrer jährlichen Einnah- treatment“, eingeräumt wird. Dies gilt besonders für den men bzw. 65 Prozent ihrer derzeitigen Einnahmen aus Agrarbereich; denn im ländlichen Raum leben drei Vier- Warenexporten. Herr Dr. Fuchs, ich sage es noch einmal: tel der Hungernden dieser Welt. Es geht in dieser Debatte nicht darum, soziale Wohltaten zu verteilen, sondern diese schreiende Ungerechtigkeit Das Millenniumsziel, die Armut bis zum Jahr 2015 zu endlich zu überwinden und den Entwicklungsländern halbieren, kann deshalb nur über eine Stärkung der das Recht einzuräumen, das wir, die Industrienationen, Landwirtschaft und insbesondere der Kleinbauern in uns schon seit Jahrzehnten herausnehmen. den Entwicklungsländern erreicht werden. Dies soll un- ter anderem durch die Aufnahme einer klar definierten (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Development Box im WTO-Agrarabkommen gesche- DIE GRÜNEN) hen. Dabei soll den Entwicklungsländern das Recht zu- gestanden werden, ihren eigenen Agrarsektor durch Au- In der globalisierten Welt sind für die Entwicklungs- ßenschutz und interne Stützung schützen und fördern zu länder natürlich auch andere Bereiche der WTO-Ver- können. Allerdings nutzt das Recht der Subventionie- handlungen von großer Bedeutung. Das Abkommen zum rung den meisten Entwicklungsländern wenig, weil ih- Schutz der geistigen Eigentumsrechte, TRIPS, wurde nen hierfür das Geld fehlt. Umso verwerflicher sind die schon genannt. Die Gewinninteressen der Pharmaindus- enormen Subventionen der Industrieländer für ihre trie müssen hierbei eindeutig hinter das Lebensrecht der Agrarprodukte, die mit Billigstpreisen die lokalen ärmsten Menschen zurücktreten. Es muss erlaubt wer- Märkte in den Entwicklungsländern zerstören. den, dass diese Medikamente auch als Generika produ- ziert werden. Wir dürfen dabei keine Kompromisse ein- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ gehen. DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Im vergangenen Jahr sind die Agrarsubventionen DIE GRÜNEN) der OECD-Länder nochmals gestiegen: um fast 13 Mi- lliarden US-Dollar auf 318 Milliarden US-Dollar. Das Was die GATS-Verhandlungen über die Liberalisie- ist das Sechsfache dessen, was sie für öffentliche Ent- rung von Dienstleistungen angeht, ist es keineswegs so, (B) wicklungszusammenarbeit aufbringen. Deshalb fordern wie es die Union hier dargestellt hat: dass überhaupt (D) wir den vollständigen Abbau aller Exportsubventionen nichts, was in den Bereich der öffentlichen Daseinsvor- und derjenigen Direktzuschüsse, die handelsverzerrend sorge fällt, zur Disposition steht. Das Menschenrecht auf wirken. Trinkwasser gehört für mich zu den unverhandelbaren Rechten; denn Trinkwasser ist kein beliebiges Handels- Frei werdende Mittel sollten – die Kollegin hat es gut und darf deshalb nicht einfach dem freien Markt bereits gesagt – quasi als doppelte Dividende in die För- überlassen werden. derung des ländlichen Raumes in Entwicklungsländern gesteckt werden, auch um die Kapazitäten für die Wei- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ terverarbeitung von Agrarprodukten auf- und auszu- DIE GRÜNEN) bauen. Der von den europäischen Landwirtschaftsminis- tern in Luxemburg erzielte Kompromiss, der vorsieht, Herr Dr. Fuchs, Sie sollten sich nicht nur mit dem An- dass die europäischen Agrarsubventionen von der Pro- gebotskatalog der Europäischen Union beschäftigen. In duktion größtenteils abgekoppelt werden, ist sicherlich diesem Katalog kommt in der Tat zum Ausdruck, dass begrüßenswert. Er wurde insbesondere auf Druck der die Europäische Union nicht möchte, dass die Verfügung deutschen Bundesregierung erzielt. Er ist aber nur ein über das Trinkwasser zur Verbesserung unserer kommu- Schritt in die richtige Richtung. Es müssen weitere nalen Strukturen liberalisiert wird. Es ist unglaublich, Schritte folgen – je schneller, desto besser! dass die EU eine entsprechende Forderung gleichzeitig an 72 Entwicklungsländer stellt. Wir müssen dafür sor- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ gen, dass diese Forderung nicht mehr erhoben wird. Dies DIE GRÜNEN) ist ein Ziel unseres Antrages. Gleichzeitig muss der Zugang der Produkte der Entwick- (Thomas Rachel [CDU/CSU]: Was macht lungsländer zum Markt verbessert werden. Für Produkte denn die Bundesregierung?) aus fairem Handel sollte dies sofort und in bevorzugter Weise geschehen. – Die Bundesregierung wird mit diesem Antrag von den Regierungsfraktionen dazu aufgefordert, sich dafür ein- Der Abbau von Zöllen und nicht tarifären Handels- zusetzen. Wir gehen fest davon aus, dass sie entspre- hemmnissen, insbesondere auf weiterverarbeitete Pro- chend agieren wird. dukte, ist nicht nur für den Agrarbereich, sondern für alle Erzeugnisse der Entwicklungsländer wichtig, nicht zu- (Thomas Rachel [CDU/CSU]: Ihr macht doch letzt für den Textilsektor. wieder nichts!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2003 4711

Dr. Sascha Raabe (A) Bei aller Kritik an bestehenden Ungerechtigkeiten im Frau Skarpelis-Sperk, Sie haben eine Rede gehalten, (C) Welthandelssystem – das möchte ich zum Abschluss sa- gen – dürfen wir aber zwei wichtige Punkte nicht aus (Karin Kortmann [SPD]: Die hervorragend den Augen verlieren: war!) Erstens. In einer Stärkung der WTO mit ihren interna- die von manchen vielleicht als hervorragend einge- tional verbindlichen Regelungen liegt eine große schätzt wird, die aber nichts anders beinhaltet hat als die Chance, gerade für die schwächeren Handelsnationen. ganz normale Forderung: Wir wollen alles, und zwar jetzt. Zweitens. Die Erfahrungen der letzten zwanzig Jahre zeigen uns, dass eine graduelle und selektive Liberalisie- (Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk [SPD]: Das ist ab- rung auch eine echte Chance zur Bekämpfung von Armut solut ungerechtfertigt!) und Unterentwicklung sein kann. Es kommt aber darauf Über die Frage „Wo stehen wir jetzt und was ist mach- an – wir haben es in unserem Antrag ausgeführt –, dass bar?“ haben Sie überhaupt keine Auskunft gegeben. Es die Länder selbst ohne Druck entscheiden können, wel- war ein Pauschalkatalog von Forderungen, die man sich chen Schritt sie zu welchem Zeitpunkt gehen. überhaupt nur ausdenken kann. Ich komme zum Schluss. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk [SPD]: Nein!) Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Das hilft im Augenblick natürlich überhaupt nicht wei- Herr Kollege, es wäre schön, wenn der angekündigte ter. Abschluss auch stattfindet. Wegen der Art und Weise, in der Sie das hier zusam- Dr. Sascha Raabe (SPD): mengestellt haben, möchte ich Ihnen Folgendes sagen: Vor wenigen Tagen fand in Genf ein Symposium bei Weltweite Gerechtigkeit ist kein Luxus und kein Hin- der WTO statt. Da waren NGOs aus der ganzen Welt dernis für mehr Wachstum; sie liegt vielmehr in unserem zusammen. Die Diskussion dort hat sich wesentlich en- wohl verstandenen eigenen Interesse; denn wir wollen in ger an den Problemen und an der Praxis orientiert, als einer friedlichen und gerechten Welt leben. Ich bin auch das in dem Antrag der Fall ist, den die Koalition vorge- unserer Ministerin dankbar, dass sie immer wieder da- legt hat. rauf hinweist, dass Resolutionen des UN-Sicherheits- rates, auch solche zur Armutsbekämpfung, befolgt wer- (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. den müssen. Gudrun Kopp [FDP] – Thomas Rachel [CDU/ (B) CSU]: So ist das leider!) (D) Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Sie waren viel näher an der Praxis und viel näher an Herr Kollege, Dankesadressen an die Bundesregie- dem, um das es im Augenblick wirklich geht. rung gehen nun wirklich entschieden zu weit. Sie haben gesagt, wir bräuchten eine Reform der WTO. Haben Sie denn gar nicht mitbekommen, was sich Dr. Sascha Raabe (SPD): in der WTO geändert hat? NGOs sind bei der WTO ak- Die WTO-Runde in Doha muss eine Entwicklungs- kreditiert. runde werden. Wir dürfen keine Zeit mehr verlieren. Im (Thomas Rachel [CDU/CSU]: So ist es!) wahrsten Sinne des Wortes: Gerechtigkeit jetzt! Es gibt eine Transparenz, wie sie früher wahrscheinlich Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. – Danke, Herr weder von den Mitgliedstaaten gewünscht noch üblich Präsident. war. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) (Monika Griefahn [SPD]: Bei den Parlamen- ten muss man das erst noch einfordern!)

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: – Richtig! Der Prozess einer parlamentarischen Beglei- tung beginnt. – Von Supachai, der das Konzept jetzt ent- Sie waren kurz vor dem Punkt, dass Sie für Wieder- wickelt, gibt es das Dialogangebot an die unterschied- holungsfälle in besonderer Erinnerung geblieben wären. lichsten gesellschaftlichen Gruppen. Nun erteile ich dem Kollegen Erich Fritz für die CDU/CSU-Fraktion das Wort. (Thomas Rachel [CDU/CSU]: Hört! Hört!) (Beifall bei der CDU/CSU) In der Vorbereitung wird alles auf den Tisch gelegt, wie das vorher überhaupt nicht üblich war. Das heißt: Von Geheimniskrämerei können wir vielleicht bei uns, viel- Erich G. Fritz (CDU/CSU): leicht noch in Europa reden, aber sicherlich nicht bei der Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und WTO. Dort gibt es einige Elemente, die den Prozess Herren! Ich lege das, was ich mir aufgeschrieben hatte, auch für Entwicklungsländer wesentlich transparenter beiseite, weil ich bei sechs Minuten Redezeit nicht auf machen. Ich weiß nicht, ob Sie mitbekommen haben, die Beiträge eingehen und meine Rede halten kann. was hinsichtlich der technischen Unterstützung und der 4712 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2003

Erich G. Fritz (A) Kapazitätsbildung von dem kleinen Apparat der WTO teme dann eigentlich noch wert, die heute gegenüber den (C) geleistet wird. AKP-Ländern und in Zukunft, wenn es möglich ist, da- rüber hinaus gegenüber noch mehr Entwicklungsländern (Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk [SPD]: Ich kenne bestehen? Ist das wirklich miteinander vereinbar oder ist die Mittel, die dafür zur Verfügung stehen!) es nicht eigentlich von noch größerem Nachteil, wenn – Das ist gut so. Wir tun mehr als andere. Das ist sehr er- sie in kürzester Zeit der Konkurrenz der Cairns-Länder freulich. ausgesetzt werden? Das sind Fragen, mit denen wir uns beschäftigen müssen, um hier nicht falsche Eindrücke zu Das Ergebnis ist: Die Entwicklungsländer – nicht alle; bekommen. das ist klar – sind mittlerweile viel besser in der Lage – da hat Frau Hustedt Recht –, an diesem Prozess teilzu- Bei Public Health raschelt es, Frau Hustedt, hinter nehmen. Sie organisieren sich zunehmend. Das Ergebnis den Kulissen. Der größte Blockierer sind im Augenblick dieser Organisation ist, dass sie vieles von dem, was in nicht mehr die USA, sondern ein kleines Land in der Ihrem Antrag steht, nicht auf der Tagesordnung haben Nähe: Die Interessen der Schweiz sind mittlerweile viel wollen, hinderlicher als die USA. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Lassen Sie mich abschließend, Herr Präsident, etwas Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk [SPD]: Nein!) zur parlamentarischen Beteiligung sagen. Wir haben es geschafft, bei der WTO einen solchen Prozess in Gang weil sie sich damit völlig überfordert fühlen und weil sie zu bringen. Hier sitzt heute kein Vertreter des Wirt- nicht daran glauben, dass die Art und Weise, wie Sie die schaftsministers; der Wirtschaftsminister selbst ist auch Dinge miteinander verknüpfen, ihrer Realität wirklich nicht da. Das ist symptomatisch dafür, dass diesem Par- gerecht wird. lament die Informationen und Beteiligungsmöglichkei- Sie wollen natürlich einen langsameren Fortschritt. ten, auf die es im Vorfeld multilateraler Verhandlungen Sie wollen, dass bestimmte Themen nicht weiterverfolgt Anspruch hat, nach wie vor nicht gewährt werden. Wir werden. Sie wollen, dass die Singapur-Themen erst ein- haben uns alle darum bemüht, aber es ist nach wie vor mal zurückgestellt werden. Wir haben uns ja auch ent- nur dem Zufall und dem Einzelengagement von Abge- schieden, dass in Cancun erst einmal darüber gesprochen ordneten oder solchen Debatten zu verdanken, dass wir werden soll, ob zu den Themen Investment und Wettbe- überhaupt Gelegenheit haben, über diese Dinge vor Can- werb überhaupt verhandelt werden soll. Das heißt, da cun zu diskutieren. gibt es Spielraum. (Monika Griefahn [SPD]: Da müssen wir Ih- nen Recht geben!) (B) Die Europäer haben immer gedacht, mit der Agrar- (D) politik könne man sich Spielraum einhandeln. Das ist Es gibt aber eine Bringschuld der Bundesregierung. Sie ein großer Irrtum. Vertreter der Entwicklungsländer sa- muss eingefordert werden und demnächst auch einmal gen: Ihr handelt euch mit Agrarpolitik gar nichts mehr formal geregelt werden. ein. Ihr seid ohnehin gezwungen, da etwas zu tun. Ihr haltet das selbst nicht durch. Ihr habt in Europa einen Er- So, wie es abläuft, geht es nicht, verehrter Kollege weiterungsprozess, der Änderungen verlangt. Wir sehen von der SPD, der Sie hier zur Entwicklungspolitik ge- es als unser einfaches Recht an, dass wir jetzt Marktzu- sprochen haben. Wann haben Sie denn erfahren, dass es gang bekommen. Forderungen der EU an 65 Entwicklungsländer in Sa- chen Wasser gibt? (Michaele Hustedt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Das sagen Sie mal den Agrarpoliti- (Dr. Sascha Raabe [SPD]: Es sind 72, Herr kern!) Kollege!) So hat sich die Situation verändert. – Es sind 65, aber das ist egal, darum müssen wir uns nicht streiten; es sind jedenfalls viele. – Wann haben Sie Ich sage Ihnen eines, Frau Hustedt: Mit der Formulie- es denn als Mitglied der Regierungspartei erfahren? Sie rung, die Sie gewählt haben, kommen Sie nicht weit. haben es auch erst erfahren, als es Ihnen die entspre- (Michaele Hustedt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- chenden Initiativen mitgeteilt haben und nachdem Ihnen NEN]: Doch!) auch endlich der Vorschlag der Bundesregierung zuge- stellt wurde. Das muss sich ändern, denn wir werden nie Denken Sie nur einmal an das Beispiel Zucker. Wenn Akzeptanz in der Bevölkerung für diese Prozesse be- wir den Zuckermarkt aufmachen, wie in „everything but kommen, wenn wir das Verfahren nicht ändern und es arms“ angeregt, dann müssen die Zucker produzierenden nicht transparenter gestalten. AKP-Länder zunächst einmal einen drastischen Preis- verfall hinnehmen. Daran muss man auch einmal den- Herzlichen Dank. ken. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Thomas Rachel [CDU/CSU]: Wohl wahr!) Wer hat den Nutzen, wenn wir uns tatsächlich auf die Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: von den Cairns-Ländern vorgeschlagene Liberalisierung Das Wort hat nun die Kollegin Monika Griefahn, des Agrarmarkts einlassen? Was sind die Präferenzsys- SPD-Fraktion. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2003 4713

(A) Monika Griefahn (SPD): ralisieren würden: Die Zulässigkeit unseres öffentlich- (C) Ich weiß, dass die Zeit rennt, aber eine Sache muss rechtlichen Systems mit den Rundfunkgebühren, wel- ich doch noch einmal klarstellen, Frau Kopp. Wenn man ches die Sicherstellung einer Grundversorgung für die darüber spricht, dass Frauen Zugang zu Bildung erhalten Öffentlichkeit ermöglicht, würde dann durch WTO-Re- und eine eigene wirtschaftliche Existenz aufbauen kön- geln bestimmt. Wenn sich ein Staat über unsere Gebühren nen sollen, führt man keine grüne oder sozialdemokrati- beschwert, würde ein Expertenpanel der WTO, das aus sche Quotendebatte, sondern es geht um die existenzielle drei Handelsexperten – ich betone: Handelsexperten – be- Frage von Entwicklung. steht, darüber befinden, ob unsere Gebühren dem inter- nationalen Handelsrecht entsprechen oder nicht. Würde (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten ein Verstoß festgestellt, wir aber auf unseren Gebühren des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) bestünden, weil wir glaubten, dass dadurch die öffent- lich-rechtliche Versorgung gesichert werden kann, so Damit lassen sich wirklich viele Probleme lösen. Das se- könnte der Beschwerdeführer gegen uns Handelssank- hen Sie in allen Ländern, in denen beispielsweise Mikro- tionen, und zwar in jedem Bereich, verhängen. Man kredite für diese Belange eingesetzt werden. Ich möchte muss sich einmal vor Augen halten, was das in der Kon- Sie wirklich bitten, sich darüber noch einmal zu infor- sequenz bedeutet. Ich will gar nicht die Länder auffüh- mieren. ren, die ein Interesse an einem solchen Verfahren haben (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ könnten. Wir können uns aber, glaube ich, ganz gut vor- DIE GRÜNEN) stellen, welche Länder das sein könnten. Damit sind wir schon beim Thema, denn Bildung und Das könnte auch die Deutsche Welle betreffen, die Kultur sind endlich auch einmal Gegenstand dieser vollständig vom Staat finanziert wird. Sie ist ein wichti- GATS-Verhandlungen. Das haben wir Präsident Chirac ges Medium, auch zur Krisenprävention in der Welt. zu verdanken, der bei der Konferenz in Johannesburg zu Einzelne Länder könnten fordern, dass die Deutsche der Frage von Umwelt und Entwicklung gesagt hat: Wir Welle dort nicht mehr sendet, dass sie nicht mehr mit öf- brauchen die kulturelle Identität; das ist ein wichtiger fentlichen Geldern unterstützt wird. Sie könnten sagen, Punkt. Das sehen wir auch an den Auseinandersetzungen dass sie nur weiter senden darf, wenn sie privat finan- bei den Welthandelskonferenzen. Vor Ort treten Kon- ziert wird und gegenüber den anderen Sendern, die viel- flikte, auch mit NGOs, auf, weil viele Länder denken, sie leicht von einem Millionär privat finanziert werden, würden über den Tisch gezogen, ihre kulturelle Identität gleichberechtigt ist. würde von einer McDonald’s- und Britney-Spears-Kul- Ich kann nur sagen: Dagegen müssen wir uns wapp- tur überlagert, sodass sie sie verlieren, und dagegen pro- (B) nen. Das dürfen wir auch nicht im Rahmen eines (D) testieren. Tauschhandels irgendwann wieder freigeben. Wir müs- Deswegen müssen wir bei all den Verhandlungen sen sehr wachsam sein. Viele, die sich mit der Materie auch die Identitäten der Völker, die jetzt von uns be- WTO und GATS beschäftigen, haben das nicht auf der glückt werden sollen, mit bedenken. Deswegen müssen Platte. Ich bin sehr dankbar dafür, dass wir über dieses die Maßnahmen und Regeln des WTO-Regimes endlich Thema heute hier diskutieren können. auch einmal dahin gehend überprüft werden, wie die (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ kulturelle Identität mit eingebunden werden könnte. DIE GRÜNEN) Deshalb fordern wir Kulturverträglichkeit. Das ist keine antiquierte, sondern eine vorwärts gerichtete Strategie. Die UNESCO-Konvention zum Schutz der kulturellen (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Vielfalt ist auch für die Entwicklung der Länder wichtig. DIE GRÜNEN) Ich bin froh, dass die Verhandlungen darüber bald begin- nen. Die WTO-Regime müssen Überlegungen zur Kul- Ähnliches gilt auch für das GATS-Abkommen. Dem- turverträglichkeit und die verschiedenen Identitäten be- zufolge sollen Bildung, Kultur und audiovisuelle Dienst- rücksichtigen. In verschiedenen islamischen Ländern leistungen möglichst liberalisiert werden. Okay, die EU sehen wir, dass es, wenn wir die kulturellen Identitäten hat hierzu keine einheitliche Position und konnte deswe- nicht anerkennen, dazu kommt, dass diese Länder mit ih- gen auch nicht bestimmte Vorgaben durchsetzen. Wir rer kulturellen Identität Verstöße gegen Menschenrechte wissen aber doch, was passiert, wenn es zu Verhandlun- und das Gleichheitsprinzip rechtfertigen. gen in einer großen Runde kommt. Hier herrscht tatsäch- lich Basarmentalität: Gibst du mir dies, gebe ich dir das. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Es gibt nun Gruppen, die ein großes Interesse daran ha- Dann erfolgt eine Radikalisierung. ben, genau diese Bereiche zu liberalisieren und in einen solchen Tauschhandel einzubeziehen. Ich glaube, vielen Darauf müssen wir auch beim Handel achten; denn ist nicht klar, was die Konsequenzen wären, wenn es so auch der Handel miteinander ist eine Form des kulturel- kommen wird. Das ist keine Schwarzmalerei. Das sagen len Umgangs. ganz seriöse Anstalten. Herzlichen Dank. Vertreter der ARD haben uns bei Gesprächen in Brüs- sel ganz deutlich gemacht, was zum Beispiel passieren (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ würde, wenn wir die audiovisuellen Medien doch libe- DIE GRÜNEN) 4714 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2003

(A) Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Somit stehen wir vor der Frage: Wie viel Markt ver- (C) Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der trägt die Bildung? Im Bildungsbereich ist die Verantwor- Kollege Thomas Rachel für die CDU/CSU-Fraktion. tung des Staates besonders groß. Deswegen sind einige klare Regeln einzuhalten. Die Struktur des öffentlich fi- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) nanzierten Bildungswesens in Deutschland darf nicht ge- nerell zur Disposition gestellt werden. Die öffentliche Aufsicht über das Bildungswesen hat sich in Deutsch- Thomas Rachel (CDU/CSU): land bewährt und muss aufrecht erhalten werden. Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In Ausländische Bildungsanbieter sind uns aber sehr die Verhandlungen über das GATS-Handelsabkommen wohl willkommen, wenn sie die vom Staat oder von Ak- sind auch die Bildungsdienstleistungen einbezogen. kreditierungseinrichtungen gestellten hohen Qualitäts- Hierbei stehen wir vor der Situation, dass Bildung zum standards erfüllen. Außerdem dürfen aus dem GATS- einen ein überwiegend öffentliches Gut ist, das mit ei- Abkommen keinesfalls Subventionsansprüche ausländi- nem gewöhnlichen Handelsgut nicht gleichgesetzt wer- scher privater Bildungsanbieter abgeleitet werden. Der den kann. Zum anderen ist Bildung aber auch ein Wirt- so genannte Subventionsvorbehalt des Staates darf nicht schaftsfaktor, dessen Bedeutung im internationalen fallen. Handel rasant wächst. In den USA werden allein von (Beifall bei Abgeordneten der SPD – ausländischen Studenten jährlich rund 10 Milliarden Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk [SPD]: Da stimmen Dollar durch Gebühren und täglichen Konsum umge- wir völlig überein!) setzt. Wir sagen deshalb Ja zur Liberalisierung, wenn sie Grundsätzlich begrüßt die CDU/CSU, dass die Libe- gleichzeitig und in gleicher Intensität in anderen Län- ralisierung des Welthandels mit Dienstleistungen kon- dern eingeführt wird und wenn diese Länder in der glei- krete Formen annimmt. Im Bildungsbereich trägt sie zu chen Form, wie wir das tun, ihren eigenen Bildungs- mehr Wettbewerb zwischen den Bildungsanbietern, und markt öffnen. damit zu mehr Leistungsorientierung und Qualitätsstei- gerung, bei. Dabei gibt es eigentlich keinen Grund für großen Pes- simismus. Unlängst hat eine Delegation des Bildungs- Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang ein Wort und Forschungsausschusses des Bundestages mit Verant- zur besonderen Rolle der Kultur sagen. Wir haben sie in wortlichen für die GATS-Verhandlungen im amerikani- unseren Antrag aufgenommen; denn Kultur entzieht sich schen Department of Commerce gesprochen. Zunächst der reinen Lehre des Handels mit Dienstleistungen; zum lässt sich positiv aus den Gesprächen vermerken, dass (B) einen, weil die Grenzziehung zwischen Ware und Kultur die USA beschlossen haben, sehr bald der UNESCO (D) ein schwieriges Unterfangen ist. Sie ist eine Kernauf- wieder beizutreten. gabe in einer demokratischen Gemeinschaft. Sie ist iden- titätsstiftend und lässt sich nicht ausschließlich wirt- (Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk [SPD]: Hört! schaftlichen Gesichtspunkten unterordnen. Carl Hört!) Christian von Weizsäcker hat folgerichtig betont, dass in Dies sehe ich als klares Zeichen der Amerikaner, sich der Kultur andere Regeln gelten. wieder verstärkt der internationalen Zusammenarbeit im Bildungsbereich zu stellen. Zum anderen darf die öffentliche Unterstützung und Subventionierung der Kultur in Deutschland nicht gene- Interessant ist auch, dass die USA keine vollständige rell zur Disposition gestellt werden. In Deutschland gibt Liberalisierung wollen, sondern sehr wohl eigene natio- es im Gegensatz zu Amerika eine 350-jährige Operntra- nale Anliegen formulieren. So sollen auch künftig US- dition. Die Opernhäuser werden weitgehend aus öffentli- Studenten geringere Studiengebühren zahlen müssen als chen Mitteln finanziert. Diese Unterstützung der deut- ausländische Studierende. Außerdem sollen auch in Zu- schen Kultureinrichtungen kann nicht in gleichem Maße kunft ausländische Universitäten, die ein Bildungsange- von ausländischen Produzenten in Anspruch genommen bot in den USA offerieren, nicht die gleichen Subventio- werden. Darauf werden wir achten müssen. nen und Steuermittel zur Unterstützung bekommen wie die US-amerikanischen Universitäten. Auch nach einer Während die Europäische Union in vielen Sektoren Liberalisierung sollen die US-Universitäten künftig ihre Angebote zur Liberalisierung gemacht hat, hat sie im Lehrpläne, Standards und Zulassungen selber regeln Bildungsbereich kein Angebot zur Liberalisierung ge- können. macht und auch keine Forderungen an die Länder ge- stellt. Nach den Worten des EU-Handelskommissars Was sagen uns diese amerikanischen Vorstellungen? Lamy soll es bei der Bildung keine Veränderungen ge- Es zeigt sich bei genauer Betrachtung, dass die Auffas- ben. Im Beschluss der EU-Kommission heißt es wört- sungen der USA auf der einen Seite und Deutschlands lich: und Europas auf der anderen Seite eigentlich nicht so weit auseinander liegen. Es wird auch künftig möglich Die Kommission schlägt keine Verpflichtung im sein, dass deutsche Universitäten bzw. die staatlichen Bildungssektor vor. Demzufolge behalten alle Mit- Einrichtungen in den Bundesländern Qualitätsstandards gliedstaaten vollständig das Recht, über die geeig- setzen und Hochschulabschlüsse anerkennen. Auch wer- nete Organisation ihres Bildungssystems zu ent- den die deutschen Bundesländer in Zukunft die eigenen scheiden. staatlichen Hochschulen mit Steuergeldern besonders Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2003 4715

Thomas Rachel (A) finanzieren und unterstützen können. Umgekehrt werden Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für (C) ausländische Bildungsanbieter nicht automatisch die die Aussprache 45 Minuten vorgesehen. – Ich höre dazu gleiche Form der finanziellen Unterstützung bzw. Sub- keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen. vention durch den Staat beanspruchen können. Es ist also das gemeinsame Anliegen der USA und Deutsch- Ich eröffne die Aussprache und erteile zunächst dem lands, dass eine staatliche Finanzierung von Bil- Kollegen Eckhardt Barthel für die SPD-Fraktion das dungseinrichtungen im eigenen Land keine Subven- Wort. tionsansprüche etwaiger ausländischer privater Bildungsanbieter auslöst. Eckhardt Barthel (Berlin) (SPD): Insgesamt zeigt sich somit, dass es sehr wohl eine Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Rot-Grün ganze Reihe von Gemeinsamkeiten zwischen den USA hatte in der Koalitionsvereinbarung als Ziel formuliert, und Deutschland bzw. der EU gibt. Ich denke, dies sollte eine Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“ ein- eine gute Grundlage dafür sein, dass die GATS-Verhand- zusetzen. Wir haben uns nun sehr bemüht, dies noch vor lungen auch im Bildungsbereich sachgerecht und konse- der Sommerpause zu erreichen. Dass dies gelungen ist, quent zu einem für alle Beteiligten fruchtbaren Ergebnis darüber darf man sich freuen. Auch freue ich mich, Herr geführt werden. Nooke, dass sich alle vier Fraktionen auf eine gemein- same Aufgabenbeschreibung einigen konnten. Das ist Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. nicht nur wegen der Atmosphäre, sondern auch im Hin- blick auf die spätere Arbeit wichtig. Herr Nooke, Herr (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie Otto, ich bedanke mich bei Ihnen auch dafür, dass wir bei Abgeordneten der SPD) dies so kollegial geregelt haben.

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: (Beifall im ganzen Hause) Ich schließe die Aussprache. Dies ist ein gutes Zeichen für die Arbeit in den nächsten beiden Jahren. – Herr Nooke, so viel zur Frage, wo denn Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der das Positive bleibe. Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen zur Sicherung eines fairen und nachhaltigen Handels (Heiterkeit und Beifall bei der SPD und dem durch eine umfassende entwicklungsorientierte Welthan- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zurufe von delsrunde, Drucksache 15/1317. Wer stimmt für diesen der CDU/CSU) Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich der Meine Damen und Herren, wir haben uns in doppelter (B) Stimme? – Der Antrag ist mit den Stimmen der Koali- (D) tion gegen die Stimmen der Opposition angenommen. Hinsicht begrenzt: Erstens haben wir die Dauer der En- quete-Kommission auf zwei Jahre festgelegt. Dies halte Tagesordnungspunkte 11 b bis 11 d: Interfraktionell ich insofern für sinnvoll, als am Ende dieser zwei Jahre wird die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen die Chance besteht, noch in dieser Legislaturperiode das 15/1008, 15/1095 und 15/1010 an die in der Tagesord- eine oder andere Ergebnis aus der Enquete-Kommission nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Dazu be- in die parlamentarische Arbeit hineinzubekommen. Da- steht offenkundig Einvernehmen. Dann sind die Über- her ist es gut, dass wir nicht in einer Endlosschleife lan- weisungen so beschlossen. den; das soll es ja auch schon gegeben haben. Wir kommen zu Zusatzpunkt 4: Abstimmung über Zweitens haben wir uns bei der Festlegung der den Antrag der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache Themen begrenzt, die wir behandeln wollen. Mir tut es 15/1323 mit dem Titel „WTO-Doha-Runde zum Erfolg zwar ein bisschen Leid um meine lieben Kolleginnen führen – Voraussetzungen schaffen für eine erfolgreiche und Kollegen – ich sehe gerade Frau Griefahn –: Aus- WTO-Ministerkonferenz in Cancun/Mexiko“. Wer wärtige Kulturpolitik und der Medienbereich einschließ- stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer lich der neuen Medien sind nicht dabei. Aber es war an- enthält sich? – Dieser Antrag ist mehrheitlich abgelehnt. gesichts der Begrenzung auf zwei Jahre notwendig, Mut zur Lücke zu haben; anderenfalls hätte die Gefahr be- Zum Zusatzpunkt 5 wird interfraktionell die Überwei- standen, in die Oberflächlichkeit abzudriften. sung der Vorlage auf Drucksache 15/1333 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Meine Damen und Herren, die Enquete-Kommission – Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann soll nicht nur eine Bestandsaufnahme der Situation der ist die Überweisung so beschlossen. Kultur in Deutschland vornehmen, sondern auch Hand- lungsempfehlungen erarbeiten. Wir alle wissen, dass es Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf: mit unserer Kulturlandschaft nicht gerade zum Besten Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD, bestellt ist. der CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE Nun neige ich nicht dazu, die Arbeit einer Enquete- GRÜNEN und der FDP Kommission überzubewerten und zu glauben, nach Ab- Einsetzung einer Enquete-Kommission „Kul- schluss ihrer Arbeit sehe die Welt anders aus. Wir sollten tur in Deutschland“ sie aber auch nicht unterbewerten. Wenn wir dies ge- glaubt hätten, hätten wir uns allerdings auch nicht so – Drucksache 15/1308 – stark dafür engagiert. 4716 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2003

Eckhardt Barthel (Berlin) (A) Was Aufgaben, Sinn und Kompetenz der Enquete- Das öffentliche Interesse an der Enquete-Kommission (C) Kommission angeht, zitiere ich eine Stimme von außen, „Kultur in Deutschland“ ist schon im Vorfeld riesengroß. nämlich aus der „Welt“ von gestern, sofern es mir der Präsident erlaubt. (Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Schauen wir mal!) (Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Aus- nahmsweise!) – Da schauen wir nicht; das erleben wir permanent. Wenn Sie einmal die Presse im Kulturteil verfolgen – die – Dieser Präsident tut das. FDP verfolgt anscheinend nur den Wirtschaftsteil –,

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: (Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Der Präsident weist gern darauf hin, dass der Moder- nitätsgrad dieses Parlaments schon so weit gediehen ist, dann werden Sie feststellen, wie häufig darüber ge- dass jederzeit Zitate ohne Genehmigung des Präsidenten schrieben wird, manchmal auch mit Häme – das gebe ich vorgetragen werden dürfen, gerne zu – unter der Überschrift „Noch eine Kommis- sion“, wobei die dann mit der Rürup-Kommission usw. (Heiterkeit und Beifall im ganzen Hause) gleichgesetzt wird; es sei denn, Herr Kollege, sie seien unflätig. Dann (Monika Griefahn [SPD]: Das sollte man nicht müsste eingegriffen werden. unterstellen!)

Eckhardt Barthel (Berlin) (SPD): aber das ist ein anderes Thema. Da dieses Zitat aus der „Welt“ stammt, vermute ich, Die Enquete-Kommission stößt also auf ein sehr gro- dass das nicht zu erwarten ist. ßes Interesse, vor allen Dingen – das ist für uns beson- ders wichtig – auf das große Interesse von Kulturinstitu- Ich finde diesen Artikel ganz spannend; denn es wird ten sowie von Künstlerinnen und Künstlern an der die Frage gestellt: Arbeit, die wir leisten wollen. Man merkt es erstaunli- Wozu dieser ganze Aufwand im nationalen Parla- cherweise – ich weiß, wovon ich rede – an den vielen ment, das doch nach streng föderalistischer Lesart Angeboten von Einzelpersonen aus der Kulturszene und für Kultur gar nicht zuständig ist? auch von Kulturinstituten, mitzuarbeiten. Die Antwort darauf ist sehr faszinierend; ich möchte sie (Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Das ist (B) (D) Ihnen mitgeben: wohl wahr!) Es geht darum, dass der Bundestag als demokra- – Herr Otto, ich finde es ganz toll, dass diese Bereit- tischer Souverän den politischen Willen der Kultur- schaft vorhanden ist. nation Deutschland zum Ausdruck bringt. Dazu muss diese Kulturnation sich über sich selbst auf- Über etwas anderes bin ich ein bisschen traurig: Da klären. Sie muss eine Vorstellung von ihrem Reich- wir nur eine begrenzte Zahl von Sachverständigen haben tum gewinnen und sich des Prozesses der schlei- werden, werden viele, die sich in diesem Bereich enga- chenden Verödung der Kulturlandschaft bewusst gieren wollen, enttäuscht sein. Das tut mir schon jetzt werden. Wenn in finanziell strangulierten Kommu- Leid. nen die Stadttheater, die Bibliotheken, die Musik- schulen sterben, dann geht das die ganze Nation an. Wir werden heute gemeinsam den vorliegenden An- trag beschließen. Ich bin sicher: Angesichts der gemein- (Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Das samen Vorbereitungen und der kooperativen Zusammen- soll alles die Enquete-Kommission selbst ma- arbeit im Vorfeld wird auch die Arbeit in dieser Enquete- chen?) Kommission sicher sehr erfolgreich werden – und dies nicht, weil es uns Spaß macht, sondern weil hoffentlich – Sie hat einen Rahmen. Wir sollten uns nicht überschät- ein gutes Ergebnis herauskommt, was für unsere Kultur- zen. Ich glaube aber, es ist wichtig, nicht nur darauf hin- landschaft in Deutschland nur positiv sein kann. zuweisen, wie wir die Enquete-Kommission sehen, son- dern auch darauf, wie sie von außen gesehen wird. Ich bedanke mich. Zu diesen Aufgaben gehört natürlich – ich will nur ei- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten nige nennen –: die Frage der Strukturreformen, die über- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der all notwendig sind, die Frage, wie wir das bürgerschaft- FDP) liche Engagement, das ja vorhanden ist und das durch unser Stiftungsrecht – wenn ich das hier einmal sagen darf – erhöht wurde, stärker in den Kulturbereich lenken, Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: die Frage der kulturellen Bildung und nicht zuletzt die Das Wort hat nun die Kollegin Gitta Connemann, Aufgabe, die wirtschaftliche und soziale Situation der CDU/CSU-Fraktion. Menschen in unserem Lande, die Kunst machen, aufzu- arbeiten. (Beifall bei der CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2003 4717

(A) Gitta Connemann (CDU/CSU): werden kann. Hieraus folgt die Kernfrage: Gibt es einen (C) Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Deutsch- Anspruch auf eine kulturelle Grundversorgung? Was ge- land hat eine einzigartige Kulturlandschaft. Unser hört zum notwendigen kulturellen Fundament einer Na- Land bietet eine beispiellose kulturelle Vielfalt, die über tion? Wie viel Kultur gehört zur Bildung? Wie viel Bil- viele Generationen gestaltet worden ist. Der frühere dung setzt Kultur voraus? Bundespräsident Richard von Weizsäcker hat dies tref- Meine Damen und Herren, wenn über eine Verpflich- fend beschrieben. Er hat gesagt: tung des Staates – auf welcher Ebene auch immer – Unsere Kultur ist gewachsen wie ein kräftiger und nachgedacht wird, wird auf der anderen Seite über eine viel gestalteter Mischwald. Er leistet seinen Beitrag stärkere Beteiligung des Nutzers zu diskutieren sein. zur lebensnotwendigen Frischluft. Wie viel Kultur muss aus öffentlichen Mitteln finanziert werden? Es steht sicherlich außer Frage, dass der Staat Die Menschen in unserem Land – also wir – brauchen sich nicht gänzlich aus der Kulturförderung zurückzie- Kultur. Stellen Sie sich ein Leben ohne Theater – sei es hen darf. Aber ohne private Kulturförderung wird es Staatsbühne oder Volkstheater –, ohne Musik – sei es Phil- dauerhaft nicht gehen, und zwar unabhängig von der harmonie oder Kirchenchor –, ohne Tanz – sei es Ballett Kassenlage. oder Volkstanzgruppe –, ohne Literatur – sei es Roman oder Kinderbuch –, ohne bildende Kunst – sei es im Mu- (Beifall bei der CDU/CSU, dem BÜNDNIS 90/ seum oder zu Hause – vor. DIE GRÜNEN und der FDP) Wir brauchen Kultur wie die Luft zum Atmen. Doch Denn im privaten Engagement liegt auch immer eine diese Luft wird zunehmend dünner. Grund hierfür ist die Ressource, die finanziell nicht messbar ist. Wie können Not der öffentlichen Haushalte. Versiegende Finanzen wir in diesem Bereich bürgerschaftliches Engagement führen zur Schließung von Theatern, Museen oder Mu- stärken, wie können wir es attraktiver machen? sikschulen. Die meisten dieser Einrichtungen verschwin- Auch bei uns gibt es Mäzenatentum. Denken Sie nur an den unwiederbringlich. Was jetzt verloren geht, wird Männer in unserer Tradition wie Solomon Guggenheim wohl verloren bleiben, selbst wenn sich die Haushalts- oder Heinz Berggruen! Privatleute wie zum Beispiel lagen entspannen. Henri Nannen errichten Stiftungen. Schenkungen sind Meine Damen und Herren, wenn diese Entwicklung keine Seltenheit. Sie sind aber nicht wie in angloameri- nicht beendet wird, werden wir über kurz oder lang vor kanischen Ländern die Regel. Kann dies durch flankie- den Ruinen dessen stehen, was einmal eine einzigartige rende Maßnahmen attraktiver gemacht werden? Bedarf Kulturlandschaft war. es anderer Regelungen im Bereich des Steuerrechts und (B) des Stiftungsrechts? Welche weiteren Möglichkeiten, (D) (Beifall bei der CDU/CSU und dem BÜND- wie zum Beispiel Sponsoring, gibt es? NIS 90/DIE GRÜNEN) Kultur ist selbst ein wichtiger ökonomischer Faktor. Dieser drohenden Gefahr sind sich alle Fraktionen in Mit Kultur lässt sich Geld verdienen. Kultur bietet Ar- diesem Hause bewusst. Mit dem vorliegenden interfrak- beitsplätze. Kultur wertet jeden Standort auf. Heute will tionellen Antrag wollen wir deshalb eine Enquete-Kom- kaum jemand an einem Ort leben oder arbeiten, in dem mission „Kultur in Deutschland“ einsetzen. Sie hat die es kein kulturelles Angebot gibt. Kein Tourist besucht Aufgabe, eine umfassende Beschreibung des Kultur- gerne einen solchen Ort. Welche ökonomischen Chancen lebens in Deutschland zu liefern und folgende Fragen zu bietet also Kultur? Welche Möglichkeiten gibt es für die beantworten: Was macht heute Kultur in Deutschland in diesem Bereich Tätigen? Kultur ist immer nur das, aus? Was müssen wir schützen, was weiterentwickeln? was Menschen schaffen. Es geht aber nicht nur um eine Bestandsaufnahme. Die wirtschaftliche und soziale Situation der Künst- Ziel der Enquete-Kommission wird auch sein, dem Par- lerinnen und Künstler wird ein weiteres wichtiges lament auf dieser Basis konkrete, umsetzbare Vorschläge Thema sein. Ist ihre Situation befriedigend? Wie kann für eine Bestandssicherung und für eine Stärkung von sie gegebenenfalls verbessert werden, zum Beispiel im Kunst und Kultur in Deutschland zu unterbreiten. Bereich der Künstlersozialversicherung? Wie steht es (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem mit dem Urheberrecht, dem Folgerecht im Kunsthandel? BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) In der derzeitigen Diskussion wird unter anderem die Frage gestellt, ob wir das öffentliche Dienstrecht im Um eine Grundlage für gesetzgeberische und ord- Kulturbereich brauchen. nungspolitische Initiativen zu schaffen, bedarf es Fakten. Da fehlen uns zum Teil aktuelle Daten, zum Beispiel für Fragen über Fragen. Wir brauchen diese Enquete- den Bereich der Kulturförderung. Wie ist die Lage der Kommission, um festzustellen, welche Fragen berechtigt öffentlichen und der freien Kultureinrichtungen? Welche sind und wie sie beantwortet werden können. Die zu- Strukturen haben eine Perspektive, welche sind veraltet? künftige Kommission trägt deshalb eine große Verant- wortung; ihre Arbeit bietet aber auch eine große Chance. Wir wissen, dass die meisten kulturellen Einrichtun- gen in Deutschland öffentlich finanziert werden. Aber Bitte erinnern Sie sich an die Worte von Richard von Kultur ist eine freiwillige Aufgabe, keine Pflichtaufgabe. Weizsäcker. Die Einsetzung einer Enquete-Kommission Gerade in Zeiten von Verteilungskämpfen wie heute ist „Kultur in Deutschland“ gibt uns die Chance, nicht nur dies häufig der einzige Bereich, an den Hand angelegt den Kahlschlag in dem von ihm beschriebenen Wald zu 4718 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2003

Gitta Connemann (A) verhindern, sondern den Wald auch wieder aufzuforsten. schätzten Kosten für das zumindest hinter den Kulissen (C) Lassen Sie uns diese Chance gemeinsam nutzen! marode Bauwerk belaufen sich auf stattliche 140 Millio- nen Euro. Bei der Stadt selbst war bis vor kurzem die (Beifall im ganzen Hause) Schließung fast beschlossene Sache.

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Im Fall Erfurt zeigt sich, welche Auswirkungen die Neustrukturierung der Theaterlandschaft in einem Ich erteile das Wort der Kollegin Ursula Sowa, ganzen Bundesland haben kann. Erfurt bekommt näm- Bündnis 90/Die Grünen. lich im Herbst statt des Theaters eine Oper. In München hat sich Professor Wickenhäuser mit einer Studenten- Ursula Sowa (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): gruppe an das Projekt „Bedeutung und Zukunft des Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Deutschen Theaters für München und Bayern“ gewagt. Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“ sorgt be- Man will nicht nur Daten und Fakten erarbeiten, sondern reits für Schlagzeilen. zugleich Perspektiven zur Rettung des Deutschen Thea- ters aufzeigen. Dabei werde, so Wickenhäuser, nicht nur (Eckhardt Barthel [Berlin] [SPD]: Das nach Sponsoren geschielt, sondern die Rettung müsse so stimmt!) gestaltet werden, dass die Münchner Bürger und Bürge- Die „Welt“ wurde schon zitiert; ich zitiere sehr gern die rinnen, aber auch Firmen gerne an einer Rettungsaktion „Süddeutsche Zeitung“, weil ich von dort komme. Dort mitwirken. wird heute in einem ausgezeichneten Artikel über dieses Diese beiden Beispiele sind so genannte Länderbei- noch ungeborene Leben berichtet. Ulrich Raulff unkt: spiele; denn es sind so genannte Staatstheater betroffen, Zu fürchten ist, dass die Enquete nur das jüngste die natürlich für die jeweilige Stadt – sei es Erfurt, sei es Bild vom Staat als Spielführer in der Kultur befesti- München – von großer Bedeutung sind. Natürlich geht gen wird. … die neue Enquete nur das Relief der es hier um die Finanzierung. Seit dem Jahr 2002 hat sich bedrohten Kulturlandschaft ausleuchten soll. die Situation bei der Kulturfinanzierung verschlech- tert. Die öffentlichen Ausgaben von Bund, Ländern und Am Ende kriegt dann noch einmal der Staat so richtig Gemeinden für Kultur hatten im letzten Jahr einen Um- sein Fett ab, wenn er schreibt: fang von 8,28 Milliarden Euro. Diese Zahl ist kaum be- Wer für den Erhalt von kulturellen Einrichtungen kannt, wie eine Umfrage zeigen würde. Von diesen plädiert, sagt: Staat. Und wer für ihre Schließung 8,28 Milliarden Euro trägt der Bund etwa 10 Prozent, ist, sagt wieder: Staat. Es ist die alte deutsche Lieb- nämlich 834 Millionen Euro. Daneben bringt der Bund – (B) lingsvokabel. eine weitere überraschende Zahl – noch einmal etwa die (D) Hälfte, nämlich 480 Millionen Euro, für die Pflege kul- Leider steht in dem Beitrag nicht, was denn seine Lieb- tureller Beziehungen im Ausland auf. lingsvokabel ist. Danach muss man wohl noch woanders suchen. Wenn wir auf Bundesebene nun die Enquete-Kom- mission „Kultur in Deutschland“ einrichten, sollten wir Die Medien lieben es, immer wieder Schreckens- uns dieser Zahlen bewusst sein. In der Tat wird der Lö- nachrichten im Kulturbereich zu verbreiten. In letzter wenanteil der Kulturpolitik – etwa 90 Prozent – von den Zeit ist es Usus, über die drohende Schließung von Häu- Gemeinden und Ländern finanziert, aber die Bedrohung sern zu berichten, angefangen von Stadtteilbibliotheken der Kulturlandschaft in Deutschland geht meiner Mei- bis hin zur Oper. In manchen Städten sind sogar drei nung nach uns alle an. Umso erfreulicher ist in diesem Opern gleichzeitig bedroht. Zusammenhang, dass der Antrag zur Einsetzung der En- (Günter Nooke [CDU/CSU]: Manche Städte quete-Kommission von allen Bundestagsfraktionen ge- sind auch zehnmal so groß wie andere!) meinsam eingebracht wird. Der Bundestag macht damit deutlich, welchen Stellenwert Kulturpolitik in diesem – Das stimmt. Hause hat. Ich möchte zwei Beispiele, stellvertretend für sehr (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN viele Bedrohungen in unserer Kulturlandschaft, heraus- und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der greifen. Über das eine Beispiel war erst Mitte Juni in der CDU/CSU und der FDP) „Thüringer Allgemeinen Zeitung“ zu lesen: „Noch ist Polen nicht verloren“. So heißt auch das Stück, mit dem Ich bin davon überzeugt, dass die gemeinsame Suche das Ensemble in Erfurt heute seine letzte Vorstellung nach Lösungen für die drängenden ökonomischen Pro- gibt. Ab morgen ist Erfurt die einzige deutsche Landes- bleme unserer Kulturlandschaft und ihrer Institutionen hauptstadt ohne Schauspiel. Das Stück erzählt, wie sich ein politischer Beitrag per se werden kann. Auch in der ein Theater in schwerer Zeit behauptet. Die Thüringer Politik ist es nie verkehrt, neue Wege des Umgangs mit- Kulturpolitik gleicht eher dem Hamlet: Zaudern und einander zu probieren, sozusagen die politische Kultur warten, bis jemand die Leichen zählt. zu pflegen. Ein Blick nach München zeigt, dass auch in einer der Lassen Sie uns also in eine gemeinsame Beratung ein- reichsten Städte heftige Debatten darüber geführt wer- treten! Lassen Sie uns gemeinsam nach Lösungen su- den, ob das zur Sanierung anstehende traditionsreiche chen! Die Enquete-Kommission „Kultur in Deutsch- Deutsche Theater erhalten werden kann; denn die ge- land“ soll ein Angebot an all diejenigen auf Bundes-, Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2003 4719

Ursula Sowa (A) Länder- und kommunaler Ebene werden, die sich dafür Wie wichtig die Einbeziehung der Länder ist, zeigt (C) einsetzen wollen, dass unsere bedrohte Kulturlandschaft das Scheitern der Verhandlungen zur Fusion der Kultur- weder vertrocknet noch mutiert, sondern weiterhin in ih- stiftung des Bundes mit der Kulturstiftung der Länder in rer Vielfalt blühen wird. Ich wünsche dieser Enquete- der letzten Woche. Obwohl die Frau Staatsministerin Kommission möglichst viel Esprit, der dazu führen soll, dieses Scheitern miterlebt hat, widersetzt sie sich unserer Bürger und Bürgerinnen am besten von klein auf zu er- Forderung. muntern, diese Kulturlandschaft aktiv mitzugestalten. (Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Sie Ich möchte im Sinne von Jean-François Lyotard widersetzt sich eigentlich nicht so hart! Es sind schließen, der die Stärkung von Kunst und Kultur for- andere!) derte, um das „sonst Unbegreifliche fühlbar“ zu machen – Sie hat es vertreten müssen. – Dabei ist es Aufgabe der und uns dazu zu bringen, „unser Bewusstsein zu erwei- Enquete-Kommission, die Rolle des Staates für eine kul- tern“. turelle Grundversorgung zu definieren. Wir wollen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ohne Denkverbote über eine moderne Finanzierung, und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der über geeignete Rechtsformen und über zukunftssi- CDU/CSU und der FDP) chernde Strukturen diskutieren. Es ist schön, dass die Koalitionsfraktionen nun end- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: lich über ihren Schatten springen und sich FDP-Positio- Ich erteile das Wort der Kollegin Helga Daub, FDP- nen zu Eigen machen. Fraktion. (Beifall bei der FDP – Widerspruch bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Helga Daub (FDP): – Nun hören Sie doch einfach bis zum Ende zu. – In dem Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir be- Sinne fördern wir bürgerschaftliches Engagement. Spon- schließen heute in einem gemeinsamen Antrag aller Frak- soring, die Arbeit von Stiftungen und das Engagement tionen die Einsetzung der Enquete-Kommission „Kultur von Mäzenen brauchen Strukturen, über die wir vorbe- in Deutschland“. Obwohl das Wort „Kommission“ ge- haltlos diskutieren müssen. wisse Abnutzungserscheinungen erfahren hat – siehe Hartz und Rürup –, obwohl wir gerne die Länder mit im Es sind Menschen, die Kunst machen; sie entsteht nicht Boot sähen, werden wir engagiert mitarbeiten, weil uns von allein. Deshalb gehört natürlich auch die Situation der das Thema Kultur wichtig ist. Künstler in die Kommission. Eine klare Analyse darüber (B) soll uns später in die Lage versetzen, rechtliche Rahmen- (D) Wir sind ein Land mit bedeutender Kultur. Ja, es bedingungen – ich betone: Rahmenbedingungen – zu er- stimmt: Unsere Theater- und Museenlandschaft ist welt- stellen, die der Arbeitswirklichkeit der Künstler entspre- weit einzigartig. Das gilt es, zu erhalten, für uns und für chen. unsere Kinder. (Beifall bei der FDP) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Um diese Arbeit zu unterstützen und zu fördern, ha- ben wir zusammen mit der Union eine Große Anfrage Der Zeitpunkt der Einsetzung dieser Enquete-Kom- eingebracht. Die Künstler brauchen auch Kunstverwer- mission könnte passender nicht sein. Die Haushalts- ter wie beispielsweise Galeristen und Konzertmanager. situation von Bund, Ländern und Gemeinden ist be- Auch damit werden wir uns befassen. drohlich für unsere kulturellen Aktivitäten. Die weit verbreitete Ignoranz der eigenen Kultur gegenüber führt Wir reden viel von Bildung. Dazu gehört auch die in der Politik nur allzu leicht zu der Neigung, Kultur musisch-kulturelle Bildung. nach Kassenlage zu machen, also zu sparen. Am Ende (Eckhardt Barthel [Berlin] [SPD]: Richtig!) bleibt von der Kultur nur noch der Kulturbeutel übrig. Eine langfristig angelegte Kulturpolitik muss die Folgen (Heiterkeit und Beifall bei der FDP und der der Schließung von Musikschulen, die Folgen der Kür- CDU/CSU – Horst Kubatschka [SPD]: Das zung der Kulturetats oder die Folgen des Ausfalls von war ein schönes Bonmot, aber nicht zutref- Musik- und Kunstunterricht an den Schulen kennen. fend!) Hier wird der Grundstein zum Verständnis unserer Kul- Der Umgang des rot-roten Berliner Senats mit seinen tur gelegt. Opern ist eines der traurigen und zugleich erschrecken- (Beifall bei der FDP) den Beispiele dafür. Hier werden Neigung und Interesse von Kindern ge- Die FDP begrüßt, dass sich endlich eine Kommission weckt. Die Schulen haben hier eine große Verantwor- mit den Auswirkungen der finanziellen Lage der Kom- tung. Deshalb müssen wir klären, wie die Schulen durch munen auf den Kulturbereich und mit dem Besucherinte- Kooperation mit anderen Kultureinrichtungen in dieser resse an den jeweiligen Kultureinrichtungen befasst. Ich Arbeit unterstützt werden können. fordere Sie deswegen auf, das Verlangen der FDP nach einer gemeinsamen Bund-Länder-Enquete nicht mehr zu (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten blockieren. der CDU/CSU) 4720 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2003

Helga Daub (A) Es ist eine kluge Entscheidung, den Zeitrahmen für deutet nicht nur, dass die Länder und Kommunen und (C) die Kommissionsarbeit auf zwei Jahre festzulegen. Ge- nicht der Bund Hauptträger der Kulturpolitik sind. Sub- rade im Hinblick auf die notwendige Strukturerneuerung sidiarität bedeutet vor allem, dass der Staat die kulturelle und gleichzeitig sinkende Kulturetats dürfen wir keine Entfaltung nur unterstützt, und zwar mit erheblichen Zeit verlieren. Zudem schlagen wir vor, dass die En- Geldmitteln und fachlicher Kompetenz. Kaum eine grö- quete-Kommission in regelmäßigen Abständen die Öf- ßere kulturelle Einrichtung könnte heute ohne öffent- fentlichkeit über Teilergebnisse unterrichtet. Die Ergeb- liche Förderung überleben. nisse der Kommission sind eine Bestandsaufnahme und Handlungsempfehlungen. Die eigentliche Kulturpolitik (Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: findet aber natürlich im Ausschuss für Kultur und Me- Leider!) dien sowie bei den Menschen statt. Der Trachtenverein, der seine kostspieligen Trachten zu Ich bitte Sie darum, dass wir in diesem Sinne in der erhalten hat, erwartet vom Staat ebenso Unterstützung Kommission effektiv miteinander arbeiten. Dann wird wie der Mühlenbesitzer, der seine denkmalgeschützte auch etwas Gutes daraus. Mühle unterhalten muss. Ich danke Ihnen. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall im ganzen Hause) Bund, Länder und Gemeinden geben jährlich insge- samt – wir haben die Größenordnung vorhin schon ge- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: hört – über 8 Milliarden Euro für Kunst und Kultur aus. Von privater Seite werden dagegen bisher nur rund Nun erteile ich das Wort dem Kollegen Matthias 255 Millionen Euro an Sponsorenmittel investiert. Die- Sehling, CDU/CSU-Fraktion. ses Dreißigstel der Privaten ist selbstverständlich noch (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) viel zu wenig. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Matthias Sehling (CDU/CSU): Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Die Städte und Gemeinde sind aufgrund der sinkenden Einsetzung der Enquete-Kommission „Kultur in Gewerbesteuereinnahmen hier zunehmend überfordert. Deutschland“ wird von der CDU/CSU-Fraktion nicht Die öffentliche Kulturförderung muss deshalb stärker als aus Nächstenliebe gegenüber den Koalitionsfraktionen bisher – wer wüsste es nicht – durch privates Sponso- unterstützt, nur weil diese das in ihrem Koalitionsvertrag ring ergänzt werden. Wir brauchen die Privaten, die vorgesehen haben. Wirtschaft, die Mäzene und die Stiftungen, und zwar (B) nicht nur, um dem Staat und den Kommunen Geld zu (D) (Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE sparen, sondern vielmehr auch, um möglichst zahlreiche GRÜNEN]: Das würden wir Ihnen auch nicht zusätzliche Projekte zu verwirklichen. Es wurde vorhin glauben!) schon angesprochen: Selbst das kürzlich reformierte Stiftungswesen muss offenbar noch attraktiver gestaltet Vielmehr halten wir die damit beabsichtigte genauere und ausgebaut werden. Untersuchung der Situation und des Strukturwandels öf- fentlicher Kulturpolitik zur Sicherung der Kulturarbeit (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) angesichts der aktuellen Finanzmisere in den öffentli- chen Haushalten für dringend erforderlich. Angesichts der Vererbungswelle in den nächsten Jahren darf der Staat nichts unversucht lassen, Anreize für Stif- (Beifall bei der CDU/CSU) tungen und Sponsoring zu schaffen, und zwar nicht nur Der frühere bayerische Staatsintendant August für den Sport. Everding hat es treffend formuliert: „Kultur ist keine Zu- (Eckhardt Barthel [Berlin] [SPD]: Erbschaft- tat, Kultur ist der Sauerstoff einer Nation.“ Kultur hat ei- steuer!) nen Wert an sich. Wenn sie einer Rechtfertigung bedarf, dann der, dass der Staat ohne sie verkümmert und der Ein wesentlicher Bestandteil der staatlichen Kultur- Einzelne erstickt. Deswegen muss jede Generation die förderung, der im Einsetzungsantrag nicht erwähnt wird, Chance haben, mit Kultur aufzuwachsen. Kulturpolitik ist die Bewahrung und die Pflege des Kulturgutes der ist somit nicht nur die Aufgabe des Staates und der Kom- deutschen Vertreibungsgebiete. Die Geisteswerke munen, sondern gar ihre Pflicht. Immanuel Kants aus Ostpreußen und Gerhart Haupt- manns aus Schlesien gehören ebenso zur deutschen (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Kultur wie die Leistungen des aus Eger stammenden Ungeachtet der konkreten Ausgestaltung der Kompe- Balthasar Neumann oder des Böhmerwald-Dichters tenzverteilung zwischen Bund, Ländern und Gemein- Adalbert Stifter. Dieser Auftrag zur Bewahrung ist im den wird im Grundgesetz ungeschrieben von der Kultur- Übrigen eine der wenigen Aufgaben im kulturellen Be- staatlichkeit der Bundesrepublik ausgegangen. Das reich, die dem Bund ausdrücklich übertragen worden Bundesverfassungsgericht hat daraus auch die Legitimi- sind. Sie wurde sogar eigens im deutschen Einigungs- tät staatlicher Mittel für die Kultur abgeleitet. vertrag festgezurrt. Der Staat hat sich jedoch auch Grenzen auferlegt. In (Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne der Kulturpolitik gilt das Subsidiaritätsprinzip. Das be- Kastner) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2003 4721

Matthias Sehling (A) Durch die Verankerung in § 96 Bundesvertriebenen- der Verantwortlichkeiten auf Bund oder Länder sowie (C) gesetz verfügen Bund und Länder hier über einen zeit- die Finanzierung der Aufgaben. losen Gestaltungsauftrag. In der gesamten deutschen Be- völkerung und übrigens auch im Ausland soll das Bei allen kooperativen Ausprägungen, die sich in der Bewusstsein um das Kulturgut der Vertreibungsgebiete Staatspraxis herauskristallisiert haben, ist klar – das ist wach gehalten werden. Dieser Auftrag und die mit ihm unstreitig –, dass die Kulturhoheit prinzipiell bei den verbundenen Möglichkeiten werden, um es vorsichtig zu Ländern liegt. In den Debatten des Deutschen Bundesta- sagen, bei weitem noch nicht ausgeschöpft. ges aber wird die Kulturarbeit in den Städten und Kom- munen selten bedacht. Dabei ist dies die Ebene, die im Im Einsetzungsantrag der Enquete-Kommission wird Wesentlichen kulturelle Aktivitäten entwickelt und ver- das Ziel genannt, zu zeigen, was Kultur in Deutschland antwortet. heute ausmacht. Gleichzeitig wird zu Recht betont, dass (Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Da ist die Pflege von Kunst und Kultur vorrangig Aufgabe der was dran!) Länder und Kommunen ist. Deswegen schlage ich, ähn- lich wie bei der PISA-Studie, ein gezieltes Benchmar- Die Kommunen selbst und die Menschen dort sind king vor. So könnte unsere Bestandsaufnahme der Kul- die Hauptakteure; denn die Kommunen klären vor Ort turförderung und Kulturarbeit in Deutschland eine eigenverantwortlich und in aller Regel ohne Rechts- Benchmarking-Bilanz der Kulturpolitiken der Länder pflicht, welche Angebote vorgehalten werden. Hier beo- und des Bundes ergeben – sozusagen eine PISA-Studie bachten wir seit Jahren, dass die kommunale Finanznot der Kulturförderung. In zwei Jahren werden wir dann auf der Kulturarbeit vor Ort lastet. Vieles ist infrage ge- eine Datengrundlage haben, um zu erkennen, wo wir im stellt. Manche Angebote wurden bereits aufgegeben. Kulturstaat Deutschland heute stehen, wo es Defizite Wenn sich diese Enquete-Kommission in einem beson- gibt und wie wir den Kulturstaat Deutschland trotz knap- deren Schwerpunkt den Bedingungen der Kulturarbeit per Mittel nachhaltig sichern und ausbauen sollten. vor Ort zuwendet, geschieht dies ausdrücklich nicht in der Absicht, die kommunale Eigenverantwortlichkeit zu Danke schön. unterlaufen. Vielmehr geht es nach meiner Überzeugung (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) darum, die grundsätzlichen Entwicklungen aufzuspüren, dabei ihre Risiken und Chancen auszuloten und sich zen- tralinhaltlich selbst zu vergewissern, was wir zukünftig Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: auf Dauer brauchen. Nächster Redner ist der Kollege Siegmund Ehrmann, (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten SPD-Fraktion. (B) der CDU/CSU und der FDP) (D) Siegmund Ehrmann (SPD): Einige Themenfelder sind von meinen Vorrednerin- nen und Vorrednern angesprochen worden. Ich möchte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Werte einige Akzente unter einem speziellen Blickwinkel her- Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Sehling, ich ausarbeiten. darf Sie direkt ansprechen: Sie haben beachtliche Ge- danken vorgetragen und besonders herausgearbeitet, Der erste Punkt ist der Strukturwandel. Bei aller dass in die Überlegungen unseres kulturellen Erbes si- Kritik an Krise und Finanznot liegt in Krisen – ich weiß, cherlich auch das einzubeziehen ist, was in den Vertrei- das ist ein flacher Spruch – auch eine Chance. Konkret bungsgebieten erschaffen wurde und was uns auch kul- ist zu beobachten, dass der Druck in den Kommunen und turell bindet. Da Sie das hervorgehoben haben, will ich unter den Kultur Schaffenden deutlich diskursive Pro- auf Folgendes aufmerksam machen: Wir haben unge- zesse über kommunale Kulturentwicklung in Gang ge- heuer viel Kulturgut dadurch verloren, dass Emigrantin- setzt hat. Deutlich zu beobachten ist, dass sich der Dia- nen und Emigranten in der Zeit von 1933 bis 1945 das log zwischen den Kulturverantwortlichen einzelner Land verlassen haben. Institutionen und ihre Kooperationsfähigkeit deutlich verbessert haben. Die Kulturverwaltungsreform zei- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten tigte beachtliche Erfolge. Bedeutende Organisationsmo- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der delle sind entwickelt worden, die Effizienzgewinne er- CDU/CSU und der FDP) zielten. Dieser Aderlass lastet schwer auf uns. Auch das gehört Das zweite Stichwort lautet Selbstorganisation und dazu und ergänzt sich. Das ist kein Widerspruch. ehrenamtliches Engagement. Deutlich ist: Nicht nur die kommunalen Institutionen prägen das Klima in den Die Aufgaben der Enquete-Kommission sind von Städten. Jeder hat aus seinem Umfeld Beispiele deutlich meinen Kollegen Vorrednerinnen und Vorrednern be- vor Augen. schrieben worden. Bevor ich auf einzelne Aspekte ein- gehe, erlauben Sie mir eine Anmerkung. Wir erleben Bildende Künstlerinnen und Künstler etablieren sich zurzeit eine sehr grundsätzliche und verfassungspoliti- autonom in Ateliergemeinschaften und öffnen ihre Ar- sche Debatte – das haben wir in dieser Woche im Aus- beitsstätten. Bürgerinitiativen koordinieren kulturelle schuss für Kultur und Medien erlebt; die Frage der Fu- Aktivitäten in ihren Stadtteilen, profilieren sie, lassen sion der Kulturstiftung ist dafür ein lebendiges Bei- aufhorchen und heben bewusst die kulturellen Schätze spiel – über die Aufgaben des Staates, die Zuordnung ihrer Quartiere. 4722 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2003

Siegmund Ehrmann (A) Breites bürgerschaftliches Engagement ist gerade greifen, dann wird deutlich, dass diese Enquete-Kom- (C) in Zeiten der Krise insofern zu beobachten, als sich eine mission eine sehr wichtige Aufgabe hat. Ich freue mich, Fülle von Fördervereinen und Initiativen um Institutio- dass es in diesem Parlament möglich ist, die Enquete- nen herum bilden. Das sind lebhafte Beispiele konkreten Kommission gemeinsam auf den Weg zu bringen. Ich er- ehrenamtlichen Engagements. Wenn sich eine Bürger- hoffe mir eine gute Zusammenarbeit, gute Ergebnisse stiftung bildet, um eine aufgegebene städtische Galerie und eine Plattform, die weiteres und konkretes, vielleicht zu retten, zeigt dies, dass auch moderne Formen, die wir sogar gesetzgeberisches Handeln in diesem Haus eröff- zum Teil gesetzgeberisch eröffnet haben, greifen und vor net. Ort einen kulturellen Mehrwert organisieren. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) (Beifall im ganzen Hause)

Es sind die Stichworte kulturelle Grundversorgung und Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: kulturelle Grundbildung genannt worden. Aus einer ganz anderen Ecke, nämlich dem Ausbau der Ganztags- Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege betreuung, wird eine engere Kooperation zwischen schu- Günter Nooke, CDU/CSU-Fraktion. lischen Aktivitäten und den kulturellen Aktivitäten vor (Beifall bei der CDU/CSU) Ort nahezu provoziert. Bei der Kooperation zwischen Grundschulen und Institutionen wie Musikschulen, Kin- der- und Jugendtheatern und Bibliotheken gibt es erfreu- Günter Nooke (CDU/CSU): liche Beispiele von Pilotprojekten. Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Es wurde von den Vorrednern schon darauf hingewiesen, Zugleich stellt sich in diesem Kontext aber auch die auch von den Vorrednern meiner Fraktion, nämlich der Frage, wie sich das Verhältnis von Zentralität und De- designierten Vorsitzenden und dem Kollegen von der zentralität von Grundbildungsangeboten gestaltet. Es ist CSU, dass wir einen gemeinsamen Einsetzungsbe- ein Aberwitz, Stadtteilbibliotheken zu schließen, wenn schluss dazu benutzen wollen, gemeinsame und für die stadtteilnahe Grundschulen mit Bibliotheken zur Lese- Kulturförderung in Deutschland ergebnisreiche Arbeit förderung kooperieren sollen. Da stellen sich Fragen. zu leisten. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Die Anfangsbedingungen in dieser Debatte sind gut. DIE GRÜNEN) Unser Ziel ist es, das Thema Kultur nicht nur zu untersu- Das ist aber letztendlich eine kommentierende Anmer- chen und darzustellen, sondern auch konkrete Maßnah- (B) kung. Ich weiß, es geht hier um kommunale Selbstver- men zu entwickeln und zu empfehlen, um Kulturförde- (D) waltungsrechte, die ich angesichts unserer Kompetenz rung in Deutschland zu stärken. abschließend nicht bewerten will. Aber es geht um in- Ich will in diesem Zusammenhang an die Diskussion haltliche Entwicklungen, die aufzuzeigen sind. Da soll- erinnern, dass wir uns den Titel „Kulturförderung in ten wir nicht wegtauchen. Deutschland“ als noch treffender für den Kernbereich Ich möchte schließlich das Augenmerk noch auf eine unserer Aufgaben hätten vorstellen können. weitere Aufgabe der Enquete-Kommission richten: die (Beifall bei der CDU/CSU) Kulturwirtschaft. Wir reden immer von dem „weichen“ Standortfaktor. Was wir mit der Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“ vielleicht nicht vollständig schaffen wer- (Günter Nooke [CDU/CSU]: Richtig!) den, ist – das kam in dieser Debatte auch schon zur Spra- Wer das ausschließlich darauf verkürzt, der hat die Rea- che – die Selbstfindung der Kulturnation Deutschland. lität nicht richtig wahrgenommen. Ich glaube, daran müssten sich noch einige andere betei- ligen. Wenn sich im Zusammenhang mit der Enquete- (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE Kommission einige in diesem Hause wie auch außerhalb GRÜNEN und der CDU/CSU) dieses Hauses und außerhalb der Politik darüber Gedan- Kultur ist ein ausgesprochen harter Standortfaktor und ken machen würden, worum es dabei eigentlich geht, hat ökonomisch enorme Entwicklungspotenziale. Wer dann hätte die Kommission sicherlich schon eine we- daran Zweifel hat, der möge sich die Kulturwirtschafts- sentliche Debatte angestoßen. berichte in Nordrhein-Westfalen, die schon in vierter Aus der Feststellung, dass das Untersuchen nicht das Edition herausgegeben werden, anschauen. Es gibt dort einzige Anliegen der Kommission ist, sondern dass wir sehr konkrete Beispiele, die die Umwegrentabilität auch umsetzbare Handlungsempfehlungen entwickeln deutlich belegen. Da sollten wir alle nachdenklich wer- wollen, die auf verlässlichen Bestandsaufnahmen basie- den. Auch unter ökonomischen Aspekten ist die Kultur- ren, ergibt sich auch die Notwendigkeit, dass wir die ent- wirtschaft ein wichtiger Faktor. Damit wird existenziell sprechenden Daten möglichst bald bekommen. Wir ha- auch die Beschäftigungssituation der dort Schaffenden ben – zugegebenermaßen etwas streberhaft – schon angesprochen. Auch das ist ein Aspekt unserer Enquete- darauf hingearbeitet. Frau Daub hat bereits darauf hinge- Kommission. Insofern ist ihre Arbeit sehr breit angelegt. wiesen. In dieser Woche haben wir gemeinsam mit der Wenn wir Kultur als Treibsatz, als Ferment vielfälti- FDP eine Große Anfrage eingebracht, die sich mit der ger Facetten des gesellschaftlichen Zusammenlebens be- wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung der künstleri- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2003 4723

Günter Nooke (A) schen Berufe und des Kulturbetriebs in Deutschland be- Schilde als die Förderung der Kultur im verfassungsmä- (C) schäftigt. ßigen Rahmen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wir sollten uns bei der zukünftigen Arbeit der Kom- mission auch darauf verständigen, dass die Aufgaben der Damit wird die geplante Bestandsaufnahme der En- Länder und Gemeinden nicht zum Hauptgegenstand der quete-Kommission zur sozialen Lage der Künstlerinnen Beratungen werden. Trotzdem werden wir uns damit be- und Künstler präzisiert und ergänzt. Darüber hinaus wird fassen müssen, um zum Beispiel die von meinen Vorred- der Kunstmarkt mit einbezogen. Die Künstlerinnen und nern angesprochene Analyse zu erstellen. Wenn wir über Künstler stehen als Akteure schließlich nicht allein. Uns die Situation der Theater in Deutschland sprechen, ist es wichtig, den Zusammenhang mit den Vermittlern werden wir uns mit den tariflichen Rahmenbedingungen und den Verwertern von kultureller Produktion darzu- beschäftigen müssen. Wenn wir über Gastspiele von stellen und näher zu untersuchen. Künstlern in Deutschland sprechen, werden wir über das Auch wir wissen, dass nicht alle Künstlerinnen und Steuerrecht sprechen müssen. Wenn wir darüber reden, Künstler reiche Leute sind. Aber das gilt ebenso für an- wie Privatleute besser eingebunden werden können, dere Berufsgruppen. Wir wollen für einen größeren müssen wir über das Gemeinnützigkeitsrecht diskutie- Blickwinkel sorgen und die Entwicklung der wirtschaft- ren. lichen und sozialen Lage derer näher betrachten, die (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- „nur“ Kultur vermitteln. neten der FDP) Die Antwort der Bundesregierung auf die Große An- Ich bin ebenso wie Herr Ehrmann der Meinung, dass es frage kann uns gerade am Beginn der intensiven Bera- um die harten Fakten der Kulturwirtschaft geht, über die tungen der Kommission eine große Unterstützung sein. wir zu sprechen haben. Damit würde ein wichtiger Beitrag zum Erfolg der En- quete-Kommission „Kultur in Deutschland“ geleistet. Wenn wir uns um die musisch-kulturelle Bildung Wir haben uns im Vorfeld auf den Text des Einset- kümmern – auch das ist im Einsetzungsbeschluss aufge- zungsbeschlusses und damit auch auf die Aufgaben geei- führt –, geht es um die Frage, wie wir in Deutschland ein nigt. Sprachlich weist er noch nicht ganz die Qualität Klima erzeugen können, in dem es zur Selbstverständ- auf, die wir uns für die Arbeit der Kommission und den lichkeit wird, dass Eltern ihren Kindern den Besuch von Abschlussbericht wünschen, aber es sind durchaus Ver- Musik- und Kunstschulen ermöglichen und dass umge- besserungen möglich. kehrt die Städte und Gemeinden attraktive Angebote ma- chen können. (B) (Erich G. Fritz [CDU/CSU]: Es soll ja auch (D) keine Hochkultur werden!) Bei dieser Enquete-Kommission geht es auch darum, gute Stimmung für die Kultur in Deutschland zu ma- Wir haben mit diesem Beschluss die Dauer der Kom- chen. Ein günstiges Klima für die Kultur im Land hätte mission notwendigerweise auf zwei Jahre beschränkt. zum Beispiel nicht zugelassen – wenn ich das als Berli- ner einmal sagen darf –, dass ein Finanzsenator dadurch (Erich G. Fritz [CDU/CSU]: Das ist sehr gut!) Stimmung macht, dass er vorgibt, mit der Schließung ei- Ich halte das für einen weisen Beschluss. Herr Barthel ner Oper könne er den Etat der größten Stadt Deutsch- hat bereits darauf hingewiesen, welche Aufgaben der lands sanieren. Beschluss nicht umfasst. Ich meine aber, wir müssen (Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Das zum Beispiel – Herr Sehling und auch Sie haben das be- liegt vielleicht am Finanzsenator und nicht an reits angesprochen – auch die Kultur berücksichtigen, der Stimmung!) die aus Gebieten, die nicht mehr zu Deutschland gehö- ren, hierher zurückgekommen ist oder die in Berlin Wir sollten jedenfalls den Blick für die Größenver- durch die Vernichtung der Juden verloren gegangen ist. hältnisse behalten. Kulturförderung in Deutschland be- deutet auch – darauf ist schon hingewiesen worden –, Trotzdem müssen wir im Zusammenhang mit der dass Bund, Länder und Gemeinden in umgekehrter Rei- Enquete-Kommission noch einen wichtigen Gesichts- henfolge Beiträge leisten, gerade wenn es um das finan- punkt beachten. Wir wären gut beraten, wenn wir uns bei zielle Engagement geht. Wenn es allerdings um die Rah- den Themen, die wir in der Kommission behandeln, mit menbedingungen geht, ist die Förderung der Kultur in der Materie beschäftigen, für die der Bundestag eine ori- Deutschland schon wesentlich von dem abhängig, was ginäre Zuständigkeit hat. Das bewahrt uns nämlich da- wir als Bundesgesetzgeber tun. Dafür sind wir auch un- vor, falsche und auch nicht zu erfüllende Erwartungen an zweifelhaft zuständig. Hier sehe ich den Schwerpunkt die Enquete-Kommission zu wecken. unserer zukünftigen Arbeit. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP) Wir verbinden mit dem Einsetzungsbeschluss also durchaus ehrgeizige Pläne. Einig sollten wir uns alle da- Wir hätten es aufgrund der Kompetenzverteilung vor- rin sein, dass am Ende der Bemühungen mehr für die gezogen, die originären Zuständigkeiten des Bundes Kulturförderung in Deutschland herauskommen muss. noch stärker in den Vordergrund des Einsetzungsbe- Wenn am Schluss sogar der Satz stünde, dass Kultur schlusses zu stellen, allein deshalb, um von Anfang an nicht nur Kernaufgabe, sondern Pflichtaufgabe des Staa- den Eindruck zu vermeiden, wir führten anderes im tes ist, dann hätten wir zumindest einen Arbeitsauftrag 4724 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2003

Günter Nooke (A) und ein Ergebnis formuliert. Ich denke, es wird ein mit einer Aussage, die Lutz Freitag, der Präsident des (C) schwerer, aber auch ein lohnender Weg. GdW, am 21. Mai dieses Jahres im Rahmen eines Exper- tengesprächs über den Stadtumbau Ost im Ausschuss für Insofern wünsche ich uns gute Zusammenarbeit. Verkehr, Bau- und Wohnungswesen gemacht hat. Er hob (Beifall im ganzen Hause) hervor, der Zusammenhang zwischen dem Programm „Stadtumbau Ost“ und dem Aufbau im Osten sei von Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: entscheidender Bedeutung und dürfe in der öffentlichen Diskussion nicht vernachlässigt werden. Das Programm Ich schließe die Aussprache. sei eine notwendige Bedingung für den Aufbau Ost. An- Wir kommen zur Abstimmung über den interfraktio- dererseits sei auch die Wirkung des Programms „Stadt- nellen Antrag auf Einsetzung einer Enquete-Kommis- umbau Ost“ sehr begrenzt, wenn der Aufbau Ost nicht sion „Kultur in Deutschland“, Drucksache 15/1308. Wer gelinge. stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Ent- Dieser Gedanke zog sich letztendlich wie ein roter haltungen? – Der Antrag ist mit den Stimmen des ganzen Faden durch das gesamte Expertengespräch im Aus- Hauses angenommen. Die Enquete-Kommission „Kultur schuss. Ich finde es auch gut, dass die Opposition die in in Deutschland“ ist damit eingesetzt. ihren Anträgen formulierte Unterstellung, das Programm „Stadtumbau Ost“ wirke nicht bzw. es könne die Pro- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf: bleme nicht lösen, in den sachlich geführten Diskussio- Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- nen nicht wiederholt hat. richts des Ausschusses für Verkehr, Bau- und (Henry Nitzsche [CDU/CSU]: Da habe ich Wohnungswesen (14. Ausschuss) etwas anderes gehört!) – zu dem Antrag der Abgeordneten Ernst Kranz, Wenn ich schon am 3. April dieses Jahres darauf ver- Wolfgang Spanier, Sören Bartol, weiterer Ab- weisen konnte, dass Minister Stolpe bereits zum Dritten geordneter und der Fraktion der SPD sowie der Leerstandskongress des GdW die Lösungen der von Ih- Abgeordneten Franziska Eichstädt-Bohlig, nen angesprochenen Probleme präsentieren konnte, so Volker Beck (Köln), Ursula Sowa, weiterer Ab- können wir heute feststellen, dass im Rahmen der Ver- geordneter und der Fraktion des BÜNDNIS- waltungsvereinbarung 2003 bereits ein wesentlicher SES 90/DIE GRÜNEN Teil auch Ihrer Vorschläge von der Bundesregierung auf Stadtumbau Ost auf dem richtigen Weg den Weg gebracht wurde. – zu dem Antrag der Abgeordneten Henry (Henry Nitzsche [CDU/CSU]: Aufgrund (B) Nitzsche, Dirk Fischer (Hamburg), Arnold unserer Vorschläge!) (D) Vaatz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion – Genau das habe ich gesagt. – Ein wichtiger Punkt ist, der CDU/CSU dass die Länder mehr Gestaltungsspielraum bei dem Stadtentwicklung Ost – Mehr Effizienz und Einsatz der Kassenmittel des Bundes haben. Sie können Flexibilität, weniger Regulierung und Büro- mehr als die bisher vereinbarten 50 Prozent zugunsten kratie von Rückbaumaßnahmen einsetzen. Weiterhin werden die Altschuldenhilfe und das Pro- – zu dem Antrag der Abgeordneten Joachim gramm „Stadtumbau Ost“ stärker aufeinander abge- Günther (Plauen), Horst Friedrich (Bayreuth), stimmt. Die Mittel für den Rückbau im Programm Rainer Brüderle, weiterer Abgeordneter und „Stadtumbau Ost“ werden als Landesbeitrag nach § 6 a der Fraktion der FDP des Altschuldenhilfe-Gesetzes anerkannt. Das ist ganz Stadtumbau Ost – ein wichtiger Beitrag zum wichtig; denn damit werden die Handlungsspielräume Aufbau Ost der Länder zur Unterstützung existenzgefährdeter Woh- nungsunternehmen erheblich erweitert. – Drucksachen 15/1091, 15/352, 15/750, 15/1331 – Die Regierung hat Regelungen für den Programm- Berichterstattung: baustein Wohneigentumsbildung geschaffen, Abgeordnete Ernst Kranz Henry Nitzsche (Henry Nitzsche [CDU/CSU]: Weil die alten Peter Hettlich Schwachsinn waren!) Joachim Günther (Plauen) derentwegen Pauschalierungen einfacher und flexibler Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die gestaltet und die bisher strikte Gebietstrennung gelockert Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre wurden. keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Auch sind die Mittel des Programms „Stadtumbau Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Ost“ künftig mit dem neuen Infrastrukturprogramm und Ernst Kranz, SPD-Fraktion. dem Wohnraummodernisierungsprogramm der Kredit- anstalt für Wiederaufbau kombinierbar. Damit stehen den Trägern der technischen Infrastruktur zinsgünstige Ernst Kranz (SPD): Darlehen für den erforderlichen Infrastrukturumbau zur Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kollegen und Verfügung. Zur Beschleunigung des Rückbaus wird bei Kolleginnen! Beginnen möchte ich meine Ausführungen gegebenen Verpflichtungsrahmen die jeweils erste der Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2003 4725

Ernst Kranz (A) fünf Jahresraten der Kassenmittel, über die jedes Pro- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (C) grammjahr abgewickelt wird, von 5 Prozent auf 15 Pro- Nächster Redner ist der Kollege Henry Nitzsche, zent angehoben. Der Ausgleich erfolgt durch eine ent- CDU/CSU-Fraktion. sprechende Minderung der letzten Raten. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Das Programm „Stadtumbau Ost“ ist ein Paradebeispiel für eine zügige Umsetzung von aktuellem Änderungsbe- Reinhard Weis [Stendal] [SPD]: Aber gesagt darf. Die lange Laufzeit dieses Programms, von 2002 bis hat er doch noch gar nichts! – Gegenruf des 2009, verlangt eine ständige Überprüfung und Anpas- Abg. Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: sung an die veränderten Gegebenheiten. Aus diesem Bei guten Leuten klatschen wir immer!) Grund haben die Fraktionen der SPD und des Bündnis- ses 90/Die Grünen in ihrem Antrag „Stadtumbau Ost auf Henry Nitzsche (CDU/CSU): dem richtigen Weg“ entsprechende Forderungen an die Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Über die Bundesregierung formuliert. Lage der Wohnungswirtschaft in den neuen Bundeslän- Den Kernpunkt bildet dabei die regelmäßige Informa- dern habe ich bereits bei der Einführung unseres Antrags tion des Bundestages über den Stand der Umsetzung des geredet. Damit war ich offensichtlich erfolgreich, wie Programms. Dabei sollen Auswertungen der erzielten ich heute feststellen kann; denn es hat Ihnen, Frau Erfolge bei unterschiedlichen städtebaulichen Konzep- Staatssekretärin, und auch der SPD-Fraktion bei der Ein- ten vorgenommen werden sowie auf Probleme bei der schätzung der Situation der Wohnungswirtschaft in den Umsetzung auf den verschiedenen Ebenen und bei den neuen Bundesländern genützt. verschiedenen Beteiligten eingegangen werden. Ihr Antrag lag schon nach vier Monaten vor. Herr Weiterhin wird an die Bundesregierung appelliert, die Kranz, in Ihrem Antrag wird so lange abstrahiert, bis die geplante Wirkungsanalyse der Investitionszulage für Sachverhalte nur noch positiv erscheinen. Ich dachte, Sie Maßnahmen der Modernisierung von Wohngebäuden seien Bürgermeister und nicht Lyriker oder Soziologe. rechtzeitig vorzulegen, sodass eine zeitnahe Entschei- Sie wissen ja: Soziologen sind diejenigen Menschen, die dung über eine Verlängerung der Investitionszulage ge- zu einer guten Lösung noch das passende Problem su- troffen werden kann. chen. Der Deutsche Bundestag appelliert gleichzeitig an die ostdeutschen Bundesländer, zur Erleichterung der Vorfi- Ich möchte als Erstes auf den Freizug der Wohnun- nanzierung abtretungsfähige Bewilligungsbescheide gen eingehen. Es stimmt natürlich, dass die betroffenen auszustellen. Dieser Punkt taucht in der aktuellen Dis- Mieter die Umsetzung in den meisten Fällen konstruktiv kussion über die Gegenzeichnung der Verwaltungsver- und verständnisvoll mittragen. Auch erste Urteile stär- (B) einbarung 2003 durch die Bundesländer auf. ken die Position der Wohnungswirtschaft, wenn es da- (D) rum geht, die letzten Mietverhältnisse in einem Ab- Im Mai wurde die Verwaltungsvereinbarung 2003 an bruchhaus aufzulösen. die Länder überwiesen. Bis zum heutigen Tag haben ge- nau fünf Bundesländer – Bremen, Hamburg, das Saar- Dennoch bleibt eine generelle Frage offen, nämlich land, Sachsen-Anhalt und Schleswig-Holstein – unter- wie beim Stadtumbau mit dem Aufheben von Mietver- zeichnet. Wie Sie wissen, sind die Mittel für das hältnissen umzugehen ist. Mein Kollege Wanderwitz laufende Jahr erst dann abrufbar, wenn die Verwaltungs- wird darauf noch näher eingehen. vereinbarung unterzeichnet wurde. Die immer wieder geäußerte Kritik, die Bundesregierung verschleppe das Natürlich muss die unter Punkt II in Ihrem Antrag Wirksamwerden der Verwaltungsvereinbarung, vorgenommene Wertung der Maßnahmen der Bundesre- gierung etwas relativiert werden. Es stimmt schon, dass (Henry Nitzsche [CDU/CSU]: Richtig!) die Länder jetzt mehr als 50 Prozent der Stadtumbaumit- muss ich deshalb klar und deutlich zurückweisen. tel für den Rückbau einsetzen können. Nicht gesagt wird aber, Kollege Kranz, was als Fußnote in der Ver- Ein schnelles Wirksamwerden der Verwaltungsver- waltungsvereinbarung steht: Der Bund behält sich vor, einbarung ist allein Sache der Länder. Zudem haben die zu überprüfen, ob in späteren Jahren ein Ausgleich zu- Länder ihre Kassenmittel des Jahres 2002 bisher in sehr gunsten der Aufwertung erfolgt. unterschiedlichem Maße abgerufen. Auch das zeigt: Es liegt an den Ländern, die vom Bund bereitgestellten Mit- (Franziska Eichstädt-Bohlig [BÜNDNIS 90/ tel zeitnah zu verbrauchen. DIE GRÜNEN]: Das ist auch richtig! Wir brauchen Aufwertung! Das ist gut!) Die erfolgreiche Fortsetzung des Stadtumbaus Ost verlangt auch in Zukunft von uns allen wichtige politi- – Wir brauchen aber zunächst einmal den Rückbau, liebe sche Entscheidungen, die diesen Prozess begünstigen Frau Kollegin. und fortführen. Ich bin mir sicher, dass uns auch in der zukünftigen Diskussion die Investitionszulage Ost und (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) die Frage der Altschulden bei Abrissflächen beschäfti- Der Rückbau muss beschleunigt werden; denn sonst gen werden. bleibt es hinsichtlich der Finanzierung nur ein Nullsum- Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. menspiel. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Ähnlich verhält es sich mit der Aufstockung der DIE GRÜNEN) zusätzlichen Altschuldenhilfe. 658 Millionen Euro 4726 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2003

Henry Nitzsche (A) ermöglichen in der Tat mehr Hilfe für existenzgefähr- auf die Drittelung – Drittel Gemeinde, Drittel Land, (C) dete Unternehmen. Dennoch ist schon jetzt erkennbar, Drittel Bund – verzichten. Etwas mehr Klarheit hinsicht- dass die Anträge bei der KfW nicht komplett bedient lich dieses Punktes in der Verwaltungsvereinbarung werden können. Existenzgefährdete Unternehmen kön- wäre schon erforderlich. nen nicht Wohnungen abbrechen und gleichzeitig Alt- schulden zurückzahlen. So wird der Stadtumbau nicht Besonders skeptisch stehe ich natürlich dem Typisie- funktionieren. rungsgedanken bei der Auswertung der kommunalen Konzepte gegenüber. Hier ist nicht viel zu holen. Jede (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Kommune muss ihren Weg für den Stadtumbau finden Joachim Günther [Plauen] [FDP]) und dabei eine Vielzahl von Randbedingungen beachten. Die Möglichkeit der Kommunen, im Einzelfall den Ein Allheilmittel ist schlecht zu finden. Rückbau auch außerhalb der festgelegten Gebiete zu för- Positiv sind die von Ihnen aus unserem Antrag über- dern, muss unterstützt werden. Dass jedoch im Vollzug nommenen Aussagen zur Grunderwerbsteuerbefreiung dem Bundesministerium für Verkehr, Bau- und Woh- bei Fusionen und zur Investitionszulage zu werten. Alles nungswesen die objektkonkrete Benennung vorzule- in allem haben Sie wichtige Punkte unseres Antrags er- gen ist, lässt die Bürokratie ausufern. Eine Entscheidung neut formuliert. Wenn Sie auch gewillt gewesen wären, der Einzelfälle durch die Länder oder – noch besser – so- den notwendigen Sprung zu wagen, was das Sonderkün- gar durch die Wohnungsunternehmen wäre wesentlich digungsrecht angeht, wäre es für Sie einfacher gewesen. angemessener. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Frau Staatssekretärin, ich habe mir die Mühe ge- macht, einmal zusammenzustellen, was alles zu beach- Es hätte damit sein Bewenden haben können, wenn Sie ten ist, wenn ein Abriss ansteht. Sie wissen das vielleicht sich schlicht unserem Antrag angeschlossen hätten. noch nicht. Also: Abrissgenehmigung, Denkmalschutz- mit Sicherheitskonzept, Rückbauvereinbarung mit der Herzlichen Dank. Kommune, öffentliche Ausschreibung – obwohl es noch (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) gar kein Regelwerk für den Abbruch gibt –, Finanzie- rungskonzept, von der Bank bestätigt, Antragsteller muss die Gemeinde sein, Fristen sind einzuhalten, Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: INSEK muss da sein und diskutiert sein, Nächste Rednerin ist die Kollege Franziska Eichstädt- (Reinhard Weis [Stendal] [SPD]: Sonst wür- Bohlig, Bündnis 90/Die Grünen. den sie dein Haus abreißen!) (D) (B) Franziska Eichstädt-Bohlig (BÜNDNIS 90/DIE Altschuldenhilfe-Gesetz, Testat, Bankunterschrift, Un- GRÜNEN): terschrift des Freistaats, Beschluss des Aufsichtsrats, Kommunikation mit den Bewohnern, Umzugsmanage- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! ment, Ersatzwohnraum, Kündigung, Vertragsfristen der Der Leerstand im Osten ist wirklich ein großes Problem, Ver- und Entsorger, Kosten der Aufwertung. Das ist eine aber es handelt sich hier, Herr Nitzsche, nicht um ein ganz kleine Aufstellung dessen, was alles zu beachten strittiges Thema; das wissen Sie auch. Bisher haben sich ist, wenn ein Objekt abgerissen werden soll. Und da alle Fraktionen immer darum bemüht, das Thema kon- kommen Sie mit der Forderung nach objektkonkreter struktiv voranzubringen. Ich war eben nicht ganz sicher, Benennung! ob Sie einen Beitrag dazu leisten wollten, dass wir das in diesem Sinne fortführen. Mir wäre das sehr wichtig. (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Katastrophe! Deswegen stagniert das! – Ernst Kranz [SPD]: Rot-Grün hat sich in der letzten Legislaturperiode je- Wie möchten Sie es denn gern?) denfalls sowohl mit der §-6-a-Regelung im Altschulden- hilfe-Gesetz als auch mit dem Stadtumbauprogramm Ost – Katastrophe hoch drei! Genau! konstruktiv und zügig diesem Thema gestellt und hat die Auch mit der Anhebung der Kassenmittel der ersten Initiative zur Lösung dieses Problems ergriffen. Wir alle Jahresscheibe auf 15 Prozent ist der Bund unserer Forde- sollten darüber sehr froh sein. Das Erstaunliche ist, dass rung nach einer verbesserten Mittelausstattung zum Be- dieses schwierige Thema auch in den ostdeutschen Län- ginn der Programmjahre gefolgt. Die Forderung von dern, Städten und Kommunen sowie von der Wohnungs- Rot-Grün an die Länder, abtretungsfähige Bewilligungs- wirtschaft rundherum konstruktiv angegangen wird. bescheide auszustellen, ist allerdings – das wissen Sie, Wir haben von Anfang an gesagt, dass wir in dem Kollege Kranz, am besten – nur eine Notlösung für not- Stadtumbauprogramm Ost ein lernendes System se- wendige Vorfinanzierungen. Vielmehr muss nach Wegen hen. Alle Beteiligten müssen step by step versuchen, die- gesucht werden, wie das tatsächlich benötigte Finanz- ses System zu optimieren und die anstehenden Aufgaben volumen fristgerecht bereitgestellt werden kann. so vernünftig und konstruktiv wie möglich zu lösen. Ob- Dass auch finanzschwache Kommunen am Stadtum- wohl ich nie und nimmer gerne Bürgermeister einer bau Ost teilhaben, kann nur erreicht werden, wenn die Stadt sein würde, der den Leuten sagen muss, dass er ei- Kommunen entweder auf die Aufwertung verzichten nen halben Stadtteil abreißen wird, finde ich es trotzdem – das ist für das Gelingen des Stadtumbaus Ost sicher- großartig, wie konstruktiv alle Beteiligten, die Woh- lich nicht hilfreich – oder wenn wir wie beim Rückbau nungswirtschaft, die Kommunen und die Länder – zwar Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2003 4727

Franziska Eichstädt-Bohlig (A) manchmal nicht ganz so toll, wie wir es uns wünschen – ansprechen, über die wir zu diskutieren haben und wo (C) und insbesondere die Mieter, an diese Frage herangehen. wir weiterkommen müssen. Der erste Punkt, wo ein deutlicher Dissens zwischen Ich will darauf aufgrund meiner begrenzten Redezeit uns besteht, ist der Umgang mit den Mietern. Wir haben nur stichpunktartig eingehen: Als Erstes haben wir noch es schon intensiv bei der Mietrechtsnovelle diskutiert: im ländlichen Raum große Probleme. Der zweite Be- Rot-Grün hält es nicht für notwendig, neue mietrechtli- reich betrifft die Infrastruktur; diese Frage hat der Kol- che Regelungen in diesem Bereich zu erlassen. Inzwi- lege Kranz eben auch angesprochen. Der dritte Punkt be- schen haben mehrere Gerichte, in Jena, in Hoyerswerda trifft die privaten Eigentümer. Auch wenn die privaten und in Halle, wie ich glaube, in ihren Urteilen gesagt, Eigentümer im Endeffekt Nutznießer mutiger Abrissvor- dass der Passus im BGB, demzufolge der Vermieter bei haben der städtischen und genossenschaftlichen Woh- berechtigtem Interesse kündigen kann, für den Abriss nungswirtschaft sind, bekommen wir doch in vielen ausreicht. Nach dieser Regelung geht man vor; das funk- Städten Probleme mit privaten Eigentümern. tioniert auch, im Übrigen sehr konstruktiv. Auch die (Henry Nitzsche [CDU/CSU]: Haben wir Mietervereinigungen arbeiten ihrerseits konstruktiv da- schon!) ran mit. Ich werbe noch einmal inständig dafür, nieman- dem einzureden, wir benötigten ein neues Mietrecht. Das Ich möchte als Letztes auf drei Punkte hinweisen, wo würde nur Streit zwischen der Eigentümer- und der Mie- wir schon weitergekommen sind. Ein ganz wichtiger terseite provozieren. Das wäre nicht gut. Schritt ist, dass die Grunderwerbsteuerbefreiung bei der Zusammenführung von Wohnungsunternehmen ge- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN währt wird. Die Regierung hat zugesagt, die Bundesrats- und bei der SPD – Henry Nitzsche [CDU/ initiative wohlwollend zu begleiten. Wir müssen dann CSU]: Das kostet alles Zeit! Goldener Hand- sehen, ob die EU das mit trägt. Ich hoffe und werbe da- schlag!) für, dass wir auf diesem Weg einen Schritt vorankom- men. Ich bitte darum, dass wir diesbezüglich alle zusam- Zweiter Punkt: Die Koalition hat die Verwaltungs- menarbeiten. vereinbarung sehr gut weiterentwickelt. Ich bedanke mich dafür, Frau Gleicke. Ich wünsche mir, dass die Der nächste Punkt ist die Investitionszulage im Bau- Länder – ich halte es schon für ein Problem, dass diese bereich. Hinsichtlich der Aufwertung ist auch das sehr wichtig. Vereinbarung von einer Reihe von ostdeutschen Ländern noch nicht unterschrieben wurde – ihre eigene Bürokra- Der letzte Punkt – ich komme gleich zum Schluss –: tie überwinden und möglichst zügig die Verwaltungsver- Die Art und Weise, wie die Koalition das Thema Eigen- einbarung unterschreiben, damit das Geld auch wirklich heimzulage im Haushalt angegangen ist, halte ich für (B) fließen kann. Auf weitere wichtige Veränderungen ist sehr gut. Was der Osten wirklich braucht, ist: Schluss (D) der Kollege Kranz eben schon eingegangen. mit der Eigenheimzulage und Schluss mit der Zersied- lung. Stattdessen braucht der Osten ein solides Pro- (Henry Nitzsche [CDU/CSU]: Schön abge- gramm für Stadterneuerung, familiengerechte Eigen- schrieben!) tumsbildung in den Städten und eine Stärkung des Stadtumbauprogramms Ost. Ich möchte sie aufgrund meiner begrenzten Redezeit nicht noch einmal wiederholen. Es handelt sich durch- (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist doch eine weg um gute Veränderungen, womit wir in diesem Punkt Vergewaltigung der Bürger! Die müssen doch weiterkommen. frei entscheiden können!) Ein Satz wenigstens noch zur Frage von Abriss und In diesem Sinne hoffe ich, dass das auch die Opposition Aufwertung: Wir brauchen beides, aber wir wissen, im Zuge der Beratungen unterstützen wird. dass es jetzt erst einmal um zügigen Abriss geht. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Henry Nitzsche [CDU/CSU]: Richtig!) und bei der SPD)

Wir wollen aber diese Gebiete nicht wie offene Wunden Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: liegen lassen, sondern die Bevölkerung in den jeweiligen Nächster Redner ist der Kollege Joachim Günther, Stadtteilen soll auch sehen, dass es wieder vorangeht. FDP-Fraktion. Deswegen ist Aufwertung genauso notwendig. Wir kön- nen nicht sagen: „Jetzt wird erst einmal nur abgerissen“, und dann bleiben die Stadtteile einfach so liegen. Das Joachim Günther (Plauen) (FDP): wollen wir nicht. Wir engagieren uns genauso auch für Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! die notwendige Aufwertung. Es ist fraglich, ob die Wohnungspolitik und die Woh- nungswirtschaft es verdient haben, dass wir zu so später (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Stunde diese Debatte führen. Ich bin der Meinung der und bei der SPD) Stadtumbau Ost ist ein Thema, das nicht nur für den Os- ten relevant ist. Dieses Thema sollten wir generell ein- Lassen Sie mich bei allem Erfolg, den wir bei diesem mal auf die Tagesordnung stellen; Programm bisher verzeichneten, und trotz all der Mühen und der konkreten Arbeit auf den verschiedenen Ebenen, (Beifall bei der FDP – Ute Kumpf [SPD]: besonders in den Kommunen, doch noch ein paar Punkte Überall ist Osten!) 4728 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2003

Joachim Günther (Plauen) (A) denn die Regionalisierung ist in jeder Situation unter- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (C) schiedlich. Darauf sollte man reagieren. Das Wort hat die Parlamentarische Staatssekretärin Kollege Kranz, Sie haben gesagt, dass die Opposition Iris Gleicke. von der Auffassung abgerückt ist, dass das Stadtumbau- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) programm Ost nicht wirkt. Das ist nicht ganz richtig. Das Stadtumbauprogramm Ost – das sage ich in Rich- tung Bundesregierung – hat etwas auf den Weg gebracht, Iris Gleicke, Parl. Staatssekretärin beim Bundes- das aus meiner Sicht optimal ist: In den Städten hat über- minister für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen: haupt erst einmal eine Planung stattgefunden; man hat Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! sich mittelfristige Ziele gesteckt, die vieles voranbrin- Zu den wichtigsten Aufgaben in Ostdeutschland gehört gen. Dieser Effekt ist absolut positiv. der Stadtumbau Ost. Das wird auch daran deutlich, dass Das Problem ist aus heutiger Sicht aber nach wie vor alle Fraktionen dieses Hohen Hauses hierzu Anträge ein- die Bevölkerungswanderung in Deutschland und die Si- gebracht haben. tuation in den Städten, in den Stadtkernen selbst. Es gibt Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposi- eine Bevölkerungswanderung. Ein Bürgermeister oder tion – Herr Günther, bei Ihnen bedanke ich mich ganz ein Baudezernent einer betroffenen Stadt – ich will nicht ausdrücklich für den konstruktiven Beitrag –, bei allen das Superbeispiel Hoyerswerda nennen; es gibt im Osten Problemen und Unterschieden, die wir im Detail sehen, Deutschlands andere Städte, die ähnliche Probleme ha- eint uns das Wissen darum, dass diese Aufgabe zu erfül- ben – sagt Ihnen: Wie soll ich denn für die nächsten zehn len ist. Ich glaube, Sie tragen auch insgesamt das Pro- Jahre planen, wenn aus meiner Stadt jährlich 2 000 bis gramm „Stadtumbau Ost“ mit. Wir sind uns darüber ei- 2 500 Menschen wegziehen? Das ist das Hauptproblem. nig, dass dieses Programm zügig weiterlaufen und zügig Deshalb kann das Wohnungsbauprogramm nicht der abgearbeitet werden muss. Ansatz sein. Wir müssen vielmehr einen Ansatz in der Zu der Kritik, die in Ihrem Antrag geäußert wird, Wirtschafts- und Finanzpolitik sowie in der Arbeits- Herr Nitzsche: Das sehe ich anders; denn vieles ist be- marktpolitik insgesamt finden. Nur wenn es uns gelingt, reits erreicht. Das Programm läuft seit einem Jahr. Vor die Bevölkerungsströme zumindest einigermaßen in einem Jahr hatten wir den Wettbewerb zum Stadtum- Grenzen und damit kalkulierbar zu halten, können wir auf bauprogramm, für den die Kommunen Stadtentwick- den Stadtumbau direkt eingehen; denn ein Bürgermeister, lungskonzepte erarbeitet haben. Einige dieser Konzepte der nicht weiß, wie viele Einwohner seine Stadt in zehn sind auch ausgezeichnet worden. Herr Kollege Kranz, oder 20 Jahren haben wird, sieht sich einer komplizierten wir haben dieser Tage eine Broschüre herausgebracht, in (B) Planung gegenüber. Deshalb brauchen wir – das ist rich- (D) der diese unterschiedlichen Konzepte veröffentlicht wer- tig – einige Reformen, die in diese Richtung gehen. den, damit sich andere beteiligen und auch voneinander In Bezug auf den Leerstand brauchen wir aber auch ei- lernen können. niges, was in Ihren Vorschlägen bisher noch nicht enthal- ten ist: Frau Eichstädt-Bohlig, was den Freizug im Woh- (Beifall der Abg. Franziska Eichstädt-Bohlig nungswesen anbetrifft, ist es zwar richtig, dass es kaum [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Mieterdiskussionen gibt; das Problem bei einem Einzel- An dem ersten Programm, das wir aufgelegt haben, abriss ist aber immer der letzte Mieter, dessentwegen es beteiligen sich 179 Gemeinden. Wir hatten die Absicht Streit sowie wochen- und monatelange Verzögerungen – das habe ich auch in der letzten Debatte gesagt –, mit gibt. Solche Probleme unbürokratischer und schneller zu dem Programm „Stadtumbau Ost“ ein lernendes Pro- lösen muss ein Ziel sein. Für solche Einzelfälle müssen gramm aufzustellen. Wir haben immer gesagt: Wir be- wir in den nächsten Monaten eine Regelung finden. treten an dieser Stelle Neuland. (Beifall bei der CDU/CSU) (Henry Nitzsche [CDU/CSU]: Überall Das zweite Hauptproblem beim Abriss – jeder weiß betreten Sie Neuland!) das; wir brauchen das nicht genauer auszuführen – sind Wir haben etwas in Gang gesetzt, das es in dieser Repu- die Altschulden. Dieses Thema betrifft die Wohnungs- blik vorher nicht gegeben hat. Aus diesem Grunde wer- gesellschaften und die Genossenschaften. Aber auch die den wir uns natürlich immer wieder damit zu beschäfti- Privateigentümer – der Begriff wurde schon genannt – gen haben, welche Veränderungen es geben muss. Ich bilden ein großes Potenzial. Die privaten Haus- und will die Veränderungen, die wir jetzt mit der Verwal- Grundeigentümer im Osten Deutschlands sind von die- tungsvereinbarung für 2003 vorgenommen haben, ein- sem Problem ebenfalls stark betroffen. Ich möchte nicht, fach noch einmal benennen. dass sie immer nur neben oder nach den Genossenschaf- ten eingeordnet werden. Ihre persönliche Situation ist oft Wir ermächtigen die Länder, auch mehr als viel härter als die mancher Genossenschaften. 50 Prozent der Mittel für den Rückbau einzusetzen. Die Herzlichen Dank. Entscheidung muss aber vor Ort getroffen werden, dort wo diejenigen sitzen, die am Besten wissen: Brauchen (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie wir mehr Geld für den Rückbau, oder müssen wir das bei Abgeordneten der SPD und des BÜND- Geld in die Aufwertung stecken, um auch Zielwohnun- NISSES 90/DIE GRÜNEN) gen zu erhalten? Diese Entscheidung können wir den Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2003 4729

Parl. Staatssekretärin Iris Gleicke (A) Trägern vor Ort nicht abnehmen. Das sollten wir auch braucht, etwas schmunzeln; wir haben schließlich nicht (C) tunlichst lassen. all diese Genehmigungen erfunden. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Henry Nitzsche [CDU/CSU]: Das habe ich DIE GRÜNEN) auch nicht gesagt!) Wir verzahnen den Stadtumbau Ost stärker mit unse- Außerdem finde ich es schon ein bisschen witzig, wie rer Altschuldenhilfe-Regelung. Wir wollen, dass hier Sie beispielsweise angesichts der Silberhöhe in Halle auf stärker Hand in Hand gearbeitet wird. Wir wollen, dass den Denkmalschutz kommen. die Unternehmen, die am stärksten betroffen sind und Wir sind uns doch einig, dass wir etwas tun müssen. deshalb gemäß § 6 a Hilfe bekommen, mehr und schnel- Lassen Sie uns doch bitte konstruktiv weiter diskutieren. ler abreißen können. Auch dies ist aber vor Ort zu ent- Die neuen Bundesländer brauchen den Stadtumbau Ost. scheiden. Wir können hier niemanden aus der Verant- Wir sind auf gutem Wege und sind, denke ich, auch stolz wortung nehmen. Wir machen möglich, dass die Mittel auf das, was bisher erreicht wurde. Wir müssen auch die für den Rückbau im Programm „Stadtumbau Ost“ auch Arbeit derer loben, die sich vor Ort engagieren. Dann ge- als Landesbeitrag zur Altschuldenentlastung anerkannt hört es auch dazu, dass man keine unsachgemäße Kritik werden. Ich bedanke mich ausdrücklich beim Bundesfi- anbringt, sondern sich sachlich auseinander setzt. Wir nanzminister, dass solche Dinge möglich sind, damit wir werden immer wieder Gespräche führen, um herauszu- zügig vorankommen. finden, worauf wir reagieren müssen und wie wir das (Henry Nitzsche [CDU/CSU]: Jawohl!) Programm noch besser machen können. Wir haben auch die Regelung für die Wohneigen- Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. tumsbildung vereinfacht und großzügiger gestaltet. Die (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Ursache für den Wegzug aus der Stadt ist ganz oft das DIE GRÜNEN – Reinhard Weis [Stendal] Fördern des Bauens auf der grünen Wiese. Deshalb müs- [SPD]: Das war ein schönes Schlusswort für sen wir uns an dieser Stelle doch der Diskussion über die die Debatte, Frau Präsidentin!) Wohneigentumsförderung stellen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: DIE GRÜNEN) Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Marco Wanderwitz, CDU/CSU-Fraktion. Damit verstärken wir auch unser eigenes Stadtumbau- programm. (B) Marco Wanderwitz (CDU/CSU): (D) (Henry Nitzsche [CDU/CSU]: Wird endlich Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Zeit!) Herren! Wir alle sind nicht vor Fehleinschätzungen ge- Wir wollen, dass das Bauen auf der grünen Wiese ange- feit. Gerade die Wiedervereinigung war ein riesiger sichts der Leerstände in den Städten nicht weiter betrie- Kraftakt für den Deutschen Bundestag als Gesetzgeber. ben wird. Wir wollen vielmehr, dass in den Städten auch In guter Absicht wurde auch ein Teilaspekt der heutigen wieder Familien leben können, indem familienfreundli- Debatte geregelt, die Problematik des Verbots so ge- che Wohnungen und auch die Wohneigentumsbildung nannter Verwertungskündigungen in den neuen Ländern, im Bestand ermöglicht wird. wie von meinem sächsischen Kollegen Henry Nitzsche schon angesprochen wurde. Ich darf Ihnen noch etwas Erfreuliches vermelden: In Unser Ihnen heute vorliegender Antrag fordert ein dem gestern beschlossenen Bundeshaushaltsplan haben Sonderkündigungsrecht für Rückbauvorhaben, diese wir festgelegt, dass die Kassenmittelrate im Jahre 2004 Forderung enthält auch der Antrag der FDP. Die Staats- auf 20 Prozent erhöht wird. Damit steht mehr Geld zur regierung des Freistaates Sachsen hat am 27. Mai 2003 Verfügung. Ich glaube, dass wir damit eine gute Voraus- beschlossen, einen weiter gehenden Gesetzesantrag für setzung geschaffen haben, den Stadtumbau zu beschleu- die Aufhebung des Art. 232 § 2 Abs. 2 des Einführungs- nigen. gesetzes zum BGB in den Bundesrat einzubringen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Vor dem 3. Oktober 1990 begründete Mietverhält- Zu den 45 000 bewilligten Abrissen aus dem vergan- nisse in den neuen Ländern sind nach geltendem Recht genen Jahr werden noch einmal 50 000 hinzukommen. bis auf wenige Ausnahmen, auf die ich später noch zu Auch das macht deutlich, dass wir vorankommen und sprechen komme, für den Vermieter quasi unkündbar. dass wir auf einem guten Wege sind. Wir werden uns (Ute Kumpf [SPD]: Sie haben aber nur vier weiter austauschen. Minuten!) Übrigens ist unser Bundesminister dieser Tage unter- – Es ist noch ein bisschen von Herrn Nitzsches Redezeit wegs; heute ist er in Halle-Neustadt. Er wird eine Som- übrig; insofern werde ich schon hinkommen. merreise machen und wird sich stark mit dem Stadtum- bau Ost auseinander setzen. Dies gilt selbst und gerade dann, wenn der Vermieter dadurch an einer anderen wirtschaftlicheren Verwertung Herr Kollege Nitzsche, ich musste vorhin bei der Auf- der Immobilie gehindert wird. Eine solche Verwertungs- zählung der Litanei von Genehmigungen, die man so möglichkeit ist der Rückbau. 4730 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2003

Marco Wanderwitz (A) Der Wille des Gesetzgebers war 1990 der Schutz von Das Programm Stadtumbau Ost und all die schönen (C) Mietern preiswerten Wohnraums in den neuen Ländern Stadtentwicklungskonzepte werden aber ohne Beach- unter dem Gesichtspunkt der Wohnungsknappheit zu tung dieses Problems ins Leere laufen. diesem Zeitpunkt. Der Verfall ganzer Stadtteile war keine Seltenheit. Andererseits konnten die Plattenbau- Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen von siedlungen nie den tatsächlichen Bedürfnissen der Men- Rot-Grün, Ihr Antrag ist leider so falsch wie manche Ini- schen gerecht werden. Zwischenzeitlich stehen rund tiative aus Ihrer Feder. Er ist in der Sache falsch, weil 1,3 Millionen Wohnungen zwischen Chemnitz und schon die Analyse falsch ist. Greifswald leer. Neuerlicher Verfall setzt ein; die Silber- (Zuruf von der SPD: Da haben wir vorhin aber höhe wurde gerade genannt. Die Gründe dafür sind viel- etwas anderes gehört!) fältig. Um nur einige zu nennen: Abwanderungswellen in ungeahntem Ausmaß, demographische Entwicklung, Sie schreiben von den bereits bestehenden Möglichkei- aber auch die Sanierung vorrangig von Altbauten und ten und Ausnahmefällen. Da fragt man sich schon, ob der Neubau von Wohnungen. Aus meiner Sicht ist damit Sie die Lage vor Ort wirklich kennen. der Normzweck entfallen. Lassen Sie uns die Verantwortung für die Entwick- Die derzeitige gesetzliche Regelung erweist sich so- lung der Städte und Gemeinden in den neuen Ländern gar als Hemmnis für die Entwicklung in den neuen Län- übernehmen! Stimmen Sie für unseren Antrag und geben dern. Sie der Bundesratsinitiative des Freistaates Sachsen Ihre (Beifall bei der CDU/CSU) Unterstützung! Wer soll denn eine Immobilie mit einem verbliebenen Vielen Dank. Mieter, der sich nicht am Verfall stört, einer neuen Nut- (Beifall bei der CDU/CSU) zung zuführen? An dieser Stelle sage ich ganz deutlich, dass nicht nur Sanierung die neue Nutzung sein kann. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Wir brauchen die gezielte Wegnahme von Wohnungen vom Markt in erheblichen Größenordnungen, um das Ich schließe die Aussprache. Gefüge zu retten. Aber selbstverständlich sollen die Sa- Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus- nierung und die Umnutzung genauso erfasst werden, da- schusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen auf her greift eine reine Abrisskündigung zu kurz. Drucksache 15/1331. Der Ausschuss empfiehlt unter Die Situation wird nicht wesentlich dadurch verbes- Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung die Annahme des An- sert, dass die Rechtsprechung mittlerweile in Einzelfäl- trags der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die (B) len trotz des Ausschlusses der Verwertungskündigung Grünen auf Drucksache 15/1091 mit dem Titel „Stadt- (D) die Möglichkeit einer ordentlichen Kündigung unter umbau Ost auf dem richtigen Weg“. Wer stimmt für den Bedingungen des § 573 Abs. 2 Nr. 3 BGB angenom- diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – men hat. Dies betrifft einerseits bisher nur besonders Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den gravierende Fälle, etwa den Fall des über Jahre aushar- Stimmen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen renden letzten verbliebenen Mieters in einem elfstöcki- gegen die Stimmen der CDU/CSU und der FDP ange- gen Wohnhaus. Die Mietzahlungen deckten in diesem nommen. Fall nicht einmal mehr die Betriebskosten für den Wohn- komplex. Zum anderen ist aufgrund der uneinheitlichen Unter Nr. 2 empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung Entscheidungspraxis der Gerichte erhebliche Rechtsun- des Antrags der Fraktion der CDU/CSU auf Druck- sicherheit gegeben. Jeder einzelne Fall bedarf derzeit der sache 15/352 mit dem Titel „Stadtentwicklung Ost – gerichtlichen Entscheidung, gegebenenfalls durch meh- Mehr Effizienz und Flexibilität, weniger Regulierung rere Instanzen. Bereits der Zeitfaktor ist dabei absolut in- und Bürokratie“. Wer stimmt für diese Beschlussemp- akzeptabel. fehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Be- schlussempfehlung ist mit demselben Stimmenverhältnis (Henry Nitzsche [CDU/CSU]: Richtig!) angenommen. Das Teilaufheben des Art. 232 des Einführungsgeset- Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Nr. 3 sei- zes zum BGB würde den Mieter ja auch nicht schutzlos ner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrages machen. Die erwähnte Regelung, die Kündigungsmög- der Fraktion der FDP auf Drucksache 15/750 mit dem lichkeit bei berechtigtem Interesse an einer angemesse- Titel „Stadtumbau Ost – ein wichtiger Beitrag zum Auf- nen wirtschaftlichen Verwertung des Grundstücks, bau Ost“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – würde dann auch in den neuen Ländern alleinige An- Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp- wendung für derartige Fälle finden. Für das dort nor- mierte berechtigte Interesse setzt die Rechtsprechung be- fehlung ist mit demselben Stimmenergebnis wie die bei- reits jetzt sehr enge Kriterien. den vorherigen angenommen. (Zuruf von der SPD: Jetzt fängt „später“ an!) Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf: Der Antrag der Regierungsfraktionen von SPD und Erste Beratung des von den Abgeordneten Bündnis 90/Die Grünen zu diesem Thema blendet leider Wolfgang Bosbach, Dr. Norbert Röttgen, den von mir aufgezeigten Aspekt aus. Dr. Jürgen Gehb, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs (Henry Nitzsche [CDU/CSU]: Wie immer!) eines Gesetzes zur Änderung des Bürgerlichen Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2003 4731

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner (A) Gesetzbuches (Gesetz zur Beseitigung der Hierzu haben ebenfalls alle Rednerinnen und Redner (C) Rechtsunsicherheit beim Unternehmenskauf) ihre Reden zu Protokoll gegeben.3) – Drucksache 15/1096 – Wir kommen zur Abstimmung. Interfraktionell wird Überweisungsvorschlag: Überweisung der Vorlage auf Drucksache 15/1104 an Rechtsausschuss (f) die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge- Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit schlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Dies ist der Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf: Beim Tagesordnungspunkt 12 sind von den Rednerin- nen und Rednern aller Fraktionen die Reden zu Protokoll Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- gegeben worden.1) richts des Rechtsausschusses (6. Ausschuss) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Wir kommen deshalb zur Abstimmung. Interfraktio- nell wird Überweisung des Gesetzentwurfes auf Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Drucksache 15/1096 an die in der Tagesordnung aufge- Parlaments und des Rates zur Harmonisie- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es anderweitige rung der Rechts- und Vewaltungsvorschriften Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann ist die Über- der Mitgliedstaaten über den Verbraucher- weisung so beschlossen. kredit Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf: KOM (2002) 433 endg.; Ratsdok. 12138/02 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- richts des Ausschusses für Verkehr, Bau- und – Drucksachen 15/457 Nr. 2.2, 15/1288 – Wohnungswesen (14. Ausschuss) zu dem Antrag Berichterstattung: der Abgeordneten Wolfgang Börnsen (Bönstrup), Abgeordnete Christine Lambrecht Dirk Fischer (Hamburg), Eduard Oswald, weite- Dirk Manzewski rer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Michael Grosse-Brömer Vorrang für die Ostseesicherheit Jerzy Montag – Drucksachen 15/465, 15/1194 – Sibylle Laurischk Berichterstattung: Auch hierzu haben alle Rednerinnen und Redner ihre Abgeordnete Annette Faße Reden zu Protokoll gegeben.4) (B) (D) Beim Tagesordnungspunkt 14 haben ebenfalls alle Red- Wir kommen deshalb zur Beschlussempfehlung des nerinnen und Redner ihre Reden zu Protokoll gegeben.2) Rechtsausschusses zu der Unterrichtung durch die Bun- Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss- desregierung über einen Vorschlag für eine Richtlinie empfehlung des Ausschusses für Verkehr, Bau- und des Europäischen Parlaments und des Rates zur Harmo- Wohnungswesen auf Drucksache 15/1194 zu dem An- nisierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der trag der Fraktion der CDU/CSU mit dem Titel „Vorrang Mitgliedstaaten über den Verbraucherkredit, Druck- für die Ostseesicherheit“. Der Ausschuss empfiehlt, den sache 15/1288. Der Ausschuss empfiehlt in Kenntnis der Antrag auf Drucksache 15/465 abzulehnen. Wer stimmt Unterrichtung durch die Bundesregierung, eine Ent- für diese Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – schließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Be- Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den schlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der CDU/ tungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den CSU bei Enthaltung der FDP angenommen. Stimmen des ganzen Hauses angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf: Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf: Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre- Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD, gierung der CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE Bericht der Bundesregierung zum Stand der Be- GRÜNEN und der FDP mühungen um Rüstungskontrolle, Abrüstung und Nichtverbreitung sowie über die Entwicklung der Für eine Verbesserung der privaten Vermitt- Streikräftepotenziale (Jahresabrüstungsbericht lung im Aupairbereich zur wirksamen Verhin- 2002) derung von Ausbeutung und Missbrauch – Drucksache 15/1104 – – Drucksache 15/1315 – Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss (f) Auch hierzu haben alle Rednerinnen und Redner ih- Verteidigungsausschuss ren Reden zu Protokoll gegeben.5) Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe 3) Anlage 14 1) Anlage 12 4) Anlage 15 2) Anlage 13 5) Anlage 16 4732 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2003

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner (A) Wir kommen deshalb zur Abstimmung über den in- Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tages- (C) terfraktionellen Antrag mit dem Titel „Für eine Verbes- ordnung. serung der privaten Vermittlung im Aupairbereich zur wirksamen Verhinderung von Ausbeutung und Miss- Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundes- brauch“. Wer stimmt für den Antrag auf Druck- tages auf morgen, Freitag, den 4. Juli 2003, um 9 Uhr ein. sache 15/1315? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltun- Die Sitzung ist geschlossen. gen? – Der Antrag ist mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen. (Schluss: 21.55 Uhr)

(B) (D) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2003 4733

(A) Anlagen zum Stenografischen Bericht (C) Anlage 1

Liste der entschuldigten Abgeordneten HIV/Aids, Tuberkulose und Malaria hält und dass sie den Fonds daher auch weiterhin im Rahmen der finan- ziellen Möglichkeiten unterstützen wird. entschuldigt bis Abgeordnete(r) einschließlich Zu Frage 35:

Borchert, Jochen CDU/CSU 03.07.2003 Es wird auf die Antwort zu Frage 28 verwiesen.

Dr. Gauweiler, Peter CDU/CSU 03.07.2003 Anlage 3 * Dr. Lamers (Heidelberg), CDU/CSU 03.07.2003 Neuabdruck der Antwort Karl A. der Parl. Staatssekretärin Dr. Uschi Eid auf die Fragen Lamp, Helmut CDU/CSU 03.07.2003 der Abgeordneten Conny Mayer (Baiersbronn) (CDU/ CSU) (55. Sitzung, Drucksache 15/1264, Fragen 38 und Nickels, Christa BÜNDNIS 90/ 03.07.2003 39): DIE GRÜNEN Trifft es zu, dass die Bundesregierung die europäische Zu- sage, den GFATM bis Ende 2004 mit einer Milliarde Euro zu Otto (Godern), Eberhard FDP 03.07.2003 unterstützen, hat scheitern lassen, und wenn ja, wie begründet die Bundesregierung ihre Haltung? Polenz, Ruprecht CDU/CSU 03.07.2003 Inwieweit stand die Bundesregierung seit der Gründung des GFATM hinter dessen Zielen, und ist die Bundesregierung Raidel, Hans CDU/CSU 03.07.2003* entschlossen, an diesen Zielen in Zukunft festzuhalten?

Schindler, Norbert CDU/CSU 03.07.2003 Zu Frage 38:

Schmidt (Ingolstadt), BÜNDNIS 90/ 03.07.2003 Es wird auf die Antwort zu Frage 28 verwiesen. Albert DIE GRÜNEN Zu Frage 39: Schösser, Fritz SPD 03.07.2003 (B) Die Bundesregierung hat die vom GFATM verfolgten (D) Seib, Marion CDU/CSU 03.07.2003 Ziele zur Bekämpfung der drei Krankheiten HIV/Aids, Tuberkulose und Malaria von Anfang an unterstützt. Sie Trittin, Jürgen BÜNDNIS 90/ 03.07.2003 sieht in dem Fonds jedoch nur ein Instrument, um diese DIE GRÜNEN Ziele zu erreichen. Wesentliche Beiträge zur Unterstüt- zung der Entwicklung bei der Bewältigung der dramati- Wimmer (Neuss), Willy CDU/CSU 03.07.2003 schen Ausbreitung übertragbarer Krankheiten und zur Stärkung nationaler Gesundheitssysteme in Partnerlän- dern leistet die Bundesregierung über ihre bilaterale * für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versamm- finanzielle und technische Zusammenarbeit, durch Un- lung der NATO terstützung von Initiativen der Privatwirtschaft und nichtstaatlicher Organisationen. Die Bundesrepublik Deutschland ist das Land, das seit 1999 über seine bila- Anlage 2 terale und multilaterale Entwicklungszusammenarbeit Neuabdruck der Antwort einen besonderen Schwerpunkt auf die Bekämpfung von HIV/Aids setzt. So konnte mit sechzehn Partnerländern der Parl. Staatssekretärin Dr. Uschi Eid auf die Fragen der Bereich HIV/Aids als besonderer Schwerpunkt der der Abgeordneten Sibylle Pfeiffer (CDU/CSU) (55. Sit- Kooperation vereinbart werden. Darüber hinaus finan- zung, Drucksache 15/1264, Fragen 34 und 35): ziert sie in großem Umfang Programme internationaler Welche Haltung wird die Bundesregierung auf der UN- Organisationen wie WHO, Weltbank und anderer Regio- Konferenz in Paris zur weiteren Finanzierung des GFATM naler Entwicklungsbanken sowie die in jüngster Zeit einnehmen? stark ausgeweiteten EU-Aktivitäten auf diesem Gebiet. Ist die Bundesregierung prinzipiell bereit, zusätzliche Mit- tel zu den bereits zugesagten 200 Millionen Euro innerhalb von fünf Jahren für den GFATM bereitzustellen? Anlage 4 Zu Frage 34: Erklärung nach § 31 GO Die Bundesregierung wird auf der Konferenz am des Abgeordneten Johannes Singhammer (CDU/ 16. Juli 2003 in Paris deutlich machen, dass sie die Ar- CSU) zur Abstimmung über den Entschlie- beit des GFATM für einen wichtigen Baustein im Ge- ßungsantrag der CDU/CSU zu dem Entwurf samtgefüge ihrer Maßnahmen zur Bekämpfung von eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 16. April 2003 4734 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2003

(A) über den Beitritt der Tschechischen Republik, Umso unverständlicher ist es, dass weder die Europäi- (C) der Republik Estland, der Republik Zypern, sche Kommission noch die deutsche Bundesregierung der Republik Lettland, der Republik Litauen, ernsthafte Anstrengungen unternommen hat, auf der der Republik Ungarn, der Republik Malta, der Grundlage der Kopenhagener Kriterien die Tschechische Republik Polen, der Republik Slowenien und Republik dazu zu bewegen, die Benes-Dekrete vor einer der Slowakischen Republik zur Europäischen Entscheidung über die Aufnahme des Landes in die Eu- Union (Tagesordnungspunkt 3) ropäische Union aufzuheben. Die Europäische Kommis- sion hat entgegen ihren eigenen Vorgaben darauf ver- Ich erkläre, dass ich dem Entschließungsantrag der zichtet, in den Verhandlungen mit der Tschechischen CDU/CSU-Fraktion, Drucksache 15/1359, zur Schluss- Republik auf der uneingeschränkten Erfüllung der von abstimmung des Gesetzentwurfes der Bundesregierung der Europäischen Union selbst gesetzten moralischen – Drucksache 15/1100, 15/1200,15/1300 – völlig zu- und politischen Prinzipien zu bestehen. Mit der Auf- stimme. nahme der Tschechischen Republik in die Europäische Union verstößt die Gemeinschaft eklatant gegen Grund- prinzipien, die sie selbst in der Kopenhagener Erklärung Anlage 5 festgelegt hat. Erklärung nach § 31 GO Die weiterhin gültigen, Vertreibung und ethnische des Abgeordneten Dr. Egon Jüttner (CDU/CSU) Säuberung rechtfertigenden Unrechtsdekrete der Tsche- zur Abstimmung über den Entwurf eines Geset- chischen Republik sind mit dem europäischen Rechts- zes zu dem Vertrag vom 16. April 2003 über den und Menschenrechtsstandard nicht vereinbar. Sie dürfen Beitritt der Tschechischen Republik, der Repu- deshalb in der bestehenden Rechtsordnung eines Mit- blik Estland, der Republik Zypern, der Repu- gliedstaates keinen Bestand haben. Wenn nämlich künf- blik Lettland, der Republik Litauen, der Repu- tig völkerrechtswidrige Dekrete in der Rechtsordnung blik Ungarn, der Republik Malta, der Republik eines zur Europäischen Union gehörenden Landes fort- Polen, der Republik Slowenien und der Slowa- bestehen, dann ist das gesamte Fundament Europas ge- kischen Republik zur Europäischen Union (Ta- fährdet. gesordnungspunkt 3)

Ich begrüße die Erweiterung der Europäischen Union Anlage 6 und sehe darin vor allem einen bedeutenden Schritt zur Verständigung und Aussöhnung mit Deutschlands östli- Erklärung nach § 31 GO chen Nachbarstaaten sowie zur langfristigen Stabilisie- (B) des Abgeordneten Jochen-Konrad Fromme (D) rung des Friedens in Europa. (CDU/CSU) zur Abstimmung über den Entwurf Ich bedauere deshalb das im Deutschen Bundestag eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 16. April angewandte Abstimmungsverfahren, das mir nur die 2003 über den Beitritt der Tschechischen Repu- Möglichkeit lässt, ein Gesamtvotum über alle Länder ab- blik, der Republik Estland, der Republik Zy- zugeben, anstatt über jedes Land einzeln abstimmen zu pern, der Republik Lettland, der Republik Li- können. Da ich einerseits nicht gegen die Aufnahme je- tauen, der Republik Ungarn, der Republik ner Länder stimmen möchte, deren Beitritt ich befür- Malta, der Republik Polen, der Republik Slowe- worte, es andererseits aber nicht mit meinem Gewissen nien und der Slowakischen Republik zur Euro- vereinbaren kann, der Aufnahme der Tschechischen Re- päischen Union (Tagesordnungspunkt 3) publik zuzustimmen, stimme ich mit Enthaltung. Mit der Osterweiterung der Europäischen Union er- Die tschechische Regierung hat es versäumt, noch vor öffnet sich nach den bitteren Erfahrungen vor allem in dem Beschluss über ihre Aufnahme in die Europäische der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die historische Union die diskriminierenden, völkerrechts- und men- Chance, Frieden, Freiheit und Sicherheit in ganz Europa schenrechtswidrigen Benes-Dekrete aufzuheben. Die nachhaltig zu stärken. Die Einigung Europas ist das Regierung der Tschechischen Republik ist nach wie vor wertvollste Erbe der zweiten Hälfte des 20. Jahrhun- nicht bereit, die kollektive Entrechtung, die entschädi- derts. Die Europäische Union als Rechts- und Wertege- gungslose Enteignung und die Vertreibung von dreiein- meinschaft bietet dabei die Chance einer dauerhaften halb Millionen Sudetendeutschen klar und unmissver- Verständigung und Aussöhnung zwischen Deutschland ständlich als völkerrechtswidrig anzuerkennen, den und seinen östlichen Nachbarstaaten. Die CDU/CSU- Sudetendeutschen, deren Vorfahren jahrhundertelang in Bundestagsfraktion begrüßt daher die Aufnahme aller Böhmen, Mähren und Sudetenschlesien ansässig waren, zehn Beitrittsstaaten zur Europäischen Union zum das Recht auf Heimat zuzugestehen, das Amnestiegesetz 1. Mai 2004. Dieser Beitritt ist eine zukunftsgerichtete vom 8. Mai 1946 mit seiner Ex-tunc-Straffreistellung für Weiterentwicklung einer jahrhundertealten gemeinsa- an Deutschen begangene Verbrechen aufzuheben, sich men Wertegemeinschaft auf der Grundlage gemeinsa- unzweideutig von denjenigen Benes-Dekreten zu distan- men Glaubens, gemeinsamer Kultur und gemeinsamer zieren, die zu den völkerrechtswidrigen Enteignungen Geschichte. Sudetendeutscher geführt haben. Maßgeblich für einen Erfolg der Europäischen Union Die Benes-Dekrete sind mit der Rechts- und Wertege- als Rechts- und Wertegemeinschaft ist die Einhaltung meinschaft der Europäischen Union nicht vereinbar. der vom Europäischen Rat 1993 beschlossenen Kopen- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2003 4735

(A) hagener Kriterien. Darin werden von den Mitgliedstaa- Republik zur Europäischen Union (Tagesord- (C) ten unter anderem eine stabile Demokratie, der Schutz nungspunkt 3) von Minderheiten und die Achtung der Menschenrechte Wir schließen uns der mündlichen Erklärung nach gefordert. Die Kopenhagener Kriterien waren richtungs- § 31 GO der Abgeordneten Erika Steinbach an. weisend für den Reformprozess, den die Bewerberländer eingeleitet und vorangebracht haben, um die Bedingun- gen für eine von allen Seiten gewünschte Mitgliedschaft Anlage 8 in der EU zu erfüllen. Erklärung nach § 31 GO Es bestehen jedoch insbesondere in der Tschechi- schen Republik Dekrete fort, die entgegen dem Völker- des Abgeordneten Axel E. Fischer (Karlsruhe- recht als Rechtfertigungen für Tötungen, Vertreibungen Land), Ingo Wellenreuther und Veronika und Entrechtungen gedient haben. Bellmann (alle CDU/CSU) zur Abstimmung über den Entwurf eines Gesetzes zu dem Ver- Nicht nur ich meine, dass diese Dekrete und deren po- trag vom 16. April 2003 über den Beitritt der litische Bestätigungen den Weg verschließen könnten, Tschechischen Republik, der Republik Estland, die Vergangenheit aufzuarbeiten und zu überwinden, um der Republik Zypern, der Republik Lettland, die Zukunft von Nachbarn zum Wohle ihrer Bürger zu der Republik Litauen, der Republik Ungarn, meistern. Und deswegen sage ich: Vertreibungsdekrete, der Republik Malta, der Republik Polen, der Vertreibungsgesetze sowie so genannte Straffreistel- Republik Slowenien und der Slowakischen Re- lungsgesetze sind Unrecht und stehen im Gegensatz zum publik zur Europäischen Union (Tagesord- Völkerrecht. Sie dürfen nirgendwo Bestandteil einer be- nungspunkt 3) stehenden Rechtsordnung sein. Daher sind diese Dekrete abzuschaffen bzw. für nichtig zu erklären. Wir stimmen dem Gesetz zu und erklären hierzu: Mit der Osterweiterung der Europäischen Union er- Ich begrüße in diesem Zusammenhang die Erklärun- öffnet sich nach den bitteren Erfahrungen vor allem in gen der tschechischen Regierung vom 19. Juni 2003 in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die historische Prag und vom 29. Juni 2003 in Göttweig, in denen auf Chance, Frieden, Freiheit und Sicherheit in ganz Europa die „unannehmbaren Taten und Ereignisse“ in der Zeit nachhaltig zu stärken. Die Einigung Europas ist das unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg hingewiesen wertvollste Erbe der zweiten Hälfte des 20. Jahrhun- und ein Bekenntnis der moralischen Verantwortung ab- derts. Die Europäische Union als Rechts- und Wertege- gelegt wird, als einen wichtigen Schritt in die richtige meinschaft bietet dabei die Chance einer dauerhaften (B) Richtung. Verständigung und Aussöhnung zwischen Deutschland (D) und seinen östlichen Nachbarstaaten. In diesem Zusammenhang erinnere ich an die Auffor- derung des Europäischen Parlaments aus dem Jahre Maßgeblich für einen Erfolg der Europäischen Union 1999, „fortbestehende Gesetze und Dekrete aus den Jah- als Rechts- und Wertegemeinschaft ist die Einhaltung ren 1945 und 46 aufzuheben, soweit sie sich auf die Ver- der vom Europäischen Rat 1993 beschlossenen Kopen- treibung von einzelnen Volksgruppen in der ehemaligen hagener Kriterien. Darin werden von den Mitgliedstaa- Tschechoslowakei beziehen“, sowie an den deutsch- ten unter anderem eine stabile Demokratie, der Schutz tschechischen Nachbarschaftsvertrag von 1992 und die von Minderheiten und die Achtung der Menschenrechte deutsch-tschechische Erklärung von 1997, in der sich gefordert. Die Kopenhagener Kriterien waren richtungs- beide Seiten zu ihrer historischen Verantwortung be- weisend für den Reformprozess, den die Bewerberländer kannt haben. eingeleitet und vorangebracht haben, um die Bedingun- gen für eine von allen Seiten gewünschte Mitgliedschaft Ich fordere die Bundesregierung auf, insbesondere in der EU zu erfüllen. mit der Tschechischen Republik über die Aufhebung der Vertreibungs- und Entrechtungsdekrete sowie Straffrei- Es bestehen jedoch insbesondere in der Tschechi- stellungsgesetze zu verhandeln. schen Republik Dekrete fort, die entgegen dem Völker- recht als Rechtfertigungen für Tötungen, Vertreibungen und Entrechtungen gedient haben. Anlage 7 Nicht nur wir meinen, dass diese Dekrete und deren politische Bestätigungen den Weg verschließen könnten, Erklärung nach § 31 GO die Vergangenheit aufzuarbeiten und zu überwinden, um die Zukunft von Nachbarn zum Wohle ihrer Bürger zu der Abgeordneten Matthias Sehling und meistern. Und deswegen sagen wir: Vertreibungsdekrete, Beatrix Philipp (beide CDU/CSU) zur Abstim- Vertreibungsgesetze sowie so genannte Straffreistel- mung über den Entwurf eines Gesetzes zu dem lungsgesetze sind Unrecht und stehen im Gegensatz zum Vertrag vom 16. April 2003 über den Beitritt Völkerrecht. Sie dürfen nirgendwo Bestandteil einer be- der Tschechischen Republik, der Republik Est- stehenden Rechtsordnung sein. Daher sind diese Dekrete land, der Republik Zypern, der Republik Lett- abzuschaffen bzw. für nichtig zu erklären. land, der Republik Litauen, der Republik Un- garn, der Republik Malta, der Republik Polen, Wir begrüßen in diesem Zusammenhang die Erklä- der Republik Slowenien und der Slowakischen rungen der tschechischen Regierung vom 19. Juni 2003 4736 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2003

(A) in Prag und vom 29. Juni 2003 in Göttweig, in denen auf bevor die Reformdiskussion in der Europäischen Union (C) die „unannehmbaren Taten und Ereignisse“ in der Zeit einen erfolgreichen Abschluss gefunden hat. Es ist weder unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg hingewiesen absehbar, ob das noch zu verhandelnde institutionelle und ein Bekenntnis der moralischen Verantwortung ab- Gefüge der EU effektiv arbeiten kann, noch ob es von gelegt wird, als einen wichtigen Schritt in die richtige den Staaten überhaupt akzeptiert wird. Eine klare Ab- Richtung. grenzung der Kompetenzen in der Union ist noch nicht gegeben. Wir wissen momentan nicht, in welchen Berei- In diesem Zusammenhang erinnern wir an die Auffor- chen wir soziale und wirtschaftliche Belange gemein- derung des Europäischen Parlaments aus dem Jahre sam, koordiniert oder einzelstaatlich regeln. Wir stim- 1999, „fortbestehende Gesetze und Dekrete aus den Jah- men der Erweiterung zu, bevor uns ein schlüssiges und ren 1945 und 1946 aufzuheben, soweit sie sich auf die mehrheitsfähiges Konzept Sicherheit darüber gibt, wie Vertreibung von einzelnen Volksgruppen in der ehemali- mittel- und langfristig die erweiterte Union und ihre Ak- gen Tschechoslowakei beziehen“, sowie an den deutsch- tivitäten finanziert werden. Deutschlands Grenzregionen tschechischen Nachbarschaftsvertrag von 1992 und die wurde zur Vorbereitung auf die Erweiterung von Vertre- deutsch-tschechische Erklärung von 1997, in der sich tern der Regierungspartei SPD ein geschlossenes Grenz- beide Seiten zu ihrer historischen Verantwortung be- gürtelprogramm versprochen, welches bis heute noch kannt haben. nicht existiert. Nach den Plänen der Bundesregierung wird Deutschland in Zukunft aus den EU-Töpfen keine Zuwendungen mehr für Strukturmaßnahmen erhalten. Anlage 9 Den Grenzregionen bleibt gleichzeitig auch kein Hand- Erklärung nach § 31 GO lungsspielraum, eigene Unternehmen entsprechend schützen oder fördern zu können. Nach wie vor gibt es des Abgeordneten Dr. Wolfgang Götzer (CDU/ auf tschechischer Seite keine Außerkraftsetzung der CSU) zur Abstimmung über den Entschlie- tschechischen Vertreibungsdekrete. Mit der Erweiterung ßungsantrag der CDU/CSU zu dem Entwurf ei- wird somit der EU als Rechtsgemeinschaft ein zweifel- nes Gesetzes zu dem Vertrag vom 16. April 2003 haftes Erbe übertragen. In der EU und in Deutschland über den Beitritt der Tschechischen Republik, wurden notwendige Maßnahmen im Vorfeld der Erwei- der Republik Estland, der Republik Zypern, terung nicht getroffen, wenngleich die Maßnahmen auf der Republik Lettland, der Republik Litauen, beiden Ebenen wiederholt als notwendig angesehen wur- der Republik Ungarn, der Republik Malta, der den. Insbesondere die Bundesregierung ist in der Ge- Republik Polen, der Republik Slowenien und samtbetrachtung hier ihrer Fürsorgepflicht gegenüber der Slowakischen Republik zur Europäischen der deutschen Bevölkerung – insbesondere in den Grenz- (B) Union (Tagesordnungspunkt 3) regionen zu den Beitrittsstaaten – nicht ausreichend (D) Hiermit erkläre ich, dass ich mit dem Entschließungs- nachgekommen. antrag der CDU/CSU-Fraktion (Drucksache 15/1359) vollinhaltlich übereinstimme. Anlage 11 Erklärung nach § 31 GO Anlage 10 des Abgeordneten Klaus Brähmig (CDU/CSU) Erklärung nach § 31 GO zur Abstimmung über den Entwurf eines Geset- des Abgeordneten Albert Rupprecht (CDU/ zes zu dem Vertrag vom 16. April 2003 über den CSU) zur Abstimmung über den Entwurf eines Beitritt der Tschechischen Republik, der Repu- Gesetzes zu dem Vertrag vom 16. April 2003 blik Estland, der Republik Zypern, der Repu- über den Beitritt der Tschechischen Republik, blik Lettland, der Republik Litauen, der Repu- der Republik Estland, der Republik Zypern, blik Ungarn, der Republik Malta, der Republik der Republik Lettland, der Republik Litauen, Polen, der Republik Slowenien und der Slowa- der Republik Ungarn, der Republik Malta, der kischen Republik zur Europäischen Union (Ta- Republik Polen, der Republik Slowenien und gesordnungspunkt 3) der Slowakischen Republik zur Europäischen Mit der Osterweiterung der Europäischen Union er- Union (Tagesordnungspunkt 3) öffnet sich nach den bitteren Erfahrungen vor allem in Mit seiner Zustimmung zu dem Vertrag für die Auf- der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die historische nahme zehn neuer Mitgliedstaaten zur Europäischen Chance, Frieden, Freiheit und Sicherheit in ganz Europa Union gibt der Deutsche Bundestag dem Willen Aus- nachhaltig zu stärken. druck, die Europäische Union zu einem Bund der Frei- heit und des Friedens wieder zu vereinen. Ich stimme Die Einigung Europas ist das wertvollste Erbe der dem Antrag aus übergeordneten Gründen zu, wenngleich zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die Europäische ich erhebliche Bedenken anmelden möchte: Union als Rechts- und Wertegemeinschaft bietet dabei die Chance einer dauerhaften Verständigung und Aus- Ich sehe mit großer Sorge, dass viele Voraussetzungen söhnung zwischen Deutschland und seinen östlichen noch nicht erfüllt sind, die bei dieser Erweiterung zwin- Nachbarstaaten. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion be- gend erfüllt sein müssten. Die Erweiterung findet statt, grüßt daher die Aufnahme aller zehn Beitrittsstaaten zur Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2003 4737

(A) Europäischen Union zum 1. Mai 2004. Dieser Beitritt ist Republik“ auf dem Weg zum Beitritt zum Ausdruck ge- (C) eine zukunftsgerichtete Weiterentwicklung einer Jahr- kommen ist. hunderte alten gemeinsamen Wertegemeinschaft auf der Grundlage gemeinsamen Glaubens, gemeinsamer Kultur und gemeinsamer Geschichte. Anlage 12 Maßgeblich für einen Erfolg der Europäischen Union Zu Protokoll gegebene Reden als Rechts- und Wertegemeinschaft ist die Einhaltung der vom Europäischen Rat 1993 beschlossenen Kopen- zur Beratung über den Entwurf eines Gesetzes hagener Kriterien. Darin werden von den Mitgliedstaa- zur Änderung des Bürgerlichen Gesetzbuches ten unter anderem eine stabile Demokratie, der Schutz (Gesetz zur Beseitigung der Rechtsunsicherheit von Minderheiten und die Achtung der Menschenrechte beim Unternehmensverkauf) (Tagesordnungs- gefordert. Die Kopenhagener Kriterien waren richtungs- punkt 12) weisend für den Reformprozess, den die Bewerberländer Christine Lambrecht (SPD): Der Gesetzentwurf der eingeleitet und vorangebracht haben, um die Bedingun- CDU/CSU will ein angeblich bestehendes Auslegungs- gen für eine von uns gewünschte Mitgliedschaft in der problem des § 444 BGB lösen. Eine unterstellte Rechts- EU zu erfüllen. unsicherheit im Haftungsrecht bei Unternehmenskäufen Ich sehe jedoch, dass offensichtlich nicht alle Bei- soll beseitigt werden. Wenn diese Rechtsunsicherheit in trittsländer – aus welchen Gründen auch immer – sich der Beratungspraxis tatsächlich besteht, dann werden vor dem Beitritt in die Rechts- und Wertegemeinschaft wir darüber reden müssen. der Europäischen Union von Dekreten getrennt haben, Ihr Entwurf geht aber weit darüber hinaus, indem er die völkerrechtswidrig so genannte Rechtfertigungen für die gesetzliche Regelung auf den Verbrauchsgüterkauf die Vertreibungen der Deutschen aus ihrer Heimat am beschränkt, entgegen der eindeutigen Intention des Ge- Ende des Zweiten Weltkrieges und danach waren. So setzgebers, der die Regelung in allen Kauf- und Werk- schmerzt es mich, dass zum Beispiel die Tschechische verträgen angewendet wissen wollte. Republik an den Benes-Dekreten festhält, was wieder- holt in den Äußerungen führender Regierungsvertreter, Kaum eine Vorschrift des neuen Schuldrechts hat so aber auch in der Resolution des tschechischen Parlamen- heftige Diskussionen ausgelöst wie § 444 BGB, nach tes vom 23. April 2002 zum Ausdruck gekommen ist. dessen Wortlaut eine Verbindung von Garantie und Haf- Daran hat auch die bedeutende Erklärung der Regierung tungsbeschränkung nicht mehr möglich erscheint. Der der Tschechischen Republik vom 18. Juni 2003, in der Umfang der einschlägigen Publikationen ist eindrucks- voll. (B) auf die „unannehmbaren Taten und Ereignisse“ in der (D) unmittelbaren Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg hinge- Der Grund für diese Diskussion liegt in § 444 Alt. 2 BGB. wiesen wird, in der Substanz nichts geändert, zumal die Nach dieser Bestimmung kann sich der Verkäufer auf tschechische Regierung gerade in jüngster Zeit ein Fest- eine Vereinbarung, durch welche die Rechte des Käufers halten an den Benes-Dekreten als den rechtlichen wegen eines Mangels ausgeschlossen oder beschränkt Grundlagen der Vertreibung politisch bekräftigt hat. werden, dann nicht berufen, wenn er eine Garantie für Nicht nur ich meine, dass diese wiederholten politi- die Beschaffenheit der Sache übernommen hat. schen Bekräftigungen den Weg verschließen könnten, Diese Regelung wirft folgendes Problem auf: die Vergangenheit aufzuarbeiten und zu überwinden, um die Zukunft von Nachbarn zum Wohle ihrer Bürger zu Einerseits spielen Garantien im kaufmännischen Ge- meistern. Denn dazu gehört auch ein Bekenntnis zur schäftsverkehr eine bedeutsame Rolle. Man denke nur Freizügigkeit und Niederlassungsfreiheit wie auch ein an Maschinenbau- und Anlagenverträge, wo Garantien Bekenntnis zum Recht auf die Heimat für die deutschen etwa im Hinblick auf Kapazität, Leistungsdaten und Ver- Vertriebenen, die wie die tschechische Bevölkerung brauch absolut üblich und wohl auch unverzichtbar sind. Schlimmstes erleiden mussten. Andererseits sollen auch in diesen Fällen nicht über Deswegen sage ich: Vertreibungsdekrete und Vertrei- Jahre hinweg und unbegrenzt Einstandspflichten über- bungsgesetze sind Unrecht und stehen im Gegensatz nommen werden. Deshalb werden Garantien und die ge- zum Völkerrecht. Daher unsere Bitte, unser nachbar- setzliche Gewährleistung summenmäßig, zeitlich oder schaftliches Verlangen: Vertreibungen und ethnische auch hinsichtlich der Rechtsfolgen beschränkt. Säuberungen dürfen nirgendwo Bestandteil einer beste- henden Rechtsordnung sein und besonders nicht bleiben. Gerade beim Unternehmenskauf wird das gesetzliche Gewährleistungssystem in der Regel durch ein umfas- Deshalb fordere ich: Die Vertreibungs- und Enteig- sendes, in sich geschlossenes System vertraglicher Haf- nungsdekrete sind in den Beitrittsstaaten, in denen sie tungen des Verkäufers ersetzt, in denen Garantien für die noch bestehen, abzuschaffen, für nichtig zu erklären. Richtigkeit von Jahresabschlüssen, Umsätzen oder Er- trägen übernommen werden. Ich halte daher an der Forderung einer Abschaffung der Vertreibungsdekrete und Vertreibungsgesetze fest, so Dies sei nun wegen der Regelung des § 444 BGB al- wie es in der „Entschließung des Europäischen Parla- les nicht mehr möglich, wurde und wird gewarnt. Zwi- mentes vom 15. April 1999 zum regelmäßigen Bericht schenzeitlich überwiegen aber die Stimmen im Schrift- der Kommission über die Fortschritte der Tschechischen tum, die eine einschränkende Auslegung der Norm im 4738 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2003

(A) Hinblick darauf fordern, dass der Gesetzgeber die alte Mit der Schuldrechtsreform hat der Gesetzgeber erst- (C) Vertragspraxis nicht habe ändern wollen. mals den Begriff der Garantie in das BGB eingeführt. Dabei wurde allerdings das Ziel, nämlich eine Klarstel- Unterschiedliche Auffassungen werden vertreten, lung zu erreichen, verfehlt. verschiedene Lösungsansätze werden vorgeschlagen: Das ist natürlich ein gefundenes Fressen für wissen- Nach einer Auffassung erfasst § 444 BGB nur den schaftliche Abhandlungen und Berichte der Fachpresse, Bereich der so genannten unselbstständigen Garantie, die inzwischen ganze Aktenordner füllen. Der Gesetzge- nicht aber die selbstständige Garantie, die ein eigenstän- ber hat der Praxis des Unternehmenskaufs den Boden diges Haftungssystem nach § 311 BGB darstellt. unter den Füßen weggezogen. Es muss nun wieder ein- Andere subsumieren unter § 444 auch die selbststän- mal auf die Rechtsprechung gewartet werden, die für dige Garantie und fordern mit unterschiedlichen Argu- den Gesetzgeber in die Bresche springen muss, um mentationen eine einschränkende Auslegung der Norm Rechtssicherheit zu schaffen. oder schlagen angesichts einer nach ihrer Auffassung verbleibenden Rechtsunsicherheit Beschaffenheitsver- Der Begriff der Garantie findet sich in den §§ 276 I, einbarungen (gegebenfalls verschuldensunabhängig) 442 I, 443, 444, 477 BGB. § 444 BGB erregte dabei be- vor, die dann zeitlich oder summenmäßig beschränkt sonderes Aufsehen. Der Verkäufer kann sich danach auf werden könnten. eine Vereinbarung, durch welche die Rechte des Käufers ausgeschlossen oder beschränkt werden, nicht berufen, Auch wird erwogen, einen selbstständigen Garantie- wenn er eine Garantie für die Beschaffenheit übernom- vertrag im Sinne des § 311 BGB abzuschließen, bei dem men hat. klargestellt werden soll, dass er nicht dem § 444 BGB unterfalle. Es stellt sich die Frage, ob nun die Garantie bisheriger Unternehmenskaufverträge hierunter fällt oder nicht. So- Schließlich wird eine Gesetzesänderung zur Beseiti- lange diese Frage nicht beantwortet ist, schwimmt die gung der Unklarheiten angeregt. Vertragspraxis steuerlos in unbekannten Gewässern. Auch wenn ich persönlich der Ansicht bin, dass Inzwischen hat erfreulicherweise auch das Bundes- § 444 BGB bei sachgerechter Auslegung der bisherigen justizministerium dieses Problem erkannt. Man sah sich Vertragspraxis nichts entgegensteht, werden wir uns mit sogar herausgefordert, dem Bundesverband der Deut- dieser Problematik ohne Scheuklappen befassen. schen Industrie eine entsprechende – rechtlich allerdings Dies ist auch angebracht, immerhin handelt es sich unverbindliche – Interpretationshilfe zukommen zu las- um eine Sachfrage ohne parteipolitischen Hintergrund. sen. Nur gesetzgeberischen Handlungsbedarf mochte (B) man nicht anerkennen. Das ist für mich eine inkonse- (D) quente Haltung, die die eingetretene Rechtsunsicherheit Dr. Günter Krings (CDU/CSU): Manchmal können nicht zu beseitigen vermag. einige wenige Paragraphen ein Beben in den betroffenen Kreisen auslösen. Das habe ich zuletzt als Berichterstat- Der Unternehmenskauf ist für eine Volkswirtschaft ter im Rahmen der Novelle zum Urheberrecht erfahren, von immenser Bedeutung. Jede Verzögerung bedeutet als es um einen neuen § 52 a UrhG ging. Ein ähnliches die Gefährdung von Arbeitsplätzen, die Verschiebung Echo in der Fachwelt hat der neu gefasste § 444 BGB von Investitionen und möglicherweise sogar die Ver- hervorgerufen, der eine der Grundlagen für den Unter- nichtung der Existenzgrundlage eines Unternehmens. nehmenskauf bildet und in seiner geltenden Fassung ein Führt man sich diese Punkte vor Augen, dann stößt es Ergebnis der Reform des Schuldrechts ist. auf Unverständnis, dass bislang gesetzgeberisch nicht gehandelt wurde. Anlass für die Reform des Schuldrechts war die Um- setzung der EG-Richtlinie 1999/44/EG zu bestimmten Betrachtet man die bisherige umfangreich erschie- Aspekten des Verbrauchergüterkaufs und der Garantien nene Literatur zu dem von der CDU/CSU-Fraktion in die für Verbrauchsgüter vom 25. Mai 1999. Wesenselement politische Diskussion eingebrachten Thema, so findet dieser Richtlinie ist eine Verbesserung des Verbraucher- man – das erstaunt uns nicht – verschiedene Ansichten schutzes. über die rechtliche Einordnung der Problematik. Dass so viel darüber diskutiert wird, unterstreicht einmal mehr, Wie bei so vielen anderen Richtlinien hat die Bundes- wie unklar die derzeitige Situation ist. regierung auch diese Richtlinie der Europäischen Union seinerzeit mit eigenen, zum Teil nur halb ausgegorenen Unternehmen auf eine höchstrichterliche Rechtspre- Ideen befrachtet. Am Ende wundert man sich dann, dass chung zu vertrösten oder möglicherweise sogar zu emp- Umsetzungsfristen versäumt werden, eine EU-rechts- fehlen, auf angloamerikanisches Recht auszuweichen, konforme Umsetzung scheitert oder wir im Ergebnis verbietet sich aus meiner Sicht schlichtweg. Als Union eine verschlimmbesserte deutsche Rechtslage erhalten, wollen wir, dass der Bundestag schnellstmöglich seine die nicht nur den Juristen ein Ärgernis ist, sondern auch gesetzgeberische Pflicht erfüllt, damit der derzeit danie- der Rechtssicherheit und damit dem Wirtschaftsstandort derliegende Markt für Unternehmenskäufe wieder in Deutschland schadet. Schwung kommt und internationale Investoren keinen Bogen um Deutschland machen. Leider hat ausgerechnet der § 444, eine zentrale Be- stimmung des Kaufrechts, zu großer Verunsicherung ge- Kernelement der Umsetzung der entsprechenden führt. Brüsseler Vorgaben ist ein verbesserter Verbraucher- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2003 4739

(A) schutz. Die bereits zitierte EU-Richtlinie hebt in ihren 19. Jahrhunderts noch nicht damit rechnen, dass das Ge- (C) Erwägungsgründen hervor, dass ein Hauptziel der Ver- setz eines Tages auch für komplizierte Unternehmenstrans- träge die Erreichung eines hohen Verbraucherschutzni- aktionen taugen müsste. Übernahmen, Verschmelzungen, veaus ist. Anteilskäufe, sogar im internationalen Wettbewerb – all dies war damals allenfalls die Ausnahme. Dass sich das Man kann dem Gesetzgeber nicht vorwerfen, dass er inzwischen geändert hat, weiß nicht nur der interessierte europäisches Recht nicht richtlinienkonform umgesetzt Leser der Wirtschaftspresse. Dennoch wurde diese Ent- habe. Aber warum muss der deutsche Gesetzgeber wie- wicklung 100 Jahre nach In-Kraft-Treten des BGB wie- der einmal über das Ziel hinausschießen und eine Rege- derum ignoriert, als das Schuldrecht reformiert wurde. lung einführen, die die Richtlinie gar nicht verlangt? Weil die EG-Richtlinie zum Gebrauchsgüterkauf im In- Wollen wir nicht deregulieren, statt immer weitere Ge- teresse eines verbesserten Verbraucherschutzes umzuset- setze und Verordnungen zu erlassen? Wenn der Gesetz- zen war, wurde übersehen, dass damit in einem Rund- geber und auch das Bundesjustizministerium die Schief- umschlag der wirtschaftlich wichtige Bereich des Unter- lage erkennen, muss man sich weiter fragen, warum nehmenskaufs kaputtgeregelt wurde, in dem es gerade denn nicht eine Korrektur erfolgt. Der Bund ist nicht nicht um Gebrauchsgegenstände wie Kühlschränke oder dazu aufgerufen, kluge Interpretationshilfen für Computer und damit dem erforderlichen Schutz der Ver- schlechte Gesetze zu formulieren, sondern einfach gute braucher geht. Gesetze zu verabschieden. Alle Interpretationshilfen werden überflüssig, wenn wir den klaren Unionsvor- Umstritten war und ist vor allem der Paragraph mit schlag Gesetz werden lassen und damit lediglich das der leicht zu merkenden Ziffer 444. Professoren und richtlinienkonform umsetzen, was die EU-Richtlinie Wirtschaftsanwälte weisen immer wieder darauf hin, verlangt. Damit ist dem Ziel eines verbesserten Verbrau- dass dieser Paragraph das Haftungssystem bei Unterneh- cherschutzes am besten gedient. Werden Unternehmens- menskäufen infrage stellt. Es hat sich in jahrelanger Pra- käufe erschwert oder teilweise vielleicht sogar ver- xis entwickelt und als sachgerecht erwiesen. Nun jedoch hindert, weil man eigentlich im Sinn hatte, Verbraucher- verbietet der neue Paragraph 444 BGB die Beschrän- rechte zu stärken, dann hat kein Verbraucher etwas da- kung oder den Ausschluss der Haftung in den Fällen, in von. denen der Verkäufer eine Garantie für die Beschaffenheit einer Sache übernommen hat. In Unternehmenskaufver- Die Richtlinie selbst unterstreicht diese Position. Nir- trägen schließt der Verkäufer aber häufig die Haftung für gends ist der Unternehmenskauf in der Richtlinie ge- Sachmängel des verkauften Unternehmens aus, über- nannt. Es wird fast ausschließlich vom Verbraucher ge- nimmt stattdessen Garantien für bestimmte Umstände sprochen; allein das zeigt die Zielsetzung. Die Richtlinie – die eben gerade die Beschaffenheit des Unternehmens (B) erlaubt zwar in ihrem Art. 8 Abs. 2, dass ein „Mehr“ an betreffen – und beschränkt gleichzeitig die Haftung da- (D) gesetzlichen Regeln möglich ist. Die Richtlinie hebt da- für, zum Beispiel durch finanzielle Höchstgrenzen. Ob bei aber hervor, dass ihre Bestimmungen einen Mindest- das geltende Recht solche Haftungsbeschränkungen schutz darstellen und dass strengere Bestimmungen er- überhaupt noch erlaubt und Unternehmenskaufverträge lassen oder aufrechterhalten werden können, „um ein bei unrichtigen Garantien möglicherweise rückabgewi- höheres Schutzniveau für die Verbraucher sicherzustel- ckelt werden müssen, ist höchst umstritten. Die Schuld- len“. Der Durchschnittsverbraucher interessiert sich aber rechtsreform hat im Bereich des Unternehmenskaufs relativ selten für den Kauf eines Unternehmens. Rechtsunsicherheit geschaffen, anstatt sie zu beseitigen. Der Unionsentwurf beschränkt das Verbot, die Haf- Diesen Fehler korrigiert der Gesetzentwurf der CDU/ tung für Garantieerklärungen einzuschränken oder aus- CSU-Fraktion. Schon geringfügige Änderungen in drei zuschließen, im Einklang mit der EU-Richtlinie auf den Bestimmungen des BGB reichen dafür aus. Sie stellen Bereich des Verbrauchergüterkaufs entsprechend der eindeutig klar, dass sich das Verbot, die Haftung des Ver- nach früherer Rechtslage in § 11 Nr. 11 AGBG geregel- käufers auszuschließen oder zu beschränken, auf den ten Sachverhalte und auf den konkret vereinbarten Inhalt konkret vereinbarten Inhalt einer Garantie bezieht. Der der Garantie. Das Verbot, die Haftung wegen arglistig Gesetzentwurf sieht zudem einen noch über die Vorga- verschwiegener Mängel zu beschränken oder auszu- ben der EG-Richtlinie zum Gebrauchsgüterkauf hinaus- schließen, bleibt davon unberührt. gehenden Schutz der Verbraucher vor, weil er ausdrück- Die Rechtsunsicherheit, die dem Standort und der An- lich Klauseln in Allgemeinen Geschäftsbedingungen wendung des deutschen Rechts schadet, wäre mit dem verbietet, die die Haftung für Beschaffenheitsgarantien Unionsantrag beendet. Unserem Entwurf gelingt daher, beschränken oder verbieten. Mit anderen Worten: Dies was der Schuldrechtsreform der Regierung nicht gelang. ist ein Gesetzentwurf, der allen Interessengruppen nützt Wir fordern die Regierungsmehrheit daher auf: Stimmen und niemandem weh tut – außer vielleicht der Eitelkeit Sie unserem Antrag zu, damit den Vorgaben der Richtli- der Regierungskoalition, weil die Initiative mal wieder nie endlich Genüge getan wird. Geben Sie mit uns wie- von der Opposition kam. der klare Signale für die Praxis des Unternehmenskauf- Nach vernünftigen Erwägungen sollte man eigentlich vertrages, damit sie sich wieder auf sicherem Kurs in davon ausgehen, dass der Entwurf die ungeteilte Zustim- jedem Gewässer bewegen kann. mung des Parlaments und auch der Bundesregierung fin- det. Denn die Änderungen sind lediglich eine Kodifizie- Dr. Norbert Röttgen (CDU/CSU): Die Verfasser des rung dessen, was das Bundesjustizministerium im Januar Bürgerlichen Gesetzbuches konnten gegen Ende des dieses Jahres selbst in einem – rechtlich allerdings völlig 4740 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2003

(A) unverbindlichen – Schreiben an den Bundesverband der Streitenden in der Fachliteratur den Gesetzentwurf der (C) Deutschen Industrie als Auslegungsregel für den verun- Opposition zum Unternehmenskauf durchdenkt – und glückten Paragraphen 444 ausgab. zwar das von Ihnen angesprochene, mehr jedoch noch das von Ihnen überhaupt erst geschaffene Problem –, der Wie man hört, wird auch im Bundesjustizministerium kann Ihnen einen Vorwurf nicht ersparen: Sie blasen eine an einer Änderung des Paragraphen 444 gearbeitet. Das sehr eng begrenzte Fachdebatte zu angeblichen Unge- Parlament könnte und sollte das Ministerium entlasten reimtheiten des neuen § 444 BGB erst richtig auf, um und unseren Gesetzentwurf beschließen. Das hätte mög- sich dann mit dem selbst geschaffenen Scheinproblem licherweise – neben der Beseitigung der Rechtsunsicher- wichtigtuerisch zu beschäftigen. Statt echte Probleme heit im Unternehmenskauf – zusätzlich den Effekt, dass anzupacken, wollen Sie zudem mit Ihrer Beschränkung man sich im BMJ verstärkt den vielen anderen rechtspo- des Sinngehalts von § 444 BGB auf den Verbrauchsgü- litischen Baustellen widmen könnte. terkauf den beteiligten Kreisen im Bereich des Unter- Die Notwendigkeit einer gesetzlichen Klarstellung nehmenskaufs richtig dicke Probleme bescheren. liegt auf der Hand. Die Rechtspraxis des Unternehmens- Konkret: Zum Ersten geht es um das Verhältnis von kaufs hat erst nach Jahren durch höchstrichterliche Verkäufergarantien zu vonseiten des Verkäufers durch- Rechtsprechung ein einigermaßen gesichertes rechtli- gesetzten Haftungsausschlüssen beim so genannten Un- ches Fundament bekommen. Die Schuldrechtsreform hat ternehmenskauf. dem Unternehmenskauf dieses Fundament entzogen, und nun muten wir den Unternehmen zu, erneut Jahre Sie wollen nach Ihren Worten Rechtssicherheit beim darauf zu warten, dass Gerichte das Fundament wieder Unternehmenskauf herstellen. Dies ist ein löbliches An- aufbauen. sinnen. Hier gilt das Wort des Bundesjustizministeriums: Das Ministerium wird sofort tätig werden, wenn die be- Wir brauchen eine klare gesetzliche Regelung, die hauptete Rechtsunsicherheit tatsächlich und praktisch den Unternehmenskauf fördert, statt ihn zu gefährden. eintreten sollte. Das ist bisher nicht der Fall. Weder von- Ich muss an dieser Stelle nicht erklären, dass ein Schrei- seiten der Wirtschaft und der Banken noch vonseiten der ben des Bundesjustizministeriums an den Bundesver- Rechtsprechung ist die angebliche Rechtsunsicherheit band der Deutschen Industrie rechtlich unverbindlich ist problematisiert worden. Ich bin überaus zuversichtlich, und eine klare Regelung nicht ersetzen kann. Es ist aller- dass die von Ihnen aufgegriffene eng begrenzte Fachde- dings nicht nur rechtlich unverbindlich, sondern auch batte die Gerichte nicht verunsichern wird. höchst unsicher: Noch vor einem Jahr hat das Ministe- rium in einem ähnlichen Schreiben eine ganz andere Po- Die Rechtsprechung legt in bester Tradition und ge- sition vertreten. Wer garantiert uns – und den Unterneh- festigter Übung Rechsnormen nicht an den bloßen Wor- (B) men –, dass sich die Haltung des Ministeriums nicht ten klebend, sondern nach Sinn und Zweck der jeweili- (D) demnächst erneut ändert, je nachdem, welchen Einflüs- gen Norm aus. terungen es dann erliegt? § 444 BGB soll ein widersprüchliches Verhalten des Auch aus volkswirtschaftlicher Sicht ist es wichtig, einen Vertragspartners und eine überraschende und ver- die Rechtsunsicherheiten beim Unternehmenskauf zu klausulierte Übervorteilung des anderen Partners verhin- beseitigen. Denn gerade in Zeiten schwacher Konjunktur dern. Zwingend unwirksam ist daher ein Haftungsaus- ist der Verkauf oft die letzte Möglichkeit, Unternehmen schluss nur, wenn er – und das heißt: soweit er – im oder Unternehmensteile und damit auch Arbeitsplätze zu Sachzusammenhang und Widerspruch zur abgegebenen retten. Besteht jedoch wegen der unsicheren Rechtslage Garantie steht. Denn nur in diesem Fall zerstört oder hin- die Gefahr, dass ein Unternehmenskauf wegen unrichti- tergeht der Verkäufer von ihm zuvor geschaffenes Ver- ger Garantien rückabgewickelt oder Schadensersatz ge- trauen beim Käufer. Der neue § 444 BGB, liest man ihn zahlt werden muss, wird sich ein potenzieller Käufer richtig, macht Haftungsausschlüsse und -beschränkun- gründlich überlegen, ob er ein Unternehmen kauft. Denn gen nicht per se und generell unwirksam. Es bleibt sehr er muss langfristig wirtschaftlich und unternehmerisch wohl eine Haftungsbeschränkung oder ihr Ausschluss planen und kalkulieren können und darf dabei keine Ri- möglich, wenn die abgegebene Garantie insoweit keinen siken eingehen. Vertrauenstatbestand geschaffen hat. Unternehmenstransaktionen sind ein internationales Auch für den Unternehmenskauf führt also der neue Geschäft. Unsicherheiten im deutschen Kaufrecht brin- § 444 BGB zu klaren Ergebnissen: Wer bei einem Unter- gen in doppelter Hinsicht einen Wettbewerbsnachteil: nehmensverkauf für den Bestand an Maschinen eine Be- Für die Unternehmen, die ihren internationalen Ge- schaffenheitsgarantie übernimmt, kann hinsichtlich der schäftspartnern bei Vertragsverhandlungen verlässliche gestellten Geschäftsprognosen auch weiterhin einen Rechtsgrundlagen zusichern müssen. Und für Deutsch- Haftungsausschluss vereinbaren. Wer für zu erwartende land, das vor allem vor dem Hintergrund der Überlegun- Umsatzzahlen eines Unternehmens die Gewähr über- gen zu einem europäischen Vertragsrecht aufpassen nimmt, kann diese Haftung auch künftig summenmäßig muss, dass es mit einem konsistenten Zivilrecht auch beschränken. weiterhin eine Vorreiterrolle spielt. Wir könnten gleichwohl zur Klarstellung auch für den Rechtsanwender, der am Buchstaben des Gesetzes kle- Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wer ben bleibt, das Wort „wenn“ durch das Wort „soweit“ er- mit kühlem Kopf und dem gebotenen Abstand zu den setzen. Das für Juristen und die Rechtsprechung offen- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2003 4741

(A) kundig Gemeinte und Gewollte wäre dann auch Gesetzentwurfs sehen: Die „Reform“ hat mehr neue Fra- (C) sprachlich klarer in Worte gefasst. gen aufgeworfen, als alte Probleme gelöst. Sie von der Opposition aber, wollen mit ihrem Gesetz Für das Anliegen der Union hat die FDP-Fraktion zum Unternehmenskauf viel mehr. Sie wollen den grundsätzlich Verständnis. Doch kann man bezweifeln, Grundgedanken, wonach es gesetzlich untersagt ist, ge- ob es sinnvoll ist, gerade eineinhalb Jahre nach In-Kraft- gebene Garantien durch geschickte Haftungsausschlüsse Treten der Schuldrechtsreform mit den Reparaturarbei- zu unterlaufen, auf den Verbrauchsgüterkauf beschrän- ten zu beginnen. Sollten wir dem Gesetz nicht erst zu- ken. nächst eine Bewährungszeit belassen, um dann – etwa zum Ende dieser Wahlperiode – in einer „großen Re- Das ist sachwidrig und im Ergebnis eine Einladung an form“ all die vielen, zum Teil nur kleinen Fehler zu kor- die jeweils garantiegebende Partei des Unternehmens- rigieren, die jetzt nach und nach ans Tageslicht treten? veräußerungsvertrages, gegebene Garantien in Bezug Wenn jedoch tatsächlich die von der CDU/CSU behaup- auf das zu verkaufende Unternehmen durch möglichst teten Mängel vorhanden sind, muss nachgebessert wer- raffinierte und undurchschaubar formulierte Haftungs- den. Ich selbst kann aus der Praxis und aus der Recht- ausschlüsse auszuhebeln. Wenn es nicht nur ein un- sprechung diese Mängel noch nicht erkennen. durchdachter Fehler Ihres Gesetzentwurfes ist, frage ich mich, wo der Sinn eines solchen Regelungsvorschlags Wir werden im Ausschuss verifizieren müssen, ob liegen mag. und wo die von der Union behauptete Rechtsunsicher- heit im Haftungsrecht bei Unternehmenskäufen tatsäch- Warum soll es möglich sein, dass der Unternehmens- lich zu verzeichnen ist. Die FDP wird deshalb im Aus- verkäufer für einen Umstand eine Garantieerklärung ab- schuss eine Anhörung zu dieser Thematik beantragen. gibt, damit er den Kaufpreis erhöhen kann, sich dann aber über einen Haftungsausschluss dieser übernomme- Wir alle wollen, dass der Unternehmenskauf nach fai- nen Garantie wieder entziehen kann? ren Regeln vonstatten geht. Dies dient auch dem Finanz- und Wirtschaftsstandort Deutschland. Darüber dürfen Ich kann einen Unterschied in den Interessenlagen wir aber nicht vergessen, dass wir Unternehmenskäufe beim Unternehmensveräußerungsvertrag und beim Ver- überhaupt erleichtern müssen. Denn globales Wirtschaf- brauchsgütervertrag nicht erkennen. Wer nicht hinter die ten und Wachsen ist unmittelbar mit der Möglichkeit der Kulissen gucken kann, muss sich auf Garantien seines Übernahme anderer Unternehmen verbunden. Wer Fir- Vertragspartners verlassen. Dies gilt für Unternehmens- menkäufe, wer M & As, erschweren will, will die Wirt- käufer ebenso wie für Verbraucher. Allein der Verkäufer schaft in Deutschland weiter kaputt regulieren. Das kön- kann einschätzen, ob seine Garantie die realen Zustände nen wir uns und kann sich Deutschland zurzeit am widerspiegelt oder dem Käufer etwas vorgaukelt. Der (B) wenigsten leisten. (D) Verkäufer profitiert davon, dass er die Garantie abgibt. Die Garantie erhöht nämlich die Kaufwilligkeit des Käu- fers oder – bestenfalls – sogar den Kaufpreis. Warum Alfred Hartenbach, Parlamentarischer Staatssekre- soll der Verkäufer diese Vorteile haben, ohne zugleich tär bei der Bundesministerin für Justiz: Der Gesetzent- das Haftungsrisiko für seine Äußerungen zu überneh- wurf, den Sie uns hier präsentieren, will ein Auslegungs- men? problem bei der Vorschrift des § 444 BGB lösen. Hierüber könnte man reden. Einigermaßen abwegig ist Zusammenfassend will ich deshalb festhalten: Eine es allerdings, die Klarstellung auf Verbrauchsgüterkäufe Hälfte Ihres Vorschlags ist brauchbar, aber nicht wirklich zu beschränken. Eine derartige Teilregelung könnte notwendig. Die andere Hälfte ist schädlich und daher un- leicht so verstanden werden, dass außerhalb des Ver- brauchbar. Wir können uns deshalb mit Ihrem Gesetzent- brauchsgüterkaufs Haftungsausschlüsse und Beschrän- wurf zur Änderung des Bürgerlichen Gesetzbuchs zulas- kungen uneingeschränkt zulässig sein sollen. Das würde ten von Unternehmenskäufern nicht anfreunden. dann auch für undurchschaubare oder widersprüchliche Klauseln gelten, mit denen sich der Verkäufer etwa bei Rainer Funke (FDP): Das, was hier zur ersten Bera- einem Unternehmenskaufs einer Haftung entzieht. tung auf dem Tisch des Hauses liegt, lässt sich in eine Reihe stellen mit vielen anderen Vorschlägen, das gerade Ich glaube kaum, dass Sie tatsächlich so weit über das erst in Kraft getretene neue Schuldrecht zu überarbeiten Ziel hinausschießen wollten. Es ist ja richtig, dass kaum oder – um in der Diktion der Bundesregierung zu bleiben – eine Vorschrift des neuen Schuldrechts so heftige Dis- „nachzubessern“. kussionen ausgelöst hat, wie der § 444 BGB. Es wurde tatsächlich vereinzelt eine ausschließlich grammatische Inhalt und verfahrensmäßige Umsetzung des Gesetz- Auslegung vertreten, die Sinn und Zweck der Regelung entwurfs für das Schuldrechtsmodernisierungsgesetz ausblendet und so zu dem Ergebnis gekommen ist, eine waren schon zu Beginn des Gesetzgebungsverfahrens Verbindung von Garantie und Haftungsbeschränkung sei umstritten. Insbesondere in Bezug auf den allgemeinen nicht mehr möglich. Das hat natürlich die Praxis gerade Teil des Schuldrechts und das Kaufrecht kann man sa- im kaufmännischen Geschäftsverkehr zunächst irritiert. gen: Die Reform hat eine über 2000 Jahre gewachsene In der Praxis werden – insbesondere bei Unternehmens- Rechtskultur zerstört. Sie hat, wie selbst gut meinende käufen – Garantien vereinbart, die den Verkäufer treffen. Kommentatoren feststellen mussten, ihr eigentliches Gleichzeitig beschränkt die Praxis diese Garantien sum- Ziel, nämlich Rechtsvereinfachung, nicht erreicht. Im menmäßig, zeitlich oder hinsichtlich der Rechtsfolgen. Gegenteil – wie wir gerade am Beispiel des vorliegenden Das wäre mit dieser Auslegung nicht mehr möglich. 4742 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2003

(A) Die Unruhe ist aber vollkommen unbegründet: Bei eben nicht nur beim Verbrauchsgüterkauf. Hierbei soll- (C) sachgerechter, nicht am Wortlaut haftender Auslegung ten wir es belassen. steht § 444 BGB der gängigen Vertragspraxis nicht im Wege, sondern verbietet lediglich – und dies mit allem Recht – intransparente und widersprüchliche Garantie- Anlage 13 beschränkungen. Schon die Gesetzesbegründung zu § 444 BGB stellt klar, dass sich an der früheren positiven Zu Protokoll gegebene Reden Rechtsprechung zur bewährten kaufmännischen Praxis zur Beratung über den Antrag: Vorrang für die beim Unternehmenskauf nichts ändern soll. Danach war Ostseesicherheit (Tagesordnungspunkt 14) es zulässig, Eigenschaftszusicherungen oder Garantien von vornherein zu beschränken, und so soll es auch blei- Dr. Christine Lucyga (SPD): Die verheerenden ben. In der Literatur hat sich sehr schnell die Auffassung Seeunfälle der jüngsten Zeit – wie der Untergang der durchgesetzt, dass auch der neue § 444 BGB der gängi- „Prestige“ in der Biskaya und auch des Frachters „Fu gen Vertragspraxis nicht entgegensteht. Shan Hai“ in der Ostsee – haben das Problembewusst- sein in Politik und Öffentlichkeit dafür geschärft, dass Sinn und Zweck des § 444 in seiner hier maßgebli- die Seesicherheit zu einer der Schlüsselfragen des Mee- chen Alternative ist es allein, widersprüchliches Verhal- res- und Umweltschutzes geworden ist. Der Schutz der ten zu unterbinden. Der Verkäufer, also auch der Unter- Meere ist eine internationale Aufgabe und Herausforde- nehmensverkäufer, soll nicht Garantien, die er zunächst rung. übernommen hat, nachträglich auf überraschende oder undurchschaubare Art und Weise ausschließen oder be- Das Problem der Seesicherheit hat uns in diesem schränken können. Etwas anderes ist es, wenn Inhalt und Hause in den vergangenen Wochen und Monaten mehr- Umfang einer Garantie von vornherein eingeschränkt fach beschäftigt, aber auch internationale Organisatio- werden und der Verkäufer erkennbar eine Haftung nur in nen, die nationalen Parlamente unserer europäischen einem begrenzten Rahmen übernimmt. Solchen vertrag- Nachbarn und der Europarat greifen immer öfter die lichen Regelungen steht § 444 BGB überhaupt nicht ent- Thematik von Schiffssicherheit und Schutz der Meere gegen. auf. Die heutige Debatte ist ebenfalls ein Beitrag in die- sem Sinne und sie zeigt, gemessen an den vorangegan- Ich zitiere die Vorschrift: genen Aussprachen zur Seesicherheit, dass wir inzwi- schen – wenn auch in kleinen Schritten – jeweils ein „Auf eine Vereinbarung, durch welche die Rechte Stück weitergekommen sind. So standen auf der interna- des Käufers … ausgeschlossen oder beschränkt tionalen Ministerkonferenz von Nord- und Ostseeanrai- werden, kann sich der Verkäufer nicht berufen, nern am 25./26. Juni dieses Jahres erneut die Schifffahrt (B) wenn er … eine Garantie für die Beschaffenheit der (D) und der Meeresschutz im Mittelpunkt und wir alle kön- Sache übernommen hat.“ nen uns über wichtige Schritte in die richtige Richtung Nur soweit der Verkäufer eine entsprechende Garan- freuen. In einer Reihe von bislang strittigen Fragen wur- tie abgegeben hat, ist ihm der Rückgriff auf die Haf- den Kompromisse gefunden, auf die Deutschland an tungsbegrenzung verwehrt. Dieses Auslegungsergebnis maßgeblicher Stelle Einfluss genommen hat. Als wich- kann inzwischen wohl mit Recht als herrschende Mei- tigster Erfolg ist zu werten, dass es nach schwierigen nung bezeichnet werden. Verhandlungen endlich gelungen ist, Russland von sei- ner bisherigen strikten Ablehnung der Lotsenpflicht ab- Natürlich könnten wir trotzdem über eine redaktio- zubringen. nelle Klarstellung in § 444 BGB reden, wenn es der Rechtssicherheit dient. Das BMJ beobachtet die weitere Angesichts der deutlichen Zunahme von Öltranspor- Entwicklung unter diesem Aspekt aufmerksam. ten durch die Ostsee und unter dem Eindruck zahlreicher Havarien von Tankern in europäischen Gewässern einig- Der CDU/CSU-Entwurf geht jedoch über die Klärung ten sich die Staaten auf gemeinsame Maßnahmen zur dieser Auslegungsfrage weit hinaus. Er ersetzt nicht nur Einführung einer Lotsenpflicht in engen und verkehrsbe- das kritisierte Wort „wenn“ durch ein „soweit“, sondern schränkten Gewässern. Dies betrifft vor allem die Ostsee beschränkt das Verbot intransparenter und widersprüch- – und dort wiederum vor allem die Kadetrinne zwischen licher Einschränkungen von Garantien zugleich auf den Deutschland und Dänemark, die bislang eines unserer Verbrauchsgüterkauf. Das legt den Schluss nahe – mög- größten schiffssicherheitspolitischen Sorgenkinder ist. licherweise ist dieser Schluss sogar so gewollt –, dass außerhalb des Verbrauchsgüterkaufs, also zum Beispiel Damit kann eine ganz exponierte Forderung aus dem beim Unternehmenskauf, auch intransparente und wider- Antrag der CDU/CSU „Vorrang für die Ostseesicher- sprüchliche Garantiebeschränkungen uneingeschränkt heit“ als erfüllt angesehen werden, so wie auch in ande- zulässig sein sollen. ren Zielsetzungen bereits Ergebnisse vorliegen. Insbe- sondere in der HELCOM konnte Deutschland vieles von Das widerspricht eindeutig dem Willen des Gesetzge- dem erreichen, was in Ihrem Antrag noch vorkommt, bers, der aus guten Gründen die Fortgeltung der existie- aber bereits auf den Weg gebracht wurde. Die Bremer renden Rechtsprechung und Rechtspraxis wollte, nach Konferenz vom Juni hat aber auch gezeigt, dass nur ein der sich beschränkte Garantiehaftungen am Maßstab der gemeinsam abgestimmtes Vorgehen in Fragen, die – wie Transparenz, dem Verbot der Widersprüchlichkeit und etwa die Lotsenannahmepflicht in der Kadetrinne oder Verständlichkeit messen lassen müssen – und dieses die Ausweisung der Ostsee als PSSA-Gebiet – internatio- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2003 4743

(A) nales Völkerrecht berühren, zum Erfolg führen. Voran- tung WWF, und Greenpeace sprach von „einem Offen- (C) gekommen ist auch die Verständigung über eine zügi- barungseid der Umweltminister“. gere Anpassung von Einhüllentankern vor 2015, über die Verbesserung der Hafenstaatenkontrollen und über Die Ostsee wird nicht als besonders geschütztes Mee- die Ausweisung besonderer Verkehrstrennungsgebiete, resgebiet – PSSA – ausgewiesen, eine Missachtung der darunter Ostsee als Verkehrstrennungsgebiet. Risikolage; es wird keine Radarüberwachung geben und auch die Lotsenannahmepflicht konnte nur für den klei- An dieser Stelle möchte ich auf das Achtpunktepro- nen Bereich der Kadetrinne durchgesetzt werden. gramm der Bundesregierung zum Schutz der Meeresum- Zur Erinnerung: Die „Fu Shan Hai“ ist wenige See- welt und der Küstenregionen verweisen. meilen vor der Kadetrinne untergegangen. Ein gemein- Mit dem Sicherheits- und Notfallkonzept hat sames Votum von Opposition und Koalition hätte die Deutschland eine Vorreiterrolle in Europa übernommen. Verhandlungsposition des Ministers gestärkt. Ich fordere Das deutsche Notfallkonzept ist europaweit führend und Sie auf, dieses Votum heute zu korrigieren. Dann besteht mit der Einrichtung eines gemeinsamen Havariekom- im Herbst auf der HELCOM-Konferenz die Chance, die mandos ist eine handlungsfähige Einheit geschaffen gemeinsamen Ziele doch noch umzusetzen. worden, in der Kompetenzen gebündelt werden. Dies Realität ist, die Seesicherheit auf der Ostsee hat nicht muss auch Wirkungen auf andere europäische Staaten zu, sondern in den letzten Jahren Zug um Zug abgenom- haben, die noch nachziehen müssen. men. Die Gefahr nicht mehr beherrschbarer Umweltka- Richtig ist der Hinweis auf eine schwieriger wer- tastrophen steigt. Dieser Trend muss gestoppt, muss in dende Sicherheitslage durch terroristische Bedrohung sein Gegenteil verkehrt werden! Wir brauchen eine Si- und es wird zu klären sein, inwiefern hier auch neue cherheitswende für die Ostsee, die Nordsee und die an- Aufgaben für das Havariekommando entstehen. Aber deren Meere. auch in diesem Punkt sehe ich keinen Dissens unserer Das verheerende Öltankerunglück der „Prestige“ vor Ziele – wie ein im Vergleich zu unseren einschlägigen Spaniens Küste sollte als anhaltende Mahnung verstan- Anträgen zur Ostseesicherheit zeigt, die – bis auf den den werden. Ich verkenne nicht, dass die EU und auch Prüfauftrag für das Weitbereichsradar im Bereich der die Bundesregierung aus eigenem Antrieb, aber auch Kadetrinne – als erfüllt gelten können. Bereits erfüllte aufgeschreckt durch anklagende Bilder schrecklicher Öl- Auflagen kann man nicht noch einmal beschließen – verschmutzung durch die „Prestige“, Maßnahmen zur eine Zustimmung zu Ihrem Antrag entfällt also. Risikominimierung getroffen haben. Doch wenn diese Es bleibt noch die offene Frage der Europäischen See- erst, wie bei dem Doppelhüllen-Gebot für Großtanker, in (B) agentur. Auch wir wünschen uns natürlich eine solche 10 Jahren greifen und nicht internationaler Standard (D) Institution in Deutschland, wissen aber andererseits, dass werden, schaffen sie eine Scheinsicherheit, keinen tat- die Entscheidung letztendlich beim Europäischen Rat sächlichen Sicherheitsgewinn. Wenn die EU eine neue liegt, der wiederum eine faire Berücksichtigung solcher Altersbegrenzung für Schiffe einführen will, Russland Mitgliedstaaten anstrebt, die noch nicht Sitz einer euro- sich jedoch knallhart weigert, andere Flaggenstaaten der päischen Institution sind. Selbstverständlich setzt sich IMO die kalte Schulter zeigen, bleibt das Gefährdungs- die Bundesregierung dennoch für eine Berücksichtigung potenzial für die Ostsee auf Jahrzehnte erhalten. deutscher Standortangebote ein und kann dabei auf Aus Sach- und Zeitgründen muss die Seesicherheit Kompetenz und eine gute Seesicherheitsbilanz im euro- Chefsache werden. Fachminister-Kontakte der Ostseean- päischen Maßstab verweisen. rainer sind notwendig, ein Spitzentreffen der Regierungs- chefs zu dieser Problematik jedoch erforderlich. Es gilt, Wolfgang Börnsen (Bönstrup) (CDU/CSU): Erst zu verbindlichen nationalen und internationalen Abkom- am 8. Mai stand die Seesicherheit auf unsere Initiative men für die Ostsee zu kommen. Darauf dringen wir! hin auf der Tagesordnung in diesem Hause. Seitdem ist Und es darf keine Zeit verstreichen! Die Ostsee ist ein mit dem chinesischen Frachter „Fu Shan Hai“ ein weite- Fast-Binnenmeer. res Schiff mit Ölaustritt in der Ostsee untergegangen, in Eine Öl- oder Chemikalienkatastrophe bewirkt hier Lübeck die dritte nationale maritime Konferenz ohne eine ungleich größere Umweltzerstörung als in jedem konkrete Ergebnisse verstrichen, und am letzten Don- Ozean. Mensch und Natur, Fauna und Flora, Küsten und nerstag in Bremen die internationale Meeresschutzkon- Strande würden dauerhaft belastet, beschädigt. Dazu ferenz ohne Einigung auf ein gemeinsames Sicherheits- darf es nicht kommen! konzept der Ostseeanrainer beendet worden. Im Redeprotokoll meiner Kollegin Christine Lucyga vom Doch fast täglich schrammen wir in der Ostsee an ei- 8. Mai ist nachzulesen, dass der Antrag der Union ei- ner Katastrophe vorbei. Das gilt für die Kadetrinne, in gentlich keinen Dissens zu den Zielen der Koalition ent- der es auf engstem Raum bis zu 65 000 Schiffsbewegun- hält. Trotzdem hat die rot-grüne Mehrheit den Antrag am gen jährlich gibt. Die am letzten Donnerstag beschlos- 23. Juni im Ausschuss abgelehnt. sene Lotsenannahmepflicht allein reicht nicht aus. Ohne flächendeckende Radarüberwachung zur technischen Begründung: Die mit dem Antrag verfolgten Ziele Unterstützung bleibt sie ein Torso. sind von der Regierung bereits auf den Weg gebracht. Drei Tage später ist Umweltminister Trittin in Bremen Eine Lotsenannahmepflicht für die nördliche Tanker- restlos gescheitert, so die Einschätzung der Umweltstif- route wird es auch in Zukunft nicht geben. Doch hier 4744 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2003

(A) wird verstärkt Öl aus Rußland transportiert, teilweise auf Allein die hier genannten Beobachtungen zeigen den (C) Schiffen, die nicht nur als Seelenverkäufer bezeichnet Umfang der Risiko-Spanne für die Ostsee. Hinzu werden, sondern eine Boardwandstärke haben, die für kommt: Der Schiffsverkehr im baltischen Meer nimmt Eisgang völlig ungeeignet ist. Jahr um Jahr zu, leider auch das Alter der Boote. Außer- dem: Die Öltanker werden immer größer. Auch damit Seit 1995 haben sich die Öltransporte verdoppelt. steigt das Risiko. Noch immer gibt es mehr Ein- als Greenpeace dokumentierte es: Durchschnittlich einmal Doppelwandschiffe im baltischen Meer. Und nach den am Tag passiert ein Ölfrachter von der „Güteklasse“ der geltenden Bestimmungen wird sich erst in gut zehn Jah- 26 Jahre alten gesunkenen „Prestige“ die risikoreiche ren dieser Sachverhalt ändern. Zehn Jahre weitere halb- Kadetrinne. herzige Sicherheit auf der Ostsee sind nicht vertretbar! Allein drei dramatische Situationen hat die finnische Wir erwarten, dass die Ostsee zu einem PSSA-Sonderge- Regierung im vergangenen Winter durch festsitzende biet erklärt wird, es besondere Kontrollen für Risiko- Öltanker ausgemacht. In keinem Fall war Russlands Re- boote gibt und gleiche Sicherheitsauflagen für alle Ost- gierung bereit zu handeln. seeanrainer – Russland eingeschlossen. Wenn Rußland und die IMU nicht mitziehen, muss Europa ein eigenes Wer so die Sicherheit aller missachtet und nicht bereit Sicherheitsnetz schaffen. zur Kooperation ist, hat weder Kredite verdient noch verdient, als Bündnispartner ernst genommen zu werden. Unser Appell zur Optimierung der Seesicherheit rich- Hier müssen die Ostseeregierungen endlich knallhart tet sich aber zugleich an die Schiffsbetreiber und Billig- handeln und Russland zur Kooperation führen. flaggenstaaten. Wenn vorrangig nach der Devise verfah- ren wird: Erst der Gewinn – dann die Sicherheit, ist zu Doch die Beinahe-Unglücke umfassen nicht nur zu prüfen, ob der Landweg mit Öl-Pipelines eine Risikomi- alte und ungeeignete Schiffe, sondern nach Experten- nimierung bedeutet. Auffassung auch die Doppelhüllen-Tanker der l. Genera- tion. Auch wenn die Doppelwand eine deutliche Sicher- Der weitaus überwiegende Teil der deutschen und heitsverbesserung bei Havarien oder Grundberührung europäischen Reeder handelt überaus verantwortungsbe- bedeutet, so sind Schiffe dieser Bauart in den ersten Jah- wußt und ist an Sicherheit orientiert. Es sind die schwar- ren vor dem Inkrafttreten der MARPOL-Vorschriften zen Schafe, die die Seesicherheit durch mangelnde Tech- 1992 mit einer Konstruktion aus hochfestem Stahl aus- nik und unvertretbare Behandlung des Boardpersonals gestattet worden, die als problematisch angesehen wer- gefährden. Hier setzt die Eigenverantwortung der Ver- den, wo die Gefahr des Auseinanderbrechens besteht. bände an. Unabhängig davon wiederhole ich noch ein- Bei Bulk-Carriern dieser Bauart hat es entsprechende mal: Der Ostsee fehlt immer noch ein verbindliches See- (B) Unglücke bereits gegeben. sicherheitskonzept. Eine Richtungsänderung ist dringend (D) geboten! Deshalb fordere ich Sie noch einmal auf, unse- Hier sind tickende Zeitbomben unterwegs, die mehr rem Antrag heute zuzustimmen. internationale Kontrolle notwendig machen. Das Ziel in Europa muss sein, dass nicht nur ein Ausphasen der al- Die Menschen nicht nur an der Küste sind voller ten Tanker erreicht wird, sondern dass die Ersatztonnage Sorge, daß ein Unglück wie das der „Prestige“ auch bei auch in Europa gebaut wird. uns passieren könnte. Diese Bedenken müssen wir ernst nehmen. Die USA haben gehandelt. Bereits lange vor Denn der europäische Qualitätsstandard gilt nicht dem Untergang des Öltankers vor Spaniens Küste gab es weltweit. Bei der IMO häufen sich Beschwerden über ein Verbot für Einhüllentanker und weitere Sicherheits- schwerwiegende Qualitätsmängel bei Schiffsneubauten. auflagen in den USA. Das zögerliche und bedenkenrei- Es werden international verbindliche Bauvorschriften che Brüssel und auch Berlin sollten sich an den Ameri- gefordert. Wir schließen uns dem an! Der enorme Kos- kanern ein Beispiel nehmen. tendruck durch subventionierte Dumpingpreise im Welt- schiffbau verhindert Sicherheit, so argumentieren Schiff- bauer und Reeder. Enak Ferleman (CDU/CSU): Im rot-grünen Sprach- gebrauch steht die Nachhaltigkeit ganz oben auf der Und noch ein Risiko-Aspekt bleibt oft unerwähnt, Liste der am häufigsten verwendeten Begriffe. Nachhal- deshalb wiederhole ich ihn hier an dieser Stelle: Große tigkeit soll signalisieren, dass politische Zielsetzung, Pötte, die zum Beispiel Container transportieren, sind in Konzeptionierung und Umsetzungsplanung verfolgt der Regel Einwandboote, bunkern jedoch allein an werden und langfristig orientiert sind. Auf jedem der Treibstoff bis zu 12 000 Tonnen Öl; das ist das Doppelte von Rot-Grün bewegten Themenfelder hat die Nachhal- von dem, was kleinere Tanker geladen haben. Verun- tigkeit als Begriff inzwischen ihre Heimat gefunden, lei- glückt ein solches Schiff in der Ostsee, ist ein unermess- der vielfach nur als Worthülse. Denn auf vielen politi- licher Schaden gegeben. Bei Tankerneubauten gilt schon schen Feldern kann die Bundesregierung gerade nicht heute die Doppelwandpflicht bei einer Ladung ab vorweisen, dass sie tatsächlich eine nachhaltige Politik 5 000 Tonnen. Hier müssen gleiche Standards für alle betreibt. Auch die Hilfestellung durch viele Kommissio- Schiffstypen geschaffen werden. Und auch für Tanker nen und Expertenrunden hat relativ wenig dazu beitra- unter 5 000 Tonnen muss die Doppelwand Pflicht sein! gen können, dass sich im fünften Jahr der Regierungs- Gerade sie bedeuten eine besondere Gefahr für Mensch verantwortung tatsächlich auch einmal eine nachhaltige und Natur, denn sie werden hauptsächlich im Küstenver- Wirkung zeigt bzw. entwickelt. Ganz im Gegenteil: Rot- kehr eingesetzt. Grün wird noch nicht einmal aus Fehlern klug. Wider Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2003 4745

(A) besseres Wissen, werden die Dinge nicht zu Ende ge- passieren hat, nämlich unser Havariekommando in Cux- (C) dacht, geschweige zu Ende gebracht. Auf dem Papier haven, wäre schön gewesen. Aber Fehlanzeige! Von dort scheint es zwar so, als sei das Havariekommando in wurden die Probleme nicht gelöst. Hier hat sich bereits Cuxhaven, das endlich vier Jahre nach dem Unglück der im Kleinen gezeigt, was im Großen schief gehen wird. „Pallas“ eingerichtet worden ist, befähigt, effektiv im Bis heute ist kein klares Notschleppkonzept auf dem Falle einer Havarie an Nord- und Ostsee tätig zu werden. Tisch. Dies ist eine Problematik, die nur durch Vorpla- Unterstrichen wird der falsche Eindruck durch die Si- nung zu regeln ist. Und es muss ein Gesamtkonzept für cherheitsankündigungen des Bundesverkehrsministers, Nord- und Ostsee auf den Tisch, was die Sache nicht ein- die er als Aktivitäten bezeichnet. Bei näherer Betrach- facher macht. Ohne entsprechende Regelungen ist alles tung sieht man aber, dass hier nur Sicherheit suggeriert andere, was für die Schiffssicherheit getan wird, nur die wird und sich in Wahrheit ein ganz anderes Bild zeigt. Hälfte wert. Notschlepperkapazitäten erst dann zu orga- nisieren, wenn die Havarie da ist, ist zu spät. Ausgerechnet bei einem ökologischen Thema, bei dem man von einer rot-grünen Bundesregierung einen Es müssen Kompetenzen festgelegt werden. Das Ha- gekonnten Umgang mit einer nachhaltiger Vorgehens- variekommando muss auch diejenige Einrichtung sein, weise erwarten sollte, stößt man auf zögerliche Halbher- die das Letztentscheidungsrecht hat. Wenn, wie bei der zigkeiten, die am Verantwortungsbewusstsein des Ver- Havarie der „Lindholm“, Schlimmeres verhindert kehrsministers für die Sicherheit auf See berechtigte wurde, weil der Kollege Zufall genügend Einsehen hatte, Zweifel aufkommen lassen. Die schrecklichen Folgen dann darf das nicht dazu verlocken, die Hände in den der Meeresverschmutzung vor den Küsten Frankreichs, Schoß zu legen. Spaniens und Portugals für Mensch und Umwelt haben wir alle gesehen. Die finanziellen Schäden, die in den Viele Fragen stehen unbeantwortet im Raum. Ich for- betroffenen Küstenregionen entstanden sind, haben wir dere die Bundesregierung auf, endlich Antworten zu ge- in ihrer ökönomischen Auswirkung zur Kenntnis ge- ben, anstatt auf irgendwelche ungeeigneten Aktivitäten nommen. Und deshalb gehört nun auch endlich auf die zu verweisen. Lösen Sie die vordringlichen Probleme an Agenda, beim Havariekommando in Cuxhaven – anstatt der Ostsee und übertragen Sie sie auf die Nordsee! Wir zu reden – Strukturen zu schaffen, die ein reibungsloses werden Sie immer wieder mit unseren Forderungen kon- Vorgehen im Falle einer Havarie an Ost- oder Nordsee frontieren. Handeln Sie freiwillig, bevor die erste große sicherstellen. Katastrophe vor der deutschen Küste Sie dazu zwingt! Damit erfüllen Sie dann auch den Anspruch, den der von Ich fordere die Bundesregierung auf, Festlegungen zu Ihnen gerne verwendete Begriff der Nachhaltigkeit an treffen und Strukturen zu schaffen, die dem Havarie- Sie stellt. kommando in Cuxhaven die Möglichkeiten für eine ef- (B) (D) fektive Aufgabenerledigung geben. Davon sind Sie weit In diesem Sinne fordere ich alle, insbesondere aber entfernt. Der Bundesverkehrsminister hat sich bis heute die Kolleginnen und Kollegen von SPD und Grünen außerstande gesehen, dafür zu sorgen, dass die räumli- nachdrücklich auf, dem Antrag der CDU/CSU-Fraktion chen Voraussetzungen als Bedingung für eine gut orga- zuzustimmen. nisierte Zusammenarbeit der verantwortlichen Kräfte ge- schaffen werden. Man muss sich mal vorstellen, dass die Rainder Steenblock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Mitarbeiter bis heute an verschiedenen Stellen unterge- NEN): Vorrang für die Ostseesicherheit! Dieses Ziel bracht sind. Nach über einem Jahr ist noch nicht über kann ich voll und ganz unterstützen. Leider mussten wir eine taugliche Immobilie entschieden, obwohl es Ange- in der letzten Woche bei diesem Kampf eine herbe Nie- bote gibt – ein Armutszeugnis! derlage hinnehmen. Die Ostsee wird vorerst nicht als be- sonders schutzwürdiges Gebiet (PSSA) ausgewiesen. Bis heute sind keine Notliegeplätze an den Küsten Russland hatte dagegen sein Veto eingelegt. Denn Russ- und in den Häfen ausgewiesen. Wollen Sie das diskutie- land gibt der Ostseesicherheit keinen Vorrang. Vorrang ren, wenn die Katastrophe da ist? Lösen Sie dieses Pro- haben vielmehr wirtschaftliche Interessen. Russland will blem! Oder glaubt jemand ernsthaft, dass Hafenämter im seine Ölexporte bis 2010 nahezu verdoppeln. Dafür wer- Schadensfalle begeistert sein werden, im Hafen Plätze den die russischen Ölhäfen mit Hochdruck ausgebaut. für havarierte Schiffe zur Verfügung zu stellen? Da muss Fachleute rechnen mit einer Verdreifachung der Öl- vorher Klarheit geschaffen werden. Allein das jüngste menge, die über die Ostsee transportiert wird. Aber nicht Beispiel vor Cuxhaven, die Havarie der „Lindholm“, hat nur die Ausweisung der Ostsee als PSSA-Gebiet lehnt deutlich gezeigt, dass angesichts einer zu erwartenden Russland ab. Russland hält auch nichts von einem Ver- Ölverseuchung im Hafen nur eines versucht wird: den bot von einwandigen Öltankern, wie es kürzlich von der Havaristen loszuwerden und auf See zu schleppen. In EU beschlossen wurde. Einwandige Tanker sind bereits den Hafenämtern will sich doch keiner mit tonnenweise bei normalen Witterungsbedingungen unverantwortlich. ausgelaufenem Öl herumärgern oder mit Versicherern Aber im Winter werden sie zu einer Zeitbombe. Einwan- herumschlagen, die die Schäden der Ölbeseitigung be- dige Öltanker fräsen sich im Nadelöhr vor Sankt Peters- gleichen sollen und dazu keine Neigung verspüren. Da- burg ihren Weg durch eine dicke Eisschicht. Da ist es nur bei war die Havarie der „Lindholm" vergleichsweise ein- eine Frage der Zeit, wann es zu einer großen Katastrophe fach. Der lecke Kümo hatte auch nur 10 Tonnen Öl an kommt. Bord. Für den Badebetrieb in Cuxhaven aber wäre auch diese Menge schon Gift gewesen. Eine zentrale Stelle, Da Russland kein Mitglied der Europäischen Union die mit bindender Wirkung entschieden hätte, was zu (EU) ist, gelten die strengeren europäischen Sicherheits- 4746 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2003

(A) standards dort auch nicht. Gerade deshalb ist es wichtig, europäische Lösungen finden. Denn wenn es so weiter- (C) dass auf Russland politischer Druck ausgeübt wird. In geht, wird die Ostsee bald ein von Ölteppichen überzo- diesem Sinne begrüße ich grundsätzlich den Antrag der genes schwarzes Meer sein. CDU/CSU, auch wenn ich in der Sache in einigen Punk- ten deutliche Differenzen zu den vorgelegten Forderun- In diesem Zusammenhang möchte ich noch ein ande- gen habe. res internationales Problem ansprechen, das mich mit großer Sorge erfüllt. Weltweit laufen 1 500 Schiffe unter Auf nationaler und europäischer Ebene wurden viele der Flagge Liberias. Davon sind mehr als ein Viertel vernünftige Initiativen ergriffen, die für mehr Sicherheit deutsche Schiffe. Damit unterstützen deutsche Reeder auf den Meeren und in den Küstengewässern sorgen. Ich maßgeblich das diktatorische Regime von Charles nenne hier nur die beiden „Erika“-Maßnahmenpakete Taylor. Denn die Einnahmen aus dem Verkauf der Lan- der EU und die Schaffung eines Havarie-Kommandos in desflagge tragen bis zu 25 Prozent zum liberianischen Cuxhaven. Aber damit ist noch nicht alles getan, um die Haushalt bei und sind seit dem UN-Embargo gegen Tro- Sicherheit der Meere nachhaltig zu gewährleisten. Von penholz, Waffen und Diamanten die Hauptfinanzie- besonderer Brisanz ist die Situation in der Kadetrinne. rungsquelle des Taylor-Regimes. Dieses Regime befin- Angesichts der enorm steigenden Schiffsdurchfahrten ist det sich seit Jahren in einem grausamen Bürgerkrieg, in das nicht mehr zu verantworten. Deshalb ist die Forde- dem brutal gegen die Zivilbevölkerung vorgegangen rung richtig, umgehend mit den Ostseenachbarn eine wird. Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht, Lotsenannahmepflicht und eine Meldepflicht zu verein- Kriegsverbrechen sowie schwere Menschenrechtsver- baren. Dies gilt auch für ein ostseeweites Netz von Not- stöße werden ihr angelastet. Wie Sie wissen, zerbrach liegeplätzen und Nothäfen und für den Ausbau der Ra- auch der jüngste Waffenstillstand. Deshalb möchte ich darüberwachung. diese Gelegenheit nutzen, die deutschen Reeder dazu In all diesen Fragen sind wir, meine sehr verehrten aufzufordern, ihre Schiffe nicht mehr unter liberiani- Kolleginnen und Kollegen, praktisch einer Meinung und scher Flagge fahren zu lassen. Denn durch den Kauf der die sollten wir auch im Interesse unseres Landes, der Si- liberianischen Flagge unterstützen sie das menschenver- cherheit der Meere und unserer Küsten gemeinsam ver- achtende Regime des Diktators Charles Taylor. Wenn treten. In zwei Punkten stimme ich mit Ihnen jedoch Sie weiterhin auf ein UN-Embargo gegen das offene Re- nicht überein. gister Liberias warten, helfen sie dem Taylor-Regime, den Bürgerkrieg fortzuführen. Zum einen erscheint mir in Ihrem Antrag der Hinweis auf Malta und Zypern unverständlich. Sie deuten an, Abschließend möchte ich zum Thema Vorrang für die dass diesen beiden Staaten im Beitrittsvertrag eine Son- Ostseesicherheit noch auf etwas hinweisen, was an sich (B) derbehandlung zugestanden wurde. Das ist nicht der zwar offensichtlich ist, aber dennoch oft übersehen wird. (D) Fall. Auch nach nochmaliger Lektüre des Beitrittsvertra- Die Vermeidung von Gefahren ist die beste Sicherheits- ges konnte ich keine Sonderbehandlung für diese Staaten strategie von allen. Das heißt, jeder Tropfen Öl, der nicht erkennen. Mit dem Beitritt Maltas und Zyperns gelten über die Weltmeere nach Deutschland gebracht wird, alle diesbezüglichen Regeln der EU ab dem ersten Tag sondern durch Energieeinsparung oder regenerative ihrer Mitgliedschaft. Energien ersetzt wird, ist die beste aller Sicherheitsvor- kehrungen überhaupt. Zum anderen scheinen sie eine Grundgesetzänderung durch die Hintertür anzustreben. Dafür werden sie die Unterstützung von Bündnis 90/Die Grünen nicht bekom- Hans-Michael Goldmann (FDP): Als Opposition men. Die Regelung, die Sie für eine künftige Küstenwa- sollten wir dort, wo es geboten ist, auch einmal die Re- che vorschlagen, ist mit der grundgesetzlichen Trennung gierung loben. Im Fall der Sicherheit auf der Ostsee hat von polizeilicher und militärischer Gewalt nicht verein- die Regierung in der Tat einige richtige Schritte unter- bar und auch völlig unnötig. Der Einsatz der Bundes- nommen und der CDU/CSU-Antrag ist in einigen Punk- wehr in Katastrophenfällen ist eindeutig geregelt. Den ten schlicht überholt. Versuch der CDU/CSU, Bundeswehreinsätze im Inneren Ein Punkt macht mir allerdings Sorgen. Bei der Hava- durch immer neue trickreiche Varianten durchzusetzen, rie des chinesischen Frachters „Fu Shan Hai“ haben sich werden wir entschieden und beharrlich zurückweisen. die Dänen wie damals bei der „Pallas“ nicht gerade ko- Allerdings halten auch wir die Weiterentwicklung des operativ verhalten. Die schwedische Verkehrsministerin Havarie-Kommandos in Cuxhaven zu einer noch schlag- Ulrika Messing warf ihrem dänischen Kollegen vor, dass kräftigeren Organisation für geboten. Parallele Struktu- der Untergang an der ungünstigen Stelle auf das zögerli- ren und unterschiedliche, sich teilweise gegenseitig be- che Verhalten der dänischen Behörden zurückzuführen hindernde Kompetenzhierarchien müssen konsequent sei weil das schwedische Hilfsangebot drei Stunden un- abgebaut werden. Nur dann werden wir über eine beantwortet blieb. Die Dänen scheinen seit dem „Pal- schlagkräftige Küstenwache verfügen, die im Notfall las“-Unglück nichts dazugelernt zu haben. Hier ist die schnell und effektiv reagieren kann. Zu prüfen ist auch Bundesregierung dringend aufgefordert, in Gespräche die Schaffung einer europäischen Küstenwache. Auch mit der dänischen Regierung einzutreten. Es ist ja schön wenn es sich hier nur um einen ersten Gedanken handelt, und gut, dass die Dänen ebenfalls eine Lotsannahme- sollten wir ihn nicht von vornherein ablehnen. Umwelt- pflicht für die Kadetrinne fordern, doch mindestens kriminalität und der Seeverkehr machen natürlich nicht ebenso wichtig ist, dass sie im Falle einer Havarie voll- an den Staatsgrenzen Halt. Deshalb müssen wir mutige ständig mit ihren Nachbarländern kooperieren. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2003 4747

(A) Nach dem Lob der Regierung müssen wir uns aber recht werden. Privaten wäre dann wohl auch nicht der (C) natürlich auch mit den Themen beschäftigen, die die Re- Fehler unterlaufen, das SUBS mit einem veralteten Saug- gierung noch immer nicht vernünftig abgearbeitet hat, entöler auszustatten, der die Ölbekämpfungsfähigkeit wo sie völlig konzeptionslos erscheint. des Neubaus fraglich erscheinen lässt. Sehr kritisch fällt die Bilanz zum Havariekommando Doch nicht nur das BMVBW scheint es mit der Ko- aus. Noch immer gibt es keinen endgültigen Organisati- operation mit der Privatwirtschaft nicht besonders ernst onserlass. Allen anderslautenden Ankündigungen zum zu nehmen. Auch das Verteidigungsministerium rechnet Trotz, schwebt das Havariekommando im Ministerium sich die öffentliche Bereederung des Forschungsschiffes immer noch in der Luft. Es ist sogar von ernsthaften Ver- „Planet“ schön. Angesichts dieser Beispiele sind solche stimmungen in der Verwaltung und bei den Personalräten hehren Erklärungen wie die von Frau Mertens nichts zu hören. So schafft man kein Vertrauen in neue Sicher- wert. heitsstrukturen. Im Gegensatz zu den Verlautbarungen des Ministeriums gibt es auch nach wie vor kein Durch- Als Fazit bleibt wieder einmal festzustellen, dass in griffsrecht für das Havariekommando. Noch immer ist vielen Fällen unsere Regierung uns mit Versprechungen es auf den Goodwill möglicher Beteiligter angewiesen. und Märchen ruhig stellen will und nicht die Absicht hat, Am grünen Tisch mögen die Erklärungen zur Zusam- ihre Ankündigungen auch in die Tat umzusetzen. menarbeit ja nett klingen, aber ob dies eine krisensichere und belastbare Basis für die Arbeit des Havariekomman- Angelika Mertens, Parl. Staatssekretärin beim Bun- dos darstellt, bezweifle ich. desminister für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen: Wir untersuchen zurzeit für bestimmte Teile der Ostsee, wel- Den größten Vogel hat unser Bundesverkehrsminister che Seegebiete und welche zusätzlichen Maßnahmen allerdings mit seinem „Notliegeplatz-Konzept“ abge- zum Schutz der Meeresumwelt und der Küstenregionen schossen. In der aktuellen Ausgabe der Waterkant heißt sich am besten für eine Ausweisung als PSSA eignen. es hierzu sogar: „Gäbe es einen Preis für das schönste Schweden, Dänemark, Finnland und die baltischen Staa- Polit-Märchen, wäre der deutsche Bundesverkehrsminis- ten beabsichtigen, bei der Internationalen Seeschiff- ter Stolpe ein Spitzenkandidat.“ Noch im Januar dieses fahrts-Organisation (IMO) einen Antrag zu stellen, wo- Jahres erklärte er, dass Deutschland ein ganzes Netzwerk nach die gesamte Ostsee als PSSA ausgewiesen werden von Nothäfen bereitstellen würde. Doch was ist daraus soll. Es könnten dann für ein solches Gebiet strengere geworden? Kein einziges europäisches Küstenland hat Regelungen zur Erhöhung der Sicherheit des Schiffsver- bislang Notliegeplätze ausgewiesen. Herr Stolpe hat eine kehrs getroffen werden. geheime Liste der deutschen Häfen und Reeden an das Havariekommando übergeben, die würden es schon rich- Auf dem G-8-Gipfel von Evian im Juni 2003 haben (B) (D) ten. Das Hafenhandbuch hätte das Havariekommando in die Partnerstaaten einem Aktionsplan zur Tankersicher- jeder Buchhandlung kaufen können. Die Hafenliste ist heit zugestimmt, der unter anderem eine Lotsenpflicht aber deshalb ein großes Staatsgeheimnis, weil öffentlich für enge, gefährliche und viel befahrene Schifffahrtsstra- ausgewiesene Nothäfen die Bevölkerung beunruhigen ßen vorsieht. würden. Wir Küstenbewohner wissen, dass wir Nothäfen Die Einführung einer Pflicht zur Lotsenannahme für und Notliegeplätze benötigen, um größere Gefahren von bestimmte Schiffe und Fahrtgebiete speziell in der Ost- der Küste abzuwenden. Wir wollen endlich wissen, see wäre ein wichtiger Faktor für die Sicherheit des wann, bei welcher Havarieart, bei welcher Ladung und Schiffsverkehrs und den Schutz der Meeresumwelt. Da welcher Gefährdung ein Havarist welchen Nothafen es sich um internationale Gewässer handelt, sind ent- oder Notliegeplatz anlaufen soll. Wir brauchen Ver- sprechende Maßnahmen zur Erhöhung der Sicherheit trauen in die Sicherheitskonzepte der Regierung. Wir des Schiffsverkehrs nur im Rahmen der Internationalen brauchen einen Minister, der uns keine Märchen erzählt. Seeschifffahrts-Organisation (IMO) möglich. Zunächst Ich komme nicht umhin, diese Gelegenheit zu nutzen, ist eine Verständigung aller Ostseeanrainerstaaten erfor- um abermals auf das widersprüchliche Verhalten der derlich, um eine wirksame Initiative bei der IMO zu ent- Bundesregierung in Sachen Schadstoffunfall-Bekämp- wickeln. fungsschiff hinzuweisen. In der Pressemitteilung Die Bundesregierung hat bereits Schritte unternom- Nr. 207/03 des BMVBW teilt die Parlamentarische men, um mit Russland in Fragen der Schiffssicherheit Staatssekretärin Frau Mertens mit, dass das Ministerium und der Lotsenannahmepflicht in der Ostsee ins Ge- die Kooperation zwischen Staat und Privatwirtschaft su- spräch zu kommen. Beide Seiten haben sich darauf ver- che. Das ist ja durchaus erfreulich. Doch warum lassen ständigt, die Möglichkeiten zur Verbesserung der Sicher- Sie Ihren Worten denn nicht auch endlich einmal Taten heit in der Ostsee-Schifffahrt von einer gemeinsamen folgen? Stattdessen halten Sie trotz leerer öffentlicher Arbeitsgruppe analysieren zu lassen. Kassen an einem öffentlich gebauten und öffentlich be- reederten Schadstoffunfall-Bekämpfungsschiff fest. Das Das Thema war auch Gegenstand der Gespräche beim SUBS für die Ostsee könnte wirtschaftlicher von priva- HELCOM-Workshop in im März 2003; im Er- ter Seite bereedert werden und ich bin überzeugt, dass gebnis wird eine Lotsenannahmepflicht auch in interna- wir damit auch gutes Know-how einkaufen würden. Die tionalen Gewässern grundsätzlich als positiver Ansatz Erfahrungen mit der „Oceanic“ und der „Fairplay 26“ zur Erhöhung der Schiffssicherheit angesehen. Auf Fach- zeigen doch eindrucksvoll, dass die Privaten höchsten ebene soll in einer Expertengruppe (Dänemark, Deutsch- Anforderungen an die Ausbildung der Besatzungen ge- land, Finnland, Lettland, Polen, Russland, Schweden) 4748 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2003

(A) das System einer Lotsenannahmepflicht im Einzelnen liche Hilfe kann es sein, dass Schiffe in Not unverzüg- (C) diskutiert werden. Eine erste Sitzung der Arbeitsgruppe lich einen Hafen oder einen sicheren Liegeplatz anlaufen hat bereits im Mai 2003 stattgefunden, die Fortsetzung können. Deshalb hat die Internationale Seeschifffahrts- erfolgt im September 2003. Organisation (IMO) – nicht zuletzt auf Initiative Deutschlands – das Thema als einen Programmschwer- Die Bundesregierung setzt bei der Überwachung des punkt in das Arbeitsprogramm der IMO aufgenommen. Seegebietes Ostsee anstelle der technisch unzureichen- den Weitbereichsradaranlagen auf das präzisere automa- Der Entwurf einer Richtlinie zur Erfassung und Ein- tische Schiffsidentifizierungssystem (AIS). Für den Be- richtung von Notliegeplätzen ist im Mai dieses Jahres in reich der ausschließlichen Wirtschaftszone (AWZ) in London angenommen worden und wird in einem be- Deutschland wird eine funktechnische Abdeckung zur schleunigten Verfahren voraussichtlich noch in diesem Erfassung aller von den AIS-Bordgeräten zur Verfügung Herbst von der IMO-Vollversammlung verabschiedet gestellten Daten und eine entsprechende Landinfrastruk- werden. Das deutsche Notliegeplatzkonzept, wie auch tur zurzeit aufgebaut. das Konzept aller anderen EU-Mitgliedstaaten, sieht keine ausdrückliche Ausweisung von Notliegeplätzen Mit dem automatischen Schiffsidentifizierungssystem vor. Entsprechend dem deutschen Notliegeplatzkonzept (AIS) ist eine vollständige Erfassung aller ausgerüsteten wird eine umfassende Datensammlung mit den Eigen- Schiffe möglich; umfangreiche Detailinformationen schaften aller infrage kommenden Liegeplätze für werden verfügbar. Unter maßgeblicher deutscher Mit- Schiffe in komplexer Schadenslage angelegt und vom wirkung wurde erreicht, dass eine weltweite Ausrüs- Havariekommando gepflegt. tungspflicht für alle Schiffe größer 300 BRZ mit AIS verbindlich durchgesetzt ist. Die Ausrüstung erfolgt jetzt Die Zuweisung eines Notliegeplatzes für Schiffe – ein- schrittweise nach Schiffstypen und Schiffsgrößen gestaf- schließlich Tanker – in einer unmittelbar bevorstehenden felt und wird nach einer Entscheidung der IMO vom De- oder bereits eingetretenen komplexen Schadenslage er- zember letzten Jahres im Dezember 2004 international ab- folgt durch das Havariekommando aufgrund einer Ein- geschlossen sein. Risikoschiffe – zum Beispiel Tanker – zelfallentscheidung, die zum einen das konkrete Gefähr- müssen bereits heute mit AIS ausgerüstet sein. Eine EU- dungspotenzial und zum anderen die für den speziellen Richtlinie setzt diese IMO-Vorschrift für die Mitglied- Fall geeigneten infrage kommenden Notliegeplätze im staaten verbindlich um. Die Befürchtung, dass so ge- Hinblick auf ihre Zweckmäßigkeit berücksichtigt. Dabei nannte Sub-Standard-Schiffe einer langzeitigen Beob- werden alle örtlich zuständigen Stellen in den Entschei- achtung zum Beispiel durch Abschalten der AIS-Geräte dungsprozess durch Beteiligung einbezogen. entgehen könnten, ist nicht begründet, da eine Unterbre- chung der AIS-Aussendungen an Land in den entspre- Eine Anhörung der EU-Kommission am 31. Januar (B) (D) chenden Verkehrszentralen einen so genannten „Lost 2003 in Brüssel hat ergeben, dass ebenso wie Deutsch- Target“-Alarm auslösen würde. Darüber hinaus ist beab- land auch die anderen Mitgliedstaaten der EU nicht be- sichtigt, die AIS-Informationen europaweit untereinan- absichtigen, bestimmte Häfen als Notliegeplätze auszu- der auszutauschen. Da auf den Flüssen und in den An- weisen und bekannt zu machen, sondern immer von Fall steuerungsbereichen zu deutschen Häfen zusätzlich eine zu Fall zu entscheiden. Radarabdeckung vorhanden ist, ist mit großer Sicherheit Entsprechend dem europäischen Notliegeplatz-Kon- auszuschließen, dass ein ausrüstungspflichtiges Fahr- zept ist beabsichtigt, regional die Informationen über zeug, ohne AIS in Betrieb zu nehmen, einen Hafen ver- mögliche Notliegeplätze mit den Nachbarstaaten intern lässt. auszutauschen, damit diese in die Entscheidung der je- Die Nutzung von AIS macht die Einführung einer weils zuständigen kompetenten Stelle einbezogen wer- Meldepflicht entbehrlich, da alle verkehrsrelevanten In- den können. formationen ständig automatisch den entsprechend ein- Deutschland hat ein Notschleppkonzept entwickelt gerichteten Landstationen zur Verfügung stehen. Die und weitgehend umgesetzt, das auch international kei- AIS-Informationsnutzung ist darüber hinaus nicht von nen Vergleich zu scheuen braucht. Für Notschleppaufga- der Einführung einer Meldepflicht abhängig. ben stehen in der Nordsee drei Fahrzeuge (Mehrzweck- Erfahrungen aus jüngsten Schiffshavarien auch vor fahrzeuge „Neuwerk“, „Mellum“, und Schlepper der deutschen Küste und eine geänderte Gefahrenlage „Oceanic“) und derzeit in der Ostsee vier Fahrzeuge erfordern angemessene Reaktionen im Bereich des Ha- (Mehrzweckfahrzeug „Scharhörn“, Schlepper „Bülk“, variemanagements und der polizeilichen Gefahrenab- „Fairplay 25“, „Fairplay 22“) in Einsatzbereitschaft, ein wehr. Mit dem Havariekommando wurde in beispielhaf- weiteres Mehrzweckfahrzeug ist in Bau und wird 2004 ter Kooperation zwischen dem Bund und allen fünf in Dienst gestellt. Damit werden Eingreifzeiten von ma- Küstenländern eine gemeinsame Einrichtung geschaffen, ximal zwei Stunden erreicht. die ein einheitliches und damit effektives Unfallmanage- Dänemark, Schweden und Polen stimmen mit ment bei schweren Havarien gewährleistet. Mit den Deutschland in der Zielsetzung überein, eine Transit- Nachbarstaaten Dänemark, Niederlande, Schweden und route für Tanker durch die gesamte Ostsee zur Erhöhung Polen bestehen Kooperationsvereinbarungen. der Verkehrssicherheit festzulegen. Darin eingeschlos- Sowohl die Havarie der „Prestige“, als auch das Un- sen ist die Festlegung eines in der Seekarte eingetrage- glück der „Erika“ – 1999 – haben gezeigt, dass Schiffen nen Tiefwasserweges durch die deutsche bzw. dänische in Problemsituationen geholfen werden muss. Eine mög- ausschließliche Wirtschaftszone (AWZ) ohne separate Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2003 4749

(A) Betonnung, der Tankern und Schiffen mit anderer ge- Mit dem Jahresabrüstungsbericht 2002 haben wir ei- (C) fährlicher Ladung einer bestimmten Größe von der IMO nen guten Überblick über den Stand und die Erfolge der empfohlen werden soll. Sie sind zu dem Schluss gekom- Rüstungssteuerung. Zugleich weist uns der Bericht auf men, dass dieses jedoch noch weiterer Untersuchungen Defizite und Handlungsbedarf hin. Ich danke der Bun- bedarf. desregierung und den Autorinnen und Autoren für ihre wertvolle Arbeit und ihre Hinweise. Damit können wir Die Bundesregierung hat gemeinsam mit den übrigen im Unterausschuss für Abrüstung, Rüstungskontrolle EU-Mitgliedstaaten in der Internationalen Seeschifffahrts- und Nichtverbreitung unsere Beratungen konzentriert Organisation (IMO) in London eine Initiative zur weiteren und fachkundig weiterführen – und an einem Ziel wei- Beschleunigung der Ausphasung von Einhüllen-Öltank- terarbeiten, das fraktionsübergreifend geteilt wird: Wir schiffen gestartet. Die Ausphasungsfristen sollen ent- wollen gemeinsam Rüstung in Europa kontrollieren und sprechend der vom Ministerrat (Verkehr) am 17. März beschränken sowie vergleichbare Möglichkeiten für re- 2003 beschlossenen Verordnung zur Änderung der Ver- gionale Konflikte erörtern und anregen. ordnung (EG) Nr. 417/2002 zur beschleunigten Einfüh- rung von Doppelhüllen oder gleichwertigen Konstrukt- Rüstungskontrollverträge haben während des Ost- ionsanforderungen für Einhüllen-Öltankschiffe und zur West-Konflikts zur Vertrauensbildung und Kooperation Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 2978/94 des Rates beigetragen. Auch wenn sie das Sicherheitsdilemma auf 2005 bzw. 2010 verkürzt werden. Die Initiative der nicht auflösen konnten, haben diese Verträge Verläss- europäischen Staaten wird im Maritime Environment lichkeit hergestellt. Abrüstung und Rüstungskontrolle Protection Committee (MEPC) der IMO Mitte Juli 2003 waren ein Grundpfeiler der damaligen Sicherheitsarchi- beraten werden. In der geänderten EG-Verordnung ist tektur – und sie haben auch heute Zukunft. Abrüstung außerdem ein sofortiges Anlaufverbot für Einhüllen-Öl- und Rüstungskontrolle müssen zu einem unverkennba- tankschiffe enthalten, die Schweröl transportieren und ren Merkmal der europäischen Integration werden. Die europäische Häfen ansteuern. Tanker in der Transitfahrt Voraussetzungen sind günstig: Kriege sind in der Euro- sind von diesem Verbot nicht betroffen. päischen Union undenkbar geworden. Militär und Rüs- tung dienen heute dazu, potenzielle Angreifer abzu- Um auch die Transitverkehre in der Ostsee sicherer zu schrecken und im Auftrag der Vereinten Nationen und machen, bemüht sich die Bundesregierung bei HELCOM, seiner Organisationen außerhalb der Gemeinschaftsgren- einer Konferenz, die alle Ostseeanrainer einbindet, um zen zu handeln. verbindliche Wegeführung und Lotsenannahmepflich- ten für Tanker. Die rüstungskontrollpolitische Bilanz ist trotz dieser günstigen Voraussetzungen widersprüchlich: Einerseits (B) Angesichts der eingeleiteten Initiativen der EG-Ver- sind in den vergangenen Wochen wichtige Verabredun- (D) ordnung und der IMO wird für die Ostsee die Einfüh- gen zugunsten neuer Abrüstungsinitiativen getroffen rung weitergehender Regelungen zurzeit nicht verfolgt. worden. Die USA und die EU haben sich auf gemein- Ein sofortiges Verbot von Einhüllentankern in der Ostsee same Schritte verständigt, um die Verbreitung von Mas- müsste ebenfalls von der IMO beschlossen werden, senvernichtungswaffen zu unterbinden. Die Staats- und wenn man eine wirksame Regelung anstrebt, die Schiffe Regierungschefs der EU haben am 20. Juni 2003 be- aller Nationen einbezieht. schlossen, bestehende Nichtverbreitungsverträge zu stär- ken, Exportkontrollen zu intensivieren, die internatio- Übergangsregelungen in Bezug auf Schiffsicherheits- nale Zusammenarbeit auszubauen und den politischen anforderungen für die der EU in Kürze beitretenden Dialog mit anderen Ländern zu vertiefen. Die G8 haben Staaten sind nicht bekannt und würden von der Bundes- eine gemeinsame Erklärung verabschiedet, worin die regierung auch nicht unterstützt. Verträge gegen die Verbreitung von Atom-, Chemie- und Bio-Waffen ausdrücklich gewürdigt werden.

Anlage 14 Andererseits ist die Dekade der Abrüstung vorbei: Nach einem Bericht des Stockholmer Friedensfor- Zu Protokoll gegebene Reden schungsinstituts SIPRI sind die Rüstungsausgaben kräf- tig gestiegen, allein im letzten Jahr weltweit um 6 Pro- zur Beratung über die Unterrichtung: Bericht zent. Wirksame Abrüstungsverträge wurden in den der Bundesregierung zum Stand der Bemühun- letzten Jahren nicht geschlossen. Die Blockade der Gen- gen um Rüstungskontrolle, Abrüstung und fer Abrüstungskonferenz geht mittlerweile ins siebte Nichtverbreitung sowie über die Entwicklung Jahr. Die Verhandlungen über ein Verifikationsprotokoll der Streitkräftepotenziale (Jahresabrüstungs- zur Biowaffenkonvention sind gescheitert. Zwar haben bericht 2002) (Tagesordnungspunkt 15) die Präsidenten Bush und Putin am 24. Mai 2002 einen Vertrag über die Reduzierung der strategischen Offen- Dr. Rolf Mützenich (SPD): Der jetzt vorgelegte Jah- sivwaffen unterzeichnet. Allerdings beinhaltet der Text resabrüstungsbericht 2002 rückt wichtige Themen der keine Verifikation und die Sprengköpfe und Trägersys- Außenpolitik in den Blickpunkt. Abrüstung, Rüstungs- teme müssen nicht vernichtet werden. Zudem ist die kontrolle und Nichtverbreitung sind für die SPD-Bun- Gültigkeit des Vertrages begrenzt. destagsfraktion unverzichtbare Bestandteile einer multi- lateralen Weltordnung. Diese Elemente wollen wir Am Ende des vergangenen Jahrzehnts sind Indien und stärken. Pakistan Atomwaffenmächte geworden. In diesem Jahr- 4750 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2003

(A) zehnt streben weitere Länder nach der Atombombe. men der ESVP – wie jetzt im Kongo – rasch voran- (C) Nordkorea will nicht nur im Besitz von atomaren schreitet, ist die Entwicklung eines breit gefächerten Sprengköpfen sein. Das Land hat sich ebenso zu einem zivilen Ansatzes in den Hintergrund getreten. Zivile Kri- wichtigen Exporteur entsprechender Trägermittel entwi- senbewältigung muss zumindest gleichberechtigt neben ckelt. Der Iran geht einen Weg, der ebenfalls Nachfragen den militärischen Aspekten der europäischen Außenpoli- provoziert. Anzumerken bleibt hier, dass die Verantwort- tik stehen. lichen in Teheran nach wie vor mit der Internationalen Atomenergieorganisation kooperieren. Diesen Weg müs- Ich teile auch nicht die Auffassung, dass eine gemein- sen wir unterstützen. Der Iran darf nicht aus dem Nicht- same Sicherheits- und Verteidigungspolitik der Lack- verbreitungsvertrag aussteigen. Die Bundesregierung hat mustest für Partnerschaftsfähigkeit in Europa ist. Part- zusammen mit anderen europäischen Regierungen inten- nerschaft unter demokratischen Staaten beweist sich sive Gespräche geführt, damit der Iran ein Zusatzproto- nicht in erster Linie durch militärische Integration, son- koll mit der Internationalen Atomorganisation zeichnet. dern zuerst durch eine verstärkte zivile Zusammenarbeit. Dies wäre ein wichtiger und richtiger Schritt. Die Kultur der Mäßigung muss ein Markenzeichen euro- päischer Außenpolitik bleiben. Ich wünsche mir, dass Die schlechten Nachrichten werden zudem von Ent- Rüstungskontrolle ein wesentlicher Bestandteil der wicklungen begleitet, die das Konzept der Abrüstung, neuen europäischen Sicherheitsstrategie wird. Wir haben Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung grundsätzlich gesehen, dass erst mit der Abrüstungsvereinbarung im infrage stellen: Vertrag von Dayton langfristig Bedrohungsvorstellungen im ehemaligen Jugoslawien aufgebrochen werden konn- Erstens. Das Militär wird immer häufiger zu einem ten. So genannte Abrüstungskriege werden niemals das Mittel der Politik. Die USA haben den Krieg gegen den Verhalten von Staaten zugunsten eines friedlichen Aus- Irak auch damit begründet, die – bis heute nicht gefunde- gleichs anregen. nen – Waffen, die den Weltfrieden gefährden, zerstören zu wollen. Die Europäische Union ist ebenfalls bereit, Drittens. Demokratien führen keine Kriege gegenei- als letztes Mittel militärische Gewalt gegen Proliferato- nander. Das ist fast schon ein empirisches Gesetz. Des- ren einzusetzen, wenn zuvor alle anderen friedlichen halb sind eigenständige Schritte zugunsten von Demo- Mittel zur Abrüstung und Rüstungskontrolle versagt ha- kratie, Rechtsstaatlichkeit, Gewaltenteilung und sozialer ben. Im Gegensatz zur US-Militärdoktrin will man in Gerechtigkeit nicht nur Strategien für einen innerstaatli- Europa eine solche Entscheidung zwar nur im „Einklang chen Friedensprozess, sondern auch für eine friedliche mit internationalem Recht“ treffen. Ob eine solche Stra- Welt. Der demokratische Friede hat allerdings eine tegie aber Proliferatoren zum Einlenken bewegen kann, Schattenseite: Demokratien intervenieren zunehmend militärisch in innerstaatliche oder zwischenstaatliche (B) ist mehr als zweifelhaft. Zugleich ist zu befürchten, dass (D) Despoten vor diesem Hintergrund noch zielstrebiger den Konflikte. Der Gewaltverzicht von Demokratien ist da- Griff zur Bombe wagen, gewissermaßen als Vorbeugung her nur relativ. Dabei war es nicht immer einfach, einen vor gewaltsamen Schlägen. Für diese Annahme spricht, gesellschaftlichen Konsens zugunsten eines Eingreifens dass ursprünglich als defensive Maßnahmen gedachte herzustellen. Die Menschen scheuen die Risiken des Entscheidungen, wie der Aufbau einer regionalen Rake- Krieges. Wie aber werden sich demokratische Gesell- tenabwehr in Japan und Taiwan, die VR China, Russland schaften verhalten, wenn die neueste Entwicklung der und Nordkorea ihrerseits veranlassen, die eigenen Offen- Militärtechnik die Risiken und Kosten von Kriegen dras- sivfähigkeiten zu stärken. Diese Reaktionsmuster ken- tisch mindert? Das militärische Eingreifen ist dabei nicht nen wir als Sicherheitsdilemma aus dem Ost-West-Kon- mehr nur eine Antwort auf die Gewalt in Konflikten, flikt. Gerade bei neuen Rüstungsprojekten müssen die sondern auch eine Reaktion auf den normativen Wandel Auswirkungen auf das Umfeld bedacht werden. der internationalen Ordnung. Der Gewalteinsatz wird billigend in Kauf genommen, um autoritäre Führungen Zweitens. Mit dem Entwurf für eine gemeinsame zu beseitigen. Was passiert, wenn der Zusammenhang europäische Verfassung sind wir auf dem Weg zu einem von Demokratie und relativem Gewaltverzicht sich europäischen Friedensbund. Die Artikel zur Außen-, Si- durch normativen Druck in sein Gegenteil verkehrt? cherheits- und Verteidigungspolitik können die multila- Rüstungskontrolle muss als Strategie zur Kriegsverhü- terale Weltordnung stärken. Allerdings ist es ungewöhn- tung diesem Trend entgegen wirken. lich, dass ein „Amt für Rüstung, Forschung und militärische Fähigkeiten“ Verfassungsrang erhalten soll. Abrüstung, Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung Eine Abrüstungsbehörde hätte den zivilen Charakter der haben nur eine Zukunft, wenn sich auch die USA dieses Gemeinschaftspolitik meines Erachtens besser gefördert. Mittels wieder bedienen. Ich bin der festen Über- zeugung, dass wir mit den Entscheidungsträgern in Ich hoffe, dass sich hinter dieser Entscheidung nicht Washington dann wieder über solche Regelwerke ins eine allgemeine Abkehr vom Bild der Zivilmacht Europa Gespräch kommen, wenn wir eine robuste Rüstungskon- verbirgt. Leider gibt es dafür einige Anzeichen: Die trolle etablieren können. Dazu gehören insbesondere Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik wirksame Verifikations- und Sanktionsmechanismen. (ESVP) beinhaltet eine militärische und eine nicht mili- Die Inspektions- und Kontrollregime müssen gestärkt tärische Komponente. Letztere umfasst dabei die Bereit- werden, unangemeldete Vor-Ort-Inspektionen gehören stellung von Polizei, Rechts- und Verwaltungsexperten dazu ebenso wie der Aufbau eines qualifizierten unpartei- sowie von Mitgliedern aus dem Bereich des Katastro- ischen Inspektorenteams. Wie Stand-by-Truppen brau- phenschutzes. Während der militärische Aufbau im Rah- chen wir den Aufbau von Stand-by-Inspektionsteams. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2003 4751

(A) Wir müssen weiterhin ein weltweites Regime für den macht ohne transatlantische Zusammenarbeit sich nicht (C) Besitz von Trägermitteln schaffen. Abrüstung muss auch wirksam gegen die neuen disparaten Bedrohungen in der NATO wieder Thema werden. Die Organisation schützen. Angesichts der neuen globalen sicherheitspoli- bietet sich als Konsultationsgremium für den Abbau der tischen Herausforderungen ist die Notwendigkeit der substrategischen, nuklearen Kurzstreckenraketen an. transatlantischen Zusammenarbeit – gerade, aber nicht lediglich in den Bereichen Rüstungskontrolle und Nicht- Abrüstung, Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung verbreitung – dringlicher denn je. sind Bestandteile einer klugen Außenpolitik. Deutsch- land kann diese Mittel umso überzeugender in der inter- Die erstrebte Funktionsfähigkeit zukünftiger sicher- nationalen Politik vertreten, weil wir selbst von ihnen heitspolitischer Zusammenarbeit erfordert eine gemein- profitiert haben. Abrüstung, Rüstungskontrolle und same transatlantische Sicherheitsstrategie. Die Vorstel- Nichtverbreitung machen die Welt nicht nur sicherer. Sie lungen Washingtons liegen in Form der National können auch die regionale Zusammenarbeit stärken. Security Strategy seit dem letzten Herbst vor. Die Regie- Und vor allem: Die Prävention durch Rüstungskontrolle rung Bush drängte bekanntlich zügig auf die Umsetzung ist der Prävention durch Entwaffnungskriege allemal dieser Strategie. Wesentliche, gerade emotionale Ge- vorzuziehen. sichtspunkte der transatlantischen Krise in der Irakfrage hätten vermieden werden können, wenn die europäische Ich bitte, der Überweisung des Berichts zuzustimmen. Seite in der Lage gewesen wäre, frühzeitig eigene Kon- zepte erkennen zu lassen, die den neuen sicherheitspoli- Karl-Theodor Freiherr von und zu Guttenberg tischen Herausforderungen gerecht werden würden. (CDU/CSU): Spätestens mit den Anschlägen des Stattdessen beschränkte sich insbesondere der französi- 11. September wurde deutlich, dass wir uns in Intensität sche und deutsche Beitrag allzu oft auf abschätzige, bes- und Auswirkung mit kaum vorstellbaren Formen der Be- tenfalls akademische Kritik, während man politische und drohung unserer Sicherheit auseinander zu setzen haben. praktische Antworten weitgehend schuldig blieb. So war Die neue Herausforderung manifestiert sich in der Kon- der Weg in die Krise vorprogrammiert. Angesichts aller frontation mit in ihrer Gefährdung unabsehbaren Fakten: neuen wie bisherigen Bedrohungen, die auch im Bericht internationaler Terrorismus, „gescheiterte Staaten“ und der Bundesregierung ausführlich benannt werden, kön- Massenvernichtungswaffen im Einzelnen wie in der fa- nen und dürfen wir uns solche Verwerfungen nicht ein- talen Kombination. Eine mit aller Entschlossenheit ver- mal im Ansatz leisten. folgte Nichtverbreitungspolitik muss daher im Verbund mit konsequenter Rüstungskontrolle und Abrüstung Die auf dem Gipfel von Thessaloniki verabschiedeten Leitprinzip einer neuen Sicherheitspolitik sein. Vorschläge der EU waren daher überfällig und sind (B) umso mehr zu begrüßen. Europa ist nun, was die Debatte (D) Die verschiedenen internationalen Abrüstungs- und um eine Sicherheitsstrategie angesichts der globalen Be- Rüstungskontrollverträge sowie -abkommen bilden in drohungen durch Terror und der Verbreitung von Mas- ihrer Gesamtheit ein vordergründig eindrucksvolles si- senvernichtungswaffen wieder annähernd auf Augen- cherheitspolitisches Netzwerk. Allerdings ist jeder ge- höhe mit den Vereinigten Staaten, wenngleich noch scheiterte oder nicht implementierte Vertrag eine Lücke schwankend auf den Zehenspitzen balancierend. Die EU in jenem „Netz“ und kann somit zur Gefährdung der in- spricht wieder mit einer Stimme, gelegentlich heiser, zu- ternationalen, also auch unserer Sicherheit führen. In weilen im Tonfall noch unstet, jedoch gegenüber Wa- vielen Fällen sind die nationalen Handlungsmöglichkei- shington mit dem Anspruch von substanziellen Beiträgen ten beschränkt und reduzieren sich auf den politischen und Gegenvorschlägen. Dies ist die Grundvoraussetzung Dialog mit den eigentlichen Vertragspartnern, etwa den für eine nun zu initiierende Debatte zwischen der ameri- USA und Russland, mit dem Ziel einer positiven Ein- kanischen Regierung und der EU, deren Ergebnis sich flussnahme. Darüber hinaus gehendes konkretes politi- nicht mehr wie in den vergangenen Monaten in der Fest- sches Handeln ist für Deutschland allerdings überall dort stellung der Ausweglosigkeit von Einzelfragen erschöp- gefordert, wo die regionale Anwendung der Verträge fen darf, sondern konkret in die stabile Ummantelung ei- und Abkommen im Schwerpunkt auf Europa ausgerich- ner transatlantischen Sicherheitsstrategie münden muss. tet ist. Dies wiederum ist die Prämisse für ein geschlossenes Nichtverbreitung, Abrüstung und Rüstungskontrolle transatlantisches Vorgehen in Fragen der Nichtverbrei- muss daher verstärkt in einem europäischen Kontext, tung und Abrüstungspolitik, ohne das wiederum die ver- also als Bestandteil einer gemeinsamen europäischen Si- schiedenen Kontroll- und Abrüstungsregime kaum ef- cherheitspolitik, verstanden und ausgestaltet werden, je- fektiv arbeiten können. Nur vor dem Hintergrund doch nicht in Konkurrenz zu den Vereinigten Staaten, abgestimmter sicherheitspolitischer Vorstellungen und sondern mit komplementärem Charakter. Zur Bekämp- Prioritäten kann eine weitgehende Deckungsgleichheit fung der neuen sicherheitspolitischen Herausforderun- bezüglich der Einschätzung gegebener Gefahren erreicht gen brauchen wir ein geschlossenes Vorgehen von Euro- werden und damit wirksames Handeln gegenüber den päern und Amerikanern. Eine solche Kooperation ist in neuen Formen der Bedrohung sichergestellt werden. beiderseitigem Interesse: 90 Prozent des Kampfes gegen den global vernetzten Terror wird mit Mitteln geführt, Noch einmal: Wir haben bedauerlicherweise erfahren die nicht militärisch sind. Die amerikanische Übermacht müssen, dass während der Irakkrise kein gemeinsames auf letzterem Gebiet kann also allein keine Sicherheit Vorgehen mit den USA erreicht werden konnte. Die Ge- garantieren. Umgekehrt aber kann Europa als Regional- nugtuung, die nun verschiedentlich bezüglich der bisher 4752 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2003

(A) erfolglosen Suche nach den Massenvernichtungswaffen einer mit Nachdruck zu verfolgenden Abrüstungs- und (C) des Irak geäußert wird, stimmt für künftige konkrete Be- Nichtverbreitungspolitik auf – auch schon bei sich ledig- drohungsanalysen nicht hoffnungsfroh. Dabei widerlegt lich abzeichnenden Bedrohungen. Unabdingbare Voraus- gerade der Bericht dieser Bundesregierung eine solche setzung ist ein transatlantischer sicherheitspolitischer Legendenbildung: Es ist begrüßenswert, dass ausdrück- Schulterschluss. Abrüstungspolitik ist Sicherheitspolitik. lich die für die Zeit nach 1998 vorliegenden nachrichten- Letzere dient unser aller Freiheit. dienstlichen Erkenntnisse erwähnt werden, die immerhin Vermutungen auf irakische Massenvernichtungswaffen Harald Leibrecht (FDP): Mit dem Fall der Mauer beinhalten. endete Schritt für Schritt der Kalte Krieg. Aus ehemali- Beunruhigend ist allerdings, dass unter dem Punkt gen Feinden wurden Verbündete. Neun Staaten des ehe- „Länderspezifische Bedrohungen“ ein Land keine Er- maligen Warschauer Paktes werden im Mai 2004 in die wähnung findet, bezüglich dessen eine einheitliche trans- NATO formell aufgenommen sein. Die Teilung Europas atlantische Bedrohungsanalyse dringend geboten ist: der ist damit auch militärisch überwunden. Diese Entwick- Iran. Der Jahresabrüstungsbericht der Bundesregierung, lung macht mich zuversichtlich, dass wir in Europa dau- der vom 2. Juni 2003 datiert, übergeht schlicht die mög- erhaft in Frieden miteinander leben können. In der Welt lichen Gefahren, die vom iranischen Atomprogramm sieht es leider noch anders aus. ausgehen können und die sich bereits im Berichtszeit- Neue Gefahren kommen auf uns zu. Bisher besitzen raum abzeichneten. Israel, Indien und Pakistan Nuklearwaffen. Die Tendenz Dies wiegt umso schwerer, als im Fall Iran die neue in weiteren Staaten ist steigend und alarmierend. Nord- Sicherheitsdoktrin der Europäischen Union, die Javier korea und Iran streben ebenfalls welche an. Nordkorea Solana vor zwei Wochen vorgestellt hat, eine sofortige besitzt sie nach eigenen Aussagen schon. Syrien forscht Anwendung findet. Die EU kann in diesem konkreten Fall ebenfalls an Atomwaffen, wie ich dem Abrüstungsbe- vor dem Hintergrund ihrer neuen sicherheitspolitischen richt entnehmen konnte. Noch gravierender sind die Ausrichtung gemeinsam mit Washington Alternativen Meldungen, dass Terroristen Nuklearmaterial für vorgeben und damit bereits in der politischen Praxis die schmutzige Bomben erwerben wollen. Richtung für eine transatlantische Sicherheitsstrategie Insbesondere in den Ländern der ehemaligen Sowjet- aufzeigen. So könnte Teheran etwa im Fall der Übertre- union kam es zu Diebstählen von Nuklearmaterial. Mit tung legaler und unserer Sicherheit dienender „nuklearer circa 170 Millionen Euro engagieren wir uns aus diesem Schwellen“ mit der Nichtgewährung oder dem Abbruch Grund für den physischen Schutz von russischem Nukle- von Assoziationsverträgen und ausgebauten Wirtschafts- armaterial. Mit circa 300 Millionen Euro entsorgen wir (B) beziehungen, die von der EU Teheran zurzeit in Aussicht die verstrahlten Reaktorkomponenten von russischen (D) gestellt werden, gedroht werden. Gleichzeitig würde es Atom-U-Booten aus der Saida-Bucht. Mit circa 300 Mil- dem europäischen Alternativkonzept der „präventiven lionen Euro sorgen wir für die Vernichtung der chemi- Diplomatie“ entsprechen, dem Iran ebenso etwa die Inte- schen Waffen in Russland. Für mich ist dies viel Geld, gration in eine regionale Sicherheitsarchitektur anzubie- was sinnvoll angelegt ist, hätte es nicht einen bitteren ten. Allerdings bedarf es diesbezüglich auch seitens un- Nachgeschmack. Mit unserem Geld entsorgt Russland serer Außenpolitik noch erheblicher Präzisierungen. seine veralteten Rüstungsgüter, um gleichzeitig ein neues atomangetriebenes U-Boot und neue Kampfflug- Der Fall Iran könnte somit zu einer Art Transmis- zeuge zu entwickeln. Russland rüstet auf und lässt uns sinsriemen für eine gemeinsame transatlantische Sicher- seinen Schrott wieder abrüsten. Für mich ist dies ein heitsstrategie werden, da die nun vorliegenden europäi- Skandal, den ich den Menschen hier im Land schwer schen und amerikanischen Vorstellungen durch diesen vermitteln kann. „Praxisbezug“ aufeinander abgestimmt werden könn- ten. Europa kann im konkreten Fall viel versprechende Bei aller Gefahr, die von Nuklearwaffen ausgehen, dür- Gedanken in die Diskussion mit einbringen, die deshalb fen wir nicht die Bedeutung der chemischen und biologi- bereits Gewicht entfalten, weil sie angesichts der durch- schen vernachlässigen. Während wir bei Meldungen über aus diskussionswürdigen amerikanischen Vorgehens- geplante Atombomben mit Sorge genau hinhören – zu weise gegenüber dem Iran als echte Alternative dienen Recht –, sind B- und C-Waffen aus der Tagesaktualität könnten. In der Auseinandersetzung um die richtige verschwunden. Für mich sind diese viel gefährlicher, Iranpolitik könnte somit eine transatlantische Sicher- weil sie einfacher zu entwickeln und einzusetzen sind, heitsstrategie festgeschrieben werden, die im Fall eines weil sie nicht sichtbar sind, weil sie erst nach Tagen oder etwaigen Erfolges auch eine europäische Handschrift Wochen wirken, und weil sie sich in der Zwischenzeit tragen würde. schnell und lautlos verbreiten. Eine terroristische oder feindliche Vereinigung braucht nur das Grundwasser mit Es ist zu hoffen, dass die in dem Jahresabrüstungsbe- Viren zu verseuchen. richt der Bundesregierung darüber hinaus hervorgehobe- nen Problemkreise vor dem Hintergrund eines transatlanti- Ich begrüße, dass die gegenwärtige Bundesregierung schen sicherheitspolitischen Konsenses einer Lösung die Politik im Bereich der Abrüstung, Rüstungskontrolle zugeführt werden können. Hier ist nicht zuletzt die bedrü- und Nichtverbreitung der CDU/CSU-FDP-Regierung ckende Fragestellung Nordkorea zu nennen – ein Land, fortsetzt. Die FDP unterstützt sie gerne dabei. Jedoch das möglicherweise bereits über Atomwaffen verfügt. weisen wir darauf hin, dass insbesondere Staaten in Diese erschreckende Tatsache fordert uns beispielhaft zu Konfliktregionen wie dem Nahen Osten ABC-Abkom- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2003 4753

(A) men nicht ratifiziert haben. Folglich sind zwar Ihre Be- men für eine solche kollektive Sicherheitsordnung dar- (C) mühungen, Kolleginnen und Kollegen der Bundesregie- stellen. rung, richtig und ehrenwert, werden aber nicht zum erforderlichen Durchbruch zur Nichtverbreitung von Abrüstung, Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung Massenvernichtungswaffen beitragen. sind der beste Ansatz für friedliche Losungen auf globa- ler wie regionaler Ebene. Denn Abrüstungskriege kön- Trotz der vielen Erfolge in den letzten Jahren zeigt nen doch nicht der richtige Weg zur Bekämpfung der mir der vorliegende Bericht, dass wir noch weit von ei- neuen Bedrohungen sein. Wir müssen vielmehr die vor- ner friedvollen Welt entfernt sind, in der wir uns sicher handenen Abrüstung- und Nichtverbreitungsinstru- fühlen können. Aber wir sind auf einem guten Weg. mente stärken und schärfen. Gleichzeitig sollten wir aber auch ernsthaft daran arbeiten, die Einhaltung dieser Meine Damen und Herren von der Bundesregierung, Kontrollregimc besser zu überprüfen und effiziente setzen Sie sich dafür ein, dass weitere Staaten die ver- Sanktionsmechanismnen bei Vertragsverletzungen zu schiedenen Abkommen zur Nichtverbreitung von Mas- entwickeln. senvernichtungswaffen unterzeichnen, ratifizieren und einhalten. Von großer Bedeutung ist auch die praktische Abrüs- tungszusammenarbeit, insbesondere mit Russland. Deutsch- Setzen Sie sich dafür ein, dass wir im nächsten Abrüs- land wird in den nächsten zehn Jahren bis zu 1,5 Milliar- tungsbericht lesen können, dass der Stillstand bei der den Euro für Projekte im Rahmen der auf dem G8-Gipfel Genfer Abrüstungskonferenz aufgehoben wurde. im Kananaskis beschlossenen Initiative „Globale Part- nerschaft gegen die Verbreitung von Massenvernich- In Ihrem vorliegenden Bericht schreiben Sie – ich zi- tungswaffen und Materialien“ beitragen. Schwerpunkte tiere –: „die einst nuklear extrem hochgerüsteten Super- sind dabei die Chemiewaffenvernichtung, die Sicherung mächte müssen an ihre Verantwortung erinnert werden.“ von Nuklearmatcrial und die Entsorgung von nuklearge- Tun Sie es! triebenen U-Booten. Die Abrüstung im Bereich der konventionellen Waf- Kerstin Müller, Staatsministerin im Auswärtigen fen ist nicht minder wichtig, wie mir bei meiner jüngsten Amt: Der vorliegende Jahresabrüstungsbericht 2002 do- Reise nach Afrika einmal mehr vor Augen geführt kumentiert das klare Bekenntnis der Bundesregierung zu wurde. Der erschreckende Anblick von Kalaschnikows einer aktiven Rüstungskontroll- und Nichtverbreitungs- in den Händen von unter Drogen gesetzten Kindern und politik. die Bilder von Minenopfern, die für ihr ganzes Leben gezeichnet sind, haben mich tief erschüttert. (B) Spätestens seit den Terroranschlägen in New York, in (D) Casablanca, auf Bali und Djerba ist deutlich geworden, Wir müssen deshalb die erfolgreich verlaufende Im- dass diese neue Art von internationalem Terrorismus die plementierung des Ottawa-Übereinkommens zum Ver- Stabilität und Sicherheit unserer Gesellschaften gefähr- bot von Anti-Personen-Minen konsequent fortsetzen und det. Die Risiken der Verbreitung von Massenvernich- das substanzielle Aktionsprogramm der Vereinten Natio- tungswaffen haben damit eine völlig neue Dimension er- nen zu Kleinwaffen und leichten Waffen weiterentwi- halten. Neben klassischen Gefahren, die von einzelnen ckeln. Dafür werden wir uns auf dem New Yorker Folge- Staaten mit Zugang zu Massenvernichtungswaffen aus- treffen zur Kleinwaffenkonferenz in der kommenden gehen, ist nun das Risiko eines möglichen Zugriffs von Woche aktiv einsetzen. Terroristen und nicht staatlichen Akteuren auf solche Waffen getreten. Hinzu kommen die Gefahren, die von Außerdem ist es der Bundesregierung ein besonderes regionalen Krisenherden in Südasien, Ostasien und dem Anliegen, dass die humanitären Probleme von Blindgän- Nahen und Mittleren Osten ausgehen. gern, zurückgelassener Munition und anderen explosi- ven Kampftmittelrückständen völkerrechtlich verbind- Wir haben bereits unmittelbar nach dem 11. Septem- lich geregelt werden. Wir sind hier einen wichtigen ber 2001 in der EU die Initiative ergriffen, nicht staatli- Schritt weitergekommen; denn die Vertragsstaaten des chen Akteuren den Zugriff auf Massenvemichtungs- VN-Waffenübereinkommens verhandeln seit Ende letz- waffen zu verwehren. Auf dieser Grundlage erstellt die ten Jahres über ein entsprechendes Rechtsinstrument. EU derzeit eine langfristige Strategie zur Bekämpfung der Proliferation dieser Waffen, deren Eckpunkte der Der Jahresabrüstungsbericht vermittelt ein umfassen- Europäische Rat jüngst in der Nichtverbreitungserklä- des Bild über die Leistungen der Bundesregierung auf rung von Thessaloniki festlegte. Darüber hinaus ver- dem Gebiet der Abrüstung, Rüstungskontrolle und folgt die EU aber auch ein breiter angelegtes Sicher- Nichtverbreitung, aber auch über die vielfältigen und heitskonzept und erarbeitet eine umfassende EU- komplexen rüstungskontrollpolitischen Herausforderun- Sicherheitsstrategie. gen, die noch vor uns liegen. Um diese zu bewältigen, brauchen wir auch künftig die Unterstützung des Bun- Um die genannten Gefahren erfolgreich zu bekämp- destages. Ich hoffe, dass wir weiterhin mit Rückhalt fen, brauchen wir mehr denn je eine internationale Ord- rechnen können, denn wir dürfen gerade angesichts der nungspolitik, die sich auf internationale Solidarität, Gefahren des Terrorismus, regionaler Instabilität und der wirksame Kooperation und gemeinsame Regeln gründet. fortgesetzten Gefahr der Verbreitung von Massenver- Die Bundesregierung ist der festen Überzeugung, dass in nichtungswaffen und ihren Trägermitteln in unseren An- erster Linie die Vereinten Nationen der geeignete Rah- strengungen nicht nachlassen. 4754 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2003

(A) Anlage 15 keinerlei Schutzbedürfnis. Die Bundesregierung muss (C) deshalb bei den Beratungen darauf hinwirken, den An- Zu Protokoll gegebene Reden wendungsbereich der Richtlinie im Sinne einer Begren- zur Beratung über die Beschlussempfehlung zung zu überarbeiten. und den Bericht: Vorschlag für eine Richtlinie Zweitens. Bedarf zur Änderung besteht auch beim des Europäischen Parlaments und des Rates zur Verbot von Haustürgeschäften. Harmonisierung der Rechts- und Verwaltungs- vorschriften der Mitgliedstaaten über den Ver- Nach Art. 5 des Richtlinienvorschlags soll jede Aus- braucherkredit (Tagesordnungspunkt 16) handlung von Kredit- oder Sicherungsverträgen außer- halb von Geschäftsräumen verboten sein. Der Europäi- Michael Grosse-Brömer (CDU/CSU): Die heute zu sche Gerichtshof hat in seinem Urteil vom 13. Dezember debattierende Überarbeitung der Verbraucherkreditricht- 2001 in der Rechtssache Heininger ausdrücklich klar ge- linie aus dem Jahr 1987 hat eine große Tragweite für Kre- stellt, dass die Schutzbestimmungen der Haustürge- ditverträge in Europa. Millionen Menschen in Europa schäfte-Richtlinie grundsätzlich auf alle Rechtsgeschäfte, kaufen Tag für Tag Millionen von Waren auf Kredit. das heißt auch auf Kredit- und Sicherungsverträge, An- Mit der Verbraucherkreditrichtlinie wurde 1987 erst- wendung finden. Hier existiert der Verbraucherschutz mals auf Gemeinschaftsebene ein Rechtsrahmen für also bereits und muss nicht verdoppelt werden. Wir for- Konsumentenkredite geschaffen. Sie sollte zugleich ein dern die Bundesregierung deshalb auf, zu überprüfen, ob Beitrag zur Schaffung eines gemeinsamen Marktes für ein absolutes Verbot von Haustürkreditgeschäften tat- das Kreditwesen sein. Doch die Möglichkeiten der Ver- sächlich erforderlich ist. braucher, Kredite gerade auch außerhalb ihres Heimat- Drittens. Zu verändern ist auch die beabsichtigte Art landes aufzunehmen, blieben bislang weitgehend unge- der Verantwortungsverlagerung. nutzt. Die von den Mitgliedstaaten zur Umsetzung verabschiedeten nationalen Rechtsvorschriften weisen Dem Richtlinienvorschlag liegt ein neuartiges Ver- nämlich teilweise erhebliche Unterschiede auf. braucherschutzkonzept zugrunde: Insgesamt wird die Mit dem jetzt vorliegenden Vorschlag will die Kom- Verantwortlichkeit für die Kreditaufnahme vom Kredit- mission die Voraussetzungen für einen transparenten nehmer auf den Kreditgeber verlagert. Nach Art. 6 des grenzüberschreitenden Markt schaffen, der ein hohes Richtlinienvorschlags werden dem Kreditgeber zusätz- Verbraucherschutzniveau garantiert. Kreditangebote sol- lich umfangreiche Unterrichtungs- und Beratungspflich- len unter den bestmöglichen Bedingungen für Anbieter ten auferlegt. Der Kreditgeber muss „genaue und voll- wie Kreditnehmer verhandelt werden können und der zu- ständige Auskünfte über alles erteilen“, was der (B) nehmenden Verschuldung privater Haushalte in Europa Verbraucher über den in Aussicht genommenen Kredit- (D) soll entgegenwirkt werden. Diese Motive sind grund- vertrag wissen muss. Darüber hinaus soll der Kreditge- sätzlich zu begrüßen. ber auch noch denjenigen Kredittyp aussuchen, der sich „in Anbetracht der finanziellen Situation des Verbrau- Der vorliegende Richtlinienvorschlag begegnet jedoch chers, der Vorteile und Nachteile des vorgeschlagenen im Detail auch erheblichen, zum Teil grundsätzlichen Be- Produkts und des Zwecks, dem der Kredit dient, für den denken. An vielen Stellen bedarf es einer grundlegenden Verbraucher am besten eignet“. Falsch verstandener Ver- Überarbeitung. Der heute vorgelegte Entschließungsan- braucherschutz kann auch zur Entmündigung des Ver- trag enthält dazu eine Reihe ganz konkreter Empfehlun- brauchers führen. Wir fordern die Bundesregierung des- gen an die Bundesregierung. halb auf, bei den Beratungen der Eigenverantwortlichkeit des Verbrauchers angemessen Rechnung zu tragen. Der Lassen Sie mich an vier Beispielen aufzeigen, wo im Kreditgeber soll seinen Kunden klug und umfangreich Verlaufe der weiteren Beratungen konkreter Änderungs- beraten, aber nicht bevormunden. Der Verbraucher soll bedarf besteht: seinen Kredittyp nach unserer Ansicht aber weiterhin Erstens. Zunächst geht es um den Anwendungsbe- selbst aussuchen können. reich der Richtlinie. Art. 9 des Richtlinienvorschlags bestimmt schließ- Die Verbraucherkreditrichtlinie hatte bereits einen lich, dass der Kreditgeber einen Kredit- oder Siche- sehr weiten Anwendungsbereich. Sie betraf nicht nur den rungsvertrag nur dann abschließen bzw. erhöhen darf, klassischen Kreditsektor, sondern auch den Einzelhandel. wenn er „unter Ausnutzung aller ihm zu Gebote stehen- Mit dem nun eingebrachten Richtlinienvorschlag wird den Mittel“ zu der Überzeugung gelangt ist, dass der der Anwendungsbereich erneut ausgeweitet. Leider wird Verbraucher vernünftigerweise in der Lage sein werde, auf die bislang vorgesehenen Ausnahmetatbestände weit- den vertraglichen Verpflichtungen nachzukommen. Ich gehend verzichtet. Fragwürdig erscheint dies insbeson- habe mir bei dieser Formulierung die Frage gestellt, wie dere in Bezug auf notariell oder gerichtlich beurkundete der Bankangestellte das wohl praktisch macht. Was Kreditverträge und Gerichtsvergleiche mit Stundungs- macht er, wenn der Kunde unerkannt unvernünftig ist? vereinbarungen. Bei diesen Verträgen ist zweifellos hin- Keiner kann etwas gegen eine umfassende Prüfungs- reichend sichergestellt, dass die Verbraucherinteressen pflicht des Kreditgebers in Bezug auf die wirtschaftliche gewahrt bleiben. Aber auch Kleinkredite – insoweit galt Leistungsfähigkeit des Verbrauchers haben. Aufgrund bislang ein Schwellenwert von 200 Euro – sollten in Zu- seines Eigeninteresses daran, dass der Kredit zurückge- kunft vom Anwendungsbereich ausgenommen bleiben. zahlt wird, wird er ohnehin genau hinterfragen, wie leis- Hier besteht für einen mündigen Verbraucher ebenfalls tungsfähig der Kreditnehmer ist. Wir fordern die Bun- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2003 4755

(A) desregierung folglich auf, bei den Beratungen darauf bzw. aufrechtzuerhalten. Damit müsste der bestehende (C) hinzuwirken, dass dem Kreditgeber keine unzumutbaren Verbraucherschutz in Deutschland aber in großem Um- und überflüssigen Erkundigungs- und Kontrollpflichten fang reduziert werden. Es kann doch nicht sein, dass wir auferlegt werden. Auch die anzuwendenden Mittel müs- in Zukunft das Schriftformerfordernis des BGB für Ver- sen in der Richtlinie deshalb ausdrücklich bestimmt wer- braucherdarlehensverträge und die Abgabe von Bürg- den. Wir haben genug Bürokratie in Deutschland und schaftserklärungen abschaffen müssen. Gerade hier ist Europa. die Beweis- und Warnfunktion für den Verbraucher von besonderer Bedeutung. Ein solcher Abbau des Verbrau- Die vorgeschlagene Regelung führt außerdem dazu, cherschutzes in Deutschland muss verhindert werden. dass an die Bonität potenzieller Kreditnehmer zukünftig Ich habe darüber hinaus erhebliche Zweifel, dass die von deutlich höhere Anforderungen gestellt werden müssten. der Kommission favorisierte maximale Harmonisierung Damit würde die Kreditvergabe gerade an einkommens- der nationalen Rechtsvorschriften in der Zukunft tat- schwächere Bevölkerungsteile, die in besonderer Weise sächlich die Bereitschaft der Verbraucher erhöht, Kredit- auf Kredite angewiesen sind, nachhaltig erschwert. Für verträge mit Anbietern in anderen europäischen Mit- den Verbraucher wäre nichts gewonnen, wenn ihm am gliedstaaten abzuschließen. Die geringe Zahl der Schalter ein Kredit mit dem Hinweis auf EU-Regeln ver- grenzüberschreitenden Verbraucherkredite in Europa ist weigert würde. in erster Linie nicht auf die Unterschiede zwischen den Die Regelungen in der Richtlinie übersehen auch die einschlägigen nationalen Rechtsvorschriften zurückzu- Ursachen der Überschuldung zahlreicher privater Haus- führen, sondern auf die besondere Beziehung zur jewei- halte. Mangelhafte Haushaltsführung und Budgetpla- ligen Hausbank, auf die örtliche Nähe und Sprachbarrie- nung führen in aller Regel erst bei Eintritt kritischer Le- ren im Ausland. bensverhältnisse wie Arbeitsplatzverlust, Scheidung oder Krankheit in die Überschuldung. Diese Ereignisse Die Europäische Zentralbank führt in einem aktuellen sind aber im Zeitpunkt der Kreditvergabe naturgemäß Bericht über die europäischen Finanzmarktstrukturen gerade nicht vorhersehbar. aus, dass sich an der lokalen Prägung der Retailmärkte für Finanzdienstleistungen auch in Zukunft kaum etwas Nach Ansicht der CDU/CSU ist es im Hinblick auf ändern werde und kleinere, vor Ort vertretene Institute die Art. 6 und 9 des Richtlinienvorschlags wichtig, das auch weiterhin eine dominierende Rolle spielen dürften. Prinzip der Eigenverantwortung des Verbrauchers beizu- Wir fordern die Bundesregierung deshalb auf, bei den behalten. Wie weit das neuartige Verbraucherschutzkon- Beratungen darauf hinzuwirken, dass es nicht zu der vor- zept der Kommission dabei in die falsche Richtung geht, geschlagenen Maximalharmonisierung kommt. Ein Ab- wird augenfällig, wenn man die Konzeption auf andere bau des Verbraucherschutzes in Deutschland muss ver- (B) Vertragstypen überträgt. Stellen wir uns vor, ein Auto- hindert werden. (D) händler müsste das für den Verbraucher am besten geeig- nete Produkt auswählen. Das soll er tun, aber würde man Als Parlamentarier haben wir darauf zu achten, dass ihn später für einen Unfall bei Glatteis verantwortlich Kredite weiterhin in vielen Formen, zu günstigen Kondi- machen? tionen und unbürokratisch für den dafür auch verantwort- lichen Verbraucher zu erhalten sind. Dies ermöglicht vie- Verbraucherkreditverträge weisen zugegebenerma- len Bürgern den Erwerb hochwertiger Konsumgüter und ßen einen vergleichsweise hohen Grad der Abstraktion das eröffnet neue Chancen für die Wirtschaft in unserem auf und dem Verbraucher ist häufig nicht immer sofort Land, die wir aufgrund der katastrophalen Regierungspo- deutlich, wie massiv hier seine Entscheidungs- und litik dringend brauchen. Handlungsfreiheit beschnitten wird. Deshalb ist der Ver- such, hier in bestimmten Fällen Hilfe zu leisten, grund- Der Bundestag sollte deshalb heute im Interesse der sätzlich richtig. Es erscheint aber völlig verfehlt, in ei- Verbraucher in Deutschland beschließen, den vorgeleg- nem zentralen Teilbereich des Privatrechts das Leitbild ten fraktionsübergreifenden Entschließungsantrag zur eines unmündigen Verbrauchers festzuschreiben, wäh- Novellierung der Verbraucherkreditrichtlinie anzuneh- rend heute an anderer Stelle, namentlich im Zusammen- men. Der Bundesregierung ist viel Erfolg zu wünschen hang mit der Gesundheits- oder Altersvorsorge, Eigen- bei der Durchsetzung der im Antrag genannten notwen- verantwortung verstärkt eingefordert wird. digen Änderungen. Viertens. Anzusprechen ist letztlich die Absicht in der Richtlinie die so genannte Maximalharmonisierung fest- Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Der zuschreiben. Vorschlag der EU für eine Verbraucherkreditrichtlinie ist grundsätzlich zu begrüßen. Um der zunehmenden Ver- Nach Art. 30 des Richtlinienvorschlags ist es den Mit- schuldung der Verbraucher in Europa entgegenzuwirken, gliedstaaten untersagt, andere als die in der Richtlinie sind unternehmerische Grundsätze zur verantwortlichen festgelegten Bestimmungen vorzusehen. Durch diesen Kreditvergabe zu entwickeln. Die Feststellung der Kre- Ansatz der Maximalharmonisierung unterscheidet sich ditauskunftei Schufa, dass immer mehr junge Menschen der Richtlinienvorschlag von den geltenden europäi- unter anderem durch offene Handyrechnungen in die schen Richtlinien auf dem Gebiet des Verbraucher- Verschuldung geraten, ist ein alarmierendes Signal. Vor schutzrechts. allem bei den 20- bis 24-Jährigen ist die Zahl der eides- Den Mitgliedstaaten wird damit verboten, weiterge- stattlichen Versicherungen und Privatinsolvenzen zwi- hende Vorschriften zum Verbraucherschutz zu erlassen schen 1999 und 2002 um fast ein Drittel auf die Zahl von 4756 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2003

(A) rund 174 000 gestiegen. Hier gibt der Richtlinienvor- Datenschutzrechtliche Bedenken haben wir noch bei (C) schlag einen wichtigen Impuls an die Banken, sich ver- dem in Art. 8 vorgesehenen Schuldnerregister. Bei die- antwortungsvoll an der Aufgabe der Schuldenprävention sen Datenbanken sind noch viele Fragen offen. Unklar zu beteiligen. Die Vorstellungen im Richtlininentwurf ist beispielsweise, wie sich der Verbraucher vor fehler- müssen aber noch in umsetzbare Vorschriften verbessert haften Eintragungen schützen kann. Im Antrag haben werden. Die Bundestagsfraktionen von Bündnis 90/Die wir die Bundesregierung aufgefordert, das Datenregister Grünen, SPD und CDU haben auch an anderen Punkten erst dann einzuführen, wenn die Inhalte der zentralen noch Bedenken, die sie in ihrem Antrag zur Beschluss- Datenbank genau definiert und datenschutzrechtlich ge- empfehlung deutlich gemacht haben. prüft sind. Die Verbraucherkreditrichtlinie ist wichtig zur An- Das absolute Verbot von Haustürgeschäften für die in gleichung unterschiedlicher Rechts- und Verwaltungs- der Richtlinie erwähnten Darlehensverträge ist ein inte- vorschriften in der Europäischen Union. Die national ressanter Vorschlag. Den Einwand, dass damit der Di- sehr verschiedenen Regelungen in den EU-Mitgliedstaa- rektverkauf von Waren an der Haustür unmöglich würde, ten sind für den Verbraucher verwirrend. Die unüber- teile ich nicht. Das wird auch weiterhin möglich sein. sichtliche Lage hält Verbraucher davon ab, einen Kredit Was aber durchaus bedenkenswert ist, ist ein sehr hohes auch in europäischen Nachbarländern und dort gegebe- Schutzniveau der Individualsphäre des Verbrauchers. nenfalls zu günstigeren Konditionen in Anspruch zu Der Kauf besonders hochpreisiger Ware, die sich der nehmen. Verbraucher eigentlich nicht leisten kann – zum Beispiel einen Staubsauger für 1 000 Euro –, sollte auf neutralem Der gemeinsame europäische Wirtschaftsraum soll Boden erfolgen. Der Verbraucher sollte hier nicht aus aber auch den privaten Kunden offen stehen und Vorteile Höflichkeit oder um einen lästigen unangemeldeten bringen. Grenzüberschreitende Kreditgeschäfte sollen Besucher wieder zu verabschieden zu einer Unterschrift keine Angelegenheit nur von internationalen Wirt- unter einen Kreditvertrag gedrängt werden können. Die schaftsunternehmen bleiben, sondern auch für den priva- Bundestagsfraktionen von Bündnis 90/Die Grünen, SPD ten Kunden attraktiv und durchschaubar werden. Des- und CDU wollen, dass das Verbot noch einmal auf die halb wollen die Bundestagsfraktionen von Bündnis 90/ Vereinbarkeit mit dem bestehenden Widerrufsrecht hin Die Grünen, SPD und CDU die Voraussetzungen für ei- überprüft wird. Einerseits hat der Verbraucher mit dem nen transparenten, grenzüberschreitenden Markt schaf- Widerrufsrecht bereits ein Instrument an der Hand, um fen und die bestehenden Verbraucherschutzstandards sich aus einem unerwünschten Vertrag wieder zu lösen. europaweit angleichen. Angesichts der zunehmenden Belästigungen und den vielfältigen Erscheinungsformen aufgedrängter Wer- (B) Einheitliche Begriffe und Vertragsbedingungen zur bung haben sich andererseits die anstößigen Handlungen (D) Angabe von Zinssätzen, Fälligkeit, vorzeitiger Rückzah- zu einer solchen Intensität verdichtet, dass wir über bes- lung, missbräuchliche Klauseln, Widerrufsrechte und seren Verbraucherschutz in diesem Bereich nachdenken andere werden für mehr Klarheit beim Kunden sorgen. müssen. Die Inanspruchnahme von Darlehen über die Grenzen hinweg wird damit leichter. Die Bundestagsfraktionen von Bündnis 90/Die Grü- nen, SPD und CDU fordern die Bundesregierung auf, Die geplante Anwendung auf möglichst viele Kredit- dass in den Verhandlungen zur Verbraucherkreditrichtli- produkte sehen wir positiv. Auch, dass Sicherheiten wie nie diese Punkte noch verbessert werden. Die geplante Bürgschaften und Garantien erfasst werden, befürworten maximale Harmonisierung soll nicht beibehalten wer- wir. Die bisherigen Bestimmungen weisen in vielen den. Eine Maximalharmonisierung schränkt den Hand- europäischen Ländern insbesondere für neue Kreditpro- lungsspielraum des nationalen Gesetzgebers ein, etwa dukte Lücken auf, die mit dem Richtlinienvorschlag ge- auch einen höheren Schutz des Verbrauchers zu be- schlossen werden sollen. Allerdings sehen wir in unse- schließen, wie wir das etwa beim Widerrufsrecht mit ei- rem Antrag auch Grenzen für die Anwendung der EU- ner verbraucherfreundlichen Anpassung des BGB für Richtlinie. Unentgeltliche Kredite, Überziehungskredite Immobiliendarlehensverträge getan haben. und Kleindarlehen bis 400 Euro sollen möglichst unbü- rokratisch für kurzfristige finanzielle Engpässe zur Ver- Insgesamt wird das Thema Kreditwürdigkeit einen fügung stehen. Hier darf der komplette Pflichtenkatalog höheren Stellenwert bei Kreditgeschäften bekommen. nicht wie eine Mauer vor einer kundenfreundlichen Kre- Mit den neuen Bankenregeln zur Eigenkapitaldeckung ditvergabe stehen. müssen auch die Banken umdenken. Der Begriff Basel II steht hier für neue Kreditrichtlinien der Banken. Zur Sta- Bündnis 90/Die Grünen werden sich bei den einzel- bilisierung des Bankensystems wird ab Ende 2006 die nen Vorschriften für verbraucherfreundliche Regelungen Kreditwürdigkeit eines Kunden noch stärker über den einsetzen. Die drei Bundestagsfraktionen fordern, dass gewährten Kreditzins entscheiden. Bei Firmenkunden die in Deutschland bestehenden Regeln für verbundene haben schon heute viele mittelständische Unternehmen Geschäfte erhalten bleiben. So werden Verträge genannt, Probleme, einen Kredit zu erhalten. Durch ein schlechtes bei denen zwischen dem Kreditvertrag und dem damit fi- Rating werden sie in Zukunft noch höhere Zinsen zahlen nanzierten Kauf eine Einheit besteht. Hier muss weiter- müssen. hin die Regelung gelten, dass der Verbraucher bei Wi- derruf des Kredits an den Kaufvertrag ebenfalls nicht Auch Verbraucherverbände befürchten bereits, dass mehr gebunden ist. Kredite künftig deutlich teurer oder unerreichbar wer- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2003 4757

(A) den. Betroffen seien vor allem Kunden, die nicht so zah- nisierung ausgeschlossen werden, was nicht im Interesse (C) lungskräftig sind, also Familien und Singles. Wir fordern der Verstärkung des Verbraucherschutzes wäre. Stattdes- die Kreditgeber auf, auch weiterhin eine kundenfreundli- sen bieten Mindeststandards eher die Möglichkeit, auch che und kooperative Kreditvergabepraxis zu verfolgen. mit im Einzelfall günstigen nationalen Regelungen die Es muss sichergestellt werden, dass es nicht zu willkürli- Verbraucherrechte zu stärken. Unter dieser Vorausset- chen Einstufungen von Verbrauchern hinsichtlich ihrer zung scheint es aber auch nicht sinnvoll, einzelne Kre- Bonität kommt. Der Zugang zu Bankkrediten darf nicht dit- und Versicherungsverträge aus dem Geltungsbereich unnötig erschwert werden und die von den Banken vor- der Richtlinie auszuschließen. Bestimmte Bereiche, die genommenen Verbraucherbewertungen müssen transpa- in der Ausführung zu Art. 3 dargestellt sind, sollten den- rent und einsehbar sein. noch als Ausnahme gehandelt werden. Im Interesse des Verbraucherschutzes ist es außerdem sinnvoll, von der Ein bekanntes Problem bei Kreditgeschäften sind un- Erstellung eines Schuldnerregisters abzusehen, dessen zureichende Beratungen durch Kreditvermittler. Der Praktikabilität im Übrigen sehr fragwürdig ist. Richtlinienvorschlag zum Verbraucherkredit sieht hier neue Regelungen für Kreditvermittler vor. In Kapitel XI Ein überzogener Verbraucherschutz sollte jedenfalls sind Meldepflichten, Rechtsstellung und Kontrolle so- nicht Ergebnis der Verbraucherkreditrichtlinie sein, da wie Pflichten von Kreditvermittlern festgeschrieben. die FDP-Fraktion grundsätzlich die Eigenverantwortung des Bürgers als vorrangig betrachtet und eine zu starke Die Arbeitsgemeinschaft Schuldnerberatung der Ver- Handlungseinschränkung durch eine EU-Richtlinie nicht bände führt jedes Jahr eine Aktionswoche zur Schuld- sinnvoll sein kann. Im Gegenzug würde dies zu einer so nerberatung durch. Am 5. Juni fand in diesem Zusam- erheblichen Einschränkung des Kreditgewerbes führen, menhang die Fachtagung „Geschäfte mit der Armut – dass letztendlich eine Kostenbelastung zu erwarten Vom (richtigen) Umgang mit gewerblichen Schuldenre- wäre, die gerade für Einkommensschwache die Auf- gulierern und Kreditvermittlern“ in Berlin statt. Der nahme von Krediten unmöglich machen würde. erste Armutsbericht der Bundesregierung hatte festge- stellt, dass derzeit nur eine Minderheit der überschulde- Im Rahmen von Verhandlungen eine ausgewogene ten Haushalte – 10 bis 15 Prozent – beraten werden EU-Richtlinie zu erreichen, ist Aufgabe der Bundesre- kann. Dies hat auch zur Folge, dass im gesamten Bun- gierung, was erfreulicherweise von allen Fraktionen des desgebiet immer mehr unseriöse Anbieter auftreten, wel- Bundestages so unterstützt wird. che die verzweifelte Situation überschuldeter Menschen sozialschädlich ausnutzen. Schuldner werden zusätzlich finanziell geschädigt, die versprochenen Kreditlösungen Alfred Hartenbach (Parlamentarischer Staatssekre- kommen nicht zustande. tär bei der Bundesministerin der Justiz): Die EU-Kom- (B) mission hat im September des letzten Jahres den Vor- (D) Bündnis 90/Die Grünen begrüßen die Vorschläge im schlag für eine neue Verbraucherkreditrichtlinie Richtlinienentwurf, dass die vorvertraglichen Informa- beschlossen, die die Richtlinie von 1986 mit Folgeände- tionen und Beratungen möglichst umfassend erfolgen rungen deutlich überarbeitet. sollen. Vor Abschluss des Kreditvertrags sollen dem Verbraucher die Bedingungen und Kosten sowie die Ver- Die Bundesregierung begrüßt die Zielrichtung des pflichtungen, die •er mit dem Vertrag eingeht, klar und Vorschlags; denn es ist unabdingbar, dass wir der zuneh- verständlich dargestellt werden. Die Beratung muss so menden Verbraucherverschuldung in Europa entgegen- gestaltet sein, dass der Verbraucher aus der Palette der wirken. Die Richtlinie will mehr Transparenz und Si- vom Kreditgeber oder Vermittler gewöhnlich angebote- cherheit bei Verbraucherkrediten schaffen, sie will den nen Kreditformen den für ihn günstigsten Kredit aus- Wettbewerb verstärken und den Belangen des Verbrau- wählen kann. Der Berater muss dabei insbesondere auf cherschutzes Rechnung tragen. Sie will schließlich ein die Rückzahlungsmöglichkeiten des Verbrauchers und Verbraucherschutzniveau erreichen, bei dem Kreditan- die damit verbundenen Risiken eingehen. gebote unter den bestmöglichen Bedingungen für Anbie- ter wie für Darlehensnehmer verhandelt werden können. All das sind gute und erstrebenswerte Ziele. Sibylle Laurischk (FDP): Das Zusammenwachsen der Europäischen Union führt zu einer Internationalisie- Ich stimme auch mit dem Entschließungsantrag über- rung auch von Verbraucherkrediten. Da nicht nur in der ein, der heute dem Deutschen Bundestag zur Beschluss- Bundesrepublik, sondern auch in der gesamten Europäi- fassung vorliegt. Wie die Bundesregierung halten die schen Union eine zunehmende Verbraucherverschuldung Verfasserinnen und Verfasser des Antrags wesentliche festzustellen ist, zeigt sich die Notwendigkeit, auch den Elemente des Richtlinienvorschlags grundsätzlich für Verbraucherschutz europaweit zu gestalten. Ein transpa- geeignet, die geschilderten Ziele zu erreichen. Dies gilt renter, grenzüberschreitender Markt ist nur dann erreich- für die Einbeziehung von Personalsicherheiten, also die bar, wenn Verbraucher wie Kreditwirtschaft europaweit Erstreckung der Vorschriften der Richtlinie auf Bürg- kalkulierbare Rahmenbedingungen finden können. schaft und Garantie. Ich begrüße auch die Ausdehnung der Informations- und Beratungspflichten für Kreditge- Im Zuge der Beratungen hat sich offensichtlich für ber sowie im Prinzip den neuen Grundsatz der verant- alle Fraktionen die Frage einer Maximalharmonisierung wortlichen Kreditvergabe. bzw. die Schaffung von Mindeststandards gestellt. Dabei hat sich die Einschätzung herauskristallisiert, dass ein- Ungeachtet dieser grundsätzlichen Zustimmung sehen zelstaatliche Regelungen im Falle einer Maximalharmo- wir aber auch Probleme, die wir bei den Beratungen in 4758 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2003

(A) Brüssel geltend gemacht haben. Dies gilt zunächst für Entschließungsantrag die von mir genannten Gesichts- (C) den in der Richtlinie vorgesehenen Maximalharmonisie- punkte aufgreift. rungsansatz für alle Bestimmungen der Richtlinie. Maxi- malharmonisierung bedeutet, dass einzelstaatliche Rege- lungen ausgeschlossen sind. Ein solches einheitliches Anlage 16 Recht kann zwar im Interesse eines freien Waren- und Dienstleistungsverkehrs sein, im Interesse einer Stärkung Zu Protokoll gegebene Reden des Verbraucherschutzes ist es jedoch nicht in allen Fäl- zur Beratung über den Antrag: Für eine Ver- len. Die Bundesregierung hält es deshalb nicht für erstre- besserung der privaten Arbeitsvermittlung im benswert, den Spielraum für strengere einzelstaatliche Aupairbereich zur wirksamen Verhinderung Verbraucherschutzregelungen in allen Regelungsberei- von Ausbeutung und Missbrauch (Tagesord- chen auszuschließen. Der Verbraucherschutz in Deutsch- nungspunkt 17) land müsste bei einer Maximalharmonisierung in erheb- lichem Umfang reduziert werden. Das wollen wir nicht und ich begrüße es deshalb sehr, dass der Entschlie- Angelika Krüger-Leißner (SPD): Zunächst einmal ßungsantrag diesen Gesichtspunkt aufgreift. möchte ich sagen, dass ich froh bin, dass der Antrag zur besseren Vermittlung im Aupairbereich, den wir heute Auch die von der Kommission vorgeschlagenen Än- behandeln, ein interfraktioneller ist. Dies zeigt, dass wir derungen des Anwendungsbereichs der Richtlinie sind alle in der Lage sind, Themen auch gemeinschaftlich zu nach unserer Überzeugung nicht alle zielführend. Dies behandeln und umzusetzen, und das über die Fraktions- gilt aber nicht nur dann, wenn es zur Maximalharmoni- grenzen hinweg. Das wird und soll nicht bei allen politi- sierung kommt. Es ist ja an sich gut, dass die Richtlinie schen Entscheidungen so sein. Dazu sind die Unter- auf Kreditvermittler und Personalsicherheiten erstreckt schiede zu groß. Aber es nährt die Hoffnung, dass wir werden soll. Der Anwendungsbereich darf aber auch bei den wichtigen Reformvorhaben, die die Bundesre- nicht zu sehr ausgedehnt werden. So müssen Ausnah- gierung vorlegt und bei denen wir die Zustimmung des men für notariell und insbesondere gerichtlich beurkun- Bundesrates brauchen, auch zu einer Einigung kommen dete Vergleiche gemacht werden. Andernfalls unterfielen werden. Für unser Land wäre das unendlich wichtig. gerichtliche Vergleiche mit Stundungsvereinbarungen der Richtlinie und könnten praktisch kaum mehr verein- Nun aber zu vorliegendem Antrag: Aupairverhält- bart werden. Auch Ausnahmen für Überziehungskredite nisse dienen in erster Linie dazu, jungen Menschen die und Kleinkredite finde ich im Verbraucherinteresse sinn- Möglichkeit zu bieten, andere Kulturen und Sprachen voll. Sollte es wirklich zu einer Maximalharmonisierung kennenzulernen. Sie sind nicht primär als Arbeitsver- (B) kommen, müssten wir ferner zur Aufrechterhaltung un- mittlung im eigentlichen Sinne zu verstehen. Dennoch (D) seres hohen Verbraucherschutzniveaus erreichen, dass ist der Aspekt der häuslichen Arbeit und insbesondere alle grundpfandrechtlich gesicherten Kredite, unabhän- der Hilfe bei der Kinderbetreuung ein wichtiger Teil von gig vom Verwendungszweck, vom Anwendungsbereich Aupairprogrammen und muss daher auch arbeitsrecht- der Richtlinie ausgenommen werden. So fordert es auch lich behandelt werden. Aupairs betreuen Kinder, helfen der Entschließungsantrag. im Haushalt und erhalten im Gegenzug ein Zimmer bei der Gastfamilie, Verpflegung und Taschengeld. Die Ver- Die Bundesregierung wird sich auch dafür einsetzen, mittlung von Aupair ist rechtlich damit auch eine Ar- dass der im Ansatz gute Grundsatz der verantwortungs- beitsvermittlung. vollen Kreditvergabe und die entsprechenden Unterrich- tungs- und Beratungspflichten nicht zu einer unnötigen Es gibt sicherlich viele andere Möglichkeiten des Bürokratisierung und damit Verteuerung der Kreditver- Kulturaustausches als das klassische Aupairprogramm. gabe führen. Bei der Ausgestaltung muss die Richtlinie Aber für viele junge Leute, insbesondere für viele junge auch der Eigenverantwortlichkeit des mündigen Ver- Frauen, die circa 90 Prozent der Teilnehmer an Aupair- brauchers Rechnung tragen. Die Entscheidung, welcher verhältnissen ausmachen, spielt diese klassische Form Kredittyp für ihn am besten geeignet ist, muss dem um- des Kulturaustausches eine immer noch relevante Rolle. fassend informierten Verbraucher selbst verbleiben, In früheren Zeiten war der Aupairbereich – wie die ge- wenn man ihn nicht entmündigen will. samte Arbeitsvermittlung – sehr geschützt und wurde durch kirchliche Träger, die diese Aufgabe von der Bun- Lassen Sie mich abschließend noch auf das vorgese- desanstalt für Arbeit übertragen bekommen hatten, über- hene Schuldnerregister zu sprechen kommen. Daten- nommen. schutz, Eignung und Praktikabilität – das sind Aspekte, die wir hier äußert kritisch prüfen müssen. Ist die Rich- Die Liberalisierung der Arbeitsvermittlung in den tigkeit der Daten sichergestellt? Welchen Schutz gibt es Jahren 1994 und 2002 hat bestimmte Schutzmechanis- gegen fehlerhafte Eintragungen? Auch das sind wichtige, men bei der Vermittlung aufgehoben. So ist seit 1994 das vom Richtlinienentwurf nicht beantwortete Fragen. Einen Alleinvermittlungsrecht für die Bundesanstalt für Arbeit „gläsernen Verbraucher“ darf es jedenfalls nicht geben. aufgehoben. Seit dem 27. März 2002 ist zudem die Er- laubnispflicht für private Arbeitsvermittler sowie das Verbraucherschutz ist wichtig, auch und gerade im Verbot von Anwerbung von Ausländern außerhalb der gemeinsamen Binnenmarkt und beim sensiblen Thema EU aufgehoben worden. Damit ist es nunmehr privaten des Verbraucherkredits. Wir müssen ihn sachgerecht ge- Vermittlern und auch Privatpersonen möglich, Aupairs stalten. Ich freue mich deshalb, dass der vorliegende anzuwerben. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2003 4759

(A) Dennoch sind damit natürlich nicht alle Schutzmaß- Bisher sind uns nur wenige Fälle bekannt, die Miss- (C) nahmen außer Kraft gesetzt worden. Die Schutzvor- handlung, Missbrauch oder Ausbeutung in Zusammen- schriften im SGB III über Aupairverhältnisse sind wei- hang mit Aupair darstellen. Wir müssen wissen, inwie- terhin gültig und müssen von der Bundesanstalt für weit unsere gesetzlichen Maßnahmen überhaupt Ursache Arbeit überwacht werden. Bei der Bundesanstalt muss für solche Fälle sein können. Hierzu benötigen wir die immer noch überprüft werden, ob die Gastfamilien die entsprechenden Informationen von den Behörden. Voraussetzungen für eine Aupairtätigkeit erfüllen. Ähn- Weiterhin sollen die Auslandsvertretungen bei der Vi- liches gilt für die Erteilung von Aufenthaltsgenehmigun- saerteilung darauf achten, dass die Antragsteller eine ge- gen, die die deutschen Vertretungen ausstellen, und die wisse Sprachkompetenz haben. Hierbei geht es uns nicht Prüfungen durch die Ausländerbehörden. so sehr darum, dass sie in der Lage sind, mit den Gastfa- Es war ein Bericht im „Spiegel“ vom 27. Januar 2003 milien und den Kindern perfekt zu kommunizieren. Aber über den tragischen Tod eines rumänischen Aupairmäd- sie müssen in der Lage sein, in Deutschland bei Proble- chens, der hier die Möglichkeiten eines Missbrauchs men mit der Gastfamilie Hilfe zu suchen. In diesem Zu- durch die Gesetzesänderung zu erkennen meinte. sammenhang müssen Konsulate und Botschaften ent- sprechend darauf achten, dass diese Sprachkompetenz Tatsächlich ist es aber so, dass, wenn das geltende gewährleistet ist. Ebenfalls an dieser Stelle muss klarge- Recht hier Beachtung gefunden hätte, es wohl nicht zum stellt werden, dass ein Besuchervisum nicht ausreichend Selbstmord der jungen Frau gekommen wäre. In dem ist, um einer Aupairtätigkeit nachzugehen, Fall ist die junge Frau zwar regulär von einer Arbeitsver- mittlung vermittelt worden. Allerdings war keine Auf- Was die rechtlichen Rahmenbedingungen, die das enthaltsgenehmigung beantragt worden, womit auch die SGB III setzt, betrifft, so muss den Aupairs durch die Arbeitserlaubnis erloschen war. Der Aufenthalt war also Arbeitsämter ein entsprechendes Merkblatt zugeteilt nicht mehr erlaubt. Die Frau hätte nicht mehr in werden, das Rechte und Pflichten während des Aufent- Deutschland sein dürfen. Hier liegt ein Versäumnis der halts darstellt. Es gab Überlegungen, dieses Merkblatt in zuständigen Behörden vor. Ich gebe zu: Die neue allen Sprachen schon an den Auslandsvertretungen aus- Rechtslage erfordert, dass die zuständigen Behörden hier zugeben. Das ist aus meiner Sicht nicht erforderlich und mit größter Gewissenhaftigkeit ihrer Aufgabe nachkom- auch kaum zu handhaben. Die Aupairs sollen ja eine men. Um das zu garantieren müssen, wir als Parlament Sprachkompetenz nachweisen. Die muss ausreichen, um tätig werden. Das ist der Grund für diesen interfraktio- das Merkblatt zu verstehen. Das heißt aber auch, dass die nellen Antrag. Behörden darauf hinwirken müssen, dieses Merkblatt nicht in kompliziertem Amtsdeutsch, sondern in einer Jetzt könnten wir beschließen, dass wir die Arbeits- verständlichen Sprache zu verfassen. (B) vermittlung im Aupairbereich wieder bei der Bundes- (D) anstalt für Arbeit ansiedeln. Dies lässt der § 292 des Des Weiteren wollen wir die Innenminister der Län- SGB III ausdrücklich zu. Aber das ist weder sinnvoll der darauf hinweisen, die Ausländerbehörden aufzufor- noch angemessen. Denn die Bundesanstalt müsste damit dern, Fällen, in denen das Visum abgelaufen ist, nachzu- die Vermittlung selber durchführen und dürfte sie nicht gehen und zu prüfen, ob die Ausreise erfolgt ist. Auch – wie in der bisherigen Praxis – an andere Organisatio- hier gab es Diskussionen, weil viele anmerkten, das sei nen abgeben. Das wäre zum einen von der BA kaum zu nicht nötig. Denn das sei ja schon geltendes Recht. Aber leisten, zum anderen wäre es ein dramatischer Struktur- es war genau ein solches Versäumnis, das zu dem ent- rückschritt, den wir nicht wollen. Erfahrungen, wie sie sprechenden Fall, wie ihn der „Spiegel“ beschrieben hat, über Jahrzehnte gemacht wurden, müssen und sollen bei geführt hat. Hier schadet es also nichts, die Problematik der Vermittlung eine Rolle spiele. Darüber hinaus würde erneut hervorzuheben. eine solche Regelung die private Vermittlung auch nicht Die Arbeitsämter können allerdings nicht alle Sorgen völlig unterbinden. Es wäre immer noch möglich, dass zu beheben helfen, die sich aus Aupairverhältnissen er- Gastfamilien selber tätig werden und sich um Aupairs geben können. Sie sind nur zuständig bei Problemen, die kümmern. Eine solcher Weg ist durch die entsprechende sich aus dem SGB III und den darin enthaltenen Schutz- Nutzung des § 292 nicht zu verhindern. maßnahmen ergeben. Aber auch allgemeine Probleme Daher müssen wir andere Wege suchen, die einerseits mit der Gastfamilie treten auch immer wieder auf. Hier- die Liberalisierung der Arbeitsvermittlung berücksichti- für müssen wir eine Anlaufstelle für diejenigen jungen gen, andererseits aber auch den Aupairs und den Gastfa- Frauen und Männer schaffen, die nicht über eine Organi- milien Sicherheit bezüglich der Qualität und Seriosität sation vermittelt wurden, die hier Hilfe bietet. Welche bei der Vermittlung garantieren. Die Absprachen auf den Art von Anlaufstelle das sein könnte, haben wir in dem verschiedenen Ebenen bei der Beratung dieses Antrags Antrag nicht konkretisiert. Es muss nur klar sein, dass es haben dabei folgende Ergebnisse hervorgebracht – Er- sich um eine kompetente regionale Stelle handelt. Die gebnisse im Übrigen, die aus meiner Sicht sowohl ar- Ausländerbehörden halte ich hier nicht für besonders ge- beitsrechtlich als auch jugend- und kulturpolitisch sinn- eignet. Sie hätten zwar fachliche Kompetenz, werden voll sind: aber bei Problemen aus Angst davor, das Land verlassen zu müssen, eher nicht aufgesucht. So fordern wir einen Bericht über die möglichen Er- kenntnisse der Deutschen Botschaften und Konsulate Eine geeignete Möglichkeit aus meiner Sicht sind die über die Visaerteilung seit der Deregulierung im März neuen Job-Center, da hier sowohl arbeitsrechtliche Kom- 2002. Ich halte dies für sehr wichtig. petenz wie die Zuständigkeit kommunaler Einrichtun- 4760 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2003

(A) gen, beispielsweise der Jugendämter, versammelt sein ihrer Aufsichtspflicht nicht nachgekommen sind. Wir (C) werden. Zudem sind diese Stellen flächendeckend vor- wissen das nun und haben es geschafft, in Zusammen- handen. Diese Frage muss aber die Bundesregierung arbeit mit allen Fraktionen dem entgegenzuwirken und prüfen und die bestmögliche Anlaufstelle für Aupairs Änderungen zu fordern. Die Bundesregierung ist diesen einrichten. Forderungen gegenüber sehr offen. Wir sind nicht ge- zwungen, Abstriche im Bereich der Liberalisierung der Der letzte Punkt unseres Antrages betrifft die Frage Arbeitsvermittlung vorzunehmen. Auch das ist wichtig. nach den Qualitätsstandards bei privaten Arbeitsvermitt- lern im Aupairbereich. Hier gibt es viele Organisationen Es ist gut, dass wir in der Lage sind, in solchen Fällen mit Erfahrungen, die zum Teil über viele Jahrzehnte ge- über die Fraktionsgrenzen hinweg schnell und kompe- hen. Aber es gibt auch viele neue Organisationen, die die tent Politik umzusetzen. Deregulierung hervorgebracht hat. In der Tat reicht es heute aus, einen Gewerbeschein für private Arbeitsver- mittlung zu besitzen, um privat Aupairs zu vermitteln. Rita Pawelski (CDU/CSU): Im März 2002 wurde Nicht alle diese neuen Vermittlungsorganisationen arbei- mit der Liberalisierung des Arbeitsmarktes ein dringend ten ähnlich kompetent und seriös, wie es bisher im Au- notwendiger und gut gemeinter Schritt zur Verbesserung pairbereich üblich war. der Beschäftigungssituation getan. Hier hat sich aber mal wieder gezeigt: Nicht alles, was gut gemeint war, Wir können, aus schon erwähnten Gründen, nicht zu hat sich gut entwickelt. Denn mit der Deregulierung des einem Genehmigungsvorbehalt kommen, wie er auch Arbeitsmarktes wurde die Vermittlung von Aupairkräf- schon geordert wurde. Dieser würde auch den seriösen ten praktisch freigegeben mit der Folge, dass massenhaft Agenturen die Existenzgrundlage entziehen. Unser Ziel schwarze Schafe auf den Agenturmarkt strömen: Das muss es also sein, eine Art Zertifizierung bzw. ein Güte- sind Vermittler, denen nicht das Wohl der jungen Au- siegel für private Vermittlungsorganisationen zu schaf- pairkräfte am Herzen liegt, sondern die eigene Briefta- fen. Eine generelle finanzielle Förderung dieser Quali- sche. Aupairkräfte, meine Damen und Herren, sind keine tätssicherung, die eine Überführung dieses Bereichs in billigen Arbeitskräfte! die Jugendhilfe bedeutet, ist finanziell nicht darstellbar. Aupairkräfte sind junge Menschen ab 17 Jahre, oft Aber wir haben auch in anderen Bereichen schon gute Frauen, die, ausgestattet mit – meist wagen – Deutsch- Erfahrungen mit freiwilligen Selbstverpflichtungen ge- kenntnissen, ein Jahr lang in einer deutschen Familien macht. Die Organisationen könnten ein gemeinsames leben wollen, die für ein Taschengeld bis zu fünf Stun- Gütesiegel schaffen, das geprüfte und seriöse Vermitt- den täglich Babysitting oder Hausarbeit übernehmen und lungen erkennbar macht. nebenher die deutsche Sprache und die deutsche Kultur (B) kennen lernen wollen. (D) Dieses wäre angesichts der Öffnung sowohl für die jungen Menschen, die gerne ein Aupairjahr machen wol- Die Bedingungen für ihre Beschäftigung sind festge- len, wie auch für die Familien, die auf eine kompetente schrieben im europäischen Abkommen über die Aupair- Vermittlung setzen, eine wichtige Hilfe. Hier ist es not- beschäftigung, das von der Bundesrepublik Deutschland wendig, dass sich die entsprechenden Akteure, die Ver- zwar nicht ratifiziert, aber maßgeblich anerkannt wurde. mittlungsorganisationen, die Vertreter der Jugendminis- Somit, sollte man meinen, ist alles klar geregelt. Ist es terien der Länder, die kommunalen Spitzenverbände und aber nicht! die Bundesregierung an einen Tisch setzen und hierfür einen Fahrplan erstellen. Ein solches Treffen ist auch Durch die Entscheidung im März 2001, die hier in schon geplant. diesem Hause einmütig getroffen wurde, hat sich einiges verändert: Vor der Deregulierung mussten für die Lizenz Es muss so sein, dass seriöse und kompetente Ver- zum Aufbau und Betrieb einer Arbeitsvermittlungsagen- mittlungen einen Wettbewerbsvorteil erlangen und an tur eine Gebühr von 3 000 DM gezahlt und zusätzlich der Erstellung von Qualitätsstandards mitwirken. Eine strenge Auflagen erfüllt werden. Die 200 Agenturen, die daraus entstehende Selbstregulierung kann viele der Pro- vom Arbeitsamt die Genehmigung erhielten, wurden re- bleme, die wir heute im Aupairbereich haben, lösen. gelmäßig durch die Landesarbeitsämter kontrolliert. Es Noch einmal: Die allermeisten der betroffenen circa war also bekannt, wer vermittelte, wohin er vermittelte 50 000 Aupairverhältnisse, die wir in Deutschland ha- und vor allem, wen er vermittelte. ben, sind seriös. Sie sind, neben vielen anderen Aus- tauschprogrammen, Kulturstipendien und ähnlichen Die Aupairvermittlung hat sich bereits in den Jahren Möglichkeiten – ich nenne hier nur das „Freiwillige So- vor der Deregulierung zum Wachstumsmarkt entwickelt: ziale“ oder das „Freiwillige ökologische Jahr“ – ein 1998 kamen 17 831 nach Deutschland, 2001 waren es wichtiger Beitrag zum Kulturaustausch und zum Erwerb schon 24 657, davon 15 698 aus Nicht-EU-Ländern. von Sprachkenntnissen. In einer globalisierten Welt, die zunehmend mehr Verständnis für andere Kulturen erfor- Mit der Deregulierung explodierte dieser Markt im dert, ist das ganz wichtig. wahrsten Sinne des Wortes, denn den Vermittlern wurde es leicht gemacht: Aupairs werden nicht mehr durch Aber es ist eben auch so, dass unsere Schritte zur De- kontrollierte Agenturen betreut, sondern jeder, der für regulierung auch Missbrauchsmöglichkeiten eröffnet ha- schlappe 20 Euro einen Gewerbeschein mit der Auf- ben können. Zum Glück ist das nur in Einzelfällen so schrift „Arbeitsvermittlung“ erhält, kann diesem Job und zumeist dann, wenn die entsprechenden Behörden nachgehen. Nach Auskunft der Bundesanstalt für Arbeit Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2003 4761

(A) ist es ganz einfach, einen Gewerbeschein zu erhalten, gebe es angesichts der Freizügigkeit auf dem Arbeits- (C) eine Kontrolle findet nicht statt. markt für EU-Bürger keine speziellen Regelungen, um ihnen Schutz zu gewähren. Mittlerweile gibt es weit mehr als 1 000 neue Vermitt- ler. Die genaue Zahl kennt niemand, weil über die örtli- Der Herr Staatssekretär bewies erschreckend seine chen Vermittlungen hinaus viele Kontakte über das In- Unkenntnis: Aupairs können auch 17 Jahre alt sein. ternet geknüpft werden. Und mit der Zahl der Vermittler Demnach sind sie nicht immer volljährig. Sie brauchen steigt die Zahl der schwarzen Schafe – nur: Die Suppe unseren Schutz, sie brauchen den Schutz des Staates! müssen die Aupairs auslöffeln. Noch ahnungsloser gebärdeten sich die Mitarbeiter Ich betone noch einmal: Der Aupairmarkt hat sich der Bundesanstalt für Arbeit, als sie im Ausschuss für zum Tummelplatz für skrupellose Abzocker entwickelt, Familie, Senioren, Frauen und Jugend nach den Auswir- die aus dem Schicksal der Mädchen Profit schlagen wol- kungen der Deregulierung befragt wurden. Es tat gut, len. Lassen Sie mich einige Beispiele nennen, einige von dass die Staatssekretärin Riemann-Hahnewinkel fach- den Hunderten, die mir seit Beginn der Diskussion zuge- kundig Hilfe versprach. tragen wurden. Diese Hilfe, meine Damen und Herren, ist dringend Es gibt Internetseiten, die den Benutzer mit den Wor- geboten; denn die jungen Menschen kommen doch nach ten „Willkommen bei der Sexy-Aupairagentur“ begrü- Deutschland, um eine Vorstellung von unserer Lebens- ßen. Weiter geht es mit den Worten: „Wir machen den weise, Kultur und Mentalität zu bekommen Überlegen Unterschied, denn unsere Aupairmädchen sind heiß und Sie sich mal, mit welchen Eindrücken sie wieder nach sexy!“ Weitere Beschreibungen unterlasse ich, denn sie Hause fahren. Diese negativen Erfahrungen sind weder passen nicht in dieses Haus. für diese jungen aufgeschlossenen Menschen noch für Deutschland gut. Beide leiden darunter. Ein in Polen ansässiges Unternehmen lockt junge Frauen aus Osteuropa nach Deutschland, verspricht ih- Es existiert also ein dringender Handlungsbedarf. nen Jobs als Aupairs, hat aber in Wirklichkeit nur die Schließlich geht es hier nicht um Ware, sondern um Absicht, sie auf dem Heiratsmarkt anzubieten. Ein Mäd- Menschen. Und darum ist es gut, dass wir heute diesen chen aus der Ukraine musste täglich bis zu 16 Stunden gemeinsamen Antrag behandeln. Mit dem Antrag wird arbeiten. Neben Babysitten hatte sie Schwerstarbeit zu unter anderem eine Überprüfung gefordert, inwieweit verrichten, die weit außerhalb ihres eigentlichen Aufga- durch Zusammenarbeit auf nationaler Ebene regional ge- benbereiches lag. Extrem ausgenutzt wurde eine Afrika- eignete Institutionen als Ansprechstellen für Aupairs be- nerin, die einen Sieben-Personen-Haushalt alleine versor- nannt und diese auch entsprechend bekannt gemacht gen musste. Inklusive waren die Betreuung des Babys werden können. (B) (D) und des 80-jährigen behinderten Großvaters, bei dem sie Weiterhin soll sichergestellt werden, dass die Arbeits- sogar die Windeln wechseln musste. ämter Antragstellern bei der Erteilung der Arbeitserlaub- Zudem mangelt es den Aupairs oft an ausreichendem nis das Merkblatt für Aupairs, aus dem die Rechte und Essen und geeigneten Schlafmöglichkeiten. So ist ein Pflichten während des Aufenthalts in der Gastfamilie Fall bekannt, bei dem ein Aupair mit vier großen Hun- hervorgehen, persönlich aushändigen. den gemeinsam in einem Zimmer untergebracht war. Und es soll sichergestellt werden, dass die deutschen Unseriöse Vermittler entdeckte ein Fernsehteam, das Auslandsvertretungen bei der Erteilung eines Besuchsvi- spontan vier nach dem Zufallsprinzip ausgesuchte Agen- sums darauf hinweisen, dass eine Aupairbeschäftigung turen aufgesucht hat – mit versteckter Kamera. Unver- im Rahmen dieses Visums nicht erlaubt ist. Das ist wich- blümt wurde den Vermittlern klar gemacht, man suche tig, denn nach Erkenntnissen seriöser Agenturen finden eine billige Arbeitskraft: „Die muss schon richtig mit an- immer mehr Vermittlungen von Aupairs über ein von der packen und Kisten schleppen, denn ich habe einen Bier- Botschaft ausgestelltes Besuchervisum statt. versand.“ Bis hin zum „Ich habe eine Tochter, die Diese Mädchen arbeiten hier illegal, sie haben keinen braucht eine Aupair – aber auch ich brauche die Aupair, Schutz und sind auf Gedeih und Verderb dem Vermittler wenn sie wissen, was ich meine.“ In allen Fällen, auch ausgeliefert. Nicht wenige werden gegen ihren Willen im letzteren, wurde eine Vermittlung zugesagt. Die Pro- zur Prostitution gezwungen, und sind dann erreichbar vision wurde einfach von 400 Euro auf 800 Euro herauf- unter gewissen Telelefonnummern. Das können wir gesetzt. Dabei ist die Höchstgrenze für die Vermittlungs- nicht zulassen und wir dürfen schon gar nicht weg- gebühr der Agenturen per Gesetz festgelegt: Sie beträgt schauen. 150 Euro. Noch einmal: Es ist richtig, hier heute unseren ge- Liebe Bundesregierung, von diesen Beispielen gibt es meinsamen Entschließungsantrag zu behandeln. Persön- eine Fülle und trotzdem wollen Sie davon nichts mitbe- lich aber, das sage ich ganz deutlich, wäre ich gern noch kommen haben? Ihr Problembewusstsein ist erschre- einen Schritt weiter gegangen: Wir müssen erreichen, ckend. Im April dieses Jahres stellte ich eine schriftliche dass es den schwarzen Schafen unmöglich gemacht Anfrage, in der es um die besondere Schutzbedürftigkeit wird, unter dem Deckmäntelchen Aupair Menschenhan- von Aupairs ging. Staatssekretär Rezzo Schlauch ant- del zu betreiben. Darum wäre ich für eine Pflichtzertifi- wortete, dass weibliche Aupairs mit 18 Jahren volljährig zierung. Aber hoffen wir im Interesse der jungen Men- und damit voll geschäftsfähig seien. Daher seien beson- schen, dass eine Zertifizierung auf freiwilliger Basis dere Schutzvorschriften für sie nicht notwendig. Zudem greift. Ich freue mich auf die Beratung im Ausschuss! 4762 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2003

(A) Jutta Dümpe-Krüger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Die Rechte und Pflichten der Gastfamilien und der (C) NEN): Ich bin sehr froh, dass es uns gelungen ist, einen Aupairs sind durch die Bundesanstalt für Arbeit festge- gemeinsamen, überfraktionellen Antrag für eine Verbes- legt. Dies reicht uns aber so noch nicht. Deshalb wol- serung der privaten Vermittlung im Aupairbereich hinzu- len wir die Einführung einer selbstverpflichtenden Zer- bekommen, der dazu beitragen soll, Ausbeutung und tifizierung für die Vermittlungsorganisationen und auch Missbrauch in diesem Bereich zu verhindern, besonders ein gemeinsames Gütesiegel, und zwar deshalb, um für deshalb, weil die Mehrheit der Aupairs junge Frauen ab alle Interessierten erkennbar zu machen, dass es sich 17 Jahren sind, die unseres besonderen Schutzes bedür- um eine geprüfte Aupairvermittlung handelt. Wir hal- fen. ten das für unverzichtbar. Wir geben der Bundesregie- rung den Auftrag, zu prüfen, inwieweit durch Zusam- Ein Aupairverhältnis ist die Möglichkeit für junge menarbeit auf nationaler Ebene regional geeignete Menschen, ein Jahr lang andere Sprachen und Kulturen Institutionen als Ansprechstellen für Aupairs benannt kennenzulernen und so die internationale Verständigung und dann auch entsprechend bekannt gemacht werden zu fördern. Rund 30 000 junge Menschen kommen pro können. Jahr nach Deutschland. Und rund 20 000 gehen pro Jahr aus Deutschland ins Ausland. Die überwiegende Zahl Unsere Intention ist es, negative Einzelfälle im Au- der Aupairverhältnisse trägt also erfolgreich zu gesell- pair Bereich so weit wie möglich auszuschließen. Und schafts- und jugendpolitisch wünschenswertem, inter- dafür Sorge zu tragen, dass der Bereich Aupair auch kulturellem Lernen bei. weiterhin in unserer Gesellschaft einen hohen Stellen- wert besitzt. Es gibt in diesem Bereich aber nicht nur eine Sonnen- seite, sondern es werden auch immer wieder Probleme sichtbar Hier ist insbesondere die illegale Beschäftigung Dirk Niebel (FDP): Die FDP wollte eine Liberalisie- und Ausbeutung bis hin zu Missbrauch zu benennen. rung in der Arbeitsvermittlung, damit Arbeitslose mehr Auch wenn die Ursachen für die Probleme vielschichtig Chancen auf Vermittlung in Arbeit bekommen. Im Ver- sind: Wir wollen mit unserem gemeinsamen Antrag hier gleich mit den staatlichen Anbietern erhofften wir uns in erster Linie für Rechtssicherheit sorgen. von privaten Vermittlern mehr Initiative und Alternati- ven zur bisherigen Vermittlung. Da die Vermittlungsgut- Private Arbeitsvermittler und Arbeitsvermittlerinnen scheine nicht marktgerecht ausgestattet wurden, hat die- benötigen derzeit lediglich eine Gewerbeanmeldung, um ses Instrument bisher leider nicht den gewünschten anwerbend und vermittelnd tätig werden zu können. Erfolg gehabt. Gastfamilien dürfen Aupairs selbst anwerben, ohne eine Aupairvermittlungsagentur einschalten zu müssen. Seit- Seit April 2002 können private Arbeitsvermittler (B) dem dies möglich ist, besteht die Möglichkeit, dass eine ohne Einschränkung auch Aupairaufenthalte vermitteln. (D) Grauzone entstehen könnte. Genau das möchten wir alle Hier hat es offensichtlich in einigen tragischen Fällen gemeinsam verhindern. Missbrauch gegeben. In der Folge ist ein rumänisches Aupairmädchen zu Tode gekommen. Das hat große Be- Die meisten Aupairs benötigen – da sie aus Nicht- troffenheit ausgelöst. Aupairaufenthalte sind für junge EU/EWR-Staaten kommen – eine Arbeitserlaubnis und Menschen eine preiswerte Möglichkeit, fremde Spra- eine Aufenthaltsbewilligung. Hier gilt es, die Zusam- chen und Länder durch einen persönlichen und familiä- menarbeit der daran beteiligten Behörden so zu verbes- ren Kontakt kennen zu lernen. Sie erfordern als Jugend- sern, dass illegale Beschäftigung und damit die Gefahr austausch einen besonderen Schutz. Ein Missbrauch der Ausbeutung vermieden werden können. Deshalb ha- durch Ausbeutung oder – im schlimmsten Fall – durch ben wir uns entschlossen, die Bundesregierung aufzu- Zwangsprostitution muss verhindert werden. fordern, einige grundlegende Vorgehensweisen sicher zu stellen. Rechte und Pflichten der Gasteltern und der Aupairs sind durch die Bundesanstalt für Arbeit festgelegt. Die Wir erwarten, dass die Bundesregierung bis Ende Caritas und der Bundesverband Aupairsociety haben 2004 einen Bericht über die Entwicklung im Bereich von mich sehr früh aufmerksam gemacht, dass auch für die Aupair vorlegt. In diesem Bericht sollen sich Informatio- Vermittlung von Aupairs eine Qualitätssicherung not- nen darüber finden, ob es zahlenmäßige Veränderungen wendig ist. Sie haben bereits entsprechende Qualitäts- oder sonstige Auffälligkeiten gibt, die aufgrund der De- standards formuliert. Aupairs müssen bei Konflikten auf regulierung der privaten Arbeitsvermittlung aufgetreten eine seriöse Beratung zugreifen können. sind. Außerdem ist es für uns besonders wichtig, dass junge Menschen, die zu uns kommen, über ihren Status Die geforderte Lizensierung der Aupairvermittlungs- umfassend informiert sind. Dieses setzt aber auch vo- agenturen hätte aus unserer Sicht aber wieder ein büro- raus, dass Aupairs über Sprachkenntnisse verfügen. Dies kratisches Verfahren eingeführt, das wir gerade abge- sicherzustellen ist Aufgabe der Auslandsvertretungen schafft hatten. Sie hätte sich auch wegen der und muss im Rahmen der Erteilung von Visa festgestellt Freizügigkeit von Dienstleistungen in Europa und bei In- werden. Da die Aupairs über bestimmte Rechte und ternetagenturen nicht umsetzen lassen. Darüber hinaus Pflichten während des Aufenthaltes in den Gastfamilien wollen wir aber weiterhin den Aupairzugang aus dem fa- verfügen, müssen sie hierüber auch umfassend infor- miliären Bereich durch persönliche Empfehlung und miert sein. Darum sollen die Arbeitsämter ihnen das durch Eigensuche ermöglichen. Eine Selbstverpflich- Merkblatt für Aupairs persönlich bei der Aushändigung tung der Vermittlungsagenturen scheint uns das passende der Arbeitserlaubnis überreichen. Mittel zu sein, um Gastfamilien und Aupairs die aus Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 56. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 3. Juli 2003 4763

(A) meiner Sicht notwendige Freiheit und Sicherheit zu ge- Die vier Fraktionen im Bundestag haben auf die be- (C) währen. Allein die vorhandenen Sprachkenntnisse soll- rechtigte Sorge reagiert und diesen interfraktionellen ten für die Auswahl des Aupairs kein Ausschlusskrite- Antrag vorgelegt. Ich hoffe, dass uns die zügige Bera- rium sein; denn schließlich soll es die Sprache im tung gelingt. Hierbei sollten wir auch gleich die Vermitt- Gastland lernen. Da die Mehrheit der Aupairs aus Mit- lungsagenturen mit ins Boot holen, damit dann sofort die tel- und Osteuropa kommt, sollten alle Informationsma- notwendigen und passenden Maßnahmen eingeleitet terialien in diesen Sprachen zugänglich sein. werden können.

(B) (D) Gesamtherstellung: H. Heenemann GmbH & Co., Buch- und Offsetdruckerei, Bessemerstraße 83–91, 12103 Berlin Vertrieb: Bundesanzeiger Verlagsgesellschaft mbH, Postfach 13 20, 53003 , Telefon: 02 28 / 3 82 08 40, Telefax: 02 28 / 3 82 08 44 ISSN 0722-7980