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Werbeseite MNO DAS DEUTSCHE NACHRICHTEN-MAGAZIN

Hausmitteilung Betr.: SPIEGEL-Gespräch, Jugend a Das große Ereignis ist fünf Jahre her, das Thema aber hochaktuell: Damals, am 4. November 1989, hatten eine Million Menschen auf dem Ost-Berliner Alexanderplatz gegen das Honecker-Regime prote- stiert; letzte Woche lud der SPIEGEL fünf der Red- ner jenes Tages und die Bürgerrechtlerin Bärbel Bohley, die sich seinerzeit verweigert hatte, zum Gespräch ins Audimax der Humboldt-Universität ein. “Was aus den Träumen wurde“ hieß das Motto, und gespannt auf die Antworten waren gut 2000 Besucher – weit mehr, als in den Saal paßten. Außer der Reihe war alles an diesem Abend. Es war das erste öffentliche SPIEGEL-Gespräch, und die Öf- fentlichkeit machte sich bemerkbar. Mit Beifall, mit Pfiffen, und mancher Zwischenrufer “verwechsel- te“, wie die Berliner Zeitung notierte, den Wort- streit “mit einem Tribunal“. Einvernehmen gab es, wie zu erwarten, auch auf dem Podium nicht. Immer- hin saßen da nun Leute beisammen, die sich vorher nicht mal ein Kopfnicken gegönnt hatten. Markus Wolf, der einstige Stasi-General, bot Bärbel Bohley eine Entschuldigung an. Bohley, etwas gereizt: “Ich habe Ihnen heute doch íGuten Tag’ gesagt.“ Zwei- einhalb Stunden lang dauerte der Dialog über die deutschen Wege und Irrwege. Für dieses Heft wurde er auf den Kern gebracht (Seite 40). a ist ein schneller Leser. Kaum war das neue SPIEGEL special (“Die Eigensinnigen“) aus- geliefert, ließ er bei der 24jährigen Ost-Berline- rin Maria Voigt, einer der Autorinnen dieses Hefts, anfragen: ob sie am Mittwoch dieser Woche im Reichstag über den Mauerfall und ihr Deutsch- landbild sprechen wolle. Der fünfte Jahrestag des historischen Geschehens war für das neue Monatsma- gazin des SPIEGEL ein Anstoß, in dieser Ausgabe das Selbstverständnis und die Standorte der jungen Generation zu ergründen und natürlich auch das Verhältnis zum vereinigten Deutschland. Das Wall Street Journal fand die Ergebnisse einer Emnid-Stu- die, die SPIEGEL special dazu in Auftrag gegeben hatte, so bemerkenswert, daß es dem The- ma eine Seite widmete. Kli- schees kippen da gleich rei- henweise: 47 Prozent der deut- schen Jugend, also dieses vor- geblich so fernsehverblödeten Teils der Bevölkerung, lesen am liebsten Zeitschriften; nur 6 Prozent gehören zu den “heavy users“ vor der Glotze, mit täglich mehr als vier Stunden.

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TITEL INHALT Die Selbstheilungskräfte des Menschen werden erforscht ...... 196 Deutsche in den Kaukasus? Seite 18 SPIEGEL-ESSAY Norman Birnbaum: Zauderer Clinton ...... 161 Für die deutschen Blau- helme wird es ernst. Die Nato-Partner verlangen, DEUTSCHLAND daß Bonn Kampfflugzeu- Panorama ...... 16 ge nach Bosnien und Außenpolitik: Deutsche Blauhelme Truppen nach Mazedo- sollen auf den Balkan und in den Kaukasus ...... 18 nien schickt. Die Deut- Steuern: Waigels Experten schen verhandeln der- fordern harte Schnitte ...... 20 weilen insgeheim mit SPD: Abgeordnete gegen Scharpings der Uno über eine Frie- PDS-Kurs ...... 22 densmission im Kauka- Interview mit über den BÖNING / ZENIT sus. Bundeswehrsolda- Umgang mit den SED-Nachfolgern ...... 23

J.-P. ten üben schon für den Strafjustiz: Gisela Friedrichsen zum Blauhelm-Einsatz in Mazedonien Einsatz in aller Welt. Ende des Prozesses gegen Erich Mielke ...... 25 Stasi: und das Kürzel IM ...... 26 Berlin: Comeback für Walter Momper? ...... 31 Fernsehen: Große Koalition will Kontrolle schwächen ...... 32 TV-Jagd auf Sensationen Seite 96 Interview mit WDR-Intendant Friedrich Nowottny über die ARD ...... 34 Politiker fordern ein Kriegsverbrecher: Serbe Tadic´ Verbot von Oliver kommt als erster vor Gericht ...... 35 Stones Film „Natu- Medizin: Helmut Kohls Meniskus ...... 38 ral Born Killers“. Deutsche Einheit: Bürgerrechtler und Doch der Krimi und Funktionäre der ehemaligen DDR über die von den TV-Sen- Träume im Wendeherbst ...... 40 dern ausgeschlach- Nato: General a. D. Gerd Schmückle tete Flucht zweier über die Osterweiterung ...... 56 Geiselnehmer zeig- Abgeordnete: Ostdeutsche wollen ten vergangene Wo- mehr Macht in Bonn ...... 58 che, wie sehr Me- Tourismus: Schutz bei Pleiten ...... 61 dien auf Sensatio- Kommunen: Erste schwarz-grüne Koalition ...... 65 nen setzen, wie Rechtsextremisten: Stiftungsgelder Wirklichkeit und für Terroristen ...... 68

Fernsehbilder ver- KOEHLER / ACTION PRESS Forum ...... 74 schmelzen. Polizist, TV-Journalisten Bundeswehr: Professoren kritisieren Militärs .....76 Sekten: Tugendterror der Zeugen Jehovas ...... 79 Seefahrt: Öltanker im Zickzack durch die Nordsee ...... 86 Verkehr: Überflüssige Autobahn am Südharz .....88 Radikaler Kurs bei Siemens Seite 114 Hochschulen: Mangel an Professoren ...... 90 Der Wettbewerb ist GESELLSCHAFT schärfer geworden, Prei- se verfallen, Computer Medien: Killer, Kidnapper, Sensationen – und Chips bringen wenig wie Fernsehen die Wirklichkeit verändert ...... 96 ein: Siemens steckt in Interview mit Hessens LKA-Chef Klaus Timm einer kritischen Phase. über Gangster und Geiseln ...... 99 Mit einer Bewußtseins- Stars: Die Led-Zeppelin-Gründer treten wieder auf ...... 104 veränderung auf allen Spectrum ...... 108 Ebenen, schnell und ra- Wein: Ein Brite bringt deutsche dikal, will Konzernchef Winzer in Rage ...... 111 Heinrich von Pierer die Zeichentrick: Der düstere Film „König Wende schaffen. Das

der Löwen“ – Disneys größter Erfolg ...... 113 W. M. WEBER wird schwerer, als er bei Pierer seinem Antritt glaubte. WIRTSCHAFT Konzerne: Revolution bei Siemens ...... 114 USA: Sorge um die amerikanische Konjunktur ...... 119 Spanien: Wo sind die Millionen Walser attackiert die Medien Seite 130 des Finanzjongleurs de la Rosa? ...... 120 Privatfunk: Postminister Bötsch Martin Walser, Autor und Patriot, hat sich den Zorn linker Dog- begünstigt TV-Sender ...... 121 matiker zugezogen. Mit einem Aufsatz „über freie und unfreie Automobile: Politiker und Hersteller Rede“ wehrt er sich nun gegen die „Moralorgeln“ der Medien. bremsen das Öko-Auto ...... 122 Trends ...... 124 Verbraucher: Kaschmir wird teurer ...... 127

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DEBATTE Martin Walser über die ideologischen Tabus der öffentlichen Rede ...... 130

Moskau: Militär begehrt auf Seite 142 AUSLAND Rußland: Explosive Stimmung Zwei Minister traten ab, das Militär macht Front gegen Jelzin. in den Kasernen ...... 142 Vize-Verteidigungsminister Burlakow, letzter Kommandeur der Umfrage im Offizierskorps ...... 144 russischen Truppen in Deutschland, verlor sein Amt nach einem Ägypten: Interview mit ungeklärten Mord-Attentat: Regierungskrise in Moskau. Literaturnobelpreisträger Nagib Mahfus über den Terror der Fundamentalisten ...... 145 Frankreich: Mitterrands uneheliche Tochter .... 148 Bosnien: Moslems auf dem Vormarsch ...... 149 Interview mit dem serbischen Armee gegen Kokain-Mafia Seite 166 Oberbefehlshaber Ratko Mladic´ ...... 150 Großbritannien: Die Rache 70 000 Morde in sechs des Harrods-Bosses ...... 152 Jahren im Bundesstaat Panorama Ausland ...... 154 Rio de Janeiro – die USA: Absturz der ersten Kampfpilotin ...... 157 meisten wurden beim Brasilien: Rauschgiftkrieg in Rio de Janeiro .... 166 Krieg um Kokain ver- Niederlande: Schmusen mit den Deutschen ..... 175 übt. Nun schickt die Ärmelkanal: Dovers Angst vor dem Tunnel ..... 179 brasilianische Regie- rung Spezialeinheiten SPORT in die Elendsviertel, in Billard: Matthias Matussek über denen sich die Drogen- Weltmeister Sang C. Lee ...... 184 bosse und ihre mit Ma- Fußball: Interview mit Doris Fitschen schinengewehren aus- und Silvia Neid über ihren geplanten Wechsel gerüsteten Gangs ver- M. ENDE / BILDERBERG in die japanische Profiliga ...... 191 schanzt haben. Opfer des brasilianischen Drogenkriegs WISSENSCHAFT Prisma ...... 218 Hauskauf im Versandhaus Seite 236 Bücher: Peter Brügge über Murray Gell-Mann: „Das Quark und der Jaguar“ ...... 220 Ein Haus, das zu- Zeitschriften: Das Wissenschaftsblatt gleich billig und schön Nature wird 125 Jahre alt ...... 228 ist, scheint unmöglich Interview mit Chefredakteur John Maddox – und ist doch der über die Rolle von Nature ...... 229 Traum aller Bauher- Zahnmedizin: Viele Zahnärzte pfuschen ...... 231 ren. Der Stardesigner Philippe Starck ver- TECHNIK treibt nun ein Heim zum Selberbauen per Datennetze: Neue Medien im Museum ...... 224 Versandhaus-Katalog. Computer: System zur akustischen Starck will, so erklärt Raumplanung ...... 233 er im SPIEGEL-Ge- spräch, daß die Men- KULTUR schen nicht länger „im Szene ...... 235

J. DIRAND Mist der Bauindustrie Architektur: Der Ruf nach Starck-Haus leben“. dem „Swatch“-Haus ...... 236 SPIEGEL-Gespräch mit dem Designer Philippe Starck über sein Selbstbau-Haus ...... 237 Autoren: Volker Hage über Peter Handkes Pfusch in Zahnarztpraxen Seite 231 Buch „Mein Jahr in der Niemandsbucht“ ...... 242 Schauspieler: Hellmuth Karasek über Letzten Monat drohten zwei neue Marlon-Brando-Biographien ...... 244 sie mit Behandlungsboy- Bestseller ...... 246 kott, jetzt geraten sie Oper: Peter Greenaway inszeniert selber unter Druck: sexuelle Phantasien in Amsterdam ...... 248 Deutsche Zahnärzte, so Theater: Die „Rocky Horror Show“ das Ergebnis zweier Stu- in Kölner Mundart ...... 250 dien, leisten oft stüm- Fernsehen: Die „Vom Winde verweht“- perhafte Arbeit. Die Fortsetzung „Scarlett“ als TV-Serie ...... 252 schlechtesten verdienen Fernseh-Vorausschau ...... 258 zudem am meisten. „Sie bilden einen immens Briefe ...... 7

dicken Bodensatz“, sagt W. WEBER Impressum ...... 14 ein Zahnarzt. Zahnbehandlung Personalien ...... 254 Register ...... 256 Hohlspiegel/Rückspiegel ...... 262

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BRIEFE Ende ohne Blutvergießen Daß Prinz Charles wegen seiner abste- henden Ohren gehänselt wurde und (Nr. 43/1994, SPIEGEL-Titel: Unglücks- dessen Ältester vom Volk zärtlich prinz Charles) Wills gerufen wird, bekommen wir in Ich gebe Charles einen freundschaftli- den Abspännen der Nachrichtensen- chen Rat: Such dir einen guten Job, dungen ja fast allabendlich präsentiert. leb dein eigenes Leben und genieß Aber fern aller Sommerlöcher royale Cornwall. Unterhaltungsgeschichte als Titel zu Bremen EBERHARD PILTZ fokussieren kann einen, eine Woche nach der Bundestagswahl, nur wun- Wen interessiert hierzulande eigent- dern. lich, ob Camilla den Charles übers Darmstadt TORSTEN SCHROEDER Knie legt und ob Diana von ihrem Reitlehrer Privatstunden erhält? Wir Das Titelbild, sicherlich graphisch gut sollten die Royals mit Vergnügen dem gemacht, ist keine witzige Karikatur, Interesse ihrer Untertanen überlassen sondern eine verletzende Darstellung. und uns freuen, daß unsere klugen Dem deutschen Nachrichtenmagazin DER SPIEGEL und seinem geschichtsbeflissenen Her- ausgeber Augstein hätte die Überlegung gut angestanden, daß „His Royal Highness The Prince of Wales“ an zweiter Stelle der Repräsen- tanten des Vereinigten Kö- nigreichs, also eines Nach- barlandes, ist. Niedernhausen (Hessen) GEORG GROETSCH

Ihr Vorschlag, daß nach ei- ner Abdankung des Hauses Windsor erneut das Haus Stuart den britischen Thron besteigen könnte, zeugt von nur geringer Kenntnis der Genealogie der europäischen Fürstenhäuser. Ein gutes Dutzend von ihnen, darunter auch ein paar aus deutschen Landen, haben ein besser fundiertes Recht als die Stu- arts. Im übrigen, wissen Sie, was Sie den Briten mit Ihrem Vorschlag antun? Nach dem Tod des letzten männlichen Stuart im Jahr 1807 ging die Erbfolge über diverse italie- nische Fürstenhäuser durch Heirat der Marie Therese

T. GRAHAM / SYGMA Erzherzogin von Österreich- Skandalpaar Charles, Diana (1993) Este mit König Ludwig III. Übers Knie gelegt von Bayern an das Haus Wit- telsbach, dessen gegenwärti- Verfassungsväter das Amt des Bundes- ger Chef, Herzog Albrecht von Bayern, präsidenten nicht erblich ausgestaltet dann Herrscher des Vereinigten König- haben. reiches würde. Zwar hieß es einstmals: St. Augustin (Nrdrh.-Westf.) „Gott strafe England!“, aber muß es KLAUS FIELENBACH denn gleich so schlimm kommen? Aachen HEINRICH LESKER Es gibt Prophezeiungen, die scheinen sich zu bewahrheiten. Aber was bis Ihr drolliger Gang zum Regenbogen jetzt noch wenigen aufgefallen zu sein wirft in mir – stark schluchzend des ar- scheint, ist folgende Tatsache: Eliza- men Charles wegen – folgende Fra- beth I. Tudor begründete das britische ge auf: Wer, bitte, schafft und zahlt Weltreich, mit Elizabeth II. geht es da- der dunkelgelben Tratschweiber-Presse hin – ich hoffe nur ohne Blutvergie- Ausgleich für die Leser, die sie die Jagd ßen. des SPIEGEL in ihrem ureigenen Ter- Nersingen (Bayern) rain kostet? GERTRUD HOCHWIMMER Braunschweig KLAUS TÜRK

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BRIEFE Kapitalistisches Grunzen unten nach oben haben es scheinbar fer- tiggebracht, jeden kritischen Sachver- (Nr. 43/1994, Sozialstaat: Widerstand stand in der Medienberichterstattung gegen radikalen Umbau) über Sozialpolitik zu tilgen. Jeder Arbeitnehmer, der die FDP Mannheim HORST HEMBERA wählt, egal ob als Staatsdiener oder in der Privatwirtschaft tätig, sägt bewußt Um Beachtung zu finden, bleibt manch an dem Ast, auf dem er sitzt. einem Politiker nur übrig, auf die Sozi- Kuppenheim (Bad.-Württ.) CAROLA REIFF alversicherung einzuschlagen und die ganze oder teilweise Abschaffung zu Auch Schreihälse wie Herr Murmann fordern. Aber: Ausgehend von der Ver- haben das Heer der Dauerarbeitslosen pflichtung des Artikels 20 des Grundge- über 58 Jahre und der Frührentner mit- setzes hat der Staat einen Ausgleich zuverantworten. Demnach müßte Herr der sozialen Gegensätze herbeizuführen Murmann vermutlich schon bald abge- und für eine gerechte Sozialordnung zu schoben werden, wegen „Nichterfüllung sorgen. des Arbeitssolls“. Pforzheim RUDI F. WERLING Berlin WERNER MOLKENBUR Die Hilfe für die neuen Bundesländer Nicht das Sozialsystem ist Verursacher kann nur eine Aufgabe aller sein. So et- der gegenwärtigen Krise, sondern die was nennt man doch Solidarität – eine langjährige Wirtschaftskrise, die auch wunderbare Sache. Diese Regierung das Sozialsystem in erhebliche Schwie- aber (vor allem die FDP, ich betone das rigkeiten bringt. Wer dieses Sozialsy- als Mitglied) hat es fertiggebracht, die- stem wieder auf vernünftige Füße stel- se Gemeinschaftsaufgabe zu zerstören, len will, muß sich für eine längst fällige wenn wir Arbeitnehmer mit unseren Reform des Systems seiner Finanzie- Beiträgen zur Arbeitslosenversicherung rung einsetzen. Statt Zerschlagung des die Hauptlast dieser Hilfe tragen müs- Sozialstaates sollten die Unternehmer sen. Um die Solidarität wenigstens eini- diesen Anspruch zum Erhalt des Sozial- germaßen wiederherzustellen, sollte der friedens – einem wichtigen Gut eben- Solidaritätszuschlag ab 1995 nur von Be- falls in der Frage des Wirtschaftsstand- amten und Selbständigen erhoben wer- ortes Deutschland – unterstützen. den. Rottenburg (Bad.-Württ.) Bruchsal (Bad.-Württ.) RAINER PRALLE LOTHAR KINDEREIT

Es ist beschämend, daß nahezu sämtli- che Medien auf die raubkapitalistischen Entgleiste Psychose Grunzlaute der Herren Murmann und (Nr. 43/1994, Psychotherapie: Hippie- Rexrodt hereinfallen. Allein für den Droge LSD als Hilfsmittel für Neurose- volkswirtschaftlichen Schaden, den der kranke) vagabundierende Immobilienspekulant Schneider angerichtet hat, hätte man ein Der sogenannte Horrortrip unter LSD halbes Jahr lang allen Sozialhilfeemp- hat offenbar tiefgreifende therapeuti- fängern Deutschlands laufende Hilfe sche Wirkung, wenn ihn erfahrene The- zum Lebensunterhalt zahlen können. rapeuten begleiten und das Setting Zwölf Jahre Umverteilungspolitik von stimmt. Vorliegende Forschungsarbei- NETZHAUT Sozialamt (in Bochum): Die Reform des Systems ist längst fällig

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BRIEFE

ten zur therapeutischen An- Die römisch-katholische Amtskirche ist wendung von Psychedelika ein geistig und moralisch völlig erstarr- sind von einem ihrer Pioniere, tes Machtsystem, an der Spitze heillos Stanislav Grof, in mehreren reaktionär und steinhart autoritär. Ein Büchern dargelegt, die jedem solches System läßt sich nicht reformie- Interessenten nach wie vor zu ren. empfehlen sind. Demnach ge- Leutkirch (Bad.-Württ.) HANS WITTEK hört LSD nicht zu den Sucht- giften, und seine Freigabe für Vor der Götterdämmerung dämmert es therapeutische Verwendung in der Regel den Sterblichen. Rom müß- wäre eine vielversprechende te mehr als die Proteste und Warnungen Möglichkeit, psychische Stö- der Funktionäre zu denken geben, daß rungen radikal zu bessern. seit geraumer Zeit aus vielen katholi- Rechtmehring (Bayern) schen Teilkirchen überhaupt keine Re- HELMUT REUTER aktionen mehr auf römische Maßnah- men zu verzeichnen sind. LSD macht weder süchtig, Nijmegen (Niederlande) KNUT WALF noch ruiniert es den Körper. Professor für Katholisches Kirchenrecht Es ermöglicht einen schnellen und direkten Zugang zuInhal- Man kann sich doch ganz beruhigt zu- ten des Unbewußten. Am En- rücklehnen. Im Vatikan wird es so kom- de stehen nicht Drogenwahn men wie in der DDR, wo auch die alten oder Chaos, sondern ein Betonköpfe an der Spitze bis zuletzt erweiterter Bewußtseinsrah- nicht erkannt haben, was unten läuft. men und eine bessere Lebens- Seinen „Herbst ’89“ wird Rom noch er- qualität des Patienten. leben, wenn die Leute auf dem Peters- Regensburg WALTER GIETL platz erst mal „Wir sind das Kirchen- volk!“ rufen. Man kann nur hoffen,

Jeder Patient, der sich selbst C. RÄTSCH daß dann ein Gorbi-Papst den jetzigen einer ärztlich kontrollierten Gemälde nach Rauscherlebnis Breschnew-Papst ablösen wird. Gabe dieses Halluzinogens Weder Drogenwahn noch Chaos Langenhagen (Nieders.) JÖRG HINZ aussetzt, sollte wissen, daß da- mit in ihm eine experimentell erzeugte Heillos reaktionär Wie kann man den Papst als moralische Psychose hervorgerufen wird, die – Instanz noch im geringsten ernst neh- wenn sie nachfolgend entgleist – ebenso (Nr. 43/1994, SPIEGEL-Essay von Nor- men, wenn er wiederverheirateten Ge- schwere Konsequenzen auf das Denken bert Greinacher: Kirchliche Götterdäm- schiedenen die Kommunion verweigert, und Handeln der Persönlichkeit nach merung) aber nichts dabei findet, sie einem Pino- sich zieht wie psychotische Störungen im chet, der für Massenmord und Folterun- Verlauf von Geisteskrankheiten. Das Hört auf zu jammern, zieht euch nicht gen verantwortlich ist, nicht nur zu ge- bedeutet, daß ein mit LSD behandelter frustriert zurück, sondern bekennt Far- währen, sondern ihn in einem Glück- Patient unter Umständen Neuroleptika be. Katholiken aller Länder vereinigt wunsch zur Goldenen Hochzeit auch zur Wahnauflösung benötigt und sogar euch . . . und konvertiert. noch seiner Freundschaft und Wert- in die Psychiatrie eingewiesen werden Mannheim RALF-CARL LANGHALS schätzung zu versichern? Welche Mei- muß. Es gehört schon ein stabiles Ich dazu, um sich einer solchen Tortur-The- rapie auszusetzen, und gerade diese fe- ste Ich-Identität haben schwer neuro- tisch gestörte Patienten nicht. Braunschweig CHRISTIAN RENNEBERG

Die „Heilung durch Hirnspuk“ ist kein Psycho-Sprengsatz eines von mir ent- worfenen Therapiekonzepts, das die vernagelte Psyche von Neurotikern oft ruckartig aufsperrt. Die Psycholyse ist eine professionelle, wissenschaftlich be- gründete Psychotherapie auf der Grund- lage der Psychoanalyse. Sie wird mit größter Sorgfalt an jeden Patienten an- gepaßt und in Gegenwart des Therapeu- ten durchgeführt. Ein Forschungspro- jekt der Universität Göttingen konnte gute Besserung und Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit bei 70 Prozent die- ser Menschen zeigen. Bezogen auf die Psychotherapieversorgung der Bevölke- rung kann durch Einführung dieser Be- handlung neurotisches Elend gelindert und können zahlreiche, fruchtlose Kli-

nikaufenthalte erspart werden. GAMMA / STUDIO X Göttingen PROF. HANSCARL LEUNER Priesterweihe im Vatikan: Völlig erstarrtes Machtsystem

12 DER SPIEGEL 45/1994 nung hätte wohl Jesus von seinem „Stellvertreter auf Erden“? Essen RALF HAGENBROCK

Greinacher, der die kirchliche Götter- dämmerung diagnostiziert und seine po- lemischen Seitenhiebe auf Kardinal Rat- zinger konzentriert, gehört zu den ei- gentlichen Totengräbern des römischen Katholizismus. Thedinghausen (Nieders.) KURT ASENDORF

Nicht rechts überholen (Nr. 43/1994, FDP: Rechte gegen Kin- kel) Sie zitieren mich mit dem Satz, die FDP „muß rechtsgerichteter werden“. Ich bin zwar der Auffassung, daß meine Partei gegen die drei linken Konkurrenten SPD, Bündnis 90/Grüne und PDS kei- nen Platz in diesem Spektrum finden kann. Aber sie würde sich auch einen Bärendienst erweisen, CDU und CSU nach Haider-Manier rechts überholen zu wollen. Ich sehe für meine Partei nur eine Position: die der politischen Mitte. Diesen Platz muß sie aber in allen Berei- chen einnehmen, nicht nur in der Wirt- schaftspolitik. Auch die innere Sicher- heit braucht einen starken Anwalt in der Mitte des Parteienspektrums.

Bonn JÖRG VAN ESSEN MdB

Da kommen die Tränen (Nr. 43/1994, Hochschulen: Studenten jobben für ihren Lebensunterhalt) Da haben Sie ja den Nagel auf den Kopf getroffen. Ihren Artikel kann ich mei- nen Professoren unter die Nase halten, wenn diese sich über meine lange Stu- diendauer beklagen oder die These ver- treten, es gebe sowieso zuviel und zu leicht Leistungen nach dem Bafög. Karlsruhe PETER RACHOW Ein Großteil derer, die sich durch ihr Studium jobben, finden sich nach Been- digung desselben in denselben Jobs wie- der. Fraglich bleibt, ob wir uns das über- haupt leisten können, frisch ausgebilde- te Akademiker weiterhin für Hilfsarbei- ten heranzuziehen. Wuppertal MARTINA WAGNER Mir kommen die Tränen. Das Studium verkommt zum Nebenjob, Studenten sind „furchtbar erschöpft“, zum Studie- ren fehlt den Jobbenden die Zeit, oh, Ihr akademischen Heinzelmännchen, wie habt Ihr es schwer. Jammert und vereinigt Euch, packt weiter Pakete und hofft auf politische Besserung – irgend jemand wird vor Mitleid schon weinen. München JAN J. WESTPHAL

DER SPIEGEL 45/1994 13 BRIEFE MNO Lang ersehntes Bad 20457 Hamburg, Brandstwiete 19, Telefon (040) 3007-0, Telefax (040) 3007 2247, Telex 2 162 477 CompuServe: 74431,736 . Internet: http://spiegel.nda.net/nda/spiegel (Leserbriefe zum Start des SPIEGEL im globalen Datennetz Internet) HERAUSGEBER: Rudolf Augstein nida Sa˜o Sebastia˜o, 157 Urca, 22291 Rio de Janeiro (RJ), Tel. (005521) 275 1204, Telefax 542 6583 . Rom: Valeska von CHEFREDAKTEUR: Hans Werner Kilz Roques, Largo Chigi 9, 00187 Rom, Tel. (00396) 679 7522, Tele- Gratulation zur gelungenen Realisation fax 679 7768 . Stockholm: Hermann Orth, Scheelegatan 4, STELLV. CHEFREDAKTEURE: Joachim Preuß, Dr. Dieter Wild 11 223 Stockholm, Tel. (00468) 650 82 41, Telefax 652 99 97 . der SPIEGEL-Ressource. Ich kenne Warschau: Andreas Lorenz, Ul. Polna 44/24, 00-635 Warschau, kein übersichtlicheres, reichhaltigeres REDAKTION: Karen Andresen, Ariane Barth, Dieter Bednarz, Wil- Tel. (004822) 25 49 96, Telefax 25 49 96 . Washington: Karl- helm Bittorf, Peter Bölke, Dr. Hermann Bott, Klaus Brinkbäumer, Heinz Büschemann, Siegesmund von Ilsemann, 1202 National und komfortableres Angebot eines ver- Werner Dähnhardt, Dr. Thomas Darnstädt, Hans-Dieter Degler, Press Building, Washington, D. C. 20 045, Tel. (001202) Dr. Martin Doerry, Adel S. Elias, Nikolaus von Festenberg, Uly 347 5222, Telefax 347 3194 . Wien: Dr. Martin Pollack, Schön- gleichbaren Anbieters. Ich kann nur sa- Foerster, Klaus Franke, Gisela Friedrichsen, Angela Gatterburg, brunner Straße 26/2, 1050 Wien, Tel. (00431) 587 4141, Telefax gen: Weiter so. Henry Glass, Rudolf Glismann, Johann Grolle, Doja Hacker, Dr. 587 4242 Volker Hage, Dr. Hans Halter, Werner Harenberg, Dietmar Hawra- ILLUSTRATION: Werner Bartels, Renata Biendarra, Martina Blu- Kassel DIRK HOFFMEIER nek, Manfred W. Hentschel, Ernst Hess, Hans Hielscher, Wolf- me, Barbara Bocian, Ludger Bollen, Katrin Bollmann, Thomas gang Höbel, Heinz Höfl, Clemens Höges, Joachim Hoelzgen, Dr. Bonnie, Regine Braun, Martin Brinker, Manuela Cramer, Josef Jürgen Hohmeyer, Hans Hoyng, Thomas Hüetlin, Rainer Hupe, Ul- Csallos, Volker Fensky, Ralf Geilhufe, Rüdiger Heinrich, Tiina Hur- Endlich sind Reisen und SPIEGEL-Ent- rich Jaeger, Hans-Jürgen Jakobs, Urs Jenny, Dr. Hellmuth Kara- me, Claudia Jeczawitz, Antje Klein, Ursula Morschhäuser, Corne- sek, Sabine Kartte-Pfähler, Klaus-Peter Kerbusk, Ralf Klassen, lia Pfauter, Monika Rick, Chris Riewerts, Julia Saur, Detlev wöhnung entkoppelt. Mit ungläubigem Petra Kleinau, Sebastian Knauer, Dr. Walter Knips, Susanne Scheerbarth, Manfred Schniedenharn, Frank Schumann, Rainer Erstaunen haben wir heute das SPIE- Koelbl, Christiane Kohl, Dr. Joachim Kronsbein, Bernd Kühnl, Sennewald, Dietmar Suchalla, Karin Weinberg, Matthias Welker, Wulf Küster, Dr. Romain Leick, Heinz P. Lohfeldt, Udo Ludwig, Monika Zucht GEL-Deckblatt wahrgenommen und Klaus Madzia, Armin Mahler, Dr. Hans-Peter Martin, Georg Mas- colo, Gerhard Mauz, Gerd Meißner, Fritjof Meyer, Dr. Werner Mey- SCHLUSSREDAKTION: Rudolf Austenfeld, Horst Beckmann, Sa- dann unvermittelt das Bad im so lange er-Larsen, Michael Mönninger, Joachim Mohr, Mathias Müller bine Bodenhagen, Dieter Gellrich, Hermann Harms, Bianca Hune- entsagten SPIEGEL-Jargon genossen. von Blumencron, Bettina Musall, Hans-Georg Nachtweh, Dr. Jür- kuhl, Rolf Jochum, Karl-Heinz Körner, Inga Lembcke, Christa gen Neffe, Dr. Renate Nimtz-Köster, Hans-Joachim Noack, Gunar Lüken, Reimer Nagel, Dr. Karen Ortiz, Andreas M. Peets, Gero Es lebe der Cyber-Journalismus. Ortlepp, Claudia Pai, Rainer Paul, Christoph Pauly, Jürgen Peter- Richter-Rethwisch, Thomas Schäfer, Ingrid Seelig, Hans-Eckhard mann, Norbert F. Pötzl, Dr. Rolf Rietzler, Dr. Fritz Rumler, Dr. Jo- Segner, Tapio Sirkka, Hans-Jürgen Vogt, Kirsten Wiedner, Holger New Haven (USA) JOACHIM HENSEL hannes Saltzwedel, Karl-H. Schaper, Marie-Luise Scherer, Heiner Wolters Schimmöller, Roland Schleicher, Michael Schmidt-Klingenberg, VERANTWORTLICHER REDAKTEUR dieser Ausgabe für Pan- Cordt Schnibben, Hans Joachim Schöps, Dr. Mathias Schreiber, orama, Außenpolitik, SPD, Nato, Abgeordnete, Rechtsextremi- Bruno Schrep, Helmut Schümann, Matthias Schulz, Hajo Schu- sten, Bundeswehr: Dr. Thomas Darnstädt; für Steuern, Touris- macher, Birgit Schwarz, Ulrich Schwarz, Dr. Stefan Simons, Ma- mus, Konzerne, USA (S. 119), Spanien, Privatfunk, Trends, Ver- reike Spiess-Hohnholz, Dr. Gerhard Spörl, Olaf Stampf, Hans-Ul- braucher: Peter Bölke; für Stasi, Berlin, Kriegsverbrecher, Deut- rich Stoldt, Peter Stolle, Barbara Supp, Dieter G. Uentzelmann, sche Einheit, Kommunen, Forum, Sekten, Seefahrt, Verkehr, Klaus Umbach, Hans-Jörg Vehlewald, Dr. Manfred Weber, Susan- Hochschulen, Medien (S. 99): Ulrich Schwarz; für Fernsehen, Da- ne Weingarten, Alfred Weinzierl, Marianne Wellershoff, Peter tennetze, Kiosk: Uly Foerster; für Medien (S. 96), Stars, Spec- Wensierski, Carlos Widmann, Erich Wiedemann, Christian Wüst, trum, Wein, Zeichentrick, Fernseh-Vorausschau: Hans-Dieter Peter Zobel, Dr. Peter Zolling, Helene Zuber Degler; für Rußland, Ägypten, Frankreich, Bosnien, Großbritan- nien, Panorama Ausland, USA (S. 157), SPIEGEL-Essay, Nieder- REDAKTIONSVERTRETUNGEN DEUTSCHLAND: Berlin: Wolf- lande, Ärmelkanal: Dr. Romain Leick; für Fußball: Heiner Schim- gang Bayer, Petra Bornhöft, Jan Fleischhauer, Dieter Kampe, Uwe möller; für Titelgeschichte: Dr. Jürgen Neffe; für Medizin, Automo- Klußmann, Jürgen Leinemann, Claus Christian Malzahn, Walter bile, Prisma, Zeitschriften, Zahnmedizin, Computer: Jürgen Peter- Mayr, Harald Schumann, Gabor Steingart, Kurfürstenstraße mann; für Debatte, Szene, Architektur, Bestseller, Oper, Theater: 72 – 74, 10787 Berlin, Tel. (030) 25 40 91-0, Telefax Dr. Martin Doerry; für namentlich gezeichnete Beiträge: die Ver- 25 40 91 10 . Bonn: Winfried Didzoleit, Manfred Ertel, Dr. Olaf fasser; für Briefe, Personalien, Register, Hohlspiegel, Rückspie- Ihlau, Dirk Koch, Ursula Kosser, Dr. Paul Lersch, Hans Leyen- gel: Dr. Manfred Weber; für Titelbild: Matthias Welker; für Gestal- decker, Elisabeth Niejahr, Hartmut Palmer, Olaf Petersen, Rainer tung: Dietmar Suchalla; für Hausmitteilung: Hans Joachim Pörtner, Hans-Jürgen Schlamp, Alexander Szandar, Klaus Wirt- Schöps; Chef vom Dienst: Norbert F. Pötzl (sämtlich Brandstwiete gen, Dahlmannstraße 20, 53113 Bonn, Tel. (0228) 26 70 3-0, 19, 20457 Hamburg) Telefax 21 51 10 . Dresden: Sebastian Borger, Christian Hab- DOKUMENTATION: Jörg-Hinrich Ahrens, Sigrid Behrend, Ulrich be, Dietmar Pieper, Detlef Pypke, Königsbrücker Str. 17, 01099 Booms, Dr. Helmut Bott, Dr. Jürgen Bruhn, Lisa Busch, Heinz Egle- Dresden, Tel. (0351) 567 0271, Telefax 567 0275 . Düssel- der, Dr. Herbert Enger, Johannes Erasmus, Dr. Karen Eriksen, Ille dorf: Ulrich Bieger, Georg Bönisch, Richard Rickelmann, Rudolf von Gerstenbergk-Helldorff, Dr. Dieter Gessner, Hartmut Heidler, Wallraf, Oststraße 10, 40211 Düsseldorf, Tel. (0211) Wolfgang Henkel, Gesa Höppner, Jürgen Holm, Christa von Holtz- 93 601-01, Telefax 35 83 44 . Erfurt: Felix Kurz, Dalbergsweg apfel, Joachim Immisch, Hauke Janssen, Günter Johannes, Ange- 6, 99084 Erfurt, Tel. (0361) 642 2696, Telefax 566 7459 . la Köllisch, Sonny Krauspe, Hannes Lamp, Marie-Odile Jonot- Frankfurt a. M.: Peter Adam, Wolfgang Bittner, Annette Groß- Langheim, Walter Lehmann, Michael Lindner, Dr. Petra Ludwig, bongardt, Ulrich Manz, Oberlindau 80, 60323 Frankfurt a. M., Sigrid Lüttich, Roderich Maurer, Rainer Mehl, Ulrich Meier, Ger- Tel. (069) 71 71 81, Telefax 72 17 02 . Hannover: Ansbert hard Minich, Wolfhart Müller, Bernd Musa, Christel Nath, Annelie- Kneip, Rathenaustraße 16, 30159 Hannover, Tel. (0511) se Neumann, Werner Nielsen, Paul Ostrop, Nora Peters, Anna Pe- SPIEGEL im Internet 32 69 39, Telefax 32 85 92 . Karlsruhe: Dr. Rolf Lamprecht, tersen, Peter Philipp, Axel Pult, Ulrich Rambow, Dr. Mechthild Rip- Amalienstraße 25, 76133 Karlsruhe, Tel. (0721) 225 14, Telefax ke, Constanze Sanders, Petra Santos, Christof Schepers, Rolf G. Es lebe der Cyber-Journalismus 276 12 . Mainz: Birgit Loff, Wilfried Voigt, Weißliliengasse 10, Schierhorn, Ekkehard Schmidt, Marianne Schüssler, Andrea 55116 Mainz, Tel. (06131) 23 24 40, Telefax 23 47 68 . Mün- Schumann, Claudia Siewert, Margret Spohn, Rainer Staudham- chen: Dinah Deckstein, Annette Ramelsberger, Dr. Joachim Rei- mer, Anja Stehmann, Stefan Storz, Monika Tänzer, Dr. Wilhelm Heute bin ich auf dem Internet über den mann, Stuntzstraße 16, 81677 München, Tel. (089) 41 80 04-0, Tappe, Dr. Eckart Teichert, Jutta Temme, Dr. Iris Timpke-Hamel, Telefax 4180 0425 . Schwerin: Bert Gamerschlag, Spieltor- Carsten Voigt, Horst Wachholz, Ursula Wamser, Dieter Wessen- SPIEGEL gestolpert. Das war eine damm 9, 19055 Schwerin, Tel. (0385) 557 44 42, Telefax dorff, Andrea Wilkens, Karl-Henning Windelbandt freudige Überraschung. Das macht es 56 99 19 . Stuttgart: Dr. Hans-Ulrich Grimm, Sylvia Schreiber, BÜRO DES HERAUSGEBERS: Irma Nelles Kriegsbergstraße 11, 70174 Stuttgart, Tel. (0711) 22 15 31, Te- NACHRICHTENDIENSTE: ADN, AP, dpa, Los Angeles Times/Wa- einfacher, hier draußen in Kalifornien lefax 29 77 65 shington Post, Newsweek, New York Times, Reuters, Time den Kontakt zur Heimat aufrechtzuer- REDAKTIONSVERTRETUNGEN AUSLAND: Basel: Jürg Bürgi, SPIEGEL-VERLAG RUDOLF AUGSTEIN GMBH & CO. KG halten. Spalenring 69, 4055 Basel, Tel. (004161) 283 0474, Telefax 283 0475 . Belgrad: Renate Flottau, Teodora Drajzera 36, Abonnenten-Service: Tel. 0130-863006, Telefax (040) Los Angeles GUNTER ZIELKE 11000 Belgrad, Tel. 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(030) 25 40 91 25/26, Telefax 25 40 9130; man die Texte nun auch elektronisch Muhandisin, Kairo, Tel. (00202) 360 4944, Telefax 360 7655 . Düsseldorf: Oststraße 10, 40211 Düsseldorf, Tel. (0211) verfügbar machen sollte oder nicht Kiew: Martina Helmerich, ul. Kostjolnaja 8, kw. 24, 252001 936 01 02, Telefax 36 42 95; Frankfurt a. M.: Oberlindau 80, Kiew, Tel. (007044) 228 63 87 . London: Bernd Dörler, 6 Hen- 60323 Frankfurt a. M., Tel. (069) 72 03 91, Telefax 72 43 32; („Aber dann will doch keiner mehr das rietta Street, London WC2E 8PS, Tel. (004471) 379 8550, Tele- Hamburg: Brandstwiete 19, 20457 Hamburg, Tel. (040) Heft lesen . . .“), erfüllt es mich mit ei- fax 379 8599 . Moskau: Jörg R. Mettke, Dr. Christian Neef, Kru- 3007 2545, Telefax 3007 2797; München: Stuntzstraße 16, tizkij Wal 3, Korp. 2, kw. 36, 109 044 Moskau, Tel. (007502) 81677 München, Tel. (089) 41 80 04-0, Telefax 4180 0425; ner gewissen Genugtuung, daß der gro- 220 4624, Telefax 220 4818 . Neu-Delhi: Dr. Tiziano Terzani, Stuttgart: Kriegsbergstraße 11, 70174 Stuttgart, Tel. (0711) 6-A Sujan Singh Park, New Delhi 110003, Tel. (009111) 226 30 35, Telefax 29 77 65 ße SPIEGEL mit seiner elektronischen 469 7273, Telefax 460 2775 . New York: Matthias Matussek, Verantwortlich für Anzeigen: Horst Görner Präsenz mein Vorgehen bei unserem 516 Fifth Avenue, Penthouse, New York, N. Y. 10036, Tel. Gültige Anzeigenpreisliste Nr. 48 vom 1. Januar 1994 (001212) 221 7583, Telefax 302 6258 . Paris: Lutz Krusche, Postgiro-Konto Hamburg Nr. 7137-200 BLZ 200 100 20 winzigen Blatt gewissermaßen nachträg- Helmut Sorge, 17 Avenue Matignon, 75008 Paris, Tel. (00331) Druck: Gruner Druck, Itzehoe; maul belser, Nürnberg lich legitimiert. 4256 1211, Telefax 4256 1972 . Peking: Jürgen Kremb, Qi- VERLAGSLEITUNG: Fried von Bismarck jiayuan 7. 2. 31, Peking, Tel. (00861) 532 3541, Telefax St. Gallen (Schweiz) PETER HOGENKAMP 532 5453 . Prag: Jilska´ 8, 11 000 Prag, Tel. 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14 DER SPIEGEL 45/1994 Werbeseite

Werbeseite .

DEUTSCHLAND PANORAMA

Ministerpräsidenten Zu befürchten sei auch, so die Autohändler Geheimdienstler, daß der Flug- platz von Teheraner Diensten Seite als Personenschleuse genutzt Wegen eines dubiosen Mil- werde. Da Hartenholm weder lionengeschäfts aus seiner Zoll- noch Grenzschutz-Kon- Zeit als Generalsekretär der trollen unterliegt, könnten CDU Mecklenburg-Vorpom- Agenten und Attentäter über merns gerät Schwerins Mini- die Flugpiste zwischen Wald sterpräsident Berndt Seite in und Feld unbemerkt einreisen – seiner Partei unter Druck. Im Vorwürfe, die Habibollahis Har- Frühjahr 1992 hat Seite einen tenholm-Geschäftsführer J. B. Vertrag unterzeichnet, der Mink über seinen Anwalt de- den Landesverband binnen mentieren ließ.

zweier Jahre zum Kauf von R. JATSCH-KÖSLING Habibollahi, Berater des irani- 25 Chrysler-Wagen verpflich- Flugplatz Hartenholm schen Mullah-Regimes, gebietet tete. Als Seites Geschäfts- seit September letzten Jahres partner, der Hamburger Au- Geheimdienste über den Flugplatz Hartenholm (SPIE- tohändler Stefan Becker, zu GEL 48/1993). Von London aus managt Beginn des Landtagswahl- der Iraner nach Kenntnis westlicher Dien- kampfes auf Vertragserfül- Spuk am Waldrand ste über ein internationales Firmengeflecht lung im Wert von einer Milli- Das Bundesamt für Verfassungsschutz hat Deals für Teheran: Die Habibollahi-Firma on Mark drängte, stieß er in die schleswig-holsteinische Landesregie- Armex etwa schleuse Waffen und Elektro- rung vor illegalen Aktivitäten iranischer nik nach Teheran, die Aerofalcon Ltd. be- Geschäftsleute auf dem Flugplatz Harten- sorge Ersatzteile für iranische US-Jäger holm bei Bad Bramstedt gewarnt. Die vom Typ F-5, die Orion S. A. beschaffe Kölner Verfassungsschützer empfehlen Elektronik für iranische Aufklärer vom der SPD-Landesregierung eindringlich, US-Typ „P3 Orion“. die Aktionen der Iraner zu stoppen. Die Die Kieler Landesregierung unter Mini- Spezialisten der „Arbeitsgruppe Iran“ ha- sterpräsidentin , die den ben über die Vorgänge ein Dossier („VS Verfassungsschutzbericht seit drei Mona- Geheim“) verfaßt. Darin heißt es, der in ten kennt, könnte den Spuk am Waldrand London lebende iranische Investor Mussa in Hartenholm leicht stoppen – über die Chajir Habibollahi und sein Vertrauter Landesbank Schleswig-Holstein, den Kre- Mehdi Kaschani könnten den kleinen ditgeber der Hartenholm-Gesellschaft. Die Flugplatz nutzen, um illegal Ersatzteile Regierungschefin ist Verwaltungsratsvor-

KARWASZ für die iranische Luftwaffe zu beschaffen. sitzende der Bank. K.-B. Seite rechnet werden konnte. Mi- und FDP. Auch eine Erwei- Schwerin auf Ablehnung. nisterpräsident Seite erreich- terung auf sechs zugunsten Von einer derartigen Abma- te mittlerweile die Auflösung der Grünen steht zur Dis- chung, erklärte der heutige des Vertrages, jedoch nur mit kussion. Unions-Fraktions- CDU-Generalsekretär Klaus der „festen Vereinbarung“, chef Wolfgang Schäuble da- Preschle, sei nichts bekannt. so Becker, daß Seite den Mit- gegen würde am liebsten al- Erst als Becker eine Ver- gliedern der neuen CDU- les lassen, wie es ist, und mit trags-Kopie schickte, räumte Landtagsfraktion zum Kauf schwarz-grüner Stimmenko- Seite das Geschäft ein. Der von Becker-Wagen rät. alition die grüne Kandidatin Partei erklärte er, er sei „mit auf einen der dem Vorgang nicht befaßt“ Bundestagspräsidium beiden SPD-Sitze durch- gewesen und habe „nur auf drücken. Der Union blieben Weisung“ des damaligen Chaos im dann als einziger Fraktion

Landesvorsitzenden Gün- M. LINDNER / SIGNUM zwei Plätze erhalten. Bleibt ther Krause unterschrieben. Parlament? Heym es bei dem Dissens, ist Krause bestreitet jede Kennt- Im Streit um die künftige Be- für die Konstituierung „das nis von dem Vertrag. Auch setzung des Bundestagspräsi- nung durch Alterspräsident Desaster programmiert“ der damalige CDU-Schatz- diums droht die SPD, die (PDS) geplante (so Grünen-Geschäftsführer meister Günter Marten will Konstituierung des Parla- Wiederwahl Rita Süssmuths ). Dann müß- von dem Kauf nichts gewußt ments diese Woche platzen (CDU) zur Präsidentin zu te nämlich die kontroverse haben und bezweifelt, „daß zu lassen. In einem inter- blockieren. Grund: Die SPD Debatte, für die es „keine sich Seite je von Krause unter nen Vorbereitungsgespräch akzeptiert zwar die Forde- verbindlichen Regelungen“ Druck setzen“ ließ. Seite war der Parlamentarischen Ge- rung von Bündnis 90/Die gebe, von dem „greisen als Generalsekretär nicht be- schäftsführer, das vergange- Grünen auf ein „Grundman- Heym“ (Schulz) wie eine fugt, ein derartiges Geschäft nen Freitag zu keiner Eini- dat“ für alle Fraktionen im „basisdemokratische Veran- abzuschließen. Außerdem gung führte, machte Peter Präsidium, schlägt dafür aber staltung“ über die Bühne ge- hatte die Union seinerzeit Struck (SPD) die Bereit- eine Reduzierung von fünf bracht werden. Schulz: kaum Geld, so daß mit der schaft seiner Partei deutlich, auf vier Sitze vor – je einen „Aber darin sind wir sehr Vertragserfüllung nicht ge- notfalls die nach der Eröff- für CDU/CSU, SPD, Grüne firm.“

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Flick-Affäre Stasi kannte schwarze Kassen Schon Jahre vor den west- deutschen Behörden war die DDR-Staatssicherheit über Schmiergeldzahlungen des Flick-Konzerns an westdeut- sche Politiker informiert. Zu- träger der Stasi-Hauptver- waltung Aufklärung in Ost- Berlin soll der ehemalige Bonner Flick-Lobbyist Adolf Kanter gewesen sein. Die Karlsruher Bundesanwalt- schaft hat jetzt wegen Spio- nageverdachts Anklage vor dem Oberlandesgericht Ko- blenz erhoben. CDU-Mit- glied Kanter, 69, soll seine Agententätigkeit für die Stasi 1952 aufgenommen haben. DARCHINGER Kanter

1974 wurde er Vizechef der „Politischen Stabsstelle der Geschäftsführung“ des Flick- Konzerns in Bonn. Das Un- ternehmen leistete Wahl- kampfhilfe für die CDU/CSU und zahlte Volksvertretern heimlich Bargeld. Kanter hat- te dafür die Flickschen „Spezi- albriefe“ erfunden: Umschlä- ge mit Beträgen bis zu 10 000 Mark. Ende der siebziger Jah- re habe Kanter – so die Bun- desanwaltschaft –seine DDR- Führungsoffiziere von der Abteilung I („Staatsapparat der BRD“) mit Details über die Millionenspenden der In- dustrie an Politiker und ille- gale Geldwaschanlagen ver- sorgt. So soll er die Stasi bei- spielsweise frühzeitig über Geld-Gaben an hohe CDU- Politiker informiert haben.

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Außenpolitik „DA MÜSSEN WIR HIN“ Die Nato will endlich deutsche Blauhelme auf dem Balkan sehen. Die Deutschen bevorzugen eine Friedensmission im Kaukasus. Seit Wochen laufen geheime Gespräche mit der Uno, und die Bundeswehr übt bereits ihre neue Aufgabe als Armee zur Friedenssicherung jenseits der Grenzen.

er Gast aus Deutschland fühlte wurde deutlich: Der Druck auf die Awacs-Aufklärern mit und bringen mit sich in Amerika umworben wie Deutschen wächst. Transportmaschinen Hilfsgüter ins Kri- Dselten zuvor. Wo immer Karsten Im Juli hat das Bundesverfassungsge- sengebiet. Voigt, der außenpolitische Sprecher richt der Bonner Regierung praktisch Dem Wunsch nach Jagdflugzeugen der SPD, in den letzten Wochen auf- freie Hand bei der Planung von Aus- mit dem Eisernen Kreuz versucht trat, zogen ihn die Gesprächspartner landseinsätzen gegeben, wenn nur das Hardthöhen-Staatssekretär Jörg Schön- zu einem vertraulichen Gespräch bei- Parlament zustimmt. Restriktionen für bohm mit Etat-Argumenten zu begeg- seite. ihr Militär können die Deutschen seit- nen: Der Haushaltsausschuß gebe kein Im Washingtoner Außenministerium dem nur noch historisch, nicht mehr mit Geld für moderne Raketen, ohne die wie in der New Yorker Uno-Zentrale Verweis auf die Verfassung begründen. Verteidigungsminister Rühe den Ein- ging es um die gleiche Frage: Blau- „Die Bremsen, die uns eingezogen satz „nicht verantworten“ könne. helm-Einsätze der Bundeswehr. waren, sind weg“, resümiert Außenmi- Offiziell gilt auch noch die Order Die Bonner Regierung habe gebe- nister . Es könnte also los- Helmut Kohls, deutsche Truppen hät- ten, verriet etwa Kofi Annan, Uno- gehen: Deutsche Soldaten in alle Welt. ten auf dem Balkan nichts zu suchen. Nach den Greueltaten der Nazi-Ar- Out of area meen wirkten deutsche Uniformen auf Vorgesehene Einsatzgebiete die Serben wie eine Provokation, der deutscher Blauhelme Deutsch- Konflikt werde eher angeheizt. land In den Augen der Verbündeten sind das Ausflüchte. Wo keine direkte Kon- REST-JUGOSLAWIEN frontation mit Serben drohe, könne die Bundeswehr getrost antreten. Montenegro Als ein Testfall gilt nun der Uno-Ein- Prisˇtina Kosovo satz in Mazedonien. Allen voran drän- gen die Amerikaner: Die Bundeswehr soll dort die US-Truppen ablösen oder GEORGIEN RUSSLAND Kumanovo Kaspisches zumindest verstärken, darunter Einhei- Tiflis Meer Tetovo Skopje ten ihrer früheren Berlin-Brigade. Das Angebot kann Bonn nur schwer Adria ASERBAIDSCHAN Tirana MAZEDONIEN ablehnen. FDP-Außenminister Klaus Berg-Karabach Kinkel setzt sich immerzu dafür ein, Stepanakert Baku Konflikte „im Vorfeld zu entschärfen“. ARME- Und um Grenzsicherung zur Kriegsvor- ALBANIEN NIEN Tessaloniki beugung geht es in Mazedonien, an den Nachi- Grenzen zu Serbien und Albanien. GRIECHENLAND Wegen der Nähe zu Serbien haben tschewan IRAN die Deutschen, so ein Rühe-Gehilfe, „ganz lange Zähne“. Statt auf den Bal- Untergeneralsekretär für Blauhelm- Noch wiegeln Außen- und Verteidi- kan wollen die Bonner ihre Soldaten Operationen, das heikle Thema erst gungsministerium in Bonn ab – aber mit lieber in den Kaukasus schicken. Mit nach der Bundestagswahl zur Sprache recht vagen Dementis: Es gebe „keine der Uno und der KSZE beraten sie zu bringen. Kanzler und Anfragen“. Doch intern wird schon im schon seit Wochen insgeheim über Mit- sein Außenminister Klaus Kinkel, scho- Detail über den Einsatz deutscher Sol- hilfe der Bundeswehr bei einer Frie- ben hohe Washingtoner Diplomaten daten gesprochen – nicht nur auf dem densmission in Berg-Karabach, dem nach, hätten Angst vor Wahlkampfde- Balkan, sondern auch im fernen Kauka- heißesten aller Krisengebiete der frühe- batten um Aktionen ihrer Soldaten fern sus. ren Sowjetunion. der Heimat gehabt. Die USA, Belgien und die Niederlan- Die Region liegt in Aserbaidschan, Die Wahl ist vorbei. Nun kann man de verlangten von den Deutschen be- es leben aber hauptsächlich Armenier wieder darüber reden. Uno wie Verbün- reits, mit eigenen Kampfflugzeugen dort. Bei Kämpfen zwischen aserbai- dete drängen immer energischer. In Ge- bei der Überwachung des Flugverbots dschanischen Truppen und Karabach- sprächen zwischen US-Verteidigungsmi- über Bosnien-Herzegowina (Operation Armeniern starben in den vergangenen nister William Perry und seinem deut- „Deny Flight“) zu helfen. Bisher fliegen sechs Jahren mehr als 20 000 Men- schen Kollegen Volker Rühe (CDU) deutsche Luftwaffensoldaten nur in schen.

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Nach einem Friedensschluß sollen Blauhelme in einen zehn Kilometer breiten Korridor einrücken, um die Kriegsparteien zu trennen. Der Einsatz würde, erstmals, von der KSZE-Regio- nalorganisation der Uno geführt. Wie solche Einsätze organisiert, kontrolliert und bezahlt werden, soll in vier Wochen auf einem Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs in Bu- dapest entschieden werden. Deutsch- land und die Niederlande haben dazu einen Vorschlag ausgearbeitet, dem sich mittlerweile alle Staaten der Euro- päischen Union angeschlossen haben. Hohen Militärs in Bonn gilt eine Kaukasus-Expedition als politisch viel- versprechend. Ein Kinkel-Vertrauter: „Da müssen wir hin.“ In Washington fragten Bonner Emis-

A. HAGEMEYER / TRANSPARENT säre vorsorglich nach, ob die westliche Uno-Panzerwagen an der Grenze zu Mazedonien: Ablösung für US-Soldaten? Vormacht Vorbehalte gegen ein Zu- sammenwirken von Deutschen und Russen hätte. Ein US-Diplomat: „Wir befürworten das sogar.“ Das Verteidigungsministerium wird zum Jahreswechsel ein „Führungszen- trum“ für Blauhelm-Einsätze unter Leitung eines Brigadegenerals einrich- ten. Ungeklärt ist, ob die Federfüh- „Sturmfahrten“ mit geballtem Feuer aus allen Rohren

rung bei reinen Blauhelm-Einsätzen die Hardthöhe oder, wie in den USA, das Außenministerium erhält. Trotz aller ungeklärten Fragen hat die Bundeswehr an der Unteroffiziers- schule im fränkischen Hammelburg mit Übungen für Blauhelm-Einsätze be-

DPA gonnen. Und an der Panzertruppen- Aserbaidschanische Truppen in Berg-Karabach (1993): Deutsche in die Schutzzone? schule in Munster gibt es Lehrvorfüh- rungen für „Sturmfahrten“ mit geball- tem Feuer aus allen Rohren von Leo- pard-2-Kampfpanzern und Marder- Schützenpanzern, mit denen Überfälle von „Banditen“ auf Hilfskonvois nie- dergekämpft werden sollen. Politischen Widerstand in Bonn müs- sen Rühe und Kinkel kaum fürchten. Die Sozialdemokraten, die einst die Verfassungsklage gegen Bonner Blau- helm-Einsätze erhoben, werden sich nicht unbedingt querlegen. SPD-Au- ßenpolitiker Voigt versprach seinen ungeduldigen Gastgebern in New York und Washington, die SPD-Fraktion sei für Vorschläge, Soldaten nach Maze- donien oder in den Kaukasus zu schik- ken, offen. „Wir prüfen jeden Einzelfall“, be- teuerte der Sozialdemokrat. „Hinter uns kann sich keiner mehr verstek- ken.“ Y AP US-Blauhelme im Bosnien-Einsatz*: „Mit ganz langen Zähnen“ * Auf dem italienischen Flugplatz Aviano.

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DEUTSCHLAND

Ihr Auftrag lautete, ein Schnittmuster steuerung nach der Leistungsfähig- Steuern für ein bezahlbares und verfassungsge- keit. rechtes Einkommensteuerrecht zu ent- Zu der Expertengruppe gehören ne- werfen. Dabei sollte die Kommission ben dem renommierten Bareis weitere auch einen Vorschlag für die Höhe des angesehene Wissenschaftler, aber auch Schwerer Existenzminimums ausarbeiten. Das Praktiker wie Klaus Offerhaus, Präsi- muß nach dem Spruch der Verfassungs- dent des Bundesfinanzhofs, oder Klaus richter vom 1. Januar 1996 für jeden Altehoefer, Oberfinanzpräsident in Brocken Bürger steuerfrei sein. Freiburg. Ihre Expertise ist kein fauler In den Wahlkämpfen dieses Jahres Kompromiß. Experten haben dem Finanzminister war die Gutachtergruppe für Waigel Konsequent setzten die Experten aufgeschrieben, wie die Einkom- sehr bequem. Weil die Herren streng um, was Steuerrechtler schon lange geheim arbeiteten, konnte der Christ- fordern: Radikale Schnitte bei Vergün- mensteuer umgebaut werden muß. soziale alle Fragen nach Details der un- stigungen schaffen Spielraum für allge- Die Vorschläge haben es in sich. vermeidlichen Steuerreform abwim- meine Steuersenkungen. meln. Erst wenn das Gutachten vorlie- Heute gilt im Steuerrecht ein von ge, könne er mehr sagen, war Waigels Abgaben verschonter Grundfreibetrag ie Koalitionspartner tagten und stereotype Aussage. von 5616 Mark im Jahr. Was darüber tagten, doch die wichtigste Re- Nur in zwei Punkten wagte er sich liegt, wird versteuert. Das bedeutet: Dform der nächsten Jahre spielte in weiter vor. Auch eine Stufenregelung, Vielen Bürgern bleibt nach Abzug der ihren Gesprächen keine Rolle: Die Steuern weniger übrig, als Einkommensteuer muß auf Druck des das Sozialamt einem Be- Verfassungsgerichts umgebaut wer- dürftigen überweist. den. Diese Praxis verletzt Ganz vage blieb Finanzminister nach dem Urteil der Ver- , als das heikle Thema fassungsrichter die grund- doch einmal angesprochen wurde. Auf gesetzlich geschützte Wür- eines aber legte sich der Bonner Kas- de des Menschen. Der senhalter am Donnerstag abend ver- Staat dürfe dem Bürger gangener Woche noch einmal aus- nicht erst das Erarbeitete drücklich fest: Die Verschonung des wegnehmen und ihm dann Existenzminimums vom Zugriff des gnadenhalber als Sozialhil- Fiskus dürfe „höchstens 15 Milliarden fe so viel zuteilen, daß ein Mark Steuerausfall“ verursachen. menschenwürdiges Leben Am Dienstag dieser Woche wird möglich sei. Waigel umlernen müssen. Dann über- Nach dem Urteil von reicht ihm Professor Hans-Peter Ba- 1992 mußte Waigel zu- reis, Ordinarius für betriebswirtschaft- nächst provisorisch regeln, liche Steuerlehre in Stuttgart-Hohen- daß keinem Bürger nach heim, ein Gutachten über die unaus- Abzug der Steuern weniger weichliche Steuerreform. als die Sozialhilfe blieb. Was die sieben Experten unter Ba- Bürger mit geringem, aber reis’ Leitung aufgeschrieben haben, über dem Existenzmini- bringt Waigel schwer in Bedrängnis. mum liegendem Einkom- Unter 40 Milliarden Steuerausfall, so men müssen nun auf Teile das Fazit der Kommission, ist die Re- ihres Verdienstes unver-

form nicht zu machen – es sei denn, B. BOSTELMANN / ARGUM hältnismäßig hohe Steuern der Finanzminister riskiere wissentlich Steuerreformer Waigel zahlen. einen Verfassungsbruch. Ein Ausfall von 40 Milliarden Mark Dieses unbefriedigende Bareis sagt auch, wo die vielen Milli- Provisorium, ordneten die arden an anderer Stelle einzusammeln die erst in den Jahren nach 1996 all- Karlsruher Verfassungshüter an, dürfe sind: bei Unternehmern und Arbeit- mählich die Bedingungen der Karlsru- nur bis Ende 1995 gelten. Bis dahin ha- nehmern gleichermaßen. Alte Tabus her Richter erfülle, sei mit dem be das Parlament ein neues Einkom- sollten fallen: Die Kommission will er- Grundgesetz zu vereinbaren. Und, so mensteuerrecht zu schaffen, ohne ver- reichen, daß das Krankengeld genauso Waigel: „Was sicher nicht machbar ist, fassungswidrige Ungerechtigkeiten. wie Kursgewinne bei der Aktienspeku- ist eine Entlastung auf einen Schlag Die Bareis-Kommission hat aufge- lation besteuert werden. über 40 Milliarden Mark.“ schrieben, wie das aussehen soll. Der Der Bareis-Plan bedeutet eine kräfti- Die Bareis-Kommission sammelt die- Grundfreibetrag wird danach auf 13 000 ge Steuersenkung für alle. Doch se Festlegungen ihres Auftraggebers Mark pro Jahr angehoben. Was darüber gleichzeitig verlieren fast alle Vergün- wieder ein. liegt, wird zunächst mit 22 Prozent ver- stigungen – einige Gruppen werden am Nach Prüfung der Rechtslage stehe steuert, also mit 3 Prozentpunkten mehr Ende schlechter dastehen als zuvor. fest, meinen die Experten, daß ein als im geltenden Recht ohne Übergangs- Der Finanzminister und sein Kanzler Stufenplan mit dem Grundgesetz nicht lösung. Dann steigt der Steuersatz linear können die sorgfältig erarbeiteten Re- vereinbar sei. Lösungen unterhalb ei- an, bis er bei 120 000 Mark Jahresver- formvorschläge nicht als weltfremde nes Steuerausfalls von 40 Milliarden dienst wie bisher 53 Prozent erreicht Spinnereien aus dem Elfenbeinturm seien verfassungswidrig. Alle vom Fi- (siehe Grafik Seite 21). praxisferner Wissenschaftler beiseite nanzminister erwogenen billigeren Mo- Zusammen bedeuten diese Vorschlä- schieben. Waigel selbst hat die „unab- delle würden bestimmte Bürger will- ge eine Steuersenkung von knapp 40 hängige Kommission“ im November kürlich belasten und verstießen damit Milliarden Mark bei Bund, Ländern und 1993 berufen. gegen das Verfassungsprinzip einer Be- Gemeinden. Auf soviel Geld kann der

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ge, könne deren Löhne und Sozialab- gaben steuerlich geltend machen, auch wenn es sich dabei um „Ausgaben für die private Lebensführung“ handle. Damit hat die Koalition das geltende „Dienstmädchenprivileg“, das auch jetzt schon unter sehr engen Bedingun- gen Steuernachlässe erlaubt, großzügig ausgeweitet. Die Bareis-Kommission will dagegen schon die bisherige Rege- lung ersatzlos streichen. Ohne Rücksicht auf den Bundes- kanzler, der viel von steuerbegünstig- ter Vereinsmeierei hält, durchforsteten Nicht mal die Kirchensteuer ist den Experten heilig

die Gutachter auch das Gemeinnützig- keitsrecht. Viel wollen sie davon nicht

K. ANDREWS / DIAGONAL mehr übriglassen. Spenden an Karne- Reformopfer Rentner: Nicht mehr brutto für netto valsgruppen oder Sportvereine sollen die Steuern nicht mehr wie heute ver- Staat in Zeiten leerer Kassen auf keinen sobald beim Verkauf ein Kursgewinn kürzen, schrieben die Gutachter in ih- Fall verzichten. realisiert wird. ren in Stuttgart und München erarbei- Das wissen auch Bareis und seine Wenn die Bundesregierung die Vor- teten Vorentwurf. Kollegen. Sie wollen den Finanzmini- schläge ihrer Expertengruppe ernst Nicht mal die Kirchensteuer, bisher stern aus Bund und Ländern deshalb nimmt, wird sie auch an dem wenigen, in voller Höhe absetzbar, ist den Ba- neue Finanzierungsquellen erschließen was die CDU-CSU/FDP-Koalition bis- reis-Experten noch heilig. Die Religi- – und die haben es in sich. her vereinbart hat, Abstriche machen onsabgabe soll steuerlich wie eine Weil das Existenzminimum künftig müssen: Das sogenannte Dienstmäd- Spende behandelt werden. Dann wür- steuerfrei sei, halten die Experten es für chenprivileg ist jedenfalls mit Bareis de sie nur bis zur Höhe von fünf Pro- richtig, im Gegenzug alle darüber hin- nicht zu machen. zent des Einkommens angerechnet. ausgehenden „Lohnersatzleistungen“ Stundenlang hatten die Koalitionspo- Folge: Wer reichlich an wohltätige und Altersgelder ganz normal wie ande- litiker in der vergangenen Woche ge- Vereine gibt und sein Spendenkontin- re Einkommen zu besteuern. Das heißt: rungen. Am Ende verkündete FDP- gent ganz oder teilweise ausgeschöpft Rente, Krankengeld, Arbeitslosengeld Unterhändler hat, müßte die Kirchensteuer aus ver- und -hilfe, das alles würde künftig nicht stolz, der private Haushalt solle als Ar- steuertem Verdienst bezahlen. mehr brutto für netto überwiesen. Auch beitsstelle gelten. Wer künftig einen Das Reform-Kompendium des Pro- lukrative Steuernachlässe auf den Ver- Gärtner oder eine Putzhilfe beschäfti- fessors Bareis ist für die Koalition ein dienst von Sonntags- oder Nachtarbeit sollen fallen. Das alles würde Milliarden bringen – Umbau im Steuerrecht wenn es denn politisch durchsetzbar ist. Belastungszonen beim Einkommensteuertarif; Beispiel für Ledige Der Widerstand der Gewerkschaften wäre jetzt schon sicher. Ab 1996 soll es nur noch drei Zonen geben: Den Unternehmern gehen die Exper- Grenzsteuer- Die Nullzone dehnt sich aus; erst über dem neu festgelegten Existenzminimum von ten ebenso an die Konten. Steuerver- belastung in Prozent 13 000 Mark werden Steuern erhoben. günstigungen für besonders erwünschte Zone 2 entfällt. Die Progressionszone ver- Investitionen sollen ab 1996 der Vergan- Der derzeit gültige 4 50 schiebt sich und beginnt mit 22 Prozent. genheit angehören. Die Paragraphen 7 a Einkommensteuer- Zone 4 bleibt unverändert. Obere bis k des Einkommensteuergesetzes sol- tarif 1990 besteht Proportionalzone beginnt bei 120 000 len ersatzlos fallen. Das wäre das Ende 40 aus vier Tarifzonen aller hohen Sonderabschreibungen für Mark, jede mehr ver- 3 diente Mark wird mit Eigenheime und Mietshäuser, Fabrik- Progressionszone gebäude, Umwelt-Investitionen, Bau- 30 gleichbleibend 53 mit geradlinig anstei- Prozent versteuert denkmäler oder Häuser in Sanierungs- gendem Steuersatz gebieten. 20 Auch die bei Wohlhabenden beson- ders beliebten „Veräußerungsgewinne“ 2 Untere Proportionalzone (entfällt ab 1996) bis 8153 Mark mit dem gleichbleibenden Steuersatz von 19 Prozent wollen die Gutachter nicht verschonen. 10 Verkauft ein gutverdienender Ange- 1 Nullzone bisher bis zum Grundfreibetrag von 5616 Mark stellter oder ein Freiberufler ein Haus für viele tausend Mark mehr, als er es 0 erstanden hat, sind das nach dem Kon- 0 10 20 30 40 50 60 70 80 90 100 110 120 130 140 zept von Bareis zu versteuernde Einnah- zu versteuerndes Jahreseinkommen in tausend Mark men. Das gleiche gilt für Aktienpakete,

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schwerer Brocken. Doch auch der Op- später die Grünen ausgegrenzt. position wird es Kopfschmerzen berei- Suchen oder meiden? „Nun machen wir dasselbe mit der ten. Wegen der SPD-Mehrheit in der PDS.“ Länderkammer ist gegen die Genossen Aus dem Osten widersprach die kein Steuergesetz zu ändern. sächsische Pädagogin Renate Jä- Natürlich wird der Bareis-Vorschlag ger dem scharfen Kurs des Vorsit- nicht pur den Weg ins Gesetzblatt fin- zenden: Seit langem schon bleibe den. Aber die Sozialdemokraten kön- In der SPD gibt es Streit über den Umgang der SPD und auch der CDU in den mit der PDS. nen auch nicht jeden Vorschlag ableh- SPD-WÄHLER Kommunen „gar nichts anderes nen, der ihnen nicht paßt. Die Drohung, übrig“, als mit der PDS zusam- Die SPD sollte jeden Kontakt die ganze Reform notfalls zu blockieren zur PDS vermeiden. 19% menzuarbeiten. Jäger: „Das läuft und alles beim alten zu lassen, verfängt auch ganz vernünftig.“ nämlich nicht. Die SPD sollte sich mit der PDS Die sachsen-anhaltinische Pa- Der geltende Steuertarif, so hat das politisch auseinandersetzen, aber storin Christel Hanewinckel nahm Verfassungsgericht entschieden, gilt nur nicht mit ihr zusammenarbeiten. 65% ihren Ministerpräsidenten Rein- bis zum 31. Dezember 1995. Bis dahin hard Höppner und den Schweriner Die SPD sollte versuchen, mit hat der Gesetzgeber Zeit, verfassungs- der PDS zusammenzuarbeiten. 14% SPD-Chef Harald Ringstorff ge- mäßige Regeln zu erlassen. Schafft er gen öffentliche Schelte und Bevor- das nicht, drohen die Karlsruher Rich- mundung durch die Bonner SPD- Ist die PDS Ihrer Meinung nach eine demo- ter, dann ist das alte Recht vom ersten Zentrale in Schutz: Im Osten seien kratische Partei, die – wie die anderen Parla- Kontakte zur PDS „eine Normali- Tage des Jahres 1996 an nichtig. mentsparteien auch – grundsätzlich Regie- Das aber wäre die Staatskrise. Dann rungsverantwortung übernehmen könnte? tät“. Wenn man Wähler gewinnen dürfte jeder Bürger ungestraft das Steu- wolle, müsse man reden. erzahlen einstellen. Und einen solchen WESTDEUTSCHE OSTDEUTSCHE Von wegen reden. „Die PDS Notstand würde die staatstragende Op- ja 18 30 muß auf Dauer verschwinden, das position kaum riskieren. Y ist unser Ziel“, assistierte die rote nein 77 65 Südhessin und SPD-Präsidin Hei- demarie Wieczorek-Zeul dem Emnid-Umfrage für den SPIEGEL; Angaben in Prozent; an 100 SPD fehlende Prozent: keine Angabe; 1500 Befragte, 31.10. bis 2.11.1994 Vorsitzenden. Auch manche Ostdeutsche se- hen das so. Der ehemalige DDR- das richtige Verhältnis zur PDS die Sozi- Bürgerrechtler Stephan Hilsberg warnte An die aldemokraten. Vor der Fraktion legte die Parteifreunde vor naiver Linksbün- sich Scharping härter als je zuvor auf ei- delei: „Die PDS will an die Grenzen des nen kompromißlosen Abgrenzungskurs demokratischen Systems.“ Grenzen fest – und fand anders als in der Partei- Ein bißchen Zoff, so scheint es, stählt spitze überwiegend Zustimmung. den Vormann. Ohne in der Fraktion Parteichef Scharping versucht, Gemoser gibt es jedoch auch unter Namen zu nennen, ging Scharping mit seine Fraktion auf Abgrenzung zur Parlamentariern. Für die SPD habe es sich noch nie ausgezahlt, mahnte der PDS zu verpflichten – doch Kölner Bundestagsabgeordnete Konrad „Unerklärlich, was viele Genossen machen nicht mit. Gilges, „wenn sie Identitätsgewinnung an der PDS durch Abgrenzung vom politischen Gegner“ betreibe. links sein soll“ er Vorsitzende machte den Genos- Jetzt sei die Partei wieder dabei, kriti- sen eine Rechnung auf: „Stellt sierte der Altlinke, historische Fehler zu jenen Promis ins Gericht, die in den ver- Deuch doch mal vor“, warb Rudolf wiederholen: 1968 habe sie die Apo und gangenen Wochen aktiv oder verbal mit Scharping, „wie die Situation in der PDS geflirtet hatten: so mit den Ost- Deutschland aussähe, wenn die Sozial- genossen Ringstorff und Höppner, die demokraten die 4,4 Prozent Stimmen in Schwerin und Magdeburg Gespräche der PDS bekommen hätten.“ mit der PDS auf Dauer zu Routinever- Kanzler wäre Scharping wohl auch so anstaltungen erklärt haben; so mit Man- nicht geworden. Aber ein schöner fred Stolpe, der im Osten die PDS vor- Wahlsieg für den Kohl-Herausforderer erst sogar „parlamentarisch erhalten“ wäre es gleichwohl gewesen. will, weil er in den meisten neuen Län- Die Erkenntnis, die der neue Opposi- dern weder grüne noch liberale Koaliti- tionsführer den Abgeordneten bei der onspartner sieht. ersten Fraktionsklausur am Donnerstag Auch Scharpings Mitstreiter Gerhard vergangener Woche vermitteln wollte, Schröder und wurden hat für Scharping ein klares Ziel: Die – indirekt – gerüffelt. Schröder, weil er SED-Nachfolgepartei muß auf Null ge- über allzuviel Bonner „Einmischung“ in bracht werden. Ostdeutschland genörgelt hatte, Lafon- Doch viele Genossen rechnen anders. taine, weil er die PDS wie selbstver- Der Traum von der linken Mehrheit ständlich zusammen mit den Grünen der könnte in Erfüllung gehen, so kalkulie- linken Gegenmacht zu Union und FDP ren sie, wenn SPD und PDS paktieren. zurechnet. Eine neue Linke mit der Konkursmasse „Völlig unerklärlich“ sei ihm, so

der SED-Diktatur? M. DARCHINGER Scharping vor der Fraktion, „was an der Schärfer als vor und unmittelbar nach SPD-Präsidin Wieczorek-Zeul PDS links sein soll“. Der Versuch, die der Oktoberwahl spaltet der Streit um „Die PDS muß verschwinden“ SED-Nachfolgerin „in einen linken

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Block“ einzubinden, erscheine ihm „absurd und fremd“. Er rate dringend von dem Versuch ab, „die Sozialdemo- kraten, die es in der PDS geben soll, zur „Wir werden Bautzen Veränderung der Partei aufzufordern“. Ob denn, fragte der Vorsitzende, viel- leicht jemand ernsthaft an einer zweiten nicht vergessen“ SPD interessiert sei? Selbstsicher prophezeite er, die Mehr- SPD-Vize Wolfgang Thierse über den parteiinternen Streit um die PDS heit stimme seinem Anti-PDS-Kurs zu: „Wenn in der SPD jemals über so etwas streitig abgestimmt werden müßte, dann SPIEGEL: Herr Thierse, schlittert die auf festnageln wollen, daß wir es mit sind 80 Prozent die untere Grenze für SPD in einen internen Glaubenskrieg den Kommunisten treiben. Doch an ei- meine Linie.“ über die Frage, wie sie es künftig hal- nem streitigen Gespräch kommen wir Gut geschätzt. Tatsächlich, so zeigen ten soll mit der PDS? nicht vorbei. Die Hauptlast der Ausein- Emnid-Umfragen aus der vergangenen Thierse: Wir führen eine notwendige andersetzung mit der PDS wird dabei Woche, hält die große Mehrheit der Debatte, und die Fronten verlaufen von den ostdeutschen Sozialdemokra- SPD-Wähler die Truppe von Gregor kreuz und quer durch die Reihen der ten getragen, das ist geradezu unsere hi- Gysi für undemokratisch und will keine Partei. Wir müssen ohne Hysterie über storische Aufgabe. Die Art und Weise, Zusammenarbeit mit den SED-Erben unser Verhalten zur PDS diskutieren wie wir den Konflikt bewältigen, wird (siehe Grafik). und die offensive politische Auseinan- darüber entscheiden, ob die Menschen Dennoch ist Scharpings scharfer Kurs dersetzung pflegen. Tabuisierung, Aus- in der DDR tatsächlich demokratiefähig riskant, weil er einen Dauerkonflikt mit grenzung, Kontaktsperre sind schäd- werden. Schröder und Lafontaine bringen könn- lich. SPIEGEL: Für Oskar Lafontaine, der ne- te. In der PDS-Frage ben Ihnen im Parteivorstand sitzt, ist trennen sich auch die die PDS Bestandteil des linken Spek- Wege nachdenklicher trums. Genossen wie Erhard Thierse: Ich ärgere mich über die Eppler und Selbstverständlichkeit, mit der die PDS von denen der Kolle- als linke Partei bezeichnet wird. Für gen mich ist links immer zentral mit dem und Wolfgang Thierse, Begriff der Emanzipation verbunden. der im SPIEGEL-In- Wovon will die PDS eigentlich wen terview davor warnt, emanzipieren? Wo ist ihr politischer „daß wir der Illusion Befreiungsauftrag? Die PDS bedient nachhängen, wir könn- sich einer Phraseologie, die aus der Tra- ten zusammen mit den dition der Arbeiterbewegung stammt. Postkommunisten lin- Aber hinsichtlich der Interessen, die sie ke Mehrheiten erzie- vertritt, ist sie eher eine strukturkonser- len“. vative Partei. Sie ist Interessenvertrete- Repräsentanten der rin derjenigen, die sich als Benachteilig- nordrhein-westfäli- te des deutschen Einigungsprozesses schen SPD wie deren empfinden, und das sind vor allem die Chef Johannes Rau Funktionsträger des DDR-Systems. und sein Staatskanzlei- SPIEGEL: Der Schweriner SPD-Chef chef Wolfgang Cle- Harald Ringstorff sieht Ähnlichkeiten ment stehen zwar vor- im Programm von SPD und PDS, etwa erst zu Scharping. Sie in der Wohnungs- und Sozialpolitik.

verlangen strenge Ab- K. KARWASZ Thierse: Die PDS hat zu einem guten grenzung von der PDS PDS-Gegner Thierse: „Welcher Haß, welcher Terror“ Teil ihr Programm von der SPD und aus Sorge, eine neue teilweise auch von den Grünen abge- Linksfrontkampagne der Christdemo- SPIEGEL: Ihr Parteivorsitzender Rudolf schrieben. Die Versatzstücke hat sie kraten könne ihnen den Landtagswahl- Scharping nennt die PDS einen „Mist- dann populistisch überhöht, mit einem kampf im Frühjahr verhageln. haufen“, und er rüffelt alle Sozialdemo- utopischen sozialistischen Überbau und Doch die Generaldebatte steht noch kraten, die auch nur für eine punktuelle einer Gefühligkeit versehen, die an die aus. Spätestens zum Jahresbeginn soll Zusammenarbeit mit den SED-Erben DDR-Ideologie anknüpft. das Thema Nummer eins auf die Tages- plädieren. SPIEGEL: Steht sie außerhalb des „Ver- ordnung einer Präsidiumsklausur ge- Thierse: Auch ich äußere scharfe Kritik fassungsbogens“, wie Scharping sagt? rückt werden. Dann muß Scharping sein an der PDS. Aber jede Ausgrenzungs- Thierse: In der PDS sind zu 90 Prozent Verhältnis zu Ost-Genossen wie Höpp- strategie nutzt der Gysi-Partei, das hat frühere SED-Mitglieder versammelt. ner oder Ringstorff klären, die auf Ei- dieser Wahlkampf gezeigt. Sie spielt die Die haben die deutsche Einigung zu- genständigkeit im Umgang mit der PDS Rolle der verfolgten Unschuld, und die mindest nicht gewollt. Natürlich gibt es beharren. will ich ihr nicht zugestehen. in dieser Partei auch jüngere Leute, die Daran, daß die Freunde in Ost- SPIEGEL: Das will kein führender Sozi- unsere parlamentarische Demokratie deutschland doch eine Kooperation mit aldemokrat, gleichwohl ist eine Strate- bejahen. Doch das sind Schaumkronen den Postsozialisten anzetteln könnten, gie für den Umgang mit der PDS nicht auf einem unruhigen Meer. auch wenn sie sich vorerst auf andere erkennbar. Einige wollen anbandeln, SPIEGEL: Was drängt denn führende Koalitionen einlassen, mag Scharping andere sie bekriegen. Was ist richtig? ostdeutsche Sozialdemokraten ausge- gar nicht denken: „Das wird nicht pas- Thierse: Wir sind in die Defensive gera- rechnet jetzt, in Gesprächen mit PDS- sieren. Das ist einfach so.“ ten, seit uns die Christdemokraten dar- Politikern Nettigkeiten auszutauschen?

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Thierse: Die PDS ist ein Symptom der eine dieser folgenlosen Entschuldigun- gen SED-Mitgliedern durch inquisitori- schweren Übergangskrise, in der Ost- gen. sche Befragungen den Beitritt versperrt. deutschland steckt. Ostdeutsche Sozial- SPIEGEL: Auch die Grünen wurden jah- Thierse: Mit diesem sektiererischen demokraten, zumal Ministerpräsiden- relang von den etablierten Parteien wie Verhalten in der SPD muß endlich ten, müssen mit dieser Realität zu Ran- Parias behandelt. Weisen Sie diese Rolle Schluß sein. Eine Partei ist nicht dazu de kommen. Es geht ja weder bei Man- jetzt nicht den Postkommunisten zu? da, Reinheitsbedürfnisse einzelner zu fred Stolpe noch bei Reinhard Höppner Thierse: Von wegen Parias: Diese umge- befriedigen. Sie muß mit widersprüchli- um Koalitionen, sondern um den Modus wandelte SED ist sehr gut aus ihrer Ver- chen Biographien leben. Ich appelliere der politischen Auseinandersetzung. gangenheit herausgekommen. Siewird in an die ostdeutschen Mitglieder: Springt Und das läuft nicht ohne Kommunikati- den Medien fast bevorzugt behandelt, sie über euren eigenen Schatten, seid nicht on. Wir dürfen aber nicht den Eindruck ist dank des Wahlgesetzes begünstigt in kleinlich. Wir müssen uns endlich all je- erwecken, daß wir der Illusion nachhän- den gelangt, was den Grünen nen SED-Mitgliedern öffnen, die keine gen, wir könnten zusammen mit den so nie gelang. Die PDS stellt eine finan- Schuld auf sich geladen haben und die Postkommunisten in Deutschland linke zielle, organisatorische und psychologi- sich von ihren sozialistischen Ansprü- Mehrheiten erzielen. sche Macht dar, das wollen wir mal nicht chen nicht einfach verabschieden wol- SPIEGEL: SPD-Wessis wie Gerhard übersehen. Ich weiß doch, was hier bei len. Schröder denken sehr wohl in diese mir im Wahlkreis los ist. SPIEGEL: Das wird die rigoristische Richtung. SPIEGEL: Sie meinen die rüden Attacken Pfarrerfraktion in der Ost-SPD nicht Thierse: Die betrachten die PDS eher gegen Sie im Bundestagswahlkampf? gern hören. politisch-akademisch unter dem Ge- Thierse: Ich will nur mal daran erinnern, Thierse: Wer aus der SPD etwas Klei- sichtspunkt der Machtarithmetik. Für welcher Haß mir entgegengeschlagen ist nes, Feines, Reines machen will, hat ein unpolitisches Verhält- nis zu einer politischen Bewegung. Ich bin im- mer noch der Über- zeugung, daß durch den Zusammenbruch des Kommunismus be- stimmte sozialistische Ziele nicht obsolet ge- worden sind. Für die wirklichen Linken gibt es auf absehbare Zeit nur eine sozialdemo- kratische Perspektive, alles andere ist illusio- när, ist folgenlos, ist Selbstbefriedigung. SPIEGEL: Auch die Be- fürworter einer enge- ren Zusammenarbeit mit der PDS wollen die SED-Nachfolgepartei Im linken Lager Die Zeit austrocknen. „Entzau- berung durch Einbin- ostdeutsche Sozialdemokraten aber ist von PDS-Anhängern, welche Gemein- dung“ nennt Ministerpräsident Höppner das kein Seminarthema. Für uns ist das heiten ich zu ertragen hatte, welcher dieses Modell. Verhältnis zur PDS immer eine existen- psychische Druck, welcher Terror aus- Thierse: Mir hat das Argument noch nie tielle Frage, weil wir unsere Biogra- geübt worden ist auf Leute, die sich öf- eingeleuchtet, daß ich eine Partei da- phien mitschleppen. Kohl und auch fentlich zu mir bekannt haben. Manch- durch schädige und kleiner mache, in- Schröder sehen alles unter dem Aspekt mal habe ich mich in den letzten Mona- dem ich sie zu einer Koalition einlade. des Machtkalküls. Kohl betreibt eine ten zurückversetzt gefühlt in die Zeiten Wir werden nur an Einfluß gewinnen, Anti-PDS-Kampagne, um der SPD zu der DDR, das ist ein sehr ungutes Ge- wenn wir eine kulturelle Strategie ent- schaden. Schröder wiederum will Kohl fühl. wickeln, um jenes Milieu zu sprengen, in die Knie zwingen und die Bonner Re- SPIEGEL: Ist Ihr Urteil über die PDS das die PDS trägt. gierung handlungsunfähig machen. jetzt nicht ein wenig emotional? SPIEGEL: Wie soll das gehen? SPIEGEL: Ist das nicht legitim? Thierse: Das kann schon sein. In Wahr- Thierse: Ich muß zunächst gewachsene Thierse: Aus seiner Sicht durchaus. heit bin ich dafür, die Anhänger und Identitäten respektieren. Wenn ich die Aber diese Logik gefährdet den Grund- Wähler der PDS zu gewinnen, indem PDS-Wähler nur beschimpfe, treibe ich konsens in der Partei. Jede Kooperation wir ein Angebot von realisierbarer Poli- sie immer weiter zurück in ihre wütende mit der PDS muß zu einer geradezu dra- tik auch für ihre Überzeugungen und In- oder beschönigende Vergangenheitsfi- matischen Zerreißprobe für die SPD teressen präsentieren. Innerhalb der xierung. Wir müssen in Deutschland ein selbst werden, in ihrem Selbstverständ- SED gab es ja nicht nur Karrieristen und Klima schaffen, das von den Ostdeut- nis, in ihrer Mitgliedschaft. Die Erfah- Leute, die brutal Macht ausgeübt ha- schen nicht verlangt, alles für falsch zu rung mit den Stalinisten ist eine Ge- ben, sondern auch viele, die wirklich so- halten, was bisher ihr Leben ausge- schichte der Verletzungen, die in der zialistischen Idealen folgen wollten. Zu macht hat. Und wenn die Sozialdemo- SPD präsent sind. Wir Sozialdemokra- denen sage ich: Kommt zu uns, wir sind kraten dabei nicht vorangehen, wird das ten werden Bautzen nicht vergessen. eure politische Heimat. Grundgefühl der Entwertung des eige- Und wenn PDS-Chef Bisky sagt: „Ja, SPIEGEL: Bislang haben doch gerade nen Lebens die Menschen zur PDS trei- nett war das nicht“, dann ist das wieder ostdeutsche SPD-Ortsvereine ehemali- ben. Y

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wurde oder das Urteil gegen die ande- Strafjustiz ren Mitglieder des Nationalen Verteidi- gungsrates, mit denen zusammen er an- geklagt gewesen war – dann erkannte die Staatsanwaltschaft, „daß der Ange- „Enttäuschung, klagte die Augen zeitweise zwar fast vollständig geschlossen hatte, ersichtlich aber situationsbedingt jederzeit hell- wach war“. ja sogar Bitternis“ Falls das Gericht das Verfahren nach den gutachterlichen Äußerungen Mey- Gisela Friedrichsen zum Ende des Prozesses gegen Erich Mielke ers einzustellen beabsichtige, so die Staatsanwaltschaft am 27. Oktober, be- antrage sie eine weitere Untersuchung ein Großvater rezitierte mit 89 Im Juni 1994 sprach Meyer noch von des Angeklagten durch den Mainzer Schillers „Glocke“ noch immer einem „früher möglicherweise noch vor- Professor Johann Glatzel: „ . . . einen Mfehlerfrei. Unterhielt man sich herrschenden Nichtwollen“ Mielkes, u. a. durch sein Lehrbuch ,Forensische mit ihm, schlief er ein. Vor die Tür das durch die belastende Lebenssituati- Psychiatrie‘ ausgewiesenen erfahrenen konnte man ihn allein nicht mehr gehen on inzwischen zu einem „überwiegen- forensischen Psychiater mit einer derje- lassen, denn selbst in vertrautester Um- den Nichtkönnen“ geworden sei. Doch nigen des Sachverständigen Meyer über- gebung fehlte ihm die Orientierung. nachdem Meyer den Angeklagten in der legenen Sachkunde . . .“ Eine groteske- Fast jeder erinnert sich an alte, sehr Hauptverhandlung beobachtet hatte, re Begründung für die Notwendigkeit alte Menschen und ihre Wunderlichkei- verstärkten sich seine negativen Befun- eines weiteren Sachverständigen gab es ten. Fast jeder hat erlebt, wie sie anders de noch. Aus ärztlicher Sicht gilt Mielke noch nicht. wurden im Zuge des unerbittlichen kör- als verhandlungsunfähig. Von einem Mangel an Respekt vor perlichen und geistigen Verfalls, rätsel- Die Staatsanwaltschaft leistete erbit- den Opfern Mielkes und deren Hinter- hafter, widersprüchlicher, fremder. terten Widerstand gegen die gebotene bliebenen ist zu sprechen, wenn ihnen, Was wissen wir Jüngeren über Men- Einstellung des Verfahrens, wie sie von nur damit die Mäuler gestopft sind, ein schen jenseits der Achtzig? Was wissen der Verteidigung beantragt worden war. verhandlungsunfähiger Greis hingewor- wir über Empfindungen am Ende eines Sie hat einen Jagdeifer an den Tag ge- fen wird; wenn wieder eine Posse, eine Lebens, was über die Bilder, die im legt, den der Respekt vor den Opfern Farce voller Bizarrerie durchgezogen Greisenkopf umherirren? Am eigenen und deren Hinterbliebenen nicht for- worden wäre. Leib hat man erlebt, Kind zu sein. In dert. Die Süddeutsche Zeitung hat zu Recht Gleichaltrige kann man sich hineinver- Wenn Mielke einschlief, zum Beispiel kommentiert: „Zwischen Staatsanwalt- setzen. Wenig Ältere lassen sich verglei- während die Anklageschrift verlesen schaft, Verteidigung und dem weithin chen. Sehr alte Menschen dagegen ent- überfordert wirkenden ziehen sich uns und unseren Urteilen. Vorsitzenden Richter Erich Mielke, 86, ist seit seiner Inhaf- Hansgeorg Bräutigam tierung 1989 zwölfmal begutachtet wor- wäre ein peinlicher den. In sich hineinschauen ließ er kei- Kleinkrieg entbrannt: nen Psychologen und keinen Psychiater, nicht wie bei Erich Ho- was immer wieder zu Spekulationen An- necker um das Wachs- laß gab. Simuliert er, der alte Fuchs, tum eines Krebsge- dieser konspirationsgeübte Meister der schwürs, sondern dies- Verstellung? mal wahrscheinlich um Übersehen wurde dabei, daß der einst den Schrumpfungspro- allmächtige Geheimdienst-Chef gewiß zeß menschlicher Hirn- am wenigsten damit rechnete, je in die leistungen.“ Hand der Gegenseite zu fallen, also Richter Bräutigam auch nicht trainiert war auf Verstellung hat die Einstellung des und Simulation in der Haft und vor Ge- Verfahrens durch Urteil richt. über weite Strecken Gerade die erfahrensten Sachverstän- überzeugend und unge- digen wiesen diesen Verdacht von jeher wöhnlich eindringlich zurück. Ihre Diagnosen und Prognosen begründet, mit Ernst stimmten weitgehend überein. 1990 be- und Würde. Er wandte reits wurde festgestellt, daß von Mielke sich namens des Ge- im Gerichtssaal kein sachdienlicher Bei- richts an die Angehöri- trag zu Anklagevorwürfen mehr zu er- gen der an der Mauer warten sei. Erschossenen und von Sein letzter Gutachter, der Berliner Minen Zerfetzten im Arzt für Neurologie und Psychiatrie Ed- Bewußtsein ihrer „Ent- ward Meyer, hat ausführlich beschrie- täuschung, ja sogar Bit- ben, was von dem Mann, der einst der ternis“. Er sprach von gefürchtete und gehaßte Mielke war, der Gerechtigkeit, die, noch vorhanden ist. Niemand weiß, ob wenn überhaupt, ohne das alles zutrifft, es sind Beobachtungen den Rechtsstaat nicht zu und Beurteilungen anhand von Krite- erlangen sei.

rien, die aus den Erfahrungen mit we- AP Er machte Mielke sentlich Jüngeren entwickelt wurden. Verhandlungsunfähiger Mielke: „Nicht um jeden Preis“ verantwortlich für die

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„Tötung von Menschen, die nichts an- Die Stasi-Liste, verfertigt in deres wollten, als die DDR zu verlas- der Operativgruppe der MfS- sen“. Hauptabteilung XX (zuständig Er versuchte, den Opfern zu erklä- für die „Bearbeitung“ Have- ren, daß nach den Regeln des Rechts- manns), ist vor allem für einen staats aber „nicht um jeden Preis“ Mann unangenehm, der damals verurteilt werden dürfe, wenn ein Robert Havemann als Rechts- „alter, gebrochener, schwer depressiver beistand zu Diensten war, Mann“, eine „willenlose, handlungsun- für den Ost-Berliner Anwalt fähige Figur“ vor Gericht zum Objekt Gregor Gysi. Hinter Gysis Na- werde. Es war fast eine Grabrede auf men hat die Stasi eingetragen: den noch Anwesenden, der teilnahms- „IM“ – das Stasi-interne Kürzel los vor sich hin sah. für „Inoffizieller Mitarbeiter“. Doch Bräutigam wäre nicht Bräuti- Diese Zuordnung bestreitet gam, wenn er nicht auch diesen Anlaß der PDS-Politiker vehement. benutzt hätte, um ein bißchen ausfal- Die Liste beweise gar nichts, da lend zu werden. Im August 1992 hatte er weder zu dieser noch zu einer der SPIEGEL (36/1992) ein Gespräch anderen Zeit als IM registriert mit Mielke veröffentlicht, in dem dieser gewesen sei. Er schwöre „alle sich bereitwillig und ausführlich zu äu- Eide seines Lebens“, so Gysi ßern schien. gegenüber dem SPIEGEL, daß Richter Bräutigam am vergangenen es zwischen ihm und dem MfS Donnerstag: „Das SPIEGEL-Interview nie eine konspirative Zusam- aus dem Jahr 1992 weist den Angeklag- menarbeit gegeben habe. Doch ten nicht zwingend als verhandlungsfä- die Liste macht Sinn im Zusam- hig aus. Die Verteidigung bestreitet die menhang mit anderen und neu Authentizität des gedruckten Textes. aufgefundenen Dokumenten.

Das ist auch nicht verwunderlich ange- Erneut belastend für Gysi A. SCHOELZEL sichts der verzerrenden Berichterstat- sind Vorgänge aus den Jahren PDS-Idol Gysi: „Soll ich Havemann animieren?“ tung des Blattes in diesem Fall.“ 1979 und 1980, welche die Ha- Doch der endgültige Text des SPIE- vemann-Witwe Katja bei der weiteren bei den Akten nach 1980, in denen Be- GEL-Gesprächs war von dem Mielke- Recherche in den Stasi-Akten ihres 1982 richte über seine Mandanten unter dem Verteidiger Stefan König mit allerletz- verstorbenen Mannes fand. Dabei geht Decknamen „Notar“ entgegengenom- ten Änderungen „für Herrn Mielke in es um die Zusammenarbeit des Zuträ- men wurden, dagegen, daß er tatsäch- dessen Namen und Auftrag“ autorisiert gers, Deckname „Gregor“, mit der lich der Stasi berichtet habe. worden. Y Operativgruppe der Hauptabteilung Doch dafür, daß die Berichte von XX. In einem MfS-Beschluß vom Sep- „Gregor“ von Gregor Gysi stammen, tember 1980 wird „Gregor“ eindeutig spricht eine Einschätzung über den An- Stasi Gregor Gysi zugeordnet. Ein „Gregor“- walt, die Ende 1980 Major Günter Lohr Bericht im selben Monat handelt davon, von der Hauptabteilung XX nieder- wie der Anwalt Gysi mit seinem Man- schrieb. Darin heißt es über Anwalt Gy- danten Havemann umgehen sollte und si, er habe schon in der Anwerbungs- Gregors umgegangen ist. phase „die Notwendigkeit einer inoffi- Unbestritten ist auch von Gysi, daß ziellen Zusammenarbeit und Einhaltung die Stasi den Anwalt unter dem vorläufi- der Konspiration“ erkannt: „Dies be- Berichte gen Decknamen „Gregor“ geführt hat. wies er durch die Übergabe operativ Gysi verwahrt sich jedoch, ebenso wie auswertbarer Informationen, seine Ein- Die Indizien für eine Zusammenar- beit zwischen Gregor Gysi und der Stasi mehren sich. Genossen gehen auf Distanz.

ie Liste ist lang. Penibel sind dar- in 175 Personen aufgeführt, die Dden Regimekritiker Robert Have- mann innerhalb fünf Monaten in Grün- heide bei Berlin besucht haben. Das Dokument, datiert vom 15. Ok- tober 1980, enthält nicht nur genaue Angaben, wer wie oft und warum den Regimekritiker angelaufen hat – hinter den Namen steht auch jeweils akkurat handschriftlich vermerkt, in welcher Beziehung der Betreffende zum Mi- nisterium für Staatssicherheit (MfS) stand.

* Nach Aufhebung des Hausarrests im Mai 1979 SCHUMANN vor ihrem Haus in Grünheide bei Berlin. SED-Kritiker Havemann, Ehefrau*: „Ich wollte ein Schriftstück haben“

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Drehbuchmäßig geht es wei- ter in den Akten: Gysi, so leg- te unter dem Datum des 21. November ein Maßnahmeplan der Hauptabteilung XX fest, solle Havemann erneut aufsu- chen, um ihm die Antwort der Staatsanwaltschaft „nochmals mündlich in der Fassung des beigefügten Vermerkes vorzu- tragen“. Sollte Havemann hartnäckig bleiben, dann solle der Anwalt ihm „diesen Ver- merk aushändigen, um ihm die Möglichkeit zu geben, sich ei- ne Abschrift zu fertigen“. Damit, so hoffte die Stasi, sei der nörgelige Regimekriti- ker ruhigzustellen. Er hätte MfS-Liste der Havemann-Besucher (Ausriß): Wunschdenken der Stasi? zwar etwas Schriftliches gese- hen, aber keinerlei Beweis- satzbereitschaft“ und die „durchgeführ- Ablehnung der Beschwerde. Havemann stück in der Hand, das er an den Klas- ten Aufgaben“. Gysi dazu: „Wunsch- jedoch bestand darauf, daß zumindest senfeind hätte weitergeben können. denken der Stasi!“ Und Lohr sagt heu- Gysi ihm das Verdikt schriftlich gebe. Der von der Stasi unterschriftsreif für te: „Alles Übertreibungen.“ Nicht nur die detaillierte Schilderung Gysi entworfene Vermerk liegt eben- Andere, neu aufgetauchte Unterla- dieses Besuches findet sich in den Stasi- falls bei den Akten, er folgt in der For- gen deuten allerdings auf eine bis ins Akten („Havemann verabschiedete den mulierung weitgehend dem der Stasi Detail gehende Zuarbeit des MfS für Rechtsanwalt lächelnd“), sondern auch vorliegenden Gysi-Brief. den Anwalt Gysi hin. der Fortgang der Affäre: Zwei Tage Der Besuch Gysis bei Havemann am Die zusammenhängend erhalten ge- nach Gysis Visite bei Havemann hält ein 30. November 1979 verlief, laut Akten, bliebenen Akten dokumentieren erst- „Streng geheimes“, nur in „3 Exempla- wie von der Stasi vorbereitet: Gysi ver- mals einen konkreten Fall, der in Frage ren“ ausgefertigtes Papier der Hauptab- suchte es zunächst noch einmal münd- stellt, ob Gysi dabei im Interesse seines teilung XX fest: lich, doch Havemann beharrte auf etwas Mandanten Havemann agierte. Die Schriftlichem. „Dr. Gysi erklärte ihm“, Ist eine schriftliche Mitteilung durch Stasi baute Gysi wie selbstverständlich so der Stasi-Bericht etwas holprig, „daß den Rechtsanwalt in Beantwortung der in ihre drehbuchartigen Vorgaben ein – er sich einen Vermerk über die sinnge- Eingabe Havemanns rechtlich und im zu ihrem Nutzen. mäße Wiedergabe der vom Staatsanwalt Interesse der Sicherung der Position Der Fall spielt im Oktober 1979. Ha- erhaltenen Antwort gemacht hat, die des Rechtsanwaltes nicht zu umgehen, vemann, der bereits zwischen Novem- Havemann einsehen und sich Notizen wird Genosse Gysi einen entsprechen- ber 1976 und Mai 1979 in seinem An- daraus machen kann.“ Nach „anfängli- den Entwurf erarbeiten und zur Abstim- wesen in Grünheide von der Außen- cher Uneinsichtigkeit und der Bemer- mung übergeben. welt weitgehend abgesperrt war, wurde kung ,ich wollte gern ein amtlich beglau- erneut unter Hausarrest gestellt. In den Akten findet sich, datiert vom bigtes Schriftstück darüber haben‘“, ha- Grund: Die Stasi wollte jeden Kontakt 15. November, ein entsprechender Brief be Havemann sich den Vermerk abge- zwischen dem Regimekritiker und ei- an Havemann, eigenhändig unterschrie- schrieben und ihn Gysi zurückgegeben. nem gerade aus der Haft entlassenen ben von Gregor Gysi, den der Bürger- Bewußte Stasi-Kontakte in diesem anderen SED-Dissidenten verhindern – rechtler nie zu Gesicht bekam. wie in anderen Fällen streitet Gysi Rudolf Bahro. Havemann bat seinen Anwalt Gysi, für ihn Beschwerde beim Ost-Berliner Generalstaatsanwalt gegen die Schika- ne einzulegen. Er forderte zudem eine schriftliche Antwort auf seine Eingabe. Havemanns Kalkül: Der Generalstaats- anwalt werde, um die internationale Reputation des Regimes nicht zu be- schädigen, den Hausarrest einfach be- streiten. Mit einem solchen Papier, im Ausland veröffentlicht, hätte Have- mann die SED bloßstellen können. Gysi schickte, so geht aus den Akten hervor, die Eingabe vereinbarungsge- mäß zum Ost-Berliner Generalstaatsan- walt. Drei Wochen später, am 7. No- vember 1979, suchte er Havemann in Grünheide auf und überbrachte ihm die am gleichen Tag erhaltene mündliche

* Stasi-Aufnahme, am 17. April 1982 in Grünhei- de. Anwalt Gysi bei der Havemann-Beerdigung*: Bitte um Abstimmung

DER SPIEGEL 45/1994 27 Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite ab. Die Akten belegen jedoch, daß er sich Und „falls es zu einer solchen Erklä- keine Lust mehr habe, die Auseinan- programmgemäß verhielt. Anders als ge- rung“ käme, entstehe die Frage, „wel- dersetzungen fortzusetzen, dann kön- genüberdem MfShat GysiGesprächemit che Art der Veröffentlichung ich ihm nen sie mir dennoch nicht nehmen, ZK-Mitarbeitern über Mandanten wie- nahelegen soll?“ was ich als Anwalt in der DDR ver- derholt eingeräumt. Aber wie sahen die Gysi hatte sich offenbar verhört: Ro- sucht und in der Politik zumindest seit aus? Darüber haben sich nun auch Partei- bert Havemann zeigte beim nächsten dem Herbst 1989 bewirkt habe. Und akten der SED gefunden. Gysi, so kann Besuch seines Rechtsanwalts keinerlei es tut mir leid (nicht wirklich), gerade man den Unterlagen entnehmen, sprach Interesse an den US-Raketen. letzteres kann sich mit dem, was mei- sein Verhalten gegenüber Havemann im Wie lange angesichts der sich häufen- ne Jägerinnen und Jäger in dieser Zeit ZK mit der Abteilung „Staat und Recht“ den Indizien gegen den Anwalt Gysi die bewirkt haben, durchaus messen las- ab. Verteidigungslinie des PDS-Vormanns sen. In einem an diese Abteilung gerichte- noch hält, ist fraglich. Er habe sich, be- ten Schreiben vom 18.November 1979 et- Auch der PDS-Vorsitzende Lothar wainformierteder Genosse Gysi den ZK- Bisky warf sich letzte Woche vor sei- Mitarbeiter Raoul Gefroi, er habe beisei- Absetzbewegungen nen Parteifreund. In einer SPIEGEL- nem letzten Havemann-Kontakt heraus- aus eigenen Reihen Diskussion mit Bärbel Bohley verkün- gehört, sein Mandant sei möglicherweise dete er am Montag letzter Woche in bereit, ganz im Sinn der SED-Führung ei- werden sichtbar der Berliner Humboldt-Uni: „Ich glau- ne öffentliche Erklärunggegen die ameri- be Gregor Gysi“ (siehe Seite 40). kanische Raketennachrüstung abzuge- teuerte Gysi am Freitag letzter Woche Doch schon Tage zuvor wurden erste ben. Er werde Havemann „in der näch- in einem zwei Seiten langen Plädoyer in Absetzbewegungen aus den eigenen sten Woche aufsuchen müssen“, so Gysi, eigener Sache in der Tageszeitung, we- Reihen sichtbar. Ausgerechnet die und bitte um Abstimmung in folgenden der Mandantenverrat noch Mauschelei PDS-Tageszeitung Neues Deutschland, Fragen: mit der Stasi vorzuwerfen. Bürgerrecht- einst Zentralorgan der SED und noch lern wie Katja Havemann oder Bärbel immer stramm auf Kurs, schrieb erst- 1. Soll ich ihn zur Abgabe einer solchen Bohley wirft er vor, sie wollten ihn „aus mals, die Anschuldigungen „belasten Erklärung animieren? der Politik ausschalten“. Gysi: Gysi schwer“. Im Kommentar setzte das Blatt noch 2. Wenn dies nicht der Fall ist, er aber Selbst wenn es ihnen eines Tages ge- eins drauf: „Tatsächlich ist die Diktion von selbst wieder auf eine solche Erklä- lingen sollte, mich aus der Politik aus- vieler Berichte so, daß es jede andere rung zu sprechen kommt, entsteht die zuschalten, wenn ich irgendwann so Version schwer hat, Glaubwürdigkeit Frage, wie ich mich dann verhalten soll? entnervt bin, daß ich keine Kraft und zu erlangen.“ Y

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Berlin Einfach schweinisch Die Berliner SPD hat ihren Frakti- ons- und Parteichef Ditmar Staffelt in den Rücktritt drangsaliert. Comeback für Walter Momper?

in Mann, ein Wort, ein Schal: Wal- ter Momper, 49, könnte werden, Ewas er schon mal war, Regierender Bürgermeister von Berlin. Den roten Schal, einst sein Erken- nungszeichen, hatte er am vergangenen

Donnerstag wieder liebevoll um den R. RIETH Hals geschlungen. Nur das letzte ver- Ex-Bürgermeister Momper: „Das Leben ist lebensgefährlich“ bindliche Wort, das „Ja, ich will“, steht noch aus. mien tingelnmuß, istder Effekt doch vor- Stahmer, 52. In einer Urwahl der 24 500 „Ich habe ein schlichtes Problem“, bei.“ SPD-Mitglieder, die für den 5. Februar wand sich der zur Zeit in der Immobi- An Gremien, deren Hauptzweck darin vorgesehen ist, hätte die engagierte So- lienbranche aktive SPD-Politiker Ende besteht, das Regieren schwerzumachen, zialdemokratin („Mutter Teresa von vergangener Woche, „ich kann nicht ist in der Berliner SPD links wie rechts Berlin“) gute Chancen – sofern ihr nicht Beruf, Firma, Geschäftsbeziehungen kein Mangel. „Die meisten Parteileute Walter Momper die Tour vermasselt. einfach enden lassen.“ Er brauche noch wollten, daß ich in der Großen Koalition Der beim Berliner Volk noch immer Bedenkzeit. rot-grüne Politik mache“, erinnert sich sehr populäre Bürgermeister der deut- Seit Montag vergangener Woche ist der zurückgetretene Genosse. Doch schen Einheit brächte der SPD die die Berliner SPD führungslos. Nach mo- selbst die Senatoren, für die er sich als freundlichere Presse und höhere Sympa- natelangem Nachdenken verkündete Fraktionschef prügeln ließ, dankten es thiewerte. Doch Frau Stahmer hat star- Landes- und Fraktionschef Ditmar Staf- ihm mit „Illoyalität“, so Staffelt. ken Rückhalt an der Parteibasis. felt, was freiwillig seit Jahren kein Spit- „Ich möchte Berlin zum Modellfall zenpolitiker verkündet hat: seinen To- der Einheit ausbauen und sie nicht zum talausstieg aus der großen Politik – aus Sozialfall verkommen lassen“, be- Frust über die eigenen Genossen. schreibt Stahmer ihr Programm. Das „Die Partei“, sagt der promovierte kommt an – im Osten stärker als bei der Historiker Staffelt verbittert, „hat ihren SPD-Stammklientel im Westen. Vorsitzenden gestachelt und gequält.“ Immer mal wieder war die durchset- Staffelt beklagt, „Heckenschützerei“ zungsfähige Sozialdemokratin im Ge- und rüdes Rempeln, Zanken und Zün- spräch für SPD-Führungsaufgaben. deln seien in Berlin zum Lieblingssport Doch sie lehnt seit Jahren jeden Partei- der SPD geworden. job ab. Von dieser „Schlangengruben- Am Ende habe er sich fast nicht mehr und Ellenbogenarbeit“ will sie nichts getraut, in die Ferien zu fahren: „Kaum wissen. Stahmer: „Ich will nicht als war ich weg, ging doch das Gezerre los.“ Häufchen Elend enden.“ Während Staffelts letztem Portugal- Walter Momper kennt die Untiefen. Urlaub im Sommer animierten einige Selbst als Regierender Bürgermeister

Sozialdemokraten den Daimler-Benz- R. KLOSTERMEIER / VISION-PHOTOS von 1989 bis 1991 war sein Verhältnis Chef Edzard Reuter, als Spitzenkandi- Ex-Parteichef Staffelt zur Partei gespannt, nach seiner Abwahl dat anzutreten. Der bescheinigte Staf- „Gestachelt und gequält“ riß der Faden. Weil der Mann mit dem felt im SPIEGEL: „Die Qualifikation Schal sich nunmehr beruflich in der Im- der Führungsschicht in Berlin entspricht Auch am Tag seines Ausstiegs gab es mobilienbranche tummelte, wurde er der Situation vor dem Mauerfall.“ für Staffelt, der einen attraktiven Posten von den Genossen geschnitten. „Das Den Vorwurf der Mittelmäßigkeit in seiner alten Stahlbaufirma in Aussicht Leben ist lebensgefährlich“, sagte Mom- wurde der Tempelhofer Staffelt nie los. hat, kein Pardon. Im Landesausschuß per im Sommer 1992 und trat vom Par- „Wer hier in Berlin aufgewachsen ist“, der SPD wurden im Beisein des Ge- teivorsitz zurück. sagt er, „hat immer einen Nachteil: Er strauchelten schon Intrigen gegen den Ob er sich wirklich noch einmal in Le- kann nicht mit dem großen Heiligen- noch nicht gekürten Nachfolger gespon- bensgefahr begibt? „Sein Herz schlägt schein auftreten.“ Für seinen Imagever- nen. Staffelt: „Ich fand das einfach immer denselben Rhythmus: Ich will, lust macht Staffelt die starren Struktu- schweinisch.“ ich will, ich will“, kommentierte unge- ren der Partei verantwortlich: „Wenn Hoffnung auf die Spitzenkandidatur wohnt einfühlsam Bild-Berlin: „Aber ich, um eine Idee nach außen zu verkau- als Regierende Bürgermeisterin macht sein Verstand bremst: Schaffst du das fen, erst sieben Wochen durch alle Gre- sich die erfahrene Sozialsenatorin Ingrid auch?“ Y

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Fernsehen Volle Kanäle Die Geldquellen der deutschen Fernsehsender

*Schätzungen für 1994, vorläufige Einnahmen bühren Werbe Werbeeinnahmen auf Netto-Basis insgesamt* hge ein (ohne Rabatte) Wie mit se n a n h er m F e n Tempo 400 5500 Millionen 5000 Millionen Mark Mark Eine Große Koalition will Pay TV die ohnehin laxe Medienkontrolle 400 Millionen Mark weiter schwächen. Einnahmen der wichtigsten Sender Angaben in Millionen Mark

enn Sozialdemokrat Jürgen Büs- 360 400 sow, 48, an der Basis und in 360 1800 CLT 47,9% WFachgremien die „heftige Me- Kirch-Familie 25,0% dienkonzentration“ im Privatfernsehen Bertels- 38003900 mann 37,1% Bertelsmann 37,5% beklagt, ist ihm breite Zustimmung si- Canal Plus 37,5% cher. Die Parteispitze aber will derzeit von den Ideen des nordrhein-westfäli- schen Medienexperten wenig hören. 310 1450 950 Denn SPD-Chef Rudolf Scharping ist 1450 1600 PRO den wichtigsten Medienunternehmern 1600 SIEBEN der Republik im Wort. Ihnen versprach Kirch-Familie 43,0% Kirch-Familie er im Sommer, er werde mit dafür sor- Axel Springer Verlag 27,0% mindestens 47,5% gen, daß an die „Stelle kleinkarierter Wettbewerbsbeschränkungen“ alsbald „offenere Regelungen treten“. und zwei Spartenkanälen mit Anteilen land. An insgesamt sechs deutschen TV- Scharping-Intimus Karl-Heinz Klär, bis zu 49,9 Prozent mitmischen. Sendern und am Axel Springer Verlag Leiter der rheinland-pfälzischen Staats- Mit diesen Regeln provozierte der (Bild, Welt) ist er maßgeblich beteiligt. kanzlei, soll nun für die Umsetzung sor- Gesetzgeber die TV-Gewaltigen, ihre Mit Kirch können es allenfalls Medien- gen. Zustande kommt eine Große Ko- wahren Beteiligungen zu verschleiern. riese Bertelsmann und die RTL-Mutter- alition von Medienpolitikern, die der Senderfamilien und Anbietergemein- gesellschaft Compagnie Luxembour- ohnehin schon laxen Aufsicht über den schaften entstanden, bei denen jeder der geoise de Te´le´diffusion aufnehmen. wuchernden Fernsehmarkt den letzten Beteiligten unter dem gesetzlichen Li- Die Gelegenheit, die lästigen Medien- Biß nehmen könnte: Die Konzentration mit blieb – die Kontrolleure in den Lan- kontrolleure noch besser als bisher auf von Medienmacht auf wenige Konzerne desmedienanstalten waren ohnmächtig. Abstand zu halten, bietet der Rund- wie Bertelsmann oder die Münchner Diese Zustände sollen nun legalisiert funk-Staatsvertrag, der demnächst er- Kirch-Gruppe würde nicht erschwert, werden. Nutznießer der geplanten Wen- neuert werden und 1996 dann verändert sondern sogar begünstigt. de ist vor allem der Münchner Medien- in Kraft treten soll. Das Paragraphen- Klär hat sich bereits mit Vertretern mogul Leo Kirch, 68. Der Freund von werk regelt das Wirken der elektroni- von Union und Sozialdemokraten aus Kanzler Helmut Kohl beherrscht, zu- schen Medien im Detail – vom Einfluß einigen Ländern auf ein neues Modell sammen mit seiner Familie, Filmhandel der Konzerne bis zur Finanzierung von zur Medienkontrolle verständigt. Da- und Fernsehfilmproduktion in Deutsch- ARD und ZDF. nach wollen die schwarz- Die Einnahmen der roten Verbündeten, die TV-Stationen, insgesamt auf Rückendeckung in rund elf Milliarden Mark den elektronischen Me- im Jahr (siehe Grafik), dien und Standortvorteile hängen somit von diesem für die jeweiligen Bun- Paragraphenwerk ab. desländer hoffen, Ober- Der Novellierung müssen grenzen festlegen, wie alle 16 Ministerpräsiden- viele Zuschauer ein ein- ten zustimmen. Mitte die- zelner TV-Unternehmer ser Woche gehen die mit seinen Stationen ins- Chefs der Staatskanzlei- gesamt erreichen darf. en in Klausur. Höchstens 25 bis 30 Pro- Die Generalreform zent der Fernsehkonsu- könnte auf eine „weit- menten, soder Plan,dürf- gehende Deregulierung te ein Anbieter bedienen und Vermachtung hin- –biszudiesem Limitkann auslaufen“, warnt der jeder so viele Sender be- nordrhein-westfälische sitzen, wie er will. Rechtsprofessor Martin Eine drastische Ände- Stock vor den neuen Mo- rung: Bislang durfte ein dellen. Und WDR-Inten- Medienunternehmer, so dant Friedrich Nowottny

das geltende Recht, nur M. DARCHINGER fürchtet, künftig könne bei einem Vollprogramm Medienstrategen Scharping, Klär: „Kleinkarierte Beschränkungen“ jeder TV-Unternehmer

32 DER SPIEGEL 45/1994 machen, was er will, wenn er nur ge- daher seien Sonderregelungen anti- kerung dienen. Diese Stationen sollen schickt und elegant genug vorgehe. Das quiert. dann nur noch in „angemessenem und für sei wohl „die neue Freiheit im Rund- Mehrere hundert digitale Fernsehka- den Gebührenzahler zumutbarem Rah- funk“, so Nowottny (siehe auch Inter- näle, so die Vision der Marktherrscher, men aufrechterhalten“ werden, heißt es view Seite 34). böten künftig den Zuschauern eine üp- in einem vertraulichen Papier für die Mögliches Opfer sind die öffentlich- pige Auswahl: Spezialkanäle, Tele-Spie- Chefs der Staatskanzleien. Teufel fordert rechtlichen Sender. Sie haben immer le, Tele-Einkauf-Programme oder Spiel- zudem, die Rundfunkgebühr solle künf- mehr Werbeeinnahmen verloren. Bis filme auf Abruf. tigvonLandzuLandunterschiedlich fest- 1996 muß die ARD deshalb drei Milliar- Bezahlen sollen die Kunden dann in gesetzt werden. den Mark einsparen. Das ZDF plant so- vielen privaten Programmen nur noch, Im bayerischen Ministerpräsidenten gar, im übernächsten Jahr 400 Millionen was sie auch sehen wollen – ein Schlag Edmund Stoiber (CSU) hat Teufel den Mark Kredit aufzunehmen. idealen Bundesgenossen gefunden. Der Von der „Bestands- und Entwick- Christsoziale will auf jeden Fall den klei- lungsgarantie“ und dem Auftrag zur Rundfunkgebühren – nen ARD-Anstalten im Saarland, in Bre- Grundversorgung der Bevölkerung mit bald unterschiedlich von men und in Berlin den Saft abdrehen. Sie Information, Unterhaltung und Kultur, sollen die Subventionen verlieren, die sie die das Bundesverfassungsgericht den Land zu Land? aus den Gebührengeldern der stärkeren Öffentlich-Rechtlichen zugebilligt hat, ARD-Sender erhalten. bleibt immer weniger übrig. gegen die allgemeine Rundfunkgebühr Publikumswirksam forderte Stoiber Eine Riege konservativer Politiker für ARD und ZDF. Den öffentlich- sogar, das gesamte Erste Programm mit will das bisherige Kontrollgebiet Fernse- rechtlichen Sendern zahlt jeder Kunde den Klassikern von „Tagesschau“ bis hen endgültig zur Freihandelszone er- derzeit 23,80 Mark im Westen und 22,20 „Tatort“ abzuschalten. Für die TV- klären. Auch das Medienrecht müsse Mark im Osten – ob er nun regelmäßig Grundversorgung der Nation, so Stoiber, sich „zur marktwirtschaftlichen Öffnung nur die Tagesschau sieht oder täglich, reiche ja das ZDF. Den gleichen Vor- bekennen“, fordert der Rechtsprofessor wie der Durchschnittsdeutsche, rund schlag hatte 1992 Georg Kofler, Chef des und ehemalige Bundesverteidigungsmi- drei Stunden vor der Glotze hockt. Kirch-Kanals Pro 7, bei der Konrad-Ade- nister (CDU). Beim Versuch, die herrschende Ord- nauer-Stiftung gemacht. Und Kirch läßt in einem Positionspa- nung zu stürzen, marschiert der baden- Seit Jahren schon bemüht sich Stoiber, pier eine angebliche „Demokratisierung württembergische Ministerpräsident Er- früher Leiter der bayerischen Staatskanz- des Fernsehens“ preisen. Das Angebot win Teufel (CDU) an vorderster Front. lei, um den Privatfunk. Immer wie- an elektronischen Medien erreiche Er will ermitteln, welche Programme der klagte er, in Deutschland grassiere schon bald die Vielfalt der Presse, nicht der Grundversorgung der Bevöl- eine regelrechte „Konzentrationshyste-

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rie“. Besonders liegt einer Variante – dem so- ihm, meint ARD-Chef genannten Mediennut- Jobst Plog, der Münch- zungsmodell. Es erfaßt ner CSU-Spezi Kirch am Beteiligungen schon ab Herzen. Dessen Imperi- fünf Prozent und sieht um wolle Standortpoliti- einen Malus für gro- ker Stoiber, so Plog, ße Verlage, Radiosender „ungehemmt ausbauen“. und Programmlieferan- Viele Sozialdemokra- ten vor, die im Fernse- ten dagegen sehen die öf- hen aktiv sind. fentlich-rechtlichen An- Beide Vorschläge, auf stalten als Schutzwall ge- den ersten Blick über- gen zuviel private Me- zeugend, haben schwere dienmacht. Sie seien, Mängel. Sie funktionie- so der nordrhein-west- ren nur, wenn die Eigen- fälische Staatskanzlei- tumsverhältnisse bei den chef Wolfgang Clement Sendern offenliegen – (SPD), „als Gegenge- daran sind die Medien- wicht absolut unverzicht- kontrolleure schon bis-

bar“. G. REISP her gescheitert. Sie müs- Der Dissens mit den Medienstrategen Kirch, Stoiber: „Regelrechte Hysterie“ sen etwa den Kirch-Sen- Konservativen wird ver- der Sat 1 strikt von Pro 7 mutlich, kalkulieren Beobachter, als- konzentration mit der Festlegung von trennen, der als angeblich selbständiges bald beigelegt. Sobald die Betonköpfe Marktanteilen Grenzen zu ziehen. Nach Unternehmen dem Kirch-Sohn Thomas in der Union die Öffentlich-Rechtlichen ihrem Modell sollen TV-Unternehmer gehört. erst mal weitgehend in Ruhe lassen, nur dann ein Fall für die Kontrolleure Wenn unklar sei, welche Kanäle können die Sozialdemokraten dafür werden, wenn sie mehr als 25 Prozent zusammenzuzählen sind, „wäre das Kirch etwas schonen. der Geschäftsanteile halten. Marktanteilsmodell tatsächlich die völli- Die Bayern haben ein besonders laxes Die meisten Vertreter der SPD-Län- ge Freigabe des Medienmarktes zur Mo- Verfahren ersonnen, um der Medien- der halten es, unter Klärs Führung, mit nopolisierung“, beschwerte sich RTL-

„Futter für den Zirkus“ WDR-Intendant Friedrich Nowottny über die Zukunft der ARD

SPIEGEL: Die 11 ARD-Anstalten Fachkongreß, den Münchner Me- produzieren 11 Fernseh- und 51 Ra- dientagen, den vielen hungrigen Be- dioprogramme – das ist öffentlich- suchern etwas Deftiges zu bieten, rechtlicher Luxus und weit mehr als nicht nur Weißwurst und eine Halbe. die rechtlich vorgesehene Grundver- Der Vortrag war herrliches Futter für sorgung der Bevölkerung. diesen Medienzirkus. Den gleichen Nowottny: Das ist ein finanzierba- Unfug hatte Stoiber Wochen vorher res Serviceangebot mit regionalen in einem Interview verbreitet, ohne Schwerpunkten und einem nationa- daß einer davon Notiz nahm. Die Zu- len Dach beim Fernsehen. schauer interessieren solche Profilie- SPIEGEL: Das Geld geht Ihnen doch rungsversuche überhaupt nicht.

aus. Etliche Ministerpräsidenten SPIEGEL: Vielleicht wollte Stoiber, J. H. DARCHINGER wollen ARD und ZDF keine höhe- zum Start der Verhandlungen um ei- Funkhaus-Chef Nowottny ren Rundfunkgebühren zugestehen. nen neuen Rundfunkstaatsvertrag „Was für eine absurde Idee“ Und der bayerische Landeschef Ed- diesen Monat, eine ordentliche Droh- mund Stoiber hat dem Ersten Pro- kulisse aufbauen? ne Filmredaktion haben? Inzwischen gramm, zum 40. Jubiläum, das To- Nowottny: Richtig ist, daß die ARD kooperieren die Hörfunkredaktio- tenglöcklein geläutet. endlich die große Strukturreform in nen. Und den Einkauf von Filmen Nowottny: Was für eine absurde Gang bringen muß. Darüber wird seit und Sportrechten finanzieren die Idee, die ARD abzuschaffen. Der den sechziger Jahren geredet. ARD-Anstalten auch schon gemein- Schuß ist nach hinten losgegangen, SPIEGEL: Wie soll die Reform ausse- sam. Wir können uns nur leisten, keiner hat Stoiber unterstützt. hen? was wir bezahlen können. Ich weiß, SPIEGEL: Er meinte es als medienpo- Nowottny: Die Partner müssen dar- daß wir nicht unbegrenzt Gebühren litische Grundsatzerklärung. über reden, ob jede ARD-Anstalt verlangen können. Die Intendanten Nowottny: Stoiber wird den Gedan- identische Aufgaben erfüllen soll. und Ministerpräsidenten müssen ken nicht noch einmal aufgreifen. Müssen alle Stationen Produktions- jetzt herausfinden, was sie für das Sein Hauptmotiv war, bei einem betriebe unterhalten? Müssen alle ei- Jahr 2000 und 2010 wollen.

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Chef Helmut Thoma beim Chef Bonn ist nach anfänglichem Zögern Dritten Welt beharrten auf einem der der SPD-Medienkommission, Reinhard zur Hilfe bereit. Auf den letzten Drük- Ihren. Klimmt. ker genehmigte Helmut Kohls Kabinett Mit dem Südafrikaner Richard Gold- Wegen der vielen offenen Fragen am Mittwoch vorletzter Woche einen stone, 55, der sich im Kampf gegen die kündigte die schleswig-holsteinische Mi- Gesetzentwurf, der in einer der ersten Apartheid einen Namen gemacht hat, nisterpräsidentin Heide Simonis (SPD) Sitzungen des neuen Bundestages ver- waren nach einjähriger Suche endlich al- jedenfalls an, sie werde einem Marktan- abschiedet werden soll. le zufrieden. teilsmodell nicht zustimmen. „Das ist, Danach können künftig Strafverfah- Politische Rücksichtnahmen könnten als ob der Gesetzgeber ein Tempolimit ren gegen Kriegsverbrecher „in jedem die kommenden Prozesse mindestens von 400 auf der Autobahn vorschreibt“, Stadium . . . auf den Gerichtshof über- ebenso schwierig machen wie die Vor- sagt Matthias Knothe, Rundfunkrefe- geleitet“ werden. Das Uno-Tribunal bereitung. Franzosen und Briten fürch- rent in der Kieler Staatskanzlei. kann in Absprache mit deutschen Be- ten, eine allzu spektakuläre Justiz werde Das Veto aus dem Norden bringt den hörden „Vernehmungen, Augenscheins- einen Frieden in Bosnien vereiteln. Das Konsens zwischen Scharping-Freund einnahmen und ähnliche Beweiserhe- serbisch dominierte Rest-Jugoslawien Klär und der Union in Gefahr. Auch an- bungen“ eigenständig in der Bundesre- hat das Tribunal erst gar nicht aner- derswo in der SPD regt sich Widerstand publik durchführen. kannt – die Chancen, Anstifter des Völ- gegen zuviel politische Hilfe für die Me- Die Richter des elf- dienkonzerne. köpfigen Tribunals, das Über den neuen Rundfunkstaatsver- Kriegsverbrechen im trag sei öffentlich überhaupt nicht disku- früheren Jugoslawien tiert worden, klagt etwa der Düsseldor- ahnden soll, kommen fer SPD-Medienexperte Büssow. Es ha- aus allen Erdteilen. be nur „gouvernementale Kommunika- Vertreten sind nahezu tion“ gegeben. Die Landesparlamente, alle Rechtssysteme der die dem Medienrecht zustimmen müs- Welt – das Formulie- sen, seien ja „nicht die Ja-Sager vom ren von Rechtsnormen Dienst“. Y und einer eigenen Pro- zeßordnung, die sich stark an das anglo-ame- Kriegsverbrecher rikanische Justizwesen anlehnt, geriet zur Schwerstarbeit. Auch die Bestellung Symbol des Chefanklägers war kompliziert. Die Rus- sen wollten keinen Juri- des Terrors sten aus dem Westen, die westlichen Uno- Der in Deutschland inhaftierte Mitglieder forderten je- Dusˇko Tadic´ kommt als doch einen westlich ge- prägten Anklagevertre- erster Serbe vor ein Uno-Tribunal. ter, Abgesandte der Beschuldigter Tadic´: Blut vom Messer geleckt?

as Gebäude ist perfekt gesichert: Die Fenster sind kugelfest, die tra- Dgenden Wände halten einem Bom- benanschlag stand. Alle Beamten sind bewaffnet, jeden Winkel überwacht eine Kamera. Vorerst werden die Richterin Eliza- beth Odio BenitoausCostaRicasowieih- re beiden Kollegen Adolphus Karibi- Whyte (Nigeria)und Claude Jora (Frank- reich) den massiven Schutz noch nicht be- nötigen. Wenn sie am Dienstag dieser Woche um zehn Uhr die Sache mit dem Aktenzeichen IT-94-1-D aufrufen, geht es zunächst nur um Formalitäten. Die Richter der 1. Kammer des Inter- nationalen Strafgerichtshofs im nieder- ländischen Den Haag wollen die Bonner Regierung auffordern, den Fall des Ser- ben Dusˇko Tadic´, den bislang deutsche Ermittler durchleuchten, an das im Mai 1993 geschaffene Uno-Gericht nach Hol- landabzugeben. Damit eröffnet die inter- nationale Justiz wieder einen Kriegsver- brecherprozeß – zum erstenmal seit den

Tribunalen von Nürnberg und Tokio J. HODSON / GAMMA / STUDIO X nach dem Zweiten Weltkrieg. Bosnische Kriegsgefangene im Lager Omarska: Gequält, gefoltert, getötet

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schlimmsten“ sei gewesen, daß Tadic´ ihn „nicht ganz tot ge- schlagen“, sondern liegen gelas- sen habe, „einfach so halbtot“. Einem Mitgefangenen habe Tadic´ ein Ohr, die Nase und ei- nen Teil der Lippe abgeschnitten und in die Wunden Salz gestreut. Fünf Tage habe das Martyrium gedauert, bis der Mann mit ei- nem Schnitt durch die Kehle ge- tötet worden sei. Tadic´ habe das Blut vom Messer abgeleckt. Mit einem Bajonett habe ihm Tadic´ zwei Zähne „herausge- schält“, berichtet der Maurer Ibrahim O., 44, der viele Jahre in Deutschland gearbeitet hat. „Ich ficke deine moslemische

DPA Mutter“, habe Tadic´ geschrien Uno-Ankläger Goldstone und zwei Soldaten befohlen, ihm Dokumente des Grauens die restlichen Zähne auszuschla- gen. Tadic´ streitet alles ab. In seiner letz- Einem Gefangenen habe Tadic´ Huf- ten Vernehmung Mitte Oktober habe er eisen an die Füße genagelt wie bei ei- erklärt, „niemals“ das Lager Omarska nem Pferd. Zwei Mittäter hätten den betreten zu haben, berichtet sein „fürchterlich“ schreienden Mann dabei Münchner Pflichtverteidiger Steffen festgehalten. Ufer, „weder freiwillig noch gezwun- In einem Haus des Lagers Omarska,

W. WEBER gen“. Für die schweren Vorwürfe habe sagt der Gastwirt Rasim I., 37, seien Tadic´-Verteidiger Ufer Tadic´ nur zwei Erklärungen – „entwe- nicht nur Tiere geschlachtet, sondern Lüge oder Verwechslung der lügen diese Leute“, oder „eine Ver- auch „hochrangige Personen“ einge- wechslung“ liege vor. pfercht worden, etwa Ärzte und Profes- kermords wie Serbenführer Radovan Die Bundesanwaltschaft kann minde- soren. Seines Wissens, so der Kaffee- Karadzˇic´ zu fassen, sind gering. stens 40 Zeugen aufbieten, die Tadic´ haus-Besitzer, habe niemand dieses Daß mit dem Karadzˇic´-Gefolgsmann schwerster Verbrechen beschuldigen. Haus lebend verlassen. Mindestens Dusˇko („Dule“) Tadic´ kein Drahtzie- Ihre Aussagen sind Dokumente unvor- fünfmal habe er es reinigen müssen und her, sondern lediglich ein Mann aus dem stellbaren Grauens. Goldstone will wei- dabei Brieftaschen und Schuhe gefun- hinteren Glied der erste Tribunal-Ange- tere Zeugen aus Schweden, Norwegen, den, „aber auch menschliche Augen klagte sein wird, gab bereits Anlaß zur den Niederlanden und der Schweiz be- und Teile des Gehirns“. Kritik. Doch Tadic´ ist eine Symbolfigur nennen. Mit einer Kardanwelle, so der Zeuge des Terrorregimes in Bosnien. Seine „Mit eigenen Augen“ habe er gese- Mehmed H., 31, ein gelernter Auto- „Aburteilung“, sagt Generalbundesan- hen, berichtet etwa der Zeuge Islam S., schlosser, habe Tadic´ auf drei Männer walt Kay Nehm, der gegen 50 weitere 53, wie Tadic´ im Lager Omarska einer eingeschlagen, laute Musik habe ihre mutmaßliche Kriegsverbrecher ermit- Schmerzensschreie übertönt. telt, könne „Signalwirkung haben“. Tadic´ habe dann einem anderen Tadic´, 39, gelernter Elektrotechniker, Einem Gefangenen Häftling befohlen, zweien der drei of- Cafe´-Besitzer, Karatespezialist und zeit- Hufeisen an fenbar leblosen Opfer die Hoden abzu- weise Polizist in seiner Heimatstadt Ko- beißen; später sei dieser vierte Gefan- zarac, soll vor allem im Lager Omarska die Füße genagelt gene blutverschmiert in die gemeinsa- gequält, gefoltert und getötet haben. me Unterkunft zurückgekehrt. Nach Uno-Angaben haben Serben Frau deren zweieinhalbjähriges Kind „Er roch nach Erbrochenem“, erin- von den etwa 50 000 Moslems in Tadic´’ „aus der Hand gerissen“ und gegen ei- nert sich der Autoschlosser, „ich konn- Heimatbezirk Prijedor im Nordosten nen Lastwagen geschleudert habe – so te in seinem Mund noch Reste der Ho- Bosniens 43 000 ermordet, oder sie ver- heftig, daß der Kopf geplatzt sei. den sehen, Hautfetzen und Blut“. Sein schwanden aus Bosnien, viele spurlos. Danach seien Tadic´ und Kumpane in Mithäftling habe den „Verstand verlo- Allein in Omarska soll es 5000 Tote ge- den Lkw gestiegen und hätten das leblo- ren“. geben haben. Tadic´, sagt der amerikani- se Kind mehrmals überfahren. Auch Bahrija A., 28, hat als Zeuge sche Goldstone-Helfer Michael J. Kee- Zehn Tage später habe Tadic´ einem gegen Tadic´ ausgesagt. Eines Nachts, gan, sei für den „Plan einer systemati- Tschetnik befohlen, einer hochschwan- so der Waldarbeiter, sei sein Bruder schen und breiten Verfolgung der Zivil- geren Frau deren etwa 18 Monate altes Redzep gerufen worden, von wem, das bevölkerung“ mitverantwortlich gewe- Baby „abzunehmen“ und es ihm zuzu- wisse er nicht. Zwei, drei Stunden spä- sen. werfen. Tadic´ habe es mit seinem Bajo- ter sei er von einem Wärter zurückge- Die Bundesanwaltschaft, die Tadic´ nett „aufgespießt“, dann habe er den bracht und in die Unterkunft gestoßen Anfang des Jahres in seinem Münchner Unterleib der Mutter aufgeschlitzt, worden. Redzep sei über und über mit Unterschlupf festnehmen ließ, arbeitet „vom Schritt aus zum Bauch hinauf“. Blut verschmiert gewesen. an einer Anklage wegen Beihilfe zu Völ- Pferdezüchter S. sagt, er selbst sei Er selbst habe sich über den Sterben- kermord, Mord und gefährlicher Kör- durch Schläge und Schnitte am Kiefer, den gebeugt. „Brüderchen“, habe Red- perverletzung; die Richter in Den Haag an der Stirn, an den Rippen und am zep geflüstert, „du sollst wissen, daß werden die Akte bekommen. rechten Fuß verletzt worden. „Am mich Dule Tadic´ umgebracht hat.“ Y

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Fernsehkamera und Drainagen für die Medizin Spülung werden von drei kleinen Ein- schnitten aus in die Gelenkhöhle vorge- schoben (siehe Grafik). Auf einem Fernsehbildschirm kann Kanzlers Knie-Fall der Patient die Aktivitäten seines Arztes live verfolgen, denn bei der Gelenkbe- Helmut Kohl wird am Meniskus operiert schau ist eine Vollnarkose meist ent- behrlich. Schmerzfreiheit wird durch ei- ne Rückenmarksanästhesie iemand wird vom Kanzler so un- erzielt. Der ganze Eingriff ter Druck gesetzt wie die vier dauert 30 bis 60 Minuten. Nkleinen Knorpelscheiben in sei- Oskar Lafontaine, neben nen Kniegelenken. Wenn der große anderem auch Freizeitjog- (1,93 Meter), schwere (derzeit 275 ger, hat die Prozedur schon Pfund), rastlose (16-Stunden-Tag) hinter sich. Der SPD-Mini- Mann sich und die Republik bewegt, sterpräsident wurde am 25. preßt er bei jedem Schritt die elasti- Oktober von dem Unfall- schen Menisken zusammen, etwa zehn- chirurgen Leo Zwang aus tausendmal am Tag, mit Urgewalt, als Saarbrücken erfolgreich ar- seien sie zwischen zwei Mühlsteine ge- throskopiert. Der lädierte raten. Meniskus wurde entfernt. Jetzt haben die beiden halbmondför- Nach einer kurzen Gene- migen Knorpel des rechten Kniege- sungspause ist der klein- lenks SOS signalisiert. Den 64jährigen wüchsige Hobby-Fußballer Pfälzer Riesen plagen seit dem letzten nun wieder gut zu Fuß; jog- Wahlkampf-Marathon böse Schmerzen gen will er künftig nicht beim Stehen und Gehen. Nach dem mehr. CDU-Parteitag am 28. November muß Kanzler Kohl, ein Mann sich Kohl deshalb am Knie operieren von robuster Gesundheit, lassen. Die malträtierten, zumindest hofft, daß er nur zwei Tage teilweise bereits zerstörten Gewebe im Krankenhaus bleiben sollen entfernt werden. muß. Zum Arzt seines Ver-

Am chirurgischen Eingriff führt kein DPA trauens hat er sich Otto Weg vorbei. Einem kranken Meniskus Bundeskanzler Kohl*: Urgewalt im Gelenk Münch erwählt, den Leib- hilft, wenn überhaupt etwas, nur das arzt der deutschen Skirenn- Messer. die Leber durch den Alkohol. Je früh- läufer. Der Chirurg praktiziert in Mün- Jeder Meniskus ist fünf bis sieben zeitiger, häufiger und intensiver die chen und hat, auf Empfehlung von Dr. Millimeter dick und rund drei Zenti- Knorpel belastet werden, desto eher med. Irene Epple, bereits den CSU- meter lang. Weil die Knochenenden sind sie verbraucht. Deshalb werden Vorsitzenden Theo Waigel erfolgreich von Oberschenkel und Schienbein ei- Leistungssportler, Freizeitjogger und am Meniskus operiert. gentlich gar nicht zusammenpassen, Übergewichtige meist vor der Zeit Ernsthafte Komplikationen sind müssen die Menisken die großen, hü- weich in den Knien. nicht zu erwarten. Kohl, vor fünf Jah- geligen Gelenkflächen einander anpas- Ein kranker Meniskus – beim Kanzler ren mit Erfolg an der Prostata ope- sen. Das Kniegelenk ist die größte, verdächtigen die Ärzte den inneren riert, hat ein stabiles Herz-Kreislauf- aber auch die schlechteste Knochen- Knorpel des rechten Knies – läßt sich System. Infektionen des Kniegelenks verbindung des Menschen, nach An- glätten (durch Schaben, Fräsen und sind wegen der schmalen Zugangswege sicht der Mediziner eine Fehlkonstruk- Meißeln), man kann ihn teilweise oder sehr selten (unter ein Prozent), ein tion der Natur. ganz entfernen. möglicher Bluterguß (Risiko: fünf Pro- Bei jedem Schritt und Tritt werden Dazu wird das Gelenk nicht mehr wie zent) klingt erfahrungsgemäß innerhalb die Knorpelscheiben verformt. Wird früher breitflächig eröffnet, sondern nur von drei Wochen ab. das Knie gebeugt, so knickt der Menis- noch „arthroskopiert“: Mini-Instrumen- Von der schmerzhaften Arthrose der kus in seiner Mitte unter dem Druck te, eine helle Lichtquelle samt winziger Kniegelenke – einem Leiden, bei dem zusammen. Bei jedem Strecken des die Knorpel- und Knochengewebe un- Beines werden die Knorpel lang und Geschundener Knorpel ter Druck langsam zerstört werden – platt gequetscht. Arthroskopie des Kniegelenks wird der schwergewichtige Kohl auch Kein Wunder also, daß dieses ge- nach dem Eingriff bedroht bleiben. So schundene Gewebe im Laufe des Le- viele Kilo zuviel mag auf Dauer das Oberschenkel- bens degeneriert. Es quillt auf und ver- Drainage- stabilste Knie nicht tragen. Wie schnell knochen leitung zum kalkt schließlich, reißt ein und verliert Spülen und sich die Arthrose einstellen wird (und kleine Teile. Zu allem Unglück ist der Absaugen ob überhaupt), läßt sich nicht vorher- Meniskus miserabel versorgt, in weiten Kniescheibe sehen. Gewöhnlich raten die Ortho- Teilen fehlen dem Knorpel die Blutge- Außenmeniskus Innenmeniskus päden ihren Patienten in dieser Situa- fäße. tion zum Abspecken und zum Radfah- Vom Leben läßt das elastische Ge- Arthroskop ren. webe sich nicht trainieren, sowenig wie Untersuchungs- Kamera Das wird der dicke Oggersheimer und Operations- wohl nicht mögen. So dünn wie sein instrumente Möchtegern-Nachfolger Scharping und * Als Gast in der Sat-1-Sendung „ranissimo“ am Waden- 5. Juni; von drei Schüssen gegen die Meßwand bein Schienbein zum Monitor so flink auf dem Zweirad kann er nicht gelangen zwei. werden. Y

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Deutsche Einheit „Wir waren abgedriftet“ Bürgerrechtler, Funktionäre und Intellektuelle der ehemaligen DDR über ihre Träume im Wendeherbst ’89

Alex-Demonstranten bei der SPIEGEL-Diskussion*: „Die Revolution ist unumkehrbar“ LICHTBLICK

SPIEGEL: Frau Bohley, 26 Redner ha- zu Jens Reich: So, jetzt können wir ge- derte mich im Namen der Veranstalter ben am 4. November 1989 auf dem hen, jetzt ist alles gelaufen. Die Revolu- zu dieser Rede auf. Ich habe gezögert, Alexanderplatz gesprochen. Sie waren tion ist unumkehrbar. die Einladung anzunehmen. Als ich auf damals unbestritten eine der Führungs- SPIEGEL: Herr Wolf, Sie waren 30 Jahre dem Alex sprach, haben meine Hände, figuren der DDR-Opposition. Warum einer der leitenden Kader der Staatssi- wie ich glaube, nicht gezittert. haben Sie geschwiegen? cherheit. Was hat Sie bewogen, an die- SPIEGEL: Herr Reich, es war an diesem Bohley: Mich haben zu dieser Zeit mehr sem Tag öffentlich zu reden? Tag viel die Rede von einem reformier- die Demonstrationen in Leipzig be- Wolf: Ich bekam eine Woche vorher ei- ten Sozialismus. Von Maueröffnung und schäftigt. Die waren spontan entstan- nen Anruf von Erich Mielke, der mich Wiedervereinigung war nicht die Rede. den, da sind Leute ohne Führung durch fragte, ob ich eine Rede halten wolle. Reich: Ich bin im nachhinein darüber die Straßen gezogen und haben das Da wußte ich noch gar nichts von mei- noch immer verwundert. Es gab nicht Tempo der Veränderung angegeben. nem Glück. Erst einige Tage danach rief eine Losung, nicht ein Plakat, das sich Bei der Demonstration am 4. November mich ein Filmdokumentarist an und for- auf die Wiedervereinigung oder auf das hatte ich zwiespältige Gefühle. SPIEGEL: Was hat Sie gestört? Bohley: 26 Redner waren da, aber nur 4 Am 4. November 1989 66, VorsitzenderderLiberal-Demokrati- aus den neuen Bürgerbewegungen ha- schen Partei der DDR (LDPD), und Lo- ben gesprochen. Arbeiter kamen über- demonstrierten in Ost-Berlin rund eine thar Bisky, 53, 1989 Rektor der Film- haupt nicht zu Wort. Das Verhältnis hat Million Menschen gegen die Führung hochschule in Babelsberg und heute einfach nicht gestimmt. der SED. Die Massen, die sich um den Chef der PDS. Fünf Tage später gab die SPIEGEL: Aber diese Kundgebung, die Alexanderplatz versammelten, forder- SED dem Druck nach – die Mauer fiel. größte in der deutschen Geschichte, war ten Rede- und Reisefreiheit sowie freie Als sechste Demonstrantin von damals doch der Tag Ihres Triumphes. Wahlen. Veranstalter waren Berliner war die Bürgerrechtlerin Bärbel Bohley, Bohley: Ich habe mich ja auch gefreut, Künstler, 26 Redner kamen zu Wort, 49, bei einer vom SPIEGEL veranstalte- vor allem als Markus Wolf sprach. Als darunter Markus Wolf, heute 71, bis ten Diskussion dabei, die zum fünften ich sah, daß seine Hände zitterten, weil 1987 stellvertretender Chef des Mini- Jahrestag der Demo in der Humboldt- die Leute gepfiffen haben, da sagte ich steriums für Staatssicherheit, Jens Universität stattfand. Der hier doku- Reich, 55, Mitbegründer des Neuen mentierte Text faßt die zentralen Aussa- * Jens Reich, Markus Wolf, Steffie Spira, SPIE- Forums, später unabhängiger Präsi- gen der zweistündigen Debatte in einer GEL-Redakteure Gabor Steingart und Ulrich dentschaftskandidat, Steffie Spira, von den Teilnehmern autorisierten Fas- Schwarz, Bärbel Bohley, Manfred Gerlach, Lothar Bisky; am Montag vergangener Woche im Audi- 86, Schauspielerin, Manfred Gerlach, sung zusammen. max der Ost-Berliner Humboldt-Universität.

40 DER SPIEGEL 45/1994 Ereignis, das fünf Tage später eintrat, Spira: Ich rede lieber über Wahrheit als mer alles besser gewußt und geschwie- bezogen hat. Aus heutiger Sicht be- über Träume. Ich hoffte damals, daß die gen zu haben. trachtet, hat diese Demo das Tor aufge- Einheit bald hergestellt wird. SPIEGEL: Wer hat Sie aufgeweckt? rissen, durch das dann alle weiteren Er- SPIEGEL: Dabei war doch eigentlich Reich: Meine Kinder und das Erlebnis eignisse gestürmt sind. Heute wissen schon alles gelaufen. Die entscheidende des Verfalls der sowjetischen Gesell- wir: Diese Demonstration war die Ab- Revolution fand am 9. und 16. Oktober schaft, die ich aus vielen Dienstaufent- schlußvorstellung der DDR. in Leipzig statt – ohne die DDR-Intelli- halten kannte, haben mich aktiv werden SPIEGEL: Sie, Herr Wolf, hofften da- genz. Herr Bisky, ist die Glorifizierung lassen. Ich glaube, daß beides richtig ist: mals noch auf wegweisende Beschlüsse des 4. November nicht eine Lebenslüge Die Intelligenz war angepaßt, war sogar der SED. der ostdeutschen Intellektuellen? stabilisierender Faktor in dieser Gesell-

Kundgebung am 4. November 1989 auf dem Alexanderplatz: „Diese Demonstration war die Abschlußvorstellung der DDR“ J. WITT / SIPA

Wolf: Ich konnte mir Veränderung da- Bisky: Ich glaube gar nicht, daß der 4. schaft. Gleichzeitig hat sie kurz vor der mals nur als Veränderung von oben vor- November so glorifiziert wird. Man hat Machtergreifung die Macht fahrenlas- stellen. Von heute aus gesehen weiß ich damals einfach auch gelacht über eine sen, hat die Lust verloren an dieser miß- natürlich, diese DDR war unter den ge- Macht, die ja noch präsent war. Und das ratenen Gesellschaft und mitgemacht gebenen historischen Bedingungen nicht finde ich gar nicht so schlecht, wenn bei ihrer Überwindung. renovierbar. man eine Macht weglachen kann. SPIEGEL: Das Verhältnis zum Volk SPIEGEL: Herr Gerlach, Sie haben we- SPIEGEL: Vielleicht gäbe es die DDR blieb dennoch zwiespältig. Wolf Bier- nig später gesagt, das neue System sei heute noch, wenn die DDR-Intelligenz, mann und auch Sie, Frau Bohley, haben hundertmal besser als die alte DDR. also Schriftsteller, Filmemacher, Natur- die DDR-Bevölkerung mehr als einmal Bleiben Sie dabei? wissenschaftler, das Land von innen re- beschimpft. Mit Feiglingen könne man Gerlach: Diese DDR, wie sie sich uns formiert hätte. keine Revolution machen, sagten Sie. am Ende darbot, hat doch keinen mehr Bisky: Mein Kummer geht in diese Rich- Bohley: In jedem Volk gibt es Mutige hinter dem Ofen hervorgelockt. Wir tung. Daß uns die DDR dann so schnell und Feiglinge. Auf jeden Fall war die wissen heute: Der Sozialismus löst die abhanden kam, habe ich nicht geahnt. DDR-Opposition ghettoisiert. Gerade Probleme nicht. Aber wir wissen nach Reich: Ich neige der These von György 1989 hat sich herausgestellt, daß wir ab- einigen Jahren deutscher Einheit – wir Konra´d und Iva´n Szele´nyi zu, daß die gedriftet waren, und das ist es, was ich im Osten vielleicht noch besser –, daß Intelligenz als Schicht, als Klasse im So- bis heute nicht verstehe. Warum waren dieser Kapitalismus in der Form der Alt- zialismus, auf dem Weg zur Klassen- wir nicht mehr in der Lage, über den bundesrepublik und auch als gesamt- macht gewesen ist. Die beiden Ungarn Tellerrand zu sehen und zu erkennen, deutscher Aufguß die Probleme eben- schreiben, daß sich das sozialistische bü- wie dicht die Wiedervereinigung vor der falls nicht löst. Es muß einen dritten rokratische System immer mehr zu einer Tür stand? Ich werfe uns vor, daß wir Weg geben. Herrschaft der Intelligenz entwickelt der CDU das Feld überließen. Das regt SPIEGEL: Das klang vor fünf Jahren hat. Diese Entwicklung reichte bis hin- mich bis heute wahnsinnig auf. noch ganz anders. ein ins Politbüro. Ein großer Teil der In- SPIEGEL: Was waren die Gründe für Gerlach: Damals wünschte ich mir in der telligenz hatte sich angepaßt. dieses Abdriften der Bürgerrechtler? Tat noch einen Sozialismus, der Spaß SPIEGEL: An wen konkret denken Sie? Bohley: Das war unsere Mauer im Kopf, macht. Reich: Zum Beispiel an mich. Viele Jah- und die wiederum war eine Folge der SPIEGEL: „Stell dir vor, es ist Sozialis- re bin ich meinem Beruf nachgegangen, Erziehung in der DDR. Wir konnten mus, und keiner geht weg“, war der habe den Mund gehalten, habe in der nur bis zur Mauer gucken und nicht dar- Traum von Christa Wolf auf dieser politischen Nische gesessen, habe erst über hinaus. Wir träumten davon, unser Kundgebung. Frau Spira, wovon haben spät, viel zu spät, erkannt, daß meine Land selber zu verändern. Wir haben an Sie geträumt? Rolle im Leben nicht die sein kann, im- diesem Traum selbst dann noch festge-

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halten, als die Realität längst eine andere war. Wir hätten sagen müssen, also jetzt ver- handelt nicht Ost-CDU mit West-CDU, jetzt verhandeln mal die Bürgerbewegungen. Statt dessen haben wir Mini- ster ohne Geschäftsbereich ge- spielt. SPIEGEL: Ihre politische Ni- sche haben Sie bis heute nicht verlassen. Warum kämpfen Jens Reich und Bärbel Bohley nicht um Posten, die Macht und Einfluß versprechen? Warum kandidieren Sie immer außerhalb der Parteien? Reich: Ich habe nicht die rich- tige Partei gefunden. Bohley: Ich auch nicht. Reich: Wenn wir das Ende der Bürgerbewegung in der DDR

beklagen, dürfen wir nicht ver- PACZENSKY / ZENIT gessen, daß genau die gleichen SED-Hinterlassenschaft Stasi-Unterlagen*: „Ist die Akte ein Beweismittel oder nicht?“ Bewegungen auch in den ande- ren osteuropäischen Ländern wegge- ben müssen, sondern wir müssen durch- Wolf: Ich nehme an, Herr Reich, Sie putzt wurden. Die Solidarnos´c´ in Polen halten. Die Zeiten ändern sich wieder. wollen damit nicht bedauern, daß es gibt es nicht mehr, Va´cla´v Havel sitzt Bohley: Aber Jens, auch für die Zukunft nicht zur Gewalt kam. Ich halte die Ge- auf der Burg als Repräsentationsfigur ist es wichtig: Warum lief das so und waltfreiheit der Ereignisse für eine we- und hat seinen Anhang verloren. In nicht anders? Es steht eine Analyse aus sentliche und besondere Erscheinung Ungarn und im Baltikum sind wieder über das, was nach l989 passiert ist. dieses Herbstes, auch nach dem 9. No- ganz andere an der Macht. Reich: Unsere Fehler waren gleichzeitig vember l989. Man sollte sich vorstellen, SPIEGEL: Warum sind so viele Leute unsere Stärken. Die ganze Einschleich- Demonstranten in den USA wollten ein ausgerechnet zur SED-Nachfolgeorga- bewegung des Herbstes 1989 war doch Gebäude der Nationalen Sicherheits- nisation PDS gelaufen? eine, die unterhalb der Reizschwelle der agentur besetzen. Das wäre nicht für ei- Reich: Das Volk ist zu den Bürgerbe- Machthaber stattgefunden hat. „Keine ne Stunde möglich, da würde sofort ge- wegungen gegangen – aber nur eine hi- Gewalt“, das war die große Losung, die schossen. Damals in Berlin war das Ver- storische Sekunde lang. Da bestand Ei- auch am 4. November von den Ordnern hindern von Gewalt unsere gemeinsame nigkeit in den Zielen, alle wollten da- mit Bändern am Arm getragen worden Sorge. Deshalb möchte ich Sie, Frau mals Freiheit, Freizügigkeit, all die Lo- ist. Genau diese Tatsache, daß die Be- Bohley, heute gern fragen: Fühlen Sie sungen, die am 4. November gezeigt wegung ohne Blutvergießen, friedlich, sich nicht manchmal instrumentalisiert wurden. Danach hat das Volk gesagt, verlaufen konnte, genau diese Tatsache von den jetzigen Trägern der Macht? jetzt haben wir genug von den Schwät- war natürlich dann unsere Schwäche. Bohley: Solche Fragen empören mich zern. Wir wollen jetzt Macher haben. unwahrscheinlich. Das habe ich von Ih- Und da haben 40 Prozent die einen und rem Apparat vor 1989 ständig gehört, weitere 25 Prozent die anderen Macher daß wir vom SPIEGEL mißbraucht wur- gewählt. Ich sage das ganz ohne Melan- den; von den westlichen Medien insge- cholie. samt. Jetzt werde ich wieder von der Bohley: Ich möchte aber schon gern CDU und der CSU „mißbraucht“, und wissen, was wir falsch gemacht haben. zwar nur, weil ich Sachen sage, die nicht Es ist ja nicht so gewesen, daß 1990 die ins Kalkül von irgendwelchen Leuten PDS 30 Prozent der Stimmen bekam. passen. Die hat erst einmal die CDU gekriegt. Wolf: Frau Bohley, ich habe schon im Reich: Ich glaube nicht, daß Bündnis 90 Oktober 1989, als wir das erste Mal zu- oder die Bürgerbewegungen in der La- sammensaßen, Ihnen meinen Respekt ge gewesen wären, dem Unmut, der bekundet. Leider bin ich nicht dazu ge- nach 1990 aufkam, Gestalt zu verlei- kommen, mich bei Ihnen für das Un- hen. Wir waren nicht bereit, populi- recht, das Ihnen widerfahren ist, zu ent- stisch genug aufzutreten. Wenn Bärbel schuldigen. Am 4. November haben Sie heute sagt, sie freut sich über die Wie- es abgelehnt, mir die Hand zu geben, als dervereinigung, dann ist das eben nicht ich dies tun wollte. die Stimmung, die bei den PDS-Wäh- SPIEGEL: Frau Bohley, sind Sie heute lern vorherrscht. Wir sind neben der versöhnlicher gestimmt?

allgemeinen Stimmung, und das finde LICHTBLICK Bohley: Herr Wolf, ich habe Ihnen heu- ich auch nicht falsch. Wir haben heute Bärbel Bohley te doch guten Tag gesagt! ökologische Ziele, und die Bevölkerung „Wir träumten davon, SPIEGEL: Die Frage „Wie gehen wir mit sagt, das sind noch nicht unsere. Das der Vergangenheit um?“ spaltet die Ge- heißt nicht, daß wir unsere Ziele aufge- unser Land sellschaft, und das gleich doppelt – Ost selber zu verändern“ steht gegen West und Ost gegen Ost. * In der Gauck-Behörde in Berlin. Der Wittenberger Pfarrer Friedrich

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Schorlemmer möchte die Akten der Sta- ist. Früher wurden Biographien zerstört si am liebsten verbrennen. in der DDR durch das Sicherheitssy- Spira: Man sollte das nicht tun. Wir stem, das hier bestand. Jetzt werden wollten der Wahrheit den Mund öffnen, wiederum Biographien zerstört. deshalb liegen die Akten heute offen. Bohley: Hätten wir die Akten zuge- Allerdings sollten wir diese Akten nur macht, säße in Bonn womöglich ein dann gebrauchen, wenn es unbedingt stellvertretender Bundeskanzler, der nötig ist, und nicht nur deshalb, weil sie bei der Stasi gewesen ist, Herr Schnur vorhanden sind. nämlich. In der SPD hätte Herr Thierse SPIEGEL: Auch Sie, Herr Wolf, haben seine Kandidatur gegen Stefan Heym am 4. November gesagt, jedes geschehe- gar nicht antreten müssen. Er würde ir- ne Unrecht müsse untersucht werden. gendwo auf der Hinterbank sitzen, denn Wolf: Aber doch nicht so, wie es nach vorn wäre der Stasi-Spitzel Ibrahim dem 3. Oktober 1990 geschehen ist. Ich Böhme geblieben. Ich will niemanden habe damals alle Verantwortlichen, auf Lebenszeit ausgrenzen, aber wir ha- auch meine früheren Kollegen des Mini- ben damals zu Recht gesagt: Liebe Leu- steriums für Staatssicherheit, aufgefor- te, bleibt mal eine Runde zu Hause. Bisky: Man kann nicht einfach, wie Sie das tun, bestimmte Dinge aus den Ak- ten herauspicken und dann Urteile über Schicksale fällen. Dagegen bin ich strikt. SPIEGEL: Ihr Vorschlag für den richti- gen Umgang mit der Stasi-Vergangen- heit, Herr Bisky? Bisky: Ich bin für einen Umgang, der nicht auf Angst basiert. Menschen dür- fen nicht dauernd entmutigt werden, die Wahrheit zu sagen. Wir müssen immer neu die Frage stellen: Ist die Akte ein Beweismittel oder nicht? Es gibt aus meiner Kenntnis Akten, die sind Be- weismittel, und es gibt nachweislich auch Akten, in denen falsche Informa- tionen stehen. Hier haben wir in der PDS das Prinzip, politische Biographien offenzulegen.

LICHTBLICK SPIEGEL: Was heißt das konkret? Markus Wolf Bisky: Zur politischen Biographie zäh- „Ich konnte mir len nicht nur Kontakte zum MfS. Und wenn es um das MfS geht, muß man ge- Veränderung nur von nau prüfen: Was hat jemand getan? Hat oben vorstellen“ er dadurch Vorteile genossen? Hat er Dinge zu verantworten, die andere Bio- graphien negativ beeinflußt haben? dert, sich vor die Öffentlichkeit zu stel- SPIEGEL: Kann die PDS mit Gregor Gy- len und über die Struktur, über das, was si, der fast wöchentlich durch neue Ak- geschehen ist, Rechenschaft abzulegen. tenfunde über den IM „Notar“ belastet SPIEGEL: Darauf warten viele bis heute. wird, weitere vier Jahre im Bundestag Wolf: Wogegen ich mich damals ge- durchstehen? wandt habe auf dem Alex, ist die Pau- Bisky: Es gibt für mich keinen Anlaß, schalisierung von Schuld. Dieses IM- anzunehmen, daß Gregor Gysi nicht die Syndrom, das geschaffen wurde, nicht Wahrheit sagt. Ich glaube Gregor Gysi. ohne Zutun Ihrer Zeitschrift, hat die Bohley: Herr Bisky, Sie können glau- Bereitschaft, sich der politischen und ben, wem Sie wollen. Ich möchte es der moralischen Verantwortung zu stel- gern genau wissen. len, nicht gefördert. Es ist doch ein Pa- Bisky: Lassen Sie uns die Akten gemein- radoxon, wenn hier von Träumen die sam einsehen, und lassen Sie uns dann Rede ist. Und was ist für mich geblie- öffentlich darüber diskutieren. Aber bit- ben? Eine sechsjährige Gefängnisstrafe, te nur anhand präziser Akten. die ausgesprochen wurde, aber noch SPIEGEL: Egon Bahr hat gefordert, ei- nicht rechtskräftig ist. nen juristischen Schlußstrich zu ziehen SPIEGEL: Die Gauck-Behörde deckt im- unter die DDR-Vergangenheit. Herr mer neue Fälle auf, vor allem mieses Gerlach, halten Sie das für einen guten kleines Denunziantentum wird sichtbar. Vorschlag? Plädieren Sie für Schließung der Akten? Gerlach: Das Argument von Frau Boh- Wolf: Ich bin zumindest der Meinung, ley war sehr einleuchtend, hätte mich daß das Zutun des SPIEGEL und ande- fast überzeugt: Was wäre geworden, rer Medien der früheren Bundesrepu- wenn Ibrahim Böhme, den ich 1989 blik dieser Aufarbeitung nicht zuträglich noch dem französischen Staatspräsiden-

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ten Mitterrand vorgestellt habe, heute Verantwortung tragen würde? Aber es geht nicht um diesen oder jenen. Es geht um die 16 Millionen aus der DDR und die 63 Millionen aus der alten Bundesre- „Dialog als Vorspeise“ publik, die jetzt in einem Staat leben. SPIEGEL: Was empfehlen Sie den zer- Rede-Auszüge vom 4. November 1989 strittenen Deutschen? Gerlach: Einen Schlußstrich hatte ich schon 1990, als ich amtierender Staats- ratsvorsitzender war, vorgeschlagen. Es war völlig falsch, die DDR als einen Un- rechtsstaat von Anfang bis Ende zu ver- teufeln. Heute ist ein solcher Schluß- strich dringender denn je, wenn wir nicht in nationaler Zwietracht unterge- hen wollen. Wir brauchen eine Art Ge- neralpardon, und das bedeutet: Alle Er- mittlungsverfahren gegen ehemalige DDR-Bürger müssen, solange es nicht SUCCO / ACTIONPRESS November-Parolen auf dem Alex: „Wer lebt, sage nie niemals“

hne Mut und volles Risiko wird auf der Tagesordnung der Mensch- O es keine Kreativität geben. De- heit steht: Freiheit, Gleichheit, Brü- mokratie ernst gemeint heißt: Die derlichkeit. Studenten müssen mit ihren Namen Manfred Gerlach ihr Produkt vertreten. Mein Fehler und der vieler meiner Generation er Dialog ist nicht das Hauptge- darf nicht wiederholt werden. Wir Dricht, sondern die Vorspeise. Es dürfen nichts auf die Umstände geht nicht um artiges Gerede, son-

LICHTBLICK schieben. dern darum, daß die Konflikte in un- Manfred Gerlach Lothar Bisky serer Gesellschaft und mit den Regie- „Wir brauchen renden ohne Umschweife ausgetra- rotz zunehmend mahnender Stim- gen werden. Es geht nicht um Dampf- jetzt die nationale Tmen in unseren eigenen Reihen ablassen und dann wieder Schläfrig- Versöhnung“ konnten wir nicht verhindern, daß werden, sondern wir müssen Druck unsere Führung bis zum 7. Oktober erzeugen, damit es endlich vorwärts- in einer Scheinwelt lebte und selbst geht in unserem Lande. Dazu brau- um Kapitalverbrechen geht, Ende 1995 dann noch versagte, als die Men- chenwireineWahl, diediesenNamen eingestellt werden. Wir brauchen jetzt schen anfingen, mit den Füßen abzu- verdient. die nationale Versöhnung. stimmen. Von der in der nächsten Jens Reich Reich: Versöhnung ist für mich eine Sa- Woche angesetzten Tagung des Zen- che zwischen Menschen, die kann man tralkomitees der SED werden nun o wie es ist, bleibt es nicht. Wer nicht von oben dekretieren. Deshalb bin eindeutige und mit Substanz erfüllte S lebt, sage nie niemals. Wer seine ich dagegen, daß von oben eine Verord- Aussagen erwartet. Hunderttausen- Lage erkannt hat, wie soll der aufzu- nung der Bundesregierung kommt, in de Kommunisten, die ehrlich und halten sein? Und aus niemals wird der steht: Jetzt seid ihr alle versöhnt. aktiv gearbeitet haben, erwarten ei- heute noch. Ich wünsche für meine Das wäre zu bequem. Meiner Meinung nen klaren Kurs. Urenkel, daß sie aufwachsen ohne nach muß Versöhnung dort passieren, Markus Wolf Fahnenappell, ohne Staatsbürger- wo wir alle leben. kunde und daß keine Blauhemden SPIEGEL: Wie sollen wir uns das vorstel- ir, die LDPD, haben die Tür zur mehr mit Fackeln an den hohen Leu- len? WErneuerungspolitik aufgesto- ten vorübergehen. Ich habe noch ei- Reich: In dem Institut, an dem ich arbei- ßen. Es muß jeder Gedanke daran nen Vorschlag: Aus Wandlitz machen te, hatten wir auch IM. Die Akten der überwunden werden, daß die Wahr- wir ein Altersheim. Die über 60- bis Gauck-Behörde sind an die Direktion heit nur im Besitz einer Gruppe, ei- 65jährigen können jetzt schon dort gegeben worden, und in allen Fällen, ner Partei, einiger Funktionäre ist! wohnen bleiben, wenn sie das tun, die ja nicht pro forma nach einer vom Wir müssen jetzt in unserem Lande was ich jetzt tue – abtreten! Senat ausgegebenen Strichliste abge- verwirklichen, was seit 200 Jahren Steffie Spira rechnet werden können, mußte ent- schieden werden, ob der Betreffende

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nur 5 Prozent der ehemaligen Mitglied- schaft. Meinen Sie wirklich, 20 Prozent im Osten wählen heute SED? Wolf: Am 4. November habe ich Käthe Reichel gesehen, und sie sagte zu mir: „Denk an Robert, vergiß Robert nicht!“ Als wir zusammenkamen, um den außer- ordentlichen SED-Parteitag vorzuberei- ten, beschäftigte sich eines der ersten Re- ferate mit den Ursachen der Krise. Der Name Robert Havemann, der Name Ru- dolf Bahro und viele andere tauchten auf, denen Unrecht geschehen war. Heute wird behauptet, die PDS habe sich als Nachfolgeorganisation der SED nicht mit der Vergangenheit beschäftigt. Das ist nicht wahr. SPIEGEL: Ist die PDS bereits eine norma- le demokratische Partei? Wolf: Ich finde es eine grenzenlose Heu- Lothar Bisky chelei der gegenwärtigen Machthaber, wenn sie die PDS-Mitglieder als Altkom- „Meinen Sie wirklich, munisten verteufeln und Herrn Gorba- 20 Prozent im Osten tschow und Herrn Schewardnadse als Freunde feiern. Wir müssen endlich zur wählen heute SED?“ Kenntnis nehmen, daß es in Europa 26 Nachfolgeorganisationen kommunisti- weiterbeschäftigt werden kann oder scher Parteien gibt, die in Parlamenten nicht. Man muß die Leute anhören, vertreten sind. Die agieren völlig normal muß Einzelfallprüfung machen – anders als demokratische Parteien. geht das nicht. Versöhnung als staatli- SPIEGEL: Wenn die PDS eine ganz nor- che Veranstaltung kann nicht funktio- male Partei ist, sollten Sie, Herr Bisky, nieren. den anderen Parteien auch Koalitionen SPIEGEL: Das Thema Vergangenheit in- anbieten. Warum tun Sie das nicht? teressiert auch, weil mit der PDS eine Bisky: Dazu ist es zu früh. Es wäre gut, Partei im Bundestag vertreten ist, die ei- wenn der PDS noch zwei oder drei, mei- nen Teil der Vergangenheit verkörpert. netwegen auch vier Jahre der Opposition Wie sollen die Deutschen mit dieser bleiben. Das ist gut für die Erneuerung PDS umgehen – umarmen oder ausgren- der Partei, auch für die präzise Ausarbei- zen? tung ihrer politischen Standpunkte. Reich: Wir haben uns auf ein parlamen- SPIEGEL: Wenn Sie den 4. November tarisch-demokratisches Repräsentati- 1989 noch mal zurückholen könnten, was onssystem unter dem Grundgesetz geei- würden Sie heute anders sagen? nigt, und wenn unter diesem Gesetz ei- ne Partei 30 Sitze bekommt, dann ver- stehe ich nicht die Hysterie, die da ein- setzt. Diese Partei ist da, sie hat ihre Wähler, sie hat sie sogar verdoppelt. Das zeigt doch nur politische und soziale Probleme, die in Deutschland existie- ren. Über die müssen wir ganz ruhig re- den, ohne Aufregung. Die PDS ist ein analytisches Problem, kein emotionales. Bohley: Jeder im Osten findet es unge- recht, oberflächlich und kleinkariert, die Auseinandersetzung mit der PDS unter der Überschrift „Rote Socken“ zu führen. Das geht am Thema vorbei. Manchmal denke ich, die Lage wäre kla- rer, wenn es mal in einem Land eine Ko- alition von SPD und PDS geben würde. SPIEGEL: Ausgerechnet Sie plädieren für rot-rote Koalitionen?

Bohley: Aber nur damit man sieht, was FOTOS: LICHTBLICK da für ein Mist entstehen würde. Denn Jens Reich da kann nur Mist rauskommen. „Versöhnung kann Bisky: Es bringt doch nichts, daß die PDS in ein Licht gestellt wird, in dem sie man nicht von nicht mehr steht. Wir sind aus der SED oben dekretieren“ hervorgegangen, klar, aber wir haben

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Reich: In diesem Herbst 1989 ist etwas Gerlach: Das war der Satz, den hatte möglich gewesen, was 16 Millionen und ich in der Nacht noch schnell eingefügt: viele Millionen weiter östlich für völlig „Die LDPD hat das Tor zur Wende unmöglich gehalten haben – die Selbst- aufgestoßen.“ Natürlich hat das Volk befreiung eines Volkes. Worauf ich hof- die Wende hervorgebracht, nicht die fe und wovon ich träume, ist, daß diese LDPD. Anstelle dieses Satzes würde Explosion in den Köpfen noch einmal ich heute auf das Wichtigste dieses 41. stattfindet. Wir wissen heute, daß wir Jahres der DDR verweisen – auf den aus ökologischen Gründen so nicht wei- Runden Tisch und seinen vorbildlichen terleben dürfen. Wir müssen umkehren. Verfassungsentwurf. Ich hoffe auf eine neue Generation, bei Bohley: Ich fühle meine damalige Skep- der es im Kopf genauso platzt, wie es sis gegenüber dem 4. November heute 1989 in Prag oder Leipzig oder Berlin bestätigt. In den SED-Akten steht, daß oder Wilna in den Köpfen geplatzt ist. am 20. Oktober ’89 Kurt Hager an den Ich glaube daran, daß das Unmögliche Genossen Krenz geschrieben hat, da dann doch einmal passiert. gebe es Kulturleute, die unbedingt eine Wolf: Ich hätte heute noch größere Demo machen möchten. „Die Versu- Hemmungen, vor die Menschen zu tre- che, sie von diesem Vorhaben abzu- ten, als damals. Nach all den Jahren bringen, hatten bisher keinen Erfolg.“

empfinde ich wesentlich mehr eigene LICHTBLICK Dann macht Hager den Vorschlag, „am moralische und politische Verantwor- Steffie Spira 4. November oder an einem anderen tung. Ich habe wesentlich intensiver Tag eine Kundgebung der Berliner Kul- nachgedacht, als ich es damals getan ha- „Ich rede lieber turschaffenden auf dem Platz der Aka- be, warum der große Traum meiner El- über Wahrheit demie zu ermöglichen. Bei dieser tern und meines Bruders, Sozialismus Kundgebung sollten namhafte Vertre- mit Demokratie zu verbinden, nicht ge- als über Träume“ ter unseres Kulturlebens sprechen und lungen ist. Ich wünsche mir diesen zur Unterstützung der Wende, die auf Traum für nicht zu lange Zeit ausge- ne Gesellschaft zu errichten, nur demo- der Tagung des ZK eingeleitet wurde, träumt. kratisch, nur über Mehrheiten, ohne aufrufen“. Zum Glück ist trotzdem Spira: Ich würde heute nichts anderes Gewalt, die eine Gesellschaft mit größe- nicht alles so gekommen, wie die SED sagen als das, was ich damals gesagt ha- rer sozialer Gerechtigkeit und mit mehr es sich gedacht hat. be. Man muß einfach die Wahrheit sa- Humanität im Umgang miteinander ist. SPIEGEL: Würden Sie noch mal schwei- gen. Das ist heute wie damals richtig. Ganz konkret würde ich heute für die gen? Bisky: Ich habe am 4. November vom Studenten eine Novellierung des Hoch- Bohley: Ich würde heute darauf beste- demokratischen Sozialismus gesprochen schulrahmengesetzes fordern. hen, daß die Rednerliste geändert wird. und mehr Rechte für Studenten gefor- Gerlach: Ich würde bis auf einen Satz, SPIEGEL: Frau Bohley, Frau Spira, dert. Ich glaube, es gibt eine Chance, ei- der falsch war, alles noch einmal sagen. Herr Bisky, Herr Gerlach, Herr Reich, SPIEGEL: Welchen Satz ziehen Sie zu- Herr Wolf, wir danken Ihnen für dieses * Am 11. November 1989. rück? Gespräch. Y A. V. LIMTEL / AFP Mauer-Demontage in Berlin*: „Das Volk ist zu den Bürgerbewegungen gegangen, aber nur eine historische Sekunde lang“

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Nato Bei den Kanonen bleiben General a. D. Gerd Schmückle über die Osterweiterung des Atlantischen Bündnisses

Schmückle, 77, war Vier-Sterne-Gene- renz für Sicherheit und Zusammenar- Dennoch hält der amerikanische Ver- ral und stellvertretender Nato-Oberbe- beit in Europa“ (KSZE) das europäi- teidigungsminister William Perry noch fehlshaber. sche Haus sichern, nicht die westlich immer eine Nato-Eintrittskarte für Ruß- orientierte Nato, lautete der schlaue land in der Hand. Damit will er wohl den on Konrad Adenauer stammt der Vorschlag. Das hört sich gut an, zumal Europäern zeigen, welche Komplizen- Satz, die Polen seien das östlichste es ja auch im Westen Illusionisten gibt, schaft – in oder außerhalb der Nato – je- VVolk westlicher Kultur. Dort zieht die an die Wunderwirkung kollektiver derzeit möglich wäre. auch der derzeitige deutsche Verteidi- Sicherheitssysteme glauben. In Wahr- Schon zuvor hatte US-Präsident Bill gungsminister die europäische Ostgren- heit liegt deren Schwäche darin, daß da Clinton der Nato für ihre Ostpolitik eine ze. Kein anderer Politiker setzt sich so jedes Land die Last der Sicherheitsvor- „Partnerschaft für den Frieden“ anemp- konsequent wie Volker Rühe dafür ein, sorge dem anderen überträgt – bis fohlen. Da den europäischen Regierun- Polen an die Nato heranzuführen. Auch schließlich keiner mehr vorsorgt. gen seit dem Zusammenbruch des sowje- tischen Systems dazu nichts Gescheites eingefallen ist, griffen sie zu. Dabei weiß niemand so recht, was die Nato mit dieser amerikanischen Morgen- gabe eigentlich anfangen soll. Dem An- schein nach weist sie in die Richtung eines allumfassenden kollektiven Sicherheits- systems: ein etwas bizarres Gebilde, we- sensfremd einem Beistandspakt wie der Nato. Dennoch bekam die „Partner- schaft für den Frieden“ in Nato-Brüssel eine Heimstatt. Das war ein Kardinalfehler – weil kol- lektive Sicherheitsträumereien, wenn sie mit einem festen Bündnis wie dem der Nato vermischt werden, zu Kuddelmud- del führen müssen; weil die Nato überfor- dert ist, wenn sie gleichzeitig für ganz un- terschiedliche Zielsetzungen arbeiten soll; weil sich die Nato für Einflüsse öff- net, diesiezuerst psychologisch,dannpo- litisch unterhöhlen würden. Für die „Partnerschaft für den Frie-

W. M. WEBER den“ ist die KSZE-Organisation in Wien Nato-Experte Schmückle: Mit Amerika ins Kuddelmuddel? die richtige Adresse. Dort könnten hoch- rangige Diplomaten ein nützliches Dis- Tschechien, die Slowakei und Ungarn Rußland geht es bei seinem Vorschlag kussionsforum für die Lösung von Ost- sollen zum Westen gehören, geht es um die Wiederherstellung der eigenen West-Problemen vielfältiger Art einrich- nach ihm. Bei derlei Alleingängen ba- Machtposition. In einer für alle Sicher- ten. Zudem ließe sich die russische Ent- lanciert Rühe geschickt zwischen seinen heitsfragen zuständigen KSZE könnte wicklung von Wien aus – in internationa- vier Nato-Kandidaten und einem arg- Moskau eine Schutzherrschaft über die ler Zusammenarbeit – zukunftsorientiert wöhnischen Rußland. europäischen Staaten anstreben. Damit voranbringen. Denn Moskau will natürlich die ließe sich der sowjetische Verlust im Die Nato aber muß bei ihren Kanonen Osterweiterung der Nato verhindern. Kalten Krieg langfristig kompensieren. bleiben. Sie ist das Sicherheitsbündnis Zuerst bedeutete Rußland dem Westen, Der dritte Zug im Spiel zielt direkt des Westens schlechthin. Sie schafft das wie aufgebracht die russische Armee auf den Kollaps der Nato: Moskau muß geostrategische Gleichgewicht zu Ruß- sein würde, verlöre sie ihr ehemaliges Nato-Mitglied werden. Einen solchen land, ist für eine dauerhafte Friedenser- strategisches Vorfeld an den Westen. Brocken könnte aber die Nato nicht ver- haltung unverzichtbar. Gerade deshalb Dann könnte es, so sickert es laut und kraften. Rußland, immer noch zweit- ist es unverständlich, weshalb die Nato leise aus Boris Jelzins politischer und größte Atommacht, ist mit seinen vielen Polen, Tschechien, der Slowakei und Un- militärischer Umgebung, dazu kommen, Völkerschaften ein Weltteil für sich. garn nicht unverzüglich das „französische daß vor lauter Empörung die demokra- Für die Nato käme ein Dilemma hin- Nato-Modell“ andient: politische Inte- tische Entwicklung des Landes verkom- zu: Zwischen beiden Riesenmächten – gration in das Bündnis bei militärischer me. Also sei der Westen gut beraten, Rußland hier, Amerika dort – müßte ein Selbständigkeit. das Zündeln schnell zu lassen. Konkurrenzkampf um die Führung ent- Und Rußland? Die differenzierte Inte- Den zweiten Zug machte die russische brennen, der kleineren Staaten den gration des westlichen Ostens könnte Bo- Diplomatie: Künftig solle die „Konfe- Atem abschnürt. ris Jelzin akzeptieren. Y

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Werbeseite Abgeordnete Messer in der Tasche Ostdeutsche Parlamentarier organisieren sich: Sie wollen mehr Macht in Bonn.

ür seinen Gast aus Dresden hatte der Kanzler viel Zeit. Zwei Stunden Flang fütterte Helmut Kohl den säch- sischen CDU-Ministerpräsidenten , dem er in herzlicher Feind- schaft verbunden ist, mit reichlich Lob und Artigkeiten. Noch Tage nach dem Treffen Ende Oktober war Biedenkopf bester Laune. Strahlend berichtete der Ministerpräsi- dent am Dresdner Kabinettstisch von der „äußerst angenehmen Atmosphäre“ im Kanzleramt. Besonders stolz war der Professor auf einen Deal, den er wie beiläufig eingefä- delt hatte. Gegen die Zusicherung, auf die sächsischen Bundestagsabgeordne- ten sei bei der anstehenden Kanzlerwahl vollzählig Verlaß, habe Kohl einen Pre- stigeposten versprochen: In der neuen Bundesregierung, so die Zusage, werde ein Ministerium künftig von einem Sachsen geleitet. Ein Dresdner Kabinettsmitglied war von der frohen Botschaft „gleich total elektrisiert“, wie Kollegen beobachten konnten: Justizminister Steffen Heit- mann (CDU). Der ehemalige Kirchen- jurist kann auf das Wohlwollen des Kanzlers setzen, seit der ihn vergebens als Kandidaten für das Amt des Bundes- präsidenten empfohlen hat. Auch unter den sächsischen Bundes- tagsabgeordneten hat Heitmann eine Reihe Fürsprecher. „Wenn die FDP das Justizressort räumt“, glaubt der aus Dresden stammende stellvertretende CDU-Fraktionsvorsitzende Johannes Nitsch, „führt an Steffen Heitmann kein Weg vorbei.“ Ja, wenn. Die Ostdeutschen machen Druck in Bonn. Wo immer sich die Chance auf Machtzuwachs bietet, melden sie Wün- sche an – mal freundlich bittend, mal fordernd. Die Politiker aus den neuen Ländern haben Nachholbedarf. Insgesamt 134 Abgeordnete kommen aus dem deut- schen Osten, ein Fünftel aller Parlamen- tarier. Doch in den Parteien sitzen sie fast durchweg in der zweiten Reihe. In den Fraktionsvorständen geben die Alt- profis den Ton an, die einflußreichen Arbeitsgruppen und Ausschüsse sind fest in Westhand.

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DEUTSCHLAND KARWASZ K. HOFFMANN / PRINT K.-B. M. MEYBORG / SIGNUM Ost-Parlamentarier Küster, Merkel, Lucyga: „Die Lehrzeit ist vorbei“

„Wer nicht mit Nachdruck seine Leu- rungen durchzusetzen: Gegen den Willen te reindrückt, fällt hinten runter“, hat der 57Unionsabgeordneten geht nichts in der FDP-Abgeordnete Jürgen Türk aus der Koalition, die künftig mit einer knap- Brandenburg nach vier Jahren Bundes- pen Mehrheit von zehn Mandaten regie- tag erkannt. „Die Lehrzeit ist vorbei“, ren muß. „Wenn wir einig sind, sind wir kündigt Christine Lucyga, Obfrau der stärker als die CSU“, sagt Clemens Mecklenburger SPD-Landesgruppe, an: Schwalbe, derzeit noch Parlamentari- „Wir werden überall kandidieren und, scher Geschäftsführer in Bonn. Für Mitt- wo es notwendig ist, auch strategische woch vormittag ist eine weitere Runde im Absprachen treffen.“ Personalpoker angesetzt. Derselbe Ort, Vorletzten Dienstag trafen sich zwölf dieselbe Besetzung. Abgesandte der christdemokratischen Die Sozialdemokraten, Herkunft Ost, Interessengemeinschaft Ost zur ersten haben sich schon in der vergangenen Le- Gesprächsrunde im Berliner Reichstag. gislaturperiode zum Stimmenblock zu- Bei Kaffee und Häppchen machten die sammengefunden. Was sie erreichen Lobbyisten unter Leitung von CDU- können, wenn sie zusammenhalten, er- Fraktionsvize Nitsch Personalpolitik. kannten die Abgeordneten, als sie Oskar Auf jedem fünften Parteiposten, so Lafontaine zum Widerruf seiner Forde- die Verhandlungsmaxime, soll künftig rung nach Lohnverzicht im Osten zwan- ein Ost-Abgeordneter sitzen. Ganz gen. oben steht die Forderung nach einem In einer Rede vor dem Wiesbadener zusätzlichen Minister in Helmut Kohls SPD-Parteitag im November 1993 mußte Kabinett und einem weiteren Parlamen- sich der saarländische SPD-Ministerprä- tarischen Staatssekretär. Vier bis fünf sident für seine umstrittene Idee ent- Vorsitzende der parlamentarischen schuldigen. Die Genossen hätten ent- Ausschüsse sollen künftig aus dem deckt, urteilt die Mecklenburgerin Chri- Osten kommen und, natürlich, auch ein stine Lucyga, „wie hilfreich es sein kann, Bundestagsvizepräsident. das Messer in der Tasche zu zeigen“. Die ostdeutschen Christdemokraten Die Waffen liegenauch jetzt wieder be- rechnen sich Chancen aus, ihre Forde- reit. SPD-Ostfunktionäre wie der Parla-

Ost-Block Ostdeutsche Bundestagsabgeordnete in den Fraktionen 1990 1994 Ost- Anteil an Ost- Anteil an Abge- der Fraktion Abge- der Fraktion ordnete ordnete

64 20,1% 57 19,4%

35 14,6 % 41 16,3%

17 21,5 % 6 12,8%

8 100%* 5 10,2%

16 94,1% 25 83,3%

* Die Grünen scheiterten 1990 im Westen an der 5-Prozent-Hürde

DER SPIEGEL 45/1994 59 Werbeseite

Werbeseite DEUTSCHLAND mentarische Geschäftsführer Uwe Kü- in der vergangenen Woche. Leider hät- ster sind seit Tagen unterwegs, um ten kurzfristig 120 000 Mark gefehlt, er- Mehrheiten zu organisieren. Mitte letz- klärte Firmenchef Elefterios Paparizos. ter Woche riefen die Matadore die ge- Da die „Conair“ nicht bezahlt wurde, samte Ostfraktion zu einer Klausurta- holte sie nur noch die Urlauber aus gung zusammen und verabschiedeten Griechenland ab. ein umfangreiches „Personaltableau“. Künftig sollen die Urlauber nicht Aufmerksam registrieren die Ost- auch noch ihr Geld verlieren. Seit An- deutschen, daß auch die Gegenseite fang November gilt in Deutschland ein nicht untätig bleibt. Zu seinem „großen neues Gesetz, das Pauschalreisende bes- Erstaunen“ fand SPD-Präsidiumsmit- ser als bisher schützen soll. glied Wolfgang Thierse, der bislang ein- Ab sofort müssen Reiseveranstalter zige stellvertretende Fraktionsvorsitzen- ihre Kunden umfassend und wahrheits- de aus dem Osten, in Zeitungen die gemäß über alle Modalitäten und Risi- Meldung, er solle Bundestagsvizepräsi- ken ihrer Reise unterrichten – was bis- dent werden. Niemand habe zuvor mit her offenbar nicht immer geschah. Vor ihm über den Vorschlag gesprochen, allem aber wird das Kundengeld gesi- empört sich der unfreiwillige Kandidat. chert. Wird der Veranstalter klamm, Der Ost-Berliner wittert eine West- springt zumeist eine Versicherung ein. Intrige: „Die wollten mich abschieben, Über diese Insolvenzsicherung erhält damit mein Posten für einen der Ihren der Kunde, wenn denn etwas schiefgeht, frei wird.“ Y den vorausgezahlten Reisepreis erstat- tet. Hat er seinen Urlaub schon hinter sich, wird ihm die Rückreise in die Hei- Tourismus mat bezahlt. Ein neues Reiserecht ist gewiß über- fällig. Immer wieder wurden deutsche Touristen geprellt, wenn der Veranstal- Zank um ter seine Rechnungen nicht begleichen konnte. Tausende warteten im vergan- genen Jahr auf Flughäfen in Portugal den Zettel und in Florida, als die Firma MP Travel Line in Frankfurt am Ende war. Geht der Reiseveranstalter pleite, Verbraucherverbände fordern seit langem einen besseren Schutz für Pau- bleibt der Urlauber oft sitzen. schalurlauber. Bereits 1990 hatte der Ein neues Gesetz soll ihm helfen. Rat der Europäischen Gemeinschaft ei- ne entsprechende Richtlinie beschlos- ünktlich um sechs Uhr morgens sen. startete Charterflieger „Conair“ Im Reisegewerbe kommt gleichwohl Pvon München aus in Richtung He- keine Freude auf. Das Gesetz sei unsin- raklion. Doch nur die Crew war an nig, meint Albrecht Feibel vom Bundes- Bord. Rund 260 traurige Touristen blie- verband mittelständischer Reiseunter- ben am Flughafen sitzen. Ihr Veranstalter „Mit Uns Reisen“ sei * Im August 1993 in Faro nach der Pleite von MP pleite, erfuhren die Sitzengebliebenen Travel.

Wartende Urlauber in Portugal*: Die Rückreise wird gesichert

DER SPIEGEL 45/1994 61 Werbeseite

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„Keine Angst, wir sind voll abgesichert!“ Kölner Stadt-Anzeiger nehmen, die Vollkasko-Mentalität der Schein wohl überflüssig, die Bahnfahrt Bürger geradezu „unselig“. gilt dann als Nebenleistung. Bei einem Manche kleine Reisebüros würden Verkauf von Fly & Drive hingegen, nun in den Ruin getrieben, sagt der Ver- wenn der Flug also mit einem Leihwa- bandspräsident voraus. Die gesamte gen kombiniert wird, muß der Garantie- Branche gerate in den „Würgegriff“ der zettel vorliegen. Strittig sind Angebote großen Touristikkonzerne. von privaten Ferienhäusern und von so- Der Zank geht um einen kleinen Zet- genannten Campingflügen. tel, Sicherungsschein genannt. Der Vor allem kleinere Reisevermittler Kunde bezahlt seine Reise nur dann tun sich schwer. Mehr als die Hälfte al- vorab, wenn ihm der Veranstalter die- ler Anbieter, rechnet der Verband vor, sen Garantieschein, eine Art Versiche- haben bis heute noch keine Versiche- rungspolice, vorlegt. Andernfalls leistet rung gefunden, die das Risiko abdeckt. er nur eine Anzahlung, den Rest bezahlt Voraussetzung nämlich ist eine Boni- er erst nach seinem Urlaub. tätsprüfung. Sanktionen sind vorgesehen. Wer sich Viele Reisebüros werden diese Prü- nicht an das neue Recht hält, wird mit fung kaum bestehen. Das gesamte Ge- Geldbußen bis zu 10 000 Mark bestraft. werbe ist chronisch kapitalschwach. Die Umsatzrendite beträgt netto gerade mal 0,89 Prozent. Da werden etliche, weiß Viele Reisebüros Feibel, „durch den Rost fallen“. werden die Prüfung Die Versicherung soll im Schnitt le- diglich drei Mark kosten. Bei 20 Millio- kaum bestehen nen Reisen fließen so 60 Millionen Mark an die Versicherungen. Die bisherigen Doch das neue Recht ist lückenhaft. Insolvenzschäden werden auf nur 10 So wurde offengelassen, wer überhaupt Millionen Mark jährlich geschätzt. ein Veranstalter ist. Tourismus-Riesen In eine Finanzklemme hingegen gera- wie Nur oder Tui zählen mit Sicherheit ten wohl jene Reiseveranstalter, die kei- dazu, ebenso Reisebüros, die eigene nen Versicherungsschein haben, denn Veranstaltungen anbieten. Aber auch sie dürfen nur die Anzahlung kassieren. Vereine und Pfarreien, Volkshochschu- Das bedeutet: So manches Reisebüro len und Verkehrsämter müssen den müßte den Urlaub der Kundschaft wo- Schein vorweisen, sofern sie mehr als möglich vorfinanzieren. Der vollständi- zwei Reisen jährlich organisieren. ge Preis darf dann erst nach Reiseende Völlig unklar ist überdies, was als verlangt werden. Pauschalreise gilt. Der Begriff ist nicht Das ist freilich nicht immer ganz definiert. Ausgenommen sind nur Ta- leicht. Vielen Kunden ist am Urlaubsen- gestouren, die nicht mehr als 150 Mark de das Geld ausgegangen. Sie sind dann kosten. nicht sonderlich zahlungswillig. Es sei Wird ein Rail & Fly-Ticket – für schon schwierig, so Feibel, „verflossene Bahn- und Flugreise – verkauft, ist der Urlaubsfreude zu pfänden“. Y Werbeseite

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findet Schwerhoff als willkom- Kommunen men: „Wir haben vor, die in 40 Jahren verkrusteten Strukturen auch durch mehr Bürgerbeteili- gung aufzubrechen.“ Kribbeln Die schwarz-grüne Koalition in der 80 000-Einwohner-Stadt könnte die überkommene poli- im Bauch tische Farbenlehre auch an- derswo durcheinanderbringen. Christdemokraten und Grüne wa- Ging die Annäherung bislang gen erstmals eine Koalition. nicht über eine zeitweilige Zu- sammenarbeit hinaus, wie etwa In Gladbeck lösen sie die verfilzte in kleineren Gemeinden an Rhein und Ruhr, im Saarland, SPD ab. in Hessen oder Niedersachsen, sind derzeit inNordrhein-West- chwere Baufahrzeuge röhren durch falen neue Bündnisse möglich. die Fußgängerzone, Preßlufthäm- Intensiv verhandeln Grüne Smer lärmen. Eine dichte Staubwol- und CDU in Mülheim, wo wie ke liegt über dem Gladbecker Rathaus. in Gladbeck Skandale die SPD Der „Willy-Brandt-Platz“ im Zentrum um die absolute Mehrheit der Ruhrgebietsstadt wird umgestaltet. brachten, aber auch in den Der Platz wird seinen Namen wohl be- Kreisen Aachen-Land und Eus- halten, dochimRathaus hat dieParteides kirchen. Die Entscheidungen verstorbenen SPD-Ehrenvorsitzenden sollen in dieser Woche fallen. Brandt nach Jahrzehnten absoluter Die Bewegung an der Basis Mehrheit die Macht verloren. Christde- sorgt nun für Unruhe in den mokraten und Grüne haben mit Hilfe der Spitzen der nordrhein-westfäli-

kleinen Wählergemeinschaft Bürger in J. SCHWARTZ schen Parteien: Die ungewohn- Gladbeck (BIG) die erste schwarz-grüne Koalitionspartner Schwerhoff, Herrmann* ten Konstellationen in den Koalition in Deutschland gebildet. Bei selbstgebackenem Kuchen nähergekommen Städten stören im beginnenden Möglich wurde die Premiere, weil die Landtagswahlkampf. Genossen, wieimRuhrgebiet üblich, ihre So kamen sich CDU und Grüne unter Gewählt wird im Mai nächsten Jahres, Hochburg als Erbhof betrachtet hatten. der Herrschaft der SPD schon auf der und Ministerpräsident Johannes Rau In Gladbeck übertrieb Bürgermeister Oppositionsbank näher. Zwar sei seine (SPD) kann sich seiner absoluten Mehr- Wolfgang Röken den unappetitlichen Partei mit „einem Kribbeln im Bauch“ heit im Lande nicht sicher sein. In den Schacher um Posten und Pfründen. in die Verhandlungen gezogen, sagt Rathäusern seien die „buntesten Mi- Seine Parteifreunde hatten dem Leh- CDU-Fraktionschef Jürgen Arning. schungen denkbar“, sagte der Regie- rer zusätzlich zum Bürgermeisterposten Aber während sich die neuen Partner rungschef zwar betont gelassen. Aber in- Anfang 1993 den gutdotierten Job eines wechselseitig mit selbstgebackenem Ku- tern, so ein Mitglied des SPD-Landes- Geschäftsführers des Verkehrsverbun- chen verköstigten, kamen sie einander vorstands, wurden die Genossen in den des Rhein-Ruhr (VRR) zugeschanzt. auch inhaltlich näher. Die neue Mehr- Ortsvereinen bereits „zur Brust genom- Später erklärte Röken, daß er nach Ab- heit einigte sich nach knapp zwei men“. Die SPD müsse „von ihrem hohen lauf seiner Amtszeit nicht wieder als Bür- Wochen grundsätzlich auf Positionen Roß herunter, bevor noch mehr auf die germeister kandidieren wolle. zur Umwelt-, Abfall- und Verkehrspoli- Oppositionsbänke wechseln“. Seine neue Aufgabe beim größten tik. Der nordrhein-westfälische CDU-Ge- öffentlichen Nahverkehrsunternehmen Hilfreich war dabei der gute Ruf des neralsekretär Herbert Reul „begrüßt“ Europas überforderte Röken jedoch am vergangenen Donnerstag zum Bür- die Annäherung in den Städten, aber schon nach wenigen Monaten. Kurzer- auch für ihn ist das Gladbecker Modell hand ließ der Sozialdemokrat den Kandi- „auf Landesebene kein Thema“. daten für seine Nachfolge im Bürgermei- „Wir wollen die in Die Christdemokraten plagt die Sor- steramt wieder abservieren und sich 40 Jahren verkrusteten ge, daß Wähler außerhalb des Ruhrge- selbst erneut aufstellen. biets auf die schwarz-grüne Verbrüde- Die Quittung für solche Volten bekam Strukturen aufbrechen“ rung mit Liebesentzug reagieren könn- die SPD bei den Kommunalwahlen am ten. 16. Oktober: Die Partei sackte in Glad- germeister gewählten CDU-Politikers „Runterspielen“ heißt auch bei den beck von 54 auf 44 Prozent. Eckhard Schwerhoff, 51. Der bisherige Grünen die Devise. Zuviel schwarz-grü- Weil sich in der einst tiefroten Stadt Sozialdezernent hatte in den vergange- ne Gemeinsamkeit, so fürchten Strate- auch der Stimmenanteil der kommunisti- nen Jahren bei der Behandlung von Asyl- gen im Landesvorstand, könnte die schen DKP von 8 Prozent bei der letzten bewerbern und Sozialhilfeempfängern Chance für eine Koalition mit der SPD Wahl halbiert hatte, reichte es mit den ein liberaleres Profil erkennen lassen als im neuen Landtag verpatzen und zudem zwei Räten der BIG rechnerisch für die SPD-Verwaltung. die eigene Klientel verdrießen. Schwarz-Grün. Zudem lobt Schwerhoff bei seinen grü- Michael Vesper, Fraktionsgeschäfts- An Sympathie mangelte es ohnehin nen Partnern stets die „andere Entschei- führer der Grünen im Landtag, bat des- nicht. „Über Jahre sind wir von den Sozis dungskultur in der Politik“. Basisdemo- halb Spitzengenossen, in SPD-Ortsverei- als ,Ratten‘ beschimpft worden“, klagt kratische Ansätze, die Parteifreunde an- nen für Entgegenkommen zu sorgen, um Grünen-Fraktionschef Mario Herr- dernorts als „Chaos“ verdammen, emp- weiteren Koalitionen wie in Gladbeck mann, 32.Sogar von „alle erschießen“ sei vorzubeugen. Vesper: „Unsere Lieb- die Rede gewesen. * Vor dem Gladbecker Rathaus. lingsfarbe ist nun mal Rot-Grün.“ Y

DER SPIEGEL 45/1994 65 Werbeseite

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dienen. Sie verschob Stiftungsgelder aus Rechtsextremisten Zinsgewinnen an Kameraden in Italien und Belgien, in Frankreich und Spa- nien, finanzierte illegal befreundete Par- teien. Südtirol ist überall Sie ließ völkisches Gedankengut in Südtirol, Ostbelgien und im Elsaß pfle- Eine Düsseldorfer Stiftung finanzierte Separatisten im Ausland. In Italien gen. Wundertätig wollten Burger und seine Freunde überall wirken, wo deut- ermitteln Terror-Fahnder, in Belgien ein Untersuchungsausschuß. Der sche Minderheiten leben – auch wenn nordrhein-westfälische Innenminister beklagt „außenpolitischen Schaden“. sie längst Frieden mit ihren Mehrheits- Nachbarn geschlossen hatten. Südtirol war für Burger überall. uf seine alten Tage kam dem Düs- misten Norbert Burger. Der war in den Das Innenministerium von Nord- seldorfer Multimillionär Hermann sechziger Jahren an Bombenanschlägen rhein-Westfalen, dessen Aufgabe die ANiermann Hehres in den Sinn. Der in Oberitalien beteiligt und 1970 von ei- Überwachung gemeinnütziger Stiftun- Einzelgänger, der aus seiner deutschna- nem italienischen Gericht in Abwesen- gen ist, hatte die Kontrolle über die Ul- tionalen Gesinnung nie ein Geheimnis heit zu lebenslanger Haft verurteilt wor- trarechten offensichtlich verloren. In- gemacht hatte, faßte den Entschluß, den. Burger war dem Düsseldorfer nenminister Herbert Schnoor (SPD) hat sein Vermögen in eine Stiftung einzu- Millionär aus Südtirol empfohlen wor- bringen. Sie sollte die „Lage der ethni- den. schen Minderheiten verbessern“ hel- Der Extremist aus den Alpen und fen und überhaupt „der Völkerver- zeitweilige Vorsitzende der Nationalde- ständigung und Menschlichkeit“ die- mokratischen Partei in Österreich nutz- nen. te seine Stellung als Berater Niermanns: Mit dem Niermann-Vermögen ließ Nach und nach schleuste er etliche Ge- sich schon einiges Gute tun. Der Mäzen sinnungsfreunde in die 1977 errichtete war unverheiratet und kinderlos. Er be- Düsseldorfer Stiftung. saß Grundstücke in der Düsseldorfer In- Zu Burgers Clique gehörten auch nenstadt, einen rheinischen Gutshof, Herwig Nachtmann, der Chef des ein Klinkerwerk in Dormagen, eine Zie- rechtsextremen österreichischen „Au- gelei in Düsseldorf-Ludenberg; er nann- la“-Verlags und der Düsseldorfer An- te Sparguthaben im In- und Ausland so- ästhesist Erhard Hartung, der sich gern wie Aktienpakete in Japan sein eigen. mit Rechtsradikalen umgibt. Beide Das meiste hatte er von seinen Eltern kannte Burger aus gemeinsamen Südti- geerbt, alles in allem schätzungsweise roler „Bumser“-Tagen: Hartung war in 100 Millionen Mark. Italien wegen der Beteiligung an Über den rechten Zweck der Stiftung, Sprengstoffverbrechen ebenfalls zu Le- die selbstverständlich seinen Namen tra- benslang verurteilt worden. gen sollte, holte sich Niermann Rat bei Stifter Niermann starb 1985. Von nun

einem Mann, der ganz eigene Vorstel- an konnte sich die rechtsradikale Clique NIERMANN-STIFTUNG lungen von der Völkerverständigung be- noch ungenierter aus der Hinterlassen- Stiftungsgründer Niermann saß: dem österreichischen Rechtsextre- schaft des versponnenen Millionärs be- Hilfe vom Terroristen GAMMA O. SEEHAUSER Sprengstoffanschlag in Bozen, Extremist Burger (1988): Spendengelder von Düsseldorfer Konten?

68 DER SPIEGEL 45/1994 nun Grund, den „außenpolitischen Scha- den“ zu beklagen. Davon gibt es reichlich. Das Regional- parlament der ostbelgischen Kantone Eupen und St. Vith versucht seit Februar per Untersuchungsausschuß, die Ma- chenschaften der Düsseldorfer im deutsch-belgischen Grenzland aufzuklä- ren. Der christsoziale Ministerpräsident der Deutschsprachigen Gemeinschaft in Belgien, Joseph Maraite, appellierte an „alle Einrichtungen, Vereinigungen und Personen in Ostbelgien, von einer An- nahme der Stiftungsgelder abzusehen“. In Bozen prüft die Staatsanwaltschaft, ob Niermann-Geld an die Terrorgruppe „Ein Tirol“ geflossen ist, die von 1986 bis 1988 mit einer Serie von über 40 An- schlägen Südtirol wieder an die Seite Österreichs bomben wollte. Vorsitzender des Kuratoriums der Stiftung, das Aufsicht über die Verwen- dung des Vermögens führen sollte, wur- de der emeritierte Würzburger Rechts- professor August Freiherr von der Heyd- te. Der Gelehrte, dessen vaterländische Gesinnung berüchtigt war, hatte 1962 nach einem SPIEGEL-Titel über das „Fallex“-Manöver („Bedingt abwehrbe- reit“) Strafanzeige wegen Landesverrats erstattet und damit die SPIEGEL-Affäre ausgelöst. Von der Heydte war ein erzkonserva- tiver früherer CSU-Landtagsabgeordne- ter. Er protegierte rechte Splittergrup- pen wie die „Patrioten für Deutschland“; vornehmlich aber brachte er in die Nier- mann-Stiftung Erfahrungen in Sachen Geldwäsche mit. Von der Heydtes „Institut für Staats- lehre und Politik e.V.“ war eine der größten Geldwaschanlagen, die bei der Parteispenden-Affäre enttarnt wurden (SPIEGEL 39/1983). Allein über das Würzburger Institut wurden zwischen 1969 und 1980 80,5 Millionen Mark aus Mitteln der „Staatsbürgerlichen Vereini- gung 1954 e.V.“ an CDU und CSU trans- feriert. Burger, Heydte & Co. legten den Niermannschen Stiftungszweck radikal aus. In Südtirol förderten sie Politiker, die sich nicht mit der Teilung abfinden wol- len und noch immer auf eine Revision des Friedensvertrages von St. Germain aus dem Jahre 1919 hoffen. Damals war der südlich des Brenners gelegene Teil Tirols Italien zugeschlagen worden. In den ostbelgischen Kantonen Eupen und St. Vith unterstützte die Niermann- Stiftung die Reste des Deutschtums in der Partei der deutschsprachigen Belgier (PDB). Im Versailler Vertrag war das zuvor preußische Land 1919 Belgien ein- gegliedert worden; 1940 annektierten es die Nazis, nach dem Krieg kam es wieder zu Belgien. Politisch ambitionierte Stiftungsmit- glieder ließen sich allerlei Tricks einfal-

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len, um die stramm-deutschen Außen- Der Düsseldorfer Rechtsanwalt Gün- seiter in Belgien zu fördern. So wurden ter Tondorf, der das Finanzgebaren der in grenznahen Städten Konten für an- Stiftung für die staatliche Aufsicht prüf- geblich kulturelle oder humanitäre te, entdeckte Mauscheleien auf Nier- Zwecke eingerichtet. Vertrauensleute mann-Konten. Geldbeträge wurden an der Düsseldorfer hatten freien Zugang. Vertrauensleute ausbezahlt; Profiteur Um die Aufsicht im Düsseldorfer In- war auch die heimattreue Partei „Elsäs- nenministerium zu täuschen, fälschten sisch-Lothringischer Volksbund“. die Niermänner die Bilanzen. Sie tarn- Die Düsseldorfer Stiftung hat ver- ten die Alimentierung der PDB, indem mutlich auch die Verteidigung der sie Spenden unter allgemeinen Zuwei- „Schwarzen Wölfe“ finanziert. Die ter- sungen an das PDB-nahe „Institut roristischen elsässischen Separatisten für Erwachsenenbildung im deutschen hatten in den siebziger und Anfang der Sprachgebiet“ (InED) versteckten. Mal achtziger Jahre Anschläge auf das ehe- flossen in einem Jahr 30 000, mal 53 000 malige Nazi-Konzentrationslager Strut- Mark an die Partei. hof verübt. Ob Wahlplakate oder Zeitungsanzei- Am meisten aber lag dem zum mäch- gen, Informationsbroschüren oder Flug- tigsten Mann der Stiftung aufgestiege- blätter für die PDB – die Niermann-Stif- nen Bomben-Burger wie eh und je Süd- tung mischte gern mit, wenn es galt, das tirol am Herzen. Einem „Peter Inner- hofer“ etwa überwies die Stiftung 6000 Mark für eine wissenschaftliche Arbeit; „Die wollten uns den einen Mann dieses Namens gab es je- alten rheinischen doch nicht. Burger tat geheimnisvoll: Hinter dem „Pseudonym“ verberge sich Provinzen zuschlagen“ ein Südtiroler Ministerialbeamter, der „wichtiges Geheimmaterial“ beschafft rechte Wahlergebnis zu erzielen. Der habe. Eupener Bürgermeister Alfred Evers Bedürftige Bergbauern wurden laut wunderte sich lange, „woher die PDB Stiftungsbilanz unterstützt – in Wahr- soviel Geld für ihre aufwendigen heit erhielten sie oftmals nur die Hälfte Wahlkampagnen hatte“. Der Liberale des ihnen zugedachten Geldes. Die an- hat einen Verdacht: „Die wollten die dere Hälfte ging vermutlich an den PDB an die Macht bringen und uns Südtiroler Heimatbund, eine separati- den alten rheinischen Provinzen zu- stische politische Gruppierung. schlagen.“ Die Bozener Staatsanwaltschaft ver- Das klappte natürlich nicht, die folgt eine Spur, die 1988 schon das Köl- Wahlerfolge blieben bescheiden. Als ner Bundesamt für Verfassungsschutz eine der Ursachen machten die unbe- im Visier hatte. Der Verdacht der Ge- irrbaren PDB-Politiker die einzige heimdienstler: Stiftungsgelder könnten deutschsprachige ostbelgische Tageszei- „satzungswidrig zur Unterstützung ter- tung Grenz-Echo aus. Und sie be- roristischer Aktivitäten in Südtirol ver- schlossen, eine mediale Gegenmacht untreut“ worden sein. Burger kann da- zu dem eher fortschrittlichen Blatt zu nichts mehr sagen, er starb 1992. müsse her. Aber Beamte einer Sondereinheit In St. Vith ging, mit Unterstützung der Bozener Carabinieri für Terroris- aus Düsseldorf, ein „Radio Hermann“ mus und Organisierte Kriminalität ver- auf Sendung, in memoriam Hermann nahmen jetzt rund 30 Südtiroler, die in Niermann. den achtziger Jahren auf der Spendenli- Radio war gut, Fernsehen für ste der Niermann-Stiftung gestanden ein „Heim ins Reich“-Programm noch hatten. „Eine Million Mark wurden wichtiger. 1986 wurden aus der Düssel- ausgezahlt, nur 500 000 Mark sind bei dorfer Kasse 120 000 Mark bereitge- den Leuten angekommen“, sagt Staats- stellt, mit denen eine „Media Finanz anwalt Cuno Tarfusser. AG“ von Luxemburg aus einen Fern- Auch der Bonner Ministerialbeamte sehsender für Ostbelgien aufbauen Uwe Stiemke, der seit 1987 Stiftungs- sollte. Gründer der AG war das Kura- vorsitzender ist und bei der Aufsichts- toriumsmitglied Walther Janssen aus behörde als Saubermann gilt, hat einen dem belgischen Hauset bei Eupen. Ob- schlimmen Verdacht. Burger, so Stiem- wohl das Projekt nie zustande kam, ke, könnte Niermann-Geld für Terrori- verbuchte die AG bei ihrer Auflösung sten abgezweigt haben. 1987 Verluste in Höhe von 38 000 Tarfusser will jetzt herausfinden, ob Mark. Den Rest von gut 80 000 Mark mit dem Geld womöglich die 44 Bom- stellte Janssen dem InED direkt zur benanschläge auf Eisenbahnlinien, Verfügung. Wasserleitungen und Gebäude finan- Endlich wurde die Stiftungsaufsicht ziert wurden, die in Bozen und anderen mißtrauisch. Sie setzte einen Sachwal- Orten Südtirols vom April 1986 bis zum ter ein, der in ihrem Auftrag die Stif- Oktober 1988 verübt wurden. Tarfus- tungsgeschäfte führte und sämtliche ser: „Die Spur führt nach Deutsch- Konten sperren ließ. land.“ Y

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Kunstschnee Kunstschnee die ohnehin kurze Wachstumszeit weiter Import in tausend Boykott mit Faulende verkürzt. Beschneiungsanla- Kubikmeter 346,1 Wirkung gen verbrauchen bis zu 1000 Vegetation Liter Wasser pro Quadrat- Die Einfuhr von Tropen- Pläne des Verbands Deut- meter Piste und über eine 281,9 holz in Deutschland geht scher Seilbahnen, künftig alle halbe Million Kilowattstun- 247,3 zurück. Gründe dafür sind Skigebiete in den Alpen mit den Strom in der Saison. 214,9 offenbar Boykottaufrufe Kunstschnee-Anlagen auszu- „Früher“, so ein LBV-Spre- der Umweltverbände und rüsten, haben Umwelt- und cher, „wurde Ski gelaufen, kommunale Verbote, Tro- Naturschützer alarmiert. wenn die Schneelage es er- penhölzer zu verwenden. Letzte Woche forderte der laubte, heute soll Ski gelau- 66,9 58,7 Landesbund für Vogelschutz fen werden, wenn die Seil- in Bayern (LBV) ein generel- bahngesellschaft es will.“ les Verbot der Schneekano- Parlamente nen. Kunstschnee, darauf 1992 1993 1992 1993 1992 1993 weisen Bodenkundler und Botaniker seit Jahren hin, Mehrheit Rundholz Schnittholz Furnier wiegt zehnmal soviel wie eine Quelle: Verein Deutscher Holzeinfuhrhäuser natürliche Schneedecke und in Kiel gefährdet ist so verdichtet, daß kaum Der Rücktritt Björn Eng- Landesregierung von Heide endlich stärker zu vertreten, Luft durchdringt. Folge: Die holms als Kieler Landtagsab- Simonis gefährden. Grund: als es die Regierung bisher labile Gebirgsvegetation ver- geordneter könnte die Ein- Der eigenwillige Nachrücker tut“. Die Arbeitszeitverlän- fault unter der Last, zumal Stimmen-Mehrheit der SPD- für Engholm, Wolfgang Herr- gerung für Beamte etwa, ei- mann, 56, kündigte vorige nes der Steckenpferde der Woche an, er werde sich dem Ministerpräsidentin, wäre Fraktionszwang seiner Partei mit ihm, so Herrmann, „im Notfall auch widerset- „nicht zu machen gewesen“. zen“. Metallgewerkschafter Herrmann ist Betriebsrat in Affären der Firma Howaldtswerke- Deutsche Werft in Kiel. Bei Geheim-Treff der Kandidatenaufstellung zur Landtagswahl 1992 hatte in Thüringen Simonis ihm im Wahlkreis Die Verfassungsschutz-Affä- Kiel-Ost das Direktmandat re um den thüringischen In- weggeschnappt; Herrmann nenstaatssekretär Michael wurde mit einem Listenplatz Lippert (CDU) weitet sich abgespeist. „Aber nu’ bin ich aus. Lippert hatte bei einem drin“, sagte der gelernte Mitarbeiter des saarländi-

MAURITIUS Schweißer, der darauf drängt, schen Verfassungsschutzes Schneekanoneneinsatz in den Alpen „Arbeitnehmerinteressen Ende September Informatio- nen über seinen Saar-Kolle- gen Richard Dewes (SPD) Justiz die Salzburger Landesbehörde, „rechtlich erbeten und erhalten (SPIE- keinen Zugriff auf Dr. Löffler“ hatten. Seit GEL 43/1994). Dewes, der- seiner Festnahme sitzt der ehemalige Volks- zeit Innenstaatssekretär im Falscher Zugriff vertreter im Hamburger Untersuchungsge- Saarland, hat gute Chancen Der Prozeß gegen den mutmaßlichen Ex- fängnis. auf ein Ministeramt in einer DDR-Spion und ehemaligen Hamburger Löffler hat bereits eingeräumt, zwischen künftigen CDU/SPD-Regie- CDU-Bürgerschaftsabgeordneten Gerd 1974 und 1990 etwa 100 Kontakte zu DDR- rung in Erfurt. Der Saar-Ge- Löffler, 55, könnte gleich zu Beginn am Geheimdienstlern gehabt zu haben. Lohn heimdienstler, ein Partei- Freitag dieser Woche platzen. Grund ist des Agenten: rund 500Mark bei jedem Tref- freund Lipperts, beschränkte die offenbar illegale Verhaftung Löfflers fen. Seinem Prozeß war Löffler 1991 durch sich nicht nur auf die elektro- am 25. Juli auf dem Gelände Flucht nach Österreich zuvor- nische Übermittlung von In- des deutsch-österreichischen gekommen, wo er nach einer fos. Am 5. Oktober traf Lip- Grenzübergangs bei Baye- erfolgreichen Klage soge- pert den Saarländer in Thü- risch Gmain. nanntes Auslieferungsasyl ge- ringen zu einem vertrauli- Löffler war, so bestätigt jetzt noß. Jetzt, so Löfflers Anwalt chen Gespräch. Gegenüber eine Stellungnahme der Fi- Gerhard Strate, müsse der seinem Arbeitgeber hatte der nanzlandesdirektion Salz- Prozeß erneut ausgesetzt wer- Verfassungsschützer erklärt, burg, von deutschen Grenz- den, bisgeklärt sei, ob die Ver- er benötige einen freien Tag polizisten auf österreichi- haftung legal war. Sollte Löff- für Behördengänge. Lippert schem Hoheitsgebiet festge- ler widerrechtlich verhaftet behauptete bislang, er habe nommen worden. Anschlie- worden sein, müßten ihn die lediglich einen alten Bekann- ßend schleppten die Beamten deutschen Behörden vermut- ten beim Verfassungsschutz

den Politiker auf deutsches ACTION PRESS lich nach Österreich ausreisen gebeten, ihm eine bereits Hoheitsgebiet, obwohl sie, so Löffler lassen. veröffentlichte Rede von De- wes zuzusenden.

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cherheitspolitik werde hauptsächlich aktionskräfte“ einem weltweit einsetz- Bundeswehr „von der militärischen Führung“ – also baren Expeditionskorps angehören. Generalinspekteur Klaus Naumann – Die „innere Umstellung“ der Solda- bestimmt. Dann unterschrieb eine ten für die neue Aufgabe out-of-area, Gruppe von Gelehrten aus der ganzen rühmt sich der Generalinspekteur, habe Politik an Republik einen Aufruf wider die er „bewußt forciert“. Genau das sei die „übermächtige Betonung des militäri- „falsche Weichenstellung“, urteilen die schen Faktors in der neuen deutschen Wissenschaftler. Die „typischen Kriege die Front Außen- und Sicherheitspolitik“. der Gegenwart und Zukunft“ entsprä- Titel der Resolution: „Politik statt chen nicht dem Muster des Golfkriegs In den Bundeswehr-Hochschulen Militär an die Front!“ Mehr als 15 Pro- um Kuweits Öl. mehrt sich Kritik an der fessoren und Dozenten der Führungs- Vielmehr gehe es um „innerstaatliche akademie, der Bundeswehr-Universi- Auseinandersetzungen“, also Bürger- Bonner Militärpolitik. Die Militärs täten in Hamburg und München, kriege: „Weder klassisches Militär, neue reagieren mit Zensur. des Sozialwissenschaftlichen Insti- tuts der Bundeswehr und des Militär- geschichtlichen Forschungsamts ste- Feindselige ie Informationsschrift Diskurs hat hen dazu. Reaktionen von der nur einen kleinen Leserkreis. Die Ihr Vorwurf: Die verantwortlichen Hardthöhe DAuflage des Blattes, das an der Politiker hätten die Debatte „viel zu Führungsakademie der Bundeswehr er- verkürzt auf die Rolle von Streitkräf- scheint, beträgt rund 100 Exemplare. ten und militärischer Machtausübung sogenannte Krisenreaktionskräfte noch Doch schon das war zuviel: Auf Ge- fixiert“. sogenannte ,robuste‘ Blauhelme könn- heiß von oben mußte die letzte Ausgabe Nicht feindliche Panzerarmeen oder ten durch Intervention von außen viel des Diskurs wieder eingesammelt wer- „kriegslüsterne Diktatoren“ bedrohten bewirken – wie die Beispiele Somalia den. Europa jetzt, sondern vor allem „Risi- und Bosnien zeigen.“ Die Moral der angehenden Stabsoffi- ken nicht-militärischer Natur“ – etwa Militärische Gewalt sei da „eher frag- ziere, so befürchteten die Verantwortli- marode Kernkraftwerke, Umweltzer- würdig, sogar kontraproduktiv“. Um chen, gerate durch die Veröffentlichung störung und wirtschaftliche Unterent- Krisen zu vermeiden, gelte es statt des- kritischer Thesen in Gefahr, mit denen wicklung. Aber in Bonn, rügen die sen „internationale Ordnungsstruktu- drei Sozialwissenschaftler der Bundes- Bundeswehr-Akademiker, „richtet man ren“ auszubauen, „kollektive Sicher- wehr-Kaderschmiede sich gegen die Mi- sich vor einer alarmistisch aufgebauten heitssysteme“ wie Uno und KSZE. litärpolitik der Bundesregierung wen- Drohkulisse auf klassische militärische Statt neuer Rüstung fordern die Wis- den. Gewaltanwendung ein“. senschaftler deshalb mehr Geld für zivi- Doch der interne Zensurversuch nützt Das zielt auf die unermüdlichen le Hilfswerke sowie „massive politische, nichts: Allenthalben wächst an den wis- Warnungen Naumanns vor neuen Ge- ökonomische, soziale und ökologische senschaftlichen Instituten der Bundes- fahren aus einem „Krisenbogen von Entwicklungsprogramme“ in potentiel- wehr die Kritik an den Bonner Plänen, Marokko bis Pakistan“ und die Pläne len Krisenregionen vornehmlich der die Truppe für weltweite Blauhelm-Ein- zum Umbau der auf weniger als Dritten Welt und der Nachfolgestaaten sätze fit zu machen. 340 000 Mann schrumpfenden Armee: der ehemaligen Sowjetunion. Erst rügten die drei Dozenten der In der Ära nach dem Kalten Krieg sol- Soviel Kritik an der neuen offiziellen Führungsakademie in Hamburg, die Si- len 50 000 ihrer Soldaten als „Krisenre- Linie stieß auf feindselige Reaktionen von der Hardthöhe. Das Haus des CDU-Verteidigungsministers Volker Rühe versuchte es mit Einschüchte- rung. Im Ministerium erhielten Experten für Dienstrecht den Auftrag, zu prüfen, ob den Aufsässigen ein Disziplinarver- fahren wegen Verstoßes gegen die Treuepflicht gegenüber dem Dienst- herrn angehängt werden könnte. In Hamburg mußten vorige Woche die re- gimekritischen Sozialwissenschaftler Rudolf Hamann, Volker Matthies und Wolfgang R. Vogt vor dem „erweiter- ten Führungskreis“ um Akademie- Kommandeur Generalmajor Hartmut Olboeter antreten, um ihre Ansichten zu rechtfertigen. „Bei uns gibt es keine Inquisition“, lautet die offizielle Sprachregelung. Aber eine zweite Runde der „Diskussi- on“ beim Kommandeur ist schon anbe- raumt. Dann, haben die Oberen verspro- chen, dürfen die kritischen Thesen auch im Diskurs erscheinen – allerdings nur

M. DARCHINGER mit einem offiziellen Kommentar verse- Militärstrategen Rühe, Naumann: „Bei uns gibt es keine Inquisition“ hen. Y

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Werbeseite . M. SCHARNBERG / MAGMA Jehova-Anhänger bei der Straßenwerbung (in Hamburg): Zwanzig Stunden pro Woche im Einsatz

Sekten „Gott züchtigt seine Söhne“ Lächelnd ziehen sie von Haus zu Haus und werben neue Jünger. Doch üben die Zeugen Jehovas Tugendterror und bespitzeln ihre Mitglieder. Der Sektenkonzern macht Milliardenumsätze. Jetzt will er in Deutschland offiziell als Kirche anerkannt werden, gleichgestellt mit Katholiken und Protestanten.

as Kinderzimmer ist leer, die Rega- Ankömmlinge durch den Zaun gescho- Verkündiger der Sektenbotschaft sind in le sind ausgeräumt, die beiden Bet- ben. In Aussiedlerunterkünften werden 231 Ländern aktiv – von Bolivien bis Dten wurden seit Monaten nicht Insassen auf den Zimmern umworben. Bosnien-Herzegowina. In Deutschland mehr benutzt. Nur eine neonbunte Schul- Jetzt wollen die Zeugen Jehovas per zählen die Zeugen 166 500 Anhänger, tasche liegt noch auf dem Boden. Gerichtsentscheid die Anerkennung als davon 35 000 in den neuen Bundeslän- Vor einiger Zeit waren die Brüder Körperschaft des Öffentlichen Rechts dern. Vielen hilft der Glaube der Sekte. Alexander, 18, und Sorian, 15, in den erwirken; sie wären damit der evangeli- Labile finden Halt, Drogensüchtige Dunstkreis der Zeugen Jehovas geraten. schen und katholischen Kirche gleichge- werden entwöhnt. Die Religion der In diesem Sommer, so beobachtete eine stellt und könnten Kirchensteuern erhe- Zeugen verspricht „ewiges Leben im Pa- Bekannte in der Nachbarschaft, kam ein ben, Seelsorger in Gefängnisse schicken radies auf Erden“, ohne Hunger und Abgesandter der Sekte mit seinem Mer- und Vertreter in Rundfunkräte entsen- Kriege, ohne Verbrechen. „Und selbst cedes und holte die beiden ab. „Sie sind den. der Löwe wird Stroh fressen so wie der mit dem ganzen Gepäck weg“, sagt der Weltweit bekennen sich 4,7 Millionen Stier“, zitiert eine Jehova-Schrift die Bi- verlassene Vater Ljubomir Petkow, 38. Menschen zu den Zeugen Jehovas, die bel (Jesaja 11:7). Wo sie jetzt sind, weiß der Exil-Bulgare Vorher droht allerdings der – termin- nicht. Propheten auf dem Vormarsch lich nach mehreren Fehlschlägen nicht Beim Jugendamt in Friedrichshafen mehr exakt festgelegte – Weltuntergang fand Petkow, geschiedener Zahnarzt aus Aktive 1993: („Harmagedon“). Den werden nur die Überlingen, keine Hilfe. Der zuständige Zeugen Jehovas 166500 150 überleben, die den Versuchungen des Sozialarbeiter Volkmar Blenn, 56, wollte in Deutschland Satans widerstehen und den „Richtli- Angaben in Tausend sich nicht einmischen. Schließlich seien 130 nien und Gesetzen Gottes gehorchen“. die Zeugen Jehovas eine „anerkannte Das Berliner Verwaltungsgericht hat Religionsgemeinschaft“. 110 einen „Rechtsanspruch“ der Zeugen Je- Derartige Schicksale häufen sich. Die hovas auf Gleichstellung mit anderen Sekte wirbt vermehrt um Entwurzelte 90 Kirchen in Deutschland festgestellt. Der und Randständige der deutschen Gesell- Berliner Senat legte jedoch Berufung schaft. In Asylbewerberheimen wird der beim Oberverwaltungsgericht ein. Die 70 Wachtturm, das Zentralorgan der Zeu- 19751980 1985 1990 Zeugen Jehovas, begründet Senats-Ju- gen Jehovas, in der Muttersprache der stitiar Dietrich Reupke, 38, den Wider-

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stand der Landesregierung, wiesen „Merkmale einer totalitären Sekte“ auf. Ein internes Handbuch für Führungs- kräfte belegt, daß der Tugendterror in der weltweit operierenden Gemein- schaft tatsächlich bestens organisiert ist: Psychischer Druck, ein Spitzelsystem und ein ausgefeilter Strafenkatalog hal- ten die „Herde“ beisammen. Die Mit- glieder müssen sich strengen Regeln un- terwerfen und werden rigoros über- wacht. Bis heute sind den Sektenmitgliedern unter Berufung auf die Bibel („Niemand unter euch darf Blut genießen“) Blut- transfusionen untersagt. Als im Septem- ber 1993 in Neufundland und Kalifor- nien zwei Kinder, 12 und 15 Jahre alt, an Leukämie starben, weil sie Blutüber- tragungen verweigert hatten, pries das Sektenmagazin Erwachet die beiden als „Jugendliche, die Gott den Vorrang ge- ben“. Zuletzt starben im September in Spanien zwei Kinder an Hirnhautent- zündung und Leukämie, weil ihre Eltern Transfusionen verboten hatten. Deutsche Sektenzentrale in Selters: Von ehrenamtlichen Helfern erbaut Um die Sektenmoral zu sichern, las- sen die Sektenführer kranke Mitglieder Als „zügelloser Wandel“ strafbar ist et- Geburtstagsfeiern sind gläubigen beaufsichtigen. Damit der todkranke wa „vorsätzliches und gewohnheitsmä- Zeugen genauso untersagt wie ein Flirt Patient nicht im letzten Moment ßiges leidenschaftliches Petting sowie ohne Heiratsabsicht oder das Ausfüllen schwach oder gegen seinen Willen von vorsätzliches und gewohnheitsmäßiges eines Lottoscheins. Sporttreiben ist ver- Ärzten mit Blut versorgt werde, sei es in Streicheln der Brüste“. pönt, ein Hochschulstudium gilt zumeist Einzelfällen „erforderlich, daß rund um Schlimmer noch sei „Hurerei“, wozu als Zeitvergeudung. Neue Mitglieder die Uhr jemand Wache hält“, heißt es in nach Zeugen-Regeln „Homosexualität sind, so das Führer-Handbuch, beson- einem Schulungsbuch für Sektenfunk- und Lesbianismus“ zählen, aber auch ders zu umsorgen: „Dadurch wird das tionäre – Titel: „Gebt acht auf euch „oraler und analer Geschlechtsverkehr Vakuum ausgefüllt, das entsteht, wenn selbst und auf die ganze Herde“. oder gegenseitige Masturbation unter sie frühere Bekanntschaften und weltli- Das Brevier belegt die straffe Auf- Personen, die nicht miteinander verhei- che Unterhaltung aufgeben.“ sicht über das gesamte Leben der Jeho- ratet sind“. Fehltritte verfolgen die Sektenoberen va-Jünger. An fünf Tagen in einem eigenen „Rechtsverfahren“. pro Woche sollen sie an Ein Norweger, 102 Jahre alt, wurde aus- „Versammlungszusammen- geschlossen, weil er beim Genuß von künften“ teilnehmen, dazu Schnupftabak erwischt worden war. Der kommen regelmäßige Kreis- Pop-Sänger Michael Jackson zog, so sei- Treffen, Bezirkskongresse ne Schwester La Toya, als Sektenmit- und die Jehova-typische Ak- glied, getarnt mit aufblasbarem Gummi- quisition neuer Anhänger, anzug, der ihn dicker aussehen ließ, das „Jüngermachen“ an den durch Los Angeles und verteilte den Haustüren. Wachtturm. Trotz dieses Eifers mußte er „Spornt die Brüder zu re- Abbitte leisten wegen satanistischer An- gelmäßiger, geplanter Tätig- klänge in seinem Video-Clip „Thriller“ keit im Evangelisierungs- („Ich würde so etwas nie wieder tun“). werk an“, fordert das Schu- 1987 trat er aus. lungsbuch. Fast 20 Stunden Beim Prozeß vor dem sogenannten wöchentlich arbeitet der Rechtskomitee dürfen dem Beschuldig- Durchschnitts-Zeuge im ten laut Sektenanweisung „keinerlei Sektendienst, oft neben dem Briefe gesandt werden“, die ihn zuvor bürgerlichen Beruf. Soge- über den Tatvorwurf ins Bild setzen. nannte Sonderpioniere ar- Während der Verhandlung sind „keiner- beiten 117 Stunden im Mo- lei Tonbandaufnahmen“ zulässig. Auch nat. „Beobachter“ dürfen „nicht zugegen Das Regelwerk bestimmt, sein“. gestrenger noch als jeder ka- Missetätern droht „Zurechtweisung tholische Sündenkatalog zur vor den Augen aller“ oder, schlimmer,

Sexualmoral, wie sich die GRAFFITI „Gemeinschaftsentzug“. Die Folge sol- Brüder und Schwestern im chen Gruppenzwangs ist, so wollen Bett zu benehmen haben. Psychiater in Schweden, in der Schweiz

J. RÖTTGERS / und den USA herausgefunden haben, * Beim Druck der russischen Jehova-Druckerei in Selters* daß Zeugen Jehovas überdurchschnitt- Wachtturm-Ausgabe. 96 Millionen Exemplare für 58 Länder lich oft psychisch erkranken. Typische

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Diagnosen: Depression und Verfol- gungswahn. Schizophrenie komme bei den Sektenanhängern, so eine australi- sche Studie, dreimal so häufig vor wie unter Ungläubigen. Der norwegische Ex-Funktionär Jo- seph Wilting, 62, behauptet, daß in vie- len Gemeinden in seiner Heimat 40 bis 50 Prozent aller Zeugen Jehovas Neu- roleptika oder Anti-Depressiva neh- men. Eine wachsende Zahl von Selbst- morden konstatiert eine Studie des US- Psychologen Jerry R. Bergman. Um die Gläubigen trotz seelischer Nöte bei der Stange zu halten, kontrol- liert ein weltweites Aufsichtssystem das Privatleben der Mitglieder. Ärzte, Krankenschwestern, Rechtsanwälte müssen gemäß internen Sektenrichtli- nien („Wir müssen Gott, dem Herr- scher, mehr gehorchen als den Men-

schen“) ihre Schweigepflicht brechen M. SCHARNBERG / MAGMA und ernste Sünden melden, Kinder ihre Jehova-Anhänger bei der Taufe*: „Die haben überall ihre Spione“ Eltern denunzieren. „Die haben überall ihre Spione“, sagt ein Aussteiger. gramm Meps, das es erlaubt, den ziert dort pro Jahr 96 Millionen Zeit- Sünden von Jüngern werden proto- Wachtturm simultan in 66 Sprachen zu schriftenexemplare für 58 Länder von kolliert, Erkenntnisse über Abtrünnige setzen, wurde an IBM verkauft. In Ka- Tahiti bis Tadschikistan, von Grönland gespeichert und bei Bedarf an die Welt- nada mehrten millionenschwere Invest- bis zum Kongo. zentrale der Sekte in New York über- ment-Erträge das Sektenvermögen. 15 000 Ferienhelfer haben die protzi- mittelt. Die „Leitende Körperschaft“, Geschickt nutzt der Konzern sein ge Sektenzentrale gebaut – ehrenamt- im New Yorker Stadtteil Brooklyn an- weltweites Filialnetz für Finanztrans- lich. Der Betrieb braucht weder Steuern sässig, steuert die weltweite Überwa- fers: Die frommen Brüder treten, wie noch Sozialabgaben zu zahlen, auch kei- chung. „Selbst wenn ein Sünder sich im Tenniscracks und Formel-1-Piloten, als ne Beiträge zur Renten- und Arbeitslo- brasilianischen Urwald verstecken wür- Steuerflüchtlinge auf – allerdings jon- senversicherung. de, wäre er für den internationalen Ap- glieren sie mit ungleich höheren Sum- Der Berliner Senat will die Wacht- parat der Gesellschaft nicht verschwun- men. turm-Gesellschaft nicht als Kirche aner- den“, sagt ein Aufseher. So gelang es in der Schweiz letztes kennen, weil sie sich „regelmäßig und Die Zentrale der Zeugen in New Jahr, den Gewinn mit null Franken zu vorsätzlich über geltendes Recht hin- York betreibt einen immensen Auf- deklarieren. Dort gelten die Zeugen weggesetzt hat“. Die Zeugen hätten wand: 30 Hochhäuser gehören zur Jehovas als steuerpflichtiger Kommerz- jahrzehntelang gegen die Sozialversiche- Schaltstelle der Religionsgemeinschaft, betrieb mit einem Kapital von 10,37 rungspflicht verstoßen – ausgeschiedene außerdem Hotels, eine gigantische Mitarbeiter standen im Alter plötzlich Computeranlage sowie eine sekteneige- ohne Rentenanspruch da. ne Farm mit 688 Hektar Land. Die Beschäftigten der In Ungarn verweigerte die Regierung Als Machtzentrum des 1881 gegrün- Sekte werden mit im vergangenen Jahr den Zeugen jede deten Konzerns gilt die Firma Watch- finanzielle Unterstützung, weil die Sek- tower Bible and Tract Society of Penn- Taschengeld abgespeist te als „destruktiv“ gilt. In Frankreich sylvania. Der Watchtower Bible and untersagte der Staatsrat eine Adoption Tract Society of New York Inc., einer Millionen Franken. In Luxemburg hin- durch Zeugen Jehovas, weil das Leben Aktiengesellschaft, gehört das Vermö- gegen lag der – dort steuerfreie – Ge- des Kindes gefährdet sei, sollte bei einer gen. Die Bank Watchtower Treasures winn letztes Jahr bei 6,1 Millionen Operation eine Bluttransfusion nötig steuert die Finanzströme, ein Großteil Francs (300 000 Mark), trotz üppiger werden. der Spenden geht an die International Überweisungen nach Brooklyn. Auch deutsche Gerichte entscheiden Bible Students Association, die Firma Die einfachen Jehova-Gläubigen ma- immer häufiger gegen die Zeugen. Im Watchtower Properties verwaltet die chen sich beim weltweiten Geschäft vor Mai hat das Amtsgericht Hagen einer Immobilien. allem als schlechtbezahlte Werktätige Jehova-Mutter das Sorgerecht für ihren Insgesamt setzt der Bibel-Konzern nützlich. In der Deutschlandzentrale der vierjährigen Sohn entzogen. nach Schätzungen verschiedener Sek- Wachtturm-Gesellschaft im hessischen Das Amtsgericht Passau entschied tenkenner jährlich weltweit etwa vier Selters beispielsweise wird jeder der letzten Dezember, eine Mutter habe Milliarden Mark um. Die Bilanzen sind rund 1000 Beschäftigten gerade mal mit „grob gegen die Erziehungspflicht ver- geheim. Nur eine Zahl wurde dieses 100 Mark Taschengeld im Monat abge- stoßen“, weil sie ihren heute siebenjäh- Jahr bekanntgegeben: 48 857 112,38 speist. rigen Sohn eingedenk der Sektenmaxi- Dollar (84 Millionen Mark) gab die Den Wert des Anwesens schätzen Ex- men („Gott züchtigt seine Söhne“) mit Watchtower Society 1993 für ihre rei- perten auf 150 Millionen Mark: Die einem Kochlöffel „wiederholt schwer senden Vollzeit-Prediger aus. weitläufige Anlage erstreckt sich über mißhandelt“ und durch Zwangsunter- Offiziell speist sich die Sekte einzig rund 30 Hektar, mit Teichen und richt mit Zeugen-Ideologie malträtiert aus Spenden („Gott liebt einen fröhli- Springbrunnen. Eine Druckerei produ- habe. Dem Jungen, befanden die Rich- chen Geber“). Doch einiges kommt ter, drohe „lebenslanger Dauerscha- auch durch profane Geschäfte herein: * Im schleswig-holsteinischen Trappenkamp bei den“, wenn er unter der Fuchtel seiner Das eigens entwickelte Computerpro- Neumünster. Mutter bleibe. Y

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„bei schwerer See Slalom fahren“. Seefahrt Schuld ist eine im Juli in Kraft getrete- ne neue Lotsenverordnung der Bun- desregierung, die der Verband nun mit Protesten wieder kippen will. Tanker Riskanter mit leeren Laderäumen und einer Län- ge von bis zu 250 Metern dürfen da- nach allein bis weit in die Wesermün- Stuß dung einfahren, ehe sie vom dort po- stierten Kutter einen Lotsen überneh- Eine neue Lotsenverordnung erhöht men müssen. die Gefahr von Tanker- Um danach in Richtung Wilhelmsha- ven steuern zu können, muß jeder unfällen in der Deutschen Bucht. Tanker in der Fahrspur der Weser wenden (siehe Grafik). „Das ist, als ild schlingert die „Geroi Sewa- würde man mitten auf der Autobahn stopolja“ durch die meterhohen die Fahrtrichtung wechseln“, sagt Ro- WWellen. Regentropfen prasseln se. Bisher wurden Tanker deshalb gegen die Scheiben der Brücke auf dem schon ab Helgoland von Fachleuten 30 000 Registertonnen großen Tanker. zur Jademündung geleitet. Verwirrt von unverständlichen Funk- Der neue Erlaß erspart den Reedern sprüchen und schlechter Sicht, bei jeder Tour rund 840 Mark Lotsen- schrammt der russische Kapitän mitten lohn. Durch die Regelung, erklärt Ro- se, seien Unglücke je- Tankerroute doch „nahezu pro- nach England Helgoland grammiert“. Die Be- und Norwegen satzungen vieler aus- Nordsee ländischer Tanker sprächen weder Eng- Fahrwasser lisch noch Deutsch und seien von den Seefunk- Lotsen- leitstellen kaum zu len- stationsschiff E lbe ken. Spiekeroog Die Lotsenverord- Baltrum Cuxhaven nung „in einem der Langeoog Wangerooge sensibelsten Seegebie- te der Welt zu lok- W J e kern“, meint Rose, sei s Nordsee a e d r „riskanter Stuß“. Im Wilhelms- e Bremer- haven haven Schnitt kreuzen zwi- schen Elb- und Weser- Bremen 020mündung täglich 250 Kilometer Schiffe, viele davon mit randvollen Öl- tanks, deren Ladung in der Nacht nur knapp an der Kata- das Wattenmeer nach einer Kollision strophe vorbei; immer wieder gerät er mit einem leeren Großtanker auf Jahr- mit seinem Schiff im engen Fahrwasser zehnte verseuchen könnte. der Wesermündung auf die Gegenspur. Im Bundesverkehrsministerium, zu- Mit Not erreicht er nach einer Stunde ständig für den Seeverkehr, teilen die den rettenden Lotsendampfer. Verantwortlichen solche Bedenken Doch auch der an Bord gekommene nicht. Gutachten hätten bewiesen, so Lotse kann den leeren Tanker nur mit ein Ministerialer, daß die leeren Tan- größter Mühe durch die schwere See in ker „so ungefährlich sind wie jedes an- den Jadebusen bei Wilhelmshaven ma- dere Schiff“. növrieren: Umringt von anderen Tan- Die Lotsen berufen sich hingegen kern, Baggerschiffen und einem U- auf ein Gutachten des Fachbereichs Boot der Bundesmarine, wendet er Nautik an der Bremer Hochschule, den 200 Meter langen Koloß und zir- wonach selbst bei leeren und gesicher- kelt ihn durch den dichten Verkehr in ten Tanks nach einem Zusammenstoß Europas meistbefahrener Wasserstra- Löcher in die Bordwände gerissen wür- ße, der Deutschen Bucht zwischen den und Luft in die Laderäume ein- Elbmündung und Wilhelmshaven. dringen könne. Ein knappes Dutzend solcher Bei- Durch eine Kollision, so die Studie, nahe-Havarien hat der Bundesverband komme es daher „mit an Sicherheit der See- und Hafenlotsen (BSHL) in grenzender Wahrscheinlichkeit zu ei- den vergangenen drei Monaten ge- nem Brand“. Schon der Rauch aus ei- zählt. Immer wieder, so BSHL-Chef nem brennenden Tanker könne andere Heiko Rose, müßten seine Leute in Schiffe ebenso gefährden wie etwa der eng befahrenen Deutschen Bucht dichter Nebel. Y

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Der ursprüngliche Bau- Verkehr beschluß im Bundesver- kehrswegeplan basierte auf Verkehrszählungen aus den Jahren 1990/91. Schöner Damals ermittelten die of- fiziellen Autobahngutach- ter für die „völlig überla- Hammer stete“ Bundesstraße 80 ei- ne Tageskapazität von Erstmals haben Grüne für ein Au- 70 000 Fahrzeugen. Kurz nach dem Mauer- tobahnprojekt gestimmt, obwohl fall, so warnen jedoch Ex- Experten die Trasse durch den perten, hätten Besucher- verkehr, Pendlerströme Südharz für überflüssig halten. und Transitverkehr nach Osteuropa das Bild ver- er VW-Bus parkte unauffällig am zerrt. „Historische Aus- Straßenrand. Drinnen saßen Mit- nahmesituationen sind un- Dgliederder Initiative „Frauengegen geeignet für langfristige dieAutobahn“;ausgestattet mit Bleistift, Verkehrsplanungen“, sagt Block und mehreren Thermoskannen Helmut Holzapfel, Ver- Kaffee, zählten sie Autos und Laster auf kehrswissenschaftler an der Bundesstraße 80 von Göttingen nach der Gesamthochschule

Halle. AP Kassel. Nach den neuen An mehreren Punkten der Strecke er- Grüne Tschiche, Heidecke: „Kröte schlucken“ Untersuchungen rechnet mittelten die Frauen völlig andere Werte die Deutsche Einheit als Gutachter des Bonner Bundesver- nicht nur Parteifreunde, sondern auch Fernstraßenplanungs- und Bau GmbH kehrsministeriums zuvor. Amtliche Zäh- ihre eigene Spitzenfrau. Denn Umwelt- (Deges), die für den Trassenbau zustän- lungen geben den Umweltschützern in- ministerin Heidrun Heidecke vom dig ist, nur noch mit halb soviel Verkehr zwischen recht: Am Südhang des Harzes Bündnis 90/Die Grünen hält die wie ursprünglich erwartet. entlang fahren weit weniger Autos zwi- neue Trasse für „verkehrspolitischen Tatsächlich erstellte auch das Bundes- schen Sachsen-Anhalt und Thüringen hin Schwachsinn“. verkehrsministerium 1993 eine revidier- und her, als die Bundesregierung bislang Auf einem Streckenabschnitt der B 80 te „Quelle-Ziel-Matrix“. Die nach un- behauptet. „Für die Südharzautobahn“, bei Heiligenstadt, so ergab eine Unter- ten korrigierten Zahlen der Verkehrsbe- sagt Margitta Schmagold von der Frauen- suchung des zuständigen Straßenbauam- lastung im Osten jedoch nahmen Mini- Initiative, „sind die Planungsunterlagen tes Eschwege, fahren pro Tag lediglich steriale dabei unter Verschluß. „Das ha- nicht realistisch.“ 3640 Fahrzeuge. Regierungsgutachter ben nicht einmal die Abgeordneten ge- Gleichwohl will Verkehrsminister wollen mehr als doppelt so viele gezählt sehen“, sagt Holzapfel. die umstrittene Tras- haben. Denn die „Trasse für den Auf- se für 2,3 Milliarden Mark bauen lassen; Für die gesamte Strecke rechnet der schwung Ost“, das versicherte Kanzler rund 200 Kilometer lang soll sie sich Landkreis Göttingen im Fernverkehr Helmut Kohl dem sachsen-anhaltini- durch ein bislang idyllisches Land ziehen zwischen Rhein–Ruhr und dem Bal- schen Ministerpräsidenten Reinhard (siehe Grafik). Um ihre Regierungsko- lungsraum Halle–Leipzig mit nur 7000 Höppner, SPD, vor der Wahl, solle auf alitionmit der SPD inMagdeburg nichtzu Fahrzeugen pro Tag. Die moderaten jeden Fall gebaut werden. A 82 und gefährden, haben jetzt auch die Grünen Zahlen beirren Bundesverkehrsminister A 140, so die künftigen Nummern, wur- in Sachsen-Anhalt dem Bau der überflüs- Wissmann jedoch keineswegs. Bis zum den sogar als „vordringlicher Bedarf“ sigen Piste zugestimmt. Jahr 2010, so glaubt er, werde der Ver- eingestuft. Für den Sprecher der Bonner Bünd- kehr auf 53 000 Wagen täglich ange- Ostpolitiker bezweifeln aber auch den nis 90/Die Grünen-Bundestagsfraktion, wachsen sein. Mit dieser Prophezeiung wirtschaftlichen Nutzen der Trassen. Heinz Suhr, ist das Votum zwar „ein ganz hatte er die Bundestagsabgeordneten Die geplante Fertigstellung im Jahre schöner Hammer“, aber „der Osten hat für den Plan eingenommen. 2003 käme für die Region am Süd- halt Nachholbedarf“. Die harz mit ihrer hohen Grundsatzbeschlüsse der Potsdam Arbeitslosigkeit „viel zu westdeutschen Grünen Berlin spät“, meint Andre´ Beck lehnen „umweltzerstören- Hannover vom Magdeburger Um- Braun- A2 de Straßenbauten“ und schweig Magdeburg weltministerium. die „Förderung des Indivi- Zudem werde die „Tran- dualverkehrs“ strikt ab. A7 A9 Autobahn- sitautobahn“ kaum Betrie- H neubau „Im Osten können wir mit a r A14 be locken, eher würden Öko-Themen allein nicht z sich die Harzler wohl Jobs Göttingen 050 mehr bestehen“, sagt Nordhausen Halle im benachbarten Nieder- der sachsen-anhaltinische sachsen suchen. Den not- Kassel B80 Kilometer Grünen-Politiker Michael wendigen „Ausbau von Rost. „Die Kröte mußten A82 A140 A14 Umgehungsstraßen“, etwa wir schlucken“, so Grü- Leipzig an der B 80, hätten Bund nen-Fraktionschef Hans- und Land hingegen ver- A4 Jochen Tschiche. Erfurt schlafen. Die grünen Autobahn- In einem unveröffent- Gera Chemnitz befürworter brüskieren lichten 22-Seiten-Papier

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für den vorgesetzten Bonner Umweltmi- plom-Arbeiten und sitzen in Prüfungs- rie „Berufsaussichten für Akademiker“, nister kritisiert auch der Präsident des Kommissionen. SPIEGEL 42 bis 46/1993). Berliner Umweltbundesamts (UBA), Das „Grufti-Modell“, wie es Studen- Jetzt aber kommt auf die Hochschu- Heinrich Freiherr von Lersner, nahezu ten respektlos nennen, rechnet sich: Ein len eine Pensionierungswelle zu. Von alle ostdeutschen Autobahnprojekte. pensionierter Professor erhält im Regel- 1995 bis 1999 werden pro Jahr bundes- Bei den meisten Osttrassen wie der A 20 fall 75 Prozent seiner letzten Bezüge als weit im Durchschnitt 790 Professoren in (Ostseeautobahn) in Mecklenburg-Vor- Ruhegeld. Das Wissenschaftsministeri- den Ruhestand gehen, von 2000 bis 2004 pommern oder der A 14 zwischen Lüne- um in Mainz zahlt 25 Prozent dazu. Für werden es jährlich gar 1057 sein. Rund burg und Halle wird von UBA-Gutach- ein Viertel der üblichen Kosten bekom- die Hälfte aller Hochschullehrer muß in tern der „Bedarf angezweifelt“. Zudem men die Hochschulen im Land so einen der nächsten Dekade ausgewechselt sei meist eine „konfliktarme Linienfüh- zusätzlichen Professor. werden. „Schon in wenigen Jahren wird rung unmöglich“, mit „umweltrelevan- ten“ Effekten und „veränderten Stand- ortqualitäten für Siedlung, Gewerbe und Freizeiteinrichtungen“ sei zu rech- nen. Experten der Bundesforschungsan- stalt für Landeskunde und Raumord- nung sowie das Land Niedersachsen leh- nen die Südharztrasse aus ökonomi- schen und ökologischen Gründen eben- falls ab. Der Bund für Umwelt- und Na- turschutz Deutschland und weitere Ver- bände wollen jetzt versuchen, das Pro- jekt mit einer Klage vor dem Bundesge- richtshof noch zu stoppen. Die grünen Autobahnbefürworter in Sachsen-Anhalt hingegen hoffen, ihren Sündenfall durch „zusätzliche Maßnah- men“ für den öffentlichen Nahverkehr zu mildern. Diese Woche sollen Zu- Immer älter, immer weniger

schüsse in Höhe von 50 Millionen Mark U. REINHARDT / ZEITENSPIEGEL Professor in Vorlesung* für Züge und Busse in Sachsen-Anhalt Anteil der Professoren beschlossen werden. Klub älterer Herren über 50 Jahre Wie es mit dem propagierten Ausbau in Prozent des Schienenverkehrs im Osten tatsäch- Die unkonventionelle Idee des lich steht, zeigt die Strecke Kassel–Hal- Sozialdemokraten Zöllner, 49, 61,7 70,0 le. Nach einer Trassenmodernisierung verbessert das Angebot in den 48,8 1600 verkehrt dort seit einem halben Jahr ein überfüllten Hörsälen, aber sie ver- 29,3 InterRegio. Mangels Nachfrage soll die stärkt eine gefährliche Tendenz an 1500 Direktverbindung durch den Südharz im den deutschen Hochschulen: Die nächsten Jahr aber wieder eingestellt Professorenschaft vergreist zuneh- 1977 1983 1989 1994* 1400 werden. Y mend, in vielen Fächern fehlt der Nachwuchs. Es droht nun ein 1300 Mangel an Hochschullehrern. Um Anzahl der Habilitationen 1308 Hochschulen die zeitraubende Habilitation, die 1200 Wissenschaftler an den meisten *ab 1991 Gesamtdeutschland Unis absolvieren müssen, wird 1081 1100 deshalb heftig gestritten. Alter Zopf Bereits heute sind rund 70 Pro- 1000 zent der Professoren älter als 50 Die Professorenschaft an deut- Jahre, bei den Ingenieurswissen- 900 schen Universitäten vergreist, in schaften beträgt der Anteil gar 77 Prozent – ein Klub älterer Herren 1977 80 85 9091* 92 vielen Fächern fehlt der (siehe Grafik). Hochschullehrer wissenschaftliche Nachwuchs. zwischen 35 und 45 Jahren gibt es nur es schwierig werden, genügend qualifi- wenige. Ursache der Überalterung: An- zierte Bewerber für frei werdende Pro- fang der siebziger Jahre, als das Bil- fessorenstellen zu finden“, prophe- er rheinland-pfälzische Wissen- dungssystem expandierte und die Län- zeit Bundesbildungsminister Karl-Hans schaftsminister Jürgen Zöllner hat der allerorten Universitäten gründeten, Laermann (FDP). DRespekt vor dem Alter und schätzt wurden Professoren in Scharen einge- In den Fächern Rechts- und Wirt- Fachkräfte, die in einem langen Berufs- stellt. schaftswissenschaften gibt es schon jetzt leben reichlich Erfahrung sammeln In den letzten 15 Jahren war dann keine geeigneten Kandidaten mehr für konnten. kaum noch eine Stelle zu besetzen. Die frei werdende Professuren. Beide Fä- Zur Zeit läßt Zöllner gar rund 30 so- meisten Nachwuchs-Akademiker sahen cher wurden nach der Wiedervereini- genannte Rentner-Professoren an den wegen der bis vor kurzem geringen Ein- gung an den Universitäten im Osten neu Universitäten und Fachhochschulen des stellungschancen keinen Sinn in einer aufgebaut, die Hochschulen der neuen Landes arbeiten. Die eigentlich längst wissenschaftlichen Laufbahn (siehe Se- Ländern stellten fast alle freien Dozen- pensionierten Hochschullehrer halten ten ein. „In den Wirtschaftswissenschaf- nun wieder Vorlesungen, betreuen Di- * An der Universität Düsseldorf. ten mußte sogar auf Bewerber zurück-

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gegriffen werden, die ihre Zukunft ei- bilitationen erreicht, Habilitationen ha- gentlich schon hinter sich hatten“, sagt ben sich zu wissenschaftlichen Gesamt- Harald Scherf, Professor für Volkswirt- werken entwickelt, wie sie Professoren schaftslehre an der Uni Hamburg. früher im Rückblick auf ihr wissen- Zudem geht die Zahl der Habilitatio- schaftliches Leben geschrieben haben. nen in der Bundesrepublik insgesamt Denn an vielen Hochschulen sind zurück, in Jura wie den Wirtschaftswis- nicht kreative Köpfe gefragt, sondern senschaften bereits seit Jahren. 1981 er- sture Fleißarbeiter, die sich als Hilfs- reichten in den Wirtschaftsdisziplinen kräfte, wissenschaftliche Mitarbeiter noch 51 Wissenschaftler den höchsten und Assistenten in jahrelanger Abhän- akademischen Grad; dazu müssen sie ei- gigkeit von ihren Professoren hochdie- ne umfassende Arbeit vorlegen, für die nen und dabei zuhauf wissenschaftliche sie meist fünf Jahre oder mehr brau- Artikel und Arbeiten schreiben und ver- chen. Zur Zeit nehmen nur noch rund öffentlichen müssen. halb so viele Wirtschaftswissenschaftler Diese Art der Habilitation ist ein diese Mühe auf sich. deutscher Sonderweg in die akademi- Damit die Hochschulen „nicht zu pro- schen Spitzenämter; in England, Frank- fessoralen Altenheimen verkommen“, reich oder den Vereinigten Staaten etwa fordert der Berliner Politologe Peter gibt es nicht einmal die Bezeichnung. Grottian, 52, jetzt Teilzeitjobs für Do- Ende der sechziger Jahre stritten Politi- zenten. Frei werdende Professuren soll- ker, Wissenschaftler und Studenten in der Bundesrepublik schon ein- mal um den Sinn der akademi- schen Fleißarbeit. „Die Habilitation ist ein al- ter Zopf“, sagt Hans-Jürgen Block, 44, lange Jahre Mitar- beiter des Wissenschaftsrats und Gründungsrektor der Fachhochschule Westküste im schleswig-holsteinischen Hei- de. Die unnötige Quälerei ma- che eine wissenschaftliche Kar- riere gerade für die besten jungen Leute uninteressant; sie zögen verantwortungs- volle und gutbezahlte Jobs in der Wirtschaft vor. Auch der Mannheimer Sozialwissen- schaftler Max Kaase glaubt, daß die Habilitation vor allem „Mittelmäßigkeit“ erzeuge.

F. HOLLANDER / DIAGONAL Der Deutsche Hochschul- Bildungskritiker Block verband hingegen verteidigt Sture Fleißarbeit ist gefragt die Habilitation. Hartmut Schiedermair, 58, Präsident ten als Zwei-Drittel-Stellen ausgeschrie- der Professoren-Lobby, sieht sie als ben und entsprechend niedriger bezahlt „wissenschaftliche Eignungsprüfung für werden. Mit dem eingesparten Geld will den Beruf des Hochschullehrers“. Grottian weitere Stellen schaffen und Für viele junge Wissenschaftler en- damit möglichst viele junge Wissen- det der lange Weg zur Habilitation je- schaftler als akademische Reservetrup- doch im sozialen Abseits. Der Ge- pe an die Universitäten binden. schichtswissenschaftler Ralph Uhlig et- Die wenigen Jung-Professoren sind wa hat mehr als 20 Jahre lang am Hi- derzeit, wenn sie in den Beruf einstei- storischen Seminar der Universität gen, nach Ansicht von Fachleuten schon Kiel gearbeitet, stets mit Zeitverträ- viel zu alt. Das durchschnittliche Habili- gen. 1979 schloß er sein Studium ab, tationsalter liegt inzwischen bei 40 Jah- 1987 habilitierte er sich. ren – und es steigt weiter. Der Wissen- Im Oktober vergangenen Jahres je- schaftsrat spricht von einer „schwerwie- doch wurde sein letzter Vertrag nicht genden Fehlentwicklung“; die wachsen- erneuert, weil die Hochschule sparen de Zahl der Kandidaten, die ihren Ab- mußte. Heute ist der angesehene Wis- schluß mit 45 und mehr Jahren machen, senschaftler 47 Jahre alt und für einen sei „alarmierend“. Job außerhalb der Hochschule längst Um die Kollegien zu verjüngen, raten zu alt. Experten, müßte der Zugang zum Do- Uhlig lebt von seinen Ersparnissen, zentenamt erleichtert werden. Längst da er nach dem Beamtenrecht weder sind jegliche Maßstäbe verlorengegan- Arbeitslosengeld noch Arbeitslosenhil- gen: Doktorarbeiten haben mit mehre- fe erhält. „Ich stehe“, sagt der Histori- ren hundert Seiten den Umfang von Ha- ker, „beruflich vor dem Nichts.“ Y

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Werbeseite . AP TV-Journalisten auf Bilderjagd bei Driedorf in Hessen: „Hoffentlich erschießen sie ihn, oder er erschießt sich selbst“

Medien „WOLLEN SIE EIN BLUTBAD?“ Aufregung um Oliver Stones „Natural Born Killers“ und die Flucht zweier Geiselgangster quer durch Deutschland. Doch Kriminalfilm und reales Verbrechen zeigen, daß Medien und Gewalt längst ein festes Bündnis eingegangen sind. Fernsehen und Wirklichkeit sind immer schwerer auseinanderzuhalten.

ind die Botschaften schlecht, be- zutreten – sekundierte: „Zuviel! Der Namen nichts schuldig: Verzweifelt und straft man gern die Überbringer. Film muß abgesetzt werden – sofort!“ live stammelte eine Geisel am Funktele- SDer Bote heißt Oliver Stone, Re- Denn: „Die meisten hasten aus den Ki- fon des Fluchtautos, daß die Polizei ihre gisseur des Films „Natural Born Kil- nos – stumm vor Grauen, Abscheu, Verfolgung abbrechen solle. Der finste- lers“. Seine Nachricht: Wirklichkeit und Ekel. Diesmal hat Kunst ihre Grenzen re Knastschlosser von Santa Fu, Polak, Fernsehen sind Komplizen, Medien sind in sich selbst gefunden.“ kam anschließend zu Wort – so aufre- auch Mörder, Bilder töten manchmal Drei Tage später, am Montag vergan- gend hätte es weitergehen können. wie Gewehrkugeln. Für diese Mitteilung gener Woche, hatte das Boulevardblatt Doch der ganz große TV-Thriller, wie hätten Pharisäer von Bild bis zur CSU dem Evangelium der Moralapostel ab- er 1988 mit den brutalen Gangstern von Stone gern bestraft. geschworen. Die Zeitung hastete, wie Gladbeck über die Bildschirme gelaufen Kaum hatte Stones düsteres Werk, in die Konkurrenz vom Fernsehen, hinter war, wurde es diesmal nicht. Da war dem binnen 120 Minuten 52 Menschen den Gangstern Raymond Albert und halt keiner, der sich so telegen wie wei- ermordet werden, die deutschen Kinos Gerhard Polak her – natural born sel- land Hans-Jürgen Rösner den Pistolen- erreicht, da trat im Kulturkanal 3Sat ei- lers. Und Bild-Reporter Radoslav Rajlic lauf in den Mund stecken oder in den ne Diskussionsrunde aus Bedenkenträ- fragte per Autotelefon die „Geisel-Un- Fußgängerzonen locker mit dem Jour- gern und Scharfrichtern zusammen. geheuer“, was ebenfalls seine Grenze in nalistentroß plaudern konnte. Während Moderator und Focus-Chefre- sich selbst findet: „Wollen Sie ein Blut- Der ehemalige NVA-Einzelkämpfer dakteur Helmut Markwort noch dunkel bad?“ Albert und sein Kumpel Polak bevor- über gestiegene Medienverantwortung TV-Reporter beobachteten regelrech- zugten für ihr Fluchtdrama statt groß- und die Gefahr von Nachahmungstätern te Luftkämpfe über dem Gangsterver- städtischer Fußgängerzonen abgelegene klagte, forderte der rechtspolitische steck beim hessischen Driedorf: Ein Dörfer, Campingplätze und zum nächt- Sprecher der CDU/CSU, , Hubschrauber der Polizei suchte einen lichen Finale ein unübersichtliches unverblümt ein Verbot des Films. anderen mit tollkühnen Kameraleuten Waldgelände, keine attraktiven Drehor- Ausgerechnet Bild – sonst vorneweg, an Bord abzudrängen. Die Bilderjäger te für rasende TV-Reporter – kurz: Die wenn es gilt, das Verbrechen in seiner hofften auf den Blattschuß von oben. Sache war einfach schlecht inszeniert. ganzen schrecklichen Herrlichkeit breit- „Action News“ auf RTL 2 blieb seinem RTL-Chefkommunikator Richard Mah-

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korn fand denn auch gleich, für einen mit der Leichtigkeit eines Schmetter- Mechanismen des Fernsehens mit kei- TV-Krimi habe der Fall nicht „genug lings. Herr, da ist zuviel Unergründli- ner Verbotsforderung beizukommen ist: Spannung“, er sei „dramaturgisch zu ches . . .“ Das Unbehagen, das sie nun beklagen, flach“. Medienerregung und Medienlächer- haben sie selbst herbeigeführt. Denn So beschränkte sich der optische Ein- lichkeit, die Grandiosität des Verbre- erst seit der von der Union betriebenen druck von diesem Stück Gangster-Reali- chens und der soapselige Kitsch in den Einführung des Kommerz-TV ist das ty-TV auf Bilder von blaulichteskortier- Köpfen von Mördern und Zuschauern, Verhältnis zwischen Fernsehen und Ge- ten Autokolonnen und Landkarten mit das magische Bündnis zwischen Kame- sellschaft aus dem Lot. eingezeichneten Fluchtrouten. Den öf- Das Bildermedium präsentiert sich als fentlich-rechtlichen Sendern blieb es gigantischer Moloch. Rund um die Uhr vorbehalten, ein bigottes Nachspiel zu Das Unbehagen, das und auf Dutzenden Kanälen arbeitet ei- liefern: Die ARD-Kommentatorin Luc sie beklagen, haben ne unersättliche Erzählmaschine, ein Jochimsen verkündete scheinheilig, die Perpetuum mobile der Sensationen. Im- Teams des Ersten hätten im Gegensatz sie selbst herbeigeführt mer neue Geschichten werden in Kri- zu anderen strikte Anweisung gehabt, mis, Serien und Fernsehspielen auf den die Polizeiarbeit nicht zu behindern. Bil- raschüssen und den Geschossen aus Ge- Bildschirm gespuckt. Was wahr ist, was der aus der ersten Reihe von Beamten, wehrläufen – nichts anderes zeigt Stone erfunden, ist immer schwieriger ausein- die Journalisten zurückschoben, lieferte in seinen rasenden Bildfetzen vom anderzuhalten. die ARD wie zur Bestätigung der eige- Gangsterpaar Mickey und Mallory. Vergangene Woche brach im US- nen Anständigkeit dann aber doch. „Die Bilder des Films haben die Ebene Staat Wyoming eine Panik aus, nach- Alexander Niemetz, „heute-journal“- der Abbildung von Wirklichkeit längst dem eine TV-Station eine Meldung über Moderator, betätigte sich gar als „Ober- verlassen“, schreibt die Frankfurter All- Meteoriteneinschläge in der Region aus- heuchler“ (Bild). Sein Lamento-Inter- gemeine. „Es geht um Fernsehen.“ gestrahlt und den Schriftzug „live“ ein- view mit einem Polizei-Einsatzleiter Stones Helden surfen, wie Fernsehzu- geblendet hatte. In Schweden stellten „Gibt es denn keine Möglichkeit, die schauer, durch eine Welt aus TV-Sym- Wissenschaftler bei einer Befragung Journalisten zu stoppen?“ stoppte er bolen. Bilder aus Serien, Dokumentar- fest, daß 40 Prozent der Kinder zwi- jäh, als endlich die Verbindung zur aufnahmen, historische Remi- ZDF-Reporterin vor Ort zustande ge- niszenzen, Logisches und Un- kommen war: Sie stand im Pulk der zusammenhängendes, Wirk- Neugierigen an den Polizeiabsperrun- lichkeit und Fiktion vereinigen gen. sich zu einem reißenden Nein, wenn es möglich gewesen wäre, Strom. hätte das Fernsehen ein Gladbeck II aus So erweist sich Stone nicht der jüngsten Geiselnahme gemacht. nur als Provokateur, sondern Und dann, nach der Live-Übertragung, vor allem als exakter Analyti- das Fernsehspiel nachgereicht. Als Stoff ker des Mediums: Fernsehen zum Doku-Drama taugt die Vorlage al- spiegelt eine Welt vor, in der lemal: „Er war immer faul – aber es aus Furcht vor Wiederho- schlau“, erklärte die Mutter des „Ma- lung und Langeweile immer cheten-Mörders“ kurz vor dessen Fest- schneller und wilder zugeht. nahme, „hoffentlich erschießen sie ihn, Und so wird die Aufregung oder er erschießt sich selbst!“ Und dann konservativer Politiker wie – Drehbuchautoren, aufgepaßt – brach- Geis verständlich, die genau te Bild noch Alberts „Gebet hinter Git- wissen, daß dem Film über tern“: „Gib mir die Freude des Anfangs die wirklichkeitsverändernden Geiselgangster Rösner 1988: Telegener Auftritt

schen sechs und zehn Jahren fest davon überzeugt sind, daß Menschen aus- schließlich durch Mord und Totschlag sterben. Schon vor Jahren analysierte der Mo- derator des inzwischen vom Bildschirm verschwundenen West-III-Magazins „Freistil“, Thomas Schmitt: „Schauend und lauschend sind wir Teil eines welt- umspannenden Untotenreiches gewor- den, in dem wir permanent mit Phanto- men kommunizieren, denen die Unter- scheidung von tot und lebendig äußer- lich bleibt.“ Ohne Rücksicht auf Verluste plündert Fernsehen auch die Literatur, um neue TV-Zombies zu schaffen. Leo Kirch und sein italienischer Komplize Silvio Ber- lusconi präsentieren in dieser Woche ei- ne freche Fortsetzung des Margaret- Mitchell-Klassikers „Vom Winde ver- weht“. Anna Karenina und Madame WARNER BROTHERS Szene aus Stones „Natural Born Killers“*: Exakte Analyse des Fernsehens * Mit Woody Harrelson.

DER SPIEGEL 45/1994 97 Werbeseite

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Bovary können von Glück sagen, daß sie in den Büchern gestorben sind, sonst könnte sie das prosaische Recycling- Denken der TV-Konzerne zu einem tra- gikfreien, entzauberten Leben erwek- „Keine Patentrezepte“ ken. Daily und weekly Soaps wie „Linden- Hessens LKA-Chef Klaus Timm über Gangster und Geiseln straße“ oder „Gute Zeiten, schlechte Zeiten“ haben sich nach Hunderten von Folgen zu selbstbezüglichen Systemen SPIEGEL: Nach einem Horrortrip verhindert werden könnte. Die Ge- ausgewachsen, die einzig und allein durch sechs Bundesländer wurde in fahr geht von den Tätern aus und nach dem Prinzip des „Wie geht es wei- der vergangenen Woche eine nicht von der Polizei. Wer sagt, er ter“, nicht aber des „Ist es auch sinn- spektakuläre Geiselnahme unblutig könne mit seinem Konzept ein zwei- voll?“ produziert und betrachtet wer- beendet. Als Chef des Landeskri- tes Gladbeck ausschließen, liegt den. Die Kritik liegt flach, der Seher minalamtes waren Sie in Hessen für schief. folgt oder läßt es bleiben, die Narkose den Einsatz verantwortlich. Hat die SPIEGEL: Pannen gab es auch dies- wirkt perfekt. Polizei aus dem Gladbecker Geisel- mal. In der Nacht zum Dienstag ha- Legionen von Berufen und Ständen – drama gelernt, bei dem im August ben Sie auf der Autobahn A 66 zwi- Kaiser, König, Edelmann, Bürger, Bau- 1988 zwei Geiseln getötet wur- schen Frankfurt und Wiesbaden für er, Bettelmann – sind in Serien „auser- den? mehrere Stunden den Kontakt zu zählt“. Und wer kennt eine Gegend in Timm: Ich warne vor Euphorie. Die den Geiselnehmern verloren. Deutschland, in der noch keine TV-Rei- beiden Ereignisse lassen sich nicht Timm: Das mußten wir riskieren, um he gespielt hat? Die Alpen ächzen unter vergleichen. Durch die Vielzahl der die Geiseln zu schützen. Die Aus- den feschen Madeln im Serien-Dirndl, Geiseln und die Tötung eines italie- brecher hatten damit gedroht, sich und der Schwarzwald erodiert optisch, nischen Jungen war in Gladbeck und die Geiseln mit einer Handgra- wenn sich immer mehr „Brinkmanns“, der Entscheidungsdruck für die Po- nate in die Luft zu sprengen. und „Fallers“ in seinen Tä- SPIEGEL: Knapp zwei Stunden lern tummeln. Schließlich: später ließen die Gangster die Sind Münchens Villen und Geiseln frei. Jetzt werden Sie Hamburgs Hafen nicht in für Ihre Strategie gelobt. Wahrheit die Erfindungen Timm: Wäre es anders ausge- der TV-Fabrik Bavaria oder gangen, hätte man uns kriti- von Studio Hamburg? siert. Wir werden immer vom Verzweifelt forschen Au- Ergebnis her beurteilt. toren nach unverbrauchten SPIEGEL: Die Zusammenar- Stoffen und kombinieren beit zwischen den Ländern doch nur Altbekanntes zu funktionierte vergleichsweise Figuren wie dem leder- reibungslos. Sind damit alle hosigen Weißkittel-Zwitter Forderungen nach einer Bun- „Bergdoktor“. In der uner- despolizei oder zumindest ei- schöpflichen Welt der Fiktio- ner zentralen Leitstelle erle- nen ist das Neue ein extrem digt? knappes Gut geworden. Timm: Ich sehe keinerlei Vor-

Der Mangel an interessan- L. SCHMIDT / JOKER teil, den eine neue Zentralstel- ten Inhalten führt zu Über- Polizeiführer Timm: „Gut gearbeitet“ le bringen könnte. Bei heiklen treibungen jeder Art: Dialoge werden Situationen wie einer Geisel- verknappt, Entwicklungen verkürzt, lizei viel größer. Auch die Täter wa- nahme istder jeweilige Polizei- Pointen überspitzt, Geschichten drama- ren unbeherrschter. führer entscheidend auf detaillierte tisiert. „Es wird heute viel schneller er- SPIEGEL: Hat sich die defensive Ortskenntnisse angewiesen, er muß zählt“, sagt der Münchner Produzent Strategie bewährt, die Geiselnehmer Eigentümlichkeiten von Routen und Ulrich Limmer. an der langen Leine zu führen? Gebäuden kennen. Das können Epische Einleitungen, Zeit verschlin- Timm: Es gibt keine Patentrezepte. Polizisten zentral gar nicht leisten. gende Hinführungen auf ein Thema dür- Diesmal war es richtig, nicht ständig Außerdem: Wenn es sinnvoll ist, fen sich nicht mal mehr Autoren auf den im Rückspiegel der Täter aufzutau- können wir die Einsatzleitung schon entlegenen Feldern der hohen Fernseh- chen. Aber beim nächsten Fall jetzt bei einem der Bundesländer be- kunst leisten. Selbst „Debüt im Dritten“ könnte diese Taktik auch daneben- lassen, etwa dort, wo die Geiselnah- vom Südwestfunk, einst Spielwiese ex- gehen. Man muß jedesmal neu ent- me begonnen hat. zentrischer Jungfilmerkunst, gehorcht scheiden. Aber auch eine gute Tak- SPIEGEL: Kann denn auch über die inzwischen einer maßgeschneider- tik kann mit dem Schlimmsten en- Ländergrenzen hinweg sichergestellt ten Dramaturgie: Fang den Zapper. den. werden, daß die Geiselnehmer stän- Schwelgerische Ausmalungen kriminali- SPIEGEL: Das klingt fast so, als hät- dig einen Ansprechpartner haben, stischer Heldenfiguren sind auch im ten Sie nur Glück gehabt. damit die Situation nicht eskaliert? „Tatort“ längst tabu: Frühe Plotpoints Timm: Wir haben ordentlich gearbei- Timm: Selbstverständlich. Doch ak- sind gefragt, Leichen in den ersten fünf tet, vor allem lief die Abstimmung tuell spielte das keine Rolle. Die Minuten. zwischen den einzelnen Bundeslän- Geiselnehmer wollten mit uns über- Wohin die Selbstbeschleunigung des dern diesmal viel besser. Aber wir haupt nicht verhandeln. Ihr Geld aus fiktiven Genres im Fernsehen führt und sollten nicht glauben, daß durch dem Bankraub hatten sie ja in der daß sie perfekt funktioniert, zeigt Mi- richtige Taktik jedes Todesopfer Tasche. chael Crichtons Krankenhaus-Serie „E. R.“ (Emergency Room): 45 Mini-Ge-

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schichten werden in zwei Stunden runter- Steigerung. Die alte gerasselt, 27 Millionen Amerikaner Talk-Prominenz – die schalten jeden Donnerstag ein – eine ra- Emanze vom Dienst, sende Szenenfolge mit kaum verstehba- der sexuelle Maniak, ren Blitz-Dialogen, eine taumelnde Ka- die Trotzdem-gerne- mera, Zapping ohne Kanalwechsel. Dem Hausfrau, die empörte alten Schwarzwaldkliniker Brinkmann Jungdichterin – ist fad würde das Stethoskop davonfliegen, ge- geworden. Ein Ein- gen solche fraktalen Frakturen können fach-Behinderter, ein auch seine alten Gipsverbände nicht reiner Abenteurer, ein mehr helfen. bloßer Hobbysammler Ebenfalls aus den USA stammt die er- hat allenfalls noch bei folgreiche Verbindung des Intimen mit Alfred Biolek oder dem Öffentlichen. Sie entspringt der Er- Roger Willemsen, je- kenntnis, daß ein Alltagsschicksal erst nen anachronistischen durch millionenfache Vervielfältigung Rittern der gepfleg- zum wirklichen Schicksal wird und daß es ten Unterhaltung, eine keine größeren Stars im Fernsehen gibt Auftrittschance. Ge- als das Publikum. fragt sind heute Mehr- Ob Talkshow oder Reality-TV, ob fach-Auffällige, ein spielerische Ausbeutung menschlicher transsexueller General Gefühle wie bei „Verzeih mir“, „Bitte beispielsweise, der sich melde dich!“, „Alles Liebe . . . oder per Selbsthilfekurs von was?“, „Herzblatt“, „Herz ist Trumpf“, seinem Voyeurismus „Traumhochzeit“ und wie all die Alp- befreit und zum

träume noch heißen – die Veräußerung LANGROCK / ZENIT Buddhismus konver- des Privaten ist allgegenwärtig. Gästestrip im Fernsehen* tiert. Übertriff das Wer hätte sich in der TV-Steinzeit an- Gefragt sind Mehrfach-Auffällige Sensationelle, heißt gesichts jener steifleinenen proporzge- die Devise. lähmten Fernsehdiskussionen vorzustel- nen Zuschauern in der täglichen Sen- Und schneller muß es laufen. Wer ein len gewagt, daß dermaleinst Behinderte dung „Explosiv“ mit Vorliebe in die Unglück erlebt hat, der spucke es aus, über ihren Sex sprechen, lockere Popvö- Welt der Unterschicht. Dort gibt es bevor der Notarzt kommt. Zapp, der gel auf dem Fernsehsofa onanieren oder massenhaft Fernsehdramen, vom Suff nächste bitte. Verkehrsunfälle mit nur krachlederne Talkdompteure Kontra- bis zum Kindesmißbrauch, zu günstigen einem Toten – schon langsam öde, henten vor der Kamera zum verbalen Tarifen. Dort genießt das Medium abso- schnell weiter. Reality wird zur Turbo- Showdown bringen. lutes Vertrauen: Gefühle, Tränen, Haß Reality, die Grenzen zur Fiktion werden Der Effekt ist erstaunlich: Die Scheu fließen serienreif auf die Mattscheibe. wieder fließend. vor dem Medium verschwindet. Gestan- Muß die Polizei, wie in einer Obdachlo- Von nichts anderem, vom rasenden dene Dokumentarfilmer stehen heute sensiedlung in Duisburg, eine Geisel- Stillstand der Fernsehwelt, handelt Oli- nicht mehr vor dem Problem, Bürgern nahme beenden, bedient sie sich inzwi- ver Stones Film. Man darf ihn deswegen die Angst vor der Kamera zu nehmen. Im schen der Tarnung als Kamera-Team, schelten, wie es der Medienwart Geis Gegenteil: Sie müssen deren medienge- Medium und Wirklichkeit sind eins. getan hat. Der allerdings war schneller rechte Selbstinszenierungen brechen. Doch auch das Genre des Privaten als schnell: Der CSU-Mann saß in Niemand findet es mehr genierlich, sei- unterliegt dem Verschleiß und damit der Markworts Runde, ohne den ganzen ne Hochzeit bei Linda de Mol zu feiern, Beschleunigung und dramaturgischen Film gesehen zu haben. Y mit Frack und Schleier. Das Fernsehen verleiht den Segen, garantiert scheinbar Dauer, hat die Rolle der Religion über- nommen. Der Tausch ist ja so bequem für den Gläubigen, denn die TV-Göttin Lin- da de Mol verlangt keine Anstrengun- gen, kein sola fide, birgt keine Geheim- nisse und unverstehbaren Ratschlüsse. Ohne Bedenken (aber gelegentlich für Geld) bieten Menschen ihr Schicksal zur weiteren medialen Verarbeitung: Der Bruder des Euskirchener Amokläufers Erwin Mikolajczyk arbeitete aktiv am RTL-Doku-Drama über die Wahnsinns- tat (sieben Tote, sieben Schwerverletzte) mit, weil er nur so, wie er meinte, mitdem Rechtfertigungsdruck gegenüber der Öf- fentlichkeit fertig wird. Das Reality-TV hat dem Fernsehen die Menschen der Unterschicht erschlossen. Die blonde Beauty mit dem kleinen Mündchen, Barbara Eligmann, führt zur Freude von durchschnittlich fünf Millio-

* In der Sat-1-Sendung „Einspruch!“ „ . . . mein Freund und Helfer“ tz, München

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das Erbe der Mutter Stars aller Hardrock- und Metal-Bands geplün- dert. Gruppen wie Whitesnake, Kingdom Mutter Come oder die Come- dy-Truppe Dread Zep- pelin erzielten Millio- kehrt zurück nenumsätze mit ei- nem nachgemachten Nach anderthalb Jahrzehnten treten Sound. Rock-Größen von Pearl Jam über die Led-Zeppelin-Gründer Jimmy Stone Temple Pilots Page und Robert Plant wieder auf. bis zu Lenny Kravitz zählen die Briten zu nmitten einer rhythmisch klatschen- ihren Lehrmeistern. den Menschenmenge auf dem Platz Party-Hymnen wie IDschamaa el-Fna in Marrakesch „Whole Lotta Love“, stopft sich ein kleiner Junge entsetzt „Rock’n’Roll“ und die Zeigefinger in die Ohren. Das Ge- „Stairway to Heaven“ töse, das zwei Straßenmusikanten ver- gehören seit zwei Jahr- anstalten, fällt ihm auf die Nerven. Die zehnten zum Reper- beiden älteren, langhaarigen Männer toire jeder besseren haben ein paar Lautsprecher, Mikrofo- Schülerband. ne und Gitarren aufgebaut. Ihr orienta- Allein die Aufzäh- lisch angehauchter Rock, gelegentlich lung der illegal mitge- unterstützt von einheimischen Spiel- schnittenen Zeppelin- männern, paßt nicht so recht zu den lo- Konzerte füllt 300 Sei- kalen Hörgewohnheiten. ten des vom kanadi-

Die Szene stammt aus dem Film PHONOGRAM schen Experten Ro- „Unledded“ des Musikkanals MTV, Rock-Veteranen Plant, Page (1994) bert Godwin erstellten und die beiden reifen Rocker sind der Party-Hymnen für Schülerbands „Collector’s Guide to Gitarrist Jimmy Page, 50, und der Sän- Led Zeppelin“. Noch ger Robert Plant, 48. Rund zwölf Jahre Die Platte enthält vier Neukomposi- im letzten Jahr erschien eine CD mit den lang waren sie die Stars der Band Led tionen, von denen drei in Marrakesch 22 originellsten Cover-Versionen von Zeppelin, die sich 1980 auflöste. Seit aufgenommen sind, der Rest besteht aus „Stairway to Heaven“. Zu der achtmi- MTV mit der Ausstrahlung von „Un- kräftig renovierten Led-Zeppelin-Klas- nütigen Rock-Schnulze schreiten in ledded“ vorletzte Woche einen Zu- sikern, aufgepeppt mit Hilfe eines elf- Amerika Leute zum Traualtar. schauerrekord erzielte (Wiederholung köpfigen ägyptischen Streicher- und „Fernsehen oder Verkäuflichkeit hat am Montag dieser Woche), sind die Percussions-Ensembles, des London uns nie interessiert“, versucht Ex-Zep- beiden Engländer wieder obenauf. Metropolitan Orchestra und einiger wa- pelin-Bassist John Paul Jones die anhal- Jetzt folgt die CD (Titel: „No Quar- lisischer Folkmusiker. tende Faszination zu erklären, „wir ter“) zum Video, im Februar startet ei- In den achtziger Jahren hatten ganze machten, was wir wollten.“ Schon in ne Welttournee. Heerscharen sogenannter Led Clones den späten Sechzigern hatte Page die Musik Nordafrikas und Indiens ent- deckt. Auch aus der keltischen Folklore bezogen die Rock’n’Roll-Forscher ihre Inspiration. Es war Keith Moon, Schlagzeuger der Who, der die Combo Ende 1968 zu ih- rem Namen inspirierte. Um ein kata- strophales Konzert zu beschreiben, be- nutzte Moon des öfteren die Redewen- dung: „We were going down like a lead zeppelin.“ Der Buchstabe „a“ wurde fallen gelassen, und der Zeppelin konn- te aufsteigen. Das Quartett war optimal besetzt: Plant warf auf der Bühne mit wilder Lö- wenmähne, offenem Hemd und hauten- gen Jeans riesige Macho-Schatten. Page zählte, neben Jeff Beck, Eric Clapton und Jimi Hendrix, zu den weltbesten Rock-Gitarristen. John Bonhams mon- ströse Trommel-Gewitter und Jones’ dichtes Baßspiel sorgten dafür, daß die beiden Frontleute nicht im eigensinni- gen Rock-Delirium verlorengingen.

J. DICKSON / REDFERN Die stürmische Mannschaft reiste im Rock-Musiker Plant, Page (1973): Orgien mit Groupies im großen Stil eigenen Flieger, der nach Angaben

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Pages „größer war als der Jet des US- Präsidenten“. Und das konnten sie sich auch leisten. 1969 sagte ihr trickreicher Manager Peter Grant der Financial Times, seine Schützlinge nähmen fünf Millionen Dollar ein, vier Jahre später hatte sich die Summe bereits versechs- facht. Bis heute hat die Band 50 Millio- nen Platten verkauft. Auch Orgien mit Groupies und Dro- gen inszenierte das Quartett im großen Stil. Heute wollen Plant und Page davon nichts mehr wissen: „Die Hälfte des Led-Zeppelin-Rufs entstand, weil wir nichts dementieren.“ Nach dem Tod von Schlagzeuger Bonham lösten die drei verbliebenen Rock-Multimillionäre die Band auf und spielten als Solisten vergebens dem Er- folg hinterher. Page standen lange seine Drogen- und Alkoholprobleme im Weg, die Solo-LP „Outrider“ geriet zum Flop, genau wie die Kooperation mit David Coverdale, zuvor Sänger der Zeppelin- Schüler Whitesnake. Völlig ohne Rampenlicht arbeitete dagegen Jones lange Zeit. Inzwischen zum Komponisten klassischer Werke avanciert, machte er sich einen Namen Ein Flieger „größer als der Jet des US-Präsidenten“ als Produzent, schrieb Streicher-Arran- gements für die amerikanischen Alter- nativ-Rocker R.E.M. und ließ seinen Baß für Peter Gabriel und Neo-Hippie Kravitz blubbern. Kürzlich nahm er zu- sammen mit der New Yorker Avant- garde-Diseuse Diamanda Gala´s die CD „The Sporting Life“ auf. Page und Plant hielten es nicht für nö- tig, ihren alten Kumpel auch nur zu be- nachrichtigen, von ihrer Reunion erfuhr Jones, 48, aus der Zeitung. Prompt beklagt er, es mangele den beiden an „allgemein üblicher Höflichkeit“. Der Rock-Gentleman sagt, er habe ohnehin nicht mitmachen wollen, Tourneen sei- en ihm mittlerweile zu stressig. Leicht beleidigt ist der Tonkünstler hingegen von der Musik der Wiedervereinigten: „Wir haben doch schon bei Led Zeppe- lin mit arabischen und walisischen Künstlern gearbeitet. Heute brauchen sie ein ganzes Orchester aus Ägypten für Dinge, die ich früher allein auf der Bühne spielte.“ Dabei ist das Orchester nur ein weite- rer Luxus, den die legendären Rock- Helden der Siebziger in den neunziger Jahren genießen. In New York sah man einen Angestellten der Plattenfirma von Led Zeppelin tagelang herumhumpeln. Grund: Er mußte die neuen schwarzen Pferdelederschuhe von Jimmy Page ein- laufen. Y

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MODERNES LEBEN SPECTRUM

Pop nach, ob Linke immer arm und betroffen sein müssen Clearasil oder auch als schlemmende Gourmets a` la Joschka Fi- + Fritten + Bier scher durch die Lande zuk- Was ist die beste Waffe ge- keln dürfen. gen die Pubertät? Clearasil? Eine Tiefkühl-Pizza ganz al- Helden lein aufessen? Eine Freun- din, die nicht nervt? Das Köl- Recherche ner Duo „Fritten + Bier“ zeigt mit seiner ersten CD im Selbst „Im Zeichen des Arm-Bein- Er hatte das ultimative Alter Män“ (WEA), daß auch erreicht, für das gerade noch deutschsprachiger Pop über das Wort Kind zulässig ist:

die Plagen des Erwachsen- BOTHOR / WEA Herge´s knopfäugiger, inve- werdens hinweghelfen kann. Fritten + Bier-Musiker Bokelberg, Linnartz stigativer Reporter Tim war Mit holprigen Reimen („Ich und blieb zwölf Jahre alt – fuhr nach Spanien mitten im lender Freund Markus Lin- den zeigten, daß der Plan ein weitsichtiges Konzept. August, ich aß viele Bana- nartz, 17, die Nachfolge der aufzugehen scheint. Denn Denn weil kaum jemand nien, denn sie sind gesund, legendären Blödelband „Die Mädchen mögen diese rhei- mehr erwachsen werden das habe ich gewußt“) und Ärzte“ anzutreten. Denen nisch-trinkfeste Version der will, sind die „Tim und derben Ungezogenheiten wollen sie, so Bokelberg, Zeichentrick-Anarchos Bea- Struppi“-Devotionalien ein („Du hast den Mundgeruch, nicht nur das viele Geld, son- vis and Butt-Head samt ih- expandierendes Geschäft: Baby“) versuchen Sänger, dern „vor allem die Mädchen rem Gossenpop, der Leh- Tim auf T-Shirts, Terrier Gitarrist und Viva-Modera- wegnehmen, und zwar die rern, Eltern und älteren Ge- Struppi auf Tassen, Kapitän tor Nils Bokelberg, 18, und hübschesten“. Erste Konzer- schwistern mit Vorliebe für Haddock auf Socken. Doch sein bester, schlagzeugspie- te vor deutschen Frittenbu- Genesis auf die Nerven geht. nun ist die deutsche Über- setzung eines Romans er- Küche schienen, der den Mythos von der Unschuld des kindli- Alchemie des chen Spurensuchers zerstö- ren könnte. In „Tim und Schmorbratens Struppi in der Neuen Welt“ Manche mampfen besin- (Ammann Verlag, Zürich; nungslos alles, was auf den 316 Seiten; 36 Mark) läßt Tisch kommt, andere sehen der US-Autor Frederic Tu- vegetarisch aus und wettern gegen Fleisch- gelüste, wieder andere halten Diät. Denen, die voller Behagen oft

A. DECLAIR und gern essen, lie- Künstler Goral, Exponate fert jetzt „Cotta’s kuli- narischer Almanach Ausstellungen 1995/1996“ (Vincent Klink, Stephan Opitz [Hg.]; Klett-Cotta, Raum für linke Bilder Stuttgart; 224 Seiten; Der Graphiker und Schriftsteller Arie Goral, 85, ist ein 38 Mark) viele Rezep- unbequemer, aufklärerischer Linker. Solche Leute kön- te und unterhaltsame, nen heutzutage kaum mit Lob und Auszeichnungen lehrreiche Betrachtun- rechnen. Das Hamburger Institut für Sozialforschung gen zu allen leiblichen Tim und Struppi alt, neu zeigt zu Ehren des jüdischen Künstlers Teile seiner um- Genüssen. Der Band fangreichen Sammlung von Plakaten, Broschüren und informiert über die Alchemie ten Comic und Klassik auf- Flugblättern der Linken. Erinnerungen an die Oktober- des Schmorbratens und lehrt, einandertreffen (Pop-Art- revolution von 1917, Werke von John Heartfield, Ge- daß die Ziege wohl das „in- Künstler Roy Lichtenstein werkschaftsaufrufe, Bilder der 68er um Rudi Dutschke telligenteste Haussäugetier entwarf das Buchcover). Tim und vieles mehr sollen Verdrängen und Vergessen ver- ist, das unseren Töpfen an- begegnet in Südamerika den hindern, aber auch zeigen, was sich aus heutiger Sicht heimfällt“. Klink und Opitz Protagonisten aus Thomas als Irrweg erwiesen hat. Den Leitfaden durch die Aus- präsentieren Gerichte mit so Manns „Zauberberg“. Er be- stellung liefert der Lebensweg von Goral, der 1909 als schönen Namen wie „Bleiche ginnt eine Reise in sein Inne- Walter Lovis Sternheim in Rheda/Westfalen geboren Sonne Pommerns“ und „Die res und – ein Schock für alle wurde und Mitglied der sozialistisch-zionistischen Ju- Augen der Camorra“. Enga- Fans – schläft mit einer Frau. gendbewegung war. Nach 1933 lebte er in Frankreich, gierte Essays geißeln den Herge´ hatte sein Einver- Palästina und Israel, 1953 kehrte er nach Hamburg zu- Griesgram deutscher Esser ständnis für das Projekt gege- rück. Die Ausstellung ist bis Mitte Dezember zu sowie alle Formen der Völle- ben. Und Struppi ist sicher sehen. rei und Askese und gehen glücklich, daß das ewige Rei- unter anderem der Frage sen ein Ende hat.

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Auf 632 Seiten porträtiert Pigott, in Wein manchmal provokantem Stil, die 100 besten Riesling-Erzeuger Deutschlands und stellt weitere Güter in Kurzform vor. Die Weine der letzten fünf Jahre Wie eine wurden benotet und kommentiert. Mehr als 2000 verschiedene Gewächse ließ sich der Autor dazu gleich mehr- Wildsau fach über die sensible Zunge rollen. „Eine furchtbare Fleißarbeit, Stuart Wie gut ist deutscher Riesling? nimmt das immer sehr genau“, lobt Erzürnte Winzer wollen einen engli- Rudolf Knoll vom Fachmagazin Vi- num. schen Weinkritiker verklagen. Die Gescholtenen sind da ganz an- derer Meinung. „Ein Weinbuch nach itten in der Lese brach es wie ein Holzfällerart“, wettert Michael Graf Hagelschauer über die Winzer Adelmann im württembergischen Mherein. Noch während sie die Kleinbottwar, „nichts als zerkochter letzten Trauben für ihre zuckerschweren englischer Eintopf.“ In maßloser Auslesen von den Rebstöcken schnit- Selbstüberschätzung rase der Brite ten, verdarb ihnen ein frisch gedrucktes „wie eine Wildsau“ durch die deut- Weinbuch die Freude am guten 94er schen Weinberge. Den Süden der Re- Jahrgang. Seitdem laufen an Rhein und publik kenne er doch gar nicht bei all Mosel die Faxgeräte heiß. Nervöse Spit- seiner Verliebtheit in den Moselwein. zenwinzer lassen sich die Passagen über Auch Reinhard Muth, Präsident des

ihr Weingut zusenden, um nachzulesen, Deutschen Weinbauverbandes und Er- T. SCHMIDT ob sie ungeschoren davongekommen zeuger in Rheinhessen, stellt rundweg Deutsche Weinkellerei sind. in Abrede, daß Pigott seine Produkte „Minderwertig und charakterlos“? Denn der angesehene britische Fach- kenne, „sonst hätte er sie nicht so zer- autor Stuart Pigott, 34, drischt auch auf rupft“. Bei den Muthschen Tropfen teuersten und angesehensten. Für die Stars der Branche ein. Mal erschie- hatte der Kritiker den Verdacht geäu- Buchautor Pigott gehören sie zum kul- nen ihm deren Rieslinge „minderwertig ßert, das Weingut wolle damit wohl turellen Kapital dieses Landes, ver- und charakterlos“, mal „grob und ohne „die deutschen Supermärkte belie- gleichbar mit Patrick Süskind, Wim jeden Charme“. fern“. Wenders oder Georg Baselitz. Was ihn In den schlimmsten Fällen erlebte der Drei aufgebrachte Moselwinzer wol- so in Rage versetzt: Dieser „bedeuten- Verkoster „schlichtweg eine Katastro- len nicht nur verbal zurückschlagen. de Pfeiler deutscher Kultur wird erbar- phe“. Bisweilen fürchtete er sogar um Sie haben rechtliche Schritte ange- mungslos verunstaltet, und kaum je- die körperliche Unversehrtheit: „Die droht. Anwalt Hermann Bettinger mand nimmt davon Notiz“ – am aller- schrillen Etiketten plant gar „eine wenigsten die heimischen Konsumen- könnten die Sehkraft konzertierte Aktion“ ten. Vornehmlich Etikettentrinker und ernsthaft gefährden.“ gegen die „böswillige immer neuen Moden verfallen, hätten Herbe Kritik anhö- Schmähkritik“ des die Deutschen das Potential ihrer gro- ren müssen sich – quer „Pamphletisten“. Per ßen Weine nie erkannt. durch alle Anbauge- Schriftsatz hat er den Als hauptverantwortlich für den Nie- biete – erste Adressen Verlag ultimativ aufge- dergang der geschätzten Kreszenzen der Zunft wie Graf fordert, Pigotts Buch geißelt der Brite die industrialisierte Adelmann, Bürklin- aus dem Verkehr zu und rationalisierte Weinerzeugung, die Wolf, Dr. Heger, ziehen. er immer öfter auch bei den deutschen Egon Müller, Schloß Der drohende Starwinzern findet. Fragwürdige Filter- Vollrads oder die Rechtsstreit und die technologien, mechanische Lesemetho- Staatsdomänen Klo- Aufregung über ein- den, die Verbannung natürlicher Hefen ster Eberbach und zelne Passagen des re- aus den Gärkellern, zu hohe Erträge,

Niederhausen-Schloß- A. FABER spektlosen Weinfüh- zu frühe Ernte – all dies blockiere die böckelheim. Vor allem Weinkritiker Pigott rers verstellen jedoch Entstehung hochedler Kostbarkeiten. der Rheingau wird Böswillige Schmähkritik? den Blick auf die ei- Allerdings – es gibt Hoffnung. Pigott kräftig abgebürstet. In gentliche Intention lobt eine junge Generation deutscher Pigotts Buch*, konstatiert der Wein- von Pigotts Buch. Das 148 Mark teure Riesling-Winzer, die nach traditionel- journalist und Nahe-Winzer Armin Werk ist in weiten Teilen nichts anderes lem Vorbild „einzigartige Weine in im- Diel, „werden nicht länger heilige Kühe als eine wortreiche Liebeserklärung an mer größerer Zahl“ produziere. gesalbt, sondern alte Schlachtrösser ge- die traditionelle deutsche Rebsorte: In Zu den neuen Heroen zählt auch beutelt“. Und Weinfachmann Dieter einem großen Riesling sei alles vereint, Randolf Kauer, ein weithin unbekann- Braatz vom Feinschmecker sekundiert „was die Natur an Gewürz, Geruch, Ge- ter Winzer aus Bacharach. Von der begeistert: „Es mußte mal jemand die schmack und Liebreiz zu geben ver- Güte der Kauer-Rieslinge war Pigott Riesling-Götter kritisch unter die Lupe mag“. Schluck für Schluck erinnern ihn wie berauscht: „Tiefe und Finesse. nehmen.“ Der Weinführer sei „erfri- diese Tropfen an „einen Korb voller Hochelegante Rasse. Ein großer schend und längst überfällig“. Früchte aus Großmutters Garten“. Wurf.“ Das eigentlich „Unvorstellba- Freudetrunken formuliert er: „Dieser re“ (Pigott) an diesen Weinen: Kauer Saft ist der wahre Göttertrank.“ bewirtschaftet ganze 1,3 Hektar in mit- * Stuart Pigott: „Die großen deutschen Riesling- weine“. Econ Verlag, Düsseldorf; 632 Seiten; 148 Deutsche Riesling-Weine zählten telmäßigen Lagen und ist Hobbywin- Mark. schon um die Jahrhundertwende zu den zer. Y

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Leute, darunter den Zeichentrick neuen Regisseur Roger Allers, auf eine zwei- wöchige Campingtour nach Ostafrika; der Hamlet Rest des Teams be- suchte Löwen im Zoo oder lud siesich ins Stu- in Afrika dio ein. Das brachte, knapp zwei Jahre nach Die finstere Fabel „Der König der ersten Idee, den Durchbruch. Auf die der Löwen“ ist der erfolgreichste Schnulze „Die Schöne Disney-Film aller Zeiten. und das Biest“ und die Komödie „Aladdin“ n seinem erfolgreichsten Auftritt ist folgt eine Tragödie.

Hamlet ein Löwe. Deshalb lebt er In der Schlüsselszene FOTOS: WALT DISNEY COMPANY Iauch nicht in Dänemark, sondern in lockt der körperlich Disney-Stars Simba, Scar: Spiel mit dem Ödipus-Mythos der Serengeti. Und weil dort Hamlet ein schwache, geistig aber ganz und gar unpassender Name wäre, starke und bösartige Onkel Scar den jun- nommen wird, bevor der Film fertig heißt der tragische Held Simba. gen und naiven Prinzen Simba in eine gezeichnet ist, übernahmen die Produ- Aber auch in der afrikanischen Step- Schlucht, durch die plötzlich eine giganti- zenten außerdem die Körpersprache pe, über die sein Vater als König sche Gnu-Herde flüchtet; zwei Jahre ar- der Schauspieler, die sie auf Video herrscht, trifft Hamlet-Simba die ganze beiteten Techniker an dieser zweieinhalb aufgenommen hatten. Auch die Blä- Shakespearesche Tragödienwucht: Sim- Minuten kurzen Computeranimation, hungen des Warzenschweins haben ih- bas Onkel ermordet Simbas Vater, um die in ihrer Symmetrie an Bilder des Ma- ren Ursprung in einem Ereignis wäh- selbst an die Macht zu gelangen. Und lers Maurits Cornelis Escher erinnert. rend dieser Sprachaufnahmen. Prinz Simba vertrödelt die Zeit, anstatt Simbas Vater rettet seinen Sohn, aber Bekrittelt wurde in den USA vor al- seinen Vater zu rächen. dem Onkel gelingt es in dem Chaos, den lem eines am Löwenkönig: Weil ein Der Zeichentrickfilm mit dem düste- geplanten Königsmord endlich auszufüh- freches und bösartiges Hyänenpack, ren Thema, von den Walt-Disney-Stu- ren – und Simba für den Tod des Vaters das ganz Löwen-Land verwüstet, wie dios produziert, ist der erfolgreichste verantwortlich zu machen. eine Straßengang schwarzer Jugendli- seiner Art und die Nummer sechs der Der Plot istso teuflisch,weil er mit dem cher auftritt, warfen Kritiker dem Film ertragreichsten Kinofilme aller Zeiten: Ödipus-Mythos spielt, dem Wunsch des mangelnde politische Korrektheit vor. Mehr als 250 Millionen Dollar spielte Sohnes, den Vater zu töten – schließlich Daß sich Zebras lieber von guten Lö- „Der König der Löwen“ in zehn Wo- hatte Simba bereits singend verkündet, er wen als von bösen Hyänen fressen las- chen in den USA ein. Kommende Wo- könne es gar nicht erwarten, König zu sen, störte Moralisten ebenfalls. che läuft er in Deutschland an. werden. Zudem vermittelt die Geschich- Dabei ist die Moral der Geschichte Drei Hauptautoren und 16 weitere te Kindern die Vorstellung, ihre Naivität über Zweifel erhaben: Schluß mit dem Schreiber brauchten vier Jahre, um eine sei für Eltern eine tödliche Gefahr. Die Lustprinzip, Erwachsenwerden heißt, halbwegs überzeugende Geschichte aus- kitschige Ästhetik wirkt allenfalls wie ein die Pflicht zu erfüllen und nach dem zuarbeiten, die in die gleichen tiefen Weichzeichner –noch nie war ein Disney- Realitätsprinzip zu leben. Ebenen des Bewußtseins hinabdringt Film so finster, noch nie ein Zeichentrick- Soviel Ernst wäre kaum erträglich wie die Marlboro-Werbung. Erst sollte film auch ein Psychotrickfilm. Simba ohne den heimlichen Star des Films: der Film „König des Dschungels“ hei- flieht vor seinen Schuldgefühlen in den Onkel Scar (in der Originalversion ge- ßen; dann, nach gründlicher Recherche, Urwald – der erste Löwe, der einen sprochen von Jeremy Irons), der lang- fanden die Disney-Leute heraus, daß Psychiater braucht. sam und schleppend geht, aber schnell Löwen in der Steppe leben. Kurze Zeit Dort trifft er auf zwei kuriose Freunde, denkt. Nichts ist interessanter als ein später wurde der Regisseur gefeuert. ein Warzenschwein und ein Erdhörn- intelligenter Schurke und nichts unter-

Skizzen für „Der König der Löwen“: Kitschige Disney-Ästhetik als Weichzeichner für den teuflischen Plot

Auch bei der Musik gab es Schwierig- chen, das erste schwule Paar in einem haltsamer als kleine, spitze Bosheiten keiten: Elton John komponierte die Disney-Film. Die beiden, in der Nah- wie die, mit denen Scar den Löwen- Songs – eindrucksvoller Pop, schöner rungskette deutlich unterhalb des Lö- prinzen quält. Rock’n’Roll –, die aber leider alles an- wen, überzeugen Simba von der Als Simba die Hyänen mit seinem dere als afrikanisch klangen. Und all- Schmackhaftigkeit bunter Käfer und zei- lächerlichen Quäken einschüchtern mählich wurde klar, daß sich das ganze gen ihm mit einem Lied eine ganz neue will, blickt der Onkel aus den Winkeln Löwen-Team nicht so recht für Afrika Perspektive für sein Leben: „Hakuna seiner schmalen, grünen Augen herab: interessierte. Die Disney-Leute hielten Matata“, singen sie, die Kisuaheli-Versi- „Oh, ganz unter uns“, sagt er, und die den Kontinent für braun, trocken und on von „Don’t worry, be happy“. ganze Serengeti scheint einzufrieren, ziemlich öde. Die Stimmen der beiden stammen von „du solltest vielleicht ein wenig an Also schickte der damalige Studio- zwei New Yorker Komikern. Weil bei deinem kleinen Knurren arbeiten, Chef Jeffrey Katzenberg die Löwen- Zeichentrickfilmen die Sprache aufge- hmm?“ Y

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WIRTSCHAFT

Konzerne EINE REVOLUTION VON OBEN Bürokratisch und unbeweglich ist der Siemens-Konzern, das weiß auch der Chef: Heinrich von Pierer will den Konzern durch eine permanente „Bewußtseinsveränderung“ gewaltig umkrempeln. Wenn er scheitert, verliert Siemens den Anschluß an den internationalen Wettbewerb.

as Publikum im Ball- um sein angestammtes Ar- saal des Münchner Hil- beitsgebiet, den Kraftwerks- Dton Hotels stöhnt auf. bau, in dem die Amerika- Heinrich von Pierer hat sich ner ihm jetzt schon auf beim Sprung auf das Podium dem deutschen Heimat- mit dem rechten Fuß in einer markt Konkurrenz machen Girlande verhakt. Der Vor- wollen. Beleidigt klagt er standschef der Siemens AG „ein Recht auf Lebensge- landet in einem unfreiwilli- meinschaft“ mit den deut- gen Kniefall neben dem schen Energiekonzernen Rednerpult. ein. „So schnell kann man ab- Und das klingt nach der al- stürzen“, fängt der Manager ten Behördenmentalität, die den Ausrutscher ab. Da Pierer gerade beseitigen will: lacht die Festversammlung Tief im Herzen ist der Neue- des Verbandes Deutscher rer ein alter Siemensianer. Elektrotechniker. Notar hatte Pierer eigent- Der Doppelsinn seiner lich werden wollen, bevor er Worte ist Pierer, 53, wohl sich 1969 für einen Posten als bewußt. Der Job an der Spit- Syndikus in der Rechtsabtei- ze des zweitgrößten Elek- lung von Siemens entschied. trokonzerns der Welt war Wie notariell beglaubigt noch nie so sturzanfällig wie wirkt auch jetzt noch sein heute. Vortrag. Seine Arme trauen „Wir brauchen einen Pro- sich nicht weg vom Körper. duktivitätsschub von 20 bis Die rechte Hand sucht stän- 30 Prozent in den kommen- dig Schutz in der Hosenta- den zwei bis drei Jahren“, sche, zuckt aber kurz vor trägt er der Versammlung dem Ziel zurück. ganz unfeierlich vor. „An- Grau und müde, wohl sonsten verlieren wir den auch etwas dünnhäutig sei er

Anschluß an die Weltmarkt- G. STOPPEL geworden, sagen Mitarbei- führer und steigen in die Siemens-Chef Pierer: „Wacker sein allein genügt nicht“ ter, die ihn schon länger ken- zweite Liga ab.“ nen. „Athletisch und tüchtig, Wenn der Chef den Anschluß nicht „Wacker sein allein genügt nicht“, zi- mit einer erfrischend offenen Art“, so schafft, droht auch ihm der Abstieg. tiert Pierer den Ingenieur Hans Castorp beschrieb die Financial Times den Sie- Die Bürokratie des Siemens-Apparats aus Thomas Manns „Zauberberg“. mens-Chef, als der im Juli 1991 für das hat schon einige Manager verschlissen. „Ausdauernd, willensstark, verantwor- Amt nominiert wurde. Alle traten an, die erstarrte Struktur des tungsbewußt und entschlossen“, so Die Wirtschaftspresse feierte ihn als Konzerns aufzubrechen – und alle sind wünscht sich der Redner den idealen ersten Tenniscrack an der Spitze des im- gescheitert. Mitarbeiter in den Zeiten wirtschaftli- mer noch verschnarchten Konzerns. Sei- Doch jetzt, da der Wettbewerb wirk- cher Schwindsucht. So sieht er sich wohl ne Karriere vom bayerischen Jugend- lich global geworden ist, kann sich Sie- auch selbst: „Fit for the Future“, wie der meister mit 18 Jahren zum Erlanger Se- mens die alte Behäbigkeit nicht mehr neue Siemens-Slogan lautet. nioren-Champion wurde fast ausführli- leisten. Die Konkurrenz ist beweglicher Doch Pierer wirkt nicht gerade zu- cher gewürdigt als die bisherige Sie- und produziert kostengünstiger, sie ent- kunftssicher. Wacker trägt er seine Re- mens-Laufbahn vom Rechtsberater zum wickelt neue Produkte zügiger, und sie de aus Fertigbausteinen vor: „Die High- Vorstandschef der Kraftwerk Union. bringt sie schneller auf den Markt. Tech-Märkte im Wandel“. Intellektuel- Von der alten Frische ist nicht mehr Es muß etwas geschehen, möglichst le Brillanz, rhetorischer Schliff oder mit- viel zu spüren. „Ich bin nicht im Dik- sofort und radikal. Aber ist ein Koloß reißendes Engagement ist seine Sache kicht von Siemens steckengeblieben“, wie Siemens überhaupt zu bewegen? nicht. gibt er nun schon mal zu, „aber ich habe Und ist Pierer der Mann, der das nahezu Temperament schimmert nur einmal auch nicht alles erreicht, was ich mir Unmögliche schaffen kann? hervor, als Pierer improvisiert. Es geht vorgenommen hatte.“

114 DER SPIEGEL 45/1994 . WERKSFOTO SIEMENS G.A.F.F. B. GEILERT / Siemens-Kraftwerkbaustelle (in Brandenburg), Chipproduktion: Allein der Preisverfall kostet den Konzern drei Milliarden Mark

Das ist noch ziemlich schön geredet. chen – eine völlige Umkehr der Verhält- welt, „weil verkrustete und überlebte Bei seinem Amtsantritt wollte der Sie- nisse. Geschäfts- und Führungsvorstellungen mens-Vorstand die Umsatzrendite in Doch Konkurrenten wie der US-Kon- noch zuhauf in unserem Unternehmen wenigen Jahren auf fünf Prozent ver- zern General Electric oder die schwe- existieren“. doppeln. Doch das Ziel rückt immer disch-schweizerische Gruppe ABB ar- Die Unterschichten im Konzern ruft weiter in die Ferne. Die Rendite hat sich beiten in manchen Bereichen bis zu 50 der Professor für Informationssysteme nicht einmal verbessert, sondern fällt im Prozent effektiver als die Deutschen. offen zur Revolte gegen sture Führungs- Ende September abgelaufenen Ge- „Die Wettbewerbssituation hat sich dra- kräfte auf: „Setzen Sie Ihr Recht durch, schäftsjahr auf etwas über zwei Prozent. matisch verschlechtert“, sagt Pierers für Siemens erfolgreich zu sein.“ So schlecht sah es zuletzt 1983 aus. Vorstandskollege Walter Kunerth. Wie einst im Sozialismus die Spruch- „Siemens ist kein Sanierungsfall“, trö- Eine Revolution von oben ist deswe- bänder, entrollen sich nun in dem kapi- stet sich der Vorstandschef. Aber der gen seit dem vergangenen Jahr über die talistischen Kombinat die Overhead-Fo- Elektrokonzern ist in einen kritischen 391 000 Siemens-Mitarbeiter hereinge- lien: „Die notwendige Produktivitäts- Phasenwechsel geraten. Einst sichere brochen. „Permanente Veränderung“ verbesserung erreichen wir nur, wenn Siemens-Märkte wie das Telefonge- fordert Kunerth im Hausorgan Siemens- wir eine Bewegung in Gang setzen, die schäft mit der Post das ganze Unternehmen erfaßt !“ Oder: kommen durch die Pri- „Führungskraft beweist sich darin, vatisierung immer stär- Schlummernder Riese selbst bei Abbrucharbeiten Aufbruch- ker unter internationa- Geschäftsentwicklung beim Siemens-Konzern stimmung erzeugen zu können!“ len Konkurrenzdruck. „Es ist Indoktrination“, gibt Kunerth In fast allen Kon- zu. Die Bewegung heißt „Top“ (time Umsatz optimized process). Das Siemens-Volk zernbereichen verlan- 84,0 in Milliarden 81,6 übersetzt die drei umwälzenden Buch- gen die großen Kun- Mark 78,5 den nach dem Vorbild 73,0 staben auch mit „total ohne Personal“ von Kostendrücker oder „tot oder pensioniert“. Doch selbst 63,2 Ignacio Lo´pez Preis- 61,1 die Verballhornungen nimmt der Vor- senkungen. Der Preis- stand noch als Beweis dafür, daß seine verfall kostet Siemens Kampagne wirkt. drei Milliarden Mark „Wie die Missionare“ ziehen Pierer des Umsatzes von über und Kunerth durch „Top-Workshops“. 80 Milliarden Mark. Umsatzrendite Seit Ende vergangenen Jahres nehmen Weit mehr als früher sie sich fast jeden Monat einen der 17 müssen sich die deut- 2,6% 2,6% 2,5% 2,5% 2,4% 2,2% Geschäftsbereiche vor. Jeweils rund 50 schen Elektrotechni- Führungskräfte werden in Klausur ge- ker auf ausländischen 1988/89 89/90 90/91 91/92 92/93 93/94* schickt, oft abseits ihrer Bürowelt in den Märkten durchsetzen. bayerischen Voralpen. Dazu lädt Sie- Der Siemens-Bereich mens Gastkritiker von außen, etwa 1577 1668 1792 1955 1982 1900 „Öffentliche Kommu- Kunden wie den Chefeinkäufer von nikationsnetze“ etwa Opel oder Bahnchef Heinz Dürr. Die soll nach dem Rück- Gewinn *geschätzt fordert Pierer auf, alle Höflichkeit bei- gang auf dem hei- nach Steuern in seite zu lassen und „ungeschminkt zu sa- mischen Telefonmarkt Millionen Mark gen: Wie sehen Sie Siemens?“ einen Auslandsanteil Die Botschaft der Missionare ist im- von 85 Prozent errei- mer wieder dieselbe: „Der Wettbewerb

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senkt die Kosten schneller.“ Am Schluß der Veranstaltung müssen die Top-Teil- nehmer eine Verpflichtungserklärung über ihre Sparziele unterzeichnen. Wer das Plansoll nicht erfüllt, verdient am Jahresende bis zu 50 Prozent weniger. Es geht aber nicht nur um Prozente. „Eine Bewußtseinsveränderung, die das ganze Unternehmen erfaßt“, will Pierer erreichen. Die Manager sollen „soziale Kompetenz“ entwickeln, sich als „Coach“ oder „Trainer“ verstehen. „Wer das nicht kapiert“, droht Kunerth, „von dem müssen wir uns trennen.“ Wer es aber geschafft hat, wird gefei- ert wie ehedem ein sozialistischer Held der Arbeit. Michael Kramer ist einer

dieser neuen Strahle-Manager, die der D. KONNERTH / LICHTBLICK Vorstand als Vorbild ausstellt. Der In- Siemens-Produktionsleiter Ludwig: Transparenz im Glaskasten genieur hatte „zweieinhalb Jahrzehnte Siemens im Leib“ und war ein klassi- duktion zur Ansicht aus. Dahinter ver- schen den Maschinen. Viele bisher zer- scher Fall für Top. „Ich war eine Super- deutlichen großformatige Grafiken den gliederte Funktionen sind jetzt in einer barriere“, klagt er sich selbst an. Nun Abstand zwischen Planziel (1,5 Prozent) Hand zusammengefaßt. aber arbeitet Kramer, der Leiter der und Realität (1,99 Prozent) des Aus- Hans-Ulrich Mayer etwa war früher Produktlinie Automobilrelais, „tagtäg- schusses. Jeder Ramschkiste liegt ein für die Disposition der Fertigungsteile lich am Thema Mensch“, das wird sei- Zettel bei mit Angaben über die Fehler- zuständig, nun ist er für die Logistik des nen Mitarbeitern „topdown täglich vor- quellen und die Verantwortlichen. gesamten Produktionsprozesses verant- gelebt“. „So kann man Menschen doch nicht wortlich. „Die Arbeit ist vielseitiger und Die Fabrik Berlin-Mariendorf war an den Pranger stellen“, meinte der macht mehr Spaß“, sagt er befriedigt. 1988 eigentlich am Ende, die Revisoren Siemens-Aufsichtsratschef Hermann Seine Kunden von der Telekom wun- gaben der Produktion an dem teuren Franz, Mentor und Förderer von Pierer, dern sich. Mit einem kurzen Blick durch Standort keine Chance mehr. Heute ist als die Berliner ihm vor einigen Mona- die Scheibe kann Mayer ihnen jetzt Aus- Siemens weltweit die Nummer eins bei ten stolz ihr Werk vorführten. Doch die kunft geben, wie weit die Produktion den Kraftfahrzeugrelais und liefert so- Menschen fühlen sich offenbar wohl. der bestellten Relais gerade ist. Das war gar nach Japan an Toyota und Honda. Die Angeprangerten haben zugleich früher ein tagelanger Verwaltungsakt. Im Werk sieht es jetzt aus wie in einer auch die Möglichkeit bekommen, in ei- Ohne Opfer ist die Entfaltung der Propagandazentrale mit angeschlosse- gener Verantwortung die Ergebnisse zu Produktivkräfte nicht möglich gewesen. ner Produktion. In weitem Rund füllen verbessern. Die Facharbeiter an den Von den 770 Beschäftigten in Marien- die ganze Mitte der Halle Schauwände drei Produktionslinien müssen nicht dorf im Jahr 1988 sind noch 520 übrig. von neun Teams, die am „Zyklus-Zeit- mehr jeden Schraubenzieher beantra- Überwiegend die angelernten Kräfte Projekt“ arbeiten. Zettel mit „Barrie- gen, sondern können innerhalb des fest- blieben auf der Strecke. Aber auch der ren“ heften in mehreren Schichten auf gelegten Budgets selbst entscheiden, Werkleiter wurde beim Abbau der Hier- den Tafeln. Auch der Vorstand kriegt wie sie die Technik verbessern wollen. archie überflüssig. Er wurde in eine an- was ab, wie es dem neuen Geist ge- Die bürokratische Führung bis hinauf dere Fabrik versetzt, wo ihn bald wieder ziemt: „Strategie – so vorhanden – wird zum Produktionsleiter Peter Ludwig ist die Top-Welle einholen wird. nicht genügend kommuniziert.“ aus der oberen Etage – topdown – herab Jedem, auch innerhalb des Konzerns, Am sogenannten Obststand liegt auf in die Fabrik gezogen und hockt nun verkündet Spitzenmanager Kramer Paletten kistenweise die fehlerhafte Pro- rundum transparent in Glaskästen zwi- stolz: „Wir können ohne weiteres am Standort Deutschland produzieren, nur mit ganz anderen Strukturen.“ Die Pro- Festes Standbein Finanzentwicklung beim Siemens-Konzern duktivität ist um mindestens 20 Prozent jährlich gestiegen, neue Produkte sind 25,5 in 23 statt in 53 Monaten am Markt, lobt 23,9 23,0 Kramer seine Mannschaft: „Das schreie Gesamtfinanz- 21,2 22,2 ich hinaus in die Siemens-Welt.“ vermögen Doch der Schrei wird noch nicht über- in Milliarden Mark all gehört. Im Mai dieses Jahres ärgerte das Londoner Büro der Investment- Bank Goldman Sachs das Management von Siemens mit einer harschen Analyse seiner bisherigen Leistungen. Gewinne, Anteil der Erträ- Cash-flow und Dividendenwachstum ge aus Finanz- seien „deutlich niedriger als bei allen anlagen am wichtigen Konkurrenten“. Siemens wür- Gesamtgewinn de mit seinem gegenwärtigen Abbau 64 % 58 % 54 % 29% 60% von Beschäftigten „immer schneller und schneller rennen und doch nur auf der Stelle treten“. 1988/89 89/90 90/91 91/92 92/93 Pierer und seine Vorstandskollegen setzen nach Meinung der Londoner

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Das ist ungefähr genausoviel, wie der Konzern verdient hat. Als Gegenleistung erhielt Pierer Rük- kendeckung durch den Vorsitzenden des Gesamtbetriebsrats, Alfons Graf: „Das rechnen wir ihm hoch an.“ Die kostspielige Einbindung ist durchaus nötig. Denn die Mitarbeiter würden sich kaum an einem Fitneßpro- gramm wie Top beteiligen und dabei womöglich ihren eigenen Arbeitsplatz wegrationalisieren, wenn der Konzern das mit einer Kündigung belohnte. Die Harmoniestrategie trägt aller- dings nur, solange die Gewinne aus den üppigen Finanzanlagen des Konzerns

WEBER die geschrumpften Margen in vielen

W.M. Geschäftsbereichen noch ausgleichen. Computerherstellung bei Siemens: Langes Tal der Tränen Mittlerweile kommen fast zwei Drittel des Gewinns aus Finanzgeschäften. Analysten die falschen Schwerpunkte. Pierer muß zudem mehr Aufträge Statt sich auf die Stärken von Siemens heranschaffen als bisher und damit für zu konzentrieren, würde der Konzern zusätzliche Beschäftigung sorgen. Sonst ohne Aussicht auf Erfolg an seinen kann er den Personalabbau nicht in ver- Schwachpunkten herumlaborieren. träglichen Grenzen halten. Da hofft der „Siemens hat einfach nicht die Kultur Siemens-Chef auf das weite südostasiati- und die Fähigkeiten, um an der vorder- sche Becken mit seinem gewaltigen sten Front von Geschäften tätig zu sein, Wachstum. Der Erfolg ist noch unge- die durch extrem hohe Forschungs- und wiß. „Wir reiten den Tiger“, sagt Be- Entwicklungskosten, verkürzte Pro- triebsrat Graf, „wenn wir runterfallen, dukt-Lebenszeiten und wechselnde frißt er uns.“ Kundenschichten gekennzeichnet sind“, In diesem Herbst zeigten sich zum er- meinen die Experten. stenmal Brüche in der Siemens-Harmo- Zur ehrwürdigen, bald 150 Jahre al- nie. Der Anlagenbau ist durch die Kon- ten Siemens-Kultur, behauptet Gold- kurrenz von Billigbeschäftigten aus Ost- man Sachs, passen so schnellebige Gü- europa so unter Druck geraten, daß der ter wie Computer oder Chips nicht. Konzern auch tariflich gesicherte Lei- Aber auch bei den privaten Telefonan- stungen an seine Monteure kürzen will.

lagen, einem klassischen Siemens-Be- D. KONNERTH / LICHTBLICK Stimmt der Betriebsrat nicht zu, droht reich, sehen die Gutachter „strukturelle Siemens-Manager Kramer Siemens mit der Ausgliederung des Be- Schwächen“ verborgen, weil der zuneh- „Ich war eine Super-Barriere“ reichs aus der Gesellschaft. mende Wettbewerb durch Elektronik Der Ton ist nicht mehr top. Graf fin- und Software bestimmt wird. Manche klugen Ratgeber hätten ihn det das Vorgehen „äußerst unfair, um Der Siemens-Bereich Halbleiter hat gewarnt, sich so unmittelbar mit dem das Wort Erpressung zu vermeiden“. in diesem Geschäftsjahr zum erstenmal Schicksal von SNI zu verbinden, erzählt Pierer gibt sich ungewohnt schroff: „Ich überhaupt einen nennenswerten Ge- Pierer freimütig. Nirgendwo sonst hat habe die Keule auf den Tisch gelegt.“ winn erwirtschaftet. Doch das ist einer sich der Konzernchef so konkret und Der harte Kurs birgt Gefahren. Die überraschend starken Konjunktur auf mit persönlicher Verantwortung auf ein bedrohte Basis könnte sich mit der mitt- dem Chipmarkt zu verdanken. In den Ziel festgelegt. Wird das verfehlt, ist leren Hierarchie verbünden, die ohne- fünf Jahren zuvor summierten sich die Pierers Glaubwürdigkeit als Erneuerer hin um ihren Status fürchtet. Dann, Defizite laut Goldman Sachs auf 1,5 von Siemens dahin. Sein Risiko ist groß. meint ein Siemens-Aufsichtsrat, „wird Milliarden Mark. Mit weiteren Verlu- Branchenexperten wie Goldman Sachs die Lähmschicht noch fester“. sten darf gerechnet werden. sind „nicht überzeugt vom Anspruch des Bisher hat Pierer Mißerfolge elegant Die Datenverarbeitung hat den Elek- Managements, 1995/96 die Gewinn- weggesteckt. Bei seinem Amtsantritt trokonzern seit der Übernahme von schwelle zu überschreiten“. wurde ihm allseits als hervorragende Nixdorf vor fünf Jahren mehr als zwei Die Analysten machen es sich leicht. Leistung angerechnet, daß er den Ein- Milliarden Mark Zuschuß gekostet. Daß Zum Wohle einer höheren Rendite solle stieg in den tschechischen Anlagenbau- Nixdorf praktisch pleite war, ging den Siemens sich doch von den Verlustberei- konzern Sˇkoda eingefädelt habe. Als die Siemens-Managern erst nach dem Kauf chen trennen: „Die entscheidende For- Übernahme im Mai dieses Jahres end- auf. derung ist Amputation.“ gültig scheiterte, nahm das kaum je- Pierer verbürgt sich höchstpersönlich, Doch Pierer ist kein Mann radikaler mand zur Kenntnis. daß „das lange Tal der Tränen“ im Ge- Schnitte. Bisher hat er sich schmerzhaf- Die vielen Reisen nach Prag und Pil- schäftsjahr 1994/95 durchschritten sein ten Maßnahmen entzogen. sen waren dennoch nicht vergebens. Im wird. Diesen Herbst übernahm er selbst Der Abbau von rund 30 000 Mitarbei- Böhmerwald kurz vor der Grenze ließ den Aufsichtsratsvorsitz der Siemens tern in den vergangenen zwei Jahren Pierer seinen Wagen oft halten, holte Nixdorf Informationssysteme AG verlief geräuschlos fast ohne Entlassun- die Wanderstiefel aus dem Koffer und (SNI). Den erfolglosen Siemensianer gen. 1,8 Milliarden Mark forderte die frönte seinem Hobby, der Pilzsuche. Hans-Dieter Wiedig löste er durch einen Operation dieses Jahr an Kosten für das Das gibt ihm Ruhe und Gelassenheit für Manager von außen ab, der Erfahrung Personal, zum Beispiel für vorgezogene die Erkenntnis: „Manchmal gehen Din- aus den USA einbringt. Pensionierungen oder Umsetzungen. ge einen anderen Weg.“ Y

DER SPIEGEL 45/1994 117 Werbeseite

Werbeseite .

WIRTSCHAFT

USA Zu heiß gelaufen Gutes Wachstum, neue Jobs – die amerikanische Wirtschaft gedeiht besser, als manchen geheuer ist.

n der New Yorker Finanzwelt ist Elaine Garzarelli eine auffällige Er- Ischeinung – mit roter Löwenmähne, elegant gekleidet, teuren Schmuck an Hals und Händen. Die Brokerin sorgte

in der Männerwelt der Wall Street für JB-PICTURES Aufsehen, als sie ihre Beine für Arbeitslose in den USA: „Den Konsumenten geht die Puste aus“ Strumpfwerbung herzeigte. Vor allem aber galt Garzarelli unter schaffen, seit es in der Wirtschaft wieder die Inflation anheizen. Die Folge wäre den New Yorker Aktienhändlern als bergauf geht. Die Inflationsrate liegt bei unausweichlich: Der von Inflationsangst professionelle Begabung. Sie habe so- 2,8 Prozent und hält sich auf dem Ni- beherrschte Alan Greenspan, Chef der gar, so die Legende, den großen Bör- veau der vergangenen zwei Jahre. amerikanischen Notenbank, würde die senkrach von 1987 vorhergesagt. Trotzdem klagen viele Amerikaner. Zinsen erhöhen. Damit würden Investi- Doch das Talent hat kein Glück Kaum steht eine positive Botschaft in tionen verteuert, und der Aufschwung mehr. Überraschend verlor Garzarelli der Zeitung, gehen die Börsenkurse würde brutal abgewürgt. ihren mit zwei Millionen Dollar im Jahr nach unten. Der größten Volkswirt- Seit Anfang Februar hat die Noten- bezahlten Job beim Bankhaus Lehman schaft der Welt geht es offenbar zu gut. bank die Leitzinsen schon fünfmal ange- Brothers. Eine falsche Prognose hatte „Die Konjunktur ist zu heiß gelau- hoben, und die US-Wirtschaft rechnet ihren Sturz beschleunigt: Garzarelli hat- fen“, warnt Donald Straszheim, Öko- mit einem neuen Dämpfer von der Zen- te verkündet, an der New Yorker Börse nom bei Merrill Lynch, dem größten tralbank. Experten erwarten, daß späte- werde in diesem Jahr der Dow-Jones-In- Brokerhaus an der Wall Street. Für Rü- stens Mitte November die Zinsen wie- dex von 4600 Punkten erreicht. diger Dornbusch, Wirtschaftsprofessor der einmal um mindestens einen halben Es kam anders. Die Aktien dümpeln am Massachusetts Institute of Technolo- Prozentpunkt heraufgesetzt werden. seit Monaten unter 4000, und das, ob- gy in Cambridge bei Boston, müßte der Greenspans Kurs hat dazu geführt, wohl die amerikanische Konjunktur nun gegenwärtige Boom ganz schnell ge- daß die amerikanische Konjunktur nun schon seit 44 Monaten gut läuft. Die bremst werden, wenn die Wirtschaft vor deutlich gebremst wird. Das Wachstum US-Wirtschaft wird in diesem Jahr um einer schädlichen Überhitzung bewahrt wird im kommenden Jahr nur noch 2,5 3,7 Prozent wachsen. werden soll. Prozent betragen. Die Arbeitslosigkeit ist auf einem lan- Bei Börsianern, Professoren und Zen- Weil die Amerikaner mittlerweile so ge nicht erreichten Tiefstand. Über tralbankern geht die Sorge um, eine hoch verschuldet sind wie seit Jahrzehn- sechs Millionen Jobs wurden neu ge- überschäumende Konjunktur könnte ten nicht mehr, nehmen ihnen höhere Zinsen erhebliche Kaufkraft weg. „Den Konsumenten geht jetzt langsam die Pu- 2,94 2,85 ste aus“, glaubt Heiko Thieme, Invest- Gewaltige Differenzen mentfonds-Betreiber in New York. Kursentwicklung des Dollar gegenüber Wächst die Wirtschaft langsamer, er- der Mark, Mittelkurse höht sich jedoch die Chance, den Auf- schwung zu verlängern. „Der Zyklus 2,17 könnte bis 1997 anhalten“, glaubt der Ökonom Straszheim. 1,88 4. November 1994 Zur Zeit entstehen jeden Monat im 1,80 1,76 Schnitt fast 280 000 Jobs, die zum Teil 1,62 1,66 1,65 1,56 1,52 allerdings schlecht bezahlt sind. US-Fir- men machen es den japanischen Kon- 4000 3858,33 4. November 1994 kurrenten jeden Tag schwerer, ihre Au- 3500 tos oder Computer in den USA abzuset- 3000 zen. 2500 Die US-Wirtschaft hat in der Krise ih- 2000 Dow Jones re Wettbewerbsfähigkeit mit rabiaten 1500 Aktienindex Methoden verbessert. Von der Autoin- dustrie bis zur Computerbranche melde- 198485 86 87 88 89 90 91 92 93 ten alle großen Unternehmen dramati- sche Personalkürzungen. 19841985 1986 1987 1988 1989 1990 1991 1992 1993 Gleichzeitig wurden die Gewerk- schaften zurückgedrängt und Löhne

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WIRTSCHAFT

drastisch gesenkt. Das durchschnittli- der Beschuldigte könnte versuchen, Mit 26 Jahren leitete der studierte che Haushaltseinkommen der Ameri- „sich der Justiz zu entziehen, da sein Wirtschaftswissenschaftler und Jurist kaner liegt auf seinem niedrigsten großes Vermögen es ihm leichtmacht, die Banca Garriga Nogue´s, einen Able- Wert seit zehn Jahren und um sieben das Land zu verlassen“. Die Kaution ger der Banco Espan˜ol de Cre´dito Prozent tiefer als vor fünf Jahren. Vor brachte de la Rosa bislang nicht auf. (Banesto) in Katalonien. Als er elf Jah- allem schlecht oder gar nicht ausgebil- Nach seinen eigenen Maßstäben, re später ausschied, hinterließ de la Ro- dete Kräfte mußten erhebliche Einbu- nach den Summen, mit denen er han- sa ein Defizit von gut 98 Milliarden Pe- ßen hinnehmen. tierte, ist es fast eine Bagatelle, die den setas, nach heutigem Wechselkurs fast Doch neben den vielen lausig ent- seit langem umstrittenen Finanzjongleur 1,2 Milliarden Mark. lohnten Jobs wurden seit Anfang der hinter Gitter brachte: Ein paar Dutzend Die Ölscheichs in Kuweit schien das neunziger Jahre bemerkenswert viele Kleinaktionäre, die ihm Geld für den nicht zu stören: Sie beauftragten de la gut bezahlte Arbeitsplätze geschaffen – Bau eines Vergnügungsparks überlie- Rosa, die Petrodollar des Kuweit In- im Bankgewerbe, im Gesundheitssek- ßen, fühlen sich geprellt und verklagten vestment Office (KIO) in Spanien zu in- tor und in der Telekommunikation. de la Rosa auf Schadensersatz. vestieren. Der Spanier kaufte wie beses- Fast drei Viertel der in diesem Jahr Nachdem der Disney-Konzern sich sen Firmen auf – Papierfabriken, Che- entstandenen Arbeitsplätze waren Jobs gegen einen Standort in der Nähe von mieunternehmen, Immobilienfirmen, für Manager, Ärzte, Buchhalter, Pro- Tarragona entschieden hatte und seinen Nahrungsmittelhersteller. grammierer oder Lehrer. Als die Kuweiter nach Sogar Paul Krugman, ein ewig skep- dem Überfall der Iraker tischer Ökonom aus Stanford, der die Geld brauchten, fanden sie Entwicklung der amerikanischen Wirt- in Spanien nur Verluste schaft der vergangenen 20 Jahre sehr vor. Die spanische Holding kritisch analysierte, gibt inzwischen der KIO mußte mit einem zu, daß der alte Trend gebrochen ist: Schuldenberg von etwa 3,2 „Die Gruppe der Arbeitnehmer nimmt Milliarden Mark Konkurs am wirtschaftlichen Zuwachs voll anmelden, die Kuweiter teil.“ Y verklagten de la Rosa we- gen Betrugs auf 1,2 Milliar- den Mark. Spanien De la Rosa betonte in al- len Fällen seine Unschuld. Aus dem Gefängnis ließ er verlauten, seine Verhaf- Fast eine tung habe eine große politi- sche Bedeutung. Das möchte, wenn auch Bagatelle aus anderem Blickwinkel, Spaniens sozialdemokrati- Der umstrittene spanische Finanz- scher Regierungschef Feli- jongleur de la Rosa ist pe Gonza´lez wohl ebenso deuten. Mit der Inhaftie- in Haft – aber wo ist sein Geld? rung de la Rosas, so Gon- za´lez, ende „die Kultur der

urch ein brillantes Gedächtnis A. RODRIGUEZ / COVER schnellen Bereicherung“ in zeichnet sich Javier de la Rosa, 47, Unternehmer de la Rosa, Partnerin Spanien. Dnicht aus. Er kann sich gerade noch Millionen zwischen den Fingern zerronnen Korruptionsfälle hat das an die goldene Rolex erinnern, die ihm Land in der Tat bereits bei seinem Einzug ins Gefängnis abge- europäischen Rummelplatz bei Paris reichlich geboten. Der Präsident der nommen wurde. Was ihm sonst an Wert- baute, suchte die katalanische Provinz- Banco de Espan˜a soll sich bereichert ha- vollem gehört, weiß er nicht mehr. regierung nach Ersatz. Sie wollte – koste ben, der Madrider Börsenpräsident und Das jedenfalls will der Unternehmer es, was es wolle – einen eigenen Park prominente Mitglieder der Regierungs- dem Richter Joaquı´n Aguirre weisma- anlegen. De la Rosa, bekannt für listi- partei des Felipe Gonza´lez auch. Der chen, der ihn vergangene Woche mehr- gen Umgang mit großen Summen, Chef der Guardia Civil ist auf der mals in Barcelona verhörte. De la Rosa schien den Katalanen der richtige Mann Flucht, nachdem er in sieben Jahren ein sitzt seit ein paar Tagen imGefängnis Can für ihre Pläne. Vermögen von 40 Millionen Mark ge- Brians südlich der spanischen Hafenstadt Mit dem Geld seiner Aktionäre kauf- macht hat. in Untersuchungshaft. te de la Rosa Firmen auf, verschachtelte Aber vorbei ist das alles noch nicht. Richter Aguirre, der dem prominenten sie, schob Millionen von einer zur ande- Woche für Woche melden die Medien Häftling Betrug, Unterschlagung und ren. Das Ergebnis war beeindruckend: neue Fälle von millionenschweren Urkundenfälschung vorwirft, wüßte all- Der Park wird zwar gebaut, aber ohne Schiebereien. „Jeden Tag“, kommen- zugern, wo de la Rosa, der einen Hub- de la Rosa, dessen Firmen plötzlich das tierte der Journalist Carlos Luis Alvarez schrauber, ein Flugzeug und eine Jacht Geld ausging. Etwa 9000 Anleger fürch- im Fernsehen, „sieht Spanien ein wenig sein eigen nannte, seine Millionen unter- ten – trotz einer Bankbürgschaft der ka- mehr wie ein Irrenhaus aus.“ gebracht hat. Aber de la Rosa zuckt nur talanischen Regierung über 120 Millio- Tapfer versucht dagegen Richter mit den Schultern. nen Mark – um ihre Ersparnisse. Aguirre, seinen Fall aus dem Tollhaus Irgend etwas muß da jedoch sein, sonst Die Katalanen hätten genauer hinse- mit Vernunft zu lösen. Er ließ inzwi- könnte der Richternicht begründen, war- hen sollen: De la Rosa hatte bereits hin- schen de la Rosas engen Vertrauten Ar- um er den Mann weiter in Haft hält. länglich bewiesen, wie leicht ihm die turo Pin˜ana ebenfalls verhaften – der Aguirre setzte eine Kaution von knapp Millionen zwischen den Fingern zerrin- soll ihm helfen, Licht in die dunkle Af- 160 Millionen Mark fest – er befürchtet, nen. färe zu bringen. Y

120 DER SPIEGEL 45/1994 . S. HÜSCH / RETRO T. RUPPERT Postminister Bötsch, TV-Touring-Studio: Ein Anruf im Bonner Ministerium half

berechnen. Nun sei eine Monatsgebühr Die gewaltigen Preissprünge sind die Privatfunk von mehr als 220 000 Mark fällig, teilte Folge einer verfehlten Investitionspolitik die Münchner Außenstelle der Tele- in den achtziger Jahren. In kurzer Zeit kom TV Touring mit. baute die Post das VBN-Netz auf und ge- Damit war Sendeleiter Hans Günter währte extrem günstige Einstiegstarife. Gewaltige Grenouillet nicht einverstanden. Er Das Projekt wurde ein gigantischer ließ im Bonner Büro des Postministers Flop. Allein im Jahr 1993 erwirtschaftete anrufen. Das half. Wenig später mach- die Telekom mit ihren VBN-Leitungen Sprünge ten die bayerischen Rechner einen 1,25 Milliarden Mark Verlust. Rückzieher. Heute zahlt TV Touring Deshalb erhöhte das Unternehmen die Ein TV-Sender im Wahlkreis immer noch 1500 Mark monatlich – Monatsmieten inzwischen drastisch. Da- des Postministers bekommt hohe deutlich weniger als die meisten Kon- bei sollen zwar Ausnahmen gewährt wer- kurrenten. den, doch viele Kunden kommen Rabatte von der Telekom. Die Telekom-Beamten vor Ort folg- schlechter weg als der Sender aus dem ten der Bonner Weisung nur wider- Bötsch-Wahlkreis. RTL 2 etwa, das ur- ehr als 300 Gäste drängten sich willig. „Aus politischen Gründen“, sprünglich ebenfalls 1500 Mark zahlte, auf den Fluren, die Würzburger schrieb der zuständige Münchner Tele- muß nach einem Umzug knapp 10 000 MKult-Band „Jets“ schmetterte kom-Beamte am 23. September in ei- Mark Monatsmiete aufbringen. Oldies, und die Lokalprominenz sagte nem Fax an seine Kollegen in Würz- Besonders hart traf es den Bayerischen artig Grußworte auf. Alles lief nach burg, habe die Generaldirektion Tele- Rundfunk: Der meldete vor 18 Monaten Plan, als der kleine Würzburger Fern- kom „die Verlegung des VBN-An- einige VBN-Leitungen ab, heute will er sehsender TV Touring am 14. Oktober schlusses“ angeordnet. sie wieder nutzen. Mehr als eine halbe seine neuen Studios einweihte. Daß TV Touring eine Sonderbe- Million Mark bot er für den erneuten An- Unter den Gratulanten war auch handlung genießt, fanden auch Bonner schluß und höhere Gebühren pro Monat. Bundespostminister Wolfgang Bötsch Telekom-Experten. Sie hatten festge- Vergebens, die Telekom wollte die Ver- (CSU). Bei TV Touring in seinem stellt, bei der Verlegung handle es sich bindung selbst für diesen Preis nicht wie- Wahlkreis ist er häufig Studiogast. Da- „juristisch um einen Neuanschluß“. derherstellen. für revanchierte sich der Politiker nun. Für den wären neue, höhere Gebühren Unfaire Rabatte für TV Touring ver- Sein Ministerium hat die Telekom be- fällig. mag das Postministerium jedoch nicht zu wegt, dem Sender einen kräftigen Ra- Dennoch, so der Vermerk vom 19. erkennen, politischen Druck von Bötsch batt zu geben. So endet ein wochenlan- September, werde „wegen der nicht schon gar nicht. Ministeriumssprecher ger Streit der Telekom mit dem Mini- herstellbaren Kundenakzeptanz aus- Christian Hoppe beteuert: „Wir geben Sender, der die erheblich erhöhten Ge- nahmsweise nach der Preisposition Anfragen einfach nur weiter, und vor Ort bühren für sogenannte VBN-Übertra- Verlegung der Endstelle berechnet“. heißt es dann: Der Minister hat sich be- gungsleitungen nicht zahlen wollte. Der Sender muß also nur ein paar tau- schwert.“ VBN bedeutet „Vermittelndes Breit- send Mark für die Kabel-Verlegung Doch offenbar ist es üblich, Verbünde- band-Netz“, fast alle Fernsehsender zahlen. Der Mietpreis bleibt gleich. te in der Politik zu suchen. „Fast jede Wo- nutzen solche Glasfaserkabel. TV Tou- Einen Bötsch-Rabatt sieht Sendelei- che will irgendein Landrat Vergünstigun- ring braucht die Leitungen täglich, etwa ter Grenouillet darin aber nicht. gen für einen Sender“, erzählt ein Tele- beim Überspielen an Fernsehstationen Schließlich sei TV Touring nur inner- kom-Mitarbeiter. „Das ist ein politisches wie RTL oder Vox. Dafür überwies der halb von Würzburg ein paar Straßen Geschäft.“ Sender bisher 1500 Mark Miete monat- weiter gezogen. „Was ist das eigentlich Die Bestätigung kam von Postminister lich – viel zuwenig, fand die Telekom. für ein Unternehmen, das an einem Bötsch persönlich. Auf der Fete vor der Der Umzug des Senders in die neuen Tag 1500 Mark für eine Dienstleistung Bundestagswahl rühmte er sich, beim Studios war eine günstige Gelegenheit verlangt und am nächsten Tag mehr als Umzug von TV Touring habe er „ein biß- für den Staatsbetrieb, die Preise neu zu 200 000 Mark?“ chen mitgeholfen“. Y

DER SPIEGEL 45/1994 121 .

WIRTSCHAFT

wagen durchsetzen – Automobile viel zu spät. „Die Konzerne fürch- ten die hohen Investitio- nen, und die Regierun- Drei vorm gen richten sich da- nach“, beklagt der Kas- seler Verkehrswissen- Komma schaftler Helmut Holz- apfel, „die Autoindu- Spritsparende Autos könnten ge- strie verbaut sich ihre Zukunft selbst.“ baut werden, sind aber nicht zu Diesmal geht es, an- kaufen. Verschläft Europas Autoin- ders als beim Kat, nicht nur um Luftreinhaltung. dustrie die Zukunft? Welche Autotechnik sich weltweit durchsetzt, atürlich könnten wir so was bau- wird entscheidenden en“, sagt Fritz Indra, Chef-Inge- Einfluß darauf haben, Nnieur bei Opel. „Technologisch ha- wie brutal Dürre, Über- ben wir es schon“, meint Herbert De- schwemmungen und mel, Vorstandssprecher bei Audi. Stürme das Klima von „Machbar ist es ganz sicher“, räumt so- morgen bestimmen. Der gar Dieter Zetsche ein, bei Mercedes- Energieverbrauch im Benz für die Fahrzeugentwicklung zu- Verkehrssektor steigt ständig. weltweit immer schnel-

Ein Phantom geistert durch die For- ler an und macht in DPA schungsabteilungen von Europas Auto- Deutschland schon ein Mercedes-Studie „Vision A“: „Der Markt könnte kippen“ industrie: das Öko-Auto mit einem Ver- Fünftel der gesamten brauch von nur drei Litern Kraftstoff Emissionen von Kohlendioxid (CO2) Millionen Pkw, die in Westdeutschland pro 100 Kilometer. aus, dem Klimaschädiger, den kein Fil- zugelassen sind, im Durchschnitt 9,9 Li- Seit Jahren haben Autokonstrukteure ter zurückhalten kann. ter Sprit auf 100 Kilometer, gerade mal darüber nachgedacht, wie sich der Ben- „Ohne eine drastische Senkung des 0,3 Liter weniger als 1970. Verfeinerte zin- und Dieselverbrauch ihrer Produk- Kraftstoffverbrauchs“ werde der CO2- Motortechnik hat zwar Einsparungen te senken ließe. An Ideen fehlt es Ausstoß der deutschen Autoflotte bis ermöglicht. Aber statt den Verbrauch nicht: Turboaufladung, Leichtlaufrei- zum Jahr 2005 noch einmal um mehr als deutlich zu senken, steigerten die Her- fen, Kunststoffkarosserien – entspre- ein Drittel wachsen, warnt Heinrich von steller lieber die durchschnittliche Mo- chende Prototypen zieren die Stände auf Lersner, Chef des Umweltbundesamtes. torleistung – im gleichen Zeitraum von allen Automessen. Weltweit sind die Auswirkungen noch 52 auf 86 PS (siehe Grafik). Das Sparmobil auf High-Tech-Niveau viel dramatischer. Mehrere hundert Mil- Daß die technischen Sparmöglichkei- wäre technisch realisierbar, doch zu lionen Chinesen, Inder und Indonesier ten weitgehend ignoriert werden, liegt – kaufen ist es nicht. Seine Entwicklung werden in den nächsten zehn Jahren aus der Sicht der Industrie – am Ver- wird – wie schon beim jahrelangen Ge- Autos kaufen. Würden die Chinesen, braucher. Spritkonsum, so die Erfah- zerre um den Katalysator – von risiko- derzeit 1,2 Milliarden Menschen, 400 rung, spiele beim Autokauf eine unter- scheuen Automanagern gebremst und Millionen Autos des heutigen Typs fah- geordnete Rolle. Dem widerspricht al- im politischen Räderwerk der Europa- ren, erkannte sogar Daimler-Benz-Chef lerdings der Erfolg der sparsamen TDI- Gremien blockiert. Edzard Reuter, „dann entstünde ein Modelle von VW und Audi. Erst vom Jahr 2005 an, so schlug jetzt Umweltschaden, den wir in Europa und Beim neuen Polo gingen die Wolfs- CDU-Mann Klaus Töpfer dem europäi- Amerika nie ausgleichen könnten“. burger wieder in die vollen: er ist 185 schen Rat der Umweltminister vor, soll Die Forderung, dem drohenden Kli- Kilogramm schwerer als sein Vorgänger die EU Verbrauchsvorschriften für Neu- machaos mit drastischen Einschränkun- und frißt im Stadtverkehr (in der 45-PS- gen bei den Verkehrs- Version) 7,5 Liter Superbenzin auf 100 Spurten statt Sparen Quelle: DIW, emissionen zu begeg- Kilometer. Eine „ökologische Frech- Bundesverkehrs- Durchschnittliche Motorleistung und durch- ministerium nen, wird die Debatten heit“ nannte Greenpeace den „technisch schnittlicher Kraftstoffverbrauch von Pkw auf dem internationa- rückständigen“ Kleinwagen. 86 und Kombis in Westdeutschland 82 len Klimagipfel prä- Die Autokäufer, durch jahrelange 78 gen, der kommenden Werbung auf Luxus und Rennwagen- 72 März in Berlin beginnt. Image geprägt, erwarten „alles auf ein- Leistung „Die Automobilin- mal“, klagt Opels Cheftüftler Indra: in PS 63 dustrie hat nur dann ei- Airbag und mindestens 80 PS, Seiten- 52 ne Überlebenschance, aufprallschutz und Platz für fünf Passa- wenn sie auch das Öko- giere, Sicherheit und kräftige Beschleu- Auto anbietet“, pro- nigung. Indra: „Das ist mit einem Drei- 10,2 10,7 10,8 10,6 10,0 9,9 phezeit der Unterneh- Liter-Verbrauch nicht zu machen, der mensberater Roland Wagen wird zu schwer.“ Ein solides, Verbrauch in Liter je 100km Berger, jeder Öko- aber sparsames Auto in Leichtbauweise Träumerei unverdäch- werde zudem viel teurer, als es aussieht, tig. „und wer kauft das dann?“ Noch immer ver- Marktfähig wird das Drei-Liter-Auto 1970 1975 1980 1985 1990 1992 brauchen die rund 30 nach Meinung fast aller Experten nur,

122 DER SPIEGEL 45/1994 wenn der Staat die Rahmenbedingungen tinghoff lernen. Auf seinen Vorschlag wagen auf fünf Liter zu drücken, wurde ändert. Diese Einsicht propagiert in der hatte das Straßburger Parlament in die politisch gleich wieder abgefedert. Die Autobranche aber nur Walther Leisler- jüngste EU-Abgasrichtlinie bei der er- Vorschrift soll nicht zwingend sein, son- Kiep, Aufsichtsrat bei Volkswagen. Das sten Lesung einen Passus eingefügt, der dern nur „soweit wie möglich“ erfüllt Spar-Mobil, so der CDU-Politiker, sei von 1997 an den Erlaß moderater Ver- werden, wie es in der Beschlußvorlage „ein typisches Beispiel dafür, daß die Au- brauchsobergrenzen für die verschiede- heißt. „In Wahrheit“, bilanziert Um- toindustrie auf die Politik angewiesen nen Hubraumklassen vorsah. Demnach weltkämpfer Vittinghoff von der SPD, ist“. hätte etwa der VW-Konzern seinen „wollen sie gar nichts tun, solange die Die notwendigen Maßnahmen für die Standard-Golf auf 6,4 Liter Verbrauch, Industrie dagegen ist.“ „automobile Abrüstung“ (Greenpeace) Mercedes alle Modelle auf höchstens 8,5 Den gleichen Kurs fährt aber auch sind längst klar. Zum einen müßte die Mi- Liter trimmen müssen – technisch alles Vittinghoffs Partei. Gerhard Schröder, neralölsteuer stufenweise über einen län- kein Problem. VW-Aufsichtsrat und neuerdings SPD- geren Zeitraum hinweg angehoben wer- Doch den Managern der europäi- Chefideologe in Sachen Verkehr, ver- den. Eine solche „verläßliche Ankündi- schen Autoindustrie paßte die ganze sprach, keinerlei Zwang auf die Auto- gung ist das sicherste Mittel, die Autoin- Richtung nicht. Zunächst erreichten sie, mobilindustrie ausüben zu wollen. Man dustrie zu allen gebotenen Anstrengun- daß EG-Kommission und Ratsminister, müsse vielmehr „alles unterlassen, was gen zu bewegen“, glaubt der Umweltwis- darunter auch Klaus Töpfer, die Par- ihr schadet“. senschaftler Ernst-Ulrich von Weizsäk- lamentsforderung zurückwiesen. An- Keine Chance also für das Spar-Mo- ker. schließend setzten sie mit „mafiaähnli- bil? Offenbar schwant den Automana- Zum anderen könnten die EU-Länder gemein- sam Obergrenzen für den CO2-Ausstoß und damit für den Verbrauch festlegen, um die gro- ßen Spritschlucker vom Markt zu verdrängen. Da dies alles nur schwer durchzusetzen sei, „soll- te man mit beidem wenigstens in kleinen Schritten beginnen“, fordert Norbert Gori- ßen, Autoexperte des Umweltbundesamts. Die Hoffnung auf den Staat ist jedoch trüge- risch. Selbst bescheidene Initiativen scheiterten bisher an einer kaum überwindlichen Hürde: der Macht der organi- sierten Automobilindu- strie. So sollte die Zentral- behörde der EU, die Kommission, eigentlich schon vor zwei Jahren ei- nen Gesetzesvorschlag Freitag zur Begrenzung der Emissionen im Verkehr vorlegen. Dies cher Lobbytätigkeit“ (Vittinghoff) die gern nun doch, daß die Wende irgend- hatten Parlament und Ministerrat bereits Europarlamentarier unter Druck. wann unvermeidlich ist. Der Markt 1991 verlangt. Doch die Mehrheit der Volkswagen ließ zum Beispiel über könne „umkippen“, fürchtet Mercedes- Kommissare versteht sich offenbar als die niedersächsische Bundestagsabge- Chefingenieur Zetsche. Sachwalter der Autokonzerne, allen vor- ordnete Leyla Onur (SPD) verbreiten, Von dieser Sorge umgetrieben, hat an Industriekommissar Martin Bange- die Verabschiedung der CO2-Grenz- der Stuttgarter Konzern die Suche mann. werte werde „in Wolfsburg die Lichter nach dem spriteffizienten Auto nicht „Wir sind gegen staatlich verordnete ausgehen lassen“. BMW drohte mit beim Prototyp abgebrochen. Von 1997 Verbrauchsbegrenzung, das benachtei- „negativen Auswirkungen auf die Be- an soll im Werk Rastatt die sogenann- ligt einzelne Hersteller“, erklärt unum- schäftigungssituation“. Ähnliche Schrei- te A-Klasse, ein Sparmobil im Mini- wunden der zuständige Bangemann-Mit- ben erhielten Franzosen und Briten von Format, vom Band laufen. Dessen arbeiter.AucheineSteuer beimKaufvon Peugeot und Ford. Verbrauchswert werde „eine Drei vor Spritschluckern nach amerikanischem Die Angstmache hatte Erfolg. In der dem Komma haben“, verspricht Zet- Vorbild lehne seine Behörde ab, „das ist entscheidenden zweiten Lesung stimm- sche. Gift für die Konjunktur und behindert te die Parlamentsmehrheit im vergange- Womöglich, so begründet der Chef- nur den Autokauf“. In den nächsten zwei nen März ihren eigenen Vorschlag nie- entwickler die geplante Mercedes-Re- Jahren werde es daher „ganz sicher“ kein der. volution, wolle sich bald „kein Auto- entsprechendes EU-Gesetz geben. Auch Töpfers jüngster Vorstoß beim käufer mehr sagen lassen, daß sein Diese Lektion mußte auch der ehema- EU-Umweltrat, vom Jahr 2005 an den Konsum gegen die Gesellschaft gerich- lige SPD-Europa-Abgeordnete Kurt Vit- durchschnittlichen Verbrauch von Neu- tet ist“. Y

DER SPIEGEL 45/1994 123 .

WIRTSCHAFT TRENDS

Reisebüros ihren Hapag-Lloyd- Anteil (17,85 Pro- Der Zweite zent) zu verkaufen. Weitere Aktienpake- hat gewonnen te kann die Lufthansa Der Reiseveranstalter Nur ist möglicherweise von jetzt in mehr Reisebüros ver- der Deutschen Bank treten als der Branchenfüh- und der Dresdner rer Tui. Dies ist die Folge Bank (je 12,5 Pro- der Liberalisierung des Rei- zent) übernehmen. severtriebs. Bisher erho- Durch einen verstärk- ben die Großveranstalter in ten Einfluß auf Ha- den Reisebüros einen Allein- pag-Lloyd will die vertretungsanspruch: entwe- Lufthansa eine Alli- der Tui oder Nur. Seit dem

ARGUS anz mit ihrer Tochter- 1. November verzichten die Hapag-Lloyd-Flug gesellschaft Condor Großen auf diese Wett- bilden und wieder die bewerbsbeschränkung. Das Lufthansa Nummer eins im Geschäft mit den Pau- schaltouristen werden. Condor hat zahlrei- che Fluggäste an den Düsseldorfer Kon- Allianz gegen LTU kurrenten LTU verloren. Die LTU ver- Die Lufthansa will ihre Position im Char- dankt die hohen Zuwächse ihrem Großak- tergeschäft kräftig ausbauen. Der Vor- tionär WestLB (Anteil: 34 Prozent). Die stand sondiert derzeit die Möglichkeit, Düsseldorfer Staatsbank hatte sich Mitte die zehnprozentige Lufthansa-Beteiligung 1993 mit 30 Prozent am größten deutschen an der hannoverschen Chartergesellschaft Touristikkonzern Tui beteiligt und dort ih- Hapag-Lloyd erheblich aufzustocken. ren Einfluß vor allem zugunsten der LTU Die belgische Gevaert-Gruppe ist bereit, geltend gemacht.

Post tung“ eines Seminars zum Universitäten

Thema „Liberalisierung von ARGUS Paterna Postmärkten“, das Ende Ja- In der Praxis Reisebüro nuar in Wiesbaden stattfin- privatisiert det. Firmenchefs sollen dort gescheitert zahlte sich vor allem für den Der Hamburger Sozialdemo- erfahren, wie sie mit Hilfe Die Professoren der Wissen- Branchenzweiten Nur aus. krat Peter Paterna erschließt von Privatfirmen ihre Postge- schaftlichen Hochschule für Etwa 3600 Tui-Agenturen sich eine neue Einnahme- bühren um 20 bis 30 Prozent Unternehmensführung in wollen künftig auch Nur ver- quelle. Als Vorsitzender des senken können. „Herr Pater- Koblenz beenden einen Aus- kaufen. Die Tui gewann nur Bundestagsausschusses für na ist ein sehr guter Modera- flug in die wirtschaftliche 2500 Büros hinzu. Post und Telekommunikati- tor“, erklärt Seminarmana- Praxis mit einer Pleite. Vor on war er ein engagierter gerin Anja Heker die Ver- drei Jahren gründeten meh- Handel Kämpfer gegen die Privati- pflichtung des Liberalisie- rere Dozenten der ersten sierung der Bundespost und rungsgegners. Paterna, der privaten Universität für Ma- Peinlicher Prozeß bremste beharrlich alle Libe- für seine Dienste etwa 4000 nager-Nachwuchs eine Fo- ralisierungspläne. Nun, nach Mark bekommt, habe jedoch rum Mittelstand GmbH, die für den Kaufhof seinem Abschied aus dem zugesagt, „sich mit seiner auf kommerzieller Basis Se- In der kommenden Woche Bundestag, ist er der Gegen- persönlichen Meinung bei minare für Führungskräfte eröffnet das Landgericht seite zu Diensten. So über- dem Seminar zurückzuhal- veranstaltet. Diese Woche Köln einen für den Kaufhof- nahm er die „Fachliche Lei- ten“. muß Uni-Rektor Adolf- Konzern womöglich peinli- Friedrich Jacob, zugleich chen Prozeß. Angeklagt sind Beiratsvorsitzender von Fo- der frühere Chef der kon- rum, seiner Gesellschafter- zerneigenen Werbefirma Ar- versammlung mitteilen, daß tur Rieck und vier seiner Ge- bis zum Jahresende das ge- schäftspartner. Sie sollen die samte Kapital verloren sein Muttergesellschaft mit über- wird. Der Grund laut Bei- höhten Rechnungen um 30 ratsprotokoll: „weitgehendes Millionen Mark betrogen ha- Ausbleiben von Anmeldun- ben. Als Zeugen sind auch gen zum neuen Programm“. drei Kaufhof-Manager gela- Die Professoren haben aller- den. Sie müssen erklären, dings einen Ausweg aus dem wie unter ihren Augen jahre- drohenden Konkurs, der ge- lang Millionen beiseite ge- wöhnlichen Mittelständlern schafft werden konnten. verschlossen ist. Sie wollen Wenn die Kontrollen zu ihre gescheiterte Firma als nachlässig waren, dürfen die

T. RAUPACH / ARGUS Universitätsinstitut weiter- Angeklagten auf mildere Paterna führen. Strafe hoffen.

124 DER SPIEGEL 45/1994 Werbeseite

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WIRTSCHAFT

Firma Boss aus Norditalien ins heimi- Nur wenige Weber verstehen sich auf Verbraucher sche Metzingen zurück: Die führenden die Verarbeitung der feinen Haare. Wer Kaschmirweber haben ihre Preise um 40 Spitzenqualität fordert, muß bei Italie- bis 60 Prozent heraufgesetzt. nern einkaufen. Vier Firmen, die alle in Eine böse Nachricht für Deutschlands Norditalien sitzen, beherrschen prak- Edles nur größten Herrenbekleider, der unter an- tisch den Markt der edelsten Kaschmir- derem 30 000 Kaschmirsakkos jährlich tuche: Piana, Zegna, Barbera und Co- herstellt. Die teurer gewordenen Tuche, lombo. vom Italiener so eine interne Kalkulation, würden die Der Verhandlungsspielraum der Ein- Endpreise um 25 bis 30 Prozent in die käufer ist recht eng. Loro Piana, der Schlechte Nachricht für die betuch- Höhe treiben. weltweit größte Kaschmirweber, „setzt te Kundschaft: Die Preise Derzeit überlegen die Metzinger Mar- die Preise fest“, sagt ein Abnehmer – ketingexperten noch, ob ihre Kund- die anderen geben vergleichbare Quali- für Kaschmirbekleidung ziehen schaft den Schock verträgt, statt 1998 täten kaum billiger her. scharf an. Mark für ein Boss-Sakko künftig 2498 Da wird mancher Kleiderfabrikant, Mark hinlegen zu müssen – oder sollte um sein Sakko unter der 2000-Mark- sich die Firma zugunsten ihrer begüter- Grenze zu halten, demnächst Kaschmir er störrische Bock vermehrt sich ten Klientel, die ja auch rechnen muß, nicht so fleißig, wie es die Chine- mit einer bescheideneren Spanne be- Nur Kenner Dsen gern hätten, und nur menschli- gnügen? che Gewalt treibt ihn von den kalten Der Schwarzacher Hersteller Rene´ fühlen reinen Kaschmir Hängen des Himalaya auf tiefer gelege- Lezard hat seine Entscheidung schon ne Weiden. Dort aber läßt er sein zottli- getroffen: Er wird seine Kaschmirbe- am Griff ges Fell so dick und filzig wachsen, daß kleidung um rund 30 Prozent verteuern, es nicht viel wert ist. nachdem Einkäufer Michael Feller die mit Wolle mischen müssen. Die meisten Das Tier gibt ohnehin nur wenig Wol- neuen Lieferverträge mit italienischen Kunden merken so etwas ohnehin nicht. le ab, wenn sein Fell ausgekämmt wird: Webern abgeschlossen hat. Da wird Ob der Stoff wirklich, wie das Etikett 150 Gramm jährlich der Bock, 50 mancher Kunde zur Wolle greifen, verkündet, aus hundertprozentigem Gramm das Weibchen. Ausschließlich glaubt Feller: „Bei den Preisen werden Kaschmir ist, „kann der Laie nicht fest- in den Hochlagen der Inneren Mongolei die Verkäufe zurückgehen.“ stellen“, sagt Thomas Schlier von der und in Tibet mag die Kaschmirziege le- Jil Sander hat gerade noch rechtzeitig Arbeitsgemeinschaft der Verbraucher- ben, auch in den Bergen Indiens, Irans Stoffe zu alten Preisen gekauft, aber für verbände. Nur Kenner fühlen am Griff, und Afghanistans. ihre übernächste Kollektion wird sie ob der weiche Stoff aus reinem Kasch- Nur dort wird das Haar in dem rauhen wohl erheblich mehr verlangen: Die mir oder aus Mischgewebe besteht. „Ich Klima so fein und weich, wie es die Mo- Rohware ist jetzt dreimal so teuer wie würde das sofort merken“, behauptet demacher wünschen. Es gibt keinen im Vorjahr. Das wird böse auf die Preise Franz-Josef Wortmann vom Deutschen Stoff, der so teuer ist wie Kaschmir – aller Hersteller durchschlagen. Wollforschungsinstitut an der TH Aa- aber auch, wie sich die Hamburger Klei- Derzeit verlangen (und erhalten) die chen. derfabrikantin Jil Sander begeistert, Chinesen, die zwei Drittel der Weltpro- Doch das Gros der anspruchsvollen „kein anderes Gewebe von dieser Gefü- duktion von insgesamt 8000 Tonnen lie- Kundschaft kauft nach dem Etikett. Ob gigkeit“. fern, pro Tonne Rohware 118 000 Dol- ein Kleid zu 50 oder 100 Prozent aus Die Herden der Kaschmirziegen sind lar. Vor zwölf Monaten lag der Preis bei Kaschmir gefertigt ist – „um das festzu- bei weitem nicht so schnell gewachsen 35 300 Dollar. Richtig teuer wird die stellen“, sagt Faserspezialist Wortmann, wie die Scharen von Wohlständlern, die Ware erst, wenn die Bekleidungsher- „brauchen Sie ein Rasterelektronen-Mi- sich in Kaschmir hüllen wollen. Auch steller den Stoff einkaufen. kroskop“. Y die Bekleidungsher- steller mögen den ed- len Stoff, der die für sie angenehme Eigen- schaft hat, zügig zu verschleißen: Ein Kaschmirpullover ist schneller durchge- scheuert als einer aus feinster Wolle. Doch weder schnel- ler Verschleiß noch hohe Preise scheinen die Verbraucher zu schrecken. Zwischen 1988 und 1990 haben sich die Preise für Kaschmir verdoppelt, dann sind sie gesun- ken; jetzt, da die Re- zession vorbei ist, zie- hen sie wieder scharf an.

Erschrocken kehrte W. FICHTNER / OKAPIA der Chefeinkäufer der Kaschmirziegen: Nur wenige Weber können die feinen Haare verarbeiten

DER SPIEGEL 45/1994 127 Werbeseite

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Über freie und unfreie Rede Der Schriftsteller Martin Walser über das öffentliche Gewissen und neue deutsche Tabus

enn man über etwas spricht, das mit einem selbst zu tun hat, müßte man doch frei sprechen können. Daß Wdie freie Rede schöner wäre als die vorgelesene, ist sicher. Die Zuhörer würden Zeugen des Entstehens der Sätze. Schwieriges schwierig sagende Sätze entstünden dann langsa- mer, deutlich schwerer schnaufend als ein paar diskurssicher mitschwimmende Redensarten. Frei zu reden – für den Redenden eine Möglichkeit, zu er- fahren, ob er noch identisch sei mit sich. Die freie Rede – eine fabelhafte Hochzeit der Erfahrung mit der Spontaneität. Aller Geschichte mit dem jetzigen Augenblick. Das ist doch bei uns sozusagen Geistigen die Crux: daß wir nie da sind, wo wir ge- rade sind. Wenn wir in der Vergangenheit sind, fehlt die Hauptsache, die Gegenwart. Wenn wir in der Gegenwart sind, fehlt die Hauptsache, die Vergangenheit. Wie könnten wir uns erleben, wenn wir alle nur noch frei reden würden! Die Rede trüge uns, wie Luft etwas trägt, das fliegen kann. Und warum brichst du dann nicht endlich aus aus der Vorlese-Routine? Es gibt immer andere Gründe, nicht frei zu reden. Heute zum Beispiel muß ich mich sorgfältig an das Aufgeschriebene halten, weil ich viel verschweigen muß. In jedem Jahr sind es andere Sätze, die unmöglich sind. Als ich erfuhr, daß ich heute hier und aus welchem Anlaß sprechen dürfe und solle, dachte ich sofort: Jetzt sprichst du endlich über ein Thema, das du schon lange vor dir her- schiebst, für das du täglich mehr als einmal Erfahrungen machst. Es ist das Thema: Gewissen und Öffentlichkeit. Viel- leicht sogar: über die Veröffentlichung des Gewissens. Und, dachte ich, du sprichst frei. Deine Gewissenserfahrungen rei- chen 60 Jahre zurück, das müßte reichen. Und das waren von Anfang an Erfahrungen mit der Veröffentlichung dessen, was im Gewissen sich bildete. Gewissen – das ist ja ein Wort für den Prozeß, in dem ent- schieden wird, wie das, was du tust und denkst, zu bewerten ist, beziehungsweise ein Prozeß, den du in dir so lange be- treibst, bis du es mit dem, was du tust und denkst, aushältst. Du bist ja als der Bewertende kein bißchen souverän. In dir werden im Lauf der Jahre immer mehr Stimmen laut, die mit- reden, mitentscheiden, wenn dein Gewissen sich regt. Eine ganz wichtige Stimme kam am Anfang aus dem Beichtstuhl. Ich habe doch meine ganze Kindheit ausschließ- Martin Walser lich im Beichtstuhl verbracht. Mir kommt vor, als hätte ich viel weniger Zeit mit Sündigen als mit Beichten verbracht. Als überraschte 1988 in einer Münchner Rede sein Publikum mit ich etwa 15 war, war mein katholisch gepflegtes Gewissen am dem Bekenntnis, er könne sich mit dem „Strafprodukt“ deutsche Ersticken. Die Absolution war immer abhängig von der Reue, Teilung, dieser„offenen Wunde“der Geschichte, nicht abfinden. die Reue war abhängig vom Vorsatz, der Vorsatz – der Vor- Der Linke als, wenn auch skeptischer, Patriot wurde damit für vie- satz nämlich, die und die Todsünde nicht mehr zu begehen – le, vor allem viele seiner ehemaligen Weggenossen aus der SPD- war im Ernst nicht möglich. Durfte ich ihn zum Schein fassen? Wahlinitiative von 1961, zum Ärgernis. Der Streit um den angeb- Das ist doch keine Reue und kein Vorsatz, wenn man schon lich rechts gewendeten Autor bedeutender Romane wie „Halb- weiß, daß man wieder sündigen wird. Ich hatte keinen, mit zeit“ (1960) und „Brandung“ (1985) endete auch nicht mit dem dem ich darüber sprechen konnte. Also sprach ich mit mei- FallderBerliner Mauer, derWalsersvielbelächeltes„Geschichts- nem Schiller. Lieh mir von ihm die der Moral trotzig hinge- gefühl“ bestätigte. Als Walser – ganz im Sinne seines „Ge- fetzten Kündigungszeilen: schichtsgefühls“ und unter dem Titel „Deutsche Sorgen“ (SPIE- GEL 26/1993) – die „Vernachlässigung desNationalen durch uns Kannst du des Herzens Flammentrieb nicht dämpfen, So for- alle“ für den „Kostümfaschismus“ mordgieriger Jugendbanden dre, Tugend, dieses Opfer nicht. mitverantwortlich machte, fühlten sich etliche seiner Kritiker be- Ein Effekt dieses andauernden Gewissenskampfes: Als die stärkt. Von dem selbstgerechten Konformismus der öffentlichen Organisationen des Dritten Reiches mit ihren Parolen auf uns

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eindonnerten, war die Frequenz des Du sollst und Du sollst men oder Paulus-Briefe, aber inhaltlich ein Befreiungsange- nicht schon durch die Zehn Gebote besetzt. Diese Zehn Ge- bot. Ich war ja im Religionston aufgewachsen. bote waren ja Tag und Nacht zu erfüllen oder zu verfehlen. Natürlich gehörte zur Befreiungstonart auch Goethe: von Und als verfehlte waren sie noch gegenwärtiger denn als er- „Wen du nicht verlässest, Genius“, bis „Bedecke deinen füllte. Was ein deutscher Junge sollte oder nicht sollte, war da- Himmel, Zeus“. Dieser Ton störte die Beichtbereitschaft. Du gegen eher Hokuspokus, überhaupt Firlefanz. hast dich doch schon lange geschämt dafür, daß du diese leb- Dann konnte ich ein Buch erwerben, das auf schwarzblau- lose Beichtsprache nachkaust. Aber solche Stimmungen sind em Einband den Titel in goldenen Buchstaben präsentierte: natürlich im Beichtvokabular vorgesehen; die Wörter, mit Volks-Nietzsche. Inhalt: Also sprach Zarathustra. Willkom- denen du auf Glaubenszweifel zu reagieren hast, kennst du. mener konnte mir kein Buch sein. Im Ton anklingend an Psal- Los, sag sie auf. Wer bist du überhaupt, daß du frei sein willst! Die Schule zum Beispiel half nicht. Die übte ein in eine zweite Künstlichkeit. In den Aufsätzen in der Schule kam ich nur artistisch vor, ich erfüllte die Erwartungen meiner Leh- rer. Wie man das macht, lernt man ja. Das Gewissen blieb in- nen. Und da ist es geblieben. Ich beklage das nicht. Ich weiß nicht einmal, ob heute ein Kind ganz anders aufwächst. Ob sich heute das Gewissen im Diskurs bildet? Ein Ergebnis dieser Gewissensbildung ist, daß ich das, was in meinem Gewissen stattfindet, nicht veröffentlichen kann. Ich kann sagen, daß ich mein Gewissen für nicht vorzeigbar halte. Das, was heraus darf, ist dann das Zurechtgemachte, das dem Soll Entsprechende. Die Welt hat Anspruch nur auf das Bild von mir, das sie bei mir bestellt. Ich entspreche der Welt so, wie ich früher den Lehrern entsprach. Den Pfarrern entsprach. Man nennt das, glaube ich, Sozialisation. Das heißt, man weiß in jedem Augenblick und unter allen Umständen, was und wieviel man vorzeigen darf, kann, soll, muß. Schriftsteller wird man vielleicht auch deshalb, weil man darunter leidet, daß man fast nichts von sich zeigen darf. Das Sagbare ist ja nur die Spitze eines Unsäglichkeitsberges. Den Bereich des Sagbaren ein wenig zu erweitern, das ist ein Traum, ein Bedürfnis, ein Zwang. Und sei’s durch freie Re- de. Es ist immer die Nichtübereinstimmung mit etwas Herr- schendem, was dich zwingt, aus deinem Gesamtbestand das Mögliche auszuwählen. Jeder Teilnehmer am jeweiligen Dis- kurs lernt ganz von selbst, was gerade und wie es gesagt wer- den darf. Der Diskurs ist der andauernde TÜV, der das Zu- gelassene etikettiert und den Rest tabuisiert.

in Beispiel: Steffen Heitmann, sächsischer Justizminister, E soll, so will es der Kanzler, Bundespräsident werden; nach einer Serie von Interviews ist der Mann erledigt. Die Süddeutsche Zeitung, die als liberal gilt, fragt Heitmann: „Sorge um Kinder und Selbstverwirklichung der Frau seien unvereinbar, haben Sie gesagt.“ Heitmann: „Unvereinbar ha- be ich nicht gesagt. Aber eines geht auf Kosten des anderen. Dieser zweite Satz ist wichtig. Man muß, wie bei anderen meiner Zitate auch, den Gesamtzusammenhang sehen. Es

U. ANDERSEN / GAMMA / STUDIO X wird mir immer etwas von Frauen, Küche und Herd in den Mund gelegt. Das habe ich nun wirklich nirgends gesagt.“ „Verurteilungskultur“, den er auf diese Weise gründlich studie- Süddeutsche Zeitung: „Kinder, Küche, Kirche?“ Heit- ren konnte, handelte schon Walsers Roman „Ohne einander“ mann: „Nein, das entspricht nicht meinem Frauenbild.“ Der (1993), der im Medienmilieu spielt. Jetzt legt der „literarische Arme kennt nicht einmal das Reizklischee, mit dem er erle- Experte für Identitätsbeschädigung“ (Walser über Walser) nach: digt werden soll. Das muß ihm der liberale Erlediger vorkau- in einer autobiographisch grundierten Tirade „Über freie und un- en. Irgendwann in diesem Interview sagt Heitmann: „Wir freie Rede“. Mit ihr eröffnet der SPIEGEL die neue Rubrik „Debat- müssen ein normales Volk unter normalen Völkern sein.“ te“. Walser, 67, trug sie vergangenen Samstag in der Heidelber- Später, erst gegen Ende des Interviews sagt er: „Wir müssen ger Universität vor, ein episch-essayistisches Dank-Wort für den lernen, mit dieser furchtbaren Geschichte, die wir haben, mit 20 000 Mark dotierten Dolf-Sternberger-Preis, der ihm dort umzugehen.“ Darauf der Interviewer „,Normal‘ umzugehen? überreicht wurde. Walser versteht diese Rede als provozierendes Wie soll man normal umgehen mit Millionen Morden?“ Lehrstück über die Vertracktheit „öffentlicher Gewissensprü- Also, da fiel dem ein, daß Heitmann 10 oder 15 Antworten fung“ und die „Banalität des Guten“, über Moralstaatsanwälte vorher das Wort „normal“ als Adjektiv gebraucht hat, und „Tabuzüchtung im Dienst der Aufklärung“. Dabei verteidigt „normales Volk unter normalen Völkern sein“. Jetzt sagt der Radikal-Individualist auch zwei über sich selbst gefallene Po- Heitmann: „Lernen, mit dieser furchtbaren Geschichte, die litiker: und Steffen Heitmann, mit denen er nun wir haben, umzugehen.“ Aber der Interviewer tut, als habe wohl in eine Reihe gestellt wird. Der Mechanismus, der dies be- er einen adverbialen Gebrauch gehört: „,Normal‘ umzuge- wirkt, ist das Thema der Rede. hen?“ Und jetzt kommt ihm der Satz so, wie er zur Zeit ge- sagt werden muß, wenn man als politisch korrekt gelten will:

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„Wie soll man normal umgehen mit Millionen Morden?“ Da- hat nicht mehr den Alzheimer, sondern den Raddatz. Raddatz mit ist der Interviewte in der Ecke, in die er gehört. stiftet Moral. Brecht wird bezeichnet als „wahrlich ein Cha- Normal umgehen mit Morden?! Das ist ein schöner Manipu- rakterliliputaner“. Und mit dem Brustton des Charakterrie- lationsschritt von „ein normales Volk unter normalen Völkern sen: „Das ist ja nicht wahr, daß Kunst nichts zu tun habe mit sein“ zu „normal umgehen mit Millionen Morden“. „Normal“ Gesittung.“ Und: „Ohne Humanum keine Kunst.“ Und: als Adverb bringt Heitmann in die Nähe zu Tätern. Das ist der „Man macht doch keine Kumpanei mit Lumpen?“ Routineschritt des Zeitgeistes. Wer ihn macht oder mitmacht, weiß wieder einmal überhaupt nicht, was er tut. In diesem Fall ls Motto dient diesem Aufsatz ein Thomas-Mann-Satz: der Redakteur der so großen wie liberalen Zeitung. Der Chef- A „Ein Künstler ohne Lebenssittlichkeit ist nicht möglich; redakteur des Stern lieferte dazu die nächste Schärfestufe. der Werkinstinkt selbst ist ihr Ausdruck, ist ,Tüchtigkeit‘, ist „Verbale Brandsätze“ habe Heitmann geworfen. „Verbale Sozialität, und zeitige er das lebensabgewandteste Werk.“ Da- Brandsätze“! Damit ist der Kandidat auf das Schlimmste ver- mit ein weiteres Mal erlebt werden kann, daß nichts ohne sein bandelt mit , Mölln, Solingen. Gegenteil wahr ist und damit des Meisters Bild und Funktion Daß ich diese Praxis für bedenklich halte, heißt überhaupt nicht zu platt sittlich ausfalle, muß ich ergänzend einen Tho- nicht, daß sie bedenklich sei, das bestätigt nur, was man schon mas-Mann-Satz aus einer anderen Schublade dazuzitieren: weiß: Statt links bin ich jetzt rechts. Und da muß ich das doch „Das Soziale ist ein sittlich sehr fragwürdiges Gebiet; es so sehen, klar. Das ist der Vorteil der Linksrechtsschiene, man herrscht Menagerieluft darin.“ weiß dann immer gleich, Ich finde, diese von warum einer das sagt, einer feinen Nase ab- was er sagt. In diesem hängige Sittlichkeit ge- Klima frei reden? Ich hört bei Thomas Mann hätte in jedem Jahr schon dazu. Ich bin Gründe finden können, dankbar für den morali- warum ich mich nicht schen Pluralismus im der freien Rede anver- Leben Thomas Manns. trauen kann, obwohl ich Auch hat das den Vor- nichts lieber möchte als teil, daß ihn praktisch das. Zur Zeit ist es also alle Lager zitieren kön- der Tugendterror der nen, wenn sie anderen political correctness, der etwas vorwerfen müs- freie Rede zum hals- sen. Es ist nach zwei brecherischen Risiko Diktaturen auf deut- macht. schem Boden sicher „PC oder: Da hört die mehr als ein Gesell- Gemütlichkeit auf“ hat schaftsspiel, wenn Intel- Dieter E. Zimmer vor lektuelle das Gewissen über einem Jahr in der anderer Intellektueller

Zeit seinen Aufsatz über J. SCHWARTZ / FORMAT öffentlich überprüfen. den neuesten „Tugend- Präsidentschaftsbewerber Heitmann 1993 (M.) Wenn sogar ein Jür- terror“ überschrieben. gen Habermas, dessen Darin heißt es: „Wer „Frauen, Ausländer, Nazi-Vergangenheit – moralische Sensibilität das Lager der PC in ei- nicht modeanfällig ist, nem Punkt verläßt, wird abgefragt wie der Katechismus“ solche Vorwürfe formu- sofort in das des Feindes liert. Auch in der Zeit. eingewiesen. Sie ist zu- Über Martin Heideg- dem durch und durch ger und Carl Schmitt als moralisch: Das Inkorrekte ist nicht nur falsch, es ist böse.“ „große Jasager von 1933“ schreibt er: „Sie haben das Illusionä- Oder, positiv gesagt: Der politisch Korrekte ist nicht nur der re ihres verstiegenen Vorsatzes erfahren, weigerten sich aber Bessere, er ist der Gute. post festum, ihre Schuld oder auch nur ihren politischen Irr- Natürlich lebt die deutsche Version der political correctness tum öffentlich einzugestehen.“ Aber in seinem Vorwort zu am meisten von den zwei Diktaturen, die in diesem Jahrhun- Victor Farias’ Heidegger-Buch formuliert er so: „Als Nachge- dert unsere Geschichte bestimmten. Für Vergangenheitsbe- borene, die nicht wissen können, wie sie sich unter Bedingun- wältigungsanlaß ist gesorgt. Damit meine ich nicht das, was gen der politischen Diktatur verhalten hätten, tun wir gut dar- die Justiz tun kann. Ich meine den täglichen Umgang mit die- an, uns in der moralischen Bewertung von Handlungen und sem doppelten Erbe in meinem Bewußtsein, in meinem Ge- Unterlassungen während der Nazi-Zeit zurückzuhalten.“ wissen. Sendet Habermas auf Medienfrequenz, siegt die Abnei- Ein Beispiel für die Tonart, in der DDR-Vergangenheit auf- gung, im wissenschaftlichen Gehege mobilisiert er seine Ur- gearbeitet wird: Fritz J. Raddatz in der Zeit, 1993, über Hei- teilskraft gegen seine Abneigung. Das heißt, im Unterschied ner Müllers und Christa Wolfs Stasi-Kontakte: „Wenn aber zum straflüsternen Moralgiganten Raddatz sieht Habermas Thomas Manns Satz gilt, ,Schreiben, das heißt, sein Herz wa- das Werk, zum Beispiel die „Substanz“ von „Sein und Zeit“, schen‘, dann kann man mit dem Herzkrebs der Unaufrichtig- nicht durch politisches Fehlengagement diskreditiert. keit nicht schreiben.“ Hier wird man Zeuge, wie einer sich Ich gebe zu, ich erwarte von keinem Menschen, daß er sich nicht nur mit einem Großen moralisch legitimiert, sondern öffentlich rechtfertige. Es sei denn vor Gericht. Ich erwarte gleich auch noch sprachlich infiziert. Daß Schreiben Herzwä- überhaupt nicht, daß jemand sein Gewissen veröffentliche. Ich sche sei, ist ja schon kühner gesagt als nötig, wie brav hat Ib- fürchte, Gewissen öffentlich – das sei Zwang zur Anpassung. sen diesen Gedanken formuliert, aber dann führt die Unauf- Ich schließe das aus der Tonart dieser öffentlichen Gewissens- richtigkeit zum Herzkrebs oder der Herzkrebs zur Unaufrich- prüfungen. Es gibt auch eine Banalität des Guten. tigkeit – unser Genitiv macht’s möglich. „Auf welcher Seite des Historikerstreits stehen Sie?“ fragt Mit diesem Herzkrebs-Befund gehört sein Entdecker in den der Redakteur der Süddeutschen Zeitung Herrn Heitmann. Pschyrembel, morbus Raddatz, oder einfach, wer’s hat, der Muß es einem nicht leid tun, diesen edlen Streit in einer sol-

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chen Hü-Hott-Alternative erstarren zu sehen? Frauen, Auslän- schadet haben könnte. „Es würde mir schwerfallen, diesen der, Nazi-Vergangenheit – das wird abgefragt wie bei uns in der Satz hier Ihnen gegenüber auszusprechen“, sagt sie. Das ist Schule der Katechismus. Und wenn wir geantwortet hatten: unser Zeitgeisttheater: Da der es gut meinende Moralstaatsan- Glauben heißt für wahr halten, was Gott durch seine Kirche ge- walt, der die Formel fordern muß, dort die Inkorrekte, die öf- offenbart hat, kriegten wir eine Eins beziehungsweise gehörten fentlich beichten soll, damit alles wieder in Butter ist. dazu. Nichts ist doch so sehr eines jeden Sache wie das Gewissen. „Bedecke deinen Himmel, Zeus“! Ja, wen denn sonst als ei- Mein heiliger Kierkegaard hat gesagt, es sei schon unethisch, nen Sprachmenschen muß man anrufen in dieser Epoche der aus dem Verhalten eines anderen auf dessen Inneres zu schlie- Herunterbeterei des Korrekten! Wie das, was ich hier zu sagen ßen! Ein Gran dieses Respekts vor dem Gewissen anderer täte versuche, durch selektives Zitieren wieder zu einem rechtsex- zur Zeit uns allen gut. Kann man sich, bitte, nicht vorstellen, tremen Horrortext ge- was Heidegger gedacht macht wird, das ahne und empfunden hat, als ich nicht einmal. er nach 1945 die Das Fernsehen, mit Scheußlichkeit des Drit- seiner Macht über die ten Reiches zur Gänze Schläfrigen, zeigt, wie erfuhr? Abgesehen da- man mit denen umgeht, von, daß er ja die Vor- die von den Zeitungen würfe beantwortet hat – als inkorrekt ist gleich muß er das wirklich mir dumm ist gleich böse gestehen oder irgendei- zur Weiterbehandlung ner Öffentlichkeit? angeliefert werden. Augustin hat gesagt, Schnitt und Montage das Gedächtnis sei der nach Goebbels’ Art. Magen der Seele. Der Man kann dem Fernseh- Satz stammt aus der Er- volk nicht mit Nebensät- fahrung, daß im Ge- zen kommen, also un- dächtnis nichts bleibt, terschneidet man eine wie es hineinkommt. Interviewantwort ein- Das Gedächtnis ist kei-

fach mit Großaufnah- EHLERT / DER SPIEGEL ne Lagerstätte, sondern men marschierender NS-Parteitag in Nürnberg 1933, 1.-Mai-Feier in Ost-Berlin 1979 (u.) ein Prozeß. Es gibt kein Skinheadstiefel, dann ist gleichbleibendes Ver- schon alles klar. „Wegen der nationalen Schuld müssen hältnis zu einem Ge- schehenen. Ich glaube n diesem Klima ge- wir von der Nation sprechen“ nicht, daß wir wirklich Inügt es nicht einmal, mit Schuld leben kön- auf freie Rede zu ver- nen. Durch diese zwei zichten, da sollte man Diktaturen ist es offen- am besten gar nichts bar eine deutsche intel- mehr sagen. Aber dann lektuelle Spezialität ge- läutet doch gerade das worden, anderen vorzu- Telefon, du wirst ge- werfen, sie gestünden fragt, was du zu sagen die deutsche Schuld hast zu der gerade lau- oder die eigene Ver- fenden Vergangenheits- strickung in diese Dikta- fledderei im Leben turen nicht deutlich ge- Reich-Ranickis. Freie nug, nicht reuig genug. Rede ist gefordert. Ich habe dreimal mit Nachher liest du’s in der Menschen zu tun ge- Zeitung und siehst, wie habt, die andere getötet falsch deine Antwort haben. Meine Erfah- war. Die war nämlich rung: Diese Schuldigen so: „Wenn er sich nichts haben mir immer und

vorzuwerfen hat, habe W. EILMES immer wieder erzählt, ich ihm auch nichts vor- wie ES passiert sei. Sie zuwerfen.“ Da bin ich haben ES nicht getan. doch schon bis zum Hals drin in der Banalität des Guten. Ich ES sei passiert. Die Lage war so und so, dann passierte das habe ihm doch unter gar keinen Umständen etwas vorzuwer- und das, und dann, ja, dann passierte ES. Das hatten sie doch fen! Auch wenn er sich etwas vorzuwerfen hätte, ich habe ihm nicht gewollt. Offenbar können die, die von uns einen anderen nichts vorzuwerfen! Nichts Politisches, nichts Moralisches, Umgang mit der Schuld verlangen, selber mit Schuld leben. nichts, was aus dem Gewissen stammt! Wir sind als Nation schuldig. Schon aus diesem Grund ist es Ein wahrhaft belehrender Augenblick (28.10.1994): ZDF- nicht möglich, von Nation nicht mehr zu sprechen. Es war Moderator Roger Willemsen beendet ein freundlich informati- nicht die Gesellschaft, nicht das Volk, es war die Nation. ves Gespräch mit Kerstin Kaiser-Nicht, die gerade ihr PDS- Ich kann mich dieser nationalen Schuld gegenüber nicht an- Bundestagsmandat zurückgeben mußte, weil sie vor Jahren als ders verhalten als gegenüber einer persönlichen Schuld. Das Studentin in Leningrad für die Stasi tätig gewesen war. Zum heißt: In mir laufen, wann auch immer diese Schuld zur Spra- Schluß sagt der Moderator: Jetzt haben Sie einen Satz verges- che kommt, seit Jahrzehnten Gedankenreihen ab, die haben, sen. Frau Kaiser-Nicht hat keine Ahnung, was er meint. Er: bei aller Verschiedenheit, doch immer eine Tendenz: Ich su- Daß Sie bereuen, was Sie in Leningrad getan haben. Sie: Das che Umstände, die aus der Tat ein Geschehen machen. Es hilft könne sie nur Menschen gegenüber ausdrücken, denen sie ge- mir nichts, wenn ich nachgebetet höre: Die deutsche Schuld ist

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singulär; diese Deutschen sind die schlimmsten Menschen, uns jetzt erreicht ist. Die Formalisierung, die Standardisierung die es je in der Geschichte gab; wir können gar nicht oft ge- der Sprache für das, was aus dem Gewissen stammt. nug davon sprechen . . . Ein Beispiel, das die Folgen dieser Standardisierung in schon Inzwischen sehe ich schon jedem dieser Gedenktage mit grotesker Weise und in monströsem Ausmaß zeigt: die Rede krankem Gemüt entgegen. Ich suche immer nach Gründen. und die Wirkungen der Rede, die Philipp Jenninger als Präsi- Wie ist es passiert? Wie hat das geschehen können? Und ich dent des Deutschen Bundestags am 10. November 1988 im Bun- komme zu keinem Ende, zu keinem ausreichenden Grund. destag hielt in der „Gedenkveranstaltung aus Anlaß der Pogro- Jeder Punkt, der auf dieser Gedankenstrecke erreicht wer- me des nationalsozialistischen Regimes gegen die jüdische Be- den kann, ruft seine Anfechtung hervor. völkerung vor 50 Jahren“. Ich zitiere einen Satz, der wirklich re- präsentativ für diese Rede ist, für ihren Geist: nd ich kann meinen Umgang mit unserer Schuld keinem U empfehlen. Die Details sind gar nicht vorzeigbar. Ich Im Rückblick wird deutlich, meine Damen und Herren, daß zwi- wundere mich darüber, daß die Mahner nie von ihrem eige- schen 1933 und 1938 tatsächlich eine Revolution in Deutsch- nen Umgang mit der Schuld sprechen. Das sollten sie, glau- land stattfand – eine Revolution, in der sich der Rechtsstaat in be ich, wenn sie uns helfen wollen. Aber selbst dann wäre einen Unrechts- und Verbrechensstaat verwandelte, in ein In- damit noch nichts für andere vorgeschrieben. Es gibt kein strument zur Zerstörung genau der rechtlichen und ethischen normatives Verhältnis zu dieser Schuld, keine Standardisie- Normen und Fundamente, um deren Erhaltung und Verteidigung rung des Bekennens. es dem Staat – seinem Dann kann also in 70 Begriffe nach – eigent- oder 80 Millionen Ver- lich gehen sollte. sionen von dieser Schuld gesprochen wer- AlsdieRede gehalten den? Ja. So wie es jeder wurde, war ich in Ame- erlebt. rika. Als ich die Rede Wenn der deutsche las, habe ich nicht be- Bundespräsident Polen griffen, warum der Prä- um Vergebung bittet für sident des Deutschen die deutschen Verbre- Bundestags wegen die- chen, dann ist das eine ser Rede so senkrecht längst fällige Geste. hinabgestürzt wurde Aber sie findet außer- wie kein anderer Politi- halb von mir statt. Sie ker seit 1945. Offenbar entlastet mich nicht, müßte man, um diese weil sie mir nichts er- Erledigung einer Person klärt. Wir wollen uns zu verstehen, die Kas- von denen unterschie- sette anschauen. Die den sehen, die damals Zuhörer haben durch handelten. Im großen ihre Reaktionen den ganzen unterschieden. Skandal bewirkt. Un-

Überhaupt unterschie- AP verabredet, lauter eh- den. Aber wir gehören Bundestagspräsident Jenninger 1988* renwerte, höchst zu- dazu. Also weiter: Er- ständige Zeitgenossin- klärungen, Gründe, „Im Correctness-Rausch fragte niemand nen und Zeitgenossen. Herleitungen. Eine Art unwillkürli- Ich weiß, auf diesem mehr nach der Grammatik“ cher politisch-morali- Wortweg wird mir das scher Lynchstimmung Wort Relativierung ent- muß da aufgekommen gegengehalten werden sein. Daß die Fragen, und das Wort Singularität und Jenninger und Heitmann und so die diese Stimmung produzierten, rhetorische Fragen waren, ih- weiter. Also schrecke ich zurück. Mein Gewissen bleibt unver- rer Form nach indiefürdasZitieren und nicht für das Behaupten öffentlicht. brauchbare Grammatikschublade „erlebte Rede“ gehörend, Als Heitmann gefragt wurde, auf „welcher Seite des Histori- das merkte im Correctness-Rausch des Augenblicks niemand kerstreits“ er stehe, begriff er sofort, was verlangt war, und mehr, aberauch keinem der nachträglich den Sturz legitimieren- sagte: „Ich glaube, daß der organisierte Tod von Millionen Ju- den Intellektuellen fiel das ein oder auf. den in Gaskammern tatsächlich einmalig ist – so wie es viele Der SPIEGEL überschrieb seine Pressestimmensammlung historisch einmalige Vorgänge gibt.“ Das ist zwar inhaltlich mit einer Zeile aus Le Monde: „Das Resultat: eine Katastro- kaum zu bestreiten, aber hauptsächlich erlebt man in diesem phe“. Daß Jenninger nachher noch untadelige Fürsprecher schaurigen Satz doch einen Correctness-Spagat, und der ist fand, zum Beispiel Simon Wiesenthal, hat ihm nichts mehr ge- schauriger, als alles Inhaltliche sein kann. nützt. Das sollten die Herbeter und Abfrager und Insgewissenred- Ich will, um dem Druck des Aktuellen zu entgehen, ein zu- ner einmal überlegen: ob sich das furchtbare Faktum zu sol- rückliegendes Beispiel für eine moralisch-politische Entwick- chen Zulassungs-Spielchen eignet. Natürlich wollte der Herr lung zitieren. Thomas Mann, Weltkrieg eins. Eine Engländerin, Kollege von der sogenannten liberalen Süddeutschen nur dafür Edith Cavell, hatte – in Schwesterntracht – belgische Soldaten sorgen, daß öffentlich werde, wie wenig der Konservative aus über die Grenze gebracht, wurde vor den Gewehrläufen des Dresden sich eigne, Bundespräsident zu werden. Aber darf deutschen Exekutionskommandos ohnmächtig, ein deutscher dazu gar alles instrumentalisiert werden? Offizier erschoß die Ohnmächtige mit dem Revolver. Über Auschwitz kann es doch gar nicht zwei Meinungen ge- Thomas Mann kommentiert: „Die Ententewelt“ „beplärr- ben. Aber man kann eine Art, auf die Frage nach Auschwitz te“ „die standrechtliche Erschießung einer englischen zu antworten, so ritualisieren, daß jede andere Art zu antwor- ten zur Blasphemie erklärt werden kann. Das ist das, was bei * Mit Ida Ehre bei seiner umstrittenen Rede im Bundestag.

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Frau“. Und kommt „Gestoppte Demo- zu folgendem Schluß: kratie“ habe ich damals „Eine politische Hand- unseren Großen Koali- lung zu begehen, die vor tionszustand genannt die Flintenläufe führen und zum erstenmal er- kann, sollte nur der sich fahren, wie political befugt und berufen correctness bei uns zur glauben, der einigerma- Zulassungsbedingung ßen sicher ist, ange- gemacht wird. Daß ich sichts der Flintenläufe Bedürfnisse inzwischen nicht ohnmächtig zu nicht mehr als forsche werden.“ Das war mit- Meinungen auftreten ten im Krieg, das war lasse, liegt nicht daran, die Betrachtung eines daß meine Bedürfnisse Schriftstellers, der sich ausgestorben wären, für unpolitisch hielt. sondern daran, daß ich Es hätte ihm wohl in politischer Hinsicht kaum geholfen, wenn nur noch das auszu- man ihn 1919 oder 1929 sprechen wage, zu des- aufgefordert hätte zu Schriftsteller Thomas Mann 1916 sen Realisierung ich bedauern. Er erschrieb selber etwas beitragen sich die Kurve von Wil- „Vom Kriegsbeschöniger zum Republikaner, kann. Das reine helm II. zu Ebert selbst; Wunschdenken habe vom einigermaßen glü- zum Demokraten, ja zum Sozialisten“ ich ganz und gar priva- henden Antidemokra- tisiert. ten und Kriegsbeschöni- Die zweite Erfah- ger zum Republikaner, rung mit der Standardi- zum Demokraten, ja zum Sozialisten. Und er muß jenes von bö- sierung des politischen Ausdrucks habe ich gemacht, als ich sen Imperialismen strotzende Weltkriegsbuch gar nicht ver- den von uns allen erwarteten Beitrag zur Vernünftigmachung drängen. Die „Betrachtungen eines Unpolitischen“ – das war, der deutschen Teilung nicht mehr leisten konnte. Da war man sagt er nach dem Krieg, „konservativ –nicht im Dienste des Ver- auch sofort inkorrekt bis dumm bis böse. Basta. gangenen . . . sondern in dem der Zukunft“. Die 40 Jahre dauernde Front des Kalten Krieges hat jede Diese Biographie kommt aus ohne Bedauern. Er kann es gar Äußerung auf jeder Seite gefärbt, geprägt, bestimmt. Keiner nicht anders alsrichtig gemacht haben. Ichzitiere das als ein Bei- konnte einen Satz sagen oder denken, der davon frei gewesen spiel für die extremen Positionen, die eine Biographie unter den wäre. Es war noch einmal religiöse Konfrontation. Nötigungen der Zeit innerhalb von ein paar Jahren durchlaufen Heilsgeschichte so oder so. Und davon wären wir jetzt end- kann. Die Nötigungen der Zeit geben den Ausschlag. Ich fände lich frei. Es gibt Sünden, die sterben aus. Dann sind es ana- den Eifer, mitdem beiunsBiographien gefleddert und geahndet chronistische Sünden. Beobachtet zu werden, ob man ana- werden, noch verständlich, wenn es einen Zweifel gäbe dar- chronistische Sünden begehe – das ist das, was wir zur Zeit er- über, ob dieses Verhältnis zum Nationalsozialismus und jenes leben. Freie Rede? Noch nicht. zum Stalinismus eine Verfehlung war. Dann wäre die öffentli- Damit sind wir wieder beim Charakteristikum dieses Jahr- che Erörterung sinnvoll. Daß aber Verstrickungen in die Dikta- zehnts: Tabuzüchtung im Dienst der Aufklärung. Machtaus- tur-Systeme Verfehlungen waren, wissen wir ohne jede aktuelle übung, die sich als Aufklärung versteht. Ich würde mich natür- Zeigefingerbemühung. lich freuen, wenn meine nächste Rede aus ganz anderen Grün- den wieder keine freie Rede sein würde. Ich würde mich sehr ichts ist moralisch, politisch entschiedener als die morali- freuen. Y N sche, politische Bewertung und Einordnung dieser beiden deutschen Vergangenheiten. Aber selbst wenn ein Historiker- streit entsteht, so ist das doch noch etwas anderes als die Instru- mentalisierung dieser Vergangenheiten für Zulassungsrituale und Political-correctness-Prüfungen, für Improvisationen auf der –um auch einmal so einen Schmierseifengenitiv zu bemühen – Moralorgel des Feuilletons. Ich jedenfalls schäme mich lieber unaufgefordert als aufgefordert. Ich erröte nicht auf Befehl. Ich denke allerdings so von uns, daß ichglaube, etwas Ungutes lasse uns keine Ruhe. Man kann uns uns überlassen. So inkorrekt, wie wir nun einmal sind. Nach außen ist nur soviel zu melden: Glaubt nicht, ihr klima- beherrschenden Korrektheitsdesigner, daß ihr uns durch und durch klimatisiert habt. Je mehr ihr das Sagbare ritualisiert, de- sto lebendiger wird innen die freie Rede. Tabuzüchtung im Dienst der Aufklärung – das ist herausge- kommen, als versucht wurde, die Grundgesetzlippengebete der konservativen Vorgänger durch demokratische Praxisbedürf- nisse zu blamieren und den politischen Handlungsbedarf wirk- lichkeitsnäher zu formulieren. Denn daswarbeiden konservati- ven Vorgängern die political correctness: So kleine Schritte konnte man garnicht machen, daß sieeinem nicht nachgewiesen hätten, damit habe man den Boden des Grundgesetzes verlas- sen. Und damit war man auf dem Weg, Unperson zu werden. Der moralische Zeigefinger

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Werbeseite . ABRAITYTE / SIPA PRESS G.A.F.F. M. LIMBERG / Gestürzter General Burlakow, Burlakow-Freund Gratschow, Chef Jelzin: Kompromittierendes Material über jeden Minister

Rußland ES BEGANN MIT EINEM MORD Unter dem Druck der Öffentlichkeit mußte Boris Jelzin einen korrupten Vize-Verteidigungsminister entlassen. Die Offiziere, vom sozialen Abstieg hart getroffen, begehren auf. Die Unzufriedenheit mit dem Präsidenten führt zur Regierungskrise – zwei Minister traten vorige Woche zurück.

eneraloberst Matwej Burlakow den umstrittenen Burlakow gar nicht versprochenen Dokumente in der Re- war in Galauniform und hatte erst zu einem von acht Minister-Stellver- daktion einsehen wollte, explodierte die Gprächtige Laune. Nach anderthalb tretern befördern dürfen. Tasche; Cholodow starb mit den Wor- Monaten Urlaub und Erholung vom Doch solange Verteidigungsminister ten: „So eine Schande.“ aufreibenden, aber einträglichen letzten Pawel Gratschow und dessen guter Der „Terroranschlag auf die Presse- Truppenkommando in Deutschland Freund Burlakow die auf Schrumpfdiät freiheit“ (Iswestija) löste unter den In- wollte er vorige Woche Standorte in der gesetzte Armee treu auf Kreml-Kurs tellektuellen der Hauptstadt eine Pro- Provinz inspizieren: zuerst rund um St. hielten, deckte Jelzin die Moskauer testwelle aus: 5000 Moskauer, unter ih- Petersburg, danach bei der Nordflotte, Schreibtischgenerale in ihrem Drang, nen Ex-Premier Jegor Gaidar und Star- wo man hohe Herren aus der Haupt- die Streitkräfte als Selbstbedienungsla- dirigent Mstislaw Rostropowitsch, nah- stadt noch fürstlich zu speisen, tränken den zu nutzen. Da kam etwas dazwi- men an Cholodows Beisetzung teil. und beschenken versteht. schen: ein gemeiner Mord. Verteidigungsminister Gratschow Auf der Fahrt zum Militärflugplatz Der Militärexperte des Boulevard- fehlte im Trauerzug. Ihn und seinen Vi- Tschkalowski bei Moskau erfuhr der vor blattes Moskowski Komsomolez, Dmi- ze Burlakow machte Cholodows Chefre- kurzem erst mit dem Posten eines Vize- trij Cholodow, sollte demnächst vor ei- dakteur Gussew öffentlich für das At- Verteidigungsministers dekorierte Ge- nem Parlamentsausschuß sein Wissen tentat verantwortlich: Die beiden Spit- neral, daß sein oberster Dienstherr Bo- offenbaren. Ein anonymer Anrufer zengenerale Jelzins seien, wie von Cho- ris Jelzin plötzlich anderen Sinnes ge- lockte ihn am 17. Oktober zur Gepäck- lodow mehrfach geschrieben, gemeine worden war: Der fast pensionsreife aufbewahrung des Kasan-Bahnhofs: „Diebe“ und gehörten ins Gefängnis, Krieger, 59, verlor sein Amt – um „die Dort berge ein Koffer geheimes Materi- nicht auf Ministersessel. Ehre der russischen Streitkräfte“ zu ret- al über kriminelle Machenschaften der Auf der Trauerfeier rief ein Abgeord- ten. Armeeführung. neter der Bauernpartei: „Ein ehrenhaf- Diese Einsicht des Präsidenten kam Cholodow, der Mann für harte The- ter russischer Offizier würde sich an spät, vielleicht zu spät. Alle Klagen über men mit einem Gesicht so sanft wie die Gratschows oder Burlakows Stelle eine Durchstechereien bei dem in Deutsch- Kindergeschichten, die er nebenbei Kugel in den Kopf jagen oder wenig- land stationierten Truppenkommando schrieb, kam nicht mehr dazu, seine Sto- stens seinen Abschied einreichen, bis waren seit langem bekannt – Jelzin hätte ry zu Ende zu recherchieren. Als er die seine Ehre wiederhergestellt ist.“

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Doch Minister Gratschow (Spitzname Angeblich aus Buntmetallverkäufen tersuchungskommission aus ihm unter- in der Truppe: „Pascha Mercedes“) sah erlöste 99 Millionen Mark erreichten nie stellten Militärstaatsanwälten einberu- sich als das Opfer einer „armeefeindli- die russische Staatskasse. 17 Millionen fen. Gratschow blieb auf seinem Posten. chen Hysterie“. Cholodow sei von Mark gingen ohne plausible Erklärung Im Oktober vorigen Jahres konnte er „bestimmten politischen Kräften miß- auf diverse Firmenkonten in Finnland, sich revanchieren, indem er die Putschi- braucht“ worden. Die Bombe, die den den USA und der Schweiz; weitere 13 sten im Obersten Sowjet beschießen „unbedeutenden Journalisten“ tötete, Millionen Mark wurden aufgrund ge- ließ, obwohl die Mehrheit der Armee im habe in Wahrheit ihn, Gratschow, und fälschter Anweisungen ausgezahlt. innenpolitischen Machtkampf nicht den andere Jelzin-loyale Militärs aus dem Bei der Westgruppe gehortete Kon- Büttel des Präsidenten spielen mochte. Weg räumen sollen. sumgüter im Wert von 31 Millionen In den Kasernen herrsche ein „explo- Aus Gratschows Sicht entbehrt diese Mark – weit mehr als der eigene Bedarf sives Stimmungsgemisch aus Freikorps- Verteidigung nicht einer gewissen Lo- – verschwanden spurlos in Polen und geist und Aufbegehren“, warnte den gik: Wie sein Protege´ Burlakow hatte er Rußland. Ebenfalls nach Polen gingen, Kreml noch vor anderthalb Monaten ei- alle öffentlichen und internen Korrupti- zollfrei und per Luftfracht, 17 000 Liter ne Geheimdienst-Expertise. Nicht nur onsvorwürfe bis dahin unbeschädigt Alkohol, die als Telefonapparate dekla- der Verteidigungsminister, auch der überstanden; neues Belastungsmaterial riert waren. Präsident müsse fallen, fordert die war nicht mehr aufgetaucht. Generalstaatsanwalt Iljuschen- ko, der ohne die (schon zwei- mal verweigerte) Zustimmung des Parlaments amtiert, befahl nununterdemDruckderEreig- nisse neue Ermittlungen. Doch „alles belastende Material ist seit langem vernichtet“, so ein Fahnder zur Moskauer Agen- tur Interfax. Vielleicht aber auch nicht. Vieles davon, vermutet die zur Groß-Recherche angetretene Komsomolez-Redaktion, ruhe womöglich in den Panzer- schränken des Selbstherrschers im Kreml: „Der Präsident ver- fügt über hinreichend kompro- mittierendes Material über je- den Minister, um sich von ihm ohne Bedauern trennen zukön- nen“ – zu einem Zeitpunkt, der

„durch die politischen Interes- R. JANKE / ARGUS sen Jelzins“ bestimmt werde, Russen in Neustrelitz (1993): Absahnen vor dem Abzug behauptet die Zeitung. Bereits vor zwei Jahren hatte Staatsin- Kaum ein hochrangiger Burlakow- Mehrheit des Offizierskorps. Jelzin spekteur Jurij Boldyrew bei der in Kamerad, der im Zwielicht des nahen- selbst sei für die fehlerhafte Militärpoli- Deutschland stationierten Westgruppe den Abzugs aus Deutschland nicht ab- tik verantwortlich, gaben mehrere hun- der Russischen Armee „grobe Verletzun- sahnte: Der zweite Mann im Haupt- dert höhere Uniformträger Sozialfor- gen bei der Veräußerung von Militär- quartier Wünstorf, Generalleutnant schern von Sinus in Moskau zu Proto- eigentum“ gemeldet. Deren Befehlsha- Leonid Schtscherbakow (zugleich Vize- koll (siehe Kasten Seite 144). ber und der Verteidigungsminister wirt- chef der Konwersija), fiel noch nach sei- Die brisante Meinungsumfrage geriet schafteten ungeniert in die eigene Ta- ner Ablösung als Geld- und Rohstoff- prompt auf den Index. Sie sei nicht nur sche. Der Staat habe einen Schaden von schmuggler auf. Generalleutnant Seli- „gesetzwidrig“, empörte sich Sergej Ju- mindestens 100 Millionen Mark erlitten. schenkow, der Vorsitzende des Duma- Boldyrew nannte Details, von denen Verteidigungsausschusses, sie sei auch jedes einzelne ausgereicht hätte, die Offiziere subversiv: Die Untersuchung verstoße Händler mit den Generalssternen in eine widmen sich der gegen eine ganze Reihe russischer Ge- Strafkompanie zu versetzen: setze und verrate Staatsgeheimnisse – Der Konzern Konwersija, eigens für Bereicherung nämlich die Gedankenwelt von 5 Gene- den militärischen Wohnungsbau gegrün- ralobersten, 13 Generalleutnants und 30 det, verscherbelte Gebäude und Anlagen werstow geriet in den Verdacht von Un- Generalmajoren der russischen Armee. der Cottbuser Russengarnison an eine terschlagung und Zollvergehen, als er Die Interviews hätten die „Köpfe der ominöse Firma namens Profinform für eine Mercedes-Limousine der S-Klasse Militärelite transparent gemacht“. zwei Millionen Rubel, den Preis einer ge- an seinen Minister auf den Weg brachte. Der Unmut der Offiziere gründet sich räumigen Wohnung in Moskau. Der Minister zeigte einen Anflug von auf die Erkenntnis, daß der einst stolze 82 000 Tonnen Diesel wurden dem Einsicht: „Die Laster der Gesellschaft Soldatenberuf in Rußland inzwischen russisch-schweizerischen Unternehmen dringen immer tiefer in die Offiziers- als das am wenigsten geschätzte Hand- Mos-Enico-Invest zum Schleuderpreis kreise ein“, so telegrafierte er seinem werk gilt. Kaum jemand meldet sich von 27 Pfennig pro Liter überlassen. Statthalter in Deutschland. noch freiwillig zur neuen Fahne. Allein Gleichzeitig ließ sich Burlakows Luftflot- Saubermann Boldyrew mußte das im vergangenen Jahr folgten 70 000 jun- te russisches Flugbenzin von einer letti- Feld räumen, Präsident Jelzin ließ den ge Leute der Einberufung nicht. Ruß- schen Firma gegen Devisen liefern. beschuldigten Burlakow selbst eine Un- lands Armee-Einheiten haben im Lan-

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desdurchschnitt nur noch die halbe Soll- beeinträchtige „die Kampfbereitschaft, an die heimgekehrten Offiziere überge- stärke. Von der laufenden Musterung letztlich auch die Sicherheit Rußlands“, ben werden. Wegen strittiger Steuerfra- erwarten die Kommandeure eine Kata- klagte Gratschow. gen ist das mit 8,35 Milliarden Mark von strophe – womöglich rückt nur noch je- Katastrophaler Wohnungsmangel und Deutschland finanzierte Programm vor- der vierte von 250 000 Wehrpflichtigen Sold-Rückstände lassen auch Altgedien- erst gestoppt. ein. te aufbegehren. Die 10. Panzerdivision, Die Duma hat den Wehretat drastisch Zwei Drittel der Diensttuenden hal- eine aus Deutschland heimgekehrte Eli- gekürzt. Nun empfangen Rekruten ih- ten das Militär für überflüssig, ein Drit- tetruppe, kampiert im Moskauer Wehr- ren Sold gelegentlich in Naturalien, zum tel möchte gar das Land verlassen. Fast bezirk in Zelten neben ihren auf freiem Beispiel Seifestücken. Viele Garnisonen jeder fünfte Rekrut hatte bereits Proble- Feld abgestellten T-80-Panzern. bleiben Wasser-, Strom- und Gasrech- me mit der Polizei, jeder zehnte ist vor- Nur ein Drittel der für 1994 geplanten nungen schuldig. Wegen Außenständen bestraft. Die allgemeine Verweigerung Wohnungen kann bis zum Jahresende in Höhe von anderthalb Milliarden Ru- bel knipste die Moskauer Energiebehör- de im September sogar der Kommando- zentrale der strategischen Raketentrup- pen das Licht aus – ein Atomschlag hät- te sich für über vier Stunden nur über Drang nach Autorität Notaggregate zünden lassen. Wie Rußlands Offiziere die Lage ihres Landes beurteilen Die kritische Masse enttäuschter Be- waffneter wächst von Tag zu Tag. Allein beim Heer mußten in den ersten neun inem militärischen Großangriff dieren 42 Prozent, für Parlamenta- Monaten dieses Jahres 10 000 Offiziere könnte Rußland heute kaum Wi- rismus nur 29 Prozent, nach einer die Uniform ausziehen; knapp die Hälf- Ederstand entgegensetzen, wegen Sowjetrepublik sehnen sich immer te der Betroffenen ist jünger als 30 Jah- seiner inneren Instabilität. Der Zer- noch 16 Prozent – und 7 Prozent re. fall der Sowjetunion war ein Unglück, nach der Monarchie. Hält die Entwicklung an, sieht Gene- der Truppenabzug aus Deutschland Die meisten freilich setzen auf ral Wladimir Semjonow, Chef der Land- ein Fehler – vor allem weil es mit der Fortsetzung der Reformen für Pri- streitkräfte, „spätestens im Jahr 2005“ angenehmen Lebensweise ihrer dort stationierten Kameraden vorbei ist. Das alles ist 1994 Mehrheitsmei- nung im russischen Offizierskorps, wie eine Untersuchung des demosko- pischen Instituts Sinus für den SPIE- GEL herausfand: 22 geschulte Inter- viewer, zumeist Akademiker, befrag- ten jeweils anderthalb Stunden lang 615 russische Offiziere aller Ränge, die in sämtlichen Wehrbezirken re- präsentativ ausgesucht worden wa- ren. Das Resultat ergibt ein schlüssiges Bild des Denkens, dem die Kader in der noch immer größten Militär- macht Europas anhängen. Die mei- sten meinen, Rußland müsse eine der fünf Großmächte auf Erden bleiben, wobei sich jeder vierte General sein Vaterland gar als Supermacht wünscht. Jeder dritte Offizier sieht

noch heute in den USA den Feind K. MEHNER Rußlands, nur jeder achte betrachtet Wohncontainer für Offiziere* das vereinigte Deutschland als Ruß- Vorbei das angenehme Leben eine Vision von Ex-Bundeskanzler Hel- lands Freund. mut Schmidt wahr werden: „Rußland Nur jeder sechste der Befragten er- vateigentum und Marktwirtschaft – wird dann Obervolta sehr ähnlich sein“ klärt sich mit der Politik seines Präsi- mit russischen Besonderheiten, ver- – mit Atomwaffen. Nach außen nur denten und Oberkommandierenden steht sich. Nur jeder siebente will die noch bedingt abwehrbereit, könnte im Boris Jelzin einverstanden. Ganz ei- Rückkehr zur Staatswirtschaft. russischen Offizierskorps die Neigung nig sind sich die Offiziere, daß ihnen Die Kommandeure, einst Ruß- wachsen, sich auf den inneren Feind zu Gorbatschow mißfällt – 79 Prozent lands Stolz, trauern verlorenem Pre- werfen. „Sagen Sie uns geradeheraus, mögen ihn nicht. 69 Prozent lehnen stige nach: Generale, davon sind sie daß Sie uns nicht brauchen“, grollte aber auch den rechtsradikalen Schiri- überzeugt, genießen in der russi- Semjonow vorige Woche, Präsident und nowski ab. schen Gesellschaft heute das gering- Parlament gleichermaßen im Visier: Die gegenwärtige Krise lasse sich ste Ansehen, das höchste hingegen „Dann nehmen wir unser Schicksal in nur mit einer autoritären Herrschaft die Priester der orthodoxen Kirche. die eigenen Hände.“ überwinden – dieser Ansicht neigt ei- Jelzins kleiner gewordene Demokra- ne Mehrheit der russischen Offiziere * In Torschok, gebaut von der Firma Konwer- ten-Gefolgschaft sieht, anders als ihr zu. Für eine Präsidialverfassung plä- sija außerhalb des deutschen Programms. realitätsferner Patron, die ungeheure Gefahr, wenn sich Rußlands restaurati- onsbereite Eliten in Armee und Indu-

144 DER SPIEGEL 45/1994 strie zu gemeinsamer Aktion vereinen. Gratschow müsse jetzt „freiwillig ge- Ägypten hen“, drängt der Abgeordnete Juschen- kow. Doch Jelzin mag von seinem Ober- Soldaten nicht lassen, den er noch nach dem Cholodow-Mord als „stärksten „Wer jetzt schweigt, Verteidigungsminister des letzten Jahr- zehnts“ pries. Nur 32 Stimmen fehlten vorletzte Wo- che an einem erfolgreichen Mißtrauens- belohnt den Terror“ votum des Parlaments gegen die Regie- rung, nur 54 Deputierte unterstützten Der Schriftsteller Nagib Mahfus über die fundamentalistische Gefahr vorbehaltlos die Minister. Vorige Wo- che feuerte Jelzin seinen amtierenden Finanzminister; weil der Nachfolger Im Polizei-Krankenhaus von Kairo gab Mahfus: Wer Frauen und Kinder in die kein Reformfreund ist, ging der Wirt- Mahfus, 82, dem SPIEGEL-Korrespon- Luft sprengt, arme Leute noch ärmer schaftsminister und Vizepremier Alex- denten Volkhard Windfuhr das erste In- macht, islamische Tugendhaftigkeit vor- ander Schochin von selbst. Der Revisor terview seit dem schweren Anschlag täuscht, aber gleichzeitig Frauen und a. D. Boldyrew klagte Jelzin an, „abso- auf sein Leben. 1988 hatte Mahfus als Mädchen wie Sklaven behandelt, kann lut unkontrollierte Macht“ auszuüben. bislang einziger arabischer Romancier bei uns Ägyptern keinen Erfolg haben. In seiner Not rief Zar Boris seine Ge- den Nobelpreis für Literatur erhalten. Das haben die Burschen inzwischen be- treuesten zu sich: den Moskauer Ex- griffen, sie können die Massen nicht für Oberbürgermeister Popow und dessen SPIEGEL: Nur durch ein Wunder haben sich gewinnen. Natürlich treibt sie das im sizilianischen Stil regierenden Nach- Sie vor drei Wochen ein Attentat islami- zu blutigem Trotz. folger Luschkow, den Neo-Nationali- scher Terroristen überlebt . . . SPIEGEL: Doch die Unsicherheit nimmt sten Schachrai, der sich als Vizepremier Mahfus: . . . sprechen Sie bitte nicht zu, zumal auch wieder ausländische vornehmlich mit Zeitungsartikeln gegen von islamischen Terroristen, das bringt Touristen zur Zielscheibe der Fanatiker die „schleichende Germanisierung“ Ka- den Islam ungerechtfertigt in Verruf. wurden. liningrad-Königsbergs hervortut, und SPIEGEL: Aber der Täter, der mit einem Mahfus: Eine Handvoll zu allem ent- Ex-Ministerpräsident Gaidar – alles Messer auf Sie einstach, und seinesglei- schlossener Mörder kann überall auf der Männer, so spottete unlängst Jelzins chen halten sich für Instrumente Gottes, Welt Unheil anrichten. Aber dem Ter- ehemaliger Pressesekretär Woschtscha- für Beschützer des wahren Glaubens, ror ist in Ägypten das Rückgrat bereits now, „deren Popularität nicht weiter den Sie in ihren Augen verunglimpft ha- gebrochen, weil die Bevölkerung nicht ben. mitspielt und aus freien Stücken mit der Mahfus: Von religiösem Wahn befallene Polizei zusammenarbeitet. Gegen „schleichende Mörder gibt es auch im christlichen SPIEGEL: Ägyptische Intellektuelle Germanisierung“ Abendland, aber niemand spricht von fürchten, daß der Mordanschlag gegen christlichen Terroristen. Islam und Sie eine offene Drohung an alle Schrift- von Kaliningrad Christentum sowie alle anderen Weltre- steller und Journalisten war, die das Ge- ligionen wehren sich zu Recht dagegen, dankengut der radikalen Moslems kriti- reicht als bis in die Wohnstuben der als Feigenblatt für Verbrecher herzuhal- hauptstädtischen Intelligenz“. ten. * Vorige Woche am Krankenbett. Doch bei jedem anderen Aufgebot SPIEGEL: Zeigt das At- müßte Jelzin sich wohl damit beschei- tentat nicht in erschrek- den, eine untergeordnete, eher reprä- kender Weise, daß der sentative Rolle zu spielen – so wie die Fundamentalismus in englische Königin, die ihn gerade erst Ägypten weiter erstarkt besucht hat. trotz des harten Durch- Jelzins ehemaliger Sicherheitsrat-Se- greifens von Polizei und kretär Jurij Skokow, Hoffnungsträger Armee? der Provinzen, steht für eine Regie- Mahfus: Das sehe ich rungsbildung bereit. Doch er fordert anders. Der irregeleite- freie Hand, was das endgültige Aus für te junge Mann, der mir die Ministerriege Gratschow, Außenmi- sein Messer in den Hals nister Kosyrew und Privatisierungsmini- stieß, sowie die Krimi- ster Tschubais bedeuten würde – Fix- nellen, die ihn und sei- sterne der Reformpolitik. nesgleichen zu sol- Zum Verteidigungsminister würde chen Bluttaten anstif- Skokow Generalleutnant Alexander Le- ten, eskalieren ihre Ak- bed machen, den Schwarm des russi- tionen eher aus Ver- schen Offizierskorps, einen schneidigen zweiflung. Die Terrori- Verfechter russischer Größe. sten sind maßlos ent- Lebed hatte den Sturz des West-Ab- täuscht, daß es ihnen wicklers Burlakow beschleunigt, als er nicht gelungen ist, die sich eine Inspektion seiner 14. Armee Sympathien der Massen am Dnjestr durch den stellvertretenden zu gewinnen. Verteidigungsminister verbat. Er nann- SPIEGEL: Warum finden te Burlakow einen „Gauner“: An sei- die islamischen Extre- nem Standort gebe es „kein Diebes- misten denn in Ihrem Mahfus, SPIEGEL-Korrespondent* gut“. Y Land wenig Zulauf? „Von religiösem Wahn befallene Mörder“

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sieren. Werden Sie sich künftig zurück- halten? Mahfus: Meine Meinung habe ich zeit- lebens nicht als Ware verstanden, um die sich feilschen läßt. Ich werde nach wie vor sagen und schreiben, was mir mein Gewissen vorschreibt. Genau das erwarte ich auch von meinen Schrift- stellerkollegen und von allen, die die Möglichkeit haben, das Volk über die Verirrungen der Terroristen und über die wahren Werte des Islam aufzuklä- ren. Wer sich jetzt selbst einen Maul- korb anlegt, wer schweigt, belohnt den Terror. SPIEGEL: In Algerien sind Dutzende von Journalisten und Intellektuellen er- mordet worden. Dort kann das Regime die Herausforderung der Islamisten kaum noch abwehren. Ist Ägypten in ähnlicher Gefahr? Mahfus: Nein, Algerien ist ein Sonder-

fall. Bei uns herrschen ganz andere ge- PARIS MATCH schichtliche und kulturelle Bedingun- Paris Match-Enthüllung über Mitterrands Tochter Mazarine (M.), Präsident gen. SPIEGEL: Islamische Extremisten be- Frankreich kommt aus dem Staunen schuldigen Sie, den Islam verhöhnt zu Frankreich über seinen Seigneur nicht heraus: Im- haben, zum Beispiel in Ihrem Roman mer, wenn die Republik die alte Sphinx „Die Kinder unseres Viertels“. endlich zu kennen glaubt, gibt diese ein Mahfus: Wer so etwas behauptet, hat neues Geheimnis preis. das Werk entweder gar nicht gelesen Na und? Vor zwei Monaten erschütterten Ent- oder ist nicht in der Lage, es zu verste- hüllungen über Mitterrands Kontakte hen. Eine Pariser Illustrierte veröffent- zum Vichy-Regime die Nation. Jetzt er- SPIEGEL: Immerhin war die Kritik so licht Fotos von Mitterrands uneheli- fahren die verblüfften Franzosen mit stark, daß der Roman in Ägypten ver- 20jähriger Verspätung, daß es neben boten wurde. Jetzt wetteifern die regie- cher Tochter. Hat der Präsident die den Mitterrand-Söhnen Gilbert und rungsnahe Presse und die Oppositions- Indiskretion selbst gewollt? Jean-Christophe noch die hübsche zeitungen plötzlich miteinander, das Tochter gibt, vom stolzen Vater nach Werk in Fortsetzungen zu drucken. dem gerissenen Kardinal Jules Mazarin War der Angriff auf Ihr Leben das Fa- er Name des etwa 20 Jahre alten benannt, der Frankreichs Politik nach nal, den Kampf gegen den islamisch Mädchens, das Franc¸ois Mitter- Richelieus Tod beherrschte. verbrämten Terror nun auch verstärkt Drand am 4. Juli zu einem Staatsbe- Wie viele Kapitel der Mitterrand-Sa- auf geistiger Ebene zu führen? such nach Südafrika begleitete, stand ga hat auch die außereheliche Vater- Mahfus: Die Mißverständnisse um das entgegen allen diplomatischen Gepflo- schaft eine dunkle Seite. Der präsidiale Buch haben sich in Nichts aufgelöst. Je genheiten nicht auf der Liste der Elyse´e- Parallelhaushalt wurde von zwei dubio- ruchloser die Aktionen der Terroristen Delegation. Doch die präsidiale Entou- sen Vertrauten Mitterrands, Patrice Pe- ausfallen, um so entschlossener reagie- rage und einige mitreisende Journalisten lat und Franc¸ois de Grossouvre, be- ren Staat und Gesellschaft. wußten, wer die Demoiselle mit dem in treut. Mutter und Tochter wohnten zeit- SPIEGEL: Wer sind die Drahtzieher, die der Mitte gescheitelten dunklen Haar weise in einem staatlichen Palais, das Attentate auf Sie und andere liberale war: Mazarine, uneheliche Tochter des von der Garde Re´publicaine bewacht Moslems, aber auch auf Touristen aus- 78jährigen Staatschefs. wurde. hecken? Was Frankreich bisher nur gerüchte- Der inzwischen verstorbene Millionär Mahfus: Wer derart schändliche Dinge weise gehört hatte, zum Teil wohl auch Pelat war in eine Affäre um Börseninsi- ausbrütet und zu ihrer Durchführung nicht glaubte, wurde vorige Woche mit der-Informationen verstrickt, von denen indoktrinierte Jugendliche mißbraucht, einem großen Knall gewiß: Die Illu- auch Mitterrand profitiert haben soll. will Ägypten schwächen und ein Chaos strierte Paris Match veröffentlichte Fo- Der Präsident hat unerlaubte Geldzu- bei uns schaffen. Den Hintermännern tos, die Mitterrand mit seiner ihm auf- wendungen stets bestritten, doch der sind die positive Rolle, die Ägypten im fallend ähnlichen Tochter beim Verlas- Unterhalt für die Zweitfamilie könnte Nahen Osten und in der arabischen sen des Restaurants „Le Divellec“ in den erhöhten Geldbedarf erklären. Welt spielt, unsere Friedenspolitik und der Rue de l’Universite´ (Spezialität: Grossouvre, Mazarines Patenonkel, unsere weltoffene Zivilisation ein Dorn Hummer) zeigen. Vater, Tochter und erschoß sich vorigen April aus bisher im Auge. Freunde hatten Mazarines Aufnahme in nicht geklärten Gründen in seinem Büro SPIEGEL: Wie lange wird der Kampf die Elitehochschule „Ecole normale su- im Elyse´e. Zeugen zufolge sei der Präsi- gegen die Fanatiker noch dauern? pe´rieure“ gefeiert. denten-Intimus darüber verbittert gewe- Mahfus: Kleine Gruppen können noch Gleichzeitig erschien ein neues Buch, sen, daß Mitterrand sich nur noch für lange ihr Unwesen treiben. Doch trotz in dem Autor Philippe Alexandre die er- Macht und Geld interessiere. Mitter- spektakulärer Einzelaktionen ist das staunliche Geschichte von Mitterrands rand sei durch sein Vaterschaftsgeheim- Ende des Terrors bereits absehbar. Die „morganatischer Familie“ erzählt. Mit- nis „in Abhängigkeit geraten von gewis- Karawane zieht weiter, auch wenn die terrand habe nicht nur eine Liaison ge- sen Personen“, spekuliert Buchautor Hunde bellen. Y habt, „das war eine zweite Familie“. Alexandre jetzt vielsagend.

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sten: „sacre´ Mitterrand“. Wenige Tage nach seiner Goldenen Hochzeit mit Gat- Bosnien tin Danielle – die beiden hatten sich im Untergrundkampf gegen die deutschen Besatzer kennengelernt – rechtfertigte der Staatschef noch einmal glanzvoll sei- Kugel in nen legendären Ruf als „homme a` femmes“. Mitterrand in einem Frauen- magazin: „Frauen lieben, das ist wie Blu- den Kopf men lieben.“ Zwar versuchte der Elyse´e, die Publi- Vor dem dritten Kriegswinter su- kation zu verhindern. Doch daß der alte chen die Moslems die militärische Stratege durch die Bilder in Paris Match wirklich überrumpelt worden ist, wollen Wende. Erstmals schlagen sie Insider nicht so recht glauben. Wäre Mit- die Serben auf breiter Front zurück. terrand weiter an Heimlichtuerei gelegen gewesen, hätte er die Tochter kaum inein Zwei-Sterne-Restaurant ausgeführt, das nbesiegbar ist der Comic-Held. Wo ein Treffpunkt der Pariser Gesellschaft „Bosman“ auftaucht, bleibt dem ist. Mitterrand habe „am Ende seines Le- UFeind nur die Flucht. Flink wie bens Ordnung in seine Angelegenheiten Batman und kühn wie Superman pirscht bringen wollen“, vermutet die Zeitung sich der Vertreter der Gerechtigkeit an

B. GILLE / GAMMA / STUDIO X Le Parisien. die Stellungen des Gegners heran und Mitterrand: Ordnung am Ende des Lebens Das plötzliche Bekenntnis zu Tochter überwältigt die Schurken. Im Nahkampf Mazarine läge zumindest ganz in der Lo- greift der Draufgänger auch zum Messer Gerüchte über ein uneheliches Kind gik, mit der Mitterrand das Haus bestellt: und schneidet den Bösewichtern die des Wahlmonarchen gehen in Frankreich Der Präsident will seine Biographie und Kehle durch. seit Jahren um. Schon 1984 bekannte der sein Bild in der Geschichte selbst zurecht- Bosman, ein martialischer Comic Präsident bei einem Pressefrühstück im rücken. strip für die bosnische Jugend, scheint Elyse´e: „Ja, ich habe eine nichteheliche So sprach er jüngst im Fernsehen mit seit vergangener Woche nicht länger Tochter. Na und?“ Die Journalisten hiel- selbstquälerischer Offenheit über seine propagandistische Fiktion: Auf breiter ten dicht. Die seriöse Presse reagierte Krebserkrankung, über Schmerzen und Front rückt die bosnisch-moslemische auch nicht, als ein frecher Bestseller Tod. Um den Nachforschungen von Hi- Armee vor. Und erstmals seit Kriegsbe- („Mitterrand und die 40 Räuber“) De- storikern zuvorzukommen, half er dem ginn Ende März 1992 konnten die Re- tails enthüllte. Die Mutter, eine Kunsthi- Journalisten Pierre Pe´an, das düstere Ka- gierungstruppen auch Städte von den storikerin, soll der Präsident in der Nähe pitel seiner Verbindungen zum Kollabo- serbischen Aggressoren zurückerobern. seines Landhauses in Latche kennenge- rationsregime des Marschalls Pe´tain zu In nächtlichen Angriffen fügen die lernt haben. schreiben. Auch das Geheimnis seiner hochmotivierten Bosnier den ermatte- Im Gegensatz zu angelsächsischen Me- Vaterschaft, so glaubt Alexandre, habe ten serbischen Freischärler- und Tschet- dien, die ihre Lust auf Sex-Affären am „schwer auf Mitterrand gelastet“. nikverbänden an der weit über tausend Hof und in der Politik unter dem Tarn- Der Dichter Franc¸ois Mauriac hatte Kilometer langen Frontlinie empfindli- mantel puritanischer Sittenstrenge be- Mitterrand als eine „Gestalt wie aus ei- che Verluste zu. friedigen, sind für die Franzosen Bettge- nem Roman“ empfunden. Schriftsteller Oft sind es nur kleine Kommandos, schichten von Politikern tabu. Anders als Alexandre geht noch ein bißchen weiter: die eine serbische Stellung tagelang aus- in London oder Washington haben in Pa- „Die Geschichte Mitterrand beginnt mit spähen, sie dann blitzschnell einkreisen ris Seitensprünge noch nie einen Minister Balzac und endet bei Shakespeare.“ Y und im Handstreich überrennen. Mit ih- das Amt gekostet, eher fördern sie sein Ansehen. Die Sorge, daß das gebrochene Tabu die Schleusen „für einen Gossenjourna- lismus nach angelsächsischem Muster“ (so der französische Journalistenver- band) öffnen könnte, einte die Pariser Politiker vorige Woche: Vom liberalkon- servativen Ex-Präsidenten Vale´ry Gis- card d’Estaing („bedauerlich“) über den gaullistischen Innenminister Charles Pas- qua („tief schockiert“) bis zum Soziali- stenchef Henri Emmanuelli („absoluter Tiefschlag“) setzte es nur Schelte gegen den Eingriff in Mitterrands Intimsphäre. Alexandre rechtfertigte sich damit, daß er die „Verschwörung des Schwei- gens“ brechen wollte. Schuldig daran sei eine Presse, die „den Präsidenten als Kö- nig“ behandle. Jedoch: „Diese Geschich- te gehört zum öffentlichen Leben Frank- reichs.“

In Büros und Bistros spricht das Volk AP mit neuem Respekt von dem alten Für- Moslemische, kroatische Soldaten in Kupres: Im Zangengriff erobert

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AUSLAND „Grenzen werden mit Blut gezogen“ Interview mit dem serbischen Oberbefehlshaber Ratko Mladic´ über den Kriegsverlauf

SPIEGEL: Herr General, die Moslems ein Ballon. Heute halten wir 73,8 Pro- Vielen geschichtsbewußten Deutschen sind auf dem Vormarsch. Fürchten Sie, zent des Landes; dies ist unser Lebens- standen die Haare zu Berge, als die daß die bosnischen Serben geschlagen raum, den verteidige ich. Dabei haben Kroaten sangen: „Danke Deutsch- werden? wir großzügig auf die restlichen 26,2 land.“ Und dieser Koschnick aus Mo- Mladic´: Die Moslems rüsten dank west- Prozent verzichtet. Ob die Moslems star: Der kam hierher nach Pale und licher Hilfe und der auf bosnisch-mosle- und Kroaten darauf einen Eskimostaat drohte, die Nato werde uns bombar- mischem Territorium verbliebenen errichten oder sich selbst ins Weltall dieren, wenn wir uns gegen die Mos- Waffenfabriken der ehemaligen jugo- schießen, ist mir egal. lems in Mostar verteidigten. Wir brau- slawischen Armee gewaltig auf. Aber SPIEGEL: Karadzˇic´ hat sich aber bereit chen mehr Verständnis von den Deut- wirwerden nichts verlieren, sondern die erklärt, über den serbischen Anteil zu schen. von den Moslems genommenen Terri- verhandeln. Würden Sie sich gegen ihn SPIEGEL: Wofür? torien zurückerobern – und zur Strafe stellen, wenn er auf Land verzichtet? Mladic´: Die deutsche Neutralität ist noch mehr Gelände dazu. Mladic´: Überlassen wir die Aushand- wichtig bei der Friedenssuche. Warum SPIEGEL: Werden Sie dabei auch eine lung der Prozente den Politikern, ich kommt kein deutscher General und Offensive gegen die Schutzzonen der Uno anordnen? Mladic´: Das ist noch nicht entschieden. Die Uno unterstützt die Moslems in den Schutzzonen mit Nachschub und Waf- fen. Die Blauhelm-Truppe benimmt sich wie eine Striptease-Tänzerin, sie stachelt die Moslems an. Warum ver- schweigen die westlichen Regierungen, wie viele Schmuggelflugzeuge, zum Beispiel aus der Türkei oder Deutsch- land, abgeschossen wurden – mit Waf- fen und Munition für die Moslems an Bord? SPIEGEL: Der bosnische Serbenführer Karadzˇic´ gab erstmals „Schwächen“ zu. Die Generalmobilmachung wurde aus- gerufen –eine Notmaßnahme, weil Ihre Patrioten müde sind und Sie keine frei- willigen Frontkämpfer mehr finden? Mladic´: Ich habe genug Soldaten und genug Panzer, um die Moslems völlig zu besiegen. Aber das wollen wir nicht. Mit der Anordnung der Generalmobil-

machung möchten wirdie Weltlediglich AP warnen, uns nicht in einen totalen Krieg Serbengeneral Mladic´: „Genug Panzer, um die Moslems zu besiegen“ zu drängen. SPIEGEL: Für die Eskalation sind Sie bin Soldat. Es wird keine Entschei- überzeugt sich vor Ort, wie gefährlich doch selbst verantwortlich. Sie haben dung am Volk vorbei getroffen wer- eine neue Eskalation dieses Krieges bisher alle Friedensangebote verwor- den. Seit jeher werden Grenzen mit ist? Ich garantiere, daß ihm kein Haar fen. Blut gezogen. Wenn die Moslems den gekrümmt wird. Mladic´: Seit drei Jahren reiht sich ein Krieg fortsetzen, werden sie alles ver- SPIEGEL: Ihre eigenen Brüder in Ser- nutzloses Treffen an das andere. Wir lieren. Dann könnt ihr Deutschen sie bien haben Sie fallengelassen. Präsi- sind in diesem Augenblick an einem aufnehmen, wenn ihr sie so liebt. dent Milosˇevic´ ist wütend, weil Sie die Frieden interessiert. Aber der muß zwi- SPIEGEL: Deutschland ist für Sie wohl Friedensvereinbarung nicht unter- schen den drei Kriegsparteien ausge- nach wie vor der Hauptschuldige am schrieben haben. handelt werden, ein Diktat von außen Balkankrieg? Mladic´: Unser Ziel ist und bleibt die akzeptieren wir nicht. Mladic´: Nein, aber der Mitschuldige. Vereinigung aller serbischen Länder, SPIEGEL: Sind Sie bereit, erobertes Ter- Im übrigen habe ich eine positive Mei- von Knin über Banja Luka und Saraje- ritorium aufzugeben? Und wenn, wie- nung von den Deutschen, ich sehe die vo bis Belgrad. Was dem deutschen viel? Verbrechen der Vergangenheit keines- Volk gestattet wurde – in einem Staat Mladic´:Bringen Sie mich nicht in Rage. wegs als Hypothek für die heutige Ge- zu leben –, kann den Serben nicht ver- Früher war ganz Bosnien serbisch. neration an. Aber Deutschland als wehrt werden. Wir lassen uns nicht Aber nach dem Zweiten Weltkrieg ha- Großmacht kann sich doch nicht blind- durch einen Vertrag in drei Teile ben sich die Moslems aufgeblasen wie lings an Kroaten und Moslems binden. sprengen.

150 DER SPIEGEL 45/1994 rer Guerillataktik haben die Moslems Bewegung in den bisherigen Stellungs- Genfer Teilungsplan vom Juni 1994 SPIEGEL: Wie lange wird es noch krieg gebracht. Der erfolgreiche Save dauern, bis die Sanktionen aus Bel- Kampf Mann gegen Mann hat sich in- KROATIEN grad bewirken, daß Ihre Kriegsma- zwischen zur ersten großen Gegenof- avin Pos a-Korri schine zusammenbricht? fensive ausgeweitet. Die Serben kön- dor Mladic´: Sehr lange. Die Welt hat ge- nen sich nicht länger darauf verlassen, Bihac´ gen Serbien schreckliche und verbre- daß die Zeit für sie arbeitet. Zum er- cherische Sanktionen verhängt und stenmal kommen Zweifel auf, ob sie KROATIEN

die serbische Regierung dadurch ge- ihre Eroberungen – gut 70 Prozent des Sarajevo SERBIEN zwungen, uns gemein und unmensch- bosnischen Territoriums – halten kön- lich zu bestrafen. Aber das serbische nen. Mostar Volk jenseits und diesseits der Drina Warnungen der Uno an die Mos- ist sich einig und wird eines Tages lems, nicht von Opfern zu Kriegstrei- Serben MONTENEGRO darüber richten. bern zu werden, verhallen ungehört. Moslems/Kroaten Dubrovnik SPIEGEL: Was werden Sie tun, wenn Denn nach zwei Jahren serbischen unter zweijähriger Präsident Milosˇevic´, wie jetzt die Vormarschs und zermürbender Belage- Uno-Kontrolle Uno von ihm fordert, Bosnien-Herze- rungen haben die Bosnier gelernt, daß gowina als selbständigen Staat aner- die internationale Gemeinschaft militä- Aktueller Frontverlauf kennt? risch nicht eingreifen wird. Die zahllo- Save Mladic´: Das wäre fatal, ein schlimmer sen Friedensentwürfe der Uno und der KROATIEN Fehler mit unvorstellbaren Konse- Europäischen Union haben in ihren quenzen. Augen nur eins bewiesen: Allein die B.Petrovac SPIEGEL: In Serbien glauben viele, auf dem Schlachtfeld geschaffenen Tat- Bihac´ daß die jugoslawische Armee in der sachen zählen. Bosnienkrise nicht überzeugt hinter Bei ihrem Vorpreschen beachten die KROATIEN dem Kurs von Milosˇevic´ steht. Min- Moslems laut Radio Sarajevo, daß sie Kupres Sarajevo destens ein Viertel der Offiziere soll nur Gebiete erobern, die ihnen nach SERBIEN bereit sein, im Fall eines Nato-An- der jüngsten Genfer Friedensinitiative Mostar griffs sofort auf der Seite der bosni- vom Juni ohnehin zufallen sollen. Die- schen Kameraden einzugreifen. ser Plan sieht vor, das bosnische Terri- Mladic´: Wir sind stark genug. Wir torium in etwa zwei gleich große Hälf- MONTENEGRO Adriatisches Dubrovnik brauchen keine Hilfe aus Belgrad. ten – 49 Prozent für die Serben, 51 für Meer Die Nato muß endlich begreifen, daß Moslems und Kroaten – aufzuteilen. mit Luftangriffen allein noch nie ein So stoppte beispielsweise das aus der Krieg gewonnen wurde; entscheidend Moslem-Enklave Bihac´ vorstürmende Serben Moslems/Kroaten sind die Bodentruppen. Aber weder 5. Korps der Regierungsarmee vor der moslemische Stoßrichtung der Deutschland noch Amerika denken Stadt Bosanski Petrovac – die Staaten- Eroberungen Moslemoffensive auch nur im Traum daran, ihre Söhne gemeinschaft hatte die Stadt den Ser- für die Moslems sterben zu lassen. ben zugeschlagen. Und auch die Ope- Das bestätigten mir auch ausländische rationen in Zentralbosnien richten sich Doch Karadzˇic´ gibt sich unnachgie- Generäle. ausschließlich gegen Ziele, die nach big. In seiner Bergfeste Pale bei Saraje- SPIEGEL: Fürchten Sie nicht, daß Sie der Genfer Landkarte als moslemisch vo schwor er vorige Woche: „Rache eines Tages dem Internationalen gelten. dem Islam, Rache den Yankees.“ Der Kriegsverbrechertribunal in Den Bisher nehmen sich die Gebiets- studierte Psychiater behandelte seine Haag überstellt werden? Sogar ein eroberungen – 250 Quadratkilometer Kampfgenossen wie ein Patientenkol- Teil der serbischen Presse beschreibt in der Region Bihac´, 100 Quadratkilo- lektiv. Mit rhetorischen Aufputschmit- Sie als brutalen Zyniker, der die Ver- meter in Zentralbosnien – noch be- teln stimmte er sie auf den „totalen antwortung für die Greueltaten der scheiden aus; die Serben halten immer- Krieg“ ein. Ohne logistische Hilfe durch serbischen Armee trägt. hin 35 000 Quadratkilometer. Doch „amerikanische Spione“ und „arabische Mladic´: Ich habe keine Zeit, mich mit Bosniens Regierungschef Haris Si- Mudschahidin“ hätten die Moslems bezahlten Schmierfinken auseinander- lajdzˇic´ sieht einen wertvollen psycholo- längst aufgegeben, denn: „Sie sind feige zusetzen. Wenn US-Generäle, die in gischen Effekt: „Der Mythos von der und hinterhältig, mit offenem Visier Vietnam dienten, oder britische Offi- Unbesiegbarkeit der Aggressoren ist kämpfen sie nicht.“ Sein Oberkomman- ziere, die auf den Falkland-Inseln wü- zerschlagen.“ Die Serben flöhen, weil dierender Ratko Mladic´ versprach, die teten, sich einem Kriegsgericht stel- der Krieg „nicht länger nur ein Aus- Verluste wiedergutzumachen (siehe In- len, dann werde auch ich freiwillig flug ist: keine Vergewaltigungen mehr, terview). nach Den Haag reisen. Die haben in keine Plünderungen, nur noch eine Die Realität an der Front sieht anders fremdem Land Krieg geführt. Ich Kugel in den Kopf“, so Silajdzˇic´. aus. Der Uno-Oberkommandierende verteidige für unser Volk, was unsere Ein – begrenzter – Erfolg der bosni- für Bosnien, der britische General Sir Vorfahren uns übergeben haben. schen Armee könnte auch im Interesse Michael Rose, sieht die Bosnier inzwi- Nicht mit einer einzigen Kampfhand- des serbischen Präsidenten Slobodan schen strategisch im Vorteil. Ihren lung habe ich gegen die Genfer Kon- Milosˇevic´ liegen, der seinen widerspen- 120 000 Kriegern stehen nur 80 000 Ser- ventionen verstoßen. Wo Verbrechen stigen Statthalter in Bosnien, Radovan ben gegenüber, von denen zwei Drittel begangen wurden, müssen sie geahn- Karadzˇic´, endlich zur Annahme des nicht länger bereit seien, ihr Leben für det werden, auf allen Seiten – aber Genfer Teilungsplans zwingen will. die Idee eines großserbischen Reichs der Westen darf dem Balkan nicht Nur so kann Belgrad erreichen, daß aufs Spiel zu setzen, so glauben Uno-Of- mit Gewalt sein Urteil aufdrängen. die Sanktionen der Uno gegen Rest- fiziere. Der einzige Vorteil der Serben Jugoslawien vollständig aufgehoben ist ihre Überlegenheit an schweren Waf- werden. fen, aber auch da holen die Moslems

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trotz des Waffenembargos auf – dank eingebracht hatten – gegen cash, im kroatischer Unterstützung. Großbritannien Auftrag von Al-Fayed. Das ist neu, bisher brauchte Karadzˇic´ Ein weiterer Spitzenpolitiker steckt das moslemisch-kroatische Zweckbünd- „bis über beide Ohren“ (The Indepen- nis wegen dessen innerer Zerrissenheit dent) im Morast: Jonathan Aitken, 52, nicht ernst zu nehmen. Nur auf westli- Berg von erst seit dem 20. Juli Minister im Schatz- chen Druck hin, unter der Schirmherr- kanzleramt, ist verdächtig, Öffentlich- schaft von US-Präsident Bill Clinton, keit wie Parlament über einen mysteriö- hatten Kroaten und Moslems am 18. Schmutz sen Aufenthalt im Pariser Luxushotel März einer gemeinsamen Konföderation Ritz getäuscht zu haben. Dessen Besit- zugestimmt. Der ägyptische Besitzer des Kauf- zer heißt Mohamed Al-Fayed. Obwohl seitdem ein halbes Jahr ver- hauses Harrods schmierte kon- Unter einem „Berg von Schmutz“ sah ging, wurde von den Plänen bisher kaum das rechte Boulevardblatt The Sun Bri- etwas verwirklicht. In einigen Regionen servative Politiker – und brachte tannien bereits versinken. Vergangenen Zentralbosniens kam es während der die Regierung in Bedrängnis. Freitag ergab eine Erhebung, daß 73 Sommermonate sogar zu Scharmützeln Prozent der befragten Briten die Kon- zwischen den Bundesgenossen; in Mo- servativen für korrupt halten. star und in der Region Kupres vertrieben enn das Gespräch auf die Moral Besorgt um Ruf und Fortbestand sei- kroatische Extremisten noch in den ver- britischer Politiker kommt, redet nes Kabinetts, war Regierungschef Ma- gangenen Wochen ihre moslemischen Wsich Mohamed Al-Fayed, 65, jor gezwungen, ein unabhängiges Anti- Nachbarn. Bei einem gemeinsamen An- schnell in Wut. Von „Parasiten in Na- Korruptions-Komitee einzusetzen. Un- griff auf serbische Stellungen in Konjic delstreifen“ werde seine Wahlheimat re- ter der Leitung des angesehenen Rich- zogen sich die kroatischen Verbände giert, entrüstet sich der gebürtige Ägyp- ters Lord Nolan soll es Regierung, Öf- plötzlich zurück und ließen die Moslems ter. Unter den Volksvertretern im ehr- fentlichen Dienst und Parlament gründ- im Stich – prompt holten die Serben er- folgreich zum Gegenschlag aus. Auch beim Waffennachschub achteten die Kroaten darauf, daß die Moslems nicht in den Besitz schwerer Geschütze kamen. In Zenica produzierten die Bos- nier ihren Eigenbedarf an Schnellfeuer- gewehren, während in Vitez kroatische Panzer ohne Absprache mit Sarajevo ge- schmiedet wurden. Um so überraschter waren die Serben, als vergangenen Dienstag kroatische Verbände gemeinsam mit den Moslems auf Kupres vorstießen. Die serbischen Linien waren nur dünn besetzt und konn- ten dem Zangenangriff nicht standhalten – die Stadt fiel am vorigen Freitag. Nun hoffen die bosnischen Regierungstrup- pen, einen Korridor Richtung Bihac´ frei- zukämpfen. An der Wiederbelebung des antiserbi- schen Bündnisses von Moslems und Kroaten haben die USA tatkräftig mitge- wirkt. Washington plant, die Bosnier auch ohne formelle Aufhebung des Waf-

fenembargos mit Kriegsmaterial aufzu- REX FEATURES rüsten. Harrods-Eigner Al-Fayed: Als falscher Pharao verhöhnt Schon sollen US-Militärberater in Sa- rajevo bei der Organisation einer kroa- würdigen Parlament von Westminster lich durchleuchten. Major: „Britische tisch-bosnischen Föderationsarmee hel- seien „Filz und Korruption“ ebensoweit Staatsdiener entsprechen den höchsten fen, angeführt von General John Galvin, verbreitet wie im Morgenland. Ansprüchen an Integrität. Es gilt, den dem ehemaligen Oberbefehlshaber der Al-Fayed, Herr über das weltberühm- Ruf unseres Landes und seiner gewähl- Nato-Streitkräfte in Europa. te Londoner Kaufhaus Harrods und ei- ten Vertreter zu verteidigen.“ Die Militärexperten wollen den frühe- ner der schillerndsten Wirtschaftsma- Bislang stürzten Minister und Abge- ren Sportflughafen Visoko nördlich der gnaten Großbritanniens, hat zum Sitten- ordnete in der Regel über bizarre Sex- bosnischen Hauptstadt zur Nachschub- verfall kräftig beigetragen. Mit Enthül- Affären, vom Volk mit wonnigem Inter- basis ausbauen. Auch in Zentralbosnien lungen über von ihm geschmierte esse verfolgt. Fälle von Durchstecherei- werden Landepisten und Abwurfplätze Minister und Prominente löste er en waren, anders als in Frankreich oder für Waffenlieferungen aus der Luft vor- einen Skandal aus, der Premier John Italien, so gut wie unbekannt. bereitet, um modernste Flugabwehrra- Major und dessen angeschlagene Regie- Dabei habe es solche Skandale schon keten und Panzerabwehrgeschütze ein- rung gefährlich in Bedrängnis gebracht im vergangenen Jahrhundert gegeben, zufliegen. hat. sagt der Korruptionsforscher Michael Damit wären die Moslems für den er- Zwei Staatssekretäre, Tim Smith, 47, Pinto-Duschinsky von der Brunel-Uni- sehnten Befreiungsschlag gerüstet. Ihre und Neil Hamilton, 45, mußten ihre versität. Nur: „Im Vergleich zu anderen neue Parole heißt: „Wir sind alle Bos- Ämter abgeben, weil sie mit ungewöhn- Ländern sind die Briten geschickter, man.“ Y lichem Eifer parlamentarische Anfragen diese Vorfälle im stillen zu regeln.“

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„Seine tiefste und irgendwie traurig- ste Wunschvorstellung“, schrieb The In- dependent über den Parvenü mit den le- vantinischen Manieren, „ist, daß er end- lich als Engländer anerkannt wird.“ Weil ihm dies versagt blieb, so glau- ben seine Freunde, sann er auf Rache. Zuerst steckte er dem liberalen Londo- ner Guardian, er habe über eine Lobby- Firma den beiden Staatssekretären Smith und Hamilton Geld zukommen lassen. Für jeweils umgerechnet 5000 Mark hätten sie im Parlament Anfragen eingebracht, um die Seriosität des Re- ports über die Harrods-Übernahme zu erschüttern. Smith trat sofort geständig zurück. Hamilton ging erst, als Al-Fayed nach- schob, der aufstrebende Konservative habe sich samt Gattin für etwa 10 000

M. STEPHENS / PHOTO LIBRARY Mark fast eine Woche im Pariser Ritz Affären-Minister Aitken* vergnügt. Die üppige Rechnung ging auf Luxuriöse Nächte im Ritz den Hausherrn. Luxuriöse Ritz-Nächte könnten nun Geräuschlose Abwicklung von Ge- auch Aitken zum Verhängnis werden. schäften und Affären war allerdings nie Der frühere Journalist hatte mit Nahost- nach der Art von Mohamed Al-Fayed. Geschäften seine ersten Millionen ge- Als „falschen Pharao“ verhöhnte ihn das macht. Unter Margaret Thatcher sah Londoner Sonntagsblatt The Observer, der Hinterbänkler aber keine Aufstiegs- nachdem der Araber zusammen mit sei- chancen: Die Premierministerin konnte nen beiden jüngeren Brüdern 1985 die dem charmanten Beau nie verzeihen, britische Kaufhauskette „House of Fra- daß er ihrer Tochter Carol zunächst ser“ (Flaggschiff: Harrods) erworben schöne Augen gemacht, sie dann aber hatte. Preis: 615Millionen Pfund, damals sitzengelassen hatte. 1,5 Milliarden Mark. Erst unter Major machte Aitken Im erbitterten Übernahmekampf ge- schnell Karriere, er galt als einer der gen den Mitbewerber Roland „Tiny“ Jungstars der einflußreichen Tory-Rech- Rowland hatte es Al-Fayed mit der ten. Doch nun ließ Al-Fayed enthüllen, Wahrheit nicht sehr genau genommen: daß Aitken im September 1993 als Gast Ein Bericht des Handelsministeriums eines saudiarabischen Waffenhändlers zählte 1990 auf 752 Seiten „Dutzende Lü- im Ritz logiert habe. Zu dieser Zeit war gen der Al-Fayeds“ auf. Unverfroren Aitken bereits Spitzenbeamter im Ver- hatten die Söhne eines Lehrers aus Alex- teidigungsministerium, zuständig für andria ihre Biographien zu einer Erfolgs- Beschaffungswesen und Waffenkäufe. story aus Tausendundeiner Nacht zu- Diese Einladung, so der Vorwurf der rechtgebogen. Presse, habe der Minister nicht im ent- Sie seien Erben einer Dynastie reicher sprechenden Unterhaus-Register über Händler und Reeder, aufgezogen in Nebeneinkünfte angemeldet – ein gra- prunkvollen Villen von britischen Gou- vierender Verstoß. vernanten, so die Brüder. Nicht einmal Aitken verstrickte sich bei seiner Ver- sein Geburtsdatum, so stellte sich Jahre teidigung in Widersprüche: In Wirklich- nach dem Verkauf heraus, hatte Moha- keit sei er gar nicht eingeladen gewesen, med korrekt angegeben: Er machte sich deshalb habe seine Frau die Hotelrech- ein paar Jahre jünger. Geld für den Har- nung bar bezahlt – aber erst nach seiner rods-Erwerb sollen sich die Al-Fayeds Abreise und irrtümlich nur die Hälfte. beim Sultan von Brunei besorgt haben, Den Rest will Aitken Monate später dem reichsten Mann der Welt. überwiesen haben. Das Kaufhaus im vornehmen Stadtteil Al-Fayed verwarf Aitkens Rechtferti- Knightsbridge, für die Briten eine natio- gung, die der bedrängte Politiker auch nale Institution, brachte dem umtriebi- seinem Regierungschef und dem Parla- gen Ägypter nicht die erhoffte soziale ment aufgetischt hatte, als „Geschwätz“ Anerkennung. Die feine Gesellschaft und nannte den Minister vergangene mied seine prunkvollen Partys. Die regie- Woche öffentlich „einen Lügner“. renden Konservativen bedachte Al-Fay- Der Ägypter, einmal in Fahrt gera- ed mit großzügigen Parteispenden – of- ten, drohte, weitere prominente Regie- fenbar in der Hoffnung, mit höchster rungsmitglieder bloßzustellen. Angebli- Protektion endlich die britische Staats- cher Grund für seinen Bekennerdrang: bürgerschaft zu erlangen. Ihm gehe es um die „Ehre Großbritan- niens – deshalb werde ich auch weiter- * Beim Verlassen von Downing Street No. 10. hin die Wahrheit sagen“. Y

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AUSLAND PANORAMA

zunehmende Gefahr für Mei- setzt dabei auch auf nungsfreiheit und Demokra- umweltfreundliche tie“. Verfahren. Mehr als 1000 Megawatt Kanada sollen mittels Wind- energie erzeugt Chinesen sollen werden; das ent- spricht der Strom- Englisch lernen kraft eines großen Das nordamerikanische Ein- Atommeilers. Ein wanderungsland schottet sich Mustervertrag mit ab: Zum ersten Mal in zehn einem Investor aus Jahren wird die Zulassungs- den USA ist abge- quote gesenkt und die Fa- schlossen. Anders milienzusammenführung er- als üblich dürfen die schwert. Bewerber, die nicht Amerikaner nach Englisch oder Französisch 15 Jahren ihre beherrschen, haben nach Be- Mehrheit an der schluß von Immigrationsmi- Gesellschaft behal- nister Sergio Marchi nur ten. Ein spezieller noch geringe Chancen auf 14-Jahresplan sieht Einbürgerung. Die neuen

A. BRADSHAW / SABA vor, neben Wind Verordnungen empören die Luftverschmutzung in Peking auch Sonne und fast eine Million Chinesen im Erdwärme zu nut- Land, die häufig Verwandte China zen. Die Ausbeutung alternativer Energie- nachholen. Eltern und Groß- quellen ist dringend nötig: Schon jetzt ist Weniger Kohle China nach den USA der größte Produzent des klimaschädlichen CO2, gewaltige Stau- Wind soll Chinas Wirtschaft zu weiterem seen überfluten wertvolle Agrarflächen. Aufschwung verhelfen. Allein bis zur Jahr- Riesige Kohlekraftwerke arbeiten über- tausendwende will das Reich der Mitte sei- wiegend ohne Filter und drohen die Städte ne Energieproduktion verdoppeln und zu ersticken.

Turkmenistan halter Allahs“ seinen vier Italien Millionen Untertanen ver- Marmorbad sprochen, soll der Wüsten- Angriff auf die staat ein zweites Kuweit sein in der Wüste – und der Flughafen Transit- Meinungsfreiheit Saparmurad Nijasow, zum zentrum sowie Einkaufsmek- Kritik am konservativen Re- Islam konvertierter Wende- gierungsbündnis wird immer kommunist und Präsident schwieriger. Durch gezielten des zentralasiatischen Staats, Personalwechsel bei der weiß ein heißes Bad in der staatlichen Rundfunk- und Wüste zu schätzen. Für 140 Fernsehanstalt RAI versucht Millionen Mark läßt der die Koalition unter Premier „Anführer aller Turkmenen“ Silvio Berlusconi, die Mei-

am Rande seiner Hauptstadt nungsvielfalt zu beschneiden. U. F. KLUYVER / FOCUS Aschgabad eine Flughafen- Fast alle Direktorenposten Chinatown von Vancouver halle aus Marmor samt VIP- sind inzwischen mit politisch Suite und Whirlpool erstel- genehmen Journalisten be- eltern sind für sie fester Be- len. Nijasow, 54, der sein setzt. In der vergangenen standteil der Familie. Knapp Land im selbstherrlichen Stil Woche gelang es selbst Gian- ein Drittel der Bevölkerung eines Emirs regiert, hofft, franco Finis rechter Alleanza von Vancouver stammt be- mit dem Prunk finanzstarke Nazionale, ihre Leute zu pla- reits aus Asien. Vermögende Investoren aus Okzident und zieren: Der ehemalige Pres- Hongkong-Chinesen brach- Orient blenden zu können. sesprecher von Giorgio Al- ten der Pazifikmetropole Unterm Wüstensand der an mirante, dem Gründer der selbst zu Zeiten anhalten- der Grenze zu Iran und Neofaschisten-Partei MSI, der Rezession wachsenden

Afghanistan gelegenen ein- A. RIBEIRO / GAMMA / STUDIO X wurde Vizedirektor des Wohlstand. Wichtiger als stigen Sowjetrepublik lagern Nijasow Nachrichtenprogramms von flüssiges Englisch sei, daß riesige Gas- und Ölvorkom- RAI 1. „Schlimmer als je zu- Immigranten rechnen könn- men. Bisher hat sich niemand ka nach dem Vorbild von vor“ führten die neuen Herr- ten, halten daher Einwande- bereit gefunden, neue Pipe- Dubai. Nach zweijähriger scher den Parteienproporz rungsanwälte dem Minister lines durch das politisch in- Bauzeit ist jedoch klar: Die fort, sagt Enzo Biagi, Nestor vor. Dessen italienischer Va- stabile Gebiet zu verlegen. neuen Start- und Landebah- des italienischen Journalis- ter hatte auch erst in einer Bis zum Jahr 2000 aber, so nen sind für Großraumflug- mus. Der Regierungsangriff kanadischen Fabrik Englisch hat der selbsternannte „Statt- zeuge ungeeignet. auf die RAI sei eine „ernst- gelernt.

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Flugzeugträger „Abraham Lincoln“ vor USA der Küste Südkaliforniens. Ihr 33 Tonnen schwerer, über 40 Mil- lionen Dollar teurer Schwenkflügler vom Typ F-14 „Tomcat“ flog womöglich Unrettbar zu langsam an. Auch mit weit ausgestell- ten Tragflächen sind diese Hochlei- stungsjets bei niedriger Geschwindigkeit verloren kaum noch zu steuern und unrettbar verloren, wenn dicht über dem Wasser Amerikas erste Kampfpilotin starb der Auftrieb abreißt. beim Training. Nun wollen Hultgreens Kopilot konnte den Schleudersitz betätigen und überlebte. Machos die ungeliebte Konkurrenz Die Evakuierungsautomatik sorgte da- aus dem Cockpit verdrängen. für, daß auch die Pilotin Sekunden- bruchteile später aus dem Cockpit ge- stoßen wurde. Der minimale Zeitunter- ls „kontrollierten Absturz“ erleben schied war tödlich: Hultgreen wurde aus Marinepiloten jede Landung auf ei- dem abschmierenden Flugzeug direkt Anem Flugzeugträger: In steilem auf die Wasseroberfläche katapultiert Sinkflug nähern sie sich ihrem scheinbar und starb vermutlich sofort. Ihre Leiche winzigen Ziel, das sie ohne Elektronik- konnte bislang nicht geborgen werden. hilfe in den Weiten des Ozeans gar nicht Trotz Kosten in Millionenhöhe denkt finden würden. die Navy daran, den Unglücksjet aus AP Fliegerin Hultgreen: Tod beim Landeversuch auf dem Flugzeugträger

Dicht über den Wogen, noch immer 1200 Metern Wassertiefe zu heben; In- 280 km/h schnell, rasen die Jets, die zu spektoren sollen den genauen Unfall- Land zwei bis drei Kilometer lange Roll- hergang rekonstruieren. Von den Er- bahnen benötigen, auf das nur gut 300 gebnissen der Untersuchung hängt wo- Meter lange Flugdeck zu. Sowie das möglich die Zukunft der Pentagon-Poli- Fahrwerk das Deck berührt, gibt der Pi- tik ab, Frauen auch in die letzten Bastio- lot „full power“ und startet durch – be- nen des einst rein männlichen Kriegs- reit, sofort wieder abzuheben, falls der handwerks zu integrieren. Fanghaken am Flugzeugheck keines der Nachdem der damalige Verteidi- Drahtseile erfaßt, die quer über die gungsminister Les Aspin im April 1993 Landespur gespannt sind. die neue Gleichberechtigung im Cockpit Erst wenn die Maschine auf kürzester von Kampfflugzeugen verkündet hatte, Strecke brutal zum Stillstand gebracht war Leutnant Hultgreen die erste Frau, wird, schaltet der Pilot den Schub ab die sich für den Trägereinsatz auf der und atmet auf. Dieses Gefühl der Er- F-14 qualifizierte. In der U.S. Navy ha- leichterung, das sie selbst als „ungeheu- ben bislang erst 9 Frauen das Trainings- ren Adrenalinstoß“ beschrieb, erlebte programm für Kampfpilotinnen erfolg- Leutnant Kara Hultgreen, 29, am reich abgeschlossen, 32 sind noch in der Dienstag vorletzter Woche nicht mehr. Ausbildung. Die erste Jagdflugzeug-Pilotin der Navy „Fang“ (Reißzahn) war Hultgreens starb bei einem Landeversuch auf dem Codename in der Flugschule auf dem

DER SPIEGEL 45/1994 157 südkalifornischen Stützpunkt Miramar. Das Macho-Institut, das vor acht Jahren in dem Tom-Cruise-Film „Top Gun“ verherrlicht wurde, fällt durch beson- ders markige Sprüche seiner Absol- venten auf. Hultgreens Motto: „Die Streitkräfte heuern keine Killer an, sie bilden Killer aus; und dazu bin ich be- reit.“ Wie ein Viertel aller Jungflieger er- hielt Hultgreen ihre höchste Pilotenaus- zeichnung, die Trägertauglichkeit, die- ses Jahr erst im zweiten Anlauf. Da- nach zweifelte sie selbst zuweilen, ob sie die Schwierigkeiten ihres neuen Jobs „schon ganz gemeistert“ habe. Mit 217 Flugstunden auf der F-14 und mehr als 50 Tages- und Nachtlandungen auf Flugzeugträgern verfügte die Pilotin allerdings über die gleiche Erfahrung wie ihre männlichen Kollegen. Trotz des harten Trainings sind Abstürze auf ho- her See keine Seltenheit. Insgesamt 40 Piloten verunglückten in den vergangenen zwei Jahren tödlich. Kara Hultgreen war im vorigen Monat bereits der dritte Flugzeugführer, der im Training ums Leben kam. Der Absturz der ersten Kampfpilotin, einer Vorkämpferin für das Recht der Frauen auf den tödlichen Dienst fürs Vaterland, bot gleichwohl anonymen Diffamierern willkommenen Anlaß, ge- gen die weibliche Konkurrenz Stim- mung zu machen: In der Navy würden Frauen bevorzugt, hieß es in Stellung- nahmen, die den Medien von Unbe- kannten zugefaxt wurden. Nur um sich bei vorgesetzten Politikern beliebt zu machen und die Frauenquoten in den Einheiten zu erhöhen, würden auch un- zureichend ausgebildete Fliegerinnen an die Steuerknüppel gelassen. Navy und Pentagon wiesen solche Vorwürfe sogleich zurück. Sie beschei- nigten Leutnant Hultgreen die höchsten Qualifikationen und erneuerten die Selbstverpflichtung der Militärs, Frauen und Männer gleichzustellen. Die in Hangars und auf Flugzeugträ- gern abermals entflammte Diskussion um die Zulassung weiblicher Kampfpi- loten ist womöglich ein Ablenkungsma- növer. Denn nur wenige Tage nach dem Unfall wurde die Öffentlichkeit an den „Tailhook“-Skandal erinnert, der Navy- Flieger in schweren Mißkredit gebracht hatte. Bei der Tailhook Convention, ei- ner nach dem Fanghaken der Träger- flugzeuge genannten Pilotenfete, war es 1991 im Hilton von Las Vegas zu kollek- tiven Übergriffen gegen weibliche Teil- nehmer gekommen. Paula Coughlin, deren Beschwerden wegen sexueller Belästigung den Skan- dal offenlegten, bekam am Freitag vor- letzter Woche von einer Jury 6,7 Millio- nen Dollar Schadensersatz zugespro- chen. Die zur Zahlung verurteilte Hil- ton-Kette, der mangelnder Schutz ihrer

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weiblichen Gäste vorgeworfen wird, prüft die Rechtsmittel und will mögli- cherweise Einspruch erheben. Was die Geschichte noch peinlicher macht: In der Navy wurde bislang keiner der Täter von Las Vegas wirklich zur Re- chenschaft gezogen. Zwar trat der Mari- neminister Lawrence Garrett zurück, und Navy-Chef Admiral Frank Kelso folgte ihm nur wenig später mit voller Pension in den Ruhestand. Doch von den Fliegern, die damals über ihre Kame- radinnen hergefallen waren, erschien bislang niemand vor einem Militärge- richt. Coughlin, deren Alarmruf die Auf- merksamkeit auf das Brunftgehabe bei der Navy gelenkt hatte, gab ihren Job in- zwischen auf: Die bei Militärs als Nestbe- schmutzerin verfemte Marineangehörige konnte die Feindseligkeiten und die Het- ze ihrer männlichen Kameraden nicht länger ertragen. Kara Hultgreen dagegen widerstand vor Jahren dem Druck jener Vorgesetz- ten, die sie wegen angeblich mangelnder Karriereaussichten aus dem Militär- dienst drängen wollten. Zwar verharmlo- ste sie auch vor ihrer eigenen Familie die Risiken ihres Traumjobs nie, aber es war ihr wichtiger, den „undurchdringlichen Schutzwall“ der Militärs, die Barrieren vor den letzten Männer-Reservaten, zu durchbrechen. Seit ihrem ersten „trap“, wie Piloten die gefährlichen Trägerlandungen nen- nen, hatte sie nur noch einen Gedanken: „Was muß ich tun, damit ich diese Droge für den Rest meines Lebens genießen kann?“ Y TRIPPET / SIPA PRESS Trägerflugzeug F-14 vor dem Start „Ungeheurer Adrenalinstoß“

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Werbeseite SPIEGEL-ESSAY Zauderer Clinton

NORMAN BIRNBAUM

räsident Bill Clinton trat 1993 sein Amt mit dem Ver- Idealismus den Erfordernissen der brutalen Realität opfern sprechen an: „Es ist Zeit für einen Wandel.“ Die Wirt- müsse. Pschaftspolitik von Ronald Reagan und George Bush be- Clinton hat sich mit Leuten von ähnlichem Zuschnitt umge- drohte Millionen Amerikaner mit Arbeitslosigkeit. Zum er- ben, mit Männern und Frauen, die meistens keine privilegierte stenmal mußte der Mittelstand hinnehmen, daß sein Lebens- Vergangenheit haben. Sie haben Eliteuniversitäten besucht standard sank. Die Zahl der Verarmten nahm beängstigend zu und im Ausland studiert. Sie interessieren sich für die Macht; – und ihnen verhieß Clinton eine neue Form von Hilfe. die Frage ist nur: Für wen benutzen sie ihre Macht, wem kom- Berufliche Fortbildung sollte ihnen ermöglichen, ihr Leben men ihre Ideen zugute? wieder selbst in die Hand zu nehmen. Mit einem Investitions- Die neue Generation an der Macht repräsentiert nur ein programm wollte der Präsident die gesamte Wirtschaft ankur- Segment zeitgenössischer Kultur – sie verkörpert die liberalen beln, die Steuereinnahmen erhöhen und das Defizit senken. und säkularen Werte von Emporkömmlingen aus der Mittel- Die Reform des Gesundheitswesens machte er zum Hauptan- klasse. Daß ihr Aufstieg beim Rest der Gesellschaft nicht ge- liegen der neuen Regierung: Die USA dürften nicht länger das rade begeisterte Ovationen hervorruft, können viele von ih- einzige Land in der industrialisierten Welt sein ohne ausrei- nen einfach nicht begreifen. chenden Krankenversicherungsschutz für alle Bürger. Politisch galt Clinton als Inbegriff der „Neuen Demokra- Clinton versprach überdies, sich für die vollständige Inte- ten“, die sich vom sozialdemokratischen Flügel der Partei ab- gration der ethnischen Minderheiten einzusetzen. Der kaum gesetzt hatten. Er war Gouverneur eines Staates, dessen Ge- verhüllte Rassismus, der unter den Republikanern herrschte, setze die gewerkschaftliche Organisation am Arbeitsplatz be- sollte der Vergangenheit angehören. hinderten. Das Programm dieser Neuen Demokraten ist nichts In der Außenpolitik wollte Clinton den traditionellen ameri- weiter als eine moderatere Version des republikanischen Leit- kanischen Einsatz für die Menschenrechte wieder in den Mit- motivs „Alle Macht den Märkten“. telpunkt rücken. Eine multipolare Welt sollte nach dem Ende Während des Wahlkampfs hat Clinton nie gezögert, seine des Kalten Kriegs entstehen, in der die Vereinten Nationen als Distanz zur Parteilinken deutlich zu machen. Überdies ist er Weltgendarm für Frieden sorgten. ein Südstaaten-Protestant; was immer er sich an sozialem Be- Schon die einfache Aufzählung dieser gu- wußtsein erhalten hat, entspringt eher ten Vorsätze reicht aus, um klarzumachen, christlicher Solidarität – schon seit jeher ei- wie kraß Clinton bisher gescheitert ist. Die ne treibende Kraft hinter sozialen Refor- historische Bedeutung seines Einzugs ins men in Amerika – als sozialdemokrati- Weiße Haus lag ja nicht so sehr in der Rück- schem Gedankengut. kehr der Demokraten an die Macht, son- Dennoch gelang es seinen Gegnern, ihn dern in der Chance, das politische System als Linksradikalen zu verteufeln. Bereits Amerikas gänzlich neu zu orientieren. Clin- im Wahlkampf entstand die Gefahr, daß tons Niederlagen können uns deshalb viel ein Rechtspopulist wie Ross Perot genug über dieGrenzen der Reformmöglichkeiten verdrossene und mißtrauische Wähler um in der amerikanischen Gesellschaft lehren. sich sammeln würde, um dem Republika- Hat Clinton dabei persönlich versagt? Si- ner George Bush zu einer relativen Mehr- cher, er hat große Schwierigkeiten, eindeu- heit zu verhelfen. tige Entscheidungen zu fällen. Stets ver- Das Phänomen Perot verdient noch im- sucht er, Positionen miteinander zu verein- mer Beachtung. Denn die Botschaft des te- baren, die unvereinbar sind. Weil er jeder- xanischen Milliardärs war und ist die Bot- manns Freund sein will, jedermanns Mei- schaft des primitiven Parteiflügels der Re- nung verstehen kann, hat er Mißtrauen und publikaner. Ihr Credo: Die Regierung ist Enttäuschung, sogar Schimpf und Schande verschwendungssüchtig und inkompeten- auf sich gezogen. Seine Unfähigkeit, ein- ten Parasiten ausgeliefert. Alles was not deutige Standpunkte zu vertreten, unter- tut, ist „freies Unternehmertum“. scheidet sich indes nicht vom typischen Ver- Wie Berlusconi gründete Perot eine halten amerikanischer Eliten. Sie spiegelt Bürgerbewegung, die er durch seine Top- deren fundamentale Unfähigkeit wider, das manager leiten ließ. Die soziale Zusam- öffentliche Interesse zu repräsentieren. mensetzung seiner Anhänger ist einfach: Bill Clinton wuchs in einer zerbrochenen Sie sind weiß, kommen aus der Provinz Familie auf, der wirtschaftliche Sicherheit und wohnen in Suburbia. völlig fehlte. Daß es ihm trotzdem gelang, Perots Organisation besteht weiter; die die Präsidentschaft zu gewinnen, beweist ei- Zahl seiner Fans hat sich nicht erkennbar ne innere Zielstrebigkeit, die seine Kritiker verringert, selbst wenn er persönlich der- nicht erkennen wollen. zeit im Hintergrund steht. Das enorme an- Zweifellos verfügt Clinton über einen tipolitische und antistaatliche Potential, ausgeprägten Idealismus. Die Schwierig- auf das er sich stützt, läßt sich jederzeit keit ist nur, daß er jederzeit gegenüber sich wieder mobilisieren. Obwohl Perot seine selbst rechtfertigen kann, warum er seinen Bewegung noch nicht mit anderen Ver-

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Werbeseite SPIEGEL-ESSAY mittlern apokalyptischer Ängste –etwa der christlichen Rechten weise der Unterstützung für starke, technologisch hervorragend –vereinigthat,bleibtdieseOptioneinerealistischeMöglichkeit. ausgerüstete Streitkräfte, deren Waffensysteme ständig erneu- Eine solche Gruppierung könnte 30 bis 40 Prozent der Wähler- ert werden mußten. schaft erreichen. Sie wäre dann eine ernsthafte Gefahr für die li- berale und säkulare Demokratie USA. eute sind die Propagandisten des Kalten Kriegs – Aka- Um so wichtiger ist ein Clinton-Erfolg in der Sozialpolitik. demiker, Bürokraten, Publizisten und Politiker – be- Doch gerade hier wollte der Präsident es allen recht machen: Ei- Hschäftigungslos geworden. Begierig darauf, eine andere nerseits verspricht er, das überkommene System staatlicher Welt zu finden, die sie kommandieren könnten, sehen sie sich Subventionen zu beenden. Damit stellt er Konservative ruhig, nach neuen Feindenum. Diese frustriertenIdeologensind es vor die Sozialhilfeempfänger für arbeitsscheu halten. Seine Alter- allem, die Clintons Außenpolitik mit Häme überziehen. Sie ma- nativpläne werden aber von einem Teil seiner eigenen Partei- chen einen durchaus glaubwürdigen Außenminister wieWarren freunde torpediert, die fürchten, daß der Staat die Unterschicht Christopher nieder und scheinen zudenken, daß einSicherheits- völlig fallenlassen könnte. berater wie Anthony Lake ein Versager sein muß, nur weil er Ähnliche Widersprüche kennzeichnen die Politik des Präsi- weder über die Verschlagenheit eines Henry Kissinger verfügt dentenauchimBereichder Strafjustiz.Er stimmteeinemGesetz noch über dessen unübertroffenen Zynismus. zu, das lebenslange Haftstrafen für jeden zwingend vorsieht, der Der Präsident istzuder Überzeugung gelangt, daß die Öffent- dreimal wegen Gewalttaten verurteilt wurde. Das wäre in der lichkeit der Vereinigten Staaten derzeit nicht gewillt ist, die Bür- Tat ein staatlicher Anreiz für Wirtschaftswachstum – durch den de einer weltweiten Führungsrolle auf sich zu nehmen. Und er Bau von Gefängnissen. Bedarf besteht: Die USA haben jetzt ist entschlossen, nicht den Fehler von Bush zu wiederholen und schon eine Million Häftlin- zu glauben, ein kurzzeitiger ge, im Verhältnis zur Bevöl- Triumph in Übersee könne kerung die höchste Zahl von Präsident Clinton weiß, das Fehlen jeglicher Politik allen Industrienationen. zu Hause ersetzen. Dagegen hat der Präsident daß auch die Vereinigten Staaten den Der amerikanische Bei- ein wirkliches Verständnis trag zu einem vollständig für die Entwicklung einer Kalten Krieg verloren haben neuen außenpolitischen multikulturellen und multi- Konzept, zur Rolle der Su- rassischen Gesellschaft in permacht in einer polyzen- den USA. Er brachte eine große Zahl von Hispanics und trischen Welt, kann erst dann gefunden werden, wenn die in- Schwarzen in wichtige Ämter. Ebenso förderte er die Ernen- neramerikanische Krise beigelegt ist. nung von Frauen. Das mag zwar die Sensibilität der Regierung Clintons Amtsführung und Clintons Reformpolitik haben für diejenigen erhöhen, die bislang in politischen Ämtern un- diese Krise nicht verursacht, sie spiegeln sie lediglich wider. terrepräsentiert waren. Aber es ist kein Ersatz für die Beseiti- Die Kandidaten der Demokratischen Partei sind bei den Kon- gung von Ungerechtigkeiten. greßwahlen in dieser Woche stark gefährdet. Verluste in bei- den Häusern des Parlaments werden den ohnehin geschwäch- as wichtigste Reformvorhaben des Präsidenten war die ten Präsidenten weiter schwächen. angestrebte Revision des Gesundheitswesens. Gut 20 Clinton wird künftig mit wechselnden Mehrheiten regieren D Prozent der US-Bevölkerung leben ständig oder vor- müssen. Die Probleme, die er im Kongreß hat, sind allerdings übergehend ohne jeden Krankenversicherungsschutz. Clinton nur ein Abbild der Probleme, die Clinton auch in der Bevölke- pries seine Reform, die Versicherungsschutz für alle und dafür rung hat: Ein Drittel unterstützt ihn, ein weiteres Drittel lehnt auch Beiträge der Arbeitgeber vorsah, als Effizienzsteigerung ihn heftig ab. Die Mitte dazwischen verhält sich gleichgültig – des bestehenden Gesundheitswesens sowie als Beitrag zur Ko- und ist für Reformen immer schwerer zu gewinnen. stensenkung. Er stellte es nicht dar als den minimalen Solidar- Diese Situation ist gravierender als ein bloßer Stimmungs- pakt einer Gemeinschaft, ohne den keine zivilisierte Gesell- umschwung. Auch traditionelle Republikaner haben ernsthaf- schaft auskommt. Damit täuschte er die Öffentlichkeit, weil er te Schwierigkeiten bei ihren Wählern. Die Republikanische fürchtete, ihr die Wahrheit nicht zumuten zu können. Partei ist gespalten in alte und neue Konservative. Die aktiv- Die Halbherzigkeit bekam ihm schlecht. In einer Anzeigen- sten Parteimitglieder gehören der extremen Rechten an, sie kampagne für viele Millionen Dollar verleumdeten die Versi- werden von der herkömmlichen Parteielite verachtet. Soziolo- cherungskonzerne die Reform als „sozialistisch“. Auch der gisch sind sie im unteren Mittelstand verankert. Kongreß hat sich einstweilen geweigert, Clintons Plänen zuzu- Solange sich die soziale Krise Amerikas verschärft, solange stimmen – eine Allianz von Neuen Demokraten und Republi- der Lebensstandard dieses Mittelstands weiter sinkt, könnten kanern hat entschieden, daß sich die Nation einen generellen die wohlhabenden Republikaner ihre weniger privilegierten Versicherungsschutz vorerst nicht leisten könne. Parteifreunde als Stoßtrupps und nützliche Idioten an der Übereinstimmend vertreten die Medien die Ansicht, daß Wahlurne benutzen. Ein solches Bündnis aus kultureller Re- Clintons Amtsführung in der Außenpolitik am meisten zu aktion, marktwirtschaftlichem Laisser-faire und rechtem Po- wünschen übriglasse. Doch sollte jeder ernst nehmen, was pulismus könnte für die Demokraten tödlich werden. Clinton im Wahlkampf gesagt hat: Die Stärke der USA im Das wissen Clintons Parteifreunde. Die Schwierigkeit ist Ausland hängt von der Stärke der USA daheim ab. Er weiß, nur – und daran trägt der Präsident selbst Schuld –, daß sie un- selbst wenn er es nicht öffentlich sagt, daß die Vereinigten fähig sind, sich zu klaren Unterscheidungen zu bekennen. Sie Staaten den Kalten Krieg ebenfalls verloren haben. weigern sich, einen alternativen Entwurf für eine Sozialpolitik Es tut gut, sich daran zu erinnern, daß der Kalte Krieg nicht vorzulegen, die sich von den Ideen der Republikaner und der gerade der selbstlose Ausdruck amerikanischen Demokratie- Perot-Anhänger deutlich abhebt. Dadurch haben sie ihre strebens war. Er war vielmehr unauflöslich verwoben mit dem Chancen verspielt, die unentschlossene Mittelklasse in einer sozialen Kontrakt der amerikanischen Nachkriegszeit. gemeinsamen Front hinter sich zu scharen. Dafür fehlte Clin- Der hatte Vollbeschäftigung, regelmäßige Lohnerhöhung ton und seiner ehrgeizigen Mannschaft nicht nur der politische und sozialen Frieden versprochen. Sein wichtigstes Element Mut, sondern wohl auch der Wille zur Veränderung. Y war die ständige Zunahme der amerikanischen Industriepro- duktion und damit die Steigerung des Lebensstandards für den Birnbaum, 68, Mitglied der Demokratischen Partei, ist Pro- größten Teil der Bevölkerung. Diese Expansion hing zu einem fessor für Sozialwissenschaften am Jura-Zentrum der Wa- großen Teil von den Ausgaben des Kalten Kriegs ab: beispiels- shingtoner Georgetown University.

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AUSLAND BILDERBERG FOTOS: M. ENDE / Junge Kokain-Gangster in Rio: Täter und Opfer in einem Krieg mit Tausenden von Toten

Brasilien Mörderische Stadtguerilla Staatschef Franco schickt die Streitkräfte in den Kampf gegen die Drogenmafia von Rio de Janeiro

unte Papierdrachen steigen über Schweigend geleiten die Jungen den von innen eine Tonne beiseite. Dort dem Morro dos Prazeres auf, ei- Besucher durch das Labyrinth. Es stinkt führt eine Treppe auf eine kleine Ter- Bnem Elendshügel mitten im Vil- nach Urin, die Stufen sind schlüpfrig. rasse mit prächtigem Blick auf die Bucht lenviertel Santa Teresa. Kinder zerren Der Weg windet sich durch kaum von Rio. „Geh aus dem Licht“, mahnt an den Schnüren, ein junger Mann mannshohe Löcher und dunkle Gänge Luı´s Carlos da Silva und zieht den Gast huscht über ein Blechdach im ziegelro- und endet schließlich vor einer Holztür. hinter einen Mauervorsprung. Der Boß ten Häusergewirr. Der Besucher, der Auf ein Klopfzeichen hin rollt jemand der Drogenhändler weist grinsend auf seit einer halben Stunde im Schatten eine gegenüberliegende Favela. „Unse- einer Mauer am Aufgang zu der Favela re Konkurrenten da drüben schießen ab wartet, weiß, bald wird er abgeholt. 10 000 Dealer und zu herüber, das kann ins Auge ge- Die Drachen haben seine Ankunft ge- hen.“ meldet. kontrollieren den Rauschgifthandel Höflich bietet er einen Platz auf ei- Die Papierflieger sind Teil eines aus- von Rio de Janeiro. Weil die korrupte nem durchgesessenen Sofa an. Links geklügelten Kommunikationssystems, Polizei den Gangstern nicht gewach- und rechts postieren sich einige Halb- mit dem sich Rios Drogenhändler un- sen ist, beauftragte Präsident Itamar wüchsige mit Schnellfeuergewehren. tereinander verständigen. Drachen Franco vergangene Woche das Mili- Ein Transvestit, offenbar der Geliebte kündigen die Ankunft einer neuen La- tär, die Herrschaft der schwerbewaff- des Drogenbosses, kommt aus einem dung Kokain an, warnen vor einer Po- neten Rauschgiftbanden zu brechen. Hinterzimmer; seine wunde Nase trieft. lizeirazzia oder melden Fremde. Spezialkommandos sollen die Gang- „Das sind meine Soldaten“, prahlt Nach wenigen Minuten lösen sich ster aufspüren, Panzer die Slums ab- Luı´s Carlos und zeigt auf die Halbstar- drei Jugendliche aus dem Schatten der riegeln. Sollte die Aktion bis Jahres- ken. Die Jungen blicken kriegerisch, Häuserwaben. Ihre Füße stecken in ende keinen Erfolg haben, könnte keiner ist älter als 16. Sie sind Täter und Plastiksandalen, hinter den Bund ihrer der Präsident den Verteidigungsnot- Opfer in einem Krieg, der jedes Jahr Bermudashorts haben sie Pistolen ge- stand über Rio verhängen. Jens Glü- Tausende von Menschenleben kostet. schoben. Einer sichert die Treppe zur sing, Lateinamerika-Korrespondent Gut 70 000 Morde zählte die unab- Favela; mit dem Lauf seiner Uzi-Ma- des SPIEGEL, beschreibt den Krieg hängige Stiftung Getu´lio Vargas von schinenpistole weist er den Weg. Sein um die Elendsviertel. 1985 bis 1991 im Bundesstaat Rio de flackernder Blick verrät den Süchtigen. Janeiro – das sind mehr Tote, als die

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Amerikaner in zehn Jahren Vietnam- krieg zu beklagen hatten, und fast drei- mal soviel, wie der Aufstand der maoi- stischen Guerrilleros vom „Leuchten- den Pfad“ in Peru seit 1980 gefordert hat. Die meisten sind Opfer des Drogen- kriegs in den Häuserschluchten der Fa- velas, ermordet von rivalisierenden Rauschgifthändlern oder von der Mili- tärpolizei. In Rios Elendsvierteln hat der Staat nichts zu sagen, dort herr- schen allein die „traficantes“. Mehr als 10 000 Mann haben die Drogenbosse unter Waffen, schätzt die Polizei, etwa die Hälfte sind Jugendli- che. Sie kontrollieren die meisten der etwa 600 Favelas im Großraum Rio. Jeden Monat setzen die Dealer 2,5 Tonnen Kokain um, das vor allem aus Kolumbien und Bolivien eingeschmug- gelt wird. Im Nordosten Brasiliens be- treiben die Rauschgifthändler eigene Marihuanaplantagen. Ermordeter Dealer: Revolver als Ausweis Wie mittelalterliche Zwingherren halten die Gangster auf den Elendshü- Mehrere Hauptverkehrsstraßen des Rio erlebe einen Bürgerkrieg, sagt geln trutzige Wacht. Ihr Arsenal um- Touristenviertels wurden gesperrt, Ur- Brasiliens neugewählter Präsident Fer- faßt Schnellfeuergewehre aus den lauber und Anwohner flüchteten aus nando Henrique Cardoso, der im Januar USA, israelische Maschinenpistolen, Angst vor Querschlägern. Rio sei zu ei- sein Amt antritt. Staatsoberhaupt Itamar deutsche Faustfeuerwaffen und Granat- nem „tropischen Bosnien“ geworden, Franco schickte vergangene Woche die werfer. Sie schossen sogar schon Poli- schreibt die Tageszeitung O Globo. Streitkräfte in den Kampf gegen die zeihubschrauber ab. Im vergangenen In Complexo do Alema˜o, einer An- Dealer: 600 Spezialagenten der Armee Jahr hob die Polizei ein Trainingscamp sammlung mehrerer Slums in Rios sollen sich in die Favelas einschleusen der Rauschgiftmafia in Rios National- Nordzone, tobt seit einigen Wochen ei- und Informationen über die Drogen- park Floresta da Tijuca aus. ne Schlacht zwischen rivalisierenden händler liefern. Das Militär müsse min- „Der Drogenhandel ist zu einer Banden und der Polizei, in der bislang destens ein Jahr bleiben, ehe die Favela- Stadtguerilla herangewachsen“, warnt mehr als 20 Menschen umkamen. Um Bewohner wieder Vertrauen in die der Journalist Carlos Amorim, Autor sich vor dem Kugelhagel zu schützen, Staatsmacht faßten, sagen Offiziere. eines Buchs über das Comando Ver- haben die Bewohner Schutzwälle um ih- Fast widerstandslos hatten Regierung melho, die mächtigste Verbrecherorga- re Häuser errichtet; Hunderte suchten und Polizei die Favelas den Drogenhänd- nisation in Rio. Wo immer es den Si- Unterschlupf in anderen Stadtteilen. lern ausgeliefert. Seit Jahrzehnten ver- cherheitskräften gelingt, einen Drogen- Polizisten haben eine meterhohe Beton- nachlässigt die Stadtverwaltung die boß zu fassen, steht ein Nachfolger mauer um ihre Wache gezogen und zie- Elendsviertel. „Der Staat ist in den Fave- schon bereit. len mit einem Maschinengewehr aus las nur bei drei Gelegenheiten präsent: Im offenen Gefecht ist die Polizei dem Zweiten Weltkrieg auf den Favela- im Wahlkampf, bei einer Polizeirazzia den Gangstern meist unterlegen. So Eingang. oder nach einer Naturkatastrophe“, sagt mußte sie nach einer Amorim. „Das Vaku- fünfstündigen Schieße- um, das er hinterlassen rei mit Drogenhänd- hat, haben die Drogen- lern im Stadtteil Copa- händler ausgefüllt.“ cabana wieder abzie- Geologen, die von hen: Nachdem 300 Be- Bürgermeister Ce´sar amte mehr als 3000 Maia ausgesandt wur- Schuß verfeuert hat- den, um nach einem ten, war ihnen die Erdrutsch die Favela Munition ausgegangen. Vidigal zu inspizieren, Den Polizisten war es mußten erst den örtli- nicht einmal gelungen, chen Drogenboß um den Zugang zur Favela Erlaubnis bitten. Ei- einzunehmen. Ihren ne neue Schnellstraße einzigen Gefangenen, zum Flughafen, die einen elfjährigen Bur- gleich mehrere Armen- schen, der mit ei- viertel durchschneidet, nem Schnellfeuerge- konnte nur fertigge- wehr bewaffnet war stellt werden, nachdem und den Rauschgift- die Baubehörde mit Banditen als Späher den Rauschgifthänd- diente, mußten sie lau- lern verhandelt hatte. fenlassen: Er ist noch In vielen Favelas nicht strafmündig. Verhaftete Prostituierte: Der Staat ist nur bei Razzien präsent entscheiden die Gang-

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AUSLAND N. BENEDITO / IMPACT VISUALS Jugendliche beim Kokainschnupfen*: „In diesem Job wird man selten älter als 30“

ster über die Öffnungszeiten von Schu- serstichen, Beine und Unterleib sind len und Krippen, verordnen Feiertage von Einschüssen gezeichnet. und Ladenschlußzeiten. In seiner Favela sei er beliebt, be- Im Stadtviertel Rio Comprido verleg- hauptet er, schließlich hätten die Men- te ein Universitätsinstitut auf Anord- schen ihn freiwillig gewählt. Zum Be- nung der Drogenhändler die Vorlesun- weis zieht er einen Brief aus der gen, in den Favelas vom Complexo do Schublade, in dem sich ein Bestohlener Alema˜o sind die Schulen und Kinder- bei ihm bedankt, daß Luı´s Carlos das gärten wegen des Drogenkriegs ge- Diebesgut, einen Videorecorder, inner- schlossen. Verirrte Kugeln haben in den halb weniger Tage wiederbeschafft hat. vergangenen Wochen mehr als 30 Unbe- Die Drogenhändler leben in Symbio- teiligte verletzt oder getötet. se mit der Favela: Die Armen gewäh- Auch einige der Bürgervereine, einst ren ihnen Schutz vor der Polizei; die als Bollwerk gegen die Allmacht der Bosse sorgen für jenes Mindestmaß an Drogenhändler eingerichtet, haben die sozialer Hilfe, das der Staat nicht lei- Gangster unterwandert. Luı´s Carlos da stet – zum Wohle ihres Geschäfts, ver- Silva, der Drogenboß vom Morro dos steht sich. Prazeres, ist Präsident des Bürgerver- Diebstahl und Einbrüche kommen in eins seiner Favela und residiert in einem den Slums kaum vor, weil die Gang- Büro mit Telefon und Vorzimmerdame. ster gnadenlos Selbstjustiz üben. „Auf „Tagsüber kümmere ich mich um die Vergewaltigung steht die Todesstrafe“, brüstet sich Luı´s Carlos. Der Drogen- boß Bill von Borel ließ sieben Jugend- Die Angst vor der Polizei lichen in die Hände schießen, weil sie ist größer als die vor seiner Favela Busse überfallen hat- ten. vor den Rauschgiftbossen Gern treten die Rauschgifthändler als Robin Hood auf. Zu Weihnachten Gemeinschaft, abends verkaufe ich Ko- verteilen sie Spielzeug an die Kleinen; kain“, grinst er. sie organisieren Silvesterfeiern, bezah- Bibelsprüche schmücken seinen len Arztrechnungen und Medikamente Schreibtisch. In einer Ecke steht eine für Kranke. Das Comando Vermelho verstaubte brasilianische Fahne, in einer verschickt Weihnachtskarten mit sei- anderen flimmert ein defekter Farbfern- nem Motto „Friede, Gerechtigkeit und seher. Seit mehr als 20 Jahren handelt er Freiheit“ an die Kunden. mit Drogen. Stolz zeigt er die Narben, Beim Treffen mit Luı´s Carlos und die er im Kampf davongetragen hat: Die seinen Kriegern auf dem Morro dos linke Hand ist nach einer Schußverlet- Prazeres zieht eine alte Frau ängstlich zung verkrüppelt, über Brust und Nak- den Kopf ein, als einer der bekifften ken ziehen sich feine Spuren von Mes- Halbstarken vor ihrem Gesicht mit der Maschinenpistole fuchtelt. „Du * Mit Masken vermummt, um nicht erkannt zu brauchst keine Angst zu haben, wir be- werden. schützen euch doch“, beschwichtigt der

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Drogenboß die Alte. Die verschwindet gen. Rund um die „Boca de Fumo“, den stumm in ihrer Hütte. Drogenkiosk, hat sich eine eigene Sub- Immer häufiger geraten die Favela- kultur entwickelt. Anwohner preisen Bewohner zwischen die Fronten. Im Bier und Brause an; zahlreiche fliegen- vergangenen Jahr stürmte ein ver- de Händler sind zur Stelle. Eine Favela mummtes Mordkommando den Slum betrieb monatelang eine Art Kokain- Viga´rio Geral im Norden von Rio und Drive-in, Kinder bedienten die Kunden mähte 21 Menschen mit Maschinenpi- am Autofenster. stolen nieder, darunter Frauen und Kin- Auch in den Elendsvierteln nimmt der. Sie hatten sich aus Angst vor Ra- der Drogenkonsum zu: Jugendliche cheakten der Drogenhändler geweigert, stehlen und rauben, um Geld für das der Polizei zu helfen, nachdem vier Be- Rauschgift zu beschaffen; die „Solda- amte in der Nacht zuvor erschossen wor- ten“ der Drogenmafia werden oft mit den waren. Kollegen der Getöteten bil- Kokain entlohnt. Die Sucht, von latein- deten daraufhin eine Todesschwadron. amerikanischen Regierungen gern als Bei einem Streit zweier verfeindeter Problem der Ersten Welt abgetan, hat in Drogenbanden um die Kontrolle des den eigenen Slums Einzug gehalten. Rauschgifthandels in der Favela Acarı´ „Das Drogenproblem läßt sich nicht starben zwölf Menschen. Die Sieger mit Polizeieinsätzen lösen, es ist eine zwangen Einwohner, nackt durch die Folge der krassen sozialen Unterschie- SASSAKI / GAMMA / STUDIO X Polizeieinsatz in einem Slum: Mit Granatwerfer ins Gefecht

Straßen zudefilieren,weil sie die gegneri- de“, sagt Buchautor Amorim. „Die sche Gang unterstützt hatten. Rauschgifthändler leben den Jugendli- Dennoch ist in den meisten Favelas die chen in den Favelas vor, daß es einen Angst vor der Polizei größer als die schnellen Weg zum Geld gibt.“ Furcht vor den Rauschgiftbossen. Die Daß ihnen zumeist auch ein früher Tod Polizisten gehen zumeist straffrei aus, droht, nehmen die Gangster in Kauf. „In wenn sieSelbstjustiz üben. Beamte lassen diesem Job wird man selten älter als 30“, sich von den Drogenhändlern bestechen, sagte Luı´s Carlos, der Drogenboß vom zum Schutz der Armen tun sie nichts. Morro dos Prazeres. Er lüpfte sein Hemd Die empfinden es daher als Genugtu- und wies auf einen Revolver im Hosen- ung, daß der Drogenkrieg nun auch auf bund: „Das ist mein Ausweis, ohne den die wohlhabenderen Viertel der Stadt gehe ich nicht vor die Tür.“ übergreift. Dort schnupfen vor allem die Luı´s Carlos wurde 33 Jahre alt. Rivali- Yuppies und Lebenskünstler der Mittel- sierende Drogenhändler aus dem be- und Oberschicht Kokain. nachbarten Elendsviertel Morro da Ban- Freitagnacht inTijuca: Vor einerKnei- deira schossen ihn nieder, übergossen ihn pe lungern schick gekleidete Jugendliche mit Benzin und verbrannten ihn bei le- und warten auf Kunden. Sie sind die bendigem Leib. Den Leichnam stießen „Flugzeuge“ – Halbwüchsige aus den Fa- sie einen Abhang hinunter, nur wenige velas, die gegen Geld oder einen Anteil hundert Meter vom Morro dos Prazeres Kokain als Drogenkuriere arbeiten. entfernt. An jedem Wochenende bilden sich vor Luı´s Carlos war nicht mehr dazu ge- den Kokainverkaufsstellen lange Schlan- kommen, seinen Revolver zu ziehen. Y

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Ungewohnte Differenzierungen im Niederlande deutsch-niederländischen Verhältnis, wo bislang Schwarzweißkontraste vor- herrschten. In keinem Land Europas sitzen die Ressentiments gegen den Kuscheln mit häßlichen Deutschen tiefer. Nirgend- wo sonst ist die Demütigung durch deutsche Besatzer noch so gegenwär- den Moffen tig. Nach einer Meinungsumfrage halten Gute Vorsätze bei den kritischen 71 Prozent der Jugendlichen die Deut- Nachbarn: Das angespannte schen für dominierend, 60 Prozent für arrogant, 46 Prozent gar für kriegslü- Verhältnis zu den Deutschen soll stern. Und die Mehrheit der Befragten sich bessern. rühmt sich, keinen dieser bestgehaßten Nachbarn persönlich zu kennen. Als 1992 beim Brandanschlag in Mölln drei n ihrer Ostgrenze entdecken die türkische Frauen und Mädchen star- Niederländer ein bislang unbe- ben, trafen im Bonner Kanzleramt Akanntes Land. Dort gebe es, körbeweise Postkarten ein, auf denen schreibt das Nachrichtenmagazin Else- eine Million Niederländer erklärten: viers, nicht nur leckeres Bier, schicke „Ich bin wütend.“ und saubere Einkaufsstraßen, viele gu- Und bewies nicht Kanzler Kohl noch te Autobahnen, eine ausgeprägte Wan- in diesem Sommer die Arroganz der derkultur, ein klügeres Wahlsystem mit neuerlich vereinten Deutschen? Ge- einer Fünf-Prozent-Hürde gegen kleine meinsam mit dem französischen Staats- extremistische Parteien, prachtvolle präsidenten Franc¸ois Mitterrand be- Theater und Museen, sondern auch trieb er die Kandidatur des belgischen höfliche Bewohner. Das Resümee: „In Premiers Jean-Luc Dehaene als Nach- Deutschland ist alles besser.“ folger für den Brüsseler Kommissions- Ein neuer Blick wird auch auf die präsidenten Jacques Delors, obwohl deutsche Vergangenheit gelenkt: 5000 der damalige niederländische Regie- Juden seien während der Hitler-Herr- rungschef Ruud Lubbers sein Interesse schaft in Berlin versteckt worden und angemeldet hatte – ein Tiefpunkt der hätten so den Holocaust überlebt, deutsch-niederländischen Beziehun- schreibt der Kolumnist Gerard van gen. Lennep im NRC Handelsblad. In Wien Doch wenig später schon gab Lub- seien dagegen nur 800 Juden gerettet bers’ Außenminister Pieter Kooijmans worden. „Diese guten Deutschen kön- die neue Marschrichtung vor: „Die nen in dem Auto vor Ihnen sitzen“, Deutschen können ohne Holländer le- mahnt van Lennep. „Es sind dieselben ben, die Holländer aber nicht ohne alten Leute, die bei uns instinktiv auf Deutsche.“ Ablehnung stoßen, weil sie den Krieg Das Kuscheln mit den Moffen, so mitgemacht haben.“ der landläufige Schmähname für die REUTER Partner Kok, Kohl in Bonn: „Geschichte mit schwarzen Seiten“

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Nachbarn, wird seitdem zur neuen Poli- In der Europäischen Union (EU) sind tik erhoben. die Deutschen zusammen mit den Fran- Denn die vom Calvinismus geprägten zosen die Hauptakteure. Ohne sie gibt Niederländer sind nicht nur eine Nation es keine Währungsunion, keine Erwei- von Moralisten, die gern mit dem Zeige- terung und keine Vertiefung. Die Um- finger auf die bösen Nachbarn zeigen – orientierung der niederländischen Au- der Amsterdamer Soziologe Rudi Leib- ßenpolitik wurde deshalb zum Amtsan- richt nennt diese Haltung einen „Ersatz- tritt des sozialdemokratischen Minister- Rassismus“. Zugleich sind sie eine Nati- präsidenten Wim Kok von höchster on von Kaufleuten, die die Nachteile ei- Stelle verordnet: In ihrer Thronrede er- ner allzu offensichtlichen Abneigung ge- klärte Königin Beatrix, daß den Bezie- gen die Deutschen zu bilanzieren wis- hungen zu Deutschland künftig mehr sen. Gewicht zugemessen werde. ULLSTEIN BILDERDIENST Wehrmacht in Rotterdam 1940: Demütigung noch immer gegenwärtig

Zwar verbrachten im vergangenen Ein Auslöser für die Wende, glaubt Jahr 2,2 Millionen Deutsche ihren Ur- Robert Aspeslagh vom Haager Clingen- laub in den Niederlanden. „Aber das dael-Institut, war nicht nur Lubbers’ muß nicht so bleiben“, weiß der Direk- Niederlage beim EU-Gipfel auf Korfu, tor des nationalen Tourismusbüros, sondern auch die Umfrage seines Insti- Hans Cornelissen. Er erhöhte die Mittel tuts über die extrem negative Einstel- für Werbekampagnen in Deutschland. lung der jungen Holländer zu den Deut- Bislang sind die Wirtschaftsbeziehun- schen: „Da lag das, worüber man immer gen zwischen den beiden Staaten von nur gemunkelt hat, klar auf dem Tisch.“ Spannungen verschont geblieben. Rund Das Institut ernannte Aspeslagh in- 30 Prozent des Im- und Exports wickelt zwischen zum Deutschland-Beobachter. Holland mit dem großen Nachbarn ab. Im September fand zum erstenmal ein Doch gerade wegen der engen Verzah- Seminar über den deutschen Wider- nung mit der deutschen Wirtschaft stand statt, zu dem auch Witwen von Hitler-Gegnern geladen waren. „Wenn es Probleme in den Beziehun- „Es sind zwar gen zu Deutschland gibt“, glaubt der Deutsche – aber sie neue Außenminister Hans van Mierlo, „dann liegen sie im Irrationalen.“ Und tun uns nichts“ da sind sie auch besonders schwer zu be- kämpfen. könnten nun die billigeren Produkti- Selbstkritisch schreibt das Algemeen onsbedingungen in den ost- und mittel- Dagblad: „Wir lachen, wenn Ronald europäischen Staaten für Holland eine Koeman sich demonstrativ den Hintern „größere Bedrohung darstellen als die mit dem Trikot eines deutschen Fußbal- asiatischen Länder“, fürchtet das nie- lers abwischt. Deutsche Autos werden derländische Planungsamt. beschädigt. Und beim Vorstellen deut- Auch außenpolitisch, so die Er- scher Freunde finden wir es immer noch kenntnis in Den Haag, hätten die Nie- witzig zu sagen: Es sind zwar Deutsche, derlande eher zu verlieren, wenn sie aber sie tun uns nichts.“ sich weiterhin auf ihre atlantischen Nun sollen auch Schüler und Studen- Partner Großbritannien und USA fi- ten das überkommene Feindbild abbau- xieren. en. Niedersächsische und nordrhein-

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westfälische Hochschulen entwickeln mit dem holländischen Kultusministeri- um gemeinsame Studiengänge. In Amsterdam soll demnächst das Fach „Deutschlandkunde“ gelehrt wer- den, und die Katholische Universität in Tilburg richtete einen Lehrstuhl für deutsch-niederländische Beziehungen ein. Ende dieses Schuljahres wird erst- mals auch das Wissen der Abiturienten über die „Entwicklung der deutschen Demokratie zwischen 1871 und 1990“ geprüft. Als in der vorletzten Woche Wim Kok seinen Antrittsbesuch bei Helmut Kohl in Bonn abstattete, unternahmen Gast und Gastgeber, so Kok, „eine lan- ge Reise durch die gemeinsame Ge- schichte mit ihren schwarzen Seiten“. Mit Genugtuung stellte der niederländi- sche Sozialdemokrat fest, daß sein Ge- sprächspartner „der Geschichte nicht den Rücken kehrt“. Noch sei die Erinnerung an die Nazi- zeit in seinem Volk zu lebendig, erklär- te der holländische Premier dem Kanz- ler; eine deutsche Teilnahme an den von Veteranenverbänden ausgerichte- ten Feiern zum 50. Jahrestag der Befrei- ung sei deshalb nicht möglich. Dabei hatte sich Kok, dessen Vater im Widerstand gegen die deutschen Be-

satzer kämpfte, persönlich für eine Ein- FOTOS: QA PHOTOS LTD ladung von Deutschen eingesetzt. Nun Fährhafen Dover: „Der verdammte Tunnel kann großes Elend über uns bringen“ will sich die Regierung bemühen, daß B&Q-Baumarkt von Dover als bei ihr Niederländer und Deutsche am 8. Mai Fährverbindungen zu Hause, inklusive Anlieferungsko- das Ende des Naziregimes gemeinsam ENGLAND begehen. Y sten. Madame Truffaut hat schon das Dover r vierte Mal den Tagestrip nach England London e gebucht. v Die spottbillige Überfahrt – 50 o Ärmelkanal D Francs, 15 Mark pro Person – lockte Folkestone T Calais u n n seit Jahresbeginn Hunderttausende n e l Franzosen zum Einkauf in die südengli- o Dunkle Seite sche Hafenstadt Dover. Sie bringen vor v Sangatte allem Schuhe, Schlagbohrer sowie Wol- le und Hundefutter nach Hause – zu e Preisen, die deutlich unter den französi- ß Paris des Mondes a schen liegen. Der zollfreie Warenver- FRANKREICH r Der Tunnel zwischen Frankreich kehr im europäischen Binnenmarkt t Boulogne 20 Kilometer macht es möglich. S und Großbritannien bedroht Dem Einzelhandel in Dover bescher- die Zukunft der Hafenstadt Dover. te der gallische Besucherstrom einen fen der Welt und dem nach den Londo- unverhofften Kundenzuwachs, „etwas ner Großflughäfen Heathrow und Gat- leich hängt der naßkalte Herbstne- Hoffnung für eine unsichere Zukunft“, wick drittgrößten Einreiseort ins Verei- bel über der Küste. Das römische so der Schuhhändler Malcolm Wright. nigte Königreich. BKastell auf den berühmten Kreide- Voller Sorge blicken Geschäftsleute, Eine Kette von technischen Pannen, klippen können die Passagiere der Fäh- Hoteliers und Gastronomen der Stadt Finanzengpässen und Planungsfehlern re „Pride of Burgundy“ nur auf den auf das 25 Kilometer entfernte hatte die Inbetriebnahme des über 30 Postkarten betrachten, die am Bord- Folkestone. Von dort werden ab kom- Milliarden Mark teuren Projekts immer kiosk verkauft werden. Doch den Besu- mender Woche die ersten planmäßigen wieder verzögert. Der Tunnel war schon chern, die sich auf der französischen Sei- Passagierzüge zwischen London, Paris im Mai eröffnet worden, aber bis zuletzt te eingeschifft haben, steht der Sinn we- und Brüssel durch den Kanaltunnel blieben gelegentlich einige der 30 Euro- niger nach Sightseeing als nach Shop- pendeln. star-Züge – Horror jedes an Klaustro- ping. Und von Dezember an sollen dann phobie leidenden Passagiers – etwa 50 Marie-Louise Truffaut, 36, Lehrerin die Autozüge mit Tempo 140 durch den Meter unter dem Meeresboden in der aus Boulogne, setzt mit ihrer Mutter längsten Eisenbahntunnel Europas sau- Röhre stecken. Maschinendefekte an über den Ärmelkanal, um in England ei- sen. Nach 38 Kilometer langer Fahrt Lokomotiven verzögerten die drei- ne Einbauküche zu kaufen. Bis zu ei- unter dem Meeresgrund geht es vorbei stündige Reise manchmal beträcht- nem Drittel billiger ist das Angebot im an Dover, dem bislang größten Fährha- lich. Doch dies seien nur „kleine

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Schluckaufs“ gewesen, versicherte ein „Wir sind schon jetzt auf der dunklen Firmensprecher. Seite des Mondes“, klagt Roger Eurotunnel-Vorstand Sir Alastair Madge vom Dover District Council, „und Morton gibt sich optimistisch: „Wir es kann alles noch viel schlimmer kom- sind spät dran, das tut uns leid. Aber men.“Nach Öffnung desTunnels rechnet das Produkt ist gut, und nun geht er mit dem Verlust weiterer 6000 Arbeits- es endlich los.“ Die Investoren plätze. Der Lebensrhythmus der Stadt ist warten auf ihre Dividende. Das auf- bislang von den täglich bis zu 76 Fähren wendige Bauwerk wurde ohne Steuer- bestimmt, die vergangenes Jahr 18 Mil- gelder von 554 000 Aktionären und lionen Menschen und über eine Million mehr als 200 internationalen Banken Lastwagen nach Dover brachten. finanziert. Verzweifelt machen die Stadtväter sich Die Bürger von Dover fürchten da- Mut – und setzen darauf, daß Pleiten und gegen den Ruin. „Die Verzögerungen Pannen um den Eurotunnel auch künftig haben uns nur ein paar Monate Auf- nicht abreißen. Madge: „Wir haben schub gegeben. Von jetzt an werden Grund zurHoffnung, daß daskomplizier- wir bluten“, sagt Klaus Schulze, 54. te Verladesystem, der spartanische Ser- Der gebürtige Münchner, seit 26 Jah- vice und technische Probleme viele Rei- ren in England ansässig, ist Hotelma- sende abschrecken.“ nager und seit Jahresbeginn Präsident Tatsächlich lief der Lastwagentrans- der Handelskammer von Dover. „Der port, der schon seit dem 25. Juli in Betrieb verdammte Tunnel kann über uns gro- ist, recht mäßig an. Die Züge sind nur zu ßes Elend bringen. Dabei geht es uns 18 Prozent ausgelastet. Den Brummi- jetzt schon schlecht genug.“ Fahrern mißfällt das absolute Rauchver- Unweigerlich wird die Tunnel-Kon- bot während der 35-Minuten-Passage. kurrenz die Besucherströme künftig an Auf der Fähre können sie dagegen ko- den Läden, Hotels und Pubs von stenlos ein Steak mit reichlich Pommes Dover vorbeilenken. Dann droht der frites verzehren. 40 000-Einwohner-Stadt, die jetzt Mit verbessertem Service, kürzerer schon unter knapp 20 Prozent Arbeits- Verladezeit und schnellerer Kanalüber- losigkeit leidet, ein Schattendasein ab- querung haben sich die Fährunterneh- seits der Urlauber- und Verkehrsachse. mer, deren Geschäfte gegenüber dem Der geschäftige Hafen hat bislang gut Rekordjahr 1993 noch um 15 Prozent ein Drittel aller Dover-Bürger in Lohn wuchsen, auf die Konkurrenz eingestellt. und Brot gehalten. Trotz der längeren und bei unruhiger Außer Einkaufsgelegenheiten hat die See beschwerlichen Anreise über den Är- Stadt wenig zu bieten. Als Attraktio- melkanal rechnet deshalb HotelierSchul- nen gelten einzig das Römerkastell und ze fest damit, daß viele Touristen weiter- ein zeitgeschichtliches Museum, in dem hin lieber die Fähre benutzen. Die teure geräuschvoll Angriffe der deutschen Huckepackreise soll in der Hauptsaison Luftwaffe während des Zweiten Welt- etwa 800 Mark pro Pkw kosten. Sie ist kriegs nachgespielt werden. Dover ver- auch ein Bruch mit der Tradition. fügt noch nicht einmal über einen be- Der Bayer: „Es gibt nur einen ange- scheidenen Rotlichtbezirk – einzigartig messenen Weg, sich einer Insel zu nä- für eine bedeutende Hafenstadt. hern: übers Wasser.“ Y

Lkw-Ausfahrt im Tunnel-Terminal Folkestone: „Kompliziertes System“

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Billard TÄNZER GEGEN KILLER SPIEGEL-Reporter Matthias Matussek über Billard-Weltmeister Sang C. Lee

ieser Teil der Roosevelt Avenue in gibt Nudelsuppe und Hot dogs aus, und wandten, den Betrieb, die Freunde – Queens ist Rotlichtmeile. Oben er leert die Aschenbecher – Sang C. hier bist du nur für dich selbst verant- Ddonnert die U-Bahn, und unten, Lee, der Weltmeister im Dreiband-Bil- wortlich.“ Du spielst, du stößt, du lochst an den eisernen Trägern, stehen die lard. ein – und kassierst. Nutten vor Beauty-Salons und Bars, in Sang Lee, der Ami aus Korea, hat die Erst spät, als 17jähriger, begann er zu denen es keine Droge gibt, die es nicht WM-Trophäe nach 40 Jahren zurück in spielen – in Korea war Billard, wie Al- gibt. Das Geschäft ist fest in kolumbia- die Staaten gebracht. Dreiband-Billard, kohol, für Jugendliche verboten. „Man nischer Hand – bis auf dieses zweistöcki- die Königsdisziplin, war hier fast ausge- konnte von der Schule fliegen, wenn ge Eckhaus, auf dem koreanische storben – alle spielen nur noch Pool. man in einer Billardhalle erwischt wur- Schriftzeichen flackern. Pool ist amerikanisch. 30 Millionen spie- de.“ Das Spiel mit den Kugeln ist in Ko- „Wir sind einfach in die gefährlichste len es. Pool ist direkt und schnell und rea ein fanatisch betriebener Massen- Gegend gezogen“, sagt Sang C. Lee. konsumistisch. Fast jeder Stoß wird be- sport. Allein in Seoul gibt es 10 000 Bil- „Und es hat sich herausgestellt, daß sie lohnt. lardhallen – in manchen Wohnhäusern am sichersten ist.“ Das ist, sozusagen, Beim Dreiband, bei dem der Spielball sind gleich zwei Etagen für Billardtische erfolgreich über Bande gedacht: Kein über drei Banden muß, bevor er die reserviert. Mensch käme auf die Idee, hier, in zweite Kugel karamboliert, sind dage- Sang Lees Wechsel in die Staaten war Little Bogota´, Ärger zu machen, weil je- gen Mißerfolge die Regel. Dreiband ist nicht nur die Entscheidung für eine frei- der damit rechnen muß, daß der andere die Disziplin für Leidensspezialisten und zügigere Kultur, sondern auch ein bil- eine noch größere Knarre mit sich her- Sublimationskünstler, halb Schach, halb lardtaktischer Zug. Um von Korea aus umträgt. Variete´, ein Sport für introvertierte Kul- an der WM teilnehmen zu können, hätte Im übrigen wird Sang Lees Laden als turen, für reglementierte Gesellschaften er sich in asiatischen Qualifikationsrun- neutraler Boden, als eine Art Uno-Si- und Schlechtwettergebiete. Belgien und den gegen die starken Japaner durchset- cherheitszone, respektiert. Er hat das Holland, Japan und Korea – das sind ty- zen müssen. Von Amerika aus, wo er feinste Etablissement der Gegend. 20 pische Dreiband-Nationen. die letzten vier nationalen Meisterschaf- Billardtische, 8 davon Karambolage, Sang Lee, der vor sieben Jah- feine importierte Ware, Verhoevens aus ren aus Seoul einwanderte, ge- Belgien. Nach jeder Partie werden die nießt die Freiheit der neuen Tuche gesaugt, die Kugeln geputzt. Heimat, genießt ihre Pool-Kul- Sang Lees Frau steht hinter dem langen tur. „In Seoul mußt du stets für Tresen mit der Trophäensammlung und andere dasein, für die Ver- FOTOS: A. STERZING Schwedischer Billard-Profi Blomdahl, Weltmeister Sang Lee: „Der versohlt dem Schlitzauge den Hintern“

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Werbeseite SPORT ten gewann, ging das leichter. Anfang auf Platz fünf der Weltrangliste gespielt. des Jahres war er, nach drei vergebli- Umlagert werden die Stars aus dem al- chen Anläufen, Weltmeister. ten Kontinent in diesen zwei Tagen von Während die europäischen Superstars Billardverrückten, von asiatischen und wie der junge Schwede Torbjörn Blom- amerikanischen Fans, von neugierigen dahl, der belgische Gigant Raymond kolumbianischen Poolspielern, von Ceulemans oder Dick Jaspers von Spon- Gamblern und von Groupies, die aus soren umworben werden, wartet Ameri- Michigan und Florida und Kalifornien kas neuer Weltmeister noch auf Ange- gekommen sind. bote. Der koreanische Multi Samsung Am Rande der abgetrennten Turnier- hat vorgefühlt, noch zögernd. Doch anlage hat Queue-Fabrikant Ray Shuler Sang Lee verläßt sich nicht nur auf Prä- seine Stöcke ausgebreitet. Schäfte mit Einlegearbeiten aus Elfen- bein. Das Modell Ceule- Rechtsseitiger Stoß mans ist für 2500 Dollar zu haben. Der Picasso unter seinen Stöcken, der aus- sieht wie ein funkelnder afrikanischer Speer, ko- stet 9000 Dollar. Shuler kann sich noch an die Tage von Willie Hoppe erinnern. Der amerikanische Dreiband- Superstar der dreißiger Jahre war ein Idol. Hoch angesetzter „Damals gab es auch bei Kopfstoß uns Säle mit 200 Tischen.“ Er ist sich sicher, daß Ka- rambol-Billard auch in Amerika wieder kommen wird. „Hey“, sagt er, „schließlich stellen wir jetzt den Weltmeister.“ Walt Harris, ein pensio- nierter Baulöwe aus Flori- Billard-Theorien da, reist mit dem Billard- Die Meister haben 100 000 Partien gespeichert zirkus umher und ver- marktet sein „todsicheres mien, die er im Profizirkus verdient. System“. Die Billardkirche ist in kei- Sein Billardsaal wirft gutes Geld ab, ner Frage so gespalten wie dieser: Was und die Karaoke-Bar daneben erst macht einen Spitzenspieler aus? Sy- recht. stem oder Gefühl? Berechnung oder Obendrein ist er sparsam. Er be- Intuition? Die Meister haben an die wohnt mit Frau, Tochter und Tante ei- 100 000 Partien und Bilder gespeichert. ne bescheidene Dreizimmerwohnung Mit seinem System verspricht Harris im Koreaner-Viertel. Seine Eigentums- auch dem Laien den schnellen Erfolg. wohnung an Manhattans Madison Ave- Seine Bücher handeln von Einfalls- nue hat er vermietet. Die Lees ackern und Ausfallswinkeln, von Gleichungen, rund 14 Stunden am Tag, in allen mög- von den Diamantenmarkierungen an lichen Unternehmungen. Billard, Ka- den Banden und ihren Geheimnissen. raoke, Import/Export. „Wenn andere Alle Spitzenspieler hätten ihm ihre Sy- von Turnieren nach Hause kommen“, sagt er, „fallen sie ins Bett – ich fahre vom Flughafen direkt zur Billardhal- System oder Gefühl – le.“ Das zahlt sich aus. was macht Mittlerweile kann er es sich leisten, ein eigenes hochkarätiges Turnier in einen Spitzenspieler aus? seinem Etablissement auszutragen. Die „S & L US Open“ haben sich als Vor- steme verraten, selbst der große Ceule- bereitungsturnier zur WM-Runde eta- mans. bliert. Mit seinen „todsicheren“ Spieldia- Bis auf den erkrankten Ceulemans grammen hat Harris gleichzeitig ein dü- ist die Loge der Dreiband-Könige voll- steres Kapitel der amerikanischen Bil- zählig: der fahle Killer Blomdahl, der lardgeschichte beendet. Eine Verschwö- opernhafte Italiener Marco Zanetti, rung. Jahrzehntelang, so Harris, hätten Jaspers, der holländische Punk, und sich amerikanische Spieler von Willie vor allem Semih Sayginer aus Istanbul, Hoppes offiziellem System in die Irre der lacht wie ein Prinz und zaubert wie führen lassen. Hoppe habe darin ab- ein Dschinn – über Nacht hat er sich sichtlich Fehler eingebaut, damit ihm

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Werbeseite SPORT keiner auf dem grünen Tisch gefährlich werden konnte. Kein Wunder, so Har- ris, daß der amerikanische Nachwuchs in den folgenden Jahrzehnten in die Drittklassigkeit abrutschte. „Hoppe war ein finsterer Typ“, meint er. Der grauhaarige Bob Byrne, der ein passabler Trickspieler ist und öfter als Double in Hollywoods Billardfilmen eingesetzt wird, vertreibt eine eigene Reihe von Kunststoß-Videos. „Es gibt Süchtige, die können nachts nicht mehr schlafen, ohne daß sie sich ein Billardvi- deo reinziehen.“ Harris’ System hält er für „Scharlata- nerie“. Er steht zwischen den Schaulu- stigen nahe am Tisch eins. „Schau sie dir an“, flüstert er, „sehen die etwa aus, als ob sie rechnen?“ Die – das sind Sang Lee und Marco Zanetti im Scheinwerferlicht der Kame- ras. Zanetti schreitet am Tisch auf und ab wie auf der Bühne der Scala. Sang Lee sitzt reglos auf seinem Hocker. Sei- ne Lider sind halb geschlossen. Er sieht aus, als meditiere er, womöglich über ei- nem unlösbaren Bild. Billard-Zen. Familienvater Sang Lee, Fabrikant Shuler: Die neue Pool-Kultur genießen Zanetti verfehlt und schüttelt ärger- lich den Kopf. Sang Lee tritt an den len den Sieger aus – der amtierende Am Schluß hat Blomdahl mit einem Tisch, beugt sich nur leicht über das Weltmeister gegen den Ersten der Welt- Durchschnitt von 3,3 Points die beste Bild, kalt wie ein Chirurg. Eine Routi- rangliste. Der asiatische Tänzer gegen 50er-Partie seines Lebens hingelegt. Ob neoperation. Der Spielball karambo- den tödlichen Attackenspezialisten aus er Rache für Gent genommen hat, wo liert, zischt lang-kurz-lang über den grü- dem Norden. Nun werden Rechnungen ihm Sang Lee die Weltmeisterschafts- nen Filz und küßt den zweiten Ball. beglichen. krone vor der Nase weggeschnappt hat- Noch bevor er ausgerollt ist, hat Sang Torbjörn Blomdahl, der in der Nähe te? „Aber nein“, sagt er ruhig, „eine Lee bereits Stellung bezogen für den von Stuttgart mit seiner deutschen Frau Partie ist wie die andere“, doch seine nächsten Stoß. Nein – die rechnen ganz lebt, begann mit fünf Jahren zu spielen. Augen leuchten zufrieden und satt wie bestimmt nicht mehr. Mit zwölf schlug er seinen Vater, einen die eines Königstigers, der ein Hirsch- Billardgeschichte wird an einem Ne- Meisterspieler. „Von da an konnte ich kalb verdaut. bentisch geschrieben. Dort spielt sich es mir nur noch selber beibringen.“ Es ist Mitternacht an der Roosevelt der Türke Sayginer in einen Rausch. Er Blomdahl arbeitet Billard. „Andere Avenue in Queens, als die Pokale und tigert um den Tisch und stößt und löst schuften acht Stunden in der Fabrik“, die Kuverts mit den Preisgeldern über- den Blick nie von den Kugeln, er hat das reicht werden, von Sang Lee persönlich. Publikum längst vergessen, er kreidet Danach steht er am riesigen koreani- und stößt wieder, und am Ende der Par- „Ich stehe halt jeden schen Buffet, das seine Frau für Spieler tie hat er einen Durchschnitt von 3,7 Tag acht und Gäste zubereitet hat, und schüttelt Points – Rekord auf amerikanischem Hände und bedankt sich. Boden. Stunden am Tisch“ Wie ein Verlierer sieht er nicht aus. Vor der Endrunde liegen Blomdahl, Er strahlt. Eine bessere Werbung als Sayginer und Sang Lee an der Spitze. sagt er, „ich stehe halt acht Stunden am dieses Turnier kann es gar nicht geben – Bevor es ernst wird, gibt Sayginer eine Tisch.“ für seinen Laden, für Dreiband in Ame- Kunststoß-Demonstration, in der die Die Wetten stehen gegen Sang Lee. rika. Kugeln über acht Banden fegen, Bume- „Der Koreaner ist zwar Weltmeister“, Später, als die Queue-Könige in den rang-Kurven schlagen oder sich rollend flüstert Nick, der aus Minnesota ange- Kombüsen seiner Karaoke-Bar von ko- an den Längsbanden festsaugen und ins- reist ist, „aber Blomdahl ist eine Klasse reanischen Schönheiten versorgt wer- gesamt beweisen, daß Billard doch für sich.“ den, kommt im Billardsaal kurz noch nichts mit Physik, sondern nur mit Ma- Blomdahl gewinnt den Anstoß. Er einmal Spannung auf. Ein Schwarzer, gie zu tun hat. legt eine Serie von fünf Punkten vor, der angetrunken herumtorkelt, macht Die anderen Spitzenspieler applau- bevor Sang Lee an den Tisch tritt. Lee sich überhaupt nichts aus Billard. Er dieren. Sicher gibt es auch unter verpaßt. Der Schwede atmet tief durch. macht sich auch nichts aus den mahnen- den Dreiband-Großwesiren Rivalitäten, Er trifft. Und marschiert. „Der versohlt den und drohenden Worten, die ihm doch gleichzeitig verstehen sie sich als dem Schlitzauge den Hintern“, mur- von den Kolumbianern zugerufen wer- verschworene Zunftgenossen, die sich melt Gustavo, ein argentinischer Fan. den. Das Problem: Er ist bewaffnet. gemeinsam einer Geheimwissenschaft, Tatsächlich wirkt Sang Lee müde, als Bevor es zum Zusammenstoß kommt, einer seltenen Kunst verschrieben ha- bewege er sich unter Wasser. Mit je- löst Sang Lee lächelnd auch diese Stel- ben und deren Fortschritte und Spitzen- dem Fehlversuch wird sein Schritt lung. „Das hat Billard mit dem Leben Leistungen gemeinsam feiern. schleppender, lustloser. Gleichzeitig gemein“, sagt er, während der Randa- Am späten Abend kommt es zur er- beginnt der Schwede zu zaubern, zu lierer von drei kräftigen Koreanern hin- warteten Finalbegegnung: Der Schwede tanzen. Nichts lockert so sehr auf wie auseskortiert wird, „man sollte nie die Torbjörn Blomdahl und Sang Lee spie- der Erfolg. Beherrschung verlieren.“ Y

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Fußball „Blond ist in Japan gut zu verkaufen“ Nationalspielerinnen Doris Fitschen und Silvia Neid über ihre Pläne J. SCHWARTZ Umworbene Amateurinnen Neid, Fitschen: „Notfalls aufs große Geld warten“

SPIEGEL: In der vorletzten Woche haben glaubt, für soviel Geld müßten Sie ne- japanische Manager versucht, Sie bei ei- ben dem Fußballspielen noch halbtags nem Stäbchen-Essen zu einem Wechsel arbeiten. in die japanische Fußballiga zu überre- Neid: Das ist Quatsch. Wir sollen jeden den. Waren die Einkäufer erfolgreich? Tag drei Stunden trainieren. Die einzige Neid: Wir waren vier Stunden zusammen Bedingung, die wir zusätzlich erfüllen und hinterher begeistert – vom Essen. müssen, heißt: Bei Auswärtsspielen ist SPIEGEL: Und als die Uniform des Ver- Nachtisch gab es das eins zu tragen. Super-Angebot an die Silvia Neid und Fitschen: Und falls wir Fußballerinnen Neid bei der Weltmeister- und Fitschen? Doris Fitschen schaft gegen Japan Fitschen: Über Geld werden oft „Lothar Mat- spielen, sollen wir haben wir vorher gere- thäus und Franz Becken- nicht sieben oder acht, det. bauer des deutschen Frau- sondern nur ein oder SPIEGEL: Für eine Sai- en-Fußballs“ genannt. Mit- zwei Tore schießen. son sollen Ihnen telfeldspielerin Neid, 30, SPIEGEL: Kommt nach 80 000 Mark Netto- schon 1982 beim ersten Pierre Littbarski, Gui- Gehalt angeboten wor- Länderspiel einer deut- do Buchwald und Uwe den sein. schen Auswahlmannschaft Bein jetzt eine Welle Neid: Wir haben uns dabei, hat inzwischen 89 deutscher Kickerinnen geschworen, die Sum- Einsätze im Nationalteam nach Japan? men nicht zu verra- absolviert. Die Studentin Fitschen: Daß man in ten. Es ist jedenfalls Fitschen, 26, trug 73mal Japans Profiliga seit mehr, als jeder ver- das Nationaltrikot, sie gilt 1991 gutes Geld ver- mutet. als bester weiblicher Libero dienen kann, wissen Fitschen: In Deutsch- Europas. Neid und Fit- wir schon länger. Wir land müßte ich dafür schen, die 1989 und 1991 haben nun von den jedenfalls fünf Jahre Europameister wurden, Managern Informati- lang spielen. spielen beim Deutschen onsmaterial über die SPIEGEL: Frauen-Bun- Meister TSV Siegen. Liga gesehen. Die mei- destrainer Gero Bisanz sten Bilder waren sehr

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beeindruckend, von der Schrift konnten Hause bei seiner Familie zu sein. Ich bin Fitschen: Das Interesse an einer Sport- wir ja nichts entziffern. Das Wichtigste: stolz, für Deutschland zu spielen. art hängt von Einzelpersonen ab. Nur Unser gesamtes Geld sollen wir im vor- SPIEGEL: In der Fußballbranche wird wer als Athletin auch noch gut aussieht, aus bekommen, damit wir uns eine Geld als die edelste Form der Anerken- kann richtig Kohle machen. Wir haben schöne Zeit in Tokio machen können. nung geschätzt. Empfinden Sie die An- im Fußball derzeit kein Topmodel. Neid: Wie bei den Männern stehen gebote aus Japan auch als Entschädi- Neid: Nach dem Gewinn der Europa- auch hinter den Frauenteams in Japan gung dafür, daß Sie sonst zumeist unter meisterschaft habe ich nur ein lukratives große Konzerne, in unserem Fall ist es Ausschluß der Öffentlichkeit antreten? Angebot bekommen: der Playboy bot das Transportunternehmen Suzuyo. Fitschen: Nach dem Gewinn der Euro- eine fünfstellige Summe für Nacktfotos. Die Japaner haben eben schnell ge- pameisterschaft 1989 gab es einen kur- SPIEGEL: Hat Franz Beckenbauer recht, merkt, daß Frauenfußball im Kommen zen Boom. Die Mitgliederzahlen wach- wenn er sagt, die Fußballerinnen sollten ist. sen auch weiter, es wollen immer mehr etwas Flotteres anziehen? SPIEGEL: Warum wollen die Japaner Mädchen Fußball spielen. Aber am Fitschen: Natürlich. Schauen Sie sich gerade Sie verpflichten, haben die Ge- Spitzenfußball hat die Öffentlichkeit doch unsere Trikots an: Da schlottern fallen an Ihren blonden Haaren gefun- wieder kaum Interesse, es sei denn, es die Ärmel weit über die Hände hinweg. den? passiert etwas ganz Tolles. Wir stecken in Männerhosen, da ist vor- Neid: Die haben die weltbesten Fußbal- SPIEGEL: Frau Neid, Sie wirken nur ne viel zuviel Platz. Das sitzt alles nicht lerinnen bei einem Turnier in Amerika noch genervt, wenn Sie mit den fußball- richtig. Fußballtrikots werden eben nur beobachtet. Weshalb dann gerade bei spielenden Männern verglichen werden. für Männer gemacht. uns Angebote im Briefkasten lagen, wissen wir auch nicht. Fitschen: Die haben auch dunkelhaari- ge Kolleginnen angesprochen. Ich kann mir aber schon vorstellen, daß wir Blonden etwas Exotisches haben, das sich in Japan gut verkaufen läßt. Lieber wäre mir natürlich, die würden mich nur wegen meiner Leistung haben wol- len. Neid: Gott sei Dank kennen die Japa- ner ja noch keine Blondinenwitze. SPIEGEL: In zwei Jahren steht bei den Olympischen Spielen in Atlanta erst- mals Frauenfußball auf dem Programm. Fitschen: Olympia ist unbezahlbar für mich. Da will ich auf jeden Fall hin. SPIEGEL: Bundestrainer Gero Bisanz hat gedroht, ein Tokio-Aufenthalt ge- fährde Ihre Olympia-Teilnahme. Neid: Offiziell zwingt uns der Bundes- trainer zwar bisher zu nichts. Doch wie ich Bisanz kenne, wird er es nicht zulas- sen, daß wir in Japan quasi außerhalb seiner Kontrolle spielen. Und der Deutsche Fußball-Bund sieht bisher BONGARTS

keine Möglichkeit, uns für wichtige FOTOS: Spiele einfliegen zu lassen. Nationalspielerinnen Neid, Fitschen: „Wir wollen keine dicken Oberschenkel“ Fitschen: Ich würde mir schon wün- schen, daß sich da beim DFB noch was Haben Sie bei der Suche nach Anerken- Neid: Und dann werden von Fernsehre- tut, damit wir die Angebote sofort ak- nung schon resigniert? portern auch noch Witze darüber geris- zeptieren können. Sonst werden wir Neid: Ich bin es leid, immer wieder ge- sen. Natürlich will ich auf dem Fußball- wohl erst nach Olympia wechseln. Wir fragt zu werden, ob ich der Lothar Mat- feld keinen Mann aufreißen. Aber es haben so lange für’n Appel und’n Ei thäus des Frauenfußballs bin. Ich bin muß doch möglich sein, für Frauen eine gespielt – notfalls können wir auch noch kein Matthäus, dazu fehlen an meinem eigene Trikot-Kollektion zu entwerfen. zwei Jahre aufs große Geld warten. Körper die entscheidenden fünf Fitschen: Wir wollen nun wenigstens un- SPIEGEL: Da ist die Fürsorge für die Gramm. Und ich will es auch gar nicht sere Nationaltrikots femininer gestalten. Männer größer. Bundestrainer Berti sein. Wir wollen nicht so spielen wie die Bei Frauen mit kürzeren Beinen sieht Vogts hat sogar laut darüber nachge- Männer, aggressive Sprünge in die Bei- man derzeit nur Hose und Stutzen, die dacht, seine Nationalspieler mit Geld- ne der Gegner machen, auf dem Platz Beine sind total versteckt. prämien anzutreiben. rummeckern und dicke, muskulöse SPIEGEL: Auch zwölf Jahre nach dem Fitschen: Es ist schlimm, wenn Vogts Oberschenkel haben. Wir wollen tech- ersten Länderspiel fühlen sie sich als seine Nationalspieler nur noch mit Geld nisch sauberen, offensiven Fußball zei- Fußballerin immer noch diskriminiert? motivieren kann. Ich jedenfalls werde gen – Frauenfußball eben. Fitschen: Viele Männer haben ein un- mein Lebensziel Olympia nicht plötz- SPIEGEL: Im Tennis wird längst akzep- terklassiges Frauenspiel gesehen, wo lich vergessen, nur weil ich in Japan et- tiert, daß Steffi Graf langsamer auf- vielleicht auch ein paar Mollige mitge- liche Tausender verdienen kann. schlägt als Boris Becker, die Schwimme- spielt haben. Sofort hatten sie Vorurtei- Neid: Wenn ich die Nationalhymne hö- rin Franziska van Almsick ist derzeit der le. Wenn ich Männer mit Bierbäuchen re, bekomme ich immer noch eine Gän- begehrteste Sportler der Republik. in der Kreisklasse sehe, schließe ich sehaut. Mancher Mann mag ja dabei Warum haben die Fußballerinnen sol- doch auch nicht gleich auf den Gesamt- denken, daß es schöner wäre, jetzt zu che Imageprobleme? zustand des deutschen Fußballs. Y

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TITEL

WUNDERSAMES NICHTS Zahnschmerzen, die allein durch den Glauben verschwinden, Hautkrankheiten, die sich unter Hypnose bessern, Krebsgeschwüre, die sich spontan zurückbilden: Das Studium der Selbstheilungskräfte im Menschen liefert Erklärungen für die Wirkweise von – eigentlich wirkungslosen – Placebos.

under passieren sofort“, lautet kerin Hildegard Münzel lockt ein wal- losigkeit“ und von „erholsamer Einsam- einWandspruchimWartezimmer förmiger Kunststofftank die meisten Be- keit“. Die Entspannungstechnik – ne- Wvon Deutschlands derzeit wohl sucher an. In diesem „Floater“ suchen ben „Mind Machines“ einer der Knüller bekanntestem Arzt. „Das Unmögliche besonders „Schauspieler, Journalisten alternativer Apparatemedizin – soll dauert etwas länger.“ und andere Streßberufe“, wie der Pro- „körpereigene, selbstheilende Kräfte“ Heilversprechen oder Hohn? spekt verrät, für 120 Mark pro Stunde wecken, verspricht der Werbetext. Werktäglich etwa 30 Patienten suchen „sensorische Deprivation“: Von akusti- Was ist nur in die Deutschen gefah- die schmucklosen Souterrainräume im schen und optischen Signalen abgekop- ren? Als bewahre sie nicht moderne Me- Berliner Bezirk Tiergarten auf. Worüber pelt, schweben sie 60 bis 90 Minuten dizin in einem Maße vor Krankheit und sie auch klagen, ob über Kopfschmerz lang schwerelos in einer hautwarmen Leid, wie es sich noch die Generation oder Krebs, Unannehmlichkeiten durch Lake aus 1200 Litern Wasser und 600 ihrer Großeltern kaum erträumte, lau- die berüchtigte „Apparatemedizin“ blei- Kilo Magnesiumsulfat. fen sie scharenweise sogenannten Hei- ben ihnen hier garantiert erspart. Im Die Kundschaft schwört auf den lern in die Arme. Millionen wenden sich „Kahuna-Heilzentrum“, einer Art Ge- Tank, schwärmt vom „Gefühl der Zeit- ab von der High-Tech-Medizin, hin zu meinschaftspraxis für Geistheiler, ist Heilen pures Handwerk. Seit ihm „Schreinemakers“ Werbemi- nuten für eine bundesweite „Fernhei- lung“ per Fernsehen schenkte (Bild: „Dieser Mann will heute alle Kranken heilen“), kennen Millionen den appro- bierten Arzt und „Wunderheiler“ Eli Lasch, 65. Der langhaarige Medizinmann mit dem Charisma eines lebensstrengen Landstreichers und einem Professorenti- tel aus seiner zweiten Heimat Israel ver- suchte über den Medien-Äther, jene Energien unters Volk zu bringen, von de- nen er glaubt, daß sie seinen Händen in- newohnen. Laschs Warteliste ist lang, sechs Mona- te Wartezeit im Schnitt. Was treibt die Klientel in seine Praxis? Warum, anderes Beispiel, fährt ein nüchtern denkender Wirtschaftsprüfer seit einigen Jahren nicht mehr mit seiner Frau in den Urlaub? Weil er das Geld lie- ber spart, um alle zwei Jahre im Kurhotel Parkschlößchen in Traben-Trarbach mit Hilfe der indischen Ayurveda-Medizin seine „Körperintelligenz zu aktivieren“. 14 Tage lang – Kosten: rund 10 000 Mark – läßt er sich entschlacken und von indi- scher Küchenkunst verwöhnen. Der Mann ist strenger Vegetarier und übt sich seit fünf Jahren in der Transzen- BILDERBERG dentalen Meditation. Ins Parkschlöß- chen reist er, um gesund zu bleiben. „Nach jeder Kur“, sagt er, fühle er sich „wie neu geboren“.

Im „Open Mind Studio für High Tech FOTOS: S. ELLERINGMANN / Entspannung“ der Münchner Heilprakti- Entspannungsbad im „Floater“ (in München), Ayurveda-Behandlung (in Traben-

196 DER SPIEGEL 45/1994 Was aber bringt die Men- Davon unbeeindruckt nahm der schen dazu, auf der Suche nach Schmerzpatient nun täglich seine der verlorenen Ganzheit die „Medizin“ ein. Der Erfolg überrasch- Flucht nach hinten anzutreten? te ihn selbst: Das Schädelrasen blieb Ist Undank ihr Lohn für ärztli- aus. Nach einer Weile setzte er das Mit- che Leistung? Oder fehlt stu- tel auf Anraten des Homöopathen wie- dierten Medizinern etwas, was der ab. Das war vor über drei Jahren. die anderen haben? Die Migräne ist nicht wieder aufgetre- Solange Werner Naulich*, ten. 42, denken konnte, litt er un- Ein Einzelfall, der nichts beweist. ter seiner buchstäblich nieder- Dennoch zwingen Fälle wie dieser nicht schmetternden Migräne. Fast nur Homöopathen und andere Natur- alles hatte der Ulmer Archi- heiler, sondern auch medizinische Wis- Wunderheiler Lasch tekt schon versucht, dem läh- senschaftler zu Erklärungen. Pochen die Aura von stattlichen 190 Volt menden Spuk ein Ende zu ma- Anhänger der Homöopathie auf das chen. Mal wirkten die Pillen „Gedächtnis“ des Lösungsmittels und Therapieformen wie Homöopathie oder oder Spritzen, meist war der Effekt das „Ähnlichkeitsprinzip“, auf „mor- Feldenkrais, vertrauen sich anthropo- gleich Null. Auf Anraten einer Kollegin phogenetische Felder“ und ähnlich eso- sophischen Ärzten oder Heilpraktikern suchte er einen Homöopathen auf – ob- terische Zusammenhänge, behaupten an. wohl er die Methode skeptisch sah. ihre approbierten Widersacher, die Mix- Statt dankbar das Haupt zu neigen Die Untersuchung zog sich über meh- tur habe mit Sicherheit nicht gewirkt – vor den Erfolgen der aufgeklärten west- rere Stunden hin. Am Ende, als selbst weil sie in der aberwitzigen Verdünnung lichen Heilkunde, suchen mehr und privateste Dinge ausgesprochen waren, gar nicht wirken konnte. mehr Geplagte, aber auch Gesunde ihr verschrieb ihm der Naturheiler eine „Alles nur Placebo“, lautet die Stan- Heil in fernöstlicher Weisheit: Aku- Arznei aus Pflanzenextrakten und Mi- dardantwort etablierter Ärzte, sobald punktur hat Konjunktur, Taiji- und Qi- neralien – so hoch verdünnt, daß sich sie Heilerfolge durch nicht anerkannte gongkurse sind ausgebucht, „Die Fünf theoretisch höchstens jeweils ein Mole- Therapien bewerten sollen. ,Tibeter‘“ beständig auf den Bestseller- kül der betreffenden Stoffe in der Fla- Placebo: Was ist das für ein Phäno- listen und Yogaseminare Hausmännern sche befinden konnte. men, daß Dr. med. es nur wie ein Phan- und -frauen ebenso vertraut wie Mana- tom behandelt? Ist es nicht jener gute gern und Börsenmaklern. * Name von der Redaktion geändert. Geist, der auch noch hilft, wenn der Me-

Trarbach): Suche nach dem guten Geist, der auch noch hilft, wenn der Arzt mit seinem Latein am Ende ist

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dikus mit seinem Latein schon längst am rung zu guten Teilen beim Placebo leiht: unterliege der Tatbestand ärztlicher Ende ist? Die Zeitschrift der American Medical Schweigepflicht. Mit den Worten „Placebo Domino in Association veröffentlichte kürzlich ei- „Haben wir Sorge“, fragt der Berliner regione vivorum“ läuteten mittelalterli- nen Übersichtsartikel, wonach Placebo- Arzt und Pharmakologe Bruno Müller- che Christen ihre Totenmessen ein: „Ich Effekte die Ergebnisse nahezu aller Be- Oerlinghausen sich und seine Kollegen, werde dem Herrn gefallen im Reich der handlungen beeinflussen, denen Klini- „daß durch Enthüllung des Zunftge- Lebenden.“ Als später professionelle ker und Patienten Vertrauen schenken. heimnisses die Zauberkraft unseres Me- Totenwächter das Absingen des Textes In Deutschland verschreiben Ärzte dizinmanndaseins geschwächt werden als einträgliches Geschäft betrieben, sechsmal soviel Herzmedikamente wie könnte?“ wurde „Placebo“ gleichbedeutend mit etwa in England oder Frankreich. Nicht, In der Placebo-Phobie drückt sich ein Heuchler oder Ränkeschmied. daß dort koronare Herzleiden weniger Symptom der vielzitierten Krankheit Erst seit etwa 200 Jahren gebrauchen oft aufträten oder hier durch die Mas- des Gesundheitswesens aus. Denn die Mediziner das Schmähwort für den oft senmedikation wenigstens die Sterbera- Krise der konventionellen Heilkunde, einzigen Ausweg aus ihrer Hilflosigkeit: te an diesen Gebrechen geringer wäre: am deutlichsten sichtbar in der zuneh- Wer über kein bekanntermaßen wirksa- Deutschsprachige Mediziner „behan- menden Akzeptanz unkonventioneller mes Mittel verfügt, versucht Patienten deln“ lediglich eine „Krankheit“, Sym- Therapien, ist vor allem eine Krise der mit Scheinmedikamenten, mit Placebos, ptom Brustschmerz, die es fast nur in Glaubwürdigkeit. zufriedenzustellen. Deutschland gibt – die „Herzinsuffi- Nicht allein, daß Patienten anerkann- Schulmediziner, die den Begriff Pla- zienz“. ten medizinischen Methoden und ihren cebo heute im Munde führen, verleihen Ihre französischen Kollegen diagno- Anwendern immer mißtrauischer be- ihm durch das Beiwörtchen „nur“ den stizieren bei unspezifischen Symptomen gegnen. Ärzten scheint zunehmend das H. SCHWARZBACH / ARGUS Pillenzuteilung im Krankenhaus, Angiographie*: Mit dem Aufstieg der Wissenschaft begann der Abstieg des Patienten

Beigeschmack des Banalen – als sei der ähnlich häufig eine „crise de foie“, eine Vertrauen in ihre eigene Kunst und die Placebo-Effekt eine „quantite´ne´gli- Leberkrise. Dahinter verbirgt sich zu 80 traditionell wichtigste ärztliche Lei- geable“. Den meisten fällt das Einge- Prozent, was andernorts Migräne heißt. stung verlorenzugehen: Menschen zu ständnis schwer, daß manchmal doch Doch nicht der Kopfschmerzpatient, betreuen, mit ihnen gemeinsam einen sein kann, was nicht sein darf: daß vor- seine Leber wird behandelt. Weg aus dem Leid zu suchen und da- getäuschte Therapien soviel leisten kön- Schätzungsweise ein Drittel, wenn bei Placebos als Partner zu begreifen nen wie chirurgisches Geschick, daß nicht die Hälfte der von Ärzten ausge- und nicht wie Plagegeister zu verleug- Mittel ohne Wirkstoff wirken und sim- stellten Rezepte haben keine spezifische nen. ple Zuckerpillen so gut helfen können Wirkung auf die jeweils diagnostizierte Bis heute verfolgt die Medizin das wie des Druiden sagenhafter Zauber- Erkrankung – auch wenn die Behand- erklärte „Vorhaben“ des französischen trank. lung schließlich effektiv ist. Zur unspezi- Philosophen Rene´ Descartes, die Daß purer Glaube vielfach immer fischen Wirkung von Medikamenten „Maschine unseres Körpers“ losgelöst noch die beste Medizin ist – es wird ver- trägt neben Name, Form, Größe und vom Geist zu erforschen und zu verste- schwiegen und verdrängt in der Großin- Menge die Farbe entscheidend bei: hen. Der Rationalismus, die Denkwei- dustrie Gesundheitssystem mit ihren Grün hilft besser bei Angstzuständen, se der Aufklärung, erzwang nicht nur milliardenteuren Maschinenparks und Gelb bei Depression und Rot bei rheu- die radikale Beschränkung aller Er- Medikamentenarsenalen. Petr Skraba- matischer Arthritis. kenntnis auf reine Vernunft. Er ver- nek und James McCormick, Ärzte und Nach einer anonymen Umfrage ver- bannte die Seele gleichsam aus dem Medizinkritiker aus Dublin, gehen da- schreibt jeder zweite Arzt in Deutsch- Leib und machte Spiritualität zum rei- von aus, „daß die autoritäre Medizin die land regelmäßig „Pseudoplacebos“ – nen Spuk. Diskussion des Placebo-Effektes zu ver- Mittel wie Vitaminpräparate, die direkt Über dieser mechanistischen Erklä- hindern versucht“. nichts gegen Krankheiten ausrichten. rung aller Lebensvorgänge, über der Ihr Dogma läßt Doktoren freilich all- Öffentlich gibt das kaum einer zu, als bedingungslosen Herrschaft des Kausa- zuleicht vergessen, daß auch die „aner- litätsprinzips hat die moderne Medizin kannte“ Leistung sich Erfolg und Besse- * Mikrokatheterisierung des Gehirns. den Menschen aus den Augen verlo-

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ren. Über ihren Triumphen der letzten Prozent erreichen. Im Durchschnitt je- 100 Jahre haben die Ärzte den Anteil dem dritten Patienten kann durch rei- der Psyche am Dasein, an Gesundheit, nes, wundersames Nichts geholfen wer- Krankheit und Tod vergessen. den. Mit dem Aufstieg der wissenschaftli- Wenn aber nichts, was Wissenschaft chen Medizin begann der Abstieg des für wirksam hält, von außen einwirkt, Patienten. Weder die von Sigmund muß sich dann nicht logischerweise von Freud ausgelöste psychologische Revo- innen irgend etwas auswirken? lution noch die neueren Erkenntnisse Die Allgemeinärztin Katja Singer*, der Psychosomatik, daß körperliche – 37, Inhaberin einer mittelgroßen Klein- somatische – Krankheiten psychische stadtpraxis am Bodensee, versteht ihr Ursachen haben können, taten der zu- Handwerk; sie arbeitet nach den Regeln nehmenden Seelenlosigkeit der Repara- der Schulmedizin. In einem Fall aller- turmedizin Abbruch. dings hilft der Frau alles schulmedizini- Die naturwissenschaftlich orientierte sche Wissen nicht weiter: Ihre Tochter Heilkunde brüstet sich damit, nur Ver- Julia, 7, hat Warzen vom schmerzhaften fahren und Mittel einzusetzen, die – kli- Typus Verrucae plantaris unter dem lin- nisch geprüft – den Placebos überlegen ken Fuß, die der Kleinen Gehen und sind. Neue Therapien müssen sich, be- Laufen mitunter zur Qual machen. vor sie eine Zulassung erhalten, in „placebo-kontrollierten, randomisierten Doppelblindstudien“ bewähren. Damit Teilnehmer an diesen Studien nicht deren Ergebnisse beeinflussen, wissen weder Behandelnder noch Be- handelter (doppelblind), wer ein Mittel bekommt und wer zur Placebo-Kon- trollgruppe gehört. Hilft die Behand- lung eindeutig – „statistisch signifikant“ „Exakte Wissenschaft schwingt sich zur Herrin auf“

– mehr Probanden als die Scheinbe- handlung, gilt sie als wirksam und kann ins ärztliche Repertoire übernommen werden. Dementsprechend fordert die Schul- medizin auch alle unkonventionellen

Therapeuten auf, ihre Verfahren gegen GOLDNER / SIPA Placebo messen zu lassen. Die (begrenz- Philosoph Descartes te) Wirksamkeit einiger Methoden Seele aus dem Leib verbannt konnte so tatsächlich belegt werden – et- wa die der Chirotherapie gegen Kreuz- Ein Hautarzt wird konsultiert – auch schmerzen. Selbst die Homöopathie be- das ohne Erfolg. Als gar nichts hilft, stand mittlerweile eine Reihe von Prü- faßt die ratlose Mutter einen für ihre fungen, ohne daß sich die Wirkung mit Verhältnisse ungewöhnlichen Ent- den Mitteln heutiger Wissenschaft er- schluß: Sie bringt ihr Kind zu einer in klären ließe. Doch wie sollte bei Taiji der ganzen Region bekannten alten oder Kunsttherapie, dem Malen und Bäuerin, der heilende Kräfte nachge- Gestalten zum Ausgleich innerer Ver- sagt werden. spannungen, die Placebo-Kontrolle aus- Die Alte sieht sich den kranken Fuß sehen? genau an. Dann schließt sie ihre Au- „Mit ihrer Forderung nach statistisch gen und streift, Unverständliches mur- auswertbaren Studien“, sagt Peter Mat- melnd, minutenlang sanft über die thiessen, leitender Arzt am anthroposo- Warzen. Julia spürt eine angenehme phischen Gemeinschaftskrankenhaus in Wärme in ihrer Fußsohle. Dann sagt Witten-Herdecke, „nimmt die exakte die Handauflegerin: „Jetzt hammer’s.“ Wissenschaft schon längst nicht mehr ei- Sie verlangt keinen Pfennig, steckt ne dienende Rolle ein, sondern schwingt aber die angebotenen 20 Mark ohne sich zur Herrin über die Heilkunst auf“ Zögern in ihre Kitteltasche. Innerhalb – und das, obwohl schätzungsweise nur weniger Tage verschwinden die War- 10 Prozent der medizinischen Praxis tat- zen vollständig. sächlich auf solider Wissenschaft beru- Ein Einzelfall, der nichts beweist. hen. Warzen verflüchtigen sich in etwa 50 Der Anteil Sein am Schein, die meß- bare Placebo-Wirkung, kann bis zu 100 * Name geändert.

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Prozent der Fälle ohnehin von allein. zurück. Er versucht es mit einem Place- ges wie Glauben und Vertrauen etwas Hat die Bäuerin irgendwelche „Ener- bo, doch die Krankheitszeichen bleiben. so Körperliches wie Heilung fördern gien“ in den Fuß des Kindes gelenkt? Etliche Male wiederholt er den Wechsel oder gar bewirken? Gerade beim Beseitigen von Warzen vom Wirkstoff zum Placebo und zurück, Den Grundstein für die wissenschaft- und Lindern einer Reihe von Hauter- jedesmal hilft nur das Mittel. liche Entwirrung des Placebo-Parado- krankungen wie etwa Neurodermitis ist Nunmehr sicher, ein wirksames Phar- xons legten Forscher an der University die Macht mentaler Einflüsse oft beob- makon für den Asthmatiker gefunden of California in San Francisco bereits achtet worden. Umgekehrt kann Streß zu haben, bittet der Arzt die Hersteller- Ende der siebziger Jahre. In ihren Expe- Herpesbläschen und Hautallergien be- firma um Nachschub. Zu seinem Erstau- rimenten diente die Pein nach dem Zie- sonders leicht zum Ausbruch bringen. nen erfährt er, das Unternehmen habe hen von Weisheitszähnen als Ver- Insbesondere Therapien mittels Hypno- ihm vorher wegen fälschlich gemeldeter gleichsmaßstab. se sollen dagegen helfen. Bedenklichkeiten gar keine Arznei, son- Würden freiwillige Probanden das Po- Als eine „Innenwendung der Auf- dern nur Placebos geschickt. chen und Hämmern allein durch den – merksamkeit“ beschreibt Dirk Revens- Die „Droge Arzt“ hat der ungarisch- falschen – Glauben in den Griff kriegen, dorf von der Universität Tübingen die englische Psychoanalytiker und Bioche- ihnen sei ein Schmerzmittel verabreicht hypnotisch erzeugte Trance. Wie die miker Michael Balint bereits 1957 als worden? Etwa 40 Prozent reagierten tat- Psychotechnik wirkt, ist nicht bekannt. das eigentlich Menschliche beim Heilen sächlich auf Kochsalzlösung genauso Von den meisten Medizinern wird sie dargestellt. Heutzutage rät ein britischer wie auf Morphium. Allein Einbildung deshalb als Humbug abgelehnt: „Alles Mediziner namens J. N. Blau seinen oder Erwartung hatten den Schmerz nur Placebo.“ Standeskollegen in der Fachzeitschrift ausgelöscht. Aber wie? BILDERBERG FOTOS: S. ELLERINGMANN / Schlafforschung am Menschen, am Versuchstier*: Dem alten Wissen vom Heilschlaf auf der Spur

Immerhin lassen sich bei Hypnotisier- Lancet: „Der Arzt, der keinen Placebo- Es stellte sich heraus, daß der ten eine Reihe metabolischer Verände- Effekt bei seinen Patienten bewirkt, schmerzlindernde Placebo-Effekt sich rungen messen: Die allgemeine Stoff- sollte lieber Pathologe oder Anästhesist durch eine Substanz namens Naloxon wechselaktivität geht zurück, die Zahl werden.“ rückgängig machen läßt. Dieses Nalo- der für Abwehrreaktionen wichtigen B- Könnte demnach die vermeintliche xon neutralisiert die Wirkung körperei- und T-Zellen des Immunsystems nimmt Stärke der Medizin nicht mitunter ihre gener Schmerzblocker – „endogene hingegen zu. größte Schwäche sein? Auch die Zwei- Morphine“ genannt oder kurz „Endor- Placebo-Effekte hängen nicht allein fel des Arztes teilen sich dem Patienten phine“. Da Naloxon diese Blockade und vom Glauben der Patienten ab. Ähnlich mit; so könnten wissenschaftliche Ver- damit den Placebo-Effekt aufhob, muß- wie bei Hypnotherapien ist neben der siertheit und das dazugehörende Abwä- te vorher die innere Schmerzblockade Beeinflußbarkeit („Suggestibilität“) der gen von Pro und Contra am Ende eher irgendwie aktiviert worden sein. Betroffenen die Suggestivkraft von Ärz- schaden als nützen. Die Experimente verfehlten ihre Si- ten und Heilern entscheidend. Die setzt Umgekehrt mag es Verfahren und gnalwirkung nicht. Naturwissenschaftler voraus, daß auch Therapeuten von ih- Menschen geben, die glaubwürdiger und aufgeklärte Ärzte, die Psychowis- rem Tun überzeugt sind. sind als andere und deshalb heilende senschaft nicht mit Pseudowissenschaft Stewart Wolf von der University of Placebo-Effekte stärker hervorrufen. gleichsetzen, machten sich daran, den Oklahoma berichtet über einen Patien- Denn nicht Hoffnung ist der stärkste Bann des Leib-Seele-Schismas zu bre- ten, dessen Asthma auf erprobte Medi- Verbündete der Heiler, sondern Glau- chen. kamente nicht anspricht. Als der Arzt be, also Nichtwissen. Erst seit die Wissenschaftler über die von einer Pharmafirma Proben eines Welcher Art aber mögen die Berge Grenzen unterschiedlicher Fachgebiete neuen, vielversprechenden Mittels be- sein, die Placebo versetzt? Wie soll hinweg zusammenarbeiten, erst seit En- kommt, probiert er es gleich bei dem überhaupt so etwas Unfaßbares, Geisti- dokrinologen, Neurobiologen, Immu- Asthmatiker aus. Die Symptome ver- nologen, Anatomen und Psychologen schwinden umgehend, kommen aber, * Im Münchner Max-Planck-Institut für Psychia- versuchen, eine gemeinsame Sprache zu als Wolf die Medikation stoppt, sofort trie. finden, erschloß sich die Medizinfor-

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schung ein neues Feld: In einer Zeit, da und Thymus sowie in die Kirchen leer und die Kliniken voll Darm, Haut und sind, spüren die Wissenschaftler dem Lymphknoten. Allein Gemeinsamen von Religion und Medi- durch Trennen dieser zin, der Macht des Glaubens, ebenso neuronalen Verbindun- nach wie dem uralten Wissen von der gen läßt sich in Ver- Heilkraft der Seele. suchstieren die Immun- So wie die Forscher unterschiedlicher aktivität steigern oder Disziplinen nun miteinander sprechen, drosseln, lassen sich so- statt aneinander vorbeizureden, so ver- genannte Autoimmun- ständigen sich im Organismus auch die krankheiten wie rheu- von ihnen erforschten Körpersysteme matische Arthritis brem- sen oder beschleunigen. i Die bei der Abwehr akti- Läßt sich die Sprache ven, frei beweglichen des „Körpergeists“ Zellen des Immunsy- stems reagieren auf Bo- entschlüsseln? tenstoffe des Gehirns und des Hormonsy- untereinander: Das Hormonsystem, vor stems. So ist das Immun- allem aber die für unabhängig gehaltenen system über Gefühle Nerven- und Immunsysteme stehen un- und Gemütszustände tereinander in engem Kontakt, wobei je- stets informiert. der Teil mit jedem Teil kommuniziert. i Das Immunsystem sei- Alle drei sind in vielfältiger Weise zu ei- nerseits reagiert auf

nem hochkomplexen Netzwerk ver- B. BARBEY / MAGNUM / FOCUS Streß, der über eine knüpft, das von der Psyche beeinflußt Yogi auf Sri Lanka: Leidensfähig durch innere Kräfte Hormonkaskade vom wird und selbst Einfluß auf die Psyche Hypothalamus über die nimmt. mengetragen, die das Leib-Seele-Pro- Hirnanhangsdrüse zur Nebennieren- Die neue Wissenschaft mit dem Band- blem der Schulmedizin wenigstens im rinde durch Cortisol ausgelöst wird. wurmnamen Psychoneuroimmunologie Ansatz lösen können: Akuter Streß im Sinne von „ge- will die Sprache in diesem „body mind“, i Das Immunsystem läßt sich konditio- spannt sein“ kann die Abwehr anre- dem „Körpergeist“, entschlüsseln und nieren – man kann Tieren beibringen, gen, chronischer Streß, „verspannt den Inhalt der Gespräche verstehen. Das allein auf unspezifische Reize wie et- sein“, sie unterdrücken: Angst fres- gleicht etwa dem Versuch, beim Turm- wa Geruch immunologisch so zu rea- sen Körper auf. Den Schäden durch bau zu Babel den Arbeitern mit Ton- gieren, als würden sie infiziert. Wer- die unter Psychosomatikern schon bandgeräten auf den Leib zu rücken, um den sie zunächst den Sinneswahrneh- lange bekannten krankmachenden später aus dem Gewirr der Idiome die mungen, kombiniert mit Viren oder Gefühle läßt sich durch Entspan- Ideen desArchitekten zurekonstruieren. Allergenen, ausgesetzt, lernen Im- nung gegensteuern. Leib-Seele-Forscher lassen sich durch munzellen – vermittelt durch das Ge- i Gehirn und übriges Nervensystem Komplexität und Vielschichtigkeiten hirn –, das Auftreten des Geruchs reagieren umgekehrt auf Botenstoffe nicht entmutigen. In den letzten Jahren schließlich als bevorstehende Infekti- des Immunsystems – vor allem Inter- haben sie eine Reihe von Breschen in das on zu erkennen. Das Tier riecht, sein leukine können gesundheitsfördern- Dickicht geschlagen. Immunsystem wird aktiv. des Verhalten auslösen und Ent- Nicht mit esoterischen Methoden, son- i Gehirn und Immunsystem sind mit- spannung bewirken. dern mit den Mitteln rational begründe- einander verdrahtet – feine Nerven Die medizinische Forschung steht ter Wissenschaft haben sie Daten zusam- reichen bis in die Immunorgane Milz damit heute ungefähr dort, wo sich die Physik um die Jahrhundertwende be- fand. Deren mechanistische Weltsicht, ausgehend von der Mechaniklehre des englischen Mathematikers und Physi- kers Isaac Newton, hatte nicht nur die Entwicklung von Maschinen, von Technik und Industrie überhaupt erst möglich gemacht. Sie hatte zunächst auch für die Erklärung aller sicht- und meßbaren Erscheinungen ausgereicht. Da sie die Zusammenhänge von Raum und Zeit, von Energie und Materie je- doch nicht erklären konnte, stellte sich Newtons Welt als zu begrenzt heraus. Um der überkommenen Enge zu entrinnen, bedurfte die Physik eines Albert Einstein, der Materie und Energie als zwei Seiten einer Medaille begriff und Raum und Zeit relativi- stisch verknüpfte. Jetzt wartet die Me- dizin auf ihren Einstein.

R. JANKE / ARGUS Mit ihren Erkenntnissen haben Leib- Taiji-Gruppe: Bewegungsübungen zum Bewahren der inneren Harmonie Seele-Forscher immerhin begonnen,

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das Placebo-Phänomen mit wissen- schaftlichen Methoden einzukreisen. Reicht aber der Hinweis auf die Heil- kraft des Glaubens aus, um beispiels- weise die Wirkungen jener komplexen fernöstlichen Medizinsysteme zu erklä- ren, die in jahrtausendelanger Tradition gewachsen sind und bis zum Einbruch der abendländischen Wissenschaft ganz allein in der Lage waren, Menschen bei Gesundheit und am Leben zu erhalten? Besonders die asiatischen Medizin- weisheiten zeigen eine Reihe von Ge- meinsamkeiten: Sie verstehen sich als präventive Kunst und sind ganzheitlich im weitestgehenden Sinn. Da der Mensch als Teil des Universums und sein Innenleben eine Einheit darstellen, dienen richtige Ernährung, Bewegungs-

und Atemübungen genauso dem Erhalt ULLSTEIN eines harmonischen inneren Gleichge- Mediziner Hippokrates wichts wie Massage, Meditation und Was wußte der Grieche von Fernost? Entspannungstechnik. Jeder ist sein eigener Kosmos mit Fernost vergleichbar, sagt Rainer komplexen Kreisläufen von Stoffen und Landgraf, Leiter der „Arbeitsgruppe einer feinabgestimmten, vielschichtigen Verhaltens-Neuroendokrinologie“ am Balance von Kräften. Störungen des Münchner Max-Planck-Institut für Gesamtsystems, in dem Leib und Seele Psychiatrie. „Die Harmonie der Syste- eng vernetzt sind, versuchen Ärzte früh- me ist absolut notwendig für das Gan- zeitig zu erkennen. Es gilt, das Gleich- ze“ – also auch für Gesundheit. Er gewicht im dynamischen Netzwerk wie- spricht von einer „Körperharmonie, derherzustellen, seine innere Harmonie die durch das Gehirn verantwortet wiederzufinden. wird“. Ähnlichkeiten mit der Säftelehre je- Landgrafs Mitarbeiter untersuchen nes Mannes, in dessen Namen abend- unter anderem, warum und wie Fieber ländische Mediziner noch heute ihren müde macht – und sind damit womög- Standeseid sprechen, mögen rein zufäl- lich dem alten Wissen vom „Heil- lig sein. Was wußten die Griechen schon schlaf“ auf der Spur. Es ist bekannt, von Fernost, was die Asiaten damals daß bei jeder Erhöhung der Körper- von der griechischen Gedankenwelt? temperatur um ein Grad Celsius, also Schon ein Jahrhundert vor Hippokra- bei gesteigerter Energieproduktion, die tes hatte sein Landsmann Alkmaion das Aktivität des Metabolismus um rund 20 Prozent zunimmt. Umgekehrt spart im Schlaf der Or- Das Gehirn hört ganismus Energie. Beides hilft ent- bei der Immunabwehr scheidend dem Immunsystem bei In- fektionsabwehr und Beseitigung von ständig mit Abfallprodukten des Stoffwechsels. Nur: Woher weiß das Gehirn, dem die erste griechische Medizinbuch in Prosa Steuerung von Körpertemperatur und geschrieben. „Die Erhaltung der Ge- Schlaf unterliegt, von der sich anbah- sundheit beruht auf der Gleichstellung nenden immunologischen Abwehrreak- der Kräfte“, heißt es darin. „Gesundheit tion? dagegen beruht auf der ausgewogenen Bei Versuchen mit Ratten fanden Mischung der Qualitäten.“ die Münchner Forscher die Antwort: Alles vergessen, für null und nichtig Das der Genesung so förderliche „sick- erklärt im Wissenschaftsrausch der ness behaviour“, das Krankheitsverhal- abendländischen Medizin seit der Auf- ten mit Appetitlosigkeit und erhöhtem klärung, seit der Trennung von Leib und Schlafbedarf, wird von Interleukinen Seele. eingeleitet. Diese Botenstoffe sind ent- Erst in jüngster Zeit zeichnet sich eine scheidend an der Kommunikation in- Wiedergeburt der alten Ideen mit neuen nerhalb des Immunsystems beteiligt. Inhalten ab: Mit den modernen Ansät- Der Clou: Das Gehirn versteht offen- zen der Systemtheorie beschreiben Psy- bar diese Sprache. Nervenzellen besit- choneuroimmunologen die Harmonie zen „Ohren“ – sogenannte Rezeptoren als „Homöostase“, als dynamisches – für Interleukine, der Geist hört bei Gleichgewicht von Hormonen und einer der Abwehr ständig mit. Vielzahl anderer Körpersubstanzen. Bewußt oder unbewußt – mit jeder Die neuen Erkenntnisse seien durch- neuen Erkenntnis der Psychoneuroim- aus den traditionellen Vorstellungen aus munologie verwischt sich die Grenze

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Werbeseite weiter. Zeigen nicht fernöstliche Medi- tationstechniken zur Bewußtseinserwei- terung, wieweit sich ins Unter- und Un- bewußte vordringen läßt? Andererseits ertragen Fakire „bewußt“ unerträgliche Schmerzen, und tibetische Mönche er- höhen ihre Körpertemperatur, wenn sie im eisigen Himalaja-Klima beim Yoga sitzen – aber nicht durch Zittern, son- dern offenbar durch innere Kräfte, die sie Prana nennen. Wieweit geht der Einfluß der Psyche? Umfaßt er alle Bereiche der schon im Altertum gerühmten Vis medicatrix na- turae? Diese Vis, diese natürliche Heilkraft, beruht auf dem Vermögen aller Orga- nismen zur Selbstreparatur und Selbst- heilung. Sie reicht von der Fähigkeit je- der Zelle, ihre Erbsubstanz selbst zu re- parieren, über Wundheilung und das Auskurieren von Grippe und Lungen- entzündung bis hin zu den seltenen Fäl- len sogenannter Spontanremissionen: Krebsheilungen, die auf keine medizini- sche Maßnahme zurückzuführen sind. Karla Schmidtbauer* ist 26 Jahre alt, als ihre dauernde Übelkeit und der hef- tige Leibschmerz endlich eine Erklärung finden. Zuvor ist die Nürnberger Ver- waltungsangestellte „durch etliche Spe- zialistenhände gewandert“ und „überall gespiegelt worden, wo man nur rein kann“. Der schließlich diagnostizierte seltene Bauchfellkrebs wird 1987 ope- riert, ohne Erfolg. Der Tumor hat be- „Wer nicht an Wunder glaubt, der ist kein Realist“

reits Töchtergeschwülste gebildet. Die nach der Operation angesetzte Chemo- therapie wird bald wieder abgesetzt, weil sie die Krankheit offenbar noch verschlimmert. Vier Monate lang behandeln Pfleger im Krankenhaus die junge Frau nur symptomatisch, pumpen ihr täglich das sich ansammelnde Wasser aus der Bauchhöhle. Sie magert ab und wird so schwach, daß sie sich ohne fremde Hilfe nicht mehr im Bett aufsetzen kann. Nach kurzer Besserung im Sommer 1988 erleidet sie im Herbst einen so schweren Rückfall, daß sie jetzt bisweilen denkt: „Bald ist Schluß.“ Gegen Ende dieses deprimierenden Jahres beginnen die Symptome sich oh- ne jegliche ärztliche Intervention plötz- lich zu mildern. Während des folgenden Jahres gewinnt Karla Schmidtbauer an Kräften und Gewicht zurück, 1990 fühlt sie sich zum erstenmal wieder frei von Beschwerden, im folgenden Jahr nimmt die Gesundete ihre Arbeit wieder auf.

* Name geändert.

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wehr, desto machtloser die Medizin. Ir- gendwann scheint dem bösartigen Wu- chern keine Grenze mehr gesetzt. Doch selbst dann kann es einem Menschen noch gelingen, Tumoren samt Töchter- geschwülsten spontan zu beseitigen. Mit Hilfe des Glaubens, der Seele? Krebsarzt Gallmeier nennt solche Verläufe „Wunder“ – ähnlich jenen 65 unerklärlichen Gesundungen im Gefol- ge von Wallfahrten ins französische Lourdes, die ein 25köpfiges Mediziner- komitee bis heute als zweifelsfreie „Wunderheilungen“ abgesegnet hat. Mit Vergnügen erzählt der Professor eine jener Anekdoten, die Leuten seines Standes für gewöhnlich nicht leicht über die Lippen kommen: Ausgerechnet während einer Geschäftsreise ins ferne New York befällt einen Mann aus Kali- fornien ein so unerträglicher Zahn- schmerz, daß er sich gezwungen sieht, einen Zahnarzt aufzusuchen. Der Bohr-

B. LEWIS / NETWORK / FOCUS meister diagnostiziert eine schwere Juden beim Passahfest: Mit dem Tod warten, bis die Feier vorüber ist Zahnentzündung. Vor jeder weiteren Behandlung will 1992 finden sich „noch ein paar Restdin- gibt es keine etablierte klinische For- der Notfallpatient zunächst seinen „faith ge im Bauch“, ein Jahr später sehen die schung zur Selbstheilung? healer“ an der Westküste konsultieren. Ärzte „nur noch Narben“. „Krankheit“, sagt der amerikanische Der Geistheiler läßt sich die Sache er- Ein Einzelfall, der nichts beweist. Für Psychologe Robert Ader, Erfinder des klären und bietet seinem Klienten eine den Nürnberger Krebsspezialisten Wal- Begriffs Psychoneuroimmunologie, „ist Fernbehandlung an: Genau um acht ter Gallmeier, der die heute 33jährige die Ausnahme, nicht die Regel.“ Die Uhr abends solle der sich in seinem Ho- Patientin betreut und beobachtet hat, Frage, warum manche Menschen an telzimmer auf den Heiler konzentrieren. gleichwohl ein Fall von hohem Wert: Krebs erkranken, lasse sich auch an- Der werde seinerseits exakt um diese Aus solchen „Verläufen“ erhofft er sich dersherum stellen: Warum bleiben die Zeit heilende Energien über den Konti- Einsichten in die Prozesse der Selbsthei- meisten davon verschont? nent schicken. lung. Krebsforscher gehen davon aus, daß Der Geschäftsmann tut wie ihm ge- So wie das kalifornische Institute of ständig Körperzellen so entarten, daß heißen – und kurz nach acht verflüchtigt Noetic Sciences zur Erforschung wichti- sie zu Tumoren heranwachsen können. sich das Zahnweh wie von selbst. Am ger, aber wenig beachteter Phänomene In nahezu 100 Prozent dieser Ereignisse nächsten Morgen sucht er noch einmal in Medizin und Biologie eine Sammlung erledigt der Organismus das Problem, den Zahnarzt auf, zur Nachuntersu- von 1385 Spontanremissionen angelegt ohne daß es der Mensch merkt: Spon- chung der transkontinentalen Therapie. hat, kämmt nun auch Gallmeier im Auf- tanheilungen auf niedrigem Niveau. Der Dentaldoktor glaubt erst seinen trag der Deutschen Krebshilfe seine Je fortgeschrittener aber das Stadium Ohren, dann seinen Augen nicht zu Krankenakten auf solche Fälle durch. des Krebses, desto machtloser die Ab- trauen: Von einer Entzündung, einem Bislang konnte er zehn Überlebende ausmachen, bei denen die Remission der Krebsgeschwulst mit den verabfolg- ten Behandlungen nicht zu erklären ist. Allein daß solche Glücksfälle unkom- mentiert existieren, weise auf ein Man- ko medizinischer Forschung hin, ja fast auf einen Sündenfall ärztlicher Wissen- schaft, meint Gallmeier: Sie sei einseitig auf Krankheiten und deren Beseitigung per Manipulation von außen ausgerich- tet; sie erforsche die Pathogenese, die Leidensentstehung, kümmere sich aber zuwenig um die Salutogenese, die Ge- sundung, oder gar die Gesunderhaltung. Wer fragt schon, warum beispielswei- se in Tierversuchen manche Ratten oder Kaninchen auf eine Infektion gerade nicht mit Krankheit reagieren, oder auf welchen Mechanismen es beruht, daß „induziertes“ Rheuma oder künstlich ausgelöster Krebs bei manchen Tieren auftritt, bei anderen aber nicht? Warum S. ELLERINGMANN / BILDERBERG * Mit Krankenakten, im Klinikum Nürnberg. Spontangeheilte Krebspatienten*, Krebsarzt Gallmeier: „Nur noch Narben“

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vereiterten Zahn keine Spur. Eine Wun- lichkeit als in der übrigen Zeit des Jah- derheilung? res. In der Woche nach der wichtigen „Wer nicht an Wunder glaubt“, sagt Familienfeier liegt ihre Sterblichkeit um Walter Gallmeier mit vollem Ernst, den gleichen Wert höher. „der ist kein Realist.“ In ähnlicher Weise scheinen jüdische Bei Krebsheilungen hat die Nürnber- Männer mit dem Sterben zu „warten“, ger Arbeitsgruppe für solche Wunder, bis das Passahfest vorüber ist. Todge- aber auch für die viel häufigeren Erfolge weihte können manchmal Wochen am durch Operation mit nachfolgender Be- strahlung und Chemotherapie, einige Bedingungen ausgemacht: Während Fernöstliche Weisheiten Depressionen eher schädlich sind, kann erscheinen sich Traurigkeit als starkes Gefühl posi- tiv auswirken. Weinen über Wochen in neuem Licht kann helfen, die Situation zu bewälti- gen, sozusagen mit innerer Gewalt. Leben hängen, um einen Angehörigen Walter Gallmeier hat Hinweise, daß noch einmal zu sehen; danach sterben Krebsgeheilte in der Regel „keine sie innerhalb kürzester Zeit. Schöngeister“ sind, die ihre Tumoren Bewußt oder unbewußt – die Seele mit Gottvertrauen einfach wegwün- kann selbst bei Entscheidungen um Le- schen oder sich durch Lachen selbst hei- ben oder Tod Einfluß auf den Leib neh- len, sondern eher Menschen mit „gesun- men. Die Frage aber, was Glaube, Le- dem Realismus“. Irgendwann sagen sie benswille, gesunder Menschenverstand sich, „ich bin ja heute wieder nicht tot“, und soziale Geborgenheit mit physiolo-

Kunst-Therapie (in Witten-Herdecke), „Mind Machine“: Ist die Droge „Arzt“ das

und „leben einfach weiter“. Eine Bilanz gischer Wirklichkeit zu tun haben oder des bisherigen Lebens zu ziehen mit Persönlichkeit und Haltung mit Hei- dem nüchternen Ergebnis: „Das kann es lung, wird die neue Medizinforschung noch nicht gewesen sein“ gehört ebenso bis weit ins nächste Jahrtausend be- dazu wie das Gefühl, noch gebraucht zu schäftigen. werden. Ähnliche Charakteristika fand Die bisherigen Erkenntnisse öffnen der Psychologe George Solomon von bereits den Weg zu einem neuen Ver- der University of California in Los An- ständnis von Selbstheilung und Place- geles bei langzeitüberlebenden HIV-In- bo, von Erkrankung und Gesundung. fizierten. Sie weisen überdies in die Richtung ei- Lebenswille und Lebensmüdigkeit ner andersartigen – nicht unbedingt sind nicht nur Bezeichnungen für diffuse „alternativen“, aber „integrativen“, Zustände. Wer sich aufgibt und „inner- ganzheitlicheren – Heilkunde. Fernöst- lich abschließt“ mit dem Leben, das wis- liche Weisheiten erscheinen in neuem sen Krankenpfleger und -schwestern aus Licht, ebenso wie Psychotherapien und Erfahrung mit Sterbenden, der sucht -techniken. Unkonventionelle und kon- den Tod und findet ihn. ventionelle Methoden, in gewissem Ältere Amerikanerinnen chinesischer Umfang ohnehin nur zwei Seiten der- Abstammung sterben, wie Analysen selben Medaille, kommen einander nä- von Todesurkunden ergaben, in der her, und selbst sogenannte Wunder Woche vor dem Harvest Moon Festival können der Bewertung aus seriöser mit 35 Prozent geringerer Wahrschein- Sicht würdig werden.

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Wie aber läßt sich angesichts verhei- ßungsvoller Heilsversprechungen der kurierende Schamane vom kurpfu- schenden Scharlatan unterscheiden? Wunderheiler Eli Lasch – auch er be- streitet vehement jeden Placebo-Effekt bei seinem Tun – hält jeden Einzelfall angeblicher Symptombesserung schon für einen „Beweis“ seines Systems. Hier irrt der „Prof. Dr. med. (isr.)“ (Praxisschild). Denn erstens kann so wie Krankheit auch Gesundung einge- bildet sein. Und zweitens wäre es ein Beweis selbst auch dann nicht, könnte er mit seiner „Aura“ (nach seinen An- gaben stattliche 190 Volt, verglichen mit den mickrigen 3 Volt normaler Menschen) tatsächlich Glühbirnen zum Leuchten bringen. Einer statistischen Erfolgskontrolle dürfte sich seine Heilergemeinschaft wegen eines grundlegenden Problems ohnehin nicht stellen können: Die Kar- tei der Wunderpraxis weist so gut wie BILDERBERG FOTOS: S. ELLERINGMANN / eigentlich Menschliche beim Heilen?

keine Stammpatienten aus. Die Leute kommen in der Regel einmal und nie wieder. „Entweder sie sind geheilt und brauchen nicht mehr her“, flachst Lasch, „oder nicht, dann wollen sie nicht mehr.“ Dem ratlosen New Yorker Zahnarzt, von dem Krebsarzt Gallmeier so gern erzählt, ließ die „Wunderheilung“ keine Ruhe. Er rief den für das Psi-Ereignis verantwortlichen Geistheiler in Kalifor- nien an und fragte ihn, was zum Teufel er denn am Vortag um fünf Uhr nach- mittags – acht Uhr Ostküstenzeit – ange- stellt habe. „Gestern um fünf?“ fragte der Heiler verständnislos zurück. Wie er denn die verblüffende Fern- heilung des vereiterten Zahnes fertigge- bracht habe? „Fernheilung? Au verdammt, den Termin habe ich völlig verschwitzt.“ Y

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WISSENSCHAFT PRISMA

zungsmuster“ (Otte) bei Un- Cholesterin mern. Bei Greisen, so kommentiert der fällen. Bei den durch Gurt amerikanische Mediziner Stephen Hulley oder Airbag gesicherten Au- das „sehr wichtige“ Untersuchungsergeb- toinsassen kommt es seltener Entwarnung für Alte nis, könne künftig auf Cholesterin-Tests ge- als früher zu Schäden an Signalisieren hohe Cholesterinwerte stets trost verzichtet werden: „Wenn man älter Kopf und Rumpf; zugenom- Gefahr für Herz, Gehirn und Arterien? Of- als 70 ist, braucht man sich um Cholesterin men haben dafür schwere fenbar nicht: Zu diesem Ergebnis kommt keine Sorgen mehr zu machen.“ Weshalb Verletzungen an Armen und eine Vierjahresstudie der amerikanischen Hochbetagte vor Cholesterinschäden be- Beinen. Yale University, an der 997 Männer und wahrt bleiben, wissen die Forscher bislang Frauen, alle älter als 70 Jahre, als Testper- nicht. Womöglich gehören gesunde Greise Raumfahrt sonen beteiligt waren. Ein Drittel von ihnen mit hohem Cholesterinspiegel zu einem wies einen deutlich erhöhten Cholesterin- Menschenschlag, dem dank einer besonde- Himmelstrümmer spiegel auf; doch in der vermeintlichen Risi- ren Veranlagung die sonst schädlichen Blut- kogruppe kamen Herzinfarkte, Schlaganfäl- fette nichts anhaben können – ohne einen im Museum le und Gefäßverschlüsse keineswegs häufi- solchen Schutzfaktor wären sie wohl längst Nur dreimal in ihrer Ge- ger vor als bei den übrigen Versuchsteilneh- gestorben. schichte war sie für wenige Wochen Heimstatt amerika- nischer Astronauten gewe- Unfälle sen: „Skylab“, die erste und bislang einzige Raumstation Gefahr für der Amerikaner. Weltweit verursachte sie Trümmer- Arme und Beine angst und Hysterie, als sie im In den letzten zwei Jahrzehn- Juli 1979 in die Erdatmo- ten ist in Deutschland die sphäre eintauchte. Nach den Zahl der Verkehrstoten um Plänen der Nasa sollten die 58 Prozent gesunken – ein Skylab-Trümmer zwar ins Rückgang, der nach Ansicht des Unfallforschers Dietmar Otte von der Medizinischen Hochschule Hannover vor al- lem den Sicherheitsgurten zu verdanken ist. Deren Schutz-

H. KUBOTA / MAGNUM / FOCUS wirkung zeigt sich laut Otte Reisanpflanzung in China besonders deutlich seit Ein- führung der Gurtpflicht auch Landwirtschaft senschaftler Robert Even- für Kinder im Jahre 1993: In- son, besitze der neue Reistyp nerhalb weniger Monate Superreis gegen einen höheren Nährwert als sank die Zahl der bei Auto- die alten Sorten. Angebaut unfällen verletzten Kinder den Welthunger werden kann der Superreis um zehn Prozent. Die fort- Für mehr als zwei Milliarden allerdings erst in etwa fünf schreitende Ausstattung von Menschen, überwiegend in Jahren. Bis dahin wollen die Pkw mit Airbags, schätzt Ot- Asien, ist die ausreichende Experten in das Erbgut der te, werde künftig das Verlet- Versorgung mit Reis überle- Pflanze Gene eingeschleust zungsrisiko weiter senken. benswichtig. Während die haben, die sie gegen Krank- Durch die modernen Rück- vom Reis abhängige Bevöl- heiten und Schädlinge im- haltesysteme ändern sich al- kerung ständig wächst, sta- mun machen. lerdings auch die „Verlet- SPIEGEL-Titel 27/1979 gniert die Reisproduktion; sie liegt seit den sechziger Meer fallen, doch die Be- Jahren unverändert bei et- rechnungen erwiesen sich als wa 10 Tonnen pro Hektar. falsch, stärker als erwartet Nun hat das Internatio- hatte die Erdatmosphäre das nale Reis-Forschungsinstitut 77 Tonnen schwere Him- (IRRI) auf den Philippinen melslabor abgebremst. Die einen Superreis gezüchtet, Reste des Raumschiffs gin- der es auf einen Ertrag von gen in einer äußerst dünn be- 13 Tonnen je Hektar bringt. siedelten Gegend Südwestau- Diese Steigerung beruht vor straliens nieder. Im Munici- allem darauf, daß die neue pal Museum der Stadt Espe- „kompakte“ Pflanze, anders rance können viele der als herkömmliche Sorten, Trümmer jetzt besichtigt keine Schößlinge ohne Äh- werden, darunter ein Ge- ren entwickelt; zudem konn- frierkühlfach, ein Teil eines te die Zahl der Reiskörner Stickstofftanks aus Titan und pro Ähre verdoppelt werden. – erst kürzlich entdeckt – ein

Darüber hinaus, so der ame- ACTION PRESS Tank von 2,5 Meter Länge rikanische Ernährungswis- Verkehrsunfall und 1,2 Meter Durchmesser.

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WISSENSCHAFT

Bücher Wortlos von Kopf zu Kopf SPIEGEL-Autor Peter Brügge über Murray Gell-Mann: „Das Quark und der Jaguar“

einer weiß soviel über die Materie, Jaguar“**. Das wilde Tier steht als Sym- unentwegt jene Quantenmechanik im aus der alles entsteht, wie Profes- bol für die „komplexe Natur“. Spiel, von der Gell-Mann selber findet, Ksor Murray Gell-Mann, der große Fürs Ganze und Komplexe vor allem sie sei „eine der am schwersten zu Quantenmechaniker vom California fühlt Gell-Mann sich heute zuständig. begreifenden Errungenschaften der Institute of Technology (Caltech). Ist er doch ein Pionier des globalen Menschheit“. Schließlich war er es, der sich die aller- Natur- und Artenschutzes sowie Mitbe- Das ererbte, gleichfalls auf der Bewe- kleinsten Elementarteilchen ausgedacht gründer der Experimentier-Universität gung von Quanten basierende menschli- und ihnen den Namen gegeben hat: das in Santa Fe (New Mexico), in deren che Vorstellungsvermögen spricht dar- von James Joyce entliehene berühmte Computern und Simulationen sich sämt- auf eben überhaupt nicht an. Das, wor- Nonsens-Wort „Quarks“. liches Wissen von der Natur interdiszi- um es dabei eigentlich gehe, so klagt uns Danach stand ihm der Nobelpreis plinär vermengen soll. der Welterklärer von Caltech, werde ebenso zu wie die unter Physikern seiner All das hat unbestreitbar etwas mit häufig sogar von jenen Wissenschaftlern Größenordnung standesübliche philo- Teilchen zu tun und mit Teilchen von mißverstanden, die sich „seit Jahrzehn- sophische Anwandlung, uns allen neu Teilchen, welche letztlich, lehrt uns der ten tagtäglich“ damit befassen. die Welt zu erklären. Erfinder der Quarks, auch wieder „aus Auch Einstein habe daran leider vor- Von dieser Ambition wurde er jetzt sich selbst bestehen“. Und überall ist beigedacht. Deswegen bescheinigt ihm übermannt. Mit 65 richtet er sein erstes der oft mit Einstein verglichene Nach- Buch ans allgemeine Publikum, um die- fahr Gell-Mann ein bereits relativ früh sem das Unbeschreibbare zu beschrei- Kosmos des Zufalls einsetzendes „allgemeines Nachlassen ben, nämlich, wie es vom Quark zum seiner geistigen Fähigkeiten“. In Fragen großen Ganzen kommt. Und weil es Wie entstehen aus der Masse glei- der Quantenmechanik ist der Aufklärer dem allgemeinen Publikum zugedacht cher Elementarteilchen so komple- Gell-Mann geradezu unerbittlich. Da ist, hat dieses Buch einen merkwürdig xe Phänomene wie Wetter, Wäl- teilt er die ganze Menschheit in zwei exotischen Titel: „Das Quark und der der und Menschenvölker? Dieser Sorten: in Leute, die davon eine Ah- Grundfrage jeder Naturwissen- nung haben, und solche, bei denen das * Computergenerierte Aufnahme aus dem Fermi- schaft hat sich Murray Gell-Mann lab bei Chicago; das Bild zeigt eine Teilchenkolli- nicht der Fall ist. Die einen, findet er, sion, bei der ein „Top Quark“ entsteht, das im zugewandt, einer der großen Physi- unterschieden sich von den anderen, April dieses Jahres gefundene letzte von zwölf ker des Jahrhunderts. Seine Ant- was den Durchblick anbelangt, nicht ge- kleinsten, „Quarks“ genannten Materiebaustei- wort: Der Zufall ist der Schöpfer ringer als der Mensch vom Tier. nen. ** Murray Gell-Mann: „Das Quark und der Jagu- der Komplexität. Wir tierisch Zurückgebliebenen kön- ar“. Piper Verlag, München; 528 Seiten; 48 Mark. nen uns bei ihm nun aber anstrengende FERMILAB / SIPA M. HAYNES Spuren eines „Top Quark“*, Physiker Gell-Mann: „Wie kann ein Hund ein Frisbee fangen?“

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Nachhilfe holen. Wir erfahren, die winnt alles, was entsteht, die Informati- Wirklichkeit bestehe genaugenommen on für sein Fortbestehen. Zu welchem „aus unendlich vielen verschiedenen Ar- Ausmaß von Komplexität das im Laufe ten“ von Teilchen, von denen sich die der Zeit führen kann, zeigt etwas so meisten jedoch nicht nachweisen lassen. Selbstverständliches wie unser Immun- Gell-Manns Weltbeschreibung, das ist system. Darin funktioniert ein in Jahr- Tourismus im Reich des Unvorstellba- milliarden aufgespeichertes, vererbtes ren. In einer Zone, von der die Physik und verdichtetes Abwehrprogramm nun prinzipiell nur wissen kann, daß die Be- schneller als jeder elektronische Erken- wegung eines Teilchens dort unbere- nungsdienst. chenbar zufällig ist, wohingegen die Ähnlich komprimiert, daran erinnert Teilchen insgesamt wahrscheinlich das der Komplexitätsforscher Gell-Mann, Wahrscheinliche tun. steckt im menschlichen Erbgut ein Gell-Mann spielt mit der Annahme, mächtiges Vorwissen über Sprache. auf dieser Ebene entstünden Signale Und schon im tiefsten Innern eines und Impulse, die sich selbst hervorbrin- Hundes ist bereits verfügbar, was gen. Metaphysisch mutet an, was er dar- Newton als Gesetz der Schwerkraft nie- aus folgert: „Sofern das Teilchensystem existiert, erzeugt es sich also selbst.“ Das verleitet ihn nicht etwa zu from- Wird Sprache men Gedanken. Nein, aus dem Kosmos als kulturschaffendes der Teilchen organisiert sich, so läßt es sich zumindest in Computern verein- Medium überflüssig? facht vormachen, alles weitere vermut- lich selbst. Fragt sich eben, wie. derschrieb. Denn: „Wie könnte er sonst Teilchen nämlich sind ein elementa- ein Frisbee fangen?“ rer, identitätsloser Stoff – eine ungeheu- So etwas nennt Gell-Mann ein re Masse von Gleichheit. Wie sollte dar- „komplexes adaptives System“. Er aus die bekannte universale Vielfalt von meint damit die Fähigkeit zu schemati- Erscheinungsformen, Arten und Eigen- sierter Weiterorientierung nach dem arten hervorgehen können? Wie entste- bislang Geschehenen und Erfahrenen. hen aus Quarks Galaxien? Wie das noch Als „adaptives komplexes System“ er- bei weitem komplexere Phänomen Le- weise sich ganz deutlich auch „eine ben? Wie werden aus Quarks Immunsy- Hausfrau, die ein Kochrezept verfei- steme, Geschichte, Ökonomie, Biotope nert“, und jeder, der seinen Hund ab- und die Netzwerke jener Elektronik, richte oder eine Sprache erlerne. Adap- von der Gell-Mann sich im weiteren ei- tiv und komplex funktionierten Molekü- ne Art Selbstschöpfung künstlicher In- le, Organe, Organismen, Kulturen, die telligenz erwartet? Weltwirtschaft. Repräsentativ für solche Fragen er- Überall wird ständig Information aus scheint ihm eben der Jaguar. Bei einer dem Umfeld in Richtwerte für künftige seiner Expeditionen in den Regenwald Reaktionen und Dispositionen umge- glaubte er dem plötzlich Aug’ in Aug’ setzt. Daraus, wie brauchbar diese gegenüberzustehen. Seither fühlt er sich Richtwerte sind, und nicht aus einer zur Beantwortung von all dem gedrängt. Zweckbestimmung oder einem Schöp- Nun jedenfalls benennt er die beiden fungsplan resultiert dann, nach Gell- nach seiner Überzeugung ausschlagge- Mann, das Weitere. benden Ursachen der universalen selbst- Adaptive Komplexität hat in den Zel- schöpferischen Dynamik. Auf der Ebe- len der Natur stärker und früher zu je- ne der Teilchen ist das der immer neu ner Komprimierung gewaltiger Massen für Unregelmäßigkeit sorgende Zufall von Information geführt, wie sie die (und Zerfall). Weiter oben, bei den mo- meisten Menschen nur von der Black- lekularen Bewegungen, wirke das, was box im Computer her kennen. Auch in die Physik heute Chaos nennt: Unvor- der steckt ja um so mehr, je einfacher sie hersehbares, Unordnung und Um- zu Diensten sein kann. schwung erzeugende Dynamik kann sich Gell-Mann spinnt das fort bis zu ei- wegen einer winzigen Abweichung ir- nem Vernetzungsgrad, bei dem ihn die gendwo am Rande aufschaukeln. kulturellen Konsequenzen solcher Da- Der Aufschwung vom Einfachen zum tenverdichtung selber erschrecken. Komplexen wäre also diesen, naturge- Sprache, dieses kulturschaffende Me- schichtlich garantierten, Quellen von dium der Informationsübertragung von Unregelmäßigkeit zu danken. Zwischen Mensch zu Mensch, werde, stellt er sich denen müsse es wohl, glaubt Gell- vor, womöglich dadurch überflüssig, Mann, einen Zuammenhang geben. Da- daß es gelinge, konzentriertes Wissen für haben er und seine Mitarbeiter in elektronisch und wortlos aus einem Santa Fe noch keinerlei Beweis. Kopf in andere Köpfe zu übertragen. Ihre großen Theorien behindert das Gell-Mann, Sohn eines aus Wien nach nicht. Alles, was geschieht, verwandelt New York emigrierten Sprachlehrers, sich in den Augen dieser Computerphy- möchte selber von solchem Fortschritt siker in einen Datenstrom. Aus dem ge- nichts wissen. Y

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Werbeseite Datennetze Sichtbar unsichtbar Globale Datenreisen, ein begehba- rer Computer in Hausgröße: Ein weltweit einmaliges Museum erklärt die neue Medienwelt.

enn Oliver Strimpel, 41, aus dem Fenster seines Büros im sechsten WStock blickt, wird er zuweilen Zeuge eines grotesken Schauspiels. Von einem Zweimaster, gegenüber an der Congress Street Bridge vertäut, lassen johlende Touristen Holzkisten mit der Aufschrift „Tea“ ins brackige Hafen- wasser klatschen. Das Spektakel auf dem „Tea Party Ship and Museum“ in Boston soll an ei- ne Dezembernacht im Jahr 1773 erin- nern. Damals enterten Siedler, als In- dianer verkleidet, drei britische Tee- schiffe und kippten die Fracht über Bord – aus Protest gegen einen drücken- den Steuererlaß der Kolonialmacht England. Die Boston Tea Party gab das Signal zum Aufstand der 13 amerikani- schen Kernstaaten gegen die Krone. Manchmal, gesteht Strimpel, Chef des benachbarten Computer Museum, mache ihn der Kostümklamauk der Kol- legen vom Teeschiff „ein wenig nei- disch“. In seinem eigenen Haus käme er mit solch simplem Mummenschanz nicht weit: Strimpel hat sich vorgenommen, für ein breites Publikum „den Computer zu entmystifizieren“. Für die Zielgruppe, meist Kids der Nintendo-Generation und deren lern- willige Lehrer oder Eltern, muß er eige- ne Methoden entwickeln. „Die Welt wird nicht mehr von Waffen, Öl oder Geld beherrscht“, zitiert das Museums- Team den Hacker-Film „Sneakers“, „sondern von kleinen Nullen und Ein- sen.“ Mit Datenpaketen aus dieser binären Sphäre, die lautlos und sekundenschnell um den Globus rasen, können die Besu- cher des Computer Museum von Don- nerstag dieser Woche an selbst hantie- ren: Dann wird die neue Ausstellung „The Networked Planet“ (Der vernetzte Planet) eröffnet. Strimpel: „Unser Ehr- geiz ist es, das Unsichtbare sichtbar zu machen.“ Die Schau (Projektetat: zwei Millio- nen Dollar), gesponsert vom amerikani- schen Telekomkonzern Sprint, von der National Science Foundation und High- Tech-Firmen wie Apple, Hewlett-Pak-

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kard und Novell, ist das ren in Betrieb genommen: der haushohe bislang schwierigste Unter- Walk-Through Computer. Im Innern fangen des Museums. dieses begehbaren PC-Nachbaus wer- Die Besucher werden den die Datenströme auf integrierten eingeladen zu einer „Reise Videobildschirmen nachgebildet und auf dem Information auf Schrittgeschwindigkeit gedrosselt – Highway“, ein Begriff, von so kann jeder die Wege der Bits und dem laut Strimpel „selbst Bytes mitverfolgen. Computerfachleute zu- Der handfeste Ansatz gilt als Marken- meist nicht wissen, was ei- zeichen der Bostoner Museumspädago- gentlich gemeint ist“. So gen. In dem ehemaligen Hafenspeicher konzentrierten sich die können die Besucher viele Computer als Aussteller darauf, statt um- Werk- und Spielzeug ausprobieren oder strittener Zukunftsvisionen auf Knopfdruck prozessorgesteuerte die zentralen Nervensträn- Maschinenwesen tanzen lassen. ge des globalen Daten- Im April schrieb das Museum selbst transfers darzustellen. Computergeschichte, als es zur ersten Dabei werden die Muse- Auktion im weltumspannenden Daten- umsgäste, die eine indivi- netz Internet lud. Strimpels Team ver- duelle Eintrittskarte mit steigerte Hardware-Devotionalien der Strichcode erhalten, durch Computerrevolution wie den Pappmo- eine Art Datengeisterbahn dell-Computer Cardiac aus den Bell-La- geschleust. Wenn sie am Museumschef Strimpel boratorien des AT&T-Konzerns; ver- Eingang diesen Ausweis in „Den Computer entmystifizieren“ netzte Sammler konnten ihre Gebote zu ein Lesegerät einschieben, Hause auf der PC-Tastatur eintippen. können sie wählen, welche Bildschirmfi- sengeschäfte in einem Datennetz für Fi- Jetzt ist das Internet, das seinerseits gur sie durch die Ausstellung begleiten nanzmanager und bauten sogar ein vir- wiederum mehr als 32 000 kleinere soll – etwa „Max, Sozialarbeiter“ oder tuelles Flugkontrollzentrum. Über ei- Computernetze zusammenhält, selbst „Erica, Telearbeiterin“. nen Glasfaserstrang ist der Museums- Teil der Ausstellung. Mit einer Spezial- An jeder Station gibt der elektroni- tower direkt mit der US-Luftfahrtbehör- software dürfen die Besucher von den sche Führer dann Erläuterungen, der de verbunden, so daß das Publikum den Museumscomputern aus die unermeßli- Weg des Gastes wird vom Netware- zivilen Flugverkehr der USA auf einem chen Datenbestände des weitverzweig- Netzwerk mitprotokolliert. „Wir dekla- Großbildschirm beobachten kann. ten Rechnergeflechts durchstöbern. rieren den Besucher zum Datenpa- Wie sich komplexe Technologie als Von Dezember an können sich Daten- ket“, erklärt Ausstellungsleiter David anschauliches Lernerlebnis gestalten reisende auch von außen in die Ausstel- Greschler, 31, den Kunstgriff, „damit er läßt, hat das Computer Museum in den lung einwählen, deren Exponate dann ein Gefühl für den Informationstrans- vergangenen Jahren schon mehrfach auf den Monitoren der PC-Benutzer ab- port im Netz bekommt.“ beispielhaft vorgeführt. Seine Samm- gebildet werden. So bildeten die Gestalter etwa eine lung historischer Rechenmaschinen und Weniger behagliche Erfahrungen mit unterirdische Telefonzentrale nach, er- Roboter ist weltweit einzigartig. Das be- der schönen neuen Medienwelt werden lauben den Besuchern simulierte Bör- rühmteste Exponat wurde vor vier Jah- dem Museumsbesucher auch gleich bei- gebracht: Während jeder vir- tuellen Reise durch die glo- balen Netze wird der eigene Datenschatten immer länger. Denn nicht nur beim elek- tronischen Teleshopping oder beim Tanken auf Kre- ditkarte, sondern auch beim Wissenserwerb in vernetzten Bibliotheken oder Online- Datenbanken, warnt Beglei- terin Erica auf dem Bild- schirm, „landest du auf ir- gendeiner Liste“. Es gibt kein Entrinnen, lautet die ab- schließende Botschaft der Multimedia-Hosteß: „Du wirst kaum kontrollieren können, wie diese Informa- tionen genutzt werden.“ Der Beleg dafür liegt gleich darauf druckfrisch in einem Schacht unter dem Computerterminal für den Museumsgast bereit. Das

MUSCEONICO Blatt enthält ein lückenlo- ses Bewegungsprofil seines

FOTOS: T. Streifzugs durch die museale Virtuelles Flugkontrollzentrum: „Immer landest du auf irgendeiner Liste“ Netzwelt. Y

DER SPIEGEL 45/1994 225 Werbeseite

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Werbeseite Zeitschriften Umschlungen von Natur Nature, wichtigstes Wissenschafts- blatt der Welt, ist 125 Jahre alt. Wie lautet sein Erfolgsrezept?

ie kleine Glaskabine im Winkel ei- nes schäbigen Großraumbüros an Dder Londoner Little Essex Street ist die Machtzentrale. Eingegraben zwi- schen Akten, Korrekturfahnen, Brie- fen, wissenschaftlichen Büchern und Zeitschriften residiert hier John Mad- dox, 68, Chefredakteur von Nature. Nature-Jubiläumsausgabe Auf seinem Schreibtisch stapeln sich Wie schnell fließt der Strom? die Hoffnungen Hunderter von For- schern aus der ganzen Welt. Jede Wo- Am 4. November 1869 eröffnete er che treffen 200 Artikel ein, aus Labors Heft 1 mit Goethes Worten: „Natur! in Oxford, Harvard, Tokio, Heidelberg. Wir sind von ihr umgeben und um- Nur eines ist ihnen allen gemein: Die schlungen“ – und brachte damit ein Wis- Autoren glauben, eine wissenschaftliche senschaftsjournal auf den Weg, das ein- Sensation zu verkünden. mal das renommierteste der Welt wer- Ob Astronomen das Zentrum der den sollte. Milchstraße durchmustern, Geologen In der ersten Ausgabe der neuen Wo- die Vulkane am Ozeangrund erkunden chenzeitung sorgte sich ein Autor, der oder Klimaforscher das Ozonloch ver- gerade ausgehobene Suezkanal werde messen, ob Mediziner ein neues Krebs-, wieder versanden; ein Hobbyforscher Aids- oder Alzheimer-Medikament aus- glaubte, ein chemisches Verfahren ge- probiert oder Paläontologen die Kno- funden zu haben, mit dem er Weinfär- chen einer neuen Dinosaurierart ausge- ber entlarven könne; ein amerikanischer graben haben: die Berichte ihrer ver- meintlich spektakulären Entdeckungen senden sie an das Büro an der Little Es- „Wenn ein Prozent sex Street. der Leser uns versteht, Dort sind Maddox und die 14 Redak- teure von Nature – 9 Biologen und 5 wäre das viel“ Physiker – ihre Richter. Jeden zweiten der eingeschickten Artikel senden sie di- Ingenieur berichtete, daß er 7000 Mei- rekt an den Absender zurück: zu spe- len Stromkabel kreuz und quer über ziell, zu lang, zu uninteressant. Der Rest den amerikanischen Kontinent ge- wird an Koryphäen vom jeweiligen Fach spannt habe, um die Geschwindigkeit weitergegeben. Diese Gutachter sollen des elektrischen Stroms zu messen. beurteilen: Ist die Entdeckung wirklich Sodann entspann sich eine ausge- bedeutsam? Ist sie überhaupt neu? Oder dehnte Korrespondenz über die Viel- ist das Vorgetragene womöglich falsch? falt der Regenbögen, die Nature-Leser Nur jeder zehnte der eingesandten zu Gedichten ebenso wie zu mathema- Artikel passiert auch diesen zweiten Fil- tischen Erörterungen inspirierte. Auch ter. Erst dann kann sich der Autor rüh- wer bemerkenswerte Kometenschauer men, einen Nature-Aufsatz in seiner oder Himmelsfärbungen beim Sonnen- Veröffentlichungsliste zu haben – oft untergang gesehen hatte, fühlte sich entscheidend für die Vergabe von Stel- aufgerufen, darüber in Nature zu be- len, Forschungsgeldern oder den Ver- richten. lauf einer wissenschaftlichen Karriere. Erst langsam und mehr oder minder Es war der englische Naturforscher zufällig verwandelte sich diese Platt- Thomas Henry Huxley (1825 bis 1895), form des Gedankenaustauschs zwi- ein Freund von Charles Darwin, der vor schen Natur- und Technikbegeisterten 125 Jahren die Gründung von Nature als in eine wissenschaftliche Zeitschrift. Zeitschrift für Amateurforscher und ge- Doch schon in den ersten Ausgaben bildete Laien und zugleich als Propagan- zeichnete sich das Erfolgskonzept ab, dablatt der neuen Darwinschen Selekti- das bis heute die einzigartige Rolle von onstheorie vorantrieb. Nature im Wissenschaftsbetrieb sichert:

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WISSENSCHAFT

i Nature berichtete über alle Bereiche der Naturforschung. Das schützte vor zu starker Spezialisierung. Nur was von fachübergreifendem Interesse schien, galt als geeignet zur Veröf- „Filtern und zensieren“ fentlichung. i Von Anfang an spielten nicht redak- Interview mit John Maddox über die Rolle seiner Zeitschrift Nature tionelle Beiträge, sondern Leserbrie- fe die zentrale Rolle. Das garantierte wissenschaftliche Qualität. Denn SPIEGEL: Mr. Maddox, wie wird Na- achtersystem zuviel Macht aus. Die schon bald begann die kleine Ge- ture im Jahre 2119, in 125 Jahren, Informationen würden gefiltert . . . meinde der Naturforscher Englands aussehen? Maddox: . . . sogar zensiert: Wir ha- die Möglichkeit zu nutzen, ihre neue- Maddox: Nature wird wöchentlich er- ben uns zum Beispiel geweigert, die sten Erkenntnisse in Form von Leser- scheinen, gedruckt auf Papier. These von Peter Duesberg zu veröf- briefen zu veröffentlichen. SPIEGEL: Unter Physikern und fentlichen, nicht HIV, sondern Dro- i Die Redaktion förderte die Debatte. Astronomen ist es schon heute üb- genkonsum sei die Ursache von Aids. Der wissenschaftliche Schlagabtausch lich, wissenschaftliche Ergebnisse Erstens halte ich das für unverant- sorgte für spannende Lektüre. über internationale Datennetze wie wortlich, weil es die Bemühungen un- i Die Redakteure verstanden sich als das Internet zu publizieren. Wozu tergräbt, die HIV-Verbreitung zu Journalisten – Entdeckungen und wis- sollten sie noch gedruckte Zeitschrif- stoppen. Und zweitens konnte Dues- senschaftliche Entwicklungen wurden ten wie Nature lesen? berg keines seiner Argumente bele- kommentiert, die Fol- gen. gen diskutiert. SPIEGEL: Mit Ihren Kommentaren In den dreißiger Jah- mischen Sie sich auch in die Politik ren dieses Jahrhunderts ein. war Nature mit diesem Maddox: Ist das nicht Teil unserer Konzept zu einer inter- Verantwortung? Nehmen Sie die be- nationalen Institution mannte Raumfahrt: Natürlich ist es geworden. ungemein wichtig, das Sonnensystem In Nature berichtete zu verstehen, aber dazu Menschen ins Lise Meitner, daß Otto All zu schießen ist ein Irrweg. Instru- Hahn die Kernspaltung mente im Weltraum reichen völlig gelungen war, und stell- aus. ten Francis Crick und SPIEGEL: Ethische Fragen, wie sie bei James Watson ihr Dop- der Genmanipulation auftauchen, pelhelix-Modell des Erb- sind schwieriger zu beantworten. moleküls DNS vor. Maddox: Wir sind befremdet, warum Durch Nature erfuhr die besonders die Deutschen so empfind- Welt vom Fund der älte- lich reagieren, sobald es irgendwie sten Menschenknochen. um Genmanipulation geht. Das kann Seit 14 Jahren verwal- doch nicht allein aus der schlechten tet der Physiker John Erfahrung der dreißiger Jahre her- Maddox die Redaktions- rühren. Wir glauben zwar auch, daß zentrale in der Little Es- Genforschung Kontrolle erfordert, sex Street. Er übernahm aber die Haltung der deutschen Wis- die Leitung eines Blat- senschaftler ist unvernünftig. tes, dessen Leserschaft SPIEGEL: Zeigt die Debatte über die

in Zirkel von Speziali- G. MENDEL / NETWORK / FOCUS Vererbung von Intelligenz nicht, wie sten zerfiel. „Wenn auch Nature-Chefredakteur Maddox sich Genetik in den Dienst des Rassis- nur ein Prozent der Leser alle Artikel „Deutsche zu empfindlich“ mus stellen läßt? Plötzlich heißt es versteht, wäre das viel“, sagt Maddox. wieder, angeblich wissenschaftlich Trotzdem hat er die Auflage auf 55 000 Maddox: Unsere Rolle als Schwarz- belegt, Schwarze seien dümmer als Exemplare fast verdreifacht – immer auf-Weiß-Medium wird sein, die Weiße. noch eine kleine Zahl, hinter der sich je- Aufmerksamkeit auf das Interessan- Maddox: Erstens gibt es keine ab- doch ein gewaltiger Einfluß verbirgt. te in der Forschung zu lenken. strakte Größe namens IQ, die allein Denn seine Kommentare sind un- SPIEGEL: Im Internet findet bereits von Genen abhängt. Und zweitens ist ter Molekularbiologen, Klimaforschern eine Art Dauerkonferenz unter Wis- seitlangem bekannt, daß Umwelt und und Astrophysikern gefürchtet, zumal senschaftlern statt. Ist damit nicht Erziehung starke Einflüsse auf die In- sie auch in den Wissenschaftsredaktio- auch der teure Tagungstourismus telligenz haben. nen von Tageszeitungen, Magazinen, überholt? SPIEGEL: Trotzdem wird es immer Radio- und Fernsehsendern gelesen Maddox: Ich glaube, wir brauchen wieder Wissenschaftler geben, die werden. sogar noch mehr Diskussionen von ähnlich absurde Ideen hoffähig ma- Das gibt Maddox die Macht, darüber Angesicht zu Angesicht. Auch wenn chen. zu entscheiden, wann Amerikaner aus die Fakten über die Netze verfügbar Maddox: Es ist eben das Pech von der New York Times, Engländer aus der sind – Ideen lassen sich nur persön- Leuten der politischen Rechten, daß Times und Deutsche aus dem SPIEGEL lich vermitteln. sie sich so häufig Sachen verschrei- Nachrichten von der Entdeckung des SPIEGEL: Wissenschaftler werfen Ih- ben, die wissenschaftlich keinen Sinn Lebens erhalten, vom Ozonfraß in der nen vor, Nature übe mit seinem Gut- haben. Stratosphäre oder vom Urknall, mit dem die Welt begann.

DER SPIEGEL 45/1994 229 Werbeseite

Werbeseite .

WISSENSCHAFT

Zahnmedizin Murks im Mund In deutschen Zahnarztpraxen wird gepfuscht. Zwei Studien liefern Beweise.

eit 15 Jahren bohrt Dr. med. dent. Eberhard Riedel, 41, Karies aus, Sbaut er Kronen und Brücken ins Gebiß seiner Kunden. Jetzt zieht er ge- gen seine Kollegen zu Felde. In 10 bis 35 Prozent der deutschen Zahnarztpraxen, behauptet der Münch- ner Zahndoktor in seinem soeben er-

schienenen Buch, sei „Pfusch in der täg- W. WEBER lichen Arbeit ständige Realität“*. Aller Zahnarztkritiker Riedel: „Hasardeure am Bohrgerät“ Zunftschelte vorgreifend, bekennt sich der Verfasser selbst als Nestbeschmut- gen werden mußte. Bei sieben Prozent nerhalb des ersten Jahres nach der Be- zer: Das „Nest“ der Zahnbehandlung, der gefüllten Zähne kam es zu einer handlung, jeder zehnte Zahn muß späte- schreibt Riedel, sei „schmutzig, ja, es identischen Wiederholungsfüllung. stens nach Ablauf des zweiten Jahres ge- starrt an vielen Stellen vor Dreck“. Viel Pfusch fanden die BKK-Kontrol- zogen werden. Das vernichtende Urteil über die Kol- leure auch bei der Wurzelbehandlung Kaum besser fielen die Ergebnisse im legenschaft fällt der Münchner Zahnarzt (Endodontie): Sie sei „das Fach, das in Bereich zahnärztlicher Prothetik aus, aufgrund von Erfahrungen, die er als der deutschen Zahnheilkunde am we- die der Münsteraner Uni-Kliniker Rein- von Gerichten bestellter Sachverständi- nigsten beherrscht wird“, konstatiert hard Marxkors mit seinen Mitarbeitern ger, etwa bei Schmerzensgeldprozessen Riedel. Die BKK-Studie ergab, daß nur bewertete. Von insgesamt 2974 unter- gegen Kollegen, sammeln konnte. Vor bei drei von vier Wurzelbehandlungen suchten Zahnersatzarbeiten wurden nur allem aber hat der Autor die Ergebnisse das Röntgengerät wie vorgeschrieben – knapp 26 Prozent als perfekt oder gut zweier Studien ausgewertet, die das einmal zu Beginn der Kanalbehandlung, eingestuft. 22 Prozent wurden korri- Bundesgesundheitsministerium in Auf- dann noch einmal am Ende zur Quali- giert. Der Rest, also mehr als jede zwei- trag gegeben hatte, um die Qualität der tätskontrolle – eingesetzt wird. te Prothese, Brücke oder Krone, mußte zahnmedizinischen Versorgung zu un- Die Folge: Sieben Prozent der wurzel- gänzlich neu gefertigt werden. tersuchen. behandelten Zähne müssen bereits in- Nicht nur Art und Menge der Kunst- Die beiden Studien, die eine wurde fehler, auch die Verursacher konnten vom Bundesverband der Betriebskran- anhand des BKK-Datenmaterials ermit- kenkassen (BKK), die andere an der telt werden. Danach lieferten 63 Pro- Poliklinik für Zahnärztliche Prothetik zent der erfaßten Zahnärzte überdurch- der Uni Münster ausgeführt, sind schnittlich gute Arbeit ab. „wegen ihrer entlarvenden Ergebnisse 17 Prozent aber lagen in der untersten bei den Zahnärzten höchst unbeliebt“ Leistungskategorie – wobei es laut Un- (Riedel). Sie beweisen, daß viele Zahn- tersuchungsergebnis „immer die glei- ärzte ihr Handwerk nicht beherrschen chen Behandler“ waren, die stümper- oder ihre Arbeit schlampig verrichten. hafte Arbeit leisteten. So wurden im Rahmen der BKK-Un- Wird das BKK-Ergebnis auf die ge- tersuchung die Zahnbehandlungsergeb- samte Zahnärzteschaft hochgerechnet, nisse von 17 642 Versicherten über ei- gibt es in Deutschland an die 10 000 nen Zeitraum von sieben Jahren ausge- Zahnärzte, vor denen Riedel jeden wertet. Ergebnis: Viele Zahnärzte erle- warnt, dem „sein Wohlbefinden und digen nicht einmal die täglich dutzend- Aussehen etwas bedeuten“. Diese fach anfallenden Routineaufgaben kor- Nichtskönner bilden laut Riedel einen rekt. „immens dicken zahnärztlichen Boden- Beim Studium der Kassenunterlagen satz“, gehören aber meist zu jenen entdeckten die BKK-Experten, daß in „Hasardeuren“ am Bohrgerät, die das einem Zeitraum von drei Jahren nach meiste Geld verdienen. der Behandlung jede vierte Füllung Je schlechter diese „Zahnkaputtkund- nachbehandelt und jeder fünfte Zahn ler“ arbeiten, desto höher sind ihre ganz oder teilweise erneut plombiert, Rechnungen. Riedel: „Tatsächlich wird wurzelbehandelt, überkront oder gezo- in der untersten Leistungsschublade das

C. PREKER meiste Geld verdient.“ * Eberhard Riedel: „Patient beim Zahnarzt“. Uni- Zahnmediziner Marxkors Das treibt die Kassenkosten für Zahn- versitas Verlag, München; 248 Seiten; 34 Mark. Mangelhafter Zahnersatz behandlungen immer schneller in die

DER SPIEGEL 45/1994 231 WISSENSCHAFT

Höhe. Noch vor sieben Jahren nahmen die Kassenzahnärzte – mit einem durchschnittlichen Jahresumsatz von derzeit 650 000 Mark pro Praxis ein- deutig Weltspitze – knapp sechs Milli- arden Mark ein. In diesem Jahr dürfte dieser Betrag in den alten Bundeslän- dern auf knapp elf Milliarden Mark hochschnellen. Ein Ende der Honorarspirale ist, wenn niemand eingreift, kaum abseh- bar. Die Schuld, meint Riedel, treffe alle Beteiligten, auch die Patienten, die sich um den Murks in ihrem Mund mehr als bisher kümmern sollten. Aber auch den Kassen lastet Riedel eine Mittäterschaft „bei der Kosten- treiberei“ an; zu selten beschreiten sie bei Zahnarztfehlern den „manch- mal schwierigen Weg der Regreßnah- me“. Immerhin machen einzelne Kassen- verbände neuerdings mobil gegen den Pfusch in den Zahnarztpraxen. So ent- warfen sie einen Mustervertrag, der Zahnärzten höhere Honorare zusichert, wenn sie für Zahnfüllungen statt der gesetzlich vorgeschriebenen zweijähri- gen eine doppelt so lange Garantiezeit gewähren. Für überkronte Zähne wur- de die Garantiezeit von vier auf sechs Jahre ausgedehnt. Die Standesfunktionäre halten solche Neuerungen für kränkend und über- flüssig. „Verbesserungen einer zahn- ärztlichen Leistung“, meint Ralph Gut- mann vom Freien Verband Deutscher Zahnärzte, „sind im Moment nicht nö- tig. Unsere Leistung ist gut.“ Noch besser ist das Einkommen der Zahnbehandler. Im Durchschnitt bringt es ein deutscher Zahnarzt derzeit auf 200 000 Mark brutto pro Jahr; vier Pro- zent der Zahnärzte zählen mit einem Jahresbruttoeinkommen von über 500 000 Mark zu den Großverdienern der Branche. Solche Spitzenkräfte haben laut Rie- del klar erkannt, daß „nicht die fach- lich-zahnmedizinische Kompetenz den wirtschaftlichen Erfolg einer Praxis“ garantiert, sondern eine „souveräne Kenntnis aller Abrechnungsschliche“. Wie trickreich die Zahnärzte taktie- ren, wenn es ums Geld geht, bewie- sen sie erst wieder im letzten Monat. Die ihnen nach dem Gesundheits- strukturgesetz für 1994 zugewiesene Honorarsumme, so machte die Kas- senzahnärztliche Bundesvereinigung geltend, sei – weil viel zu knapp bemes- sen – bereits nach drei Quartalen aus- geschöpft. Wenn das der Wahrheit entspräche, so rechnete der Ulmer Humangeneti- ker Horst Hameister in einem Leser- brief an die Süddeutsche Zeitung vor, dann hätten die Zahnärzte in den „letz- ten neun Monaten ihr Einkommen um 33 Prozent gesteigert“. Y

232 DER SPIEGEL 45/1994 TECHNIK

ren ist die Fraunhofer-Technik noch im Mit Boses „Auditioner“, bestehend Computer Entwicklungsstadium. aus einer Macintosh-Workstation mit „Mit unserem revolutionären Sy- eingebautem Audio-Computer und ei- stem“, erläutert Bose, „ist es zum er- nem speziellen Playbackgerät, soll sich stenmal möglich, den Ton nahezu das in Zukunft ändern. Verworrene identisch zu produzieren, den man hö- Das System errechnet aus den einge- ren wird, wenn das Gebäude fertigge- scannten Bauzeichnungen, den vorge- stellt ist.“ Unverständliche Lautspre- sehenen Materialien und den über Pfade cherdurchsagen in Flughäfen, schallto- Bildschirmmenüs ausgewählten Kom- te Ecken in Kirchen und teure Ton- ponenten einer projektierten Beschal- Mit einem neuartigen Audio-Com- pannen wie im Bonner Bundestag sol- lungsanlage für den geplanten Raum puter läßt sich die Akustik len sich damit in Zukunft vermeiden ein virtuelles Soundmodell (siehe Gra- lassen. fik). geplanter Säle im voraus testen. Bisher waren die Akustikdesigner In einer Kirche in Framingham, US- bei ihrem Bemühen, die Raumakustik Staat Massachusetts, wo auch die Bo- ie Bonner hatten bei der Planung zu optimieren, eher auf Erfahrung als se-Fertigungshallen liegen, führen die an nichts gespart: 256 Millionen auf Meßwerte angewiesen. Die weni- Akustiker ihr System interessierten DMark kostete der pompöse Bun- gen zur Verfügung stehenden Parame- Fachleuten vor. Dabei zeigte sich, daß destagsbau, 6,5 Millionen allein die ter reichten nicht aus, den Weg der selbst Experten bei verbundenen Au- hochmoderne, mikroprozessorgesteuer- Schallwellen zwischen der Quelle und gen nicht festellen können, ob sie den te Audioanlage mit Funktionskontrolle dem Ohr der Rezipienten zu ergrün- tatsächlichen Raumklang oder den si- für jeden einzelnen Lautsprecher. Doch die vertrackte Akustik versag- Konzertsaal im Rechner te. Es klappte nicht mit der „richtungs- bezogenen Beschallung“ nach einem „Auditioner“- System von Bose aus den USA übernommenen Prinzip. 1 Die Bauzeichnun- „In jedem Kuhstall funktioniert das Mi- gen und vorgese- krofon besser“, klagte 1992 CSU-Lan- henen Materialien für desgruppenchef Wolfgang Bötsch. einen Neubau werden Zehn Monate dauerte es, bis die Abge- in den Rechner ein- ordneten den akustisch nachgebesser- gegeben. ten Bau endlich in Besitz nehmen konnten. Die große Blamage mit nachteiliger Auswirkung auf das High-Tech-Image Deutschlands wäre vermieden worden, wenn die Bonner die verworrenen We- 3 Per Mausklick ge des Schalls in dem kreisrunden Glas- kann sich der Planungsingenieur an jeden palast vorher hätten ermitteln können. 2 Anhand der ein- beliebigen Ort etwa eines gegebenen Daten Doch seinerzeit gab es noch keine Mög- geplanten Konzert- oder simuliert das Rechner- lichkeit, ein realistisches Soundmodell Hörsaals begeben. system die akustischen für eine erst auf dem Reißbrett existie- Über die beiden Stereolaut- Verhältnisse für jeden rende Räumlichkeit zu erzeugen. sprecher des „Auditioners“ Punkt des geplanten Jetzt hat der Akustikprofessor Amar vernimmt er ein realitäts- Neubaus. Bose vom Massachusetts Institute of getreues Klangbild, wie es Technology (MIT) in Cambridge bei für die betreffende Hörposi- Boston und Chef der nach ihm be- tion im fertigen Neubau zu nannten Lautsprecherfirma ein System erwarten ist. vorgestellt, mit dessen Hilfe Planer wie Bauherren schon vor Baubeginn in ei- den, denn, so Amar Bose, „der Schall mulierten Sound aus dem Auditioner nen Saal oder eine Halle hineinhören wird in einem ganz normalen Raum hören. können: Mit eigenen Ohren können sie hunderttausendfach reflektiert“. Eine Firmenchef Bose, der nach wie vor erleben, wie sich ein Festredner oder ordentliche Akustik in allen Bereichen zweimal die Woche MIT-Studenten in ein Kammerorchester, eine Jazzband eines neuen Saales, einer Halle oder ei- die Geheimnisse des Schalls und seiner oder eine Koloratursängerin an jedem ner Arena konnte daher niemand garan- Verbreitung einweiht, ist von der Qua- beliebigen Platz des Raumes künftig tieren. lität des Systems dermaßen überzeugt, einmal anhören werden. Zwar entstanden auch im vorelektro- daß er – das gab’s noch nie – eine Ga- Neun Jahre haben Bose und seine nischen Zeitalter Opernhäuser mit ex- rantie für die Tonqualität in Räumen Tontechniker experimentiert und ge- zellenter Akustik, doch zwingen ließ gibt, die seine Spezialisten im Ent- rechnet, bis sie das neuartige De- sich der gute Ton bis heute nicht. Als wurfsstadium mit Hilfe des Auditioner signwerkzeug perfektioniert hatten, ein 1869 das Wiener Opernhaus gebaut optimiert haben. Wenn es hernach Gerät, von dem Architekten, Sound- wurde, bemängelten Kritiker die für die nicht klappt, übernimmt Bose die da- ingenieure und Akustikdesigner bisher Akustik angeblich schädliche Innenar- durch entstehenden zusätzlichen Ko- nur träumen konnten. Zwar arbeiten chitektur des Auditoriums. Heraus kam sten. auch Experten des Stuttgarter Fraunho- eine vorbildliche Musikarena. Knapp In Bonn hätten mit dem System wo- fer-Instituts für Bauphysik an einem 100 Jahre später, als New York eine möglich an die zwei Millionen Mark ge- Rechnersystem zur Schallanalyse; mit neue Philharmonie baute, wurden die spart werden können. Soviel mußte für seiner Hilfe wurde der neue Bonner letzten Erkenntnisse der Akustik einge- die Nachbesserung des verkorksten Plenarsaal akustisch nachgebessert. bracht, vergebens: Der Konzertsaal ern- Sounds im neuen Plenarsaal aufgewen- Doch im Gegensatz zum Bose-Verfah- tete vernichtende Kritiken. det werden. Y

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KULTUR SZENE

Film Intellektuelle Bei Sempel Dialog oder Schlag? unterm Sofa So sieht er aus, der gängige Der Exil-Iraner und deutsch schreibende Avantgarde-Film: schnelle, Lyriker Said („Wo ich sterbe, ist meine verrissene Schwenks mit Fremde“), 47, über einen offenen Brief der Handkamera, schlechtes iranischer Autoren zur Meinungsfreiheit Licht, unverständlicher Ton, brutale Schnitte, unmotivier- SPIEGEL: „Freiheit des Wortes und der te Wechsel von Schwarzweiß Veröffentlichung“ – nach 15 Jahren Mul- zu Farbe. Der Hamburger lah-Herrschaft fordern 134 iranische Auto- Filmemacher Peter Sempel,

ren öffentlich ihre Rechte. Eine Verzweif- I. OHLBAUM 40, beherrscht dieses Genre lungstat? Said perfekt. Zwei Jahre lang Said: Ja, aber auch der Versuch eines folgte er Jonas Mekas, 71, Durchbruchs. SPIEGEL: Bleibt es beim alleinigen Protest dem Leiter der Anthology SPIEGEL: Der Brief wurde an alle irani- der Autoren? Film Archives in New York, schen Zeitungen gesandt. Said: Journalisten haben bereits ihren eige- mit der Kamera. „Jonas Said: . . . und einige, die von einschlägiger nen Brief geschrieben, warten aber mit der in the Desert“, Sempels Seite angerufen wurden, haben ihn unter- Veröffentlichung noch ab. Auch Film- und zweistündige Dokumentation drückt. Theaterkünstler planen eine Petition. über den Mentor der unab- SPIEGEL: Was charakterisiert die Petenten? SPIEGEL: Ihre Prognose? hängigen Filmemacher in den Said: Es sind nichtreligiöse, laizistische Au- Said: Die Zeit ist reif für eine große Ent- USA, nähert sich ihrem sym- toren. Von den proislamischen Autoren, scheidung. Schlägt die Regierung zurück, pathischen Helden rein im- die in den vergangenen Monaten gegen die wird es ein harter Schlag sein. Beginnt sie pressionistisch. Wie Staub Regierung protestiert haben, ist keiner da- einen Dialog, dann könnte sie die Kontrol- unterm Sofa kehrt Sempel bei. le über den Dialog verlieren. seine Cine-Schnipsel zusam- men. Auch Freunde von Me- kas erscheinen zu Kurzauf- Bücher tritten. So entzündet Yoko Ono ein Streichholz und phi- Lebenshilfe losophiert über die Vergäng- lichkeit, Nina Hagen besingt für Bluffer die Liebe, während Dustin „Die Pfeife“, schreibt der bri- Hoffman nur sein vergrämtes tische Philosophie-Professor Gesicht in die Kamera hält. Jim Hankinson, „läßt den Der jetzt in deutschen Kinos Rauchenden wissend erschei- anlaufende Film weckt sogar nen.“ Und wissend will er er- Neugier auf die verschlunge- scheinen – der Bluffer. Auf 64 ne Biographie des in Litauen Seiten gibt Hankinson ein blit- geborenen Jonas Mekas. Be- zendes Privatissimum, wie friedigen kann er sie jedoch man in philosophischen Dis- nicht. kursen mithalten kann, auch wenn man Platon nicht von Plotin unterscheiden kann. („Mitreden beim Thema: Phi- losophie“. Humboldt Ta- schenbuchverlag). Das Werk ist dem „ambitionierten Bluf- fer“ gewidmet, spannt den Bogen von Heraklit bis Derri- da und kommt zu dem Schluß: „Die meisten philosophischen Probleme existieren nur für die Philosophen.“ Hankin- sons Lebenshilfe ist Teil einer Reihe, die das Mitreden auch bei anderen Themen erleich- tert, Journalismus etwa. Der Philosophie-Bluffer aber greift zur Pfeife, spricht von „kontrafaktischen Bedingun- gen“ und läßt fallen, daß der Stoiker Krinis „vor Schreck

starb, als er eine Maus quie- P. SEMPEL ken hörte“. Mekas

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KULTUR J. DIRAND P. SAYER Segal-Leichthaus H. V. SCHAEWEN Bofill-Tempelhaus (Modell) Starck-Holzhaus Selbstbau-Häuser prominenter Architekten: Ratlose Kunden auf einem Stapel von Plänen?

Architektur URHÜTTE IM BAUKASTEN Je teurer das Bauen in Deutschland wird, desto lauter ertönt der Ruf nach billigen „Swatch“-Häusern. Doch die Vorschläge moderner Architekten für preiswerte und trotzdem schöne Eigenheime blieben folgenlos. Nun hat der französische Designer Philippe Starck ein neues Projekt gestartet: ein Holzhaus zum Selberbauen.

as hat man dem kleinen Mann Dabei müßte sich die Ministerin nur dratmeter große Haus in Eigenregie nicht alles versprochen“, seufzte ein wenig im dunklen Wald von Ram- bauen. Preis des Musterkoffers: 1430 WGilbert Keith Chesterton, „das bouillet bei Paris umschauen. Dort hat Mark. Geschätzte Kosten für Material Land Utopia, den kommunistischen sich der französische Stardesigner Phil- und Arbeitslohn: zwischen 230 000 und Zukunftsstaat, das neue Jerusalem, ippe Starck, 45, ein Holzhaus hinge- 290 000 Mark. selbst ferne Planeten. Aber er wollte baut. Nach Möbeln, Haushaltsgeräten Der Vorschlag ist nur zur Hälfte eine immer nur eines: ein Haus mit Gar- und teuren Inneneinrichtungen entwarf ernstgemeinte Hilfestellung für Häusle- ten.“ Schon 1920 hat der englische Starck erstmals ein Eigenheim: Statt ei- bauer, die mit dem Designstandard der Schriftsteller den Deutschen aus der ner Millionärsvilla ist dabei eine ruppi- Fertighausindustrie nicht zufrieden sind. Seele gesprochen. 90 Prozent der Bun- ge, aber großzügige Urhütte aus Glas Wichtiger ist dem Erfinder die Provoka- desbürger geben bei Umfragen an, ihr und Baumstämmen herausgekommen. tion: „Ich will das Monopol der Bauin- Wohnideal sei das freistehende Einfa- Obwohl Starck von jedem Besucher dustrie und der Architekten brechen“ milienhaus im Grünen. Doch nur jeder eine schriftliche Einwilligung verlangt, (siehe SPIEGEL-Gespräch Seite 237). dritte kann sich diesen Traum erfüllen. niemandem den Standort des Holzhau- Während beim Versandhaus Trois Um so mehr wird derzeit vom mo- ses zu verraten, will er mit seiner Haus- Suisses die Bestellungen erst zögerlich dernen Billighaus geredet, das auch idee ein Millionenpublikum erreichen. anlaufen, sorgt Starcks Initiative in schön ist. Do-it-yourself-Magazine Im neuen Katalog des französischen Deutschland schon für Entrüstung. preisen Baukasten-Häuser zum Sel- Versandhauses Trois Suisses, einer „Unsere Hersteller bieten längst Selbst- berbasteln an, deren architektoni- Tochter des Hamburger Otto Versands, bau-Häuser für weitaus weniger Geld“, sche Trostlosigkeit allerdings die Land- bietet er das Musterhaus zum Selber- sagt Thomas Renner vom Bundesver- schaft verschandelt. Bundesbaumini- bauen an. Die Kunden können sich ei- band Deutscher Fertigbau in Bonn. sterin schwärmt nen Koffer mit Plänen, Videokassette, Starcks Hausidee würde jeden Bauherrn vom „Swatch-Haus“ – freilich ohne je- Baubeschreibung und Kostentabelle be- ratlos auf einem Stapel von Plänen sit- de Idee, wie so ein Ding aussehen stellen. Damit sollen sie zu Handwer- zenlassen und zudem gegen deutsches könnte. kern ihrer Wahl gehen und das 140 Qua- Recht verstoßen, wonach Wohnhäuser

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nur von diplomierten Architekten und warf noch Leichthäuser zum Selberba- leitet hatte. Obwohl Bofill mit pompö- Ingenieuren gebaut werden dürften. steln – simple Zimmermannskonstruk- sen Sozialpalästen rund um Paris längst Solche Kritik läßt Philippe Starck je- tionen aus Brettern und Stäben mit bewiesen hatte, daß er das Bauen mit doch unberührt. Seine Aktion setzt rechteckigem Grundriß auf Stelzen. ornamentierten Fertigteilen auch im mehr auf intellektuelle denn praktische Wer bei ihm ein Haus bestellte, be- großen Maßstab beherrscht, blieben sei- Breitenwirkung. Und sie kann sich auf kam Segals Lehrbuch „Home and Envi- ne Betontempelchen mangels Interesse prominente Vorläufer berufen. ronment“ von 1948 mit einer Fülle von der Bauindustrie unrealisiert. Bereits 1901 entwarf der amerikani- Grundrissen vorgelegt und durfte auf Bis heute gelten Vorfertigung und ar- sche Architekt Frank Lloyd Wright für Karopapier eigene Wünsche hinzufü- chitektonische Phantasie als unverein- das Ladies’ Home Journal kostengünsti- gen. Segal verwendete nur vorgefertig- bar. An diesem Irrglauben will Philippe ge Modellhäuser. Für eine Schutzge- te, marktübliche Bauelemente, die er al- Starck jetzt rütteln. Er kann auf noble bühr von fünf Dollar konnten die Leser lerdings nicht zusammennagelte, son- Vorbilder verweisen: die Römer. die Pläne und die Baubeschreibung be- dern mit Klemmen verband – die Häu- Im Mittelmeer wurden Schiffswracks stellen. Die Aktion sollte das amerikani- ser sollten wiederverwertbar sein. gefunden, die vorgefertigte Säulen und sche Geschmacksniveau heben. Einer der letzten Architekturstars, marmorne Fertigbauteile geladen hat- Allerdings mit geringem Erfolg. Erst die sich bislang dem Baukasten-Heim ten. Einer der Kunden dieses antiken als Wright 1936 von dem Journalisten widmeten, war der Spanier Ricardo Bo- Versandhandels könnte der jüngere Pli- Herbert Jacobs gebeten wurde: „Bauen fill. 1982 entwarf der monomanische nius gewesen sein. Bei seinem Freund Sie mir ein Haus für 5500 Dollar“, ent- Klassizist ein rechteckiges, 112 Quadrat- Mustius hatte er einen Ceres-Tempel wickelte er die Erfolgsserie seiner meter großes „Tempelhaus“ in Original- bestellt, ausgestattet mit vier Säulen, „Usonian“-Häuser. Es waren Flach- proportionen, die er direkt aus der Ar- Fußboden und einer lebensgroßen dachbungalows mit mehrschichtigen chitekturtheorie der Renaissance abge- Statue der Fruchtbarkeitsgöttin. „Sandwich“-Wänden aus Holz, mit Fuß- bodenheizung und offenem Grundriß – Fertighäuser, die auch den deutschen Architekten Mies van der Rohe bei ei- SPIEGEL-Gespräch nem Besuch begeisterten. Wright besaß ein so großes Talent für Öffentlichkeitsarbeit wie vor ihm nur der publikationswütige italienische Re- „Ein Haus fürs Glück“ naissance-Architekt Andrea Palladio und nach ihm nur Philippe Starck. Nicht Der Designer Philippe Starck über sein neues Selbstbau-Eigenheim aus Gewinnsucht, sondern zur Verbrei- tung seiner gesellschaftsreformerischen Ideen lancierte er Hunderte von Zeit- SPIEGEL: Herr Starck, warum wollen schriftenartikeln über seine Entwürfe, Sie nach Starck-Zahnbürsten und die schließlich zum amerikanischen Ar- Starck-Möbeln jetzt auch noch Starck- chitektur-Ideal wurden. Häuser verkaufen? Einer der ersten Fertigbau-Erfinder Starck: Ich will keine Häuser verkaufen, in Deutschland war der Architekt Gu- das ist mir völlig Wurst: Es geht nicht stav Lilienthal, ein Bruder des Flugpio- um ein Geschäft, sondern um eine sub- niers Otto Lilienthal. Er entwickelte versive Aktion. Die Kunden sollen be- 1877 einen Steinbaukasten für Kinder greifen, daß die großen Baufirmen sich und daraus später ein Bausystem für über sie lustig machen. Die Industrie Einfamilienhäuser. sagt: „Die Leute wollen Mist kaufen, Lilienthals Spielzeug wurde jüngst und wir geben ihnen Mist.“ Ich bin mit vom Bauhistoriker Kurt Junghanns wie- meinem Motorrad die Routes Natio- derentdeckt*. Schon 1910 hatte es den nales entlanggefahren und habe mir die Bauhaus-Gründer Walter Gropius zur marktüblichen Musterhäuser ange- Entwicklung von Baukastenhäusern in schaut. Ich wußte gar nicht, wie industrieller Fertigung inspiriert. Selbst schrecklich die sind. Da schuften die der Expressionist Bruno Taut entwickel- Leute ihr ganzes Leben für ihren Traum te 1920 ein Vorfertigungssystem für kri- vom eigenen Haus und müssen dann stalline „Schachtel“-Häuser. feststellen, daß es keine Wahl gibt außer 1932 versammelte sich die deutsche den Standardmodellen der großen Bau- Bauprominenz – darunter Hans Poelzig, firmen. Hans Scharoun und Egon Eiermann – in SPIEGEL: Was ist so schlimm daran? Berlin, um dort 24 Beispiele für ebenso Starck: Die Industrie glaubt, das franzö- originelle wie preiswerte Fertighäuser sische Traumhaus sei eine Mischung aus auszustellen. Die Schau mußte zeitweise provenzalischer Landvilla und dem wegen zu großen Publikumandrangs ge- Schloß von Versailles. Ist ein Haus nicht schlossen werden. der Ort, an dem eine Familie gegründet Nach dem Zweiten Weltkrieg erlahm- wird, in der Liebe und Zuneigung sich te das Interesse der Avantgarde am billi- entfalten und die Menschen glücklich gen Baukasten-Eigenheim. Nur der werden wollen? Doch die Industrie will Schweizer Architekt Walter Segal ent- nur Häuser wie Autos verkaufen. Man muß den Leuten nur zeigen, daß es et-

* Kurt Junghanns: „Das Haus für alle. Zur Ge- H. BAMBERGER / FOCUS schichte der Vorfertigung in Deutschland“. Verlag Das Gespräch führte SPIEGEL-Redakteur Michael Künstler Starck Ernst & Sohn, Berlin; 318 Seiten; 86 Mark. Mönninger. „Schatz, hast du dieses schöne Haus gesehen?“

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KULTUR

Starck: Die hat bislang Wenn man die Leute fragt: Was ist ein kein Interesse. Das Musikinstrument?, sagen sie: Die geht nicht ohne öffent- Trompete. Wenn man die Leute nach lichen Druck. Meine einem Werkzeug fragt, nennen die Karriere begann, als ir- Leute den Hammer. Wenn man die gendwelche Journali- Leute nach einem Tier fragt, sagen sie: sten über meine selbst- Löwe. Und wenn man ihnen sagt, sie gebauten Prototypen sollten ein Haus zeichnen, werden sie etwas veröffentlichten. eins aufmalen, das ungefähr so aussieht Daraufhin haben sich wie meines hier. die Leute mit der Zei- SPIEGEL: Ein Archetyp, eine Urhütte? tung in der Hand so Starck: Ja, ein Urmodell, das veränder- lange in den Geschäf- bar und frei ist, damit jeder das daraus ten nach meinen Ent- machen kann, was er will. Die Leute, würfen erkundigt, daß die hierherkommen, sagen nicht: Das schließlich die Herstel- ist schön, sondern: Das will ich auch ler mich um Entwür- haben. Daraus sehe ich, daß das Haus fe baten. Hoffentlich nicht auf den Verstand wirkt, sondern kann auch mein Haus- wesentlich auf die Gefühle. Jeder sieht Holzterrasse entwurf die Hersteller es anders: als japanisches, russisches veranlassen, ihre Pro- oder kalifornisches Haus, oder, wenn duktion zu verändern. man viel Rot verwendet, als chinesi- SPIEGEL: Aber schöne schen Pavillon. Dieses Haus ist schon Einfamilienhäuser fin- in jedem selbst. Es ist kein Objekt zur den sich in jeder Zeit- Bewunderung, sondern zur Aneignung. schrift. SPIEGEL: Warum sucht ein Stardesigner Starck: Die Hochglanz- die Volksnähe? zeitschriften geben kei- Starck: Ich interessiere mich nicht für ne praktische Hilfe, Schlösser, sondern für die Häuser der sondern dienen nur Armen, die man im Französischen die dem Vergnügen. Diese „cabanes“ nennt: das Haus eines klei- Traumindustrie schiebt nen Fischers, die Häuser der Elends- eine sehr dicke Scheibe viertel mit ihren Wellblechdächern. zwischen sich und die Das sind Häuser, die den Minimal- Kunden und sagt: Faßt anforderungen genügen, dem Leben uns bloß nicht an; uns Schutz zu gewähren. Ich verachte alles, geht es gut, und ihr sitzt was dazu dient, Macht und Geld zu zei- im Dreck. Das finde ich gen. Und die Macht des Geldes zeigt entsetzlich. Wenn ein man im allgemeinen mit dem Schloß.

FOTOS: J. DIRAND junges Paar in den Schlafraum Glanzzeitschriften bei- Starck-Haus bei Paris spielsweise ein Haus „Die Baustelle ist sauber und riecht gut“ des Amerikaners Frank Gehry gesehen hat, was Besseres gibt. Das verstehen die so- dann weiß es doch genau, daß es ihn nicht fort. Es sind ja keine Idioten. aus Los Angeles anreisen lassen und erst SPIEGEL: Und das Bessere zeigt ihnen recht nicht bezahlen kann. Mein Haus jetzt Herr Starck? zerbricht die Scheibe. Starck: Ich habe ein außerordentliches SPIEGEL: Jeder Entwerfer glaubt, daß politisches Werkzeug in der Hand: den ausgerechnet seine Schöpfung der Traum Versandkatalog der Firma Trois Suisses. aller Menschen sei. Der erscheint in einer Auflage von sie- Starck: Für die meisten bekannten Archi- ben Millionen und wird von beinahe al- tekten sind diese billigen Häuser nicht in- len Franzosen gelesen. Das ist ein In- teressant, weil sie dafür keine spektaku- strument fast wie das Fernsehen. Ich lären Entwürfe machen können. Und für stellte mir ein junges Paar vor, das hei- einen Linken wie mich ist es eigentlich raten will, ein paar Mark gespart hat unstatthaft, dem Volk zum Kleineigen- und Bettwäsche kaufen will. Dann blät- tum zu verhelfen, weil dadurch angeblich tern die beiden im Versandkatalog, se- eine bürgerliche Klasse entsteht. Aber hen plötzlich mein Haus und werden genau das, was die anderen geringschät- stutzig: O, Schatz, hast du dieses schöne zen, interessiert mich. Ich wollte ein Haus gesehen? Der Versandkatalog soll Haus machen, das gleichzeitig reich und den Leuten zeigen, daß sie nicht dazu offen ist. Es sollte kein Starck-Haus sein, verurteilt sind, in dem Mist der Bauin- das die Leute wie ein Museum bestau- dustrie zu leben. Ich hoffe, daß die Leu- nen, sondern ein schematisches Haus, te den Katalog nehmen, zu den großen das aus dem Unbewußten kommt. Firmen gehen und fragen: Warum bietet SPIEGEL: Wie haben Sie denn den Zu-

ihr uns das nicht auch an? gang zum Unbewußten gefunden? C. KICHERER SPIEGEL: Warum gehen Sie mit Ihrem Starck: Wenn man die Leute auf der Stra- Starck-Baupläne Musterhaus nicht selbst zur Industrie? ße fragt: Was ist Farbe?, sagen sie: Rot. „Ein Haus muß verzeihen können“

238 DER SPIEGEL 45/1994 Mein schematisches Haus ist das Gegen- teil davon. SPIEGEL: Sie hassen Baukunst? Starck: Ich weiß nicht genau, was Kunst ist. Für mich heißt Baukunst, Häuser so ehrlich zu machen, so begabt und mit all der Kompetenz und der Achtung vor den Leuten, daß die Bewohner glücklich werden. Für mich haben Künstler und Architekten den gleichen Status wie Ärzte, Rechtsanwälte, Klempner, Tankwarte oder Taxifahrer. Ich interes- siere mich nicht für die Ästhetik der Dinge, sondern für ihre Wirkung und wie die Leute damit umgehen. SPIEGEL: Ihr Haus wirkt reichlich rusti- kal . . . Starck: . . . weil ich Holz gewählt habe, um billig und schnell zu bauen. Außer- dem ist die Baustelle sehr sauber, sehr schön und riecht gut, so daß man das Haus schon liebt, wenn es noch im Bau „Ich interessiere mich nur für die Häuser der Armen“ ist. Vor allem aber ist Holz sehr flexibel. Wenn ich in einem Holzhaus merke, daß ich mich geirrt habe, und daß da, wo ein Fenster ist, eine Tür sein müßte, dann schaue ich in einen Schreinerkata- log, nehme eine vorgefertigte Tür und meine Elektrosäge und habe schon nach einigen Stunden meine Tür eingebaut. Ein Haus muß sich entwickeln und ver- zeihen können, wenn man sich geirrt hat. SPIEGEL: Holzhäuser sind aber nur für den kühlen Norden gut. Starck: Mein Haus-Entwurf wird gerade in Sizilien gebaut. Die Leute sind hier- hergekommen, haben Isolierungsbe- rechnungen angestellt und gesehen, daß sie die gleichen Ergebnisse wie bei Stein hatten. Das Haus ist fast zur Hälfte aus mehrschichtigem Glas, und Glaspro- dukte haben eine außerordentlich hohe Isolierfähigkeit, viel höher als Stein. SPIEGEL: Soll Ihr Prototyp in Serie ge- hen? Starck: Nein. Schon im nächsten Jahr bitte ich einen anderen Architekten um einen Entwurf. Frank Gehry soll ein Haus aus Recycling-Material herstellen. Danach möchte ich gern Aldo Rossi aus Mailand bitten, ein Ziegelhaus zu zeich- nen, und danach vielleicht Norman Fo- ster aus London, der einen Entwurf in Metall machen soll. Mein Holzhaus ist nur ein erster Vorschlag, weil ich das Material gut kenne. SPIEGEL: Warum wollen Sie für Schlichthäuser ausschließlich prominen- te Architekten beauftragen? Starck: Es sollen keine Häuser von gro- ßen, sondern von guten Architekten sein. Man verwechselt gern große Ar-

DER SPIEGEL 45/1994 239 chitekten mit solchen, die große Gebäu- de machen. Von dem Architekten I. M. Pei zum Beispiel wird gesagt, er sei ein großer Architekt. Für mich baut er nur großen Mist. Und es gibt einen anderen sehr berühmten Amerikaner . . . SPIEGEL: . . . Philip Johnson? Starck: . . . den ich auch nicht mag. Aber ich trau’ mich nicht, über ihn was Schlechtes zu sagen, denn man behaup- tet, er sei der größte Architekt der Welt. SPIEGEL: Immerhin hat Johnsons post- modernes Hausdesign den öden Funk- tionalismus verdrängt. Starck: Das ist es ja. Wir haben die ver- gangenen 15 Jahre damit verbracht, Ar- chitektur und Design zu bewundern. „Unsere Produkte müssen viel freundlicher werden“

Aber mit etwas, das man bewundert, lebt man nicht. Die Produkte müssen freundschaftlicher werden und sich bes- ser ins Leben integrieren lassen. Deswe- gen habe ich der Bauanleitung auch ei- nen Hammer beigelegt, damit die Leute ein wenig mithelfen. Sie müssen sich be- teiligen im Gegensatz zu den Kleenex- Häusern aus dem Katalog, bei denen man eines Tages den Schlüssel bekommt und sich sagen soll: Ich bin daheim. SPIEGEL: Aber Heimwerker sind mit Ih- rer Selbstbau-Idee restlos überfordert. Starck: Die Leute sollen nicht selber bauen, sondern es machen wie ich: Sie gehen mit den Plänen in der Hand zum Bauunternehmer, Tischler, Elektriker, Klempner und sagen: Bauen Sie mir das. Ich selber habe dieses Grundstück hier gekauft und meinen Nachbarn ge- fragt, ob er einen guten Elektriker kennt. Ich habe alles gebaut ohne Ar- chitekt. SPIEGEL: Haben Ihnen die Architekten nicht schon Prügel angedroht? Starck: Nein. Einen wirklichen Streit gab es nur mit der Architektenkammer, einer antiquierten Institution, in der heute kaum mehr Architekten sind. Das ist eine Institution wie die französische Ärztekammer, die ja die Nazis während der Besatzung gegründet haben. Die Kammer hat uns heftig bekämpft, aber nur, weil sie sehr enge Verbindungen mit den großen Baufirmen hat. Es war also schlicht ein Handelskrieg. SPIEGEL: Vielleicht will die Kammer die Leute nur vor gefährlichen Experimen- ten schützen? Starck: Die lebt doch von der Unmün- digkeit der Menschen. Ich glaube: Jeder kann alles, vorausgesetzt, man hilft ihm. Das ist wie bei einem Kind. Man ver- sucht, ihm gut das Lesen beizubringen und gibt ihm später keine Groschenro- mane, sondern richtige Bücher. Und .

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Nachbarland, dann war es der aus dem Nachbar- dorf, schließlich ist der Fremde der Nachbar ge- worden. Jetzt ist es schon der Vater, die Mutter, und ich fürchte, daß wir uns selbst zum Fremden werden. Heute kapseln sich die Leute zu Hause ab und gucken nur noch blödsinnige TV-Serien an; sie sehen 40 Morde und 15 Vergewaltigungen pro Tag. Daran haben sie so viel Spaß, daß sie kaum noch das Haus ver- lassen. SPIEGEL: Wie wollen Sie die Leute mobilisieren? Starck: Das Leben in der Stadt und das auf dem Land verlangt nach zwei verschiedenen Antwor- ten. In den Großstädten müssen wir eine Archi- tektur schaffen, die ge- nauso erregend, amüsant, begeisternd, stark ist wie das Fernsehen, damit die Leute wieder auf die Stra- ße gehen. Das habe ich mit meinen expressioni-

AP stischen Gebäuden in To- Starck-Geschäftshaus in Tokio kio versucht. Sonst wer- „Aufregend wie Fernsehen“ den die Menschen eines Tages nur noch ihr Haus dann sagt man ihm, jetzt mußt du dir verlassen, um ein zweites Sarajevo zu deine Bücher selber kaufen. schaffen. Wir entwickeln uns immer SPIEGEL: Ja, aber man sagt ihm nicht: mehr zu einer Gesellschaft von Hecken- Jetzt sollst du deine Bücher selber schützen. schreiben. Sind Sie ein pädagogischer SPIEGEL: Und auf dem Land? Eiferer? Starck: Natürlich will ich nicht, daß die Starck: Nein, eher eine Hausfrau, die je- Leute aufs Land ziehen. Das ist nur eine den Tag den Haushalt ein bißchen auf andere Form der Isolierung. Ob die Vordermann bringt. Ich mache einen Leute von einem Fenster ins nächste Vorschlag, daß ein Mofa oder Auto viel- schießen oder sich im Wald umbringen, leicht so und ein Haus oder eine Schule kommt aufs gleiche raus. Mein schlich- vielleicht anders aussehen könnten. tes Landhaus ist nur ein erster Beitrag dazu, daß die Leute, die unbedingt aus der Stadt rauswollen, auch auf dem „Wir sind auf dem Land glücklich leben. Ich hab’ noch nir- direkten Weg zurück gends gesehen, daß glückliche Leute ei- nen Krieg anfangen. in die Barbarei“ SPIEGEL: Aber jedes neue Einfamilien- haus fördert nur die Zersiedlung und die Aber man muß die Leute Luft holen las- Isolation der Menschen. sen und ihnen Gelegenheit geben, sel- Starck: Jede Stunde werden in Europa ber denken zu lernen. Hauptsache ist, 50 neue Einzelhäuser gebaut. Das ist daß sie aufwachen. unaufhaltsam und zugleich ein über- SPIEGEL: Aufwachen, um noch mehr deutliches Zeichen für die Selbstzerstö- Starck-Produkte zu kaufen? rung unserer Gesellschaft. Aber soll Starck: Blödsinn. Es geht um viel mehr. man die Leute weiter den industriellen Wir sind auf dem direkten Weg zurück Müll kaufen lassen? Soll man sie viel- in die Barbarei. Die Leute haben die zi- leicht umbringen? Das wäre doch idio- vilisatorischen Grundregeln des Ge- tisch, wenn man da nicht wenigstens mit meinschaftslebens vergessen. Sie fliehen kleinen Verbesserungsvorschlägen ein- die Promiskuität der Riesenhäuser und greift. verabscheuen ihre Nachbarn. Früher SPIEGEL: Herr Starck, wir danken Ihnen war der Fremde derjenige aus dem für dieses Gespräch. Y

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Autoren Das Zittern der Gräser SPIEGEL-Redakteur Volker Hage über Peter Handkes Mammutwerk „Mein Jahr in der Niemandsbucht“

m Herbst 1974, vor genau 20 Jahren, Unseld vermuten läßt. schrieb der junge Schriftsteller Peter Keuschnigs Verleger IHandke in Paris an einer Geschichte, fürchtet, anhand eini- die von einem jungen Österreicher han- ger fotokopierter Text- delt, der in Paris als Mitarbeiter der proben, das Schlimm- Botschaft lebt und sich von der Welt ei- ste. Schon der geplante gentlich nur gestört fühlt. Wenn dieser Titel gefällt ihm nicht: Gregor Keuschnig morgens am Kiosk in Das Wort „Niemand“ den Schlagzeilen liest, daß auf Zypern wirke „negativ und ab- ein Krieg drohe, dann fällt ihm dazu ein: schreckend“. Im übri- „Wie lästig . . . was für eine Einmi- gen sei es „unzeitge- schung in mein Leben!“ mäß“, die Haupthand- Mancher Kritiker hat das damals für lung in einer abgelege- ein reines Selbstporträt des Autors ge- nen Vorstadt anzusie- halten. Immer wieder wurden Handke deln, „eine Geschichte Weltflucht und narzißtische Selbstbe- von heute“ habe in den spiegelung vorgeworfen. Er sei unfähig, Zentren zu spielen. hieß es auch vorher schon, in seiner Li- Und anscheinend sei teratur gesellschaftliche Zusammenhän- der Autor immer noch ge darzustellen. mit sich selbst beschäf- Handke ließ sich nicht beirren. Selbst- tigt – wieder ein Buch, bewußt hielt er am poetischen Pro- in dem die Schriftstelle- gramm fest, das der Titel der 1975 publi- rei zum Thema wird. zierten Erzählung verhieß: „Die Stunde Verleger wissen: Das der wahren Empfindung“. Der Dich- Publikum schätzt derlei tersmann ist seither viel auf Wander- nicht besonders. schaft gewesen, hat mal in seiner Hei- Dabei hat Keuschnig mat Österreich, mal in Andalusien, mal diesmal die besten Ab- in der kastilischen Provinz Soria seine sichten gehabt. Diese meist vom Umfang her kleinen Bücher Geschichte, nimmt er

geschrieben – und vom großen Epos, GAUTHIER / SIPA sich gleich zu Beginn von der weit ausholenden Erzählung Schriftsteller Handke vor, „soll von mir nur bisher nur geträumt. „Was für eine Einmischung in mein Leben“ unter anderem han- Nun hat er sich den Traum erfüllt. deln“. Und als er einige Handke, der seit 1989 in Chaville lebt, den Jahren versöhnlich gegen die Mit- Seiten später immer noch von sich redet nicht weit von Paris entfernt, brachte welt. „Meine Epoche, mein Feind“: Das (und das wird bis zum Ende so bleiben), dort innerhalb eines Jahres („Januar bis gilt für ihn nicht mehr. Als Familienva- ermahnt er sich: „Wollte ich in dieser Dezember 1993“) sein Buch „Mein Jahr ter hat sich Keuschnig nicht besonders Geschichte nicht Randfigur sein?“ in der Niemandsbucht“ zu Papier, ein bewährt: Sein Sohn Valentin ist schon Eigentlich soll es um sieben Freunde Buch, das tatsächlich mehr als 1000 Sei- aus dem Haus, und Ehefrau Ana, „die gehen, ferne Freunde, deren Wege der ten umfaßt – wobei der Verlag aller- Katalanin“, hat den besessenen Schrei- Erzähler sich imaginieren möchte: um dings etwas nachgeholfen hat, indem er berling zum zweitenmal verlassen: „Du den Sänger, den Leser, den Maler, die das Mammutwerk mit einer den Augen kannst dein Rauschen der Bäume und Freundin, den Architekten, den Priester wohltuenden großen Schrift drucken dein Zittern der Gräser nicht teilen – au- und den eigenen Sohn. „Die Geschichte ließ*. ßer im Buch.“ meiner Freunde“ gibt es dann auch, Schauplatz: ein Vorort von Paris. Da sitzt er in seiner Bucht, die ihm doch sie beginnt erst auf Seite 437 und Zeit: das Jahr 1997, „gegen Jahrhun- auch zur „Waldbucht“ und „Allerwelts- umfaßt nur ein Kapitel von vieren in dertende“. Handlung: kaum eine. The- bucht“ wird, „hinter den Hügeln, im diesem Buch. ma: die Entstehung eines Buches mit Hinterland der Weltstadt“, wo vom Eif- Handkes Werk steht in der Tradition dem Titel „Mein Jahr in der Niemands- felturm nur die Spitze zu sehen ist, und jener Schreibweise, in der die Umwege bucht“. er liebt es, wenn „in dem Laubschatten das Ziel sind. Seit Laurence Sternes Der fiktive Erzähler ist ebenjener die Bleistifte gleichmäßig dahinfuhren“. „Tristram Shandy“ (1759 bis 1767) sind Gregor Keuschnig, nun Mitte Fünfzig. Zum Schreiben geht er nämlich am lieb- das nicht die schlechtesten Bücher in der Nach einer abgebrochenen Karriere als sten raus „in die Natur“. Literatur. Keuschnig wünscht sich, Jurist wurde er Schriftsteller. Und mit Eines Tages, als das Manuskript „aufgehen zu können in einem fraglosen schon weit gediehen ist, trifft sich ( . . .) mitvibrierenden Dahinerzählen“ * Peter Handke: „Mein Jahr in der Niemands- Keuschnig in einem Pariser Lokal am – nur deshalb habe er „bei dem Vorha- bucht. Ein Märchen aus den neuen Zeiten“. Suhr- kamp Verlag, Frankfurt a. M.; 1072 Seiten; 78 Pont Mirabeau mit einem Mann, hinter ben hier so viele Umschweife gemacht, Mark. dem sich der Suhrkamp-Chef Siegfried so viele Nebenwege eingeschlagen“.

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Immer wieder glaubt man, hinter dem Erzähler den realen Autor ausma- chen zu können. Handke treibt in sei- nem neuen Buch ein souveränes Spiel mit der autobiographischen Suggestion. Die Abweichungen von der eigenen Biographie sind oft nur haarfein, aber eben vorhanden. Keuschnig hat vor seiner Schriftstel- lerei eine Zeitlang als Jurist gearbeitet, bei den Vereinten Nationen in New York, in einer Kanzlei daheim. Hand- ke gibt ihm vergnügt eine ganze Reihe fiktiver Werke mit auf den Weg, ein Debüt mit dem Titel „Halbschlaferzäh- lung“, eine „Rundreise eines Schrift-

stellers“ und einen „Versuch über die ACTION PRESS Nachbarschaft“. Einiges davon erinnert Handke-Thema Paris: „Bleistift im Laubschatten“ sicher nicht zufällig an Handke-Bücher wie den „Versuch über die Müdigkeit“ genüber gibt sich Keuschnig am Ende ego Keuschnig hat sich vorgenommen, oder „Langsame Heimkehr“. milde. Hatte der vielleicht zu Recht in die Weltgeschichte zu ignorieren, und Er läßt seinen Keuschnig auf einen einem früheren Buch Keuschnigs eine dennoch immer wieder einmal „in eine anderen Schriftsteller treffen – auch verunglückte Metapher „erschnüffelt“, todfalsche Mitte gezielt, ob als Redner der ein alter Bekannter: nämlich Filip nämlich: „ein Bedürfnis nach Heil, wie vor Gericht oder als Artikelschreiber, Kobal aus Handkes Buch „Die Wie- es einem der Helden auf die Augenlider der sich einbildete, wie einst Emile Zola derholung“ (1986). Der ist daheim ge- drückt“? (Tatsächlich beginnt mit die- Geschichte machen zu können“. blieben, nährt sich redlich und macht sem schwerfälligen Bild Handkes eige- Handke und Strauß haben vor allem dem in der Fremde angesiedelten nes Buch „Langsame Heimkehr“ aus dieses gemeinsam: Beider Werk ist nicht Keuschnig Vorwürfe, von Kollege zu dem Jahr 1979.) zu denken ohne das Nachdenken über Kollege gewissermaßen: „Von der Von einem „Bedürfnis nach Heil“, die Tätigkeit des Schreibens – mitsamt Landschaft und den Leuten hier kannst außerhalb des Schreibens und der Lite- den Selbstzweifeln und Verzagtheiten. du meinetwegen ein Tagebuch führen, ratur, ist im „Jahr in der Niemands- Und wovon sonst ist in der bedeuten- auch eine Chronik. Aber sogar wenn bucht“ nichts mehr zu spüren. Im Ge- den Literatur aller Zeiten und Nationen du da noch einmal zwanzig Jahre ab- genteil: Die Mythen scheinen dem Ich- zumindest insgeheim die Rede? Kom- sitzt und abgehst, wird nichts dir Erzähler „verballhornt, verderbt, ver- mentarlos zitierte der französische Dich- sich vertiefen hin zum Sagenhaf- dorben“ zu sein, er möchte „dagegen ter Albert Camus 1959, nicht lange vor ten.“ die bloße Gegenwart, den Tag jetzt, den seinem Tod, im Tagebuch die Worte sei- Dann eben nicht, sagt sich mythenfreien Augenblick gelten las- nes russischen Kollegen Boris Paster- Keuschnig, darin nicht nur geogra- sen“. Und auch von einer „Gemein- nak: „Die größten Werke auf der gan- phisch seinem Erfinder näher, und no- schaft der Versprengten“, von Auser- zen Welt behandeln zwar die verschie- tiert über Kobal spitz: „Er ist für sein wählten und Geheimzirkeln erwartet densten Dinge, aber in Wirklichkeit er- nächstes Volksbuch zu- zählen sie uns ihre eigene rückgekehrt in unsere ge- Entstehung.“ meinsame Talschaft.“ „Mein Jahr in der Nie- So munter und leicht mandsbucht“ gibt sich geht es oft in diesem „Jahr weltfern und ist doch als in der Niemandsbucht“ zu. Buch ganz Gegenwart. Die Verbissenheit, die Der leichte zeitliche Vor- manche Arbeiten Handkes sprung, den Handke seiner zum Teil schwer genießbar Geschichte dadurch gibt, machte, ist hier vollends daß er die Handlung um gewichen: ein mitunter ge- drei Jahre vorversetzt, radezu fröhlich wirkendes macht aus der Vergangen- frühes Alterswerk. heitsform eine nahezu Nur einmal kommt Ver- tempusfrei irrlichternde biesterung auf: Da ist vom Melodie.

„Feind in Deutschland“ K. RUDOLPH / ZEITENSPIEGEL M. STORZ / GRAFFITI Ist das nun die neuer- die Rede, dem Kritiker – Handke-Figuren Unseld, Reich-Ranicki: Intensiv und entspannt dings auch bei einigen Kri- und da droht das feine Ge- tikern gefürchtete „post- webe aus Fiktion und Metafiktion zu Keuschnig ausdrücklich nichts – hier moderne Literatenliteratur“? Was zäh- zerreißen. Als wäre nicht ohnehin deut- mag Handke an Botho Strauß gedacht len solche Etiketten, wenn die Prosa so lich, wer dieser Kritiker, „der schlaueste haben, den zwei Jahre jüngeren deut- intensiv wie entspannt, so überraschend und zugleich beschränkteste“, sein soll, schen Kollegen. wie einleuchtend, so schön wie eigenwil- gibt es – nicht zum erstenmal bei Hand- Beide sind in ihrer Generation derzeit lig ist. Ein gewaltiges Werk ist Peter ke – eine überflüssige Anspielung auf die auf- und anregendsten Schriftsteller Handke da nicht nur an Seitenzahl ge- Marcel Reich-Ranickis Prägung durch deutscher Sprache. Beide sind, wie es lungen, eine trotzige Selbstbehauptung das Warschauer Ghetto. sich gehört, umstritten. Beide sind sie des einsamen, aber eben gerade dabei Doch ernstlich beschädigen kann die- Erzähler, Dramatiker, Lyriker und gele- so wachen Träumers – eine einzige gro- ser Ausfall Handkes Meisterwerk nicht gentlich auch, voller Skrupel, Essayisten ße Erzählung über das Erzählen, das – und sogar dem „einstigen Feind“ ge- und Kommentatoren. Handkes Alter nicht aufhört. Sie wird bleiben. Y

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hieß), mußten bis zur Unkenntlichkeit Schauspieler der ursprünglichen Identität verändert werden. Jüdische Themen waren tabu. Brando erzählt, wie er als junger Rumtreiber in New York – er war gera- Lava, Glut, Asche de von der Kadettenanstalt in Minneso- ta geflogen, weil er sich unerlaubt aus SPIEGEL-Redakteur Hellmuth Karasek über zwei Biographien Marlon Brandos der Anstalt entfernt hatte – einen ande- ren jungen Herumtreiber kennengelernt habe, der mit einem starken texanischen ur ersten Begegnung mit Holly- aushändigte. Eine Grundbedingung der Akzent sprach. wood kam es in New York. Talent- Arbeit mit Lindsey war auch, daß Bran- Woher er stamme, fragte Brando. Zsucher hatten den 22jährigen Mar- do in dem Buch nichts über seine Kinder Woher? Aus New York natürlich, ant- lon Brando am Broadway gesehen, wo und Ehefrauen äußern würde und daß wortete der andere. Warum er dann so er zwei Jahre zuvor, 1944, als Nels in die Namen aller anderen Frauen geän- breit texanisch spreche, fragte Brando. John Van Drutens „I Remember Ma- dert werden müßten – sofern sie nicht Daraufhin erzählte der andere, er habe ma“ debütiert hatte und jetzt in Ander- gestorben sind. in der Armee gedient und sich den texa- sons „Truckline Cafe´“ und Shaws „Mein Leben“ ist dennoch von einer nischen Dialekt zugelegt, um nicht als „Candida“, vor allem aber in Ben schonungslosen, sympathischen Offen- New Yorker Jude erkannt zu werden, Hechts kämpferischem Pro-Israel-Stück heit, die nie in Prahlerei und Renom- denn das hätte zu schikanösen Schleife- „A Flag is Born“ auftrat. miersucht ausartet. Brando ist nicht nur reien geführt. Der junge Mann hieß Brando wurde also Joseph M. ein grandioser Schauspieler, er weiß Norman Mailer und hat später, 1948, ei- Schenck vorgeführt, einem der Grün- auch enorm viel von seinem Beruf und nes der aufregendsten Bücher über den derväter Hollywoods. Der 70jährige kann es in Worte fassen (lassen). US-Kommiß veröffentlicht: „Die Nack- Schenck saß, schon ziemlich zerbrech- Brando hat das Amerika, das er mit ten und die Toten“. lich, vor einem riesigen Tyrone-Power- seinem Einbruch in den Filmruhm stark Brando, zu dessen „Paradies auf Er- Foto in seinem New Yorker Büro und prägte und geradezu radikal veränderte, den“, wie er sagt, Tahiti wurde, erklärt sah sich den jungen, kräftigen Brando stets exakt vor Augen. Mag sein, daß auch sein Engagement für die unter- an. der irischstämmige Brando Antirassist drückten, vom endgültigen Verschwin- „Was hast du bis jetzt gemacht, mein auch durch seine Vorlie- Sohn?“ fragte er. „Ich hab’ in ’n paar be für eine andere Haut Stücken mitgespielt.“ „Warum läßt du als die weibliche Wasp- dir nicht die Nase richten?“ wollte Haut wurde. Er erzählt Schenck wissen. „Warum sollte ich mir jedenfalls mit Klugheit die Nase richten lassen?“ fragte Brando. und Verve von Rassen- „Weil du dann besser aussiehst“, ant- gegensätzen und Glau- wortete Schenck und blickte ostentativ benskriegen, die sein zu dem Bild Tyrone Powers. Land erschütterten. Es kam, natürlich, nicht zum Ange- So weiß er, wenn er bot, nachdem sich der Alte mit einer im Zusammenhang mit typischen „Sie hören von uns“-Floskel seinem Entdecker, dem verabschiedet hatte. Und so mag man Regisseur Elia Kazan, an dem ersten Rendezvous ablesen, daß die McCarthy-Zeit in Hollywood damals noch nicht ganz reif sehr präzisen Erinne- war für den Einbruch des New Yorker rungen beschreibt: „Bis jungen Wilden, noch zu sehr auf den heute glaube ich, daß Glamour seiner makellosen Stars mit wir am Faschismus nur glattem Benehmen und wohlgeformten um Haaresbreite vorbei- Nasen setzte. geschrammt sind.“ Aber in Wahrheit war Schenck längst So erinnert er sich, dabei abzutreten und Brando im Kom- wenn er von seiner Leh- men. Es sollte nur noch kurze vier Jahre rerin, Entdeckerin und dauern, bis 1951. Förderin erzählt, der Solche und ähnliche Geschichten aus Actors’-Studio-Mitbe- dem Leben des inzwischen 70jährigen gründerin Stella Adler, Marlon Brando, den nicht wenige für wie stark der Antisemi- den größten Schauspieler halten, den tismus das Hollywood Hollywood je besessen hat, kann man bestimmte, das doch der soeben auf deutsch erschienenen von jüdischen Studio- (Auto-)Biographie des Schauspielers Bossen geführt wurde: entnehmen*. Jüdisch aussehende Der ehemalige Hollywood-Korre- Schauspieler hatten (das spondent der New York Times hat sie war lange vor Jeff Gold- verfaßt, nach Tonbandprotokollen mo- blum und Woody Allen) natelanger Gespräche, unter Zuhilfe- keine Chance; jüdisch nahme von Briefen, die Brando ihm klingende Namen, wie der des von Brando

* Marlon Brando: „Mein Leben“. Aufgezeichnet hochbewunderten Paul STILLS von Robert Lindsey. Aus dem Amerikanischen von „The Wild One“ (1953) Sonja Hauser und Elke Link. C. Bertelsmann Ver- Muni (der eigentlich lag, München; 444 Seiten; 58 Mark. Muni Weisenfreund Brando-Rollen und Brando-Auftritte: „Ich habe ein wüstes

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den bedrohten Indianer. Und er erklärt Lehrerin mit Lust und Liebe auf das 20 es (auch) mit der zweiten, der ideologi- Jahre jüngere Naturtalent Brando. Stel- schen Vernichtung, die Hollywood den la machte ihn mit der (von Stanislawski Ureinwohnern Amerikas im Western hergeleiteten) „Method“, die Einfüh- zugefügt hat. lung an die Stelle der Deklamation, in- Brando war (und ist) der größte und nere Wahrheit an die Stelle von Gla- wohl einflußreichste, weil stilprägende, mour setzte, zu dem, was er wurde: ein das (Kino-)Bewußtsein revolutionieren- schauspielerisches Naturereignis, ein de Schauspieler, den Hollywood beses- Erdbeben, das erst den Broadway er- sen hat (und hoffentlich noch besitzt). schütterte, dann Hollywood umformte, Besessen hat und nicht hervorgebracht, schließlich das Bewußtsein einer Nation sondern eher verschwendet, vergeudet veränderte – wie (der führende US- und um seine äußersten Möglichkeiten gebracht. Denn entdeckt hat das New Yorker Eigenhändig die verstopfte Theater, der Broadway den Schauspie- Toilette von Tennessee ler. Und entwickelt hat sein Talent Stel- la Adler, die neben (dem deutschen Williams gereinigt Theatermann und Emigranten) Erwin Piscator und Lee Strasberg (den Brando Filmkritiker) Richard Schickel es in sei- als Ausbeuter von Talenten und als ner 1991 erschienenen Brando-Biogra- Scharlatan verachtet) das Actors’ Studio phie überzeugend belegt. leitete. Brando verkörperte auch eine sexuelle Die schöne Frau und großartige Revolution, denn Sexualität, männliche Schauspielerin, die wegen ihrer jüdi- zumal, hatte es vor Brandos grölendem, schen (zu großen) Nase und trotz deren biersaufendem Muskelpaket Kowalski operativer Verkleinerung nie einen ih- in Tennessee Williams’ „A Streetcar rem Genie entsprechenden Theater- Named Desire“ („Endstation Sehn- oder Kino-Erfolg hatte, warf sich als sucht“) noch nicht so unverhüllt und im engsitzenden T-Shirt gegeben. Hollywood hat diese nackte Natur- gewalt bald (es herrschte ja schnell das schreckliche Kino der fünfziger und sech- ziger Jahre mit seiner leisetreterischen Verlogenheit) nicht mehr pur ertragen. Nach einigen wenigen Filmen, die sich Brandos schiere Kraft zunutze machten („On the Waterfront“, „The Men“, „A Streetcar Named Desire“oder „The Wild One“), wurde Brandos Natur im Kino schnell versteckt, maskiert, kostümiert, entschärft, unkenntlich gemacht. Brando bekam Bärte angepappt, Schlitzaugen geklebt, wurde unter Perücken und Mas- ken versteckt, um das Publikum nur ja nicht seiner bedrohlichen Sprengkraft „Der letzte Tango“ (1972) auszusetzen. Erst Jahrzehnte später, im „Letzten Tango in Paris“ (1972), hat es Bernardo Bertolucci in Europa gewagt, Brando so zu zeigen, wie er (als Schauspieler) war: eine sexuelle Gefahr, die Konventionen schlagartig zerbricht. Darüber, wie der Erfolg und Durch- bruch mit „Endstation Sehnsucht“ (erst auf dem Broadway, dann im Kino) zu- stande kam, gibt es Legenden. Die Toch- ter des Filmmoguls Louis B. Mayer, die Broadway-Produzentin Irene Selznick (die von dem „Gone With the Wind“- Produzenten David O. Selznick getrennt lebte und sich in New York eine eigene Producer-Karriere aufbaute), fand Bran- do für die Rolle des Kowalski zu jung, denn in dem Stück ist der polnischstäm- GAMMA mige Prolet schon um die 30. Also schickte sie das junge Talent zu

BURROWS / Tennessee Williams, der in Provincetown Brando vor Gericht (1991) (US-Staat Massachusetts) gerade mit Be- Leben geführt“ kannten Ferienmachte. Brando kam zum

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Vorsprechen, reparierte aber erst die ver- auf die Bühne ging, was seine Wirkung stopfte Toilette und das kaputte elektri- auf die Zuschauerinnen und Zuschauer sche Licht. im Theater nicht verfehlte. Jedenfalls kam er, sprach vor und sieg- Das Buch, genau bis ins winzigste De- te. Und Williams schickte seiner Agentin tail und mit sauberen Quellenangaben, Audrey Wood einen Brief, in dem es hat aber vor allem eine Schwäche: daß heißt, daß Brando „ein Gottesgeschenk nämlich Manso allem und jedem den von einem Stanley (Kowalski)“ sei: „Mir gleichen unterschiedslosen Stellenwert war es vorher noch nicht in den Sinn zubilligt und es kaum versteht, die exakt gekommen, welche außerordentlichen aneinandergereihten Einzelheiten in Vorteile es hätte, wenn man die Rolle ei- nem so jungen Schauspieler gäbe. Da- durch wird Stanley menschlicher, denn auf diese Weise hat er die Brutalität oder BESTSELLER Insensibilität der Jugend,nicht die Bösar- tigkeit eines älteren Mannes.“ BELLETRISTIK Brando erinnert sich an Tennessee Williams als an einen besonders „liebens- Gaarder: Sofies Welt (1) würdigen Mann, ausgesprochen beschei- 1 Hanser; 39,80 Mark den und sanft“, jemand, der, wie Kazan es ausdrückte, „keine Haut“ zum Schutz Grisham: Der Klient (2) gegen die Welt hatte. „Er war homosexu- 2 Hoffmann und Campe; ell, ließ das aber nie besonders heraus- 44 Mark hängen“ – manchmal sind Übersetzun- gen Glückssache, im Englischen steht Pilcher: Das blaue Zimmer (3) statt des unfreiwillig obszönen „Heraus- 3 Wunderlich; 42 Mark hängens“: „He was homosexual, but not effeminate or outwardly aggressive about Follett: Die Pfeiler (5) it.“ 4 der Macht Wer genauer erfahren will, wie das da- Lübbe; 46 Mark mals war in Provincetown am schicken Cape Cod, wo Tennessee Williams inmit- Høeg: Fräulein Smillas (4) ten der Boheme lebte, unter Leuten wie 5 Gespür für Schnee Max Ernst und George Grosz, Jackson Hanser; 45 Mark Pollock, Lee Krasner und Peggy Guggen- heim,solltedas inder ausführlichen,1118 Garcı´a Ma´rquez: Von der (6) Seiten umfassenden Brando-Biographie 6 Liebe und anderen Dämonen vonPeter Manso nachlesen, die soeben in Kiepenheuer & Witsch; 38 Mark New York erschienen und (natürlich) nicht autorisiert ist*. Er wird dort nicht Begley: Lügen in Zeiten (8) nur erfahren können, daß Williams in der 7 des Krieges Nacht Streifzüge durch Provincetown Suhrkamp; 36 Mark veranstaltete, um 17jährige Jungs oder auch Matrosen zu suchen, und wie er sich Crichton: Enthüllung (7) mit einem Freund darüber stritt, ob man 8 Droemer; 44 Mark

Forsyth: Die Faust Gottes (9) Bei den vielen sexuellen 9 C. Bertelsmann; 48 Mark Abenteuern George: Denn keiner ist (10) kaum Zeit zum Waschen 10 ohne Schuld Blanvalet; 44 Mark diesen Gelegenheitsstrichern zwei oder drei Dollar bezahlen sollte. King: Schlaflos (11) Durch Aussagen von Zeitzeugen, 11 Heyne; 48 Mark durch genaues Studium der Erinnerungs- literatur im Umfeld Brandos, kurz: durch 12 Kishon: Ein Apfel (15) enorme, emsige, wohl auch skrupellose ist an allem schuld Recherchen hat Manso imponierend vie- Langen Müller; 36 Mark le Fakten zusammengetragen. Er berichtet über des jungen Brando 13 Nadolny: Ein Gott (13) strengen Körpergeruch, weil der nach der Frechheit seinen Sexabenteuern kaum Zeit zum Piper; 39,80 Mark Waschen fand, was seiner sexuellen At- traktion aber keinen Abbruch tat – im 14 Noll: Die Apothekerin (12) Gegenteil. Er schildert, wie sich Brando Diogenes; 36 Mark eine Halberektion applizierte, bevor er Mayle: Hotel Pastis 15 Droemer; 39,80 Mark * Peter Manso: „Brando. The Biography“. Hyperi- on-Verlag, New York; 1118 Seiten; 29,95 Dollar. umfassendere, auch politische und zeit- mit seiner Mutter, einer Alkoholikerin, geschichtliche Zusammenhänge zu stel- noch mit seinem Vater, einem Trinker len. Das kann das wortkargere, wohl und Hurentreiber, der von Beruf Han- auch vergeßlichere Buch Brandos viel, delsvertreter war und sich in seinen Ab- viel besser. steigen für ein paar DollarmitNutten und Dabei schont auch Brando sich und Bourbon versorgen ließ. seine Vergangenheit nicht. Er geht mit Der Vater, Marlon Brando Sr., ein seinen Eltern, die ihm kaum Aufmerk- Wirtshausschläger und wohl auch ein üb- samkeit, geschweige denn Liebe zukom- ler Macho voll prallen Selbstbewußtseins men ließen, nicht pietätvoll um. Weder und unkränkbarer Autorität den Kindern gegenüber, erntet vom Sohn Haß. Ein „ausgemachtes Arschloch“, so nennt er seinen Vater, „a card-carrying prick“. Auch hier bezeichnet die Übersetzung eher die Richtung als den genauen Sach- SACHBÜCHER verhalt, denn „card-carrying prick“ ist, vornehm ausgedrückt, ein Sexualprotz – N. E. Thing Enterprises: (2) und Brandos Vater hatte, nach dem Tod 1 Das magische Auge II der Mutter, noch eine enge Beziehung Ars Edition; 29,80 Mark zur Sekretärin seines inzwischen berühm- ten Sohnes. N. E. Thing Enterprises: (3) 2 Das magische Auge III Die Mutter, sensibler, aber hoffnungs- Ars Edition; 29,80 Mark losimmer stärker dem Alkohol verfallen, erzeugt beim Sohn eine Vorliebe für N. E. Thing Enterprises: (1) Frauen mit einem süßlich riechenden 3 Das magische Auge Atem, dem unabweislichen Geruch nach Ars Edition; 29,80 Mark Fusel. Sie spielt Klavier und singt für den Wickert: Der Ehrliche (4) Jungen, wenn sie nicht betrunken auf 4 ist der Dumme Achse ist. Seither beherrscht er eine Un- Hoffmann und Campe; 38 Mark zahl Lieder und deren Texte, daher der Titel der amerikanischen Ausgabe der 5 Carnegie: Sorge dich (6) Autobiographie: „Songs My Mother nicht, lebe! Taught Me“ – „Lieder, die mich meine Scherz; 44 Mark Mutter lehrte“. Ogger: Das Kartell (5) Mansos Biographie kann sich naturge- 6 der Kassierer mäß einen taktloseren Ansatz leisten als Droemer; 38 Mark den von Brandos autorisierter Lebens- beichte. So beginnt sie mit dem Auftritt 7 21st Century Publishing: (7) Brandos im Gerichtssaal in Santa Monica 3D – Die Dritte Dimension am 28. Februar 1991, an jenem schreckli- Ars Edition; 19,80 Mark chen Tiefpunkt im Leben des Stars, als Ditzinger/Kuhn: (8) dessen Sohn vor Gericht stand, weil er 8 Phantastische Bilder den Liebhaber seiner Halbschwester ge- Südwest; 14,90 Mark tötet hatte. „Ich stamme aus einer langen Ahnen- Ogger: Nieten in (9) 9 Nadelstreifen reihe irischer Säufer“, begann Brando seine Aussage und beschuldigte sich Droemer; 38 Mark (wenn er schon kein Trinker geworden Fest: Staatsstreich (10) sei) selbst der Freßsucht. „Ich habe ein 10 Siedler; 44 Mark wüstes Leben geführt“, fuhr er fort, Paungger/Poppe: Vom (12) „habe viele Frauen gehabt. Ich habe ver- 11 richtigen Zeitpunkt sucht, eine gewisse Ordnung in mein Le- Hugendubel; 29,80 Mark ben zu bringen, aber gewiß habe ich als Vater versagt.“ Scholl-Latour: Im (14) Als er das sagte, saß der schwere alte 12 Fadenkreuz der Mächte Mann, so dokumentierten es US-Fern- C. Bertelsmann; 44 Mark sehbilder, mit schwerem Atem in einem Kelder: Die Fünf „Tibeter“ (13) Stuhl, sein langes graues Haar, das in der 13 Integral; 19 Mark Stirn spärlicher wurde, zu einem dünnen Pferdeschwanz mit einem Gummiband 14 Gallmann: Afrikanische (15) zusammengebunden: Wucht und Fluch Nächte des Alters. Droemer; 32 Mark Wer durchs Schlüsselloch der Brando- Hartwig: Scientology – (11) Biographien in das Leben des einst jun- 15 Ich klage an gen Wilden, der Hollywood eroberte, Pattloch; 34 Mark blickt, sieht in dem Leben des zum kolos- sal schwerleibigen Eremiten gewordenen Im Auftrag des SPIEGEL wöchentlich ermittelt vom kaum Tröstliches, Erbauendes. Aber er Fachmagazin Buchreport blickt auf eine unerloschene Kraft und ei- ne klarsichtige Aufrichtigkeit. Y

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KULTUR

Magnet der Amsterdamer Premiere: Pe- gossen haben, oder die Komponisten- Oper ter Greenaway, 52, Bühnenneuling. Gespielin lasziv über die Ledercouch Ach, der Greenaway, dieser Gentle- legt – seine Orgie schmuddelt nie. Jeder man der erlesenen Sauerei, der schon Softporno ist schmieriger als Green- lange mit virtuosen Geschmacklosigkei- aways anrüchige Ästhetik. Ein Bastard ten durch die Kinos suhlt und in seinem Doch „Rosa“ hat einen Pferdefuß: barocken Hang zu Fleisch und Lust die Das Stück ist Nonsens, die Story ist kei- Leinwand stets sehenswert beschmiert: ne. Rosa, der Buhle der Bola, kompo- mit Magie Seit sein obszönes Film-Kompott „Der niert zuletzt nur noch Musik für We- Koch, der Dieb, seine Frau und ihr sternfilme voll Pferdegetrappel und wird Der britische Filmregisseur Peter Liebhaber“ (1989) unter Cineasten für als dollarschwerer Soundtracker ermor- Greenaway debütiert als Opern- eklige Wonnen sorgte, gilt Greenaway det (warum und von wem, bleibt offen); als erste Adresse für gehobenen Esmeralda verkriecht sich im Hohlkör- macher: „Rosa“ ist nacktes Musik- Schweinkram. per der vierbeinigen Nebenbuhlerin und theater zum Lobe der Sodomie. Genau dieser Film-Orgiastiker hat verbrennt dort lichterloh. nun auch auf der Bühne Blut geleckt Auch die volle Dröhnung, die der und alle schicken Perversitäten seines Amsterdamer Komponist Louis An- per war lange eine saubere Sache. berühmtesten Lichtspiels auf sein erstes driessen für die zoologische Handlung Sie hatte eine Kleiderordnung, es aufbietet, hilft dem Stück Oherrschte Kostümzwang. Sex war nicht auf die Sprünge. Das zwar in aller Munde, doch gefummelt repetitionswütige Hämmern wurde, wenn überhaupt, unter Tüll und immer gleicher Tonfolgen hinter Paravents. Selbst Don Giovanni, langt gerade für eine abend- der Draufgänger in der Pumphose, füllende Toccata an der blieb stets zugeknöpft. Schmerzgrenze, unterbro- Doch am Mittwoch letzter Woche, in chen vom Geschrei eines Amsterdams Muziektheater, zog die Quartetts, von hilflosen An- Gattung blank: Mit der Uraufführung sätzen zu sülzigen Arien und von „Rosa“, dem ersten „Pferde-Dra- gelegentlich anschwellendem ma“ der Musikgeschichte, hat sich das Rockgesang. prüde Genre gleichsam im Schweinsga- Und doch ist Greenaways lopp über seine Schamgrenze hinweg- degoutanter Opernerstling gesetzt. ein Kick für die Gattung. Kaum ist der Vorhang auf, da wen- Denn hier paart einer Kino det sich Juan Manuel de Rosa, Titel- mit Guckkasten; hier werden held und Komponist, liebevoll seiner Bühnen- und Lichtspiel virtu- Bola zu. Bola ist eine schwarze Stute. os gekreuzt, und der Bastard Sanft streichelt ihr der nackte Tonset- hat Magie. zer die Mähne, küßt die Nüstern, preßt Auf zahllosen Projektions- sich in der Brunft seines Baritons woh- flächen wechseln Auf-, Ab- lig an den Pferdeleib – die Beine breit, und Überblendungen. Rassi- das Gemächte frank und frei. Klar, bei ge Pferdeleiber laufen in raf- Rosa und seiner Rosinante paart sich finierten Montagen so distin- Melodie mit Sodomie. guiert durcheinander wie Eifersüchtig verfolgt derweil die un- sonst nur im Marlboro-Land. befriedigte Esmeralda den Hang des Träume werden sichtbar, Geliebten zur schwarzen Mähre. „Ich Obsessionen bildhaft. Bühne will das Pferd meines Liebhabers sein“, und Filme sind perfekt auf- girrt der Sopran und verdreifacht in ih- einander abgestimmt – eine

rer Vorfreude sogar die Anatomie des D. V. MEER / LAIF Augenwischerei von hoher ersehnten Säugetiers: „Ich möchte Greenaway-Oper „Rosa“ in Amsterdam* Suggestion. sechs Zitzen haben.“ Barocker Hang zu Fleisch und Lust Greenaway, der Virtuose So mutiert sie zum Kuscheltier. Sie der Völlerei, müßte eigent- wiehert los, scharrt mit den Füßen, Singspiel projiziert: Wieder schlachtet lich nach Bayreuth und auf dem Grünen schmiert sich schwarz an, flicht das er, ganz kultivierter Metzger, den guten Hügel vorführen, wieviel Kino im Haar zur Mähne und stellt sich, keinen Geschmack gleichsam mit Glace´hand- „Ring“ und wieviel Hollywood in den Lappen am Leib, vierbeinig in Position. schuhen. „Rosa“ ist eine Ferkelei in Hirngespinsten des alten Wagner stek- Bei dieser Viecherei hält es auch Reinkultur, der Schauplatz ein absto- ken. Choristen und Statisten nicht mehr in ßender Augenschmaus. Aber Greenaway ist Wagner-Veräch- Klamotten. Barbusige Meisjes und jede Ob Greenaway bloß Kopulationsetü- ter, trotz Walkürenritt und Grane, dem Menge textilloser Knaben tummeln sich den arrangiert oder das menschliche Roß, das am Ende der „Götterdämme- alsbald durch Rosas blutverschmiertes Treiben mit baumelndem Schlachtvieh rung“ ins Feuer springt. Er will lieber Schlachthaus, sie tätscheln sich Schen- dekoriert, dem er auch noch das Gekrö- noch neun eigene Opern liefern, alle, kel und Hintern, gucken einander mit se ausräumen läßt; ob er am Bühnen- wie „Rosa“, mit einem ermordeten Ton- Spaß in den Schritt, tun sich lustvoll zu- himmel die Bettlaken aufhängt, auf de- setzer als Herzstück. sammen, und die Big Band bumst da- nen, laut Libretto, Rosa und Esmeralda Schade. Denn der Librettist Green- zu. „Kaffee, Blut, Urin und Sperma“ ver- away hat die Gattung zwar scham- und Nun steht also auch die Oper nackt grundlos bloßgestellt, der Regisseur in- da. Entblößt hat sie der Librettist und * Mit Marie Angel (Esmeralda), Miranda von Kra- des hat ihr einen glänzenden New Look Regisseur der Novität, der Macher und lingen. verpaßt. Y

248 DER SPIEGEL 45/1994 Werbeseite

Werbeseite .

KULTUR

baut. Eröffnet wird das künftige Wal- Theater hall knallharten Chargierens am Don- nerstag dieser Woche mit einer kölschen Version des legendären Mitmach-Musi- cals „The Rocky Horror Show“. Kasperle Ort der Handlung: das St. Hildegardis Krankenhaus, Kölns häßlichste Heilan- stalt. Das Theater wird zu diesem aus Kalau Zweck milieugerecht umgerüstet: Aus- gewählte Zuschauer dürfen die Vorstel- Walter Bockmayer, Kölns schräg- lung im Krankenbett verfolgen, die Ge- ster Theatermacher, vergreift sich tränke werden in der Schnabeltasse ver- abreicht, und das gastronomische Perso- an der „Rocky Horror Show“. nal trägt Rotkreuzhäubchen. Auf der Bühne tobt derweil die wirre er kleine, korpulente Mann weiß Geschichte von Brad und Janet, die in um seine Stärken: „Mir ist nichts die Klauen des durchgeknallten Wissen- Dheilig, und ich habe einen Hang zu schaftlers Frank-N-Furter geraten und schlechtem Geschmack.“ unter seiner lasziven Anleitung sämtli- NETZHAUT Er gilt als Großmeister des schreien- che Hüllen und Hemmungen fallen las- den Blödsinns und beglückt die Nation sen. seit Jahren schon mit respektlosen, aber Bockmayer selbst findet das Werk

phantasiesprühenden Theater- und reichlich „hanebüchen“. 1980 hatte er FOTOS: J. DIETRICH / Filmproduktionen. Mal versetzt er das die „Horror Show“ im Essener Theater Regisseur Bockmayer Zigeunermädchen Carmen in eine Scho- als deutsche Erstaufführung herausge- „Klamotte ist für mich ein Kompliment“ koladenfabrik, mal läßt er „Traviata“ in bracht, den Kölner Zweit-Aufguß sieht einem Massagesalon spielen, oder er er rein pragmatisch: „Wir brauchen zur ist, wenigstens in Köln, der männlichste hetzt Cleopatra, die bei ihm eigentlich Eröffnung einen Renner, den jeder Teil des Mannes. Aida ist, auf Ilse Werner und Leni Rie- kennt.“ Beflügelt wird Wallys Schaffens- fenstahl. „Die einzige Botschaft“, die Bock- rausch durch den rheinischen Dialekt, in Die Feuilletonisten feiern Walter mayer in dem Kultical ausgemacht hat, dem das Vulgäre sofort alltäglich und „Wally“ Bockmayer, den Leiter des „ist die der sexuellen Freiheit.“ Doch das Alltägliche leicht vulgär klingt. Als Kölner „Theaters in der Filmdose“, fol- das, meint der Theatermacher, „war vor linguistische Heimatführerin dient eine gerichtig als „Millowitsch für Alternati- den Zeiten von Aids“. Nun könne man mundartliche Fachkraft: Gigi Herr, 52, ve“ (Stuttgarter Zeitung) oder bescheini- auch diese Story nur noch zur Persiflage in Erscheinung und Stimmlage eine ver- gen ihm, wie die um Tiefendeutung be- freigeben. blüffende Wiedergeburt ihrer verstorbe- mühte Zeit, „ein vorfreudianisches Ver- Gnadenlos hetzt der Regisseur seine nen Ulk-Tante Trude. gnügen an den eigenen Schwächen“. Truppe im verschärften Sado-Maso- Gigi, der Star der Produktion, spielt Nun aber bricht in Köln eine neue Look durchs Theater und hält sie zu die ruppige Schwester Gertrude, die Vorfreud’ an. Mutig haben Bockmayer, kompromißlosem Sex-Klamauk an. Nachtwache von St. Hildegardis. Als 46, und sein langjähriger Kunst- und Le- Zwei Phallus-Säulen dominieren die Erzählerin schäkert sie mit dem Publi- benspartner Rolf Bührmann, 52, das Bühne, eine Vagina-Attrappe krönt die kum und bringt Orts- und Sprachfrem- ehemalige Variete´ Kaiserhof am Ho- glitzernde Show-Treppe. Sex im Over- den die Perlen kölscher Zunge nahe. So henzollernring für zehn Jahre gepachtet kill. Seine Inszenierung, schwärmt muß sich das amüsierwillige Auditorium und zu einem 350-Plätze-Theater umge- Bockmayer, sei eben „pitzig“. Der Pitz erheben und im Chor das anheimelnde Wort „Föttchensföhler“ pauken, das – dürr und deutsch – mit Pokneifer zu übersetzen ist. Die Wurzeln für Wallys theatrali- schen Übermut liegen – wo sonst? – in einer unglücklichen Kleinbürgerkind- heit. Aufgewachsen im pfälzischen Pir- masens als Sohn eines Lageristen und ei- ner Heimarbeiterin, träumte sich der Junge in die Kunstwelt des Theaters. Seine Inspirationen aber kamen aus dem Fernseher. Dort fesselte der nie- derländische Pummel-Entertainer Lou van Burg sein noch kleines Publikum mit der Spielshow „Jede Sekunde ein Schilling“, in den Pausen tanzte das Bal- lett von Paddy Stone. Mit fatalen Folgen für Wallys durstige Kinderseele: Wenn der Vater den Sohn auf den Fußballplatz zu den Heimspie- len des FK Pirmasens zerrte, sah der Traumtänzer in seiner rastlosen Phanta- sie die „Tribüne als Bühne“ und sich selbst in einem großen Schleier als ele- Bockmayer-Produktion „Rocky Horror Show“: Sado-Maso mit der Schnabeltasse ganten Ballerino. „Das Publikum“ im

250 DER SPIEGEL 45/1994 Stadion, so malte er es sich aus, „grölte“ bei seinem Anblick –„vor Begeisterung“, versteht sich. Wally floh aus der Enge der miefigen Wohnküche, die, wenn die Nachbarn zum Fernsehen kamen, „mit Zeitungspa- pier ausgelegt wurde“, ins Gefühlskino der Fünfziger. Gitte wurde später seine Lieblingssängerin („Da bin ich Fach- frau“), Schlagerfilme waren seine Lei- denschaft. Noch heute sind sie die heftig sprudelnde Quelle seiner Phantasie. 1970 begann Bockmayer seine Thea- terkarriere –alsGarderobier beidenKöl- ner Bühnen. Gleichzeitig wagte er sich daran, zusammen mit Rolf Bührmann, seine phantastischen Kopfgeburten in Schmalfilmen zu bündeln. Die Opern- parodien, mit den Regisseuren als Heroi- nen im Fummel, avancierten zum Ge- heimtip erlebnishungriger Cineasten. Bockmayer und Bührmann kündigten, machten eine eigene Kneipe auf, die „Filmdose“, und wurden berühmt. Wally inszenierte an Staatstheatern und drehte nebenher immer ambitioniertere Filme, 1981 die umstrittene Rummelplatz- Schmonzette „Looping“ mit Stars wie Shelly Winters und Sydne Rome. Erst 1984 besann sich der Regisseur auf seine wahre Stärke, den zotigen Brachial- Dem Publikum bleibt nur die Frage: Flüchten oder standhalten?

Humor. Das winzige „Theater in der Filmdose“ wurde mit dem Alpen-Ulk „Geierwally“ eröffnet. Zweifel am Ni- veau seiner Machwerke bügelte das Schindluder des Theaters stets selbstbe- wußt nieder: „Klamotte ist für mich ein Kompliment.“ In seinen handlungsarmen und poin- tenreichen Stücken pumpt der Autor und Regisseur die Anarchie von über- bordenden Kindergeburtstagen zur theatralischen Volksbelustigung auf. Seine Geschöpfe siedeln im Reiche Ka- lau und folgen der Dramaturgie des Kasperletheaters: Jeder muß mitma- chen, dem Publikum bleibt nur die Fra- ge: Flüchten oder standhalten? Doch auch der neue Kaiserhof mit seiner kräftezehrenden „Rocky Horror Show“ ist Wally nicht genug. Schon war er auf Schauplatz-Pirsch in der Eifel. Dort will er endlich die ultimative Karl- May-Exegese verfilmen: „Winnetunt und die Auster der Prärie“. Erprobte Allzweck-Aktricen wie Brigitte Mira und Hella von Sinnen haben bereits zu- gesagt. Und wieder stellt sich für Wally nur die eine, alles entscheidende Frage. „Wo trifft man den Punkt, an dem das Publikum lachen kann?“ Weiß der Geier, Wally. Y

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KULTUR

Fernsehen „Liebe, Mord, Vergewaltigung“ Vom Winde verweht: Die „Scarlett“-Weltpremiere in New York

evor von dem Epochen-Ereignis enttäuscht vom Ausbleiben irgendwel- „Scarlett“ die Rede ist, muß von cher bekannten Gesichter. BRobert Halmi gesprochen werden, Die Undankbaren! Wenn sie wüßten, denn er ist Scarletts Vater. wie groß dieses Ereignis zwischen Pisa „Ich bin Scarletts Vater“, sagt der rü- und Geiselgasteig gefeiert wird. Gla- stige Greis in der New Yorker Alice B. mour ist nicht länger ein Monopol Hol- Tully Hall, wo in wenigen Minuten die lywoods. Wir Europäer haben schließ- Weltpremiere des ersten Teils einer lich auch Geld. Fernsehverfilmung beginnt: Gezeigt Keine Stars? Den bornierten ameri- wird die TV-Fortsetzung des welter- kanischen Schaulustigen muß entgegen- folgsmäßig verfilmten Romanwelter- geschleudert werden, daß Robert Hal-

folgs „Vom Winde verweht“. mi, so steht es im Presseheft, „einer der SIPA Die Einladungsliste war dem Ereignis regierenden Könige der langen Fernseh- „Scarlett“-Darstellerin Leigh (1939) angemessen. Von den Turners (Ted und form“ ist. Schöpfer des Films „Hugo the „Höhepunkt ihres Lebens“ Jane) über die Newmans (Paul und Hippo“. Nun, mit „Scarlett“ (und Gel- Joanne) bis Goldie Hawn und Walter dern Leo Kirchs und Silvio Berlusco- Vivien Leigh! Ein Raunen geht durch Matthau war alles geladen, was funkelt. nis), nähert sich ein reiches Produzen- die Ränge. Gut, sie konnten dann doch nicht kom- tenleben der Erfüllung. Leider könne sie, Vivien Leigh, der men, dafür aber Knut Föckler von Sat 1, Warum, so wird die Frage eines unge- Einladung nicht Folge leisten (Grippe, der Vater der Franziska-von-Almsick- nannten Journalisten im Presseheft zi- Fieber, Krankschreibung), sie sei aber Show, und Michael Conrad von der tiert, warum seine Filme immer dieses sicher, daß dieses Ereignis „ein Höhe- Werbeagentur Leo Burnett, der Vater „gewisse Etwas“ hätten? „Weil ich eine punkt ihres Lebens“ gewesen wäre. des Begriffs „Info-Elite“. Und eben Ro- klassische europäische Erziehung genos- Tatsächlich: ein Lebenshöhepunkt. bert Halmi, der Vater von Scarlett. sen habe“, antwortet Halmi, der ungari- Der Vivien Leigh! Vielleicht, denkt man Sicher, die Lokalnachrichten nahmen sche Emigrant. „Molie`re und Balzac zu sich nun ganz kurz, hat sie beim Diktat keine Notiz von dem Weltereignis. zitieren ist für mich eine Kleinigkeit.“ genuschelt. Oder die Sekretärin hat sich Auch die Zeitungen berichteten lieber Sein Erfolgsgeheimnis: „Geschmack“. verhört. Oder die ganze Veranstaltung über Mickey Rourkes letzte Schlägerei. Jetzt steht der große alte Mann unga- ist doch nur ein verlogener Alptraum? Die Schaulustigen, die rätselnd am rischer Kultiviertheit dort oben und liest Vorn steht Robert Halmi, der un- Broadway standen (Scarlett? Ein neues einen Brief vor, den kein anderer ge- beugsame Bildungshusar, und setzt den Parfüm?), zeigten sich ziemlich schnell schrieben hat als – die Sekretärin von Schlußpunkt seiner Rede: „Neun Millio- nen.“ Soviel hat er für die Fernsehrech- te gezahlt. Irgendeiner der Werbeleute schneuzt sich ergriffen die Nase. Dann beginnt der Film. Auch auf die Gefahr hin, die ganze Spannung zu nehmen: So ganz an das Original kommt die Fortsetzung nicht heran. Sicher, die neue Scarlett O’Hara, die von Joanne Whalley-Kilmer gespielt wird, hat imponierende 120 Kostüm- wechsel, gegenüber nur 67 Kostüm- wechseln der „alten“ Scarlett O’Hara. Dafür hatte die „alte“ Scarlett aber auch nur dreieinhalb Stunden zur Verfü- gung, während die neue in ihrem TV- Vierteiler auf insgesamt acht Stunden kommt. Im Schnitt hat die alte Scarlett (Vivien Leigh, die an diesem Abend schriftlich entschuldigt war) also immer noch die Nase knapp vorn. Der Rest ist schnell erzählt. Scarlett liebt Rhett noch immer und fährt ihm hinterher nach Charleston, wo sie von SAT 1 / GREENE „Scarlett“-Szene*: 30 Werbesekunden für 350 000 Dollar * Mit Joanne Whalley-Kilmer und Timothy Dalton.

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Am besten sagt es vielleicht der Darsteller des Rhett But- ler, Timothy Dalton, der frü- her James Bond dargestellt hat und demnach auch schon eini- ges gesehen hat von der Welt: „Dieser Film“, schmunzelt er auf einem Werbevideo, das den Premierengästen mitgege- ben wird, „dieser Film hat ein- fach alles: Liebe, Mord und Vergewaltigung.“ Robert Halmi, Scarletts Va- ter, findet, daß der Regisseur der Vorlage eine „völlig neue Dimension“ abgewonnen hat. So etwa fährt die Kamera alle fünf oder acht Minuten auf ein Gesicht zu und bleibt dort hän- gen und blendet ab – das sind dann die Stellen, wo bei der Premierenvorführung jeder selber schon mal die Klopa- pierreklame und die für Bier und Autos einsetzen konnte.

SAT 1 / GREENE Das eben macht gutes Kino „Scarlett“-Darstellerin Whalley-Kilmer (1994) aus – daß man innerlich betei- 120 Kostümwechsel in acht Stunden ligt ist und nicht nur einfach vollgerieselt wird. ihm höhnisch ausgelacht wird. Aber Der Erfolg der Premierenvorführung dann nimmt er sie doch mit auf einen war entsprechend. Manch einer trat Segeltörn. Es kommt, wie es kommen nachdenklich auf den Broadway hinaus, muß: Das Segelboot kentert, er rettet andere taten’s diskutierend: „30 Sekun- sie, trocknet ihre Sachen am Kamin und den für 350 000 Dollar bei CBS, das sind macht ihr ein Kind. Aber er weiß nichts Preise wie bei der Superbowl.“ Bei Sat 1 davon. in Deutschland, sagt ein anderer, sind es In den weiteren Folgen wird Scarlett 89 000 Mark pro halbe Minute. nach Irland auf den Besitz ihrer Ahnen Und genau das ist es wohl, was auch fahren, von einem perversen englischen Robert Halmi, dem Visionär und Absol- Lord gequält, später wegen Mordes zum venten der Universität in Budapest, vor- Tode verurteilt und insgesamt natürlich schwebte, als er sich an dieses Projekt eher grüne Tweedstoffe tragen, die dem machte: „Mich interessieren Geschich- Klima des Nordens angemessen sind. ten, die Grenzen überwinden.“ Der Va- ter der Scarlett hat mit diesem Film wo- möglich die Mutter aller Geschichten Mißverständnisse, gedreht. um die Später stehen sie dann alle im Lichter- glanz der „Tavern on the Green“ am Spannung zu erhöhen Central Park, die Kirch-Leute und die „Info-Elite“, und Hostessen in Südstaa- Es gibt auch ordentlichen politischen ten-Kostümen verteilen Werbetüten mit Zündstoff. Einmal sitzt Scarlett auf dem Scarlett-T-Shirts, und am Büfett steht Sofa und weint, weil Rhett wieder fies Robert Halmi, der ungarische Ästhet. zu ihr gewesen ist. Sie läßt ihre Laune Charmeur und Bildungsbürger alter an der schwarzen Dienerin aus: „Ich Schule, neigt er sich zu einer Dame und würde dich am liebsten auspeitschen.“ flüstert ihr ins Ohr. Man meint, einen Natürlich ist man als Zuschauer erst Goldzahn blitzen zu sehen. Wahrschein- einmal betroffen über soviel Rassismus. lich zitiert er wieder Balzac. Doch die Schwarze kontert: „Vergessen Sein nächstes Projekt? Die Verfil- Sie nicht, Scarlett, daß die Sklaverei ab- mung des Romans „For Love Alone“ geschafft ist“ – und hat die erleichterten von Ivana Trump, der geschiedenen Lacher auf ihrer Seite. Ehefrau des Immobilienhais Donald Soviel sei schon hier verraten: Scar- Trump. Auch sie eine Osteuropäerin lett und Rhett lieben sich. Ja, und am und Emigrantin. Eine Seelenverwandt- Schluß werden sie sich bekommen, aber schaft womöglich. Auch sie hat einen zwischendurch müssen sie durch allerlei ziemlich guten Geschmack. Sie läßt sich Mißverständnisse, und man hat manch- gern mit goldenen Pantöffelchen auf Ti- mal den Eindruck, daß sie extra einge- gerfell-Sofas fotografieren. Das ist min- baut sind, um die Spannung zu erhö- destens einen Vierteiler wert. hen. Matthias Matussek

DER SPIEGEL 45/1994 253 . PERSONALIEN

oe¨l Robuchon, 49, und Jean Claude JVrinat, 58, Starköche aus Paris, erhör- ten den Ruf der japanischen Groß- brauerei Sapporo Breweries. Um ein französisches Luxusrestaurant in der ja- panischen Hauptstadt zu etablieren, hatten die Brauereibesitzer keine Mü- hen und Kosten gescheut. Mehr als 150 Millionen Francs (rund 50 Millionen Mark) war ihnen die Nachbildung eines Loire-Schlosses, eine Art japanisches Chambord, mitten in der City von To- kio wert; und erfolgreich warben sie um die beiden großen Namen der französi- schen Gastronomie. Bei der Eröffnung des Schloßrestaurants „Taillevent-Ro- buchon“ zahlten die Gäste 18 000 Yen (rund 280 Mark) pro Person für ein Sie- ben-Gänge-Menü ohne Wein. „Sieben Sterne für ein Restaurant“, lästerte jetzt Namensgeber Robuchon über die japanische Gigantomanie, seien „sehr, sehr gut“: jeweils drei Sterne für die zwei Pariser Etablissements der beiden

REUTER Gastronomen plus der Stern, der die Schloßrestaurant „Taillevent-Robuchon“ in Tokio Sapporo-Bierflaschen ziert.

eter Gauweiler, 45, baye- Stoiber gefiel es, den größten lich an Sympathie verloren. hohen Figuren in typischer Prischer Landtagsabgeord- CSU-Sieger völlig auszuboo- Der ARD-Anchorman, be- Kennedy-Pose, Hand in der neter und Vorsitzender des ten.“ Bild fragte in einer kannt für nicht immer spritzi- Jackentasche, die Linke do- CSU-Bezirks München, kann „großen Telefonaktion“, ob ge Witzchen zum Abschluß zierend erhoben, kosten in die München-Ausgabe der es dem Leser denn „gefällt, der „Tagesthemen“, hatte ei- den USA rund 250 Mark und Bild-Zeitung mittlerweile als daß Gauweiler von der nen Beitrag über das Essen sind als Sammlerstücke sehr seine Hauspostille betrach- Macht in Bayern ferngehal- launig kommentiert: „Man begehrt. Die Kennedy-Figur ten. Wochenlang hatte Bild ten“ werde. Das veröffent- ißt so lange Spätzle, bis man ist das Glanzstück eines Ex- den im Februar zurückgetre- lichte Ergebnis destillierten sich nach Pommes frites portauftrags für Porzellanfi- tenen Umweltminister in der Bild-Mitarbeiter aus angeb- sehnt.“ Die Retourkutsche guren über mehr als 1,1 Mil- lich „Tausenden“ von Anru- kam kurz darauf aus der lionen Pfund, den der Brite fen: „ein überwältigender schwäbischen Kapitale. Die mit einer amerikanischen Fir- Vertrauensbeweis für Gau- Stuttgarter Nachrichten emp- ma abschloß. Fear, der Ken- weiler“. fanden gleichfalls Überdruß: nedy immerhin einmal in sei- „Man schaut so lange Wik- nem Leben traf, als er in der tefan Heym, 81, parteilo- kert, bis man sich nach Lo- Presseabteilung der Briti- Sser, für die PDS in den jewski sehnt.“ schen Botschaft in Washing- Bundestag eingezogener Ab- ton jobbte, ist von seinem Er- geordneter, offenbarte sich hris Fear, 51, britischer folg bei den traditionsbewuß- wieder mal als skurriler Sil- CGeschäftsmann aus Che- ten Amerikanern überwäl- benstecher. Ob er denn an shire, hatte die Idee seines tigt: In den nächsten fünf Gott glaube, fragte ihn ein Lebens. Er verkauft John-F.- Jahren will er alle 42 US-Prä- Journalist auf einer Presse- Kennedy-Figuren an Ameri- sidenten in Porzellan auf den konferenz. Jedenfalls rede er kaner. Die aus Porzellan ge- amerikanischen Markt brin- häufiger mit jenem höheren formten, gut 20 Zentimeter gen. Wesen, bekannte der künfti- ge Alterspräsident des Bun- destages und rückte die Per-

T. EINBERGER / ARGUM spektive nach Heym-Art zu- Gauweiler recht: „So wie ein Vater zu seinem Sohn. Dann sage ich sogenannten Kanzlei-Affäre zum Beispiel zu ihm, Mensch gegen „Hetzer, Schwätzer was hast du denn da wieder und Heckenschützen“ aus für Mist gebaut.“ der eigenen Partei verteidigt. Nun inszenierte das Blatt den lrich Wickert, 51, franko- angeblichen Volkszorn über Uphiler Fernsehmoderator Bayerns Ministerpräsident, und moralisierender Freizeit- der den Münchner CSU-Chef philosoph (Buchtitel: „Der

bei der Kabinettsbildung Ehrliche ist der Dumme“), BULLS übergangen hatte: „Edmund hat bei den Schwaben erheb- Fear, Kennedy-Figuren

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ranz Stänner, 45, stellver- Ftretender Sprecher der rot- grünen Minderheitsregierung Falsches Fell in Sachsen-Anhalt, kennt wi- dersprüchliche Gefühle in für den Kopf seinem neuen Job. Für man- che Wessis, so der frühere Pressesprecher von Bündnis 90/Die Grünen, habe Magde- burg einen „Charme wie Magnitogorsk“. Andererseits gebe es einen angenehmen Reiz, „jeden Morgen zu überlegen: Wie mache ich ei- nen Staat“. Nach den ersten hundert Regierungstagen konnte Stänner auch schon einen persönlichen Erfolg buchen – seinen Auszug aus dem Wohncontainer „noch vor dem Winter“.

im Inhofe, 59, republikani- Jscher Bewerber um einen Senatssitz für Oklahoma, de- nunziert, wie viele US-Politi- ker in diesen Tagen des

PETA Wahlkampfes zum amerika- Crawford nischen Kongreß, den politi- schen Gegner hemmungslos. Cindy Crawford, 28, amerikani- In Fernsehwerbespots läßt sches Model, hat sich wie Naomi Inhofe seinem demokrati- Campbell und Tyra Banks für eine weitere Kampagne gegen das Tra- gen von Pelzen einspannen lassen. Hieß in früheren Aktionen der People for the Ethical Treatment of Animals (Peta) der Slogan: „Ich ge- he lieber nackt, als daß ich einen Pelz trage“, verzichten die Pelzgeg- ner diesmal fast ganz auf Worte: auf dem Kopf eine Kappe aus fal- schem Fell, daran ein Sticker, der ein Pelz(„fur“)-Verbot symbolisiert, und in den Armen eine Katze, so US-Werbespot posiert die nackte Cindy Crawford für die gute Sache. Diese Art schen Rivalen Dave McCurdy sprachloser Werbung komme der eine Lügennase wachsen. MTV-Generation entgegen, behaup- McCurdy keilt in einem Spot tet Peta-Kampagnenchef Dan Ma- zurück: „Jim Inhofe hat schon thews: „Die Leute wollen nicht in- wieder Probleme mit der formiert, sie wollen unterhalten Wahrheit.“ In Kalifornien at- werden.“ Auf diese Weise „empfan- tackiert der Republikaner Mi- gen sie die Botschaft“, so Ma- chael Huffington die demo- thews, „ohne es zu merken.“ In der kratische Senatorin Dianne Schweiz ist die Peta-Botschaft von Feinstein, weil ihr jedes Mittel hartleibigen Altvorderen verstan- zum Machterhalt recht sei. In den worden. Im Schweizer Fernse- einem TV-Spot läßt er fragen: hen dürfen die Schönen dieser „Welcher Kandidat ist 50 Mil- Welt nicht mit nackter Haut gegen lionen Dollar schwer und be- das Pelztragen protestieren. Der nutzt einen vom Steuerbürger Schweizerische Pelz-Fachverband bezahlten Chauffeur auf dem erwirkte dieses Verbot in einer Weg zur Arbeit?“ Der Wahl- einstweiligen Verfügung. Dafür kampf-Berater der Demokra- kommen demnächst Crawford-Kap- ten, Mark Mellman, weiß den pen (Grundstoff: recycelte Plastik- Grund für die Negativkampa- flaschen) in den Handel. gne: „Die Wähler glauben in- zwischen am liebsten das Schlechteste.“

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Gestorben ter neben der Spanischen Treppe. In der Ewigen Stadt, die ihn im Frühjahr noch Agnes Fink, 74. Sie hätte immer gern zum verdienten Ehrenbürger machte, ist „mal was Heiteres“ gespielt, aber sie Richard Krautheimer am vergangenen durfte nicht, vielleicht zu Recht. Wenn Dienstag gestorben. sie lächelte auf der Bühne oder vor der Kamera, dann spielte das immer ein we- Sydney Dernley, 73. Er hatte eine sehr nig ins Absurde oder Zynische. Agnes spezielle Art von Galgenhumor, er war Fink, eine der ganz großen deutschen gewissenhaft, und er war schnell. „Ich Charakterdarstellerinnen, war eher die hängte den Typen in sieben Sekunden. Strenge, Herbe, die mit den funkelnden Das sollten sie ins Guinness-Buch der Augen, mit der Rekorde aufnehmen“, erzählte Sydney klangvollen Stimme, Dernley einmal stolz. 25 Menschen rich- die tief aus dem Kör- tete der englische Teilzeit-Henker hin per kam, mit der un- (hauptberuflich arbeitete er in einer glaublichen Bühnen- Kohlenmine), die meisten davon in sei- präsenz – wenn sie ner Zeit als Assistent des britischen auf der Bühne stand, Hauptscharfrichters Albert Pierrepoint. war das manchmal, Anders als sein ehemaliger Chef, der als könne niemand nach seiner Pensionierung gegen die mehr neben ihr exi- Wiedereinführung der 1965 abgeschaff-

stieren. Nach einem TEUTO PRESS ten Todesstrafe kämpfte, plädierte Fehlstart am Theater Dernley bis zuletzt in Heidelberg spielte sie die großen Rol- dafür – unter ande- len an den großen Bühnen – Maria rem in seinem Buch Stuart, Desdemona, die Agrippina in „The Hangman’s Racines „Britannicus“, die Martha in Tale“. Er kam von „Wer hat Angst vor Virginia Woolf“. seinen blutigen Er- Und wenn jemand im Fernsehen, für innerungen nicht „Derrick“ oder „Tatort“, eine bittere al- mehr los, in seinem te Dame brauchte, dann war sie es, die Keller hatte er ein den Job am besten tat. Agnes Fink, die eigenes Museum seit 1945 mit dem Schweizer Regisseur eingerichtet, mit ei- Bernhard Wicki verheiratet war, starb nem betriebsberei- REX FEATURES am vorvergangenen Freitag in Mün- ten Galgen, Strik- chen. ken und Augenbinden. Mit Sydney Dernley, der am vergangenen Dienstag Richard Krautheimer, 97. Legendäre im englischen Mansfield den Folgen ei- Bauten waren seine Domäne, und am nes Herzanfalls erlag, starb der letzte Ende war der Kunsthistoriker selbst ei- Henker des Königreiches. ne Legende. Schon sein Lebensweg bot Stoff dafür: Geboren in Fürth, überleb- Berufliches te der Weltkriegsfreiwillige die Schrek- ken von Verdun, Björn Engholm 54, ehemaliger SPD- wurde in Marburg Bundesvorsitzender und früherer Mini- Dozent und war be- sterpräsident in Schleswig-Holstein, will reits anerkannter Ar- sein Mandat als Landtagsabgeordneter chitekturfachmann, in Kiel abgeben. Engholm zog damit die als er vor den Nazis Konsequenz aus der Empörung über ei- in die USA floh. nen Beratervertrag, den er im Sommer Dort begründete er dieses Jahres mit dem Energiekonzern dann seinen Ruhm PreussenElektra abgeschlossen hat. mit schnörkellosen Zahlreiche SPD-Parteifreunde hatten

C. H. BECK VERLAG Arbeiten zur Renais- den Vertrag als atompolitische Wende sancekunst und über Engholms gebrandmarkt, da der Ener- ein fast endloses Thema: die Bauge- giekonzern an allen drei Kernkraftwer- schichte Roms. In 50 Jahren erarbeitete ken in Schleswig-Holstein beteiligt ist er eine gewaltige Bestandsaufnahme al- und Engholm als Regierungschef stets ler seiner christlichen Basiliken; zuletzt für einen Ausstieg aus der Atomenergie kannte er fast jeden Stein auch außer- plädiert hatte. Der ehemalige SPD-Chef halb der Kirchen. Fabelhaft kompetent verurteilte die Schelte seiner Genossen konnte er so noch mit über 80 Jahren, in vergangene Woche als „verlogen“. Er seinem Buch „Rom – Schicksal einer wolle sich durch den mit angeblich Stadt“, die Verwandlung der antiken 100 000 Mark jährlich dotierten Berater- Weltmetropole zum geisterhaft-bäuerli- vertrag lediglich „Bausteine einer neuen chen Kaff im viel zu weiten Mauerring Existenz“ sichern. Die Kritik aus der ei- schildern. Seit 1971 wohnte „Lord Ri- genen Partei sehe er als „eine elende chard of the Basilicas“ auch in Rom: in Behinderung meines Weges in eine pri- der Bibliotheca Hertziana, wenige Me- vate Zukunft“.

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Werbeseite .

7. bis 13. November 1994 FERNSEHEN

MONTAG dächtnis haften bleibt, sind 17.15 – 17.45 Uhr 3Sat der gefährliche Ernst und die unbedingte Entschlossenheit Blauer Sarg und grüner auf den Kindergesichtern und Rasen die schleimige Durchtrieben- Die deutsche Friedhofsun- heit der Religionslehrerin. kultur ist ein Grund, sich das Deren schlimmes Treiben fin- Sterben noch einmal gut zu det die ungeteilte Zustim- überlegen. Einzelgräber mit mung des katholischen Pfar- Umrandung, dazu der übli- rers. Als der Südwestfunk das che Grabstein aus Granit mit Stück in München der Presse den protzigen Goldbuch- vorführte, versuchten konser- staben und der spießigen vative Kirchenvertreter ge- Fleißige-Lieschen-Bepflan- gen den Film Stimmung zu zung. „Klamottenfelder“ hei- machen. Drohungen erhielt ßen denn auch bei Kritikern auch Regisseur Schmid wäh- diese Schädelstätten der rend der Dreharbeiten für

Phantasie. Dem 69jährigen U. RÖHNERT sein eindringliches, konzen- Architekten Hans-Kurt Bo- „Delicatessen“-Darsteller Pinon triertes Filmdebüt. ehlke wird solch schreckliche 22.15 – 23.55 Uhr ZDF DIENSTAG Behausung nicht die letzte 22.30 – 0.15 Uhr Hessen III Ruhe nehmen. Sein blauer Delicatessen 21.15 – 22.40 Uhr Südwest III Sarg („mit nur wenigen Or- Zu klug für die Liebe namenten“) wartet seit Jah- Die beiden Franzosen Jean- Himmel und Hölle Der Wissenschaftler Pat ren auf Belegung, die Grab- Pierre Jeunet und Marc Illustre Besetzung für einen (Spencer Tracy) und die jun- gestaltung hat Boehlke längst Caro, der eine Werbefilmer, Film, der in der Reihe ge Witwe (Katharine Hep- entworfen. Der Film gibt an- der andere in der Comic-Sze- „Debüt im Dritten“ gezeigt burn) haben genug von der hand des einzigen deutschen ne tätig, feierten mit diesem wird: Hannelore Hoger spielt Liebe, deshalb führen sie eine „Modellfriedhofes“ in Nürn- Film (1990) eine schwarze eine fanatisch bigotte Religi- rein platonische Ehe. Als die berg Denkanstöße fürs Schö- Messe des Humors – gruse- onslehrerin, Katja Riemann beiden einmal die Nacht im ner-tot-Sein. lig, grotesk, lächerlich und („Der bewegte Mann“) eine Schlafwagen verbringen, läßt grandios. „Delicatessen“, für junge Mutter. Das auf genau- er sich ans Bett binden – nicht nur sechs Millionen Mark ge- en Recherchen beruhende 20.15 – 21.45 Uhr 3Sat wegen der Triebe, sondern dreht, ist ein Meisterwerk Spiel von Hans-Christian weil er im Schlaf wandelt. Tanz auf der Kippe des schrägen Geschmacks. Schmid, 29, zeigt, wie die ka- Trotzdem gibt es in Harold S. Jürgen Brauers Geschichte Ein junger Musikclown tholische Sekte der „Legion Bucquets Film (USA 1945) vom 17jährigen Jungen (Dominique Pinon) nimmt in der heiligen Engel“ mit fana- ein Happy-End. Allerdings (Frank Stieren), der mit den einem düsteren Haus eine tischer Frömmigkeitserzie- keinen Kuß, ein Tribut an die Regeln der realsozialisti- Hausmeisterstelle an. Was er hung eine Schülerin (Shirli prüde Zeit. Das Knistern zwi- schen Gesellschaft nicht zu- nicht ahnt: Die Mieter Volk) in ihren Bann zieht schen den Hauptakteuren ist rechtkommt, ist ein Über- sind äußerst geschmackvolle und von ihrer Mutter ent- dennoch zu spüren. Immer- gangsfilm: Die Vorlage, Jurij Menschenfresser, bald soll fremdet. Das Kind, gepeinigt hin hatten die Hepburn und Kochs Roman „Augenopera- ein Festessen steigen, den vom apokalyptischen Engels- Tracy 27 Jahre lang eine Af- tion“, entstand noch in der jungen Pedell finden sie ein- und Dämonenglauben, ver- färe, die für alle Welt ein of- DDR, zu einer Zeit, da nie- fach zum Reinbeißen sympa- sucht die Seele der sündigen fenes Geheimnis war, das bei- mand ihr baldiges Ende vor- thisch. Mutter zu retten. Was an die- de dennoch nicht publik aussah. In die Kinos kam der sem Spiel besonders im Ge- machten. Film nach der Wende, und 22.30 – 23.00 Uhr 3Sat Brauer hatte noch eilig – zum Schaden des Films, wie Kriti- Full Wax ker meinten – versucht, die Die rotzfreche Entertainerin Story zu aktualisieren. Es Ruby Wax ist eine Amerika- gibt einen einzigen heiteren nerin in London: geschmack- Moment in dem ansonsten los, unhöflich und chronisch schwermütigen Opus: Da schwanger. In ihrer Persona- tanzen der junge Mann und lity-Show (englisch mit deut- seine Exlehrerin (Dagmar schen Untertiteln) unterhält Manzel) auf dem Müll. sich die kugelrunde und sehr launische Gastgeberin mit Stars. 21.00 – 22.00 Uhr MTV

Unplugged with Björk 23.00 – 23.30 Uhr RTL Der Clip-Sender bringt eine Art Kammerkonzert mit der 10 vor 11 isländischen Popdiva Björk. „Blind und taub möchte ich Neben eigenen Liedern singt sein“ – Der Starjournalist sie Klassiker, zum Beispiel Andre´ Müller über sich

„My Funny Valentine“. selbst. Die Annoncierung HESSISCHER RUNDFUNK klingt mehr wie 5 vor 12. „Zu klug für die Liebe“-Paar Tracy, Hepburn

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MITTWOCH 23.30 – 1.45 Uhr Vox 20.15 – 22.10 Uhr Sat 1 KIOSK 20.15 / 21.45 Uhr ARD Der unheimliche Komplize Kommissar Rex Im Sog der Einheit / John Brent (Stewart Gran- Es war zu befürchten: Um Disney zum Grenze ’94 – Ein ger), stellvertretender Direk- Meiser in die Wade zu bei- deutsches Tagebuch tor einer Transportfirma, ßen, läßt die Konkurrenz den Frühstück Zum fünften Jahrestag des wird erpreßt und verdächtigt, Schäferhund Rex von der Der Pionier im deutschen Mauerfalls zwei ARD-Doku- den Tresor einer Firma aus- Leine des Kommissars Richie Frühstücksfernsehen mentationen zum Thema: geraubt zu haben. Die Lö- Moser (Tobias Moretti). Der steigt aus. Der Kölner Zunächst (20.15 Uhr) sucht Sender RTL, der 1987 ein vierköpfiges Autoren- kurz vor Sat 1 mit dem team (unter anderen Brigitte Weck-TV debütierte, wik- Seebacher-Brandt) die dra- kelt seine Berliner Re- matischen elf Monate vor der daktion von „Guten Mor- Einigung mit Bildern von da- gen Deutschland“ ab. Ei- mals und Aussagen von Zeit- nige der rund 50 Mitar- zeugen (Helmut Kohl, Hans beiter sollen übernom- Modrow, Michail Gorba- men werden. RTL-Chef tschow) nachzuzeichnen. Die Helmut Thoma hatte im Folgen der deutschen Einheit Frühjahr seinen Berater analysiert (21.45 Uhr) die Peter Bartels (geschätz- Reportage „Grenze ’94 – Ein tes Jahreshonorar: über deutsches Tagebuch“ von 500 000 Mark) nach Ber- Ralph Giordano und Jossi lin geschickt. Doch der Kaufmann. Giordano hatte ehemalige Bild- und Su- vor 16 Jahren einen Film per-Chefredakteur schei- über die Absperrungen ge-

dreht und schnitt Szenen von TELEBUNK damals in den heutigen Re- „Kommissar Rex“-Darsteller Moretti port. Herausgekommen ist ein nachdenklicher Film mit sung des Falles überrascht soll in dieser 13teiligen Krimi- vielen Fragen, zum Beispiel: auch das Publikum. Ein ge- serie (Buch: Pater Hajek, Pe- „Was hat unsere eigene Ge- scheiter Kriminalfilm (Groß- ter Moser; Regie: Hajo Gies, schichte zum Bau und zum britannien 1960; Regie: Basil Markenzeichen: Schimmi- Fall der Mauer beigetragen?“ Dearden). Tatorte) in Wien für Ordnung Giordanos Fazit: Das Ver- sorgen. schwinden der Grenze sei für ihn ein Wunder. DONNERSTAG 22.10 – 0.55 Uhr Pro 7 ACTION PRESS 20.15 – 21.15 Uhr RTL Die grünen Teufel Bartels 20.15 – 22.15 Uhr RTL Stunde der Entscheidung Kaltes Kriegerherz, schlage terte mit dem Versuch, Das Baby der Hans Meiser, der ominiprä- höher: In diesem, mit Schüt- Themen der Boulevard- schwangeren Toten sente Marathonmann von zenhilfe der US-Armee er- presse in Bewegt-Bilder Doku-Drama (Regie: Wolf- RTL, als Bauleiter auf den stellten Durchhalte-Licht- umzusetzen. Im Septem- gang Mühlbauer), angelehnt Straßen des Schicksals: Ein spiel (USA 1967) führt John ber ertrugen im Durch- an den Fall des Erlanger Ba- kurzer, fiktiver Fernsehfilm Wayne als Colonel einen schnitt nur rund 220 000 bys, aber auch andere Fälle. zeigt, was Fans der Linden- Haufen Helden durch die Ge- Zuschauer hektische Ka- Mit Heino Ferch, Rosel straße so ähnlich schon fahren des Vietnamkrieges. meraführung und lange Zech, Anna Utzerath (siehe durchgestanden haben. Ein Hubschrauber knattern, Kommentare. News-Jun- auch Seite 96). geiler Abteilungsleiter belä- schlitzäugige Vietcong wer- kies guckten frühmor- stigt eine Angestellte. Als de- den zuhauf hingemäht; doch gens lieber bei ARD/ZDF 20.15 – 22.10 Uhr Sat 1 ren ebenfalls in der Firma be- auch Kuriositäten bietet das (300 000 Zuschauer) schäftigter Mann entlassen Kriegsgeschick: In einem Lu- und Sat 1 (240 000) zu. Tödliche Wahrheit wird, überlegt die Frau, ob xusquartier stellt sich ein Die Zeit des Frühstücks- Als „großen TV-Film“ an- sie auf die Angebote des Vietcong-General Sekt und TV (Jahresverlust: rund nonciert Sat 1 dieses Melo- Vorgesetzten eingehen soll Kaviar ans Bett, um eine 13 Millionen Mark) füllt dram (Buch: Peter Guth- (nein!!!), um die Wiederein- junge Dame zu verführen. RTL, das jährlich über 30 mann; Regie: Rainer Wolff- stellung des Angetrauten zu Ein liberaler Journalist wird Millionen Mark sparen hardt). Ein Angestellter erreichen. An dieser Lebens- von der Friedenstaube in ei- will, demnächst mit dem (Helmut Berger) kommt so weiche setzt zum erstenmal nem Bellizisten verwandelt. halbstündigen News-Ma- richtig in die Bredouille: Be- die Zuschauerdiskussion ein, Wayne, dessen Film gazin „Punkt 7“ und Kurz- ruflich droht die Versetzung, und der Wille der Mehrheit Newsweek als „entschieden nachrichten aus der Köl- seine Frau (Katharina Mei- bestimmt die weitere Ent- dumm“ bewertete, drehte ner Zentrale. Zwischen necke) geht fremd, die Toch- wicklung der Handlung. sein Opus in den Wäldern des den Informationen sollen ter wird lesbisch, der Sohn ist Fernsehen ist göttlich: Das US-Staates Georgia. Nach Cartoons des RTL-Part- schon vor Jahren bei einem Leben leben andere, die Ent- Vietnam reiste der Schauspie- ners Disney junge Zu- Unfall ums Leben gekom- scheidung treffen die Zu- lerheld mit den blauen Augen schauer anlocken. men . . . Schicksalsstoff en schauer, und Meiser schwebt nur, um Autogramme an die gros statt ganz groß. über allem. Ledernacken zu verteilen.

DER SPIEGEL 45/1994 259 . FERNSEHEN

FREITAG 0.25 – 1.30 Uhr Sat 1 hafen, in seinen rheinnahen Industriezonen nicht gerade DIENSTAG 19.25 – 20.15 Uhr ZDF Lenny Kravitz: The Heimstatt städtebaulicher 23.10 – 23.40 Uhr Sat 1 Universal Love Tour Ein besonderes Paar Schönheit, bekommt als SPIEGEL TV Blanker Hans, wo bliebst Von diesem Ausnahme-Gi- Filmkulisse ein wenig den dü- REPORTAGE steren Glamour der Straßen du? Schon wieder schimmel- tarristen mit den Rastalocken Die Huren von Paris – Ge- von Manhattan. reitet das Sylter Friesenhaus- und dem schrägen Sixties- spräche auf dem Straßen- besitzerpaar Klausjürgen Outfit stammen nicht nur ef- strich der Liebe. SPIEGEL- Wussow und Gila von Wei- fektvolle Interpretationen 20.15 – 21.45 Uhr ZDF TV-Autor Jean-Michel tershausen zu neuen Folgen von Rock-Pop, Rhythm und Karussell des Lebens Carre´ hat die jungen Frau- über den Schirm. Blues, sondern auch Hits an- en über Monate an ihrem derer Musikstars: „Justify My Was Sat 1 kann, kann das Arbeitsplatz begleitet – 20.15 – 21.44 Uhr ARD Love“ (Madonna) und „Be ZDF auch: Kitsch as Kitsch auf dem Straßenstrich, in My Baby“ (Vanessa Paradis). can. Den zweiten Film nach billigen Hotels und auf öf- Der Schrecken lauert „The UniversalLoveTour“ist einer Vorlage von Rosa- nebenan fentlichen Toiletten. Sie ein Revival seiner nicht mehr munde Pilcher inszenierte stehen an den Boulevards Die neue Doku-Doku- neuen eigenen Hits wie „Are Rolf von Sydow mit Christia- am Rande der Stadt. Dort, Krankheit infiziert nun auch You Gonna Go My Way“. ne Hörbiger als frisch verwit- wo die käufliche Liebe bil- die Öffentlich-Rechtlichen. lig ist. Dieser US-Film (1992) vom Vergewaltiger in einer Appartmentanlage ist einem MITTWOCH realen Fall nachgebildet 21.50 – 22.35 Uhr Vox (und der könnte seinerseits – SPIEGEL TV THEMA rein theoretisch – von einer Thrillervorlage beeinflußt Wie verführerisch ist Ge- sein). Mit den Doku-Dra- walt im Film? – von „Boyz men verhält es sich noch ’N The Hood“ bis „Natural schlimmer, als der Titel ver- Born Killers“ – wenn Hor- kündet: Der Schrecken lau- ror und Tod nachgespielt ert überall. werden.

FREITAG SAMSTAG 22.05 – 22.35 Uhr Vox 20.15 – 21.45 Uhr ZDF SPIEGEL TV Rufmord INTERVIEW Donna Summer – die ehe- Vorläufig der letzte Fall mit SWF Fred Breinersdorfers An- „Tatort“-Paar Folkerts, Raacke malige Stöhn-Göttin des waltsfigur Abel (Günther Ma- Soft-Pop („Love To Love ria Halmer):Diesmal muß der SONNTAG weter Tante, Aline Metzner You Baby“) startet ein Comeback. Donna Sum- arbeitsscheue Jurist um seine 20.15 – 21.44 Uhr ARD als traurigem Teenager und berufliche Existenz kämpfen. Jacques Breuer als begehrtem mer spricht über Glauben, Sein Exmandant, der Journa- Tatort Maler. Kinder und ihr spezielles list Anstrutter (Vadim In den schaumigen Schnulzen- Verhältnis zu Deutsch- land. Glowna), fühlt sich schlecht gewässern muß sich dieser gut 20.15 – 22.15 Uhr Sat 1 vertreten und startet eine Ver- gemachte (Regie: Nina Gros- leumdungskampagne. Eine se), finstere Tatort behaup- Scarlett SAMSTAG attraktive Aushilfe (Sonja ten. Es geht um einen Under- Auftakt zur Fortsetzung des 22.00 – 23.40 Uhr Vox Kirchberger) weckt die Zu- cover-Agent (Dominic Raak- Romanklassikers (siehe Seite neigung ihres Chefs, spielt ke), dessen Kollege bei einer 252). Scarlett (Joanne Whal- SPIEGEL TV SPECIAL aber eine dubiose Rolle. gemeinsamen Observation ei- ley-Kilmer) reist nach Tara Fall der Mauer – eine nes Casino-Königs (Rolf ans Sterbebett ihrer Mammy. Chronik der Ereignisse, Hoppe) einem Mord Sie will sich mit ihrem Mann die das Ende der DDR vor- zum Opfer fällt. Und es Rhett Butler (Timothy Dal- bereiteten. geht um eine Liebesge- ton) versöhnen und lockt ihn schichte zwischen der auf die Plantage. Am Ende SONNTAG spröden Kommissarin ist sie von ihm schwanger. Die 22.20 – 23.00 Uhr RTL (Ulrike Folkerts) und 83 Millionen Mark teure Ver- dem überlebenden Un- filmung, von Kirch und Ber- SPIEGEL TV MAGAZIN dercovermann. Die ero- lusconi finanziert, nach Alex- Die SED-Fraktion – Stasis tischen Szenen strahlen – andra Ripleys Weiterdichtung und Blockflöten im neuen vor allem von seiten Ulri- des Margaret-Mitchell-Ro- Bundestag / Der Tod ke Folkerts – einen höl- mans beschäftigte 200 Dar- kommt am Wochenende – zernen Charme aus. Rolf steller und 2000 Komparsen. Disco-Raser und die Poli- Hoppe als kultivier- Teil II läuft am Mittwoch, Teil zei / Fisch sucht Fahrrad ter Gangsterboß und III am Freitag und der Schluß zum Reiten – Swingen

U. RÖHNERT Opernliebhaber ist eine nächsten Sonntag jeweils um zwischen Single-Parties. Halmer, Glowna Klasse für sich. Ludwigs- 20.15 Uhr.

260 DER SPIEGEL 45/1994 Werbeseite

Werbeseite HOHLSPIEGEL RÜCKSPIEGEL

Aus der Ostsee-Zeitung über ein Schiffs- Zitat unglück in Korea: „Vier der zunächst geborgenen Toten ertranken, als sie Joachim Fest, ehemaliger Herausgeber über Bord sprangen, meldete die natio- der Frankfurter Allgemeinen, im aktuel- nale Nachrichtenagentur Yonhap.“ len Fragebogen des FAZ-Magazins auf die Frage „Welche militärischen Leistun- gen bewundern Sie am meisten?“ Y „Rudolf Augsteins Rückzug aus der Ukraine.“ ebenda am 30. Oktober 1987 auf dieselbe Frage: „Rudolf Augsteins Rückzug aus Südruß- land 1944.“ Aus der Medical Tribune Rudolf Augstein ebenda am 24. Oktober 1980 auf dieselbe Frage: Y „Meinen Rückzug aus der Ukraine.“ Aus dem Wiesbadener Kurier: „An den kolossalen queroblongen Turmkomplex schließt sich der zweiachsige Annex in der (wenn man so will) Form eines pseu- Der SPIEGEL berichtete . . . dobasilikalen Langhauses an. Dieser . . . in Nr. 34/1994 PRESSE-LESER MIT Gebäudeteil leitet zu einer breit ausla- SCHWIELEN über den Plan des Wiesba- denden Zentralanlage aus drei polygo- dener Verlegers Klaus Helbert, ein blut- nalen Konchen über.“ rünstiges Boulevardblatt (Blitz) rund um Sex und Crime zu gründen, das erklärter- Y maßen „jedes Niveau unterschreiten“ soll.

Ob Helbert Blitz herausbringen kann, ist fraglich. Die SPD-Bundestagsabgeord- nete Marliese Dobberthien forderte in ei- nem offenen Brief von dem Hamburger Verleger Heinz Bauer, der 50Prozent am Helbert-Verlag hält, den Start von Blitz zu verhindern. Begründung: In Planung sei „einedauerhafte Zerstörung der Men- schenwürde durch ein Printmedium“, die sich mit der „gesellschaftlichen Verant- wortung“ der Verleger nicht vereinbaren Aus der Saarbrücker Zeitung lasse. Bauer lehnte zunächst eine Stel- lungnahme mit dem Argument ab, auf of- Y fene Briefe antworte er nicht. Nun aber versicherte Roman Köster, Sprecher des Aus einer Werbeanzeige der Firma De Programmzeitschriften- und Yellow- La Rue Garny: „Ein menschlicher Press-Verlages (TV Hören und Sehen, Aspekt in der Technik – Geldausgabe Neue Revue, Praline), „niemals in der an Sozialhilfeempfänger und Asylbe- 119jährigen Geschichte“ des Unterneh- werber.“ mens sei ein Produkt auf den Markt ge- langt, das „vorher nicht sorgfältig geprüft Y und getestet“ worden sei. Auch diesmal könne man sich „auf unsere Selbstkon- trolle verlassen“. Im übrigen weise er „jedwede äußere Einmischung in unser Verlagsgeschäft“ zurück.

. . . in Nr 43/1994 KINDERMISSBRAUCH – „GANZ FIESE TRITTE IN DEN BAUCH“ Aus der Gelnhäuser Neuen Zeitung über die Methoden des Stuttgarter Eis- kunstlauftrainers Karel Fajfr. Y „Um Schaden vom Eiskunstlauf abzu- Aus dem Hamburger Abendblatt: „Als wenden“, traten am vergangenen Mitt- ,wirtschaftlich negativ‘ bezeichnete der woch der Vorsitzende Michael Föll sowie Vorsitzende des Bundesverbandes der der Vorstand von Tus Stuttgart Eissport Sargindustrie, Heinz Kämmerling, auch zurück. Den Funktionären war vorge- den Rückgang der Todesfälle um ein worfen worden, Beschimpfungen und Prozent.“ Schläge von Fajfr geduldet zu haben.

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