Plenarprotokoll 15/105

Deutscher

Stenografischer Bericht

105. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 29. April 2004

Inhalt:

Nachruf auf die Abgeordnete Anke , Bundesminister BMF ...... 9429 A Hartnagel ...... 9427 A Klaus-Peter Flosbach (CDU/CSU) ...... 9431 A Glückwünsche zum Geburtstag der Abgeord- neten Dr. , Gerhard Christine Scheel (BÜNDNIS 90/ Schröder, Dr. , Ernst DIE GRÜNEN) ...... 9433 C Küchler, und Walter (CDU/CSU) ...... 9435 D Kolbow ...... 9427 C Christine Scheel (BÜNDNIS 90/ Erweiterung und Abwicklung der Tagesord- DIE GRÜNEN) ...... 9436 A nung ...... 9427 D Dr. (FDP) ...... 9436 B Absetzung der Tagesordnungspunkte 10 a Christine Scheel (BÜNDNIS 90/ und b, 12 und 13 ...... 9428 B DIE GRÜNEN) ...... 9437 C Nachträgliche Ausschussüberweisung ...... 9428 C Dr. Barbara Hendricks (SPD) ...... 9438 A Horst Schild (SPD) ...... 9438 D Tagesordnungspunkt 3: (CDU/CSU) ...... 9441 D

– Zweite und dritte Beratung des von den Christel Humme (SPD) ...... 9444 B Fraktionen der SPD und des BÜNDNIS- SES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Andreas Storm (CDU/CSU) ...... 9445 B Entwurfs eines Gesetzes zur Neuord- Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos) ...... 9447 C nung der einkommensteuerrechtlichen Behandlung von Altersvorsorgeaufwen- Erika Lotz (SPD) ...... 9448 B dungen und Altersbezügen (Altersein- künftegesetz – AltEinkG) (Drucksachen 15/2150, 15/2986, 15/3004, 15/2987 ) ...... 9428 D Tagesordnungspunkt 4: Antrag der Abgeordneten , – Zweite und dritte Beratung des von der Dr. , Heinz Seiffert, weiterer Bundesregierung eingebrachten Entwurfs Abgeordneter und der Fraktion der CDU/ eines Gesetzes zur Neuordnung der CSU: Ein modernes Steuerrecht für einkommensteuerrechtlichen Behand- Deutschland – Konzept 21 lung von Altersvorsorgeaufwendun- (Drucksache 15/2745) ...... gen und Altersbezügen (Alterseinkünf- 9449 D tegesetz – AltEinkG) Friedrich Merz (CDU/CSU) ...... 9450 A (Drucksachen 15/2563, 15/2592, 15/2986, 15/3004, 15/2987) ...... 9428 D Joachim Poß (SPD) ...... 9453 D II Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 105. Sitzung. , Donnerstag, den 29. April 2004

Carl-Ludwig Thiele (FDP) ...... 9456 B f) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- Christine Scheel (BÜNDNIS 90/ zes zur Regelung von Rechtsfragen hin- DIE GRÜNEN) ...... 9457 C sichtlich der Rechtsstellung von Dr. , Staatsminister Angehörigen der Bundeswehr bei Koo- (Bayern) ...... 9459 A perationen zwischen der Bundeswehr Dr. Barbara Hendricks, Parl. Staatssekretärin und Wirtschaftsunternehmen sowie zur BMF ...... 9461 D Änderung besoldungs- und wehrsold- rechtlicher Vorschriften Bartholomäus Kalb (CDU/CSU) ...... 9462 A (Drucksache 15/2944) ...... 9474 A Hartmut Schauerte (CDU/CSU) ...... 9462 B g) Antrag der Abgeordneten Birgit (CDU/CSU) ...... 9463 A Homburger, , , weiterer Abgeordneter Dr. (FDP) ...... 9465 A und der Fraktion der FDP: Entsorgung (BÜNDNIS 90/ von Gewerbeabfall unbürokratisch und DIE GRÜNEN) ...... 9466 C einfach gestalten (Drucksache 15/2010) ...... 9474 B Christian Freiherr von Stetten (CDU/CSU) . . 9468 A h) Antrag der Abgeordneten Jörg-Otto Spiller (SPD) ...... 9469 A (Bayreuth), Hans-Michael Goldmann, Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos) ...... 9471 A Joachim Günther (Plauen), weiterer Abge- ordneter und der Fraktion der FDP: Bür- (SPD) ...... 9471 D gernähe durch mehr Wettbewerb bei der Fahrzeugüberwachung (Drucksache 15/2751) ...... 9474 B Tagesordnungspunkt 24: a) Erste Beratung des von der Bundesregie- Zusatztagesordnungspunkt 2: rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zur Einführung der nachträglichen a) Antrag der Abgeordneten Petra Weis, Sicherungsverwahrung Siegfried Scheffler, Sören Bartol, weiterer (Drucksachen 15/2887, 15/2945) ...... 9473 C Abgeordneter und der Fraktion der SPD, b) Erste Beratung des von der Bundesregie- der Abgeordneten Günter Nooke, Dirk rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- Fischer (), , wei- zes zur Intensivierung der Bekämpfung terer Abgeordneter und der Fraktion der der Schwarzarbeit und damit zusam- CDU/CSU, der Abgeordneten Franziska menhängender Steuerhinterziehung Eichstädt-Bohlig, Irmingard Schewe- (Drucksache 15/2948) ...... 9473 D Gerigk, (Köln), weiterer Ab- geordneter und der Fraktion des BÜND- c) Erste Beratung des von der Bundesregie- NISSES 90/DIE GRÜNEN sowie der Ab- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- geordneten Joachim Günther (Plauen), zes zur Änderung der Vorschriften über Horst Friedrich (Bayreuth), Eberhard Otto Fernabsatzverträge bei Finanzdienst- (Godern), Dr. und der leistungen Fraktion der FDP: Planung und städte- (Drucksache 15/2946) ...... 9473 D bauliche Zielvorstellungen des Bundes d) Erste Beratung des von der Bundesregie- für den Bereich beiderseits der Spree rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zwischen Marschall- und Weidendam- zes zu dem Abkommen vom 27. März mer Brücke vorlegen 2003 zwischen der Bundesrepublik (Drucksache 15/2981) ...... 9474 C Deutschland und der Republik Tadschi- b) Antrag der Abgeordneten Brunhilde Irber, kistan zur Vermeidung der Doppelbe- Annette Faße, Renate Gradistanac, weite- steuerung auf dem Gebiet der Steuern rer Abgeordneter und der Fraktion der vom Einkommen und vom Vermögen SPD sowie der Abgeordneten Undine (Drucksache 15/2925) ...... 9474 A Kurth (Quedlinburg), Rainder Steenblock, e) Erste Beratung des von der Bundesregie- Volker Beck (Köln), weiterer Abgeordne- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- ter und der Fraktion des BÜNDNIS- zes zu dem Übereinkommen vom SES 90/DIE GRÜNEN: Chancen und 9. September 2002 über die Vorrechte Potenziale des Deutschlandtourismus in und Immunitäten des Internationalen der erweiterten Europäischen Union Strafgerichtshofs konsequent nutzen (Drucksache 15/2723) ...... 9474 A (Drucksache 15/2980) ...... 9474 C Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. April 2004 III c) Antrag des Präsidenten des Bundesrech- Waltraud Lehn (SPD) ...... 9475 D nungshofes: Rechnung des Bundesrech- nungshofes für das Haushaltsjahr 2003 Dr. Günter Krings (CDU/CSU) ...... 9477 A – Einzelplan 20 – Christine Scheel (BÜNDNIS 90/ (Drucksache 15/2885) ...... 9474 D DIE GRÜNEN) ...... 9478 C Dr. Heinrich L. Kolb (FDP) ...... 9479 D

Tagesordnungspunkt 16: Klaus Kirschner (SPD) ...... 9481 B Georg Fahrenschon (CDU/CSU) ...... Erste Beratung des von der Bundesregierung 9482 C eingebrachten Entwurfs eines Dritten Geset- (BÜNDNIS 90/ zes zur Änderung des Tierseuchengesetzes DIE GRÜNEN) ...... 9483 D (Drucksache 15/2943) ...... 9474 D Dr. Hans-Ulrich Krüger (SPD) ...... 9485 A Marlene Rupprecht (Tuchenbach) (SPD) . . . 9486 B Tagesordnungspunkt 25: Peter Dreßen (SPD) ...... 9487 C a) Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrach- ten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab- Tagesordnungspunkt 5: kommen vom 3. März 2003 zwischen a) Zweite und dritte Beratung des von den der Regierung der Bundesrepublik Fraktionen der SPD und des BÜNDNIS- Deutschland und der Regierung der Re- SES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten publik Türkei über die Zusammen- Entwurfs eines Gesetzes zur optionalen arbeit bei der Bekämpfung von Straf- Trägerschaft von Kommunen nach dem taten mit erheblicher Bedeutung, Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (Kom- insbesondere des Terrorismus und der munales Optionsgesetz) Organisierten Kriminalität (Drucksachen 15/2816, 15/2997, (Drucksachen 15/2724, 15/2994) ...... 9475 A 15/3003) ...... 9488 C b) Zweite und dritte Beratung des von der b) Beschlussempfehlung und Bericht des Bundesregierung eingebrachten Entwurfs Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit zu eines Gesetzes zur Neuordnung der Ge- dem Antrag der Fraktionen der SPD und bühren in Handels-, Partnerschafts- und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Genossenschaftsregistersachen (Handels- Verabschiedung eines Optionsgesetzes registergebühren-Neuordnungsgesetz – (Drucksachen 15/2817, 15/2997) ...... 9488 C HRegGebNeuOG) (Drucksachen 15/2251, 15/2993) ...... 9475 B , Bundesminister BMWA ...... 9488 D c) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit und Soziale Karl-Josef Laumann (CDU/CSU) ...... 9491 C Sicherung zu dem Antrag der Abgeordne- Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/ ten Hans-Michael Goldmann, Dr. Christel DIE GRÜNEN) ...... 9493 B Happach-Kasan, Angelika Brunkhorst, weiterer Abgeordneter und der Fraktion (FDP) ...... 9494 B der FDP: Gleiche Nachweispflichten für Dirk Niebel (FDP) ...... 9495 D Apotheken und Tierärzte bei der Ab- gabe von Tierarzneimitteln Klaus Brandner (SPD) ...... 9497 B (Drucksachen 15/1568, 15/2604) ...... 9475 C (CDU/CSU) ...... 9499 A (fraktionslos) ...... 9500 B Zusatztagesordnungspunkt 3: (SPD) ...... 9501 A Aktuelle Stunde auf Verlangen der Frak- Wolfgang Meckelburg (CDU/CSU) ...... 9502 B tionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN: Äußerungen aus der CSU zur Finanzierungslücke von rund Tagesordnungspunkt 6: 100 Milliarden Euro in den Konzepten der CDU zur Reform der Sozial- und Steuer- Antrag der Abgeordneten Christian Schmidt systeme ...... 9475 C (Fürth), , Ernst-Reinhard Beck IV Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. April 2004

(Reutlingen), weiterer Abgeordneter und der Grüne Gentechnik in Deutschland nut- Fraktion der CDU/CSU: Für den Erhalt zen – Verlässliche Rahmenbedingun- sicherheitsrelevanter Strukturen in der gen für einen verantwortungsvollen Bundeswehr Einsatz in der Landwirtschaft schaffen (Drucksache 15/2824) ...... 9504 C (Drucksache 15/2822) ...... 9525 D Christian Schmidt (Fürth) (CDU/CSU) . . . . . 9504 D b) Antrag der Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Wahl- , Parl. Staatssekretär freiheit für die Landwirte durch Rein- BMVg ...... 9506 C heit des Saatgutes sicherstellen Günther Friedrich Nolting (FDP) ...... 9508 A (Drucksache 15/2972) ...... 9525 D

Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/ in Verbindung mit DIE GRÜNEN) ...... 9509 C Ernst-Reinhard Beck (Reutlingen) (CDU/CSU) ...... 9510 D Zusatztagesordnungspunkt 4: Rolf Kramer (SPD) ...... 9512 A Antrag der Abgeordneten Dr. Christel Ursula Lietz (CDU/CSU) ...... 9513 C Happach-Kasan, Hans-Michael Goldmann, Ulrike Flach, weiterer Abgeordneter und der Karin Evers-Meyer (SPD) ...... 9515 A Fraktion der FDP: Chancen der Grünen Gentechnik nutzen – Gentechnikgesetz und Gentechnik-Durchführungsgesetz Tagesordnungspunkt 7: grundlegend korrigieren (Drucksache 15/2979) ...... 9526 A – Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs Dr. Herta Däubler-Gmelin (SPD) ...... 9526 A eines Gesetzes zur Änderung der Rege- lungen über Altschulden landwirt- (CDU/CSU) ...... 9527 A schaftlicher Unternehmen (Landwirt- schafts-Altschuldengesetz – LwAltschG) Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/ (Drucksachen 15/1662, 15/3002) ...... 9516 D DIE GRÜNEN) ...... 9528 B – Zweite und dritte Beratung des von den Dr. Christel Happach-Kasan (FDP) ...... 9529 B Abgeordneten Hans-Michael Goldmann, Jürgen Türk, Dr. Christel Happach-Kasan, René Röspel (SPD) ...... 9530 B weiteren Abgeordneten und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Dr. Christel Happach-Kasan (FDP) ...... 9530 C Gesetzes zur endgültigen Regelung über Dr. (CDU/CSU) ...... 9532 B Altschulden landwirtschaftlicher Un- ternehmen (LandwirtschaftsEnd-Alt- schuldengesetz – LwEndAltschG) (Drucksachen 15/2468, 15/3002) ...... 9516 D Tagesordnungspunkt 9:

Dr. Gerald Thalheim, Parl. Staatssekretär – Zweite und dritte Beratung des von den BMVEL ...... 9517 A Abgeordneten Dirk Manzewski, Joachim Dr. (CDU/CSU) ...... 9518 C Stünker, Hermann Bachmaier, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD, (BÜNDNIS 90/ den Abgeordneten Siegfried Kauder (Bad DIE GRÜNEN) ...... 9521 B Dürrheim), Dr. Norbert Röttgen, Dr. Wolfgang Götzer, weiteren Abgeord- Hans-Michael Goldmann (FDP) ...... 9522 B neten und der Fraktion der CDU/CSU, den (Neuruppin) (SPD) ...... 9523 B Abgeordneten , Volker Beck (Köln), Irmingard Schewe-Gerigk, weite- Waltraud Wolff (Wolmirstedt) (SPD) ...... 9524 B ren Abgeordneten und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN sowie den Abgeordneten Jörg van Essen, Rainer Tagesordnungspunkt 8: Funke, , Dr. Wolfgang Gerhardt und der Fraktion der FDP einge- a) Antrag der Abgeordneten Helmut brachten Entwurfs eines … Straf- Heiderich, , Peter H. rechtsänderungsgesetzes – § 201 a StGB Carstensen (Nordstrand), weiterer Abge- (… StrÄndG) ordneter und der Fraktion der CDU/CSU: (Drucksachen 15/2466, 15/2995) ...... 9533 D Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. April 2004 V

– Zweite und dritte Beratung des von den Tagesordnungspunkt 18: Abgeordneten Siegfried Kauder (Bad Dürrheim), Dr. Norbert Röttgen, Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- , weiteren Abgeordne- schusses für Tourismus zu dem Antrag der ten und der Fraktion der CDU/CSU einge- Abgeordneten , Gudrun brachten Entwurfs eines Gesetzes zum Kopp, Rainer Brüderle, weiterer Abgeordne- verbesserten Schutz der Privatsphäre ter und der Fraktion der FDP: Sperrzeiten (Drucksachen 15/533, 15/2995) ...... 9533 D für Außengastronomie verbraucherfreund- licher gestalten – Zweite und dritte Beratung des von den (Drucksachen 15/674, 15/1287) ...... 9542 C Abgeordneten Jörg van Essen, Rainer Ernst Burgbacher (FDP) ...... 9542 C Funke, , weiteren Abgeordne- ten und der Fraktion der FDP eingebrach- Brunhilde Irber (SPD) ...... 9543 C ten Entwurfs eines Gesetzes zum verbes- serten Schutz der Intimsphäre Klaus Brähmig (CDU/CSU) ...... 9545 A (Drucksachen 15/361, 15/2995) ...... 9533 D Undine Kurth (Quedlinburg) (BÜNDNIS 90/ – Zweite und dritte Beratung des vom Bun- DIE GRÜNEN) ...... 9546 B desrat eingebrachten Entwurfs eines … Jürgen Klimke (CDU/CSU) ...... 9547 A Strafrechtsänderungsgesetzes – Schutz der Intimsphäre (Drucksachen 15/1891, 15/2995) ...... 9534 A Tagesordnungspunkt 11: Dirk Manzewski (SPD) ...... 9534 A Antrag der Abgeordneten Brunhilde Irber, Siegfried Kauder (Bad Dürrheim) Annette Faße, Renate Gradistanac, weiterer (CDU/CSU) ...... 9535 C Abgeordneter und der Fraktion der SPD so- wie der Abgeordneten Undine Kurth (Qued- Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/ linburg), Albert Schmidt (Ingolstadt), Volker DIE GRÜNEN) ...... 9536 D Beck (Köln), weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- Jörg van Essen (FDP) ...... 9537 D NEN: Tourismus in, an und auf dem Was- ser – Naturverträglichen Wassertourismus Gisela Hilbrecht (SPD) ...... 9538 C in Deutschland ausbauen und fördern (Drucksache 15/2667) ...... 9548 C Daniela Raab (CDU/CSU) ...... 9539 C Annette Faße (SPD) ...... 9548 D (CDU/CSU) ...... 9540 C Wilhelm Josef Sebastian (CDU/CSU) ...... 9550 A Undine Kurth (Quedlinburg) (BÜNDNIS 90/ Zusatztagesordnungspunkt 7: DIE GRÜNEN) ...... 9551 C Hans-Michael Goldmann (FDP) ...... Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- 9552 D schusses für Wahlprüfung, Immunität und Undine Kurth (Quedlinburg) Geschäftsordnung: Zur Immunität von (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ...... 9553 B Mitgliedern der Bundesversammlung; hier: Antrag auf Genehmigung zur Gabriele Hiller-Ohm (SPD) ...... 9553 D Durchführung der Strafverfolgung (Drucksache 15/3007) ...... 9542 A Tagesordnungspunkt 14: in Verbindung mit Unterrichtung durch die Bundesregierung: Wohngeld- und Mietenbericht 2002 (Drucksache 15/2200) ...... 9554 D Zusatztagesordnungspunkt 8: Achim Großmann, Parl. Staatssekretär Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- BMVBW ...... 9555 A schusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung: Zur Immunität von (CDU/CSU) ...... 9556 A Mitgliedern der Bundesversammlung; Franziska Eichstädt-Bohlig (BÜNDNIS 90/ hier: Antrag auf Genehmigung zur DIE GRÜNEN) ...... 9557 B Durchführung der Strafverfolgung (Drucksache 15/3008) ...... 9542 B Eberhard Otto (Godern) (FDP) ...... 9558 B VI Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. April 2004

Wolfgang Spanier (SPD) ...... 9559 B einkommensteuerrechtlichen Behandlung von Altersvorsorgeaufwendungen und Al- (CDU/CSU) ...... 9560 C tersbezügen (Tagesordnungspunkt 3) ...... 9569 C

Tagesordnungspunkt 15: Anlage 3 Antrag der Abgeordneten Dr. Maria Böhmer, Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung des Maria Eichhorn, , weiterer Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung der Abgeordneter und der Fraktion der CDU/ Regelungen über Altschulden landwirt- CSU: Arbeitsplätze im Bereich privater schaftlicher Unternehmen (Tagesordnungs- Dienstleistungen schaffen – Rahmenbe- punkt 7) dingungen für Dienstleistungszentren und Petra Pau (fraktionslos) ...... 9569 D -agenturen verbessern (Drucksache 15/2825) ...... 9561 D

Anlage 4 Tagesordnungspunkt 17: Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung: Antrag der Abgeordneten Gero Storjohann, – Entwurf eines … Strafrechtsänderungs- Günter Nooke, Dirk Fischer (Hamburg), wei- gesetzes – § 201 a StGB terer Abgeordneter und der Fraktion der – Gesetz zum verbesserten Schutz der CDU/CSU: Keine toten Winkel bei Last- Privatsphäre kraftwagen (Drucksache 15/2823) ...... 9562 A – Gesetz zum verbesserten Schutz der In- timsphäre Gero Storjohann (CDU/CSU) ...... 9562 A – Entwurf eines … Strafrechtsänderungs- Iris Gleicke, Parl. Staatssekretärin gesetzes – Schutz der Intimsphäre BMVBW ...... 9563 A (Tagesordnungspunkt 9) Horst Friedrich (Bayreuth) (FDP) ...... 9564 A Petra Pau (fraktionslos) ...... 9570 D (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 9564 D Anlage 5 Günter Nooke (CDU/CSU) ...... 9566 A Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung der Heidi Wright (SPD) ...... 9567 B Unterrichtung durch die Bundesregierung: Wohngeld- und Mietenbericht 2002 (Tages- ordnungspunkt 14) Zusatztagesordnungspunkt 5: Petra Pau (fraktionslos) ...... 9571 D Antrag der Abgeordneten Sibylle Laurischk, , Dr. , weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Um- Anlage 6 setzung der Gemeinsamen Erklärung zum Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung 40. Jahrestag des Élysée-Vertrags – Regio- des Antrags: Arbeitsplätze im Bereich pri- nale und interregionale Zusammenarbeit – vater Dienstleistungen schaffen – Rahmen- Schaffung von Eurodistrikten bedingungen für Dienstleistungszentren (Drucksache 15/1111) ...... 9568 C und -agenturen verbessern (Tagesordnungs- punkt 15) Nächste Sitzung ...... 9568 D Doris Barnett (SPD) ...... 9572 B Rita Pawelski (CDU/CSU) ...... 9573 D Anlage 1 Markus Kurth (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 9575 B Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . 9569 A Dirk Niebel (FDP) ...... 9576 A

Anlage 2 Anlage 7 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung Ina Lenke (FDP) zur Abstimmung über den des Antrags: Umsetzung der Gemeinsamen Entwurf eines Gesetzes zur Neuordnung der Erklärung zum 40. Jahrestag des Élysée- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. April 2004 VII

Vertrags – Regionale und internationale Anna Lührmann (BÜNDNIS 90/ Zusammenarbeit – Schaffung von Euro- DIE GRÜNEN) ...... 9577 D Distrikten (Zusatztagesordnungspunkt 5) Sibylle Laurischk (FDP) ...... 9578 C (CDU/CSU) ...... 9576 D Hans Martin Bury, Staatsminister Dr. (CDU/CSU) . . . . . 9577 C für Europa ...... 9579 A

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. April 2004 9427

(A) (C) Redetext

105. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 29. April 2004

Beginn: 9.03 Uhr

Präsident : Ihrem Mann und ihrer Familie drücken wir unser tie- Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die fes Mitgefühl aus. Wir werden Anke Hartnagel in ehren- Sitzung ist eröffnet. der Erinnerung behalten. – Ich danke Ihnen. Ich bitte Sie, sich zu erheben. Zunächst gratuliere ich dem Kollegen Dr. Hermann Scheer zu seinem heutigen 60. Geburtstag sehr herzlich. (Die Anwesenden erheben sich) Ich möchte aber auch einer Kollegin und mehreren Kol- Am Sonnabend, dem 17. April 2004, verstarb unsere legen, die in den zurückliegenden Wochen ebenfalls ih- Kollegin Anke Hartnagel im Alter von 62 Jahren. ren 60. Geburtstag begingen, gratulieren. Es sind dies: Christine Lucyga, Bundeskanzler Gerhard Schröder Geboren während des Zweiten Weltkrieges in Berlin, sowie die Kollegen Ernst Küchler, Ludwig Stiegler wuchs sie in Hamburg auf und machte dort ihre Ausbil- und Walter Kolbow. Ihnen allen nachträglich die besten dung zur Groß- und Außenhandelskauffrau, sammelte Glückwünsche des Hauses! erste Berufserfahrung und absolvierte die Fortbildung (B) (D) zur Sparkassenbetriebswirtin. Als sie vor mehr als (Beifall) 30 Jahren Leiterin einer Sparkassenfiliale in Hamburg Sodann teile ich mit, dass nach einer interfraktionel- wurde, war sie die zweite Frau, die das in Hamburg „ge- len Vereinbarung die verbundene Tagesordnung um die schafft“ hatte. in einer Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte erweitert Wo immer sie lebte, hatte sie ein Auge für die Bedürf- werden soll: nisse der Menschen, die Unterstützung brauchten. Als ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der CDU/CSU sie nach zehn Jahren an der Elfenbeinküste und in Süd- gemäß Anlage 5 Nr. 1 Buchstabe b GO-BT: zu den Antwor- amerika nach Deutschland zurückkehrte, engagierte sie ten der Bundesregierung auf die dringlichen Fragen in sich sofort wieder an ihrem Wohnort Hamburg-Fuhls- Drucksache 15/2965 büttel, zunächst als Mitglied der Hamburger Bürger- (siehe 104. Sitzung) schaft und ab 1998 als Mitglied des Deutschen Bundes- ZP 2 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren tages. (Ergänzung zu TOP 24) a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Petra Weis, Ihrem Engagement für die Menschen in den unterent- Siegfried Scheffler, Sören Bartol, weiterer Abgeordneter wickelten Teilen der Welt ist Anke Hartnagel auch wäh- und der Fraktion der SPD, der Abgeordneten Günter rend ihrer Zeit als Mitglied des Deutschen Bundestages Nooke, Dirk Fischer (Hamburg), Eduard Oswald, weiterer treu geblieben. Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU, der Abge- ordneten Franziska Eichstädt-Bohlig, Irmingard Schewe- Als Mitglied des Ausschusses für wirtschaftliche Zu- Gerigk, Volker Beck (Köln), weiterer Abgeordneter und sammenarbeit und Entwicklung und zugleich des Aus- der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN sowie der Abgeordneten Joachim Günther (Plauen), Horst schusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Friedrich (Bayreuth), Eberhard Otto (Godern), hat sie immer wieder die politischen Diskussionen durch Dr. Wolfgang Gerhardt und der Fraktion der FDP: Planung ihren Erfahrungsschatz bereichert. Sie machte deutlich, und städtebauliche Zielvorstellungen des Bundes für dass menschliches Interesse und Mitgefühl die Antriebs- den Bereich beiderseits der Spree zwischen Marschall- feder für jedes politische Engagement sind. und Weidendammer Brücke vorlegen – Drucksache 15/2981 – Aufgrund ihres hohen Pflichtgefühls hat sie ihre Ar- Überweisungsvorschlag: beit im Bundestag selbst dann noch fortgeführt, als die Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f) schwere Krankheit begann, ihre Kräfte aufzuzehren. Innenausschuss Dass sie ihre Krankheit offen ansprach, sich nicht damit Ausschuss für Kultur und Medien versteckte, sondern immer beanspruchte, tätig zu sein, b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Brunhilde Irber, hat Menschen Mut gemacht. Annette Faße, Renate Gradistanac, weiterer Abgeordneter 9428 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. April 2004

Präsident Wolfgang Thierse (A) und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Undine Schutz des menschlichen Lebens auf See – sowie die (C) Kurth (Quedlinburg), Rainder Steenblock, Volker Beck zweite und dritte Beratung des in Tagesordnungs- (Köln), weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Chancen und Poten- punkt 25 b aufgeführten Entwurfs eines Register-Füh- ziale des Deutschlandtourismus in der erweiterten rungsgesetzes. Da die Bundesregierung eine Erklärung Europäischen Union konsequent nutzen des Herrn Bundeskanzlers zur Erweiterung der Europäi- – Drucksache 15/2980 – schen Union angekündigt hat, an die sich eine Ausspra- che anschließt, ist die vorgesehene vereinbarte Debatte Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Tourismus (f) obsolet geworden. Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Ferner soll die Beratung des FDP-Antrags „Sperrzei- Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ten für Außengastronomie“ bereits nach Tagesordnungs- Haushaltsausschuss punkt 9 stattfinden und die Änderung des Tierseuchen- c) Beratung des Antrags des Präsidenten des Bundesrech- gesetzes, Tagesordnungspunkt 16, ohne Debatte nungshofes erfolgen. Rechnung des Bundesrechnungshofes für das Haus- Darüber hinaus mache ich auf eine nachträgliche haltsjahr 2003 – Einzelplan 20 – Überweisung im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerk- – Drucksache 15/2885 – sam: Überweisungsvorschlag: Haushaltsausschuss Der in der 95. Sitzung des Deutschen Bundestages ZP 3 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen der SPD und überwiesene nachfolgende Antrag soll zusätzlich dem des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Äußerungen aus der Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe CSU zur Finanzierungslücke von rund 100 Milliarden zur Mitberatung überwiesen werden. Euro in den Konzepten der CDU zur Reform der Sozial- und Steuersysteme Antrag der Abgeordneten Hans Büttner (Ingol- ZP 4Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Christel stadt), Reinhold Hemker, Dr. , Happach-Kasan, Hans-Michael Goldmann, Ulrike Flach, wei- weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD terer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Chancen der sowie der Abgeordneten Winfried Hermann, Grünen Gentechnik nutzen – Gentechnikgesetz und Gen- Volker Beck (Köln), Michaele Hustedt, weiterer technik-Durchführungsgesetz grundlegend korrigieren Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNIS- – Drucksache 15/2979 – SES 90/DIE GRÜNEN: Sportförderung in den Überweisungsvorschlag: auswärtigen Kulturbeziehungen ausbauen Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft (f) – Drucksache 15/1879 – (B) Rechtsausschuss (D) Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit überwiesen: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Sportausschuss (f) Ausschuss für Bildung, Forschung und Auswärtiger Ausschuss Technikfolgenabschätzung Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Entwicklung Ausschuss für Kultur und Medien ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Sibylle Laurischk, Rainer Funke, Dr. Werner Hoyer, weiterer Abgeordneter und Sind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? – der Fraktion der FDP: Umsetzung der Gemeinsamen Erklä- Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. rung zum 40. Jahrestag des Elysée-Vertrags – Regionale und interregionale Zusammenarbeit – Schaffung von Ich rufe Tagesordnungspunkt 3 auf: Eurodistrikten – Drucksache 15/1111 – – Zweite und dritte Beratung des von den Fraktio- Überweisungsvorschlag: nen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union (f) GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Geset- Innenausschuss zes zur Neuordnung der einkommensteuerrechtli- Sportausschuss chen Behandlung von Altersvorsorgeaufwendun- Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit gen und Altersbezügen (Alterseinkünftegesetz – Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend AltEinkG) Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Ausschuss für Bildung, Forschung und – Drucksache 15/2150 – Technikfolgenabschätzung Ausschuss für Kultur und Medien (Erste Beratung 83. Sitzung) Haushaltsausschuss – Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- ZP 6 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der FDP: Hal- tung der Bundesregierung zur allgemeinen Wehrpflicht gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes und zu Plänen für ein soziales Pflichtjahr zur Neuordnung der einkommensteuerrechtlichen Behandlung von Altersvorsorgeaufwendungen Von der Frist für den Beginn der Beratung soll, soweit und Altersbezügen (Alterseinkünftegesetz – erforderlich, abgewichen werden. AltEinkG) Abgesetzt werden sollen die Tagesordnungspunkte – Drucksachen 15/2563, 15/2592 – 10 a und 10 b – Energieforschungsprogramm –, 12 – De- mokratisierung in Moldau –, 13 – Übereinkommen zum (Erste Beratung 94. Sitzung) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. April 2004 9429

Präsident Wolfgang Thierse (A) a) Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzaus- Die Herausforderungen des demographischen Wan- (C) schusses (7. Ausschuss) dels betreffen insbesondere auch die Altersvorsorge. Die Probleme Altersvorsorge und demographischer Wandel – Drucksachen 15/2986, 15/3004 – hängen unmittelbar zusammen. Mit der Einführung der Berichterstattung: kapitalgedeckten Altersvorsorge, der so genannten Abgeordnete Horst Schild Riester-Rente, haben wir bereits in der letzten Legisla- Klaus-Peter Flosbach turperiode einen wichtigen Schritt zu einer nachhaltigen Kerstin Andreae Alterssicherung vollzogen. Jetzt geht es darum, eine zu- Dr. Andreas Pinkwart kunftsfähige und transparente Lösung für die Besteue- rung von Alterseinkünften zu finden. b) Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss) gemäß § 96 der Geschäftsordnung Dazu gehört neben der eigentlichen Besteuerung der Einkünfte im Alter eine auf diese Besteuerung abge- – Drucksache 15/2987 – stimmte, einheitliche steuerliche Regelung zur Behand- lung der Altersvorsorgebeiträge. Hierzu dient der vorlie- Berichterstattung: gende Entwurf eines Alterseinkünftegesetzes. Abgeordnete Steffen Kampeter Walter Schöler Die Altersvorsorge wird künftig in zunehmendem Anja Hajduk Maße steuerfrei gestellt, sodass die Steuerlast für die er- Dr. Günter Rexrodt werbstätige Generation sinkt. Im Gegenzug wird sehr langfristig auf eine volle Besteuerung der Renten umge- Es liegt je ein Entschließungsantrag der Fraktion der stellt. Durch die sehr weichen Übergangsregelungen CDU/CSU sowie der Fraktion der FDP vor. wird die Masse der Sozialversicherungsrenten auch wei- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für terhin steuerlich unbelastet bleiben. die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. – Ich Mit der Vorlage des Entwurfs eines Alterseinkünftege- höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. setzes wird der Auftrag des Bundesverfassungsgerichts Ich eröffne die Aussprache und erteile Bundesminis- zur gleichmäßigen Besteuerung von Sozialversiche- ter Hans Eichel das Wort. rungsrenten, Beamtenpensionen und Erwerbseinkom- men umgesetzt. Wir haben gehandelt – diesen Vorwurf kann ich Ihnen nach Ihren Zwischenrufen nicht er- Hans Eichel, Bundesminister der Finanzen: sparen –, nachdem es der Regierung Kohl in den 16 Jah- Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! ren ihrer Regierungszeit nicht gelungen ist, eine gerechte (B) Nachhaltigkeit und Generationengerechtigkeit sind die und verfassungsfeste Neuregelung auf den Weg zu brin- (D) zentralen Leitbilder, an denen sich eine zukunftsorien- gen. tierte Politik messen lassen muss. Denn fast alle politi- schen Entscheidungen betreffen nicht nur die heutige (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Generation, sondern haben auch Auswirkungen auf DIE GRÜNEN) kommende Generationen. Auch das ist ein Beispiel für den eklatanten Reformstau, (Hans Michelbach [CDU/CSU]: Deswegen den Sie hinterlassen haben. machen wir immer mehr Schulden, ja? – Ge- genruf des Abg. Joachim Poß [SPD]: Sie ha- (Bartholomäus Kalb [CDU/CSU]: Sie haben ben keine Veranlassung, hier den Mund aufzu- doch die Reformen verhindert!) machen bei Ihrem erbärmlichen Verhalten!) Schwerpunkt des Gesetzentwurfes ist, wie schon er- Vor dem Hintergrund des sich abzeichnenden demo- wähnt, der schrittweise Übergang zur nachgelagerten graphischen Wandels bedeutet die Orientierung an die- Besteuerung von Alterseinkünften – unter weit rei- sen Leitbildern mehr denn je: Keine Generation darf auf chender Schonung der bestehenden Renten und der ren- Kosten der nachrückenden Generation leben; andernfalls tennahen Jahrgänge. ist die langfristige Stabilität unserer Gesellschaft gefähr- (Hans Michelbach [CDU/CSU]: Petersberger det. Reformen!) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ – Wissen Sie, mit Petersberg können Sie langsam nun DIE GRÜNEN – Zuruf von der CDU/CSU: wirklich nicht mehr kommen. Genau wie die Schulden!) (Zuruf von der CDU/CSU: Was?) – Wissen Sie, zu Ihrem Zwischenruf „Genau wie die Schulden!“ muss ich Ihnen sagen: Sie haben ja Recht. Wenn Sie einmal nachlesen, was Herr Koch in seinem Nur, es ist noch gar nicht so lange her, dass ich den größ- Buch geschrieben hat, werden Sie feststellen, dass es ge- ten Schuldenberg der Geschichte von Ihnen übernehmen nau das Richtige war, nämlich dass Sie nicht den Mut musste. Auch das ist die Wahrheit. hatten, dieses Thema am Beginn der Wahlperiode einzu- bringen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Hans Michelbach [CDU/ (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ CSU]: Aber Sie machen noch mehr!) DIE GRÜNEN) 9430 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. April 2004

Bundesminister Hans Eichel (A) Sie wissen, dass das zur Folge hatte – so original Herr wichtiger Gegenstand der Debatte – die in den Medien (C) Koch –, gerne zu einem Massenphänomen aufgebauscht wurden, doch zu einer Doppelbesteuerung kommen, kann der (Hans Michelbach [CDU/CSU]: Sie haben Betroffene durch einen entsprechenden Nachweis ge- blockiert!) genüber dem Finanzamt bewirken, dass auch hier eine dass der Finanzminister damals eigentlich hätte gehen Zweifachbesteuerung verhindert wird; das ist nur recht müssen. Machen Sie das in Ihren eigenen Reihen aus, und billig. aber nicht mit uns! Aber auch für die Rentner besteht kein Grund zu Be- Des Weiteren enthält der Gesetzentwurf Regelungen fürchtungen: Die große Mehrheit der Rentner muss auch zur Besteuerung von Beamten- und Werkspensionen, in Zukunft keine Steuern auf ihre Renten zahlen. Für Regelungen, durch die im Bereich der kapitalgedeckten drei von vier steuerpflichtigen Rentenbeziehern wird das betrieblichen Altersvorsorge ebenfalls zur nachgelager- neue Recht ohne steuerliche Auswirkung sein. Lediglich ten Besteuerung übergegangen wird, und Regelungen, diejenigen steuerpflichtigen Rentenempfänger, die über die das Verfahren bei der privaten kapitalgedeckten Al- erhebliche Nebeneinkünfte verfügen, werden nach dem tersvorsorge, der Riester-Rente, vereinfachen und den neuen Recht steuerbelastet. Verbraucherschutz verbessern. Schon nach dem geltenden Recht müssen im Auf der Basis des Urteils des Bundesverfassungsge- Jahr 2005 2 Millionen Rentner Einkommensteuer zah- richts vom 6. März 2002 hatte die Bundesregierung eine len, weil bei ihnen zu ihrer Rente noch andere Einkom- Sachverständigenkommission eingesetzt, deren Vor- men hinzukommen. Nach dem Gesetzentwurf sind bei schläge in den vorliegenden Entwurf eines Altersein- allein stehenden so genannten Bestandsrentnern und bei künftegesetzes eingegangen sind. Im Ergebnis haben wir den Neufällen des Jahres 2005 Rentenbezüge bis zu ei- eine systematisch schlüssige und folgerichtige Behand- ner Höhe von 18 900 Euro im Jahr oder 1 575 Euro im lung von Altersvorsorgeaufwendungen und Altersbezü- Monat steuerunbelastet. Ich wiederhole: 18 900 Euro im gen erreicht. Die vorgelegte Neuregelung ist zudem ge- Jahr oder 1 575 Euro im Monat sind steuerunbelastet, samtwirtschaftlich vorteilhaft und sozial tragfähig. wenn neben der Rente keine anderen Einkünfte vorlie- Unser Vorschlag trägt außerdem dazu bei, das Besteue- gen. Auch künftig bleiben Durchschnittsrenten also steu- rungssystem transparenter und einfacher zu machen. erunbelastet. Das gilt auch dann, wenn eine normale Be- triebsrente hinzukommt. Zum Vergleich: Bei allein Kernelement beim schrittweisen Übergang zur nach- stehenden Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, also gelagerten Besteuerung von Alterseinkünften ist die bei denjenigen, die sich noch in der aktiven Phase des Freistellung der Altersvorsorgebeiträge der Erwerbstäti- Berufslebens befinden, setzt die Besteuerung bereits bei (B) (D) gen. Bereits im ersten Jahr werden die Arbeitnehmerin- einem Einkommen von knapp 10 800 Euro ein. Das nen und Arbeitnehmer um knapp 2 Milliarden Euro ent- hängt natürlich – das ist klar – mit der Besteuerung hin- lastet; in jedem Folgejahr steigt die Entlastung um eine sichtlich der Vorsorgebeiträge zusammen. Sonst könnte weitere Milliarde Euro an. Nach 20 Jahren ist die volle das bei den Renten so nicht funktionieren. Entlastung der Erwerbstätigen mit jährlich 20 Milliarden Euro erreicht. Die schrittweise ansteigende steuerliche Eine steuerliche Mehrbelastung wird überwiegend Berücksichtigung von Altersvorsorgeaufwendungen er- nur dann entstehen, wenn zu der Rente noch andere Ein- höht das Nettoeinkommen und erweitert so den Spiel- künfte aus Werkspensionen, Vermietung und Ver- raum für die eigene Zukunftsvorsorge. Das war mit der pachtung oder von noch erwerbstätigen Ehepartnern Riester-Rente vor dem Hintergrund der demographi- hinzukommen. In diesen Fällen ist die Rente übrigens schen Entwicklung ausdrücklich gewollt und notwendig. häufig nur das Nebeneinkommen. Das trägt auch dazu bei, dass der Grundsatz der Besteuerung nach der Leis- Da während der erwerbsmäßig aktiven Lebensphase tungsfähigkeit wieder mehr Gewicht bekommt. wegen der Höhe der dann erzielten Einkommen typi- scherweise höhere Steuersätze greifen als im Alter, führt Durch den vorgelegten Gesetzentwurf sind die beste- der Übergang auf die nachgelagerte Besteuerung der henden Gestaltungsmöglichkeiten zugunsten der Ren- Renten auch unter Berücksichtigung der späteren Steuer- tenempfänger aus verfassungsrechtlicher Sicht weitest- last auf die Rente unter dem Strich zu einer Entlastung gehend ausgeschöpft. Eine noch weiter gehende oder der Steuerzahler. Auch bei gesamtwirtschaftlicher Be- noch länger fortgesetzte Privilegierung der Rentenemp- trachtung ist die nachgelagerte Besteuerung de facto ein fänger gegenüber den aktiv Erwerbstätigen wäre verfas- Steuersenkungsprogramm, denn die eben genannten Ent- sungsrechtlich kaum noch vertretbar. lastungen werden durch die erhöhte Besteuerung der Al- Meine Damen und Herren, der demographische Wan- tersbezüge nur teilweise kompensiert. Dass mir das als del erfordert eine Politik, die bereits heute die sich in den Finanzminister nicht ganz leicht gefallen ist; das muss kommenden Jahren und Jahrzehnten abzeichnenden Ver- ich an dieser Stelle, glaube ich, nicht ausdrücklich beto- änderungen der Bevölkerungsstruktur mit berücksich- nen. tigt. Was wir brauchen, sind tragfähige und verlässliche Beide Übergangsphasen – die zur Vollbesteuerung der Rahmenbedingungen für Jung und Alt. Das gilt ins- Renten und die zur vollen Abziehbarkeit der Altersvor- besondere für die Altersvorsorge. Wir brauchen ein Mit- sorgebeiträge – sind dabei so aufeinander abgestimmt, einander und ein Füreinander der Generationen. Wir dass eine Zweifachbesteuerung vermieden wird. Sollte brauchen Solidarität zwischen Jung und Alt. Diese Soli- es in einigen wenigen Spezialfällen – das war ja auch ein darität ist keine Einbahnstraße, sie gilt wechselseitig. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. April 2004 9431

Bundesminister Hans Eichel (A) Mit dem Entwurf des Alterseinkünftegesetzes legt die gereimt ist und in keiner Weise von einer Vereinfachung (C) Bundesregierung einen Vorschlag vor, der diese Anfor- des Steuerrechts geredet werden kann. derungen an eine zukunftsgerichtete Politik ebenso er- füllt wie die Anforderungen, die das Bundesverfas- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) sungsgericht an eine Neuregelung geknüpft hat. Das Bundesfinanzministerium hat vorgerechnet, dass Meine sehr verehrten Damen und Herren von der Op- in Zukunft 2 Millionen Rentner mehr Steuern zahlen position, ich appelliere an Sie – das sage ich vor allem müssen und dass 1,3 Millionen Rentner erstmals zur vor dem Hintergrund der Vordiskussionen –: Lassen Sie Steuerzahlung herangezogen werden. Herr Minister, Sie das Gesetz nicht einfach nur passieren, sondern stimmen haben gesagt, dass 18 900 Euro steuerfrei bleiben. Das Sie ihm zu! ist richtig. Sehr viele prüfen derzeit aber, ob diese Be- steuerung überhaupt gerechtfertigt ist; denn das Bundes- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ verfassungsgericht hat in einem zweiten Urteil festge- DIE GRÜNEN) legt, es dürfe nicht zu einer Zweifachbesteuerung kommen. Wenn die Rente später besteuert wird, dann Präsident Wolfgang Thierse: müssen die Beiträge für diese Rente selbstverständlich steuerfrei gestellt werden. Ich erteile das Wort Kollegen Klaus-Peter Flosbach, CDU/CSU-Fraktion. Mit Ihrem ersten Entwurf haben Sie diese Forderung überhaupt nicht erfüllt. Das haben das Gutachten und (Beifall bei der CDU/CSU) auch die Stellungnahmen in der Anhörung ergeben. Es wurde insbesondere bemängelt, dass Sie den Grundfrei- Klaus-Peter Flosbach (CDU/CSU): betrag im Alter als steuerfreien Vorteil darstellen. Wir Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir wissen: Wenn die Doppelbesteuerung nicht vermieden beraten heute das Alterseinkünftegesetz. Die Bundesre- wird, dann besteht die Gefahr eines neuen Verfahrens gierung und die Fraktionen von Rot-Grün haben hier je- vor dem Bundesverfassungsgericht. Wir von der Union weils einen gleichlautenden Gesetzentwurf vorgelegt, sind froh, dass wir uns in der Diskussion durchsetzen der die Neuordnung insbesondere der steuerlichen Seite konnten und Sie einer Öffnungsklausel und einer eventu- der gesetzlichen Rentenversicherung sowie der betriebli- ellen Einzelfallprüfung zugestimmt haben. Wir haben chen und der privaten Altersvorsorge vorsieht. Dieser uns in dieser Frage geeinigt. Dies haben wir auch bezo- Gesetzentwurf ist jedoch in keiner Weise der große gen auf die Billigkeitsprüfung für Hochbetagte getan: Wurf, als der er hier verkauft wird. Er wird nicht nur von Der Rentner darf bei einem einfachen Fehler nicht gleich der Opposition wenig Zustimmung bekommen, sondern als Steuerhinterzieher belangt werden können. Schließ- (B) (D) er wird auch bei der Bevölkerung wenig Zustimmung lich haben wir uns auch auf ein mögliches Quellenab- finden, weil er in wesentlichen Punkten an den Bedürf- zugsverfahren ab dem Jahre 2007 geeinigt. Das sind nissen und Notwendigkeiten vorbeigeht. leider auch schon alle unsere Gemeinsamkeiten. (Beifall bei der CDU/CSU) Herr Eichel, nach Ihrer Rede müssen wir irgendwann einmal konkret werden. Sie haben allgemeine Ausfüh- Das Bundesverfassungsgericht hat 2002 und nicht rungen über die Notwendigkeit einer Vorsorge gemacht. 1998, also nach vier Jahren Regierungszeit von Rot- Der Entwurf, den Sie am 12. Dezember 2003 hier vorge- Grün, festgestellt, dass die jetzige Regelung verfas- legt haben, entspricht einer Kampfansage an die private sungswidrig ist, weil der Gleichheitsgrundsatz verletzt und die betriebliche Vorsorge. ist. Wir haben zurzeit folgende Situation: Pensionen werden zu 100 Prozent besteuert, Renten dagegen nicht. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ein 65-jähriger Rentner zum Beispiel muss nur 27 Prozent seiner Rente versteuern, 73 Prozent sind von Wir alle wissen: Sie haben es trotz Ihres Nachhaltig- der Besteuerung freigestellt. keitsgesetzes in wenigen Jahren geschafft, das Vertrauen in die gesetzliche Rente nachhaltig zu zerstören. Jeder Die Folge ist, dass es bis zum 1. Januar 2005 zu einer weiß heute, Vorsorge ist nötig. Sie wissen aber auch, Neuregelung kommen muss; denn ansonsten können die dass die Riester-Rente überhaupt nicht funktioniert. Pensionen ab Januar des nächsten Jahres nicht mehr be- steuert werden. Deshalb muss auch der Bundesrat zu- (Joachim Poß [SPD]: Unglaubliche Heuche- stimmen. Die Länder haben ein großes Interesse daran, leien!) dass hier eine Regelung gefunden wird. – Das ist die Nur jeder Siebte der Anspruchsberechtigten hat die Ausgangslage. Riester-Rente bisher abgeschlossen, weil sie zu kompli- Bei der Erarbeitung dieser wichtigen Neuordnung des ziert ist und kein Mensch sie versteht. gesamten Systems und der Abstimmung mit Experten (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – muss natürlich größte Sorgfalt geübt werden, damit das Joachim Poß [SPD]: Weil Sie das Produkt Vertrauen der jetzigen Rentner und die Zustimmung der schlecht gemacht haben! Miesmacher!) nächsten Generation erlangt werden. Wir alle haben aber die Anhörung erlebt und inzwischen stapelweise Gut- Sie haben jetzt einen weiteren Vorstoß gewagt, gemäß achten und Stellungnahmen vorliegen. Die gesamte dem Frauen und Männer in Zukunft gleiche Beiträge für Fachbranche sagt, dass dies bis jetzt durch und durch un- die Riester-Rente zahlen müssen. Die gesamte Branche 9432 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. April 2004

Klaus-Peter Flosbach (A) ist der Meinung, dass dies der endgültige Todesstoß für (Joachim Poß [SPD]: Wie viel Spenden gibt es (C) die Riester-Rente ist. für diese Rede? – Hans Michelbach [CDU/ CSU]: Unverschämtheit! – Dr. (Joachim Poß [SPD]: Was sagte denn Frau [CDU/CSU]: Das ist eine bösartige Unterstel- Böhmer im „Morgenmagazin“ dazu?) lung! Das ist unglaublich!) – Herr Poß, für ein Gesetz, durch das Sie die Menschen – Die unflätigen Bemerkungen von Herrn Poß, der bei durch und durch bevormunden, können Sie natürlich keiner Sitzung des Finanzausschusses dabei gewesen ist, keine Zustimmung von uns verlangen. sind unverschämt. Sie sollten sich zurückhalten. (Joachim Poß [SPD]: Wer spricht für Ihre (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Fraktion? Frau Böhmer oder Sie? Welche Po- neten der FDP) sition haben Sie denn dazu?) Wir haben Ihnen ein Kompromissangebot gemacht, Sie haben eine Vorlage vorgelegt, nach der in Zukunft um die Lebensversicherungen wettbewerbsfähig zu hal- nur noch die Beiträge als Vorsorgeaufwendungen ab- ten. Die Lebensversicherung ist so beliebt, weil sie ein- zugsfähig sind, die nicht beleihbar und nicht kapitalisier- fach ist. Was aber machen Sie jetzt? – Sie schlagen eine bar sind. Sie wollen den Menschen vor allen Dingen vor- Fünftelungsmethode gemäß § 34 EStG vor. Das heißt, schreiben, dass sie ihre persönlich angesparten Beiträge jede Auszahlung muss in Zukunft nach einer besonderen nicht vererben können. Dafür werden Sie keinerlei Zu- Abfindungsmethode berechnet werden. Das versteht stimmung in der Bevölkerung erhalten. Sie werden auch kein Mensch. Das ist außerdem für die Bürger die teu- keine Zustimmung für Ihre Regelung erhalten, nach der erste und steuerlich unattraktivste Methode. bei der abzugsfähigen privaten Altersvorsorge kein Ka- (Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- pitalbetrag ausgezahlt werden kann. Viele Rentner ha- NEN]: Das ist nicht wahr!) ben mit 60 oder 65 Jahren das Bedürfnis, einen Teil des Kapitals zu erhalten, um beispielsweise ihre Hypotheken Ich kann überhaupt nicht verstehen, warum Sie das den abzulösen. Menschen antun wollen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ihr Gesetzentwurf umfasst 100 Seiten Gesetzestext und Begründung. Die Kompliziertheit dieses Gesetzes Zudem haben Sie die Vorsorge auf eine Leibrente be- ist einer der traurigen Höhepunkte und ein Musterbei- grenzt, wenn Sie das Wort „Versicherungsunternehmen“ spiel dafür, dass unser Einkommensteuergesetz nicht aus dem Gesetzestext auch herausgenommen haben. Sie mehr reparabel ist. Folgen Sie endlich den Vorschlägen (B) wollen den Menschen letztendlich vorschreiben, dass sie der Union zur Vereinfachung des Steuerrechts! (D) ausschließlich eine Vorsorge wie bei der gesetzlichen Rentenversicherung treffen können. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Sie sollten stattdessen in dieser Phase die Möglichkeit nutzen, den gesamten Finanzmarkt mit neuen Möglich- Der Minister erklärt: Das von uns geschaffene Gesetz keiten der Altersversorgung auszustatten. Bei jeder Ge- ist transparent und einfach. – Darüber können wir in der legenheit klagen Sie über fehlendes Wachstum, aber Sie Tat nur lachen. Den Menschen bleibt nur noch die Hoff- verzichten darauf, Wettbewerb im Finanzmarkt stattfin- nung auf eine betriebliche Altersversorgung. Sie von den zu lassen. Wir wollen den Wettbewerb der Banken, den Regierungsfraktionen sollten im Grunde stolz darauf der Investmentgesellschaften und der Versicherungen. sein, dass seit dem Jahre 2001 das Ausmaß der betriebli- Sie wollen lenken und den Menschen vorschreiben, wie chen Altersversorgung hinsichtlich Pensionskassen und sie zu leben oder ihre Altersversorgung zu gestalten ha- Direktversicherungen deutlich gestiegen ist, weil die ben. Das wollen wir nicht. Entgeltumwandlung für jeden einzelnen Arbeitnehmer möglich ist. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Jetzt aber schlagen Sie vor, die bisherige Form der der FDP) Direktversicherung durch Aufhebung der Pauschalbe- Wenn Vorsorgeprodukte nicht attraktiv sind, bleibt steuerung wegfallen zu lassen. Ihr erster Gesetzentwurf das Problem, dass junge Menschen in eine Armutsfalle enthielt eine ausschließliche Begrenzung der betriebli- geraten; denn sie müssen für sich selbst sorgen und na- chen Altersversorgung auf 4 Prozent des Bruttolohnes, türlich auch für die jetzigen Rentner zahlen. Deshalb ist obwohl wir heute wesentlich mehr Möglichkeiten haben; die Attraktivität der Altersvorsorge so wichtig. In Ihrem denn nicht nur 4 Prozent des Bruttogehalts des Arbeit- ersten Entwurf wollten Sie beispielsweise die Steuer- nehmers, sondern – das ist unsere Forderung – auch freiheit von Lebensversicherungen völlig beseitigen 4 Prozent vom Arbeitgeber sollen zur Finanzierung der und die volle Steuerpflicht auf alle Lebensversiche- Vorsorge möglich sein. Viele Arbeitnehmer hätten ihre rungserträge ausdehnen. Ansprüche auf betriebliche Altersversorgung durch den Arbeitgeber verloren, wenn Ihr Gesetz beschlossen wor- (Joachim Poß [SPD]: Sie singen das hohe Lied den wäre. der Versicherungswirtschaft!) Nun haben Sie Gott sei Dank einen zusätzlichen Steu- – Herr Poß, rufen Sie nicht dazwischen! Sie können erfreibetrag von 1 800 Euro angeboten. Wir fordern nach nachher zu diesem Punkt reden. wie vor 4 Prozent für die vom Arbeitgeber finanzierte Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. April 2004 9433

Klaus-Peter Flosbach (A) Vorsorge, weil hier eine Anpassung an die Bemessungs- nisse ändern müssen. Unterstützen Sie deshalb unseren (C) grundlage erfolgen muss. Es muss ein dynamischer Pro- Entschließungsantrag und lehnen Sie die Vorlage von zess entstehen; denn die Menschen müssen gemäß der Rot-Grün ab! Bemessungsgrundlage auch dynamisch höhere Bei- Ich danke Ihnen. träge einzahlen. Natürlich müssen Sie ebenso die Infla- tion betrachten. (Beifall bei der CDU/CSU – Joachim Poß (Horst Schild [SPD]: Vor allem müssen Sie [SPD]: Das ist der Gipfel der Scheinheilig- das Geld haben!) keit!)

Herr Schild, jetzt bieten Sie zusätzlich 1 800 Euro als Präsident Wolfgang Thierse: vom Arbeitgeber finanzierte Altersversorgung. Gleich- Lieber Kollege Poß, wir sollten auch während leiden- zeitig fordern Sie, dass diese Summe mit Sozialversiche- schaftlicher Debatten nicht Verdächtigungen ausspre- rungsbeiträgen belegt wird, obwohl das heute im We- chen. Unter Parlamentariern ist das nicht üblich. sentlichen nicht der Fall ist. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Horst Schild [SPD]: Fragen Sie doch mal neten der FDP) Herrn Seehofer oder Herrn Storm, was sie da- von halten!) Ich erteile nun Kollegin Christine Scheel, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, das Wort. Im Alter müssen die Rentner dafür noch einmal So- zialversicherungsbeiträge zahlen. Worin soll die Attrak- tivität einer betrieblichen Altersversorgung liegen, wenn Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): der Unterschied zu einer privaten Kapitalanlage nicht Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! mehr sichtbar ist? Wenn man sich die Zeitungslandschaft in den letzten Ta- gen zu diesem Thema anschaut und heute den Leitartikel (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und in der „Süddeutschen Zeitung“ liest, dann kommt man der FDP – Hans Michelbach [CDU/CSU]: Al- zu der Überzeugung, dass all diejenigen, die zu dem Er- les gegen die Wand gefahren!) gebnis gekommen sind, dass die Union versucht, Volks- Sie setzen deutlich falsche Schwerpunkte. Diese Unsys- verdummung zu betreiben, völlig Recht haben. tematik schmerzt und hat die Suche nach Kompromissen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN erschwert. sowie bei Abgeordneten der SPD) Aber dass Sie es zulassen, dass vorzeitig Pensionierte, Sie suchen krampfhaft Gründe, warum Sie dieses Gesetz (B) die das Unternehmen frühzeitig verlassen haben, eine hier ablehnen können, um ihm dann im Bundesrat aus (D) höhere Rente als Betriebstreue oder Erwerbsunfähige bei angeblich staatspolitischer Verantwortung zuzustimmen. ihrem Ausscheiden bekommen, weil Sie ein Fehlurteil des Bundesarbeitsgerichts nicht korrigieren wollen, ist (Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Das ist für uns überhaupt nicht nachvollziehbar. Die gesamte Fi- doch Blödsinn!) nanzbranche, die mit betrieblicher Altersvorsorge zu tun Das ist scheinheilig, das täuscht die Öffentlichkeit und hat, ist schockiert darüber, dass Sie dies nicht korrigieren das hat mit Seriosität und Glaubwürdigkeit, meine Da- wollen. Fachleute rechnen damit, dass jährlich 30 bis men und Herren von der Union, nichts mehr zu tun. 40 Millionen Euro auf den Pensions-Sicherungs-Verein zukommen werden, der diese Pensionen sichern soll, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN weil Sie nicht korrigierend eingreifen wollen. und bei der SPD) Nach neuen Hiobsbotschaften für die Rentner für das Wir haben uns gemeinsam in den vergangenen Wo- nächste Jahr – auch dann ist wieder mit einer Nullrunde chen auf der Fachebene sehr viel Zeit genommen – ich zu rechnen – werden auch die im Berufsleben Stehen- lobe an dieser Stelle bewusst auch die Fachpolitikerin- den, die Aktiven hinsichtlich ihrer Vorsorgemöglichkei- nen und Fachpolitiker der CDU/CSU und der FDP – und ten zutiefst verunsichert. Nach Aussagen von Experten sehr gute Debatten geführt. Wir haben uns mit den Vor- wollen die Bürger Wohnungseigentum, eine sichere schlägen, die Sie eingebracht haben, auseinander gesetzt Rente und ein Stück finanzielle Freiheit. Sie wollen und die Vorschläge der Union weitestgehend aufgenom- keine Bevormundung. Es besteht die große Gefahr bei men. Zu den FDP-Vorschlägen komme ich noch. Rot- diesem Gesetz, dass die Rentner belastet werden, aber Grün hat in großen Teilen Unterstützung gegeben. Was die Jungen nicht für ihr Alter vorsorgen, weil die Vor- aber nicht geht, ist, dass Vorschläge, vor allen Dingen sorgeprodukte so unattraktiv sind, dass sie hierfür keine diejenigen der FDP-Fraktion, aufgenommen werden, die Entscheidung treffen werden. Wir brauchen aber in die- zusätzliche Milliardenlöcher in die Haushalte schlagen sem Lande einfache, nachvollziehbare und klare gesetz- würden. Das können wir auch aus staatspolitischer Ver- liche Regelungen, die von den Bürgern verstanden und antwortung nicht machen. akzeptiert werden. (Beifall der Abg. Franziska Eichstädt-Bohlig Dieses Gesetz ist eine laufende Produktion von Ver- (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – unsicherungen. Wir haben unsere Bedenken von Anfang [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Auf Geld an geäußert und unsere Meinung in der gesamten Phase kommt es bei denen nicht an! Die haben ein im Gegensatz zu Ihnen nicht wegen besserer Erkennt- schwarzes Konto!) 9434 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. April 2004

Christine Scheel (A) Deswegen haben wir ein Gesetz vorgelegt, das inhaltlich Wir setzen mit dem Gesetzentwurf den Auftrag des (C) sehr gut ist, das staatspolitisch verantwortlich ist und Bundesverfassungsgerichts um, Renten und Pensionen auch gegenüber den Ländern, den Kommunen und dem steuerlich gleich zu behandeln. Ich möchte Sie in diesem Bund unserer Aussage gerecht wird, dass wir keine wei- Zusammenhang daran erinnern, dass wir diesem Auftrag tere Neuverschuldung wollen. nicht irgendwann nachkommen können, sondern dass Herr Minister Eichel hat mit einem weinenden Auge wir verpflichtet sind, ihn bis spätestens 2005 zu erfüllen. auf eine Tatsache hingewiesen. Wir reden hier über Ren- Ich gehe zwar davon aus, dass der Bundesrat dem Ge- tenbesteuerung, dürfen aber nicht vergessen, dass dieses setzentwurf zustimmen wird, aber angenommen, die Gesetz dazu führt, dass diejenigen, die im Erwerbsleben Ankündigungen von Herrn Kauder würden realisiert und stehen, bis zum Jahre 2010 um 5 Milliarden Euro entlas- der Bundesrat würde den Gesetzentwurf ablehnen, dann tet werden. Diese Entlastung ist in der Debatte bislang wäre die jetzige Besteuerung von Pensionen, die seit völlig untergegangen. vielen Jahren Bestand hat, verfassungswidrig. Es würde Wenn man sich auf der fachlichen Ebene so weit an- zu jährlichen Steuerausfällen in Höhe von 10 Milliar- nähert, dann verstehe ich nicht, dass Herr Kauder, der den Euro und zu einer Flut von Klagen kommen. Dieses immer wieder gerne von dem Chaos spricht, das hier Chaos würden Sie anrichten, wenn der Bundesrat dem produziert wird, Gesetzentwurf nicht zustimmt. (Hans-Peter Repnik [CDU/CSU]: Recht hat (Joachim Poß [SPD]: Das wollen sie doch!) er!) Die nachgelagerte Besteuerung ist der richtige Weg am Wochenende selbst Chaos erzeugt hat. zur Reform der Rentenbesteuerung. Darin sind sich alle (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN einig. Politiker auf Bundes- und Landesebene, Wissen- und bei der SPD) schaftler und Verbände haben in den vergangenen Jahren darauf hingewiesen, dass die nachgelagerte Besteuerung Am Montag hat Herr Kauder noch eine Totalblockade der richtige Weg ist. Auch die Union hat sich in jedem im Bundestag wie auch im Bundesrat verkündet. Darauf- Wahlkampf in verschiedenen Hochglanzbroschüren im- hin hat Frau Merkel, die schließlich weiß, dass die Zu- mer wieder für die nachgelagerte Besteuerung ausge- stimmung des Bundesrates notwendig ist, festgestellt, sprochen. dass das Gesetz vielleicht doch eine Mehrheit im Bun- desrat erzielen könnte. Dann wiederum hat Herr Kauder Umso verwunderlicher ist es, dass Sie ein solch gro- am Dienstag angekündigt, dass im Bundesrat unter mini- ßes Reformwerk infrage stellen, das viele Generationen maler Beteiligung der unionsregierten Länder – in die- betrifft. Für die derzeit Beschäftigten, Selbstständige wie (B) sem Zusammenhang wurden Thüringen, das Saarland abhängig Beschäftigte, junge und ältere Menschen wird (D) und Sachsen genannt – eine Zustimmung erfolgt. in den nächsten Jahrzehnten in einem gleitenden Über- gang die nachgelagerte Besteuerung eingeführt. Dieses (Horst Schild [SPD]: Zwei Länder waren Reformwerk so umzusetzen, dass es sozial ausgewogen darauf angewiesen!) ist und zu Entlastungen durch die steuerliche Freistel- Interessanterweise hat aber der Ministerpräsident von lung der Rentenversicherungsbeiträge führt, die glei- Thüringen, Dieter Althaus, davon offenbar nichts ge- chermaßen für einen stärkeren Einsatz zugunsten der wusst. Er hält das Gesetz gegenwärtig nicht für zustim- privaten Altersvorsorge wie auch der betrieblichen Vor- mungsfähig. Ich weiß allerdings nicht, warum. sorge genutzt werden können, ist ein Kraftakt. (Joachim Poß [SPD]: Er weiß es auch nicht!) Wir vom Bündnis 90/Die Grünen haben seit vielen Sie wiederum verkünden, dass Thüringen zustimmen Jahren einen solchen Systemwechsel eingefordert; denn wird. Daran wird deutlich, welches Schmierentheater die damit erreichen wir, dass der Einzelne konsequent nach Union zu diesem Thema aufführt. seiner steuerlichen Leistungsfähigkeit besteuert wird und dass hinsichtlich der Pflichtbeiträge zu den Sozial- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN versicherungen, die für die Steuerpflichtigen nicht ver- und bei der SPD) fügbar sind und bislang zu einem großen Teil besteuert Ich hoffe sehr, dass dieses parteitaktische Verwirrspiel waren – dass diese Regelung ungerecht ist, wissen wir der Union bald ein Ende hat. Denn ein so langfristiges alle –, ein Kurswechsel erfolgt. Das ist der richtige Weg, Projekt wie die nachgelagerte Besteuerung der Alters- den auch Sie immer wieder beschrieben haben. Daraus einkünfte ist dafür denkbar ungeeignet. ergibt sich auch an dieser Stelle die große Verwunderung über Ihr Verhalten. (Joachim Poß [SPD]: Das ist wohl wahr!) Die Altersvorsorgebeiträge werden bis 2025, und Wir alle müssen dafür sorgen, dass die Bevölkerung zwar beginnend mit 60 Prozent vom nächsten Jahr an, die notwendigen Informationen bekommt. Es geht nicht von der Steuer freigestellt. Erst die entsprechenden Al- an, Informationen zu verbreiten, die auf alten Vorlagen tersbezüge werden besteuert, und zwar allmählich stei- beruhen und mit dem vorliegenden Gesetzentwurf nichts gend – beginnend mit 50 Prozent vom nächsten Jahr an – mehr zu tun haben, um die Menschen zu verwirren. bis 2040. Dann werden alle Alterseinkünfte steuerlich Auch das ist unverantwortlich. genauso behandelt wie Erwerbseinkünfte. Die Gleichbe- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN handlung von Erwerbs- und Alterseinkünften ist völlig und bei der SPD) konsistent, wenn die Altersvorsorgebeiträge steuerfrei Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. April 2004 9435

Christine Scheel (A) sind. Vor diesem Hintergrund ist es auch richtig, dass die berger Beschlüssen, auf die Sie immer so gerne (C) Steuern dann anfallen, wenn die Versicherungsleistun- verweisen, eine Änderung der Besteuerung der Lebens- gen dem Steuerpflichtigen tatsächlich zukommen. versicherungen vorsieht, und zwar auch für die beste- henden Verträge. Genau das wollten wir nicht. Es wird Es gibt einen sehr langen Übergangszeitraum. Ich Vertrauensschutz für die bestehenden Verträge geben. sage Ihnen ganz offen, dass es auch mir gefallen hätte, Wir werden dafür sorgen, dass vom Jahr 2005 an Steuer- wenn es gelungen wäre, den Übergangszeitraum zu ver- privilegien zugunsten der Lebensversicherung abgebaut kürzen. Das hätte nämlich eine einfache Umsetzung und werden. Anwendung des Gesetzes bedeutet. Man muss aber auf der einen Seite sehen, dass der Übergangszeitraum des- Letzte Bemerkung: Ich wünsche mir, dass die Union wegen länger ist, weil die heutigen Rentnerinnen und den Eiertanz, den sie zum Schaden der Bürger und Bür- Rentner nicht über Gebühr besteuert werden dürfen. Die gerinnen aufführt, beendet, dass sich die Union ihrem Umstellung muss also langsam erfolgen. Auf der ande- Verfassungsauftrag im Bundesrat nicht entzieht und dass ren Seite hätten wir die steuerliche Freistellung der Vor- alle politisch Verantwortlichen in diesem Land ihrer Ver- sorgeleistungen von heute auf morgen nicht finanzieren antwortung nachkommen und den Weg für die nachgela- können; denn das hätte eine Belastung für die Haushalte gerte Besteuerung freimachen. Hören Sie mit Ihrem des Bundes, der Länder und der Kommunen in Höhe von Theater auf! Seien Sie endlich ehrlich! Geben Sie sich 20 Milliarden Euro bedeutet. Weil dies nicht zu verant- einen Ruck und stimmen Sie dem heute vorliegenden worten gewesen wäre und weil wir weitestgehend sicher- Gesetzentwurf zu! Sie werden das im Bundesrat sowieso stellen wollen, dass es zu keiner Zweifachbesteuerung tun. kommt, haben wir für einen langen Übergangszeitraum gesorgt. Danke schön. Wir haben auf der gestrigen Sitzung des Finanzaus- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN schusses die Entscheidung getroffen, und zwar im Prin- und bei der SPD) zip gemeinsam, dass der so genannte Sonderausgaben- abzug für alle unverändert bis 2010 fortbesteht – auch Präsident Wolfgang Thierse: das ist übrigens eine Forderung der Union – und dass er Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Kollegen danach bis 2019 sozialverträglich abgeschmolzen wird. Volker Kauder das Wort. Davon profitieren vor allem Bezieher von kleinen Ein- kommen. In den Genuss dieses Vorteils kommen aber (Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: nicht nur abhängig Beschäftigte, sondern auch Selbst- Den „Eiertanz“ lässt er nicht auf sich beru- ständige; das ist auch richtig so. Wir waren uns ja in der hen!) (B) (D) gestrigen Beratung einig, dass es besser ist, dies auf alle zu übertragen, weil dies die Handhabung vereinfacht Volker Kauder (CDU/CSU): und weil es gerechter zu sein scheint, wenn dies für alle Sehr geehrte Frau Kollegin Scheel, Sie haben mich und nicht nur für einen Teil der Bevölkerung gilt. Des- völlig falsch zitiert. Ich wurde am Wochenende in einem halb haben wir für eine entsprechende Änderung ge- Gespräch mit einer Zeitung gefragt: Wird der Vermitt- sorgt. lungsausschuss vom Bundesrat angerufen, wenn Sie Ein weiterer Punkt ist – das ist kein Geheimnis –, dass dieses Gesetz im Deutschen Bundestag ablehnen? Da- die private und die betriebliche Altersvorsorge neben raufhin habe ich erklärt, dass wir ein Vermittlungsver- der gesetzlichen Altersvorsorge immer mehr an Bedeu- fahren zurzeit nicht anstreben. Das war meine Formulie- tung für die Sicherung des Lebensstandards im Alter ge- rung. Sie von der Koalition reagieren aber reflexartig mit winnt. Es geht um bessere Chancen für die jungen Gene- den Worten „Blockade, Blockade“. Sie sollten sich mehr rationen, die sich eine eigene Altersvorsorge nach ihren darauf konzentrieren, gute Gesetze zu machen, als gleich Vorstellungen aufbauen wollen. Deshalb bieten wir ent- „Blockade“ zu schreien. sprechende Möglichkeiten an. Ich finde es gut, dass die (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Junge Union kein Blatt vor den Mund nimmt und die Blockadehaltung ihrer Parteispitze kritisiert; das ist mu- Dass wir zunächst einmal erklärt haben, ein Vermitt- tig. Sie hat auch Recht. Im Interesse der jungen Genera- lungsverfahren nicht anzustreben, heißt noch lange tion können wir der Jungen Union nur beipflichten. Wir nicht, dass wir blockieren wollen. Es gibt noch andere sehen das genauso. Möglichkeiten, die Sie offenbar überhaupt nicht einkal- kulieren. Sie hätten also viel ruhiger und gelassener sein (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sollen. sowie bei Abgeordneten der SPD) Ich komme zum Schluss. Sie haben hier, im Deut- Wir haben unter Verbraucherschutzgesichtspunkten schen Bundestag, mehrere Rentengesetze eingebracht. Berichtspflichten verbessert und Unisextarife einge- Ich sage klar: Wenn Sie das gemacht hätten, was das führt. Männer und Frauen werden in Zukunft – verfas- Bundesverfassungsgericht verlangt, nämlich die nachge- sungsgemäß – gleich behandelt. Wir haben auch Ände- lagerte Besteuerung in einem Gesetz zu regeln, und dies rungen bei den Lebensversicherungen vorgenommen. nicht noch mit allerlei Unsinnigkeiten verbunden hätten, Herr Flosbach, da Sie die Lebensversicherungen ange- dann wäre die Debatte viel einfacher gewesen. sprochen haben, möchte ich nur noch einmal daran erin- nern, dass die Union in ihren Vorschlägen zu den Peters- (Beifall bei der CDU/CSU) 9436 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. April 2004

(A) Präsident Wolfgang Thierse: nicht beliebig darüber hinweggehen kann, dass man über (C) Kollegin Scheel, Sie haben die Möglichkeit zur Erwi- bestimmte Punkte inhaltlich keine Einigung hat erzielen derung. können, obwohl das notwendig gewesen wäre. Vielmehr muss man dann zu seinen Positionen stehen. Auch das (Horst Schild [SPD]: Wer wollte denn noch möchte ich hier zum Ausdruck bringen. mehr? Die Union! – Hartmut Schauerte [CDU/ CSU]: Sie stürzt sich noch ins Unglück, wenn (Beifall bei der FDP) sie so weitermacht!) Was ist der Hintergrund? Es klang bereits an: Dieser Gesetzentwurf ist durch das Verfassungsgerichtsurteil Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): notwendig geworden. Es ist aber auch aus einem ande- Herr Kollege Schauerte, ich glaube nicht, dass Sie ren Grund notwendig – auch das haben wir hier erör- sich Sorgen machen müssen, dass ich mich ins Unglück tert –, zu einer nachgelagerten Besteuerung zu kommen, stürze. Das werde ich nicht tun. und zwar wegen der Steuersystematik. Dem wird in un- serem Gesetzentwurf zu einer grundlegenden Steuer- Herr Kauder, ich habe nur an Sie appelliert. Wenn Sie reform, über den wir später noch beraten werden, Rech- signalisieren, dass der Bundesrat zustimmt – das haben nung getragen. Sie am Dienstag gesagt –, dann wäre es doch nur ehrlich, wenn die Union diesem Gesetz auch hier zustimmte. Sie (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Sehr richtig!) wissen ganz genau, dass dieses Gesetz, das heute mit der Aber wir können das nicht losgelöst von den Problemen Mehrheit von Rot-Grün und, wie ich immer noch hoffe diskutieren, die wir mit Blick auf die Altersvorsorge in – ab und zu bin ich optimistisch –, auch mit Ihren Stim- unserem Land haben. men verabschiedet wird, unverändert in den Bundesrat geht. Sie haben gesagt, man werde den Vermittlungsaus- Als Sie seinerzeit die Riester-Rente, die auch Gegen- schuss nicht anrufen, was ich sehr begrüße. stand des Gesetzentwurfs ist, eingeführt haben, sind Sie noch davon ausgegangen, dass das Rentenniveau von (Volker Kauder [CDU/CSU]: Nein, nicht an- 67 Prozent auf 63 Prozent gesenkt wird. Heute wissen streben!) wir, dass wir im Jahr 2030 nur noch ein Rentenniveau Das bedeutet, dass dieses Gesetz vom Bundesrat verab- von 43 Prozent erwarten dürfen. Das zeigt, wie notwen- schiedet wird und unverändert bleibt. dig es ist, in diesem Land über private Altersvorsorge viel konsequenter nachzudenken, als es bei dieser Vor- Genau das macht die Scheinheiligkeit aus, die ich an- lage geschehen ist. gesprochen habe. Man muss sich entscheiden: Entweder lehnt man ab oder man stimmt zu. Aber man kann dieses (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (B) Gesetz hier nicht mit Getöse ablehnen und an anderer der CDU/CSU) (D) Stelle zustimmen, weil man weiß, dass es eigentlich gut Wir müssen bei dieser Beratung an die denken, die in ist. den nächsten Jahren in Rente gehen werden, aber wir müssen genauso an die Bürgerinnen und Bürger denken, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN die in den nächsten Jahrzehnten über ihre private Vor- sowie bei Abgeordneten der SPD) sorge noch einen Beitrag dazu leisten müssen, dass sie eine faire Altersvorsorge erwarten können. Vor diesem Präsident Wolfgang Thierse: Hintergrund möchte ich jetzt einige grundlegende Be- Ich erteile nunmehr dem Kollegen Andreas Pinkwart, merkungen machen. Uns hat nämlich Grundlegendes ge- FDP-Fraktion, das Wort. trennt und nicht irgendwelche Detailpunkte. Das Erste, was ich hier feststellen möchte, ist Folgen- Dr. Andreas Pinkwart (FDP): des: Bei dem Übergang zur nachgelagerten Besteuerung Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und müssen wir uns vor Augen führen, wie die unterschiedli- Herren! Ich möchte zunächst für meine Fraktion den chen Gruppen – in dem Fall die Selbstständigen und die Kolleginnen und Kollegen der anderen Fraktionen für nicht selbstständig Tätigen – bezogen auf ihre Altersvor- die sehr sachliche Beratung, die wir zu dem vorliegen- sorgeaufwendungen in der Vergangenheit besteuert wor- den Gesetzentwurf im Ausschuss durchführen konnten, den sind. danken. Ich bedanke mich ebenfalls bei den Fachbeam- ten des Bundesfinanzministeriums dafür, dass sie unsere (Volker Kauder [CDU/CSU]: Da hat er Recht!) Beratungen sehr nachdrücklich unterstützt haben. Ich Da müssen wir feststellen: Bei Arbeitnehmern liegt der halte es für wichtig, das den weiteren Ausführungen vor- Sachverhalt so, dass der Arbeitgeberbeitrag stets steuer- anzustellen, weil ich diesen Gesetzentwurf für sehr be- frei blieb, wohingegen die Selbstständigen in diesem deutend erachte. Er betrifft Millionen von Bürgerinnen Land in der Vergangenheit keinen steuerfreien Arbeit- und Bürgern im Lande. Es geht um die Gestaltung der geberbeitrag bekommen haben und ihre Altersvorsorge Zukunft in unserem Land. Deswegen ist es wichtig, dass auch nicht in einem entsprechend hohen Umfang durch diese Beratungen sehr sachlich, sehr konstruktiv geführt Sonderausgabenabzüge steuerfrei hätten bilden können. werden. Wir haben uns daran beteiligt. Das heißt, diese beiden Gruppen sind in der Vergangen- heit ganz offensichtlich ungleich besteuert worden. Wir wären sehr gern mit Ihnen gemeinsam zu einer vertretbaren Lösung gekommen. Dass das nicht gelun- (Horst Schild [SPD]: Sie sind aber nicht als gen ist, bedauern wir. Wir sind der Auffassung, dass man unterschiedliche Gruppen geboren!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. April 2004 9437

Dr. Andreas Pinkwart (A) Jetzt gehen Sie hin und wollen etwas, das in der Ver- Dr. Andreas Pinkwart (FDP): (C) gangenheit ungleich besteuert worden ist, mit dem neuen Sehr gern. Regime Ihres Gesetzentwurfs gleich behandeln. Aber wer versucht, Gleiches ungleich zu behandeln, handelt in Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): gleicher Weise ungerecht wie jener, der meint, Unglei- ches gleich behandeln zu müssen. Das ist die Fundamen- Herr Kollege Pinkwart, steuersystematisch sind die talkritik an dieser Stelle. Ausführungen, die Sie gerade gemacht haben, richtig, aber Ihre Aussagen rufen doch andere Wirkungen her- (Beifall bei der FDP) vor. Ich möchte Sie von daher fragen, ob Sie das nicht klarstellen wollen. Frau Scheel, Sie haben da so eine kleine Formulie- rung eingefügt, die den Eindruck erweckt, als würden Sie haben gesagt, dass bei einer monatlichen Rente Sie es mit Ihrem fließenden Übergang für die zukünfti- von 1 000 Euro 500 Euro steuerpflichtig sein werden. gen Rentnergenerationen einfacher gestalten und die Be- Ich möchte Sie hier bitten, klar zu sagen, dass ein Allein- lastung geringer halten. Dazu muss ich Ihnen sagen: Im stehender oder eine Alleinstehende bis zu 19 000 Euro Vergleich zu dem, was wir Ihnen vorgeschlagen haben, Renteneinnahmen im Jahr völlig steuerfrei beziehen führt Ihr Lösungsansatz zu einer stärkeren Belastung, darf. Bei Verheirateten würde natürlich der doppelte Be- nicht nur bei den Selbstständigen – das habe ich heraus- trag gelten. gearbeitet –, sondern auch bei den Arbeitnehmern. Das will ich Ihnen einmal an einem ganz einfachen Beispiel ( [CDU/CSU]: Wenn keine darstellen. anderen Einkünfte da sind!) Ich gehe von dem Fall aus, dass eine Person nach – Wenn keine anderen Einkünfte da sind, selbstverständ- 45 Versicherungsjahren zum 1. Januar 2005 in Rente lich. Aber wir reden ja hier nach dem, was Herr Pinkwart geht und 1 000 Euro Monatsrente – das unterstellen wir gesagt hat, über die Besteuerung der Rente. einfach einmal, damit es sich hier auch darstellen lässt – Meine Sorge ist, Herr Professor Pinkwart, dass jetzt erhält. Nach Ihrem Entwurf erhöhen dann 50 Prozent in der Öffentlichkeit der Eindruck entsteht, dass jeder, dieser 1 000 Euro das zu versteuernde Einkommen. Das der Renteneinkünfte in Höhe von 1 000 Euro hat, plötz- sind 500 Euro. Diese 500 Euro legen Sie 2005 fest. Sie lich 500 Euro Steuern bezahlen muss. Das ist definitiv werden als Nominalbetrag festgelegt. falsch. Ich bitte Sie, das richtig zu stellen. (Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- NEN]: Aber faktisch werden keine Steuern in SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD – Hans (B) 2005 gezahlt!) Michelbach [CDU/CSU]: Das hat doch kei- (D) – Frau Scheel, hören Sie doch erst einmal zu! – Die glei- ner behauptet!) che Person wird im Jahr 2015 nach der bisherigen Ren- tenentwicklung, unter Berücksichtigung der allgemeinen Dr. Andreas Pinkwart (FDP): Preissteigerungsrate, also dann, wenn die Rente nur in Frau Kollegin Scheel, zunächst einmal danke ich Ih- Höhe der Preissteigerungsrate angehoben werden sollte, nen, dass Sie mir in Bezug auf meine Darstellung grund- eine Rente in Höhe von 1 200 Euro beziehen. Sie wird sätzlich Recht gegeben haben. Das ist sehr zu begrüßen nach Ihrem Modell nicht mehr 500 Euro, sondern und auch sehr fair. Ich bitte Sie, mir die gleiche Fairness 700 Euro monatlich zu versteuern haben. bezogen auf meine konkreten Ausführungen entgegen- zubringen. Ich habe nämlich nicht gesagt, dass eine Nach unserer Vorlage ist bei dieser 50-prozentigen Steuerlast in dieser Höhe anfiele, sondern ich habe deut- Einbeziehung der Alterseinkünfte in das neue Steuerre- lich gemacht, dass das zu versteuernde Einkommen pro gime eine Dynamisierung sichergestellt. So wie wir das Monat um 500 Euro erhöht wird. Das heißt, diese in unserer einfachen Regelung vorschlagen, wird die 500 Euro erweitern die Bemessungsgrundlage. Nichts Person 2015 ebenfalls nur 50 Prozent ihrer monatlichen anderes habe ich hier dargestellt. Altersrente, sprich: 600 Euro, und nicht 700 Euro zu ver- steuern haben. (Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das wollte ich nur klargestellt haben!) Nun mögen Sie sagen, das sei eine Bagatelle. Wir meinen, dass – bei einem durchschnittlichen Steuersatz Es ist auch klar, dass der Bereich des steuerfreien von 25 Prozent – 25 Euro pro Monat für diesen Rentner Existenzminimums, der nicht der Besteuerung unter- ein gravierender Betrag sind. Das zeigt, wie unsystema- liegt, in Ihrem Regime genauso behandelt wird wie in tisch Ihre Konstruktion dieses über 35 Jahre angelegten unserem. Insofern ist meine Sachdarstellung in jeder Übergangsprozesses ist. Hinsicht völlig korrekt. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) der CDU/CSU)

Präsident Wolfgang Thierse: Präsident Wolfgang Thierse: Kollege Pinkwart, gestatten Sie eine Zwischenfrage Kollege Pinkwart, gestatten Sie noch eine Zwischen- der Kollegin Scheel? frage, und zwar der Kollegin Hendricks? 9438 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. April 2004

(A) Dr. Andreas Pinkwart (FDP): liche Haltung der Regierungskoalition zum Eigentum, zu (C) Ja, gerne. der Frage: Wie gestalten wir private, kapitalgedeckte Al- tersvorsorge? Bei dieser Frage waren wir in den Sachge- Dr. Barbara Hendricks (SPD): sprächen teilweise schon viel weiter. In den Gesprächen gab es von Ihnen, jedenfalls gelegentlich, Hinweise, man Herr Kollege Pinkwart, sind Sie zunächst bereit, zur könne über Teilkapitalisierbarkeit, über Vererbbarkeit Kenntnis zu nehmen, dass Ihr Rechenbeispiel nicht zu- nachdenken, wenn jemand zusätzlich privat vorsorgt. In trifft, weil in dem langen Zeitraum zwischen 2005 und den Endberatungen haben Sie diese Möglichkeiten der 2015 die Grundfreibeträge gemäß der Maßgabe, die Flexibilisierung und der Steigerung der Attraktivität der das Bundesverfassungsgericht vorgegeben hat, erhöht privaten Altersvorsorge wieder zurückgenommen bzw. werden und infolgedessen Rentner, wenn ihre Einkünfte keine Bereitschaft gezeigt, sich darauf einzulassen. steigen, genauso wie Arbeitnehmer von der Erhöhung der Grundfreibeträge profitieren? Von daher kann Ihr Sie wollen, wenn Sie ehrlich sind, die beiden Säulen Rechenbeispiel schon nicht zutreffend sein. der in Deutschland akzeptierten privaten Altersvorsorge, nämlich die Wohneigentumsbildung und die Kapital- Sind Sie mit mir im Übrigen der Auffassung, dass das lebensversicherung, durch vielfältige Maßnahmen, die von Ihnen vorgeschlagene einfache Modell den Forde- Sie hier im Hause vorlegen, im Kern erschüttern. Das ist rungen des Bundesverfassungsgerichtes nicht ent- doch Ihr Ansatz: Sie wollen die Eigenheimzulage ab- spricht, weil wir damit zwar im Jahre 2005 die Schere schaffen und gleichzeitig steuerliche Begünstigungen zwischen der Besteuerung von Beamtenpensionen und von Wohneigentum zur Altersvorsorge ausschließen. Sie der von Renteneinkünften etwas schließen würden, sie wollen der Kapitallebensversicherung, die in Deutsch- sich danach aber wieder sukzessiv weiter öffnen würde? land über 80 Millionen Mal vorhanden ist, die ein einge- Infolgedessen würden wir den Forderungen des Bundes- führter Artikel der privaten Altersvorsorge ist, nicht nur verfassungsgerichtes nicht entsprechen, wenn wir außer die Privilegien entziehen – da würden wir mitgehen; das dem Grundfreibetrag, der sich auf alle Einkunftsarten ist nicht der Punkt –, sondern sie ausweislich der Be- auswirkt, einen steigenden Freibetrag für Rentner vorse- rechnungen des Finanzministeriums doppelt so hoch wie hen würden, während wir ihn für Arbeitnehmer und Pen- einfache Sparpläne und um ein Vielfaches höher als Ak- sionäre nicht vorsehen. tienfonds besteuern. Das ist eine systematische Verwei- gerung gegenüber der in Deutschland praktizierten Form Dr. Andreas Pinkwart (FDP): der privaten Altersvorsorge. Dagegen wehren wir uns Frau Hendricks, zunächst einmal ist hier festzustellen, massiv. dass Ihr erster Einwand dem entspricht, der auch von (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (B) Frau Scheel vorgetragen worden ist. Die Dynamisierung der CDU/CSU) (D) des Grundfreibetrages ist in unserem Konzept ebenso vorgesehen. Das heißt, meine Argumentation wird da- Ich möchte zum Abschluss etwas zu dem Vorgehen durch in keiner Weise entkräftet. bei den weiteren Beratungen sagen. Von den fundamen- talen Kritikpunkten hat Herr Flosbach viele angeführt, Das weitere Problemfeld, auf das Sie hingewiesen ha- die CDU/CSU hat sie in ihrem Entschließungsantrag ben, ergibt sich aus der Konstruktion, die Sie vorgelegt zum Ausdruck gebracht. Die FDP-Fraktion geht darüber haben. Dieses Argument wäre kein Argument gegen un- noch hinaus, aber teilt diese berechtigten Bedenken. In seren Vorschlag, weil wir diesen Punkt natürlich berück- Anbetracht der grundlegenden Probleme dieses Gesetz- sichtigen würden. Gerade Sie, Frau Hendricks, müssen entwurfes müssen wir ihn hier ablehnen. Wenn wir es in sich, da Sie ja auch das Finanzministerium vertreten, Bezug auf diese Fragen ernst meinen, muss das Gesetz hier der berechtigten Kritik an dem Vorschlag, den Sie auch im Bundesrat angehalten werden. Wir erwarten von vorgelegt haben, stellen. Wir haben einen Gegenentwurf der Union das gleiche Verhalten im Deutschen Bundes- vorgelegt und Sie wiederholt darum gebeten, ihn durch- tag und im Bundesrat. Wir erwarten, dass im Vermitt- zurechnen. Frau Scheel hat eben diesbezügliche Zahlen lungsausschuss in den zentralen Punkten dieses Gesetz- genannt, aber uns liegt bis heute dazu keine Antwort vor. entwurfes eine Nachbesserung erreicht wird. Sie hätten sich ja ruhig substanziiert mit unserem Vor- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten schlag auseinander setzen und in den Beratungen Ihre der CDU/CSU) Einwände vortragen können. Das haben Sie versäumt. Wir bringen unsere Kritik dort, wo sachlich diskutiert wird, und hier in gleicher Weise an. Präsident Wolfgang Thierse: Ich erteile das Wort Kollegen Horst Schild, SPD- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Fraktion. der CDU/CSU – Zuruf von der SPD) – Wenn Sie sich mit einer Frage beteiligen wollen, kön- Horst Schild (SPD): nen wir die Reihe der Zwischenfragen fortsetzen. Aber Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! mit Blick auf meine Redezeit würde ich gerne fortfahren Mit der heutigen Verabschiedung des Alterseinkünftege- und noch einen oder zwei weitere inhaltliche Punkte an- setzes setzen wir einen Meilenstein in der Besteuerung sprechen. der Alterseinkünfte. Das lassen wir uns auch nicht klein- reden. Ein weiteres Problem, das wir haben – das klang auch in der Rede von Herrn Flosbach an –, ist die grundsätz- (Beifall bei der SPD) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. April 2004 9439

Horst Schild (A) Wir beenden damit eine seit Jahrzehnten bestehende Un- Sie wollen nämlich mit dem Thema Rentensteuer bei (C) sicherheit in der Frage, wie Einkünfte im Alter zu be- den kommenden Wahlen auf Stimmenfang gehen. steuern sind. Allen, die dieses Thema in der Vergangen- (Beifall des Abg. Joachim Poß [SPD]) heit verfolgt haben, ist spätestens seit dem ersten Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahre 1980 klar Es gibt keine sachlichen Gründe für Ihr Verhalten. Es ist geworden, dass wir politisch handeln müssen. Ich wie- zwar Ihr gutes Recht als Opposition, die Sache hintanzu- derhole hier ganz deutlich, was der Bundesfinanzminis- stellen. Aber eines muss man im Deutschen Bundestag ter gesagt hat: Die Union hat – dafür kann man Verständ- dann deutlich sagen: Es sind nicht sachliche, sondern nis haben – in den 16 Jahren ihrer Regierungszeit nie die parteitaktische Gründe, die Ihr Verhalten bestimmen. politische Kraft gehabt, dieses Problem zu lösen. (Hans Michelbach [CDU/CSU]: Na, na!) (Heinz Seiffert [CDU/CSU]: Das ist definitiv falsch!) Sie wollen Rentner verunsichern und unberechtigte Ängste schüren. Es ist völlig klar, dass der Einwurf „Petersberg“ kom- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ men wird. Ich will gar nicht darauf zu sprechen kommen DIE GRÜNEN) – das hat der Minister vorhin angesprochen –, zu wel- chem Zeitpunkt Sie das Thema aufgegriffen haben. Es Das macht auch Ihr Entschließungsantrag deutlich. war zum Ende Ihrer Regierungszeit; ein bisschen länger waren Sie ja dabei. (Hans Michelbach [CDU/CSU]: Nehmen Sie nur einmal die Kapitallebensversicherung!) (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Das muss man Herr Kollege Flosbach, wir werden Ihrem Dokument trotzdem sagen!) des politischen Eiertanzes zur Befriedigung der unter- Aber all die Probleme, die insbesondere aus Ihren Rei- schiedlichen Interessen in Ihren Reihen natürlich nicht hen heute als Beleg dafür angeführt werden, dass Sie zustimmen. Ich will in diesem Zusammenhang auf ei- nicht zustimmen können, hätten wir – das sage ich in al- nige Ihrer Kritikpunkte eingehen. Sie sagen, das Alters- ler Deutlichkeit – auch bei 50 Prozent Ertragsanteil ge- einkünftegesetz sei nicht eingebettet in ein schlüssiges habt; das war ja Ihre Maßgabe. Keines der Probleme, die Gesamtkonzept der Alterssicherung und Altersvorsorge. vor allen Dingen die Sozialpolitiker in Ihren Reihen (Hans Michelbach [CDU/CSU]: Das ist heute benennen, wäre dadurch gelöst worden. richtig!) (Joachim Poß [SPD]: So ist es!) Der Bundesfinanzminister hat vorhin ganz deutlich ge- (B) Ich gebe gern zu, dass das Alterseinkünftegesetz eine sagt: Unser Prinzip ist Nachhaltigkeit und Generationen- (D) schwierige Materie darstellt. Es enthält auch unpopuläre gerechtigkeit. Maßnahmen. Aber das Bundesverfassungsgericht hat (Hans Michelbach [CDU/CSU]: Das glaubt uns einen Termin gesetzt und wir müssen jetzt handeln. Ihnen doch niemand mehr, Herr Schild! – Wei- Die Bereitschaft auf der Seite der Bundesregierung terer Zuruf von der CDU/CSU: Nur auf dem und der Koalitionsfraktionen, einen Konsens mit der Op- Papier!) position herbeizuführen, war groß. Ich sage ganz freimü- – Sie müssen das auch nicht, Herr Michelbach. Wir wer- tig: Mein Eindruck war, dass die Finanzpolitiker der den den Wählern deutlich machen, dass wir ein schlüssi- Union und der FDP ernsthaft zu einer Zusammenarbeit ges Gesamtkonzept haben. bereit waren. Ich will nicht weiter auf Ihr Konzept eingehen. Auch (Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- mir ist nicht ganz klar, was Sie wollen. Im Vergleich zu NEN]: Den Eindruck hatte auch ich!) dem Gesetz, das der Deutsche Bundestag heute beschlie- Herr Flosbach hat uns in der ersten Lesung im De- ßen soll, wird ganz deutlich, dass Ihrem Konzept jede zember letzten Jahres eine konstruktive Zusammenarbeit Logik, jede Stimmigkeit und jede politische Redlichkeit angeboten, „damit über dieses Thema im Bundestag ent- fehlt. Sie beklagen die Kompliziertheit dieses Gesetzent- schieden wird und wir uns damit nicht erneut lange im wurfes. Trotzdem haben Sie im Laufe des Gesetzge- Vermittlungsausschuss beschäftigen müssen“. Wir haben bungsverfahrens mindestens fünf bis zehn Punkte einge- zahlreiche Gespräche geführt – ich erinnere daran, dass bracht, die zur weiteren Verkomplizierung des Gesetzes es mindestens vier oder fünf Gespräche auf Arbeitsebene geführt hätten. gegeben hat –, um zu einem Konsens zu kommen. Wir (Hans Michelbach [CDU/CSU]: Das stimmt haben mit Rücksicht auf die Opposition sogar den Zeit- doch nicht!) punkt der Verabschiedung dieses Gesetzes deutlich nach hinten verschoben. Ich will gar nicht über das reden, was die FDP einge- bracht hat. Dann wurde von der Parteiführung der CDU/CSU die Strategie festgelegt. Sie lautet, keine politische Mitver- Ich will ein einfaches Beispiel für die Unstimmigkeit antwortung zu übernehmen – selbst an den Stellen, an Ihrer Vorschläge anführen. Sie beklagen, dass wir den denen wir kurz vor einer Einigung standen. Bestandsschutz bei den Lebensversicherungen nicht in aller Konsequenz sicherstellen. Wir wollen, dass Le- (Joachim Poß [SPD]: So ist es!) bensversicherungen, die bis zum 31. Dezember 2004 9440 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. April 2004

Horst Schild (A) abgeschlossen werden, unter den Bestandsschutz fallen. (Hans Michelbach [CDU/CSU]: Das ist doch (C) Aber der Sonderausgabenabzug, der im Jahre 2014 aus- bei Riester eine lange Forderung!) läuft, kann nicht bestehen bleiben. im Hinblick auf das Wohneigentum über das, was wir im Man könnte sich nun darüber unterhalten, was das für Einkommensteuergesetz mit dem modifizierten Entnah- Konsequenzen hat; ich will in diesem Zusammenhang memodell festgelegt haben, hinauszugehen. Hier im jetzt nicht über die finanziellen Probleme reden. Wer im Deutschen Bundestag sagen Sie aber: Die Nichtberück- Jahre 2004 eine Lebensversicherung abschließt, der wird sichtigung des Wohneigentums ist einer der Punkte, wes- diese Versicherung noch 20, 30 oder 60 Jahre haben. Wir halb die Union nicht zustimmen kann. – Das ist doch un- müssten also für diesen langen Zeitraum im Ein- redlich; das ist doch scheinheilig. kommensteuergesetz ein eigenständiges Sonderausga- benabzugsrecht für diesen immer kleiner werdenden (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Personenkreis schaffen. Das soll ein Beitrag zur Steuer- DIE GRÜNEN – Hans Michelbach [CDU/ vereinfachung sein? Das kann man zwar wollen. Aber CSU]: Das ist doch bei Riester eine lange For- dann darf man uns nicht vorwerfen, wir wollten eine derung!) komplizierte Regelung, wohingegen Sie eine einfache Sie suchen krampfhaft nach Möglichkeiten, um sich Regelung wollen. zu verstecken und sich hier im Deutschen Bundestag der (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Zustimmung zu diesem Gesetz, das notwendig ist und DIE GRÜNEN – Hans Michelbach [CDU/ im Hinblick auf die Besteuerung der Alterseinkünfte und CSU]: Das ist trotzdem ein Eingriff ins Eigen- die Generationsgerechtigkeit ein Meilenstein ist, zu ent- tum!) ziehen. In diesem Zusammenhang möchte ich auf den Vorsit- Ich will einen weiteren Punkt ansprechen. Ihre politi- zenden der Jungen Union verweisen – auch wir haben sche Zielsetzung ist weiterhin – Kollege Meister hat das junge Leute in unserer Partei, noch gestern im Finanzausschuss gesagt – die Öffnung der Produkte im Rahmen von § 10 Einkommensteuerge- (Zurufe von der CDU/CSU: Wenige! – Ganz setz. Sie wollen mehr als die kapitalgedeckte Leibrente wenige!) vorsehen. Aber Sie haben dazu im Finanzausschuss des Deutschen Bundestages keinen Antrag gestellt. Ich bitte die bisweilen etwas sagen, was uns nicht gefällt –, der darum, hier einmal zu erläutern, weshalb Sie dazu kei- offensichtlich im Gegensatz zu vielen Mitgliedern der nen Antrag stellen. Bundestagsfraktion das Problem erkannt hat, als er ge- sagt hat, die Union müsse endlich auch dieses Thema an- (B) (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist doch albern! – gehen. Der junge Mann hat wenigstens verstanden, um (D) Weitere Zurufe von der CDU/CSU) was es dabei geht, nämlich um Generationengerechtig- keit. – Sie haben keinen Antrag gestellt. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Die Formulierungshilfe, die Sie erbeten haben, zeigt, BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) weshalb nicht. Es wird nämlich deutlich, dass dies auf Dauer zusätzliche Steuerausfälle in Milliardenhöhe zur Man könnte noch lange über Ihren Entschließungsan- Folge hat. Auch Ihre Sozialpolitiker müssten zur Kennt- trag sprechen. Aber eines will ich ganz deutlich machen: nis nehmen: Je attraktiver in der ersten Säule die kapital- An einer Stelle wird kritisiert, dass mit diesem Gesetz- gedeckte Leibrente gestaltet wird, desto mehr Menschen entwurf hohe Steuerausfälle verbunden sind. Das ist ziehen sich aus dem Bereich der gesetzlichen Rentenver- richtig. Das geht auch nicht anders, wenn wir die zu- sicherung zurück. Das führt auch für dieses System zu künftigen Generationen Schritt für Schritt von den Auf- Folgewirkungen. Ich vermute einmal: Auch das ist wie- wendungen für die gesetzliche, die betriebliche und die der ein Beleg dafür, dass Sie in Ihren Reihen keine Klar- private Altersvorsorge entlasten wollen. Aber auf diesem heit darüber haben, was Sie wollen. Wege, mit dem, was wir der jungen Generation steuer- lich bieten, schaffen wir Spielraum – wenn auch nicht im (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Jahre 2005, aber in den nächsten Jahren –, eine zusätzli- DIE GRÜNEN – Hans Michelbach [CDU/ che betriebliche und private Altersvorsorge zu betreiben. CSU]: Die Rente muss auf drei Säulen ste- hen!) Meine Damen und Herren von der Union, der partei- politische Formelkompromiss, der in Ihrem Entschlie- Dann werden weitere Popanze aufgebaut. Sie wollen ßungsantrag zutage tritt, soll doch nur die unvereinbaren beispielsweise das Wohneigentum in das vorliegende Positionen innerhalb der Fraktion, zwischen CDU und Gesetz integrieren. CSU und vielleicht auch zwischen Finanz- und Sozial- (Hans Michelbach [CDU/CSU]: Warum dis- politikern verdecken. Dies ist doch auch in der Vergan- kriminieren Sie das denn?) genheit deutlich geworden. Ich weiß nicht, ob das, was in der Presse steht, immer auf authentischen Aussagen In keinem der Gespräche, die wir auf der Arbeitsebene beruht. Aber wir alle haben doch zur Kenntnis nehmen geführt haben, und in keiner der Beratungen des Finanz- müssen, dass es offensichtlich zwischen dem stellvertre- ausschusses ist vonseiten der FDP oder der Union der tenden Fraktionsvorsitzenden der Union, der für Finan- Antrag gestellt worden, zen und Haushalt zuständig ist, und dem, der für die Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. April 2004 9441

Horst Schild (A) Sozialpolitik zuständig ist, unterschiedliche Auffassun- unbelastet bleiben, müssen sich angesichts der Lage der (C) gen gegeben hat. Sozialversicherungssysteme rechtfertigen; denn diese können keine zusätzlichen Ausfälle verkraften. (Joachim Poß [SPD]: Sie sind ja auch beide hier! Seehofer und Merz!) (Beifall bei der SPD) Ich habe gelesen – wenn es denn wirklich so gesagt wor- Lassen Sie mich ein paar Worte zur Kapitallebens- den ist –, dass der eine Kollege über den anderen meint, versicherung sagen. Es ist zumindest zwischen Koali- dieser habe das Urteil des Bundesverfassungsgerichts tion und der Union unstrittig gewesen, dass es das bishe- nicht recht verstanden. Wenn es so gesagt worden sein rige Steuerprivileg zukünftig nicht mehr geben soll. sollte, dann habe ich dafür große Sympathien; er hat in Strittig war die Frage, welches Instrument man anwen- der Tat Recht. den soll. Sie haben dazu einen Antrag gestellt, wir haben Es gelingt der Union einfach nicht, in der Sozial- und eine andere Position vertreten. Finanzpolitik zu fundierten einheitlichen Positionen zu Da hier so getan wird, als sei das der Tod der Lebens- kommen. Deshalb ersetzen Sie die Sachpolitik durch versicherung, möchte ich Folgendes sagen: Der Präsi- parteitaktische Spielereien. Das müssen wir heute zur dent der deutschen Aktuarsvereinigung, Herr Kurt Kenntnis nehmen. Das ist die Ursache, warum sich die Wolfsdorf – er ist vielen bekannt, er war Vorstandsmit- Union trotz weitgehender Fortschritte, die wir in den Ge- glied eines großen Versicherungsunternehmens –, sagte sprächen erzielt haben, nicht durchringen konnte, im gestern in der „FAZ“: Deutschen Bundestag Farbe zu bekennen. Es ist natür- lich das Recht der Opposition, nicht Farbe zu bekennen, Die Kapitallebensversicherung ist auch ohne Förde- aber darauf muss man hier in diesem Hause auch ganz rung attraktiv. deutlich hinweisen dürfen. Sie wird es auch weiterhin sein und wir werden den Le- (Beifall bei der SPD) bensversicherungen, die die Voraussetzung der Alters- vorsorge erfüllen, eine Progressionsmilderung bieten. Ich möchte jetzt ein paar Sätze zur Sache sagen (Elke Wülfing [CDU/CSU]: Endlich!) Unser Gesetzentwurf führt zu einer verfassungskon- formen Neuregelung. Wir haben damit den Auftrag des und deutlich machen, was wir mit diesem Gesetzentwurf Bundesverfassungsgerichts – bedauerlicherweise ohne erreicht haben. die Mithilfe der Opposition – erfüllt. Wir tragen die Ver- antwortung, wir nehmen sie wahr. Insbesondere die Ver- (Heiterkeit bei der CDU/CSU) besserungen im Bereich der betrieblichen Altersvorsorge (B) – Ihr Problem ist doch, dass Sie keine Entscheidungen wurden – wie auch schon beim Altersvermögensgesetz – (D) treffen, weil Sie in Ihren Reihen zu keiner einheitlichen ohne Zutun der Union beschlossen. Für die Arbeitneh- Lösung kommen. Deswegen muss man hier auch dazu merinnen und Arbeitnehmer hat die Union leider nichts etwas sagen. Denn die Bürger verstehen nicht mehr, was Neues zu bieten. bei Ihnen abläuft. Ich danke Ihnen. (Hans Michelbach [CDU/CSU]: Sie müssen zur Sache kommen!) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Aus den Zeitungskommentaren zu den parteitaktischen Spielchen, die hier betrieben werden, wird deutlich, dass die Bürger Ihre Spielchen nicht verstehen. Deswegen Präsident Wolfgang Thierse: wollte ich darauf deutlich hinweisen. Ich erteile das Wort dem Kollegen Georg Fahrenschon, CDU/CSU-Fraktion. Wir sind uns darüber einig, dass der Systemwechsel hin zur nachgelagerten Besteuerung bei den Altersein- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) künften – in den Petersberger Beschlüssen war er nicht enthalten – notwendig ist. Dieser Systemwechsel ist die Georg Fahrenschon (CDU/CSU): angemessene Antwort auf unsere Probleme und er Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- schafft den zukünftigen Generationen den Spielraum zur ren! Lieber Herr Kollege Schild, Lautstärke ersetzt Ar- Vo r s org e . gumente nicht. Im Bereich der betrieblichen Altersvorsorge sind wir (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und entgegen dem, was die Kollegen Flosbach und Pinkwart der FDP – Horst Schild [SPD]: Aber man kann gesagt haben, einen deutlichen Schritt vorangekommen. es hören! – Christine Scheel [BÜNDNIS 90/ Bisher konnten wir uns nur im Rahmen des § 3 Nr. 63 DIE GRÜNEN]: Es war laut und argumenta- Einkommensteuergesetz bewegen. Nur für den kleinen tiv!) Personenkreis, der eine Direktversicherung abschloss, gab es die Möglichkeit der Pauschalbesteuerung auf der Mir scheint, Sie haben versucht, mit Lautstärke die Tat- Grundlage des § 40 b Einkommensteuergesetz. Jetzt ha- sache zu überspielen, dass wir in der Zeit zwischen De- ben wir für jede Arbeitnehmerin und jeden Arbeitneh- zember letzten Jahres – Vorlage des Entwurfs durch das mer ein Volumen von über 4 000 Euro erreicht, das ist Bundesfinanzministerium – und Anfang März, der Wo- ein Fortschritt. Diejenigen, die fordern, diese müssten che vor Ostern, von Ihrer Seite nichts, aber auch gar 9442 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. April 2004

Georg Fahrenschon (A) nichts an Änderungsvorschlägen auf den Tisch bekom- Meine Damen und Herren, wir sind hier nicht auf dem (C) men haben. Marktplatz. Wir haben abzuwägen und müssen feststel- len, dass das Gesetz immer noch wesentliche Webfehler (Horst Schild [SPD]: Er war schon enthält. Deshalb werden wir als Teil des Bundestages vernünftig!) dieses Gesetz heute ablehnen. – Lieber Herr Schild, Sie haben dreieinhalb Monate lang (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- erklärt: Dieses Gesetz in der Fassung vom Dezember neten der FDP – Kerstin Andreae [BÜND- 2003 ist das beste, das es gibt, und es besteht kein Ände- NIS 90/DIE GRÜNEN]: Und der Bundesrat? – rungsbedarf. Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Und (Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Genauso wenn der Bundesrat die Webfehler akzeptiert? war es!) Das ist ein bisschen abstrus!) Gestern aber haben wir 50 Umdrucke durchgearbeitet Ich will Ihnen gerne zumindest drei der zentralen und dieses Gesetz in wesentlichen Punkten verändert. Webfehler darstellen. Ein zentraler Webfehler dieses Ge- Das muss hier einmal gesagt werden. setzes ist beispielsweise die Behandlung der kapitalge- deckten Altersvorsorge. Der Gesetzentwurf verkompli- (Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- ziert die kapitalgedeckte Altersvorsorge und macht sie NEN]: Dann stimmen Sie doch jetzt zu! – insgesamt für den Bürger unattraktiver. Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Leider wahr!) NEN]: Es ist jetzt richtig gut geworden!) Nach geltendem Recht können Beiträge zur Kapital- Dreieinhalb Monate lang gab es keine Möglichkeit, mit lebensversicherung im Rahmen der Vorsorgehöchstbe- den Bundestagsfraktionen von Rot und Grün und Vertre- träge zu 88 Prozent steuermindernd berücksichtigt wer- tern des Bundesfinanzministeriums über die Sache zu re- den und die Auszahlung der während der Laufzeit den. Das Höchste war, dass wir am Anfang der Bericht- angesammelten Erträge sowie der Schlussüberschussbe- erstattergespräche auf Ihren Wunsch hin die Vertreter teiligung erfolgt für Verträge mit einer Mindestlaufzeit des Bundesfinanzministeriums haben vor der Tür stehen von zwölf Jahren steuerfrei. Dieses so genannte zweifa- lassen, damit wir uns in der Sache überhaupt bewegen che Steuerprivileg soll nach Ihrem Willen abgeschafft konnten. werden. Sie wollen auch die Begünstigung der Beitrags- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- zahlung für bestehende Verträge auslaufen lassen. neten der FDP – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] Diese Änderungen führen zu einer Benachteiligung (B) [SPD]: Nun kommen Sie aus dem Schmoll- der Lebensversicherung gegenüber jeder anderen Art (D) winkel raus und machen Sie sachliche Arbeit!) von Kapitalanlage. Der Grund für dieses Verfahren liegt darin, dass sich (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Ihr Finanzminister überhoben hat. Er hat nicht nur ver- sucht, das Urteil des Bundesverfassungsgerichts umzu- Träte das Gesetz in Kraft, würde das faktisch das Aus für setzen, sondern er hat auch die deutsche Politik damit die Kapitallebensversicherung bedeuten. Die Lebensver- beglückt, sich mit der betrieblichen Altersvorsorge und sicherungen wären in Deutschland nicht mehr wettbe- einer Bastelstunde an der Riester-Reform zu beschäfti- werbsfähig. gen. Das ist der zentrale Punkt von Eichel, einem Minis- (Dr. Andreas Pinkwart [FDP]: Das ist genau ter auf Abruf. der Punkt!) Das Arbeitsmotto bezüglich dieses Gesetzes war Sie müssen sich schon mit den Fakten konfrontieren wohl, alles irgendwann einmal anzusprechen, aber nichts lassen: Noch im Jahre 2003 haben 8,6 Millionen Deut- wirklich zu Ende zu denken. Der Entwurf war unüber- sche Neuverträge abgeschlossen. Insgesamt gibt es in sichtlich, kompliziert und hätte nicht zu einer Vereinfa- Deutschland 91,5 Millionen Lebensversicherungsver- chung des Einkommensteuerrechts geführt. Wenn wir träge. Sie sagen, die Lebensversicherung sei überaltert, uns nicht in die Diskussion eingebracht hätten, wenn wir und bieten Ihr Riester-Alternativmodell an. Vergleichen nicht wesentliche, fundierte Änderungsvorschläge ent- wir doch einmal den Bestand von etwa 91 Millionen wickelt hätten, hätten wir heute überhaupt kein Problem, Lebensversicherungsverträgen mit den kümmerlichen darzustellen, dass dieses Gesetz Unsinn und damit abzu- 3 Millionen Menschen, die sich auf Ihr Riester-Konzept lehnen ist. eingelassen haben. Stellt sich da wirklich noch die Jetzt haben wir uns darauf eingelassen und – zugege- Frage, welches das bessere, wettbewerbsfähigere und ben – von unseren über ein Dutzend Änderungsvorschlä- zukunftsfähigere Modell ist? Die Antwort liegt auf der gen haben Sie große Teile übernommen. Hand: über 90 Millionen Lebensversicherungsverträge gegenüber kümmerlichen 3 Millionen Riester-Verträgen, (Peter Dreßen [SPD]: Dann können Sie auch wobei zehnmal so viele berechtigt wären. Ja sagen!) (Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Sie stellen sich jetzt vor uns hin und sagen: Jetzt haben NEN]: Das kann man doch so nicht verglei- wir so viel von euch übernommen, jetzt müsst ihr zu- chen! Das ist doch Quatsch! Das ist doch ku- stimmen. muliert!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. April 2004 9443

Georg Fahrenschon (A) – Doch, das muss man so darstellen. Wollen Sie sich wirklich nur über ethische, soziale und (C) ökologische Aspekte berichten lassen? Wollen Sie nicht (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- auch über neu geschaffene Arbeitsplätze informiert wer- neten der FDP) den? Sie müssen doch einfach feststellen, dass die Men- (Dr. Andreas Pinkwart [FDP]: Ja, der Katalog schen zwischen dem Altersvorsorgeprodukt Lebensver- muss zwingend erweitert werden!) sicherung und dem Altersvorsorgeprodukt Riester-Rente wählen, dass sie sich von der Riester-Rente abwenden Wenn wir also über Berichtspflichten reden, dann müs- und Ja zur Lebensversicherung sagen. Deshalb ist es an sen wir uns auch über einen ordentlich abgestimmten dieser Stelle ein zentraler Webfehler, dass Sie das Pro- Kanon unterhalten. dukt Lebensversicherung kaputtmachen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und (Beifall bei der CDU/CSU) der FDP) Über die Einführung so genannter Unisextarife Der zweite große Webfehler liegt tatsächlich in der möchte ich hier gar nicht lange sprechen. Riester-Rente. Sie sind mit dem Anspruch angetreten, mit diesem Gesetz den Riester-Flop zu beheben; denn (Horst Schild [SPD]: Ja, das hat ja auch schon mit dieser ersten Jahrhundertreform, die Rot-Grün ein- Frau Eichhorn gemacht! Sie hat sich sehr posi- geleitet hat, sind Sie zu kurz gesprungen. Deshalb woll- tiv geäußert!) ten Sie dieses Gesetz verbessern. Aber, meine Damen und Herren, was haben Sie getan? Erstens haben Sie ei- – Denn, lieber Herr Schild, alle Beteiligten wissen, dass ner alten Forderung der Union nachgegeben und endlich Sie dem Produkt Riester-Rente mit dieser Entscheidung die Möglichkeit eines Dauerzulagenantrags zugelassen. erheblichen Schaden zufügen. Statt einen Neustart zu unternehmen – wie das von Ihnen geplant ist –, tragen (Horst Schild [SPD]: Na, bitte!) Sie dazu bei, dass die Riester-Rente endgültig zum Rohrkrepierer wird. Zweitens haben Sie versucht, die Regelungen der Riester-Rente zu vereinfachen. Zugegebenermaßen re- (Horst Schild [SPD]: Nein!) duzieren Sie zwar die Anzahl der Kriterien von elf auf – Doch, lieber Herr Schild. fünf. Aber gleichzeitig zur Reduktion der Kriterien füh- ren Sie eine Berichtspflicht allgemeiner Art ein, die zur (Horst Schild [SPD]: Was sagen denn Ihre Folge haben wird, dass nicht nur die alten, bereits beste- Frauen dazu?) henden Riester-Zertifikate neu angemeldet werden müs- (B) Der wesentliche Grund dafür ist, dass Sie daran geschei- (D) sen – das ist, nebenbei gesagt, eine klassische Arbeitsbe- tert sind, die Riester-Rente zu öffnen. Denn wenn Sie die schaffungsmaßnahme für die Behörden, die die Riester- Riester-Rente für Selbstständige geöffnet hätten, denen Verträge zu zertifizieren haben –, sondern dass zusätz- Sie nach wie vor den Zugang zu Riester-Produkten ver- lich auch ethische, soziale und ökologische Belange aus- wehren, hätte man noch über eine Regelung sprechen gewiesen werden müssen. Unter der Überschrift „Ver- können. Aber Sie tun Folgendes: Sie verschlechtern für einfachung der Riester-Rente“ solche Berichtspflichten die Selbstständigen in Deutschland die Möglichkeit, für einzuführen, das ist ein Treppenwitz. ihre Altersvorsorge Lebensversicherungen zu nutzen (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) und sperren Sie aus der Nutzung des Riester-Konzepts aus. Damit wir uns nicht falsch verstehen, will ich Ihnen sagen: Wir können Ihre Initiative, was die Berichts- (Horst Schild [SPD]: Wir öffnen ein neues Pro- pflicht hinsichtlich ethischer, sozialer und ökologischer dukt der Kapitallebensversicherung!) Gesichtspunkte angeht, nachvollziehen. Wir sind auch Damit benachteiligen Sie die Selbstständigen in nicht dagegen, dass die Anbieter diese Berichte formu- Deutschland. Meine Damen und Herren, Respekt und lieren. Aber das im Gesetz festzuschreiben ist der fal- herzlichen Glückwunsch zu diesem grundsätzlichen An- sche Weg. satz! (Jörg van Essen [FDP]: Ideologie!) Schlussendlich lassen Sie durch Ihren Entwurf die zentrale Chance in dieser Legislaturperiode für den Fi- Darüber hinaus stellt sich angesichts der aktuellen nanzplatz Deutschland verstreichen. Der Begriff „Leib- Lage in Deutschland die Frage, warum wir uns, wenn rente“ als einzige staatlich bzw. steuerlich begünstigte wir uns über ethische, soziale und ökologische Gesichts- Altersvorsorge ist viel zu eng gefasst. punkte berichten lassen, nicht auch über die wirtschaftli- chen Impulse einer solchen Anlage berichten lassen. (Dr. Andreas Pinkwart [FDP]: So ist das!) (Dr. Andreas Pinkwart [FDP]: Stimmt! Sehr Angesichts des Effektes des Übergangs zur nachgelager- wahr!) ten Besteuerung werden in Zukunft alle Vorsorgepro- dukte, die vererblich, übertragbar, beleihbar, veräußerbar Wir müssten uns doch auch über die neuen Arbeits- und kapitalisierbar sind, benachteiligt. plätze, die die Anlage geschaffen hat, berichten lassen. (Horst Schild [SPD]: Wir wollen Sicherheit im (Dr. Andreas Pinkwart [FDP]: Richtig!) Alter schaffen!) 9444 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. April 2004

Georg Fahrenschon (A) Das schädigt den Finanzplatz Deutschland, weil Sie den zusätzlich zur gesetzlichen Rente vorsorgen müssen. (C) Wettbewerb, statt ihn auch bei der Altersvorsorge zuzu- Diese wichtigen Gründe waren ausschlaggebend für un- lassen, aussperren. Sie haben sich dagegen entschieden, sere Entscheidung, diese Gründe führten aber auch dazu, eine Vielzahl von Anlageprodukten zuzulassen und den dass es im Bundestag dafür eine breite Mehrheit – die damit einhergehenden Wettbewerb auch in Deutschland heute leider gar nicht zum Ausdruck kommt – gegeben zuzulassen. Auch hier haben die Selbstständigen das hat. Nicht nur Männer und Frauen von Rot-Grün haben Nachsehen: Sie haben keinen Zugang zur Riester-Rente dafür gestritten, nein, ich weiß genau: Für gleiche Tarife und der enge Begriff der Leibrente führt zu einer Diskri- für Männer und Frauen in der Riester-Rente haben sich minierung der Vermögensbildung. auch Männer und Frauen der Union und Männer und Frauen der FDP eingesetzt. Damit haben wir gemeinsam Das sind drei zentrale Webfehler, die uns dazu führen, ein gutes Stück Geschlechtergerechtigkeit erreicht. dass wir sagen müssen: Dieses Gesetz ist Ausschussware mit groben Webfehlern und wir werden dem nicht zu- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten stimmen. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der CDU/CSU) Ich hätte mir gewünscht, dass auch diese Stimmen von Ihrer Seite heute hier zu Wort gekommen wären; Alterssicherung ist Vertrauenssache. Deshalb muss die rentenpolitische Flickschusterei, die die Bundesre- (Dr. Andreas Pinkwart [FDP]: Wir haben das gierung seit mittlerweile fünf Jahren betreibt, endlich be- in der Fraktion einstimmig abgelehnt!) endet werden. Die Menschen wissen doch heute nicht denn diesen Männern und Frauen, die mitgestritten ha- mehr, wie viel Geld ihnen im Alter zur Verfügung stehen ben, danke ich an dieser Stelle recht herzlich. wird. Sie warten darauf, dass endlich ein Konzept vorge- legt wird, das deutlich macht, welchen Produkten sie (Beifall bei Abgeordneten der SPD) vertrauen können und wie sie die zu erwartenden Aus- Liebe Kollegen, liebe Kolleginnen, in der Tat machen fälle durch den Zusammenbruch des gesetzlichen Ren- wir die Riester-Rente mit den so genannten Unisextari- tenversicherungssystems kompensieren können. fen attraktiver. Frauen sind hierbei die Gewinnerinnen; das haben wir politisch so gewollt. Das Gesetz zur Neuordnung der einkommensteuer- rechtlichen Behandlung von Altersvorsorgeaufwendun- (Dr. Andreas Pinkwart [FDP]: Wo es Gewin- gen und Altersbezügen wird diesem Anspruch in keiner ner gibt, gibt es auch Verlierer!) Weise gerecht; es ist letztendlich nur ein weiterer Beitrag Unser Ziel war und ist weiterhin die eigenständige Al- zur Komplizierung unseres Steuerrechts. terssicherung für Frauen. Die Rentenreform 2001 war (B) Herzlichen Dank. dafür ein entscheidender Schritt. Die Unisextarife sind (D) der konsequente zweite Schritt auf dem Weg zur eigen- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- ständigen Alterssicherung für Frauen. neten der FDP) (Dr. Andreas Pinkwart [FDP]: Alles Placebos!) Präsident Wolfgang Thierse: Ich erteile das Wort Kollegin Christel Humme, SPD- Gerade Frauen können sich nicht mehr auf die gesetzli- Fraktion. che Rentenversicherung allein verlassen. Sie brauchen mehr noch als Männer ein zweites Rentenstandbein; Christel Humme (SPD): denn aufgrund von Kindererziehung, Pflege und unter- durchschnittlichem Einkommen sind ihre gesetzlichen Herr Präsident! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen! Rentenansprüche in der Regel geringer. Weniger Ein- Wenn man die Debatte so verfolgt, muss man feststellen, kommen aber und noch dazu höhere Beiträge – mit die- dass eine Tatsache völlig unterzugehen scheint: Heute ist ser doppelten Benachteiligung von Frauen machen wir ein guter Tag, denn wir machen die Riester-Rente attrak- endlich Schluss. tiver. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Beifall bei der SPD – Lachen bei Abgeordne- ten der CDU/CSU und der FDP) Unsere Entscheidung für Unisextarife – das haben wir auch heute Morgen gesehen – hat für viel Aufregung ge- Wir verankern in der Riester-Rente endlich gleiche Ta- sorgt, was mich schon ein bisschen verwundert. Vom rife für Männer und Frauen. Das heißt, um 15 Prozent Schlag gegen die Riester-Rente, vom Sargnagel für das höhere Beiträge für Frauen bei gleicher Leistung wird es Riester-Geschäft, gar vom Todesstoß für die Riester- zukünftig in der Riester-Rente nicht mehr geben. Rente, Herr Flosbach, war hier die Rede. Vertreter der (Beifall bei der SPD) konservativen Medien und der Versicherungswirtschaft lieferten sich regelrecht einen Wettstreit um den drama- Das ist gut so, schließlich wird diese Säule der privaten tischsten Kommentar – und das, obwohl 12,7 Millionen Altersvorsorge durch öffentliche Mittel, durch Steuergel- potenzielle Kundinnen geworben werden könnten, wenn der, gefördert. man nur wollte. Herr Fahrenschon, Unisextarife bedeuten nicht den Tod der Riester-Rente, sondern das Gegenteil. Gleiche Tarife für Männer und Frauen gebieten uns der Gleichbehandlungsgrundsatz des Grundgesetzes (Georg Fahrenschon [CDU/CSU]: Wir werden und unser Wissen, dass ausnahmslos alle für ihr Alter es sehen!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. April 2004 9445

Christel Humme (A) „Frauen leben länger und müssen deshalb höhere Bei- die die führenden Wirtschaftsforschungsinstitute vorges- (C) träge zahlen“, mit dieser Logik macht es sich die Versi- tern vorgelegt haben, bedeutet das im Klartext, dass sich cherungswirtschaft viel zu einfach. Die Lebenserwar- die Rentnerinnen und Rentner im kommenden Jahr auf tung hängt nicht alleine vom Geschlecht ab, sondern von eine weitere Nullrunde einstellen müssen. einem Bündel von Einflussfaktoren. Deshalb haben die (Elke Wülfing [CDU/CSU]: So ist es!) USA unterschiedliche Tarife für Männer und Frauen schon längst abgeschafft, und zwar für alle privaten Ver- Da helfen auch alle wachsweichen Dementis des Sozial- sicherungsverträge. ministeriums nicht weiter, Frau Schmidt: Dadurch, dass Sie den Nachhaltigkeitsfaktor auf den Riester-Faktor (Zuruf von der SPD: Hört! Hört!) draufschlagen, bleibt für eine Rentenerhöhung so gut Vom Todesstoß für die Riester-Rente zu sprechen, wie kein Spielraum. Eine solche Kumulation von Belas- wenn Frauen die berechtigte Forderung nach gleichen tungen innerhalb von wenigen Monaten ist in der deut- Lebenschancen erheben, offenbart ein Rollenverständ- schen Sozialgeschichte beispiellos. nis, das es zwar immer noch gibt, das aber schon längst (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) überholt ist. Bei diesem Rollenverständnis wird davon ausgegangen, dass es einer Frau dann am besten geht, Das ist das Umfeld, in dem wir heute über das Altersein- wenn ihr Mann gut versorgt ist. Liebe Kollegen, liebe künftegesetz zu entscheiden haben. Kolleginnen, wen kümmert das Anrecht von Frauen auf Worum geht es bei diesem Alterseinkünftegesetz? eigene Rentenansprüche? Wen kümmern die vielen al- Natürlich liegt der Schwerpunkt des Gesetzes auf der lein stehenden Frauen, die, selbst wenn sie es wollten, Neuregelung der Rentenbesteuerung. Hinsichtlich des nicht durch einen Mann versorgt werden? Ich sage Ih- Übergangs zur nachgelagerten Besteuerung herrscht in nen: Uns kümmert das. Auch deshalb haben wir für glei- der Tat über die Fraktionsgrenzen hinweg eine grund- che Tarife für Männer und Frauen in der Riester-Rente sätzliche Übereinstimmung; es war schließlich eine gesorgt. langjährige Forderung von uns. Vielen Dank. Das ist aber nur die eine Seite der Medaille. Die an- dere Seite der Medaille betrifft die dringend erforderli- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ che Ausweitung der ergänzenden kapitalgedeckten DIE GRÜNEN) Altersvorsorge neben der gesetzlichen Rentenversiche- rung. Präsident Wolfgang Thierse: (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Sehr richtig!) Ich erteile das Wort Kollegen Andreas Storm, CDU/ (B) CSU-Fraktion. An dieser Stelle wäre dringend Klarheit und Verlässlich- (D) keit geboten gewesen. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Andreas Storm (CDU/CSU): Nach Ihrem Notsparpaket vom vergangenen Novem- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In ber und dem so genannten RV-Nachhaltigkeitsgesetz welchem rentenpolitischen Umfeld findet die heutige vom März 2004 beraten wir heute mit dem Altersein- Debatte eigentlich statt? – Noch nie in der Geschichte künftegesetz bereits das dritte Teilstück Ihrer Rentenre- der Bundesrepublik wurde innerhalb von so kurzer Zeit form. Eine Gesamtkonzeption ist in diesem Dreiklang eine solche Vielzahl von Belastungen für Rentnerin- allerdings nicht zu erkennen. Im Gegenteil: Kein Ele- nen und Rentner beschlossen. ment passt zum anderen. Sie haben die einmalige Chance vertan, eine umfassende Reform der gesetzli- (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Weil Sie in chen Rentenversicherung und der ergänzenden kapital- Ihrer Regierungszeit nichts gemacht haben!) gedeckten Altersvorsorge sowie eine Neuregelung der Von Rot-Grün kommt alle drei Monate eine neue Hiobs- steuerlichen Behandlung der Alterseinkünfte aus einem botschaft. 1. Januar 2004: Verdoppelung der Kranken- Guss vorzulegen. Gefordert wäre eine Reform, bei der kassenbeiträge bei Betriebs- und Versorgungsrenten. die Statik des Gesamtgebäudes der reformierten Alters- 1. April 2004 – das ist erst drei Wochen her –: Verdoppe- sicherung trägt. Stattdessen haben Sie bei der gesetzli- lung des Pflegebeitrags für Rentnerinnen und Rentner, chen Rentenversicherung mit der Abrissbirne begonnen, was im Klartext eine Kürzung der Renten um 0,85 Pro- bevor überhaupt genügend Bautrupps für den Aufbau zent bedeutet. 1. Juli 2004: Die jährliche Rentenanpas- der ergänzenden Vorsorge bereit standen. Dieser Dilet- sung fällt in diesem Jahr aus. Das, was Sie Nullrunde tantismus betrifft alle Bewohner des Gebäudes, sowohl nennen, ist vor dem Hintergrund der Rentenkürzung die Rentnerinnen und Rentner als auch die junge Gene- ration, die Beitragszahler. durch die Erhöhung des Pflegebeitrags vor drei Wochen in Wirklichkeit ein klare Minusrunde. Mit der im vergangenen Monat beschlossenen Ren- tenreform und der Neuregelung der Rentenbesteuerung, Damit ist das Ende der Fahnenstange aber noch lange die heute beschlossen wird, sinkt das Nettorenten- nicht erreicht. Vor sieben Wochen hat Rot-Grün hier im niveau für die jüngere Generation von heute etwa zwei Deutschen Bundestag eine neue Rentenformel beschlos- Drittel auf nur noch die Hälfte ab. Das ist ein rentenpoli- sen, welche die Rentenentwicklung bis zum Jahr 2010 tischer Paradigmenwechsel. weit von der Lohnentwicklung der Beitragszahler ab- koppelt. Legt man die Wachstumsprognose zugrunde, (Jörg van Essen [FDP]: Ja!) 9446 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. April 2004

Andreas Storm (A) Damit nehmen Sie endgültig Abschied vom Ziel einer (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Reden (C) Lebensstandard sichernden Rente. Die Wahrheit ist: Die Sie es doch nicht länger schlecht! Machen Sie gesetzliche Rente hat für die jüngere Generation nur doch mit!) noch den Charakter einer beitragsfinanzierten Basissi- denn die Antwort auf die Frage, ob die Jüngeren im cherung. Jahre 2030 oder 2040 eine ausreichende Alterssicherung (Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- haben, hängt davon ab, ob wir in diesen Monaten die NEN]: Sand in die Augen streuen! – Hans richtigen Weichenstellungen treffen. Davon sind wir Michelbach [CDU/CSU]: An die private Vor- meilenweit entfernt. sorge gehen sie auch noch!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Angesichts dieses Paradigmenwechsels bezüglich des Man muss sich doch einmal überlegen, warum die Sicherungsziels muss den Jüngeren unmissverständlich Menschen das Angebot der Riester-Rente aus Ihrer Ren- und klar gesagt werden, dass sie ergänzend vorsorgen tenreform im Jahre 2001 bisher nicht annehmen. Das müssen. Deswegen müssen gleichzeitig die notwendigen liegt daran, dass Ihre Konzeption an den Bedürfnissen Rahmenbedingungen geschaffen werden, damit eine flä- vieler Menschen vorbeigeht. Die Frage, was Altersvor- chendeckende ergänzende Altersvorsorge rasch aufge- sorge ist, deckt sich nicht unbedingt mit dem, was in ei- baut werden kann. Wenn dies nicht gelingt, dann werden nigen Lehrbüchern einiger Ihrer Berater steht. Warum bereits heute die Ursachen für die Altersarmut von mor- überlassen Sie es den Menschen nicht selbst, wie sie für gen gelegt. das Alter vorsorgen wollen? Ein entscheidender Punkt ist, dass die Menschen mehr Freiräume haben wollen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Nur dann werden sie ermutigt, für ihre eigene Vorsorge Um diese Wahrheit haben Sie sich vor sieben Wochen mehr zu tun. mit Ihrem bizarren Streit um die Höhe von Rentenniveau Zu diesen Freiräumen gehört beispielsweise die Mög- und Beitragssatz herumgedrückt. Mit den unhaltbaren lichkeit für ein so genanntes Teilkapitalwahlrecht. Versprechungen zum Sicherungsniveau der gesetzlichen Wenn sie für das Alter Geld ansparen, ist es für viele Rente wiegen Sie die Menschen einmal mehr in einer Bürger wichtig, dass sie am Beginn des Ruhestandes falschen Sicherheit. Man braucht sich auch nicht über selbst entscheiden können, ob ein Teil des angesparten die mangelnde Akzeptanz der ergänzenden Vorsorge in Kapitals zur freien Verfügung steht. Klar ist, dass natür- der Bevölkerung zu wundern; denn – das hat heute Mor- lich der größere Teil in monatlichen Rentenzahlungen gen schon mehrfach eine Rolle gespielt – die bisherige ausgezahlt werden muss. Aber eine gewisse Entschei- Bilanz der Riester-Rente ist mehr als enttäuschend. Sie dungsfreiheit über das selbst angesparte Kapital ist eine (B) (D) ist weit hinter den Erwartungen zurückgeblieben. Die wichtige Voraussetzung dafür, dass die Menschen diese Abschlusszahlen verharren bei 4 Millionen. Gleichzeitig Altersvorsorgeprodukte annehmen. wissen wir, dass bisher nur etwa 1,5 Millionen Berech- tigte ihren Zulagenantrag auf Förderung gestellt haben. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU so- Daran wird deutlich: Dieses Verfahren wird von den wie des Abg. Dr. Andreas Pinkwart [FDP]) Menschen im Moment nicht angenommen. Das gilt auch für einen weiteren Punkt. Viele Men- schen wollen, wenn ihnen etwas passiert, mehr Sicher- Mit der Einführung des Dauerzulagenantrags haben heit für ihre Angehörigen. Dazu gehört neben mehr Fle- Sie einen Webfehler korrigiert. Das halten wir für rich- xibilität bei der Altersvorsorge auch die Möglichkeit der tig, das war eine richtige Entscheidung. Sie glauben aber Vererbbarkeit des angesparten Altersvermögens. Ihr doch wohl nicht ernsthaft, dass die Riester-Rente allein Alterseinkünftegesetz lässt als steuerlich begünstigte durch diese Maßnahme und wenige andere Korrekturen Altersvorsorgeprodukte aber nur eng definierte Versi- zu einem Renner wird. Lassen Sie die Zahlen aus der cherungsprodukte zu. Wenn dann auch noch mit der Ab- Versicherungswirtschaft einmal ganz nüchtern auf sich schaffung des Steuerprivilegs für die Kapitallebensver- wirken: Im Jahre 2003 wurden nur noch 500 000 sicherung weit über das Ziel hinausgegangen wird, dann Riester-Verträge abgeschlossen. In diesem Jahr wird es brauchen Sie sich nicht zu wundern, wenn wir als Er- eine weitere Abwärtsbewegung geben. gebnis dieser Gesetzgebung in zwei oder drei Jahren (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das wahrscheinlich feststellen müssen: Am Ende steht nicht Einzige, was Sie kennen, sind die Zahlen der mehr, sondern möglicherweise sogar weniger an priva- Versicherungswirtschaft!) ter Vorsorge als jetzt. Ein weiterer entscheidender Punkt ist die Frage: Wie – Herr Kollege Schmidt, das bedeutet im Klartext: Wenn schaffen wir es, dass wieder mehr betriebliche Alters- es so weitergeht, dann werden Sie es nicht annähernd vorsorge aufgebaut wird? Die Rahmenbedingungen für schaffen, dass nach diesem Jahrzehnt möglichst jeder die betriebliche Altersvorsorge werden von Ihnen nicht über eine ergänzende Altersvorsorge verfügt. nur nicht verbessert, sondern sogar noch verschlechtert. (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Leider wahr!) Die attraktive Pauschalbesteuerung soll abgeschafft wer- den. An ihre Stelle rückt zwar ein Freibetrag von Wenn das nicht gelingt, dann ist das nicht nur ein Pro- 1 800 Euro. Aber warum waren Sie eigentlich nicht be- blem für Rot-Grün. Es ist eine zentrale sozialpolitische reit, unseren Vorschlag aufzugreifen, neben dem Steuer- Herausforderung für uns alle; freibetrag von 4 Prozent für vom Arbeitnehmer finan- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. April 2004 9447

Andreas Storm (A) zierte Beiträge weitere 4 Prozent aufzunehmen, die es Präsident Wolfgang Thierse: (C) dem Arbeitgeber ermöglichen, sich an der Altersvor- Ich erteile das Wort Kollegin Gesine Lötzsch. sorge weiter zu beteiligen? Dies wäre ein klares Signal: Wir brauchen mehr betriebliche Altersvorsorge. Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos): (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- ren! Sehr geehrte Gäste! Ich bin Abgeordnete der PDS. Eine entscheidende Frage ist offen geblieben: Wie schaffen wir es, dass nach Möglichkeit jeder Arbeitneh- Mit dem vorliegenden Gesetz will die Regierungs- mer bis zum Jahr 2010 ergänzend vorsorgt? Es gibt inno- koalition ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts um- vative Vorschläge, zum Beispiel den der Bertelsmann- setzen. Die CDU verbiegt sich seit Tagen, weil sie nicht Stiftung, nach dem beim Abschluss eines Arbeitsverhält- den Mut hat, den Menschen zu sagen, was sie ihnen zu- nisses regelmäßig eine Entgeltumwandlung vorgenom- muten will. Deshalb will die CDU – das ist schon von men werden soll. Es soll aber auch die Möglichkeit ge- den Kollegen der FDP angesprochen worden – das Ge- ben, dass der Arbeitnehmer sich dafür entscheiden kann, setz hier im Bundestag ablehnen und im Bundesrat pas- davon keinen Gebrauch zu machen und den Lohn voll- sieren lassen. Es ist schon auffällig, dass sich die CDU ständig ausgezahlt zu bekommen. Mit einem solchen ständig hinter der Regierung versteckt Modell würde die Entgeltumwandlung zum Regelfall. (Dr. Andreas Pinkwart [FDP]: Die PDS lehnt Wir würden so erreichen, dass die betriebliche Alters- das auch im Bundesrat ab? Das ist gut! – Leo vorsorge innerhalb von ganz kurzer Zeit eine sehr viel Dautzenberg [CDU/CSU]: Was wollen Sie breitere Grundlage als heute bekommt. Das wäre ein in- denn?) novativer Ansatz, der die Sache rund machte. Aber da- von ist in Ihrem Gesetzentwurf weit und breit nichts zu und glaubt, mit Tricks eine saubere Weste behalten zu finden. können. Warum haben Sie, liebe Kolleginnen und Kolle- gen von der CDU, nicht den Mut, den Menschen zu sa- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- gen, dass Sie in vielen Fragen Teil einer großen Koali- neten der FDP) tion mit SPD und Grünen sind? Sie werden sich nach dieser Debatte wahrscheinlich (Beifall der Abg. Petra Pau [fraktionslos]) zurücklehnen, weil Sie meinen, Sie hätten Ihre Hausauf- gaben bei der Rente gemacht. Weit gefehlt! In Wahrheit Was mich aber viel mehr bewegt und was alle Abge- brauchen wir eine grundlegende Neukonzeption der er- ordneten viel mehr bewegen sollte, ist die Frage, auf gänzenden kapitalgedeckten Altersvorsorge. Die kapital- welcher Zahlengrundlage wir entscheiden. Stimmen ei- gentlich die Zahlen, die uns die Regierung vorlegt? Ich (B) gedeckte Altersvorsorge muss zu einer echten Förder- (D) rente für die gesamte Bevölkerung werden. Die Frage will Ihnen an einem Beispiel erläutern, warum man sehr muss beantwortet werden, was Altersvorsorge in Zu- misstrauisch sein sollte. kunft leisten soll und welche Anforderungen an Alters- Die Bundesregierung schaltete am 9. März 2004 für vorsorgeprodukte zu stellen sind. Dazu fehlen Ihnen of- knapp 1 Million Euro Anzeigen in den großen Tageszei- fenbar die Kraft und die Einsicht. tungen mit der Überschrift: „Heute verlässlich für mor- Es ist klar: Dieses Gesetz ist wie seine beiden Vorgän- gen. Die Rente.“ Nun kann man erst einmal kommentie- ger keine Blaupause für eine nachhaltige Reform der Al- ren: Die Rente ist genauso wenig verlässlich wie die terssicherung in Deutschland. Die Halbwertszeit der Re- Zahlen, die Sie verwenden. In der Anzeige gab die Re- formen von Rot-Grün nimmt von Reform zu Reform gierung nämlich vor, in einer Grafik das Verhältnis der weiter ab. Wir befinden uns nicht am Ende der Debatte Anzahl der Beitragszahler zu den Rentnern darstellen zu über die Neuordnung der Alterssicherung. Im Gegenteil: wollen. Das mutete sehr dramatisch an. Während im Jahr Mit diesem Gesetz wird die Debatte neu eröffnet. Sie ha- 2000 noch 4,13 Beitragszahler einen Rentner finanzie- ben eine riesige Chance vertan. Keine der grundlegen- ren, wären es im Jahr 2020 nur noch 2,9. Die Wochen- den Fragen ist ausreichend beantwortet. zeitung „Die Zeit“ schrieb dazu – ich zitiere mit Erlaub- nis des Präsidenten –: „Das ist ganz schön erschreckend – (Dr. Andreas Pinkwart [FDP]: So ist es!) und erschreckend falsch.“ Deshalb wird es spätestens nach der Bundestags- Frau Ministerin Schmidt hat nämlich nicht die Bei- wahl 2006 einen neuen Anlauf für eine grundlegende tragszahler, sondern die 15- bis 65-Jährigen zur Grund- Reform der gesetzlichen Rentenversicherung und der er- lage ihrer Berechnungen genommen und dadurch den gänzenden privaten und betrieblichen Vorsorge geben Quotienten völlig zerzerrt. Ich wollte mit einer Anfrage müssen. ein mögliches Missverständnis aufklären, doch es stellte (Dr. Andreas Pinkwart [FDP]: Das wäre zu sich heraus, dass die Ministerin bewusst falsche Zahlen spät!) verwandte. Hätte die Regierung nämlich die verfügbaren Zahlen vom Verband der Rentenversicherungsträger ge- Wir sind dazu bereit. nommen, dann wäre die schön-schaurige Prognose nicht möglich gewesen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP – Dr. Andreas Pinkwart [FDP]: Jeder kann einmal eine Zahl verwechseln. Das ist Gute Rede, aber etwas mehr Mut, Herr nicht so schlimm. Aber schlimm ist es schon, wenn man Storm!) falsche Zahlen verwendet, um ein bestimmtes politisches 9448 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. April 2004

Dr. Gesine Lötzsch (A) Ziel zu verfolgen. In diesem Fall war das politische Ziel, Erika Lotz (SPD): (C) die Rentenkürzung mit falschen Zahlen zu begründen Nein, der Kollege ist mir zu unsachlich. und den Menschen Angst zu machen. Besonders kritik- würdig finde ich es, wenn man beim Verwenden falscher (Beifall bei der SPD – Lachen und Wider- Zahlen ertappt wird und dann nicht einmal den Mut hat, spruch bei der CDU/CSU) die Bürgerinnen und Bürger über diese Falschinforma- Ich habe Herrn Storm schon heute Morgen um sechs Uhr tion zu informieren und sie richtig zu stellen. Ich bin als im Rundfunk gehört. Da gingen seine Äußerungen in Einzelabgeordnete nicht in der Lage, jede Zahl, die die eine ähnliche Richtung. Bundesregierung präsentiert, auf ihre Richtigkeit hin zu überprüfen. Wir beraten heute den Entwurf des Alterseinkünftege- setzes. Mit diesem Gesetzentwurf setzen wir das Bun- (Zuruf von der SPD: Warum behaupten Sie das desverfassungsgerichtsurteil aus dem Jahr 2002 um. Das denn?) ist übrigens nicht die erste Entscheidung des Bundes- Dazu müssten einzelne Abgeordnete mit mehr Kontroll- verfassungsgerichts, die die Alterseinkünfte betrifft. rechten ausgestattet sein, was die Mehrheit in diesem Wir müssten uns heute nicht damit beschäftigen, wenn Hause verhindert. die Opposition in der Vergangenheit in ihrer Regierungs- verantwortung die Hausaufgaben gemacht hätte. Mit diesem Gesetz soll eine Entscheidung des Bun- desverfassungsgerichts umgesetzt werden. Wir werden (Beifall bei Abgeordneten der SPD) erleben, dass es den Bundesrat passiert. Ich möchte aller- Wir alle sind uns darin einig, dass die derzeitige Ren- dings daran erinnern, dass wir grundlegende Verände- tenversicherung nicht mehr den Lebensstandard sichert rungen im Rentensystem brauchen. Die PDS hat ein und dass zusätzlich eine betriebliche und private Alters- Konzept für ein gerechtes Rentensystem vorgelegt, das vorsorge notwendig ist. Finanzminister Eichel hat heute eine Rente von allen für alle ermöglichen würde. Das ist schon über die staatlich geförderte Riester-Rente gespro- die Kernforderung. Wir müssen dafür sorgen, dass wie- chen, die von Rot-Grün eingeführt worden ist. Wir helfen der mehr Menschen in die Rentensysteme einzahlen damit den Arbeitnehmern, eine private Altersversorgung können. Wir müssen dafür sorgen, dass die Menschen aufzubauen. Das haben Sie aufseiten der Opposition sei- vernünftige Arbeitsverhältnisse haben und dass sie nicht nerzeit versäumt. in Minijobs und Ich-AGs gedrängt werden. Dann wird es auch möglich sein, eine Rente von allen für alle aus- Allen Unkenrufen zum Trotz bestätigen uns die Zah- kömmlich zu finanzieren. len, dass dieses Angebot angenommen wird. Während im April 2001 erst 29 Prozent der Beschäftigten Verträge Vielen Dank. (B) über eine zusätzliche Altersvorsorge abgeschlossen hat- (D) (Beifall der Abg. Petra Pau [fraktionslos]) ten, verfügten im März 2003 – nur knapp zwei Jahre spä- ter – bereits 57 Prozent aller versicherungspflichtigen Beschäftigten über eine entsprechende zusätzliche Absi- Präsident Wolfgang Thierse: cherung. In diesem Zusammenhang sollten die circa Ich erteile das Wort Kollegin Erika Lotz, SPD-Frak- 4 Millionen im Rahmen der Riester-Rente abgeschlosse- tion. nen Verträge nicht verschwiegen werden.

Erika Lotz (SPD): Damit haben inzwischen fast 20 Millionen Beschäf- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! tigte Anspruch auf eine zusätzliche Altersversorgung. Herr Storm, es ist zwar das gute Recht der Opposition, Das ist aus meiner Sicht durchaus ein Erfolg. Kritik zu üben, aber dass Sie sich jetzt einen schlanken (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Fuß machen wollen und beklagen, dass Rentner und Rentnerinnen, die Betriebsrenten beziehen, mit der Pfle- Im Übrigen hat es auch bei der Einführung der vermö- geversicherung belastet werden, obwohl das entspre- genswirksamen Leistungen eine Zeitlang gedauert, bis chende Gesetz von uns seinerzeit gemeinsam im Kon- die Menschen dieses Angebot in Anspruch genommen sens erarbeitet worden ist, erachte ich als bodenlos. haben. (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Kerstin Ich erinnere des Weiteren daran, dass Herr Laumann Andreae (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – im Wahlkampf 2002 durch die Lande gezogen ist, um Andreas Storm [CDU/CSU]: Die Betriebsren- die Menschen davon abzuhalten, Verträge zur Riester- ten ja, die Pflegeversicherung nicht!) Rente abzuschließen, mit der Begründung, dass sich bei einem Regierungswechsel wieder alles ändern würde. Wir stimmen schließlich auch nicht der Einführung einer Praxisgebühr zu, um hinterher zu erklären, das sei die (Horst Schild [SPD]: Unverantwortlich war Praxisgebühr der CDU/CSU. Es ist schlimm, was Sie das!) sich hier geleistet haben und dass Sie jetzt versuchen, Das ist eine Erfolgsgeschichte, die man nicht kleinre- sich einen schlanken Fuß zu machen. den sollte. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Präsident Wolfgang Thierse: Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Indem man sie kleinredet, trägt man nicht dazu bei, dass Storm? die Menschen Verträge zur Altersvorsorge abschließen. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. April 2004 9449

Erika Lotz (A) Ich möchte noch eine weitere Maßnahme herausstel- Vizepräsidentin Dr. : (C) len. Von den Beschäftigten wird heutzutage eine immer Ich schließe damit die Aussprache. größere Flexibilität verlangt. Ein Jobwechsel ist mittler- weile fast eine notwendige Alltäglichkeit geworden. Wir kommen zur Abstimmung über die von den Frak- Aber was wird bei einem Jobwechsel aus der angespar- tionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen so- ten betrieblichen Altersvorsorge? In den allermeisten wie von der Bundesregierung eingebrachten Entwürfe Fällen konnten die Anwartschaften nicht zum neuen Ar- eines Alterseinkünftegesetzes. Ich weise darauf hin, dass beitgeber mitgenommen werden. Die Folge war eine un- zu der Beschlussfassung des Finanzausschusses, die Ge- übersichtliche Aufsplitterung des Betriebsrentenan- genstand der nun folgenden Abstimmung sein wird, in- spruchs in viele Kleinstansprüche. Dies hat die zwischen der Bericht des Ausschusses auf Drucksache Wechselbereitschaft der Arbeitnehmer nicht gerade er- 15/3004 vorliegt. Der Finanzausschuss empfiehlt in sei- höht. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf erleichtern ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/2986, die wir es, bei einem Betriebswechsel die Betriebsrenten- genannten Entwürfe eines Alterseinkünftegesetzes in der anwartschaften zum neuen Arbeitgeber mitzunehmen, Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die wenn darüber Einvernehmen erzielt wird. dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Gegenstimmen? – Ent- Die Union hat in der Vergangenheit – das zog sich haltungen? – Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung auch heute durch die Debatte – die Vereinfachung der mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Riester-Rente gefordert. Herr Flosbach hat die Kompli- Stimmen der Opposition bei Enthaltung der beiden frak- ziertheit der Regelungen beklagt. Dem ist entgegenzu- tionslosen Abgeordneten angenommen worden. halten, dass wir die Regelungen mit dem vorliegenden Gesetzentwurf vereinfachen. Dritte Beratung (Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Ach, und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Quatsch!) Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf Die Zahl der Zertifizierungskriterien wird von elf auf ist damit in dritter Lesung mit den Stimmen der Koali- fünf verringert und – auch das wird von Ihnen begrüßt – tionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposition bei ein Dauerzulagenantrag wird eingeführt. Enthaltung der beiden fraktionslosen Abgeordneten an- (Beifall bei der SPD) genommen worden. Die Zentrale Zulagenstelle für Altersvermögen wird die (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ beitragspflichtigen Einnahmen prüfen; dies muss dann DIE GRÜNEN) nicht mehr im Antrag ausgefüllt werden. Ein einheitli- (B) Wir kommen zur Abstimmung über die Entschlie- (D) cher Sockelbetrag wird zu mehr Transparenz und Sicher- ßungsanträge. Wer stimmt für den Entschließungsantrag heit führen. Das alles sind Neuerungen. Die Anbieter der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 15/2992? – müssen nun bei Vertragsabschluss die effektive Gesamt- Gegenprobe! – Enthaltungen? – Der Entschließungsan- rendite des Produkts nennen. Damit wird für direkte Ver- trag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen gleichbarkeit der Riester-Angebote gesorgt. Das ist im die Stimmen von CDU/CSU bei Enthaltung der FDP ab- Interesse derjenigen Arbeitnehmer, die Altervorsorge- gelehnt worden. verträge abschließen wollen. Deren Interessen haben wir im Auge. Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Frak- tion der FDP auf Drucksache 15/2988? – Gegenstim- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten men? – Enthaltungen? – Der Entschließungsantrag ist des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, Stimmen der FDP bei Enthaltung von CDU/CSU abge- Ihrer lang erhobenen Forderung nach Vereinfachung der lehnt worden. Riester-Rente sind wir also nachgekommen. Deshalb Zu TOP 3 gibt es eine persönliche Erklärung der Ab- können Sie heute auch zustimmen. geordneten Ina Lenke nach § 31 der Geschäftsord- (Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer) nung, die wir hiermit zu Protokoll nehmen.1) Wenn Sie das aber nicht tun, dann muss ich feststellen, Ich rufe den Tagesordnungspunkt 4 auf: dass Sie nicht wissen, was Sie wollen, und dass Sie of- Beratung des Antrags der Abgeordneten fensichtlich auch nicht wissen, was Sie tun. Sie machen Friedrich Merz, Dr. Michael Meister, Heinz ziemliche Klimmzüge und bemühen sich verzweifelt, zu Seiffert, weiterer Abgeordneter und der Fraktion begründen, warum Sie nicht zustimmen können. Ich der CDU/CSU meine, dass das, was wir auf den Weg bringen, eine gute Regelung ist. Wir kommen damit dem Auftrag des Bun- Ein modernes Steuerrecht für Deutschland – desverfassungsgerichts nach. Konzept 21 Ich appelliere noch einmal an Sie: Tun Sie den Rent- – Drucksache 15/2745 – nerinnen und Rentnern einen Gefallen! Verunsichern Sie Überweisungsvorschlag: sie nicht und stimmen Sie dem Gesetzentwurf zu! Finanzausschuss (f) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) 1) Anlage 2 9450 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. April 2004

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer (A) Auswärtiger Ausschuss Es ist kein Wunder und es darf niemanden überra- (C) Innenausschuss schen, dass wir es mit einer zunehmenden Steuerver- Sportausschuss Rechtausschuss weigerung der Bürgerinnen und Bürger in Deutschland Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit zu tun haben. Sie verstehen dieses Gesetz nicht mehr Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend und sie wollen es auch nicht mehr verstehen. Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Ausschuss für Tourismus (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Haushaltsausschuss Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Und nicht verste- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für hen können!) die Aussprache eindreiviertel Stunden vorgesehen. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Wir müssen deshalb zu einer ganz grundlegenden Vereinfachung unseres Einkommensteuerrechtes zu- Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat als Erster rückkehren. Das Wichtigste jenseits aller Details – ich der Abgeordnete Friedrich Merz. werde auf einige zu sprechen kommen – ist, dass sich (Beifall bei der CDU/CSU) diejenigen, die die Steuergesetze anwenden müssen, auf die Beständigkeit der bestehenden Regelungen wieder für einen längeren Zeitraum verlassen können und dass Friedrich Merz (CDU/CSU): Ruhe und Beständigkeit in die Gesetzgebung insbeson- Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und dere beim Steuerrecht zurückkehren. Die Planbarkeit Herren! Wir legen Ihnen heute zunächst in Form eines und die Verlässlichkeit des deutschen Steuerrechts jen- Antrags Vorschläge zu einer ganz grundlegenden Mo- seits aller Inhalte und jenseits aller Details sind ganz we- dernisierung und Vereinfachung des deutschen Einkom- sentliche Voraussetzungen für die Rückkehr zu Wachs- mensteuerrechtes vor. Wie kompliziert das deutsche tum und Beschäftigung in Deutschland. Niemand aus Steuersystem mittlerweile geworden ist, konnten die Zu- dem Inland und niemand aus dem Ausland wird in hörerinnen und Zuhörer der Debatte über den ersten Ta- Deutschland investieren, wenn er sich nicht wenigstens gesordnungspunkt des heutigen Tages nachvollziehen: für einen überschaubaren Zeitraum auf Beständigkeit Das deutsche Einkommensteuerrecht ist nicht mehr aus und Planbarkeit der steuerlichen Rahmengesetzgebung sich selbst heraus verständlich. Es erschließt sich dem verlassen kann. steuerpflichtigen Bürger nicht mehr. Es ist in den letzten Jahren leider nicht besser, sondern noch viel schlechter (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) geworden. Neben dem Verlust der sprachlichen Ver- ständlichkeit leidet das deutsche Einkommensteuerrecht Zu den grundsätzlichen inhaltlichen Fragen will ich Folgendes sagen: In einer komplexen Welt ist auch das (B) unter einer nicht mehr überschaubaren und systemwidri- (D) gen Fülle und Komplexität an Einzelvorschriften und Steuerrecht an verschiedenen Stellen naturgemäß kom- Ausführungsbestimmungen. plex. Es kann nicht überall nur einfache Antworten ge- ben; einfache Antworten können auch falsche Antworten Ich will Ihnen dazu nur einige wenige Daten nennen. sein. Deswegen kommt es darauf an, dass wir uns wieder Wir haben in Deutschland mittlerweile rund 100 so ge- an Grundsätzen und an steuerlichen Fundamentalprin- nannte Steuerstammgesetze. Die Zahl der Gesetze, in zipien orientieren. Dazu zählen aus meiner Sicht: denen auch steuerliche Regelungen enthalten sind, also Gesetze, die ganz andere Regelungssachverhalte betref- Erstens: die Erkennbarkeit des Besteuerungsgegen- fen, die aber auch steuerliche Regelungen enthalten, ist standes. Diejenigen, die das Steuerrecht anwenden, müs- nicht feststellbar. Ich wiederhole: Im Bestand des deut- sen wissen, was besteuert werden soll. schen Rechts ist die Zahl der Gesetze, die auch steuerli- che Bestimmungen enthalten, nicht feststellbar. Zu den Zweitens. Die Besteuerung selbst muss nach dem bestehenden Steuergesetzen gibt es mittlerweile rund Prinzip der Leistungsfähigkeit erfolgen. 5000 Interpretationsschreiben des Bundesministers Drittens. Bei der Besteuerungshöhe muss eine ange- der Finanzen. Insgesamt existieren zusätzlich etwa messene Berücksichtigung des europäischen und des 96 000 Verwaltungsvorschriften. In der letzten Wahl- globalen Umfeldes stattfinden. periode des Deutschen Bundestages, in der Wahlperiode zwischen 1998 und 2002, sind allein bei den Ertragsteu- Lassen Sie mich zu diesen drei Grundsätzen im Ein- ern, also bei Einkommensteuer und Körperschaftsteuer, zelnen Folgendes ausführen: 60 Gesetzesänderungen vollzogen worden. Hinzu kamen fast 250 Interpretationsschreiben des Bundesministers Hinsichtlich der Erkennbarkeit des Besteuerungs- der Finanzen. gegenstandes im Einkommensteuerrecht, im gesamten Ertragsteuerrecht kommt es darauf an, dass wir eine Im Rahmen der Änderungen der letzten Wahlperiode klare Abgrenzung zwischen dem vornehmen, was be- sind ungefähr 100 Vorschriften des deutschen Einkom- steuert wird, und dem, was auch in Zukunft steuerfrei mensteuergesetzes gleich mehrfach geändert worden. bleiben muss. Auch in Anlehnung an die wissenschaftli- Zum Teil sind sie geändert worden, bevor die vorange- che Diskussion, die es dazu gibt, schlagen wir vor, dass hende Änderung im Bundesgesetzblatt veröffentlicht ganz grundsätzlich das Markteinkommen besteuert worden ist. wird, dass also das Markteinkommen der Besteuerungs- (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Das muss man gegenstand für Einkommensteuer und Körperschaft- sich einmal vorstellen!) steuer ist. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. April 2004 9451

Friedrich Merz (A) Damit erübrigt sich eine komplizierte Abgrenzung, so zum Jahreswechsel sogar massiv ausgedehnt worden. (C) wie wir sie heute in § 3 des Einkommensteuergesetzes Die Gewerbesteuer ist und bleibt ein Fremdkörper im haben, etwa zu den sozialen Transferleistungen. Soziale System. Transferleistungen, zum Beispiel Krankenversiche- (Hans Michelbach [CDU/CSU]: Echte rungsleistungen, zum Beispiel Leistungen der Sozial- Substanzbesteuerung!) hilfe und der Arbeitslosenhilfe, sind grundsätzlich nicht Markteinkommen. Wenn sich der Einkommensteuerge- Sie hat auch im europäischen Wettbewerb keinen Platz setzgeber auf die Besteuerung des Markteinkommens mehr. Sie muss abgeschafft und durch eine Beteiligung konzentriert, erübrigen sich alle heute noch notwendigen der Städte und Gemeinden in Deutschland an der Ein- extrem komplizierten Abgrenzungen. kommensteuer – und Körperschaftsteuer ersetzt werden. Meine Damen und Herren, erlauben Sie mir in diesem (Beifall bei der CDU/CSU – Carl-Ludwig Zusammenhang auch eine Bemerkung zu den übrigen Thiele [FDP]: Warum nicht an der Umsatz- Ertragsteuern, die wir heute in Deutschland zusätzlich steuer?) zur Einkommensteuer und Körperschaftsteuer haben. In einem solchen System der Besteuerung des Marktein- Ich habe bereits gesagt, dass einer der wesentlichen kommens hat eine Vermögensteuer als Substanzsteuer Besteuerungsgrundsätze die Besteuerung nach der keinen Platz mehr. Leistungsfähigkeit sein soll. Das heißt, dass grundsätz- lich jedes Einkommen, unabhängig von seiner Entste- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zu- hung, unabhängig von seiner Verwendung, auch unab- ruf von der SPD: Und was ist mit der Gewer- hängig von der Rechtsform des Unternehmens, in dem besteuer?) es gegebenenfalls entsteht, einmal – aber auch nur ein- Wir sollten deswegen, schon aus Gründen der Rechts- mal – besteuert werden muss. Daraus ergibt sich eine hygiene, in Deutschland endlich das Vermögensteuerge- ganze Reihe von Konsequenzen bis hin in den Unterneh- setz auch förmlich aufheben und es durch die Entschei- mensteuerbereich. dung des Bundesverfassungsgerichts nicht nur außer Erlauben Sie mir, zwei Aspekte herauszugreifen, die Vollzug gesetzt sehen. einen größeren Teil der Bürgerinnen und Bürger in (Beifall des Abg. Carl-Ludwig Thiele [FDP]) Deutschland auch im Zusammenhang mit der Diskus- sion über unser Einkommensteuersystem immer wieder In diesem System hat die Erbschaftsteuer anders als beschäftigen. Das Erste sind die so genannten steuer- die Vermögensteuer sehr wohl ihren Platz. Die Erb- freien Sonntags-, Nacht- und Feiertagszuschläge. Um schaftsteuer ist keine Substanzsteuer, sondern sie ist im es von unserer Seite noch einmal klarzustellen: Selbst- (B) steuerlichen System der Bundesrepublik Deutschland verständlich tragen alle diejenigen, die an Sonntagen, in (D) eine einkommensteuerähnliche Einmalbelastung der Er- Schichtarbeit, an Feiertagen tätig sind, die regelmäßig ben. Insofern hat die Erbschaftsteuer anders als die Ver- Nachtarbeit leisten müssen, eine besondere Last. Selbst- mögensteuer durchaus auch in Zukunft ihre Existenzbe- verständlich muss diese besondere Last angemessen ver- rechtigung. Ich will allerdings hinzufügen: Wir müssen gütet werden. Aber es kann nicht Aufgabe der allgemei- darauf achten, auch bei einer möglichen Neuordnung des nen Steuerzahler sein, diese besondere Last durch Erbschaftsteuerrechts, dass der Übergang gerade mittel- besondere Steuerbefreiungen abzugelten. Es muss Auf- ständischer Betriebe, die durch die Eigentümer geführt gabe der Arbeitgeber sein und bleiben, diese besondere werden – börsennotierte Aktiengesellschaften werden Last zu vergüten. Für den Steuergesetzgeber ist und nicht vererbt –, von der Erbschaftsteuer so weit wie bleibt jedes Einkommen, unabhängig von Entstehung möglich entlastet wird, und Verwendung, gleich. Diesen Gleichheitsgrundsatz gilt es insbesondere bei den so genannten Sonntags-, (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Genau! Richtig!) Nacht- und Feiertagszuschlägen anzuwenden, die heute damit die Fortführung ermöglicht und durch die Erb- noch eine besondere Privilegierung erfahren. Wir schla- schaftsteuerlast nicht unmöglich gemacht wird. gen langfristige Übergangsregelungen vor, sodass sich die Tarifvertragsparteien in Deutschland auf eine Verän- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) derung einstellen können. Am Ende dieses Übergangs- Meine Damen und Herren, erlauben Sie mir in diesem zeitraums darf es aber auch an dieser Stelle keine Aus- Zusammenhang noch einen Hinweis – ich kann damit nahmen mehr geben. Wer Ausnahmen für wenige auch gleich einen Zwischenruf aus den Reihen der SPD- fordert, muss wissen, dass er im Ergebnis höhere Steuer- Fraktion aufnehmen –: Natürlich hat in einem solchen sätze für alle fordert. Konzept einer neuen Einkommen- und Körperschaft- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- steuer die Gewerbesteuer in Deutschland, die ohnehin neten der FDP) – auch im europäischen Vergleich – ein Fremdkörper im Einkommensteuersystem ist, keinen Platz mehr, Zweitens. Meine Damen und Herren, das Prinzip der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit muss eine be- (Beifall bei der CDU/CSU) sondere Ausprägung bei der Berücksichtigung der Fami- insbesondere deshalb, weil die Gewerbesteuer nach wie lien, insbesondere bei der Berücksichtigung der Fami- vor eine ganze Reihe von ertragsunabhängigen Bestand- lien mit Kindern, erhalten. Ich will auch an dieser Stelle teilen enthält. Wäre es nach Ihrem Willen gegangen, wä- noch einmal sehr deutlich sagen: Ich halte es für unver- ren die ertragsunabhängigen Teile der Gewerbesteuer zichtbar, dass auch in Zukunft als Ausfluss aus Art. 6 des 9452 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. April 2004

Friedrich Merz (A) Grundgesetzes, der bekanntlich Ehe und Familie unter und eine Verschiebung der Steuerbelastung von den di- (C) den besonderen Schutz der staatlichen Ordnung stellt, rekten zu den indirekten Steuern. Ich werde darauf zum das Ehegattensplitting aufrechterhalten wird, also die Schluss noch einmal zu sprechen kommen. Erwerbsgemeinschaft von Mann und Frau auch im Steu- Diesen Ländern Steuerdumping vorzuwerfen geht an errecht uneingeschränkt und grundlegend verankert der Sache vorbei. bleibt. (Beifall des Abg. Christian Freiherr von (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Stetten [CDU/CSU] – Ortwin Runde [SPD]: der SPD) Sie werden doch Herrn Stoiber nicht be- Wichtiger ist aus meiner Sicht aber die angemessene, das schimpfen! Unerhört!) heißt stärkere Berücksichtigung der Kinder in Ehen und Von Steuerdumping, meine Damen und Herren, lässt eheähnlichen Lebensgemeinschaften. sich nur dann sprechen, wenn etwa wie früher in Holland (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- oder in den irischen Docklands ausländischen Investoren neten der FDP) andere, in der Regel niedrigere Steuersätze und andere steuerliche Gestaltungsmöglichkeiten eingeräumt wer- Meine Damen und Herren, unser Vorschlag, den Kin- den als inländischen Investoren. Es hat aber bisher nie- derfreibetrag auf die Höhe des Erwachsenenfreibetra- mand behauptet, dass dies auf die neuen EU-Länder zu- ges deutlich anzuheben, entlastet überproportional Fami- treffe. Dies kann auch niemand behaupten, weil die lien mit Kindern. Damit würde es erstmalig in diesem osteuropäischen Länder, die in wenigen Stunden in die System möglich sein, auf Transferleistungen in Form Europäische Union eintreten, dieses nicht machen. Sie von Kindergeld an solche Eltern zu verzichten, die über bieten inländischen wie ausländischen Investoren glei- ein ausreichend hohes Einkommen verfügen und die Fi- che und zum Teil hoch attraktive steuerliche Rahmenbe- nanzierung ihrer Kinder aus eigener Kraft leisten kön- dingungen an. nen. Ich will es noch einmal sehr deutlich sagen: Kinder- geld hat ohne Wenn und Aber auch in Zukunft seine Das Problem ist nicht Osteuropa, das Problem ist Berechtigung, aber Transferleistungen an Eltern können Deutschland. und dürfen nach unserer Überzeugung erst dann geleistet (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) werden, wenn die eigene Leistungsfähigkeit nicht mehr ausreicht. Wenn sie ausreicht, dann muss die Berück- Wir haben in Deutschland unverändert viel zu hohe sichtigung von Kindern abschließend durch eine Freibe- Steuersätze. Trotz der anerkennenswerten Bemühungen tragsregelung zum Ausdruck kommen. Höher und gut der rot-grünen Bundesregierung in den letzten Jahren, verdienende Familien brauchen dann keinen Transfer, die Steuerbelastung zu senken, (B) (D) keine Kindergeldleistungen mehr aus öffentlichen Kas- sen. (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Die Steuersätze, nicht die Steuerbelastung!) (Joachim Poß [SPD]: Wir haben doch einen hohen Freibetrag!) ist Deutschland noch immer ein Hochsteuerland. Wir ha- ben nach wie vor mit die höchsten Unternehmensteuern. Dies setzt allerdings systembedingt voraus, dass der Außerdem haben die Unternehmen in Deutschland, die Kinderfreibetrag angemessen und damit deutlich höher hier investieren – auch dies gehört der Vollständigkeit festgesetzt wird, als es gegenwärtig der Fall ist. halber dazu, wenn wir zu Recht über die Wachstums- und Beschäftigungskrise klagen –, eine zu geringe Kapi- (Zuruf von der SPD: Zum Beispiel?) talrendite. Die Kapitalrendite ist in allen anderen euro- Ich habe zu Beginn bereits auf das internationale Um- päischen Ländern höher als in Deutschland. In Deutsch- feld hingewiesen, in dem wir uns mit unserem Steuer- land sind die Steuersätze mitverantwortlich für die system bewegen. Erlauben Sie mir, dass ich eine sehr ak- geringe Kapitalrendite. Das muss in diesem Gesamtzu- tuelle Debatte aufgreife, die in den letzten Tagen auch sammenhang erwähnt werden. Deswegen müssen die im Hinblick auf die Osterweiterung der Europäischen Steuersätze in Deutschland herunter. Union geführt wird. Ich zitiere einen früheren, auch von Ihnen hoch ge- (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Unbedingt!) achteten – wenn ich es richtig in Erinnerung habe, sogar in der SPD als Mitglied geführten – Sachverständigen Nun ist es ja interessant zu beobachten, dass der Bundes- und langjährigen Vorsitzenden des Sachverständigenra- kanzler, dem noch vor Jahr und Tag die Steuern in tes, Hans-Karl Schneider, der einmal gesagt hat: Wer Deutschland zu hoch waren – wir teilen ausdrücklich mehr als die Hälfte seines Einkommens an das Finanz- diese Einschätzung –, plötzlich entdeckt, dass sie an- amt abführen muss, ist mehr darauf bedacht, Steuern zu derswo zu niedrig sind. Die meisten Länder von denen, sparen, als darauf, Geld zu verdienen. – Das gilt unver- die jetzt neu in die Europäische Union eintreten, haben ändert auch heute. In Deutschland wird viel zu viel über jedoch ihre Steuersysteme auf ihre Mitgliedschaft in der Steuervermeidungsstrategien und viel zu wenig über In- EU vorbereitet. Zum Teil haben sie Maßnahmen ergrif- vestitions- und Beschäftigungsstrategien nachgedacht. fen, die wir in Deutschland längst hätten ergreifen sol- len, nämlich eine deutliche Absenkung der Ertragsteuer- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) sätze Deshalb müssen die Steuersätze herunter und muss die (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Sehr richtig!) Bemessungsgrundlage verbreitert werden. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. April 2004 9453

Friedrich Merz (A) Ich räume ein: Auch mit der Umsetzung unseres Vor- teme, der Reformen der sozialen Transfersysteme, die (C) schlages, die Grenzbelastung bei der Einkommen- endlich von Ihren beschäftigungsfeindlichen Anreizwir- und Körperschaftsteuer auf einheitliche 36 Prozent zu- kungen befreit werden müssen, und umfassender Refor- rückzuführen, lägen wir im internationalen Vergleich men der sozialen Sicherungssysteme bis hin zur Ab- noch immer bei einer relativ hohen Steuerlast. Ich ver- kopplung eines Teiles der sozialen Sicherungssysteme stehe deshalb gut, dass an anderer Stelle, etwa im Sach- vom Beschäftigungsverhältnis. In diesem Zusammen- verständigenrat, über Möglichkeiten nachgedacht wird, hang sind die Spielräume für eine grundlegende Reform diese zu hohe Grenzbelastung für die Unternehmen in der Einkommen- und Körperschaftsteuer in Deutschland Deutschland, unabhängig von ihrer Rechtsform, in ei- viel, viel größer, als mancher Skeptiker, auch hier im nem solchen System weiter abzusenken. Ich habe Vorbe- Hause, in den letzten Wochen und Monaten vorgetragen halte gegen eine solche Steuerspreizung. Wie wollen wir hat. den Arbeitnehmern in Deutschland, die nicht nur unter hohen Steuern, sondern noch mehr unter hohen Sozial- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) versicherungsbeiträgen leiden, vermitteln, dass etwa Un- Wenn wir in Deutschland den Mut hätten, im Rahmen ternehmensgewinne deutlich niedriger besteuert werden einer solchen umfassenden Reformagenda wider- als Arbeitnehmereinkünfte? Gleichwohl wird der Druck spruchsfrei das eine mit dem anderen zu verbinden, dann auf die Ertragsteuern in den nächsten Jahren stärker wer- kämen wir viel schneller aus der Wachstums- und Be- den. Auch in diesem Zusammenhang wird die Osterwei- schäftigungskrise heraus, terung der Europäischen Union eine erhebliche Auswir- kung auf die steuerpolitische Debatte in Deutschland (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Richtig!) haben. dann könnten wir viel schneller die viel zu hohe Staats- Deswegen müssen wir nach Wegen suchen, schnell zu quote senken und die Steuerlast der Bürgerinnen und Ergebnissen zu kommen. Wir können nicht mehr bis Bürger wie der Unternehmen in Deutschland senken. zum nächsten Regierungswechsel warten. Deutschland Dass es geht, haben andere Länder in Europa und außer- hat nicht die Zeit, eine weitere halbe Legislaturperiode halb Europas längst vorgemacht. Dass es nicht geht, hat des Deutschen Bundestages lethargisch dazusitzen und auch mit der Regierungspolitik der letzten fünfeinhalb darauf zu warten, dass der Aufschwung möglicherweise Jahre zu tun. durch die Weltkonjunktur herbeigeführt wird. Herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wenn Sie, meine Damen und Herren von Rot-Grün, (B) in diesem Zusammenhang nach der Bezahlbarkeit einer Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: (D) solchen Reform – wir werden uns heute Nachmittag mit Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Joachim Poß. weiteren Themen dieser Art beschäftigen – fragen, dann will ich Ihnen eine Antwort geben in Bezug auf die Be- Joachim Poß (SPD): rechnungen der Haushaltsabteilungsleiter der Finanzmi- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lieber nisterien Kollege Merz, wir sollten den heutigen Morgen nutzen, (Ortwin Runde [SPD]: Der Steuerabteilungs- um einige Fragen ganz grundsätzlich zu klären. Zum leiter!) Beispiel sollten wir darüber reden, wie wir uns auf den Beitritt der neuen Länder zum 1. Mai einstellen. Dieser – der Steuer- und Haushaltsabteilungsleiter –, Beitritt hat die öffentliche Diskussion in den letzten Ta- (Ortwin Runde [SPD]: Es waren die Steuer- gen stark bestimmt. Ich erkläre für die SPD hier ganz abteilungsleiter!) eindeutig: Wir können uns nicht vorstellen, mit den bal- tischen Staaten oder anderen Staaten hinsichtlich niedri- die ich schätze und achte und die ihren Auftrag zu erfül- ger Steuersätze konkurrieren zu können. Das ist der Weg len haben, deren Arbeit ich in vollem Umfang respek- in die falsche Richtung. tiere: Diese Arbeit bezieht sich auf ein statisches Regel- werk. Sie gehen vom gegenwärtigen Status quo der (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Arbeitsmarktverfassung, von den gegenwärtigen Sozial- Wir müssen unsere Stärken ausbauen. Unsere Posi- versicherungssystemen, von den gegenwärtigen sozialen tion ist, dass wir dafür neben privatem auch öffentliches Sicherungssystemen, von den gegenwärtigen sozialen Geld brauchen. Herr Merz, Ihr Weg ist – Sie haben es Transfersystemen und vom gegenwärtigen Steuersystem eben angedeutet –, dass Deutschland über Steuersenkun- aus. Das, was wir Ihnen heute hier vorschlagen, ist iso- gen konkurrenzfähig wird. Über diese Alternativen kön- liert betrachtet in der Tat heute nicht bezahlbar. nen die Bürgerinnen und Bürger bei der Europawahl ab- (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Christine stimmen. Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Rich- Im Übrigen teile ich in dieser Frage ausdrücklich das, tig! Das ist eine gute Einsicht!) was Herr Stoiber heute im „General-Anzeiger“ gesagt Aber – bevor Sie klatschen – all das, was wir Ihnen vor- hat. Herr Faltlhauser, Sie können nachher die Haltung schlagen, steht im Kontext einer größeren Reform- der CSU näher erläutern. Wir werden dann sehen, wie agenda in Deutschland, einer grundlegenden Korrektur einig CDU und CSU sind und wie geschlossen die Op- der Arbeitsmarktverfassung und der Lohnfindungssys- position ist. Herr Stoiber sagt auf die Frage mit Blick auf 9454 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. April 2004

Joachim Poß (A) die Beitrittsländer, ob er einen fairen Steuerwettbewerb (Friedrich Merz [CDU/CSU]: Sie haben die (C) gewährleistet sehe: falsche Rede mitgebracht!) Es besteht die Gefahr, dass EU-Hilfen von einzel- Der dritte Punkt. Sie haben vollkommen zu Recht den nen Ländern zum Steuer-Dumping gegenüber ande- Stellenwert der Familie beschrieben. Wir haben im Ge- ren Ländern missbraucht werden. Einzelne Länder gensatz zu Ihnen in den letzten Jahren die Familienleis- halten ihr Steuereinkommen gering, weil sie auf ei- tungen von 40 Milliarden Euro auf insgesamt über nen Ausgleich durch EU-Höchstfördersätze rech- 60 Milliarden Euro erhöht. Sie sprechen von der Förde- nen können. rung der Familie, wir handeln. Auch das müssen die Bürgerinnen und Bürger wissen. Ich glaube, Herr Stoiber hat insoweit Recht. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Hans Michelbach [CDU/CSU]: „Steuerauf- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) kommen“ sagt er!) Wenn Sie im Rahmen Ihres Konzeptes den Freibetrag Er plädiert in diesem Zusammenhang auch nicht aus- erhöhen und das Kindergeld für die Bezieher geringer drücklich, wie Sie es tun, für einen Wettbewerb. Einkommen so belassen wollen, dann müssen die Bürge- Ich finde es gut, wenn die Bürgerinnen und Bürger rinnen und Bürger wissen – um sich über die politische die verschiedenen Alternativen der konkurrierenden Par- Alternative klar zu werden –, was das bedeutet. Das be- teien klar erkennen können. Es wird manchmal der Vor- deutet nämlich, Herr Merz, dass der Freibetrag so erhöht wurf erhoben – gelegentlich auch aus der Anhänger- wird, wie es erforderlich ist, um Spitzenverdiener weiter schaft der SPD –, Unterschiede seien nicht mehr zu entlasten. Das ist die Wahrheit, die hinter dieser Be- erkennbar. merkung steht. Auch hierbei besteht zwischen den Par- teien im Deutschen Bundestag eine Alternative. (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Sie sind aber er- kennbar!) (Beifall bei der SPD) – Auch ich denke das. Schließlich sagen Sie, Deutschland sei ein Hoch- steuerland. Das gibt die Analyse, gemessen an der volks- Ein zweiter Punkt. Sie haben etwas zu den Finanzen wirtschaftlichen Steuerquote, natürlich nicht her. Wir der Kommunen gesagt. Wir wissen, dass sich viele hatten in der Europäischen Union im Jahre 2002 die Kommunen in einer schwierigen Finanzsituation befin- niedrigste volkswirtschaftliche Steuerquote mit 21,7 Pro- den. Herr Merz, Sie haben gesagt, die Gewerbesteuer zent. Wir haben sie im Jahre 2003 weiter auf unter werde ersatzlos abgeschafft 21 Prozent gesenkt. Auch das sollten die Menschen wis- sen: Wir brauchen eine auskömmliche Steuerquote, (B) (D) (Friedrich Merz [CDU/CSU]: Ich habe nicht wenn wir Bildung, Forschung und Chancengerechtigkeit gesagt, ersatzlos! – Christian Freiherr von finanzieren wollen. Stetten [CDU/CSU]: Nein, er hat gesagt: Sie wird ersetzt!) (Hans Michelbach [CDU/CSU]: Arbeitslose zahlen keine Steuern!) und werde durch eine Beteiligung an der Einkommen- und Körperschaftsteuer ersetzt. In Ihrem Antrag steht Wir können den Menschen keine Steuersenkungen in wörtlich – ich hoffe, dass Sie ihn gelesen haben –: Aussicht stellen, die, so wie Sie dies vorsehen, offenkun- dig sozial ungerecht und nicht finanzierbar sind. Auch Deshalb soll die Gewerbesteuer in enger Abstim- hier bietet sich für die Bürgerinnen und Bürger eine Al- mung mit den Kommunen durch eine wirtschafts- ternative. kraftbezogene Gemeindesteuer ersetzt werden... (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Christian Freiherr von Stetten [CDU/CSU]: des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Das heißt doch nicht, ersatzlos gestrichen!) Wir haben mit all den Maßnahmen, die wir seit 1998 Sie haben eben davon gesprochen, dass sozusagen eine beschlossen haben, Steuerentlastungen von knapp Beteiligung an der Einkommen- und Körperschaftsteuer 60 Milliarden Euro durchgesetzt. Dabei gab es teilweise erfolgt. In Ihrem Antrag sprechen Sie aber von einer Kompromisse im Vermittlungsausschuss, weil man sich „wirtschaftskraftbezogenen Gemeindesteuer“. Sie müs- dort angesichts der Mehrheitsverhältnisse einigen muss. sen den Bürgerinnen und Bürgern, die in den Städten auf Bei uns lohnt sich Leistung wieder. Lebensqualität Wert legen, schon klar sagen, was Sie wollen. (Lachen bei der CDU/CSU) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ – Natürlich. – Der steuerliche Grundfreibetrag wurde DIE GRÜNEN) von 6 200 auf 7 664 Euro angehoben. Auf den ersten verdienten Euro zahlen die Menschen in diesem Jahr Wenn man sich jenseits des Wortnebels einmal mit den eine Steuer von 16 Prozent. Bei Ihnen betrug der Steuer- Fakten beschäftigt, dann erkennt man, dass Sie auch hier satz 26 Prozent. Hier ergeben sich konkrete Alternati- in Wahrheit keine Antwort haben. ven, von denen die Menschen profitieren. (Zuruf des Abg. Friedrich Merz [CDU/CSU]) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) – Ich habe wörtlich aus Ihrem Antrag zitiert. Vielleicht haben Sie ihn nicht gelesen. Davon war bei Ihnen nichts zu hören. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. April 2004 9455

Joachim Poß (A) Wenn die Union meint, ein modernes Steuerrecht sei auch, dass der Staat helfen muss, wenn die Menschen ih- (C) das Nonplusultra für die volkswirtschaftliche Genesung, ren gegenwärtigen und die Sicherung ihres zukünftigen dann gaukelt sie den Menschen etwas vor. Durch Sie und Bedarfs nicht selbst finanzieren können. Aber angesichts durch andere wird durch das Versprechen unfinanzierba- Ihrer Zitate, Herr Merz, können die Menschen in rer Steuersenkungen und durch eine unsoziale steuerli- Deutschland solche nach Sozialstaat klingenden Ankün- che Umverteilung ein ganz bestimmter wirtschaftspoliti- digungen offensichtlich nicht ernst nehmen. Zumindest scher Zeitgeist beschworen. Manche nennen solche Teile der Union – gemeint sind Sie, Herr Merz, und nicht parteipolitischen Vorstellungen sogar „modern“. Herr Seehofer – stehen für eine andere Republik, eine Republik nach dem Motto: Hilf dir selbst, dann hilft dir Die SPD-Bundestagsfraktion hält daran fest, dass in Gott! Dieser Teil der Union wird immer stärker. der Steuerpolitik zwei bewährte Grundsätze zu beach- ten sind: soziale Gerechtigkeit und seriöse Finanzierung. Deswegen sage ich: Die Union verabschiedet sich Das sind unsere Leitmotive. Von diesen lassen wir uns von einem langjährigen Konsens, von einem Konsens, durch keinen Zeitgeist dieser Welt abbringen. Auch da- der bisher von den Volksparteien getragen wurde. rüber können die Menschen Gott sei Dank in Wahlen entscheiden. (Norbert Schindler [CDU/CSU]: Das habt ihr schon lange gemacht!) (Beifall bei der SPD) Dazu gehörte auch die Besteuerung nach der wirtschaft- Wir reichen einer ungerechten und unseriösen Steuerpo- lichen Leistungsfähigkeit. Deswegen werden wir uns da- litik nicht die Hand. Hier geht es um eine grundlegende für einsetzen, dass die seit langem bewährte soziale politische Richtungsentscheidung. Marktwirtschaft, der Sozialstaat und soziale Gerechtig- keit weiterhin prägende Kennzeichen der Gesellschaft Von welchem Geist Herr Merz beseelt ist, hat er in der Bundesrepublik Deutschland sein werden. Auch da- wünschenswerter Klarheit am letzten Sonntag in der rüber können die Menschen abstimmen. Das sind klare „Welt am Sonntag“ in einem Interview zum Ausdruck Alternativen. gebracht. Er hat dort wörtlich gesagt: Bei uns bekommt derjenige am meisten Zustim- Aber auch in der Union gibt es Politiker, die nicht mung, der am lautstärksten nach Umverteilung ruft mehr verstehen, warum sich die CDU und Frau Merkel und Faulheit belohnen will. vom Sozialstaat verabschieden wollen. , Norbert Blüm, Heiner Geißler und andere haben in den Ich kenne in der Öffentlichkeit niemanden, der klatscht, vergangenen Wochen die gesamte Politik der Union, wenn Faulheit belohnt werden soll. nicht nur die Steuerpolitik, scharf kritisiert. Herr Seehofer hat Recht, wenn er darauf hinweist, dass es (B) (Friedrich Merz [CDU/CSU]: Das hat der (D) nicht ausreicht, neu zu denken. Darüber hinaus muss Kanzler gesagt!) man auch prüfen, ob das Neue finanzierbar ist. Horst Das hat mit der Wirklichkeit nichts zu tun. Weiter sagen Seehofer hat der CDU genau vorgerechnet, dass ihre Re- Sie, Herr Merz: formvorschläge zur Steuer-, Gesundheits- und Renten- politik über 100 Milliarden Euro kosten würden und sie Umverteilung ist doch nichts anderes als der Ver- für diese Ausgaben keine Deckungsvorschläge gemacht such, Leistung ohne Gegenleistung zu bekommen. hat. Das hat mit der Lebenswirklichkeit ebenfalls nichts Sie, Herr Merz, haben versucht, das mit der Dynamik, zu tun. In diesen beiden Sätzen steckt eine Weltanschau- die Sie erzeugen wollen, zu erklären. Diese gibt aber ung, die den Sozialstaat offenbar als lästig empfindet. nach allen seriösen wirtschaftswissenschaftlichen Unter- (Hans Michelbach [CDU/CSU]: Ach je!) suchungen nicht genügend Finanzierungsspielraum. Hier wird eine Verachtung für sozial Benachteiligte of- (Ortwin Runde [SPD]: Zur Mehrwertsteuer fensichtlich. wollte er noch kommen, ist er aber nicht!) (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Ach Gott, ach Das heißt, Sie stehen für finanzpolitische Abenteuer. Sie Gott!) lassen sich für einfache Steuerkonzepte und für Steuer- erklärungen auf Bierdeckeln feiern und sind im Grunde Dies ist eine politische Einstellung, die sich am Rande genommen ein finanzpolitischer Abenteurer. Das muss unserer Verfassung bewegt. Das ist der Kern Ihres Inter- man klar und deutlich aussprechen. views. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Hans DIE GRÜNEN – Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Michelbach [CDU/CSU]: Jetzt schmeicheln Das ist doch wohl Herr Eichel!) Sie sich bei Müntefering ein!) – Nein. Die Bundesrepublik Deutschland ist nach Art. 20 des Grundgesetzes ein „sozialer Bundesstaat“. Kennzeichen Horst Seehofer hat Recht. Wenn Sie sagen, wir müs- und Aufgabe eines Sozialstaates ist es, dort umzuvertei- sen den sozialen Ausgleich – beispielsweise bei der so len, wo der Einzelne nicht in der Lage ist, für sich selbst genannten Kopfpauschale – über die Steuern herstellen, zu sorgen. In der wortreichen und blumigen Prosa des dann müssen Sie den Menschen auch sagen, dass das mit steuerpolitischen Programms der Union heißt es zwar den Steuersätzen, die in Ihren Konzepten stehen, nicht 9456 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. April 2004

Joachim Poß (A) möglich ist, weil diese zur Finanzierung nicht ausrei- Zweitens. Auf die gemachten Reformüberlegungen (C) chen. Die ungedeckten Vorschläge in Milliardenhöhe haben Sie nur abwehrend reagiert. Damit bestätigen Sie, kommen von denselben Leuten – Herr Merz, auch Sie dass aus sozialdemokratischer Sicht das Recht so bleiben haben solche von diesem Pult aus schon gemacht –, die soll, wie es ist. Eines kann ich Ihnen versichern: So wie sonst bei jeder Gelegenheit darauf hinweisen, dass die es ist, kann und darf es nicht bleiben, es muss verändert Bundesregierung die Maastricht-Kriterien nicht einhal- werden. Dass Sozialdemokraten an der Spitze struktur- ten kann. Eine solche Politik ist weder seriös noch konservativer Kräfte unseres Landes stehen, ist mir un- glaubwürdig. begreiflich. Wer würde nicht gern die Steuern senken? (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Rot-Grün!) Drittens. Sie haben erklärt, wie die Bürger in unserem Lande entlastet werden. Seit 1998 hat es aber durchaus Aber was nützen diese Ankündigungen, wenn weder auch Belastungen durch Rot-Grün gegeben. Es gibt Be- Kommunen noch Länder – das haben die Finanzminister rechnungen, die besagen, dass der Saldo der Entlastun- festgestellt – Steuersenkungen finanzieren können? Die gen und Belastungen eine Mehrbelastung der Bürger von Finanzminister aller Länder – Herr Faltlhauser wird hier 8 Milliarden Euro ausmacht. Das muss man den Men- noch reden –, nicht irgendwelche Abteilungsleiter, haben schen sagen; denn das spüren sie. ebenso wie zwei wirtschaftswissenschaftliche Institute festgestellt, was von diesen Einfachsteuerkonzepten zu Deutschland befindet sich in einer schweren struktu- halten ist. Ihre klare Botschaft lautet: Die Konzepte sind rellen Krise. Nur mit dem Tunnelblick von Rot-Grün nicht finanzierbar, sie haben ungerechte Verteilungswir- kann man den Eindruck gewinnen, dass es in unserem kung und nur geringe ökonomische Effekte. Auch diese Land keine Probleme gibt. Deutschland braucht wirk- wurden untersucht. same und durchgreifende Reformen, besonders im Steu- errecht, und zwar nicht erst nach der nächsten Bundes- Herr Merz, da das Urteil so ausfällt, sage ich Ihnen: tagswahl im Jahre 2006 oder 2007, sondern schon heute. Lassen Sie das mit dem Bierdeckel! Lassen Sie den Po- Noch besser wäre es, entsprechende Vorschläge wären pulismus! Überlegen Sie, ob Sie mit anderen zusammen schon längst beschlossen worden. den Sozialstaat mit der Abrissbirne wirklich einreißen wollen. Sie werden auf unseren Widerstand treffen. Wir begrüßen es, dass nach der FDP auch die Union erkennt, dass im Steuerrecht Reformen erforderlich sind. (Bartholomäus Kalb [CDU/CSU]: Sie erzäh- Aber nach unserer Auffassung – nehmen Sie mir das len blühenden Unsinn!) nicht übel; auch der Kollege Merz nicht – befinden Sie sich immer noch im „Vormärz“. (B) Ich bin trotz aller Umfragen ganz gewiss, dass die SPD (D) in den nächsten Wochen und Monaten so stark werden (Beifall bei der FDP) wird, um Ihnen bei diesen abenteuerlichen Plänen in den Trotzdem begrüße ich es ausdrücklich, dass dem Par- Arm zu fallen. Sie kommen damit nicht durch, wenn den lament ein Konzept der Union in Form eines Antrages Menschen klar wird, was hinter Ihren Plänen wirklich vorliegt. Aber – das ist Teil des Antrages – anstatt dafür steckt. zu plädieren, das Steuerrecht sofort einfacher, verständli- Vielen Dank. cher und die Steuersätze niedriger zu gestalten, soll das Steuerkonzept der Union in mehreren Schritten verwirk- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ licht werden. Es heißt in dem Antrag, die schnell reali- DIE GRÜNEN) sierbaren Teile seien im Rahmen eines steuerpolitischen Sofortprogramms vorwegzunehmen. Wir haben nichts Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: dagegen, aber wir brauchen eine Gesamtreform, und Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Carl-Ludwig zwar nicht übermorgen, sondern morgen oder am besten Thiele. noch heute! (Beifall bei der FDP) Carl-Ludwig Thiele (FDP): Wer in der heutigen Zeit fordert, dass eine Steuerre- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und form über Jahre hinaus in mehreren Stufen umzusetzen Kollegen! Herr Kollege Poß, ich möchte drei kurze ist, verkennt, dass wir jetzt klare Signale für Wachstum Anmerkungen zu Ihrer Rede machen. Ich glaube ers- in unserem Land brauchen, und zwar für Selbstständige tens, es war nicht sachgerecht, bei einem solch wichtigen und für Handwerksbetriebe, von denen besonders die an Thema als Erstes Klassenkampfparolen auszugeben; der Grenze zu den östlichen Nachbarn in der neuen Eu- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) ropäischen Union unter einen enormen Wettbewerbs- druck geraten werden. Es reicht nicht, zu sagen, es denn die Bürger in unserem Lande – das sage ich ganz müsse irgendwann eine Steuerreform kommen, sondern deutlich – wollen Veränderungen, vor allem eine Verän- wir brauchen sie jetzt und so schnell wie möglich. Wir derung: Sie wollen weniger Rot-Grün in unserem Land. brauchen eine unverzügliche Vereinfachung unseres Das ist die Situation. kompletten Steuerrechtes, mit der die Steuersätze auf Dauer gesenkt werden. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – La- chen bei der SPD) (Beifall bei der FDP) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. April 2004 9457

Carl-Ludwig Thiele (A) Manchmal habe ich den Eindruck, wir in Deutschland Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: (C) verschlafen unsere Zukunft. In zwei Tagen, am 1. Mai, Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Christine Scheel. treten zehn neue Länder der Europäischen Union bei. Im Vorgriff darauf hat Österreich schon ein deutliche Redu- Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): zierung seiner Steuersätze vorgenommen. Ab 2005 wird Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen die Körperschaftsteuer auf 25 Prozent gesenkt und nach vor allem von der Union! Sie müssen mich heute noch Aussage des österreichischen Finanzministers entspricht einmal ertragen; denn wir haben noch eine Aktuelle das einer effektiven Steuerlast von 21 Prozent. Damit ist Stunde vor uns. Österreich zum Beispiel gegenüber Slowenien oder Po- len absolut wettbewerbsfähig. (Volker Kauder [CDU/CSU]: Gehen Ihnen die Redner aus? – Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: (Joachim Poß [SPD]: Ja und? Bei Ihnen war Kommt darauf an, was Sie sagen!) sie bei 45 Prozent und wir haben sie um Zu den Ausführungen von Herrn Thiele möchte ich 20 Prozentpunkte gesenkt!) nur drei Worte sagen: Polemik, Polemik, Polemik. In Deutschland werden Körperschaften mit der Körper- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN schaftsteuer und der Gewerbesteuer belastet. Diese lie- sowie bei Abgeordneten der SPD – gen bei insgesamt 39 Prozent. Das ist die Wirklichkeit in Dr. Hermann Otto Solms [FDP]: Dünn, dünn, unserem Land. dünn!) Es ist erstaunlich, dass einigen Politikern in Deutsch- Herr Merz, Sie haben auf Ihren Antrag „Ein modernes land erst vor wenigen Wochen klar geworden zu sein Steuerrecht für Deutschland – Konzept 21“ Bezug ge- scheint, dass die Erweiterung der Europäischen Union nommen. Ich gebe Ihnen Recht, dass wir beim Steuer- am 1. Mai erfolgt und wir uns ab diesem Zeitpunkt in recht zu Vereinfachungen kommen müssen Europa im direkten Wettbewerb mit Ländern befinden, (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Aha! – Hans die Steuersätze um und unter 20 Prozent haben. Dass es Michelbach [CDU/CSU]: Das müssen Sie Bundeskanzler Schröder und Ministerpräsident Stoiber Herrn Poß sagen!) erst jetzt auffällt, dass Deutschland in diesem schärferen Wettbewerb eine schlechte Ausgangsposition hat, er- und dass es für viele Menschen unerträglich ist, festzu- staunt tatsächlich. Die Erkenntnis ist schon viel älter, stellen, dass unser Steuerrecht aufgrund von Einzelfall- aber gehandelt wird leider nicht. Die Bundesregierung entscheidungen in den letzten Jahrzehnten insgesamt im- hat es an dieser Stelle verschlafen, in unserem Land die mer komplizierter, damit aber auch immer ungerechter geworden ist. (B) Notwendigkeit zusätzlicher Steuerreformen klar zu ma- (D) chen. Das ist ein Versäumnis der Bundesregierung und (Volker Kauder [CDU/CSU]: Wie lange soll ist kurzfristig nicht zu beseitigen. Hier müssen wir als das noch so weitergehen?) Parlament treiben. Hier werden wir als FDP treiben, da- mit endlich Reformen durchgeführt werden, mit denen Ich gebe Ihnen auch Recht, dass wir mehr Berechen- wir für die Zukunft unseres Landes besser aufgestellt barkeit, Planungssicherheit und Kalkulierbarkeit brau- sein werden. chen, weil das für die Unternehmen in der Bundes- republik Deutschland Voraussetzungen sind, die sie für (Beifall bei der FDP – Hans Michelbach [CDU/ ihre wirtschaftliche Entwicklung brauchen. Der Standort CSU]: Das war jetzt ein Angriff!) Deutschland bleibt, was die Standortentscheidungen der Unternehmen angeht, attraktiv, wenn solche vorausseh- Frau Präsidentin, ich komme zum Schluss. Die Auf- baren Entscheidungen und die Veränderungen, die in ge- gabe, Deutschland zu reformieren, darf nicht nur darin wissen Bereichen bestimmt notwendig sind – darauf bestehen, Leistungen für Bürger einzuschränken. Wir komme ich noch zu sprechen –, auch in den Unterneh- müssen Anreize setzen, damit in unserem Land wieder men und in den Köpfen ihrer Mitarbeiter klar sind, damit mehr investiert wird, damit mehr Arbeitsplätze geschaf- sie wissen, was auf sie zukommt. fen werden, damit das Wirtschaftswachstum in Gang Wir wissen auch, dass wir es im Zusammenhang mit kommt und wir die Entwicklung Europas nicht bremsen, der EU-Osterweiterung – aber nicht erst dadurch; das sondern wir wieder zur Lokomotive Europas hinsichtlich war schon vorher der Fall – mit Ländern zu tun haben, in des Wachstums in der Europäischen Union werden. denen, gerade im Bereich der Unternehmensbesteue- rung, Steuersätze gelten, die weit unter unseren liegen. Den besten Weg hierfür zeigt das Steuerkonzept der Den Rednern der FDP, die darauf hinweisen, dass der FDP auf. Der Gesetzentwurf liegt ausformuliert vor, und Körperschaftsteuersatz in Österreich von 35 bzw. es wäre schön, wenn er nicht erst nach der nächsten Bun- 40 Prozent auf 25 Prozent gesenkt wurde, kann ich in destagswahl im Jahre 2007 oder 2008 in Kraft treten diesem Zusammenhang nur „Guten Morgen!“ sagen; könnte, sondern sofort. Deshalb appelliere ich hier an denn in der Bundesrepublik Deutschland beträgt der Rot-Grün, aber auch an die Union: Nehmen Sie Körperschaftsteuersatz bereits 25 Prozent. schnellstmöglich den Gesetzentwurf der FDP als Grund- lage für ein modernes Steuerrecht. Warten Sie nicht mit (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Und die Gewer- den Veränderungen, handeln Sie jetzt! besteuer? – Dr. Hermann Otto Solms [FDP]: Verkaufen Sie die Leute doch nicht für (Beifall bei der FDP) dumm!) 9458 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. April 2004

Christine Scheel (A) – Herr Dr. Solms, es ist richtig, dass die Gewerbesteuer in der Slowakei wesentlich höher ist, als das bei uns der (C) noch hinzukommt. Fall ist. (Zurufe von der CDU/CSU: Aha!) (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Was kritisie- ren Sie denn jetzt?) – Ja, aber auch in Österreich gibt es Zuschlagsteuern; das wissen Sie. – Ich kritisiere, dass pauschal immer so getan wird, als ob niedrige Steuersätze auch niedrige Belastung bedeu- (Hans Michelbach [CDU/CSU]: Dann kommt ten. Wer das Zusammenwirken der verschiedenen Steu- noch die Ökosteuer!) erarten betrachtet, weiß, dass das nicht richtig ist. Wenn man ehrlich ist, muss man alle Steuerarten, die, (Dr. Hermann Otto Solms [FDP]: Das habe ich was die Leistungsfähigkeit betrifft, eine Rolle spielen, gerade erklärt!) berücksichtigen. Man kann nicht immer nur einzelne Steuerarten, deren Satz niedrig ist, herausgreifen und Ich bitte Sie, dass wir mit Blick auf die EU-Osterwei- sagen: Das ist aber Klasse; da müssen auch wir hinkom- terung mit großer Ernsthaftigkeit überlegen, was man men. Man muss auch berücksichtigen, welche Konse- tun kann, damit die Attraktivität des Standortes Deutsch- quenzen das in fiskalpolitischen Zusammenhängen ins- land gewährleistet bleibt und sich punktuell auch verbes- gesamt hat. sert. Wir wissen, wir haben wirtschaftliche Schwächen, wir haben nicht das Wachstum, das wir brauchen; das ist (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN völlig klar. sowie bei Abgeordneten der SPD – Hans Michelbach [CDU/CSU]: Sie wissen doch, wo Was aber nicht geht, ist, dass wir uns bei den Steuer- die Steuerbelastungen sind!) sätzen für Körperschaften daran orientieren, dass sie in anderen Ländern teilweise unter 15 oder sogar unter Ich sage Ihnen auch, dass zum Beispiel in der Slowa- 10 Prozent liegen. Das wäre unfair gegenüber 80 Prozent kei Steuersätze von drei mal 19 Prozent gelten: bei der aller Unternehmen, kleinen und mittelständischen Unter- Einkommen- bzw. Lohnsteuer, bei der Körperschaft- nehmen in Deutschland, die keine Körperschaftsteuer steuer und bei der Mehrwertsteuer. Diese Entscheidung zahlen, sondern Einkommensteuer, weil sie Personenun- ist dort getroffen worden. Ich bin mir aber nicht sicher, ternehmen sind. Denen kann man keinen Steuersatz von ob die Entscheidung bezüglich dieser Steuersätze, was nur 10 oder 15 Prozent anbieten, weil wir dann Schwie- die Belastung der Bevölkerung insgesamt anbelangt, rigkeiten hätten – das hat auch Herr Poß ausgeführt –, dort in den nächsten Jahren aufrechterhalten wird. Denn die notwendigen Finanzierungen für unsere Infrastruktur man muss einen Einkommensteuersatz in Höhe von und für die Zukunftsaufgaben in diesem Land, Bildung (B) 19 Prozent für die Bezieher kleiner und mittlerer Ein- und Forschung, zu leisten. Das wissen Sie. Deswegen (D) kommen auch im Verhältnis zu unseren Vorschlägen se- muss man hier sehr vorsichtig sein. hen. Im Gesetzblatt steht für das nächste Jahr ein Ein- gangssteuersatz von 15 Prozent. Ich persönlich sage: Wir müssen das alles noch in den verschiedensten Zusammenhängen diskutieren. Ich halte (Bartholomäus Kalb [CDU/CSU]: Dafür eine es für richtig, dass der Bundeskanzler sagt: Man muss hohe Durchschnittssteuerbelastung!) sich über bestimmte Grundlagen verständigen, die für alle Länder gelten sollen. Ich halte es für richtig, dass ge- Das gilt auch für den Mehrwertsteuersatz von 19 Pro- sagt wird: Wir müssen bei den Unternehmensteuern da- zent; denn bei uns beträgt der Mehrwertsteuersatz für sorgen, dass die Bemessungsgrundlage in allen Mit- 16 Prozent. gliedstaaten die gleiche ist. Auch ich persönlich halte es Hinzu kommt noch etwas anderes, was man nicht ver- für richtig – das hat nicht der Kanzler gesagt, das sage gessen darf: ich jetzt –, dass man darüber nachdenkt, Mindeststeuer- sätze einzuführen, genauso wie wir es bei der Mehrwert- (Christian Freiherr von Stetten [CDU/CSU]: steuer oder bei der Umsatzsteuer kennen, dass wir einen Die Ökosteuer!) bestimmten Korridor vorgeben. Das werden wir für die Bei uns ist der gesamte Bedarf an Lebensmitteln und an Zukunft in den europäischen Gremien zu diskutieren ha- dem, was die Menschen zum Leben brauchen – Kultur- ben; denn es kann nicht angehen, dass Wettbewerb im- güter, Zeitungen und vieles mehr –, mit 7 Prozent Mehr- mer nur zu Dumping, zu einer Bewegung nach unten wertsteuer belegt. führt. (Christian Freiherr von Stetten [CDU/CSU]: Wir brauchen die Finanzierbarkeit unserer Systeme; Das sind doch 16 Prozent!) das gilt für alle anderen Länder auch. Viele haben im Wettbewerb aufzuholen – das ist richtig –, sie brauchen In der Slowakei zahlen normale Arbeitnehmer bzw. Ar- in dieser Zeit Vorteile – auch das ist richtig –, aber die beitnehmerinnen 19 Prozent Einkommensteuer. Die Sätze müssen sich mit der Zeit angleichen, und das kann Mehrwertsteuerbelastung für die Artikel, die ich gerade nicht auf dem niedrigsten Level geschehen, wenn wir genannt habe, und auch für Lebensmittel beträgt dort das finanzieren können wollen, was notwendig ist. Des- aber 19 Prozent. Wenn man sich also die Einkommenssi- wegen bitte ich in diesem Zusammenhang auch um mehr tuationen hier und dort anschaut und sie in Verhältnis zu- Redlichkeit: Wenn man Dinge vergleicht, soll man Äpfel einander setzt, stellt man fest, dass die Belastung der Be- mit Äpfeln vergleichen und nicht Birnen mit Äpfeln, wie zieher kleinerer und mittlerer Einkommen zum Beispiel Sie das immer tun. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. April 2004 9459

Christine Scheel (A) Danke schön. die Nettoneuverschuldung in Nordrhein-Westfalen im (C) letzten Jahr 6,5 Milliarden Euro betragen hat – eine sol- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN che Neuverschuldung in einem einzigen Jahr in einem und bei der SPD) einzigen Land, das müssen Sie sich vorstellen –, muss man die Frage stellen, ob die Luft für eine entsprechende Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Entlastung vorhanden ist. Das Wort hat jetzt Professor Kurt Faltlhauser, Staats- minister der Finanzen des Freistaats Bayern. Herr Merz hat hier schon eine sehr präzise Antwort auf diese Frage gegeben. Ich will nun drei für mich be- (Beifall bei der CDU/CSU) deutsame Gründe anführen, warum ich meine, dass wir jetzt mit einem derart umfassenden Konzept auf den Dr. Kurt Faltlhauser, Staatsminister (Bayern): Markt müssen. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Erstens. Wir sprechen in allen Debatten – das war Herr Poß hat gerade den Versuch gemacht, die Geschlos- auch in der Debatte heute früh der Fall – von der drin- senheit der Union in der Steuerpolitik infrage zu stellen, genden Notwendigkeit verstärkter Eigenvorsorge in den indem er darauf hingewiesen hat, dass es einen Bericht Sozialsystemen, also bei der Gesundheits- und der Al- mit Berechnungen über die Kosten der verschiedenen tersvorsorge, durch den Bürger. Wenn wir das Thema Konzepte gibt, die auf dem Markt sind, und wie sie zu Eigenvorsorge zur Diskussion stellen und die entspre- beurteilen sind. Dieser Bericht war die Auftragsarbeit chenden gesetzlichen Rahmenbedingungen dafür schaf- der Verwaltung; der Auftrag ist von den Ministerpräsi- fen, müssen wir den Bürgern auch den Spielraum geben, denten vergeben worden. Wertungen durch die Minister diese Eigenvorsorge finanzieren zu können. sind an keiner Stelle bestätigt worden. (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Sehr richtig!) (Joachim Poß [SPD]: Aber von den Finanz- ministern gebilligt, Herr Faltlhauser!) Wir müssen zeitgleich also auch die entsprechenden Ent- lastungen auf den Weg bringen, damit die Bürger die Ich erkläre als Finanzminister des Freistaates Bayern Chance haben, finanziell Eigenvorsorge zu leisten. Wir (Joachim Poß [SPD]: Jetzt rudern Sie zurück!) brauchen ein Gesamtkonzept; ausdrücklich, dass das, was hier heute als Gegenstand (Joachim Poß [SPD]: Alterseinkünftegesetz!) der Debatte vorliegt, das Ergebnis langer Arbeit und in- denn wir können nicht etwas fordern, ohne die Voraus- tensiver Debatte zwischen CDU und CSU, zwischen setzungen dafür zu schaffen. Herrn Merz und mir, (B) Der zweite Grund betrifft den Steuerwettbewerb. (D) (Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Unsere Steuerquote liegt gegenwärtig knapp unter NEN]: Das hat es aber nicht besser gemacht, 22 Prozent; das ist richtig. Damit haben wir den Steuer- sondern schlechter!) wettbewerb aber nicht gewonnen. Irland ist mit Steuer- zwischen den Fachleuten ist. Die Union hat mit diesem sätzen von 12,5 Prozent vorgeprescht und hat diesen Papier ein intensiv diskutiertes Konzept auf dem Tisch; Körperschaftsteuersatz, der früher auf den Docks von wir haben ein Konzept. Dublin üblich war, für das ganze Land festgelegt. Litauen, Zypern und Lettland gehen ab dem 1. Mai mit Diese Bundesregierung steht dagegen mit leeren Hän- einem Körperschaftsteuersatz von 15 Prozent in den den da; das ist der eigentliche Punkt. europäischen Wettbewerb. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Herr Kollege Merz, Sie sagen, hier werde Dumping Sie hätten auch Ihre Kreativität bemühen können, Herr betrieben. Ich glaube nicht, dass das das Problem ist. Wir Poß, um ein entsprechendes Konzept nach Ihrem Gusto sind ausdrücklich für Wettbewerb innerhalb eines föde- vorzulegen. ralen Systems und damit ausdrücklich für Wettbewerb auf europäischer Ebene. Selbstverständlich gehört zu ei- (Joachim Poß [SPD]: Wir haben ein Konzept!) nem solchen Wettbewerb auch das Instrument der Steu- Der Kollege aus Schleswig-Holstein hat sich jetzt alleine ern. Das kann man doch nicht ausschließen. Ein Problem bemühen müssen und hat ein Konzept auf den Tisch ge- entsteht erst dann, wenn gleichzeitig uno actu demjeni- legt. In der wichtigen Frage der grundsätzlichen Reform gen, gegen den der Wettbewerb betrieben wird, in erheb- der Steuerpolitik hat die Opposition, sowohl die FDP lichem Maße Transferleistungen gewährt werden. Hier – ich will es inhaltlich nicht beurteilen – als auch die kommen wir in Konflikte, die unter beihilferechtlichen Union, ein Konzept auf dem Tisch. Wir stehen vor den Gesichtspunkten zu überprüfen sind. Bürgern und sagen zu ihnen: Das ist unser Angebot. Dieser Umstand, dass wir auf der einen Seite durch Zugegeben, entscheidend in diesem Zusammenhang deutlich niedrigere Steuersätze herausgefordert werden, ist zunächst die Frage der Finanzierbarkeit. Angesichts auf der anderen Seite aber deutliche Transferleistungen dessen, dass die Bundesregierung die Nettoneuverschul- gewähren, erstaunt auch die Bürger. Das müssen wir ver- dung in diesem Jahr voraussichtlich auf etwa 45 Milliar- tieft erörtern. Ich gehe davon aus, dass morgen in der den Euro erhöhen wird – zu den 29,3 Milliarden Euro, Aussprache zur EU-Erweiterung entsprechende weitere mit denen man gerechnet hat, werden bis zu 15,8 Mil- inhaltliche Vorklärungen – von Klärungen kann man liarden Euro hinzukommen –, angesichts dessen, dass nicht sprechen – getroffen werden. 9460 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. April 2004

Staatsminister Dr. Kurt Faltlhauser (Bayern) (A) Ich persönlich glaube, Frau Scheel, dass man gegen- Bevölkerung. Wenn man das alleine so stehen lässt, dann (C) wärtig keine Mindeststeuern einführen kann. ist das ein Programm zur Steuererhöhung. (Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Dr. Hermann Otto Solms [FDP]: Richtig!) NEN]: Ja, das ist richtig!) Also müssen Sie die Steuersätze uno actu und gleichzei- Dagegen spricht das Einstimmigkeitsprinzip. Das kön- tig senken. Ansonsten haben Sie kein Konzept. nen und wollen wir zum gegenwärtigen Zeitpunkt mit Sicherheit nicht aufheben. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Inzwischen zweifle ich an meiner alten Auffassung, Wir haben ein solches. Es enthält Vereinfachungen und dass wir die direkten Steuern nicht harmonisieren dürfen Senkungen. Frau Hendricks, Sie und der Finanzminister und können. können Ihre Reden von Vereinfachung wirklich verges- sen, wenn Sie nicht gleichzeitig auch bereit sind, Steuer- (Beifall des Abg. Carl-Ludwig Thiele [FDP]) senkungen durchzuführen. Ich glaube vielmehr, der Binnenmarkt insgesamt erfor- Wir haben ein Konzept vorgelegt, das Ihnen in der dert zunehmend, dass man auch die Harmonisierung der Drucksache 15/2745 vorliegt. Danach wollen wir prag- direkten Steuern betrachtet. Wir haben es uns zu leicht matisch in zwei Stufen vorgehen. Zunächst soll durch gemacht, indem wir nur die indirekten Steuern harmoni- die Steuersätze in Höhe von 12 bis 36 Prozent eine Net- siert haben. Die Harmonisierung ist eine mittel- und toentlastung von rund 10 Milliarden Euro erreicht wer- langfristige Aufgabe. Gegenwärtig kann das angesichts den. Diese Steuersätze sind später auch für eine Stufen- der niedrigen Steuersätze einiger Länder im Osten nicht lösung vorgesehen, und zwar nicht weil hier Thema sein. grundsätzliche Divergenzen bestünden, sondern weil ein linearer Tarif einfach preiswerter ist. Stufen kosten Geld; Der dritte und, wie ich meine, entscheidende Grund, das kann jeder nachrechnen. warum wir jetzt entsprechend initiativ werden müssen, ist die Verkomplizierung; Kollege Merz ist darauf Es gibt hier aber eine Differenz zu dem, was der im- schon eingegangen. Es wurden Zahlen genannt, wie mer wieder zitierte Professor Kirchhof vorgelegt hat. viele Gesetze und Verordnungen wir haben. Beispiels- Dieser hat eine Flat Tax von 25 Prozent vorgeschlagen. weise gibt es 182 Paragraphen im Einkommensteuer- Ich erkläre für mich ausdrücklich, dass ich in der sozia- recht. Ich habe mich gestern auf der traditionellen len Marktwirtschaft der Bundesrepublik Deutschland Finanzamtsvorstehertagung mit den Leitern der Finanz- eine Flat Tax für nicht vertretbar halte. ämter getroffen. Diese haben mir vorgehalten und detail- (B) liert erläutert, dass sie in vielerlei Hinsicht nicht mehr in (Beifall des Abg. Ortwin Runde [SPD] – (D) der Lage sind, das Steuerrecht, das wir haben, mit ihren Dr. Hermann Otto Solms [FDP]: Rich- Fachleuten zu vollziehen. Denn nicht nur die Gegeben- tig!) heiten des Steuerrechtes sind kompliziert und durch Für mich ist die Progression der Einkommensteuer ein diese Bundesregierung immer komplizierter geworden, Kernpunkt unseres Sozialstaatsprinzips. Andere in Eu- sondern auch die Geschwindigkeit der Änderungen hat ropa können kampfbereit ruhig eine Flat Tax einführen. sich erhöht und die Qualität des Steuerrechtes – dabei Ich bin nicht dafür. Welche Art des Anstiegs man ein- schaue ich Sie von Rot-Grün an – ist in den letzten Jah- führt – einen Stufentarif, Herr Solms, oder eine Progres- ren miserabel geworden ist. sion –, ist, wenn man von der finanziellen Wirkung ab- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) sieht, eher eine Geschmackssache. Insofern haben wir uns auf einen guten Kompromiss geeinigt. Gemäß dem Wir muten unseren Beamten eine ungeheure Arbeit zu. Vorschlag von Friedrich Merz soll in der zweiten Stufe Man hört immer wieder, dass es bei den Beamten viel dann ein Stufentarif vereinbart werden. Frustration gibt. Dies liegt vor allem an der Aufgaben- stellung und an der Geschwindigkeit, mit der die Ar- Bei der Erbschaftsteuer wollen wir die Betriebs- beitsgrundlagen geändert werden. übernehmer entlasten. Deshalb haben wir, solange das Unternehmen fortgeführt wird, eine Reduzierung der (Ortwin Runde [SPD]: Das haben sie früher Steuerbelastung um jährlich 10 Prozent in das Sofortpro- auch schon erzählt und damals kamen die gramm eingebaut. Dies ist sofort umzusetzen. Ich Steuergesetze von Ihnen!) glaube, wir haben hier ein überzeugendes Konzept vor- gelegt. Herr Kollege Runde und Herr Poß, ich höre aus Herr Eichel sagt, auch er sei für eine drastische Ver- Ihren Reihen, dass das positiv beurteilt wird. Auch von einfachung, man könne ihn sofort dabei haben. Gleich- den Finanzministern der A-Länder höre ich sehr positive zeitig sagt er aber, wir könnten uns gegenwärtig keine Reaktionen. Ja, dann machen wir es doch endlich! Drau- Nettoentlastung im Steuerrecht leisten. Dies ist ein dra- ßen gehen jährlich Arbeitsplätze verloren, weil es diese matischer Widerspruch in sich. Frau Hendricks, wenn zusätzliche Steuerbelastung aufgrund der Regelungen man vereinfachen will, dann muss man natürlich auch zur Erbschaftsteuer gibt. Die Unternehmen geben des- eine Vielzahl von Sonderregelungen – zum Beispiel die halb auf, wodurch wir Arbeitsplätze verlieren. Wir ha- Steuerbefreiungen gemäß § 3 Einkommensteuergesetz, ben keine Zeit zu verlieren. Machen Sie mit! Werbungskosten oder Sonderausgaben – beseitigen. Dies ist im Ergebnis eine Belastung für weite Teile der (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. April 2004 9461

Staatsminister Dr. Kurt Faltlhauser (Bayern) (A) Voraussetzung dafür ist aber, dass Sie diese Gelegen- senkung der Gewerbesteuerumlage zumindest einen ers- (C) heit nicht nutzen, um aus ideologischen Gründen bei der ten Schritt getan. Erbschaftsteuer insgesamt wieder draufzupacken. Frau Wir wollen die Einnahmen der Kommunen verlässli- Hendricks, wir brauchen uns nicht darüber zu wundern, cher machen und gleichzeitig die Substanzbesteuerung wenn beim Gang über die Brücke in die Steuerehrlich- der Unternehmen beseitigen. Das wollen wir gemeinsam keit Zögerlichkeiten festzustellen sind. Auch ich würde mit den Kommunen machen. Ich kann nur an die Ge- nicht zurückkommen, wenn es ständig Drohungen gäbe, meinden appellieren, dass sie – lassen Sie es mich so dass die Erbschaftsteuer doch noch erhöht wird. ausdrücken – ihre Konsumentenhaltung überdenken. Sie (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) dürfen nicht nur warten, welches Konzept kommt, und nachrechnen, was es für sie für Konsequenzen hat, um Sie haben hier eine Chance. Ergreifen Sie sie bitte! Wir dann erst zu handeln. Auch von dieser Seite muss mehr machen dann mit. politische Kreativität kommen. Bei Erstellung dieses Gesamtkonzepts sind wir jede (Christian Freiherr von Stetten [CDU/CSU]: einzelne Position – auch des § 3 Einkommensteuerge- Das ist richtig!) setz – durchgegangen. Das war kein einfacher Job. Das heißt, die Union, CDU und CSU, hat zu einer sehr tief Uns bleiben noch zwei Jahre, um unsere Hausaufga- greifenden Übereinstimmung bei vielen Details gefun- ben zu erledigen. Dann wird ein über den heutigen An- den. Auf diese Weise sind wir in der Lage, schnell ge- trag hinausgehendes Gesamtkonvolut an steuerlicher setzgeberisch tätig zu werden. Konzeption vorliegen, wie es in der Nachkriegsge- schichte dieses Landes noch nie der Fall war. Die Um- Wir haben uns dabei drei Aufgaben gestellt: Erstens. setzung wird zügig erfolgen. Ich bin zutiefst davon über- Wir wollen ein einheitliches, zusammenhängendes und zeugt, dass uns der Wähler dafür den Auftrag gibt. systematisches Einkommensteuerrecht vorlegen. Es gibt Dieses Land wird dann beim Steuerrecht wieder wettbe- zwar bereits eine Vorlage auf der Basis des Kölner Kon- werbsfähig werden. Dies wird den Anstoß für einen zeptes, aber auch die dortigen Experten meinen, dass es Ruck in diesem Land geben, damit es zu einem vernünf- noch weiterentwickelt und vertieft werden muss. In zwei tigen Wachstum kommt und wir wieder Politik machen Jahren wird mit Sicherheit ein Gesamtkonzept auf dem können. Tisch liegen, Herr Kollege Merz, das dann schnell um- gesetzt werden kann. Ich bedanke mich. Zweitens. Wir müssen die Unternehmensbesteue- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) rung angehen. Dabei wollen wir am Dualismus von (B) progressiver Einkommensteuer und proportionaler Kör- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: (D) perschaftsteuer festhalten. Ziel muss sein, die Besteue- Das Wort hat jetzt die Parlamentarische Staatssekretä- rungsrechtsform und Finanzierungsneutralität unter Be- rin Barbara Hendricks. rücksichtigung der europäischen und internationalen Entwicklungen sicherzustellen. Dabei sind eine Reihe Dr. Barbara Hendricks, Parl. Staatssekretärin beim von Vorgaben zu berücksichtigen. Ich nenne hier nur das Bundesminister der Finanzen: Wahlrecht zwischen Einnahmeüberschussrechnung und Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol- Steuerbilanzierung. Das Steuerbilanzrecht muss unter legen! Herr Kollege Faltlhauser, ich stimme Ihnen in Ih- Lösung von handelsrechtlichen Maßgeblichkeiten ver- rer Bewertung des europäischen Steuersystems zu. Ich selbstständigt und neu gefasst werden. Eine steuerliche stimme in Ihrer Aussage zur Flat Tax zu. Ich widerspre- Gewinnermittlung auf der Grundlage von IAS oder IFRS che Ihrer Aussage, dass aufgrund der Erbschaftsteuer halten wir – das wurde vorgeschlagen – für nicht vertret- täglich Arbeitsplätze verloren gehen. Ich will damit bar. Das würde dieses Land und die hiesigen Betriebe nicht die Reformbedürftigkeit der Erbschaftsteuer in Ab- mit Sicherheit überfordern. rede stellen. Aber es gibt in der Bundesrepublik Diese Aufgabenstellung hat in diesem Land weder Deutschland keinen einzigen Nachweis dafür, dass auf- diese Bundesregierung noch ein Verband – auch wir grund der Erbschaftsteuer ein Unternehmen in Konkurs noch nicht – in der grenzüberschreitenden Komplexität gegangen ist. Darum widerspreche ich dieser Aussage abschließend gelöst. Herr Merz, wir haben uns zwei sehr deutlich. Das darf so nicht stehen bleiben. Jahre Zeit dafür gegeben, um diese Probleme mithilfe (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ der entsprechenden Experten zu lösen, damit wir auch in DIE GRÜNEN – Widerspruch bei der CDU/ diesem Bereich ein international wettbewerbsfähiges CSU) Steuerrecht für die Unternehmen schaffen können. Ich habe in vielen Debatten darum gebeten, mir ein Drittens. Die letzte Hausaufgabe ist die Gemeindefi- Beispiel dafür vorzulegen, aber es hat mir noch keiner nanzreform. Dazu gehört auch die Reform der Gewer- ein Beispiel nennen können. Wir haben auch entspre- besteuer, die man nur noch als Fossil bezeichnen kann. chende Umfragen bei den Landesfinanzverwaltungen Man kann die Finanzierungsprobleme der Kommunen, gemacht. Dabei sind wir zu dem Ergebnis gekommen: die wir sehen und anerkennen, nicht dadurch lösen, dass Es gibt kein Beispiel. man sich bei der Substanzbesteuerung der Unternehmen schadlos hält. Das ist zu einfach. Das haben wir verhin- (Hans Michelbach [CDU/CSU]: Der Mittel- dert. Wir haben durch das Sofortprogramm und die Ab- stand stirbt leise!) 9462 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. April 2004

Parl. Staatssekretärin Dr. Barbara Hendricks (A) Das heißt nicht, dass man sich dieses Themas nicht an- Sie haben erklärt, dass es keinen Fall gäbe, in dem der (C) nehmen sollte; das will ich gar nicht bestreiten. Aber für Zusammenhang mit der Erbschaftsteuer nachgewiesen Ihre Behauptung gibt es keinen Beleg. werden könne. Sie können sich vorstellen, dass die meis- ten Unternehmen im Plenum nicht öffentlich genannt Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: werden wollen. Das ist berechtigt, denn man möchte sich Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kalb? nicht öffentlich vorführen lassen. Einen Fall kennen wir alle: Müller-Milch. Herr Müller hat sein Verhalten aus- drücklich mit der Erbschaftsteuer begründet, egal ob wir Dr. Barbara Hendricks, Parl. Staatssekretärin beim das für richtig oder falsch halten. Bundesminister der Finanzen: Ja, bitte. Aus dem Bundesland Nordrhein-Westfalen, in dem wir beide zu Hause sind, könnte ich Ihnen ohne jedes Bartholomäus Kalb (CDU/CSU): Problem an die 20 große Familiengesellschaften und Un- Frau Staatssekretärin, würden Sie bitte zur Kenntnis ternehmen nennen, die alle genau aus diesem Grunde nehmen, dass beim Generationenübergang die Investiti- Vorkehrungen getroffen haben und mittlerweile Firmen- onskraft insbesondere der besser situierten Unternehmen sitze und Holdingsitze etc. ins benachbarte Ausland, am stärksten geschwächt wird und damit tagtäglich die nach Belgien, in die Schweiz oder nach Österreich, ver- Schaffung von Arbeitsplätzen verhindert bzw. der Ver- legt haben. Erwecken Sie doch nicht den Eindruck, als lust von Arbeitsplätzen eingeleitet wird? gäbe es diese Absetzbewegung wegen unserer Erb- schaftsteuer nicht! Sie müssen es besser wissen. Dr. Barbara Hendricks, Parl. Staatssekretärin beim Bundesminister der Finanzen: Dr. Barbara Hendricks, Parl. Staatssekretärin beim Herr Kollege, ich will gar nicht bestreiten, dass die Bundesminister der Finanzen: Belastung mit der Erbschaftsteuer die Investitionskraft Herr Kollege Schauerte, ich widerspreche nicht Ihrem im fortgeführten Unternehmen schmälert. Das ist doch Eindruck, dass sehr viele Unternehmen alle möglichen keine Frage. Ich habe auch nicht in Abrede gestellt, dass Anstrengungen unternehmen, um keine Erbschaftsteuer wir diesbezüglich Überlegungen anstellen sollten. Ich zahlen zu müssen. Es gibt aber viele Steuerberater und bin wirklich dafür, sich das gründlich anzusehen. Ich Wirtschaftsprüfer, die sagen, das sei auch ohne Sitzver- habe die Reformnotwendigkeit nicht in Abrede gestellt. legung legal möglich; man müsse in Deutschland nicht Ich habe nur der Behauptung widersprochen, dass täg- zwingend Erbschaftsteuer zahlen. lich Arbeitsplätze wegen der Erbschaftsteuer verloren (B) gehen, weil das nicht stimmt. Es gibt eine zehnjährige Ich widerspreche auch nicht der Aussage von Herrn (D) Stundung. Selbstverständlich werden Stundungen von Müller, dem Inhaber des Familienunternehmens Müller- der Finanzverwaltung verlängert, wenn es sonst zur In- Milch, dass er nicht bereit sei, seine neun Kinder solvenz des Unternehmens käme. 200 Millionen Euro Erbschaftsteuer zahlen zu lassen. (Hans Michelbach [CDU/CSU]: Es ist die Das bedeutet aber nicht, dass das Unternehmen Müller- Kombination der Belastungen!) Milch in Gefahr geraten wäre, Es ist doch alles Unsinn, was Sie hier behaupten. Man (Hans Michelbach [CDU/CSU]: Doch!) muss wirklich keinen Unsinn behaupten, um möglicher- weise eine gemeinschaftliche Initiative zur Erbschaft- wenn seine neun Kinder die insgesamt 200 Millionen steuer befördern zu wollen. Euro Erbschaftsteuer mit den entsprechenden Freibeträ- gen und über zehn Jahre verteilt hätten entrichten müs- (Hans Michelbach [CDU/CSU]: Wenn keine sen. Zum Vergleich: Das Unternehmen Müller-Milch ist Investitionen stattfinden, dann kostet das Ar- in der Lage, jedes Jahr für Öffentlichkeitskampagnen beitsplätze!) 100 Millionen Euro auszugeben. Ich bin gerne dazu bereit, aber man sollte keine überzo- genen Äußerungen machen, die nicht stimmen. (Christian Freiherr von Stetten [CDU/CSU]: Das ist Werbung!) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Sind dann 200 Millionen Euro, verteilt auf neun Kinder und über zehn Jahre, vielleicht nicht doch zu erwirt- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: schaften? Gestatten Sie eine zweite Zwischenfrage? (Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Das ist ein törichter Vergleich! Solche Leute sind im Dr. Barbara Hendricks, Parl. Staatssekretärin beim Finanzministerium!) Bundesminister der Finanzen: Ja. Wäre das Unternehmen deswegen in seiner Existenz be- droht, ja oder nein? Diese Frage stellt sich doch. Hartmut Schauerte (CDU/CSU): (Beifall bei der SPD – Dr. Peter Ramsauer [CDU/ Auch ich möchte Ihnen zum Geburtstag gratulieren. CSU]: Da muss der Poß klatschen!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. April 2004 9463

(A) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: rungen – das geltende Recht sehr leicht zu erklären und (C) Offensichtlich reizen Sie die Kollegen zu vielen Zwi- auch zu vollziehen ist. schenfragen. Mehr als drei werde ich in einer kurzen (Joachim Poß [SPD]: So ist es!) Rede nicht zulassen. Wenn Sie das aber möchten, bitte. (Joachim Poß [SPD]: Die wollen alle gratulie- Erfreulicherweise werden in Nordrhein-Westfalen schon ren!) Modellversuche durchgeführt. In der steuerpolitischen Reformdebatte wäre demnach Hans Michelbach (CDU/CSU): schon viel gewonnen, wenn die Opposition den Bürge- Ich verstehe nicht, warum Sie sich an Ihrem Geburts- rinnen und Bürgern zwei Sachverhalte ehrlich nennen tag so echauffieren. würde. Erstens. Das Steuerrecht ist im Wesentlichen des- halb komplex, weil teilweise vielschichtige Lebenssach- (Rezzo Schlauch, Parl. Staatssekretär: Wer verhalte zu berücksichtigen sind. Das macht Vereinfa- echauffiert sich denn?) chungen schwierig. Ich nenne nur als Beispiel, dass Sie Können Sie nachvollziehen, dass es einem Unterneh- in einem der letzten Steuergesetzgebungsverfahren um mer wie Herrn Müller sehr schwer gefallen ist, so in die einbringungsgeborene Anteile für Personengesellschaf- öffentliche Diskussion zu kommen? Herr Müller konnte ten im Einkommensteuerrecht gekämpft haben. Wahr- nachweisen, dass er im Wettbewerb mit den Großkon- scheinlich können die wenigsten von Ihnen erklären, zernen, die keine Erbschaftsteuer zahlen müssen, die worum es sich dabei handelt. Aber es haben auch nur die notwendige Expansion am Markt nicht leisten konnte wenigsten mit einbringungsgeborenen Anteilen im Ein- kommensteuerrecht zu tun, auch wenn es sich dabei um (Joachim Poß [SPD]: Er konnte sich seine eine wichtige, komplizierte Materie handelt. Spendenaffäre leisten!) Eine Reform des Steuerrechts darf nicht nur unter und durch die Investitionen, die er in den neuen Bundes- dem Gesichtspunkt der Vereinfachung durchgeführt ländern getätigt hat, in Verbindung mit dem Kapitalab- werden. Denn eine Vereinfachung bedeutet noch lange fluss durch eine Erbschaftsteuerzahlung in große finan- nicht, dass die Reform auch gerecht oder gesellschaftlich zielle Schwierigkeiten gekommen wäre. Das hat er wünschenswert ist. Deswegen haben sich die Finanz- nachgewiesen. Ich bitte Sie deshalb, Herrn Müller zu minister den Vorschlag ihrer Steuerabteilungsleiter zu verstehen, Eigen gemacht, Herr Kollege Faltlhauser, und sind bei (Joachim Poß [SPD]: Wieder so eine lange ihrer gründlichen Bewertung zu dem Ergebnis gekom- Frage! Fragen Sie doch mal!) men, dass es kein Patentrezept für eine grundsätzliche Vereinfachung des Steuerrechts gibt. (B) dass er dieses Anliegen – (D) Keines der derzeit diskutierten Modelle erfüllt die an Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: eine echte Steuerreform anzulegenden Kriterien. Das ist nicht zuletzt auf die teilweise enormen Mindereinnah- Herr Kollege, was ist Ihre Frage? men zurückzuführen, die trotz der Verbreiterung der Be- messungsgrundlage unterm Strich verbleiben würden. Hans Michelbach (CDU/CSU): Das gilt insbesondere für das Konzept der Opposition. – im Gegensatz zu vielen anderen mittelständischen Mit den von der CDU/CSU selbst errechneten Steuer- Unternehmern öffentlich vorgebracht hat. mindereinnahmen in Höhe von 10,7 Milliarden Euro bei voller Jahreswirkung wird die unabdingbare Aufkom- Dr. Barbara Hendricks, Parl. Staatssekretärin beim mensneutralität, auf die alle öffentlichen Haushalte zu- Bundesminister der Finanzen: mindest gegenwärtig achten müssen – das muss nicht Herr Kollege Michelbach, meine Beurteilung des unbedingt für alle Zeiten gelten –, verfehlt. Vorgangs habe ich gerade dargelegt. Ich kann nicht Die kurzfristige Kassenwirkung würde sogar noch zu nachvollziehen, dass es Herrn Müller schwer gefallen weitaus höheren Steuerausfällen in einer Größenordnung ist, sein Anliegen in der Öffentlichkeit darzulegen; denn von 16 Milliarden Euro in den Jahren 2005 und 2006 er ist selber mit einem Interview an die Öffentlichkeit führen. Es liegt auf der Hand, dass das nicht hinnehmbar getreten. ist. (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Christine Das von der Union vorgelegte Konzept hätte zudem Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Mit – das gilt auch für die anderen so genannten radikalen mehreren! – Joachim Poß [SPD]: Man sollte Konzepte beispielsweise von Herrn Kirchhof und Herrn auch sagen: Das CSU-Mitglied Müller ist sel- Solms – hochgradig problematische Verteilungswirkun- ber an die Öffentlichkeit gegangen!) gen zur Folge. Von den Entlastungen würden Spit- Kritik am Steuersystem ist immer wohlfeil. Die Op- zenverdiener weit überproportional profitieren; die position kann zwar immer wieder versuchen, den Bürge- Finanzierung hingegen bliebe zum guten Teil den Ar- rinnen und Bürgern einzureden, das Steuersystem sei un- beitnehmerinnen und Arbeitnehmern mit niedrigerem verständlich oder ungerecht. Aber dabei darf natürlich oder mittlerem Einkommen überlassen. Wenn es nach nicht die wichtige Tatsache außer Acht gelassen werden, der CDU/CSU geht, dann zahlen also die kleinen Leute dass bei den einfachen Lebenssachverhalten – das be- die Zeche, und zwar in dreifacher Hinsicht. Erstens trifft die Masse aller Steuerpflichtigen und Steuererklä- profitieren sie nicht von der massiven Senkung der 9464 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. April 2004

Parl. Staatssekretärin Dr. Barbara Hendricks (A) Spitzensteuersätze. Zweitens sollen sie auf steuerliche Plus von 12 Euro im Jahr 2005 statt eines Minus von (C) Vergünstigungen verzichten. Drittens sollen sie sich an 3 000 Euro im Jahr 1998 für eine Arbeitnehmerfamilie den Lasten einer höheren Verschuldung beteiligen. Für mit zwei Kindern! Das soll uns erst einmal jemand nach- so eine Art Reform stehen wir nicht zur Verfügung. machen. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Ich stelle demgegenüber fest: Die Bundesregierung tritt natürlich für Steuervereinfachung und mehr Trans- Im Unternehmensteuerbereich hat sich ebenfalls parenz im Steuerrecht ein. Hierbei sind aber klare Vorga- Entscheidendes getan. Seit 2001 haben wir ein europa- ben zu beachten. Erstens. Eine Steuerreform muss für taugliches, deutlich vereinfachtes und international wett- den Staat finanzierbar sein. Zweitens. Sie muss sozial bewerbsfähiges Unternehmenssteuerrecht. Die Körper- gerecht sein. Drittens muss sie die Europatauglichkeit schaftsteuer haben wir auf 25 Prozent für thesaurierte des Steuersystems verbessern und zu einer besseren und ausgeschüttete Gewinne reduziert. Zur Erinnerung: Position im internationalen Steuerwettbewerb führen. In der Zeit, als Sie die Regierungsverantwortung hatten, lagen die Steuersätze bei 45 und 30 Prozent. Mit dem Aus guten Gründen hat daher kürzlich die Minister- neuen Halbeinkünfteverfahren haben wir auch in Europa präsidentenkonferenz den Finanzministern den Auftrag Maßstäbe gesetzt. Italien hat das System bereits über- erteilt, die Konsenspunkte der unterschiedlichen Re- nommen. Frankreich wird dem Beispiel wohl folgen. formkonzepte herauszufiltern. Sollten sich auf diesem Weg Reformperspektiven eröffnen, bei denen alle drei In Zukunft werden wir weiter daran arbeiten, das Vorgaben, die ich eben nannte, erfüllt sind und bei denen deutsche Steuerrecht internationalen Gegebenheiten und auch die Aussicht auf politische Durchsetzbarkeit be- Standards anzupassen. Unter anderem wird das Außen- steht, werden wir uns dem sicherlich nicht verschließen. steuerrecht entsprechend zu reformieren sein. Außerdem wollen wir das EG-Recht künftig aktiver – so weit das in Die von einem langen propagandistischen Vorlauf be- unseren Möglichkeiten liegt; wir sind hier ja schon im- gleiteten Steuerpläne von CDU und CSU sind daneben mer aktiv gewesen – in die Richtung beeinflussen, wie ein vergeblicher Versuch, davon abzulenken, dass sich sie vorhin von Herrn Faltlhauser angesprochen worden seit 1999 in der Steuerpolitik sehr viel zum Positiven ist, nämlich eine Verknüpfung mit den Infrastrukturför- entwickelt hat. dermitteln herzustellen, die nicht nur die neuen EU-Län- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der, sondern auch die bisherigen Mitglieder der EU er- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Wi- halten. derspruch des Abg. Dr. Hermann Otto Solms (B) Die Bundesregierung hat im Übrigen auf dem Feld (D) [FDP]) der Subventionen, das sie alleine beeinflussen kann und Die Bundesregierung hat mit ihrer Steuerreform 2000 auf dem sie nicht durch Ihre Mehrheit im Bundesrat be- das größte Steuersenkungsprogramm in der Geschichte hindert werden kann, Wesentliches geleistet. Von 1998 der Bundesrepublik umgesetzt. 2005 wird der Eingangs- bis 2004 werden die Finanzhilfen von 11,4 Milliarden steuersatz bei der Einkommensteuer, der im Jahre 1998 Euro auf knapp unter 7 Milliarden Euro, also um rund noch bei 25,9 Prozent lag – das fiel in Ihre Regierungs- 4,4 Milliarden Euro bzw. knapp 40 Prozent gesenkt. verantwortung –, auf 15 Prozent gesunken sein. Das ist 40 Prozent weniger Subventionen als bei der Regie- ein historischer Tiefstand. Von 2005 an wird der Spitzen- rungsübernahme! Im Finanzplan bis 2007 ist ein weite- steuersatz 42 Prozent betragen. 1998, also vor knapp rer Abbau auf weniger als die Hälfte vorgesehen. sechs Jahren, als Sie in der Regierungsverantwortung Das, was die Opposition auf diesem Gebiet zu bieten waren, lag er noch bei 53 Prozent. Insgesamt sorgt die hat, gleicht eher einem Trauerspiel. Von der im ur- Steuerreform 2000 für Entlastungen in Höhe von rund sprünglichen Konzept vom Kollegen Merz noch vorge- 32 Milliarden Euro bis 2005, und zwar nicht einmalig, sehenen „radikalen Streichung steuerlicher Vergünsti- sondern Jahr für Jahr. gungen“ ist kaum mehr etwas übrig geblieben. Selbst die (Dr. Michael Meister [CDU/CSU]: Hätten Sie wohnungsbaupolitisch verfehlte und ökologisch frag- die Vereinbarung auf dem Petersberg nicht würdige Eigenheimzulage soll unangetastet bleiben. blockiert, wären wir heute weiter!) (Beifall des Abg. Christian Freiherr von Wir haben damit nicht nur im historischen, sondern Stetten [CDU/CSU]) auch im internationalen Vergleich sehr niedrige Steuer- – Daran können Sie sehen, wie mutig Sie sind und wie sätze. Um das an zwei ganz konkreten Beispielen deut- modern Ihr Steuerrecht in einer Zeit ist, in der es Leer- lich zu machen: Ein Lediger mit einem Einkommen von stände nicht nur in den neuen Bundesländern, sondern 25 000 Euro zahlte 1998 noch 4 700 Euro Steuern. 2005 sogar auch in ländlichen und städtischen Räumen im wird er nur noch 3 600 Euro zahlen. Er hat also 1 100 Euro Westen unserer Republik gibt. mehr in der Tasche. Eine Arbeitnehmerfamilie mit zwei Kindern und einem Einkommen von 37 500 Euro wurde CDU und CSU können mit dem heute vorgelegten 1998 unter Einbeziehung des Kindergeldes noch mit Antrag kaum überdecken, dass sie eigentlich keine ge- 3 000 Euro belastet. 2004 zahlt sie unter Einbeziehung meinsame finanzpolitische Position haben. Sonntags tra- des Kindergeldes nur noch knapp 60 Euro. Von 2005 an fen sich die Präsidien der beiden Parteien. Der Berg bekommt sie unter dem Strich sogar 12 Euro heraus. Ein kreißte und gebar eine Maus, die er „Konzept 21“ Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. April 2004 9465

Parl. Staatssekretärin Dr. Barbara Hendricks (A) nannte. Bekanntlich haben Mäuse kein sehr langes Le- Hoffnung, dass wir noch in dieser Legislaturperiode (C) ben. Steuersenkungen, Steuergerechtigkeit und Einfachheit durchsetzen können, wenn alle Fraktionen mitarbeiten. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Vonseiten der Regierungskoalition höre ich immer wieder, dass sie nicht bereit ist, diesen Weg zu gehen. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Unser Angebot bleibt bestehen. Ich freue mich, dass die Frau Kollegin Hendricks, Sie sind mittlerweile schon CDU/CSU als gemeinsame Fraktion jetzt, nach sicher- mehrfach mit Glückwünschen bedacht worden. Nun lich schwierigen Diskussionen zwischen den beiden Par- möchte auch ich Ihnen im Namen des ganzen Hauses teien, hier Thesen vorlegt, die in dieselbe Richtung ge- herzlich gratulieren. Das hätte ich gerne vorher gemacht; hen wie unsere Vorstellungen. Auf dieser Basis lässt sich leider wusste ich es aber nicht. Umso herzlicher ist mein ein gemeinsames Reformkonzept durchsetzen. Glückwunsch. (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Richtig!) (Beifall) Herr Kollege Faltlhauser, ich bedanke mich auch bei Ih- Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Otto Solms. nen, dass Sie daran mitgewirkt haben. In diesem Zusammenhang möchte ich auf einige Pro- Dr. Hermann Otto Solms (FDP): bleme im Zeitablauf hinweisen. Es ist so, dass wir keine Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Zeit mehr verlieren dürfen. Wenn es in dieser Legislatur- Herren! Jeden Monat, beinahe jede Woche müssen wir periode wegen der Haltung der Koalitionsfraktionen, der diese Debatte führen. Die gesamte Fachwelt in Deutsch- SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen, zu einer ge- land, alle steuerpflichtigen Bürger in Deutschland, die meinsamen Reform also nicht mehr kommt – nach dem, Steuerverwaltung – alle wissen, dass es mit diesem cha- was Frau Kollegin Hendricks gesagt hat, müssen wir da- otischen Steuerrecht so nicht weitergehen kann. von ausgehen –, (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Nach dem, was Herr Poß gesagt hat, auch!) Das Steuerrecht ist zu kompliziert, die Steuerbelas- tung ist zu hoch, die Steuergerechtigkeit ist grundsätz- dann müssen wir sofort nach der gewonnenen Bundes- lich verletzt. Nur die Bundesregierung hat das noch nicht tagswahl handlungsfähig sein. Diese Wahl findet verstanden und deswegen kommen wir nicht voran. Das Ende 2006 statt. ist ganz einfach. (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Oder früher!) (B) (D) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Eine solche Reform kann also frühestens zum Frau Kollegin Hendricks, Sie wissen so gut wie ich: 1. Januar 2008 in Kraft treten. Das wird aber nur gelin- Wenn damals, nach den Petersberger Beschlüssen, gen, wenn wir konzeptionell so weit vorbereitet sind, dass die Gesetzgebungsarbeit bis Mitte 2007 erledigt ist. (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Ja!) Deswegen müssen die Vorbereitungen jetzt getroffen die vom Bundestag beschlossene Reform vom Bundes- werden, und zwar mit konkreten Ergebnissen; sonst rat, dem der damalige hessische Ministerpräsident, Ihr schaffen wir das nicht. heutiger Finanzminister, angehörte, nicht blockiert wor- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) den wäre, dann hätten wir seit dem 1. Januar 1998 einen Spitzensteuersatz von 39 Prozent. Herr Kollege Faltlhauser, ich habe, was den Zeitplan und die Prioritäten anbetrifft, ein Problem. Ich glaube, (Heinz Seiffert [CDU/CSU]: Man muss sich dass die Gemeindefinanzreform als Erstes auf den Weg das einmal vorstellen!) gebracht werden muss; denn die Abschaffung oder die Ersetzung der Gewerbesteuer ist der Schlüssel zur Also: Rühmen Sie sich der 42 Prozent, die im nächsten Steuervereinfachung. Die Gewerbesteuer ist ein Fremd- Jahr gelten sollen, nicht! Ihre Politik hat uns viele Jahre körper in unserem Steuerrecht und passt auch in das eu- Geld gekostet. Alle Bürger müssen das bezahlen und da- ropäische Steuerrecht überhaupt nicht hinein. für tragen Sie die Verantwortung. Wir brauchen also eine gemeindefreundliche Ersatz- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) finanzierung. Die können wir nur gemeinsam finden. Ich möchte auf die Notwendigkeiten zurückkommen. Das wird nicht nur über einen Zuschlag zur Einkommen- Wir haben hier am 12. Februar ein ausformuliertes, und Körperschaftsteuer möglich sein; vielmehr brauchen neues Einkommensteuergesetz eingebracht. Es hat in der wir eine deutliche Erhöhung des Anteils der Gemein- Fachwelt hohe Anerkennung gefunden. Wir haben in ei- den an der Umsatzsteuer, nem Wettbewerb sogar einen Preis von 40 000 Euro ge- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten wonnen. Ich glaube, das ist in der Geschichte der Bun- der CDU/CSU) desrepublik noch keiner Partei gelungen. Diese Einbringung war eine Aufforderung an alle Fraktionen damit die Gemeinden eine gleichmäßig fließende ver- dieses Hauses, sich dieser elementar notwendigen Auf- lässliche Steuerquelle erhalten. Der Verteilungsschlüssel gabe zu stellen. Das war keine Aktion der Opposition, kann wirtschaftsbezogen und damit wirtschaftsfreund- um sich zu profilieren. Das geschah vielmehr in der lich ausgestaltet werden. 9466 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. April 2004

Dr. Hermann Otto Solms (A) Darüber müssten wir uns am schnellsten einigen. Das – Das hat uns der Bundesfinanzminister vorgerechnet. – (C) ist aber – das weiß ich genau; wir haben uns mit dieser Ich habe es nachgerechnet. Es stimmt. Darin ist die Kir- Frage intensiv beschäftigt – das Schwierigste von allem. chensteuer noch nicht einmal enthalten. (Heinz Seiffert [CDU/CSU]: Ja!) Wenn Sie hören, welche Steuersätze in Estland oder Ich fordere Sie auf, mit uns gemeinsam ein Konzept in der Slowakei – 19 Prozent – oder jetzt in Österreich dazu vorzulegen, damit wir dann ohne Gewerbesteuer – etwas über 20 Prozent – vorgeschlagen werden, erken- ein wirklich einfaches Steuerrecht realisieren können. nen Sie, wo wir im Steuerwettbewerb liegen. Wettbe- werb ist im Gegensatz zu der Auffassung der verehrten Die Gemeinden sind für unsere wirtschaftliche Ent- Kollegin Frau Scheel kein Dumping, sondern Wettbe- wicklung von fundamentaler Bedeutung. werb ist das Bemühen um die besten Bedingungen. (Beifall bei Abgeordneten der FDP) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Die Gemeinden haben heute kein Geld. Da herrscht die blanke Not. Dringend erforderliche Reparaturarbeiten an Herr Kollege, achten Sie bitte auf die Zeit. Schulen, Kindergärten, Sportstätten, Krankenhäusern und Straßen werden mangels ausreichender Finanzaus- Dr. Hermann Otto Solms (FDP): stattung nicht vorgenommen. Gelder für Jugendarbeit Wir müssen uns diesem Wettbewerb stellen, sonst werden gestrichen. Büchereien, Sportstätten, Museen werden wir keinen Erfolg haben. Dazu haben wir unsere und Theater werden geschlossen. Eintrittsgelder für ver- Vorschläge gemacht. bleibende kommunale Einrichtungen werden – bei ver- kürzten Öffnungszeiten – erhöht. Die Gemeinden haben Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. mit ihrem Auftragsverhalten für das örtliche Gewerbe (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) eine fundamentale Bedeutung. Wenn wir sie nicht in die Lage versetzen, wieder vernünftige Haushalte zu gestal- ten und Ausgaben zu tätigen, werden wir auch die regio- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: nale Wirtschaftskraft nicht stärken. Dieser Zusammen- Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Kerstin Andreae. hang ist zu sehen. Wenn das nicht gelingt, dann bricht uns die Basis, der Kerstin Andreae (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): kleine Mittelstand und das Gewerbe, weg. Auf diesem Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Weg befinden wir uns gerade. Wenn Sie das nicht erken- Herren! Herr Solms, ich gebe Ihnen darin Recht, dass die nen und nicht bereit sind, zu Lösungen zu kommen, dann Finanzausstattung der Gemeinden der entscheidende (B) sehe ich für die weitere wirtschaftliche Entwicklung Punkt ist, an dem wir beginnen sollten. Dabei will ich (D) schwarz. darauf hinweisen, dass wir im letzten Herbst in Zusam- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten menarbeit mit den Kommunen ein Modell vorgestellt ha- der CDU/CSU) ben, das gewährleisten soll, dass die Finanzstruktur der Kommunen verbessert wird. Da nützt es auch nichts, wenn Sie uns neue Zahlen nen- nen, was die Exporterfolge anbetrifft; denn die Export- Wenn ich lese, dass die CDU/CSU in ihrem „Kon- statistik sagt überhaupt nichts darüber aus, wo die Wert- zept 21“ diese Gemeindefinanzreform in enger Ab- schöpfung stattgefunden hat. Die Wertschöpfung findet stimmung mit den Kommunen vornehmen will, dann er- in immer größerem Maße in ganz anderen Ländern und gibt sich für mich daraus schon die Frage, wo Sie von nicht in der Bundesrepublik Deutschland statt. der CDU/CSU im letzten Herbst waren, als auch die Bürgermeisterinnen und Bürgermeister Ihrer Parteien Lassen Sie mich zum Abschluss noch etwas sagen, diese Gemeindefinanzreform einschließlich der Moder- weil ich eine bestimmte Diskussion leid bin. Sie halten nisierung der Gewerbesteuer forderten. Wo waren Sie uns immer vor, wir hätten in Deutschland die niedrigste da? Sie haben sie im Regen stehen lassen. Auch das ist Steuerquote. Entscheidend ist die Belastung des Gewer- ein Grund, warum die Finanzlage der Gemeinden noch bes, der Wirtschaft, insbesondere des Mittelstandes. immer so desaströs ist. Dazu hat uns interessanterweise der Bundesfinanzminis- ter Eichel am 24. März dieses Jahres in einem Brief an (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- die Fraktionsvorsitzenden in diesem Haus im Zusam- SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD – Wi- menhang mit der Frage der Abgeltungsteuer mitgeteilt, derspruch bei Abgeordneten der CDU/CSU) dass eine Abgeltungsteuer nicht möglich sei, weil sie zu einer Besserbehandlung der Kapitaleinkünfte gegenüber Sie plädieren jetzt für eine wirtschaftskraftbezogene dem investierten Kapital führen würde. Er hat geschrie- Gemeindesteuer. Es bleibt völlig im Leeren, was Sie ei- ben: Erträge aus Fremdkapital, also Zinsen, wären nur gentlich wollen. Das ist insgesamt das Problem dieses mit der niedrigeren Abgeltungsteuer belastet, zum Bei- Konzeptes 21. Es bewegt sich in einem Bereich von me- spiel 30 Prozent, während Erträge aus Eigenkapital dientauglichen Halbwahrheiten. Es ist halbkonkret. An – jetzt kommt es – selbst nach In-Kraft-Treten der letz- vielen Stellen bleibt offen, was genau Sie wollen und ten Stufe der Steuerreform 2000 ab dem Jahr 2005 mit wie Sie es machen wollen. bis zu 52,24 Prozent belastet blieben. (Dr. Michael Meister [CDU/CSU]: Da fehlt (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Das hat der die ordentliche Redevorbereitung, nicht das geschrieben?) Konzept!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. April 2004 9467

Kerstin Andreae (A) Die Frage, die das Konzept wirklich verschleiert, ist die Sie halten es sich offen, Sie werden nicht konkret. Es (C) Art und Weise der Gegenfinanzierung. Am Schluss die- hört sich zwar schön an, wenn Sie sagen, Sie wollten al- ses Konzeptes findet sich ja ein Finanztableau, aller- les einfacher machen und die Tarife senken. Aber wenn dings nur für das Sofortprogramm. Da kommen Sie auf es darauf ankommt, bleibt es unklar. die besagten 10 Milliarden. Das DIW hat Ihr Konzept durchgerechnet und sagt, es kostet 13 Milliarden. Das (Zuruf von der CDU/CSU: Schauen Sie doch Finanzministerium spricht von 16 Milliarden. Wir wer- einmal in das Konzept hinein!) den nachher – es ist ja interessant, dass auch Herr Merz Ein weiterer Punkt noch, der mir besonders wichtig gesagt hat, dass man das im Gesamtkontext sehen ist: die Familienpolitik. Sie sprechen davon, dass die müsse – Kinderfreibeträge und das Kindergeld erhöht werden (Zuruf von der CDU/CSU: Natürlich!) sollen. Seit 2001 haben wir in Deutschland 180 Mil- liarden Euro für familienpolitische Leistungen und eine Debatte über den Gesamtkontext Ihrer Reformen Maßnahmen ausgegeben. Trotzdem haben wir ein führen. Herr Seehofer spricht davon, dass im Gesamt- Demographieproblem. Ich behaupte, dass das Demo- kontext Kosten in Höhe von 100 Milliarden Euro entste- graphieproblem, also die mangelnde Bereitschaft, heute hen. Dass Sie ein Konzept haben, wie Sie das gegenfi- Kinder zu bekommen, eng mit der ungelösten Frage der nanzieren wollen, können Sie mir nicht im Ernst sagen. Vereinbarkeit von Familie und Beruf zusammenhängt. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Deswegen will ich nicht, dass die Transferleistungen er- und bei der SPD) höht werden, sondern ich will, dass wir Geld für die Ver- besserung von Kinderbetreuungsmöglichkeiten in die Auch ich finde, dass Sie Recht damit haben, dass Hand nehmen. Qualifizierte und flexible Maßnahmen Vereinfachung Not tut. für Kinder unter drei Jahren und mehr Ganztagsschulen eröffnen die Chance, dass sich wieder mehr junge Men- (Heinz Seiffert [CDU/CSU]: Warum macht Ihr schen für Kinder entscheiden. Ich bezweifle, dass Sie dann ständig das Gegenteil?) mit Ihrem Ansatz in der Familienpolitik, nämlich eine Auch ich gebe zu: Ein einfacheres Steuersystem ist ein weitere Erhöhung der Transferleistungen vorzusehen, gerechteres Steuersystem, weil dann die Leute verste- wirklich der Lebenswirklichkeit junger Menschen nahe hen, wo ihre Steuern bleiben und wie sich die Einnah- kommen. men strukturieren. Nur, das Junktim, dass Vereinfachung nur mit Tarifentlastung gehe, sehen wir so nicht. Wir ha- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ben eine Einkommensteuerreform auf den Weg ge- sowie bei Abgeordneten der SPD) (B) bracht, die im Jahre 2005 zu einem Eingangssteuersatz Noch einmal: Eine Einkommensteuerreform ist er- (D) von 15 Prozent und einem Spitzensteuersatz von 42 Pro- folgt. Wir haben die Eckwerte der Steuertarife gesenkt. zent führt. Bei den Eckwerten macht das insgesamt Jetzt einen Unterbietungswettbewerb zu starten halten 11 Prozentpunkte weniger aus als 1998. Da ist unsere wir für unseriös. Entlastungsvolumina im Einkommen- Tarifentlastung. Das ist gut so. Aus unserer Sicht ist steuerbereich sehen wir nicht. aber kein weiteres Entlastungsvolumen möglich. Sie treiben uns immer wieder bei der Frage des Stabi- Ich sehe allerdings, dass wir im Bereich der Unter- litätspaktes. Das ist angesichts der gemeinsamen Verant- nehmensbesteuerung etwas tun müssen. Wir stehen wortung aller politischen Ebenen bezüglich des Schul- hier vor wirklich großen Herausforderungen. Ich warne denstandes und der Einhaltung der Maastricht-Kriterien aber davor, einfache Zusammenhänge herzustellen. Ich auch richtig. Aber Ihre Vorstellungen und Vorschläge halte es wirklich für billig, zu behaupten, dass es im hinsichtlich der Finanzierung zeigen nichts von dieser Zuge der EU-Osterweiterung zu Ungerechtigkeiten gemeinsamen Verantwortung. komme, weil die neuen Länder zum einen niedrige Steu- ersätze hätten und zum anderen hohe Subventionen emp- Meine Damen und Herren von der Union, Sie ver- fangen würden. Ich glaube, man muss viel genauer hin- sprechen aus unserer Sicht Manna vom Himmel. Mehr schauen, wie sich die Subventionen und die Steuersätze Ehrlichkeit stünde Ihnen gut zu Gesicht. Aus Ihrem entwickelt haben, wo es Mitnahmeeffekte gibt und von Bierdeckel ist eine Tischdecke mit vielen einzelnen Be- welchen Erwartungen dies geprägt war. Mir ist es zu bil- reichen, kleinen Regelungen und Änderungen geworden. lig, wenn gesagt wird, die Subventionen seien zu hoch, Von einem Gesamtkonzept kann man hier leider nicht dadurch würden nur niedrige Steuersätze finanziert. mehr sprechen. (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: An welche Vielen Dank. Adresse geht das denn?) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Nichtsdestotrotz müssen wir uns die Frage stellen, und bei der SPD) wie wir uns angesichts der neuen Wettbewerber aufstel- len wollen. Wir müssen dabei aber seriös vorgehen. Ich kann in den Vorschlägen des „Konzepts 21“ zur Unter- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: nehmensteuerreform keine Antwort auf diese Frage fin- Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Freiherr von den. Stetten. (Zuruf von der SPD: Richtig!) (Beifall bei der CDU/CSU) 9468 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. April 2004

(A) Christian Freiherr von Stetten (CDU/CSU): gehört – war der Fall. Der Rat der Wirtschaftsweisen hat (C) Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und in seinem Jahresgutachten 2003/04 eindeutig festge- Herren! Seit Monaten diskutieren wir über die Notwen- stellt, dass das Steuersystem des Jahres 2003 weit ent- digkeit einer umfassenden Reform des deutschen Steuer- fernt von den Zielen der Bundesregierung aus dem rechts. Aber heute, vor allem nach dem Redebeitrag von Jahr 2000 ist. Herrn Poß, ist klar geworden: Die Regierung und auch Mit Erlaubnis der Präsidentin darf ich die von der die Fraktionen von Rot-Grün wollen überhaupt keine Bundesregierung selbst vorgeschlagenen Gutachter mit Steuerreform mit den Merkmalen einfacher, niedriger drei Sätzen zitieren. und gerechter. Sie verweigern sich einem modernen Steuerrecht, das unser Land so dringend braucht. (Dr. Hermann Otto Solms [FDP]: Das geht auch ohne Erlaubnis!) Aber es ist ja nicht die erste Initiative, die Sie mit Ih- rer Abgeordnetenmehrheit hier im Deutschen Bundestag Die Gutachter schreiben: verhindern und blockieren. Im Bereich der Steuerpolitik bestehen gegenwärtig (Zuruf von der SPD) erhebliche Defizite. Das deutsche Steuerrecht wird zunehmend als chaotisch wahrgenommen. … Der – Natürlich blockieren Sie! Sie blockieren dieses wich- deutschen Steuergesetzgebung fehlt das Leitbild, an tige Gesetz. dem sich die Haushalte und Investoren … ausrich- Herr Dr. Solms hat für die FDP deren Steuervor- ten könnten. schläge auf den Tisch gelegt und auch wir bringen un- Die Gutachter fordern daher einen grundlegenden Um- sere Steuervorschläge heute ein. Nur die Regierung, von bau der Einkommensteuer und der Unternehmensbesteu- der man das, Frau Staatssekretärin, eigentlich am ehes- erung. Zusätzlich soll die Gewerbesteuer ersetzt werden. ten hätte erwarten können, ist trotz Tausenden von Mit- Sie schlagen Einkommensteuersätze vor, die bei etwa arbeitern nicht in der Lage, uns Parlamentariern ihr Pro- 15 Prozent beginnen und bei etwa 35 Prozent enden sol- gramm vorzulegen und deutlich zu machen, wie Sie sich len. die Zukunft vorstellen. Die Handlungsunfähigkeit der Bundesregierung ist der eigentliche Skandal am heutigen Bei diesen Gutachtern handelt es sich um hochqualifi- Vormittag. zierte Persönlichkeiten. Einen dieser Gutachter, Herrn Professor Weber, hat der Bundeskanzler vor kurzem un- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – ter Beifall aller Fraktionen und aller gesellschaftlichen Heinz Seiffert [CDU/CSU]: Nur weiter- Gruppen als neuen Präsidenten der Bundesbank vorge- wurschteln können sie!) schlagen. (B) (D) Stattdessen kommt Minister Eichel wieder mit der Ich stelle also fest: Ihre eigenen Gutachter schlagen Abschaffung der Eigenheimzulage. Frau Staatssekretä- Ihnen genau das vor, was Friedrich Merz und der bayeri- rin, Sie haben es angesprochen: Bei unserem Konzept sche Finanzminister vor wenigen Minuten ausführlich bleibt die Eigenheimzulage erhalten, weil sie – trotz vie- erläutert und vorgestellt haben. ler Falschmeldungen – mit der Reform der Einkommen- (Beifall bei der CDU/CSU – Joachim Poß steuer überhaupt nichts zu tun hat. Sie haben, keine drei [SPD]: Das stimmt nicht! Der Sachverständi- Monate nachdem wir uns im Vermittlungsausschuss auf genrat hat ein anderes Konzept vorgeschla- eine gemeinsame Position geeinigt haben, diese Position gen!) wieder aufgekündigt und die betroffenen Bürger erneut tief verunsichert. Die Betroffenen rufen bei uns an und Herr Poß, Hauptleidtragender Ihrer Verweigerungspo- fragen, welche Versprechen dieser Regierung eigentlich litik ist wieder einmal der Mittelstand. noch gelten. Bei uns rufen die Betroffenen noch an; ich (Joachim Poß [SPD]: Da muss man aber ganz weiß, dass bei Ihnen schon lange niemand mehr anruft. blind sein, wenn man das gleichsetzt!) Sie sind in den Wahlkreisen – wir merken das jede Wo- che – auf Tauchstation gegangen. Sie sind überhaupt Sie brauchen gar nicht abzuwinken. Allein im Jahr 2003 nicht mehr ansprechbar, weil Sie das, was von der Bun- gab es 40 000 Unternehmenspleiten. Frau Hendricks, desregierung wöchentlich neu in die Welt gesetzt wird, das bedeutet, alle zwölf Minuten gibt es einen mittel- nicht mehr vertreten wollen. ständischen Betrieb weniger. Auch wenn Sie heute Ge- burtstag haben, können wir Ihnen diese Feststellung (Beifall bei der CDU/CSU) nicht ersparen: Dabei handelt es sich nicht um Unterneh- Wir haben es heute gehört: Steuerpflichtige Bürger men, die irgendwann einmal zu Beginn des Internetzeit- und deutsche Unternehmen verlassen in Scharen unser alters von Glücksrittern gegründet wurden. Die sind alle Land und gehen dorthin, wo es nicht nur niedrigere Steu- schon in den letzten Jahren verschwunden. Es handelt ern, sondern vor allem auch nachvollziehbare Gesetze sich vielmehr um mittelständische Betriebe, die schon seit Jahren am Markt existieren und sich jetzt einfach gibt. Transparenz ist eines der Hauptziele unseres heu- nicht mehr halten können, weil sie von der Bürokratie tigen Antrages. Übrigens war das auch einmal eines Ih- erdrückt werden oder aus dem Steuerchaos nicht mehr rer Ziele. Noch im Jahr 2000 hat die Bundesregierung herausfinden. Sie haben mit Ihren Fehlentscheidungen die Förderung von Wachstum und Beschäftigung durch diese Betriebe mit auf dem Gewissen. ein gerechtes Steuer- und Abgabensystem angekündigt, doch das Gegenteil – auch das haben wir heute mehrfach (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. April 2004 9469

Christian Freiherr von Stetten (A) Eine letzte Bemerkung. Unterstützung beispielsweise des Kollegen Professor (C) Faltlhauser, der leider etwas früher gehen musste. (Zuruf von der SPD: Gott sei Dank!) In einem Gesetzentwurf – das ist vielleicht der Nach- Ich darf Sie bitten: Handeln Sie jetzt! Werden Sie Ihrer teil, den Sie sehen, Herr Seiffert – muss man ganz kon- Verantwortung gerecht! kret werden. Man kann sich darin nämlich nicht auf das (Zuruf von der SPD: Machen wir!) beschränken, was die Menschen gerne präsentiert be- kommen wollen. Hätten Sie einen Gesetzentwurf vorge- Geben Sie Deutschland ein einfaches und gerechtes legt, hätten Sie auch nicht so ohne weiteres mit einfa- Steuersystem! Es wurde schon mehrfach darauf hinge- chen Floskeln die Unterschiede, die es im Steuerbereich wiesen: Wir können nicht bis 2006, also bis zur nächsten zwischen den Vorstellungen der CDU und denen der Bundestagswahl, warten. Das würde viele weitere Ar- CSU gibt, übertünchen können. Ich werfe Ihnen gar beitsplätze kosten. Wir brauchen jetzt ein neues Steuer- nicht vor, dass es in Ihren Vorstellungen Unterschiede system. Deswegen darf ich Sie bitten, dem Antrag der gibt. Aber das müsste man ehrlicherweise auch den Bür- CDU/CSU-Bundestagsfraktion zuzustimmen. gerinnen und Bürgern dieses Landes sagen. Herzlichen Dank. Ich nenne ein Beispiel: den Stufentarif; Herr Merz (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) hat ihn seit etlichen Wochen herausgekehrt. Herr Merz spricht voller Begeisterung vom Stufentarif, der angeb- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: lich alles einfacher mache; da könne man dann auf dem Bierdeckel ausrechnen, wie hoch die eigene Steuer- Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Jörg-Otto Spiller. pflicht sei. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Christian Freiherr von Stetten [CDU/CSU]: Dass Sie das nicht können, ist mir klar! – Jörg-Otto Spiller (SPD): Heinz Seiffert [CDU/CSU]: Nicht jeder!) Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Staat verlangt von seinen Bürgern Steuer- Vorweg noch der Hinweis: Die Autoren Ihres Antra- ehrlichkeit. Dem steht aber zu Recht der Anspruch der ges sagen, nicht sie selbst würden einen Entwurf vorle- Bürger entgegen, dass in der Steuerpolitik nicht geflun- gen, der ihren Grundsätzen folge. Sie fordern vielmehr: kert und nicht vernebelt wird. Wir haben ein paar Grundsätze und die Bundesregierung möge bitte schön einen entsprechenden Gesetzentwurf (Joachim Poß [SPD]: So ist es!) vorlegen. (B) Der vorliegende Antrag der CDU/CSU-Fraktion ist Herr Meister hat in diesem Antrag zwei Teile meister- (D) leider ein Musterbeispiel für Flunkern und bewusstes lich formuliert. Im-Unklaren-Lassen. (Dr. Michael Meister [CDU/CSU]: Danke Seit dem Herbst vorigen Jahres kündigen CDU und schön!) CSU an, es werde einen Entwurf einer großen Steuerre- form geben. Doch über Eckpunkte ist die Union noch Teil A beinhaltet das steuerpolitische Grundkonzept der immer nicht hinausgekommen. Manches in Ihrem An- Zukunft. Für die fernere Zukunft ist ein so genannter trag liest sich sogar ganz hübsch. Das ist auch kein Wun- Zieltarif mit bestimmten Stufen vorgesehen. der; denn Sie beschränken sich weitestgehend auf das Dann gibt es einen konkreten Teil – er kommt über- Schöne und Gute. Klartext ist das nicht. wiegend aus München –, ein Sofortprogramm. Warum legen Sie eigentlich keinen Gesetzentwurf (Zuruf von der CDU/CSU: Der ist auch gut!) vor? – Der ist sogar viel besser, (Beifall bei der SPD – Heinz Seiffert [CDU/ CSU]: Weil Sie regieren! Haben Sie es noch (Zuruf von der CDU/CSU: Besser als meister- nicht gemerkt?) lich?) – Herr Kollege Seiffert, schauen Sie doch einmal in das weil er zum Teil richtig konkret ist. Da wird einfach ge- Grundgesetz! Eine Oppositionsfraktion hat das Recht, sagt: Es ist ein linear-progressiver Tarif vorgesehen, einen Gesetzentwurf einzubringen. weil er sich bewährt hat. (Heinz Seiffert [CDU/CSU]: Sollen wir stän- Ich bestätige ja Herrn Faltlhauser und auch der CSU dig Ihre Arbeit machen?) insgesamt gerne, dass sich ihre Darlegungen zur Steuer- politik von dem, was Herr Merz der deutschen Öffent- Wenn Sie meinen, das sei für Sie als Oppositionsfraktion lichkeit verkündet, wohltuend unterscheiden. Da herr- etwas zu mühsam, dann muss ich Ihnen sagen: Sie haben schen eine relative Nüchternheit, Konkretheit und sogar doch Zugriff auf das Fachwissen von wirklich guten und Wirklichkeitsnähe. Auf die legt Herr Merz nicht so tüchtigen Beamten in den Ministerien der Länder. furchtbar viel Wert; (Joachim Poß [SPD]: München!) (Joachim Poß [SPD]: Nein! Der lebt in seiner eigenen Wirklichkeit!) Beispielsweise hat das bayerische Finanzministerium einen guten Ruf. Bedienen Sie sich doch einfach der aber man kann vielleicht nicht alles haben. 9470 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. April 2004

Jörg-Otto Spiller (A) Ich will nur einmal in Erinnerung rufen, was Herr sind wir fast immer auf den erbitterten Widerstand der (C) Professor Faltlhauser schon vor ein paar Jahren zum Unionsfraktion gestoßen. Denn Sie haben immer mit Stufentarif geschrieben hat, damals nicht mit Blick auf einem rein opportunistischen Verhalten nach interessier- Herrn Merz – dieser hatte sich diese Meinung damals ten Gruppen geschielt, weil Sie glaubten, das brächte Ih- noch nicht zu Eigen gemacht –, sondern mit Blick auf nen irgendetwas ein. Da die Zeit nicht ausreicht, Ihr ge- Herrn Uldall; das war aber dieselbe Soße. Unter der samtes Sündenregister hier auszubreiten, nenne ich nur Überschrift „Die Lösung kann nur sein: Weg mit dem wenige Beispiele. Stufengag“ wurde 2001 im „Handelsblatt“ ein schönes (Ortwin Runde [SPD]: Recht hat er!) Interview mit Herrn Faltlhauser veröffentlicht. Hieraus ein Zitat: Wenn man Ihren Antrag liest und sich dann daran er- Es wird immer wieder behauptet, ein Stufentarif sei innert, wie Sie sich vorher verhalten haben, reibt man dem linear-progressiven Formeltarif überlegen, sich die Augen. Der Antrag liest sich geradezu wie eine weil er gerechter und einfacher sei. Dies ist schlicht Beichte. Ich erinnere einmal an die heftigen Debatten, falsch: Der Stufentarif vereinfacht nichts, er ist die Sie geführt haben, als vor ein paar Jahren die so ge- gleichzeitig weniger leistungsgerecht. Einige mei- nannten AfA-Tabellen aktualisiert wurden, als man nä- nen nun, jeder Steuerpflichtige könne im Stufenmo- her an die tatsächliche Nutzungsdauer von Investitions- dell seine Steuerbelastung ohne Schwierigkeiten gütern heranging und die Abschreibung in einigen selbst berechnen. Das ist reine Illusion. Bereichen über einen längeren Zeitraum erstreckt wer- den musste. Damals haben Sie massiv dagegen polemi- (Dr. Hermann Otto Solms [FDP]: Bei Ihrem Sys- siert. tem! – Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Nein!) Was liest man heute in Ihrem Antrag? Komplex, verwaltungsaufwändig und streitanfällig ist allein die Ermittlung der Bemessungsgrundlage, Abschreibungen können künftig nur noch in Höhe die Anwendung des Tarifs ist dagegen ein Rechen- eines aus Vereinfachungsgründen typisierten Werte- vorgang und mit Tabellen und Computerprogram- verzehrs, der sich an der tatsächlichen Nutzungs- men leicht zu vollziehen. dauer eines Wirtschaftsgutes bemisst, steuerlich be- rücksichtigt werden. Recht hat Herr Professor Faltlhauser! (Beifall des Abg. Joachim Poß [SPD]) (Joachim Poß [SPD]: Das hätte er heute ein- mal vortragen sollen!) Das wollten wir schon damals. Dagegen sind Sie Sturm gelaufen. Ich werfe Ihnen nicht vor, dass Sie in den eigenen (B) (D) Reihen noch Erklärungsbedarf haben; das ist ja in Ord- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten nung. Ich werfe Ihnen vor, dass Sie in den Darstellungen des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) nach außen so tun, als wüssten Sie schon, was Sie wol- Noch schöner: Heute Vormittag hat der Kollege len. Flosbach zum Alterseinkünftegesetz und zur nachgela- (Heinz Seiffert [CDU/CSU]: Wir wissen es gerten Besteuerung von Alterseinkünften gesprochen. tatsächlich!) (Heinz Seiffert [CDU/CSU]: Er hat gut ge- Was ich Ihnen noch viel mehr vorwerfe – ich glaube, sprochen! Gute Rede!) ein großer Teil der Öffentlichkeit tut dies auch –, ist, Er hat ein richtig engagiertes Plädoyer dafür gehalten, dass zwischen dem, was Sie an programmatischen Ziel- eine breite Palette von Möglichkeiten zu eröffnen. Es ist vorstellungen verkünden, und dem, was Sie tatsächlich sicherlich erfreulich, wenn man Vermögen bilden kann, tun, eine sehr große Lücke klafft, ein großer Gegensatz das man zur Alterssicherung heranziehen kann. Sie ha- besteht. Seit Jahren bekennen Sie sich – solange er abs- ben sich dafür ausgesprochen, es möglichst frei verwen- trakt ist – zu dem Grundsatz, Sonderregelungen und den zu können. Vergünstigungen im Steuerrecht und natürlich auch Subventionen müssten abgebaut werden, damit man Was steht in Ihrem Antrag? Dort heißt es zu den Vor- Spielraum zur Senkung des Tarifes bekomme. Dem sorgeanforderungen: kann man nur beipflichten. Die Abzugsfähigkeit wird beschränkt auf solche (Dr. Michael Meister [CDU/CSU]: Das gehört Vorsorgesysteme, die ausschließlich der Alterssi- aber zusammen, Herr Spiller! – Weiterer Zuruf cherung dienen. von der CDU/CSU: Das ist ein Gesamtkon- (Heinz Seiffert [CDU/CSU]: Was ist daran zept!) falsch?) Dass wir die Tarife seit 1998 kräftig gesenkt haben, Reue, die aus dem Herzen kommt, klingt anders. darauf hat Frau Hendricks schon hingewiesen; das brau- che ich nicht zu wiederholen. Bloß, bei dem Abbau von (Heiterkeit und Beifall bei der SPD und dem Steuervergünstigungen und der damit einhergehenden BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Senkung von Tarifen Das ist noch nicht einmal ein Lippenbekenntnis zu Ihren (Dr. Michael Meister [CDU/CSU]: Das unter- eigenen Sünden. Sie anonymisieren die Sünden, es han- bleibt ja bei Ihnen! Das ist ja das Problem!) delt sich um irgendwelche Sünden, die man keiner Ein- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. April 2004 9471

Jörg-Otto Spiller (A) zelperson zuordnen kann. Gehen Sie in sich! Die Ein- reichsten 10 Prozent der Haushalte entfielen 50 Prozent (C) sicht und die Einkehr folgen dann sicher. aller Geldvermögenswerte. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Die Umverteilung von unten nach oben ist bereits seit DIE GRÜNEN) vielen Jahren in vollem Gange. Leider hat trotz gegentei- liger Versprechen auch die rot-grüne Regierung daran Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: nichts geändert. Allein die Aussetzung der Vermögen- Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Gesine Lötzsch. steuer von 1997 bis 2003 führte zu einem Steuerausfall von rund 50 Milliarden Euro. Das ist mehr als das Dop- pelte zum Beispiel des Haushaltes des Landes Berlin. Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos): SPD und Grüne hatten den Bürgern vor der Wahl die Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Sehr ge- Wiedereinführung der Vermögensteuer versprochen; ehrte Gäste! Ich bin Abgeordnete der PDS. doch sie haben ihr Versprechen bis heute nicht eingelöst. Wir reden heute nicht über das Urheberrecht, aber wir Wir sind sehr gespannt, wann sie das endlich tun wer- müssen einfach festhalten, dass alle Parteien außer der den. PDS das Programm der FDP gnadenlos geplündert ha- (Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne ben. Aus einer Steuersenkungspartei sind nun vier Steu- Kastner) ersenkungsparteien geworden, die um die Wette die Steuern senken wollen und den Staat ruinieren. Die FDP Die Konzepte von CDU, CSU und FDP sind auch aus steht nun ziemlich nackt da und kann nur noch mit dubi- einem anderen Grund asozial zu nennen. osen Schwarzgeldkonten in den Medien glänzen. (Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Na, na, na!) Ich will mich aber auf die CDU konzentrieren. Das Sie entziehen dem Staat Geld, das er für die Erhaltung Steuerkonzept der CDU ist ein Konzept für Besserver- von Städten und Gemeinden, zur Finanzierung von Bil- dienende. Die CDU will die FDP-Wähler gewinnen und dung und Wissenschaft und zur Finanzierung von Ord- hofft, dass die Arbeiter und Angestellten, die immer nung und Sicherheit dringend braucht. noch CDU wählen, den dramatischen Kurswechsel nicht bemerken. Die ehemalige Volkspartei CDU ist program- (Beifall der Abg. Petra Pau [fraktionslos] – matisch auf dem Weg hin zu einer neoliberalen Partei, Christian Freiherr von Stetten [CDU/CSU]: die nur noch die Vermögenden dieser Gesellschaft im Sie reden einen solchen Quatsch, da lohnt sich Auge hat und dabei ist, die Wortverbindung „soziale nicht einmal ein Zwischenruf!) Marktwirtschaft“ aufzulösen. Eines haben Sie vergessen zu erklären: Würde das (B) (Beifall der Abg. Petra Pau [fraktionslos]) CDU-Modell umgesetzt, müsste der Staat im ersten Jahr (D) einen Ausfall von 32 Milliarden Euro und mittelfristig Etliche Vorredner sind bereits auf das Gutachten der von 25 Milliarden Euro im Jahr verkraften. Leider haben Länderfinanzminister eingegangen. In diesem Gutach- Sie uns hier nicht erklärt, welche Aufgaben der Staat ten der Finanzminister der Länder ist deutlich gemacht dann nicht mehr erfüllen soll, welche Aufgaben Sie worden, wohin der Trend der Steuermodelle von CDU, streichen wollen. CSU und FDP geht. Gewinner wären Steuerpflichtige in derzeit hoher Progressionsstufe mit wenig Abzügen, also (Zuruf von der SPD: Steuerfahndung!) Menschen, die sehr gut verdienen. Wir als PDS sind gegen diese dauernde Umverteilung Verlierer wären dagegen Steuerpflichtige mit gerin- von unten nach oben. Wir fordern unter anderem die gen Einkommen und hohen Abzügen oder hohen steuer- Wiedereinführung der Vermögensteuer. Wir erinnern die freien Einkünften. So soll der Bezieher eines zu versteu- SPD gerne an ihr Versprechen, das sie gegeben und auf ernden Einkommens in Höhe von 15 000 Euro von der mehreren Parteitagen bekräftigt hat, und wir fordern eine CSU – die genauen Unterschiede werden nachher in der Erhöhung der Erbschaftsteuer auf Großvermögen. Aktuellen Stunde besprochen werden – um 286 Euro, Wir können nur hoffen, dass das Konzept von Herrn von der FDP um 507 Euro und von Herrn Merz bzw. der Merz immer nur auf dem Bierdeckel stehen und nie um- CDU sogar um 787 Euro entlastet werden. Das hört sich gesetzt werden wird; denn das wäre verheerend für die zunächst einmal sehr gut an. Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger unseres Landes. Wenn man das aber mit den Entlastungen, die für Be- (Beifall der Abg. Petra Pau [fraktionslos] – zieher hoher Einkommen vorgesehen sind, vergleicht, ist Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Dann würden das nur ein Trinkgeld. Topverdiener mit einem Jahres- sie ihr Bier mit mehr Freude trinken!) einkommen in Höhe von einer halben Million Euro sol- len von der CSU um etwa 15 700 Euro im Jahr entlastet Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: werden. Herr Merz will sie um fast 32 000 Euro entlas- Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege ten und die FDP sogar um fast 36 000 Euro. Ortwin Runde, SPD-Fraktion. Schauen wir uns doch einmal an, wie das Geld in Deutschland verteilt ist. Schon im Jahre 2002 besaßen in Ortwin Runde (SPD): Deutschland 33 Milliardäre zusammen ein Nettogeld- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die vermögen von 106 Milliarden Euro. Das ist eine Zahl, spannende Frage, die sich anlässlich der heutigen De- die sich die meisten gar nicht vorstellen können. Auf die batte stellte, war die, wie die Diskussion in der CDU/ 9472 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. April 2004

Ortwin Runde (A) CSU weitergeht. Es war hochinteressant, dass mit Herrn könnten Hebesätze angelegt werden. (C) Merz und Herrn Faltlhauser hier zwei Protagonisten des Streites anwesend waren. (Dr. Michael Bürsch [SPD]: Alles im Konjunktiv!) In den letzten Monaten hat sich gezeigt, dass der Kompromiss in der CDU zur Steuerpolitik richtig wack- Über die Zerlegungsmaßstäbe könnte ein gerechter lig ist. interkommunaler Ausgleich geschaffen werden. (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Aber mit Ich muss Ihnen sagen: Das sind, wenn man an die Not Bewegung!) der Betroffenen in den Kommunen denkt, wirklich Luft- nummern, für die diese wenig dankbar sind. Hier ist schon daran erinnert worden, dass es bereits Schlagzeilen des Inhalts gab, dieser Stufentarif sei eher (Beifall bei der SPD) ein Gag. Ich fand es ganz elegant, wie Herr Faltlhauser Hieran wird sehr deutlich, dass nichts geklärt ist. Lie- dieses Problem heute gelöst hat, indem er zu dem ber Herr von Stetten, wie sollen wir ein solches Sofort- Stufentarif sagte: Über meine Aussagen von damals will programm umsetzen? Was sollen wir davon umsetzen? ich nicht mehr reden, aber bezogen auf Kirchhof gilt: Wie kann man so etwas umsetzen? Das geht doch gar Dessen Tarif, diese Flat Tax, die eine ähnliche Qualität nicht. Das ist kein Programm oder Konzept, sondern das wie der Stufentarif hat, ist wirklich absurd. – So kann Gegenteil davon. man Kollegen aufs Allerschönste abohrfeigen. Das war in der Tat interessant. (Zuruf von der CDU/CSU: Die können es wirklich nicht!) (Beifall bei der SPD) Ganz gespannt bin ich darauf, wie sich Ihr Dissens in Die gesamte Öffentlichkeit hat ja sehr gespannt auf der Europadebatte auflösen wird. Man muss ja sagen, den 6. März gewartet, dass der Steuerstreit in der CDU/CSU immer unter- (Christian Freiherr von Stetten [CDU/CSU]: schiedliche Protagonisten hat. Erst waren es Faltlhauser 7. März! – Joachim Poß [SPD]: 7. März, Herr und Merz. Hier kam es zu all den qualifizierten Aussa- Kollege!) gen von Faltlhauser zu diesem Konzept. Dann hat Seehofer Faltlhauser zu dessen Entlastung abgelöst. Da- den Tag, an dem sich CDU und CSU auf ein gemeinsa- raufhin kam es zur Auseinandersetzung zwischen mes Steuerkonzept einigen wollten. Das, was dabei he- Stoiber und Merkel, was den Steuerwettbewerb und das rausgekommen ist, liegt uns nun vor. Steuerdumping in Europa angeht. Man ist ja richtig ge- (Zuruf von der CDU/CSU: Ja, sehr spannt darauf, wie sich diese Situation auflösen wird. (B) (D) beachtlich!) In dieser Europadiskussion fand ich den Ansatz ganz Es ist interessant, wie man diese Ergebnisse charakteri- interessant, nicht nur bei der Mehrwertsteuer, sondern sieren kann. Dazu hat Herr Solms zu Recht gesagt, dass auch bei den direkten Steuern eine Harmonisierung her- sie kein konkretes Sofortprogramm darstellen, sondern beizuführen. Dazu wird man sicherlich in einem ersten dass sie eher Thesencharakter haben. Das müsste bei Schritt die Bemessungsgrundlagen der Unternehmen- Ihnen von der CDU/CSU ja eigentlich auf heftigen Wi- steuern festlegen müssen. Dann kann man darüber nach- derstand stoßen. Aber in der Einleitung Ihres Antrags denken, ob man Korridore für Mindest- und Höchstsätze gibt es bestimmte Hinweise. Da steht: braucht, um auch hier zu einer gewissen Harmonisierung zu kommen. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregie- rung deshalb auf: ... Ein steuerpolitisches Gesamt- Zum Steuerwettbewerb sage ich also Ja. Es darf aber konzept zu entwickeln und sich dabei von folgen- nicht passieren – hier stimme ich sowohl Stoiber als den Gedanken leiten zu lassen. auch Bundeskanzler Schröder zu –, dass andere Länder ihre Infrastrukturinvestitionen nicht über Steuereinnah- Dieses Sofortprogramm, das von Herrn Faltlhauser als men finanzieren können und darauf hoffen, dass das sehr konkret beschrieben worden ist, besteht also nur aus Dritte tun. Das geht nicht. Das muss man ganz deutlich Gedanken. sagen. (Zuruf von der CDU/CSU: Es wäre mal etwas (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Neues, wenn ihr im Steuerrecht auch nachden- ken würdet! Das wäre mal neu für euch!) Ich schätze aber, dass diese Länder, was ihre Ausga- benotwendigkeiten angeht, nach und nach unter Druck Wie konkret das Ganze ist, wird deutlich, wenn man geraten werden und dann dankbar wären, wenn der sich Ihre Aussagen zur Gewerbesteuer ansieht; denn fürchterliche und vernichtende Wettbewerb zwischen daran merkt man auch, wie klar Ihre Konzeption ist. Da den kleinen der neu beitretenden Mitgliedstaaten etwas heißt es: geregelt würde. Das ist meines Erachtens ein wichtiger Die Kommunen könnten neben der heute bereits Ansatz. Ich glaube, es wäre gut, die Harmonisierung des bestehenden Beteiligung an der Einkommensteuer europäischen Steuerrechts so anzugehen. auch an der Körperschaftsteuer beteiligt werden. In Ich habe heute von Herrn Merz erwartet, dass er in einem solchen Beteiligungsmodell müssten ... seiner Rede das kleine Problem des Konfliktes mit Herrn Weiter heißt es, es Seehofer auflöst. Wie will er den Steuerzahlern 10 bis Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. April 2004 9473

Ortwin Runde (A) 16 Milliarden Euro zurückgeben und gleichzeitig ins- Vielen Dank. (C) besondere für die sozialen Sicherungssysteme fast 100 Milliarden Euro zusätzlich aufbringen? Er hatte zu (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ der Verschiebung der Steuerbelastung von direkten zu DIE GRÜNEN – Dr. Peter Ramsauer [CDU/ indirekten Steuern gesagt: CSU]: Was haben Sie jetzt eigentlich gesagt in dieser Rede? Sie können es eigentlich besser, Ich werde darauf zum Schluss noch einmal zu spre- das weiß man!) chen kommen. Ich hätte erwartet, dass er dieses Rätsel noch in dieser Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Sitzung und noch in der gleichen Rede auflöst. Da kam Ich schließe die Aussprache. aber nichts. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Ja, was Drucksache 15/2745 an die in der Tagesordnung aufge- ist das? – Joachim Poß [SPD]: Heiße Luft! führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- Typischer Merz: Viel heiße Luft!) verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Man hätte sich auch unter Fachleuten darüber unterhal- ten müssen, was 100 Milliarden Euro an Mehrwertsteu- Ich rufe die Tagesordnungspunkte 24 a bis 24 h sowie erprozentpunkten ausmachen. Wenn man 8 Milliarden die Zusatzpunkte 2 a bis 2 c und Tagesordnungspunkt 16 Euro für einen Prozentpunkt ansetzt, wären wir plötzlich auf: bei einer Mehrwertsteuer von 28 Prozent. Das ist schon richtig verwegen! 24 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Einfüh- Herr Solms, ich habe mit Freude und einem gewissen rung der nachträglichen Sicherungsverwah- Behagen gesehen, wie die CDU-Kollegen bei Ihrer Rede rung immer kräftig mit dem Kopf nickten, als Sie sagten, bei dem Gewerbesteuerersatz, den Sie andenken, solle man – Drucksachen 15/2887, 15/2945 – auch an höhere Umsatzsteueranteile denken. Da stellt Überweisungsvorschlag: man dann fest: Gut, wenn diese Umsatzsteuer schon ein- Rechtsausschuss (f) Innenausschuss mal verteilt wird – zwischen Herrn Merz und Ihnen –, Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend kann man das ja richtig großzügig, in luftigen Dimensio- nen machen. b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Intensi- (B) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) vierung der Bekämpfung der Schwarzarbeit (D) Dabei muss man eines feststellen: Was nicht geht – da und damit zusammenhängender Steuerhinter- komme ich auf das zurück, was Herr Poß gesagt hat –, ziehung ist, den Bürgern bei der Einkommensteuer Erleichterun- – Drucksache 15/2948 – gen zu versprechen, später aber zu sagen: Ich ersetze die Gewerbesteuer, die die Unternehmen heute bezahlen, Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss (f) durch Einkommensteueranteile. Innenausschuss Rechtsausschuss (Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit NEN]: Ganz genau!) Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft Sie kommen dann auch noch mit dem Umsatzsteueran- Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend teil. Welche Verteilungswirkung das hat, das ist ja sehr Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung deutlich. Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO Man merkt, meine Damen und Herren von der CDU/ CSU, dass das Ganze eine sehr einseitige Lastenvertei- c) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- lung mit sich bringt. Wenn man die nicht geschulterten gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände- Probleme der Ablösung der Finanzierung der sozialen rung der Vorschriften über Fernabsatzver- Sicherungssysteme von der Erwerbstätigkeit mitbetrach- träge bei Finanzdienstleistungen tet, dann, stellt man fest, ist die Gefahr des Sozialstaats- – Drucksache 15/2946 – abbaus bei solchen Konzepten allemal und immer gege- Überweisungsvorschlag: ben. Man kann also insgesamt zu dem Ergebnis Rechtsausschuss (f) kommen: Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Jetzt bin ich Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und gespannt!) Landwirtschaft Der Berg hat gekreißt, es ist ’ne Maus draus geworden d) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- (Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Warten gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab- Sie’s mal ab!) kommen vom 27. März 2003 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Repu- und diese Maus schlägt Rad, macht Luftnummern. blik Tadschikistan zur Vermeidung der 9474 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. April 2004

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner (A) Doppelbesteuerung auf dem Gebiet der Steu- Beck (Köln), weiterer Abgeordneter und der (C) ern vom Einkommen und vom Vermögen Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- NEN sowie der Abgeordneten Joachim – Drucksache 15/2925 – Günther (Plauen), Horst Friedrich (Bayreuth), Überweisungsvorschlag: Eberhard Otto (Godern), Dr. Wolfgang Finanzausschuss Gerhardt und der Fraktion der FDP e) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Planung und städtebauliche Zielvorstellun- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem gen des Bundes für den Bereich beiderseits Übereinkommen vom 9. September 2002 über der Spree zwischen Marschall- und Wei- die Vorrechte und Immunitäten des Internati- dendammer Brücke vorlegen onalen Strafgerichtshofs – Drucksache 15/2981 – – Drucksache 15/2723 – Überweisungsvorschlag: Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f) Auswärtiger Ausschuss (f) Innenausschuss Innenausschuss Ausschuss für Kultur und Medien Rechtsausschuss Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe b) Beratung des Antrags der Abgeordneten f) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Brunhilde Irber, Annette Faße, Renate gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Rege- Gradistanac, weiterer Abgeordneter und der lung von Rechtsfragen hinsichtlich der Rechts- Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten stellung von Angehörigen der Bundeswehr bei Undine Kurth (Quedlinburg), Rainder Kooperationen zwischen der Bundeswehr und Steenblock, Volker Beck (Köln), weiterer Ab- Wirtschaftsunternehmen sowie zur Änderung geordneter und der Fraktion des BÜNDNIS- besoldungs- und wehrsoldrechtlicher Vor- SES 90/DIE GRÜNEN schriften Chancen und Potenziale des Deutschland- – Drucksache 15/2944 – tourismus in der erweiterten Europäi- schen Union konsequent nutzen Überweisungsvorschlag: Verteidigungsausschuss (f) – Drucksache 15/2980 – Innenausschuss Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Tourismus (f) Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung (B) g) Beratung des Antrags der Abgeordneten Birgit (D) Homburger, Angelika Brunkhorst, Michael Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Kauch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion Union der FDP Haushaltsausschuss Entsorgung von Gewerbeabfall unbürokra- c) Beratung des Antrags des Präsidenten des Bun- tisch und einfach gestalten desrechnungshofes – Drucksache 15/2010 – Rechnung des Bundesrechnungshofes für das Überweisungsvorschlag: Haushaltsjahr 2003 – Einzelplan 20 – Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f) Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit – Drucksache 15/2885 – Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Überweisungsvorschlag: Haushaltsausschuss h) Beratung des Antrags der Abgeordneten Horst Friedrich (Bayreuth), Hans-Michael Goldmann, 16 Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Joachim Günther (Plauen), weiterer Abgeordne- gebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur ter und der Fraktion der FDP Änderung des Tierseuchengesetzes Bürgernähe durch mehr Wettbewerb bei der – Drucksache 15/2943 – Fahrzeugüberwachung Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und – Drucksache 15/2751 – Landwirtschaft (f) Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f) Es handelt sich um Überweisungen im vereinfach- Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ten Verfahren ohne Debatte. ZP 2 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Petra Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an Weis, Siegfried Scheffler, Sören Bartol, wei- die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu terer Abgeordneter und der Fraktion der SPD, überweisen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der der Abgeordneten Günter Nooke, Dirk Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Fischer (Hamburg), Eduard Oswald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/ Ich rufe die Tagesordnungspunkte 25 a bis 25 c auf. CSU, der Abgeordneten Franziska Eichstädt- Es handelt sich um die Beschlussfassung zu Vorlagen, zu Bohlig, Irmingard Schewe-Gerigk, Volker denen keine Aussprache vorgesehen ist. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. April 2004 9475

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner (A) Tagesordnungspunkt 25 a: stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf (C) ist mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen. Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs ei- Tagesordnungspunkt 25 c: nes Gesetzes zu dem Abkommen vom 3. März 2003 zwischen der Regierung der Bundesrepu- Beratung der Beschlussempfehlung und des blik Deutschland und der Regierung der Re- Berichts des Ausschusses für Gesundheit und publik Türkei über die Zusammenarbeit bei Soziale Sicherung (13. Ausschuss) zu dem An- der Bekämpfung von Straftaten mit erhebli- trag der Abgeordneten Hans-Michael Goldmann, cher Bedeutung, insbesondere des Terroris- Dr. Christel Happach-Kasan, Angelika Brunkhorst, mus und der organisierten Kriminalität weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP – Drucksache 15/2724 – Gleiche Nachweispflichten für Apotheken und Tierärzte bei der Abgabe von Tierarznei- (Erste Beratung 102. Sitzung) mitteln Beschlussempfehlung und Bericht des Innenaus- – Drucksachen 15/1568, 15/2604 – schusses (4. Ausschuss) Berichterstattung: – Drucksache 15/2994 – Abgeordneter Dr. Berichterstattung: Der Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Abgeordnete Tobias Marhold empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 15/1568 abzuleh- nen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Ge- genprobe! – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung Dr. ist mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen Der Innenausschuss empfiehlt auf Drucksache 15/2994, und CDU/CSU gegen die Stimmen der FDP angenom- den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die men. dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Ich rufe Zusatzpunkt 3 auf: – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetz- entwurf ist mit den Stimmen des ganzen Hauses ange- Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen nommen. der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- NEN Tagesordnungspunkt 25 b: Äußerungen aus der CSU zur Finanzierungs- (B) – Zweite und dritte Beratung des von der Bun- lücke von rund 100 Milliarden Euro in den (D) desregierung eingebrachten Entwurfs eines Konzepten der CDU zur Reform der Sozial- Gesetzes zur Neuordnung der Gebühren in und Steuersysteme Handels-, Partnerschafts- und Genossen- schaftsregistersachen (Handelsregistergebüh- Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle- ren-Neuordnungsgesetz – HRegGebNeuOG) gin Waltraud Lehn, SPD-Fraktion. – Drucksache 15/2251 – Waltraud Lehn (SPD): (Erste Beratung 88. Sitzung) Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus- Es reiche nicht aus, neu zu denken, sondern man müsse schusses (6. Ausschuss) auch sehen, ob das Neue finanzierbar sei. – Mit dieser Feststellung hat Horst Seehofer die abenteuerlichen Re- – Drucksache 15/2993 – formpläne der CDU kommentiert. Berichterstattung: (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Wo ist Abgeordnete Hermann Bachmaier der eigentlich?) Andrea Astrid Voßhoff Jerzy Montag – Das ist eine gute Frage. Rainer Funke (Joachim Poß [SPD]: Der geht seinem Hobby Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschluss- nach!) empfehlung auf Drucksache 15/2993, den Gesetzent- Die CDU sieht im Einzelnen Folgendes vor: 40 Mil- wurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte liarden Euro für die Kopfpauschale im Gesundheitswe- diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfas- sen, 22 Milliarden Euro für veränderte Kindererzie- sung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer hungszeiten bei der Rentenberechnung, 10 Milliarden stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf Euro bei der Steuerreform, 12 Milliarden Euro für eine ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen des gan- geplante Mindestrente, 18,6 Milliarden Euro für eine Er- zen Hauses angenommen. höhung des Kindergeldes. Das ergibt zusammen den Dritte Beratung stolzen Betrag von 102,6 Milliarden Euro. und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Nach der wohlwollenden Rechnung von Herrn Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer Seehofer sind es 100 Milliarden Euro – diese Zahl hat er 9476 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. April 2004

Waltraud Lehn (A) selber ins Gespräch gebracht –, die Sie für Ihr wohlklin- die für alle Versicherten – unabhängig davon, wie viel (C) gendes und mit großem Getöse verkündetes Reform- sie verdienen – gleich hoch sind. Im Klartext heißt das: paket benötigen. Finanziert werden soll das Ganze durch Herr Schrempp zahlt genauso viel wie seine Sekretärin. Steuermittel. Woher das Geld dafür kommen soll – im Klartext: wem man es wegnimmt –, das bleibt Ihr Ge- (Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Das ist doch heimnis. Unsinn! – Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Sie haben doch keine Ahnung!) (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Genau!) Diese Kopfpauschale wurde mit 264 Euro beziffert. Ich behaupte nicht, dass Sie es nicht wissen; ich werfe (Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Das Niveau Ihnen nur vor, dass Sie es uns nicht sagen, jedenfalls we- sollte auch für Sie zu niedrig sein!) der Herr Merz noch Frau Merkel. Dass Sie das der Bevölkerung nicht sagen können, ist Was auf den ersten Blick wie ein Sozialprogramm doch völlig klar. aussieht, ist in Wahrheit eines der schlimmsten und rigi- desten Umverteilungsprogramme, das man in diesem (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Das darf nicht Hause je gesehen hat, wahr sein!) Um das soziale Ungleichgewicht, das durch dieses (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Konzept entstehen würde, wenigstens etwas wieder aus- DIE GRÜNEN) zugleichen, will die CDU Einkommensschwachen Zu- jedenfalls wenn es so kommen sollte. Das wäre aller- schüsse aus Steuermitteln zahlen. dings verheerend. Bestensfalls könnte man Ihre Überle- ( [CDU/CSU]: Aha! – gungen als Lug und Trug einstufen. Aber das sehen Sie Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Jetzt widerspre- natürlich anders. Auf den ersten Blick verteilt die CDU chen Sie sich aber selbst!) großzügigst Geld, das sie aber nicht hat und das es nicht gibt. Sie müssten es sich irgendwoher holen. Aber wie Was kostet das denn? Das würde 40 Milliarden Euro und von wem? kosten. Woher nehmen Sie das Geld? Sie müssten die Mehrwertsteuer in Deutschland um (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Von den 13 Prozentpunkte erhöhen. Reichen!) (Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Wahnsinn!) Sie greifen den Leuten in die Tasche, indem Sie bei- spielsweise – etwas anderes bleibt Ihnen kaum übrig – (B) Der Mehrwertsteuersatz in Deutschland würde auf die Mehrwertsteuer erhöhen. (D) 29 Prozent steigen. Das wäre ein absoluter Spitzenwert (Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Sie haben in Europa. doch gar nichts mehr in der Tasche, nachdem (Zuruf von der CDU/CSU: Sie sind stehen ge- Sie bereits alles herausgenommen haben! Sie blieben!) haben sie doch schon leer gemacht!) – Ich habe großes Verständnis dafür, dass Sie das auf- Sie nehmen und verteilen es also so, dass derjenige mit regt. – Entscheidend ist: Diese angeblich sozialen Ge- hohem Einkommen viel weniger bezahlt, als er bezahlen schenke begünstigen zu über 80 Prozent die Hoch- und könnte. Den Ausgleich schaffen Sie dadurch – Sie wol- Besserverdienenden in unserer Gesellschaft. len den ganz Armen ja etwas geben –, dass Sie es bei al- len wieder einkassieren. (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Hört! Ich will ein zweites Beispiel nennen, und zwar aus der Hört!) Rentenpolitik. Das Geld für diese Merkel-Gunst würde nämlich bei al- len eingesammelt werden. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Frau Kollegin, Sie müssen sich mit Ihrem Beispiel (Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Sie haben bitte sehr kurz fassen, da Sie Ihre Redezeit bereits über- nichts verstanden! – Georg Schirmbeck [CDU/ zogen haben. CSU]: Die meisten sind schon pleite, da kön- nen Sie gar nichts mehr einsammeln!) Waltraud Lehn (SPD): Ich will das an zwei Beispielen verdeutlichen und Ich lasse das Beispiel weg, komme zunächst einmal zur Gesundheitspolitik. Die CDU – wohlgemerkt: nicht die CSU – will hier einen (Lachen und Beifall bei der CDU/CSU – Systemwechsel. Die gesetzliche Krankenversicherung Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Sehr ver- soll nicht länger über einkommensabhängige Beiträge, nünftig!) sondern über so genannte Kopfpauschalen finanziert da die nachfolgenden Redner dazu durchaus ebenfalls werden, Stellung nehmen können. (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Was habt ihr denn (Volker Kauder [CDU/CSU]: Sie haben doch in der Beratungskommission gesagt?) nur Rednerinnen!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. April 2004 9477

Waltraud Lehn (A) Alles in allem: Sie sind sich in der Sache nicht einig. (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Sie (C) Sie verschweigen, wie Sie das Ganze finanzieren wollen. diffamieren sich doch nur selbst!) Der einzige, der bei Ihnen den Mut hat, dies zu themati- sieren, ist Herr Seehofer. Wer wie Sie in der Regierung sitzt und keine eigenen Lösungen anzubieten hat, wie er dieses Land aus der (Volker Kauder [CDU/CSU]: So hohe Schul- schwersten wirtschaftlichen und sozialen Krise seit der den wie Sie könnten wir gar nicht machen!) Nachkriegszeit herausführen kann, der kann seine Zu- flucht nur noch in Beschimpfungen der Opposition su- Ich sage Ihnen: Das Bild, das Sie der Öffentlichkeit ver- chen. mitteln, ist von Streitereien und Uneinheitlichkeit ge- prägt. (Beifall bei der CDU/CSU) Nehmen Sie nur für einen Augenblick die volkswirt- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: schaftlichen Rahmendaten zur Kenntnis, vor deren Hin- Frau Kollegin, Sie müssen zum Ende kommen. tergrund die Finanzierungsprobleme der Sozialsysteme in der Tat gelöst werden müssen. Die amtierende Bun- Waltraud Lehn (SPD): desregierung, die heute bei dieser wichtigen Frage eben- Sie versuchen, Ihre innere Zerrissenheit zu ver- falls nicht sehr stark vertreten ist, hat es zum ersten Mal schweigen, zu kaschieren und der Öffentlichkeit Hand- in der Geschichte der Europäischen Union geschafft, lungsfähigkeit vorzutäuschen. Das hat dieses Land nicht dass das durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen jedes verdient. Menschen in unserem Lande im unteren Drittel der euro- päischen Tabelle angelangt ist. Während die CDU/CSU (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ jahrzehntelang am Bau des europäischen Hauses mitge- DIE GRÜNEN) arbeitet hat,

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Auf Kosten der folgenden Generation! Unter dieser Das Wort hat der Kollege Dr. Günter Krings, CDU/ Konstruktion leiden wir heute noch!) CSU-Fraktion. sind wir durch die Leistungen der Damen und Herren auf (Beifall bei der CDU/CSU) der linken Seite dieses Hauses in eine Kellerwohnung eingezogen. Dr. Günter Krings (CDU/CSU): (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (B) Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und (D) Herren Kollegen! Es wirft wirklich ein bezeichnendes Die Menschen trauen es einer Regierung, die schon da- Licht auf diese Regierungskoalition, dass ihr offenbar mit überfordert ist, die Rücknahme von Bierdosen zu or- nichts Besseres für eine Aktuelle Stunde einfällt, als die ganisieren oder LKWs auf Autobahnen zu zählen, Unterschiede in der Sozialpolitik von CDU und CSU zu thematisieren. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Noch nicht ein- mal das können sie richtig!) (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: 100 Milliarden Euro sind eine ganze Menge! – einfach nicht mehr zu, dass sie uns aus diesem Keller he- Waltraud Lehn [SPD]: Das ist ja lächerlich!) rausführt. Es wäre übrigens ganz nett gewesen, wenn aus Ihren Wenn es Ihnen, meine sehr verehrten Damen und Reihen einige Leute mehr zu der von Ihnen beantragten Herren auf der linken Seite dieses Hohen Hauses, wirk- Aktuellen Stunde gekommen wären. Ich finde es fast er- lich darum gehen würde, den ramponierten Sozialstaat bärmlich, wie schlecht Sie hier – auch quantitativ – ver- wieder auf ein festes Fundament zu stellen und das Ver- treten sind. trauen in den Sozialstaat und seine sozialen Systeme wiederzugewinnen, dann hätten Sie sich bei Ihrem An- (Beifall bei der CDU/CSU) trag nicht hinter Äußerungen des Kollegen Seehofer in Statt die Probleme dieses Landes zu lösen, was eine einem Interview vor zweieinhalb Wochen verstecken Regierung zumindest einmal versuchen sollte, be- müssen. Sie hätten dann nämlich in jeder Sitzungswoche schimpft die Koalition die Opposition dafür, dass CDU einen Anlass gefunden, diese aktuellen Probleme auf das und CDU um die richtigen Konzepte dafür ringen, wie Tableau dieses Hauses zu bringen. man den Menschen bei Krankheit, Gebrechlichkeit und (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Alter dauerhaft und verlässlich wieder Sicherheit geben kann. In jeder Parlamentswoche bietet die demographische (Beifall bei der CDU/CSU – Waltraud Lehn Entwicklung in Deutschland hinreichend Anlass dazu. [SPD]: Wenn Sie das mal täten!) An jedem x-beliebigen Tag eines jeden Jahres werden in Deutschland über 1 000 Kinder zu wenig geboren, um Die linke Seite dieses Hauses sucht offenbar deshalb unseren Bevölkerungsaufbau auch nur halbwegs in der ihr Heil in der Diffamierung der Union, weil sie selbst Balance zu halten. Jeder, der auch nur die vier Grundre- das Vertrauen in ihre eigene Problemlösungskompetenz chenarten beherrscht, weiß, dass bei einer solchen demo- schon längst verloren hat. graphischen Entwicklung die jetzigen umlagefinanzierten 9478 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. April 2004

Dr. Günter Krings (A) Sozialsysteme einfach nicht mehr zu finanzieren sind Wir brauchen weniger Vollkaskodenken, mehr Wahlfrei- (C) und nicht mehr funktionsfähig sind. heit, mehr Eigenverantwortung und sozial ausbalancierte Prämienmodelle in der Renten-, Pflege- und Kranken- (Peter Dreßen [SPD]: Das wollten Sie doch versicherung. Wir Jüngeren wollen die größeren Lasten so!) einer immer älter werdenden Bevölkerung gerne mittra- Das ist eine simple mathematische Erkenntnis. Man gen. Wir müssen diese Lasten aber so organisieren und kann sie entweder – das haben wir gemacht – zum Aus- verteilen können, dass die jüngere Generation unter die- gangspunkt von Reformmodellen machen oder man ser Last nicht zusammenbricht. kann sie einfach nach dem Motto ignorieren: Wir rasen (Beifall bei der CDU/CSU) mit unserem Wagen auf den Abgrund zu und machen erst einmal die Augen zu oder beschweren uns über die Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Länge des Bremsweges. – Das ist keine Lösung. Herr Kollege, bitte schauen Sie auf die Uhr. (Beifall bei der CDU/CSU) Natürlich ist der Umbau unseres Sozialsystems, eines Dr. Günter Krings (CDU/CSU): Transfersystems, in dem jährlich Hunderte von Milliar- Ich werde nur noch meinen Schlusssatz sprechen, den hin und her bewegt werden, nicht einfach. Er birgt Frau Präsidentin: Wenn SPD und Grüne nicht willens Risiken und kostet auch etwas. Es ist vollkommen rich- oder in der Lage sind, diese Probleme einer Lösung zu- tig, wenn auf die Finanzierungsschwierigkeiten seriös zuführen, dann sollten sie diese Regierungsbank hingewiesen wird. Der Unterschied zwischen uns und schnellstens frei machen. Ihnen ist allerdings: Wir benennen diese Probleme, um Danke schön. dafür nach Lösungen zu suchen und um Lösungen zu ringen. (Beifall bei der CDU/CSU)

(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Wir Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: lösen die Probleme!) Das Wort hat die Kollegin Christine Scheel, Bünd- Sie benennen die Probleme, um Ihre Untätigkeit in die- nis 90/Die Grünen. ser Frage zu rechtfertigen. Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (Beifall bei der CDU/CSU – Waltraud Lehn Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Herr [SPD]: Sie suchen und wir finden! – Wilhelm Krings, ich möchte gerne auf Ihre Ausführungen einge- (B) Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das ist lächerlich! hen, denn so einfach können Sie es sich nicht machen. (D) Das wissen Sie auch! Ein plumper Ablen- kungsversuch!) (Heinz Seiffert [CDU/CSU]: Wieso eigent- lich?) Die jüngere Generation von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern in unserem Lande hat genug davon, dass Die gesamte Union, sowohl die CDU/CSU-Führung als die Schröders und Münteferings in der Politik sie immer auch diejenigen, die in den jeweiligen Fachbereichen ar- wieder dazu zwingen, jahrzehntelang in Umlagesysteme beiten, weiß genau, dass bei allen zentralen Projekten, einzuzahlen, von denen sie genau wissen, dass sie sich über die wir in dieser Republik diskutieren, in ihren ei- im Alter darauf nicht verlassen können. Sie geben uns genen Reihen ein ganz großer Dissens besteht. Das be- für das Alter keine Sicherheit mehr. trifft die Rentenreform – die haben wir heute Morgen be- handelt; Sie haben sie abgelehnt, obwohl in all Ihren (Zuruf der Parl. Staatssekretärin Dr. Barbara Parteiprogrammen steht, dass die nachgelagerte Besteu- Hendricks) erung kommen muss –, – Jetzt gibt es sogar Zwischenrufe von der Regierungs- (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Hätten Sie et- bank. Es ist eigentlich die Aufgabe der Koalitionsabge- was vorgeschlagen, dann wäre es in Ordnung ordneten, gute Zwischenrufe zu machen. gewesen!) Die jungen Menschen in unserem Lande wissen: Wer die Gesundheitsreform, die Pflegeversicherung und die Monat für Monat umgelegt wird, der hat keine Mittel Steuerpolitik. mehr, um am Ende des Monats etwas für seine private (Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Wir behan- Vorsorge zurückzulegen. deln das Thema wenigstens!) (Beifall bei der CDU/CSU) Es ist kein Wunder, dass Herr Seehofer der CDU die Wir als junge Abgeordnete der CDU/CSU-Fraktion so genannte 100-Milliarden-Frage gestellt hat. haben im letzten Jahr gemeinsam unsere Positionen zur (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Wir haben sie Generationengerechtigkeit vorgelegt. Wir haben in Eck- beantwortet!) punkten dargelegt, wie wir den Ausstieg aus der Umla- gefalle schaffen können. Schauen wir uns die einzelnen Punkte an, die Sie vorge- schlagen haben. Wir haben heute Vormittag unter ande- (Peter Dreßen [SPD]: Eine Katastrophe ist rem den Vorschlag zur Steuerpolitik beraten. In diesem das!) Vorschlag tauchen 10 Milliarden Euro auf, die das Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. April 2004 9479

Christine Scheel (A) Ganze kostet. Das betrifft aber nur einen ganz kleinen hinter diese Beschlüsse zurückzuweichen. Er gibt an, (C) Teil. Das, was Herr Merz vorgeschlagen hat, kostet, wie dass er immer gesagt habe: Wenn man meint, dass man wir alle wissen, 37 Milliarden Euro. Wenn man ehrlich am Ende eines solchen Reformprozesses, wie auch im- ist, dann muss man das sagen. Das tun Sie aber nie. mer er ausschaut – das wissen wir noch nicht –, Geld braucht, dann muss man über die indirekten Steuern re- Alle wissen, dass die Union Forderungen zum Kin- den, zu denen auch die Mehrwertsteuer gehört – er dergeld erhoben hat, die zwar gut klingen, aber mit über spricht auch von Mehrwertsteuer und nicht von Umsatz- 18 Milliarden Euro nicht finanzierbar sind. Sie wissen steuer, verehrte Herren; Sie haben das vorhin bei der auch, dass die Gesundheitsprämie nach Aussagen man- Kollegin der SPD moniert –, auch wenn sich einige cher 40 Milliarden Euro kostet; Herr Kauder hat aber Leute darüber aufregen. von „nur“ 27 Milliarden Euro gesprochen. Sie haben Vorschläge zur Mindestrente mit einem Volumen von Wenn Herr Merz und andere Vertreter der Union der rund 12 Milliarden Euro gemacht. Weiterhin haben Sie Auffassung sind, dass die CDU und die CSU ein echtes Anrechnungszeiten für die Kindererziehung vorgeschla- Strukturproblem haben – besonders hinsichtlich der un- gen, die rund 22 Milliarden Euro kosten. Wir erleben bei gelösten Machtfrage an der Spitze –, dann kann ich ih- jeder Haushaltsberatung in diesem Haus, dass die Union nen nur empfehlen, den Mut aufzubringen, mit ihren mit Vorschlägen glänzt, wofür man noch mehr Geld aus- Konzepten in Bayern anzutreten. Das aber tun Sie nicht. geben kann. Summa summarum sind es nicht 100 Milli- arden Euro; es ist weitaus mehr, womit die Vorschläge (Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Sprechen Sie der Union die öffentlichen Haushalte belastet würden. doch mal die Themen an, die die Menschen in Deutschland bewegen!) Sie haben auch inhaltliche Differenzen; Herr Merz hat darauf hingewiesen. Es ist nicht so, dass die rot-grüne Ich wünsche mir etwas mehr Ehrlichkeit in der De- Regierungskoalition erfunden hätte, dass es Schwierig- batte, statt so zu tun, als kosteten Ihre Vorschläge kein keiten in Ihren Reihen gibt. Geld. Tatsächlich bedeuten sie eine enorme Belastung der Bürger und Bürgerinnen. Letztendlich haben Sie den (Detlef Parr [FDP]: Selbst verursacht!) Weg zu einer wesentlich höheren Mehrwertsteuer einge- Sie sagen selbst, dass Sie Riesenschwierigkeiten haben. schlagen. Die Lösung kann aber nicht darin bestehen, Herr Merz sagt wörtlich: Reformkonzepte vorzulegen, die mit Steuererhöhungen finanziert werden sollen. Was mir bei der CSU und bei Stoiber auffällt, ist, dass sie in Bayern den Prozess der Reformen un- Danke schön. glaublich beschleunigen und in der Bundespolitik (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (B) eher auf der Bremse stehen. und bei der SPD) (D) (Volker Kauder [CDU/CSU]: Erzählen Sie mal etwas von Ihren Schwierigkeiten bei der Aus- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: bildungsplatzabgabe! Das wäre viel aktueller!) Das Wort hat der Kollege Dr. Heinrich Kolb, FDP- Fraktion. Ich verstehe die CSU in diesem Punkt nicht. Viel- leicht hat man das Gefühl, man müsse in der Oppo- sition ein bisschen gefälliger sein. Diese Zeiten sind Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): aber vorbei. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bei der Vorbereitung auf diese Debatte sind mir spontan (Heinz Seiffert [CDU/CSU]: Ihr motzt gegen einige Gedanken in den Sinn gekommen. Wenn man das alles!) Thema einer Aktuellen Stunde erfährt, dann fragt man Da kann ich ihm nur beipflichten. Denn das, was Sie ma- sich zunächst, ob sie sachlich begründet ist oder ob sie chen, ist eine Täuschung der Öffentlichkeit. einen politisch-taktischen Hintergrund hat. (Volker Kauder [CDU/CSU]: Ihr seid die Bett- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) vorlegerpartei!) Was die heutige Aktuelle Stunde angeht, erscheint Jeder, der sich die Mühe macht, nicht nur die Überschrif- mir Ihre Absicht ziemlich durchsichtig. Ich glaube, Sie ten der Zeitungen zu lesen, sondern auch das Kleinge- verfolgen damit vor allem den Zweck, die von der FDP druckte zu verfolgen, stellt doch fest, dass die Union bei beantragte Stunde zur Haltung der Bundesregierung zur keinem einzigen Projekt, das die Zukunft dieses Landes allgemeinen Wehrpflicht und zu Plänen für ein soziales prägen soll, eine einheitliche Auffassung hat, und dass Pflichtjahr auf morgen Nachmittag an den Rand der Ta- die Bürgerinnen und Bürger nicht wissen, was auf sie zu- gesordnung zu verdrängen. kommt. Das ist doch der Punkt. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – (Beifall bei der SPD – Heinz Seiffert [CDU/ Detlef Parr [FDP]: Drückeberger!) CSU]: Erstaunlich, dass die uns wählen und Dafür gibt es gute Gründe. Die Grünen, die nicht die Umfragen so gut sind!) müde werden, öffentlich die Abschaffung der Wehr- Es ist schon überraschend, wenn Herr Merz sagt, dass pflicht zu fordern, müssen eingestehen, dass sie in dieser die CDU ihre Parteitagsbeschlüsse habe und diese der Frage zahnlose Tiger sind. Bei der SPD würden die offe- Maßstab seien. Er rät ganz dringend, keinen Millimeter nen Konfliktlinien hinsichtlich des sozialen Pflichtjahres 9480 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. April 2004

Dr. Heinrich L. Kolb (A) deutlich, die zwischen Struck, Schily und Zypries auf ereinnahmen und 1,5 Milliarden Euro an Sozialabgaben (C) der einen Seite und und Teilen der Frak- bedeutet, läuft dies auf ein Minus von 31,5 Milliar- tion auf der anderen Seite bestehen. Sie haben insofern den Euro in den Steuer- und Sozialkassen innerhalb von eine berechtigte Scheu davor, dass die Aktuelle Stunde nur drei Jahren hinaus. Dass diese Rechnung stimmt, zu diesem Thema an prominenter Stelle auf der Tages- wird auch an dem Rekorddefizit von fast 40 Milliar- ordnung erscheint. Deswegen glaube ich, dass die heu- den Euro deutlich, das Sie dieses Jahr im Haushalt erzie- tige Aktuelle Stunde vor allen Dingen taktisch begründet len werden, obwohl Sie doch mittlerweile längst den ist. Weg zur Haushaltskonsolidierung bzw. zu einem ausge- glichenen Haushalt einschlagen wollten. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Klaus Kirschner [SPD]: Da (Heinz Seiffert [CDU/CSU]: Schön wär’s, täuschen Sie sich!) wenn es nur 40 Milliarden Euro wären!) Aber auch wenn man Ihr Motiv kennt, liebe Kollegin- Das sind die Istkosten Ihrer Politik, in denen Ihr tat- nen und Kollegen von Rot-Grün, so staunt man und fragt sächliches Versagen zum Ausdruck kommt. Das müssen sich, ob Ihnen nichts Besseres eingefallen ist als dieses Sie sich vorhalten lassen. mühsam konstruierte Thema. Gibt es keine anderen ak- tuellen Probleme, über die wir gemeinsam diskutieren (Beifall bei der FDP – Wilhelm Schmidt [Salz- müssten? gitter] [SPD]: Blanker Unsinn!) (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Interes- Der Vollständigkeit halber sei gesagt, dass sich die Situ- siert Sie gar nicht, ob die Leute mit ation in 2004 leider nicht verbessern wird. 100 Milliarden Euro belastet werden? – (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Waltraud Lehn [SPD]: Pfui Teufel! Wie kön- der CDU/CSU) nen Sie 100 Milliarden als Kleinigkeit be- zeichnen?) Nun zu Herrn Seehofer: Er beziffert die Kosten auf 100 Milliarden Euro. Ich unterstelle einmal, dass dieser Ich schlage Ihnen einige Themen für eine Aktuelle Angabe eine richtige Schätzung der Zahlen zugrunde Stunde vor: Was macht die Koalition falsch, dass sich liegt. Es sind in jedem Fall Bruttozahlen, denen Eigenfi- die rot-grünen Wachstumsprognosen nie erfüllen? Das nanzierungseffekte aus induziertem Wachstum gegenü- ist ein interessantes Thema. berstehen könnten. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (Lachen bei Abgeordneten der SPD) Was macht sie falsch, dass im vierten Jahr in Folge die (B) – Ihre Skepsis ist durchaus berechtigt. Es kommt aller- (D) Maastricht-Kriterien verfehlt werden? dings sehr darauf an, wie man dabei vorgeht. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Es steht leider zu befürchten, dass die von der CDU Diese interessanten Themen wollen Sie nicht erörtern. vorgeschlagene halbherzige Steuerreform mit einer Net- toentlastung von 10 Milliarden Euro ähnlich verpuffen (Waltraud Lehn [SPD]: Das ist ja harmlos ge- wird wie die Stufen der rot-grünen Steuerreform. Wir genüber dem, was Sie vorhaben!) meinen dagegen, dass eine umfassende Steuerreform, – Die Fähigkeit zur Selbsterkenntnis ist Ihnen leider die durch einen konsequenten Abbau von Subventionen nicht gegeben, Frau Kollegin Lehn. – Stattdessen soll gegenfinanziert wird, echte Wachstumseffekte zeitigen über die Reformen und die damit verbundenen Kosten wird. Die FDP hat als einzige Fraktion einen Vorschlag diskutiert werden. für eine solche Steuerreform in den Deutschen Bundes- tag eingebracht. Bevor wir über die möglichen Kosten reden, die mit der Durchführung von Reformvorschlägen der Opposi- Noch ein paar Anmerkungen zum Thema Gesund- tion verbunden wären, ist zu diskutieren, welche Kosten heitssystem – das ist mit 45 Milliarden Euro der größte sich bereits daraus ergeben haben bzw. noch ergeben Brocken –: Ich glaube, jedem ist mittlerweile klar, dass werden, dass die Reformen durch die rot-grüne Koali- ein Kurieren an den Symptomen nicht mehr ausreicht. tion nicht oder nur halbherzig durchgeführt werden. Im Zusammenhang mit dem GMG ist das ganz offen- sichtlich geworden. Ich bin überzeugt, dass das Unions- (Beifall bei der FDP) konzept einer Kopfprämie ebenso in die Irre führt wie Lassen Sie uns die Wachstumsraten in den Jahren der rot-grüne Vorschlag einer Bürgerversicherung. Eine 2001 bis 2003 betrachten. Sie hatten ein Wachstum von Bürgerversicherung ist eine „Zwangs-AOK“, die fri- 2,75 Prozent in 2001, von 2,25 Prozent in 2002 und sches Geld in ein marodes System bringen soll. Bei der 2 Prozent in 2003 prognostiziert. Kopfprämie (Joachim Poß [SPD]: Nicht wir, sondern die (Klaus Kirschner [SPD]: Das ist Einheitsversi- Wirtschaftsinstitute und der Sachverständigen- cherung! Dann können Sie gleich eine Ein- rat haben das prognostiziert!) heitskasse schaffen!) Das tatsächliche Wachstum betrug 0,6 Prozent, 0,2 Pro- handelt es sich immerhin um einen Ansatz, der geeignet zent und minus 0,1 Prozent. Da ein Wachstum von ist, die fatale Wirkung der Lohnkostenbindung bei der 1 Prozent ein Mehr von rund 5 Milliarden Euro an Steu- Finanzierung der sozialen Sicherung aufzuheben, aller- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. April 2004 9481

Dr. Heinrich L. Kolb (A) dings um den Preis einer Einheitsversorgung mit hohem Himmel, als ob von dort die Milliarden nur so herunter- (C) Transferbedarf für den sozialen Ausgleich. Auch die De- regneten. mographiefestigkeit ist hier nur unzureichend gegeben. Zudem werden der Wettbewerb und die Wahlmöglich- Dass so viele Nullen auf keinen Bierdeckel passen, keiten eingeschränkt. erschwert offensichtlich der CDU und insbesondere dem Kollegen Merz die Berechnung und den Durchblick. Be- Wettbewerb und Wahlmöglichkeiten sind aber zen- sonders augenfällig werden Ihre Luftbuchungen bei der trale Gestaltungselemente eines zukunftsfähigen Ge- vom CDU-Parteitag in Leipzig beschlossenen Kopfpau- sundheitswesens. Deswegen schlagen wir, die FDP, für schale für die gesetzlich Krankenversicherten. Unabhän- das Gesundheitswesen eine Pflicht zur Versicherung der gig von der finanziellen Leistungsfähigkeit des Einzel- Basisversorgung mit der Möglichkeit vor, den darüber nen – an diesem Beispiel wird das deutlich – sollen alle hinausgehenden Versicherungsschutz frei nach eigenen gesetzlich Krankenversicherten gleich hohe Kopfprä- Bedürfnissen zu gestalten. Der Versicherte soll seinen mien zahlen. Nach Ihrer Ideologie wollen Sie, dass die Versicherer, den Umfang des Versicherungsschutzes und Putzfrau im Krankenhaus genauso viel wie der Chefarzt die Leistungserbringer frei wählen können. Das führt zu an Kopfprämie zahlt. mehr Wettbewerb auf allen Ebenen und zu einer Verbes- (Widerspruch bei der CDU/CSU) serung der Effizienz, steigert die Versorgungsqualität und reduziert den Zuschussbedarf deutlich. – Sie haben vielleicht insoweit Recht, dass der Chefarzt gar kein Mitglied der gesetzlichen Krankenversicherung (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten ist. Dann hat er sich natürlich außerhalb des gesetzlichen der CDU/CSU) Krankenversicherungssystems gestellt. Ich bin leider am Ende meiner Redezeit. Nur noch so Im Prinzip bedeutet das, was Sie wollen, dass Gering- viel: Die Kollegin Lehn hat gesagt, es reiche nicht aus, verdienende und Familien mit Kindern stärker belastet neu zu denken. Noch weniger reicht allerdings aus, nicht und dass Besserverdienende entlastet werden. Dies ist neu zu denken. Das ist das, was wir Ihnen vorwerfen Umverteilung von unten nach oben, nichts anderes. Das müssen. wird auch dadurch nicht besser, dass der Erfinder dieser (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Ideologie, der ehemalige Bundespräsident und frühere Waltraud Lehn [SPD]: Wenn hier einer in den Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Professor letzten 20 Jahren neu gedacht hat, dann wir!) Herzog, der im Übrigen vermutlich als Beihilfeberech- tigter und Privatversicherter ein besonders schillerndes Ich fordere Sie auf: Treten wir in einen Wettbewerb der Beispiel dafür ist (B) Konzepte ein! Die FDP hat zu allen Zweigen der sozia- (D) len Sicherung gute Vorschläge gemacht, über die es sich (Widerspruch bei der CDU/CSU) nachzudenken lohnt. – das muss auch einmal gesagt werden –, dass diejeni- gen, die anderen ständig Wasser predigen, selbst Wein Vielen Dank. trinken, (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: für den Ausgleich 41 Milliarden Euro aus Steuermitteln Das Wort hat der Kollege Klaus Kirschner, SPD- mobilisieren will. Gleichzeitig versprechen Sie den Bür- Fraktion. gerinnen und Bürgern Steuersenkungen. Sie werden schon dadurch wortbrüchig, dass Sie den bisherigen Ar- Klaus Kirschner (SPD): beitgeberbeitrag dem Lohn zuschlagen und damit die Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Steuer erhöhen. Über den weiteren Steuerbedarf, den Sie Zuerst ist dem Kollegen Horst Seehofer zu danken, dass zur Finanzierung Ihrer unsozialen Umverteilung benöti- er den – hoffentlich von Erfolg gekrönten – Versuch un- gen, schweigen Sie sich geflissentlich aus. ternimmt, seinen Fraktionskolleginnen und -kollegen der Ich frage Sie: Wollen Sie allen Ernstes die Finanzie- CDU das Einmaleins der Grundrechenarten – ein mal rung des Gesundheitswesens in die jährlichen Auseinan- eins ist eins und nicht zwei – beizubringen. Lieber Herr dersetzungen um die Verteilung des Bundeshaushalts Kollege Kolb, Luftbuchungen sind nun einmal nicht un- hineinziehen? Das Gesundheitswesen steht dann in wichtig, wie Sie glauben. Das, was der Kollege Seehofer Haushaltskonkurrenz beispielsweise zu Bildung, For- zu Recht angeprangert hat, sind nämlich Luftbuchungen. schung, Straßenbau oder Bundeswehr. Man braucht Herr Seehofer kommt zu dem Ergebnis, dass sich aus den keine prophetische Gabe, um vorauszusagen, dass die CDU-Vorschlägen für einen Kopfprämienausgleich im Finanzierung der notwendigen Gesundheitsausgaben Gesundheitswesen – darauf ist schon hingewiesen wor- von Jahr zu Jahr unsicherer werden wird. den –, eine Verbesserung der Kindererziehungszeiten und der Mindestrente, eine Kindergelderhöhung sowie Auch deshalb ist Horst Seehofer voll zuzustimmen, eine Steuerreform ein nicht gedeckter Scheck in Höhe der in einem Beitrag für die Zeitschrift „die Ersatzkasse“ von mehr als 102 Milliarden Euro pro Jahr ergibt. Ver- – sie alle können das nachlesen – das Kopfprämienmo- ehrte Kolleginnen und Kollegen von der CDU, Sie ver- dell als gesundheitspolitischen Irrweg bezeichnet hat. Er sprechen den Bürgerinnen und Bürgern das Blaue vom kommt dort zu dem Fazit: 9482 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. April 2004

Klaus Kirschner (A) Es ist absurd, die Probleme des demographischen (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (C) Wandels dadurch lösen zu wollen, dass gerade die DIE GRÜNEN – Heinz Seiffert [CDU/CSU]: Familien durch die Umstellung des Finanzierungs- Schaun wir mal!) modells der GKV besonders belastet werden. Die- ser falsche Ansatz stünde einer adäquaten Lösung Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: diametral entgegen. Nächster Redner ist der Kollege Georg Fahrenschon, (Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Sie lösen das CDU/CSU-Fraktion. Problem vorsichtshalber einmal gar nicht!) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) – Lieber Herr Kollege, das sagt der Kollege Seehofer. Wo er Recht hat, hat er Recht. Sie haben eben Unrecht, Georg Fahrenschon (CDU/CSU): weil Sie von den Dingen keine Ahnung haben. Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und (Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Nach dieser Herren! Wie weit muss man eigentlich auf den Hund ge- Methode bringen wir Deutschland rasant in kommen sein, dass man sich nicht mehr anders zu helfen den Abgrund!) weiß, als eine Aktuelle Stunde so zu verdrehen? Ihnen geht es nicht um die Themen, die diesem Land wirklich Man muss bedenken, dass insbesondere Familien und am Herzen liegen. Herr Kollege Kolb hat bereits auf die Geringverdienende durch den Steuerausgleich zu Bitt- Winkelzüge der Geschäftsordnung hingewiesen. Allein stellern staatlicher Almosen werden, deren Höhe von der das lässt tief blicken. jeweiligen Haushaltslage abhängig ist. Sie halten es of- fenbar für eine moderne Gesundheitspolitik, dass ein (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Die Drittel der Menschen zu Bittstellern des Staates wird. Leute wollen wissen, wo Sie Ihre Konflikte Das ist Ihre Art der Modernisierung. haben! – Peter Dreßen [SPD]: Das brennt den Menschen schon auf den Nägeln! Das wissen (Beifall bei der SPD) Sie!) Im Übrigen sollten Sie sich an der Schweiz ein Beispiel Liebe Frau Kollegin Scheel, es ist schon ein besonde- nehmen. Da können Sie sich einmal anschauen, wie mo- res Beispiel von Chuzpe oder Scheinheiligkeit, dass Sie dern eine Gesundheitspolitik ist, die ein Drittel der Be- hier „So eine Gemeinheit; wir müssen uns dringend über völkerung zu Bittstellern des Staates macht! die CDU/CSU unterhalten“ gesagt haben, während Die Lösung komplexer Probleme passt nun einmal gleichzeitig in großen Lettern „Meuterei gegen Ausbil- dungsabgabe“ zu lesen ist. In dem entsprechenden Artikel (B) nicht auf einen Bierdeckel. Alle Vorschläge Ihrerseits (D) zeigen eines: Sie haben von der alten Machterhaltungs- ist davon die Rede, dass Rot-Grün tief zerstritten ist und partei kohlscher Prägung hin zu einer an Problemlösun- dass bis zu 20 Abgeordnete der Grünen die SPD-Pläne ab- gen orientierten Inhaltspartei noch einen weiten Weg zu- lehnen. Erklären Sie uns doch einmal hier, im Parlament, rückzulegen. was bei Ihnen los ist! (Volker Kauder [CDU/CSU]: Hin zu einer Ge- (Beifall bei der CDU/CSU) werkschaftspartei!) Eine große westdeutsche Tageszeitung hat es auf den Ich rate Ihnen eines – das gilt auch für Sie, Herr Kauder –: Punkt gebracht: Hören Sie auf den Kollegen Horst Seehofer! Dem Bundesfinanzminister fliegt wieder einmal der (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Sehr gut!) Haushalt um die Ohren. Der Aufschwung findet zwar statt, leider aber anderswo. Deutschland ver- Stampfen Sie Ihr Kopfprämienmodell ein, auch wenn es liert immer mehr Arbeitsplätze und die Stimmung durch das dann wirksam werdende EU-Wettbewerbs- im Volk ist mies wie nie. recht einen einzigen interessanten Aspekt besitzt, näm- lich die Abschaffung der Monopole und Anbieterkartelle Der „Spiegel“ spricht vom „Alles-paletti-Kanzler“ und Kassenärztlicher bzw. Kassenzahnärztlicher Vereinigun- andere Zeitungen bezeichnen den Bundeskanzler gen und der bisherigen Krankenhausbedarfsplanung! Schröder mittlerweile als „Schönwetteronkel“. Vom gro- ßen Reformator ist nichts mehr übrig geblieben und Trotzdem: Die Kopfprämie ist – um es mit Horst See- seine Mehrheit, die Koalitionsfraktionen, setzt hier eine hofers Worten zu sagen – ein gesundheitspolitischer Irr- Aktuelle Stunde an, um sich über die Probleme und die weg, da sie das Solidarprinzip umkehrt. Sie können aber inhaltlichen Auseinandersetzungen zwischen CDU und an diesem Modell festhalten und damit unsere CSU zu unterhalten. Wahlchancen weiter erhöhen. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Leider wahr!) (Lachen bei der CDU/CSU) Mitleiderregend ist das Bild, das Sie abgeben! – Ja, sicher. – Ich rate Ihnen eines: Sie sollten einmal auf Ihren früheren Generalsekretär Heiner Geißler hören. Er (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- sagte zu Ihrem Kopfprämienmodell Folgendes, und zwar neten der FDP – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] an Sie selbst gerichtet: „Wer so stiehlt, den wählt man [SPD]: Ziemlich arrogant für so einen jungen nicht.“ Burschen wie Sie!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. April 2004 9483

Georg Fahrenschon (A) Ich habe noch ein anderes Beispiel. Es gibt das erklären können, wieso Ihr Konzept dagegen lautet: Wir (C) schöne Bild: Wer mit dem Finger auf andere zeigt, zeigt machen eine Einheitskasse. mit drei Fingern seiner Hand auf sich selbst. – Das soll- ten Sie nicht vergessen. Das ist genau Ihr Problem. (Klaus Kirschner [SPD]: Mit der Kopfprämie gibt es doch die Einheitskasse! Dann können (Beifall bei der CDU/CSU – Joachim Poß Sie doch mit der Kopfprämie gleich die Ein- [SPD]: Unterstützen Sie doch einmal Ihren heitskasse machen!) Kollegen Seehofer! Der ist auch von der CSU! Sie haben bis heute noch nicht eingestanden, dass mit – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Warum der Bürgerversicherung die Schwankungen, die wir mo- machen Sie innerhalb der Union eigentlich mentan im System der gesetzlichen Krankenversiche- Herrn Seehofer so nieder? – Waltraud Lehn rung haben und mit denen wir uns herumschlagen müs- [SPD]: Haben Sie schon einmal mit Seehofer sen, letztlich institutionalisiert würden. gesprochen? Nur mal eine Frage!) Ich sage klipp und klar: Der Weg, den Sie gehen wol- Ich kann Ihnen auch sagen, warum wir uns über die len, führt zwar zu mehr Mitteln – das ist unbestritten –, Zukunft der sozialen Sicherungssysteme unterhalten: aber die wesentlichen Strukturprobleme, die wir im Be- weil es natürlich eine der spannendsten Angelegenheiten reich des Gesundheitswesens haben, werden nicht ge- des Standorts Deutschlands ist, sich einmal mit dem Pa- löst. radoxon, mit dem Dilemma des deutschen Gesundheits- systems auseinander zu setzen. Eigentlich würde die (Klaus Kirschner [SPD]: Das haben Sie doch demographische Entwicklung zu einer steigenden Nach- in den Verhandlungen verhindert!) frage nach Gesundheitsgütern führen. Es handelt sich dabei eigentlich um einen Wachstumssektor in Deutsch- Da vergeben Sie sich eine Chance für die Zukunft. land. Wir waren einmal die Apotheke der Welt. Wir ha- (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Was ha- ben einmal Industrieunternehmen gehabt, die medizini- ben Sie denn mit der Gesundheitsreform ge- schen Fortschritt entwickelt und geprägt haben. Unter macht? Sie waren doch die Bremser!) Ihrer Regierung sind wir dazu gekommen, dass wir nur noch kopieren. Im Gegensatz zu Rot-Grün sind wir von der CDU/ CSU uns sehr wohl darüber im Klaren, welche Probleme (Klaus Kirschner [SPD]: Das ist doch eine es im Lande gibt. Sie waren im Übrigen noch nie so groß Luftnummer! – Peter Dreßen [SPD]: Klären wie nach fünf Jahren schröderscher Willkürpolitik. Sie darüber auf, wie Sie die 100 Milliarden fi- nanzieren!) (Beifall bei der CDU/CSU) (B) (D) Wir haben keine Möglichkeiten mehr. Ihr einziges Pro- Weil wir wissen, dass die Probleme nur in verantwort- blem ist, dass Sie mit den aktuellen Mitteln der Gesund- licher Teamarbeit gelöst werden können, werden wir das heitspolitik nur noch Kostendämpfung betreiben. Sie genauso machen. Wir vergeuden unsere Zeit auch nicht machen genau das Gegenteil von Wachstumsanschub. mit überflüssigen Debatten zu den innerparteilichen Dis- kussionen der anderen Seite. Wir werden uns allein (Klaus Kirschner [SPD]: Die CDU/CSU war schon deshalb einigen und ein konkretes Konzept vorle- doch beim letzten Gesetz dabei! Oder wissen gen, weil uns eines klar ist: Ihre Zeit ist abgelaufen – Sie das nicht mehr? – Gegenruf des Abg. zum Glück für Deutschland. Heinz Seiffert [CDU/CSU]: Ihr braucht bei al- lem fünf Jahre länger!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Lächer- Sie versuchen alles, um die Kostensteigerungen irgend- lich!) wie aufzuhalten bzw. die Kosten zu senken. Dann kommen Sie auch noch mit einem Ladenhüter. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Der Begriff der Kopfpauschale kommt doch nicht von Das Wort hat die Kollegin Anja Hajduk, Bündnis 90/ der CDU oder der CSU. Es ist Ihr Berater, der Regie- Die Grünen. rungsberater Rürup, der in Ihrem Auftrag diese Dinge entwickelt. Anja Hajduk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Ich verstehe gar nicht, warum Sie am Thema der Aktuel- Dr. Heinrich L. Kolb [FDP] – Waltraud Lehn len Stunde herumkritteln. Es ist gut gewählt oder min- [SPD]: Wir haben Leute, die unabhängig sind!) destens wichtig. Im Gegensatz dazu sagen Sie dann: Die Bürgerversiche- (Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: rung löst das Problem. – Sie haben bis heute nicht ver- Eines von beiden!) standen, dass durch neue Beitragszahler, die Sie durch die Bürgerversicherung bekommen würden, sofort ent- Es geht in der Demokratie doch darum, die alternativen sprechende Ansprüche induziert würden. Wenn wir uns Konzepte öffentlich zu vertreten. Wenn wir jetzt einmal die Krankenkassen anschauen, dann stellen wir fest: Es Ihre Konzepte unter die Lupe nehmen, dann ist das, wie gibt Schwierigkeiten; es müssen Verwaltungsreformen ich finde, kein Grund zu sagen: Fällt Ihnen nichts Besse- durchgeführt werden. – Sie haben bis heute niemandem res ein? – Wir sollten über die Alternativen reden. 9484 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. April 2004

Anja Hajduk (A) (Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Das ist rich- Weise des sozialen Ausgleichs; ich hatte ja eben schon (C) tig! Aber nicht bei Interviews!) auf die Finanzierungslücke hingewiesen. Das machen wir heute zum Teil. Da braucht sich nie- Darüber hinaus stellt ein weiterer Punkt erst recht mand aufzuregen. Das gehört dazu. Das ist gegenüber eine Schwäche in Ihrem Konzept dar. Hier ist gerade von der Öffentlichkeit nur richtig. Herrn Fahrenschon die Mär erzählt worden, Rot-Grün strebe eine Einheitskasse an. Das ist kompletter Unsinn. Lassen Sie uns also einmal über einige Sachen reden, auch wenn das in der Aktuellen Stunde nur begrenzt (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN möglich ist. – Die Frage aufzuwerfen, wie finanzierbar und bei der SPD) die Reformkonzepte sind, ist notwendig. Sie, Herr Dr. Kolb, haben auf Maastricht hingewiesen. Da muss Wir wollen definieren, was gesetzlich krankenzuversi- man doch auch schauen, ob Reformkonzepte Finanzlü- chern ist. Darum geht es uns. Wir wollen aber dann ei- cken reißen oder inwieweit sie eine Dynamik entfachen, nen Wettbewerb zwischen gesetzlichen und privaten die dafür sorgt, dass sie sich selbst finanzieren. Auch Krankenkassen. Sie dagegen beziehen 10 Prozent der darüber können wir streiten. Bevölkerung nicht in die Solidargemeinschaft ein, in- dem Sie sie im privaten System belassen und lassen die Es ist aber schon interessant, zu sehen, dass das Steu- restlichen 90 Prozent der Bevölkerung den Solidaraus- erreformkonzept der Union in einem ersten Schritt eine gleich bezahlen. Die Überwindung dieser ungerechten Nettoentlastung von 10 Milliarden und dann bis zu 30 bis Trennung von privat und gesetzlich versichert haben Sie 40 Milliarden verspricht und parallel dazu in einem Vor- in Ihrem Herzog-Reformmodell noch nicht vollzogen. schlag zur Gesundheitsreform der soziale Ausgleich Auch in dieser Frage wird es zu einer wahlentscheiden- durch Steuern finanziert werden soll. Sie müssen doch den Auseinandersetzung zwischen uns kommen. Sie ver- verstehen, dass sich die Leute Sorgen machen. Wenn Sie halten sich an dieser Stelle wettbewerbsfeindlich, indem nämlich auf der Steuerseite ein solches Loch reißen, Sie eine ganz bestimmte Klientel schonen. kann ja für den sozialen Ausgleich nicht mehr viel übrig bleiben. Das hat Herr Seehofer angesprochen. Danach (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN hat er gefragt. Sie haben aber keine Antwort darauf ge- und bei der SPD – Dr. Günter Krings [CDU/ liefert. Das ist ein Problem. CSU]: Sie wollen Wettbewerb zwischen Staat und Wirtschaft!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Zum Abschluss möchte ich Folgendes sagen: Der Kollege Krings hat hier ja sehr vollmundig davon ge- (B) Sie sollten nicht so polemisch darüber hinweggehen, sprochen – ich habe dabei alle Diskussionen des heuti- (D) sondern sich bewusst machen, dass es sich hierbei um gen Tages im Auge –, was alles nötig ist, um die Zukunft eine wahlentscheidende Auseinandersetzung handelt. unseres Landes zu meistern. Stichworte waren: Genera- (Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Eben! – Wei- tionengerechtigkeit, Vermeidung von Vollkaskomentali- terer Zuruf von der CDU/CSU: Ja!) tät. Der Kollege Merz ruft hier – das ist wohl nicht zu kritisieren – dazu auf, mehr Mut zu haben und der Be- Sie müssen nämlich sagen, ob Sie einen sozialen Aus- völkerung auch ehrlich zu sagen, was die Reformen kos- gleich auch finanzieren können. Sie können ja nicht auf ten und welche Zumutungen mit ihnen verbunden sind. der einen Seite etwas abstrakt durch Steuern finanzieren In Bezug auf diesen Punkt haben Sie – das muss ich ein- wollen, auf der anderen Seite aber über steuerliche Net- mal ganz deutlich sagen – heute Morgen bei den Diskus- toentlastungen in einem hohen zweistelligen Bereich re- sionen in diesem Hause komplett versagt. den. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ich fordere Sie auf, erst einmal ehrlich und hand- und bei der SPD) lungsleitend über eine Vereinfachung des Steuersystems und mehr Transparenz zu reden. Das werden wir jeden- Der Herr Storm, der wirklich ein guter Rentenexperte ist, falls tun. Wenn wir uns in diesen Punkten einig sind, hat nämlich als Begründung der ablehnenden Haltung können wir darüber sprechen, ob es überhaupt Raum für gegenüber unserem Konzept in seinem Redebeitrag ge- Nettoentlastungen gibt. Wir müssen zunächst beim Sub- schimpft, dass wir die Rentner belasten. Ja, wie verhält ventionsabbau vorankommen. Wir sind da bescheidener es sich denn jetzt mit dem Mut zur Offenheit? Wie wol- und versprechen nicht so viel Nettoentlastung. Ich finde, len Sie denn die nachgelagerte Besteuerung als faires dass Ihre Aussagen insbesondere mit Blick auf Ihre Ge- und generationengerechtes Projekt, bei dem die heute sundheitsreform sehr widersprüchlich sind. Aktiven entlastet werden sollen, damit sie Vorsorge be- treiben können, seriös darstellen? Sie schlagen sich jetzt Lassen Sie uns des Weiteren noch einen Punkt in Ih- schon in die Büsche, um 2005, wenn die Steuerbe- rem Konzept zur Gesundheitsreform näher betrachten. scheide kommen, dann wohl sagen zu können, Sie hätten Es ist hier gerade zu Recht gesagt worden, dass das Sys- nichts damit zu tun, dass jetzt die Rentner – im Übrigen tem der pauschalen Kopfprämien keine Erfindung der die, denen es besser geht – auch steuerlich ihren Beitrag Herzog-Kommission ist, sondern – das ist richtig – von leisten müssen. Sie haben offensichtlich nicht den Mut, Herrn Rürup als Alternative zum Lauterbach-Modell der Bevölkerung zu sagen, dass sie an gewissen Stellen vorgeschlagen worden ist. Der Hauptkritikpunkt, der auch belastet wird. Da haben Sie heute Morgen komplett mich umtreibt, ist die Absicherung und die Art und versagt. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. April 2004 9485

Anja Hajduk (A) Lieber Herr Krings, kämpfen Sie einmal in Ihren Unser Steuersystem ist nach dem Motto „Starke (C) eigenen Reihen für diesen Mut. Dann können Sie sich Schultern tragen mehr als schwache“ aufgebaut. Das ist wieder hier vorne hinstellen; sonst lassen Sie das bitte auch gut und richtig so. Es ist Ausdruck sozialer Gerech- bleiben. tigkeit. Danke. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Wenn daher ein progressiver Einkommensteuertarif da- für sorgt, dass der Stärkere deutlich mehr zahlt als der Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Schwache, und zwar über 36 Prozent hinaus, so ist das Das Wort hat der Kollege Hans-Ulrich Krüger, SPD- gerecht, sowohl bei der Steuer als auch beim Kranken- Fraktion. versicherungsbeitrag gemäß Einkommen und nicht etwa gemäß einer Kopfpauschale, bei der Geringverdiener und gut Verdienende gleich viel zu zahlen haben. Dr. Hans-Ulrich Krüger (SPD): Sehr verehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen Wenn es eine Ungerechtigkeit in diesem Zusammen- und Herren! Nach Art. 20 unseres Grundgesetzes ist die hang überhaupt gab, dann die, dass Einkommensmillio- Bundesrepublik Deutschland ein demokratischer und so- näre ihre Steuerschuld in der Vergangenheit in unverant- zialer Bundesstaat. Ungeachtet aller parteipolitischen wortlicher Art und Weise auf null reduzieren konnten. Unterschiede haben viele maßgebliche Kräfte aus die- (Beifall bei der SPD) sem Hause hieraus das Gebot einer sozialen Politik ab- geleitet und den modernen Sozialstaat überhaupt erst er- Dies haben wir abgestellt. Gerechtigkeit bedeutet aber möglicht. auch, den Menschen kein X für ein U vorzumachen und sie ehrlich darüber aufzuklären, was man will. Um es mit Von diesem Gebot des Grundgesetzes haben sich of- den Worten des schon mehrfach erwähnten Horst fenbar Teile der CDU in verantwortungsloser Seehofer zu sagen: Es reicht nicht aus, neu zu denken, (Lachen des Abg. Dr. Günter Krings [CDU/ man muss auch sagen, ob das Neue finanzierbar ist. CSU]) Man muss daher auch darstellen: Woher kommen die und gleichzeitig uns alle beschämender Art und Weise 40 Milliarden Euro für die Kopfpauschale im Gesund- verabschiedet. heitswesen? Woher kommen die 22 Milliarden Euro für die veränderten Kindererziehungszeiten bei der Renten- (Beifall bei der SPD) berechnung? Woher kommen die heute schon mehrfach (B) (D) Laut Friedrich Merz – immerhin dem Finanzexperten der angesprochenen 10 Milliarden Euro für die Steuerre- Bundestagsfraktion der CDU/CSU – ist nämlich Umver- form? Woher kommen die 12 Milliarden Euro für die ge- teilung nichts anderes als der Versuch, Leistung ohne plante Mindestrente? Woher kommen die 18,6 Milliar- Gegenleistung zu bekommen, und bekommt derjenige den Euro für die Kindergelderhöhung? Wer hier derart am meisten Zustimmung, der am lautstärksten nach Um- leichtfertig mit mehr als 100 Milliarden Euro umgeht verteilung ruft und Faulheit belohnen will. Ich frage Sie, und gleichzeitig sagt – wie von der FDP soeben meine Damen und Herren von der CDU, wie Sie mit die- ausgeführt –, die Debatte betreffe Peanuts, der hat die ser Arroganz, mit dieser Verachtung für sozial benach- Zeichen der Zeit nicht erkannt; er handelt zynisch und teiligte Menschen fertig werden können. Sind Sie etwa kaltschnäuzig. alle so abgehoben, dass Sie nicht mehr wissen, wie sich (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ eine Sozialrentnerin fühlt, die Wohngeld beantragen DIE GRÜNEN – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: muss, um ihre Miete bezahlen zu können, wie sich die Sie hätten zuhören sollen!) allein erziehende Mutter fühlt, wenn eines ihrer Kinder auf Klassenfahrt gehen will und dafür das Geld nicht Wir jedenfalls, die SPD, und offenbar auch die CSU reicht? haben bislang noch nicht gehört, woher die CDU diese mehr als 100 Milliarden Euro konkret nehmen will. Da- Die Aussagen des Herrn Merz beschimpfen Men- her nennen wir das, was hier veranstaltet wird, unseriös schen, die zum größten Teil unschuldig in soziale Not und unsozial. Hören Sie bitte durchaus auf Ihren Kolle- geraten sind und die eben nicht die Chance gehabt ha- gen Seehofer, der dies bemerkt und angeprangert hat. ben, am Wohlstand zu partizipieren. Mit sozialer Gerechtigkeit hat es nämlich überhaupt (Beifall bei Abgeordneten der SPD) nichts zu tun, wenn steuerpolitische Wolkenkuckucks- heime, wie wir das heute Morgen gehört haben, in die Diesen Menschen zu helfen ist für uns Sozialdemokraten Welt gesetzt werden, ohne dass man sagen kann, welcher Ausdruck unseres Sozialstaatsverständnisses und keine Bürger, welche Bürgerin die Zeche hierfür bezahlen Belohnung von Faulheit. muss. (Beifall bei der SPD) Wer den Menschen weismachen will, ein einfaches Wenn Sie dies nicht so sehen, wenn Sie diese Grundfes- Steuerrecht sei gleichzeitig ein gerechtes, der muss sich ten des Sozialstaates infrage stellen wollen, dann sagen auch über die Konsequenzen im Klaren sein, nämlich Sie es, aber bitte nicht nur uns, sondern auch den Men- darüber, dass die Abschaffung steuerpolitischer Not- schen draußen im Lande. wendigkeiten der vergangenen Jahre nur dazu führen 9486 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. April 2004

Dr. Hans-Ulrich Krüger (A) würde, dass der Starke entlastet und der Schwache be- Sie müssten uns eigentlich dankbar sein, dass wir Ih- (C) lastet wird. nen heute eine solche Steilvorlage geben, Ihre Konzepte darzustellen. Das ist doch nichts Negatives. Wenn Sie Mit der SPD wird es daher keine Diskussion über eine von Ihrer Konzeption überzeugt sind, dann müssten Sie weitere Absenkung des Spitzensteuersatzes und keine es doch eigentlich begrüßen, dass Ihnen die Regierungs- Diskussion über eine Schwächung des Staates geben. koalition die Möglichkeit gibt, Ihre Konzepte darzustel- Wer glaubt, hier noch Spielraum zu haben, der irrt und len. der muss klar und deutlich sagen, dass er einen schwa- chen Staat haben will, bei dem sich nur Reiche, privat (Beifall des Abg. Dr. Uwe Küster [SPD] – Versicherte und Vermögende die notwendigen Leistun- Dr. Uwe Küster [SPD]: Zeigen!) gen bei Krankheit oder im Alter einkaufen können. Da Ihre Fantasien nichts mit der Realität zu tun ha- ben, betreiben Sie eine schlechte Politik. Sie widerspre- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: chen sich gegenseitig. Sie sagen an einem Tag A und am Herr Kollege, denken Sie bitte an Ihre Redezeit. anderen Tag B. Sie haben keine Konzeption für die Fa- milienpolitik und auch keine Konzeption für die Sozial- und Gesellschaftspolitik. Als Familienpolitikerin muss Dr. Hans-Ulrich Krüger (SPD): ich Ihnen sagen, dass Sie noch dem 19. Jahrhundert ver- Ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin. haftet sind, obwohl wir bereits im 21. Jahrhundert ange- Einerseits unfinanzierbare Vorschläge zu unterbreiten kommen sind. Sie sollten die Lebenswirklichkeit von und andererseits von einer Neiddebatte zu reden, das Familien nicht ignorieren. passt nicht nur nicht zusammen, das ist auch zynisch und Es gibt unterschiedliche Lebensformen. Wenn ich mir hat mit Gerechtigkeit nichts zu tun. Kehren Sie, meine Ihre Konzeption anschaue, dann muss ich feststellen, Damen und Herren von der CDU, daher zurück zu der dass bei Ihnen nur ein Familienmodell im Mittelpunkt Erkenntnis, dass es das Gebot sozialer Gerechtigkeit ist, steht. Alle anderen Formen des Zusammenlebens sind das diese Republik zusammenhält. für Sie nicht existent. Sie vertreten ein rückwärts ge- wandtes Familienbild. Ich danke Ihnen. (Georg Fahrenschon [CDU/CSU]: Dann soll- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ ten Sie sich einmal die neueren Beschlüsse DIE GRÜNEN) schicken lassen!)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: – Vielleicht sollten Sie sich Ihre Beschlüsse, die Sie ver- (B) abschiedet haben, einmal genau anschauen. Dann kön- (D) Das Wort hat die Kollegin Marlene Rupprecht, SPD- nen wir miteinander darüber reden. Fraktion. (Georg Fahrenschon [CDU/CSU]: Lesen Sie einmal die aktuellen Beschlüsse! – Johannes Marlene Rupprecht (Tuchenbach) (SPD): Singhammer [CDU/CSU]: Besser ein richtiges Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Herr Familienbild als ein falsches!) Kolb, Sie haben vorhin gesagt, Sie erwarten von uns, dass wir nachdenken. Es stimmt: Wir werden für das Ihr Familienbild ist geprägt von einem erwerbstätigen Nachdenken und nicht bloß für die Anwesenheit bezahlt. Vater und einer nicht berufstätigen Mutter – sie übt Ich hoffe daher, dass sich alle – sowohl auf der Koali- höchstens einen Minijob aus –, die Kinder betreut. Ich tionsseite als auch auf der Oppositionsseite – Gedanken schätze diese Form des Familienlebens und jedem muss machen. es freistehen, so zu leben. Aber das ist nur eine Form des Zusammenlebens. Man kann ein Lebensmodell nicht Es ist eine grundsätzliche Aufgabe der Politik – also zum Maßstab für alle Menschen machen. Jeder von Ih- auch der Opposition –, Konzepte für die Gestaltung die- nen müsste sich einmal fragen, ob die Menschen tatsäch- ses Landes zu entwickeln. lich so leben, wie Sie es sich vorstellen. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Wir versuchen, Sie haben 16 Jahre lang Zeit gehabt, die Familie in Ihnen zu helfen, wo es geht! Aber Sie nehmen das Zentrum Ihrer Politik zu stellen und zu fördern. Sie keinen Rat an!) hätten eine Chance gehabt; stattdessen haben Sie Luftbu- chungen gemacht. Wir haben, nachdem wir 1998 die Re- Es ist völlig legitim, dass man bei der Entwicklung von gierung übernommen haben, die Familie als Aufgabe der Konzepten seiner Fantasie freien Lauf lässt und sich Politik begriffen und gesagt: Familien müssen finanziell nicht von vornherein nur auf das Machbare beschränkt. entlastet werden. Damit stand in der ersten Periode unse- Man kann sich völlig neue Welten denken. Auch das ist rer Regierungszeit die finanzielle Entlastung der Familie legitim. Aber man muss in der Politik unterscheiden im Mittelpunkt. Ich nenne nur am Rande die Erhöhung zwischen dem, was wünschenswert ist, und dem, was in des Kindergeldes, das BAföG usw. die Realität umgesetzt werden kann. Ich wünsche mir manchmal auch das Traumhaus am Meer und gleichzei- Seit 2002 sind wir dabei, strukturelle Verbesserungen tig im Gebirge, ein Haus mit Autobahnanschluss, aber für Familien zu schaffen. Wir sind mit 4 Milliarden Euro doch völlig ruhig gelegen. Diese Fantasien hat jeder. in die Ganztagsbetreuung von Schulkindern eingestie- Aber er behält sie für sich und äußert sie nicht. gen. Sie haben Jahrzehnte gewartet und nichts gemacht. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. April 2004 9487

Marlene Rupprecht (Tuchenbach) (A) Wir werden weiter die Betreuung der unter Dreijährigen (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (C) fördern, damit Kinder unter drei Jahren Chancen bekom- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) men, mit anderen Kindern zusammen zu sein und sich zu entwickeln. Das heißt, in den Bereichen Erziehung, Bil- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: dung und Betreuung haben wir ein Zukunftsprogramm Letzter Redner in dieser Aktuellen Stunde ist der Kol- auf den Weg gebracht. lege Peter Dreßen, SPD-Fraktion. Man sollte sich einmal anschauen, was Sie dort tun, (Beifall bei Abgeordneten der SPD) wo Sie es könnten. Ich komme aus Bayern. Welchen Kahlschlag gab es dort seit der Landtagswahl! Peter Dreßen (SPD): (Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Die Land- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Heute tagswahl haben Sie verloren, oder?) Morgen haben wir im Plenum eine Darbietung der be- sonderen Art erleben dürfen. Lassen Sie mich mit einem Dazu muss ich Ihnen sagen: Die Schulpolitik wurde Zitat beginnen: ohne Konzeption heruntergefahren. In der Jugendpolitik hat man die Förderung der Jugendverbände so reduziert, Liebhabern politischer Schmierenstücke muss man dass das nur noch ein Sterbegeld für ein langsames Ster- am heutigen Donnerstag die Bühne Bundestag ben ist, aber nicht zum Überleben reicht. Wenn ich die empfehlen. Dort steht der erste Akt eines Werkes Konzeptionen für Veränderungen in der Bürokratie an- mit dem Titel Versuchte Volksverdummung an, ins- schaue, zeniert und aufgeführt … von der Merkel-Stoiber- Truppe. (Georg Fahrenschon [CDU/CSU]: Ihre Kon- zeptionen haben immerhin für 19 Prozent ge- (Georg Fahrenschon [CDU/CSU]: Auf den reicht!) Spielplan gesetzt von der SPD-Bundestags- fraktion!) dann kann ich dazu nur sagen: gnadenloses Vorgehen; unsozial bis zum Gehtnichtmehr. Es ist wie ein Feigen- Diese Ankündigung, welche die Darbietung der blatt, wenn gesagt wird: Wir sind mit den Reformen, die Union im Plenum trefflich beschreibt, konnten die Bür- die CDU will, nicht einverstanden; wir sind sozial. – Ich gerinnen und Bürger heute Morgen der „Süddeutschen sage immer: Schaut auf das, was die sagen, und schaut Zeitung“ entnehmen. „Die schwarzen Gaukler“, wie es auf das, was die tun! im Leitartikel von Susanne Höll weiter heißt, haben heute im Bundestag gegen das Alterseinkünftegesetz ge- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Apropos „Geht stimmt und gegen den Entwurf von Rot-Grün gewettert. (B) nicht mehr“: Ich glaube, Ihre Zeit ist abgelau- Auf der nächsten Sitzung des Bundesrates wird die (D) fen, Frau Kollegin!) Union dann aber brav die Hand heben. Schließlich han- In Bayern wird zwar anders geredet, aber nach der Linie delt es sich bei dem Alterseinkünftegesetz nicht nur um der CDU gehandelt: Es wird in diesem Land ein sozialer die Umsetzung eines Urteils des Bundesverfassungsge- Kahlschlag durchgeführt. richts. Vielmehr setzen wir auch um, was die Union einst vehement gefordert hat. Sie hätten heute eine Chance gehabt; die haben Sie nicht genutzt. Sie haben nicht dargestellt, was Sie wollen (Erika Lotz [SPD]: So ist es!) und wie Sie dies finanzieren wollen. Sie denken, dass Sie die Bürgerinnen und Bürger mit (Georg Fahrenschon [CDU/CSU]: Weil wir ihrer Taktiererei hinters Licht führen können. Das funk- nicht nach Ihrer Pfeife tanzen!) tioniert aber nicht, weder beim Alterseinkünftegesetz noch bei all den anderen populistischen Vorschlägen, mit Oben auf der Tribüne sitzen Bürgerinnen und Bürger. denen Sie in regelmäßigen Abständen an die Öffentlich- Die wollen wissen, woher Sie die für die Umsetzung Ih- keit treten. Denn ebenso regelmäßig bleiben Sie die Ant- rer Vorschläge nötigen 102 Milliarden Euro nehmen und wort auf die Frage schuldig, wie Sie Ihre generösen Ver- wem Sie sie aus der Tasche holen, um tatsächlich umzu- sprechungen eigentlich finanzieren wollen. verteilen. Mit dieser Aktuellen Stunde wollten wir Ihnen heute (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Also, ich habe sie die Chance geben, den Bürgerinnen und Bürgern zu er- nicht! Das kann ich schon einmal sagen!) klären, wie Sie die Quadratur des Kreises hinbekommen wollen. Stehen Sie doch zu dem, was Sie produziert haben! Ich sehe Feigheit und Sprachlosigkeit auf Ihrer Seite. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das hat Knecht Rupprecht alles schon gesagt!) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Herr Krings, es ging nicht um Beschimpfung, sondern Frau Kollegin! um Aufklärung. Das haben Sie schlichtweg missverstan- den. Marlene Rupprecht (Tuchenbach) (SPD): (Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Ach so!) Vielleicht schaffen Sie es woanders. Sie hätten hier aufklären können, woher Sie die Danke schön. 100 Milliarden Euro, die Sie für die Umsetzung Ihrer 9488 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. April 2004

Peter Dreßen (A) Vorschläge benötigen, nehmen und wen Sie damit belas- GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Geset- (C) ten. All diese Chancen hatten Sie heute, leider haben Sie zes zur optionalen Trägerschaft von Kommunen sie nicht genutzt. nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (Kom- munales Optionsgesetz) Herr Seehofer sagte: „Es reicht nicht, wenn man neu denkt, sondern man muss auch sagen, ob das Neue finan- – Drucksache 15/2816 – zierbar ist.“ – Sie haben mit Ihren Vorschlägen nichts Neues gedacht. Sozialabbau und Besserstellung der (Erste Beratung 103. Sitzung) eigenen Klientel überzeugen nicht als innovative Ideen. aa) Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- Sie wollen die sozial ungerechte Kopfpauschale einfüh- schusses für Wirtschaft und Arbeit (9. Aus- ren. Die Förderung einer sozialen Schieflage ist Ihnen schuss) 40 Milliarden Euro wert. Durch die finanzielle Förde- rung der Erziehungsleistung in der Rente und durch – Drucksache 15/2997 – mehr Kindergeld zementieren Sie ein antiquiertes Frau- Berichterstattung: enbild. Wichtiger als die materielle Förderung sind für Abgeordneter Karl-Josef Laumann die jungen Menschen, insbesondere für die jungen Frauen, Betreuungsmöglichkeiten für ihre Kinder. Dafür bb) Bericht des Haushaltsausschusses (8. Aus- hat die Bundesregierung die richtigen Weichen gestellt. schuss) gemäß § 96 der Geschäftsordnung Mit unserem 4-Milliarden-Programm sind wir auf dem – Drucksache 15/3003 – richtigen Weg. Wir wollen, dass Familie und Arbeit mit- einander vereinbar sind. Berichterstattung: Abgeordnete Hans-Joachim Fuchtel (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Sie brauchen erst Otto Fricke einmal Arbeit!) Volker Kröning Sie wollen das Geld an den Bedürfnissen junger Men- Anja Hajduk schen vorbei ausgeben, und das in einer Höhe von fast b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- 21 Milliarden Euro. richts des Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit Mit den Ausgaben für Mindestrente und Steuerreform (9. Ausschuss) zu dem Antrag der Fraktionen der kommen wir, summa summarum, auf einen Betrag von SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN 102 Milliarden Euro. In dieser Summe fehlen noch die Verabschiedung eines Optionsgesetzes täglichen Schnellschüsse. Frau Kollegin Scheel ist auf – Drucksachen 15/2817, 15/2997 – (B) die Haushaltsberatungen bereits eingegangen. Wenn wir (D) all das verwirklichen wollten, was Sie uns in den Haus- Berichterstattung: haltsberatungen vorschlagen – Ausbau sechsspuriger Abgeordnete Karl-Josef Laumann Autobahnen und vieles andere –, bräuchten wir immense Summen. Die Mittel für Vorschläge wie flächende- Zu dem Gesetzentwurf liegt ein Entschließungsantrag ckende Lohnkostenzuschüsse sind in dem Betrag von der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP vor. 102 Milliarden Euro ebenso wenig enthalten. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Sie richteten mit fadenscheinigen Argumenten einen Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre keinen Lügenausschuss ein, in dem Sie uns Wahlbetrug unter- Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. stellten. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Bundes- (Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Ja!) minister für Wirtschaft und Arbeit Wolfgang Clement. Da Sie 2006 keine Regierungsverantwortung überneh- men werden, werden Sie auch nicht in die Verlegenheit Wolfgang Clement, Bundesminister für Wirtschaft kommen, sich wegen nicht eingehaltener Versprechen und Arbeit: erklären zu müssen. Das hätten Sie aber heute hier tun Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und können. Schon als Kind hatte ich Zweifel, wie sich Ba- Herren! Wir reden heute über den Arbeitsmarkt. Dabei ron Münchhausen am eigenen Schopf aus der Grube zie- ist es besonders wichtig, dass wir diejenigen in ihre hen konnte. Diese Zweifel reichen bei weitem nicht an Schranken weisen, die für Pessimismus in Deutschland meine Bedenken heute heran, wenn Sie mir erklären, wie sorgen: die Schlechtredner, die Miesmacher, die Re- Sie Ihre Vorschläge finanzieren wollen. formverhinderer und die Chaosbeschwörer. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Das war die des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Rede von gestern, Herr Minister!) Das sind diejenigen, die Wachstum und Fortschritt ver- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: hindern wollen. Sie dürfen und werden unsere Reformen Die Aktuelle Stunde ist beendet. nicht aufhalten. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 5 a und 5 b auf: (Beifall bei der SPD) a) Zweite und dritte Beratung des von den Fraktio- Klar gesagt: Die Zusammenlegung von Arbeitslosen- nen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE und Sozialhilfe – um sie geht es beim Optionsgesetz – ist Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. April 2004 9489

Bundesminister Wolfgang Clement (A) längst überfällig. Wir haben über Jahrzehnte hinweg den Wir machen niemandem etwas vor. Vor uns liegt eine (C) Fehler gemacht, zwei Fürsorgesysteme, ein staatliches gewaltige Kraftanstrengung. Der Umbau der Bundes- und ein kommunales, nebeneinander, teilweise sogar ge- agentur für Arbeit und die Einführung der neuen Grund- geneinander – jedenfalls waren sie nicht aufeinander ab- sicherung für Arbeitsuchende sind zwei Herkulesaufga- gestimmt – erhalten zu haben … Damit muss Schluss ben, die wir der Bundesagentur anvertraut haben. Wir sein, Arbeitslosen- und Sozialhilfe müssen zusammen- – der Vorstand der Bundesagentur genauso wie ich, das gelegt werden. Ministerium und alle Fachleute, mit denen wir zusam- menarbeiten – sind überzeugt, dass beide Aufgaben er- Die Menschen müssen endlich aus der Arbeitslosig- füllt werden können. Deshalb werden wir die Erfüllung keit in Arbeit vermittelt werden. Wir dürfen uns nicht der Aufgaben mit aller Entschlossenheit weiter verfol- darauf konzentrieren, Arbeitslosigkeit zu finanzieren. So gen. haben es über Jahrzehnte hinweg alle gefordert, aber lei- der sind keine ausreichenden Fortschritte erzielt worden. Dabei wird es Prioritäten geben. Priorität hat zwei- felsfrei die Einführung der neuen Leistung pünktlich (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des zum 1. respektive 2. Januar 2005. Jedem Bezieher und Abg. Dirk Niebel [FDP]) jeder Bezieherin der neuen Grundsicherung für Ar- Wir müssen das Prinzip des Förderns und des Forderns beitsuchende muss Anfang des kommenden Jahres die anwenden. All dies geschieht mit dem, was wir gesetz- neue Leistung zur Verfügung stehen. Wir sind auf die- geberisch auf den Weg gebracht haben. sem Weg. Trotz aller Schwierigkeiten, die das macht, sind wir auf einem guten Weg. Wir werden das auch hin- Wir beraten jetzt über das Kommunale Optionsgesetz. bekommen. Voraussetzung ist natürlich, dass all diejeni- Das gehört natürlich in den Gesamtzusammenhang des gen, die ein Interesse an Lösungen haben, an einem Themas, über das ich gerade gesprochen habe. Ich will Strang ziehen. aber ebenso klar sagen: Das Kommunale Optionsgesetz hängt nicht untrennbar an dem, was wir kurz und bündig Dabei ist die Einrichtung von Arbeitsgemeinschaf- als Hartz IV bezeichnen. Das Schicksal des Kommuna- ten ein ganz wichtiger Punkt. Nach dem Gesetz werden len Optionsgesetzes ändert nichts an unserem Fahrplan wir Arbeitsgemeinschaften schaffen zwischen den örtli- für die Zusammenlegung der beiden Fürsorgeleistungen chen, kommunalen Repräsentanten auf der einen Seite, Arbeitslosen- und Sozialhilfe. die in diesem Sektor arbeiten und sich insbesondere um die Sozialhilfeempfänger, in diesem Fall die erwerbsfä- (Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Das wird higen Sozialhilfeempfänger, kümmern, und den örtli- eine Bruchlandung!) chen Agenturen für Arbeit auf der anderen Seite. (B) Ich sage das so klar und deutlich, weil ich feststelle, dass (D) Im SGB II ist vorgesehen, dass die kommunalen Trä- die Opposition das anscheinend nicht auseinander halten ger und die Agenturen für Arbeit vor Ort kooperieren kann oder vielleicht auch nicht will. und diese Arbeitsgemeinschaften bilden. Darin liegt also (Klaus Brandner [SPD]: Das muss sie lernen!) die entscheidende Aufgabe. Was dort entsteht, ist auch alles andere als irgendein zentrales Monstrum. Vielmehr Manche jedenfalls versuchen, die Diskussion über die entstehen Arbeitsgemeinschaften auf kommunaler konkrete technische und organisatorische Ausgestaltung Ebene. Wir werden alles tun – die Bundesagentur tut das des Systemwechsels zum 1. Januar 2005 zu missbrau- auch –, um die Bildung dieser Arbeitsgemeinschaften zu chen. Sie missbrauchen sie dazu, die Lösung einer unterstützen. zwischen Bundesagentur und Kommunen geteilten Trä- gerschaft infrage zu stellen, die wir im Vermittlungsaus- Um das noch etwas konkreter zu beschreiben: Zurzeit schuss vereinbart haben. Diese Regelung der geteilten findet in meinem Ministerium eine erste Besprechung Trägerschaft steht seit Anfang dieses Jahres im Gesetz. mit Vertretern von 20 kreisfreien Städten und Landkrei- Daran haben sich alle zu halten, ob ihnen das nun passt sen sowie der entsprechenden Agenturen für Arbeit statt. oder nicht. Am liebsten wäre mir, es passte allen. Zwischen diesen Trägern werden jetzt Pilotarbeitsge- meinschaften vereinbart. Unser Ziel ist es, möglichst Alle sollten spätestens jetzt damit aufhören, den Städ- schnell ein möglichst umfassendes Netz solcher Pilotar- ten und Gemeinden sowie den Landkreisen in unserem beitsgemeinschaften zu schaffen. Das wird – so hoffe Land vorzugaukeln, es werde sich an der gemeinsamen und erwarte ich – eine entsprechende Ausstrahlung ha- Trägerschaft noch etwas ändern. Diese Debatte führt al- ben und die Bereitschaft insgesamt erhöhen, ans Werk zu lenfalls zu einer Verunsicherung der Beteiligten, insbe- gehen, statt sich in organisatorischen Diskussionen und sondere auf kommunaler Ebene. Auseinandersetzungen zu erschöpfen. (Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Die Ver- (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Rezzo unsicherung ist nicht mehr notwendig! – Hans- Schlauch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Joachim Fuchtel [CDU/CSU]: Die Verunsi- cherung ist längst da!) Die Situation am Arbeitsmarkt ist viel zu ernst, als Eigentlich sollte daran niemand ein Interesse haben. dass wir uns wieder der deutschen Leidenschaft hinge- ben könnten, sich in organisatorischen Diskussionen zu (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ verkrallen, statt sich ganz auf das zu konzentrieren, wo- DIE GRÜNEN) rum es geht, nämlich so viele Menschen so rasch wie 9490 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. April 2004

Bundesminister Wolfgang Clement (A) möglich aus der Arbeitslosigkeit herauszuholen bzw. ih- Nutzen Sie diese Situation nicht, um abzulenken und (C) nen auf dem Weg zurück in den Arbeitsmarkt zu helfen. Unsicherheit zu stiften. Ich bin überzeugt, dass wir, wenn alle guten Willens sind, zu einer Lösung kommen (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ können. Wir wollen möglichst eine Einigung hinsicht- DIE GRÜNEN) lich der Berechnungsmethodik erzielen. Deshalb appelliere ich an alle – wir brauchen die Mit- (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist ja gar nicht wirkung von allen, von möglichst vielen –: Wenn Sie konkret!) wollen und mögen, machen Sie in Ihren Wahlkreisen möglichst Werbung für die Arbeitsgemeinschaften. Die Vor allen Dingen müssen wir uns über das verständi- Bundesagentur braucht dringend Klarheit darüber, wel- gen, was man zur Stunde nur schätzen bzw. prognosti- che Kommunen sich an der Bildung von Arbeitsgemein- zieren kann: Welche Entwicklungen wird es beispiels- schaften beteiligen. Daran werden sich übrigens auch weise bei der Sozialhilfe geben? Wie wird sich die Zahl Landkreise beteiligen. Vor Ort sieht die Welt ja ohnedies der erwerbsfähigen Sozialhilfeempfänger entwickeln? anders aus, als sie in manchen politischen Auseinander- Was passiert mit den Unterkunftskosten? Wir müssen setzungen dargestellt wird. uns also über die Berechnungsmethoden verständigen und wir brauchen Lösungen für Entwicklungen, die man Die Städte und Gemeinden, vor allen Dingen die gro- heute nur prognostizieren, aber erst im Nachhinein fest- ßen Städte, werden mitmachen. Die Landkreise werden stellen kann. Deshalb glaube ich, es ist das Wichtigste, sich nach und nach anschließen. Die Spitzenorganisatio- dass wir uns auf eine Revisionsklausel verständigen und nen der Städte, die Städtetage und der Städte- und Ge- mit ihrer Hilfe eine Spitzabrechnung vornehmen, die den meindebund, stehen ohnehin voll und ganz dahinter. Kommunen absolute Sicherheit gibt. Daran sind wir in- Langsam, aber sicher wird man auch die Auseinander- teressiert. setzungen bzw. Diskussionen mit dem Landkreistag leid, der sich in bürokratisch-juristischen Auseinandersetzun- (Zuruf von der CDU/CSU: Das glauben Sie gen erschöpft, statt sich auf diese Aufgabe zu konzen- doch selber nicht!) trieren. Wir haben hier kein Kompetenzgerangel und keine Kompetenzhuberei, sondern vernünftige Arbeit für Das wollen wir. Hier wird niemand über den Tisch gezo- die Arbeitslosen abzuliefern. gen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Ich wiederhole unsere Zusage, dass den Kommunen, DIE GRÜNEN – Johannes Singhammer nachdem wir uns über die Berechnungsmethoden dieses [CDU/CSU]: Was ist mit den Finanzen? – Finanzmodells verständigt haben, aus der Gesamtopera- tion unter dem Strich ein Gewinn in Höhe von (B) Weiterer Zuruf von der CDU/CSU: Sagen Sie (D) lieber mal, wo das Geld herkommen soll!) 2,5 Milliarden Euro bleibt. Diese Zusicherung gilt. Sie schließt allerdings ein, dass die Länder, die durch diese Jetzt steht das Kommunale Optionsgesetz auf unserer Operation in der Größenordnung von etwa 2,5 Milliar- Tagesordnung. Hier geht es darum, insbesondere in den den Euro begünstigt werden, bereit sein müssen, diesen Finanzfragen Klarheit zu schaffen. Sie wissen, dass sich Betrag an die Kommunen weiterzugeben. mein Ministerium seit einiger Zeit bemüht, mit der Bun- desagentur und vor allen Dingen mit den Ländern und (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der kommunalen Ebene zu einer gemeinsamen Lösung des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) zu kommen. Natürlich brauchen die Kommunen auch Klarheit (Hans-Joachim Fuchtel [CDU/CSU]: Wo über die Ausgestaltung des Optionsrechts. Diese Klar- kommt das Geld her?) heit wird geschaffen, wenn Sie den heute vorliegenden Gesetzentwurf mit uns gemeinsam verabschieden und – Herr Kollege, Sie sind ja sehr auf die Finanzen fixiert. ihm auch der Bundesrat zustimmt. Das ist auch richtig; denn das ist das Wichtigste. (Dirk Niebel [FDP]: Das ist kein Options- (Hans-Joachim Fuchtel [CDU/CSU]: Sagen recht!) Sie mal was dazu!) Hierzu hat sich die Opposition in den bisherigen Bera- Deswegen haben wir uns im Vermittlungsverfahren auf tungen ablehnend geäußert. Sie werden verstehen, dass den Umfang der finanziellen Ausstattung aller Beteilig- uns das überhaupt nicht beeindruckt, ten verständigt. (Hans-Joachim Fuchtel [CDU/CSU]: Das ist (Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Eine Ver- ein großer Fehler!) ständigung, die dann gebrochen wurde!) Zu diesem Zweck führt man ja Vermittlungsverfahren sondern dass wir unverändert an Sie appellieren, sich durch. Die Kommunen sind aber der Meinung, dass nicht auch auf diesem Feld in einer Organisationsdebatte diese Finanzmittel nicht ausreichen. Hierzu führen wir, zu verlieren. Das sagen Ihnen alle Experten. Lesen Sie ohne dabei Vorwürfe zu erheben, sehr ernsthafte Gesprä- das im Sachverständigengutachten nach! Darin wird Ih- che. nen bescheinigt, dass das Mehr an Bürokratie, das durch ein Gesetz, wie Sie es sich vorstellen, geschaffen würde (Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Das ist – Sie wollen ja auch noch eine Verfassungsänderung –, die völlig falsche Formulierung!) den Reformprozess aufhalten und insgesamt zu Unsi- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. April 2004 9491

Bundesminister Wolfgang Clement (A) cherheit führen, aber nicht zu Lösungen beitragen jetzt gottlob unterhalb von 4 Prozent, bei den Jugendli- (C) würde. chen unter 25 Jahren unterhalb von 8 Prozent. (Dirk Niebel [FDP]: Sie haben das doch selbst (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist immer noch angeboten, aber bei Ihren Leuten nicht durch- eine Katastrophe!) setzen können!) – Das ist immer noch zu viel. Es ist immer noch Deshalb lautet meine Bitte: Gehen Sie den Weg mit, schlecht, auch wenn es im europäischen Maßstab übri- den wir Ihnen mit dem vorliegenden Entwurf eines Opti- gens nicht ganz so schlecht ist. onsgesetzes vorgeschlagen haben. Dieser Weg ist der Wir werden uns auf unsere Aufgaben konzentrieren beste, der ohne Verfassungsänderung möglich ist. Er und diesen Prozess vorantreiben. Ich bin überzeugt, dass wird meiner Überzeugung nach auch dem Grundgedan- wir erfolgreich sein werden. Wichtig ist, dass die Kom- ken der Vereinbarung, die wir im Vermittlungsausschuss munen zur Zusammenarbeit bereit sind. Ich bin über- getroffen haben, gerecht. zeugt, sie sind es. Wir haben die Pflicht, die finanziellen Meine Damen und Herren, es wird viel über Mitwir- Grundlagen zu klären – das tun wir mit Hochdruck –, kung der Kommunen gesprochen; vor allen Dingen und Sie haben aus meiner Sicht die Pflicht, konstruktiv von Ihnen, der CDU/CSU, die Sie die Kommunen ja neu mitzuwirken. Das tun Sie am besten, wenn Sie mitgehen entdeckt haben. auf dem Weg, den wir mit dem Optionsgesetz vorge- zeichnet haben. (Hans-Joachim Fuchtel [CDU/CSU]: Was?) Ich danke Ihnen sehr für Ihre Geduld und Aufmerk- Finanziell haben Sie für die Kommunen bisher in den samkeit. Ländern, in denen Sie die Verantwortung tragen, relativ (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ wenig getan, sowohl gegenwärtig als auch in der Ver- DIE GRÜNEN) gangenheit. Ich sage Ihnen: Helfen Sie lieber mit, dass jetzt auf der kommunalen Ebene geschieht, was gesche- hen muss. Bei der Bundesagentur für Arbeit verfügen Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: wir über ausreichend Mittel, um noch Zehntausenden Das Wort hat der Kollege Karl-Josef Laumann, CDU/ von Jugendlichen durch das JUMP-plus-Programm zu CSU-Fraktion. einer Ausbildung, Umschulung oder Vorqualifizierung zu verhelfen. Da liegt noch Geld für Arbeitsplätze für Karl-Josef Laumann (CDU/CSU): Zehntausende junge Arbeitslose. Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrter Herr (B) (Zuruf von der CDU/CSU: Warum?) Bundesminister! Meine Damen und Herren! Das Pro- (D) blem bei dieser Debatte heute ist, dass wir ein Gesetz be- Dort liegt übrigens auch noch Geld für Zehntausende raten, bei dem schon die Überschrift nicht stimmt. von Arbeitsplätzen für Langzeitarbeitslose. Statt wie Sie (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) eine, wie ich finde, überzogene Organisationsdiskussion zu führen, sollten wir allesamt in unseren Kommunen Dort heißt es „optionale Trägerschaft“, in Wahrheit ist in dazu beitragen – das ist mir wichtig –, dass etwas in Be- dem Gesetz von Trägerschaft aber gar nicht die Rede. wegung kommt, was die Leute von der Straße bringt, Hier wird von Ihnen ein Organleihemodell vorgeschla- was gerade junge Leute in Ausbildung und Arbeit, in gen. Ich glaube, dass es gar keinen Streit darüber geben Ausbildungsplätze und Umqualifizierung bringt. muss: „Option“ hätte bedeutet, dass die Aufgabe in die- sem Fall zur Kommune kommt und sie diese in Eigen- (Dirk Niebel [FDP]: Warum können die Kom- verantwortung wahrnimmt. munen das Ihrer Ansicht nach besser als die Bundesagentur, warum sollen die Kommunen (Hans-Joachim Fuchtel [CDU/CSU]: Sehr das machen?) richtig!) Dabei können Sie helfen. Das wäre mehr wert als das, Die Wahrheit ist auch – um dabei ganz ruhig zu blei- was Sie versuchen, nämlich Verunsicherung unter die ben –: „Organleihe“ bedeutet, dass das Organ, in diesem Menschen zu bringen. Sie werden es nicht schaffen, Sie Fall die Kommune, zur Aufgabe wandert, diese Aufgabe werden uns dabei nicht aufhalten – gewöhnen Sie sich an aber in den Entscheidungssträngen der Bundesagentur den Gedanken! für Arbeit verbleibt. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Hans-Joachim Fuchtel [CDU/CSU]: Genau DIE GRÜNEN) so ist es!) Wir alle – Sie und wir – haben am Arbeitsmarkt genug Das ist der Streit um den Unterschied, den wir haben: Zeit verloren. Wir werden nicht noch mehr Zeit verlieren Wollen wir einem Landkreis, einer kreisfreien Stadt die wollen, sondern alles tun, um unseren Fahrplan einzu- Möglichkeit geben, in Eigenverantwortung zu handeln, halten. oder wollen wir nur die Möglichkeit einräumen, in den Entscheidungsstrukturen der Bundesagentur für Arbeit Dass etwas geschieht, sehen Sie, wenn Sie einen mitarbeiten zu können? Ich finde, es ist auch in Ord- Blick auf die Jugendarbeitslosigkeit werfen: Die Ar- nung, dass wir darüber streiten. Hier geht es ganz beitslosigkeit von Jugendlichen unter 20 Jahren liegt einfach darum, ob der Wettbewerb der Ideen vieler 9492 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. April 2004

Karl-Josef Laumann (A) kommunaler Träger und Beschäftigungsorganisationen ßen unter die Weisungshoheit der Bundesagentur (C) in der schwierigen Frage, wie man trotz der schwierigen für Arbeit, die zugleich die Verantwortung dafür Arbeitsmarktlage Langzeitarbeitslose integrieren kann, übernehmen muss. in diesem Land noch stattfindet oder ob er nicht mehr stattfindet. Durch diese Aussage wird ganz deutlich, was passiert, wenn dieses Gesetz verabschiedet wird. Dieses Gesetz bedeutet – das wissen auch Sie –, dass mit dem 1. Januar 2005 ein Ende der kommunal verant- Herr Clement, ich sage Ihnen ganz offen: Das, was worteten Beschäftigungspolitik bevorsteht. Dies bedeu- Sie vorgelegt haben, entspricht nicht dem Sinn und Geist tet nicht notwendigerweise das Ende der gemeinsamen unserer gemeinsamen Entschließung vom 18. Dezember Beschäftigungsbemühungen von Kommune und Ar- des letzten Jahres, beitsamt, aber das Ende einer kommunal verantworteten (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Beschäftigungspolitik. Das wird die Beschäftigungspoli- tik in unserem Land ärmer machen; davon bin ich über- die die Zusammenführung von Arbeitslosenhilfe und So- zeugt. zialhilfe mit einer Option auf eine kommunale Träger- schaft zum Inhalt hatte. Das wissen Sie. Darüber bin ich (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) persönlich sehr enttäuscht. Das wird auch Auswirkungen Es sollte Sie sehr nachdenklich machen, dass der darauf haben, wie wir in Zukunft miteinander umgehen. Deutsche Landkreistag, der immerhin 323 von 439 kom- In einem Punkt Ihrer Rede, die Sie gerade gehalten munalen Körperschaften vertritt, die überhaupt optieren haben, gebe ich Ihnen Recht: Ihr Vorschlag ist die ein- können, sagt: Unter den Bedingungen dieses Gesetzes zige Möglichkeit, die es gibt, um dieses Problem unter- können wir uns das überhaupt nicht vorstellen. halb des Ranges einer Verfassungsänderung zu lösen. (Hans-Joachim Fuchtel [CDU/CSU]: So ist die Darin gebe ich Ihnen ausdrücklich Recht. Ich muss mich Wahrheit!) aber fragen, warum wir die Verfassung nicht ändern kön- nen, wenn wir der Meinung sind, dass die Kommunen Ein weiterer Punkt: Jeder von uns, der sich mit kom- einen erheblichen Beitrag in Eigenverantwortung erbrin- munaler, mit regionaler Arbeitsmarktpolitik beschäftigt gen können. Wenn wir in Deutschland die Verfassung für hat, weiß doch – den Eindruck habe ich seit Jahren –, den Tierschutz ändern können, dann werden wir doch dass die besten Ergebnisse dort zustande kommen, wo wohl auch in der Lage sein, sie für die Schwächsten am die kommunalen Gebietskörperschaften vernünftig mit Arbeitsmarkt zu ändern, damit der Arbeitsmarkt in dem Arbeitsamt zusammenarbeiten und umgekehrt. Das Strukturen kommt, die wir uns doch eigentlich alle ge- ist die Wahrheit und das kann niemand bestreiten. Aber wünscht haben. (B) es ist eben ein ganz großer Unterschied, ob dies in einem (D) Jobcenter stattfindet, in dem die Entscheidungsstruktu- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zu- ren der Bundesagentur gelten, oder ob es in einem Job- ruf des Abg. Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/ center stattfindet, wo regional denkende und handelnde DIE GRÜNEN]) Kommunalpolitik den Ton angibt. – In diesem Punkt hätten wir die Verfassung ändern kön- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) nen. Das ist gar kein Problem. Diesen Unterschied müssen wir in diesem Gesetz he- (Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- rausarbeiten. Das Gesetz, das Sie vorgelegt haben, hat NEN]: Das ist aber nicht gemacht worden!) mit Subsidiarität nichts zu tun; es ist ein Gesetz, das die Ich will einen weiteren Punkt ansprechen, der uns Zentralität verstärkt. auch nachdenklich stimmen soll. Ich habe am Montag in Frau Präsidentin, mit Ihrer Erlaubnis möchte ich nun der Anhörung einen Vertreter der Bundesagentur für Ar- aus dem Protokoll der Anhörung vom vergangenen beit gefragt, wie man dieses Problem seiner Meinung Montag zitieren. In dieser Anhörung hat Professor nach verwaltungstechnisch in den Griff bekommen Dr. Wieland von der Goethe-Universität auf könne. Er hat gesagt – das können Sie im Protokoll der eine Frage unseres verehrten und sachkundigen Kolle- Anhörung nachlesen –, dass man dafür etwa 40 950 Stel- gen Wolfgang Meckelburg len brauche. Heute gebe es etwa 14 000 Mitarbeiter bei der BA, die sich um die Arbeitslosenhilfe kümmern. (Zurufe von der CDU/CSU: Oh!) Man wird also weitere rund 26 000 Menschen irgendwie geantwortet: zur Bundesagentur bringen müssen, eventuell über Ge- stellungsverträge aus den Kommunen oder über die Be- Wenn Sie dieses Optionsmodell mit der Organleihe auftragung Dritter. verwirklichen, bedeutet das letztlich, Sie geben ei- gentlich den Vorteil der kommunalen Selbstverwal- Die Bundesagentur hat schon heute 91 000 Mitarbei- tung auf. Kommunale Selbstverwaltung lebt ja von ter. Sie wollen nun die Zahl der Stellen bei einer derart der demokratischen Legitimation von unten nach großen Behörde um 26 000 erweitern. Diese werden oben. Die kommunalen Stellen sind aus der örtli- zwar nicht alle in einem Arbeitsverhältnis mit ihr stehen, chen Gemeinschaft heraus legitimiert und handeln aber auf deren Payroll. Denn auch die von den Kommu- daraus. Wenn Sie hier optieren, wenn Sie von der nen Gestellten werden auf der Lohnliste der Bundesagen- Möglichkeit Gebrauch machen, die im Gesetzent- tur für Arbeit stehen und in deren Entscheidungsstruktu- wurf vorgesehen ist, begeben Sie sich gewisserma- ren eingebunden sein. Wenn Sie so weitermachen, dann Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. April 2004 9493

Karl-Josef Laumann (A) ist die Arbeitsverwaltung bald größer als die Bundes- (Otto Fricke [FDP]: Das geht auch gar nicht (C) wehr. Das kann nicht gut gehen. im Vermittlungsausschuss!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Deswegen reden wir heute darüber, wie die Option für die Kommunen aussehen kann. Zum Schluss bitte ich Sie, dass Sie Folgendes über- denken: Die Holländer – Herr Clement kommt wie ich Ich finde es interessant, dass Sie in diesem Zusam- aus einer Ecke, wo die Niederlande nicht ganz fern sind – menhang hier gesagt haben, dass das, was wir vorschla- können auf dem Arbeitsmarkt Erfolge verzeichnen, seit gen, unterhalb der Verfassungsänderung ein guter und sie ihn regionalisiert haben. Wenn ein Land mit gangbarer Weg sei. 16,2 Millionen Einwohnern Erfolge verzeichnen kann, (Dirk Niebel [FDP]: Nein, er hat gesagt, es ist wenn es regionalisiert, dann glaube ich, dass in einem der einzig mögliche!) Land mit 82 Millionen Einwohnern – das ist die Größe unseres wiedervereinigten Vaterlandes – eine Regionali- Herr Laumann, nehmen Sie Ihre eigenen Wort ernst und sierung erst recht anschlägt. machen Sie mit! Eines ist doch klar und darin sind wir alle uns auch vollkommen einig: Wir brauchen die Kom- Umkehren wollen Sie ja nicht mehr. Sie haben deut- munen bei der Umsetzung der anstehenden Arbeits- lich genug gesagt, dass Sie mit dem Kopf durch die marktreformen. Wand gehen werden. Sie müssen aber davon ausgehen, dass wir die Hand dazu nicht reichen. (Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Dann müs- Ich stelle fest, dass dieses Gesetz nicht dem Sinn und sen Sie auch was tun!) dem Geist der Entschließung vom 18. Dezember 2003 Wir brauchen die Kommunen. Sie müssen sich um die entspricht. Langzeitarbeitslosen kümmern und sie müssen auf der (Doris Barnett [SPD]: Unsinn!) sozialen Ebene, beispielsweise bei der Drogenberatung, gute Angebote machen. Aber sie müssen eben auch – da- Ich sage noch einmal: Wenn wir gewusst hätten, dass so für brauchen wir die Bundesagentur für Arbeit – bei der etwas dabei herumkommt, dann hätte es die Zusammen- Vermittlung tätig werden. Wir brauchen beide und wir führung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe nicht ge- brauchen die Kooperation der Kommunen mit der geben, weil wir nicht mitgemacht hätten. Es ist nicht zu Bundesagentur für Arbeit, weil jeweils eine Seite et- verantworten, dass sie in dieser Form zusammengeführt was besser kann als die andere. Diese Kooperation müs- werden. Den Menschen, die Arbeitslosenhilfe erhalten, sen wir vorbereiten. wird dadurch nämlich sehr viel Geld weggenommen, ob- wohl sie nicht zu viel haben. Gleichzeitig werden ihnen Lassen Sie mich an dieser Stelle einen Punkt aufgrei- (B) (D) keine effizienteren Betreuungsstrukturen angeboten. Das fen, den der Minister vorhin angesprochen hat: Wir brau- ist unverantwortlich. chen die Kommunen. Deshalb ist es auch völlig klar, dass wir das Ziel, das wir durch die Zusammenlegung Es gibt noch einen weiteren Punkt, der gelöst werden von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe erreichen wollten, muss. Dabei geht es um die Mieten, also um die Unter- nämlich zu einer Entlastung der Kommunen in Höhe von kunftskosten, und darum, wie stark die Kommunen hier 2,5 Milliarden Euro zu kommen, auch weiterhin verfol- belastet werden. Das muss gelöst werden. In Nordrhein- gen werden. Das ist unser politischer Wille. Westfalen wird sich keine einzige Kommune mehr au- ßerhalb des Ausgleichsstocks befinden, wenn das, was Die Daten, die heute vorliegen, wurden im Vermitt- jetzt im Gesetz steht, Realität wird. lungsausschuss übrigens gemeinsam mit der Opposition zugrunde gelegt. Sie waren also die Grundlage für die Ich kann Ihnen nur raten: Ändern Sie den Weg! An- gemeinsame Entscheidung. sonsten wird bei der Kommunalwahl in Nordrhein-West- falen am 26. September 2004 deutlich werden, wer für (Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Sie wa- diese Finanzsituation verantwortlich ist. ren damals schon falsch!) Schönen Dank. Diese Daten entsprechen heute nicht mehr der Realität, da die Entlastung offenbar nicht vollständig so erfolgt, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) wie wir das gehofft haben. Deswegen wird hierüber auch weiterhin geredet werden. Die Wahrheit wird wahr- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: scheinlich in der Mitte liegen: Herauskommen werden Das Wort hat die Kollegin Dr. Thea Dückert, Bünd- sicherlich nicht die 5 Milliarden Euro, die jetzt von der nis 90/Die Grünen. kommunalen Seite eingeklagt werden. Aber offenbar ist die Realität am Arbeitsmarkt auch nicht so, dass tatsäch- lich 2,5 Milliarden Euro erbracht werden. Es ist wichtig, Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): das eindeutig festzustellen. Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle- gen! Herr Laumann, wir sind heute hier zusammenge- Ich möchte für meine Fraktion noch einmal sagen, kommen, weil weder Sie noch wir am 18. Septem- dass wir den Vorschlag, eine Revisionsklausel einzufüh- ber 2003 eine Mehrheit für eine Verfassungsänderung im ren, in diesem Zusammenhang als sehr vernünftig und Vermittlungsausschuss gefunden haben. Die Verfas- produktiv ansehen. Wir halten es für notwendig, dass die sungsänderung wurde im Vermittlungsausschuss weder finanzpolitischen Spielräume der Kommunen auch und vorgeschlagen noch durchgesetzt. gerade durch die Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe 9494 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. April 2004

Dr. Thea Dückert (A) und Sozialhilfe erweitert werden, damit auch die Betreu- Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (C) ungsmöglichkeiten von Kindern unter drei Jahren weiter Herr Niebel, Ihre Arbeitsmarktpolitik hatte schon im- verbessert werden. Das ist nämlich auch aus arbeits- mer – das ist in den letzten Monaten wieder ganz deut- marktpolitischen Gründen erforderlich. lich zutage getreten – die Absenkung der Sozialhilfe zum Ziel. Das war immer ein Element und Baustein Ih- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ rer Strategie. Heute wollen Sie DIE GRÜNEN) (Otto Fricke [FDP]: Die Frage war, warum Sie Die Opposition schlägt jetzt die Verschiebung der Zu- es vor drei Jahren abgelehnt haben!) sammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe vor; Herr Koch will gar – ich komme darauf noch zu angesichts unserer fortgesetzten Reformen – ich wieder- sprechen – einen Boykott. Das würde den Kommunen hole: Sie hätten sie in Ihren über 20 Jahren Regierungs- zusätzlich schaden. Eine Verschiebung der Maßnahmen beteiligung einleiten können – die Bundesagentur für würde nämlich gerade nicht zu einer Entlastung der Arbeit sogar zerschlagen. Kommunen führen. (Dirk Niebel [FDP]: Auflösen!) Wir brauchen die Zusammenlegung von Arbeitslo- Die unsoziale Strategie Ihrer Arbeitsmarktpolitik und die senhilfe und Sozialhilfe aber auch aus einem ganz ande- kontraproduktiven Elemente beim Umgang mit der Bun- ren Grund. Seit Jahren wäre sie notwendig gewesen; sie desagentur für Arbeit haben sich auch in Ihren damali- ist längst überfällig. gen Anträgen widergespiegelt. (Dirk Niebel [FDP]: Warum haben Sie es dann (Birgit Homburger [FDP]: Antwort!) vor zwei Jahren abgelehnt, als wir es beantragt haben?) Deswegen konnten wir sie beim besten Willen nicht un- terstützen, Herr Niebel. Wir hätten dies bereits in den 90er-Jahren tun müssen. Sie haben das in den 90er-Jahren verschlafen. Lassen Sie mich zurückkommen: Es ist überfällig, die Arbeitslosen- und Sozialhilfe zum 1. Januar 2005 zu ei- (Lachen bei der CDU/CSU) ner neuen Grundsicherung für Arbeitsuchende zusam- menzulegen und die Kommunen als Partner auf gleicher – Diese absurden Doppelstrukturen gibt es nur in Augenhöhe in diese Aufgabe einzubinden. In dieser Si- Deutschland: Steuerfinanzierte Systeme – Arbeitslosen- tuation – das ist ein riesiges Projekt, das viele Verände- und Sozialhilfe – existieren nebeneinander her; die rungen mit sich bringt und viele Schwierigkeiten birgt – Langzeitarbeitslosen werden in zwei Schubladen einsor- stellt sich Herr Koch von der CDU quer (B) tiert, die Sozialhilfeempfänger teilweise zu Bittstellern (D) diskreditiert, weil die Leistungen nicht pauschaliert sind. (Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Ein tüchtiger Ministerpräsident!) (Klaus Brandner [SPD]: Wir packen es an!) und ruft die Kommunen zum Boykott in der Zusammen- Das alles ist von Ihnen über Jahre hinweg gepflegt wor- arbeit mit der Bundesagentur für Arbeit und den Arbeits- den, übrigens immer verbunden mit dem Ziel, die So- ämtern auf, weil ihm das Modell, das für die Träger- zialhilfe abzusenken. Wir wollen, dass die Sozialhilfe- schaft des Arbeitslosengeldes II vorgeschlagen wird, empfänger Zugang zur aktiven Arbeitsmarktpolitik nicht passt. Ich halte das für einen unglaublichen Vor- haben und nach der Reform vernünftig und zügig betreut gang. Dieser Boykottaufruf von Herrn Koch ist nichts werden. anderes als ein Zeichen dafür, dass die Opposition mitt- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN lerweile hemmungslos im Umgang mit Langzeitarbeits- und bei der SPD) losen geworden ist und sie in Geiselhaft ihrer Politik nehmen will.

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des und bei der SPD) Kollegen Niebel? Blockade und Angstmacherei – das war stets eine Strategie Ihrer Arbeitsmarktpolitik. Angesichts dessen Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): tue ich mich schon schwer mit dem von Ihnen, Herr Ja, Herr Kollege Niebel. Bitte sehr. Laumann, immer so freundlich vorgetragenen Angebot, ernsthaft in der Sache zu streiten. Denn um die Sache geht es Ihnen offensichtlich überhaupt nicht. Dirk Niebel (FDP): Vielen Dank, Frau Dückert. – Ich stimme Ihnen aus- (Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Das war drücklich zu, dass es sinnvoll ist, die beiden steuerfinan- ernst gemeint!) zierten Leistungen zusammenzulegen, stelle Ihnen aber Es geht Ihnen um Diskreditierung und Zerschlagung ei- die Frage, weshalb Sie vor knapp drei Jahren unseren ner Arbeitsmarktreform, die absolut notwendig ist. Antrag, genau das zu tun, hier in diesem Hause abge- lehnt haben. (Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Eine schlechte Politik kann man nicht unterstüt- (Doris Barnett [SPD]: Wir sind die Besseren!) zen!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. April 2004 9495

Dr. Thea Dückert (A) Das Optionsgesetz, das wir heute diskutieren, ist ein Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (C) Stück weit ein Aufhänger für diese Debatte, weil das, Frau Kollegin, Sie müssen zum Ende kommen. was wir bereits verabschiedet haben und was Gesetz ist, die Umsetzung der Reform notwendig und möglich Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): macht. Ich komme zum Schluss. – Nun heißt es überall, es (Dirk Niebel [FDP]: Dann blockieren wir doch sei schwierig, zum 1. Januar 2005 die Auszahlung zu or- gar nicht!) ganisieren. Es besteht – so wurde in der Anhörung ge- sagt – eine 20-prozentige Wahrscheinlichkeit, dass die Die Arbeitsgemeinschaften sind inzwischen Gesetz. Software nicht gut funktioniert. Ich erwarte von den Zum 1. Januar 2005 kann die Zusammenlegung von Ar- Kommunen und von der Bundesagentur für Arbeit, – beitslosen- und Sozialhilfe kommen.

(Dirk Niebel [FDP]: Warum wirft man uns Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: dann Blockade vor?) Frau Kollegin, Sie müssen jetzt wirklich zum Ende – Genau das blockieren Sie, Herr Niebel. Ihr Kollege kommen. Laumann schlägt die ganze Zeit vor, die Zusammenle- gung der Arbeitslosen- und Sozialhilfe um ein Jahr zu Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): verschieben. Herr Koch ruft sogar die Kommunen zum – dass sie neben den Vorschlägen zur Software einen Boykott auf, um die angeschobenen Arbeitsmarktrefor- Plan B entwickeln, um die Probleme zu lösen, men aufzuhalten. (Dirk Niebel [FDP]: Das ist unverschämt!) (Dirk Niebel [FDP]: Sie verstehen das einfach nicht oder Sie wollen das nicht verstehen!) anstatt die Reform zu verschieben. Was Sie wollen, ist fahrlässig. Vielen Dank. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Otto Fricke [FDP]: Ich und bei der SPD) dachte, das sei vorsätzlich! Was denn nun?) Wir wollen den Kommunen eine Optionsmöglichkeit Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: einräumen. Die Organleihe, die wir vorschlagen, ist ein Nächster Redner ist der Kollege Dirk Niebel, FDP- faires Angebot. Die Kommunen bekommen in einem Fraktion. (B) sehr überschaubaren Rahmen eine Handlungsfreiheit. (D) Sie haben einen finanzpolitischen Spielraum in Form Dirk Niebel (FDP): von Budgets, über die sie frei verfügen können, und sie Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und erhalten einen Spielraum in Form von Zielvereinbarun- Herren! Der Bundesminister für Wirtschaft und Arbeit gen. Nur dann, wenn sie die politischen Zielvereinbarun- hat zu Recht gesagt: Wir brauchen die Kommunen. gen, die sie selber abschließen, verletzen, greift die Auf- Seine grüne Kollegin hat zu Recht gesagt: Wir brauchen sichtspflicht. Das ist in diesem Gesetz festgelegt. die Kommunen. – Sie legen hier ein Organleihegesetz Das ist exakt die Vereinbarung, die wir im Vermitt- vor, das mit Option nichts am Hut hat und das dazu füh- lungsausschuss getroffen haben. Darüber reden Sie näm- ren wird, dass die Kommunen das nicht machen werden. lich nicht mehr: Wir haben in einem Entschließungsan- Sie spielen Mikado mit den Lebenschancen von Millio- trag festgelegt, dass die Einbindung der Kommunen nen von Menschen – weil wir die Kommunen brauchen! durch Zielvereinbarungen erfolgt. Genau das wird hier- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – mit eingelöst. Der Handlungsspielraum der Kommunen Dr. Uwe Küster [SPD]: Sie nehmen die Men- wurde so groß wie möglich konzipiert, ohne die Verfas- schen in Haft!) sung ändern zu müssen. Das geben sie selber zu. Deswe- gen sage ich noch einmal: Machen Sie bei den Verände- Wir haben am 18. Dezember des letzten Jahres nach rungen mit! einem relativ langen Vermittlungsverfahren einen ge- meinsamen Entschließungsantrag von Bundestag und (Dirk Niebel [FDP]: Wir werden uns nicht mit Bundesrat hier in diesem Haus beschlossen, mit dem Ihnen schuldig machen!) eine eigenständige Trägerschaft für Kommunen, die Ich möchte zum Schluss noch eines ansprechen. Die optieren wollen, gewährleistet werden sollte. Das Organ- Reform, die auf die Menschen zukommt, ist ein riesiges leihegesetz, das Sie vorlegen, hat mit diesem Beschluss Projekt. Viele Arbeitslose, viele Kommunen, viele Trä- überhaupt nichts zu tun. ger und viele Angebote am Arbeitsmarkt sind davon be- (Beifall bei der FDP – Doris Barnett [SPD]: troffen. Es gibt in der Tat große Probleme in dem Be- Doch, lesen Sie mal nach!) reich. Die Lösung kann aber nicht darin bestehen, nur die Probleme zu nennen, sondern wir müssen Strategien – Frau Barnett, wir wissen schon aus der Medizin, dass zur Lösung der Probleme erarbeiten. Organleihe nicht funktionieren kann. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- (Doris Barnett [SPD]: Lesen Sie mal nach! Viel- SES 90/DIE GRÜNEN) leicht haben Sie Ihre Brille vergessen!) 9496 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. April 2004

Dirk Niebel (A) Wir brauchen Kommunen, die sich mit einer fairen, be- (Wolfgang Clement, Bundesminister: Machen (C) rechenbaren Chance um die Integration auf dem Arbeits- Sie sich keine Hoffnung!) markt kümmern können. Aus diesem Grunde haben wir gemeinsam mit der Union einen Entschließungsantrag – Ich mache mir keine Hoffnungen. Ich habe vielmehr eingebracht, der eine transparente Regelung mit grund- bittere Angst, dass es Anfang nächsten Jahres zu einem gesetzlicher Absicherung der Option einfordert, damit sozialen Chaos kommt, weil Sie sich nicht an die Verein- diese Aufgabe übernommen werden kann. barungen gehalten haben. Wir haben in dem Vermittlungsverfahren eine Reform (Wolfgang Clement, Bundesminister: Sie ha- beschlossen. Das ist – da haben Sie völlig Recht – schon ben Angst! Sie machen nichts anderes als Gesetz. Insofern können wir gar nichts blockieren. Wir Chaos!) wollen nur Fairness, wir wollen, dass Sie uns nicht bei Außerdem sind Ihnen von der Regierungsbank keine dem Beschluss betrügen, den wir gemeinsam getroffen Zwischenrufe erlaubt. haben. (Beifall bei der FDP – Dr. Uwe Küster [SPD]: (Beifall bei der FDP) Seien Sie einmal etwas ruhiger! Halten Sie mal die Zügel ein bisschen fester!) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Wir haben dreierlei beschlossen: erstens – das wollten Herr Minister, ich habe Verständnis für Ihre Erregung, Sie – die grundsätzliche Zuständigkeit der Bundesagen- aber Sie dürfen von der Regierungsbank aus keine Zwi- tur, zweitens die Möglichkeit, Arbeitsgemeinschaften zu schenrufe machen. bilden – Sie können die Kommunen dazu aufgrund des grundgesetzlich garantierten kommunalen Selbstbestim- Dirk Niebel (FDP): mungsrechts nicht verpflichten –, und drittens die Op- Frau Präsidentin, ich habe kein Verständnis für die Er- tion. Wenn Sie ein Gesetz vorlegen, mit dem sich die regung des Herrn Minister. Der Herr Minister hat sich Kommunen faktisch in die Abhängigkeit der Bundes- schlichtweg nicht an eine im Vermittlungsausschuss ge- agentur für Arbeit begeben, um dann als Organ der Bun- troffene Vereinbarung gehalten und jetzt versucht er, desagentur mit deren Dienstvorschriften arbeiten zu durch die Hintertür zu fliehen. müssen – das wird kein verantwortlich denkender Kom- munalpolitiker machen –, werden Sie keine Kommunen (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten finden, die optieren werden. der CDU/CSU – Dr. Uwe Küster [SPD]: Herr Niebel, bleiben Sie ein bisschen dichter an der Insofern bleiben nur die ersten beiden Alternativen, (B) Wahrheit! Das ist ja unglaublich, was Sie be- (D) die grundsätzliche Zuständigkeit der Bundesagentur und haupten!) die Möglichkeit, Arbeitsgemeinschaften zu bilden. Die die Regierung tragenden Fraktionen und er wer- (Beifall bei der FDP) den dafür verantwortlich sein, wenn Anfang nächsten Wir haben in der Anhörung gehört – lesen Sie das Jahres die Existenz von Millionen Menschen gefährdet bitte im Protokoll nach, Herr Clement! –, dass sich die wird. Sie tragen die politische Verantwortung dafür. Kommunen angesichts ihrer Haushaltssituation mittel- fristig sehr genau überlegen werden, ob sie Angebote (Beifall bei der FDP – Dr. Uwe Küster [SPD]: und Dienstleistungen für Aufgaben zur Verfügung stel- Das ist an der Grenze dessen, was man hier len, für die sie nicht mehr zuständig sind. Die Zuständig- noch sagen darf! Unglaublicher Mensch!) keit erfolgt grundsätzlich durch die Bundesagentur. Wir hören immer wieder, dass angesichts der Vielzahl Wir laufen Gefahr, dass mittelfristig Strukturen weg- von Datensätzen, die zu übertragen sind, und der Pro- brechen, die den Menschen vor Ort die letzte Chance zur blematik mit den Schnittstellen – es gibt 440 unter- Integration geboten haben. Sie selbst haben festgestellt, schiedliche Träger der Sozialhilfe, 180 Agenturen für Herr Clement, dass die Kommunen aufgefordert werden Arbeit, die unterschiedlichsten EDV-Programme und un- müssten, sich bei JUMP plus und Ähnlichem zu beteili- terschiedlich erfasste Daten – erhebliche Schwierigkei- gen, weil ihre Mitwirkung notwendig ist. Das hätten Sie ten auf uns zukommen. Hinzu kommt, dass unseres Wis- sicherlich nicht gemacht, wenn sie es nicht besser ma- sens die EDV zumindest zurzeit nicht funktioniert, nicht chen würden als die Bundesagentur. einmal insofern, als ein belastbarer Test durchgeführt werden könnte. Einen solchen Test haben Sie am (Beifall bei der FDP) 19. Mai geplant. Sie haben noch nicht angesprochen, was am 1. Januar Als Konsequenz daraus werden die Datensätze von kommenden Jahres geschehen wird, wenn sich eine den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern von Hand einge- Vielzahl der Kommunen nicht einer Arbeitsgemein- geben werden müssen. Außerdem werden aus der Porto- schaft anschließen wird. In dem Fall haben die Mitarbei- kasse oder aus welcher Kasse auch immer Abschlags- ter der Bundesagentur Aufgaben zu erfüllen, für die sie zahlungen gewährt werden müssen. keine Kompetenzen haben. Denn für den Personenkreis, um den es dabei geht – langfristig arbeitslose Men- (Dr. Uwe Küster [SPD]: Er hat heute früh schen –, ist der Verlust des Arbeitsplatzes meistens nur wohl seine Blutdrucktropfen vergessen! Un- eines von sehr vielen Problemen. glaublich!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. April 2004 9497

Dirk Niebel (A) Die Betroffenen werden leider nicht vor Ihrem Ministe- dieser Stelle für meine Fraktion ganz deutlich zurück- (C) rium, sondern vor den Agenturen für Arbeit stehen und weisen. diejenigen belasten, die sich darum bemühen, diese Menschen wieder in Arbeit zu vermitteln. Was Sie ma- (Beifall bei der SPD) chen, ist unverantwortlich, Herr Clement! Lieber Herr Niebel, als ich Ihre Rede verfolgt habe, habe (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) ich gedacht: Wer so schreit, der muss sich auch nach sei- ner Kinderstube fragen lassen. Ich habe jedenfalls ge- Mir graut davor, dass nach dem Dosenpfand, dem vir- lernt: Wer schreit, hat Unrecht. Sie haben Unrecht in die- tuellen Arbeitsmarkt und der LKW-Maut das nächste ser Angelegenheit. große Desaster dieser Regierung kommt. Deswegen for- dere ich Sie auf, Herr Clement: Geben Sie den Kommu- (Beifall bei der SPD – Dirk Niebel [FDP]: nen, so wie wir es vereinbart haben, die gerechte Mög- Wenn Sie meine Mutter beleidigen wollen, lichkeit, die Aufgaben zu übernehmen, wenn sie dies dann ist aber was los!) wollen. Die Kommunen, die das nicht wollen, werden In der Sache selbst müssen wir jetzt, unabhängig von sich dann sicherlich den Arbeitsgemeinschaften an- persönlichen Sichtweisen, die Debatten schnell beenden schließen. Das ist dann vermutlich auch das Beste, weil und zu einer zügigen Umsetzung kommen. Roland Koch die Selbstbestimmung der Kommunen das entschei- hat gestern die Kommunen zur Blockade aufgerufen. dende Kriterium dafür ist, ob sie den Wettbewerb um die Meine Damen und Herren von der Opposition, ich finde, besten Ideen gewinnen können. Nur dann können die es ist ein Skandal, dass Sie damit zum Gesetzesboykott Menschen, um die es hierbei geht, eine Chance zur Inte- aufgerufen haben. Viel schlimmer ist aber, dass Sie Ihre gration und zur Teilhabe am gesellschaftliche Leben be- politischen Interessen auf dem Rücken der Arbeitslosen, kommen. den Schwächsten der Gesellschaft, durchzusetzen versu- Wir werden jedenfalls in weiteren Vermittlungsver- chen. Das diskreditiert Sie. fahren nicht mehr so blauäugig sein, Herr Clement, uns (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten auf Entschließungen oder Protokollnotizen zu verlassen. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Die Zusammenarbeit mit Ihnen wird schwieriger, weil wir Ihnen nicht trauen können. Sie behaupten, die Kommunen würden nicht mitmachen. (Doris Barnett [SPD]: Die Zusammenarbeit Tatsächlich gibt es aber zahlreiche kommunale Initia- mit Ihnen!) tiven. Bremsen Sie diese nicht ab! Behindern Sie die Zu- sammenarbeit nicht! Die Menschen in diesem Land seh- Wir werden in weiteren Vermittlungsverfahren Punkt für nen sich nach Überwindung der sozialen Unsicherheit (B) Punkt, Komma für Komma und Buchstabe für Buch- sowie nach Zusammenarbeit und praktikablen Lösun- (D) stabe beschließen müssen, weil Sie nicht ehrlich und gen. Solche haben wir auch vorgeschlagen. redlich sind und weil Sie belogen und betrogen haben. (Vorsitz: Vizepräsident Dr. ) (Doris Barnett [SPD]: Na, na! An die eigene Nase fassen!) Wir haben gehört, dass es schon viele gute Beispiele gibt. Im Ministerium für Wirtschaft und Arbeit ist eine Vielen Dank. Gruppe gebildet worden, die Musterarbeitsgemein- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten schaften voranbringen soll. Diese sollten wir unterstüt- der CDU/CSU) zen; denn jetzt sind Taten und nicht große Reden gefragt. Jetzt ist die Stunde der Praxis. Es gibt keine Ausflüchte mehr, man müsse erst noch auf die eine oder andere ge- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: setzliche Regelung warten. Alle arbeitsmarktpolitischen Das Wort hat der Kollege Klaus Brandner, SPD-Frak- Akteure sollten zügig an die Arbeit gehen. Den Zeitplan tion. – darauf haben Vorrednerinnen und Vorredner schon hin- gewiesen – gilt es einzuhalten. Es hilft auch nichts, wenn Klaus Brandner (SPD): wir diese notwendige und sinnvolle Reform hinausschie- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten ben. Einige behaupten, ein solches Mammutprojekt Damen und Herren! Mit der Verabschiedung des Op- brauche mehr Zeit. Ich sage dazu: Erstens haben wir tionsgesetzes vollziehen wir heute den letzten Schritt der noch acht Monate Zeit. Zweitens haben wir schon viel Reformen am Arbeitsmarkt. zu viel Zeit bis zur Umsetzung dieses wichtigen Vorha- (Zuruf von der FDP: Hoffentlich nicht! – bens verstreichen lassen. Jochen-Konrad Fromme [CDU/CSU]: Die alle (Beifall bei der SPD) gescheitert sind!) Jeder weiß: Nur wenn man mutig ist, die notwendigen Wir legen damit pünktlich ein faires Angebot vor, das Reformen anzupacken, kann man wieder Zuversicht und die Möglichkeiten des Grundgesetzes voll ausschöpft. Vertrauen in der Gesellschaft gewinnen und dafür sor- Denn wir alle wissen, dass eine Grundgesetzänderung gen, dass die Beschäftigung in diesem Land zunimmt. im Bundesrat nicht mehrheitsfähig gewesen wäre. Die Wir brauchen Menschen, die zupacken, und keine Men- Vorwürfe, die gerade mein aufgeregter Vorredner in schen, die alles mies machen. einer aus meiner Sicht unflätigen Weise erhoben hat – er hat unter anderem von Lügen gesprochen –, muss ich an (Beifall bei der SPD) 9498 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. April 2004

Klaus Brandner (A) Die Arbeitsagenturen und die Kommunen müssen die erlebt – wir kennen das auch aus Heilbronn und aus an- (C) Bildung von Arbeitsgemeinschaften jetzt zügig angehen. deren Orten –, dass es klappen kann. Wer die positiven Dafür haben wir den notwendigen Spielraum geschaffen. Beispiele nicht lobt, sondern nur auf negative Beispiele Das Optionsgesetz stellt klar, dass Gemeinden, die es verweist, der baut in diesem Land nichts auf, sondern der sich zutrauen, die Aufgabe allein übernehmen können. baut ab. Wir wollen aufbauen und nicht abbauen. Diese Gemeinden erhalten dann die gleichen Pauschalen für Eingliederungsleistungen und Verwaltungskosten, (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ wie sie auch den Arbeitsagenturen bzw. den Arbeitsge- DIE GRÜNEN) meinschaften zustehen. Jetzt geht es darum, mit den neuen Strukturen in Ar- Das Optionsgesetz ändert im Übrigen nichts an der beitsgemeinschaften offensiv umzugehen. Die Fortfüh- Finanzverteilung. Das haben viele in der Vergangenheit rung der kommunalen Beschäftigungsgesellschaften verwechselt. Bund und Länder haben im Übrigen ge- ist – danach wird oft genug gefragt – gesichert. Gerade meinsam gerechnet. Möglicherweise haben sie die Fall- bei der Beschäftigungsförderung brauchen wir die aus- zahlen unterschätzt. Das betrifft dann aber alle: Sie als drückliche Zusage, dass sich diese Beschäftigungsge- Opposition genauso wie uns, den Bund genauso wie die sellschaften keine Sorgen machen müssen. Wir befinden Länder. Tun Sie nun also nicht so, als ob der Bund Ihnen uns im Verfahren, das im SGB II geregelt ist. In den Ar- etwas Falsches vorgelegt und sich, wie Herr Koch jetzt beitsgemeinschaften kann die Aufgabe vergeben wer- behauptet, einen großen Teil vom Kuchen gegriffen den. Die Maßnahmen können, wie es bis jetzt nach dem hätte! Das ist schlicht gelogen. Mit dieser Verdrehung Bundessozialhilfegesetz geschieht, voll und ganz beibe- der Tatsachen und dieser Unsachlichkeit kommen wir halten werden. Deshalb muss mit der Verunsicherung keinen Millimeter weiter. Schluss sein. Sie ist verantwortungslos; schließlich brau- chen wir genau diese Trägerstrukturen für eine aktive (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Arbeitsvermittlung. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Außerdem gibt es die Möglichkeit der Übergangsre- Die Länder müssen im Übrigen auch die Ehrlichkeit gelung. Darauf kann man zurückgreifen, im Übrigen besitzen, die Einsparungen an die Kommunen weiterzu- auch dann, wenn der Leistungsbezug nicht gleich funk- geben. Hier liegt unter anderem der Hase im Pfeffer. tioniert. Ich bin aber davon überzeugt: Er wird funktio- Darauf sollten wir in diesem Haus gemeinsam achten. nieren. In Jobcentern kann man auch ganz pragmatisch Wir stehen jedenfalls zu unserer Verantwortung und Vereinbarungen treffen, die vorsehen, dass an mehreren werden auf eine seriöse Nachberechnung rasch reagie- Stellen Leistungen erbracht und Auszahlungen getätigt ren. Der Minister hat gerade noch einmal deutlich zu- werden. (B) gesichert – er hat kein Glaubensbekenntnis abgelegt, (D) sondern ein Versprechen gegeben –, dass die Bundesre- Die Beschäftigungsgesellschaften können – das ist we- gierung sowie die Bundestagsfraktionen von SPD und gen unserer gesetzlichen Grundlage etwas Neues – sogar Grünen dafür stehen, dass die Kommunen tatsächlich Bestandteil der Arbeitsgemeinschaften werden. Das um 2,5 Milliarden Euro entlastet werden. Eine solche heißt: Sie wären nicht nur Beauftragte, sondern ein Teil Zusicherung sollte endlich Mut machen, die Arbeit zur der aktiven Arbeitsmarktpolitik. Insofern finde ich es Bildung von Arbeitsgemeinschaften aufzunehmen. wichtig, dass das Bild der Arbeitsgemeinschaften schlüssig und logisch ist. Mit den Verschiebebahnhöfen Wir wissen, dass sich die Opposition in diesem Zu- muss endlich Schluss sein. Leistungen kommen aus ei- sammenhang rein destruktiv verhält. Sie haben die Bun- ner Hand. desagentur für Arbeit oft genug schlechtgeredet. Die FDP will sie sogar zerschlagen. Lassen Sie mich zum Schluss sagen: Auch bei den Ausschreibungsverfahren haben wir dafür gesorgt, (Dirk Niebel [FDP]: Auflösen!) dass auf die regionalen Belange in Zukunft wesentlich mehr Rücksicht genommen wird. – Das ist fein formuliert, bedeutet aber im Ergebnis nichts anderes. – Die CDU/CSU behauptet landauf, landab, dass die Arbeitsagenturen es nicht könnten und Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: dass man diesen keine Arbeit mehr geben dürfe. Das Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss. läuft letztendlich auf das Gleiche hinaus. Insofern müs- sen wir deutlich sagen: Wir stehen zu dieser Reform und Klaus Brandner (SPD): wir sind davon überzeugt, dass die Mitarbeiterinnen und Das geschieht durch kleinere Lose und durch das Mitarbeiter der Bundesagentur für Arbeit eine Chance Achten auf Qualität. Dadurch, dass den Qualitätskrite- verdient haben. Sie können zusammen mit den in den rien mehr Gewicht beigemessen wird, sorgen wir dafür, Kommunen Beschäftigten dazu beitragen und dafür sor- dass die kleinen leistungsfähigen Strukturen in der Flä- gen, dass Sozialhilfeempfänger stärker als in der Vergan- che erhalten bleiben. Das wird ein aktiver Beitrag zum genheit in Arbeitsverhältnisse integriert werden. Abbau der Langzeitarbeitslosigkeit vor Ort sein. Es geht darum, praktische Beispiele wie das aus Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Essen bekannter zu machen. Ihr ewiges Schlechtreden, das Sie in der Vergangenheit und auch heute praktiziert (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ haben, muss aufhören. Wir haben in Essen gemeinsam DIE GRÜNEN) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. April 2004 9499

(A) Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: vertrauen Sie doch zumindest der rot-grünen Regierung (C) Ich erteile dem Kollegen Johannes Singhammer, der Landeshauptstadt München; denn das sind Ihre poli- CDU/CSU-Fraktion, das Wort. tischen Freunde! (Otto Fricke [FDP]: Da bin ich nicht sicher!) Johannes Singhammer (CDU/CSU): Dort hat man ausgerechnet, dass bei dem Verfahren, das Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und Sie jetzt einführen wollen, allein die Landeshauptstadt Kollegen! Herr Bundeswirtschaftsminister, die Bundes- München mit 92 Millionen Euro zusätzlich belastet regierung steuert bei der Einführung des Arbeitslosen- würde. Deshalb ist die Bereitschaft bei den Kommunen geldes II auf die größte Bruchlandung der letzten Jahr- gering. Deshalb werden Sie auch keine neuen Kommu- zehnte zu. Ein bizarres Bild zeichnet sich ab: Der nen dafür gewinnen. Chefpilot des Jumbos Bundesagentur für Arbeit, Herr Weise, funkt SOS, die EDV-Programme für den Weiter- Was ist die Folge? – Die Folge ist, dass die Bundes- flug fehlen, das Höhenruder klemmt, agentur die in der Tat gewaltige Aufgabe der Zusam- menführung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe allein (Dirk Niebel [FDP]: Und kein Fallschirm an schultern muss. 40 000 Mitarbeiter – darüber haben wir Bord!) schon gesprochen – werden zusätzlich benötigt. der Finanzsprit für die Kommunen und die Landkreise (Widerspruch der Abg. Doris Barnett [SPD]) reicht nicht und die Pilotenmannschaft bittet um die Er- laubnis zur Notlandung. Was macht der Cheffluglotse im Ich möchte an das Beispiel von Karl-Josef Laumann sicheren Berlin, Herr Clement? – Er befiehlt: Augen zu, anknüpfen. Die Bundeswehr schrumpfen und die Bun- Blindflug bis zur Bruchlandung. desagentur aufblähen, das ist der rote Faden in der Poli- tik dieser Bundesregierung und das zeigt, wohin der Weg (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) geht. Statt Verschlankung und Beschränkung auf das Die Leidtragenden einer solchen Gesetzeskatastrophe Kerngeschäft der Arbeitsvermittlung, die nach allgemei- – 3,5 Millionen Menschen, über 2 Millionen Langzeit- ner Ansicht notwendig sind, franst die Bundesagentur zu arbeitslose, hinzu kommen die erwerbsfähigen Sozialhil- einer allgemeinen Sozialagentur aus. Sie wird zukünftig feempfänger – haben schon jetzt große Sorge. Ich sage an eine Bundessozialagentur und weniger eine Bundesver- dieser Stelle ohne Häme: Wir hätten uns gewünscht, dass mittlungsagentur sein. Bei der Vorbereitung der Umset- das Projekt der Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe zung dieses gewaltigen Vorhabens wurde – das lässt sich und Sozialhilfe gelingt und zu einem Erfolg für Deutsch- schon jetzt sagen – fehlerhaft kalkuliert und mit dem Be- land wird. Deshalb haben wir im Vermittlungs- harren auf ihrer Fortsetzung tragen Sie die Verantwor- (B) ausschuss alle Kräfte mobilisiert und unseren Beitrag tung. (D) geleistet. Wenn am 2. Januar kommenden Jahres, also 2005, (Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- mindestens 3,5 Millionen Menschen die neuen Leistun- NEN]: Ach ja?) gen erhalten sollen, um buchstäblich ihr Auskommen zu haben, um finanziell überleben zu können, dann, so sagt Die zentralen Absprachen im Vermittlungsausschuss die Bundesagentur, müssen wir am 1. Oktober dieses wurden aber – das wissen Sie genau – nicht eingehalten. Jahres beginnen, arbeitstäglich mehrere Zehntausend Deshalb sage ich an dieser Stelle klar und deutlich: Wir dieser Anträge zu bescheiden. Ab dem 1. August müssen lehnen jede Verantwortung für die sich anbahnende Ge- die Daten gesammelt werden. Das ist nicht einfach. Es setzeskatastrophe ab. Wir distanzieren uns von diesem müssen Anträge versandt werden, die Anträge müssen Gesetzesmurks. ausgefüllt werden, sie müssen zurückkommen, sie müs- (Beifall bei der CDU/CSU – Markus Kurth sen ausgewertet werden. Das muss EDV-tauglich gestal- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie lehnen tet werden. Dies geht nur, wenn ein funktionsfähiges Verantwortung ab! Darum geht es genau!) EDV-System vorhanden ist. Deshalb ist das so wichtig. Deshalb kommen wir in dieser Debatte auch immer wie- Die Bereitschaft zur Mitwirkung der Gemeinden, der der auf das EDV-Programm zurück. Städte und der Landkreise wird Tag für Tag mehr ver- Erst am 19. Mai, in wenigen Wochen, soll eine Risi- spielt. Für die meisten Städte stellt sich im Hinblick auf kostudie der Bundesagentur vorliegen, die klärt, ob die die Lösung der Arbeitsgemeinschaft natürlich die Technik überhaupt funktioniert und eingesetzt werden Frage: Wie schauen die Finanzen aus? Das ist auch für kann. Wenn es bei diesem komplizierten Vorhaben zu diese Alternative die entscheidende Frage. Nachdem Sie Fehlern kommt, dann gilt – so sagt die Bundesagentur; eine echte Option abgelehnt haben, wird die Bereit- das ist ihr eigenes Eingeständnis –: Es ist kein zeitlicher schaft, in eine Arbeitsgemeinschaft einzusteigen, nicht Puffer mehr vorhanden. Sie befinden sich auf ganz dün- wachsen, wenn Sie die grundlegende Frage, wie es mit nem Eis. Ein Fehler – und Sie brechen ein. Ich wünsche den Finanzen der Kommunen weitergeht, nicht klären. es nicht. Wieder einmal fehlen nach den Berechnungen der (Lachen der Abg. Doris Barnett [SPD]) Kommunen Milliarden, in diesem Falle 5 Milliarden Euro. Sie sagen: Es sind weniger. Das Problem wird sich Ich wünsche es auch den Arbeitslosen nicht. Ich sage schon noch lösen. – Wenn Sie uns nicht glauben, auch Ihnen: Es ist durchaus vorstellbar, dass am 2. Januar den Kommunen und den Kreisen nicht vertrauen, dann kommenden Jahres die Menschen an den Türen der 9500 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. April 2004

Johannes Singhammer (A) Arbeitsagenturen rütteln, weil sie ihr Geld noch nicht er- das Millionen Arbeitslose, potenzielle Arbeitslose und (C) halten haben. deren Angehörige in die Armut treiben wird. Das ist das eigentliche Thema, und nicht, wer dann das Ganze mit (Dr. Uwe Küster [SPD]: Das sind Ihre Speku- welcher Software durchführt. lationen! Auf diese Karte setzen Sie! Sie sind durchschaut!) (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [frakti- onslos]) – Sie brauchen nicht so dazwischenzuschreien! – Ich sage Ihnen eines: In den 50 Jahren der Geschichte der Sie wissen, dass die PDS gegen diese so genannte Ar- Bundesrepublik Deutschland sind wir von Volksaufstän- beitsmarktreform ist. Sie firmiert unter dem Namen den Gott sei Dank verschont geblieben. Hartz und ist Teil der Agenda 2010. Erst vor wenigen Wochen haben eine halbe Million Menschen bundesweit (Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- dagegen demonstriert; wie ich finde, zu Recht. Nun NEN]: Sie schüren sie!) staune ich allerdings, dass sich, wie man lesen kann, Kronzeugen zu Wort melden, von denen ich das gar Aber wenn Sie so weitermachen, gibt es für die Zukunft nicht erwartet hätte, nämlich die viel zitierten Wirt- keine Garantie. schaftsweisen. Sie haben gestern ihren Jahresbericht Jetzt komme ich zu einem weiteren ernsthaften Pro- vorgelegt. Eine Aussage in diesem Bericht lautet: Die blem: Weil jetzt alle Kraft der Mitarbeiter der Bundes- Agenda 2010 hat keine Besserung gebracht; sie schuf agentur – ich weise an dieser Stelle die Unterstellungen, massenhafte Verunsicherung; sie belastet den Binnen- die Sie ständig aussprechen, nämlich dass wir ihre Leis- markt; sie bremst das Wachstum und schafft keine Ar- tung nicht würdigen oder ihnen nichts zutrauen würden, beitsplätze. Das sind starke Worte, allemal dann, wenn zurück – auf dieses Projekt, das erkennbar mit schweren man sie an den großspurigen Versprechungen im Zusam- Mängel behaftet ist, konzentriert werden muss, werden menhang mit Hartz misst. Da war nämlich noch von ei- die anderen Vorhaben der Hartz-Reformen, die auch Sie ner drastischen Senkung der Arbeitslosigkeit die Rede. so dringend einfordern, insbesondere die Umsetzung der (Doris Barnett [SPD]: Über Nacht?) so genannten Hartz-III-Reform, also eine bessere Orga- nisation der Arbeitsämter, nur noch in einer Leicht- Die Fakten sprechen eine andere Sprache. Sie sprechen bzw. Softfassung verwirklicht werden. nicht für Rot-Grün – im Gegenteil. (Dr. Uwe Küster [SPD]: Jetzt aber einmal ru- (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [frakti- hig!) onslos]) Nun wollen Sie trotz alledem das Arbeitslosengeld II (B) – Logisch, Sie müssen ja alle Kräfte auf Hartz IV kon- (D) zentrieren. einführen. Auch wenn wir gemeinsam die einschlägigen Tabellen rauf- und runterrechneten, kämen wir für Fami- Zum Schluss richte ich deshalb meinen dringenden lien mit Kindern, für Alleinstehende, für Ältere im Wes- Appell an Sie und den Cheffluglotsen Wolfgang ten oder Jüngere im Osten immer wieder zu demselben Clement, der die Verantwortung trägt: Stoppen Sie den Ergebnis: Sie greifen Bedürftigen in die Tasche. Sie ge- Blindflug! Verhindern Sie die Bruchlandung! hen sogar ans Ersparte. Sie zwingen Arbeitslose in un- terbezahlte Jobs und drohen ihnen obendrein mit Stra- (Dr. Uwe Küster [SPD]: Das ist ja unerhört!) fen. Doch damit nicht genug: Sie drehen generell an der Und tun Sie alles, dass aus Hartz IV nicht eine Maut II Lohnspirale. Betroffen sind also nicht nur die Arbeitslo- wird! sen, sondern alle, die jetzt noch Arbeit haben. Oder mit den Worten des DGB-Chefs Sommer, der dieses in die- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) ser Woche auf den Punkt brachte: Sie benehmen sich so, als sei Arbeit Dreck. Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Ein Wort noch an den Kollegen Singhammer. Sie ha- Das Wort hat nun die Kollegin Petra Pau. ben sich ja eben zum Anwalt der Langzeitarbeitslosen aufgeschwungen. Petra Pau (fraktionslos): (Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Waren Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die wir immer schon!) Reform des Arbeitsmarktes stagniere, ist zu hören. Die Einführung des so genannten Arbeitslosengeldes II zum Sie haben nur vergessen, dass Sie sich freudig an diesem 1. Januar 2005 sei gefährdet. Noch immer sei unklar, ob Klau von Sozialleistungen beteiligt haben, indem Sie am und wie die Kommunen und die Bundesagentur für Ar- 19. Dezember der Einführung des Arbeitslosengeldes II beit zusammenwirken sollen. Obendrein gebe es auch für Menschen an der Armutsschwelle zugestimmt haben. noch Softwareprobleme. – Das sind – wie ich finde: zu (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [frakti- Unrecht – die Schlagzeilen der letzten Tage. Wir haben onslos]) nämlich kein Softwareproblem, sondern wir reden über ein Hardcoreprogramm, Kurzum: Es spricht sehr viel dafür, die Tätigkeit der Bundesagentur für Arbeit den neuen Bedingungen anzu- (Widerspruch des Abg. Dr. Uwe Küster passen. Aber die Vorhaben, die genau dieses Ziel verfol- [SPD]) gen, etwa entsprechend ausgestattete moderne Jobcenter, Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. April 2004 9501

Petra Pau (A) schieben Sie auf die lange Bank. Die Repressionen ge- nur daran, dass es neben den Arbeitslosenhilfeempfän- (C) genüber Arbeitslosen wollen Sie zugleich aber forcieren. gern auch noch Arbeitslosengeldempfänger gibt. Diese Sie meinen noch, das sei ein ehrgeiziges Ziel. Ich finde, bleiben auf jeden Fall im Zuständigkeitsbereich der Ar- das ist nicht ehrgeizig, sondern eher ehrabschneidend. beitsagentur. Aber auch in diesem Fall müsste eine ver- nünftige Kommune, selbst wenn sie optiert, ein Interesse (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [frakti- daran haben, diese schnellstmöglich zu vermitteln, damit onslos]) sie nicht erst zu ihren Arbeitslosengeld-II-Kunden wer- den. Auch deshalb würde hier eine Schnittmenge entste- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: hen, die deutlich für eine Arbeitsgemeinschaft spricht. Ich erteile das Wort der Kollegin Doris Barnett, SPD- Fraktion. Weil die Eventualitäten des Lebens vielfältiger sind, als man es vernünftigerweise in ein Gesetz schreiben sollte, kann ich trotz Ihrer ablehnenden Haltung nur da- Doris Barnett (SPD): für werben, mit uns das jetzt vorliegende Optionsgesetz Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir zu beschließen und die Akteure endlich an die Arbeit zu sind die Guten, wir haben es angepackt: Doppelstruktu- lassen. ren weg! Denn die Experten der Hartz-Kommission empfahlen vor knapp zwei Jahren die Zusammenlegung (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ von Arbeitslosen- und Sozialhilfe. Damals, im DIE GRÜNEN) August 2002, waren wir uns einig, dass das der richtige Weil wir einer flexiblen Handhabung den Vorzug vor Ansatz ist. Der Rahmen für die Reformen ist also schon schematischer Gleichmacherei geben, werden wir jede lange klar, und zwar allen Beteiligten: Bund, Ländern vernünftige Lösung fördern. Die guten Beispiele, die es und Kommunen. Der Vorschlag hatte damals mit Option bereits gibt – zum Beispiel in Köln und Düsseldorf –, nichts am Hut, wie Sie eigentlich wissen müssten, son- können Pate stehen und helfen, viele Detailfragen zu dern es wurde klar und eindeutig von der Hartz-Kom- klären. Dann kommen wir auch mit unserem eigentli- mission formuliert, dass die BA (neu) die Zuständigkeit chen Ziel, Menschen wieder in Arbeit zu bringen, haben und die Betreuung im Jobcenter erfolgen sollte. schneller vorwärts. Ziel unseres Gesetzentwurfes ist und bleibt, dass wir Bei den Debatten in den letzten Tagen hatte ich aller- die Kenntnisse und Erfahrungen der Akteure am Ar- dings eher den Eindruck, wir streiten über bürokratische beitsmarkt nutzen, um eine Absenkung der Arbeitslosig- Details und Vorurteile gegenüber den jeweiligen Fähig- keit zu erreichen und aus Leistungsbeziehern Erwerbstä- keiten der Verwaltungen – natürlich ist die eigene immer tige zu machen, die möglichst keinerlei Unterstützung (B) die bessere –, was vielleicht auch damit zusammenhängt, (D) mehr bedürfen. Aber nach fast zwei Jahren sollen wir dass man auf Kompetenzzuwachs hofft. Aber eigentlich noch immer nicht dürfen können, weil Ihnen, meine Da- muss es uns doch darum gehen, dem arbeitslosen Men- men und Herren von der Opposition, die Augenhöhe schen zu helfen. Da nützt es nichts, durch Verschiebung nicht passt. Sie verbelzebuben die Arbeitsgemeinschaf- des Gesetzes so zu tun, als könne man durch Zuwarten ten zwischen Kommunen, deren Beschäftigungsgesell- möglicherweise noch bessere Lösungen finden – in schaften und den Arbeitsämtern, obwohl diese schon zwei, drei oder fünf Jahren, wann auch immer, wahr- lange, zum Teil seit Jahren, sehr gut funktionieren. Fra- scheinlich nach der Bundestagswahl. Wir brauchen die gen Sie doch einmal in Köln nach, ob sie sich als Büttel Instrumente wie Jobcenter jetzt. Die Menschen wollen der BA fühlen! jetzt vermittelt werden, sie wollen jetzt in Arbeit oder Außerdem erinnere ich an die Ausführungen des Ver- Fortbildung und dabei interessiert es sie herzlich wenig, treters des Deutschen Städtetages in der Anhörung, der ob ihr Gegenüber von der Agentur für Arbeit, von der darauf hingewiesen hat, dass bei der Zusammenlegung Stadtverwaltung oder von der Kreisverwaltung kommt. der Aufgaben der Sozial- und Arbeitslosenhilfe Koope- Aber so soll es ja nicht sein. Zuerst will die Opposi- ration Grundbedingung ist, weil es keiner Seite allein tion geklärt haben, wie das Ergebnis des Vermittlungs- möglich ist, diese Herkulesaufgabe zu schultern. ausschusses zu interpretieren ist, nämlich so, wie die Aber auch wenn eine Kommune optiert – das soll sie CDU/CSU es in ihrem Gesetzentwurf vom September ja, wenn sie es will –, würde sie für viele Aufgabenstel- 2003 geschrieben hat: „Zuweisung aller Vermittlungs-, lungen des SGB III im Unterverhältnis die Agentur für Beratungs- und Leistungsaufgaben an die kreisfreien Arbeit beauftragen müssen. Oder glauben Sie allen Erns- Städte und Landkreise“. So steht es in Ihrem Gesetzent- tes, die Sozialämter vermitteln die Arbeitssuchenden wurf. Dieser sah damals eine Grundgesetzänderung vor. dann bundesweit? Denn darauf haben die Empfänger des Das ist das genaue Gegenteil von dem, was in dem Arbeitslosengeldes II Anspruch. Also läuft das echte Le- Hartz-Papier steht. Aber in der Beschlussempfehlung ben auch unter dieser Annahme wieder auf eine Arbeits- des Vermittlungsausschusses – vielleicht lesen Sie die gemeinschaft hinaus. einmal, Herr Niebel – wird bezüglich der Option der kommunalen Träger bestimmt, dass das Nähere ein Ich will damit aufzeigen, dass wir uns der Options- „Bundesgesetz“ regelt – so, wie die Hartz-Kommission möglichkeit der Kommunen nicht verschließen, dass es vorgeschlagen hat. Im fraktionsübergreifenden Ent- aber die Lebenswirklichkeit nicht immer so ist, wie es schließungsantrag zum Ergebnis des Vermittlungsaus- sich manche vorstellen, dass es nämlich möglich sei, die schusses vom 18. Dezember 2003 fordern Sie mit uns er- Option in Reinform zu praktizieren. Denken Sie doch neut, dass die Vorlage eines entsprechenden 9502 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. April 2004

Doris Barnett (A) Gesetzentwurfs zu erfolgen habe. Von einer Grundge- (Otto Fricke [FDP]: Gehört die auch der (C) setzänderung war wieder weit und breit nichts zu lesen. SPD?) Wenn Sie hier jetzt mit Entrüstung behaupten, wir hiel- ten uns nicht an Absprachen, dann ist das schon verwun- – Man müsste einmal nachschauen, wem sie gehört. – derlich. Denn Sie tun so, als hätten wir tatsächlich über Darin steht, dass in den Städten schon das Wort von der eine Grundgesetzänderung gesprochen. Es waren aber Maut II kursiert. die B-Länder, die Ihre Forderungen letztendlich ablehn- (Klaus Brandner [SPD]: Das hatten wir heute ten. schon!) Es trifft nicht zu, dass die Kommunen zu Bittstellern Genau diese Diskussion läuft zurzeit in den Kommunen der Bundesagentur werden. Auch hier hilft ein Blick in und Städten. Wenn Sie mit Sozialhilfeträgern reden, das von uns gemeinsam verabschiedete Papier vom dann können Sie die Einschätzung hören, dass die Ge- 18. Dezember. Dort wird eindeutig über Zielvereinba- fahr besteht, dass die Zusammenlegung von Sozialhilfe rungen mit den Kommunen gesprochen. Genau das, und Arbeitslosenhilfe am 1. Januar 2005 ähnlich was Sie im Dezember letzten Jahres mit uns beschlossen schlimm ausgeht wie die Einführung der Maut. haben, stellen Sie, meine Damen und Herren von der CDU/CSU, jetzt mit Ihrem Entschließungsantrag in- Wir haben jetzt aber noch etwas Zeit, darüber zu re- frage. Ihr Ziel ist und bleibt ganz offensichtlich, auf Bie- den, ob wir wirklich die Vernunft ausschalten und uns gen und Brechen zu verhindern, dass wir Erfolg damit sehenden Auges in diese Gefahr begeben wollen. Die haben, die Menschen wieder in Arbeit zu bringen. Da- beste Lösung wäre, wenn Sie heute sozusagen kurz vor rum geht es Ihnen in Wirklichkeit. Mit dem von uns vor- dem Zieleinlauf den Gesetzentwurf zurückziehen wür- gelegten Gesetz, das Sie im Bundesrat verhindern wol- den, weil er in dieser Form nicht tauglich ist. len, haben wir den Kommunen die Möglichkeit an die (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Hand gegeben, im Rahmen einer Zielvereinbarung ar- Dr. Uwe Küster [SPD]: Na, na! Nun ist aber beitslose Menschen in Beschäftigung zu bringen. genug!) Jeder, der etwas von Politik und Taktik versteht, be- Ich konnte eben fast den Eindruck gewinnen, dass Rot greift, um was es Ihnen geht. Ihnen geht es nicht um die und Grün die Urheber des Themas Zusammenlegung Optionsmöglichkeit, die Herr Koch für ganz Hessen und von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe sind. Es hat lange nicht nur für den Main-Kinzig-Kreis hätte haben kön- gedauert, bis Sie sich zu einer Zusammenlegung ent- nen. Er hat sie nicht gewollt und hat bis heute nicht ge- schlossen haben. Sie haben in der letzten Legislaturperi- sagt, warum. ode mehrere entsprechende Anträge von uns abgelehnt. (B) (Beifall bei der SPD) Seit Hartz ist diese Politik aber hoffähig geworden. Das (D) ist auch gut so. Es besteht jetzt breite Übereinstimmung Sie wollen blockieren, weil Sie Angst haben, dass wir darin, dass dieses Vorgehen sinnvoll ist. Dennoch sind Erfolg haben könnten. Deswegen sage ich Ihnen: Tun wir in vielen Fragen nicht einer Meinung. Ich will in die- Sie sich selbst einen Gefallen und stimmen Sie zu! Dann sem Zusammenhang drei Punkte ganz deutlich anspre- können Sie den Erfolg mit uns teilen. chen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Erster Punkt. Uns war schon während der Beratung in des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) der letzten Legislaturperiode klar, dass wir nur dann zu einer Lösung kommen werden, wenn Sie die Kommunen Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: im Boot haben und wenn Sie den Kommunen nicht das Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Gefühl geben, dass ihnen eine Aufgabe zugeschustert Kollege Wolfgang Meckelburg für die CDU/CSU-Frak- wird, die sie selbst zu finanzieren haben. Genau diese tion. Diskussion findet zurzeit statt. Es geht also um die Frage, ob – wie versprochen – die Kommunen um (Beifall bei der CDU/CSU) 2,5 Milliarden Euro entlastet werden oder ob sie – damit rechnen sie – mit 5 Milliarden Euro belastet werden. Das Wolfgang Meckelburg (CDU/CSU): ist ein Unterschied von 7,5 Milliarden Euro. Es wäre gut Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich laufe gewesen, wenn wir heute darüber Klarheit geschaffen jetzt Gefahr, ähnlich schnell zu reden wie Frau Barnett, hätten. Das gilt nicht nur für das Optionsmodell, sondern weil ich ebenfalls einige Zettel mehr habe, als ich für auch für das andere diskutierte Modell. meine Rede brauchen werde. Herr Minister, man kann Ihnen nicht durchgehen las- (Klaus Brandner [SPD]: So viel habt ihr doch sen, dass Sie in einem Interview gesagt haben, dass wir gar nicht zu sagen!) zu den finanziellen Auswirkungen eine Verständigung Ich will als letzter Redner unserer Fraktion und auch als im Vermittlungsverfahren erreicht hätten. Dies sei im letzter Redner in dieser Debatte den Versuch unterneh- Nachhinein von den Kommunen angesichts der finanzi- men, die Argumente zu bündeln, die gegen das sprechen, ellen Dimensionen infrage gestellt worden. Sie haben was heute verabschiedet werden soll. ferner die Ansicht geäußert, dass die Kommunen 5 Milliarden Euro mehr vom Bund haben wollten, als es Ich habe aus der „WAZ“, einer großen Zeitung im im Vermittlungsverfahren vereinbart worden sei. Das ist Ruhrgebiet, einen Artikel von vorgestern mitgebracht. schlicht und einfach falsch. Es ist eine Entlastung von Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. April 2004 9503

Wolfgang Meckelburg (A) 2,5 Milliarden Euro vereinbart worden. Dabei geht es zentrale Stelle zu groß sei. Wir erlauben uns mit (C) nicht um Nachforderungen, sondern um eine richtige 82 Millionen Einwohnern genau das Gegenteil; wir ma- Berechnung. Es wäre schön gewesen, wenn wir heute chen daraus eine Mammutveranstaltung. Dies ist falsch das Signal ins Land hätten senden können, dass das Geld und bedeutet über 40 000 Mitarbeiter mehr. vorhanden ist. Wir sind nicht im Zeitplan. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Doris Barnett [SPD]: Abwarten!) neten der FDP) – Nicht abwarten. – Damit es klar ist: Wir haben am Ein weiterer Punkt betrifft die Organleihe. Der ge- 18. Dezember 2003 als Ergebnis eines Vermittlungsver- schätzte Kollege Laumann hat eben aus der Anhörung fahrens gemeinsam beschlossen, dass Sie bis Ende Fe- zitiert. Sie können das nennen, wie Sie wollen. Eine bruar 2004 einen Gesetzentwurf vorlegen. Ich stelle fest: kommunale Trägerschaft mit einem eigenen Handlungs- Der erste Punkt, der Termin, wurde nicht eingehalten. spielraum, wie es im Vermittlungsausschuss vereinbart wurde, ist das, was heute verabschiedet wird, nicht. Sie Dann steht dort unter Punkt 1: Falls das Bundesgesetz machen die kommunalen Träger in Ihrem Entwurf zu nicht bis Ende April in Kraft getreten ist – es wird heute kommunalen Stellen, die zu Organen der Bundesagentur verabschiedet; aber es tritt nicht in Kraft; das heißt, man werden. Dies ist letztlich eine Auftragsverwaltung. hat keine genaue Gewissheit, was möglich ist –, sind die Fristen entsprechend anzupassen. Wenn Sie einmal in Ihren Antrag hineinschauen, dann finden Sie auf Seite 2 die sehr überzeugende Formulie- Es ist der 31. August 2004 genannt worden, bis zu rung von den „zugelassenen kommunalen Stellen“. Das dem sich die Kommunen entscheiden sollen. zeigt, wer an wessen Tropf hängt. So stellen wir uns eine (Doris Barnett [SPD]: Wollt ihr den Kommu- kommunale Trägerschaft nicht vor. Den Kommunen nen das Geld vorenthalten? – Dr. Uwe Küster bleibt nach diesem Gesetz kaum Spielraum für eine ei- [SPD]: Das ist Ihre Linie: Den Kümmel aus genständige regionale Beschäftigungspolitik. Das ist für dem Käse polken! Das ist Ihre Politik! Un- uns ein wichtiger Grund, Nein zu sagen. Es geht hier glaublich!) nicht um eine Strukturdiskussion, Herr Minister Clement, sondern um die Frage: Wer kann es besser? Ich Was passiert hier eigentlich? Die Frist vorne wird im- glaube, wir können den Kommunen mehr zutrauen, als mer länger und die Frist hinten immer kürzer. Welche Sie es in Ihrem Gesetz vorsehen. Kommunen sollen sich angesichts eines so kurzen Zeit- fensters denn wirklich für ein solches Modell entschei- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- den? Wir haben in diesem Zeitraum acht Kommunal- (B) neten der FDP) wahlen. Zusätzlich wird am 26. September in (D) Ich frage mich wirklich: Warum versucht Rot-Grün Nordrhein-Westfalen gewählt. In Phasen, in denen Wah- mit aller Macht, eine zentralstaatliche Lösung durchzu- len anstehen, können Sie den Räten solche grundlegen- setzen? Wir haben doch gute Erfahrungen; die Kommu- den Entscheidungen nicht zumuten. Deswegen ist die nen leisten doch Gutes. Frage, wann was in Kraft tritt, eine Frage, die uns sehr bewegt. (Dr. Uwe Küster [SPD]: Sie können doch all das machen, was sie wollen! – Weiterer Zuruf (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – der Abg. Doris Barnett [SPD]) Dr. Uwe Küster [SPD]: Meckerburg!) Woher nehmen Sie von Rot-Grün eigentlich die Zuver- – Lassen Sie die Verdrehung meines Namens! Das kenne sicht, dass die Bundesagentur für Arbeit das alles besser ich schon aus dem Rat der Stadt Gelsenkirchen. Das war kann? Sie war schon früher für 2 Millionen Arbeits- vor 20 Jahren. Das brauchen Sie nicht zu wiederholen; losenhilfeempfänger und für die Langzeitarbeitslosen das ist nicht neu. zuständig. Die Zahlen sind doch nicht zurückgegangen; (Dr. Uwe Küster [SPD]: Aber es bleibt sie sind angestiegen. richtig!) (Dr. Uwe Küster [SPD]: Hier wird wieder ein Popanz Meine Damen und Herren, es wäre schön gewesen, aufgebaut! Ohne den geht es nicht!) heute zur Verabschiedung des Gesetzes hier im Bun- Jetzt kommen noch mindestens 1,2 Millionen erwerbsfä- destag einmal wirklich alle Fragen geklärt zu haben: die hige Sozialhilfeempfänger hinzu. Warum soll das über Finanzierung, die Frage der eigenständigen kommunalen die Bundesagentur für Arbeit besser gehen? Trägerschaft, die Zeitschiene. Können Sie sich, meine Damen und Herren von Rot-Grün, überhaupt noch vor- Frau Barnett, warum lernen wir nicht – wir haben das stellen, welches Signal es für Deutschland wäre, wenn auch an anderen Stellen versucht – von den Nieder- Sie endlich einmal ein bis zu Ende gedachtes und in sich landen stimmiges Konzept mit einem Schlag durchbrächten, (Doris Barnett [SPD]: Wir tun es doch!) (Doris Barnett [SPD]: Das könnten wir! Aber Sie machen ja nicht mit!) – nein, wir tun es gerade nicht –, die als ein kleineres Land mit 14 Millionen Einwohnern den Kommunen die wenn Sie heute bei der Verabschiedung Sicherheit für Trägerschaft überlassen, und zwar mit der Begründung, die Kommunen und hinsichtlich der Finanzen schaffen dass ein Land mit 14 Millionen Einwohnern für eine würden? Sie bekommen das nicht hin. Dies alles bleibt 9504 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. April 2004

Wolfgang Meckelburg (A) Stückwerk. Es entsteht Verunsicherung nach dem heuti- Wir kommen nun zur Abstimmung über den Ent- (C) gen Beschluss. schließungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP auf Drucksache 15/3005. Wer stimmt für diesen Deswegen haben wir als Fraktion der CDU/CSU ei- Entschließungsantrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer nen Entschließungsantrag eingebracht enthält sich? – Der Entschließungsantrag ist abgelehnt. (Dirk Niebel [FDP]: Mit der FDP!) Tagesordnungspunkt 5 b: Beschlussempfehlung des – genau, zusammen mit der FDP –, in dem wir die Bun- Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit auf Drucksache desregierung in vier Punkten auffordern, das Kommu- 15/2997 zum Antrag der Fraktionen der SPD und des nale Optionsgesetz so umzugestalten, dass erstens die Bündnisses 90/Die Grünen mit dem Titel „Verabschie- optierenden Kreise und kreisfreien Städte tatsächliche dung eines Optionsgesetzes“. Der Ausschuss empfiehlt Träger werden – das sind sie nämlich jetzt nicht – und in unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung, diesen Eigenverantwortung die Aufgaben erfüllen können, die Antrag auf Drucksache 15/2817 anzunehmen. Wer in diesem Gesetz vorgesehen sind, dass Sie zweitens stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt eine verfassungskonforme Regelung vorlegen, wodurch dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschlussempfeh- den Kommunen entsprechend dem Entschließungsantrag lung ist damit angenommen. direkt vom Bund Geldmittel an die Hand gegeben wer- den, dass drittens bei den Mitteln für Verwaltungs- und Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf: Eingliederungspauschalen auskömmliche Summen, das Beratung des Antrags der Abgeordneten heißt höhere als bisher, ausgewiesen werden und dass Christian Schmidt (Fürth), Ulrich Adam, Ernst- Sie viertens durch gegebenenfalls notwendige Gesetzes- Reinhard Beck (Reutlingen), weiterer Abgeord- änderungen sicherstellen, dass den Kommunen tatsäch- neter und der Fraktion der CDU/CSU lich die zugesagten Einsparungen von jährlich 2,5 Milliarden Euro verbleiben. Für den Erhalt sicherheitsrelevanter Struk- turen in der Bundeswehr (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) – Drucksache 15/2824 – Wenn Sie das alles heute schon geschafft hätten, wä- ren wir einen wichtigen Schritt weiter. Das wäre ein Si- Überweisungsvorschlag: Verteidigungsausschuss (f) gnal: Jetzt geht es richtig los. Wir wären dabei. Aber Sie Auswärtiger Ausschuss haben es wieder nicht geschafft. Innenausschuss Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung (Widerspruch bei der SPD und dem BÜND- Haushaltsausschuss (B) NIS 90/DIE GRÜNEN) (D) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für Deswegen wird die Sache den Weg gehen, den sie gehen diese Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Dazu höre muss. Jedenfalls werden Sie das heute alleine verab- ich keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. schieden müssen. Bevor ich dem ersten Redner das Wort erteile, wäre (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) ich dankbar, wenn wir den üblichen Wechsel in der Be- setzung der beteiligten Kolleginnen und Kollegen ers- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: tens möglichst zügig und zweitens möglichst geräusch- Ich schließe die Aussprache. los vornehmen könnten. Nun geht es wirklich los. Denn wir kommen nun zur Als erstem Redner erteile ich dem Kollegen Christian Abstimmung über den von den Fraktionen der SPD und Schmidt, CDU/CSU-Fraktion, das Wort. des Bündnisses 90/Die Grünen eingebrachten Gesetzent- wurf zur optionalen Trägerschaft von Kommunen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch auf Drucksache Christian Schmidt (Fürth) (CDU/CSU): 15/2816. Der Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit emp- Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen fiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf und Kollegen! Bei dem vorliegenden Antrag „Für den der Drucksache 15/2997, den Gesetzentwurf in der Aus- Erhalt sicherheitsrelevanter Strukturen in der Bundes- schussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die wehr“ handelt es sich nicht um ein dahingeschriebenes dem Gesetzentwurf in dieser Fassung zustimmen wol- Blatt Papier, sondern um eine zentrale Problematik, die len, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer sich in diesem Jahr mehr und mehr zeigt. Anspruch und enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Wirklichkeit klaffen wieder einmal auseinander. Beratung angenommen. ( [BÜNDNIS 90/DIE Wir kommen zur GRÜNEN]: Bei wem?) dritten Beratung Wie wird die Zielsetzung, die letztes Jahr verkündet wurde, in diesem Jahr umgesetzt? Da sind große Frage- und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem zeichen zu setzen. Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz- Gründe dafür sind die pure Finanznot und vielleicht entwurf ist mit den Stimmen der Koalition gegen die auch ein Schuss Ideologie: Die Frage der Landesvertei- Stimmen der Opposition angenommen. digung soll ad acta gelegt werden. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. April 2004 9505

Christian Schmidt (Fürth) (A) Ich erlaube mir, Ihnen nach dem Prinzip „Schlag nach konzept. Das ist das, was wir wollen. Aber worin be- (C) bei Struck“ vorzulesen und in Erinnerung zu rufen, was steht denn dieses Konzept? Bislang hat sich lediglich der der Verteidigungsminister, dem wir, Herr Staatssekretär, Bundesinnenminister dahingehend geäußert, dass man von hier aus alles Gute und gute Besserung wünschen eine gemeinsame Übung mit THW, BGS und Bundes- wehr machen könnte, um zu klären, wie die so genannte (Walter Kolbow, Parl. Staatssekretär: Schon zivil-militärische Zusammenarbeit funktioniert. Was wieder im Einsatz!) muss man denn da üben? Ist die Bundeswehr überhaupt – schon wieder im Einsatz –, in den Verteidigungs- notwendig? politischen Richtlinien geschrieben hat, die ich mit In- teresse gelesen habe – ich zitiere –: Dazu möchte ich wieder zitieren – es geht um die Frage der Landesverteidigung und bedrohliche Entwick- Zum Schutz Deutschlands und seiner Bürgerinnen lungen in unserem eigenen Lande –: und Bürger leistet die Bundeswehr künftig einen bedeutenden, zahlreiche neue Teilaufgaben umfas- Sie kann den Einsatz deutlich umfangreicherer ei- senden und damit deutlich veränderten Beitrag im gener Streitkräfte erfordern. Angesichts der sicher- Rahmen einer nationalen Sicherheitskonzeption. heitspolitischen und strategischen Lage können die hierfür erforderlichen zusätzlichen Kräfte zeitge- Nationale Sicherheitskonzeption heißt nicht Ressort- recht wieder aufgestellt werden. konzeption, sondern dass sich alle zusammensetzen und überlegen, was sie tun müssen, können und sollen, damit Es ist interessant, das zu hören. Ich bekomme aller- unser Land sicher bleibt und unsere Bürgerinnen und dings einen anderen Eindruck von den Strukturen, die Bürger vor den drohenden Gefahren zum Teil völlig wir bisher als Territorialverteidigung kennen. Aus heuti- neuer Art, die wir noch vor zehn oder 15 Jahren für völ- ger Sicht kann man übrigens über die Frage nachdenken, lig unmöglich gehalten haben, geschützt werden. Das ob es damals richtig war, die Verteidigungskreiskom- heißt auch, dass man von dem, was bis vor 15 Jahren mandos abzuschaffen. war, Abschied nehmen muss. (Günther Friedrich Nolting [FDP]: So ist es!) Natürlich geht es dabei nicht um das, was früher Ter- Sie haben die Zusammenarbeit zwischen den zivilen ritorialverteidigung hieß, also so zu tun, als ob es darauf Stellen und den Katastrophenschutzorganen der Bundes- ankäme, anstürmende fremde Heere zu bekämpfen und wehr in hervorragender Weise sichergestellt. Wenn ich zu domestizieren. Es geht vielmehr um die Frage – dies das, was der Generalinspekteur vor kurzem hierzu ge- erfordert schon ein Stück Mitdenk- und Handlungsbe- sagt hat, richtig verstanden habe, sollen in diesem Be- reitschaft und -fähigkeit –, wie ich mit dem Potenzial, reich im Sinne einer Föderalisierung Änderungen vor- (D) (B) das ich aus diesen Zeiten habe, umgehe, ob ich im Sinne genommen werden. einer destruktiven Zerstörung sage: Ich verscherbel das alles, tue es weg und dann fangen wir neu an. – Das ist (Zuruf von der SPD: Das ist ja auch richtig!) vergleichbar mit dem, was Bundeskanzler Schröder ge- sagt hat: Wir kassieren die Rentenreform von CDU/CSU Ich habe schon gedacht, mit dem Begriff „Föderalisie- und FDP erst einmal und dann bekommen alle wieder rung“ werde versucht, vor allem die Bayern zu ködern; Geld. Es hat bis zum Februar des nächsten Jahres denn Föderalismus wird hier als etwas Positives betrach- – 1999 – gedauert, als er zugeben musste, dass er kein tet. Das wird selbstverständlich auch in anderen Bundes- Geld für eine Rentenerhöhung in der Kasse hatte. – Ge- ländern so gesehen. nau diese Gefahr scheint bei der Bundeswehrreform Aber was steckt hinter „Föderalisierung“? Dahinter auch zu bestehen. steckt die Absicht, die flächendeckende Struktur, die Das ist angesichts der jetzigen Situation problema- notwendig ist, um zivil-militärische Zusammenarbeit tisch, da am 11. März dieses Jahres eine Illusion ausge- überhaupt zu organisieren, durch einen Verbindungsoffi- räumt worden ist, die Illusion nämlich, Europa könnte zier bei den jeweiligen Landesregierungen zu ersetzen, von den neuen Gefahren, insbesondere des Terroris- der dann, mit einem PC ausgestattet, eine Art virtuelle mus, verschont bleiben. Unser Land ist auch vorher Sicherheit organisieren kann. Mehr kann er aber nicht nicht davon verschont geblieben und deswegen müssen tun. Das ist das Problem, das uns unruhig schlafen lässt. wir in eine internationale Koalition gegen den Terror (Beifall bei der CDU/CSU) eintreten. Wir müssen unseren Beitrag leisten. Das tun wir: in Afghanistan und auch woanders. Hierfür gilt im- Es geht auch um ein anderes Problem, das man an ei- mer wieder unser Dank den Soldaten, die einen An- nigen Stellen nachlesen kann: Ich meine die Umsetzung spruch darauf haben, dass sie eine entsprechende Aus- von Erfahrungen in die VPR: stattung bekommen und behalten. Angesichts der gewachsenen Bedrohung des deut- Die andere Frage ist aber: Wie gehen wir mit den Ri- schen Hoheitsgebiets durch terroristische Angriffe siken um, die unser eigenes Land betreffen? Müssen wir gewinnt der Schutz von Bevölkerung und Territo- uns darauf vorbereiten? Diese Fragen sind eigentlich rium an Bedeutung und stellt zusätzliche Anforde- durch die Verteidigungspolitischen Richtlinien des Ver- rungen an die Bundeswehr bei der Aufgabenwahr- teidigungsministers beantwortet worden. Seine Antwort nehmung im Inland und demzufolge an ihr lautet: nationale Sicherheitskonzeption. Ich sage: Ja, er Zusammenwirken mit den Innenbehörden des Bun- hat Recht. Wir nennen das Gesamtverteidigungs- des und der Länder. 9506 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. April 2004

Christian Schmidt (Fürth) (A) Herr Präsident, mit Ihrer Genehmigung habe ich aus den Zukunft in einer vernünftigeren Art und Weise zu orga- (C) Verteidigungspolitischen Richtlinien des Bundesminis- nisieren. ters der Verteidigung zitiert. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU) Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Herr Kollege, darf ich Sie zwischendurch darauf hin- weisen, dass nach den überarbeiteten Richtlinien unserer Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Geschäftsordnung für Zitate keine Genehmigung mehr Für die Bundesregierung hat nun der Parlamentari- erforderlich ist? sche Staatssekretär Walter Kolbow das Wort. (Zuruf von der CDU/CSU: Das hört sich aber Walter Kolbow, Parl. Staatssekretär beim Bundes- gut an!) minister der Verteidigung: Es wäre allerdings schön, wenn sie authentisch wären. Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der vorliegende Antrag der CDU/CSU und auch die zum (Heiterkeit) Teil bedeutungsschwangere Rede des Kollegen Schmidt können nicht darüber hinwegtäuschen, dass wir das, was Christian Schmidt (Fürth) (CDU/CSU): Sie wollen, insbesondere nach dem 11. September 2001, Herr Präsident, da es mir nicht zusteht, die Sitzungs- schon längst verfolgen: Wir gewährleisten umfassende leitung in irgendeiner Weise zu kommentieren, möchte Sicherheit nach innen und nach außen. Wir werden dabei ich das so aufgefasst wissen, dass ich als jemand, der im aber, liebe Kolleginnen und Kollegen der antragstellen- besten Sinne konservativ ist, Traditionen, die sich gut den Fraktion, keinesfalls dem von Ihnen verfolgten An- entwickelt haben und nicht verzichtbar sein sollten, fort- satz folgen, die bewährte, grundgesetzlich gewollte, führen will. Das möchte ich nicht nur auf die Verteidi- klare Trennung zwischen Strukturen und Zuständigkei- gungskreiskommandos übertragen. – Ich habe Ihren ten der inneren und der äußeren Sicherheit aufzuwei- Hinweis zur Kenntnis genommen. chen. Zurück zum Thema. Ich meine, das darf aber nicht (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ heißen, dass die Reservelazarettstrukturen nicht ange- DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der passt, sondern schlichtweg aufgelöst werden und dass FDP) die Aufwuchsfähigkeit bzw. die Rekonstitutionsfähig- Wir machen keineswegs bei der Absicht der CDU/CSU keit, die mehrfach zitiert wurde, eigentlich nirgendwo mit, die Bundeswehr zum Lückenfüller für Aufgaben zu (B) widergespiegelt wird. Wie sieht eigentlich das Reservis- machen, die in erster Linie andere Institutionen, wie zum (D) tenkonzept aus? Welche Rolle sollen Reservisten in Zu- Beispiel die Polizeien der Länder, wahrzunehmen haben. kunft spielen? Welche Vorbereitungen wurden für die Risiken getroffen, die uns drohen? Über diese Fragen (Beifall bei Abgeordneten der SPD, des muss diskutiert werden. BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP) Ich hoffe, dass in der Konzeption der Bundeswehr, die wir in den nächsten Wochen erwarten, auf diese Fra- Die Bundesregierung begegnet den absehbaren inne- gen – da habe ich allerdings große Zweifel – vernünftige ren und äußeren Herausforderungen und Risiken mit ei- Antworten gegeben werden. Ich hoffe, dass das getan ner vorbeugend angelegten, ressortübergreifenden Poli- wird und dass die Verantwortlichen im Verteidigungsmi- tik. Diese beinhaltet auch die Bereitschaft und die nisterium wissen, wovon sie reden. Sie sind nicht unter Fähigkeit, Freiheit und Menschenrechte sowie Stabilität der Knute des Finanzministers und anderer und können und Sicherheit notfalls mit militärischen Mitteln durch- nicht daran gehindert werden, das aufzuschreiben, von zusetzen. Für die Bundeswehr bleibt die Verteidigung dem sie wissen, dass sie es eigentlich aufschreiben und Deutschlands gegen eine äußere Bedrohung der zentrale umsetzen müssten. und eigentliche verfassungsrechtliche und politische Auftrag. Verteidigung beschränkt sich im Sinne des (Beifall bei der CDU/CSU) Grundgesetzes jedoch nicht nur auf die Verteidigung an den Landesgrenzen, sondern fängt dort an, wo Risiken Deswegen hoffe ich, dass wir jetzt nicht den zweiten und Bedrohungen für die Sicherheit Deutschlands und Schritt vor dem ersten oder sogar einen falschen Schritt seiner Verbündeten entstehen. Um diese Fähigkeiten zu tun. Das heißt, wir müssen die notwendigen Debatten erreichen und weiter auszubauen, wurde die Bundes- führen und uns im Dialog darüber einig werden, wie un- wehrreform des Jahres 2001 auf den Weg gebracht, die ser Land zu sichern ist und wie wir uns zukünftig im Zu- wir jetzt mit dem von Verteidigungsminister Dr. Struck sammenspiel aller Kräfte gegen neue Gefahren wappnen eingeleiteten Transformationsprozess fortsetzen. Hierzu können. Es ist nicht zulässig und nicht sinnvoll, Struktu- richten wir die Bundeswehr klar auf die Einsätze zur ren aufzugeben, die in ihrer jetzigen Form nie mehr wie- Konfliktverhütung und Krisenbewältigung einschließ- derherzustellen sind. Diese Strukturen zu erhalten ist das lich des Kampfes gegen den internationalen Terrorismus Hauptanliegen unseres Antrags. Ich bitte Sie alle, diesem aus. Antrag zuzustimmen. Er beschreibt die Notwendigkeit seriöser Politik, die die Grundlage dafür schafft, das, Nun im Einzelnen zu den von Ihnen aufgeworfenen was Transformation der Bundeswehr genannt wird, in Problempunkten. Ich gehe zunächst auf die Aspekte des Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. April 2004 9507

Parl. Staatssekretär Walter Kolbow (A) Heimatschutzes ein. Die Behauptung, wir würden diese noch das Wort dazu ergreifen wird –, dass diese fach- (C) Aspekte unberücksichtigt lassen, geht ins Leere. Viel- ärztlichen Komponenten, die das zivile Gesundheitswe- mehr hat der Schutz Deutschlands und seiner Bürgerin- sen im Bedarfsfall in dem entsprechenden Brennpunkt nen und Bürger eine neue, umfassende Bedeutung ge- verstärken können, auch weiterhin zur Verfügung stehen wonnen. Diese Kernaufgabe umfasst neben der derzeit werden. Die Reservistinnen und Reservisten des Sani- eher unwahrscheinlichen Aufgabe der Landesverteidi- tätsdienstes werden auch künftig eine wichtige Rolle gung im herkömmlichen Sinn auch den Schutz der Be- spielen. Durch eine engere Anbindung an aktive Einhei- völkerung und von lebenswichtiger Infrastruktur vor ter- ten und Verbände, die sie bei ihren gesamten Aufgaben roristischen und asymmetrischen Bedrohungen. Dies im In- und Ausland unterstützen sollen, wird ihr Poten- gehört im Rahmen der verfassungsrechtlichen Vorgaben zial noch wirksamer ausgeschöpft werden können. zum subsidiären Aufgabenspektrum der Bundeswehr, hierzu stehen im Bedarfsfall entsprechende Kapazitäten Ein Wort zum Thema Bundeswehrkrankenhäuser. zur Verfügung. Sie sind auf dieses Thema zwar nicht eingegangen, aber ich möchte dazu etwas sagen, weil man ständig in den Liebe Kolleginnen und Kollegen, es steht doch außer Zeitungen darüber liest. Da der Umfang der Bundeswehr Frage, dass die Bundeswehr im Rahmen des geltenden sinkt, muss man natürlich auch die Bettenzahl anpassen Rechts wie bisher auch künftig immer dann zur Verfü- und entsprechend reduzieren. Der Bedarf an ärztlichem gung stehen wird, wenn nur sie über die erforderlichen und nicht ärztlichem Klinikpersonal leitet sich aus der Fähigkeiten verfügt oder der Schutz der Bürgerinnen nationalen Zielvorgabe für die Einsätze der Bundeswehr und Bürger sowie wichtiger Infrastruktur allein durch ab. Die fachgerechte Ausbildung des Klinikpersonals die Bundeswehr geleistet werden kann. und dessen Übung ist bei strukturbedingt rückläufigen Fallzahlen nur mit einer ausreichenden Anzahl ziviler (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Patientinnen und Patienten zu gewährleisten. Deswegen DIE GRÜNEN) werden wir Bundeswehrkrankenhäuser in ausreichender Die Bundeswehr ist wie in der Vergangenheit auch in der Größe im geeigneten regionalen Umfeld realisieren. Zukunft in der Lage, subsidiär die für diese Aufgaben Das bringt mich zu meinem letzten Punkt. Auch auf zuständigen Innenbehörden von Bund und Ländern zu dieses Thema sind Sie, Herr Kollege Schmidt, nicht ein- unterstützen. Auch in den neuen, im weiteren Transfor- gegangen. Es ist wichtig, dass Ihr Antrag umfassend be- mationsprozess einzunehmenden Strukturen der territo- trachtet wird und dass auch dessen Schwächen deutlich rialen Kommandobehörden wird die Bundeswehr die herausgearbeitet werden. Es ist künftig nicht mehr erfor- Zusammenarbeit mit den Bundesländern, den Regie- derlich, dass eine solch große Anzahl nicht aktiver Trup- rungsbezirken, den kreisfreien Städten und den Land- penteile besteht wie bisher. Diese große Anzahl hat sich (B) (D) kreisen sicherstellen. Mehr noch, Herr Kollege Schmidt: nämlich aus der früheren Aufgabe der Landesverteidi- Die Unterstützung des Krisenmanagements auf Regio- gung aufgrund der groß angelegten Aggression aus dem nal- und Kommunalebene wird durch optimierte Fähig- Osten hergeleitet, die heute aber nicht mehr gegeben ist. keiten der Bundeswehr zur zivil-militärischen Zusam- Diese Überkapazitäten werden unter den heutigen menarbeit künftig verbessert werden. Deswegen geht sicherheitspolitischen Rahmenbedingungen eindeutig Ihr Hinweis auf lediglich virtuelle Sicherheit bei der nicht mehr benötigt. Künftig werden die freiwillig beor- praktischen Gestaltung der Umsetzung ins Leere. derten Reservistinnen und Reservisten sehr zielgenau (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ und damit wesentlich effizienter als bisher besonders im DIE GRÜNEN) Hinblick auf ihre zivilberuflichen Qualifikationen und Spezialkenntnisse zur Ergänzung der Fähigkeiten der ak- Der verehrte Präsident des Verbandes der Reservisten tiven Truppe genutzt werden. der Deutschen Bundeswehr sitzt in der ersten Reihe und schaut mich freundlich an; er wird nachher auch reden. Mit dem derzeit laufenden Transformationsprozess Lieber verehrter Herr Kollege Beck, Reservistinnen wird die Bundeswehr auf einen Kurs gebracht, der unse- und Reservisten werden auch künftig einen hohen Stel- rer Meinung nach operationell geboten, betriebs- lenwert einnehmen; wir sind uns darüber einig. Wir wol- wirtschaftlich vertretbar, haushalterisch zu beherrschen, len dieses qualifizierte und motivierte Personal, das ein rüstungswirtschaftlich sinnvoll und insgesamt zukunfts- wichtiges Potenzial darstellt, sowohl bei Einsätzen im fähig ist. Die Bundeswehr wird zielgerichtet auf die Inland als auch bei Auslandseinsätzen noch besser nut- künftig wahrscheinlichen Einsätze zur Konfliktverhü- zen. Mit der neuen Konzeption betreffend die Reservis- tung und Krisenbewältigung einschließlich des Kampfes tinnen und Reservisten wird auch deren kurzfristige Ein- gegen den internationalen Terrorismus ausgerichtet. Die berufung zur Hilfeleistung bei Katastrophen und künftig bereitgehaltenen Kapazitäten der Bundeswehr schweren Unglücksfällen im Inland möglich. werden für ihre jeweiligen Einsätze richtig ausgebildet und ausgerüstet und im Rahmen des geltenden Rechts Zur Reservelazarettorganisation. Hier möchte ich auch zum Schutz der Bevölkerung und der lebenswichti- mit einer Mär aufräumen. Nehmen Sie bitte zur Kennt- gen Infrastruktur in Deutschland geeignet sein. Die neu nis, dass wir die Anteile der Reservelazarette, die dem gestaltete Bundeswehr wird damit den Herausforderun- Schutz der Bevölkerung im Falle von Katastrophen oder gen der Zukunft gerecht und wird durch unsere Politik Anschlägen dienen, auch weiterhin erhalten. Jeder, der auch künftig in der Lage sein – das ist das sich damit beschäftigt, weiß – ich gehe davon aus, dass Entscheidende –, den Schutz der Bürgerinnen und Bür- die sehr geschätzte Frau Kollegin Lietz in dieser Debatte ger sicherzustellen. 9508 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. April 2004

Parl. Staatssekretär Walter Kolbow (A) Ich danke Ihnen. ßen, dass die Bundeswehr auch die Erfüllung von (C) Polizeiaufgaben übernehmen soll. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) (Beifall bei der FDP, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Offensichtlich sucht die Union krampfhaft nach einer Ich erteile dem Kollegen Günther Nolting, FDP-Frak- Legitimation für die Wehrpflicht. tion, das Wort. (Beifall des Abg. Winfried Nachtwei [BÜND- (Beifall bei der FDP) NIS 90/DIE GRÜNEN]) Die Bundeswehr hat sich mit ihrem Potenzial, zum Günther Friedrich Nolting (FDP): Schutz und zur Abschreckung gegen eine äußere Bedro- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir be- hung beizutragen, bewährt. Dabei waren die Polizeien schäftigen uns heute mit dem Thema Struktur der Bun- des Bundes und der Länder immer für die innere Sicher- deswehr. Morgen werden wir uns an diesem Ort in einer heit zuständig. Das muss auch in Zukunft so bleiben. Die von der FDP beantragten Aktuellen Stunde mit der Frage Ministerpräsidenten und die Innenminister der Länder, der Wehrpflicht beschäftigen. Ich will Ihnen aber schon die massiv Stellen bei der Polizei abgebaut haben, sind heute sagen: Wir werden das Thema Aussetzung der jetzt gefordert. Herr Kollege Schmidt, gerade Bayern Wehrpflicht so lange auf die Tagesordnung setzen, bis und Nordrhein-Westfalen führen diese Negativliste an. die Wehrpflicht auch endlich ausgesetzt wird. Auch dort sollten Sie ansetzen. (Beifall bei der FDP) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD – Karin Evers-Meyer [SPD]: Vor al- Dann werden wir eine zukunftsfähige und den Anforde- lem Bayern!) rungen gerechte Struktur für die Bundeswehr haben. Der Einsatz der Bundeswehr im Inneren ist im Grundge- Meine Damen und Herren, wenn wir uns das einmal setz geregelt und hat sich bewährt. Im Rahmen der genau anschauen, dann sehen wir, dass der Verteidi- Amtshilfe – aber auch nur dann – darf die Bundeswehr gungsminister das Ende der Wehrpflicht bereits im Vi- eingesetzt werden. Auch darauf werden wir in Zukunft sier hat. Es werden jetzt lediglich noch die Rahmenbe- achten. dingungen für die Entscheidung hergestellt. (Beifall bei der FDP) (Ulrike Merten [SPD]: Das hätten Sie wohl Die Bürgerinnen und Bürger würden einen Einsatz ih- (B) gerne!) (D) rer wehrpflichtigen Söhne niemals befürworten, wenn Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, Gesichts- diese Selbstmordattentätern oder professionellen Terro- wahrung ist hier offensichtlich angesagt. Politisch kann risten gegenübergestellt würden. Ich frage Sie: Wollen ich das ja verstehen. Das geht aber zulasten der Angehö- Sie wirklich den Einsatz junger Wehrpflichtiger zur Ter- rigen der Bundeswehr, weshalb das nicht zu tolerieren rorismusbekämpfung? ist. Dem Generalinspekteur und seinen Planern im (Christian Schmidt [Fürth] [CDU/CSU]: BMVg wird ein weiteres Jahr für die Planung entzogen. Das ist ja Quatsch! – Ernst-Reinhard Beck Das ist aus unserer Sicht unverantwortlich. Die Angehö- [Reutlingen] [CDU/CSU]: Das will doch rigen der Bundeswehr haben es verdient, hier endlich niemand! – Weiterer Zuruf von der CDU/ Planungsvertrauen und Planungssicherheit zu erhalten. CSU: Das hat niemand behauptet!) (Beifall bei der FDP) Wollen Sie die jungen Wehrpflichtigen wirklich nur als Das Thema Wehrpflicht hätte schon längst abge- billige Wachleute einsetzen? Wir werden dort nicht mit- schlossen sein können. Die Bundesregierung bzw. der machen und unterstützen dies nicht. damalige Verteidigungsminister Scharping hätte im (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Winfried Jahr 2000 nur die guten Vorschläge der Weizsäcker- Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – Kommission aufgreifen müssen, die sich weitgehend mit Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Da be- dem bereits 1999 von der FDP-Fraktion vorgelegten steht Einvernehmen!) Bundeswehrkonzept deckten, und Sie hätten die Ausset- zung der Wehrpflicht beschließen müssen. Die FDP-Bundestagsfraktion will, dass jede Institution auf ihrem Platz ihren Auftrag erfüllt. Dafür sind die not- (Ulrike Merten [SPD]: Kommen Sie doch zur wendigen Rahmenbedingungen vom Parlament vorzuge- Sache, Herr Kollege!) ben. Wir haben hierzu ein Konzept vorgelegt. Die Anschläge vom 11. September 2001 und vom Wir brauchen dringend eine große Reform für die 11. März 2004 waren grausam und haben uns gelehrt, Bundeswehr, die diesen Namen auch verdient. Die Bun- dass sich die tödliche Gefahr des Extremismus und des deswehr muss entschlackt und von so unsinnigen Aufga- Terrorismus regional nicht einschränken lässt. Daher ben wie zum Beispiel der Fähigkeit zum personellen sind die Strukturen der Sicherheitsinstitutionen, wo im- Aufwuchs auf 500 000 Soldaten befreit werden. Unge- mer es möglich und sinnvoll ist, auch auf diese Bedro- heure Kapazitäten werden vergeudet, um eine Leistung hungen einzustellen. Das soll und kann aber nicht hei- aufrechtzuerhalten, die während des Kalten Krieges Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. April 2004 9509

Günther Friedrich Nolting (A) zwar von vitaler Bedeutung war, heute jedoch völlig Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: (C) überflüssig ist. Die Struktur, die von Ihnen gefordert Der letzte Vorschlag, Herr Kollege Nolting, war si- wird, bindet Personal und kostet sehr viel Geld. Es geht cher gut gemeint, könnte aber die fatale Wirkung haben, hierbei um die Beschaffung, Lagerung und Bewachung dass demnächst mit der Frage zu rechnen ist, ob auf die- der Ausrüstung und Bewaffnung für 200 000 zusätzliche sem Weg Debatten nicht überhaupt eingespart werden Soldaten. Eine Sicherheitsvorsorge dieser Art ist im ge- könnten. genwärtigen sicherheitspolitischen Umfeld nicht mehr angemessen. Das dafür benötigte Geld sollte sinnvoller (Heiterkeit – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] zur Nachwuchswerbung, zur besseren Besoldung der [SPD]: Vor allen Dingen die von Herrn Soldatinnen und Soldaten und zur Beschaffung mo- Nolting!) dernster Ausrüstung eingesetzt werden. Bis zum Vollzug einer solchen Anregung fahren wir in der Rednerliste fort. Ich erteile das Wort dem Kolle- (Beifall bei der FDP) gen Winfried Nachtwei, Bündnis 90/Die Grünen. Meine Damen und Herren, die FDP will eine Tren- nung der zukünftig hochgradig professionellen Einsatz- Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): armee und der Einheiten und Verbände, in denen Reser- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die visten Dienst leisten können. In allen Bundesländern fürchterlichen Anschläge von Madrid haben besonders sollten Truppenteile einer so genannten Nationalgarde deutlich gezeigt, dass auch die europäischen Länder im oder einer Territorialarmee aufgestellt werden, die Visier des internationalen Terrorismus stehen. Man 60 000 Soldaten umfassen sollte: 5 000 Aktive und konnte das schon vorher an verhinderten Anschlägen 55 000 Reservisten. Diese muss den Status als Teilstreit- und an einigen aufgedeckten Planungen erkennen. Es kraft erhalten, vom BMVg geführt und mit den Bundes- wäre eine Illusion, zu meinen, dass Länder, bei denen ländern partnerschaftlich verbunden werden. Sie sollte nicht nur die Bevölkerung, sondern auch die Regierun- vorrangig im Bereich der humanitären und Katastro- gen gegen den Irakkrieg waren, von Anschlägen ausge- phenhilfe sowie des militärisch relevanten Objektschut- nommen wären. Schließlich müssen wir feststellen, dass zes eingesetzt werden. Die Übernahme polizeilicher inzwischen der fortdauernde Irakkrieg regelrecht als Aufgaben soll jedoch nach unserer Meinung nicht Auf- Brandbeschleuniger bei dem Entfachen des Feuers des trag sein. internationalen Terrorismus wirkt. Diese Territorialarmee müsste auch in der Lage sein, Selbstverständlich ist es die erste Pflicht des Staates, im Fall der Landes- und Bündnisverteidigung eingesetzt für den Schutz der Bürgerinnen und Bürger und der offe- zu werden. Ich denke, die Vorstellungen der FDP sind nen Gesellschaft zu sorgen. Daran kann es keinen Zwei- (B) (D) praktikabel. Sie versprechen, dass die Bundeswehr mit fel geben. Hierfür müssen direkte Gefahrenabwehr, einer endlich soliden finanziellen Ausstattung den Auf- Strafverfolgung, Bekämpfung von Unterstützern des trägen gerecht wird und gewappnet ist. Terrorismus und von Nährböden des Terrorismus Hand (Beifall bei Abgeordneten der FDP) in Hand gehen. Dazu gehört auch die Vorbereitung auf den nicht auszuschließenden schlimmsten Fall. Ich komme zum Schluss. Herr Kollege Schmidt, es reicht nicht aus, wenn Sie als Opposition an die Bundes- In den Verteidigungspolitischen Richtlinien des Ver- regierung nur Forderungen stellen. Die FDP als Opposi- teidigungsministers vom letzten Jahr wird festgestellt, tionsfraktion hat ein eigenes Konzept aufgestellt. dass auf absehbare Zeit mit einem konventionellen An- griff nicht zu rechnen ist und deshalb die herkömmliche (Christian Schmidt [Fürth] [CDU/CSU]: Wir Landesverteidigung nicht mehr akut ist. Aus diesem doch auch!) Grunde könne – so die richtige Schlussfolgerung – auf Strukturen und Fähigkeiten der Bundeswehr verzichtet Auch Sie als Opposition sind gefragt, hier eigene Kon- werden, die ausschließlich für die Landesverteidigung zepte vorzustellen und nicht nur Forderungen an die vorgesehen gewesen seien. Bundesregierung zu richten. Ich habe nicht mehr Zeit, um unser eigenes Konzept weiter zu erläutern. Selbstverständlich – das ist in den Verteidigungspoli- tischen Richtlinien deutlich zum Ausdruck gekommen – bleibt es Aufgabe der Bundeswehr, zum Schutz des Lan- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: des und seiner Bürger beizutragen: erstens im Ausland Das ist zutreffend, Herr Kollege. durch Teilnahme an internationaler Krisenbewältigung, die Auswirkungen auf die Sicherheit Deutschlands hat, Günther Friedrich Nolting (FDP): zweitens durch Rettungseinsätze und drittens – das ist Ich empfehle Ihnen, unter www.guenthernolting.de durch Vorredner schon angesprochen worden – durch nachzusehen. Amtshilfe im Innern im Rahmen der bestehenden verfas- sungsrechtlichen und gesetzlichen Grundlagen, angefan- (Heiterkeit im ganzen Hause) gen bei der Katastrophenhilfe bis hin zu Einsätzen zur Dort können Sie das gesamte Konzept abrufen. Luftsicherheit. Vielen Dank. Vor diesem Hintergrund hat das Verteidigungsminis- terium die Auflösung der Reservelazarettorganisation (Beifall bei der FDP) als Struktur nur für die Landesverteidigung beschlossen. 9510 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. April 2004

Winfried Nachtwei (A) Die Union behauptet nun, die Reduzierung dieses Teils rungsschutz durch das Aufrechterhalten traditioneller (C) der Verteidigungsinfrastruktur sei vor allem finanzpoli- Elemente ein. Auf der anderen Seite – das gehört auch tisch motiviert und beeinträchtige den Schutz der Bevöl- zu einem weitsichtigen Bevölkerungsschutz – hat zu- kerung. Das ist nicht nur falsch, das ist lächerlich. Die mindest Ihre Führung in der Vergangenheit eine Politik Reservelazarettgruppen – zurzeit noch 56 an der Zahl – mitgetragen und tut dies bis zum jetzigen Zeitpunkt, die waren immer für die Landesverteidigung gedacht. Sie mit dem Irakkrieg dem weltweiten internationalen Terro- waren nie für den Katastrophenschutz eingeplant. rismus enormen Auftrieb gegeben hat. Überwinden Sie also bitte erst einmal Ihre Grundwidersprüche, bevor Sie (Ulrike Merten [SPD]: Genau!) vollmundig von der Bundesregierung Gesamtkonzepte Ihre Mobilisierung würde mindestens drei bis fünf Tage verlangen. dauern. Um aber Großschadensfällen begegnen zu kön- (Christian Schmidt [Fürth] [CDU/CSU]: So nen – von einem Terroranschlag ganz zu schweigen – weit geht nicht einmal Ihr Außenminister, Herr müssen Stunden genügen. Das muss an einem Tag lau- Nachtwei! Das ist unter allererster Ordnung! fen. Also geht das Angebot dieser Reservelazarette voll Peinlich! – Gegenruf des Abg. Wilhelm an den Anforderungen einer solchen Krisensituation vor- Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Aber, Herr bei. Schmidt!) Circa 100 Ärzte pro Lazarettgruppe müssten dann aus Ihr Antrag ist beispielhaft für das krampfhafte Bemühen zivilen Krankenhäusern abgezogen werden. Das heißt, der Union, die traditionelle Art der Landesverteidigung die zivile Krankenversorgung würde dadurch ge- irgendwie am Leben zu erhalten und darüber eine Rest- schwächt. Schließlich wurde das Material dieser Reser- legitimation für die Wehrpflicht zu behalten. velazarettgruppen zuletzt Ende der 80er- und Anfang der 90er-Jahre erneuert. Das ganze System verfügt über (Christian Schmidt [Fürth] [CDU/CSU]: Das keine eigenen Fahrzeuge usw. Insofern entspricht dieses mühselige Suchen nach einem Wahlkampf- System nicht mehr dem Bedarf. Staatssekretär Kolbow thema endet in der Peinlichkeit!) hat sehr deutlich darauf hingewiesen, dass die Elemente, die für den Schutz der Bevölkerung weiterhin notwendig Im notwendigen Bemühen um einen möglichst wirksa- und nützlich sind, selbstverständlich übernommen wer- men Bevölkerungsschutz, um nüchterne Risikoabschät- den. Was das Personelle angeht, ist ein viel schnelleres zung und -vorsorge leistet die Union den Aufgaben mit Alarmierungssystem für Reservisten, Ärzte usw. von diesem Antrag – Kollege Schmidt, Sie sind nur zum Teil entscheidender Bedeutung. auf diesen Antrag eingegangen – einen Bärendienst. An- gesichts der realen Herausforderungen ist dieser Antrag (B) Zur Erinnerung an die Union: Unter Ihrer Regie- schlichtweg peinlich. (D) rungsverantwortung wurde das System der Zivilverteidi- gung und der Gesamtverteidigung sehr weit reduziert. Danke. Wie sehen Sie das eigentlich heute? War das ein Fehler (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN oder war das zu Ihrer Regierungszeit nur finanzpolitisch und bei der SPD) motiviert? Wie erklären Sie sich das?

(Günther Friedrich Nolting [FDP]: Welche Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Forderungen haben denn die Grünen in den Ich erteile das Wort dem Kollegen Ernst-Reinhard 90er-Jahren gestellt?) Beck, CDU/CSU-Fraktion. Ich komme nun zur zweiten Forderung der Union, dem Gesamtverteidigungskonzept. Ernst-Reinhard Beck (Reutlingen) (CDU/CSU): (Günther Friedrich Nolting [FDP]: Die Grünen Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und wollten die NATO auflösen!) Kollegen! Lieber Kollege Nachtwei, die Einführung des Irakkriegs als Wahlkampfthema war meines Erachtens Wer wollte bestreiten, dass auf dem Feld der inneren und unangemessen. Ich weise das namens meiner Kollegen äußeren Sicherheit und des Katastrophenschutzes eine zurück. eingespielte und flexible Kooperation elementar ist und Gesamtkonzepte notwendig sind? Aber dabei sollten Sie (Beifall bei der CDU/CSU) doch nicht den völlig falschen Eindruck erwecken, als Die Unkalkulierbarkeit ist zur Realität in den Streit- wären wir bei null. Es gibt ein weit reichendes Gesamt- kräften geworden, Planungssicherheit wird es auf konzept. Das kann man sehr wohl sagen. Was die ge- absehbare Zeit nicht mehr geben. samte Sicherheitspolitik angeht, so wird das Weißbuch Aufschluss darüber geben, was zurzeit in Arbeit ist. Diese Aussage von Generalinspekteur Schneiderhan auf (Zuruf von der CDU/CSU: Seit Jahren!) der Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Wehr- technik am 22. April dieses Jahres gibt ziemlich genau die Schließlich ist die Forderung nach einem sicherheits- derzeitige Umbruchsituation in der Bundeswehr – und politischen Gesamtkonzept, auch bezogen auf terroristi- nicht nur dort – wieder. Die Soldaten und ihre Familien sche Bedrohungen, gerade aus dem Mund der Union wünschen sich Verlässlichkeit von Staat und Gesell- reichlich unglaubwürdig. In diesem einen Fall setzen Sie schaft und ein höchstmögliches Maß an Sicherheit und sich massiv für einen angeblich verbesserten Bevölke- Schutz angesichts neuer Formen der Bedrohung. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. April 2004 9511

Ernst-Reinhard Beck (Reutlingen) (A) Veränderungsprozesse in der Politik bewegen sich Aber warum sollte es nicht möglich sein, eine rasche (C) immer zwischen den beiden Extremen Bewahren oder Mobilmachung des Sanitätspersonals anzustreben? Wieso Verändern. Verfechter der Variante Streichen, Kürzen, kann eine angepasste Reservelazarettstruktur nicht in Auflösen fordern, sich möglichst schnell von bisherigen den nationalen Katastrophenschutz eingeplant werden? Strukturen zu verabschieden und an Stelle des überhol- (Zuruf von der CDU/CSU: Genau das ist der ten Alten zukunftsträchtiges Neues zu setzen. Allzu viel Punkt!) Neues habe ich aber von Ihnen nicht gehört, lieber Kol- lege Kolbow. Meines Erachtens sollte der Vorschlag, eine Taskforce aus Ärzten und qualifiziertem, schnell verfügbarem Sa- Der konservative Ansatz möchte möglichst vieles an nitätspersonal zu bilden, die binnen weniger Stunden die Bewährtem bewahren und nur das unbedingt Notwen- Arbeit aufnehmen kann, geprüft werden. Im Falle einer dige verändern. Ich erinnere in diesem Zusammenhang so genannten Großschadenslage könnten dann weitere an die Auflösung des Bundesamtes für Zivilschutz im Reservekräfte innerhalb von Tagen mobilisiert werden. Jahr 1999. Damals hielt man den Zivilschutz für über- flüssig und zu teuer. Heute wissen wir, dass zumindest (Beifall bei der CDU/CSU) das Erste ein Irrtum war. Seit diesem Jahr gibt es wieder ein Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastro- Wenn dies nur durch eine stärkere Einbindung der Re- phenhilfe. servisten in aktive Verbände möglich ist, dann sollte auch dieser Weg beschritten werden. Dies wäre nicht nur Wir stehen mit der jetzt eingeleiteten Bundeswehrre- ein wichtiger Schritt zu einem verbesserten Katastro- form wieder an einem ähnlichen Punkt, an dem wir uns phenschutz. Vielmehr blieben gleichzeitig viele freiwil- entscheiden müssen, von welcher Philosophie der Um- lige Fachärzte und Spezialisten des Sanitätsdienstes im bau geleitet werden soll. Wenn ich es richtig sehe, hat Reservistenstatus eingebunden. Besser eingebunden als sich die Bundeswehr bereits seit den 90er-Jahren bei den ausgemustert! für die Auslandseinsätze notwendigen Umstrukturierun- (Beifall bei der CDU/CSU) gen für einen eher behutsamen evolutionären Weg, bei der Landesverteidigung und beim Heimatschutz jedoch Die Bundesregierung plant ferner, alle nicht aktiven für die Methode Tabula rasa entschieden. Dies geschieht Truppenteile aufzulösen. Ich kann davor nur warnen. gegenwärtig durch die Auflösung der Reservelazarettor- Unterschätzen Sie nicht die psychologische Wirkung, ganisation und nicht aktiver Truppenteile sowie durch die von einer Entpflichtung von circa 250 000 Soldaten die nahezu völlige Demontage der territorialen Verteidi- der Reserve ausgeht! Motivationsfördernd ist dies nicht. gungsorganisation. Einmal aufgelöst, werden wir auf diese Strukturen nie mehr zurückgreifen können. Ich plädiere nicht für die (B) Wenn man die schrecklichen Bilder nach den Terror- (D) völlige Erhaltung, sondern dafür, dass Anzahl, Ausrüs- anschlägen in Madrid vor Augen hat, dann löst die ge- tung und Binnenstruktur der nicht aktiven und der teilak- plante Auflösung der Reservelazarettorganisation in tiven Verbände an die neuen Aufgaben der Bundeswehr der Tat Verwunderung aus. Könnte es irgendjemand ver- angepasst werden. Angesichts der geplanten Generalaus- stehen, wenn im Falle einer so schweren Katastrophe die musterung sicherheitsrelevanter Strukturen aus der Bun- Bundeswehr um medizinische Hilfe gebeten würde und deswehr frage ich mich, ob die Bundesregierung wirk- nicht in der Lage wäre, diese zu leisten? lich gut beraten ist, aus Kostengründen lediglich auf die Sicher ist es richtig, dass die 56 Reservelazarett- Methode „streichen, kürzen und auflösen“ zu setzen. gruppen mit ihren 68 000 Reservisten und 7 000 bis Die Bundesregierung hat erklärt, dass der Schutz 8 000 Ärzten für einen verlustreichen Krieg gegen die Deutschlands und seiner Bürger nach wie vor Kernauf- konventionellen Armeen des Warschauer Paktes geplant gabe der Bundeswehr ist. Der Staatssekretär hat dies wurden. Es ist auch richtig, dass sie eine lange Mobil- wiederholt. Aber gleichzeitig demontiert die Bundesre- machungszeit benötigen. Es mag zutreffen, dass eine so gierung weitgehend die bereits dünne territoriale Ver- große Zahl von Reservelazarettgruppen nicht mehr be- teidigungsorganisation. Botschaft und Realität klaffen nötigt wird, dass die Strukturen schwerfällig und die hier weit auseinander. Es soll nur noch vier Wehrbe- Ausrüstung zum Teil veraltet ist. Aber rechtfertigt dies reichskommandos und zwölf Landeskommandos geben. bereits den völligen Verzicht auf die bisher vorgehalte- Unterhalb dieser Ebene sind keine aktiven Kräfte mehr nen Fähigkeiten und Strukturen, die vor allem in der vorgesehen. Dies ist das Aus für die zivil-militärische Kompetenz des dort eingesetzten Personals liegen? Zusammenarbeit auf der Ebene der Landkreise und der Angesichts der bereits jetzt bestehenden Fähigkeitslü- kreisfreien Städte. cken im Zivilschutz sollte der qualitative wie auch der (Beifall bei der CDU/CSU) quantitative Umfang der Reduzierung gründlich bedacht werden. Terroranschläge, Naturkatastrophen oder große Nun höre ich, dass diese Aufgabe von Reserveoffizie- Unfälle sind in Zeitpunkt und Intensität selten vorher- ren wahrgenommen werden soll. Dies ist zwar ehrenvoll. sehbar. Darin sind wir uns sicherlich einig. Notwendig Man muss sich jedoch fragen, ob dieses Notkorsett den und erforderlich sind eine sofortige Reaktion und die Anforderungen wirklich gerecht wird. Können die ge- umgehende Versorgung von Verletzten. Schon aus Zeit- rade in Katastrophenfällen notwendigen Koordinie- gründen verbieten sich aufwuchsabhängige Organisa- rungsaufgaben im Nebenamt geleistet werden? Wie wird tionsformen. Darin stimme ich Ihnen zu, Herr Kollege die Bundeswehr in den Verwaltungen wahrgenommen? Nachtwei. Wird sie überhaupt noch wahrgenommen? In einem 9512 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. April 2004

Ernst-Reinhard Beck (Reutlingen) (A) großen Flächenland wie Baden-Württemberg wären entweder haben Sie die Verteidigungspolitischen Richtli- (C) mindestens 42 Beauftragte zu installieren und auch zu nien nicht gelesen oder Sie haben sie nicht verstanden. führen. Ist dies das sichere Netz, auf das wir uns im Ka- (Ulrike Merten [SPD]: Nur selektiv!) tastrophenfall und im Heimatschutz abstützen können? Das ist eine wirklich ernste Frage. Allein zwölf Passagen in diesen Richtlinien beschäftigen sich mit dem Aspekt der inneren Sicherheit. All diese Punkte bestärken mich in der Befürchtung, dass der geplante Abbau sicherheitsrelevanter Strukturen (Helmut Rauber [CDU/CSU]: Alles nur endgültige Tatsachen schafft, die nur sehr schwer und Worthülsen!) unter großem Aufwand revidiert werden könnten. Reser- velazarettorganisation, Beorderung von Reservisten und Die Verteidigungspolitischen Richtlinien bilden die Auflösung von nicht aktiven Verbänden – darin sind wir Grundlage des von Ihnen geforderten umfassenden Ge- uns sicherlich einig – sind lediglich Detailfragen. Sie samtverteidigungskonzeptes. Sie entsprechen in ausge- können nur sinnvoll im Rahmen eines Gesamtverteidi- wogener Art und Weise den neuen Herausforderungen gungskonzepts beantwortet werden. Solange dieses nicht im Inneren wie im Äußeren. vorliegt, verbieten sich grundlegende Strukturverände- Doch was wollen Sie eigentlich? rungen. (Ulrike Merten [SPD]: Das ist eine gute Vielen Dank. Frage!) (Beifall bei der CDU/CSU) Sie wollen Art. 35 und Art. 87 a des Grundgesetzes da- hin gehend ändern, dass „… die Bundeswehr auch bei Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: der Verhinderung einer unmittelbar drohenden Katastro- Ich erteile das Wort dem Kollegen Rolf Kramer, SPD- phe oder eines unmittelbar drohenden schweren Un- Fraktion. glücksfalles sowie bei der Bewältigung ihrer Folgen ein- gesetzt werden kann“.

Rolf Kramer (SPD): (Helmut Rauber [CDU/CSU]: Richtig!) Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Soweit Ihr Papier. Das muss man sich auf der Zunge zer- CDU/CSU-Antrag trägt den schönen Titel „Für den Er- gehen lassen: Schon bei einer drohenden Katastrophe oder halt sicherheitsrelevanter Strukturen in der Bundes- einem drohenden Unglücksfall soll die Bundeswehr im wehr“. Dies ist geradezu eine harmlose Bezeichnung. Innern eingesetzt werden können. Da stellen sich di- Das Papier ist kurz und es ist schnell zu lesen. Man verse Fragen: Wer definiert das? Ein Unglücksfall oder (B) möchte eigentlich hinzufügen: Entsprechend ist der In- eine Katastrophe kann immer drohen. Wer kann das vor- (D) halt. Dahinter steckt nichts anderes als ein Paradigmen- hersagen? wechsel in der Sicherheitspolitik. Wollten wir dem fol- gen, würden die vergangenen mehr als 50 Jahre Es kann doch nicht einmal Ihre Absicht sein, liebe erfolgreicher deutscher Sicherheitspolitik negiert und Kolleginnen und Kollegen von der Union, die Sicher- auf den Kopf gestellt werden. heitskräfte und damit unser Land sozusagen im dauern- den Notstand leben zu lassen. Grundlage des Antrags ist offensichtlich das Papier mit dem Titel „Landesverteidigung und Heimatschutz (Ulrike Merten [SPD]: Sehr richtig!) als Teil des Gesamtkonzepts Sicherheit“, ein ebenfalls Diese Vorstellungen der Union hätten einen für uns nicht harmloser Name. Denn wer kann schon etwas gegen hinnehmbaren Interpretationsspielraum hinsichtlich der Heimatschutz und Landesverteidigung haben? In dem Befugnisse von Kräften der inneren und äußeren Sicher- Papier wird auf Seite 5 ausgeführt – ich zitiere –: heit zur Folge. Der Einsatz der Bundeswehr im Innern In den zurückliegenden Jahren wurden die Struktu- würde sozusagen in das Benehmen der Innenminister der ren, die einen Heimatschutz in Deutschland tragen Länder gestellt werden. könnten, in ihrer Wirksamkeit stark reduziert. Die- (Ulrike Merten [SPD]: Das fehlte auch noch!) sem Entschluss lag die – aus heutiger Sicht – irrige Annahme zugrunde, dass sich die Bedrohungslage Wir haben in Deutschland bisher aus sehr wohl erwo- für unser Land verringert habe … genen Gründen einen Konsens. Die Trennung von inne- rer und äußerer Sicherheit ist politisch und gesellschaft- So weit, so gut und auch fast vollständig. Meine sehr lich gewollt. Es ist ein großer Vorteil seit der Gründung verehrten Damen und Herren von der CDU/CSU, Sie der Bundesrepublik Deutschland, dass innere und äußere hätten ruhig deutlich sagen können: Die CDU/CSU-ge- Gewalt im Prinzip strikt getrennt sind. Eine Bundes- führte Regierung unter hat nach 1990 den wehr, die de facto ein Instrument zur Anwendung des in- Zivilschutz in seiner Substanz geschwächt. neren Gewaltmonopols werden würde, lehnen wir ab. (Ulrike Merten [SPD]: So ist das!) (Ulrike Merten [SPD]: Die meisten Menschen auch – Gott sei Dank!) Gleichzeitig behaupten Sie, dass der Verteidigungs- minister in den Verteidigungspolitischen Richtlinien den Wir halten daran fest: Nur in vom Grundgesetz genau Aspekt des Heimatschutzes vernachlässigt habe. Meine festgelegten Situationen wird die Bundeswehr im Innern sehr verehrten Damen und Herren von der CDU/CSU, eingesetzt, und das mit großem Erfolg, wie die Hilfeleis- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. April 2004 9513

Rolf Kramer (A) tungen der Bundeswehr bei den diversen Einsätzen ge- wehr und zu Hilfeleistungen herangezogen werden. Dies (C) zeigt haben. Dafür sei den Soldatinnen und Soldaten von gilt auch für die Abwehr von terroristischen Angriffen. dieser Stelle aus noch einmal gedankt. Was im Grundgesetz allerdings nicht explizit erwähnt (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ wird, ist die Abwehr von Gefahren aus der Luft und von DIE GRÜNEN) der See. In diesem Zusammenhang ist evident, dass nur die Bundeswehr die Mittel und Methoden hat, um in sol- In einem Punkt sind wir ganz sicherlich einer Mei- chen Fällen einzugreifen und für Abhilfe zu sorgen. Hier nung: Der 11. September 2001 hat die Welt sicherheits- besteht ein gesetzlicher Handlungsbedarf. Die Koali- politisch verändert. Die Terroranschläge vom 11. März tionsfraktionen haben deshalb den Entwurf eines Luft- dieses Jahres in Madrid haben deutlich gemacht, dass sicherheitsgesetzes in die parlamentarische Beratung Europa und damit natürlich auch Deutschland im Fokus eingebracht. Ob in diesen speziellen Fällen eine Klar- der Bedrohung stehen. Eine Grundgesetzänderung, um stellung im Grundgesetz notwendig ist, bedarf noch der den generellen Einsatz der Bundeswehr zu ermöglichen, Klärung durch die Verfassungsjuristen. Es geht dabei würde den Bevölkerungsschutz nicht verbessern, aber nicht um das Einräumen zusätzlicher Befugnisse, son- die bewusst gewählte Sicherheitsarchitektur unseres dern um die Verdeutlichung von schon bestehendem Grundgesetzes fundamental verschieben. Es würde eine Recht und das Schaffen von Rechtssicherheit für alle Be- Sicherheit suggeriert werden, die so nicht erreicht wer- teiligten. Lassen Sie uns mit Augenmaß sowie mit Ach- den kann. tung vor den Menschen und der Verfassung an diese Es ist doch einsichtig, dass – um nur ein Beispiel zu Aufgabe herangehen! nennen – die Debatte über die Sicherung der Bahnhöfe Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. durch Soldaten an der Realität vorbeigeht. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Ulrike Merten [SPD]: In der Tat!) DIE GRÜNEN) Ganz abgesehen davon, dass Soldaten für den zivilen Bereich nicht ausgebildet sind, lassen sich 7 500 Bahn- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: höfe bundesweit, 38 000 Kilometer Schiene, 30 000 Züge Nächste Rednerin ist die Kollegin Ursula Lietz, CDU/ pro Tag mit etwa 4 Millionen Reisenden nicht effektiv CSU-Fraktion. schützen, indem man die Bundeswehr aufmarschieren lässt. Ursula Lietz (CDU/CSU): (Ulrike Merten [SPD]: Sehr richtig!) Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und (B) Dieses Beispiel gilt nur für einen Bereich des öffentli- Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir (D) chen Lebens. Die Sicherheit wäre nur vorgetäuscht, eine haben es bereits gehört: Die Bundeswehr steht vor einem reine Placebomaßnahme. Dafür sollte uns allen die Si- fundamentalen Umbruch. Laut den Verteidigungspoliti- cherheit unserer Bevölkerung zu wertvoll sein. schen Richtlinien werden wir bis zum Jahr 2010 35 000 Soldaten haben, die in der Lage sein sollen, als In diesem Zusammenhang ist aber bedenklich, dass schnelle Eingreiftruppe zu fungieren und überall in der die Länder in den vergangenen Jahren 12 000 Polizei- Welt zur Verfügung zu stehen. Zusätzlich sollen stellen abgebaut haben. 70 000 Soldatinnen und Soldaten zur Friedenserhaltung eingesetzt werden können, und zwar an maximal fünf (Günther Friedrich Nolting [FDP]: So ist es!) verschiedenen Einsatzorten weltweit mit bis zu Das dadurch entstandene Vakuum durch Militär ersetzen 14 000 Soldaten pro Einsatz. Zusammen mit den zu wollen wäre eine in mehrfacher Hinsicht zu billige 145 000, die für Nachschub, Organisation und Versor- Lösung. Man muss es auch einmal deutlich sagen: Ein gung sorgen sollen, macht das einen Gesamtbestand hundertprozentiger Schutz gegen alle Terrorszenarien von 250 000 Soldaten in der Bundeswehr aus. wird nicht möglich sein, nicht einmal dann, wenn wir Wenn man die Anzahl der Soldaten verringert, muss tragende Grundsätze unserer freiheitlichen Verfassung man nicht automatisch die Sicherheit, die Anforderun- opferten. Wir Sozialdemokraten wissen, was wir an un- gen und die Finanzen verringern. Das passt nicht zusam- serer Verfassung haben. Sie gilt es zu bewahren! men. Man muss nämlich die Fähigkeiten des einzelnen (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Soldaten erhöhen. DIE GRÜNEN) (Beifall bei der CDU/CSU) Aber wir können uns auf die Gefahren vorbereiten, Das Verteidigungsministerium schlägt aber vor, bis indem das Zusammenwirken der Kräfte für den Notfall zum Jahr 2010, also innerhalb von sechs Jahren, im Rah- und den Katastrophenschutz weiter verbessert wird – men der Verteidigungspolitischen Richtlinien insgesamt auch gegen Anschläge, die bisher außerhalb unserer Vor- 26 Milliarden Euro zu sparen. Das sind immerhin stellungskraft lagen. Natürlich ist hier auch die Bundes- 2 Milliarden Euro mehr, als wir im Moment pro Jahr zur wehr gefordert. Ein entsprechender Vorschlag für ge- Verfügung haben. Wer glaubt, dass wegen der Reduzie- meinsame Übungen im zivil-militärischen Bereich liegt rung der Gesamttruppenstärke auf 250 000 der Sicher- bereits vor. heitsbedarf und die Finanzen ebenfalls reduziert wer- Die Bundeswehr kann schon heute in besonderen den können – Herr Kollege Arnold, Sie haben in der Ausnahmesituationen und zur nationalen Gefahrenab- Presse sogar verlauten lassen, dass die Sanitätsstärke 9514 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. April 2004

Ursula Lietz (A) entsprechend der Anzahl der Soldaten verringert werden Zusätzlich brauchen wir eine höhere Zahl von zivilen (C) kann –, der hat die Einsatzszenarien nicht realisiert. Patienten, denn etliche Krankheiten, die Bestandteil der Facharztausbildung sind, gibt es bei jungen Soldaten Das Verteidigungsministerium hat formuliert, dass nicht. Deshalb ist es sehr wichtig, dass endlich die zivi- wir im schlimmsten Fall – ich hoffe und weiß, dass der len Bettenkontingente dieser Krankenhäuser in die Be- nicht immer eintritt – 105 000 Soldatinnen und Soldaten stimmungen des SGB V einbezogen werden. Wir bean- in Einsatzgebieten rund um die Welt, nicht nur am Hin- tragen schon seit mehreren Jahren, entsprechende dukusch, haben sollten. Wenn Sie diesen schlimmsten Schritte zu unternehmen. Dafür haben wir bis jetzt leider Fall so programmieren, dann müssen Sie auch den Si- keine Mehrheiten gefunden. cherheitsbedarf, der damit verbunden ist, entsprechend anpassen. Das tun Sie allerdings nicht. (Karin Evers-Meyer [SPD]: Das müssen doch die Länder entscheiden! – Weitere Zurufe von (Beifall bei der CDU/CSU) der SPD) Der Verteidigungsminister und der Generalinspekteur – Dann sollte jeder mit Verantwortlichen in den Ländern haben in ihren Ankündigungen offen gelassen, wie sie sprechen, zu denen er gute Beziehungen hat, liebe Kolle- den Szenarien begegnen wollen, die sie quasi auf dem ginnen und Kollegen. Reißbrett geplant haben. Der Sanitätsdienst der Bundeswehr hat bisher gute Das Sanitätswesen der Bundeswehr muss in der Zu- Arbeit geleistet. Es handelt sich um gut ausgebildete kunft sehr viel höheren Anforderungen gerecht werden, Leute, die in bis jetzt hoch leistungsfähigen Funktions- als das zum gegenwärtigen Zeitpunkt der Fall ist. Knapp einheiten wirken. Der vorgegebene Standard allerdings, 8 000 Soldatinnen und Soldaten sind im Moment im der ausdrücklich fordert, dass die medizinische Versor- Einsatz. Sie alle wissen, wie die Einsatzzeiten des Sani- gung in Einsatzgebieten der Qualität der Versorgung in tätspersonals aussehen. Kaum dass die Ärzte zu Hause der Heimat entspricht, ist in Gefahr. Dieser Anspruch sind, fahren sie schon wieder an neue Einsatzorte. Da- steht auf dem Spiel. Ich möchte Sie sehr herzlich bitten, runter leiden die Familien. Die Bundeswehrkranken- dazu beizutragen, dass militärische Fähigkeiten, die wir häuser haben zum Teil reduzierte Operationskapazitä- bis jetzt noch auf diesem Gebiet haben, nicht auch noch ten, weil die Anästhesisten und die Chirurgen an verloren gehen und dass die medizinische Versorgung bestimmten Einsatzorten sind. Wenn Sie sich vor Augen der Soldaten im Einsatz weiterhin gewährleistet ist. Ich führen, dass Facharztausbildungen wegen Fehlzeiten habe große Sorgen, dass das in Zukunft nicht mehr der verlängert werden müssen, damit sie überhaupt zustande Fall sein wird. kommen, dann erkennen Sie, in welcher Situation das (B) (D) Sanitätswesen zum jetzigen Zeitpunkt ist. Eine verantwortungsvolle medizinische Versorgung von bis zu 105 000 Soldaten im Einsatz – ich muss das Deswegen fordern wir die Bundesregierung auf, eine noch einmal sagen – verlangt einfach mehr und besser nachvollziehbare Bedarfs- und Vorsorgeplanung für die ausgebildetes Sanitätspersonal. Bundeswehrkrankenhäuser und das Sanitätswesen vor- zulegen. Gerade was die Bundeswehrkrankenhäuser an- (Beifall bei der CDU/CSU) betrifft, bekommt man völlig unterschiedliche Antwor- ten, wenn man im Verteidigungsministerium nachfragt. Wir können uns da nicht auf andere europäische NATO- Ich appelliere schon deswegen an die Verantwortung des Mitglieder verlassen, weil ihre Standards geringer sind Verteidigungsministeriums, weil gerade das zivile Perso- als unsere und ihre Fähigkeiten hinter unseren zurückfal- nal in den Krankenhäusern einen Anspruch darauf hat, len. Lediglich die Vereinigten Staaten von Amerika ha- informiert zu werden: Sagen Sie der Öffentlichkeit end- ben noch hoch qualifiziertes Personal und technisch her- lich klipp und klar, welche Bundeswehrkrankenhäuser vorragend ausgestattete Armeekrankenhäuser. bestehen bleiben sollen. Lassen Sie die Menschen in den Krankenhäusern nicht im Ungewissen. In dieser Diskussion sollten wir nicht zuletzt deswe- gen auch einmal ernsthaft darüber nachdenken, auf wel- Es ist nämlich klar, dass von den acht Krankenhäu- che Weise wir Nachwuchsgewinnung betreiben, also sern, die wir jetzt haben, lediglich drei als vollwertige geeignete Personen rekrutieren. Die Unsicherheit, die Krankenhäuser erhalten bleiben werden, nicht mehr. Der unter den Bundeswehrangehörigen selbst, aber auch in Rest wird geschlossen, dient der tropenmedizinischen der Öffentlichkeit bezüglich des Arbeitgebers Bundes- Versorgung, als Polikliniken oder zu was auch immer. wehr herrscht, ist ausgesprochen groß. Wenn wir qualifi- Wir werden aber nur noch genau drei vollwertige Kran- zierten Nachwuchs haben wollen, müssen wir ihm etwas kenhäuser haben. In diesen drei verbleibenden Kranken- bieten, insbesondere auch im Sanitätswesen der Bundes- häusern müssen wir dann unser gesamtes Sanitäts- wehr. Ich habe mich sehr gefreut, dass der Verteidi- personal ausbilden. Das heißt, wir müssen in den gungsminister angekündigt hat, dass die Einsatzzeiten verbleibenden Krankenhäusern zusätzliche Ausbil- demnächst vier Monate betragen werden. Wir haben dungskapazitäten und zusätzliche Versorgungsmöglich- lange dafür gekämpft. Auf meine Frage allerdings, zu keiten für Soldaten schaffen. Schließlich brauchen wir welchem Zeitpunkt dieser Beschluss umgesetzt würde, diese Krankenhäuser für die Aus-, Fort- und Weiterbil- ist mir gesagt worden, dieses finde im Rahmen der dung in der Einsatzmedizin. Das kann kein ziviles Kran- Durchsetzung der Verteidigungspolitischen Richtlinien kenhaus in der Bundesrepublik Deutschland leisten. statt. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. April 2004 9515

Ursula Lietz (A) Meine Damen und Herren, zum Schluss noch ein schutz ist dank unseres Ministers heute dafür (C) Satz: Es macht mich traurig, dass viele verantwortungs- besser ausgerüstet denn je. bewusste Offiziere in diesen Tagen über Maulkorb- (Beifall bei der SPD) erlasse Sprechverbote bekommen und ihnen sogar die Entfernung von ihren Aufgabengebieten angedroht So brauchen wir auch den Vergleich mit den in Sachen wurde, wenn sie ihre Sorgen über die jetzt anstehende Sicherheit gerne als Vorbild zitierten USA überhaupt Reform und deren Schwächen zum Ausdruck bringen. nicht zu scheuen. Ein Vergleich von Zuständigkeiten und Eine Regierung bzw. ein Minister, der von seinem Plan Umfang staatlicher Sicherheitsleistungen in Deutschland überzeugt ist und zu ihm steht, sollte sich auch der Dis- mit dem Department of Homeland Security zeigt, dass kussion in den eigenen Reihen stellen. die deutsche Organisation der amerikanischen Organisa- tion in Bezug auf Kompetenzbreite und potenzielle Vielen Dank. Durchgriffsmöglichkeiten in nichts nachsteht. Auch der (Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf von der Anteil finanzieller Aufwendungen ist im Verhältnis zum SPD: Das macht er doch!) jeweiligen Gesamthaushalt mit rund 1,6 bis 1,7 Prozent nahezu identisch. Ich weiß also die innere Sicherheit Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: beim Bundesinnenminister in guten Händen. Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt Drittens. Es gibt ohne Zweifel besondere Span- erhält die Kollegin Karin Evers-Meyer, SPD-Fraktion, nungslagen und Katastrophenfälle, in denen wir die das Wort. Bundeswehr mit ihren spezifischen Fähigkeiten brau- chen. In diesen Fällen kann sie aber – das ist hier bereits (Beifall bei der SPD) gesagt worden – schon heute eingesetzt werden. Mit dem Luftverkehrssicherheitsgesetz wurden in diesem Karin Evers-Meyer (SPD): Bereich bestehende Lücken geschlossen. Wo noch Lü- Verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kol- cken bestehen, werden wir auch diese schließen und die legen! Meine Damen und Herren! Das Sozialwissen- Einsatzfähigkeit weiter optimieren. schaftliche Institut der Bundeswehr hat letzte Woche Meine Damen und Herren, die CDU/CSU will uns eine aktuelle Bevölkerungsbefragung zum sicherheits- mit ihrem Antrag weismachen, dass wir den Heimat- politischen Meinungsbild veröffentlicht. Diese Studie schutz vernachlässigen, weil wir die Bundeswehr zu ei- belegt, dass das Gefühl von Sicherheit abnimmt. Nie- ner effizienten, gut ausgebildeten und gut ausgerüsteten mand wird von der Hand weisen können, dass es nicht international einsatzfähigen Truppe machen. Zwar er- nur so ein Gefühl ist, das da abnimmt, sondern dass sich kennen auch Sie die Notwendigkeit einer Neuausrich- (B) die Bedrohungslage tatsächlich verschärft hat. (D) tung der Bundeswehr an; auch Sie wollen diese interna- In einer solchen Situation sollten wir die Menschen in tional einsatzfähige Armee, die mit unseren Partnern in unserem Land nicht mit falschen Heilsversprechungen Europa und der NATO mithalten kann. Gleichzeitig wol- aufs Glatteis führen, sondern für Aufklärung sorgen. len Sie aber eine Bundeswehr, bei der nicht nur alles so bleibt, wie es ist, sondern die mit alten Strukturen wei- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten tere Aufgaben übernimmt. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Unsere Bundeswehr ist jedoch keine Eier legende Die CDU/CSU-Opposition tut dies leider nicht, weder Wollmilchsau. Die CDU/CSU setzt mit ihren Forderun- mit ihrem vorliegenden Antrag noch mit ihren wieder- gen ihre konfuse Politik der Widersprüche auch auf dem holten populistischen Forderungen nach einem Einsatz Gebiet der Sicherheitspolitik fort: der Bundeswehr im Innern. Sie schüren damit die Ängste in der Bevölkerung und suggerieren, es werde (Beifall bei der SPD) nicht genügend zu deren Schutz getan. Sie fordern Steuersenkungen und wollen mehr Geld aus- (Zuruf von der SPD: Genau!) geben, Sie wollen Bürokratieabbau und halten Ihre schützende Hand über jeden, der auch nur im Verdacht Natürlich stellen sich die Bürgerinnen und Bürger die steht, Ihrer Wählerklientel anzugehören. Ich bitte Sie, Frage: Warum darf die Bundeswehr Deutschland am die Bundeswehr dabei aus dem Spiel zu lassen. Die Bun- Hindukusch verteidigen, nicht aber am Hamburger deswehr steht vor neuen, großen Herausforderungen. Hauptbahnhof? Darauf gibt es drei ganz klare Antwor- Wir sind auf einem guten Weg, diese Herausforderungen ten: zu meistern. Diesen Weg wollen wir konsequent weiter- gehen und die Reform der Bundeswehr nicht aus partei- Erstens. Die Bundeswehr ist dafür weder ausgebildet taktischem Kalkül überfrachten und damit letztlich zum noch ausgerüstet. Sie steht im Moment vor ganz ande- Scheitern verurteilen. ren, neuen Herausforderungen. Wir können unsere Sol- datinnen und Soldaten jetzt nicht auch noch zu Hilfs- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ sheriffs machen. DIE GRÜNEN) Zweitens. Die Polizeien der Länder und des Bundes Ich möchte noch einige Dinge zur geplanten Auflö- sowie der Bundesgrenzschutz sind für die innere sung der Reservelazarette sagen. Der Verteidigungs- Sicherheit zuständig. Sie sind die Spezialisten, sie sind minister hat in seinen von allen gelobten Verteidigungs- dafür ausgebildet. Insbesondere unser Bundesgrenz- politischen Richtlinien den Verzicht auf allein für den 9516 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. April 2004

Karin Evers-Meyer (A) Verteidigungsfall bereitgehaltene Strukturen angewie- genes Verhältnis von Auftrag, Fähigkeiten und Mitteln (C) sen. Gleichzeitig hat er aber auch den Schutz Deutsch- auch für die Reserve ausgerichtet. lands und seiner Bürgerinnen und Bürger als Auftrag der Mobilmachungsstrukturen alter Art für die herkömm- Bundeswehr festgeschrieben. Diesen Vorgaben folgend liche Verteidigung an Landesgrenzen gegen einen kon- wird die Reservelazarettorganisation als Struktur der ventionellen Angreifer werden nicht mehr benötigt und Landesverteidigung aufgelöst. daher abgeschafft, ohne dass aber die Kompetenzen zer- Diese Auflösung wird jedoch keineswegs negative stört würden. Reservisten und Reservistinnen werden Auswirkungen auf den Katastrophenschutz haben. Re- weiterhin im gesamten Aufgabenspektrum ihren Beitrag servelazarette waren bisher als zusätzliche Militärkran- leisten. Die zivil-militärische Zusammenarbeit wird kenhäuser für den Verteidigungsfall vorgesehen. Die durch gemeinsame Übungen mit den zuständigen zivilen heutigen 56 Lazarettgruppen wären erst nach einer sehr Stellen weiter intensiviert. zeitintensiven und von der Feststellung des Verteidi- Zur Steigerung von Professionalität und Einsetzbar- gungsfalls abhängigen allgemeinen Mobilmachung ein- keit der Reserve wird eine erhöhte Übungsfrequenz der satzbereit. Für die Aufgaben im Katastrophenschutz wa- freiwillig beorderten Reservisten und Reservistinnen an- ren und sind sie wirklich nicht optimal vorbereitet. Das gestrebt. Die Gestaltung von Wehrübungen und Übun- wollen wir ändern. gen wird klar auf die neuen Aufträge im Rahmen der Wesentliche Kernelemente der Lazarettorganisation Aufgaben der Bundeswehr auszurichten sein. bleiben auch nach der Entscheidung über deren Auflö- sung erhalten. Dazu gehören insbesondere fachärztliche Meine Damen und Herren, es bleibt daher festzuhal- Komponenten, die auch für die Katastrophenhilfe ge- ten: Alle in Deutschland maßgeblichen Stellen arbeiten nutzt werden können und mit denen man in der Lage ist, mit Nachdruck an der Neuausrichtung der Sicherheitsbe- das zivile Gesundheitswesen bei einem Massenanfall hörden auf die neue Bedrohungslage. Die Bundeswehr von Verletzten gezielt zu verstärken. wird da, wo es notwendig und sinnvoll ist, ihren Beitrag auch für die Sicherheit im Innern leisten. Die Transfor- Auch die Reservisten des Sanitätsdienstes der Bun- mation der Bundeswehr zu einer international einsetzba- deswehr werden weiterhin eine sehr wichtige Rolle spie- ren Eingreiftruppe steht diesem Ziel gewiss nicht entge- len, Herr Beck. Sie werden jetzt verstärkt mit der aktiven gen. Truppe zum Einsatz kommen, (Zuruf von der SPD: So ist es!) (Ulrike Merten [SPD]: Sehr richtig!) Vielen Dank. diese unterstützen und so die Reaktionsfähigkeit des Sa- (B) nitätsdienstes in Katastrophen- und besonders schweren (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (D) Unglücksfällen verbessern. DIE GRÜNEN)

(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Friedrich Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Ich schließe die Aussprache. Hierzu werden Verfahrensweisen erarbeitet, die eine Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf schnellere Unterstützung im Katastrophenfall ermögli- Drucksache 15/2824 an die in der Tagesordnung aufge- chen. Die bisherige Alarmierungs- und Einberufungs- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- praxis bedarf, wie schon gesagt, eines zeitlichen Vor- verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung laufs, der den raschen Anforderungen eines plötzlichen so beschlossen. Katastrophenfalls nicht gerecht wird. Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 7 auf: Die Bundeswehr gibt damit keine für den Katastro- phenschutz relevanten wesentlichen Fähigkeiten auf. Im – Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- Gegenteil: Sie wird ihre Reservistenorganisation so opti- gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes mieren, dass diese – gemeinsam mit der aktiven Truppe – zur Änderung der Regelungen über Altschulden den Katastrophenschutzorganisationen und dem zivilen landwirtschaftlicher Unternehmen (Landwirt- Gesundheitswesen im Bedarfsfall die bestmögliche Un- schafts-Altschuldengesetz – LwAltschG) terstützung leisten kann. – Drucksache 15/1662 – (Günther Friedrich Nolting [FDP]: (Erste Beratung 66. Sitzung) Da bin ich gespannt!) – Zweite und dritte Beratung des von den Abgeord- Die Fähigkeit des Sanitätsdienstes der Bundeswehr zu ei- neten Hans-Michael Goldmann, Jürgen Türk, ner bedarfsgerechten, reaktionsschnellen Unterstützung Dr. Christel Happach-Kasan, weiteren Abgeord- ziviler Kräfte im Katastrophenfall wird damit nicht nur neten und der Fraktion der FDP eingebrachten erhalten bleiben, sondern noch optimiert. Entwurfs eines Gesetzes zur endgültigen Rege- lung über Altschulden landwirtschaftlicher Un- Gleiches gilt im Übrigen auch für die neue Reservisten- ternehmen (LandwirtschaftsEnd-Altschulden- konzeption der Bundeswehr, die in enger Kooperation gesetz – LwEndAltschG) mit dem Reservistenverband und mit anderen Verbänden erarbeitet wurde. Die Reserve wird auf die wahrscheinli- – Drucksache 15/2468 – cheren Aufgaben der Bundeswehr und auf ein ausgewo- (Erste Beratung 91. Sitzung) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. April 2004 9517

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert (A) Beschlussempfehlung und Bericht des Haushalts- der Ursachen für die Probleme, die wir heute in Deutsch- (C) ausschusses (8. Ausschuss) land haben. – Drucksache 15/3002 – Für die Nachfolgebetriebe der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften wurde mit der so genann- Berichterstattung: ten Rangrücktrittsvereinbarung eine bilanzielle Ent- Abgeordnete lastung vereinbart. Damit konnten zwar kurzfristig In- Ernst Bahr (Neuruppin) solvenzen vermieden werden. Aber das Problem wurde Franziska Eichstädt-Bohlig nicht wirklich gelöst. Im Gegenteil: Die Altschuldenbe- Jürgen Koppelin lastung der LPG-Nachfolgebetriebe ist von 1,6 Milliar- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die den Euro 1991 auf heute 2,5 Milliarden Euro angewach- Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Dazu sen. gibt es offenkundig Einvernehmen. Dann ist es so be- Das hat folgende Ursachen: Zum Ersten waren die schlossen. Betriebe nach der Wiedervereinigung einfach nicht in Dann bitte ich diejenigen Kolleginnen und Kollegen, der Lage, Gewinne zu erwirtschaften. Aus diesen Ge- die an dieser Debatte nicht mehr teilnehmen können oder winnen hätte eine Rückzahlung erfolgen müssen. Einer wollen, den Saal möglichst geräuschlos zu verlassen, da- der Gründe für diese Situation war die Tatsache, dass die mit diejenigen Platz nehmen können, die an dieser De- Kredite, die für Investitionen aufgenommen worden batte dringend teilnehmen wollen oder müssen. sind, einfach nicht mehr werthaltig waren. Zum Zweiten setzten die Rangrücktrittsvereinbarungen nur wenige Ich eröffne die Aussprache und erteile zunächst für Anreize, die Altschulden zügig zurückzuzahlen. Zum die Bundesregierung das Wort dem Parlamentarischen Dritten gab es für hoch verschuldete Unternehmen über- Staatssekretär Gerald Thalheim. haupt keine realistische Chance, die Altschulden zurück- zuzahlen. Gerade für diese Betriebe fehlte angesichts Dr. Gerald Thalheim, Parl. Staatssekretär bei der dessen, dass man, bildlich gesprochen, vor einer Wand Bundesministerin für Verbraucherschutz, Ernährung und stand, von der jeder wusste, dass sie nicht zu übersprin- Landwirtschaft: gen ist, jede Motivation, sich anzustrengen. Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Das alles ist längst bekannt. Aber CDU/CSU und Damen und Herren! Heute ist für mich in meiner Abge- FDP, damals in der Regierungsverantwortung, haben ordnetenlaufbahn, wenn man das so bezeichnen will, ein nichts unternommen, um dieses Problem zu lösen. besonderer Tag. Am 21. Dezember 1990 habe ich als neu Erst nach dem Regierungswechsel 1998 wurde eine gewählter Abgeordneter hier im Reichstagsgebäude ei- (D) (B) Lösung des Problems ernsthaft in Angriff genommen. nen Antrag zu einem Altschuldenmoratorium für die ostdeutsche Landwirtschaft unterschrieben. Damals (Zuruf des Abg. Dr. Peter Jahr [CDU/CSU]) hätte ich mir nicht vorstellen können, 14 Jahre später bei der endgültigen Regelung des Gesetzes hier im Bundes- – Lieber Peter Jahr, wenn man hier neu dabei ist, soll tag für die Bundesregierung zu sprechen. Ich hätte mir man nicht dazwischenrufen. auch nicht vorstellen können, dass es so lange dauern und so schwierig werden würde, eine Regelung herbei- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: zuführen, und dass das ungelöste Altschuldenproblem Verehrter Herr Staatssekretär, die Geschäftsordnung nicht nur in der Landwirtschaft eine so schwierige Hypo- sieht keine Staffelung der Zulässigkeit von Zwischenru- thek darstellen würde. fen nach der Zugehörigkeit zum Bundestag vor. Wir haben in den letzten Wochen kontrovers über die (Heiterkeit) Situation in Ostdeutschland diskutiert. Entindustriali- Darauf muss ich Sie schon aufmerksam machen. sierung und viele andere Worte sind gefallen. Einer der Gründe für diese Situation liegt in den Folgen der feh- Dr. Gerald Thalheim, Parl. Staatssekretär bei der lerhaften Währungsunion und ganz besonders darin, wie Bundesministerin für Verbraucherschutz, Ernährung und die Altschulden behandelt wurden. Nach der Wäh- Landwirtschaft: rungsunion waren die Betriebe einfach nicht in der Lage, die damals in Mark der DDR aufgenommenen Kredite in 1996 gab es einen leisen Versuch, der dann aber ganz D-Mark zurückzuzahlen. Das galt nicht nur für die schnell wieder beiseite gelegt wurde. LPGs, das galt genauso für die Industrieunternehmen, Wie gesagt: Nach dem Regierungswechsel wurde das die aus den volkseigenen Betrieben hervorgegangen wa- Problem ernsthaft in Angriff genommen. Grundlage für ren, und für die Wohnungsgesellschaften. Deshalb das heute zu beschließende Gesetz sind das Urteil des musste der Bund im Falle der Industrie und der Woh- Bundesverfassungsgerichts und die in der Folge in nungsunternehmen weitgehend auf die Rückzahlung Auftrag gegebene wissenschaftliche Überprüfung. verzichten. Auch wenn nicht alle Altschuldenbetriebe mit dem Angesichts der heutigen Debatte, in der wechselseitig Ergebnis einverstanden sind, werden mit dem Landwirt- viele Vorwürfe gemacht wurden, wer für was verant- schafts-Altschuldengesetz die Fehler der Rangrücktritts- wortlich ist, muss man sagen: Dieser Forderungsver- vereinbarungen korrigert. Die Anreize zu einer zügigen zicht, der in Milliarden zu Buche geschlagen ist, ist eine Bedienung der Altschulden werden erhöht. Es ist 9518 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. April 2004

Parl. Staatssekretär Dr. Gerald Thalheim (A) durchaus zulässig, hier von zusätzlichem Druck, von Gesetz zuzustimmen. Ich hatte kürzlich eine Diskussion (C) Verschärfungen zu reden. Legale Steuervermeidungs- mit einem renommierten CDU-Agrarpolitiker, der den möglichkeiten werden eingeschränkt. Der Abführungs- anwesenden Vertretern von Landwirtschaftsbetrieben prozentsatz, bezogen auf die Gewinne, wird erhöht. sagte: „Stimmt dieser Regelung zu oder kritisiert sie nicht! Wir hätten das nicht hinbekommen.“ Außerdem können die Betriebe auf der Basis der pro- gnostizierten Gewinnentwicklung ihre Verpflichtungen Herr Kollege Goldmann, auch an Sie will ich mich mit einer Einmalzahlung abgelten. Diese Einmalzah- wenden. Die 33-Prozent-Regelung wäre im Jahre 1991 lung ergibt sich aus dem so genannten Barwert der künf- oder 1992 sicherlich vernünftig gewesen, ist es aber tigen Zahlungen. Die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit eben nicht mehr im Jahre 2004. der Unternehmen wird damit angemessen berücksich- tigt. Insofern appelliere ich an Sie alle, diesem ausgespro- chen guten Gesetz im Interesse der ostdeutschen Land- Das Vorgehen ist das Ergebnis umfangreicher Prüfun- wirtschaftsbetriebe zuzustimmen. gen und zahlloser Diskussionen. Lieber Kollege Goldmann, auch der Vorschlag, den jetzt die FDP vor- Vielen Dank. legt, nämlich einen Pauschalsatz von 33 Prozent zu ver- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ wenden, ist geprüft worden. Das wäre sicherlich eine DIE GRÜNEN) Vereinfachung hinsichtlich der Bürokratie. Aber für die einen wären 33 Prozent noch eine nicht zu übersprin- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: gende Hürde, für die anderen, die leistungsfähiger sind, Herr Kollege Thalheim, den Dank für die regelmä- ein zusätzliches Geschenk. Insofern kam diese Lösung ßige Einhaltung der Redezeit, die eigentlich unter den nicht infrage. Bedingungen unserer Geschäftsordnung eine schiere Bei der Erarbeitung des Gesetzes musste eine schwie- Selbstverständlichkeit sein sollte, verbinde ich mit der rige Abwägung der Interessen des Bundes als des letzt- ausdrücklichen Hoffnung, dass Ihre heutige Überschrei- endlichen Gläubigers der Altschulden und der Nachfol- tung derselben in Zukunft wieder die seltene Ausnahme gebetriebe der LPGs, die mit Altschulden belastet sind, bleibt. herbeigeführt werden. Nun erhält der Kollege Dr. Peter Jahr für die CDU/ Nach der ersten Lesung ist der Gesetzentwurf der Bun- CSU-Fraktion das Wort. desregierung äußerst intensiv mit den Betroffenen disku- tiert worden. Zum einen gab es eine grundsätzliche Zu- Dr. Peter Jahr (CDU/CSU): stimmung zu der Herangehensweise, was uns sehr wichtig (B) Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und (D) war; zum anderen gab es aber noch Änderungswünsche. Herren! Mit der Schlussdebatte über die Altschuldenre- Als Agrarpolitiker bin ich sehr zufrieden, dass diese im gelung in landwirtschaftlichen Unternehmen betreiben parlamentarischen Verfahren aufgenommen wurden. Das wir in diesem Hohen Hause ein Stück Vergangenheits- gilt für die Reduzierung des Abführungsprozentsatzes bewältigung. Mit der Behandlung der Altschulden- auf 55 Prozent und für die Wahl des mehrjährigen problematik, die aus DDR-Zeiten stammt, weht ein klein Durchschnitts bei der Ermittlung des Diskontierungs- wenig der Hauch der Wendezeit durch den Plenarsaal. zinssatzes. ( [CDU/CSU]: So ist es!) Außerdem wurde ein Mindestabführungsbetrag vereinbart; das entspricht den Finanzinteressen des Bun- Immerhin: Zum Zeitpunkt der D-Mark-Eröffnungsbi- des. Durch diese Regelung wird es zu einer schnelleren lanz hatten die landwirtschaftlichen Unternehmen Kre- Rückzahlung kommen. Insofern sind in dem Gesetz, das ditverbindlichkeiten in Höhe von umgerechnet 3,9 Mil- wir heute beschließen werden, sowohl agrarpolitische liarden Euro. Schon bei oberflächlicher Analyse war Aspekte als auch die Finanzinteressen des Bundes be- festzustellen, dass bei normaler Umrechnung der Alt- rücksichtigt. Ich habe eingangs genannt, auf welche schulden die überwiegende Mehrzahl der betroffenen Höhe sich mittlerweile die Altschulden summieren. Betriebe in die Gesamtvollstreckung getrieben worden wäre. Gerade weil damals nicht genügend regionale Ich will diese Gelegenheit nutzen, an die betroffenen Neugründer vorhanden waren, wären nicht nur Zigtau- Betriebe zu appellieren, die Möglichkeiten, die dieses sende von Arbeitsplätzen gefährdet gewesen, sondern im Gesetz vorsieht, zu nutzen und sich insbesondere durch östlichen Teil unseres Vaterlandes hätte sich nie eine flä- die Nutzung der Ablöseregelung ein für alle Mal von den chendeckende, wettbewerbsfähige Landwirtschaft eta- Altschulden zu verabschieden. blieren können. Herr Präsident, in den 14 Jahren, von denen ich ein- (Beifall bei der CDU/CSU) gangs sprach, bin ich nie wegen Überziehung der Rede- zeit auffällig geworden. Insofern gestatten Sie mir bitte, Das Hauptproblem der so genannten Altschulden war noch eine Bemerkung hinzuzufügen. die extrem unterschiedliche Werthaltigkeit dieser Kredite. Es gab zum Beispiel die Kredite für Neuinves- (Heiterkeit) titionen in einen nach DDR-Maßstäben hoch modernen Das Fazit dieser Regelung lautet: Was lange währt, Milchkuhstall, dessen Ausrüstung und Technologie nach wird endlich gut. Ich kann nur an die Kolleginnen und der Wende völlig veraltet waren. Daneben gab es den Kollegen aus den anderen Fraktionen appellieren, dem Kredit, der auf einem Beschluss der SED-Kreisleitung Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. April 2004 9519

Dr. Peter Jahr (A) beruhte. Damit wurde der Betrieb verpflichtet, kommu- Zugegebenermaßen war die damalige Altschulden- (C) nale Straßen, Kindergärten oder Kinderferienlager zu regelung sehr großzügig. Ich weiß auch, dass viele land- bauen und zu bezahlen. Bezahlt wurden diese Dinge wirtschaftliche Unternehmen bei neuen Krediten auch durch die LPGs, finanziert durch Kreditierung seitens heute noch eine solche Rangrücktrittsvereinbarung un- der Genossenschaftsbank der ehemaligen DDR. terzeichnen würden. Aber das kann man auch anders for- mulieren: Diese Regelung wurde von Union und FDP in Selbstverständlich hätte man 1990 theoretisch auch Kraft gesetzt, als die Politik des Aufbaus Ost noch Fan- die Möglichkeit gehabt, die Werthaltigkeit der Kredite tasie hatte. Diese Regelung wurde in Kraft gesetzt, als durch eine Einzelfallbewertung konkret zu prüfen und zu die Landwirtschaft noch als Wirtschaftszweig betrachtet korrigieren. Aber seien wir zumindest heute ehrlich: wurde. Diese Einzelfallbewertung wäre schon allein aufgrund des Datenumfangs zum Scheitern verurteilt gewesen. (Zuruf von der CDU/CSU: Eben!) Zusätzlich erhob sich auch die Frage: Wer hätte diese Im April 1997 erging das Urteil des Bundesverfas- Wertfeststellung eigentlich treffen können? Welcher sungsgerichtes, in dem einerseits die Verfassungsmä- Sachverständige konnte 1990 nachvollziehbar feststel- ßigkeit der getroffenen Altschuldenregelung bestätigt len, welchen Wert eigentlich eine Milchviehanlage mit und andererseits der Gesetzgeber verpflichtet wurde, die 2 000 Tieren auf fremden Grund und Boden ohne Zielerreichung der bilanziellen Belastungen zu überprü- Erbbaurechtsvertrag hatte? Was war eine Anlage mit fen. Das Bundesverfassungsgericht ordnete de facto eine 1 200 Säuen wert, die nicht nur auf fremdem Grund und Mid-Term-Review an, der die damalige schwarz-gelbe Boden stand, sondern dessen Bodeneigentümer in den Bundesregierung auch nachkam. alten Bundesländern wohnte und im Rahmen eines so Aus diesem Grund wurde 1998 von der Bundesregie- genannten Kreispachtvertrages enteignet wurde? rung eine entsprechende wissenschaftliche Untersu- (Vorsitz: Vizepräsident Dr. Hermann Otto chung in Auftrag gegeben. Man muss sagen, dass ihr Er- Solms) gebnis nur für Laien eine Überraschung war: Mit der bis heute gültigen bilanziellen Entlastung würden bis 2010 Aus diesen Gründen war es richtig, dass 1990 die da- lediglich 5 Prozent der Unternehmen ihre Altschulden malige CDU/CSU/FDP-geführte Bundesregierung sa- vollständig zurückzahlen. Insgesamt würde die Summe nierungsfähige Unternehmen mit Altschulden durch des Altschuldenbestands der Unternehmen bis 2010 zwei Maßnahmen unterstützte: Zum einen wurden Alt- durch aufgelaufene Zinsen sogar wieder ansteigen. Aus schulden in Höhe von circa 0,7 Milliarden Euro von der Sicht der Bundesregierung war es somit erforderlich, die Treuhand übernommen. Zum anderen wurden damals Altschuldenregelung anzupassen. Weil man auch einmal (B) Schulden in Höhe von rund 2 Milliarden Euro durch überparteiliche Gemeinsamkeiten festhalten sollte, stelle (D) zwischen den Unternehmen und den altkreditführenden ich für meine Fraktion fest: Dieser Anpassungsbedarf ist Banken abgeschlossene zivilrechtliche Rangrücktritts- unstreitig. vereinbarungen beglichen und somit die landwirt- schaftlichen Unternehmen entlastet. (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Hans-Michael Goldmann [FDP]) (Beifall bei der CDU/CSU) – Ich dachte, auch auf der linken Seite des Hauses würde Durch diese Rangrücktrittsvereinbarungen traten fol- jetzt geklatscht. Aber Sie haben gleich noch eine Chance gende günstige Wirkungen ein: Kredite, die durch Alt- zu klatschen. schulden begründet waren, wurden nachrangig einge- Allerdings war meine Fraktion über den Realisie- stellt und durften in der Bilanz als Eigenkapital rungszeitraum ein wenig erstaunt. Man könnte auch so ausgewiesen werden. Die Unternehmen wurden damit formulieren: Sie brauchten nach Vorlage des Gutachtens bilanziell de facto schuldenfrei gestellt, hatten Eigen- ganze fünf Jahre, um einen beratungsreifen Gesetzestext kapital und konnten neue Kredite aufnehmen. Die Alt- vorzulegen, schulden mussten nur im Falle einer Gewinnerwirtschaf- tung zurückgezahlt werden. Lediglich 20 Prozent des (Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Das ist handelsrechtlichen Überschusses mussten abgeführt doch jetzt wohl eine blanke Frechheit!) werden, das heißt, 80 Prozent konnten die Unternehmen und das, obwohl Sie schon vor der Bundestagswahl 1998 behalten. Zinsen fielen dabei nur in Höhe des so genann- eine schnelle Lösung der Altschuldenfrage versprochen ten Euribor-Zinssatzes an. Zinseszinsen wurden nicht er- hatten. Sie erweckten bereits im Wahlkampf 1998 den hoben. Eindruck, den entsprechenden Gesetzestext in der Die Rangrücktrittsvereinbarung war übrigens auch Schublade zu haben. für die altschuldenführenden Banken ein gutes Geschäft. (Zuruf von der CDU/CSU: Versprochen und Die Banken waren im Endeffekt so gestellt, als hätten gebrochen!) die LPG-Nachfolgeunternehmen die im Rahmen der Rangrücktrittsvereinbarung gezeichneten Altschulden Nach dem Regierungswechsel 1998 habe ich den bereits zurückgezahlt. Im Endeffekt führte das allerdings Fortgang der Dinge aus sächsischer Perspektive mit gro- dazu, dass viele Unternehmen lediglich die jährlichen ßem Interesse verfolgt. Denn seinerzeit sind wir im säch- Verwaltungsgebühren entrichten mussten, sich aber an- sischen Landtag – man kann fast sagen: monatlich – von dererseits wirtschaftlich stabilisierten. den Sozialdemokraten gedrängt worden, endlich einen 9520 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. April 2004

Dr. Peter Jahr (A) entsprechenden Gesetzentwurf im Deutschen Bundestag sung, dass die verschärfte Rangrücktrittsvereinbarung (C) auf den Weg zu bringen. Meine Damen und Herren ins- hart an der Kante der Verfassungskonformität entlang besondere von der SPD, offenbar haben Sie beim Wech- schlittert. Dabei geht es mir weniger um den abzuführen- sel von der Oppositionsbank auf die Regierungsbank den Prozentsatz, den Sie ja von 65 auf 55 Prozent senken vergessen, Ihre Schubladen mitzunehmen. wollen, es geht vielmehr um die veränderte Bemes- sungsgrundlage für den Gewinn. Selbst ein Abführungs- (Beifall bei der CDU/CSU) satz von 55 Prozent führt in der Praxis häufig dazu, dass Entweder war Ihr Entwurf nicht mehr da oder er war, der gesamte handelsrechtliche Überschuss abgeführt wie die Juristen zu sagen pflegen, unauffindbar ver- werden muss. räumt. Zweiter Kritikpunkt: Die Ablöseregelung allein an (Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU) der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit des Unterneh- mens zu orientieren ist nicht richtig. Selbstverständlich Die Suche war zugegebenermaßen nicht ganz einfach. ist die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der Unterneh- Denn immer, wenn Sie gerade in Ihr verstaubtes Archiv men sehr unterschiedlich, aber seien wir ehrlich: Es gibt hinabsteigen wollten, kam etwas dazwischen. Da war die da auch subjektive Faktoren. Es gibt nun einmal gute BSE-Geschichte – hier könnte man fragen, was Rinder- und weniger gute Geschäftsführer, es gibt nun einmal wahn mit Altschulden zu tun hat –, dann wurde die erfolgreiche und weniger erfolgreiche Unternehmen. Ministerin ausgewechselt. Aus heutiger Sicht muss man Meine Fraktion ist deshalb der Auffassung, dass es nicht sagen: Glücklicherweise hat sich Frau Künast nicht in Aufgabe des vorliegenden Gesetzentwurfs sein kann, den Altschuldenprozess eingeschaltet; denn sonst wären gutes Management zu bestrafen und schlechtes Manage- wir noch nicht so weit. ment zu belohnen. (Zuruf von der CDU/CSU: Rosenkrieg!) (Zuruf von der CDU/CSU: Sehr richtig!) Dann kam auch noch eine Bundestagswahl dazwischen. Ihr Gesetzentwurf folgt an dieser Stelle – ich gebe zu, Aber im Jahre 2002 war alles ganz einfach: Man musste das ist fast unzulässigerweise verkürzt dargestellt – zu nur noch auf eine Gute-Laune-Phase des Finanzminis- stark dem Sozialhilfeprinzip. Die Betriebe würden sich ters warten und blitzschnell zuschlagen. darauf einstellen: Sie würden praktisch all ihre Fantasie (Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU) einsetzen, um sich möglichst arm darzustellen. Dagegen würden Sie sich wundern, wie dasselbe Unternehmen Unter Berücksichtigung dieser Umstände war das ein gegenüber seiner Hausbank plötzlich einen Verlust in ei- regelrechtes Schnellverfahren. Das sage ich nur deshalb, nen konzeptionellen Gewinn umwandelt bzw. umwan- weil Sie, meine Damen und Herren von den Regierungs- (B) deln muss, denn neue Kredite bekommt man natürlich (D) fraktionen, manchmal auch anders können. Ich erinnere nur, wenn man konzeptionellen Gewinn ausweist – ge- bloß an das Thema Ausbildungsplatzabgabe, bei dem ich treu dem Motto „Wenn du zur Altschuldenstelle fährst, mir ein ähnlich langes Nachdenken wünschen würde. dann nimm das Fahrrad, brauchst du einen Kredit von (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. der Hausbank, dann fahre mit dem Mercedes vor“. Hans-Michael Goldmann [FDP]) Ich weiß auch nicht, wie die zuständige Behörde ob- Der vorliegende Gesetzentwurf zerfällt im Wesent- jektiv einschätzen soll, ob der seitens des Betriebes vor- lichen in zwei Teile: Erstens wird die bestehende geschlagene Ablösebetrag angemessen ist. Deshalb Rangrücktrittsvereinbarung massiv verschärft. Zweitens schlägt meine Fraktion zur Ermittlung der Gewinnerwar- können sich die Unternehmen von dieser verschärften tung von Unternehmen ein standardisiertes, betriebs- Verpflichtung freikaufen, indem sie einen einmaligen gruppenindividuelles mathematisches Verfahren vor, Ablösebetrag bezahlen. welches die Verzinsung von Produktionsfaktoren ange- messen berücksichtigt. Diese de facto kalkulatorische Obwohl ich selbst am Anfang der Diskussion – damit Gewinnermittlung und der daraus ermittelte Ablösebe- meine ich 1998 – lieber die bestehenden Altkredite auf trag könnten den Verwaltungsaufwand erheblich senken ihre Werthaltigkeit überprüft gesehen hätte, um daraus und überhaupt erst eine Entscheidungsgrundlage für die den Ablösebetrag zu ermitteln, bin auch ich mittlerweile Ablösevereinbarung bilden. Leider haben Sie unseren – nach Abwägung aller Umstände – der Auffassung, Antrag im Ausschuss abgelehnt, sodass wir den vorlie- dass der Grundansatz dieses Gesetzes richtig ist. genden Gesetzentwurf leider ebenfalls ablehnen müssen. (Cornelia Behm [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Nun noch ein paar Worte zum Gesetzentwurf der NEN]: Wofür?) Liberalen. Die FDP will den großen Schnitt dadurch Frau Wolff, wenn Sie mitschreiben wollen: Das wäre machen, dass sie ganz einfach festlegt: Jeder soll ein dann die zweite Gemeinsamkeit. Drittel seiner Altschulden begleichen und basta. Die Vorteile dieses Verfahrens liegen auf der Hand: Es han- (Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: So gut delt sich um ein extrem einfaches Verwaltungsverfahren. sind Sie dann doch nicht!) Ein mit der Prozentrechnung halbwegs vertrauter Bear- Allerdings wird die Decke der Gemeinsamkeiten jetzt beiter könnte die Bescheide erstellen. Der Finanzminis- immer dünner. Bei der gedruckten Fassung des Gesetz- ter bekommt sogar mehr Geld als im Regierungsentwurf entwurfs sieht meine Fraktion noch erheblichen Nach- eingeplant; dafür gibt es einen Pluspunkt – so sind wir besserungsbedarf. Wir sind nach wie vor der Auffas- zu den Liberalen. Andererseits liegt in der extremen Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. April 2004 9521

Dr. Peter Jahr (A) Pauschalität gerade das Problem: Kleine Schuldner 40 Jahren hat sich bedingt durch die Zuordnung zu un- (C) würden unter- und große Schuldner würden überfordert. terschiedlichen politischen Systemen eine sehr unter- Das Problem, was wir mit denjenigen Unternehmen ma- schiedliche wirtschaftliche Entwicklung vollzogen. Auf chen, die aufgrund ihrer wirtschaftlichen Leistungsfä- beiden Seiten der Mauer lebten Deutsche: im Wesen higkeit diesen Ablösesatz objektiv nicht aufbringen kön- gleich, mit einer gemeinsamen Geschichte und Kultur, nen, bleibt ungelöst: Keine Bank der Welt würde diesen mit familiären und freundschaftlichen Kontakten unter- Unternehmen den Ablösebetrag finanzieren. Das heißt, einander – die hat es damals Gott sei Dank gegeben –, in der Einfachheit Ihres Gesetzes liegt zugleich die große mit den gleichen Empfindungen, wenn es um Liebe und Gefahr; das wäre ein Minuspunkt. Ich mache es einfach Schmerz, um Gerechtigkeit und um die Sehnsucht nach jetzt: Pluspunkt und Minuspunkt ergeben null, deshalb einer friedlicheren Welt ging. Deswegen hatte ich schon, wird sich meine Fraktion bezüglich des Gesetzentwurfs als es die DDR noch gab, einen Hang zu den Grünen. der FDP der Stimme enthalten. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Meine Damen und Herren von Rot-Grün, trotzdem ist es noch nicht ganz zu spät, die guten Anregungen von Ich gehe davon aus, dass Sie alle hier mit mir froh CDU und FDP in die für das Gesetz maßgeblichen Ver- sind, dass Deutschland wiedervereint ist. Die Vereini- waltungsvorschriften zu etablieren: gung war tatsächlich eine große Leistung. Der Vereini- gungsvertrag und einige daraus abgeleitete Gesetze da- Erstens. Bestimmen Sie die Gewinnerwartung des gegen verdienen weniger Beifall. Auf die Lasten der Unternehmens nicht durch Befragung, sondern mathe- deutschen Teilung häuften sich Vereinigungslasten. matisch, also in einem standardisierten Verfahren. Diese Lasten tragen alle Deutschen, aber nicht alle glei- Zweitens. Entbinden Sie das Unternehmen bei einer chermaßen: Es gibt besonders betroffene Gruppen. Als bestimmten Angebotshöhe von aufwendigen Kontroll- Beispiele möchte ich nur die Kapitel „Rückgabe vor Ent- verfahren, getreu dem Motto: Je niedriger das Angebot, schädigung“, „Bodenreform“ und „Altschulden“ nen- desto höher die Kontrolldichte. nen. Die Betroffenen leben zum größten Teil im Osten Deutschlands. Weil ich davon ausgehen muss, dass sich meine Frak- tion heute bei der Schlussabstimmung völlig unverdien- Der 9. November 1989 liegt fast 15 Jahre zurück und termaßen nicht durchsetzen kann, erlaube ich mir noch die deutsche Einheit besteht seit fast 14 Jahren. Insofern einen Appell an die Damen und Herren von Rot-Grün: ist es aus meiner Sicht dringend geboten, mit den Verei- nigungsfolgen endlich aufzuräumen. Aus diesem Grund Erstens. Überlassen Sie die Ausformulierung der ent- habe ich es begrüßt, dass die Bundesregierung einen Ge- sprechenden Verwaltungsvorschriften nicht allein der setzentwurf zur Regelung der Altschulden in der Land- (B) Bundesregierung und der Verwaltung! wirtschaft vorgelegt hat. (D) Zweitens. Sorgen Sie bei der praktischen Umsetzung Dieser Entwurf ist so umstritten wie selten ein Ge- des Gesetzes für ein nachvollziehbares, faires Verfahren, setzgebungsvorhaben: Landwirtschaftsbetriebe mit Alt- welches auch die Verhältnismäßigkeit gegenüber denje- schulden – LPG-Nachfolgebetriebe – bewerten die nigen Unternehmen wahrt, die ihre Altschulden vollstän- neuen Regelungen zur Rückzahlung der Altschulden in dig zurückgezahlt haben bzw. als Neu- und Wiederein- der Regel sehr kritisch: Sie befürchten aufgrund der er- richter mit immensen Neukrediten belastet sind! höhten Gewinnabführung eine massive Gefährdung ihrer Drittens. Sorgen Sie dafür, dass gutes Management Solvenz. Betriebe ohne Altschulden – Wieder- und Neu- nicht bestraft und Missmanagement nicht belohnt wird! einrichter – halten dagegen die neuen Regelungen für zu lax: Sie machen den Vorwurf, dass die LPG-Nachfolger Viertens. Beugen Sie Missbrauch vor! weiterhin subventioniert werden und dass damit der Auch in der Landwirtschaft sollte nämlich gelten: Staat die von ihnen seit langem kritisierte Wettbewerbs- Leistung muss sich wieder lohnen. verzerrung fortsetze. Beide Seiten sind sich jedoch darü- ber einig – Herr Jahr hat das vorhin gesagt –, dass Rege- Danke schön. lungsbedarf besteht. Prinzipiell wird auch die (Beifall bei der CDU/CSU) entscheidende Neuerung des Gesetzentwurfs anerkannt, dass nämlich die Altschulden durch einen betriebsindivi- duell festzusetzenden, einmalig zu zahlenden Ablösebe- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: trag endgültig getilgt werden können. Insbesondere zum Das Wort hat jetzt die Kollegin Cornelia Behm vom Vollzug des Gesetzes gab es aber erheblichen Ge- Bündnis 90/Die Grünen. sprächsbedarf. In einer Vielzahl von Gesprächen mit betroffenen Cornelia Behm (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Landwirten und Verbänden haben wir Parlamentarier die Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Gelegenheit gehabt, Kritik und Anregungen aufzuneh- Kollegen! Wie wir gemerkt haben, verführt dieses men. Im Ergebnis haben die Koalitionsfraktionen den Thema dazu, zurückzublicken. Ich bitte Sie, dass Sie Regierungsentwurf an einigen Punkten geändert. Diese auch mir einen kleinen Ausflug in die Vergangenheit Änderungen sollen bewirken, dass möglichst viele Be- erlauben. triebe die einmalige Chance ergreifen, ihre Altschulden Bevor am 9. November 1989 die Mauer fiel, hat es abzulösen: Erstens haben wir den Abführungssatz von 40 Jahre lang zwei deutsche Staaten gegeben. In diesen 65 Prozent auf 55 Prozent vermindert. Zweitens haben 9522 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. April 2004

Cornelia Behm (A) wir den Abdiskontierungszinssatz zur Ermittlung des sehr stolz darauf, dass meine kleine Fraktion an dieser (C) Ablösebetrages auf der Basis eines mehrjährigen Mittel- Stelle einen eigenen Gesetzentwurf vorgelegt hat. wertes festgelegt. Dies wirkt sich mindernd auf den Ab- (Beifall bei der FDP) lösebetrag aus. Drittens haben wir einen Mindestablöse- betrag in Höhe der eingesparten Bank- und Lieber Peter Jahr, ich bin ein bisschen enttäuscht von Wirtschaftsprüfungskosten eingeführt. euch. Du hast hier vorhin 18 Minuten lang geredet. Ich denke, wenn ihr vorher schon ähnlich viel Kraft aufge- Mit diesen Änderungen sind die Rückzahlungsbe- wendet hättet, dann hättet auch ihr einen eigenen Gesetz- dingungen so gestaltet, dass sie angemessen und für die entwurf vorlegen können. Betriebe zu schultern sind. Im Übrigen werden auch zu- künftig nur die Unternehmen, die Gewinne erwirtschaf- ( [BÜNDNIS 90/DIE ten, zur Bedienung der Altschulden herangezogen. Herr GRÜNEN]: Ja, das finde ich auch!) Jahr, die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der Betriebe In diesem Gesetzentwurf hätten dann möglicherweise wird also ausdrücklich berücksichtigt. Aus diesem die Dinge gestanden, die ihr wollt und die wir dann nicht Grund ist auch an der Verfassungsmäßigkeit des Geset- über den Verordnungsweg hätten regeln müssen. zes nicht zu zweifeln. Es lohnt sich nicht, über diese Sache zu streiten. Alle, Den Kritikern, die das Gesetz als Subvention für rote die die Materie nicht kennen, werden sie auch am Ende Barone brandmarken, sei gesagt: Aufgrund der von der Debatte nicht verstanden haben. All diejenigen, die CDU und FDP geschaffenen Rechtslage ist seit Jahren sich mit dem Thema auskennen, merken sowieso, ob wir klar, dass die LPG-Rechtsnachfolger ihre Altschulden uns damit wirklich ernsthaft auseinander setzen oder ob nie komplett zurückzahlen werden. Es ist Rot-Grün nicht wir uns nur herumstreiten. Das will ich nicht tun. möglich, das Rad zurückzudrehen. Die Rückzahlungsbe- dingungen lassen sich heute nicht beliebig, sondern nur Ich habe mit tief betroffenen Wiedereinrichtern ge- im Rahmen der Verhältnismäßigkeit verschärfen. Durch sprochen, die mir schwerste Vorwürfe gemacht haben, unseren Gesetzentwurf schaffen wir keine zusätzliche wie mit diesem Problem umgegangen wurde. Ich habe in Subventionswirkung. Im Gegenteil: Er führt zu zusätzli- Gaststätten gesessen, die den LPG-Nachfolgern gehör- chen Einnahmen für den Erblastentilgungsfonds in drei- ten. Ich bin auf Straßen gefahren und war in Kindergär- stelliger Millionenhöhe. ten zu Besuch, die noch einen Teil der Altschulden aus- machten und die Bedrängnis verstärkten. Es geht darum, CDU und FDP haben die Rückzahlung der DDR-Kre- in diesem speziellen Fall ein vernünftiges Maß an Zu- dite mit ihrer damaligen Regelung auf den Sankt-Nim- kunftschancen und Gerechtigkeit herzustellen. merleins-Tag verschoben. Ohne das aktuelle Landwirt- (B) schafts-Altschuldengesetz würde es weiterhin den Lieber Herr Thalheim, ich glaube, dass der Gesetzent- (D) Vorwurf der Wettbewerbsverzerrung zulasten von Neu- wurf der Bundesregierung, der von Rot-Grün getragen und Wiedereinrichtern geben. Der rot-grüne Gesetzent- wird, den Anforderungen, die wir an ihn stellen, nicht wurf führt dazu, dass LPG-Nachfolgebetriebe und neu gerecht wird. Ich meine, er ist steuersystematisch äußerst gegründete Betreibe nunmehr zumindest bezüglich der fragwürdig. Ich bin der Meinung, dass Sie das selbst er- Schulden gleichgestellt sind. Damit kann ein Kapitel kannt haben, weil Sie das zunächst anvisierte Einnahme- leidvoller Vereinigungsgeschichte endlich geschlossen ziel von 600 Millionen Euro auf 370 Millionen Euro re- werden. duziert haben. Sie werden mit dem individuellen Prüfverfahren, das Sie durchführen lassen wollen, einen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN bürokratischen Moloch aufbauen, der ebenfalls dazu bei- und bei der SPD) tragen wird, dass dieser Betrag nicht erzielt wird.

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Die individuelle Prüfung erscheint zunächst sehr vernünftig. Es leuchtet allerdings bei genauerer Betrach- Das Wort hat jetzt der Kollege Hans-Michael tung nicht ein, dass jemand, der in den letzten Jahren gut Goldmann von der FDP-Fraktion. gewirtschaftet hat, heute dafür bestraft werden soll, und derjenige, der sich sehr wenig Mühe gegeben hat, dafür Hans-Michael Goldmann (FDP): honoriert wird. Das ist doch wirklich nicht logisch. Las- Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und sen Sie uns auch – Herr Dr. Jahr hat es schon angespro- Kollegen! Ich denke, das Klima der Gesprächsführung chen – über Möglichkeiten reden, den Zahlungsver- – es ist ja keine Auseinandersetzung – macht deutlich, pflichtungen zu entgehen. Untergesellschaften sind nun dass wir alle froh sind, dass wir hier zu einer Lösung einmal ein sehr geeignetes Mittel, um Zahlungsver- kommen werden, die der besonderen Situation des länd- pflichtungen auszuweichen. Der Nachweis eines Gut- lichen Raums und der Landwirtschaft im Osten Rech- achtens – das ist zwar ein bisschen umstritten, aber die nung trägt. Subventionswirkungen sind erheblich – wird im Gesetz- entwurf der Bundesregierung nicht aufgegriffen. Als ich 1998 in den Bundestag kam, war mir – das muss ich zu meiner Schande gestehen – die Altschulden- Wir haben uns für einen anderen Weg entschieden, problematik nicht sehr bekannt. Bei Besuchen vor Ort, den ich in drei Punkten kurz skizzieren will und den ich bei Gesprächen mit vielen Betroffenen und bei einer für den besseren halte. Das Problem in unserem Gesetz- fraktionsinternen Anhörung haben wir uns sehr intensiv entwurf – das ist völlig richtig – ist die Festlegung der um die Materie bemüht. Ich sage es ganz einfach: Ich bin Ablösung der Altschulden auf 33 Prozent. Aber schauen Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. April 2004 9523

Hans-Michael Goldmann (A) wir uns die Forderungen der anderen an: Die Wiederein- Das Landwirtschafts-Altschuldengesetz wurde nach (C) richter verlangen einen Ablösebetrag von mindestens der Wiedervereinigung verabschiedet und die Umstruk- 50 Prozent und die LPG-Nachfolgebetriebe meinen, turierung der Landwirtschaftsbetriebe ist mehr oder we- 15 Prozent seien die oberste Grenze. Die Mitte dieser niger gelungen. Die Betriebe haben sich stabilisiert. beiden Zahlen liegt bei etwa 33. Ich sage Ihnen ganz ehr- Durch diese Maßnahmen wurde vermieden, dass sanie- lich: Ich wäre sogar bereit gewesen, über 25 Prozent rungsfähige Unternehmen in Konkurs gehen. Insofern ist nachzudenken. die Situation deutlich besser als vor zwölf oder 14 Jahren. Unser System hat einen Riesenvorteil. Es sichert in- nerhalb von 15 Jahren die Einnahmen. Das muss man Jedoch wird das politische Ziel, dass bis 2010 alle be- besonders in einer Zeit berücksichtigen, in der wir den troffenen Landwirtschaftsbetriebe ihre Altschulden zu- Menschen in den neuen Ländern verstärkt helfen wollen. rückzahlen, auf der Basis der gegenwärtigen Rangrück- Unser Vorschlag sichert dem Bund die Einnahmen und trittsvereinbarungen nicht erreicht. Sie bieten den beendet im Grunde genommen die Auseinandersetzung Betrieben wenig Anreize, Schulden zu bedienen. Eine über diese Problematik. Änderung des geltenden Landwirtschafts-Altschulden- Wer nicht in der Lage ist, den von uns vorgeschlage- gesetzes ist aus haushaltspolitischer Sicht unumgäng- nen Ablösebetrag – von mir aus können es auch 25 Pro- lich; denn aufgrund der aufgelaufenen und der weiter zent sein – aufzubringen, der wird sich allerdings auf auflaufenden Zinsen steigen die Forderungen an. Letzt- dem zukünftigen Agrarmarkt nicht behaupten können. lich ist der Bund über den Erblastentilgungsfonds der Insofern ist der pauschalisierte Satz eine sehr unbüro- Gläubiger der Altschulden. In ihm werden die wesentli- kratische Maßnahme, die meiner Meinung nach ein chen Elemente der finanziellen Erblasten der ehemaligen hohes Maß an Gerechtigkeit beinhaltet. Sie würde auch DDR zusammengefasst, verzinst und auch getilgt. dazu beitragen, insgesamt zu einer Befriedung zu kom- Ziel des vorliegenden Gesetzentwurfes ist die be- men, die diesem Problem gerecht wird. schleunigte Ablösung der Altschulden durch die Be- Wir werden dem Gesetzentwurf der Bundesregierung, triebe entsprechend ihrer wirtschaftlichen Leistungs- der von Rot-Grün getragen wird, nicht zustimmen. Wir fähigkeit. Deshalb wird die Bemessungsgrundlage sind aber hoffentlich alle froh darüber, dass wir dieses verbreitert und der Abführungssatz erhöht. Zugleich Thema befriedigend abgearbeitet haben. wird den landwirtschaftlichen Unternehmen die Mög- lichkeit eröffnet, ihre Altschulden freiwillig in einem Herzlichen Dank. einheitlichen Ablöseverfahren gegen Zahlung eines un- (Beifall bei der FDP) ternehmensindividuell bestimmten Ablösebetrages vor- (B) zeitig zurückzuzahlen. Für Unternehmen, die auf abseh- (D) bare Zeit keine oder nur sehr geringe Gewinne Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: erwirtschaften, wird ein Mindestablösebetrag eingeführt. Das Wort hat jetzt der Kollege Ernst Bahr von der Dieser entspricht dem Barwert der aufgrund der Auflö- SPD-Fraktion. sung der Rangrücktrittsvereinbarung ersparten Aufwen- dungen an Bankgebühren und an Wirtschaftsprüferkos- Ernst Bahr (Neuruppin) (SPD): ten. Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Jahr, Sie Unternehmen, die die Altschulden nicht ablösen, wer- haben Ihre Rede gut angefangen, indem Sie wie Herr den auch künftig nur im Falle der Gewinnerzielung die Thalheim, Frau Behm und auch Herr Goldmann zu- Zahlung leisten müssen, dann allerdings erhöhte Zahlun- nächst sachlich dargestellt haben, worum es geht. Das ist gen. erfreulich. Aber die Art und Weise, wie Sie dann ver- (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Passt mal sucht haben, zu begründen, dass unser Gesetzentwurf an auf, was die für einen Gewinn haben!) der Sache vorbeigeht oder zumindest nichts taugt, hat wenigstens mir persönlich den Eindruck vermittelt, dass Altschuldenbedingte Insolvenzen wird es also in die- wir mit dem, was wir hier vorlegen, sehr gut liegen. Des- sem Zusammenhang auch in Zukunft nicht geben. Der wegen werden wir es so beschließen. derzeit aufgelaufene Gesamtschuldenbetrag liegt bei 2,5 Milliarden Euro. Mit der alten Regelung hätten wir (Beifall bei der SPD) einen Barwert von 320 Millionen Euro zu erwarten. Mit Das Landwirtschafts-Altschuldengesetz, Herr Jahr, der neuen Regelung, die wir jetzt vorlegen, werden es zeigt, dass man schon 1990 mit Fantasie so manche Pro- 560 Millionen Euro sein. bleme in vielen Wirtschaftsbereichen wie der Industrie, Abschließend bleibt festzuhalten, dass der FDP-Ent- des Handwerks und des Mittelstandes erfolgreich hätte wurf eine relativ ungerechte Lösung darstellen würde, lösen können. Wir legen auch dank der Mitarbeit des da- wenn er auch unbürokratischer ist, was ich sehr wohl in maligen Mitgliedes des Bundestages, Dr. Thalheim, eine Rechnung stellen will. Er würde aber einige Unterneh- Lösung vor, die sich noch heute sehen lassen kann und men bevorteilen. Wir wollen aber Subventionen abbauen zum Erfolg führt. und nicht neue schaffen. Andere Betriebe würden viel- In den übrigen Wirtschaftsbereichen hätte man sicher leicht unter dieser Last zusammenbrechen. Deswegen mit Fantasie auch einiges machen können, anstatt alles halten wir es für sinnvoll, diese Regelung abzulehnen. platt zu machen, was wir heute bedauern. Eine sinngemäße Anpassung des Rangrücktritts wäre im 9524 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. April 2004

Ernst Bahr (Neuruppin) (A) Übrigen auch juristisch problematisch. Insofern ist Ihr wesen sei. Sie war so großzügig, dass sie die Betriebe in (C) Antrag auch aus dieser Sicht nicht sehr gut geeignet. die Schuldenfalle geführt hat und ihnen keine Luft mehr zum Atmen ließ. In Anbetracht der allgemeinen haushaltspolitischen Lage wäre es außerdem unverantwortlich, auf die Rück- (Dr. Peter Jahr [CDU/CSU]: Was?) zahlungen staatlich gewährter Kredite durch leistungsfä- hige Unternehmen zu verzichten. Das ist einfach nicht Der Druck wurde von Jahr zu Jahr größer. Wie hoch die machbar. Verschuldung angestiegen ist, wurde bereits anhand von Zahlen dargelegt. Letztlich ist keine akzeptable Lösung (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Nach unse- für den Bund und die betroffenen Betriebe in Aussicht rem Modell kriegt ihr mehr!) gestellt worden. – Nein. Wir sprechen über fiktive Zahlen; das wissen wir Wir alle wissen, dass die alte Regelung nicht unbe- auch. dingt dazu motivierte, die Schuldenlast zu tilgen. Bisher müssen 20 Prozent der Gewinne zur Schuldentilgung Es ist gelungen, eine Lösung der Altenschuldenpro- eingesetzt werden. Dabei gibt es einige Gestaltungsmög- blematik aufzuzeigen, bei der jeder Betrieb eine Chance lichkeiten und keine zeitliche Begrenzung. Wir wissen erhält, seine Altschulden entsprechend den ökonomi- aber auch, dass die Verbindlichkeiten zu einem nicht un- schen Möglichkeiten zu bedienen. erheblichen Teil aus Investitionen entstanden sind, die (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Es gibt bereits im Rahmen der Treuhandentschuldung 1991 zu überhaupt kein Gesetz!) 100 Prozent als entschuldungsfähig anerkannt wurden. Aufgrund der damaligen Finanzsituation wurden aber – Herr Goldmann, ich sage noch einmal: Wir sind von nur 78 Prozent entschuldet. Die restlichen Schulden sind fiktiven Zahlen ausgegangen. Wir haben versucht, das so an den heute zur Debatte stehenden Betrieben hängenge- seriös wie möglich zu berechnen. Das ist eine solide blieben. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf eröffnen Grundlage für das, was wir geschaffen haben. wir endlich die Möglichkeit, durch die freiwillige Zah- Wir gehen davon aus, dass derjenige, der Gewinne lung macht, auch Schulden bedienen muss. Das ist ein ganz (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Freiwillig?) realer Grundsatz. Es wird niemand überfordert. In dem Sinne ist das, was wir hier machen, eine zumutbare Lö- eines einmaligen Ablösebetrages die Vergangenheit ab- sung. Mit der Lösung des Altschuldenproblems wird zuschließen und Planungssicherheit für zukünftige In- auch der Konflikt zwischen den Agrargenossenschaften vestitionen zu bekommen. und den Wieder- und Neueinrichtern ein für alle Mal be- (B) endet. Insofern ist das eine gute Lösung. Ich kann und will nicht verhehlen, dass der ursprüng- (D) lich vorgelegte Gesetzentwurf aus meiner praxisnahen Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. und ostdeutschen Sicht förmlich nach Änderung ver- langte. Warum? – Erstens gab für mich das Urteil des (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Bundesverfassungsgerichts von 1996 die Richtung vor. DIE GRÜNEN) Danach sollte die Ablösung der Altschulden bei ord- nungsgemäßer Wirtschaftsführung möglich sein, ohne, Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: um es salopp auszudrücken, in den Ruin zu führen. Hier- Das Wort hat jetzt die Kollegin Waltraud Wolff von bei geht es auch um Arbeitsplatzsicherung. der SPD-Fraktion. Zweitens. Die Absenkung des Abführungsprozent- satzes von ursprünglich 65 Prozent auf 55 Prozent bietet Waltraud Wolff (Wolmirstedt) (SPD): wesentlich mehr Betrieben die Chance zur Ablösung. Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Unser Ziel ist es, den größten Teil der Betriebe zu moti- Kollegen! An 18 Minuten Redezeit der CDU/CSU-Frak- vieren, unser Angebot anzunehmen. tion kann ich nicht vorbei. Herr Jahr, Sie haben den Geist der Wendezeit beschworen. Das hat fast an Nostal- Aus diesem Grund wird drittens bei der Barwertbe- gie gegrenzt. Das hätten Sie als Vertreter Ihrer Fraktion rechnung nicht, wie vorgesehen, der Referenzzinssatz gerade nicht sagen dürfen. Denn Sie sind daran schuld, zum Ende der Antragsfrist angesetzt, sondern der Durch- dass die Schulden so immens angewachsen sind. Sie schnitt seit Bestehen dieses Zinssatzes, also seit 1997. sind daran schuld, dass es bis 1998 keine vernünftige Auf diese Weise entstehen reelle Berechnungsgrundla- Regelung im Sinne des Bundes und der Betriebe gege- gen. ben hat. Viertens. Wir haben eine Mindestablöseregelung (Beifall bei der SPD – Dr. Peter Jahr [CDU/ eingefügt. Auch und gerade Betriebe mit geringen Er- CSU]: Sie haben mindestens genauso lange tragsaussichten sollen die Chance der Entschuldung be- gebraucht!) kommen. Sie können damit Bankgebühren und andere Aufwendungen sparen und den Gegenwert als Mindest- 14 Jahre nach der Wiedervereinigung muss ich kon- ablöse abführen. statieren, dass es der damaligen CDU/CSU-Regierung nicht gelang oder auch nicht gelingen wollte, dieses Pro- Dem, der von der Ablöseregelung keinen Gebrauch blem vom Tisch zu bekommen. Sie haben in Ihrer Rede machen will, bleibt die Variante der jährlichen Bedie- gesagt, Herr Jahr, dass die alte Regelung großzügig ge- nung der Schulden aus dem Gewinn. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. April 2004 9525

Waltraud Wolff (Wolmirstedt) (A) Heute wird auch über unseren Entschließungsantrag Dritte Beratung (C) abgestimmt, der den Auftrag zur Umsetzung unterstützt. und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem An dieser Stelle möchte ich mich beim BMF und Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – beim BMVEL für die konstruktive Zusammenarbeit be- Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf danken. ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von CDU/CSU und FDP angenommen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Unter II seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache Aber wir haben noch einiges vor uns. Deshalb bringe ich 15/3002 (neu) empfiehlt der Haushaltsausschuss, eine an dieser Stelle meinen Wunsch zum Ausdruck, dass die Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Be- Durchführungsverordnung sehr zügig kommt, um für die schlussempfehlung? – Gegenprobe! – Enthaltungen? – Betriebe Sicherheit zu schaffen. Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Ko- alitionsfraktionen gegen die Stimmen der Fraktionen Wie bei allen Themen rund um die deutsche Wieder- von CDU/CSU und FDP angenommen. vereinigung wird auch die Diskussion um die landwirt- schaftlichen Altschulden sehr kontrovers und emotional Unter III seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa- geführt. Ich habe den Wunsch, dass wir künftig sachlich che 15/3002 (neu) empfiehlt der Haushaltsausschuss, bleiben, dass die verschiedenen Interessengruppen auf den Entwurf eines Gesetzes der Fraktion der FDP zur eine erneute Emotionalisierung verzichten und dass wir endgültigen Regelung über Altschulden landwirtschaftli- alle gemeinsam einen Schlussstrich unter die Altschul- cher Unternehmen auf Drucksache 15/2468 abzulehnen. den ziehen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf der FDP zu- stimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt da- Schwarz-Gelb hatte lange genug Zeit, ein gutes Ge- gegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist in setz auf den Weg zu bringen. Sie bringen jetzt Ihre Vor- zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktio- schläge vor, Herr Jahr. Sie hätten sie jedoch schon vor nen bei Zustimmung der FDP-Fraktion und Enthaltung 1998 einbringen sollen. Aber wie bei der EU-Agrar- der CDU/CSU-Fraktion abgelehnt. Die weitere Beratung reform oder bei der Organisationsreform der landwirt- entfällt damit. schaftlichen Sozialversicherung ist die CDU/CSU nicht Ich rufe die Tagesordnungspunkte 8 a und 8 b sowie in der Lage, sich zugunsten der richtigen Sache zu ent- Zusatzpunkt 4 auf: scheiden, wenn es dabei zu Missstimmungen in der eige- nen Wählerklientel kommen könnte. a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Helmut Heiderich, Gerda Hasselfeldt, Peter H. (B) (D) Es ist aber noch nicht zu spät. Setzen Sie doch hier Carstensen (Nordstrand), weiterer Abgeordneter und heute ein Zeichen. Sie selbst haben schließlich ge- und der Fraktion CDU/CSU sagt, unser Gesetzentwurf sei im Grundsatz gut und rich- tig. Lassen Sie uns dieses Kapitel gemeinsam zu Ende Grüne Gentechnik in Deutschland nutzen – schreiben und stimmen Sie unserem Gesetzentwurf zu! Verlässliche Rahmenbedingungen für einen verantwortungsvollen Einsatz in der Land- Danke schön. wirtschaft schaffen (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten – Drucksache 15/2822 – des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft (f) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Rechtsauschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Die Rede der Kollegin Petra Pau nehmen wir mit Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit 1) Ihrem Einverständnis zu Protokoll. Damit schließe ich Ausschuss für Bildung, Forschung und die Aussprache. Technikfolgenabschätzung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun- desregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur b) Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD Änderung der Regelungen über Altschulden landwirt- und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN schaftlicher Unternehmen, Drucksache 15/1662. Der Wahlfreiheit für die Landwirte durch Reinheit Haushaltsausschuss empfiehlt unter I seiner Beschluss- des Saatgutes sicherstellen empfehlung auf Drucksache 15/3002 (neu), den Gesetz- entwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte – Drucksache 15/2972 – diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, Überweisungsvorschlag: um das Handzeichen. – Gegenstimmen? – Enthaltun- Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und gen? – Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit Landwirtschaft (f) Rechtsauschuss den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stim- Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit men der Opposition angenommen. Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Bildung, Forschung und 1) Anlage 3 Technikfolgenabschätzung 9526 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. April 2004

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms (A) ZP 4Beratung des Antrags der Abgeordneten braucher eine echte Wahlfreiheit geben muss. Für die (C) Dr. Christel Happach-Kasan, Hans-Michael Landwirte besteht diese Freiheit darin, frei zu entschei- Goldmann, Ulrike Flach, weiterer Abgeodneter den, wie sie anbauen; für die Verbraucher besteht sie da- und der Fraktion der FDP rin, frei zu entscheiden, was sie kaufen wollen. Chancen der Grünen Gentechnik nutzen – Wer das berücksichtigt, der kann sich auch in dieser Gentechnikgesetz und Gentechnik-Durchfüh- Diskussionsrunde nicht mehr davor drücken, eine klare rungsgesetz grundlegend korrigieren Position zu beziehen, aus der hervorgeht, ob man der – Drucksache 15/2979 – Auffassung ist, dass es zum Beispiel Pflanzen gibt, die in unseren Breiten einfach nicht koexistenzfähig sind, und Überweisungsvorschlag: wie man es mit dem Raps hält. Wir wissen ganz genau, Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft (f) dass die Auskreuzung unter Umständen weite Flächen Rechtsauschuss und große Distanzen betreffen kann, je nachdem, wie Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit stark der Wind ist. Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Bildung, Forschung und Einer der Punkte, über die wir uns unterhalten müssen, Technikfolgenabschätzung wird die Frage sein, ob man noch mit Zwischenflächen Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union arbeiten kann. Außerdem muss man ganz klar sagen, was Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die man unter Wahlfreiheit versteht. Wahlfreiheit beginnt mit Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre einer ehrlichen, richtigen und stimmigen Kennzeich- keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. nung. Eine solche Kennzeichnung beginnt beim Saatgut, und zwar deswegen, weil es „ein bisschen genverändert“ Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin hat eben nicht gibt. Entweder etwas ist – technisch nachweis- das Wort die Kollegin Dr. Herta Däubler-Gmelin von der bar – genverändert oder nicht. Man kann hier nicht „rum- SPD-Fraktion. muscheln“, sondern muss sich klar äußern. Schließlich wissen wir ganz genau, dass Saatgut als Grundlage für Dr. Herta Däubler-Gmelin (SPD): Lebensmittelpflanzen und auch für Futtermittelpflanzen Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! die Möglichkeit einer Genveränderung vielfach verstär- Heute diskutieren wir erneut über die Frage, wie wir mit ken kann, wenn man nicht sehr präzise ist. der Grünen Gentechnik umgehen sollen. Darüber haben All das wissen wir heute. Deswegen hatte ich eigent- wir schon mehrfach geredet. Wir werden in den kom- lich erwartet, dass im Antrag der Union, den wir heute menden Wochen im Zusammenhang mit der Debatte beraten, genau wie in unserem Antrag festgestellt wird: über den Gesetzentwurf der Bundesregierung alle grund- Jawohl, gerade beim Saatgut – diese Frage muss jetzt (B) sätzlichen Fragen besprechen. Wir wissen, dass die Posi- (D) entschieden werden – muss die Kennzeichnung so sein, tionen durchaus kontrovers sind. Das zeigt sich auch an dass das, was im Saatgut technisch nachweisbar ist, auch den uns heute vorliegenden Anträgen. Jeweils einen ha- nachgewiesen wird. Leider finde ich in Ihrem Antrag ben die CDU/CSU – Drucksache 15/2822 –, SPD und dazu nichts. Dass Sie nicht deutlich werden, dass Sie Bündnis 90/Die Grünen sowie die FDP vorgelegt. sich wieder verweigern, finde ich sehr bedauerlich. Mit Die Opposition betont sehr gerne die Möglichkeiten, Ihrem Antrag hätten Sie eine Gelegenheit gehabt, sich die sich mit dieser innovativen Technik verbinden. Auch sehr klar zu äußern. wir tun dies, verweisen aber gleichzeitig darauf, dass der Nachweis der Schadensfreiheit und des positiven (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Nutzens für die Menschen sowie für die Natur und ins- DIE GRÜNEN) besondere für die Artenvielfalt in vielen Punkten noch Wir tun das. aussteht. Wir sind der Meinung, dass man darauf gerade bei Lebensmitteln, die tagtäglich von einer großen Zahl Ich will Sie zum Abschluss einfach auffordern, sich von Menschen verzehrt werden, in keiner Weise verzich- zur Grenze des technischen Nachweises der Reinheit des ten darf, und zwar auch deshalb nicht, weil sonst das Saatgutes ganz konkret – ich benutze jetzt einen Ihrer Vertrauen der Verbraucher, die die Lebensmittel kaufen Ausdrücke – zu bekennen. Ich glaube, das wäre ein guter sollen, in die Produkte unserer Landwirtschaft nicht ge- Beitrag, auf der einen Seite Vorurteile abzubauen und sichert werden kann. auf der anderen Seite zu helfen, Konflikte zu lösen. Viel- leicht ändern Sie Ihre Einstellung. Wenn ja, dann stim- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ men Sie unserem Antrag zu! Ich würde mich darüber DIE GRÜNEN) freuen. Wenn ich mir die beiden Anträge der Oppositionsfrak- Herzlichen Dank. tionen anschaue, dann stelle ich fest, dass der Antrag der Union relativ allgemein gehalten ist. Das Gesetz, über (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ das wir in den kommenden Wochen beraten, wird sehr DIE GRÜNEN) viel konkreter sein. Es heißt im Antrag der Union – auch wir und die Europäische Union vertreten diese Auffas- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: sung –, dass die Koexistenz mehrerer Anbauformen – es Das Wort hat jetzt der Kollege Helmut Heiderich von geht dabei um den Anbau mit und ohne Gentechnik – ein der CDU/CSU-Fraktion. tragender Grundsatz ist. Außerdem ist die Rede davon, dass es sowohl für die Landwirte als auch für die Ver- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. April 2004 9527

(A) Helmut Heiderich (CDU/CSU): wenn wir uns endlich auf öffentlich gewonnene und (C) Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit durch wissenschaftliche Begleituntersuchungen abgesi- unserer heutigen Initiative wollen wir Sicherheit bei der cherte Fakten aus dem eigenen Land beziehen könnten! Nutzung der Gentechnik in Deutschland schaffen: Si- Da sind Sie in der Pflicht! cherheit für die Bürger, Sicherheit für die Landwirte, Si- cherheit für die Forschung und Sicherheit für die Unter- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) nehmen der Pflanzenzucht. Es ist wirklich bezeichnend für Ihre Politik, dass sich Dieses Bemühen unsererseits, verehrte Frau Vorred- jetzt die Bundesländer von sich aus dieser Aufgabe an- nerin, ist nicht neu. Bereits 2001 haben wir in diesem nehmen und dabei auch noch von Ihnen beschimpft wer- Haus eine Kennzeichnung von genetisch veränderten den. Frau Höfken hat das kürzlich einen Anschlag auf Bestandteilen in Lebensmitteln gefordert. Wir haben da- die Verbraucher genannt. Die Bundesländer erfüllen die bei einen Grenzwert von 1 Prozent vorgeschlagen. Das Pflicht, die Sie fahrlässig versäumen, und gehen jetzt heutige Ergebnis von 0,9 Prozent ist von unserem dama- nach vorn, um den großflächigen Erprobungsanbau in ligen Vorschlag nicht sehr weit entfernt. Dass wir, die Deutschland möglich zu machen. Erst daraus können wir CDU/CSU, als Erste für diese Transparenz und für die die praktischen Erkenntnisse gewinnen, die eben schon Wahlfreiheit des Verbrauchers eingetreten sind, und gefordert worden sind. zwar hier, in diesem Hause, wird in den Diskussionen Pflanzenspezifische Abstandsregeln wie in anderen über dieses Thema immer wieder gern verschwiegen. EU-Ländern auch werden meines Erachtens im Ergebnis Ich möchte Sie bitten, das in Zukunft endlich einmal zur dazu führen, dass alle Landwirte – ich sage ausdrück- Kenntnis zu nehmen und auch öffentlich zu erklären. lich: alle Landwirte, auch die Ökolandwirte – sicher un- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) ter der Grenze von 0,9 Prozent bleiben können. Ich bitte Sie, endlich zur Kenntnis zu nehmen, dass es eine politi- Ebenso wird gern verschwiegen, dass es bei der sche europäische Entscheidung ist, die besagt: Bei einem Kennzeichnung um eine Zusatzinformation für den Anteil von unter 0,9 Prozent ist das gentechnikfrei. Das Verbraucher und nicht um einen Warnhinweis zu einem ist die entscheidende Grenze. Sie ist politisch so gesetzt neuen Produkt oder Ähnliches geht. Genlebensmittel worden. Die müssen wir in unserem Land auch anerken- sind nicht gefährlich. Ich zitiere den EU-Kommissar nen. Byrne, der vorgestern dem „Tagesspiegel“ gesagt hat: (Beifall bei der CDU/CSU und der Gentechnisch veränderte Lebensmittel sind ge- FDP – Matthias Weisheit [SPD]: Beim nauso sicher wie herkömmlich produzierte. Es be- Endprodukt! – Waltraud Wolff [Wolmirstedt] steht keine Gefahr für die öffentliche Gesundheit. [SPD]: Nicht beim Saatgut!) (B) (D) Es wäre gut, wenn das auch von Ihrer Seite einmal öf- – Ich rede nicht von Saatgut. Beim Saatgut – das wissen fentlich vertreten würde und nicht immer das Gegenteil Sie – haben wir eine andere Gefechtslage. Da gibt es ei- behauptet würde. nen anderen Vorschlag. Die EU-Kommission wird dem- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- nächst eine entsprechende Wertung auf den Tisch legen. neten der FDP) Auch die Behauptung, die jetzt immer wieder verbrei- Kennzeichnung – ich sage das noch einmal deutlich – tet wird, nämlich Gentechnik sei nicht wieder rückhol- heißt also Sicherheit und nicht Risiko. Sicherheit für die bar, wenn man einmal damit begonnen habe, ist – das Landwirte schaffen wir durch mehrstufige umfassende will ich noch einmal sagen – in keiner Weise wissen- wissenschaftliche Prüfung der gezüchteten Pflanzen. schaftlich begründet. Es gibt eine aktuelle Studie der Wissenschaftliche und praktische Erfahrungen sind die Universität Bern vom 13. April – sie ist also zwei Wo- Grundlage für die Wahlfreiheit jedes Landwirts. Deshalb chen alt – mit einem Umfang von etwa 200 Seiten, die muss die Diskriminierung derjenigen Landwirte aufhö- wiederum zeigt, dass die Merkmale transgener Pflanzen ren, die sich freiwillig für die Möglichkeiten der Bio- nach einigen Jahren aus der Population verschwinden, technik entscheiden oder entscheiden werden. wenn die entsprechenden Pflanzen nicht mehr angebaut werden, weil sie gegenüber den bisherigen Pflanzen (Beifall bei der CDU/CSU) nicht superior sind, das heißt, ihnen mit der Zeit unterlie- Es ist doch gerade Rot-Grün, Frau Dr. Däubler- gen. Gentechnik ist also nicht eine Büchse der Pandora, Gmelin, das mit aller Macht einen großflächigen Erpro- wie immer wieder öffentlich gesagt wird; sie ist viel- bungsanbau in Deutschland verhindert und damit die mehr eine sichere und beherrschbare Technologie. Möglichkeit ausschließt, die notwendigen eigenen Er- Die Anwendung im eigenen Land brauchen wir – das kenntnisse für die Sicherheit der Landwirte in unserem wird auch immer übersehen – für die Zukunftssicherung Land zu gewinnen. unserer Forschung. Bisher waren wir in Deutschland (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Jörg weltweit mit an der Spitze. Doch während in anderen Tauss [SPD]: Meine Bauern sehen das aber an- Ländern massiv in die Forschung investiert wird, insbe- ders!) sondere in China – Frau Däubler-Gmelin führt gerade ein Gespräch mit einer Abordnung –, werden im eige- – Herr Tauss, man muss Lautstärke und Inhalt ein biss- nen Land die Chancen der Forschung ständig ver- chen auseinander halten. – Wie viele Diskussionen über schlechtert. Verhältnisse in England oder in Kanada oder wo auch immer könnten wir uns ersparen, auch in diesem Hause, (Beifall bei der CDU/CSU) 9528 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. April 2004

Helmut Heiderich (A) Damit verlieren auch unsere Pflanzenzüchter im welt- fristen für den Anbau gentechnisch veränderter Organis- (C) weiten Wettbewerb an Boden. Wer wie diese Regierung men, sodass sich der Nachbar nicht mehr darauf einstel- den eigenen Unternehmen das Leben schwer macht, ar- len kann. beitet den internationalen Multis, wie Sie sie immer so schön bezeichnen, direkt in die Hände. Sie bieten ihnen Das markiert, wie Sie sehr wohl wissen, einen den Markt geradezu auf dem Silbertablett an, wenn Sie Dammbruch und den Beginn unkontrollierter Aus- die eigenen Pflanzenzüchter benachteiligen und ihnen kreuzungen. Das provoziert eben genau die Konfronta- die Chance nehmen, sich am internationalen Wettbewerb tion, die Sie angeblich nicht wollen. Solch ein Vorgehen zu beteiligen. bezeichne ich tatsächlich als fahrlässig. Da werden die Leute sauer. Wir als Grüne unterstützen eine gesell- Dazu passt, dass Sie vor drei Tagen, also am Montag schaftliche demokratische Diskussion, die mit legalen dieser Woche, in Brüssel der Importgenehmigung für Mitteln geführt wird. So verhalten wir uns auch als Par- Bt-Mais-Produkte aus Übersee nicht widersprochen ha- tei im Hinblick auf unsere Wähler. Diese sollen sich ben. Gleichzeitig verhindern Sie aber im eigenen Land, nämlich frei und jeder für sich entscheiden können, ob dass ein Erprobungsanbau mit diesen Produkten stattfin- sie genfoodfrei leben wollen. det. In diesem Punkt ist Ihre Argumentation doppelzün- gig. So etwas machen wir nicht mit. Dazu gehört aber auch, dass wir uns mit Pioneer in Iowa unterhalten und deren Argumente wahrnehmen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Pioneer hat zum Beispiel gesagt: Wenn der Markt es ver- Hans-Michael Goldmann [FDP]) langt, dann wird auch von uns gentechnikfreies Saatgut Letzter Satz: Wir stehen für Wettbewerbsfähigkeit angeboten. Das ist eine bemerkenswerte Aussage, wie und sichere, praktikable Rahmenbedingungen; Rot-Grün ich finde. steht für Verunsicherung der Bevölkerung und für Ver- (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Das ist et- nachlässigung des Standortes Deutschland. was anderes als reines Saatgut! – Zuruf von Schönen Dank. der CDU/CSU: Das gibt es doch seit Jahrzehn- ten!) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP) Wir wissen natürlich, dass es dazu nötig ist, dass sich Pioneer darum bemüht, dass auch die Gesetze in den Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: USA geändert werden. Uns beunruhigt jedenfalls, dass Das Wort hat jetzt die Kollegin Ulrike Höfken vom sich die unionsregierten Länder von den Lobbyisten der Bündnis 90/Die Grünen. Gentechnikindustrie instrumentalisieren lassen. (B) (D) Die FDP geht im Übrigen mit den Forderungen in ih- Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): rem Antrag noch über die im CDU/CSU-Antrag hinaus. Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegin- nen und Kollegen! Schön wäre es, wenn das wahr wäre, (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Völlig dane- was der Kollege Heiderich da eben gesagt hat. Den Ver- ben die Rede!) braucherschutz ernst nehmen heißt auch, die Bedenken Sie fordert nämlich, dass ein freiwilliges Kataster ein- unabhängiger Organisationen ernst nehmen. Es geht geführt wird. Bezüglich dieses Punktes dürfen wir Sie dann nicht an, sie in Stammtischmanier als irre zu be- auf die Rechtslage hinweisen; denn die Freisetzungs- schimpfen und uns Grüne der Straftaten zu bezichtigen, richtlinie steht dem eindeutig entgegen. Das Gentechnik- die wir mitnichten begangen haben, so wie das der Kol- gesetz ist die wesentliche Grundlage für Wahlfreiheit. lege Merz gemacht hat. Das ist meiner Meinung nach Deswegen werden wir dafür kämpfen. nicht dadurch zu entschuldigen, dass man ihn selbst in den Kreisen der CDU/CSU als Quartalsirren bezeichnet. Die zweite wichtige Grundlage ist der Schutz der Hier ist schon eine richtige Entschuldigung fällig. Wahlfreiheit in Bezug auf die gentechnikfreie Produk- tion, das heißt beim Saatgut. Ich unterstütze ausdrück- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN lich das, was meine Kollegin Däubler-Gmelin eben ge- und bei der SPD) sagt hat: Wir setzen uns massiv dafür ein – und hoffen Wahl- und Entscheidungsfreiheit ist ein hohes Gut. auch auf Ihre Unterstützung –, dass sich die Nachweis- Sie setzt echte Wahlfreiheit und ein hohes Schutzniveau grenze auf den Schwellenwert bezieht, damit die Wahl- für Mensch und Umwelt, wie es die CDU/CSU in ihrem freiheit nicht Makulatur wird. Antrag schreibt, voraus. Angesichts dessen, was weiter- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN hin im CDU/CSU-Antrag steht, kann man diese Aussage und bei der SPD) nur als irreführend bezeichnen. Die CDU/CSU fordert hier nämlich wie auch im Bundesrat die Aufgabe der gu- Wir können hier natürlich – das sage ich gerade vor ten fachlichen Praxis und des Schutzes ökologischer Ge- dem Hintergrund des letzten Satzes des Kollegen biete. Sie will die Haftungsregelungen aufweichen, Heiderich – auf die Analysen von US-Wissenschaftlern (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist Quatsch!) verweisen, die festgestellt haben, dass konventionelles Saatgut nach rund acht Jahren großflächigem Anbau ein untransparentes Standortregister schaffen, das den – das heißt nach kurzer Zeit – in hohem Maße gentech- Namen dann nicht mehr verdient, und kurze Anzeige- nisch verunreinigt ist; bei Mais und Soja sind es über Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. April 2004 9529

Ulrike Höfken (A) 50 Prozent, bei Raps sogar 80 Prozent. Das möchten wir (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (C) nicht haben und ich hoffe, auch Sie nicht. Im Übrigen darf ich darauf hinweisen, dass Ministerin (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Künast mir gestern zu der Bewertung der Rattenversu- und bei der SPD) che gesagt hat, sie sei der Meinung, daran könne schon Aber ich will auch kurz etwas zu den Umwelt- und etwas sein, aber es gebe Minister in der Bundesregie- Gesundheitsrisiken sagen, die auf unserer USA-Reise rung, die anderer Meinung seien, weswegen sich die ein großes Thema waren. Bundesregierung enthalten habe. Nach fünf Jahren Mo- ratorium hat sie noch immer keine einheitliche Meinung. (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Die wir aber Das finde ich ein Armutszeugnis. auf unserer Reise nicht gefunden haben!) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Nicht bekannt bedeutet auf keinen Fall nicht gefährlich, dann schon eher: nicht untersucht. Es gibt weltweit nur Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Sozialde- zehn wissenschaftlich anerkannte Studien. Kollege mokraten, Sie sollten einmal zur Kenntnis nehmen: Geg- Heiderich, wir sind übrigens für wissenschaftliche For- ner Grüner Gentechnik sind in aller Regel satte Men- schung. schen. Wer sich um seine Zukunft und die seiner Kinder (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist gut!) sorgt, Aber ich darf auch darauf hinweisen, dass von diesen ( [SPD]: Unverschämtheit!) zehn Untersuchungen fünf – nämlich die von unabhängi- gen Instituten – nachteilige Effekte und die anderen fünf wer Angst um den eigenen Arbeitsplatz und seine Al- – die von der Industrie – keine nachteiligen Effekte fest- tersversorgung hat, der kümmert sich um vieles, aber gestellt haben. Das dürfte doch Anlass geben, das Vor- nicht darum, ob eine der Zutaten im Müsliriegel von sorgeprinzip hochzuhalten. gentechnisch veränderten Organismen stammt oder nicht. Er ist nämlich froh, wenn er sich die Müsliriegel (Albert Deß [CDU/CSU]: Es muss geprüft für seine Kinder überhaupt leisten kann. Bei 4,6 Millio- werden, ob gentechnisch hergestelltes Insulin nen Arbeitslosen und einem äußerst geringen Wirt- gefährlich ist oder nicht!) schaftswachstum interessiert die Menschen die Sicher- Das gilt übrigens auch im Hinblick auf die gesund- heit ihres Arbeitsplatzes und nicht, ob die Margarine heitlichen Effekte. Sie wissen, dass die französische Bestandteile von gentechnisch veränderten Organismen Kommission für biomolekulare Forschung, CBG, soeben enthält. Die Grünen haben uns hier eine Luxusdiskus- im Rahmen des Zulassungsverfahrens der EU-Kommis- sion aufgezwungen, die den Menschen im Lande nicht (B) sion für einen Bt-Mais gesundheitliche Schäden bei Rat- hilft. (D) ten festgestellt hat. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (Helmut Heiderich [CDU/CSU]: Eben nicht! Die Studie wurde als falsch zurückgewiesen!) Ministerin Künast hat erst gestern im Ausschuss wie- derholt, dass der Verzehr von Produkten von gentech- Auch das ist ernst zu nehmen. Es gibt eine Reihe von nisch veränderten Organismen keine Gefährdung der weiteren Untersuchungen, die umstrittener sind. Ich er- Gesundheit erwarten lässt. Die FDP stimmt ihr zu. innere nur an den Fall Pusztai. Wenn noch keiner tot um- gefallen ist, dann liegt das daran, dass man noch keine (Beifall bei Abgeordneten der FDP – Albert ausreichenden Erkenntnisse hat. Deß [CDU/CSU]: Das sollte die Ministerin Künast öffentlich sagen!) Ich fordere Sie auf und bitte Sie, sich mit uns für den Schutz der gentechnikfreien Produktion einzusetzen Die Gesundheit der Menschen ist ein sehr hohes Gut. durch ein Gentechnikgesetz, das die Forderungen der Der Verbraucherschutz dient der Gesundheit der Men- Wahlfreiheit und der Freiheit des Saatgutes von Gen- schen. Wenn eine Züchtungsmethode hilft, Kulturpflan- technikkontamination erfüllt. zen zu züchten, die der Gesundheit der Menschen nüt- Vielen Dank. zen, dann ist dies ein guter Grund, die Anwendung dieser Züchtungsmethode zu unterstützen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Grüne Gentechnik kann der Gesundheit der Men- schen nützen. Nehmen wir das Beispiel Weizen. Weizen, Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: der nicht mit Pilzgiften belastet ist, bietet Vorteile für seine Verwendung als Nahrungs- oder Futtermittel. Das Das Wort hat jetzt die Kollegin Dr. Christel Happach- ist unmittelbar einleuchtend. Dennoch ist ein Freiset- Kasan von der FDP-Fraktion. zungsversuch in Sachsen-Anhalt, der der Erprobung von pilzresistentem Weizen dienen sollte, gerade von Green- Dr. Christel Happach-Kasan (FDP): peace massiv behindert worden. Die Organisation nennt Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! sich „Grüner Frieden“ und handelt gänzlich unfriedlich, Kollegin Höfken, Freiheit ist ein Menschenrecht; darauf wenn sie fremde Felder entgegen den Interessen der möchte ich hinweisen. Beim Saatgut sollten wir uns an Eigentümer bestellt. das Sortenrecht halten und sollten diese Begriffe hier nicht durcheinander werfen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) 9530 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. April 2004

Dr. Christel Happach-Kasan (A) Daher ist es gut, dass die Gemeinnützigkeit dieses un- ideologisch zu sein; sie machen aber vor Ort in den Ent- (C) friedlich handelnden Konzerns überprüft wird. wicklungsländern Politik – über die Problematik der Be- kämpfung des Welthungers durch Gentechnik diskutiert. Die FDP setzt sich in ihrem Antrag dafür ein, dass die Meine Gesprächspartner sehen diese Problematik in Chancen der Grünen Gentechnik in Deutschland genutzt einem ganz anderen Licht, als Sie es dargestellt haben. werden. Dafür brauchen wir Regeln für die Koexistenz. Das muss ich deutlich sagen. Sie müssen sich an der Verbreitungsbiologie der Pflanzen orientieren. Ich darf noch hinzufügen: Im Wesentlichen (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ sind die Kenntnisse vorhanden. Wo Wissenslücken be- DIE GRÜNEN) stehen, ist es Aufgabe der Institute der Ressortforschung, Ich will mich aber mit diesem Punkt nicht weiter befas- diese Lücken zu schließen. Derzeit behindert Ministerin sen, weil wir dieses Thema jedes Mal behandeln. Künast die BBA dabei, ihre Forschungsaufgaben zu er- füllen. Es ist schon einmalig, dass eine Ministerin mehr Kenntnisse einfordert und gleichzeitig verhindert, dass Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: die Institutionen in ihrem Verantwortungsbereich ent- Herr Röspel, erlauben Sie eine Zwischenfrage der sprechende Forschungen durchführen. Kollegin Happach-Kasan? Die im Regierungsentwurf enthaltene gesamtschuld- René Röspel (SPD): nerische Haftung lehnt die FDP ebenfalls ab. Schäden müssen ausgeglichen werden und gleichzeitig muss gel- Ja, natürlich. ten: Wer sich korrekt verhalten hat, kann nicht zur Haf- tung herangezogen werden. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Bitte schön. Da von den zugelassenen Sorten gesundheitliche Schäden und eine Beeinträchtigung von Natur und Um- welt nicht zu befürchten sind, ist nach Auffassung der Dr. Christel Happach-Kasan (FDP): FDP sehr viel mehr Gelassenheit angebracht. Deswegen Herr Kollege Röspel, ich gehe davon aus, dass Sie lehnen wir die Forderung der Koalition ab, beim Saatgut wie auch wir Gespräche mit dem Entwicklungsdienst der Schwellenwerte festzulegen, die sich an den Nachweis- evangelischen Kirche geführt haben. Sie haben sich si- grenzen orientieren. Das ist weder erforderlich noch cherlich auch intensiv mit diesem Problem befasst. Ist praktikabel. Ihnen dabei nicht aufgefallen, dass die zahlreichen Pro- bleme, die in den Entwicklungsländern existieren und Die polarisierte Diskussion hat die Risikowahrneh- die uns die Vertreter und Vertreterinnen dieser Länder (B) mung der Menschen in Deutschland verzerrt und die vorgestellt haben, nichts mit der Anwendung einer be- (D) Menschen verunsichert, obwohl keine Gefahren beste- stimmten Züchtungsmethode zu tun haben? Diese Pro- hen. Die Grüne Gentechnik wird in fünf Jahren bei uns bleme haben vielmehr damit zu tun, dass in diesen Län- eine Selbstverständlichkeit sein. dern Regierungen an der Macht sind, die die Interessen (Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE der Menschen nicht gut vertreten, und dass es dort Kon- GRÜNEN]: Wird sie nicht!) zerne gibt, die die Schwächen dieser Regierungen aus- nutzen. Die Züchtungsmethode ist aber letztlich völlig Ihre Startschwierigkeiten sind durch schlechte Kommu- unmaßgeblich für die Not, die in diesen Ländern nikation zwischen Wirtschaft, Politik und Wissenschaft herrscht. verursacht worden. In Deutschland wurde aus dem De- saster um die Genehmigung der ersten Insulinproduk- René Röspel (SPD): tionsanlage in Hessen offensichtlich nichts gelernt. Ich Liebe Frau Kollegin Happach-Kasan, auch ich habe bedauere dies ausdrücklich. Gespräche geführt. Ich weiß nicht, über welches Thema Ich danke für die Aufmerksamkeit. Sie diskutiert haben. In meinen Gesprächen ging es aus- drücklich um den Einsatz gentechnisch veränderten (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Saatgutes und gentechnisch veränderter Pflanzen. Es handelt sich beispielsweise um Bt-Baumwolle in Indien, Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: wo die Einbrüche bei den Ernten dramatisch sind. Wir Das Wort hat jetzt der Kollege René Röspel von der als satte Westeuropäer können uns diese Einbrüche SPD-Fraktion. durchaus erlauben. Für einen indischen Bauern ist es eine Katastrophe, wenn ein neues, gentechnisch verän- René Röspel (SPD): dertes Produkt schlechter ist. Genau über diese Probleme haben wir gesprochen. Sie haben möglicherweise nicht Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und über die Probleme diskutiert, die mit der Gentechnik zu Herren! Liebe Frau Happach-Kasan, ich gebe zu, dass tun haben, sonst hätten Sie hoffentlich ein anderes Bild. ich mich bei Ihrer Rede aufgeregt habe. Trotzdem will ich mich nicht allzu ausführlich dazu äußern. (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Zuruf von der CDU/CSU: Putzen Sie einmal Ihre Ich habe vor einigen Wochen in Gesprächen mit Reis- Brille!) bauern aus Thailand und auch mit Vertretern von Mise- reor und „Brot für die Welt“ – es handelt sich um Orga- Wir wollen heute über drei Anträge, die sich mit dem nisationen, die sicherlich nicht verdächtig sind, Einsatz der Grünen Gentechnologie beschäftigen, disku- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. April 2004 9531

René Röspel (A) tieren. Der Antrag der SPD und der Grünen ist über- besonderen Charakteristika gentechnisch veränderter (C) schrieben mit: „Wahlfreiheit für die Landwirte durch Pflanzen nicht berücksichtigt. Reinheit des Saatgutes sicherstellen“. Die CDU/CSU hat ihrem Antrag den Titel gegeben: „Grüne Gentechnik in (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Wo haben Deutschland nutzen – Verlässliche Rahmenbedingungen Sie denn das gesehen?) für einen verantwortungsvollen Einsatz in der Landwirt- Alles in allem: Die Erfahrungen im Umgang mit gen- schaft schaffen“. Die FDP überschreibt ihren Antrag technisch veränderten Pflanzen sind noch sehr gering. mit: „Chancen der Grünen Gentechnik nutzen – Gen- Deswegen finde ich es eher problematisch, dass die An- technikgesetz und Gentechnik-Durchführungsgesetz baufläche zunimmt. grundlegend korrigieren“. Allein die Überschriften ma- chen den Unterschied in der Intention der Anträge deut- (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Nennen Sie lich, was nicht sehr häufig der Fall ist. Die rot-grüne doch mal ein Beispiel, wo Sie das gesehen ha- Koalition will die Interessen von Landwirten und Ver- ben, was Sie gerade behauptet haben!) brauchern wahren und schützen; das steht auch in der – Sie können gerne eine intelligente Zwischenfrage stel- Überschrift unseres Antrages. Die Opposition stellt die len. Aber das Herumplärren nutzt mir nun wirklich Einführung der Grünen Gentechnik in den Vordergrund; nichts. das hat Herr Heiderich vorhin betont. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir tauschen ja re- (Helmut Heiderich [CDU/CSU]: Die Rahmen- gelmäßig wissenschaftliche Untersuchungen im Aus- bedingungen!) schuss aus. Die einen benennen die Probleme; die ande- Wie aber ist die Situation in Deutschland und in Eu- ren verneinen sie. Die von Ihnen genannte Studie, Herr ropa? In Deutschland gibt es bisher wie in den meisten Heiderich, ist übrigens nur über einen sehr kurzen Zeit- EU-Ländern keinen Anbau gentechnisch veränderter raum durchgeführt worden. Pflanzen zu kommerziellen Zwecken. Seit 1998 – das (Helmut Heiderich [CDU/CSU]: Zehn Jahre!) wissen die meisten von Ihnen – gibt es – auch wegen der unterschiedlichen wissenschaftlichen Einschätzung ei- Den Glauben, innerhalb von fünf Jahren die Auswirkun- nes solchen Anbaus – ein EU-Moratorium, solche Pflan- gen von Veränderungen nachvollziehen zu können, die zen nicht anzubauen. Dies wird sich verändern. Auf EU- in der Evolution mehrere Jahrhunderte bis Jahrtausende Ebene ist die Freisetzungsrichtlinie verabschiedet wor- gebraucht haben, halte ich für irreal. Ich könnte Ihnen den. Wir haben sie umzusetzen. Die EU-Kommission die Studie der Universität Kiel entgegenhalten, in der wird die ersten gentechnisch veränderten Pflanzen für klar dargelegt wird, dass es, baut man zunächst gentech- (B) den Anbau zulassen. Es werden mehr werden. nisch veränderten Raps und danach bei normaler Frucht- (D) folge nicht gentechnisch veränderten Raps an, acht Jahre Um es klarzustellen: Ich persönlich halte das In-Ver- lang eine gentechnische Verunreinigung zur Folge hat, kehr-Bringen gentechnisch veränderter Pflanzen nach die höher als 0,9 Prozent ist. wie vor für falsch. Mich stimmen diese Untersuchungen nachdenklich. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Meine Zweifel sind nicht ausgeräumt. Ich würde meine BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Arbeit als Abgeordneter schlecht machen, wenn ich Die FDP schreibt in ihrem Antrag – ich darf zitieren –: nicht darüber nachdenken würde, welche Auswirkungen damit für die Zukunft dieser Gesellschaft und der Um- Die Potenziale der Grünen Gentechnik sind vielfäl- welt wirklich einhergehen. Ich bin immer sehr erstaunt tig und sie werden weltweit seit zehn Jahren auf in- darüber, wie eindeutig Sie von der CDU/CSU und der zwischen mehr als 60 Mio. Hektar FDP davon ausgehen, dass es überhaupt keine Probleme – das ist das Mehrfache der Fläche der Bundesrepublik – bei einer Freisetzung geben wird. genutzt. (Helmut Heiderich [CDU/CSU]: Das erzählt doch niemand!) Das ist richtig. Aber ist das auch wirklich ein Argu- ment? Man muss nämlich, wenn man ehrlich ist, ergän- Ich würde das nie sagen. Ich glaube, dass die Rückhol- zen: Die Begleitforschung, die die Auswirkungen eines barkeit, anders als Sie es gesagt haben, in der Tat ein solches Anbaus betrachtet, Problem ist. (Helmut Heiderich [CDU/CSU]: Die hebeln Aber, wie eingangs gesagt, die Grundentscheidung ist Sie doch gerade aus!) gefallen. Wir haben keine andere Wahl; wir werden auf EU-Ebene und damit auch in Deutschland die Zulassung findet weltweit auf weniger als 1 Prozent der Fläche gentechnisch veränderter Pflanzen bekommen. Die rot- statt; in Europa übrigens auf 15 Prozent der Fläche, weil grüne Koalition wird deshalb das Gentechnikrecht no- wir genauer hinschauen. vellieren. Unser Ziel ist dabei: Landwirte und Verbrau- (Helmut Heiderich [CDU/CSU]: Sie verbieten cher sollen sich entscheiden können, ob sie gentechnisch doch die Begleitforschung!) veränderte Lebensmittel herstellen oder kaufen. Wir wollen sicherstellen, dass ein Nebeneinander, eine so ge- Die Begleitforschung findet erst seit fünf oder sechs Jah- nannte Koexistenz, zwischen denen, die die Gentechik ren statt – und meist sogar in einem Umfang, der die einsetzen wollen, und denen, die darauf verzichten 9532 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. April 2004

René Röspel (A) wollen, möglich ist. Darüber werden wir in der nächsten fuse Ängste vor Grüner Gentechnik. Das Ganze führt zu (C) Woche reden. absurden Vorstellungen. So äußern in Umfragen 50 Pro- zent der Befragten, dass sie keine Tomaten mit Genen Der heutige Antrag setzt an einem zentralen Punkt an: essen würden. Der liebe Gott oder die Natur haben es an der Reinheit des Saatgutes. Wenn sich ein Landwirt aber nun einmal so eingerichtet, dass alles, was lebt, not- entscheidet, weiterhin konventionell oder biologisch, wendigerweise Gene hat. Dazu gehören auch Salat, also gentechnikfrei, zu produzieren, steht für ihn eines Obst, Gemüse und Fleisch. im Vordergrund: Seine Produkte, sein Mais, sein Wei- zen, dürfen nicht mehr als 0,9 Prozent gentechnisch er- (Zuruf von der CDU/CSU: Und Menschen!) zeugter Bestandteile enthalten. Wenn seine Produkte die- Meine Damen und Herren, ganz anders ist es bei sen Wert überschreiten, muss er sie als gentechnisch Roter Gentechnik. Sie findet demgegenüber nämlich verändert kennzeichnen. Dann ist es natürlich nur ein- breite Akzeptanz. Zur Anwendung des humanen Insulins leuchtend und sinnvoll, bereits beim Saatgut dafür zu bei Tausenden von Diabetikern jeden Tag gibt es auf- sorgen, dass die Verunreinigungen so niedrig wie mög- grund der hervorragenden Verträglichkeit und Wirksam- lich sind. keit überhaupt keine Alternative. Keiner käme auf die (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Das sind Idee, stattdessen wieder, wie früher, natürlich gewonne- doch keine Verunreinigungen!) nes Insulin aus Schweinebauchspeicheldrüsen zu ver- wenden. Das würde nämlich zu schweren Nebenwirkun- Das ist doch einigermaßen logisch. gen führen. Die EU-Kommission wollte unterschiedliche Schwel- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) lenwerte beim Saatgut einführen. Bei Soja sollte das Saatgut zum Beispiel zu 0,7 Prozent verunreinigt sein Es ist vor diesem Hintergrund wichtig und richtig, die dürfen Ängste und Befürchtungen der Menschen ernst zu neh- men und zum Beispiel im Rahmen der neuen Kennzeich- (Hans-Michael Goldmann [FDP]: „Verunrei- nungsverordnung die Wahlfreiheit insbesondere in Be- nigt sein dürfen“! Ha!) zug auf Lebensmittel zu ermöglichen. bzw. 0,7 Prozent gentechnisch verändertes Saatgut ent- Es ist aber auch wichtig, die Menschen objektiv über halten dürfen. Von 0,7 Prozent im Saatgut ist es nicht die Chancen zu informieren, besonders vor dem Hinter- weit bis zu 0,9 Prozent im Endprodukt. Für denjenigen, grund des vom Bundeskanzler mit großer Medienwirk- der gentechnikfrei anbauen will, ist es eine Katastrophe, samkeit ausgerufenen Jahres der Innovationen und Tech- wenn er wegen solcher Verunreinigungen sein Produkt nologie, das auch dem daniederliegenden Forschungs- (B) als gentechnisch verändert bezeichnen muss. und Wirtschaftsstandort Deutschland neue Impulse ge- (D) Wir wissen, dass ein niedriger Schwellenwert mehr ben sollte. Dabei ist es auch wichtig, darüber zu informie- Aufwand bedeutet. Das aber ist uns der Verbraucher- ren, dass bereits heute gentechnisch veränderte Pflan- schutz wert. Unser Ziel bleibt, dass diejenigen, die gen- zen einer strengen, mehrjährigen Sicherheitsüberprüfung technikfrei produzieren wollen, das weiterhin tun kön- unter Beteiligung mehrerer deutscher und europäischer nen. Behörden und Institute und Einbeziehung sowohl wis- senschaftlichen als auch politischen Sachverstands unter- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ liegen, bevor sie im Freien angebaut, geschweige denn DIE GRÜNEN) zur Produktion von Lebensmitteln eingesetzt werden dür- Wir wollen echte Wahlfreiheit für Landwirte und Ver- fen. braucher. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ich schließe mit meinem Appell an die Opposition: Die bereits genannte Kennzeichnungspflicht sichert da- Helfen Sie dabei mit, Landwirte und Verbraucher zu rüber hinaus die Entscheidungsfreiheit des Verbrauchers. schützen! Unterstützen Sie unseren Antrag! Meine Damen und Herren, weltweit wird die Gen- Vielen Dank. technik bereits seit Jahren erfolgreich genutzt, ohne dass (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ es gravierende negative Auswirkungen auf Verbraucher DIE GRÜNEN) oder Umwelt gäbe. Im Jahre 2003 wurden auf 68 Millionen Hektar weltweit gentechnisch veränderte Organismen angebaut. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt (Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- hat die Kollegin Dr. Maria Flachsbarth, CDU/CSU- NEN]: Das ist ein kleiner Teil der Weltproduk- Fraktion, das Wort. tion, nicht einmal eine Nische! – Zuruf von der SPD: Zählen Sie doch einmal die Länder auf!) (Beifall bei der CDU/CSU) Zum Vergleich: Die Gesamtanbaufläche in Deutschland beträgt 12 Millionen Hektar. Dr. Maria Flachsbarth (CDU/CSU): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auch in Deutschland sind mit gentechnisch veränder- Wie jüngste Meinungsumfragen belegen, gibt es in der ten Organismen hergestellte Lebensmittel bereits heute deutschen Bevölkerung starke Vorbehalte, ja sogar dif- sehr weit verbreitet. Lebensmittel wie Käse und Wein Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. April 2004 9533

Dr. Maria Flachsbarth (A) werden mit Enzymen und Hefen hergestellt, die ihren Wenn es dem Bundeskanzler und den Regierungs- (C) Ursprung in gentechnisch veränderten Organismen ha- fraktionen mit dem Jahr der Innovationen und Technolo- ben. Tierfutter enthält große Anteile an Gensoja. gie tatsächlich ernst ist, dann sollten Sie den Gesetzent- 80 Prozent des Sojas, das in der Tierernährung einge- wurf dringend überarbeiten und das, was die Deutsche setzt wird, wird in Ländern produziert, die gentechnisch Forschungsgemeinschaft in ihrer Stellungnahme zu Ih- veränderte Organismen anbauen. rem Gesetzentwurf zu bedenken gibt, wirklich ernst neh- men: Statt Risiken und Chancen der Gentechnik abzu- Warum aber wollen wir nun Grüne Gentechnik? Wa- wägen, enthalte der Entwurf nahezu ausschließlich rum wollen wir dort auf Chancen hinweisen? Die Grüne Vorschriften im Interesse der Gefahrenabwehr, ohne de- Gentechnik hat zum Beispiel im Bereich der Umwelt ren Notwendigkeit zu belegen. Durch unverhältnismäßig – aus dem ich komme – Vorteile: Ein geringerer Einsatz hohe Auflagen werde die Nutzung der Grünen Gentech- von Pflanzenschutzmitteln ist möglich; das ist ein star- nik in Landwirtschaft und Forschung nahezu ausge- kes Argument zum Beispiel für den kleinbäuerlich struk- schlossen. Ich denke, das spricht für sich. turierten Anbau von Baumwolle in China. Ein Anbau an ungünstigen Standorten ist besser möglich. Ferner kann Vielen Dank. weniger Dünger eingesetzt werden. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Mit Grüner Gentechnik kann man Energie sparen. Ich verweise zum Beispiel auf Amylopektinkartoffeln, die Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: als Stärkelieferant in der Papierproduktion angewandt Ich schließe die Aussprache. werden. Dort werden deutlich weniger energieintensive Verarbeitungen nötig. In Zukunft ist der Einsatz bioge- Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf ner Pflanzen denkbar. den Drucksachen 15/2822, 15/2972 und 15/2979 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge- Meine Damen und Herren, dennoch ist ein umfangrei- schlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der cher Erprobungsanbau erforderlich, um Regeln für Fall, dann sind die Überweisungen so beschlossen. gute landwirtschaftliche Praxis zu erarbeiten und die Ko- existenz zwischen Landwirten, die sich für GVOs ent- Ich rufe Tagesordnungspunkt 9 auf: scheiden, und denen, die dagegen sind, zu ermöglichen. – Zweite und dritte Beratung des von den Abgeord- Dafür brauchen wir ein Gentechnikrecht, das den Anbau neten Dirk Manzewski, Joachim Stünker, ermöglicht und für einen gerechten Interessenausgleich Hermann Bachmaier, weiteren Abgeordneten und sorgt. Die Regeln des Bürgerlichen Gesetzbuches bieten der Fraktion der SPD, den Abgeordneten dafür eine gute Grundlage. Die Regeln jedoch, die Sie in Siegfried Kauder (Bad Dürrheim), Dr. Norbert (B) Ihrem Entwurf des Gentechnikgesetzes vorsehen, wei- Röttgen, Dr. Wolfgang Götzer, weiteren Abge- (D) chen ausdrücklich davon ab. Unser Antrag weist dage- ordneten und der Fraktion der CDU/CSU, den gen in die richtige Richtung. Abgeordneten Jerzy Montag, Volker Beck Auch die im Gentechnikgesetzentwurf vorgesehenen (Köln), Irmingard Schewe-Gerigk, weiteren Ab- Beweiserleichterungen verstoßen gegen die bisherige geordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE deutsche Rechtsauffassung. Die Bundesregierung sieht GRÜNEN sowie den Abgeordneten Jörg van vor, dass dann, wenn der direkte Verursacher eines Scha- Essen, Rainer Funke, Sibylle Laurischk, dens nicht ermittelt werden kann, jeder Nachbar, der Dr. Wolfgang Gerhardt und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines … Strafrechtsän- kreuzungsfähige GVOs anbaut, für den Ausgleichsan- derungsgesetzes – § 201 a StGB (… StrÄndG) spruch haftet. Er soll auch dann haften, wenn alle Regeln der guten landwirtschaftlichen Praxis eingehalten wur- – Drucksache 15/2466 – den. Das ist so, als ob dann, wenn ein Unfallverursacher im Verkehr nicht zu ermitteln ist, derjenige haften (Erste Beratung 91. Sitzung) würde, der am nächsten an der Unfallstelle vorbeigefah- – Zweite und dritte Beratung des von den Abgeord- ren ist. Das kann es nicht sein. neten Siegfried Kauder (Bad Dürrheim), Dr. Norbert Röttgen, Wolfgang Bosbach, weite- (Beifall bei der CDU/CSU und der ren Abgeordneten und der Fraktion der CDU/ FDP – René Röspel [SPD]: Aber wir haben CSU eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes doch Gefährdungshaftungen im Straßenver- zum verbesserten Schutz der Privatsphäre kehr!) – Drucksache 15/533 – Deshalb weist ein Vorschlag des Bundesrates, in dem über die Einrichtung eines Haftungsfonds vergleichbar (Erste Beratung 31. Sitzung) mit dem bewährten Klärschlammfonds nachgedacht – Zweite und dritte Beratung des von den Abgeord- wird, in die richtige Richtung. neten Jörg van Essen, Rainer Funke, Otto Fricke, (Lachen des Abg. Matthias Weisheit weiteren Abgeordneten und der Fraktion der FDP [SPD] – Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/ eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum ver- DIE GRÜNEN]: Das ist genau verkehrt! Ge- besserten Schutz der Intimsphäre nau das falsche Modell! Haben Sie sich damit – Drucksache 15/361 – schon mal beschäftigt? Das ist das allerletzte Modell!) (Erste Beratung 28. Sitzung) 9534 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. April 2004

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms (A) – Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat macht. Via Internet sind diese Fotos dann zum Leidwe- (C) eingebrachten Entwurfs eines … Strafrechtsän- sen der Betroffenen auch noch häufig binnen kürzester derungsgesetzes – Schutz der Intimsphäre Zeit über ein weltweites Netz zu verbreiten. – Drucksache 15/1891 – Liebe Kolleginnen und Kollegen, zwischen unseren (Erste Beratung 88. Sitzung) Fraktionen bestand deshalb frühzeitig Einigkeit darüber, dass wir zu handeln haben. Nur über das Wie gab es an- Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus- fangs noch unterschiedliche Auffassungen. Unproblema- schusses (6. Ausschuss) tisch waren dabei sicherlich die spektakulären Fälle zu behandeln, die wir alle am Anfang der Gesetzgebungs- – Drucksache 15/2995 – initiative im Auge hatten. Berichterstattung: Abgeordnete Dirk Manzewski Je intensiver wir uns jedoch mit dieser Thematik be- Siegfried Kauder (Bad Dürrheim) schäftigten, desto deutlicher wurden auch die hiermit Hans-Christian Ströbele verbundenen Schwierigkeiten. Dabei ging es insbeson- Jörg van Essen dere um die Frage, wann in diesem Zusammenhang strafwürdiges Verhalten beginnen soll und ob bzw. wie Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Praxis mit diesem neu geschaffenen Instrument um- diese Debatte eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich gehen kann. Zu denken war auch daran, Pressefreiheit höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. und Strafverfolgung durch das neue Gesetz nicht unan- gemessen zu beeinträchtigen. Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat der Kollege Dirk Manzewski von der SPD-Fraktion das Ich denke, all das ist uns mit dem vorliegenden Ge- Wort. setzentwurf sehr gut gelungen. Geschützt werden soll deshalb nur der letzte Rückzugsbereich von Menschen, Dirk Manzewski (SPD): also die Wohnung, die nicht zwangsläufig die eigene zu Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir sein braucht, oder ein gegen Einblicke besonders ge- kommen jetzt zu einem etwas erfreulicheren Thema. Am schützter Raum. Allgemein zugängliche Orte sind damit heutigen Tag debattieren wir nämlich abschließend über bereits aus dem räumlichen Schutzbereich der Strafbar- den interfraktionellen Gesetzentwurf zur Verbesserung keit ausgeklammert. Der Grund hierfür ist relativ klar: des Schutzes der Intimsphäre. Damit beenden wir ein Mit Bildaufnahmen, die in der Öffentlichkeit hergestellt längeres und interessantes Gesetzgebungsverfahren. werden, würde ein zu breites Spektrum an Alltagshand- lungen unter Strafe gestellt werden. (B) Über die hierin angesprochene Problematik wird (D) schon seit längerem diskutiert. Während die Vertraulich- Damit strafwürdiges Verhalten vorliegt, müssen je- keit des nicht öffentlich gesprochenen Wortes einen um- doch noch weitere Kriterien erfüllt sein, nämlich dass fassenden strafrechtlichen Schutz genießt, hat es bislang durch diese unbefugt gefertigten Bildaufnahmen der für die viel stärker in das Persönlichkeitsrecht eingrei- höchstpersönliche Lebensbereich des Abgebildeten fenden Bildaufnahmen nichts Vergleichbares gegeben. betroffen ist. Hierüber haben wir lange Zeit debattiert, Lediglich deren Verbreitung und öffentliche Schaustel- uns letztendlich aber auf diese Regelung geeinigt. lung ohne Einwilligung der Abgebildeten war im Einzel- Dieser Begriff lehnt sich an den bereits im Strafrecht fall bislang rechtlich geschützt. verwendeten Begriff des persönlichen Lebensbereichs Nicht zuletzt der Tätigkeitsbericht des Datenschutz- an. Er ist einerseits etwas einengender als dieser, da beauftragten hat jedoch deutlich gemacht, dass dieser nicht alles, was der Privatsphäre unterliegt, aber ein neu- Zustand nicht länger hingenommen werden kann. Be- trales Verhalten darstellt, eines strafrechtlichen Schutzes schäftigt man sich intensiver mit der Thematik, stellt bedarf. Andererseits reduziert er sich aber auch nicht auf man erschreckt fest, dass sich unser Land offenbar im- die Intimsphäre allein, das heißt auf Sexualität, Tod und mer mehr zu einem Volk von Voyeuren entwickelt. Krankheit. Das bedeutet nicht, dass damit alle ansonsten gemachten Bildaufnahmen keinem strafrechtlichen (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE Schutz mehr unterliegen. Insbesondere hinsichtlich der GRÜNEN]: Was?) Verbreitung von Bildaufnahmen bleibt es bei dem nun- Offensichtlich ist es für viele Menschen interessant, im- mehr zusätzlichen Schutz des § 33 des Kunsturheberge- mer stärker in den höchstpersönlichen Lebensbereich setzes. von anderen einzudringen. Tabuzonen spielen dabei lei- Ich gehe davon aus, dass wir der Rechtsprechung da- der eine immer geringere Rolle. mit ein gutes Instrument an die Hand geben und dass sie Die Technik – liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie keine großen Probleme mit diesem neuen Gesetz haben wissen das – hat ihren Teil dazu beigetragen. Dazu zäh- wird. Ich glaube, je weiter wir den Tatbestand gefasst len insbesondere versteckt installierte Minikameras, mit hätten, desto größer wären die Probleme gewesen. Je denen heimlich in Dusch- und Umkleidekabinen oder in mehr man nämlich mit konstruierten Beispielsfällen Solarien Bilder gefertigt werden, oder neuerdings auch konfrontiert wird, desto deutlicher wird neben dem drin- moderne Handys mit integrierter Kamera. Diese werden genden Bedarf für dieses Gesetz der Umstand, dass wir blitzschnell in die Umkleidekabine gehalten und so wer- tatsächlich all diejenigen Handlungen, die wir unter den im wahrsten Sinne des Wortes scharfe Bilder ge- Strafe stellen wollten, auch unter Strafe gestellt haben, Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. April 2004 9535

Dirk Manzewski (A) und dass diejenigen Fälle, die wir nicht unter Strafe stel- Relativ schnell – das ist ja nicht so häufig – wichen (C) len wollten, nach diesem Gesetzentwurf auch weiterhin auf Berichterstatterseite Emotionen einer sachlichen und straflos bleiben. fachlichen Diskussion. Ich glaube, es war richtig, dass wir uns für den Gesetzentwurf Zeit genommen haben Es gab ein großes Problem, das noch nicht ganz aus- und dass wir auch noch die „Praxisanhörung“ aus Bay- geräumt ist; denn Medienvertreter reagierten zeitweise ern abgewartet und den hiernach entsprechend modifi- sehr zurückhaltend auf diesen Gesetzentwurf. zierten Gesetzentwurf des Bundesrates zum Gegenstand (Jörg van Essen [FDP]: Das ist noch freund- unserer gemeinsamen Anhörung gemacht haben. Die lich ausgedrückt!) Anhörung, die meiner Auffassung nach eine ausgespro- chen gute war, hat nämlich die Schwächen der bis dahin Sie befürchteten, hierdurch – ähnlich wie Voyeure – er- vorliegenden Gesetzentwürfe aufgezeigt und uns letzt- hebliche Probleme bei ihrer Arbeit zu bekommen. Dies endlich den Weg gewiesen, der zu dem gemeinsamen vermag ich jedoch allenfalls in Einzelfällen im Bereich Entwurf der Bundestagsfraktionen führte und der – das der so genannten Yellow Press zu erkennen. möchte ich betonen, liebe Kolleginnen und Kollegen – unser gemeinsames, eigenständiges Werk geworden ist. Das möchte ich gerne anhand eines Beispiels verdeut- lichen. In einer gemeinsamen Stellungnahme der Me- Dafür vielen Dank. dienverbände und -institutionen, die uns allen zugegan- (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE gen ist, wird ein hypothetischer Fall gebildet, der – so GRÜNEN, der CDU/CSU und der FDP) die Kritik – die journalistische Tätigkeit unangemessen beeinträchtigen würde. Da geht es um einen hochrangi- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: gen Politiker – um wen auch sonst –, der von einem Fo- Das Wort hat der Kollege Siegfried Kauder von der tografen dabei erwischt wird, wie er mit einer Frau, die CDU/CSU-Fraktion. nicht die seine ist, in einem Wohnwagen verschwindet. –Toll! Siegfried Kauder (Bad Dürrheim) (CDU/CSU): (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Frei- NEN]: Was denn sonst!) heit der Presse ist nicht grenzenlos. Das ergibt sich aus Art. 5 Abs. 2 des Grundgesetzes. Die Pressefreiheit ist Um es deutlich zu machen: Hierüber darf natürlich zu Recht grundrechtlich geschützt und sie ist ein hohes nach wie vor berichtet werden. Auch gegen die Auf- Gut. Aber auch das allgemeine Persönlichkeitsrecht ist nahme vor dem Wohnwagen dürfte noch nichts einzu- ein hohes Gut und grundgesetzlich geschützt. Dieses (B) wenden sein. In und an dem Wohnwagen hat eine Ka- Recht ist ebenfalls nicht grenzenlos. (D) mera in einer besonderen Situation aber nichts zu suchen. Der Auftrag des Bundesdatenschutzbeauftragten war klar: Im Bereich der Privatsphäre gibt es eine Lücke. (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Das nicht öffentlich gesprochene Wort ist besser ge- NEN]: Na! – Hans-Christian Ströbele [BÜND- schützt als Einblicke in die bzw. Abbildungen aus der NIS 90/DIE GRÜNEN]: Auch für Journalisten Privatsphäre. Der Gesetzgeber hatte den Auftrag umzu- gilt das!) setzen. Die Diskussion war – da schließe ich mich dem Hier gilt für Politiker ebenso wie für die Menschen, die Kollegen Manzewski an – sehr sachlich, fundiert und uns heute zuhören, und auch für Journalisten: Was dort schwieriger, als wir alle anfangs dachten. geschieht, geht niemanden etwas an. Das kann man auch Wir von der CDU/CSU-Bundestagsfraktion waren nicht mit dem Hinweis auf ein etwaiges öffentliches In- der Meinung, dass die Privatsphäre nicht an der Woh- teresse rechtfertigen. Im Übrigen vermag ich hier schon nungstür endet, sondern dass es auch intime Situationen kein öffentliches Interesse zu erkennen. im öffentlichen Leben gibt, beispielsweise dann, wenn ein Mensch nach einem Verkehrsunfall oder nach einem Neben der Pressefreiheit, liebe Kolleginnen und Kol- Attentat mit dem Tod oder um das Leben ringt. legen, haben wir auch an das Persönlichkeitsrecht des Einzelnen zu denken. Dies ist nicht zuletzt durch die Es war schwierig, diese Sachverhalte in einen Geset- Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum so ge- zestatbestand zu fassen, deswegen wurde der Anwen- nannten Lauschangriff sogar gestärkt worden. Was den dungsbereich im Laufe der Diskussion immer enger. Strafverfolgungsbehörden verwehrt bleibt, kann der Letztlich ist die Wohnung und ein „gegen Einblick be- Presse schlechterdings nicht erlaubt sein. sonders geschützter Raum“ übrig geblieben. Wir haben uns mit Rechtsbegriffen schwer getan, wie Sie schon an (Beifall bei Abgeordneten der SPD, des der Formulierung hören. Der Raum ist im allgemeinen BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der CDU/ Sprachgebrauch dreidimensional zu verstehen. In die- CSU und der FDP) sem Gesetzentwurf ist er zweidimensional ausgefallen; das, was das Gesetz üblicherweise das „umfriedete Be- Lassen Sie mich abschließend den Kollegen Kauder, sitztum“ benennt, fällt auch darunter. van Essen, Ströbele und Montag, die sehr engagiert mit mir an diesem Gesetzentwurf gearbeitet haben, danken. Die Presse ist, als die Diskussion über den Schutz der Ich fand es sehr interessant, ich fand es spannend und ich Privatsphäre anlief, Sturm gelaufen: Man sah die Presse- muss sagen: Es hat Spaß gemacht mit Ihnen. freiheit über Gebühr strapaziert und war der Meinung, 9536 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. April 2004

Siegfried Kauder (Bad Dürrheim) (A) man müsse eine so genannte Rechtswidrigkeitsklausel stoßen werden und die in der Justizpraxis zu Anwen- (C) in den Straftatbestand einführen. Wir von der CDU/ dungsproblemen führen werden. Man muss aber auch CSU-Bundestagsfraktion hätten damit keine allzu gro- zur Kenntnis nehmen, dass beispielsweise das Schweizer ßen Probleme gehabt, aber es gehört nun einmal zu einer Recht viel weiter geht als das deutsche Recht; trotzdem Diskussion und zu einem Konsens unter den Fraktionen, ist das dort geltende Recht praktikabel. dass das eine oder andere auf der Strecke bleibt. Man muss den Pressevertretern aber auch klar sagen, dass Wir haben uns in der Diskussion aus gutem Grund sich das Eis für sie in einem Bereich dünner gestaltet als darauf verständigt, auf die Versuchsstrafbarkeit zu ver- bisher: Bisher war es nicht strafbar, in die Privatsphäre zichten, weil wir der Meinung waren, dass die Vorberei- hineinzuspähen. Das Hineinspähen, das Herstellen von tung für das Anfertigen von Fotos im Vorfeld nicht in privaten Fotos durch die Presse war nicht strafbewehrt, den Straftatbestand aufgenommen werden soll. Auch mit sondern nur das Verbreiten und öffentlich Zurschaustel- diesem Punkt ist man der Presse durchaus entgegenge- len. kommen. Sie sehen also: Einen Auftrag von einem Bun- desdatenschutzbeauftragten zu bekommen, ist die eine Das Horten von Fotos, die aus der Intim- und Privat- Seite; ihn in Recht umzuformen, ist eine andere, außer- sphäre und aus einer Wohnung stammen, ist nach dem ordentlich schwierige Angelegenheit. Gesetzentwurf nicht mehr erlaubt. Es bleiben die allge- meinen Rechtfertigungsgründe, die aber den bisherigen Die Lösung ist – ich glaube, das kann ich für alle sa- Bereich nur unzulänglich abdecken. Deswegen hätte ich gen – nicht allzu elegant geworden; sie ist aber praktika- es durchaus als vertretbar angesehen, wenn wir wie in bel. Die Rechtsanwendung wird zeigen, ob noch Nach- unserem Entwurf § 193 StGB, der für Beleidigungsde- besserungsbedarf besteht oder nicht. Ich bin mir sicher, likte gilt, auch für den Bereich des Schutzes der Privat- dass die Presseöffentlichkeit diesen Straftatbestand sehr sphäre übernommen hätten. Es ist uns nicht gelungen, wohl im Auge behalten wird. Man wird aber auch immer aber ich glaube, die Presse kann mit diesem Ergebnis wieder daran erinnern müssen, dass der wesentliche Be- durchaus leben. reich der Medienberichterstattung durch § 33 Kunstur- heberrechtsgesetz ohnehin schon abgedeckt war, sodass Für uns war auch ein anderer Bereich wichtig; denn nur noch eine geringe Strafbarkeitslücke zu schließen Stoßrichtung dieses Gesetzes ist nicht die Pressefreiheit. war. Stoßrichtung ist vielmehr der Schutz der Privatsphäre vor Ausspähen und Hineinfotografieren. In der prakti- Ich sage abschließend: Es gibt nicht nur die Presse- schen Anwendung gibt es immer wieder Fälle, in denen freiheit, sondern auch das allgemeine Persönlichkeits- Beziehungen auseinander gehen und auf der einen oder recht eines jeden Bürgers. Dazu gehört nun einmal auch die Privatsphäre, die es zu schützen gilt. (B) anderen Seite oder auf beiden Seiten intime Fotos zu- (D) rückbleiben, die dann – unverändert oder am Computer Vielen Dank. bearbeitet – an Stammtischen kursieren. Das wollen wir nicht. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wir von der CDU/CSU-Bundestagsfraktion haben uns auch in diesem Zusammenhang einen weiteren Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Schutzbereich gewünscht. Er wurde in der interfraktio- Das Wort hat jetzt der Kollege Hans-Christian nellen Diskussion immer mehr eingeschränkt. Jetzt liegt Ströbele vom Bündnis 90/Die Grünen. eine Gesetzeskonstruktion vor, die in der Rechtspre- chung – ich stimme hierbei nicht ganz mit dem Kollegen Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE Manzewski überein – ganz erhebliche Probleme aufwer- GRÜNEN): fen wird. Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Das in der Beziehung mit Genehmigung gefertigte Foto Ich wollte eigentlich am Anfang meiner Rede sagen, darf nicht wissentlich unbefugt gebraucht werden. Nun wis- dass es gar keinen Grund gibt, sich heute hier im Bun- sen wir Juristen, dass das Element der Wissentlichkeit ein destag zu streiten, weil wir alle diesem Gesetz zustim- Vorsatzelement und die Befugnis ein Rechtfertigungs- men wollen. element ist. Würde in der Rechtsprechung vorgegangen, (Jörg van Essen [FDP]: Das ist auch weiterhin so!) wie der Kollege Ströbele es meint – die Wissentlichkeit macht nach seiner Meinung das Rechtfertigungselement Nun hat der Kollege Kauder aber doch einen Punkt ge- zum Tatbestandselement –, könnte sich mancher Straftä- nannt, den ich klarstellen will: Wir unterscheiden in die- ter auf dem Irrtumsweg aus der Verantwortung heraus- sem Gesetz nicht zwischen Pressevertretern und sonsti- schleichen. gen Menschen, sondern alle werden gleich behandelt. Auch das gibt Anlass zu Überlegungen: Der Straftä- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ter, der Fotos aus einer intimen Beziehung publiziert, ist sowie bei Abgeordneten der SPD) gegenüber dem Pressevertreter privilegiert. Wir nehmen das zur Kenntnis. Das Gesetz gilt also in allen seinen Absätzen für alle, also in gleichem Maße für Pressevertreter und für alle Es handelt sich um einen gemeinsamen Entwurf, den anderen Menschen. Das heißt, Journalisten und Privat- wir mittragen. Trotzdem muss man sagen, dass es personen, die Aufnahmen von anderen Personen ma- Punkte gibt, die in der Öffentlichkeit auf Unverständnis chen, sind gleichgestellt. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. April 2004 9537

Hans-Christian Ströbele (A) Weil wir uns hier im Bundestag eigentlich nicht mehr artige Institut einer relativen Person der Zeitgeschichte (C) untereinander streiten müssen – wir haben diskutiert und handelt, dürft ihr diese Fotografien auch veröffentlichen. sind zu diesem Ergebnis gekommen, das nun von allen Im Gesetz wird nun aber eine Grenze festgelegt: Ihr getragen wird –, will ich nur einige Bemerkungen für die dürft keine Fotografien aus dem höchst persönlichen Öffentlichkeit machen. Es ist nämlich in der Tat so, dass bzw. intimen Bereich der Menschen herstellen. Diese dieses Gesetz – so, wie es jetzt vorgelegt wird – noch bis bergen ja immer die Gefahr in sich, dass man mit ihnen heute in den Medien, von Medienvertretern, von der dpa etwas macht. Ich kann mir eigentlich keinen Journalisten und von anderen, kritisiert wird. Man könnte manchmal, vorstellen, der sich rechtfertigt und sagt, dass Fotos von wenn man die Stellungnahmen liest, den Eindruck ha- Menschen, die in einem geschützten Bereich – zum Bei- ben, dass wir hier einen konzentrierten Angriff auf die spiel in einer Wohnung oder in einem Garten – ganz per- Pressefreiheit machen, möglicherweise sogar, um die sönlichen Bedürfnissen nachgehen und sich entspre- Politiker, die Abgeordneten, den Bundeskanzler zu chend verhalten, rechtmäßig sind und es ihm deshalb schützen. Dem ist nicht so. In diesem Gesetz wird die erlaubt sein muss, entsprechende Fotos herzustellen. Veröffentlichung, also das, was die Journalisten von den Dieser Raum muss für alle Menschen geschützt bleiben. Privatleuten, die Fotos machen, eigentlich unterscheidet, überhaupt nicht erwähnt. Es geht in diesem Gesetz nicht (Beifall im ganzen Hause) um die Veröffentlichung; das bleibt wie bisher auch im Gesetz betreffend das Urheberrecht an Werken der bil- Ich halte es mit dem Bundesverfassungsgericht, das denden Künste und der Fotografie geregelt. das in der schon angesprochenen Entscheidung zum gro- ßen Lauschangriff ganz banal formuliert hat: Es muss ei- Hier geht es lediglich um eine Lücke in dem Bereich, in nen Raum für jeden Menschen – für jeden Mann und für dem der Privatmann, die Privatfrau und natürlich auch die jede Frau – geben, in dem er in Ruhe gelassen wird und Journalisten gerne Aufnahmen machen und – das ist ja kein in dem er sich so verhalten kann, wie es seiner Persön- theoretischer Fall – in der Vergangenheit auch immer wie- lichkeit entspricht, soweit er nicht gegen Strafgesetze der gemacht haben. Wir haben all diese Fälle aus der Praxis verstößt. Dort hat auch die Presse nichts zu suchen. Die- diskutiert. Mit der heutigen Kameratechnik – kleine Fo- sen Raum wollen wir für alle Menschen – auch für die toapparate an einem Stock, in einer Streichholzschachtel Personen der Zeitgeschichte und auch für die Politiker – oder ähnlich verborgen – werden Fotoaufnahmen von schließen. ganz intimen Situationen gemacht, die vielleicht zu- Ich glaube, das ist eine Errungenschaft, weil das Per- nächst einmal nur zu Hause aufbewahrt werden. Es be- sönlichkeitsrecht gemäß dem Grundgesetz für alle Men- steht dann aber immer die Möglichkeit, dass Einzelne schen gilt. Jeder sollte in gleichem Maße geschützt sein diese gebrauchen und weitergeben, ohne dass sie unbe- und geschützt bleiben. Deshalb verabschieden wir dieses (B) (D) dingt veröffentlicht werden. Gesetz heute gemeinsam. Wir haben festgestellt – auch der Datenschutzbeauf- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, tragte hat zu Recht darauf hingewiesen –, dass das ge- bei der SPD und der FDP sowie bei Abgeord- sprochene Wort mehr geschützt ist als das Bild des Men- neten der CDU/CSU) schen oder auch mehrerer Menschen zusammen. Das heißt: Wenn ich heute durch den Tiergarten gehe und je- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: mand neben mir nimmt mein Gespräch mit einer anderen Das Wort hat jetzt der Kollege Jörg van Essen von der Person mittels einer technischen Einrichtung auf, dann FDP-Fraktion. macht er sich selbst dann strafbar, wenn es sich um ein ganz banales Gespräch handelt, bei dem nichts Intimes oder Geheimnisvolles besprochen wird. Allein das kann Jörg van Essen (FDP): schon strafbar sein, wenn ich einen Strafantrag stellen Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich würde. Eine Aufnahme aus dem intimsten Bereich – habe für meine Fraktion schon in der 14. Legislaturperi- wenn sich Menschen also ganz intim nahe kommen, sei ode, vor etwa drei Jahren, erstmals einen Gesetzentwurf es im Tiergarten, zum besseren Schutz der Intimsphäre eingebracht. An- lass für diese Aktivität war für mich nicht nur die Mah- (Heiterkeit bei der CDU/CSU – Dr. Jürgen nung des Datenschutzbeauftragten – das ist hier schon Gehb [CDU/CSU]: Im Tierpark!) angesprochen worden –, sondern die sich damals häu- fenden Berichte darüber, dass kleine Kameras in Sola- zu Hause oder auch, wie Sie das geschildert haben, in ei- rien und Umkleideräumen von Betrieben angebracht nem Bauwagen wird bisher in keiner Weise strafrecht- worden waren und die jeweiligen Arbeitgeber und Be- lich sanktioniert. Dieses Ungleichgewicht kann schon treiber die sich umziehenden Frauen fotografiert oder aufgrund des Grundsatzes der Gleichbehandlung nicht gefilmt haben. bestehen bleiben. Der Gesetzentwurf, den wir heute verabschieden, Deshalb haben wir nun diesen Gesetzentwurf vorge- schützt besonders die Frauen, die häufig Opfer solcher legt. Wir sagen allen Journalisten, die Sorge um ihre Ar- Aktivitäten sind, und zwar nicht nur der beschriebenen beit haben: Ihr dürft auch weiterhin Abgeordnete, Bun- Aktivitäten, sondern auch Opfer der Tätigkeit von Papa- deskanzler, Talkmaster und Tennisstars fotografieren, razzi, die sich nicht scheuen, auf Bäume zu klettern, um sogar in ganz persönlichen Zusammenhängen. Wenn es in den intimsten Bereich von insbesondere bekannten sich um eine Person der Zeitgeschichte oder das eigen- Frauen einzudringen, Fotos zu machen und diese zu 9538 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. April 2004

Jörg van Essen (A) verkaufen, schwerpunktmäßig natürlich an Boulevard- (Beifall im ganzen Hause) (C) blätter, die dafür entsprechend viel Geld zahlen. Das macht deutlich, dass wir in der Diskussion sehr Es ist schon mehrfach angesprochen worden, dass wir sorgfältig vorgegangen sind. Ich habe mit dem Kollegen bisher nur das vertraulich gesprochene Wort schützen, Montag schon einen der Mitdiskutanten angesprochen, aber der Schutz vor heimlich gemachten Fotos noch dem zu danken ist. Der Kollege Manzewski hat das Ver- fehlte. Dass dieser Schutz noch dringender geworden ist, fahren ganz hervorragend moderiert und damit zu dem haben die bisherigen Beiträge gezeigt. Dadurch, dass Fo- guten Ergebnis beigetragen. tohandys immer mehr Verbreitung finden, besteht natür- (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ lich noch mehr die Möglichkeit, solche Fotos anzuferti- CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- gen. Es wird überdies zunehmend leichter, sie dann NEN) elektronisch zu verarbeiten. Deshalb ist es ganz drin- gend, dass wir in diesem Zusammenhang strafrechtliche Auch der Kollege Kauder hat ganz hervorragende Bei- Grenzen aufzeigen. träge geleistet. (Beifall im ganzen Hause) Der Gesetzentwurf ist im Parlament über die Frakti- onsgrenzen hinweg erarbeitet worden. Das haben wir Ich bin wie meine Vorredner der Auffassung, dass wir nicht häufig. Deshalb ist es umso erfreulicher, dass wir nicht in die Pressefreiheit eingreifen. Ich bin sehr über- zu einem gemeinsamen Ergebnis und, wie ich finde, gu- rascht, dass selbst heute noch entsprechende Vorwürfe ten Ergebnis kommen. Ob es elegant ist, Herr Kollege publiziert worden sind. Wir haben den hohen Wert der Kauder, weiß ich nicht, aber es ist gut. Das ist das Wich- Pressefreiheit in unseren Diskussionen immer berück- tigste. sichtigt. Wir haben ausgelotet, ob das Nebeneinander Vielen Dank. des Schutzes des Persönlichkeitsrechtes des Einzelnen vor ungewollten Aufnahmen auf der einen Seite und des (Beifall im ganzen Hause) hohen Gutes der Pressefreiheit auf der anderen Seite richtig miteinander abgewogen ist. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Uns hat insbesondere – auch das haben die Vorredner Das Wort hat jetzt die Kollegin Gisela Hilbrecht von schon angesprochen – die Entscheidung des Bundesver- der SPD-Fraktion. fassungsgerichtes sehr geholfen. Das Bundesverfas- sungsgericht – das findet unsere volle Unterstützung – Gisela Hilbrecht (SPD): hat deutlich gemacht, dass es einen Kernbereich gibt, in Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! (B) (D) dem niemand etwas unbefugt zu suchen hat. Das gilt Lassen Sie mich nun die Schließung der Strafbarkeitslü- auch für die Presse. Deshalb will ich kritisch sagen – das cke bei unbefugten Bildaufnahmen aus einem anderen sehe ich wie der Kollege Manzewski –, dass die Bei- Blickwinkel betrachten. Die hier notwendige Abwägung spielsfälle, die uns von den entsprechenden Organisatio- zwischen Persönlichkeitsinteresse und öffentlichem In- nen der Presse vorgelegt worden sind, nicht überzeugen teresse betrifft, wie meine Vorredner gesagt haben, auch können. Daran konnten wir sehen, dass es keinen einzi- den gesamten Medienbereich. Darüber hinaus ist die po- gen wirklichen Fall gegeben hat, bei dem nicht auch in litische und gesellschaftliche Verständigung über eine Zukunft die berechtigten Interessen der Presse gewahrt solche Balance ein wichtiger Beitrag für unsere Grund- bleiben. Daran wird das Gesetz nichts ändern. wertekultur. Genau aus diesem Grund haben wir in den Beratungen im Ausschuss für Kultur und Medien diesem Von daher findet der Gesetzentwurf die Zustimmung Thema ganz breiten Raum gegeben. der FDP-Bundestagsfraktion. Der Kollege Manzewski hat angesprochen, dass wir von sehr verschiedenen Posi- Im Bereich der Medien zielt dieser Gesetzentwurf tionen ausgegangen sind. Wir als FDP konnten uns einen auch darauf, den bisweilen – das haben meine Vorredner weiter gehenden Schutz vorstellen. Deshalb sieht unser auch gesagt, aber ich werde es wiederholen – unerträgli- Gesetzentwurf einen sehr viel größeren Schutzbereich chen Paparazzijournalismus zu verhindern. Auch das hat vor, als er in dem gemeinsamen Gesetzentwurf zum etwas mit Kultur oder auch mit Unkultur unserer Gesell- Ausdruck kommt. schaft zu tun. Hierin sind wir uns einig. (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE Mich hat damals das Argument des Kollegen Montag GRÜNEN und der FDP) überzeugt – ich danke ihm nachdrücklich für seine Bei- träge –, der betont hat, dass dies ein sehr sensibler Be- Es kann nur im Interesse aller verantwortungsvollen Me- reich ist: Wenn wir den ersten Schritt in diese Richtung dienberichterstatter sein, dass wir etwas dagegen unter- machen, dann sollten wir uns auf den Kernbereich des nehmen. Wir alle wissen, wovon wir sprechen, und wir zu Schützenden beschränken. Wir schauen uns an, ob die alle kennen die Bilder, wie in schamloser Weise in den Regelungen wirken und das erreicht wird, was wir wol- privaten Lebensbereich eingedrungen wird, um Bildauf- len. Beim Strafrecht muss man vorsichtig sein. Erst nahmen zu machen. Ich danke Ihnen, dass Sie darauf wenn sich zeigt, dass danach noch Schutzlücken beste- hingewiesen haben, dass es besonders die Frauen sind, hen, können wir über eine Erweiterung nachdenken. die darunter zu leiden haben. Adressat dieses Gesetzes Aber zunächst einmal fangen wir mit dem Kernbereich ist also nicht die gesamte Medienbranche, sondern sind an. die schwarzen Schafe der Medienzunft. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. April 2004 9539

Gisela Hilbrecht (A) Wir wissen, dass die Journalisten in der Regel die er- Nach der geltenden Rechtslage ist aus unserer Sicht (C) forderliche Gratwanderung zwischen Schutz- und Frei- kein besonderer Rechtfertigungsgrund notwendig; meine heitsrechten mit großer Verantwortung wahrnehmen. Das Kollegen haben im Vorfeld darauf hingewiesen. Ich möchte ich hier betonen. Aber überall haben die Men- freue mich, dass diese Einschätzung auch von den schen auch ein Interesse an Boulevard- und Sensations- Rechtsexperten der Union und der FDP geteilt wird. journalismus. Trotzdem stellen die meisten in der Be- Ich denke, wir können heute mit dem Gesetz eine völkerung bei schockierenden Bildern, die oft genug Strafbarkeitslücke schließen und zugleich einen sehr veröffentlicht werden, immer wieder die Fragen: Ist das wichtigen Beitrag für die Kultur unseres Zusammenle- eigentlich erlaubt? Könnt ihr nicht etwas dagegen tun? bens leisten, für die Ausbalancierung zwischen individu- Es ist gut und richtig, dass wir jetzt ein Gesetz auf den eller Freiheit jedes Einzelnen – also auch der Presse – Weg bringen, das sich gegen das Spannerunwesen – ich und dem berechtigten öffentlichen Interesse. möchte das beim Namen nennen – und gegen diese ver- antwortungs- und geschmacklose Berichterstattung wen- Wir werden dabei selbstverständlich auch die Ein- det. wände der Medienvertreter im Blick behalten und wir werden, wie bei allen Gesetzen, die Auswirkungen sehr Der Presserat, die Journalistenverbände, öffentlich- aufmerksam beobachten. rechtliche und private Sendeanstalten und weitere Medi- enverbände haben sich bei uns zu Wort gemeldet. Sie se- Ich danke Ihnen. hen sich mit der Schaffung des neuen Straftatbestandes in (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE ihrer verfassungsrechtlich geschützten Berufsausübung GRÜNEN und der FDP sowie bei Abgeordne- behindert und sagen, er hindere sie bei der Aufdeckung ten der CDU/CSU) von Missständen. Sie sagen weiter, ihre Arbeit liege im öffentlichen Interesse und deshalb sei in diesem Fall das Eindringen in den höchstpersönlichen Lebensbereich von Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Strafe freizustellen. Die Medienvertreter – meine Vorred- Das Wort hat die Kollegin Daniela Raab von der ner haben auch darauf hingewiesen – fordern die Auf- CDU/CSU-Fraktion. nahme einer Rechtfertigungsklausel ins Gesetz. Danach sollen Bildaufnahmen im höchstpersönlichen Lebensbe- Daniela Raab (CDU/CSU): reich weiterhin straffrei bleiben, wenn sie der Wahrneh- Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle- mung berechtigter öffentlicher Interessen dienen. So war gen! Der umfassende Schutz der Intimsphäre jedes Ein- die Formulierung. zelnen lag und liegt uns allen sehr am Herzen und ich Wir haben auch das im Ausschuss genau unter die bin froh, dass wir doch in den meisten Punkten überein- (B) (D) Lupe genommen. Wir haben in einem eigens angesetzten stimmen und eine gemeinsame Formulierung gefunden Expertengespräch Medienvertreter angehört. Die Medi- haben. Das liegt hauptsächlich daran, dass der Schutz envertreter haben dort ihre Interessen verteidigt und wir der Privatsphäre unbestreitbar ein Thema ist, bei dem haben viele Rücksprachen gehalten. Trotz alledem haben man eigentlich nur einer Meinung sein kann. wir uns dazu entschieden, diese Rechtfertigungsklausel Nach durchaus nicht immer einfachen und auch nicht nicht in das Gesetz aufzunehmen. immer kurzen Verhandlungen mit Ihnen, meine verehr- ten Kolleginnen und Kollegen von Rot-Grün, haben Sie Ich möchte anmerken, dass ich als Abgeordnete aus eingelenkt und uns – das hat uns sehr gefreut – auch ein einem der neuen Länder eine besondere Sensibilität mit- bisschen beigegeben; wie Sie sich vorstellen können, bringe, wenn es um Persönlichkeitsrechte wie auch um würden wir uns das öfter wünschen. Meinungs- und Pressefreiheit geht. Wir wissen, wie es in der DDR darum bestellt war. Wir sind unter anderem für In unserer hoch technisierten und immer globaler die Pressefreiheit, die ein wichtiger Eckpfeiler unserer werdenden Medienwelt gewinnen Bildaufnahmen im- demokratischen Gesellschaft ist, auf die Straße gegan- mer mehr an Bedeutung. Durch Bildaufnahmen kann in- gen. formiert, aber auch manipuliert werden. Die Vertraulich- keit des Wortes in jeglicher Form ist ausreichend Trotz dieses Hintergrunds bin ich nach langem Abwä- geschützt. Was den Schutz des heute schon oft erwähn- gen zu dem Ergebnis gekommen, dass die von den Me- ten so genannten höchstpersönlichen Lebensbereiches dien vorgeschlagene Klausel nicht in das Gesetz gehört. gegen unbefugte Bildaufnahmen angeht, gab es jedoch Die Kollegen von der Union und der FDP im Kulturaus- nach wie vor Lücken. Diese Lücken werden nun beho- schuss haben es anders gesehen. Trotzdem haben wir ben. Das war dringend notwendig. – darüber freue ich mich – dem Gesetzentwurf im Aus- schuss gemeinsam zugestimmt. Wir alle wissen es nur zu gut: Digitalkameras und Fo- tohandys sind an der Tagesordnung. Wie schnell werden Ich denke, mit dem Rechtfertigungsgrund „zur Wahr- damit Aufnahmen gemacht, die oft auf unwürdigste Art nehmung berechtigter öffentlicher Interessen“ würde der und Weise in die Privatsphäre der betroffenen Person neu geschaffene Straftatbestand so stark eingeschränkt, eingreifen! Das ist besonders dann der Fall, wenn diese dass er sozusagen nach Belieben wieder ausgehebelt Aufnahmen in Situationen gemacht werden, in denen werden könnte. Wir hätten dann doch wieder einen wir uns eigentlich unbeobachtet fühlen dürfen. Gummiparagraphen. Die Formulierung „berechtigte öf- fentliche Interessen“ lässt, wie wir alle wissen, sehr viel Allein die Herstellung derartiger Fotos greift tief in Raum für Interpretationen. die Würde des Betroffenen ein. Diese Aufnahmen dann 9540 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. April 2004

Daniela Raab (A) auch noch weiterzugeben – egal in welcher Form – ist (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE (C) ungleich verletzender. GRÜNEN]: Das höre ich gerne! Ich nehme Sie beim Wort!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD) Ich sehe wie der Kollege Kauder im Zusammenhang mit dem neuen § 201 a Abs. 3 StGB ein Beweisproblem in Deshalb waren wir uns auch einig: Nach dem nun ein- der Praxis, das der Richter lösen muss. Wir begeben uns gefügten § 201 a StGB ist es strafbar, eine Person abzu- hier schon in die Irrtumslehre. Herr Ströbele, hier sind lichten, die sich in ihrem ganz privaten Rückzugsbe- wir juristisch einfach anderer Meinung. Ich glaube aber, reich, also dem so genannten höchst persönlichen dass wir das so stehen lassen können. Uns ist der Gesetz- Lebensbereich, aufhält. Dazu zählen klassischerweise entwurf jedenfalls so wichtig, dass wir die Bedenken, die – auch das ist erwähnt worden – die Wohnung, das Ho- wir in diesem Bereich haben, hintangestellt haben. Dazu telzimmer und grundsätzlich alle Räumlichkeiten, die stehen wir nach wie vor. vor unbefugtem Einblick schützen sollen. Hinzu kommt, Erlauben Sie mir – meine Redezeit gibt das gerade dass dies ohne die Zustimmung der Person geschieht und noch her – eine ganz kurze persönliche Anmerkung zum die Bilder an Dritte – zur Veröffentlichung oder Thema Graffiti. Auch hier wünsche ich mir eine solch Ähnliches – weitergegeben werden. Die Aufnahme des pragmatische und zielgerichtete Lösung. Begriffes des „höchst persönlichen Lebensbereichs“ sorgt aber auch dafür – auch das ist schon gesagt wor- In diesem Sinne: vielen Dank. den –, den Straftatbestand nicht unangemessen weit aus- (Beifall bei der CDU/CSU – Hans-Christian zudehnen. Auch das war uns allen wichtig. Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich Zum Thema Pressefreiheit ist von meiner Vorredne- sage nur „Hanf“!) rin schon sehr viel gesagt worden. Ich sehe es durchaus ähnlich. Es gibt keine Existenzgefährdung für Blätter Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: wie „Gala“, „Bunte“ und „die aktuelle“, um nur einige Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Michaela Noll. Zeitschriften zu nennen. Michaela Noll (CDU/CSU): (Jörg van Essen [FDP]: Die nur von Frauen Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! beim Friseur gelesen werden!) Auch ich begrüße wie alle meine Vorredner den gefun- – Richtig. – Es trifft hauptsächlich den Paparazzo, der denen Kompromiss. Der Schutz des Einzelnen vor unbe- fugten Bildaufnahmen wird verbessert; denn wenn schon aus zwei Kilometern Entfernung mit Superzoom aus der (B) Kindern vor Gericht Schmerzensgeld wegen veröffent- (D) Hecke ins Wohnzimmer fotografiert, oder den Spanner lichter Paparazzifotos zugesprochen wird, dann ist die von nebenan, der sich einfach an Badezimmerfotos der unbefugte Bildaufnahme eben kein Kavaliersdelikt Nachbarin ergötzen möchte. Denken Sie aber auch an mehr. Die verschiedenen Gerichtsurteile haben dies bestä- das ganz aktuelle Beispiel der Fotos von der verstorbe- tigt. Wir alle sind uns einig, dass hier eine strafrechtliche nen Prinzessin Diana, die jetzt wohl im Umlauf sind und Verfolgung notwendig ist. Das ist Aufgabe des Staates. die eine sterbende Prinzessin zeigen sollen, und daran, Aber es geht nicht nur um die besonders medienwirksa- für welchen Aufruhr das in der Öffentlichkeit gesorgt men Fälle prominenter Opfer. Ich denke, wir sollten hier hat! Das sollte uns zeigen, dass wir auf dem richtigen auch für diejenigen Opfer Partei ergreifen, die nicht im Weg sind. Rampenlicht stehen bzw. nicht stehen wollen. wie – ein Ich möchte auch noch ein konkretes Beispiel aus dem kleiner Scherz am Rande – beim Abitur. täglichen Leben nennen. Man stelle sich die Konstella- (Beifall bei der CDU/CSU und dem BÜND- tion vor, dass eine Beziehung zu Ende geht. In glückli- NIS 90/DIE GRÜNEN) chen Zeiten sind Bildaufnahmen entstanden, die sich eindeutig auf die Intimsphäre des Beteiligten bzw. der Das war für uns alle nicht länger hinnehmbar. Es war Beteiligten beziehen. Dabei muss es nicht immer um Se- also allerhöchste Zeit, zu handeln. xualität oder Nacktheit gehen. Es kann auch Krankheit Die Bürger wollen zeitnahe Problemlösungen. In diesem und Tod oder der ganz normale Alltag, zum Beispiel im Zusammenhang muss ich doch noch Kritik anbringen. Es Schlafanzug morgens vor dem Spiegel, sein. Nach einer macht keinen Sinn, dass Gesetzentwürfe erst einmal drei Trennung sieht sich nun der Expartner veranlasst, diese Jahre in der Versenkung verschwinden, um dann wieder auf aus Rache – wem auch immer – zur Verwendung zu ge- die Agenda gesetzt zu werden. Nur zur Erinnerung, falls ben oder in das Internet zu stellen und auch noch seine Sie es vergessen haben: Diese Strafbarkeitslücke wollte Exfreundin darauf hinzuweisen. Das, was früher noch die Bundesregierung schon in der letzten Legislaturperi- ein schlechter Spaß war, ist nun strafbar. So soll es auch ode schließen; das haben Sie, Herr Kollege van Essen sein. Auch hierüber sind wir uns einig. eben bereits angesprochen. Wir hätten sie bereits schlie- ßen können, wenn Sie von der Regierungskoalition vor (Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer) drei Jahren mitgemacht hätten. An dem Gesetzentwurf ist eine kleine Sache noch zu Ich möchte meine Kritik nicht fortsetzen; denn ich bin bemängeln. Herr Ströbele, Sie wissen, dass ich Ihnen äu- froh, dass wir es geschafft haben. Es ist uns gemeinsam ßerst ungerne widerspreche. Sehen Sie es mir nach! gelungen, einen Konsens zu finden. Dafür möchte ich Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. April 2004 9541

Michaela Noll (A) mich auch bei meinen Kollegen von den Koalitionsfrak- nahmsweise dem Kollegen Ströbele zustimmen. Die (C) tionen bedanken; denn den kriminalpolitischen Hand- Feststellung, dass die Pressefreiheit ein hohes Gut ist lungsbedarf, den Sie heute bejahen, haben Sie noch im und dass der Staat verpflichtet ist, die Pressefreiheit zu Februar 2003 ganz anders bewertet. Frau Kollegin schützen, wo immer er kann, ist zweifellos richtig; denn Schewe-Gerigk, Sie haben damals gesagt, es gebe be- ohne Pressefreiheit kann eine lebendige Demokratie reits ausreichende rechtliche Möglichkeiten, und haben nicht existieren. Das ist unbestritten. Sie wird durch die- dann auf die Unterlassungsklage, und Schadenersatzan- sen Gesetzentwurf gewahrt, auch wenn die Presse das sprüche sowie das Kunsturhebergesetz verwiesen. zum Teil anders sieht. Ein Jahr später – das bewerte ich sehr positiv – haben Wir haben die Strafbarkeitslücke geschlossen. Alle, wir es trotzdem noch geschafft, eine Einigung zu erzie- die jetzt Fotos aus dem höchst persönlichen Lebensbe- len. reich illegal herstellen, benutzen oder vertreiben, sind (Beifall bei der CDU/CSU) ein Fall für die Staatsanwaltschaft. In unserer Zeit stehen Daten und Fotos speziell durch Danke schön. Internet und Fotohandys innerhalb von Sekunden welt- weit zur Verfügung. Viele von Ihnen kennen die Geräte, (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, dem BÜND- mit denen man solche Bilder machen kann. Sie sind zum NIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP) Teil so groß wie eine Scheckkarte. Was heißt das Ganze für den Bürger? Es bleibt oft im Verborgenen, wer wann Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: wo welche Aufnahmen von Personen gemacht hat. Diese Ich schließe die Aussprache.1) Gefahren hat 1999 auch der Datenschutzbeauftragte ge- sehen. Wir kommen zur Abstimmung über den von den Frak- tionen der SPD, der CDU/CSU, des Bündnisses 90/ Ich glaube, dass einige der Gäste auf der Besuchertri- Die Grünen und der FDP eingebrachten Entwurf eines büne bereits am Brandenburger Tor waren und dort unter Strafrechtsänderungsgesetzes, § 201 a StGB. Der Rechts- Umständen schon Fotos geschossen haben. Vielleicht ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschluss- finden sich auf diesen Bildern andere Touristen wieder. empfehlung auf Drucksache 15/2995, den Gesetzent- Aber damit müssen Touristen rechnen; schließlich haben wurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte sie sich auf einen öffentlichen Platz begeben. Etwas an- diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfas- deres muss allerdings gelten, wenn Bildaufnahmen im sung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer höchstpersönlichen Lebensbereich gemacht werden, stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf Stichwort Hotelzimmer, Stichwort Damentoilette. Ich (B) ist damit in zweiter Beratung einstimmig angenommen (D) denke an Aufnahmen, von denen Sie nichts wissen und worden. von deren Veröffentlichung, womöglich im Internet, Sie keine Kenntnis haben. Es ist für Sie alle wichtig, davor Dritte Beratung ausreichend geschützt zu werden. und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Ge- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie setzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer bei Abgeordneten der SPD) stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf Das haben wir mit diesem Gesetzentwurf erreicht. ist damit auch in dritter Beratung einstimmig angenom- men worden. Der Fokus liegt jetzt nicht mehr auf dem, was hinter- her, wenn es schon zu spät ist, passiert; vielmehr geht es Abstimmung über die Beschlussempfehlung des darum, die Hemmschwelle im Vorfeld zu erhöhen, da- Rechtsausschusses auf Drucksache 15/2995 zu dem von mit solche Bilder gar nicht mehr hergestellt werden. Wir der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Gesetzentwurf wollen erreichen, dass diese Fotos einfach vom Markt zum verbesserten Schutz der Privatsphäre. Der Rechtsaus- verschwinden. Eine Freiheitsstrafe von bis zu zwei Jah- schuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussemp- ren ist eine deutliche Warnung. fehlung, den Gesetzentwurf auf Drucksache 15/533 für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschluss- Sehr geehrter Kollege Manzewski, jetzt will ich Sie empfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die kurz mit ins Boot holen. Sie haben in der letzten Debatte Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen wor- zu diesem Thema im Jahre 2003 gesagt, es gehe darum, den. erhebliche Probleme in der Praxis zu vermeiden. „Wir sind aufgefordert, nur Gesetze zu schaffen, die der Justiz Unter Buchstabe c seiner Beschlussempfehlung emp- helfen und die Justiz nicht belasten.“ Vielleicht hätten fiehlt der Rechtsausschuss, den Gesetzentwurf der Frak- Sie Ihren Kollegen Ströbele einmal zur Seite nehmen tion der FDP auf Drucksache 15/361 zum verbesserten müssen, dass das Wörtchen „wissentlich“ nicht in den Schutz der Intimsphäre ebenfalls für erledigt zu erklären. Gesetzestext kommt; denn in der Rechtsanwendung wird Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegen- das bestimmt Probleme schaffen. Aber auch die werden stimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung wir lösen. ist ebenfalls einstimmig angenommen worden. Ich möchte noch kurz ein Wort zur Pressefreiheit sa- gen. Die Pressefreiheit wurde mit diesem Gesetzentwurf 1) Der Redebeitrag der Abgeordneten Petra Pau (fraktionslos) wird zu nicht infrage gestellt. In diesem Punkt kann ich aus- Protokoll genommen. (Anlage 4) 9542 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. April 2004

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer (A) Schließlich empfiehlt der Rechtsausschuss unter Buch- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf: (C) stabe d seiner Beschlussempfehlung, den vom Bundesrat Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- eingebrachten Entwurf eines Strafrechtsänderungsgeset- richts des Ausschusses für Tourismus (19. Aus- zes – Schutz der Intimsphäre – ebenfalls für erledigt zu er- schuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Ernst klären. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Burgbacher, Gudrun Kopp, Rainer Brüderle, wei- – Gibt es Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Das ist nicht terer Abgeordneter und der Fraktion der FDP der Fall. Die Beschlussempfehlung ist einstimmig ange- nommen worden. Sperrzeiten für Außengastronomie verbrau- cherfreundlicher gestalten Interfraktionell ist vereinbart, die heutige Tagesord- nung um die Beratung zweier Beschlussempfehlungen – Drucksachen 15/674, 15/1287 – des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Ge- Berichterstattung: schäftsordnung zu Anträgen auf Genehmigung zur Abgeordneter Klaus Brähmig Durchführung der Strafverfolgung zu erweitern und jetzt sofort als Zusatzpunkte 7 und 8 aufzurufen. Sind Sie da- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die mit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist so be- Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die schlossen. FDP fünf Minuten erhalten soll. – Widerspruch höre ich nicht. Dann ist so beschlossen. Somit rufe ich die Zusatzpunkte 7 und 8 auf: Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst 7 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- der Abgeordnete Ernst Burgbacher. richts des Ausschusses für Wahlprüfung, Immu- nität und Geschäftsordnung (1. Ausschuss) Ernst Burgbacher (FDP): Immunität von Mitgliedern der Bundesver- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und liebe Kolle- sammlung gen! Ich hoffe, dass wir an den vorigen Debattenpunkt anknüpfen können und diese Problematik hier einmal hier: Antrag auf Genehmigung zur Durchfüh- genauso sachlich und in Ruhe miteinander diskutieren rung der Strafverfolgung können. – Drucksache 15/3007 – Was ist der derzeitige Rechtsstand? Es gibt eine Tech- nische Anleitung Lärm. Sie setzt Lärmgrenzwerte fest Berichterstattung: und sie setzt auch fest, wann die Nachtzeit beginnt. Von Abgeordnete dieser Technischen Anleitung Lärm ist die Außengastro- (B) (D) nomie ausdrücklich ausgenommen. Die Rechtspraxis ist 8 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- allerdings eine ganz andere. In der Rechtspraxis berufen richts des Ausschusses für Wahlprüfung, Immu- sich Gerichte und auch Gemeinden auf diese Technische nität und Geschäftsordnung (1. Ausschuss) Anleitung Lärm. Das hat zur Folge, dass in weiten Teilen Immunität von Mitgliedern der Bundesver- der Republik Außengastronomie – Biergärten, Straßen- sammlung cafés, Weinterrassen – um 22 Uhr schließen müssen. Das ist der Ausgangspunkt. hier: Antrag auf Genehmigung zur Durchfüh- Da wir das ändern wollen, fordern wir die Bundesre- rung der Strafverfolgung gierung in unserem Antrag auf, in zwei Punkten tätig zu – Drucksache 15/3008 – werden. Wir wollen erstens, dass während der Sommer- zeit der Beginn der Nachtzeit in diesem immissions- Berichterstattung: schutzrechtlichen Sinne auf 23 Uhr oder 24 Uhr – wir Abgeordneter wären mit einer Festlegung auf 23 Uhr schon zufrieden – festgelegt wird. Wir wollen zweitens, dass für menschli- Wir kommen sofort zur Abstimmung. chen Lärm andere Grenzwerte festgesetzt werden als Der Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Ge- etwa für Maschinenlärm, dass also das Lachen, Reden, schäftsordnung empfiehlt in seiner Beschlussempfeh- Singen anders behandelt wird als Maschinenlärm, das lung auf Drucksache 15/3007, die Genehmigung zur Hämmern, Bohren oder Sägen. Durchführung der Strafverfolgung zu erteilen. Wer (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Klaus stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gibt es Ge- Brähmig [CDU/CSU]: Das ist der Weg!) genstimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfeh- lung ist einstimmig angenommen worden. Wir wollen ausdrücklich nicht, dass der Bund etwas regelt. Natürlich wollen wir nicht, dass in Berlin ent- In seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/3008 schieden wird, wann in Düsseldorf die Altstadtkneipe empfiehlt der Ausschuss ebenfalls, die Genehmigung zur oder das Weinrestaurant am Rhein oder was auch immer Durchführung der Strafverfolgung zu erteilen. Wer für den Außenbetrieb schließen muss, sondern wir wol- stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gibt es Ge- len vom Bund aus den Spielraum erweitern, damit Län- genstimmen? – Enthaltungen? – Das ist nicht der Fall. der, Städte und Gemeinden das so festlegen können, wie Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen sie es für richtig halten. Das verstehen wir unter bürger- worden. naher Politik. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. April 2004 9543

Ernst Burgbacher (A) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten einmal in der Lage wären, unseren Antrag überhaupt zu (C) der CDU/CSU) lesen, dann könnten wir miteinander diskutieren. Es gibt einige Gründe dafür. So ist ein völlig verän- (Brunhilde Irber [SPD]: Keine Beleidigung, dertes Konsumentenverhalten zu verzeichnen. Auch Herr Kollege!) die Deutschen gehen später aus und bleiben länger sit- Wir wollen nur den Rahmen setzen. Entscheiden sollen zen. Wir haben das Ziel, ein florierendes Stadtwesen zu die Städte und die Gemeinden vor Ort. Wir in Berlin mi- schaffen. Dazu gehört gerade die Außengastronomie. schen uns in diese Entscheidungen damit überhaupt Sobald man außen zumacht, sind die Innenstädte tot. Wir nicht ein. haben in Deutschland eine florierende Biergartenkultur. Der Tourismus in Deutschland lebt förmlich von dieser Lassen Sie mich zum Schluss Folgendes sagen: Sie Kultur. Sie wollen wir fördern und damit insbesondere haben jetzt die Einführung einer Ausbildungsabgabe in auch den Tourismusstandort Deutschland. die Diskussion gebracht. Sie treffen damit die Branche ganz erheblich. Mit der Annahme unseres Vorschlages (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) könnten Sie etwas beschließen, was keinen Cent kostet, Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, wenn wir wol- was aber der Branche und den Menschen in Deutschland len, dass mehr Menschen aus anderen Ländern – Franzo- hilft. sen, Italiener, Engländer – zu uns kommen, müssen wir (Klaus Brähmig [CDU/CSU]: Recht hat er!) etwas verändern. Wenn sie schön gemütlich im Biergar- ten sitzen, können sie es nämlich nicht verstehen, dass Deshalb bitte ich Sie: Springen Sie endlich über Ihren um 22 Uhr alles hochgeklappt wird und sie gehen müs- ideologischen Schatten und stimmen Sie dem Antrag sen. heute zu. Ein weiteres wirtschaftliches Argument – ich bitte Danke schön. Sie, das nicht zu unterschätzen –: Im letzten Sommer, (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) diesem Jahrhundertsommer, gab es das große Problem, dass die Leute, als die vollen Biergärten um 22 Uhr Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: schließen mussten, nicht in die Innenräume, sondern Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Brunhilde Irber. nach Hause gegangen sind. Unterm Strich waren das Umsatzausfälle. Vor diesem Argument sollte man die Augen nicht verschließen, sondern es zur Kenntnis neh- Brunhilde Irber (SPD): men und entsprechend handeln. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! (B) Die FDP besitzt ein gutes Timing: Das Frühlingswetter, (D) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) gerade dieser Tage hier in Berlin, animiert zum Besuch Nun möchte ich gerne auf ein paar Gegenargumente von Biergärten und Straßencafés. In den vor uns liegen- eingehen. Mir bleibt leider nur wenig Zeit, da ich ledig- den Monaten mit lauen Frühlings- und Sommerabenden lich fünf Minuten Redezeit habe. Ich weiß ja, welche wird es wieder viele Menschen in die Biergärten und Gegenargumente kommen, da Sie, liebe Kollegin Irber, Straßencafés ziehen. Damit ergibt sich eine Einnahme- nach mir reden werden. Somit will ich nur auf zwei ein- quelle für die Gastronomie. Das begrüßen wir ausdrück- gehen: lich. (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Manfred Erstens. Es ist totaler Unsinn, wenn davon geredet Grund [CDU/CSU]: Das ist die schönste Wirt- wird, durch die von uns vorgeschlagene Regelung würde schaftsförderung!) mehr Bürokratie aufgebaut. Ich will auch gar nicht verhehlen, dass wir, wie schon (Brunhilde Irber [SPD]: Natürlich!) in den vorhergehenden Beratungen ausführlich darge- Wir wollen keine weiteren Lärmschutzvorschriften er- stellt, um jedes Bundesland und um jede Kommune froh lassen, sondern wir wollen die bisherigen Lärmschutz- sind, die die vorhandenen Möglichkeiten zur Verkürzung werte verändern. Das hat überhaupt nichts mit zusätzli- der Sperrzeiten in der Außengastronomie nutzen. Bis cher Bürokratie zu tun. Im Gegenteil: Dadurch, dass wir hierher sind wir uns einig, liebe Kolleginnen und Kolle- den vom Bund vorgegebenen Rahmen ausweiten, verrin- gen von der Opposition. gern wir die Bürokratie, weil jetzt die Länder und Ge- Mit dem Thema Sperrzeiten in der Außengastronomie meinden so handeln können, wie sie es gerne wollen. beschäftigen wir uns ja beinahe jedes Jahr wieder zu Be- Unser Vorschlag führt also zu Bürokratieabbau und nicht ginn der sommerlichen Zeit. Die Kollegen haben heute zu mehr Bürokratie. schon gesagt, dass auch ihnen bewusst ist, dass alle Jahre (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) wieder der Antrag der FDP zu diesem Thema kommt. Zweitens. Sie werfen uns immer vor, wir wollten alles (Ernst Burgbacher [FDP]: Macht es halt! Dann von Berlin aus regulieren. Auch das ist völliger Unsinn. ist es vorbei damit!) (Brunhilde Irber [SPD]: Aber natürlich!) Ich hätte es mir heute einfach machen und meine Reden vom 29. Juni 2001 oder vom 8. Mai 2003 erneut vortra- Wir wollen den Rahmen ausweiten, schreiben aber nie- gen können, denn neue Argumente habe ich in Ihrem mandem etwas vor; im Gegenteil. Wenn Sie doch nur Antrag nicht gefunden. Auch in den Ausschussberatungen 9544 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. April 2004

Brunhilde Irber (A) gab es keine neuen Argumente. Deswegen glaube ich, zug genau aussehen müsste; aber es würde ein riesiger (C) dass es eigentlich überflüssig ist, diesen Antrag zu bera- bürokratischer Aufwand entstehen. ten. Aber wir müssen es tun, weil er gestellt worden ist. (Ernst Burgbacher [FDP]: Genau wie bisher! – Sie fordern die Bundesregierung jetzt nicht mehr zur Klaus Brähmig [CDU/CSU]: Wir wollen Ent- Änderung des § 18 des Gaststättengesetzes auf. Denn die bürokratisierung, nicht Bürokratisierung!) meisten Bundesländer haben mittlerweile nur noch die Besenstunde zwischen 5 und 6 Uhr. Sogar Bayern hat Ich glaube, das wäre ein Arbeitsbeschaffungsprogramm sich jetzt dazu entschlossen. Das begrüße ich ausdrück- für Lärmmessungsingenieure und würde eine Mehrarbeit lich. für die Polizeien der Länder bedeuten. Mit diesem Antrag zielen Sie ausschließlich auf die De- Ich glaube nicht, dass wir einem solchen Gesetzent- finition der Nachtzeit im immissionsschutzrechtlichen wurf zustimmen sollten. Einen verbraucherfreundlichen Sinne ab. Die Nachtzeit soll gemäß Ihrem Antrag in den Ansatz kann ich dabei überhaupt nicht entdecken. Sie Sommermonaten erst um 23 Uhr oder idealerweise gar fordern in Ihrer Kleinen Anfrage vom 19. März dieses erst um 24 Uhr beginnen. Ich stimme Ihnen wie vor Jahres den Abbau von Bürokratie in der Tourismusbran- einem und auch vor drei Jahren zu: Insbesondere bei jün- che. In dem heute debattierten Antrag fordern Sie, geren Leuten haben sich das Ausgehverhalten und die „einen unbürokratischen, verbraucherfreundlichen und Lebensgewohnheiten geändert. praxistauglichen Vorschlag zur Änderung des Bundes- immissionsschutzrechts“ für die Sommerzeit vorzule- (Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Wir gehen gen. Jetzt frage ich mich: Was ist an Ihrem Antrag unbü- aber auch noch ganz gerne aus!) rokratisch, praxistauglich oder verbraucherfreundlich? Viele werden gerade in der Sommerzeit zu regelrechten (Ernst Burgbacher [FDP]: Alles! Nachteulen. Auch ich gehöre im Übrigen dazu. Ganz einfach!) Aber des einen Freud ist des anderen Leid. Sie dürfen Verbraucher sind nicht nur diejenigen, die im Straßen- die Nachbarschaft und die Anwohner nicht vergessen. café sitzen, sondern auch diejenigen, die am Morgen um Das ist das, was uns bewegt. Die Anwohner haben ein 5 oder 6 Uhr aufstehen müssen, um zur Arbeit zu gehen, Recht auf eine ungestörte Nachtruhe. Wir alle setzen uns und nicht schlafen können, weil sie durch den Lärm in dafür ein, mögliche nächtliche Ruhestörungen zu mini- den Cafés gestört werden. mieren. Damit beugen wir auch gesundheitlichen Beein- trächtigungen vor. Das ist Aufgabe des Gesetzgebers. Sie sehen lediglich die Umsatzzahlen in der Gastro- Man darf nicht nur die Einkünfte der Gastronomie se- (B) nomie und meinen, allen Städten müsste am besten eine (D) hen, sondern muss auch das berechtigte Interesse der Verschiebung des Sperrzeitbeginns bis 24 Uhr geneh- Anwohner auf ungestörte Nachtruhe ins Auge fassen. migt werden. Dabei missachten Sie aber die Rechte der (Ernst Burgbacher [FDP]: Deshalb Anwohner. Ich glaube nicht, dass das zielführend ist. Regelungen vor Ort!) Wir haben als Gesetzgeber die Rechte aller Bürger zu schützen; das ist unsere Aufgabe. – Das geht eben nicht, Herr Burgbacher; ich komme noch darauf. Wenn Leute in fröhlicher Runde beieinander sitzen, dann können sie auch um 22 Uhr in den Innenraum ge- Ihre Forderung nach einer Technischen Anleitung hen. Die Kommunen können die Zeiten schon heute ver- „Menschlicher Kommunikationslärm“ missachtet dieses längern. In der „Passauer Neuen Presse“ vom heutigen Recht auf Nachtruhe. Sie würden damit einen bürokrati- Tage stand, dass die Stadt Passau die Sperrzeiten in der schen Wust aufbauen. Außengastronomie auf 23 Uhr festgesetzt hat. Verlän- (Ernst Burgbacher [FDP]: Was?) gerte Öffnungszeiten sind also schon jetzt möglich. Wes- halb sollen wir dann bitte schön eine Technische Anlei- – Natürlich! tung „Menschlicher Kommunikationslärm“ schaffen? (Ernst Burgbacher [FDP]: Quatsch! Das ist Ich denke, wir werden unsere bisherige Haltung, die doch Unsinn!) sich bewährt hat, nicht ändern. Es bedarf keiner bundes- weit einheitlichen Regelung. Die Kompetenz lassen wir Wenn wir diesen Antrag heute hier beschließen, würde bei den Ländern. Damit behalten die Kommunen das es eine Technische Anleitung „Menschlicher Kommuni- Recht, die Sperrzeiten für ihre Außengastronomie selbst kationslärm“ geben. Dann müssten Grenzwerte festge- festzulegen. setzt werden, die eingehalten werden müssten. Der Staat und seine Verwaltungsorgane hätten dann die Pflichten (Ernst Burgbacher [FDP]: Da sind der Exekutive. Die Einhaltung müsste bei Beschwerden wir uns völlig einig!) überprüft werden. Dort kennt man nämlich am besten die Interessen und Nehmen wir einmal den folgenden Fall an: Anwohner X die Bedürfnisse der Bevölkerung und aller Beteiligten. fühlt sich in seiner nächtlichen Ruhe gestört. Er ruft die Man weiß auch, wo eine Gastronomie im Außenbereich Polizei. Die Polizei muss anrücken und den Lärmpegel störend ist und wo sie nicht störend ist. messen. Daran würde sich ein Verfahren wegen Störung der Nachtruhe anschließen. Ich weiß nicht, wie der Voll- (Ernst Burgbacher [FDP]: Völlig richtig!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. April 2004 9545

Brunhilde Irber (A) Ich habe nichts dagegen, wenn eine abgelegene Wald- Zwischenzeit nichts. Das ist ein großes Ärgernis für die (C) wirtschaft, in deren Umgebung niemand wohnt, länger Unternehmer und Gäste in Deutschland. Der Antrag un- geöffnet hat. seres Kollegen Ernst Burgbacher zur Liberalisierung der Sperrzeiten in der Außengastronomie will dieses Ärger- (Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Aber denken nis beseitigen. Freiluftgaststätten wie zum Beispiel Sie einmal an den Tierschutz!) Biergärten sollen in Zukunft bis mindestens 23 Uhr und Ich habe aber etwas dagegen, wenn diese Gastwirtschaft höchstens bis 24 Uhr öffnen dürfen. Wir haben diesen in einem Wohngebiet, neben einem Krankenhaus oder Antrag vor zwei Jahren unterstützt und unsere Meinung einem Altenheim liegt. Wir würden mit einer Techni- dazu ist unverändert. schen Anleitung „Menschlicher Kommunikationslärm“ längeren Öffnungszeiten derart gelegener Gastwirtschaf- Die heutige Debatte sagt viel über den aktuellen Zu- ten Tür und Tor öffnen. stand des Wirtschaftsstandortes Deutschland aus. Wieder einmal verpasst die rot-grüne Bundesregierung Ich glaube daher, dass Ihr Antrag obsolet ist. Wir eine gute Möglichkeit, dem gastronomischen Mittel- brauchen ihn nicht und wir werden ihn deshalb ableh- stand in Deutschland unter die Arme zu greifen. Ich nen. brauche es eigentlich nicht zu erwähnen: Er hat es mehr denn je nötig. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Hier und heute könnte die Regierung, ohne Kosten für den Staat zu verursachen, aktive Wirtschaftsförderung Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: betreiben. Aber die rot-grüne Bundesregierung hat einen Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Klaus Brähmig. viel besseren Ansatz, für mehr Wachstum und Beschäfti- gung in Deutschland zu sorgen. Sie droht dem teilweise (Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Jetzt kom- um seine Existenz kämpfenden Mittelstand mit der ideo- men erst einmal die Fakten!) logischen Keule der Ausbildungsplatzabgabe.

Klaus Brähmig (CDU/CSU): (Brunhilde Irber [SPD]: Ach Gott!) Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Leider vergisst die Regierung dabei, dass beispielsweise Herren! Wilhelm Busch hat einmal trefflich bemerkt: das Gastgewerbe seiner gesellschaftlichen Verantwor- „Das Trinkgeschirr, sobald es leer, macht keine rechte tung überdurchschnittlich gerecht wird. Mit rund 7 Pro- Freude mehr.“ zent aller Ausbildungsplätze in Deutschland und einer (Heiterkeit bei der CDU/CSU und der FDP) überdurchschnittlichen Ausbildungsquote bietet das (B) Gastgewerbe weiterhin vielen jungen Menschen eine (D) Geht es nach dem Willen der Bundesregierung, werden Berufs- und Lebensperspektive. auch in diesem Sommer die Biergläser ab 22 Uhr leer bleiben. Wenn es gerade gemütlich wird, findet die Bier- Allerdings braucht das Gastgewerbe Perspektiven für gartenkultur in Deutschland per Anordnung ihr abruptes eine bessere Zukunft, um den im letzten Jahr aufgestell- Ende. ten Ausbildungsrekord in der Hotellerie und Gastrono- mie auch in diesem Jahr wieder erreichen zu können. Nicht nur bei den wirtschaftlichen Parametern wird Was läge also näher als eine Zustimmung von Rot-Grün Deutschland unter der Regierung Gerhard Schröder vom zu einem Antrag, dessen Umsetzung keine Kosten verur- restlichen Europa abgehängt; auch bei der abendlichen sacht und dem Gastgewerbe zusätzliche Umsätze be- Lebensqualität ziehen unsere Nachbarn gnadenlos an scheren könnte? uns vorbei. Die Toskana-Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen und SPD weiß die Vorzüge flexibler Öffnungs- Leider setzt sich die irrationale Wirtschaftspolitik der zeiten in der Gastronomie im südlichen Europa Jahr für Regierung Schröder auch in anderen Politikfeldern fort. Jahr zu schätzen. Beispielsweise will sich die Bundesregierung für eine EU-Richtlinie einsetzen, die Frankreich die Einführung (Beifall bei der FDP) eines ermäßigten Steuersatzes für Restaurantdienstleis- Ich möchte hinzufügen: Auch ich habe dieses Flair in tungen ermöglichen soll. Gleichzeitig will die Bundes- Ljubljana, Budapest und Prag bei Arbeitsgruppenreisen regierung dies den deutschen Gastwirten aber weiterhin in angenehmer Erinnerung behalten. strikt verwehren. Unsere Bürger und ausländischen Gäste müssen in (Brunhilde Irber [SPD]: Zum Thema, zum einem Hochsommer wie dem des letzten Jahres die An- Thema!) nehmlichkeiten von geschlossenen Räumen bei 30 Grad – Ich denke schon, dass das alles zusammengehört. – Celsius genießen. Da ist es kein Wunder, dass unsere Kurz gesagt, Bundeskanzler Schröder setzt sich für ei- heimische Gastronomie unter Konsumverzicht leidet. nen preiswerten Urlaub in Frankreich ein und sorgt für Die Wirtschaft liegt am Boden und die letzten konsum- einen gleich bleibend teuren Urlaub im eigenen Land. bereiten Kunden werden indirekt nach Hause geschickt. Sie kaufen sich dann das Bier in der Kaufhalle und sit- ( [CDU/CSU]: Unglaublich!) zen mit Freunden im Grünen bzw. auf dem Balkon. Dabei hat ein wissenschaftliches Gutachten in Frank- Schon vor zwei Jahren haben wir dieses Thema im reich ergeben, dass der ermäßigte Mehrwertsteuersatz Deutschen Bundestag debattiert. Geändert hat sich in der auf Gastronomiedienstleistungen circa 40 000 neue 9546 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. April 2004

Klaus Brähmig (A) Arbeitsplätze schaffen kann. Wir gratulieren der Regie- bringen würde, wenn Sie Argumente berücksichtigen (C) rung zu dieser wirtschaftspolitischen Meisterleistung. würden, die bisher vorgetragen worden sind. Aber das ist Wo bleibt endlich Ihr Einsatz für eine Harmonisierung nicht der Fall. Lieber Herr Burgbacher, ich schätze Sie der Umsatzsteuer im europäischen Gastgewerbe? wirklich sehr. Ihr Antrag entbehrt zwar nicht des Eifers, aber er entbehrt neuer Argumente. Lassen Sie mich zu dem heute zu debattierenden An- trag zurückkommen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Brunhilde Irber [SPD]: Endlich! – Annette sowie bei Abgeordneten der SPD) Faße [SPD]: Bravo!) So viel zur Einleitung meines Beitrags; denn jetzt Dessen Ablehnung begründet Rot-Grün mit dem Ruhe- bleibt mir nur übrig, auf die vorgetragenen Argumente bedürfnis der Anwohner von Außengastronomie. La- unsere bereits bekannten Antworten zu geben und damit chen und Reden fallen nach Ihrer Auffassung unter den klar zu machen, warum wir nicht zustimmen können. Immissionsschutz. Dies ist eine sehr seltsame Interpreta- Natürlich wissen auch wir, dass sich die Lebensge- tion von menschlicher Kommunikation. Aber, liebe Kol- wohnheiten verändert haben. Wir finden das sehr gut; leginnen der Regierungskoalition, machen Sie sich keine auch wir gehen gerne abends aus. Auch wir wissen, dass Sorgen um das Ruhebedürfnis der Anwohner. Ange- es für touristische Destinationen wichtig ist, dass sich sichts Ihrer bewährten Regierungspolitik wird es auch die Gäste dort wohl fühlen. Auch wir wissen es zu schät- im Hochsommer für die meisten Bürger kaum Anlass zu zen, dass es Gastwirte gibt, die über wunderbare Bier- Jux und Dollerei geben. gärten verfügen, in denen sie Gäste bewirten können. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Aber wir wissen auch, dass es Anwohner gibt, die Wer etwas verhindern will, sucht Gründe. Wer etwas abends Ruhe brauchen. Wir denken, man muss beides bewegen will, sucht Wege. Was Rot-Grün heute anbietet, gegeneinander abwägen und beides in Einklang bringen; ist die Aneinanderreihung von Gründen. Wege in die Zu- denn nicht jeder in der Bundesrepublik, der für den Wirt- kunft kann man von dieser Regierung nicht mehr erwar- schaftsaufschwung sorgen möchte, geht direkt vom Büro ten. in den Biergarten und bleibt dort die halbe Nacht. Es gibt auch Menschen, die abends einfach Ruhe brauchen. Danke. Deshalb sagen wir: Wir brauchen und wollen verbrau- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) cherfreundliche und anwohnerfreundliche Sperrzeiten. Wir wollen optimale Lösungen für alle Beteiligten. Re- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: gelungen nach dem Motto „Für die paar Tage geht das (B) Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Undine Kurth. schon“ greifen zu kurz, weil diejenigen, die in der Nähe (D) solcher Gastwirtschaften wohnen, diese Zeit als durch- Undine Kurth (Quedlinburg) (BÜNDNIS 90/DIE aus lang empfinden können. Der letzte Sommer war lang GRÜNEN): und schön, wie wir alle wissen. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Deswegen setzen wir auf ein bewährtes Konfliktma- Liebe Gäste auf den Rängen! Mit einigem Unwillen nagement und sagen: Lasst es die Leute vor Ort entschei- müssen wir zur Kenntnis nehmen, dass die FDP alljähr- den. Sie kennen die Situation am besten. Sie wissen am lich und regelmäßig den Bundestag mit ein und demsel- besten, wie man es machen muss. Dafür braucht man ben Antrag beschäftigt. Auch wenn es sich um das sehr keine neuen Verordnungen. sympathische Thema Biergarten dreht und wir jetzt viel- leicht besser in einem solchen sitzen sollten, ist das nicht Ihr Vorschlag, Immissionsgrenzwerte für Kommu- besonders erfreulich. nikationslärm festzusetzen, klingt zunächst charmant. Aber es hat sich nichts daran geändert, dass sie nicht so Herr Brähmig, wenn Sie den Niedergang der gesam- einfach zu bestimmen sind. Frau Irber hat beschrieben, ten Wirtschaft der Bundesrepublik an den Öffnungszei- auf welche Schwierigkeiten man dabei stoßen kann. ten von Biergärten festmachen wollen, ist das nicht ganz angemessen. Lassen Sie die Menschen also so lange trinken, wie sie mögen. Aber lassen Sie vor Ort bestimmen, ob das (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN draußen oder drinnen geschehen kann. und bei der SPD – Manfred Grund [CDU/ CSU]: Pars pro Toto!) (Ernst Burgbacher [FDP]: Das wollen wir doch! Dann sind wir uns ja einig!) Das stete Wiederholen eines Themas kann natürlich sinnvoll sein, Es ist unsinnig, von hier aus festzulegen, wie lange wo geöffnet werden darf. (Ernst Burgbacher [FDP]: So ist es! – Klaus Brähmig [CDU/CSU]: Das werden wir so Deshalb glauben wir, dass es nicht sinnvoll ist, dem lange wiederholen, bis wir zum Erfolg gekom- Antrag zuzustimmen. men sind, bis ihr nicht mehr an der Regierung seid!) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: wenn dies im Sinne von Max Weber das „Bohren dicker Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Bretter“ bedeuten würde, wenn man neue Argumente Burgbacher? Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. April 2004 9547

(A) Undine Kurth (Quedlinburg) (BÜNDNIS 90/DIE (Brunhilde Irber [SPD]: Von Fußballfans steht (C) GRÜNEN): da nichts!) Ich bin eigentlich sehr offen für Zwischenfragen. Das Motto der WM 2006 heißt: „Die Welt zu Gast bei Aber da wir das alles ausreichend oft behandelt haben, Freunden.“ Das bekommt dann gleich eine ganze andere glaube ich nicht, dass wir darauf noch einmal eingehen Bedeutung: Was die Gäste nicht dürfen, sollen die Deut- müssen. schen auch nicht. Bloß kein Lebensgefühl in Deutsch- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN land entstehen lassen! Das ist offensichtlich Ihr Ziel. und bei der SPD – Ernst Burgbacher [FDP]: Meine Damen und Herren, hier klafft wieder einmal Dann nehmen Sie einmal zur Kenntnis, dass ein Abgrund zwischen Ihrem Anspruch und der Wirk- wir das unten entscheiden lassen wollen!) lichkeit. Multikulturell darf unsere Gesellschaft schon gerne werden, aber bitte mit deutschen Ladenschlusszei- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: ten. Spanische, französische oder gar italienische Le- Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Jürgen Klimke. bensfreude darf in deutschen Landen keinen Platz fin- den. – Unsere südlichen Nachbarn schütteln darüber im Übrigen verständnislos den Kopf. Sie sind beim Thema Jürgen Klimke (CDU/CSU): Lebenskultur viel weiter. Sie denken in Sachen Sperrzei- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe ten viel fortschrittlicher; sie haben nämlich keine Sperr- Kolleginnen von Rot-Grün! Lassen Sie uns einmal zwei zeiten. Jahre in die Zukunft blicken. Wir schreiben das Jahr 2006. Die Fußballweltmeisterschaft findet in Deutsch- (Brunhilde Irber [SPD]: Das können die Kom- land statt. Alle feiern dieses Ereignis. Wirklich alle? munen übrigens entscheiden!) (Zuruf des Parl. Staatssekretärs Rezzo Wenn wir – das machen wir jetzt öfter – anlässlich des Schlauch) 1. Mai nach Osten schauen, stellen wir fest, dass sogar die neuen EU-Mitgliedstaaten im Osten die Lebens- – Haben Sie nicht vorgestern das „Wunder von Bern“ freude nicht wie bei uns in Deutschland reglementieren. gesehen? (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE (Rezzo Schlauch, Parl. Staatssekretär: Ich habe GRÜNEN]: Gehen Sie erst einmal nach das Wunder von Bukarest gesehen!) Kreuzberg!) Da haben wir auch am Anfang 5 : 1 oder 6 : 1 verloren; „Zu Gast bei Freunden“ – das sollte nicht nur das (B) hinterher sind wir Weltmeister geworden. Motto der Fußballweltmeisterschaft sein, sondern auch (D) (Beifall bei der CDU/CSU) eine Verpflichtung gegenüber unseren Gästen aus der ganzen Welt. Perfekte Organisation, reibungslose Logis- Feiern also alle das Ereignis? Das ist nicht möglich; tik und überzeugende Angebote: Diese deutschen Attri- denn die ehemalige rot-grüne Regierung des Gastgebers bute sind dabei nur Grundvoraussetzungen. Sie reichen hat – wie schon in den vorigen Jahren – im Jahre 2004 bei weitem nicht aus. Denn eine herzliche Gastfreund- wieder auf die Spaßbremse getreten. Denn feiern darf in schaft muss unsere Gäste empfangen. Deutschland nach 22 Uhr nicht möglich sein. Dazu ist es unerlässlich, dass die Politik die Rahmen- (Brunhilde Irber [SPD]: Nur nicht im Freien!) bedingungen für eine solche Gastfreundschaft herstellt. Offensichtlich hat das in der Regierung bisher nur Wirt- Da werden die Bürgersteige hochgeklappt. schaftsminister Clement begriffen. Die wenigen spani- (Winfried Hermann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- schen Nächte, die wir haben, sollte man die Gäste und NEN]: Wo leben Sie denn?) die Gastronomen genießen lassen. Die Fans müssen direkt von den Stadien in ihre Hotels (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) oder nach Hause. – Das ist das Szenario. Schließlich sol- Es ist doch nicht so, dass wir die Nacht zum Tag ma- len deutsche Städte – das ist eindeutig Ihr Ziel – nach chen wollen. Schließlich sollen brave Bürger – auch die 22 Uhr menschenleer bleiben. Kollegin Irber – ihren wohlverdienten Schlaf finden. Wir (Brunhilde Irber [SPD]: Quatsch! – Hans- wollen, dass man laue Sommernächte genießen kann Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- und die Gastronomen die Lokale und Kassen in ihrer NEN]: Gehen Sie doch gleich einmal spazie- Hauptsaison nicht schon um 22 Uhr schließen müssen. ren!) (Brunhilde Irber [SPD]: Das müssen sie nicht, weil die Leute nach drinnen gehen können!) Die Gastronomie darf in der Hauptsaison kein Geld ver- dienen. „Deutschland will raus!!!“ – so hat die DEHOGA das Ergebnis einer Emnid-Umfrage kommentiert, wonach Liebe Frau Kollegin Irber, ich darf das mit einem Zi- 73,7 Prozent der Bundesbürger längere Öffnungszeiten tat von Ihnen ausdrücken, das die „Süddeutsche Zei- von Straßencafés und Biergärten befürworten. tung“ vom 27. April bringt: Das alkoholisierte Gegröle von Fußballfans wollen wir nicht; darauf kann man gut Kollegin Irber, Ihr Kanzler hat diese Umfrage offen- verzichten. sichtlich nicht richtig mitbekommen; denn eigentlich 9548 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. April 2004

Jürgen Klimke (A) folgt er jedem Trend. Man muss sich folgende Situation (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (C) einmal vorstellen: Gerhard Schröder sitzt um 22.30 Uhr in Hannover in einem Biergarten – natürlich gibt es ein Wie heißt es doch so schön? Wo man singt, da lass dich riesiges Medienaufgebot – und fordert: „Hol mir mal ne nieder – böse Menschen haben keine Lieder. Flasche Bier, sonst streik ich hier!“ Ich kann mir vorstel- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) len, dass diese Performance Sie um den Schlaf gebracht hätte. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Wir stellen fest, dass die rot-grüne Regierung wieder Danke schön. – Ich schließe die Aussprache. einmal eindeutig gegen den erklärten Willen der Deut- schen handelt. Dabei ist es doch ganz einfach: Stimmen Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss- Sie dem Antrag zu. Stimmen Sie gegen das Ausschuss- empfehlung des Ausschusses für Tourismus auf votum. Drucksache 15/1287 zu dem Antrag der Fraktion der FDP mit dem Titel „Sperrzeiten für Außengastronomie Es geht nicht darum – das wurde hier vielfach verbraucherfreundlicher gestalten“. Der Ausschuss emp- behauptet –, die Angelegenheit von Berlin aus zu regeln, fiehlt, den Antrag abzulehnen. Wer stimmt für diese Be- sondern darum, den Spielraum der Kommunen in der schlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Gastronomie zu erweitern. Ich komme aus Hamburg. Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Ko- Dort wurde die Sperrzeit in diesem Frühjahr verkürzt. alitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposition an- Draußen kann man nun bis 24 Uhr und drinnen bis 5 Uhr genommen. feiern. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf: (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Brunhilde Irber [SPD]: Was soll dann der An- Beratung des Antrags der Abgeordneten trag? Es geht doch!) Brunhilde Irber, Annette Faße, Renate Gradistanac, weiterer Abgeordneter und der Frau Irber, damit niemand um seinen Schlaf fürchten Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten muss, wird die Regelung im Einzelfall vor Ort geprüft. Undine Kurth (Quedlinburg), Albert Schmidt (In- (Brunhilde Irber [SPD]: Weshalb soll der Bun- golstadt), Volker Beck (Köln), weiterer Abgeord- desgesetzgeber dann ein Gesetz machen?) neter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN Im Norden handelt man also miteinander und nicht gegeneinander. Leider können diesen Weg nicht alle Tourismus in, an und auf dem Was- Kommunen gehen, weil die Technische Anleitung ser – Naturverträglichen Wassertourismus in (B) (D) Lärm diese Möglichkeit versperrt. Allein der Begriff Deutschland ausbauen und fördern „Technische Anleitung Lärm“ ist spröde. – Drucksache 15/2667 – (Winfried Hermann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Überweisungsvorschlag: NEN]: Der stammt aus Ihrer Regierungszeit! – Ausschuss für Tourismus (f) Sportausschuss Brunhilde Irber [SPD]: Er kommt doch von Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen der FDP und nicht von mir!) Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Es handelt sich um ein Konglomerat von Negativem. Ich Haushaltsausschuss frage mich, wie man menschliche Kommunikation, La- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die chen und Freude ernsthaft mit Industrielärm gleichsetzen Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre kann. keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. (Brunhilde Irber [SPD]: Eben nicht!) Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst die Abgeordnete Annette Faße. Werden im nächsten Schritt Balkone zu spaßfreien Zo- nen erklärt, da niemand mehr einen Witz erzählen darf, weil das Lachen gegen die Technische Anleitung ver- Annette Faße (SPD): stößt? Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Heute kann ich Ihnen einen Antrag vorstellen, der mir Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: ganz besonders am Herzen liegt: „Tourismus in, an und Der Witz ist schon out of time. Bitte fassen Sie sich auf dem Wasser – Naturverträglichen Wassertourismus ganz kurz. in Deutschland ausbauen und fördern“. (Manfred Grund [CDU/CSU]: Sperrzeit In meinem Wahlkreis Cuxhaven/Osterholz ist der 22 Uhr!) Wassertourismus von zentraler Bedeutung. Daher freue ich mich, dass dieses touristische Segment hier heute Abend im Mittelpunkt steht. Jürgen Klimke (CDU/CSU): Okay. – Wir haben über den Unsinn in der Techni- (Manfred Grund [CDU/CSU]: Aber nur bis schen Anleitung sehr oft gesprochen. 22 Uhr!) Zum Abschluss kann ich nur sagen: Stimmen Sie dem Wir haben in Deutschland, im Zentrum Europas, ein Antrag Burgbacher zu. bedeutendes Wassersportrevier. Wir sind uns dessen Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. April 2004 9549

Annette Faße (A) nur leider nicht genügend bewusst. Nord- und Ostsee, Wir bewerten diese Regelung als sehr positiv. Hier ha- (C) zahlreiche Binnenseen, Fließgewässer und nicht zuletzt ben wir eindeutig eine Lockerung erreicht, die auch dem die Wasserstraßen bilden in Deutschland die optimalen wirtschaftlichen Bereich dienlich ist. Voraussetzungen für Tourismus in, an und auf dem Was- ser. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Hier besteht großes wirtschaftliches Potenzial, das noch ausbaufähig ist. Immerhin betreiben rund Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir müssen uns 6,5 Millionen Deutsche aktiv Wassersport. Das sind rund auch mit den unterschiedlichen bestehenden Regelun- 8 Prozent der Bevölkerung. Der direkte Gesamtumsatz gen, die dem Wassertourismus nicht gerade dienlich in der Wassersportwirtschaft wird auf jährlich sind, befassen. Es gibt zum Beispiel unterschiedliche 1,7 Milliarden Euro geschätzt. Dass wir inzwischen Befahrensregelungen. Hier sind die Bundesländer mas- mehr über Wassertourismus in Deutschland wissen, ver- siv gefordert. So ist es kaum zu verstehen, dass, wenn danken wir der Grundlagenuntersuchung „Wassertouris- man eine Landesgrenze überfährt, andere Regeln gelten mus in Deutschland“, die vom Bundeswirtschaftsminis- sollen; denn man merkt gar nicht, dass man sich in terium in Auftrag gegeben wurde und seit Mai letzten einem anderen Bundesland befindet. Aber dann kann es Jahres vorliegt. natürlich schnell zu Konflikten kommen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Zuruf Dies gilt auch für Boots- und Segelführerscheine. von der SPD: Eine gute Tat!) Auch hier sehen wir Handlungsbedarf. Ganz deutlichen Ich begrüße es ausdrücklich, dass uns zu diesem Thema Handlungsbedarf sehen wir auch bezüglich einer einheit- endlich Basisdaten zur Verfügung stehen und dass hierzu lichen Ausschilderung. Es kann nicht sein, dass es die eine generelle Untersuchung durchgeführt wurde, die unterschiedlichsten oder gar keine Piktogramme gibt. uns Hinweise darauf gibt, was wir wo zu ändern versu- Wir wollen es den Gästen erleichtern, zu erkennen, wel- chen sollten. che Angebote an einer Anlegestelle und im touristischen Umfeld vorhanden sind, damit sie sehen, dass es sich Lassen Sie mich zunächst zu einigen Rahmenbedin- lohnt, auch einen Tag länger zu bleiben. Dafür brauchen gungen und Vorschriften Stellung beziehen; meine Kol- wir eine einheitliche Beschilderung. Hier sind wir auf legin wird dann speziell auf die Tourismusseite einge- einem sehr guten Weg. Damit eine solche Regelung hen. Die Bundeswasserstraßen und die mit ihnen kompatibel ist, hat man dabei auch die europäische verbundenen Landesgewässer bilden ein Wasserwan- Ebene zu berücksichtigen. Ich gehe davon aus, dass wir dernetz von etwa 10 000 Kilometern Länge. Der Bund hier gemeinsam mit den Ländern eine gute Lösung fin- als Eigentümer der Bundeswasserstraßen unterhält und (B) den werden, die vom Bund auch finanziell unterstützt (D) betreibt diese Wasserwege. Darüber hinaus saniert der werden wird. Bund die Nebenwasserstraßen, um diese wieder zu bele- ben und dem Tourismus zuzuführen. Das gilt ganz be- (Beifall bei der SPD) sonders für die Nebenwasserstraßen in den neuen Bun- desländern. Hier haben wir, wenn ich beispielsweise an Liebe Kolleginnen und Kollegen, natürlich möchte den Finowkanal denke, gemeinsam einiges erreicht. ich zu der Vignette für Sport- und Freizeitboote, über Dazu gehört aber auch die Instandsetzung von Schleu- die gegenwärtig in der Presse heiß diskutiert wird, Stel- sen, durch die ein durchgängiges Befahren der Wasser- lung beziehen. Diesen Punkt haben wir in unserem An- wege erst ermöglicht wird. trag als Prüfauftrag aufgegriffen und auch inhaltliche Vorgaben hierzu gemacht. Wir müssen einfach feststel- Die zunehmende Nutzung der Wasserstraßen erfor- len, dass der Bundesrechnungshof und der Rechnungs- dert allerdings auch Regelungen. Davon gibt es eine prüfungsausschuss des Deutschen Bundestages von uns ganze Menge. Es gilt nun, zu überprüfen, welche sinn- die Schaffung einer aktuellen, rechtlich einwandfreien voll und welche nicht sinnvoll sind. Das können Bund Grundlage für die Erhebung der Schifffahrtsabgaben so- und Länder nur gemeinsam machen, weil viele Kompe- wie die Neufestlegung der Abgaben für Sport- und Frei- tenzen bei den Ländern liegen. zeitschifffahrt fordern. Lassen Sie mich Ihnen ein Beispiel dafür darlegen, Bisher haben wir die Regelung, dass zwei große Ver- dass wir durch ein Modellprojekt, das die Charter- bände zusammen pauschal 51 000 Euro zahlen. Diese scheinregelung betroffen hat, etwas wirklich Positives Summe ist über eine lange Zeit nicht angehoben worden. in Gang gebracht haben. In diesem Fall wurde ein auf Da muss man sich schon fragen: Ist es gerecht, dass die drei Jahre befristetes Modellprojekt durchgeführt. Die Verbände zahlen? Wer kein Mitglied in einem Verein ist, Erfahrungen damit waren durchweg positiv. Auch die ist schließlich nicht eingebunden. Ist es gerecht, dass das Touristen aus dem Ausland entdeckten, dass es in Schleusen an der Mosel extra bezahlt werden muss? Ich Deutschland Hausboote gibt, auf denen sich wunderbar glaube, hier besteht Handlungsbedarf. Keiner will eine Urlaub machen lässt. Regelung, die das Ehrenamt im Sportbereich negativ be- Nach Abschluss dieses Projektes haben wir es zu einflusst, keiner will eine Überbürokratisierung, aber ich einer Dauerregelung werden lassen. In unserem Antrag meine schon, dass wir uns der Aufgabe stellen müssen. fordern wir, zu überprüfen, ob noch weitere Wasserre- Die Verbände und auch die Politik müssen sich einschal- viere diese Charterscheinregelung übernehmen können ten, damit die zu schaffende Regelung für den Tourismus oder ihre Übertragung auf Landesgewässer möglich ist. erträglich ist. 9550 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. April 2004

Annette Faße (A) Ich lade Sie alle ein, im August nach Cuxhaven zum Deutschland“, die seinerzeit im Mai 2003, kurz nach un- (C) Tall Ships’ Race zu kommen; da kann man über Wasser- serem Antrag, erschienen ist. tourismus nicht nur reden, da kann man ihn auch erle- ben. Im Großen und Ganzen kann man vielem von dem, was Sie zu Papier gebracht haben, zustimmen. Unsere Danke schön. Anliegen vom Mai des vergangenen Jahres werden über- wiegend aufgegriffen, ich will nur einige wichtige noch (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ einmal nennen: Aufbau eines länderübergreifenden DIE GRÜNEN) Koordinierungsinstrumentariums, Vereinheitlichung und Vereinfachung der Befahrensregelungen auf den Gewäs- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: sern in ganz Deutschland, Verknüpfung von Wasser- Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Wilhelm Josef sportangeboten mit Angeboten an Land, Förderung des Sebastian. Themenjahres 2004 „Faszination Wasser“, Belange der Sportverbände fördern und deren Anliegen bei Maßnah- Wilhelm Josef Sebastian (CDU/CSU): men des Natur- und Umweltschutzes angemessen be- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen! rücksichtigen. Werte Frau Faße, Sie haben gesagt, Wassersport liege Ih- Wir möchten aber kritisch anmerken, dass wir uns mit nen am Herzen. Ich frage mich aber, warum Sie im Juni Ihrem Vorschlag, ein Vignettensystem für den Bereich des vergangenen Jahres unserem Antrag nicht zuge- von Sport- und Freizeitbooten einzuführen, gar nicht stimmt haben und auch nicht im Oktober dem der FDP. anfreunden können. Ich habe fast das Gefühl, dass Sie Sie hätten all das viel früher haben können. im Freizeitbereich die Vignette wieder einführen wollen, (Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf von der die für die LKWs aus vielerlei anderen Gründen, die hier CDU/CSU: Verzögerungstaktik!) heute nicht zur Debatte stehen, nicht mehr ausgegeben wird. Ich könnte die Frage stellen: Warum nicht gleich Deshalb muss ich ein bisschen daran zweifeln, dass es eine Maut? Streckenbezogen, denn wer viel fährt, soll Ihnen ein Herzensanliegen ist. Aber ich freue mich, dass mehr zahlen, wer wenig fährt, zahlt wenig? Es kann Sie uns nach Cuxhaven eingeladen haben – das erinnert doch wohl nicht sein, dass wir jetzt auch im Freizeitbe- mich an meine Bundeswehrzeit: Ich war in Cuxhaven reich ein Mautdesaster bekommen. bei der Marine; das war eine schöne Zeit. Vielleicht se- hen wir uns dann da wieder. Der behördliche Aufwand für eine solche Einführung ist derart groß, dass sich die Fragen ergeben: Wer kon- Meine Damen und Herren, der Deutsche Bundestag trolliert es und wo ist eine Kostendeckung? Auf mich (B) beschäftigt sich nun schon zum dritten Mal mit dem wirkt das alles etwas illusorisch. Sie sagen zwar, dass (D) Thema Wassertourismus. Man kann nur hoffen, dass die das nur ein Prüfauftrag und es noch keine Forderung ist, Ergebnisse der Initiative auch wirklich rechtfertigen, aber wenn so etwas geprüft wird, gibt es meist Experten, dass man diesem Thema die entsprechende Aufmerk- die zum Schluss immer noch etwas schönrechnen. Wir samkeit zuteil werden lässt. Ich habe es schon gesagt: Im können uns des Eindruckes nicht erwehren, dass immer Juni des vergangenen Jahres haben wir, die CDU/CSU- neue Erfindungen gemacht werden, um den Bürgern Bundestagsfraktion, dieses Thema eingebracht, im Okto- Geld aus der Tasche zu ziehen. ber dann die FDP. Immer war die Stoßrichtung die glei- che. Ich kann in Ihrem neuen Antrag nichts wesentlich Dann kommen bei dieser Regelung – wie heißt es so Besseres oder anderes sehen, aber man kann ja so schön schön: keine Regel ohne Ausnahme – die Befreiung für sagen: Besser spät als nie. Deshalb sind wir eigentlich Vereine und Rabatte – deutlich weniger Abgaben oder froh, dass wir heute noch einmal über das Ganze reden. gar keine – hinzu. Ich halte von dieser Geschichte nichts. Wir reden in allen Bereichen von Entbürokratisierung. (Brunhilde Irber [SPD]: Auf unsere Initiative Dies ist für mich deutlich mehr Bürokratisierung. hin wurde diese Studie überhaupt angefertigt! Und Sie haben sich als Trittbrettfahrer betä- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) tigt!) In Ihrem Antrag wird angeführt, dass man sich durch- – Liebe Kollegin, ich will es noch einmal sagen: Natür- aus vorstellen kann, im Bereich von Schleusen Kommu- lich freut es einen Oppositionspolitiker, wenn die Regie- nikationspunkte für die Menschen zu haben und Attrak- rungsfraktionen Formulierungen finden, die man selbst tivitäten einzurichten. Wer jemals Wassersport in schon gebraucht hat. Man darf Ihnen durchaus gratulie- Holland betrieben hat, der weiß – ich kann mich selbst ren, denn Sie haben recht ordentlich abgeschrieben – bei daran entsinnen –, dass es immer ein Erlebnis ist, an uns und bei der FDP. einer Brücke vorbeizufahren: Man bekommt einen Holz- schuh zugeworfen und man konnte damals 1 Gulden, (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – heute 1 Euro, hineinstecken. Das ist etwas Unterhalten- Lachen der Abg. Annette Faße [SPD] – des und keine Vignette; es ist vielmehr etwas Freiwilli- Brunhilde Irber [SPD]: Sie haben aus dem ges. Gutachten abgeschrieben! – Zuruf von der CDU/CSU: Ihr schreibt sowieso nur ab!) (Zuruf von der FDP: Jawohl!) Was an Füllmaterial noch fehlte, stammt offensichtlich Ich bin für Anreize. In diesem Fall bin ich für weniger aus der Grundlagenuntersuchung „Wassertourismus in und nicht für mehr. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. April 2004 9551

Wilhelm Josef Sebastian (A) Wir sollten überhaupt bedenken, dass Wassertouris- Die Union wird in der nächsten Zeit sehr wohl beo- (C) mus im Wettbewerb mit anderen Ländern steht. bachten, ob das hier zur Beschlussfassung anstehende Programm, Ihre Agenda Wassertourismus, erfolgreich (Zuruf von der FDP: Da haben Sie Recht, Herr umgesetzt wird oder ob es – wie Ihre Agenda 2010 – Kollege!) noch vor dem Stapellauf Schiffbruch erleidet. Der Gast entscheidet, ob er in Holland, in Frankreich, in Belgien oder anderswo Wassersport betreibt oder ob er Vielen Dank. auf unsere Gewässer geht, auf denen er möglicherweise (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- sehr viel mehr zahlen muss. Wettbewerb mit anderen neten der FDP) Ländern muss dazu führen, dass wir unseren Standort- vorteil – wir haben herrliche Landschaften – nutzen. Wir sollten den Bürger in diesem Zusammenhang kein Geld Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: aus der Tasche nehmen. Das Wort hat jetzt wieder die Abgeordnete Undine Kurth. Es gibt ein altes Indianersprichwort: Wenn du merkst, das Pferd ist tot, steige ab. – Bei Ihnen habe ich den Ein- druck: Wenn du merkst, das Pferd ist tot, gründe einen Undine Kurth (Quedlinburg) (BÜNDNIS 90/DIE Arbeitskreis, der herausfindet, warum das Pferd gestor- GRÜNEN): ben ist. – Hier wird wieder etwas geprüft, von dem man Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auch von mir und eigentlich schon heute weiß, dass es nicht zum Vorteil von meiner Fraktion ein Plädoyer für den Wassertouris- ist. mus. Eine abschließende Frage in diesem Zusammenhang: Die Verstädterung und die Bewegungsarmut einer- Wo beginnt die Gerechtigkeit, wenn Sie im Freizeitbe- seits sowie die Zunahme an Freizeit und Mobilität ande- reich Boote mit Gebühren belegen und Fahrräder bei der rerseits führen zu einer immer stärkeren Nachfrage nach Nutzung von Radwegen von einer Vignette befreien? Erholung und Sport in freier Natur. Der Wassersport pro- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und fitiert davon in ganz herausragender Weise, da er zu den der FDP) naturorientierten Sportarten zählt. Der enge Kontakt zu einer möglichst unberührten Natur besitzt gerade beim Man könnte noch sehr viele Ideen aufgreifen, warum Wassersport eine ganz besondere Bedeutung. man zum Beispiel bei Skatern oder in anderen Bereichen demnächst Gebühren einführt. Man möchte es kaum glauben, aber es ist wahr: Deutschland ist ein Wasserland mit etwa (B) (Annette Faße [SPD]: Wir haben doch schon (D) Gebühren!) 6,5 Millionen Menschen, die sich zumindest zeitweise am, auf dem, im oder unter Wasser aufhalten. Aufgrund Nicht zu Unrecht vermutet man bei Ihrem Antrag die dieser großen Zahl von Menschen hat sich der Wasser- Handschrift der grünen Kolleginnen und Kollegen, die sport längst zum Breitensport entwickelt. Mit unserem eine für mich sehr übertriebene Betonung der Belange heute vorliegenden Antrag wollen wir dem Rechnung des Natur- und Umweltschutzes in Ihrem Antrag formu- tragen sowie die bisherige Unterschätzung dieses touris- lieren. Die Abwägung und der Ausgleich der Interessen tischen Potenzials aufheben und ihr entgegenwirken. Mit fehlen. Es hört sich so an, als ob sich den aus unserer der Grundlagenuntersuchung des Bundeswirtschafts- Sicht überzogenen Ansprüchen des Naturschutzes alles ministeriums „Wassertourismus in Deutschland“ haben unterordnen muss. Es wird vergessen, dass man sehr wir, wie wir bereits hörten, zudem die notwendigen em- wohl Konzeptionen finden kann, die touristischen und pirischen Daten vorliegen, um gezielt handeln zu können wirtschaftlichen Erwägungen genauso Rechnung tragen und genau die Potenziale aktivieren und besser aus- wie dem berechtigten Schutz der Natur. schöpfen zu können, die bisher nicht wirklich genutzt Wir benötigen in diesem Bereich – wie in vielen an- worden sind. Ich denke, unser Antrag enthält dazu eine deren in Deutschland – eine weitergehende Deregulie- Reihe wirklich guter Forderungen. rung der gesetzlichen Vorschriften, um die ökonomi- Herr Sebastian, nach den Fakten, die Frau Faße be- schen Potenziale auszuschöpfen. In der öffentlichen reits vorgetragen hat, möchte ich jetzt zu einem Thema Anhörung zum Thema Wassertourismus im letzten Som- kommen, das genau den Unterschied zwischen uns aus- mer erfuhren wir zum Beispiel, dass es in Deutschland 592 Einzelbefahrungsregeln auf deutschen Gewässern macht und weswegen unser Antrag heute in dieser Form aus Naturschutzgründen gibt. Für mich ist das des Guten vorliegt und wir Ihren Anträgen nicht zustimmen konn- zu viel. Hier muss es zu Vereinfachungen und einheitli- ten. Es geht um den Bereich des Naturschutzes. Die An- chen Regelungen kommen. träge Ihrer Fraktion und der Antrag der FDP waren da wirklich sehr schlecht. (Annette Faße [SPD]: Richtig!) (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Klaus Wir sind gespannt, ob der Ansatz, den die Regie- Brähmig [CDU/CSU]: Was? Das kann gar rungskoalition dazu gefunden hat – in den Bundeslän- nicht sein! Unverschämtheit! – Birgit dern anzuregen, Kriterien für übergreifende, flussein- Homburger [FDP]: Stimmt die Kommasetzung heitliche Befahrensregelungen zu entwickeln –, den nicht oder weswegen war er falsch?) nötigen Nachdruck verleiht und den erhofften Erfolg bringt. – Nein. 9552 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. April 2004

Undine Kurth (Quedlinburg) (A) Bei aller gewollten und notwendigen Unterstützung auf dem Wasser gelten soll, sondern auch darauf hin- (C) für den Wassertourismus – deswegen wollen wir uns ja weist, was sich im Umfeld der Region befindet, damit auf diesen Antrag verständigen – hat auch der Natur- Touristen eine Chance haben, die Region kennen zu ler- schutz eine große Bedeutung. Um den Wassersport in nen, und die Region vom Wassertourismus profitieren der Natur betreiben zu können, brauchen wir nämlich in- kann. takte Naturräume, die wir auch weiterhin vor der Zerstö- rung bewahren müssen. Auch dafür benötigen wir Re- Zum Abschluss meines Beitrages möchte ich noch geln und Kriterien, an denen wir uns orientieren. Wir auf einen ganz besonderen Aspekt hinweisen. Im Januar müssen zwischen den Belangen des Naturschutzes und haben wir uns im Bundestag auf einen Antrag zum bar- den Interessen der Wassertouristen abwägen. Wer glaubt, rierefreien Tourismus in Deutschland verständigt und dass das automatisch immer zugunsten des Naturschut- für uns alle festgestellt, dass barrierefreier Tourismus ein zes geschehen würde, der kennt die Realität nicht und Markenzeichen des Deutschlandtourismus werden soll. der weiß nicht, was wir draußen täglich erleben. Auch Ich möchte an alle appellieren, dass wir die guten Bei- von gut gemeinten Aktivitäten auf dem Wasser gehen spiele, die es in diesem Bereich schon gibt – „Boot ohne nämlich Gefahren für die Pflanzen- und Tierwelt aus. Handicap“ oder „Sail together“; es fing damit an, dass Demzufolge müssen wir darauf achten. die Jugendgruppe einer evangelischen Kirchengemeinde einen rollstuhltauglichen Katamaran entwickelt hat, um Erfreulicherweise gibt es aber hervorragende Bei- Behinderten und Nichtbehinderten gemeinsame Ferien- spiele integrierter Schutz- und Nutzungskonzepte. Eine zeiten auf dem Wasser zu ermöglichen –, besonders im Spitzenposition nimmt hierbei Schleswig-Holstein ein. Auge behalten und unterstützen. Mit dem barrierefreien Dort wurden beispielsweise freiwillige Vereinbarungen Tourismus kann dem gesamten Segment Wassertouris- für die wassersportliche Nutzung von Natura-2000-Flä- mus ein weiterer Bereich hinzugefügt werden, von dem chen getroffen. Seit Sommer 2001 bieten dort Kanusport er ganz sicherlich profitieren und der ihn attraktiver ma- und Kanutouristik über eine Begleitservicebörse techni- chen kann. sche und fachliche Hilfestellungen an. Gemeinsam mit den Natur- und Umweltschutzverbänden wurden ver- Vielen Dank. bindliche Regeln für das Befahren festgelegt, um sen- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sible Gewässer zu schonen und zu erhalten. Genau diese und bei der SPD) Entwicklung wollen wir mit unserem Antrag fördern und stabilisieren. Deshalb wollen wir zum Beispiel Wasser- sportverbänden Gelder zur Verfügung stellen, mit denen Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: die Schulungs- und Ausbildungsarbeit für naturverträgli- Jetzt hat der Kollege Goldmann das Wort. (B) chen Wassertourismus in Gang gesetzt werden kann. (D) (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Wo steht Hans-Michael Goldmann (FDP): denn das in Ihrem Antrag?) Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nachdem wir eben das Thema Sperrzeiten für Außen- Durch das neue Bundesnaturschutzgesetz wurde die gastronomie hatten, sind wir uns sicherlich darin einig, Möglichkeit freiwilliger Vereinbarungen deutlich ge- dass wir die Regelungen ändern müssen, um unsere stärkt. Wo immer das nötig ist, sollen diese auch beför- Chancen im Tourismus zu erhöhen. Wir sind uns bei die- dert und angewandt werden. Ein gutes Beispiel hierfür sem Thema im Grundsatz darin einig, dass der Wasser- ist die zwischen dem WWF Deutschland und dem tourismus Potenzial hat und dass man dieses Potenzial Landesanglerverband Mecklenburg-Vorpommern abge- sicherlich weiterentwickeln kann. schlossene Kooperationsvereinbarung zum Projekt „Na- turschutz und Wassersport auf dem Greifswalder Bod- Wenn man die Länder vor seinem geistigen Auge Re- den und Strelasund“. Die Einhaltung dieser Regeln wird vue passieren lässt, dann fällt einem für Berlin ein, freiwillig und ehrenamtlich durch so genannte Revierlot- welch riesiges Potenzial das Wasser für diese Stadt dar- sen kontrolliert. Das geht, auch ohne den Tourismus zu stellt. Gleiches gilt für Länder wie Bayern. In diesem behindern. Zusammenhang ist besonders ein Bundesland im Osten Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist schon gesagt zu nennen, Mecklenburg-Vorpommern. Stellt man sich worden: In Deutschland sind aktuell 650 Befahrensre- einmal Mecklenburg-Vorpommern ohne die touristi- gelungen bekannt. Das kann man nicht als übersichtlich schen Chancen vor, dann wäre die Situation dort noch bezeichnen. Es ist sicherlich richtig, dass sich dort etwas verheerender, als sie sich schon im Moment darstellt. ändern muss. Wir regen in unserem Antrag daher an, Bei diesem Thema gibt es also viele Gemeinsamkeiten. dass die Bundesländer Kriterien für übergreifende fluss- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie einheitliche Befahrensregelungen für den naturverträgli- der Abg. Annette Faße [SPD]) chen Wassersport entwickeln und ein einheitliches Ver- fahren beschließen, wie diese regional anzuwenden sind. Wir sollten ehrlich miteinander umgehen und genau Hier kann man sicherlich auch auf die große Kompetenz in die Anträge hineinschauen. Frau Kurth, ich finde es des Bundesamtes für Naturschutz zurückgreifen. sehr mutig, was Sie gesagt haben. Aber vom barriere- freien Wassertourismus steht in Ihrem Antrag nichts. Hilfreich ist es sicherlich auch, wenn sich die Länder auf eine einheitliche wasserseitige Hinweisbeschilde- (Undine Kurth [Quedlinburg] [BÜNDNIS 90/ rung einigen könnten, die nicht nur deutlich macht, was DIE GRÜNEN]: Doch!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. April 2004 9553

Hans-Michael Goldmann (A) Ich finde es auch mutig, was Kollegin Faße zum Aus- der ernst zu nehmende Anbieter von Campingplätzen ei- (C) bau verschiedener Bereiche gesagt hat. Liebe Kollegin genverantwortlich erfüllt. Das ist aber nicht etwas, was Faße, da wir uns auch von der Arbeit in der parlamenta- in Ihrem Antrag so festgeschrieben ist, dass daraus eine rischen Gruppe „Binnenschifffahrt“ kennen, kann ich parteipolitische oder eine regierungspolitische Forde- mir nicht vorstellen, dass du die Aufwendungen für Bau- rung abgeleitet werden kann. betrieb und die Erhaltung der Wasserstraßen in Höhe von 1,4 Milliarden Euro ernstlich begrüßt. Bei jeder an- Das Gleiche gilt für die Bereiche im Natur- und Um- deren Veranstaltung fordern wir für den Ausbau von weltschutz, die Sie angesprochen haben. Ich bin dafür, Wasserstraßen wesentlich mehr. Allein für den Unterhalt dass wir den Tourismus im Einklang mit dem Natur- der Wasserstraßen ist mehr Geld nötig. Da hilft auch die schutz entwickeln. Wenn Sie sich vor Ort erkundigen Einladung nach Cuxhaven nichts mehr. Man sollte schon würden, dann würden Sie wissen, was an der Küste in ehrlich sagen, dass die früheren Anträge von CDU/CSU dieser Hinsicht schon alles passiert. Sehr interessant und FDP sehr viel weitgehender waren, um den Wasser- finde ich, dass Sie so etwas unter dem Punkt „Der Deut- tourismus insgesamt zu stärken. sche Bundestag fordert die Bundesregierung auf“ in den Raum stellen und dort keine einzige Forderung nach (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Vereinbarkeit von touristischen Interessen und Natur- schutzinteressen erheben. Ich finde die Forderung Nr. 10, die Einführung einer nutzergerechten Jahresvignette für Sport- und Frei- Ich bin dafür, dass wir den Tourismus weiterentwi- zeitboote zu prüfen und diesen Prüfauftrag gleichzeitig ckeln und der Naturschutz dabei bewahrt bleibt. Denn dadurch abzuarbeiten, bereits gestellten Forderungen ohne gesunde Natur gibt es auch keinen erholsamen nachzukommen, eigenartig. Ich meine, dass eine solche Tourismus. In diesem Sinne werden wir die Arbeit in Vignette nun wirklich nicht geeignet ist, den Wassertou- den Ausschüssen begleiten. rismus in Deutschland zu fördern. Herzlichen Dank. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Kurth? Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Gabriele Hiller- Hans-Michael Goldmann (FDP): Ohm. Ja. (B) Gabriele Hiller-Ohm (SPD): (D) Undine Kurth (Quedlinburg) (BÜNDNIS 90/DIE Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Am GRÜNEN): 12. Juni findet zum zweiten Mal in Europa der Tag des Herr Goldmann, würden Sie mir zustimmen, dass sich Wassersports statt. Die deutsche Wassersportbranche ist folgender Absatz durchaus mit Barrierefreiheit befasst? dabei. Unter dem Motto „Go Boating“ werden an vielen In unserem Antrag heißt es wörtlich: deutschen Seen und Flüssen und auch an den Küsten Die Tourismuswirtschaft sollte sich bei der Erstel- Menschen eingeladen, die unterschiedlichsten Wasser- lung wassertouristischer Angebote auf die wach- sportarten kennen zu lernen und selbst auszuprobieren. sende Nachfrage nach barrierefreien Angeboten Die Branche nutzt den Tag, um gemeinsam mit dem einstellen. Barrierefreiheit wird zukünftig Quali- Tourismus für ihre Angebote zu werben und auf die be- tätsmerkmal eines erfolgreichen Deutschlandtouris- achtliche wirtschaftliche Bedeutung des Wassersports mus sein. Bei den wassertouristischen Angeboten hinzuweisen. Der jährliche Gesamtumsatz – darauf wie auch bei dem Ausbau der dafür nötigen Infra- wurde schon hingewiesen – beträgt 1,7 Milliarden Euro. struktur ist Barrierefreiheit weitgehend zu ermögli- Das kann sich sehen lassen. chen. Wassersport ist also ein ganz wichtiger Bereich. Was- Oder sehen Sie hier keinen Bezug zur Barrierefreiheit? sertourismus ist noch umfassender. Er schließt auch Übernachtungen an Land und auf dem Wasser und land- seitige Angebote ein. Es ist eigentlich nicht zu fassen: Hans-Michael Goldmann (FDP): Obwohl rund 17 Millionen Deutsche in ihrer Freizeit Selbstverständlich; denn in dem beschreibenden Cha- und im Urlaub aufs Wasser gehen, wurde dem Wasser- rakter haben Sie im Grunde genommen alles zusammen- tourismus bisher nur relativ wenig Beachtung geschenkt. gefasst. Entscheidend für einen Antrag ist aber, welche Wichtige Basisdaten und Nutzungskonzepte fehlen. Mit Forderungen erhoben werden. Dafür gibt es in Ihrem der Studie „Wassertourismus in Deutschland“, die von Antrag den Abschnitt III: „Der Deutsche Bundestag for- der SPD und den Grünen in Auftrag gegeben wurde dert die Bundesregierung auf“. In diesem Abschnitt for- – übrigens lange bevor Sie überhaupt an Wassertouris- dern Sie eben nicht die Bundesregierung auf, mus gedacht haben – ist jetzt zum Glück eine Grundlage (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten geschaffen. der CDU/CSU) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten sondern Sie fordern etwas von der Tourismuswirtschaft, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – La- was die Tourismuswirtschaft, jeder gute Hotelier und je- chen bei der FDP) 9554 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. April 2004

Gabriele Hiller-Ohm (A) Die Studie ist nicht ohne Echo geblieben. Kommunen halb integrierte Schutz- und Nutzungskonzepte, an de- (C) und Bundesländer erkennen zunehmend die Potenziale, ren Erstellung Wassersportler und Naturschützer glei- die der Wassertourismus besonders auch für struktur- chermaßen beteiligt werden. Davon war in Ihrem Antrag schwache Regionen bietet. nichts zu lesen. (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Wenn wir (Beifall bei der SPD) auf euch gewartet hätten, wären wir schon pleite in diesem Bereich!) Wir haben gelernt, dass der Wassertourismus ein inte- ressanter Wirtschaftsfaktor ist. Wassertourismus bietet Ich nenne ein Beispiel: Mecklenburg-Vorpommern kann aber noch mehr. Er hat auch eine wichtige soziale Kom- als eines von wenigen Bundesländern umfassende Ent- ponente. Denn gerade die Vielfalt dieses Segments er- wicklungs- und Nutzungskonzepte vorweisen, die nun möglicht nahezu allen gesellschaftlichen Gruppen die umgesetzt werden müssen. Teilnahme. Nicht nur sportlich aktive, sondern auch in (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Aufgrund ihrer Mobilität eingeschränkte Menschen, Senioren, Fa- eurer Studie!) milien mit Kindern und Menschen mit kleinem Geldbeu- tel können Angebote in, an und auf dem Wasser nutzen. Das Klein-Klein wurde überwunden. Man denkt und plant zunehmend überregional und vernetzt systematisch Ich fasse zusammen: Es gibt gute Gründe, den Was- wasser- und landseitige Angebote zu attraktiven touristi- sertourismus in Deutschland mit Nachdruck zu fördern. schen Highlights. Wir kurbeln die Wirtschaft an, schaffen Arbeitsplätze, stärken strukturschwache Regionen und schaffen attrak- (Beifall bei der SPD) tive Urlaubs- und Freizeitangebote für alle. Packen wir es gemeinsam an! Das schafft Arbeitsplätze und stärkt die Region. Das ist der richtige Weg. Andere Bundesländer, beispielsweise (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Schleswig-Holstein, woher ich komme, ziehen nach. DIE GRÜNEN) Doch reicht das aus? Nein. Wassertourismus muss ein gesamtdeutsches Thema sein, denn das Wasser hört nicht Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: zwangsläufig an den Landesgrenzen auf. Ich schließe damit die Aussprache. (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Ehrlich nicht?) Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 15/2667 an die in der Tagesordnung aufge- Alle Fraktionen im Bundestag haben sich angesprochen führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit (B) gefühlt und zu unterschiedlichen Zeitpunkten Anträge einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überwei- (D) eingebracht. Es gibt – Herr Sebastian hat darauf hinge- sung so beschlossen. wiesen – viele Übereinstimmungen. Die Unterschiede hat Frau Kollegin Kurth beschrieben. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf: Im Zusammenhang mit dem Thema Vignette werden Beratung der Unterrichtung durch die Bundes- wir sicherlich noch oft Gelegenheit haben, uns auszutau- regierung schen und auch in dieser Frage einen richtigen Weg für Wohngeld- und Mietenbericht 2002 den Wassertourismus zu finden. Ich bin alles in allem zuversichtlich, dass wir im Bundestag gemeinsam etwas – Drucksache 15/2200 – für den Wassertourismus erreichen werden. Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f) Ich möchte nun auf zwei Forderungen aus unserem Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Antrag eingehen. Erstens. Die Potenziale des Wassertou- Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung rismus sind in Deutschland trotz guter Wachstumsper- spektiven noch lange nicht ausgeschöpft. Oft fehlt es an Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Koordination und an der Vernetzung von Angeboten und Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Ich höre kei- Akteuren. Wir fordern deshalb die Einrichtung einer län- nen Widerspruch. – Dann ist so beschlossen. derübergreifenden Koordinierungsstelle, die diese Die Kollegin Petra Pau hat darum gebeten, ihre Rede Vernetzung voranbringen soll. zu Protokoll geben zu können1), wie sie es auch schon (Beifall bei der SPD) bei Tagesordnungspunkt 9 – verbesserter Schutz der Pri- vatsphäre – getan hat, was wir hiermit im Protokoll fest- Zweitens. Wir wollen unsere Gewässer touristisch halten2). Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der stärker erschließen. Wir müssen dabei sicherstellen, dass Fall. wir die Grundlagen, die wir nutzen wollen, nicht zerstö- ren. Dann eröffne ich jetzt die Aussprache für diejenigen, die ihre Redezeit nutzen wollen. Als erster Redner hat (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Das ist der Parlamentarische Staatssekretär Achim Großmann richtig!) das Wort. Durch Information und Aufklärung sowie durch eine gute Beschilderung und Besucherlenkung kann viel für 1) Anlage 5 den Schutz der Natur erreicht werden. Wir fordern des- 2) Anlage 4 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. April 2004 9555

(A) Achim Großmann, Parl. Staatssekretär beim Bun- von Zeit zu Zeit überprüfen und es bei steigenden (C) desminister für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen: Mieten entsprechend anpassen. Bis 1990 wurden Anpas- Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol- sungen im Abstand von jeweils drei bis vier Jahren vor- legen! Die Bundesregierung berichtet dem Bundestag re- genommen. Aber in den 90er-Jahren ist von der Vorgän- gelmäßig über die Entwicklung der Mieten und die gerregierung keine weitere Anpassung vorgenommen Durchführung des Wohngeldgesetzes. Der vorliegende worden mit der Folge einer massiven Verschlechterung Wohngeld- und Mietenbericht 2002 umfasst den Zeit- der Leistungsfähigkeit dieses Instrumentes. raum von 1999 bis 2002. Mit der neuen Wohngeldnovelle haben wir nun – das Die Mitte der 90er-Jahre eingetretene Entspannung habe ich schon erwähnt – deutliche Verbesserungen er- der Wohnungsmärkte hat sich auch im Berichtszeitraum zielen können. Ich möchte das mit einigen wenigen Zah- in den meisten Regionen fortgesetzt. Dies zeigt sich in len unterlegen. Der durchschnittliche Wohngeldanspruch der moderaten Mietenentwicklung. Der Mietenindex bestehender Empfängerhaushalte, das heißt der Haus- netto kalt ist während des Berichtszeitraums mit maxi- halte, die bereits vor der Reform Wohngeld erhielten, er- malen jährlichen Steigerungsraten von 1,4 Prozent nur höhte sich in den alten Bundesländern um rund 42 Euro geringfügig gestiegen. Im Vergleich mit der Mietenent- auf 122 Euro monatlich und in den neuen Bundesländern wicklung der letzten Berichtsperiode ist eine deutliche – hier lag der Wohngeldanspruch aufgrund der vorher Preisberuhigung bis 2003 erkennbar. bestehenden Mietensituation schon höher – um rund Der Neubauboom Mitte der 90er-Jahre hat nicht nur 7 Euro auf rund 97 Euro monatlich. Bei Empfängern, die kurzfristig die damals bestehenden Versorgungsengpässe 2001 erstmals oder wieder Wohngeld erhielten, belief beseitigt. Die anhaltend moderate Mietenentwicklung si- sich der durchschnittliche Wohngeldanspruch in den al- gnalisiert, dass auch bei reduzierter Neubautätigkeit die ten Bundesländern auf rund 32 Euro pro Monat und in Wohnungsmärkte im Allgemeinen weiterhin entspannt den neuen Bundesländern auf rund 22 Euro pro Monat. sind. Interessant ist die Zahl der Empfängerhaushalte. Dazu Die Unterschiede zwischen den einzelnen regionalen sagt der Bericht Folgendes aus: Bundesweit stieg die Wohnungsmärkten vertiefen sich aber zusehends. Auf Anzahl der Haushalte, die Empfänger von allgemeinem der einen Seite gibt es Wachstumsregionen wie Mün- Wohngeld sind, 2001 im Vergleich zu 1998 um rund chen und andere westdeutsche Ballungsräume, die in- 332 000, also um 22 Prozent auf 1,83 Millionen an. Da- folge einer dynamischen Wirtschaftsentwicklung und re- mit erhielten rund 4,8 Prozent aller Haushalte in gionaler Bevölkerungszuwächse überdurchschnittliche Deutschland ein angemessenes allgemeines Wohngeld. Mietsteigerungen aufweisen. Auf der anderen Seite si- Im Jahr 2000, also vor der Reform, waren das noch 3,9 Prozent. (B) gnalisieren die umfangreichen Wohnungsleerstände in (D) den neuen Bundesländern und teilweise auch in west- deutschen Städten einen dauerhaften Angebotsüberhang Beim besonderen Mietzuschuss sank die Zahl der im Geschosswohnungsbereich mit schwerwiegenden Empfängerhaushalte 2001 um rund 350 000 auf Belastungen für Stadtentwicklung und Wohnungswirt- insgesamt etwa 992 000. Dieser Rückgang ist im We- schaft. Der Wohnungsleerstand hat sich jedoch in den sentlichen eine Folge der Reform, die aufgrund der not- neuen Bundesländern im Zeitraum von 1998 bis 2002 wendigen Neuberechnung des Wohngeldes bei Sozial- nur moderat um circa 140 000 auf 1,1 Millionen Woh- hilfeempfängerhaushalten eine statistische Bereinigung nungen erhöht, übrigens mit deutlichen Unterschieden nach sich zog. Bei dieser Gelegenheit haben wir auch zwischen den einzelnen neuen Bundesländern. Im Be- sehr viele Ungereimtheiten in der Statistik beseitigen richtszeitraum und auch in jüngster Zeit, das heißt im können. Der durchschnittliche Wohngeldanspruch pro Jahr 2003 und im laufenden Jahr 2004, hat sich die Leer- Monat liegt nach der Reform beim besonderen Mietzu- standszunahme aber deutlich verlangsamt. schuss bei 166 Euro in den alten Bundesländern und bei 136 Euro in den neuen Bundesländern. Wichtige Wohnungsversorgungsindikatoren haben sich verbessert. Die Zahl der Eigentümerhaushalte hat Die Überschreiterquote, das heißt die Quote derjeni- enorm zugenommen. Die Eigentümerquote ist bundes- gen, deren Miete so hoch ist, dass sie bei der Bemessung weit um über 8 Prozent gestiegen. In den alten Bundes- des Wohngeldanspruchs nicht voll berücksichtigt wer- ländern ist sie um 7,2 Prozent auf 44,6 Prozent und in den kann, war beim Tabellenwohngeld auf rund den neuen Bundesländern um 13 Prozent auf 34,2 Pro- 77 Prozent angewachsen. Wir haben sie durch die Re- zent aller Haushalte gestiegen. Bei Familien mit Kindern form auf rund 50 Prozent in den alten Bundesländern ge- liegt die Eigentümerquote bei fast 48 Prozent. Hier ist senkt. Mehr war aufgrund der Tatsache, dass man zehn ein deutlicher Zuwachs in den letzten Jahren erfolgt. Jahre lang nichts gemacht hat, einfach nicht möglich; denn das wäre nicht finanzierbar gewesen. Schwerpunkt des Berichts ist aber die am 1. Januar 2001 in Kraft getretene Wohngeldnovelle. Auf sie kön- Insgesamt kann der Bericht durchaus Erfolge ver- nen wir wirklich stolz sein; denn hier haben wir einiges zeichnen. Auf diesen werden wir aufbauen, wenn wir bewegt. Wohngeld ist ein unverzichtbares Element einer das, was in Zukunft im Mieten- und Wohngeldbereich grundsätzlich marktwirtschaftlich ausgerichteten und so- notwendig ist, anpacken werden. zial verantwortlichen Wohnungspolitik, das sich durch hohe soziale Treffsicherheit, ökonomische Effizienz und Zum Schluss möchte ich noch daran erinnern, dass Verlässlichkeit für den Bürger auszeichnet. Wohngeld ist wir im Rahmen des Hartz-IV-Gesetzes die Wohngeld- aber nur dann ein taugliches Instrument, wenn wir es regelungen umfassend reformieren. Der nächste 9556 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. April 2004

Parl. Staatssekretär Achim Großmann (A) Wohngeld- und Mietenbericht wird also sicherlich wie- setzen, damit sie auch in Zukunft auf dem Mietwoh- (C) der interessante Details beinhalten. nungsmarkt zuverlässig auftreten können. Das Ganze ist eine etwas trockene Materie, zumal Aber auch bei einem anderen Punkt, nämlich bei den dann, wenn man einige Zahlen referieren muss. Aber wir Wohnnebenkosten, werden keine Lösungen bestehen- haben vielleicht im Ausschuss die Gelegenheit, darüber der Probleme aufgezeigt. In den letzten zehn Jahren stieg lebhafter zu diskutieren. der Anteil der Wohnnebenkosten an der Bruttomiete überproportional an. Dafür gibt es Gründe. Welche sind (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Aber wir haben ganz das? Zum Beispiel sind die Gaspreise seit 1999 um begeistert und konzentriert zugehört!) 40 Prozent gestiegen, die Preise für flüssige Brennstoffe – Selbst der Vorsitzende des Ausschusses erteilt ein Lob. um 37 Prozent und die Kosten von Strom und Müll um über 8 Prozent. Die Lebenshaltungskosten sind im Zeit- Ich danke für die Aufmerksamkeit. raum 1999 bis 2003 um immerhin 6,4 Prozent gestiegen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Die Wohnnebenkosten sind in diesem Zeitraum hinge- DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der gen um 7 Prozent angewachsen. FDP – Eduard Oswald [CDU/CSU]: Mein Die Gründe für die steigende Kostenbelastung der Zwischenruf kann nicht als solches bewertet Mieter sind von Rot-Grün politisch gewollt. Ständige werden!) Anhebungen von Standards, zum Beispiel in der Um- welttechnik, die damit einhergehende Anhebung der Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: kommunalen Gebühren und die Einführung der Öko- Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Gero Storjohann. steuer wirken sich auf die Kostenstruktur der Mieter- haushalte erheblich aus. Gero Storjohann (CDU/CSU): (Franziska Eichstädt-Bohlig [BÜNDNIS 90/ Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! DIE GRÜNEN]: Das stimmt doch gar nicht! Wir diskutieren heute über den Wohngeld- und Die Heizkosten sind minimal von der Öko- Mietenbericht 2002. Ich möchte vorab die Gelegenheit steuer belastet!) wahrnehmen, den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Aber nicht nur die Mieter, sondern auch die Vermieter Ministeriums für die Erstellung dieses Berichts, der für sind an niedrigen Nebenkosten interessiert. Hohe Be- uns Wohnungspolitiker wichtige Strukturdaten enthält triebskosten verringern die Bereitschaft zur Zahlung der und der auch wichtige Entwicklungen aufzeigt, herzlich Miete und führen zu verwaltungsaufwendigen Abrech- zu danken. nungen. Bei der Frage nach der Finanzierbarkeit ange- (B) (D) Wohnen ist ein Grundbedürfnis. messener Wohnungen muss natürlich auch die Wirkung des Wohngeldes einbezogen werden. (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Sehr wahr!) Im Wohngeld- und Mietenbericht 2002 betont die Mit den politischen Entscheidungen im Bundestag oder Bundesregierung, dass durch die am 1. Januar 2001 in in der Regierung greift man in das Spiel der Kräfte auf Kraft getretene Wohngeldreform der Kreis der Empfän- dem Wohnungsmarkt erheblich ein. Auch deswegen ist gerhaushalte erweitert wurde. 3,1 Millionen Haushalte es gut und – auch zur eigenen Kontrolle – unerlässlich, – das macht circa 8 Prozent aller deutschen Haushalte dass wir von der Regierung regelmäßig informiert wer- aus – empfingen 2002 Wohngeld. Im Jahre 2002 wurden den. Der Parlamentarische Staatssekretär hat auf das 4,5 Milliarden Euro an Wohngeld je zur Hälfte vom Wort „regelmäßig“ natürlich Wert gelegt. Dieser Begriff Bund und den Ländern gezahlt, davon 3,5 Milliarden ist dieses Mal etwas gedehnt worden, weil wir, die Parla- Euro in den alten und 1 Milliarde Euro in den neuen mentarier, einer Verlängerung der Frist um ein halbes Ländern. Jahr zugestimmt haben, da es bei der Datenermittlung erhebliche Probleme gab. Die Art der Darstellung im Bericht vermittelt den Eindruck, die Bundesregierung sei auf diese Entwick- Insgesamt wird in diesem Bericht festgestellt, dass lung stolz. Darin kommt jedoch zum Ausdruck, dass die sich die Wohnungsmärkte in Deutschland aus der Sicht rot-grüne Wirtschaftspolitik gescheitert ist. Massenar- der Nachfrager in einer sehr günstigen Verfassung prä- beitslosigkeit und Nullwachstum schlagen sich unmittel- sentieren. Die überwiegende Zahl der Haushalte sei mit bar in der Höhe des Wohngelds und in der Anzahl der Wohnraum gut bis sehr gut versorgt. In den meisten Re- Wohngeldempfänger nieder. gionen sehe man sich einem umfangreichen Angebot zu (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. erschwinglichen Mieten gegenüber. Eberhard Otto [Godern] [FDP]) Was die Bundesregierung hier feiert, stellt jedoch in Die wachsende Zahl von Wohngeldempfängern ist Wirklichkeit auch eine gewisse Gefahr dar. Wir Woh- nichts anderes als das Ergebnis einer gescheiterten Wirt- nungspolitiker kennen den Schweinezyklus. Unser Be- schaftspolitik von Rot-Grün. streben war es immer, dem entgegenzuwirken. Wir müs- sen jetzt Investoren finden, die es in dieser entspannten Der Wohngeldbetrag in Deutschland beläuft sich im Marktsituation reizvoll finden, in den Bau neuer Woh- Durchschnitt auf 102 Euro. In den alten Ländern belief nungen zu investieren. Anstatt den Status quo zu loben, er sich auf 109 Euro. In den neuen Ländern blieb er mit muss die Bundesregierung also Signale für Investoren 89 Euro weitgehend gleich. Besonders Ein- und Zwei- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. April 2004 9557

Gero Storjohann (A) personenhaushalte sind Empfänger von Wohngeld. Im- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (C) mer mehr Menschen können ihre Miete nicht mehr allein und bei der SPD – Dirk Fischer [Hamburg] aufbringen und sind daher auf Wohngeld angewiesen. [CDU/CSU]: Abkassieren ist Ihre Leiden- schaft!) In Ihrem Koalitionsprogramm haben Sie eine Verbes- serung des Wohngeldes für die laufende Legislaturperiode Zum Thema. Wir sollten uns darüber freuen, dass der in Aussicht gestellt. Im Dezember 2003 fühlte sich die Bericht tatsächlich hergibt, was inzwischen eigentlich je- Bundesregierung wegen des starken Anstiegs der Wohn- der im Alltag spürt, nämlich dass in weiten Teilen von geldausgaben von Bund und Ländern aber zu deutlichen Deutschland die Wohnungsmärkte wirklich entspannt Einsparungen angeregt. sind und dass es Wohnungsengpässe nur noch in den großen Wachstumszentren – in der Münchner Region, in Durch den Beschluss des Vermittlungsausschusses Stuttgart, in Frankfurt/Main, in Düsseldorf und im Ham- vom 15. Dezember letzten Jahres wurde festgelegt, dass burger Raum – gibt. Ansonsten – auch das zeigt der die Bundesregierung das Wohngeldrecht mit dem Ziel Wohngeld- und Mietenbericht sehr deutlich – ist die deutlicher Einsparungen strukturell überarbeiten wird. Wohnsituation gut bis sehr gut. In Ostdeutschland gibt es Dies hat sicherlich eine nachhaltige Kürzung des sogar einen bedrohlichen Wohnungsüberschuss. Einer- Wohngelds für den Zeitraum ab 2005 zur Folge. Seit- seits sollte man das positiv bewerten und nicht daran he- dem ist allerdings unklar, was mit dem Wohngeld wirk- rummäkeln, aber andererseits sollte man prüfen, was lich geschehen soll. daraus politisch folgt. Auf meine Anfrage antwortete die Bundesregierung Bevor ich dazu ein paar Sätze sage, zum Wohngeld am 14. April, die Prüfung, auf welche Weise die Umset- noch einmal ganz klar Folgendes: Das Wohngeld ist ge- zung der auf die Haushaltsjahre ab 2005 bezogenen Pro- rade auch seit der Wohngeldnovelle von 2001 ein ganz tokollerklärung erfolgen könne, sei innerhalb der Bun- zentrales Instrument für Haushalte mit niedrigem Ein- desregierung noch nicht abgeschlossen. kommen. Von allen Seiten wird anerkannt, dass es in der Daraufhin mahnte der Mieterbund an, keine Kürzun- Relation von Mietbelastung, Wohnungsgröße, Haus- gen beim Wohngeld vorzunehmen. Sofort meldete sich haltsgröße und Einkommen die treffsicherste Form der der Herr Minister Stolpe zu Wort und erklärte, er halte Subvention ist. Dabei kommt es nur zu einem Minimum Wohngeldkürzungen für nicht vertretbar. So wie wir die an Fehlsubventionen – im Unterschied zu vielen anderen Standhaftigkeit unseres Ministers und seinen Umgang Subventionen, die bis heute noch gewährt werden. Von mit semantischen Feinheiten kennen, müssen wir davon daher sage ich auch in Ihre Richtung ganz deutlich, dass ausgehen, dass im Ministerium bereits intensiv an einer ich die Empfehlung des Vermittlungsausschusses, das (B) Wohngeldkürzung gearbeitet wird. Wohngeld zu kürzen, aus sozialpolitischen Gründen (D) nicht für verantwortbar halte. Das Parlament und die Öffentlichkeit erwarten, dass in naher Zukunft klar aufgezeigt wird, was Sie bezüglich Jetzt noch ein paar Sätze zu Herrn Storjohanns Angst des Wohngeldes wollen. vor dem Schweinezyklus. Wenn Sie sich nicht nur die Wohnungsbestände, die ja überwiegend morgen nicht (Beifall bei der CDU/CSU) abgerissen und verschwunden sein werden, sondern bei Bedarf auch wirklich bewohnt werden, sondern auch die Meine Damen und Herren, ich fordere Sie auf: Regieren demographische Entwicklung anschauen, die uns in den Sie, handeln Sie, schaffen Sie Klarheit beim Wohngeld! nächsten zehn, zwanzig bzw. dreißig Jahren erwartet, Dann ist uns allen wohler. dann dürften Sie keinen Grund mehr finden, hier Angst (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) vor einem Schweinezyklus zu wecken. Vielmehr müss- ten Sie aufgrund der Aussagen dieses Wohngeld- und Mietenberichts zu dem Schluss kommen, dass die Politik Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: die quantitative Ausweitung des Wohnungsangebotes Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Franziska nicht fördern darf. Demzufolge haben wir nämlich eine Eichstädt-Bohlig. gute bis sehr gute Wohnversorgung, sowohl bezüglich der Quadratmeterzahl pro Einwohner als auch bezüglich Franziska Eichstädt-Bohlig (BÜNDNIS 90/DIE der Wohnqualität aller Schichten der Bevölkerung, und GRÜNEN): das obendrein zu tragbaren Bedingungen. Beispiels- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! weise ist allein die Belastung des Einkommens für Sehr geehrter Herr Kollege Storjohann, zunächst kurz Wohnzwecke in den alten Bundesländern von 25 Prozent der Hinweis: Sie sollten sich das Ökosteuerrecht einmal im Jahre 1998 auf inzwischen 22,2 Prozent gesunken. anschauen. Die Heizkosten sind von der Ökosteuer nur Tatsächlich ist es so, dass der Miet- bzw. Wohnkostenan- minimal betroffen. Beim Benzinpreis ist das etwas ande- stieg geringer ausfällt als die Entwicklung der Lebens- res. haltungskosten. (Zuruf von der CDU/CSU: Aber Kleinvieh Von daher möchte ich noch einmal deutlich darauf hin- macht auch Mist!) weisen, dass der demographische Wandel in den Blick zu nehmen ist. Da ich nach wie vor der Marktwirtschaft Man sollte schon genauer hinschauen, wenn man über positiv gegenüberstehe, müssen sich meiner Meinung die Heizkostenentwicklung redet. nach als allererstes die Eigentümer und Grundbesitzer 9558 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. April 2004

Franziska Eichstädt-Bohlig (A) diese Zeichen der Zeit zu Eigen machen. Das heißt, sie – Moment. – Ich bin Abgeordneter des Deutschen Bun- (C) müssen sich in neuer Weise auf Konkurrenz einstellen destages und habe zugleich ein kleines Wohnungsunter- und deshalb ihre Wohnungsbestände für die Zukunft fit nehmen in den neuen Ländern, und zwar in Mecklen- machen. Das heißt, auf der einen Seite muss der Wohn- burg-Vorpommern. standard angepasst werden, indem sie modernisiert wer- (Siegfried Scheffler [SPD]: Das ist schon ein- den, damit dieses Wohnungsangebot auch nachgefragt mal gut!) wird. Auf der anderen Seite muss gleichzeitig die ener- getische Sanierung – das sage ich als Mitglied der Grü- Ich weiß, wovon ich hier rede. Deswegen kann ich fest- nen, die sich ja für eine umfassende Förderung solcher stellen, dass es sich hierbei um ein ganz brisantes Thema Maßnahmen eingesetzt haben – vorangetrieben werden. handelt. Eigentlich hätte ich mir gewünscht, dass dieses Wenn die Wohnungen so auf Vordermann gebracht wer- Thema nicht erst heute Abend, da wir alle schon ein we- den, sinken die Wohnnebenkosten so, wie Sie es sich nig müde sind, hier behandelt wird, sondern schon heute eben gewünscht haben. Ich glaube, es gibt kein besseres Vormittag behandelt worden wäre. Insgesamt ist es näm- Instrument als ein solches, welches gleichzeitig für eine lich ein ganz heißes Thema. Senkung der Heizkosten und des CO2-Ausstoßes sorgt. Wohngeld hat ja in den neuen Bundesländern eine Das halte ich für sehr wichtig. weitaus größere Bedeutung als in den alten Bundeslän- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN dern. So beträgt der Anteil der Wohngeldempfänger in sowie bei Abgeordneten der SPD – Horst den neuen Ländern 11,6 Prozent gegenüber 6,4 Prozent Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Sie machen das in den alten Ländern. Wenn ich dann sehe, dass der An- Gegenteil!) teil gerade erst auf 11,6 Prozent gestiegen ist, weil auf- grund der miserablen Gesamtlage der Wirtschaft auch – Wir machen nicht das Gegenteil. die Zahl von Arbeitslosen und Sozialhilfeempfängern gestiegen ist, muss ich diese Zahl natürlich gesondert Ich glaube, dass auch die Kommunen das sehr ernst werten. nehmen sollten. Insbesondere die Städte müssen aufpas- sen, dass sie nicht durch Siedlungserweiterungen im Auch bei Neuregulierungen und Veränderungen geht Umland geschwächt werden, denn in dem Moment, da es um Zahlenspiele. Ich habe insbesondere in den letzten die Wohnungsmärkte ausgeglichen sind, stellt jeder wei- Jahren die Situation beim Wohngeld beobachten können. tere Neubau eine Schwächung des Siedlungsbestandes Ich habe heute eine Reihe von Stunden damit verbracht, viele Bürgermeister anzurufen, um sie zu fragen, wie sie dar. Von daher fordert dieser Wohngeld- und Mietenbe- die Entwicklung sehen; denn ab nächstem Jahr wird die richt auch ein Stück weit Kommunen, Länder und Bund Zahl der Wohngeldberechtigten in den neuen Bundeslän- dazu auf, für ein Ende der Zersiedlung, die den Sied- (B) dern leider sehr stark zunehmen. Das hat dann auch Aus- (D) lungsbestand weiter schwächen würde, zu sorgen. Ich wirkungen auf die Finanzen der Kommunen. Kein halte es nämlich für sehr wichtig, dass der Siedlungsbe- Bürgermeister konnte mir heute eine Antwort auf die stand gestärkt wird. Frage geben, wie das Problem insgesamt gelöst werden Ich möchte zum Schluss noch etwas zur Bauwirt- soll. schaft sagen. Natürlich spiegelt dieser Bericht auch ein (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Das ist das Stück weit die Schwierigkeiten in der Bauwirtschaft wi- eigentlich Entscheidende!) der. Ich halte es politisch aber nicht für verantwortlich, einzig und allein zum Nutzen der Bauwirtschaft wieder Der erhöhte Bedarf an Wohngeld stellt für die Kommu- mehr Neubau zu fördern. Ich halte es aber sehr wohl für nen ein Problem dar. richtig – das tun wir auch –, energetische Sanierung und (Beifall bei der FDP) Stadtumbau in Richtung einer sozialen Stadt zu fördern. Das sind im Gegensatz zur Forderung nach Siedlungser- Das heißt, es wird eine endlose Kette ausgelöst: Der arme Mieter, der das Geld vorher nicht hatte, hat es auch weiterung richtige Instrumente zur Stärkung des Bestan- jetzt nicht, bekommt aber teilweise kein Wohngeld mehr. des, Herr Storjohann. Wo bleibt das Problem hängen? – Es bleibt beim Eigen- Danke schön. tümer der Wohnung hängen. Ich habe 1993 den Kommu- nen Wohnungen abgekauft, sie saniert und sie dann den (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Kommunen als Sozialwohnungen zur Verfügung ge- sowie bei Abgeordneten der SPD) stellt. Wenn der Mieter nun aufgrund seines geringen Einkommens die Miete nicht zahlen kann – ich habe das Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: selber überprüft und festgestellt, dass es genau so ist: Viele Mieter haben das Geld nicht –, aber aus dem Kreis Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Eberhard Otto. derjenigen herausfällt, die Wohngeld bekommen, ent- steht ein Problem: Die Mietschulden bleiben beim Ei- Eberhard Otto (Godern) (FDP): gentümer, also bei der Kommune oder bei Privatleuten, Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich kann die eine Wohnung bereitgestellt haben, hängen. dem, was Sie, Herr Staatssekretär, gesagt haben, insge- Deswegen kann ich mit Blick auf die Kommunen nur samt nicht so folgen. fordern, die finanzielle Versorgung auf diesem Gebiet entsprechend zu regulieren. (Zuruf von der SPD: Das muss aber an Ihnen liegen!) (Beifall bei der FDP) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. April 2004 9559

Eberhard Otto (Godern) (A) Wir sind als FDP für den Abbau von Subventionen; das Der Wohngeld- und Mietenbericht ist nicht ein Be- (C) ist insgesamt okay. Aber wir sind für einen sinnvollen richt unter vielen, sondern er hat einen ganz besonderen Abbau. Insbesondere im Osten, beispielsweise in Meck- Stellenwert. Immerhin sind 57 Prozent der 39 Millionen lenburg-Vorpommern, wäre eine weitere Reduzierung Wohnungen in Deutschland Mietwohnungen. Rund des Wohngeldes oder eine nicht genügende Absicherung 3,2 Millionen Haushalte beziehen allgemeines bzw. be- tödlich. sonderes Wohngeld. Dann gibt es eine weitere Regelung, die ebenfalls be- Es ist schon darauf hingewiesen worden – die Zahlen achtet werden sollte – sie wird in Deutschland sehr un- sind genannt worden –, dass es im Zeitraum 1999 bis terschiedlich gehandhabt –, nämlich dass das Wohngeld 2002 einen sehr moderaten Anstieg der Mieten gegeben direkt dem Eigentümer bzw. dem Betreiber zur Verfü- hat. Das ist erfreulich. Aber Herr Storjohann, eine glei- gung gestellt wird, um eine Zweckentfremdung zu ver- che Entwicklung ergab sich bei den Wohnnebenkosten. meiden. 1998 betrug der Anstieg immerhin noch 3,6 Prozent. Er Ein weiteres großes Problem ist der Leerstand. ist aber deutlich zurückgegangen. Er lag 2002 lediglich bei 1,3 Prozent. In den 90er-Jahren gab es zwar deutli- che Steigerungsraten. Aber diese haben sich glücklicher- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: weise nach unten entwickelt. Ich glaube, dieses Ergeb- Herr Kollege, beachten Sie bitte, dass Ihre Redezeit nis, das ebenfalls im Bericht enthalten ist, können wir weit überschritten ist. durchaus mit Freude zur Kenntnis nehmen. Eberhard Otto (Godern) (FDP): Auf die Entspannung des Wohnungsmarktes ist schon Wir haben in Mecklenburg-Vorpommern ein wahn- hingewiesen worden. In der Tat haben wir eine gute sinnig großes Problem durch die Abwanderung. Das hat Wohnraumversorgung. Dennoch möchte ich auf Fol- zu sehr viel Leerstand geführt, der sich regelmäßig er- gendes hinweisen: In dem Zeitraum, der dem Bericht zu- höht. grunde liegt, ist die Bevölkerung lediglich um 0,6 Prozent gewachsen, aber die Zahl der Haushalte im- Ein Satz noch zu den Mietpreisen in Mecklenburg- merhin um 2,5 Prozent. Das heißt, 300 000 Haushalte Vorpommern. Die Wohnungen werden zurzeit für 3 bis mehr haben Wohnungen nachgefragt. Diesen Effekt 4 Euro pro Quadratmeter vermietet. Teilweise liegen die müssen wir in den nächsten zehn Jahren bei unseren Betriebskosten – es wurde schon gesagt – höher als die wohnungspolitischen Entscheidungen im Hinterkopf ha- Nettokaltmiete. Das kann nicht sein. Wir müssen dafür ben. kämpfen, dass hier Veränderungen vorgenommen wer- den, denn Wohnen bedeutet Leben. (B) Diese Situation auf dem Wohnungsmarkt hat natür- (D) Danke schön. lich dazu geführt, dass die Zahl der fertig gestellten Wohneinheiten von 473 000 im Jahre 1999 auf (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) 290 000 im Jahre 2002 gesunken ist. Angesichts dieser guten Wohnraumversorgung kann ich überhaupt nicht Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: verstehen, dass Sie, Herr Storjohann, anmahnen, wir Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Wolfgang sollten besondere finanzielle Anstrengungen unterneh- Spanier. men, um Investitionen im Mietwohnungsbau anzure- gen. Wo wollen Sie diese Wohnungen bauen und an wen Wolfgang Spanier (SPD): wollen Sie sie vermieten? In den neuen Bundesländern Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und mit absoluter Sicherheit nicht. Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ein Erstes: Wir haben in einigen kleinen Bereichen noch Bedarf Ich habe nicht ganz verstanden, Herr Otto, was Sie hier an neuen Wohnungen. Aber ansonsten ist der Woh- eigentlich kritisiert bzw. vorgeschlagen haben. Dass sich nungsmarkt flächendeckend ausgeglichen. Es ist voll- die Wohngeldsituation nach der Wohngeldnovelle 2001 kommen richtig, was Frau Eichstädt-Bohlig hier gesagt auch in den neuen Bundesländern verbessert hat, dass hat. Wir müssen uns von der Vorstellung der 80er- und sich in der Zwischenzeit weder an den Einkommens- 90er-Jahre lösen, es komme beim Wohnungsbau auf die grenzen noch an der Höhe etwas geändert hat, das kön- Quantität an. Diese Zeiten sind vorbei. Wir brauchen in nen Sie doch nicht beklagen. einigen Ballungszentren jährlich sicherlich eine gewisse (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Die Kom- Zahl an neuen Wohnungen, damit es eine Erneuerung munen zahlen kein Wohngeld mehr!) des Wohnungsbestandes gibt. Ein Zweites: Es sind nicht die Kommunen, die zum (Zuruf des Abg. Horst Friedrich [Bayreuth] allgemeinen Wohngeld einen Beitrag leisten müssen, [FDP]) sondern diese Kosten teilen sich Bund und Länder. Ich habe daher nicht so ganz verstanden, wie Sie den Ein- Wenn Sie aber, Herr Friedrich, zu Ihrem Bürgermeister druck gewinnen konnten, es könne nicht genügend gehen und ihm anbieten, 10 Millionen Euro in den sozia- Wohngeld gezahlt werden, weil die Kommunen dazu len Wohnungsbau zu investieren, dann wird er dankend nicht in der Lage seien. Darüber müssen wir im Aus- darauf verzichten, weil die Märkte nun einmal ausge- schuss oder an anderer Stelle vielleicht noch einmal in glichen sind. Es wird immer stärker darauf ankommen, Ruhe reden. dass wir die Qualität des Wohnungsbestandes verbessern. 9560 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. April 2004

Wolfgang Spanier (A) Dabei geht es nicht nur um die energetische Modernisie- Renate Blank (CDU/CSU): (C) rung. Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Kollege Ich möchte noch auf das Wohngeld eingehen und Spanier, wir reden vom Mietenbericht 2002 und nicht Herrn Großmann deutlich in seiner Auffassung unter- vom 19. Dezember 2003. Denn der Wohngeld- und Mie- stützen, dass das Wohngeld eine besondere Bedeutung tenbericht belegt doch, dass die rot-grüne Bundesregie- hat. Haushalte mit weit unterdurchschnittlichem Ein- rung die Rahmenbedingungen erneut so verschlechtert kommen beziehen Wohngeld. Es ist durch die Wohn- hat, dass sich Kapitalanleger weiter aus dem Wohnungs- geldnovelle 2001 sozial deutlich treffsicherer geworden. bau zurückgezogen haben. Auch die Änderungen im Auch das ist ein Ergebnis im Bericht, das wir erfreut zur Mietrecht fördern das Vertrauen der Investoren nicht. Kenntnis nehmen können. Investitionen in den Wohnungsbau hängen nicht (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Franziska nur von der staatlichen Förderpolitik, sondern im We- Eichstädt-Bohlig [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- sentlichen auch von den rechtlichen und steuerlichen NEN]) Rahmenbedingungen ab. Die Bundesregierung muss ein wirtschaftliches und rechtliches Klima schaffen, in dem Es war damals vereinbart worden, diese Novelle zu sich die Bürger selbst mit Wohnraum versorgen können. evaluieren. Ich glaube, die Ziele, die wir damals gehabt Der vorgelegte Wohngeld- und Mietenbericht zeigt haben – nämlich Verbesserung der Wohngeldleistung, doch: Dieses Klima hat sich auf Bundesebene seit dem Vereinheitlichung des Wohngeldes Ost und West sowie Regierungswechsel 1998 kontinuierlich verschlechtert. Rechtsvereinfachung –, haben wir in der Tat erreicht, auch was die Rechtsvereinbarung betrifft. Die Bundes- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) länder haben sich entsprechend geäußert. Die seit Jahren festzustellende Stagnation bei privaten Es ist richtig, wir haben einen Beschluss im Vermitt- Investitionen insbesondere in den Mietwohnungsbau ist lungsverfahren gefasst. Wir alle haben am 19. Dezember hierfür die klare Quittung. Die Wohnraumförderung leis- 2003 – da können Sie sich so wenig aus der Verantwor- tet insoweit einen wesentlichen Beitrag zur sozialen Ba- tung ziehen wie wir – diese Protokollerklärung in na- lance und zum Erhalt des sozialen Friedens. Sie haben mentlicher Abstimmung beschlossen. früher von uns wesentlich mehr Mittel dafür verlangt. (Renate Blank [CDU/CSU]: Aber der Bericht Zudem muss den so genannten Schwellenhaushalten ist für das Jahr 2002!) die Bildung von Wohneigentum ermöglicht werden. Die Allerdings enthält diese Protokollerklärung keine Aus- Koalition unterschätzt den Umfang der Wohneigen- tumsförderung. Die Wohneigentumsförderung macht (B) sage dazu, dass das allgemeine Wohngeld gekürzt wer- (D) den soll. Es heißt dort vielmehr, dass es beim Wohngeld zum Beispiel in Bayern rund zwei Drittel der Wohn- zu strukturellen Veränderungen mit einem Einspareffekt raumförderung aus. Sie ist für Familien und als Beitrag kommen soll. Es wird aber zu einer völligen Umkrempe- zur Altersversorgung von erheblicher Bedeutung. Wir lung des Wohngeldes kommen, weil das Wohngeld für messen dem selbst genutzten Wohneigentum einen ho- Sozialhilfeempfänger, also der Fünfte Teil des Wohn- hen sozialpolitischen Rang bei. Es bietet nämlich wirt- geldgesetzes, durch Hartz IV völlig wegfällt. Ich glaube, schaftliche Unabhängigkeit dass schon dies eine deutliche strukturelle Veränderung (Beifall bei der CDU/CSU) ist und zu einem entsprechenden Einspareffekt führt. und unterstützt wie kaum eine andere Geldanlage die Wir sollten uns auf das besinnen, was wir am Vermögensbildung und damit die Altersvorsorge. Die 19. Dezember 2003 beschlossen haben. Ich sehe keinen Koalition hat dies bisher leider noch nicht begriffen. konkreten Auftrag und Beschluss, das Wohngeld zu kür- zen. Die bisherige Entwicklung der Wohngeldausgaben zeigt eindrücklich die damit verbundene Belastung des Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Staatshaushalts. Allein der Freistaat Bayern zahlte im Herr Kollege, denken auch Sie bitte an die Zeit! Jahr 2003 357 Millionen Euro Wohngeld aus – fast dop- pelt so viel wie vor zehn Jahren; damals waren es näm- lich noch 188 Millionen Euro –, um ein angemessenes Wolfgang Spanier (SPD): und familiengerechtes Wohnen zu sichern. Damit ist eine Sehr verehrte Frau Präsidentin, ich komme zum neue traurige Rekordhöhe erreicht. Eine Trendwende ist Schluss. – Dieser Bericht zieht, was die Entwicklung der nicht absehbar. Die verfehlte Steuer- und Arbeitsmarkt- Mieten und des Wohngeldes in Deutschland betrifft, eine politik der Bundesregierung hat dazu geführt, dass im- positive Bilanz. Darüber können wir alle nur froh sein. mer mehr Menschen, insbesondere Alleinerziehende, auf Herzlichen Dank. Wohngeld angewiesen sind. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Ein Tiefpunkt rot-grüner Politik war sicherlich die DIE GRÜNEN) Mietrechtsreform im Jahre 2001 (Franziska Eichstädt-Bohlig [BÜNDNIS 90/ Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: DIE GRÜNEN]: Ein wunderbarer Höhe- Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Renate Blank. punkt!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. April 2004 9561

Renate Blank (A) mit ihrer einseitigen Benachteiligung von Vermietern Aus unserer Sicht hat Rot-Grün bis heute keine aus- (C) und damit von Investoren. Der Einwand der Regierungs- reichende Antwort auf die unterschiedlichen Entwick- koalition, mit der Reform werde immerhin einem umfas- lungen und Probleme der regionalen Wohnungsmärkte senden Mieterschutz Rechnung getragen, ist ideologisch in Deutschland gefunden. Der vorliegende Bericht zeigt, gefärbt, aber auch kurzsichtig. Denn bleiben bei einer dass, wenn Vermieten uninteressant gemacht wird, In- solchen Verschlechterung der Rahmenbedingungen die vestitionen unterbleiben und die Mieten steigen. Wer Investitionen in den Mietwohnungsbau aus, bricht damit also wirklich etwas für die Mieter tun will, muss für aus- auch der Mietermarkt zusammen. Erschwingliche Woh- reichend guten Wohnraum sorgen. nungen werden dann Mangelware, was letztendlich auch auf die Mieter zurückfällt. Gerade in einer Zeit schwacher Konjunktur und knap- per Kassen ist es erforderlich, gemeinsam die Initiative Kollegin Franziska Eichstädt-Bohlig, der tatsächliche für einen innovativen Wohnungsbau zu ergreifen. Wir Bedarf an Wohnungen kann in nächster Zeit steigen, brauchen eine Abstimmung zwischen Wohnungs-, wenn es aufgrund der EU-Osterweiterung zu einer ver- Steuer- und Mietenpolitik sowie stark verbesserte Rah- stärkten Zuwanderung kommt. Das Ifo-Institut schätzt, menbedingungen für den Wohnungsbau – dass in den ersten 15 Jahren nach der EU-Osterweite- rung rund 500 000 Personen aus den neuen EU-Staaten Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: allein nach Bayern kommen werden. Frau Kollegin, denken bitte auch Sie an die Zeit! (Zurufe von der SPD: Oh!) Renate Blank (CDU/CSU): Das Ifo-Institut erwartet, dass sich diese Zuwanderungs- – ich komme zum Schluss –, die in der rot-grünen Re- ströme nicht gleichmäßig verteilen, sondern vor allem gierungszeit leider verloren gegangen sind, damit mehr auf die Ballungsräume konzentrieren werden. Gerade in investiert wird und gerade junge Familien und einkom- den Ballungsräumen besteht ohnehin der größte Neubau- mensschwächere Haushalte davon profitieren können. bedarf. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Winfried Hermann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Das hat man vor 20 Jahren auch gesagt, Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: als die Portugiesen, Spanier und andere ge- Ich schließe damit die Aussprache zu diesem Punkt. kommen sind!) Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Das Etikett vom Schlusslicht in Europa haftet der Drucksache 15/2200 an die in der Tagesordnung aufge- (B) Bundesrepublik durch Rot-Grün nicht nur wegen führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- (D) schlechter Wachstums- und Beschäftigungszahlen an. verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung Auch bei der Wohnungsbautätigkeit ist Deutschland so beschlossen. längst auf die letzten Ränge zurückgefallen. Im europäi- schen Vergleich ist Deutschland – 1996 waren wir noch Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf: Vizeeuropameister – Beratung des Antrags der Abgeordneten (Franziska Eichstädt-Bohlig [BÜNDNIS 90/ Dr. Maria Böhmer, Maria Eichhorn, Antje DIE GRÜNEN]: Worin? In der Wohnraumver- Blumenthal, weiterer Abgeordneter und der Frak- sorgung?) tion der CDU/CSU mit 3,19 Wohnungen je 1 000 Einwohner im Jahre 2002 Arbeitsplätze im Bereich privater Dienstleis- inzwischen weit abgeschlagen. tungen schaffen – Rahmenbedingungen für Dienstleistungszentren und -agenturen verbes- Im Rahmen der Diskussion über den Wohngeld- und sern Mietenbericht möchte ich Ihnen, meine Damen und Her- ren von der Regierungskoalition, auch das Thema Miet- – Drucksache 15/2825 – nebenkosten – der Kollege Storjohann hat schon darauf Überweisungsvorschlag: hingewiesen – nicht ersparen. Fakt ist: Seit Einführung Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f) Rechtsausschuss der Ökosteuer, die für den überproportionalen Anstieg Finanzausschuss der Heizöl- und Gaspreise verantwortlich ist, ist Rot- Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Grün zum Preistreiber Nummer eins bei den Wohnkos- Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung ten der Mieter und der selbstnutzenden Wohneigentümer Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung geworden. Auch die Strompreise gehören in diese Reihe. Ausschuss für Tourismus Haushaltsausschuss (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Die Kollegen Barnett, Pawelski, Kurth und Niebel ha- Dazu hört man vom zuständigen Minister bzw. vom ben gebeten, ihre Reden zu diesem Punkt zu Protokoll Staatssekretär allerdings nichts. geben zu können.1) Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Bedenklich stimmt der Blick in die Zukunft: Immer mehr Mieten werden nicht gezahlt und müssen auf dem Gerichtsweg geltend gemacht werden. 1) Anlage 6 9562 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. April 2004

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer (A) Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Antrag die unverzügliche Einführung dieses Spiegels in (C) Drucksache 15/2825 an die in der Tagesordnung aufge- Deutschland. Das zögerliche Herangehen des Verkehrs- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie einverstan- ministeriums an die mit dem toten Winkel verbundene den? – Das ist der Fall. Dann ist auch diese Überweisung Problematik hat uns in der CDU/CSU-Fraktion erstaunt. so beschlossen. Offensichtlich hat man nach dem Maut-Desaster in Ih- rem Hause Gefallen daran gefunden, möglichst kompli- Ich rufe Tagesordnungspunkt 17 auf: zierte und langwierige Lösungen zu verfolgen. Beratung des Antrags der Abgeordneten Gero Wenn ich mir Ihre Pressemitteilungen vom 2. und Storjohann, Günter Nooke, Dirk Fischer (Ham- 26. April ansehe, dann muss ich folgende Feststellungen burg), weiterer Abgeordneter und der Fraktion treffen: der CDU/CSU Keine toten Winkel bei Lastkraftwagen Erstens. Sie wollen ebenfalls einen Weitwinkelspie- gel einführen. Im Gegensatz zum von uns vorgeschlage- – Drucksache 15/2823 – nen Dobli-Spiegel verkleinert dieser den toten Winkel Überweisungsvorschlag: aber nur auf etwa 19 Prozent. Außerdem wollen Sie die- Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen sen Spiegel erst ab 2005, und dann auch nur bei Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Neufahrzeugen einführen. Ihre Argumentation, der Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Wider- Dobli-Spiegel würde vibrieren und die Sicht nach vorne spruch höre ich nicht. Dann ist es so beschlossen. einschränken, nehmen wir auf, gewichten die Argu- mente im Gesamtkontext aber anders. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat wieder der Herr Kollege Gero Storjohann. Zweitens. Sie wollen sich bei der Einführung neuer Spiegel ordentlich Zeit lassen. Gero Storjohann (CDU/CSU): (Widerspruch bei der SPD) Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Vor wenigen Wochen ist es in Berlin erneut zu Während wir mit unserem Antrag erreichen wollen, dass zwei tödlichen Verkehrsunfällen gekommen. Wieder der effektive Dobli-Spiegel unverzüglich eingeführt wurden zwei Radfahrer von Lastkraftwagen, die nach wird, wollen Sie Ihren Weitwinkelspiegel über eine EG- rechts abbogen, erfasst. Wieder konnten die LKW-Fah- Richtlinie einführen. Das dauert erheblich länger. rer die Radfahrer nicht sehen, da sich diese im toten Drittens. Die von Ihnen favorisierte EG-Richtlinie Winkel ihrer Fahrzeuge befanden. sieht nur die Umrüstung der nach dem 1. Januar 2006 (B) (Vorsitz: Vizepräsident Dr. Hermann Otto zugelassenen LKWs vor. Wenn Sie schon den von uns (D) Solms) bevorzugten Weg nach niederländischem Vorbild nicht mitgehen wollen, dann frage ich Sie: Wann legt uns Ihr Diese beiden Unfälle zeigen nach Auffassung der Haus endlich die entsprechende Verordnung zur Umrüs- Unionsfraktion ganz deutlich: Es ist endlich Zeit zum tung der im Verkehr befindlichen LKWs vor? Bis jetzt Handeln. Der tote Winkel muss schnell weg. hören wir nur Ankündigungen und Vertröstungen. (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem Viertens. Sie wollen nur LKWs ab 7,5 Tonnen zuläs- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) sigem Gesamtgewicht umrüsten. Offensichtlich haben Deshalb hat die CDU/CSU-Fraktion mit einem Antrag Sie überhaupt nicht vor, Fahrzeuge ab 3,5 Tonnen zuläs- die Initiative ergriffen und einen Weg aufgezeigt, wie sigem Gesamtgewicht mit einem zusätzlichen Spiegel wir dem toten Winkel schnell und umfassend zu Leibe auszustatten, wie dies in den Niederlanden der Fall ist. rücken können. Wir erfahren Unterstützung vom Allge- Warum Sie diese Unterscheidung vornehmen, ist für die meinen Deutschen Fahrrad-Club und auch von den Spe- Union nicht nachvollziehbar. diteuren. Es gibt eine Lösung für das Problem: den so Von den Grünen bekommen wir Unterstützung für un- genannten Dobli-Spiegel aus den Niederlanden. sere Position. Jedenfalls finden wir entsprechende Aus- In den Niederlanden waren bereits im Jahre 2002 sagen auf der Homepage von Frau Eichstädt-Bohlig. 50 Prozent der LKWs mit über 3,5 Tonnen zulässigem (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Gesamtgewicht mit dem Dobli-Spiegel ausgerüstet. Die- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) ser Spiegel wird auf der Beifahrerseite des Fahrzeuges von außen angebracht. Es handelt sich um eine konvexe Ich freue mich, dass wir bei dieser Problemstellung im Linse, durch die der tote Winkel von derzeit 38 Prozent Sinne der Sache gemeinsam etwas Druck machen. Es auf 4 Prozent verringert wird. Die Anzahl der schweren bleibt zu hoffen, dass wir auch den Minister und die und tödlichen Unfälle aufgrund des toten Winkels haben Staatssekretärin mit unserer Argumentation überzeugen sich in den Niederlanden im Jahre 2002, seit Einführung können. des Spiegels fast halbiert. Seit Januar 2003 sind dort Wir wollen eine Lösung, die sofort und nicht erst in sämtliche LKWs über 3,5 Tonnen zulässigem Gesamtge- zehn oder 15 Jahren greift. Wir sind es unseren Familien sicht mit dem so genannten Dobli-Spiegel ausgestattet. schuldig, dass sofort etwas geschieht. So mancher Unfall Wegen der äußerst positiven Erfahrungen in den Nie- hat Familien ins Unglück gestürzt. Wir Politiker sollten derlanden fordert die Union in dem heute zu beratenden das Machbare auch in Taten umsetzen. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. April 2004 9563

Gero Storjohann (A) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Ihr gesamter Antrag zielt eindeutig auf den Dobli- (C) neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Spiegel, obwohl er nicht ein einziges Mal namentlich er- wähnt wird. Dieser Zusatzspiegel ist aber eben nicht die Deshalb fordere ich Sie auf: Stimmen Sie unserem An- einfache und preiswerte Patentlösung, als die er in der trag zu! Er wirkt – das ist für mich in diesem Fall ganz öffentlichen Diskussion bisweilen gepriesen wird; denn entscheidend – sofort. er kann nicht an allen LKWs sicher und vibrationsfrei (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. befestigt werden. Zudem beeinträchtigt er die direkte Winfried Hermann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Sicht durch die Windschutzscheibe. NEN]) Dieser Spiegel ist in den Niederlanden übrigens nicht gesetzlich vorgeschrieben, sondern er stellt dort eines Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: von mehreren zugelassenen Systemen zur Verbesserung Das Wort hat jetzt die Parlamentarische Staatssekretä- der rückwärtigen Sicht dar. Sollen wir etwa Spiegel ge- rin Iris Gleicke. setzlich vorschreiben, die Nachteile für die Verkehrssi- cherheit haben können? Das kann aus unserer Sicht nicht der richtige Weg sein. Ich möchte aber noch einmal ganz Iris Gleicke, Parl. Staatssekretärin beim Bundesmi- klar und deutlich sagen, dass ich die gute Absicht Ihres nister für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen: Antrags würdige; denn wir sind uns darin einig, dass der Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich tote Winkel beseitigt werden muss. Das ist gar keine bedanke mich zunächst einmal ganz ausdrücklich dafür, Frage. dass wir hier und heute über den toten Winkel sprechen. Dieses Thema treibe ich seit vielen Monaten voran. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Wir wollen den toten Winkel schon seit langer Zeit Ich habe großes Verständnis dafür, dass die öffentli- beseitigen. Bereits im Jahr 2001 hat die Bundesregie- che Diskussion über den toten Winkel zum Teil sehr rung gemeinsam mit den Niederlanden die Initiative für emotional geführt wird; denn die Unfälle, die mit rechts eine EU-Richtlinie mit verschärften Anforderungen an abbiegenden LKWs passieren, haben ganz schreckliche die rückwärtige Sicht bei LKWs ergriffen. Diese Richtli- Folgen. Das kann niemanden kalt lassen, und, Herr Kol- nie ist im vergangenen Januar in Kraft getreten. Durch lege Storjohann, dass lässt auch niemanden kalt. ihre Umsetzung wird der tote Winkel entgegen anders (Beifall bei Abgeordneten der SPD) lautenden Behauptungen von verschiedenen Seiten wei- testgehend ausgeschaltet. (B) Ich bin davon überzeugt, dass es auch deshalb künftig (D) An dieser Richtlinie wird jedoch vor allen Dingen weniger solcher Unfälle geben wird, weil dieses wich- zweierlei kritisiert: Erstens ist sie erst ab Januar 2007 für tige Thema unterdessen ins Bewusstsein aller Beteiligten neu in den Verkehr kommende LKWs obligatorisch an- gerückt ist. zuwenden. Das dauert auch mir zu lange. Zweitens ist Lieber Kollege Storjohann, ich unterstelle Ihnen keine Nachrüstung der Fahrzeuge vorgesehen, die schon wirklich die besten Absichten, aber Ihr Antrag enthält jetzt auf unseren Straßen unterwegs sind. Auch das ge- eine Reihe von sachlichen Fehlern. Mir fehlt leider die nügt mir nicht. Zeit, all diese Fehler im Einzelnen aufzuzählen. Deshalb (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten beschränke ich mich auf einen: die Behauptung, von der des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) EU werde ein vierter Spiegel vorgeschrieben, der den nicht einsehbaren Bereich angeblich wesentlich weniger Aus genau diesem Grunde habe ich dem Deutschen verringere als der Dobli-Spiegel, den Sie offensichtlich Bundestag und der Öffentlichkeit im vergangenen Jahr meinen. Ich muss Ihnen sagen, dass es eine solche Ver- versprochen, mich dieses Problems persönlich anzuneh- ordnung bzw. Vorschrift der EU überhaupt nicht gibt. men. Das habe ich auch getan. Wir haben schon vor mehreren Monaten mit den Fahrzeugherstellern verein- (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist ja noch bart, dass sie spätestens ab Anfang des kommenden Jah- schlimmer!) res alle neuen LKWs laufender Serien, soweit technisch Durch die EU-Verordnung wird der tote Winkel eben möglich, mit verbesserten Spiegeln ausrüsten, um den nicht durch einen zusätzlichen Spiegel auf der Beifahrer- Anforderungen der EU-Richtlinie zu entsprechen. seite beseitigt, sondern vor allem durch eine veränderte Um, soweit technisch möglich, auch eine Nachrüs- Spiegelkrümmung und ein dadurch verbessertes Sicht- tung auf freiwilliger Basis sicherzustellen, haben wir mit feld der schon heute vorhandenen Weitwinkelspiegel. den Herstellern außerdem vereinbart, dass sie unverzüg- Hier liegt offenbar eine Verwechslung mit dem in der Tat lich für den jeweiligen Fahrzeugtyp geeignete Aus- von der EU neu vorgeschriebenen Frontspiegel vor. Er tauschspiegelgläser mit größerem Sichtfeld zum Einbau ist wichtig, um anders geartete schwere Unfälle zu ver- in die vorhandenen Spiegelgehäuse auf den Markt brin- meiden. Deshalb haben wir bei den Herstellern Druck gen. Das ist bei allen LKWs ab dem Baujahr 2000, aber gemacht, um auch ihn früher als in der EU-Richtlinie auch bei vielen älteren Modellen möglich. vorgesehen, einführen zu können. Aber mit dem toten Winkel hat dieser Frontspiegel wirklich überhaupt nichts Wir werden selbstverständlich intensiv dafür werben, zu tun. dass möglichst alle LKW-Halter von der Möglichkeit der 9564 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. April 2004

Parl. Staatssekretärin Iris Gleicke (A) Nachrüstung Gebrauch machen. Sowohl für die vorgezo- heitskampagne hinaus. Ich denke dabei zum Beispiel an (C) gene Serienausstattung als auch für die Möglichkeit der §5 Abs.8 der Straßenverkehrsordnung. Wir haben es Nachrüstung müssen wir die Straßenverkehrs-Zulas- ermöglicht, dass Zweiradfahrer – Mofafahrer und Fahr- sungs-Ordnung ändern. Diese Änderung bringen wir radfahrer – an stehenden LKWs vorsichtig rechts vorbei- gerade auf den Weg. Damit schreiben wir gleichzeitig fahren dürfen. Damit entstehen Gefahrensituationen aber die Verbesserung des für die weitestgehende Beseitigung eigentlich erst: Vor der Änderung dieser Vorschrift des toten Winkels besonders wichtigen Weitwinkelspie- mussten Zweiradfahrer hinter einem LKW stehen blei- gels auf der Beifahrerseite verbindlich vor. Das bedeutet, ben. Es wäre aus unserer Sicht zumindest überlegens- dass dieser verbesserte Spiegel spätestens ab Anfang des wert, auch über diesen Punkt nachzudenken. Eine andere kommenden Jahres Pflicht sein wird. Wir müssen das bei Möglichkeit bestünde darin, den Aufstellraum für Zwei- der EU notifizieren, da wir die Richtlinie von uns aus radfahrer so weit vorzuziehen, dass der LKW-Fahrer sie verschärfen; wir wollen schließlich auch importierte direkt sehen kann. Fahrzeuge erfassen. Damit muss sich auch der Bundesrat befassen; auch das wird jetzt auf den Weg gebracht. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Meine Damen und Herren, das muss so schnell wie mög- der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE lich passieren, je schneller, je lieber. GRÜNEN) Schönen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Das sind Lösungen, über die man, wenn man das Pro- blem wirklich angehen will, aus unserer Sicht in aller (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Breite diskutieren muss. DIE GRÜNEN) Wenn ich die Vorschrift der EU richtig in Erinne- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: rung habe, Frau Staatssekretärin, werden dem LKW- Fahrer irgendwann einmal sechs Spiegel vorgeschrie- Das Wort hat jetzt der Kollege Horst Friedrich von ben: zwei vorne und jeweils zwei an den Seiten. Man der FDP-Fraktion. muss bei solchen Vorschriften auch darauf achten, dass derjenige, der ein Fahrzeug bewegt, noch in der Lage Horst Friedrich (Bayreuth) (FDP): sein muss, sämtliche Spiegel gleichzeitig mit dem flie- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der ßenden Verkehr im Auge zu behalten. Ich will gar nicht Deutsche Bundestag befasst sich wieder einmal mit dem davon reden, dass man nicht ausschließen kann, dass, Thema „Verkehrssicherheit“, insbesondere mit im Stra- nachdem der Fahrer rechts in den Weitwinkelspiegel ge- ßenverkehr Getöteten, zu wirklich geeigneter Zeit. schaut und feststellt hat, dass da kein Fahrradfahrer ist, und er sich dann mit den anderen Spiegeln befasst, ein (B) (Renate Blank [CDU/CSU]: Zu später (D) Stunde!) Fahrradfahrer auf einem Mountainbike angebrettert kommt und damit eine neue Gefahrensituation eintritt. Ich meine das ganz bewusst negativ, weil es ein Problem Die völlige Sicherheit vor dieser Situation wird es nicht ist, das unserer Ansicht nach sicherlich zu lösen ist. Es geben. Deswegen sind wir sehr dafür – auch im Interesse wird mit dem von der Union vorgelegten Antrag aus un- der Kinder und der Kinder-Kommission, die das auch serer Sicht aber nicht völlig rund gelöst. Ich habe den aufgegriffen hat –, dieses Problem zu lösen. Ich bin al- Eindruck, es ging ein bisschen um die Schnelligkeit; das lerdings der Meinung, wir sollten das im Fachausschuss muss ich hier einmal ganz deutlich sagen. auf breiter Basis diskutieren – im Zweifel auch eine An- hörung durchführen – und hier tatsächlich Wert auf Qua- Der Antrag muss, wenn er eine gute Beratungsgrund- lität der Lösung vor Schnelligkeit der Lösung legen; lage sein soll, die niederländischen Erfahrungen stärker dann sind wir, glaube ich, zur Zusammenarbeit im gan- berücksichtigen und bezüglich dessen, was man in zen Haus bereit. Deutschland machen kann und notwendigerweise ma- chen muss, ausgeweitet werden. Er nimmt aus unserer Danke sehr. Sicht nur einen Teilnehmer am Unfallgeschehen, näm- lich den schweren LKW, aufs Korn und befasst sich nur (Beifall bei der FDP, der SPD und dem mit einem Problem, dem toten Winkel/Sichtwinkel. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Die Niederlande haben, bevor sie die technische Lö- sung entwickelt haben, eine breite Kampagne für Ver- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: kehrssicherheit gestartet, die dort im Straßenverkehr Das Wort hat jetzt der Kollege Winfried Hermann von bereits seit 2000 zur Senkung der Unfallzahlen der Bündnis 90/Die Grünen. Kombination „Zweiradfahrer/Fußgänger mit schwerem LKW“ geführt hat. Seit 2003 ist ein entsprechender Winfried Hermann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Spiegel vorgeschrieben; seitdem haben sich die Unfall- zahlen in den Niederlanden nicht mehr signifikant ver- Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und ringert. Die Zahlen sind aber nicht unbedingt statistisch Herren! Die beiden tödlichen Radfahrunfälle von vor un- belastbar, weil dieser Aspekt bei der Unfallaufnahme gefähr einem Monat haben in Berlin, aber auch darüber kein Kriterium ist. Das ist das eine Thema. hinaus eine heftige Debatte ausgelöst. In den letzten Jah- ren ist es immer wieder vorgekommen, dass Radfahrer, Das zweite Thema: Natürlich gäbe es aus unserer die sich im toten Winkel befunden haben, totgefahren Sicht auch noch andere Möglichkeiten, über eine Sicher- wurden. Das hat aufgerührt. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. April 2004 9565

Winfried Hermann (A) An solchen Punkten fragen Eltern und Lehrer immer setzliche Regelungen etwas erreichen kann, sollte sie (C) wieder: Warum bewegt sich in diesem Bereich nichts? diese verbindlich für alle einführen. Das ist unsere Posi- Warum greift man dieses Problem nicht auf, obwohl es tion. schon so alt ist, obwohl jedes Jahr vermutlich mehrere Hundert Radfahrer aus diesem Grund ums Leben kom- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) men und es offensichtlich anderswo schon technische Sie haben es in der Öffentlichkeit und natürlich heute Lösungen gibt, dies besser in den Griff zu bekommen? durch die Debatte wahrgenommen: Es gibt offensicht- Man fragt sich auch: Wie kann es eigentlich sein, dass lich einen Dissens mit der Regierung, die den Dobli- eine Automobilindustrie, die allen möglichen elektroni- Spiegel als problematisch einschätzt. Wir glauben, dass schen und technischen Schnickschnack in neue LKWs ein größerer Teil dieser Bedenken durch die Praxis und und auch in PKWs einbaut, im Bereich des Spiegels und deren empirische Überprüfung widerlegt ist. der Rückblende bislang im Grunde genommen altmodi- sche, vorgestrige Lösungen angeboten hat? Das ist wirk- (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Er ist nur lich ärgerlich. einer von neun in den Niederlanden zugelasse- nen!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Die Erfahrung zeigt, dass man diesen Spiegel sicher an- bringen kann. Das Argument, dass ein neuer Spiegel die Nun ist endlich Bewegung in den Vorgang gekom- Sicht behindere, ist ziemlich fragwürdig. Denn dann men. Auch das Verkehrsministerium hat zusammen mit müsste man eigentlich alle Rückspiegel abschaffen, weil dem niederländischen Ministerium Druck gemacht, da- sie selbstverständlich auf der einen Seite ein kleines mit auf europäischer Ebene etwas geschieht. Sicher Stück ausblenden, aber auf der anderen Seite verschaffen bringt die neue europäische Richtlinie einen Fort- sie eine neue große Sicht. Spiegel haben Vorteile und schritt. Aber wie die Kolleginnen und Kollegen schon Nachteile. Deswegen kann ich dieses Argument nicht angesprochen haben: Das, was die EU vorgelegt hat, ist akzeptieren. ziemlich unbefriedigend. Denn erstens gilt die Richtlinie nur für Neufahrzeuge und auch erst in Jahren und zwei- Es ist möglich, diesen Spiegel schnell und einfach tens ist sie nur für große LKWs und nicht für kleine vor- nachzurüsten. Auch das ist ein großer Vorteil. Das Ver- gesehen. Sie ist also völlig unzureichend. kehrsministerium sollte dies positiver prüfen und nicht so kritisch wie bisher. Ich erkenne durchaus an, dass es (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- nicht allein mit der Zahl der Spiegel getan ist, sondern SES 90/DIE GRÜNEN) natürlich hängt es auch von der Beschaffenheit des Spie- (B) Schauen wir uns die Erfahrungen in den Niederlan- gels und vom System insgesamt ab. Aber es ist eine ein- (D) den an. Dazu gibt es eine interessante Geschichte. Ein fache und schnelle Lösung, die in der Nachrüstung güns- niederländischer Junge ist ums Leben gekommen. Sein tig und rasch umzusetzen ist. Vater hat keine Ruhe gefunden und hat in wenigen Wo- chen einen neuen Spiegel entwickelt. Dann hat er es ge- Wir werden innerhalb der Koalition und mit der Re- schafft, einen Produzenten zu finden und diesen Spiegel gierung noch verhandeln müssen, wie wir weiter vorge- in Form einer Freiwilligenkampagne bekannt zu ma- hen. Für meine Fraktion sage ich: Wir sehen beim aktu- chen. Interessanterweise hat sich damals das Ministe- ellen Stand der Informationen gerade in diesem Dobli- rium erst gewehrt und gesagt, dass dies nicht funktio- Spiegel eine sehr gute Lösung und glauben, dass wir die- niert. In einem beharrlichen Verfahren hat es dieser Vater sen rasch – und nicht erst in zwei Jahren – und für alle, zusammen mit der Initiative geschafft, zuerst eine Phase nicht nur für Neufahrzeuge, einführen sollten. der freiwilligen Umrüstung in Holland zu beginnen und (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Wir kön- danach eine gesetzliche Umsetzung zu erreichen, was nen das nur für Deutschland machen!) dazu geführt hat, dass seit den letzten zwei Jahren in den Niederlanden völlig neue Verhältnisse herrschen. Viele Wir unterstützen die Bundesratsinitiative von Berlin haben diesen so genannten Dobli-Spiegel und tatsächlich und Brandenburg, die genau in diese Richtung vorstößt. – das wurde schon gesagt – sind die Unfallzahlen um Im Verkehrsausschuss des Bundesrates haben Sie dafür über 40 Prozent zurückgegangen. Ich finde, dass man übrigens eine ganz große Mehrheit gefunden. Das wird von dieser Technik und Erfahrung sowie von dieser bür- auch den Bundestag fordern. Ich meine, das ist eine gute gerschaftlichen Initiative lernen kann. Vorlage des Bundesrates. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- Ich komme zum Schluss und möchte gerne an die SES 90/DIE GRÜNEN, der SPD und der Worte und Gedanken des Kollegen Friedrich anknüpfen. CDU/CSU) Eine auf Spiegel beschränkte Verkehrssicherheitspolitik wäre in der Tat sehr beschränkt. Wir brauchen eine um- Übrigens gibt es auch in Berlin eine solche Initiative, fassend neue Verkehrssicherheitspolitik. Diese müssen die meine Kollegin Eichstädt-Bohlig und ich unterstüt- wir an dem Konzept „Vision Zero“ messen, das in zen. Diese sammelt Geld, damit LKWs umgerüstet wer- Schweden und in der Schweiz seit einigen Jahren sehr den können. Das ist eine gute Sache. Aber ich sage Ihnen ambitioniert erprobt wird. auch: Das allein kann nicht ausreichen. Die Bürgerinnen und Bürger erwarten zu Recht, dass Politik alles tut, was (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Auch in sie tun kann: Dort, wo sie durch Vorschriften oder ge- der EU!) 9566 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. April 2004

Winfried Hermann (A) Wir haben die sehr ambitionierte Vorstellung, dass man bewegt das sehr. Der Neunjährige wurde auf dem Schul- (C) eine Politik betreiben muss, die das Ziel hat, dass es im weg sogar von seiner Mutter auf dem Rad begleitet. Sie Straßenverkehr möglichst überhaupt keine Verkehrstoten fuhr unmittelbar vor ihm auf dem Radstreifen über die mehr und nur noch möglichst wenige Schwerverletzte Kreuzung. gibt. Das war nicht der einzige tödliche Fahrradunfall an (Beifall der Abg. Franziska Eichstädt-Bohlig diesem Tag. Gleiches ereignete sich auch am Nachmit- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] sowie bei Ab- tag gegen 13.30 Uhr in der Teilestraße in Tempelhof. geordneten der CDU/CSU) Hierbei kam ein 59-jähriger Radfahrer ums Leben. Auch Es ist ungeheuer wichtig, an diesem Ziel hart zu arbei- hier war die Unfallursache der so genannte tote Winkel. ten. Dazu müssen wir alle Bereiche konzeptionell ange- Ich denke, wir als Abgeordnete sind gefragt, hier zu hen. handeln. Die bisherigen Debattenbeiträge der verschie- Das gilt übrigens auch für die Verkehrserziehung und denen Fraktionen haben gezeigt, dass solch abwiegelnde das Verhalten der Radfahrer selbst. Auch sie tragen Ver- Positionen wie die des Bundesverkehrsministeriums, die antwortung und müssen schauen, durch welches Verhal- ich jetzt gar nicht allzu sehr kritisieren will, weil ich ten sie sich gefährden. Wir müssen versuchen, durch Re- auch Ihnen gute Absichten unterstelle, auf jeden Fall geln und Vorschriften all das zu erreichen, was möglich nicht ausreichen. Ich glaube nämlich schon, dass es ist, um Verkehrssicherheit herzustellen, sodass wir zu- manchmal noch ein wenig schneller ginge. Es ist hier künftig keine Radfahrer mehr aufgrund des toten Win- durch manche Hinweise deutlich geworden, dass es zu kels als Tote im Straßenverkehr zu beklagen haben. lange dauern würde, auf neue EU-Vorschriften zu war- ten. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der CDU/CSU) Ich will eines deutlich machen: Ich wünsche mir, dass das Ministerium auch von den Parlamentariern der Koa- litionsfraktionen gedrängt wird, schnell zu handeln. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat der Kollege Günter Nooke von der Ich denke, dass sich der Allgemeine Deutsche Fahr- CDU/CSU-Fraktion. rad-Club bereits deutlich zu der Pressemitteilung zu die- sem Thema und zu den Aussagen, die vonseiten des Günter Nooke (CDU/CSU): Bundesverkehrsministeriums gemacht wurden, geäußert hat. Damals hieß es, Sie seien in höchster Erklärungsnot. (B) Herr Präsident! Sehr verehrte Damen und Herren! Ich (D) möchte mit der Bemerkung einleiten, dass die Debatte Ich finde, wir sind inzwischen schon einen Schritt wei- trotz des so ernsten Anlasses eigentlich sehr erfreulich ter. Das gilt auch für diese Debatte und das kann ja nur ist. Ich muss mich bei meinem Kollegen Hermann be- gut sein. danken, dass er unseren Antrag hier so freundlich beglei- Bezüglich der Länderkammer will ich noch etwas Er- tet. Frau Staatssekretärin Gleicke, ich denke, es ist wich- freuliches ein wenig genauer darstellen. Es ist auf einen tig, dass man nicht nur gute Absichten unterstellt, Entschließungsantrag – gestern stand er auf der Tages- sondern nach der Debatte auch einräumt, dass der An- ordnung der Sitzung des Verkehrsausschusses des trag gut ist. Bundesrates – der Länder Berlin und Brandenburg zum (Beifall bei der CDU/CSU – Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Straßenver- [Zingst] [CDU/CSU]: Damit hast du den Na- kehrsgesetzes hingewiesen worden. Dort hieß es: Die gel auf den Kopf getroffen! – Zuruf von der Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates SPD: Gut gemeint!) vom 10. November 2003 zur Angleichung der Rechts- vorschriften der Mitgliedstaaten für die Typengenehmi- Ich glaube, es ist auch wichtig, zumindest anzuerkennen, gungen von Einrichtungen für indirekte Sicht und von dass durch diese Debatte entsprechender Druck auf die mit solchen Einrichtungen ausgestatteten Fahrzeugen so- Ministerien ausgeübt wird, wodurch sie zum Handeln wie zur Änderung entsprechender Richtlinien soll bis gebracht werden. Ich denke, es ist klar, dass wir nicht spätestens Mitte 2004 in nationales Recht umgesetzt nur eine Aufklärungskampagne durchführen, sondern werden. – Das ist der entscheidende Satz. auch zum Handeln kommen müssen. Es geht weiter: Für alle im Verkehr befindlichen Vielleicht sollte ich noch einmal ganz kurz sagen, wo- Nutzfahrzeuge ab 7,5 Tonnen zulässigem Gesamtge- rum es hier eigentlich geht. Es ist bereits kurz angespro- wicht soll eine kurzfristige Nachrüstfrist entsprechend chen worden, warum ich als Berliner Bundestagsabge- der EG-Richtlinie 2003/97 vorgesehen werden, mindes- ordneter hier rede. Vor einem Monat – es war am tens aber ein zusätzlicher Frontspiegel verbindlich fest- 23. März 2004 – ist nicht weit von hier ein neunjähriger geschrieben werden. – Das ist Inhalt dieser Initiative. Junge gestorben. Er war morgens um 8.15 Uhr mit sei- Mindestens sieben Länder haben sich ausdrücklich posi- nem Fahrrad auf dem Weg zur Schule. An der Kreuzung tiv dazu geäußert. Bismarckstraße/Kaiser-Friedrich-Straße hatte er grünes Ampellicht. Er wurde von einem LKW erfasst und getö- Weiter heißt es: Für Nutzfahrzeuge und Neufahrzeuge tet. Der LKW-Fahrer wollte rechts abbiegen und hatte ab 3,5 bis 7,5 Tonnen zulässigem Gesamtgewicht soll den Neunjährigen auf dem Radweg nicht gesehen. Mich ebenfalls ein zusätzlicher Frontspiegel zur Verminde- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. April 2004 9567

Günter Nooke (A) rung des toten Winkels kurzfristig verbindlich vorge- das sehr ernst. Dieser Wunsch, diese Unfälle zu vermei- (C) schrieben werden. – Genau das haben wir gefordert. den, eint uns alle. Die Anstrengungen zur Beseitigung Wenn das Wort „kurzfristig“ durch „unverzüglich“ er- von Schwachstellen der Sichtwinkel und Sichtfelder von setzt wird, ist das im Prinzip die Fassung unseres CDU/ LKW-Fahrern sind in vollem Gange, und zwar seit Mo- CSU-Antrages. Die Begründung des Antrags erinnert im naten. Übrigen an die Aussagen, die wir schon seit längerem in der Presse lesen und die auch unseren Antrag auszeich- Ich will hier ganz klar machen: Es genügt nicht, ein- nen. fach einen weiteren Spiegel, einen vierten Spiegel oder einen Dobli-Spiegel anzubringen, und alles ist in Ord- Ich möchte noch darauf hinweisen, dass die Ent- nung. Vielleicht ist dann den tagesaktuellen Forderungen schließung, die im Brandenburger Landtag dazu behan- in Zeitungsüberschriften oder Fernsehreportagen Ge- delt wurde, eine interessante Feststellung enthält: Die nüge getan, aber das Problem ist nicht grundsätzlich und Gefahrendimension durch den toten Winkel wird in der nachhaltig gelöst. Deshalb ist der Antrag der Union gut schulischen Verkehrssicherheitsarbeit so verdeutlicht, gemeint, aber unzureichend und in dieser Form überflüs- dass in den Bereich des toten Winkels bei einem LKW sig. Ein vierter Spiegel muss nicht eingeführt werden. Er eine komplette Schulklasse gestellt wird, die vom Fahr- ist bereits möglich, aber nicht ausreichend. zeugführer durch die Rückspiegel nicht gesehen werden kann. Weiter heißt es: Nach Angaben der gesetzlichen (Werner Kuhn [Zingst] [CDU/CSU]: Frau Unfallversicherungen sterben pro Jahr etwa 140 Radfah- Wright, das ist die Frage!) rer sowie Fußgänger bei Unfällen mit rechtsabbiegenden Was ist wirklich zielführend? Zielführend ist, dass LKW. nicht nur einige niederländische oder einige deutsche All das lässt den Handlungsbedarf erkennen. Wir LKWs mit einem weiteren Spiegel ausgestattet werden, sondern dass alle europäischen LKWs verkehrssicherer von der Union sind zu konstruktiver Mitarbeit, Initiati- vengebung und auch weiterer Unterstützung bereit. Wir mit Spiegelsystemen ausgestattet werden. haben gerade auch in Berlin und Brandenburg – es ist ja (Beifall bei der SPD) in Berlin und Brandenburg nicht so, dass die Verkehrs- minister der Union angehören; jedenfalls noch nicht – Dies ist bereits eingetütet, also beschlossen, und durch ein großes Interesse, mit Ihnen gemeinsam voranzukom- die Arbeit der Parlamentarischen Staatssekretärin Iris men. Gleicke mächtig mit Dampf versehen. Wir können sagen: Nicht nur zu später Stunde, son- So hat die Bundesregierung bereits im Jahre 2001 ge- dern auch am helllichten Tage wollen wir ein ernstes meinsam mit den Niederlanden eine Initiative bei der (B) Problem konstruktiv lösen. Da immer alle denken, wir Europäischen Kommission gestartet; (D) zanken uns hier ohne Unterlass, war dies ein gutes Bei- (Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Es ster- spiel dafür, um zu zeigen, dass wir – vorausgesetzt auch ben aber immer noch Radfahrer! Was sagen die Kollegen von den Grünen machen mit – gemeinsam Sie dazu?) mit dem Ministerium schnell zu einer Lösung kommen können. denn auch in den Niederlanden wird die Notwendigkeit von Verbesserungen gesehen. Das Resultat ist die EU- Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. Richtlinie 2003/97 – in Kraft seit Januar 2004 –, die ver- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie schärfte Anforderungen für die rückwärtige Sicht vor- bei Abgeordneten der SPD) sieht. Ein LKW mit 7,5 Tonnen hat in Zukunft sechs Spiegel. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Sie Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt nehmen sich viel Zeit!) hat die Kollegin Heidi Wright von der SPD-Fraktion das Auch eine Ausrüstung mit einem Kamerasystem ist Wort. möglich.

Heidi Wright (SPD): (Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Aber die Radfahrer sterben noch immer!) Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die fortwährende Aufgabe, Verkehrssicherheit insbesondere Jetzt geht es um den mühseligen Gang der vollständigen für schwächere Verkehrsteilnehmer zu gewährleisten Umsetzung und um die Übergangsfristen. Das kann uns und zu verbessern, führte zu dem vorliegenden Antrag. alle hier im Parlament und in der Regierung nicht befrie- Wir alle wollen keinen toten Winkel bei Lastkraftwagen. digen. So hat Staatssekretärin Gleicke auch da die Sache Das eint uns: alle Politiker, alle LKW-Fahrer, alle, die unter Dampf gesetzt. Wir werden die Übergangszeiten diesen LKWs im Straßenverkehr begegnen, und die nicht ausschöpfen, sondern mächtig vorziehen. Fahrradfahrer, die sich gefährdet fühlen. Es gibt drei Verbesserungen: Erstens. Eine Ausstat- Besorgte Bürgerinnen und Bürger, insbesondere Müt- tung mit einem modifizierten Weitwinkelspiegel auf ter, sind durch tragische Todesfälle bei Unfällen zwi- der Beifahrerseite, der für die Verringerung des toten schen LKWs und Fahrradfahrern aufgeschreckt. Auch Winkels besonders wichtig ist, soll ab Februar 2005 für ich habe solche Zuschriften bekommen. Wir alle nehmen neue Fahrzeuge möglich sein. 9568 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. April 2004

Heidi Wright (A) Zweitens. Darüber hinaus soll der neue Frontspiegel, Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (C) wie in der Richtlinie vereinbart, durch die deutschen Ich schließe die Aussprache. Fahrzeughersteller ebenfalls ein Jahr früher zur Verfü- gung stehen. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 15/2823 an den Ausschuss für Verkehr, Drittens. Wir wollen die Nachrüstung – die ist in der Bau- und Wohnungswesen vorgeschlagen. Sind Sie da- EU-Richtlinie leider gar nicht geregelt – regeln. Es hat mit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Über- eine Vereinbarung des Ministeriums mit der Fahrzeugin- weisung so beschlossen. dustrie gegeben. Für die jeweiligen Fahrzeugtypen wer- Ich rufe den Zusatzpunkt 5 auf: den geeignete Austauschspiegelgläser mit stärkerer Krümmung und größeren Sichtfeldern zum Einbau in ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Sibylle die vorhandenen Spiegelgehäuse hergestellt. Laurischk, Rainer Funke, Dr. Werner Hoyer, wei- terer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Sie sehen – das sollten wir auch den besorgten Bürge- rinnen und Bürgern gemeinsam deutlich machen –: Ver- Umsetzung der Gemeinsamen Erklärung zum kehrssicherheit ist ein wichtiges Anliegen der Bundesre- 40. Jahrestag des Élysée-Vertrags – Regionale gierung und die nationalen Initiativen, aber auch die und interregionale Zusammenarbeit – Schaf- europäischen Regelungen sind auf Verbesserung ausge- fung von Eurodistrikten richtet. – Drucksache 15/1111 – Ich warne vor scheinbar einfachen Lösungen und gar Überweisungsvorschlag: vor der Unterstellung, diese würden blockiert. Nachhal- Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union (f) tige Lösungen sind meist etwas kompliziert, was uns je- Innenausschuss doch nicht abhalten kann. Wenn einfache Teillösungen Sportausschuss Rechtsausschuss möglich sind, wie der in den Niederlanden verwendete Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Dobli-Spiegel, so können diese selbstverständlich ge- Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend nutzt werden. Keiner verbietet sie. Allerdings wird ein Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Dobli-Spiegel nicht in der StVZO vorgeschrieben wer- Ausschuss für Bildung, Forschung und den. Das ist auch in den Niederlanden nicht der Fall. Technikfolgenabschätzung Ausschuss für Kultur und Medien Zum Schluss: Ich danke ausdrücklich der Parlamenta- Haushaltsausschuss rischen Staatssekretärin Iris Gleicke für die intensiven Die Redebeiträge zu dieser Debatte sollen zu Proto- Vorarbeiten mit der deutschen Fahrzeugindustrie und für koll genommen werden. Die Rede des Staatsministers (B) das Vorziehen der EU-Richtlinie. Mit diesen Grundlagen Hans Martin Bury ist zu Protokoll gegeben worden. Von (D) müssen wir ganz schnell politisch dafür sorgen, dass die der CDU/CSU haben Dr. Andreas Schockenhoff und Veränderung der StVZO auf den Weg gebracht wird. Gunther Krichbaum, vom Bündnis 90/Die Grünen Anna Auch die fakultativen Möglichkeiten eines Dobli-Spie- Lührmann und von der FDP Sibylle Laurischk ihre Re- gels werden wir klären. Es liegt jedoch an den Ländern, den zu Protokoll gegeben. Eine Aussprache findet nicht im Bundesrat die Veränderung der StVZO zügig durch- statt. zuwinken. Das Signal der heutigen Debatte muss sein: Wir sind uns einig in dem Ziel für mehr Verkehrssicher- Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf heit. Ich bin mir sicher, dass wir uns auch ganz schnell Drucksache 15/1111 an die in der Tagesordnung aufge- über das Wie einig werden. führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überwei- Wichtig ist jedoch bei allem das öffentliche Bewusst- sung so beschlossen. sein; das hat der Kollege Friedrich bereits angesprochen. Die persönliche Vorsicht und Voraussicht jedes einzel- Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tages- nen Verkehrsteilnehmers, ob LKW- oder Fahrradfahrer, ordnung. sind ebenfalls wichtig. Sie können auch durch noch so Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun- gute technische Möglichkeiten und viele Spiegel nicht destages auf morgen, Freitag, den 30. April 2004, 9 Uhr, ersetzt werden. ein. Vielen Dank. Die Sitzung ist geschlossen. (Beifall bei der SPD) (Schluss: 21.36 Uhr) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. April 2004 9569

(A) Anlagen zum Stenografischen Bericht (C) Anlage 1

Liste der entschuldigten Abgeordneten

entschuldigt bis entschuldigt bis Abgeordnete(r) einschließlich Abgeordnete(r) einschließlich

Adam, Ulrich CDU/CSU 29.04.2004* Trittin, Jürgen BÜNDNIS 90/ 29.04.2004 DIE GRÜNEN Bindig, Rudolf SPD 29.04.2004* Wellenreuther, Ingo CDU/CSU 29.04.2004 Deittert, Hubert CDU/CSU 29.04.2004* Wettig-Danielmeier, SPD 29.04.2004 Frankenhauser, Herbert CDU/CSU 29.04.2004* Inge Dr. Gauweiler, Peter CDU/CSU 29.04.2004 Dr. Wodarg, Wolfgang SPD 29.04.2004* Granold, Ute CDU/CSU 29.04.2004 * für die Teilnahme an den Sitzungen der Parlamentarischen Ver- Freiherr von und zu CDU/CSU 29.04.2004* sammlung des Europarates Guttenberg, Karl- Theodor Anlage 2 Höfer, Gerd SPD 29.04.2004* Erklärung nach § 31 GO Hörster, Joachim CDU/CSU 29.04.2004* der Abgeordneten Ina Lenke (FDP) zur Ab- Hoffmann (Chemnitz), SPD 29.04.2004* stimmung über den Entwurf eines Gesetzes zur Jelena Neuordnung der einkommensteuerrechtlichen Behandlung von Altersvorsorgeaufwendungen * Jäger, Renate SPD 29.04.2004 und Altersbezügen (Tagesordnungspunkt 3) (B) Jonas, Klaus Werner SPD 29.04.2004* Die Einführung von geschlechtsneutralen Tarifen be- (D) fürworte ich grundsätzlich. Die so genannte Riester- Kelber, Ulrich SPD 29.04.2004 Rente wurde eingeführt, um sinkende Rentenansprüche Kopp, Gudrun FDP 29.04.2004 aus der gesetzlichen Rentenversicherung auszugleichen. Bisher berechnet die Versicherungswirtschaft Beiträge Dr. Leonhard, Elke SPD 29.04.2004 allein nach Sterbetafeln, die nach Geschlecht ausgerich- tet sind. Das Grundgesetz regelt in Art. 3 Abs. 3, dass Letzgus, Peter CDU/CSU 29.04.2004* niemand aufgrund seines Geschlechts benachteiligt wer- den darf. Dem muss in besonderem Maße zu Beginn der Leutheusser- FDP 29.04.2004* langfristigen Umgestaltung von staatlicher hin zu priva- Schnarrenberger, ter Altersvorsorge Rechnung getragen werden, wenn die Sabine Altersvorsorge mit staatlicher Förderung subventioniert Link (Diepholz), Walter CDU/CSU 29.04.2004 wird. Lintner, Eduard CDU/CSU 29.04.2004* Anlage 3 Dr. Lucyga, Christine SPD 29.04.2004* Zu Protokoll gegebene Rede Matschie, Christoph SPD 29.04.2004 zur Beratung des Entwurf eines Gesetzes zur Raidel, Hans CDU/CSU 29.04.2004 Änderung der Regelungen über Altschulden landwirtschaftlicher Unternehmen (Tagesord- Schäfer (Bochum), Axel SPD 29.04.2004 nungspunkt 7) Scharping, Rudolf SPD 29.04.2004 Petra Pau (fraktionslos): Wir schreiben das Jahr * Dr. Scheer, Hermann SPD 29.04.2004 2004. Ein Problem der deutschen Einheit ist noch immer Schily, Otto SPD 29.04.2004 nicht gelöst: das Problem der so genannten Landwirt- schafts-Altschulden. Leider ändern die heute zur Ab- Dr. Schwanholz, Martin SPD 29.04.2004 stimmung stehenden Gesetzentwürfe daran nichts. Des- halb lehnt die PDS im Bundestag beide Gesetzentwürfe Siebert, Bernd CDU/CSU 29.04.2004* prinzipiell ab; ebenso die dazu gehörigen Anträge, 9570 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. April 2004

(A) zumal diese nur auf kosmetische Operationen zur Scha- Genauso kritisch sehe ich das Hauptanliegen des Ge- (C) densbegrenzung hinaus laufen. setzes, die Betriebe mit der eben geschilderten Verschär- fung zur Ablösung ihrer Altkredite durch eine betriebli- Erstens kann keiner ernsthaft erwarten, dass die PDS che Einmalzahlung zu nötigen. Immerhin müssten die diesem Gesetz zustimmt, nachdem Anfang der 90er- meisten Betriebe dafür keine billig und schnell zu haben- Jahre die erforderliche Wertberichtung verweigert den Neukredite aufnehmen. wurde. Sie wäre – wie auch die SPD in der Opposition gefordert hatte – die ökonomisch sauberste Lösung ge- Unzumutbar ist, dass die geforderte Prognosebewer- wesen. Stattdessen wird seit mehr als einem Jahrzehnt tung für die künftige Gewinnentwicklung des Unterneh- eine untergesetzliche, niemals vom Bundestag abgeseg- mens nicht mit dem Geltungszeitraum der Reform der nete Altschuldenregelung praktiziert. EU-Agrarpolitik synchronisiert ist, abgesehen davon, dass die nationale Umsetzung trotz Beschlussfassung im Unakzeptabel ist, dass Betriebe für Altkredite ohne Bundestag noch nicht in trockenen Tüchern ist, denn der Werthaltigkeit bluten sollen. Die zu DDR-Zeiten kredit- Bundesrat bzw. der Vermittlungsausschuss hat noch finanzierten Tierbestände sind doch längst nicht mehr nicht abgestimmt. da. Die mussten nach der Währungsunion, um Liquidität Die Landwirte im Allgemeinen und hier besonders zu sichern und Löhne zahlen zu können, „für‘n Appel die vom Altschuldengesetz betroffenen Betriebe können und ‘n Ei“ verscherbelt werden. Sie wurden nie wieder mir angesichts dieser enormen Politikabhängigkeit, die aufgebaut. Und mit leeren Ställen lassen sich keine Mit- es so in keinem zweiten Wirtschaftsbereich gibt, nur tel zur Schuldenbezahlung erwirtschaften. Aber das wis- Leid tun. Das hat nichts mit Planungssicherheit zu tun. sen Sie alle selbst. Eine Zahlungsverpflichtung sehe ich Irgendwie scheint es dieser Bundesregierung am Vermö- nur für in der Produktion befindlichen kreditfinanzierten gen zur nötigen Komplexität der Problemlösung zu man- Objekte. geln. Zweitens steht für mich auch bei Anerkenntnis der Notwendigkeit einer endgültigen gesetzlichen Lösung fest: Die hier vorgelegte ist es nicht. Der Regierungs- Anlage 4 gesetzentwurf ist ein „Verschlimmerungsgesetz“. Das Zu Protokoll gegebene Rede ergibt der Vergleich mit der derzeit geltenden Altschul- denregelung auf der Basis von Rangrücktrittsvereinba- zur Beratung: rungen und bilanziellen Entlastungen. – Entwurf eines … Strafrechtsänderungsge- Dabei verkenne ich nicht, dass durch den Änderungs- setzes – § 201 a StGB (B) (D) antrag der Koalitionsfraktionen einiges verbessert wird – – Gesetz zum verbesserten Schutz der Privat- allerdings völlig unzureichend. Offenbar haben die sphäre Finanzexperten der Koalition die Oberhand behalten, obwohl die weit weniger als Sie, verehrte Kollegin – Gesetz zum verbesserten Schutz der Intim- Waltraud Wolf, die Lage der LPG-Nachfolger mit Alt- sphäre krediten kennen. Auch das ist mir Bestätigung meiner – Entwurf eines … Strafrechtsänderungsge- Kritik aus der ersten Lesung, dass bei dieser Bundes- setzes – Schutz der Intimsphäre regierung fiskalische Interessen Vorrang gegenüber agrarpolitischen Erfordernissen haben. (Tagesordnungspunkt 9)

Fakt ist, dass die Reduzierung des jährlichen Abfüh- Petra Pau (fraktionslos): Man mag es kaum glauben: rungssatzes auf 55 gegenüber 65 Prozent im ursprüngli- In seiner Regierungserklärung vom 27. Juni 1990 – nach chen Gesetzentwurf – derzeit sind es nur 20 Prozent – Bildung der rot-grünen Landesregierung in Niedersach- eine nach wie vor unangemessen hohe Belastung dar- sen – führte Ministerpräsident Gerhard Schröder aus: stellt. Selbst unter dieser politisch als Verbesserung ver- „Die strafrechtliche Bewältigung gesellschaftlicher Pro- kauften Bedingung kommt es gegenüber den bestehen- bleme und Konflikte muss Ultima Ratio bleiben. Diesem den Rangrücktrittsvereinbarungen – auch wegen der Anspruch wird das geltende Recht nicht gerecht. Die unangemessenen Verbreiterung der Bemessungsgrund- Gesetzgebung des Bundes bedarf neuer Anstöße, die zu lage – zu einer mehr als vierfachen Erhöhung der jährli- einer Entpolitisierung und Liberalisierung des Straf- und chen Zahlungsverpflichtungen. Strafprozessrechts, zu einer Entkriminalisierung des ge- sellschaftlichen Lebens … beitragen“. Die von mir in der ersten Lesung genannten Befürch- tungen in Bezug auf die Liquidität, die Eigenkapitalbil- Auch wenn sich Gerhard Schröder als Bundeskanzler dung und Kreditfähigkeit haben Sie nicht ausräumen offenkundig von jenen Einsichten weit entfernt hat, be- können. Vielmehr dürfte die Fortführung der Rangrück- sitzt für uns – auch vor dem Hintergrund der ostdeut- trittsvereinbarungen unter verschärften Bedingungen zu schen Geschichte – das Strafrecht immer noch die Funk- einer existenziellen Bedrohung nicht weniger Betriebe tion einer Ultima Ratio der Sozialkontrolle. Dieser werden. In Anbetracht der viel diskutierten ökonomi- Funktion liegt die Erkenntnis der Strafrechtswissen- schen und sozialen Situation Ostdeutschlands kann ich schaft zugrunde, dass Strafandrohungen kaum zu Verhal- nicht nachvollziehen, wie Sie, meine Damen und Her- tensänderungen beitragen. Das Strafrecht ist – ganz im ren, das ernsthaft verantworten wollen. Gegenteil zur Ansicht derer, die die Strafgesetzgebung Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. April 2004 9571

(A) in den letzten zehn Jahren forcierten – eben kein Allheil- androhung vorsehen – bis zu zwei Jahre Freiheitsent- (C) mittel zur Bewältigung gesellschaftlicher Konflikte oder zug – oder bereits die Beobachtung – „Astlochgucker“ – zur Einwirkung auf verbreitete Einstellungen, Verhal- unter Strafe stellen wollen, was völlig unakzeptabel ist – tensweisen in der Bevölkerung. nicht alles, was wir moralisch anstößig finden, ist auch strafwürdig –, sieht jener Entwurf noch einen engen Tat- Deshalb ist immer zu prüfen, ob andere gesellschaftli- bestand vor und droht ebenso wie das Kunsturheberge- che Regelungssysteme als Steuerungsinstrumente zur setz nur eine Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr als Sank- Verfügung stehen und der Nutzen des Strafrechts in spe- tion an. Insgesamt ist jener Entwurf in seiner Struktur zial- oder generalpräventiver Hinsicht gegeben ist. Und auch genauer. Ich stimme diesem also zu. wenn eine strafrechtliche Ahndung geboten ist, muss ge- prüft werden, ob die Einwirkung auf den Betroffenen Allerdings kann ich mir und Ihnen eine Bemerkung mit weniger einschneidenden Maßnahmen zu erreichen zu dieser Debatte und zum Gesetz nicht ersparen: Sie ist. entspringen einer sehr doppelbödigen, ja zwiespältigen Moral. Denn Sie vernebeln den Blick dafür, von welcher Vor diesem Hintergrund habe ich mit der Arbeitsge- Seite der Privatsphäre oder Intimsphäre der Bürgerinnen meinschaft der Juristinnen und Juristen in und bei der und Bürger nämlich die meiste Gefahr droht: Es sind die PDS beraten. Ich stellte fest, dass es sehr unterschiedli- kleinen und großen Lauschangriffe, die Telefon- und Vi- che Auffassungen und Empfehlungen zum Abstim- deoüberwachungen, also die staatlich sanktionierten mungsverhalten gibt. Die einen meinte eine Einführung Grundrechtseingriffe. Von daher ist die Gesetzesinitia- des § 20l a StGB – unabhängig in welcher Fassung – tive auch ein ganzes Stück verlogen. Denn sie geht von wäre abzulehnen. Sie werde dem Ultima-Ratio-Gedan- denjenigen aus, die zugleich die staatlichen Eingriffsbe- ken nicht gerecht. fugnisse ins Unermessliche steigern. Nun, wenn Sie es Die Strafvorschrift des § 33 Kunsturheberrecht ist ernst meinen mit dem Schutz der Intim- oder höchstper- völlig ausreichend. Sie bedroht das Veröffentlichen von sönlichen Privatsphäre, dann nehmen Sie das Bundes- Abbildungen ohne Einwilligung des Betroffenen mit verfassungsgerichtsurteil zum großen Lauschangriff einem Jahr Freiheitsstrafe. Dem Geschädigten stehen zi- zum Anlass, um auf diesem Feld abzurüsten. Eine solche vilrechtliche Beseitigungs- und Unterlassungs- sowie Maßnahme wäre ein wirksamer Schutz der Privatsphäre Schadenersatz- und Schmerzensgeldansprüche zur Ver- und würde den Intentionen des Bundeskanzlers aus dem fügung, die viel eher seinen Interessen entsprechen als Jahre 1990 entsprechen. die staatliche Strafverfolgung.

Insofern besteht vorliegend gar keine Regelungsnot- Anlage 5 (B) wendigkeit. Auch gibt es noch zwei Gründe, die gegen (D) diese Kriminalisierung sprechen: Wir brauchen ja nur in Zu Protokoll gegebene Rede die aktuellen Kriminalstatistiken zu schauen, um festzu- stellen, dass das Strafrecht als wirksames Instrument der zur Beratung der Unterrichtung durch die Bun- Sozialkontrolle infrage gestellt ist. Seine Appellations- desregierung: Wohngeld- und Mietenbericht kraft ist begrenzt. Es ist daher eine immer wieder erho- 2002 (Tagesordnungspunkt 14) bene Forderung der Strafrechtswissenschaft – beispiels- weise vertreten durch den Bundesverfassungsrichter Petra Pau (fraktionslos): Die Bundesregierung hat Winfried Hassemer –, das Strafrecht auf das relevante einen Bericht zum Wohnen, zum Wohngeld und zu Mie- sozialschädliche Verhalten zu begrenzen, um dem Kern- ten vorgelegt. Das ist wichtig, denn er betrifft einen zen- strafrecht eine höhere Bedeutung als Instrument der So- tralen Bereich des Lebens überhaupt. Mit einer Woh- zialkontrolle zu verschaffen. Die heute zu diskutierende nung könne man einen Menschen erschlagen, hat Zille Initiative geht genau in die andere Richtung. mal gesagt – mit Mietkosten auch, ließe sich ergänzen. In diesem Kontext ist auch auf die Belastung der Der Bericht enthält zahlreiche Zahlen, Statistiken und Strafrechtspflege hinzuweisen. Die Konzentration des Vergleiche. Nehmen wir sie als gesetzt. Es bleibt ohne- Strafrechts auf das Wesentliche eröffnet die Möglichkeit, hin genug Raum für unterschiedliche Bewertungen. auch die Tätigkeit der Strafrechtspflege auf Schwer- Ich halte als Erstes fest: Im Vergleich zu 1998 gab es punkte zu konzentrieren. – Soweit der erste Rat. 2002 insgesamt 1,6 Millionen Wohneinheiten mehr. Für Die anderen Mitglieder der PDS-Arbeitsgemeinschaft 38,5 Millionen Haushalte stehen damit 39 Millionen schlossen sich meiner Meinung aus der Debatte des Ge- Wohnungen zur Verfügung, zumindest statistisch. Nun setzentwurfes der FDP zum verbesserten Schutz der In- wissen wir alle: Der Durchschnitt bundesweit ist das timsphäre aus der 14. Legislaturperiode an und meinten, eine, die konkrete Lage in den verschiedenen Regionen es gebe einen allerdings sehr eng zu fassenden Gesetzge- ist etwas anderes. Hinzu kommen große Mietdifferenzen bungsbedarf. und die lassen sich beileibe nicht immer marktwirt- schaftlich, schon gar nicht sozial erklären. Um es grob Deshalb ist der interfraktionelle Entwurf auf Drucksa- zu sagen: Rein statistisch haben wir ein Überangebot an che 15/2466 der rechtsstaatlich unbedenklichste. Gegen- Wohnungen. Es gibt aber keine fallenden Mieten. Sie über den anderen Vorschlägen der CDU, Drucksache steigen weiter, wenn auch etwas langsamer. Und das be- 15/533, und der FDP, Drucksache 15/361, die schon den lastet jene mehr, die weniger haben, also vor allem Mie- Versuch kriminalisieren, eine exorbitant hohe Straf- terinnen und Mieter mit niedrigen Einkommen. 9572 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. April 2004

(A) Daran hat auch die Novelle des Wohngeldgesetzes im Übrigen täte es einer sachlichen Debatte gut, wenn wir (C) Jahre 2001 kaum etwas geändert. Auch ein zweiter uns nicht immer von Presse-Schlagzeilen instrumentali- Missstand wirkt ungebrochen fort: der Ost-West-Unter- sieren ließen. schied. Im Bericht wird eingeschätzt, die jeweiligen Sie behaupten, auf Ihr Drängen können die Frauen Mieten hätten sich weiter angeglichen. Das mag ober- und wenigen Männer im Mini-Job-Bereich seit dem flächlich stimmen. Aber zwei andere Fakten gehören 1. April „brutto für netto“ arbeiten. Ich sage Ihnen, dank gleichsam in die Rechnung. Zum einen sind die Löhne unserer Intervention können auch diese Beschäftigten und Gehälter im Osten noch immer deutlich niedriger als durch die Aufstockungsoption ihre Rentenbiographie im Westen. Außerdem liegen die Betriebskosten in den positiv gestalten. Nicht nur, dass sie damit auch weiter- neuen Bundesländern zumeist über denen, die in den al- hin REHA-Maßnahmen in Anspruch nehmen können – ten Bundesländern erhoben werden. sie erreichen eine geschlossene Beitragszeit. Dies ist ge- Hinzu kommt ein dritter Umstand: Die Arbeitslosig- rade für Frauen wichtig, für Sie aber höchstens was für keit im Osten ist extrem hoch, mehr als doppelt so hoch Sonntagsreden – demnächst ist ja wieder Muttertag. wie im Westen. Das hat Folgen, die sich aufschaukeln. Die Aufspaltung des Arbeitsmarktes in tarifgebun- Zum einen wächst die Zahl der Wohngeldberechtigten dene Niedriglohn- und sonstige Arbeitsverhältnisse mit und dadurch die finanziellen Belastungen für die Kom- gravierenden Folgen für die zukünftige Rente dieser Ge- munen. Zum anderen erleben wir eine Auswanderungs- neration protegieren wir nicht, sondern wir sorgen dafür, welle, die in ihrem Ausmaß nur mit der Zeit vor dem dass möglichst alle Arbeitsverhältnisse sozialversiche- Mauerbau vergleichbar ist. Das führt zu einem ungesun- rungspflichtig sind, also auch jene, die in Haushalten den Überangebot an Wohnungen und wiederum zu zu- vorhanden sind. Nun sagen Sie, im Bereich privater sätzlichen Lasten für die Kommunen. Haushalte ist die Nachfrage nach einfachen Dienstleis- Es macht also wenig Sinn, die eine Wohnungsstatistik tungen hoch. Andererseits verlangen Sie von der Bun- mit der nächsten zu vergleichen. Solange die Wohnungs- desregierung, für geordnete Strukturen im Teilarbeits- politik das eine will und die Arbeitsmarktpolitik das an- markt der haushaltsnahen Dienstleistungen zu sorgen. dere bewirkt, so lange kommt nichts Gutes dabei heraus. Dazu sollte die Bundesregierung auf die Erfahrungen zu- Und solange die Bundespolitik forsch beschließt, was rückgreifen, die in den 25 Modellprojekten bundesweit die Kommunen ausbaden müssen, solange wachsen die gemacht wurden. Wobei festzustellen war, dass beim Probleme. Wegfall der hohen Subventionen an die Dienstleistungs- agenturen, diese ihre Arbeit einstellen mussten. Deshalb wiederhole ich: Die Politik von Rot-Grün ist insgesamt nicht schlüssig, sie ist sogar kontraproduktiv. Was wollen Sie nun eigentlich? Ihr Herr Koch will (B) Das steht zwar nicht über Ihrem Bericht, aber das zeigt doch solche Subventionen abschaffen, besonders wenn (D) sich im Leben. dadurch der Wettbewerb von gewerblichen Anbietern verzerrt wird. An welche geordneten Strukturen für den Haushaltsbereich denken Sie da? Oder geht es Ihnen nur Anlage 6 um die steuerliche Absetzbarkeit für Aufwendungen? Das hatten wir doch schon einmal. Sie hatten doch noch Zu Protokoll gegebene Reden zu Ihrer Regierungszeit die Anhebung der steuerlichen zur Beratung des Antrags: Arbeitsplätze im Be- Absetzbarkeit von Haushaltshilfen von 12 000 DM auf reich privater Dienstleistungen schaffen – Rah- 18 000 DM pro Jahr durchgedrückt. Allerdings konnten menbedingungen für Dienstleistungszentren damals nur die Kosten abgesetzt werden, die durch ein und -agenturen (Tagesordnungspunkt 15) echtes sozialversicherungspflichtiges Arbeitsverhältnis entstanden. Weil davon so gut wie alle Haushalte nichts hatten, wurde dieses Dienstmädchenprivileg auch abge- Doris Barnett (SPD): Um es gleich vorneweg zu sa- schafft. gen: Ihrem Antrag kann die sozialdemokratische Frak- tion nicht zustimmen. Dies hat mehrere Gründe, auf die Nun haben Sie eine Reihe von Handlungsbedarfen ich im Folgenden eingehen werde. Das Erste, was bei und Forderungen aufgestellt, die ich so nicht stehen las- dem Antrag der Opposition auffällt, ist die Feststellung, sen kann und will. Sie lamentieren, dass in Dienstleis- dass es noch zu oft Schwarzarbeit gibt. Das Nächste, was tungszentren für Haushaltsdienstleistungen höhere auffällt, ist die Aussage, dass man dies Vorgehen der Preise verlangt werden im Vergleich zu Schwarzarbeits- Bundesregierung dagegen bei der CDU kriminalisieren preisen. Damit fordern Sie ja wohl vom Steuerzahler, nennt. Daraus folgt, dass nach Ansicht der CDU/CSU dass er den Unterschiedsbetrag zwischen legalem und Schwarzarbeit im Haushalt – in welchem Umfang auch Schwarzarbeit-Preis der Dienstleistungsagentur zu- immer – ein zu tolerierender Volkssport ist, gegen den schießt. Haben Sie eine Vorstellung, über wie viel Geld man am besten nichts macht! Sie hier reden und wie man an dieses herankommen will. Seinerzeit, als wir das Dienstmädchenprivileg abschaff- Aber so, meine Damen und Herren, funktioniert un- ten, haben wir die frei gewordenen Mittel für die Fami- sere Gesellschaft nicht. Wenn wir schon Dienstleistun- lienförderung eingesetzt. Da werden Sie diese wohl gen im Haushalt privilegieren, dann können wir erwar- nicht wegnehmen wollen. ten, dass sich dann alle Akteure an die für sie geltenden Bestimmungen halten. Und diese Erwartung ist keines- Darüber hinaus fordern Sie eine komplette steuerliche wegs eine „Kriminalisierung“ – wie Sie es darstellen! Im Abzugsfähigkeit für die Aufwendungen, die für die Ver- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. April 2004 9573

(A) sorgung, Betreuung und Erziehung von Unterhaltsbe- arbeitsspezifische Ausbildungen? Das wird aber wegen (C) rechtigten bezahlt werden. Darf ich fragen, was davon einer möglichen Doppelförderung eher nicht möglich die allein erziehende Mutter hat? Oder die junge Fami- sein. lie, die wegen geringen Einkommens ebenfalls keine Steuern zahlt? Können die sich eine Nanny leisten, deren Wir sind uns ja in einigen Zielen einig: Angesichts der hohen Arbeitslosigkeit wollen und müssen wir im Kosten ihre nicht bestehende Steuerpflicht vermindert? Beschäftigungsbereich einfacher Tätigkeiten mehr Ar- Nein! Sie gehen hier einen anderen Weg. Statt eine or- beitsmöglichkeiten schaffen; dazu bedarf es Anreize für dentliche Versorgung mit Betreuungseinrichtungen zu beide Seiten, die aber so sein müssen, dass sie in die Flä- unterstützen – wie zum Beispiel unser U 3-Programm = che wirken, also möglichst viele davon einen Nutzen ha- Betreuungseinrichtung für unter 3jährige – setzen Sie ben. Mit dem Hartz II-Gesetz haben wir das gemeinsam wieder – wie beim Dienstmädchen – darauf, dass jeder umgesetzt. Jetzt, nach einem Jahr, bereits über weitere Haushalt Einzelnachfrager ist und deshalb individuelle Anreize, besonders über weitere großzügige Steuerer- Lösungen bevorzugt werden müssen. leichterungen für eine kleine Gruppe zu reden, ist ver- Wer meint, er braucht eine Privatbetreuung und Pri- fehlt. Zunächst brauchen wir robuste Daten, wie die bis- vatschule für seine Kinder, der soll sie auch bekommen, her eingesetzten Mittel und Maßnahmen wirken. Wir aber nicht über Steuerumverteilung und zulasten von brauchen eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Programmen, die den Leuten zugute kommen, die öf- Beruf. Nicht zuletzt wegen der demographischen Ent- fentliche Einrichtungen in Anspruch nehmen. wicklung, aber auch wegen der guten Ausbildung, die Frauen nachzuweisen haben, wäre es töricht, dieses Po- Selbst aus Ihren auf den ersten Anschein gut gemein- tenzial an Arbeitskräften nicht zu nutzen. Dabei müssen ten Anträgen erkennt man Ihr elitäres Gesellschaftsmo- wir mehrere Strategien verfolgen: Frauen weiter fördern, dell: privat geht vor öffentlich und somit wird auch pri- gut ausbilden und entsprechend einsetzen. Das animiert vat von der Allgemeinheit kräftig unterstützt. Unsere auch die Unternehmen, ihre weiblichen Mitarbeiter zu Vorstellungen sind da doch ganz andere. fördern und nicht wegen ihrer biologischen Besonderheit aufs Karriere-Abstellgleis zu befördern. Andererseits Sie monieren fehlende Strukturen des Arbeitsmarktes, wird ja anerkannt, dass Hausarbeit Arbeit ist, die ihren fehlender Bekanntheitsgrad der Dienstleistungsagentu- Preis hat. Diejenigen, die diese Arbeit versehen, sollen ren, mangelnde Transparenz des Angebotes. Gleichzei- sich nicht als billige Dienstmagd verstehen, sondern als tig verweisen sie auf die vielfältigen Modellprojekte. Im moderne Dienstleisterinnen, die für gute Arbeit auch gu- Übrigen gibt es bereits in vielen Bundesländern seit Jah- ten Lohn erwarten dürfen, der auch rentenrechtlich rele- ren Projekte, Programme, Gelder vom Land, kombiniert vant ist. Insgesamt müssen wir uns als Gesellschaft da- mit ESF-Mitteln usw. Ich gehe davon aus, Ihnen geht es rauf verständigen, dass Kinderbetreuung und Pflege (B) darum, neben den Mitteln des Bundes für die steuerliche zwar individuell geregelt werden können, aber wegen (D) Berücksichtigung von Haushaltsdienstleistungen weitere der dazu nötigen Kompetenz zunehmend professionell Gelder für den Aufbau flächendeckender Dienstleis- erbracht werden. Das ist uns als Gesellschaft ja auch et- tungsagenturen zu bekommen. Wenn es doch eine so was wert. große Nachfrage gibt, wie nicht nur Sie, sondern auch andere feststellen, dann müsste sich doch dieser Markt In diesen Bereichen sehen wir Wachstumsfelder für selbst regeln. Schließlich sollten Sie der FDP nicht stän- Beschäftigung. Dabei braucht es nicht immer mehr Steu- dig mit zu viel staatlichem Dirigismus kommen! ermittel, vielleicht wäre es schon hilfreich, bei persönli- chen Dienstleistungen nicht immer das Wort Niedrig- Nun fordern Sie ja auch, dass sich die Bundesagentur lohn mit anzuheften. Denn sonst qualifizieren wir ja für Arbeit über die Arbeitsplatzpotenziale informieren selbst die Arbeit ab, die an und für sich gefördert werden müsste und Jobvermittler daraufhin gezielter schulen sollte. Nicht nur das Ziel muss stimmen – auch der Weg, sollte. Die Existenzgründer sollten auch bezüglich dieses der dazu führt! Arbeitsmarktsektors – Haushaltsdienstleistungen – spe- zielles Management-Knowhow erhalten. Da rennen Sie Rita Pawelski (CDU/CSU): Derzeit gibt es in aber offene Türen ein. Deutschland etwa 39 Millionen Privathaushalte. In Sie bemängeln, dass es keine Qualifikation von Ar- 5 Millionen davon sind beide Ehepartner berufstätig. beitnehmerinnen und Arbeitnehmern für hauswirtschaft- 3,6 Millionen haben eine Haushaltshilfe, aber nur etwas liche Dienstleistungen gibt. Wie stellen Sie sich denn das über l Prozent dieser Arbeitskräfte ist angemeldet. Um vor? Es fallen ja unter diesen Dienstleistungen neben es deutlicher zu sagen: Von 3,6 Millionen Arbeitskräften dem Putzen auch Gartenarbeiten, Einkaufen, kleinere arbeiten nur rund 40 000 legal. Das ist ein kurzer Über- Reparaturen an, auch mal ein Zimmer streichen. Wenn blick über die Situation des deutschen Arbeitsmarktes im Sie auf der einen Seite sagen, es handle sich bei Haus- Bereich Haushaltshilfen. haltsdienstleistungen um einfache Tätigkeiten, anderer- Deutschland ist – leider nicht nur in diesem Bereich – seits für diese Beschäftigungsfelder eine Infrastruktur in eine Dienstleistungswüste. Wir haben mindestens drei Form von Dienstleistungsagenturen fordern, dann Gründe, diese Dienstleistungswüste in eine blühende müsste man doch annehmen können, dass in diesen Oase umzuwandeln: Agenturen qualifiziert wird. Denn nur dann, wenn sie qualifizierte Arbeit liefern, werden sie mehr Aufträge Erster Grund: Die Zahl berufstätiger Eltern mit klei- bekommen. Oder wollen Sie für Existenzgründerinnen nen Kindern wächst. Im April 1991 waren es 51,8 Pro- und -gründer neben den Management-Kursen auch noch zent der gesamten Privathaushalte, im April 2002 9574 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. April 2004

(A) 56 Prozent der gesamten Privathaushalte. Also sind im- ist er – Gott sei Dank – gescheitert. Schnüffelei in Pri- (C) mer mehr Haushalte auf Hilfe von außen angewiesen. vathaushalten wollen wir nicht. Der Bedarf an Dienstleistungen im privaten Haushalt nimmt zu, er wird in Zukunft noch weiter wachsen. Wir wollen andere Wege beschreiten, illegale Jobs in legale umzuwandeln. Ein erster Stein wurde mit der Ein- Zweiter Grund: Immer mehr Mütter sind berufstätig, führung der Mini-Jobs gelegt. Die bestehende Minijob- aber die Betreuungssituation in Deutschland gerade für Regelung ist mit seiner 12-prozentigen pauschalen Kinder unter drei Jahren ist schlecht, sehr schlecht. Es Steuer- und Beitragspflicht ein sehr attraktives Angebot fehlen nicht nur Krippenplätze, sondern auch Tagesmüt- für Arbeitnehmer und Arbeitgeber, um die Arbeit im ter. Das sind Frauen – es soll auch ein paar Männer ge- Privathaushalt zu legalisieren, bzw. sollte es sein; die ben –, die stundenweise Kinder anderer betreuen, also Zahlen bestätigen dies nicht. Darum ist der Versuch, den einer Dienstleistung nachgehen. Arbeitsmarkt Privathaushalt allein auf Grundlage der Minijobs zu legalisieren, gescheitert. Wir müssen nach Dritter Grund: Deutschland überaltert. Wir haben im- anderen Möglichkeiten suchen. mer mehr Menschen, die Hilfe von außen brauchen, nicht nur, weil sie keine Zeit oder Lust haben, die anfal- Wir fordern die Einrichtung und Förderung von lende Hausarbeit zu verrichten, sondern weil sie zu alt Dienstleistungsagenturen. Diese fungieren als Vermittler oder behindert sind. zwischen den Arbeitgebern im Privathaushalt und den potenziellen Arbeitnehmern. Sie vermitteln Haushalts- Haben Sie schon einmal versucht, eine Hilfe für Ihren hilfen, Gärtner, Tagesmütter oder Pflegedienste. Sie tra- Haushalt, eine Tagesmutter, eine Pflegehilfe zu engagie- gen nicht nur dazu bei, dieses Personal zu vermitteln und ren? Dann kennen Sie ja die Bedingungen. Fragen Sie die oft gescheuten Formalitäten bei der Einstellung zu bei einer Arbeitsagentur nach, fällt die Antwort negativ übernehmen, sondern sie garantieren gleichzeitig auch aus: Unsere Arbeitsagenturen geben sich mit „Putzhil- die Qualität und Zuverlässigkeit der Beschäftigten. Da- fen“ nicht ab. Dienstleistungen für den häuslichen Be- rüber hinaus wird bei Krankheit oder Ausfall eine Er- reich sind dort stark unterrepräsentiert. Eine zweite satzkraft gestellt und auch die Haftung und der Versiche- Möglichkeit ist dann, eine Annonce in der Zeitung auf- rungsschutz bei Unfällen wird geregelt. zugeben. Und wer meldet sich? 80 Prozent sind Auslän- derinnen ohne Aufenthalts- oder Arbeitserlaubnis oder Das erleichtert berufstätigen Müttern, hilfebedürfti- Frauen, die sich „nur etwas auf die Hand dazuverdienen gen Senioren und gestressten Menschen die tägliche Ar- wollen“. Es ist schon schwer, in Deutschland ein ehrli- beit zu Hause. Es trägt dazu bei, Müttern die Vereinba- cher Arbeitgeber für dienstbare Geister zu sein. rung von Familie und Beruf zu erleichtern, und möglicherweise auch dazu, Ja zum Kind zu sagen, weil Das belastet natürlich auch diejenigen, die Familie (B) die Sorgen um Betreuung und Bewältigung der zusätzli- (D) und Beruf vereinen wollen. Mütter werden dreifach be- chen Arbeiten im Haushalt minimiert werden. lastet – Beruf, Kinder, Haushalt. Sie zerreißen sich zwi- schen diesen wichtigen und anstrengenden Aufgaben. Ein weiterer Vorteil ist, dass viele Agenturen durch Dass die Väter nach Feierabend noch partnerschaftlich die Möglichkeiten zur Weiterbildung und Qualifizierung bei der Hausarbeit zupacken, stellt sich leider nur zu oft das Berufsbild „Haushaltshilfe“ aufwerten und damit als reines Wunschdenken heraus, sagt zumindest die Sta- eine berufliche Perspektive eröffnen. Gleichzeitig er- tistik. Erwerbstätige Mütter in Paarhaushalten mit Kin- möglichen Dienstleistungsagenturen eine Bündelung der dern unter sechs Jahren investieren täglich sechs Stun- Kleinarbeitsverhältnisse in Privathaushalten, sodass für den für Haushaltsführung und Kinderbetreuung. Das ist die Arbeitnehmer ein vollwertiger und abgesicherter Ar- dreimal so viel Zeit, wie ihre Männer für derartige Auf- beitsplatz entsteht. Außerdem wird so – das ist nicht gaben verwenden. Angesichts dieser Dreifachbelastung ganz unwichtig – die Finanzlage im System der sozialen müssen wir uns nicht wundern, wenn sich die demogra- Sicherung gestärkt. phische Situation verschärft und Deutschland schrumpft und altert. Mitte der 90er-Jahre wurden 25 Modellprojekte „Dienstleistungsagenturen“ von der Bundesregierung Wir reden hier über 3,6 Millionen Arbeitskräfte in gefördert. Sie sind leider alle gescheitert. Leider – und Haushalten. Ich schätze, dass diese Zahl eher zu niedrig das bedaure ich sehr – hat sich die Bundesregierung als zu hoch gegriffen ist. 3,6 Millionen Arbeitskräfte überhaupt nicht darum gekümmert, warum die Dienst- – damit sind die deutschen Haushalte, würde man sie zu- leistungsagenturen nicht vorankamen. In der Antwort sammenfassen, mit einem Riesenabstand der größte Ar- der Bundesregierung auf unsere Anfrage „Arbeitsplatz beitgeber in der Bundesrepublik, weit vor Siemens mit Privathaushalt“ vom 3. März 2004 hat sie schmählich 430 000 Beschäftigten oder der Deutschen Post mit eingestehen müssen, dass sie keinerlei Kenntnisse über 375 000 Mitarbeitern. 3,6 Millionen Arbeitskräfte – und Arbeit, Förderung und Ansiedlung der Dienstleistungs- es könnten mehr werden, wenn es uns endlich gelingt, agenturen hat. Sie weiß nicht, wie viele Personen über die Vermittlung dieser Menschen zu erleichtern, wenn es Dienstleistungsagenturen in Privathaushalten beschäftigt uns gelingt, den Arbeitsplatz Haushalt als Arbeitgeber waren. Sie weiß nicht einmal, ob es überhaupt noch Haushalt anzuerkennen und ihn steuerlich entsprechend Dienstleistungsagenturen gibt. Das ist nicht nur peinlich. zu behandeln, und wenn es uns gelingt, die illegalen Ar- Es ist schon sträflich nachlässig, sich nicht um diesen beitskräfte in legale umzuwandeln. Ihr unglücklich agie- wichtigen Bereich zu kümmern, ihm nicht aus den Start- render Minister Eichel hatte versucht, diesen Missstand löchern herauszuhelfen und Existenzgründungen zu er- durch Schnüffelei im Privathaushalt zu beheben. Damit möglichen. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. April 2004 9575

(A) Die CDU/CSU-Fraktion will ein gezieltes Beratungs- Leider greift der Antrag in wesentlichen Punkten zu (C) angebot für Existenzgründerinnen und Existenzgründer. kurz und vernachlässigt die Effekte unserer Reform der Der Wachstumsmarkt Dienstleistung bietet hervorra- geringfügigen Beschäftigung. Zunächst ist festzuhalten, gende Chancen für Menschen, die ihr eigener Chef wer- dass es im Bereich der geringfügigen Beschäftigung den wollen. Dringend notwenig ist aber parallel dazu auch im privaten Bereich innerhalb eines Jahres eine eine gründliche Entrümpelung und Entbürokratisierung Vervierfachung gegeben hat. Ein weiterer Anstieg der des Gründungsverfahrens. Es darf nicht sein, dass ein Zahl der Minijobs im Haushaltsbereich ist sicher zu er- künftiger Selbstständiger sage und schreibe neun ver- warten, da die Bearbeitungskapazitäten der Bundes- schiedene Stellen durchlaufen und 45 Tage warten muss, knappschaft durch die jüngst erfolgte Entsperrung von bis er endlich Chef sein darf, während sein Kollege in 650 Stellen erheblich ausgeweitet worden ist. Der große Kanada nach drei Tagen, in Australien sogar nur in zwei Ansturm privater Haushalte, den die Bundesknappschaft Tagen dieses Ziel erreicht hat. Noch einmal: Wir reden jetzt hoffentlich bewältigen kann, zeigt, dass die privaten hier über einen potenziellen Arbeitsmarkt für über 4 Mil- Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber die rechtlichen Vo- lionen Menschen. raussetzungen für ein Beschäftigungsverhältnis kennen, zumal die Anmeldung über die Minijobzentrale denkbar Dabei gab es bei dieser Regierung durchaus gute An- einfach ist. sätze. Im Koalitionsvertrag von 1998 haben Sie sich für eine Förderung der Dienstleistungsagenturen im privaten Sie behaupten hingegen, dass Rechtskenntnis und Un- Sektor ausgesprochen. Sie wollten die Voraussetzungen rechtsbewusstsein schwach ausgeprägt seien. Die tat- dafür schaffen, „dass die Beschäftigungschancen des sächliche Entwicklung beweist das Gegenteil! Gleich- Dienstleistungssektors besser genutzt werden“. Dazu wohl weist der Antrag der CDU/CSU zurecht darauf hin, wollten Sie Haushaltsdienstleistungen und private dass eine privatwirtschaftliche Struktur für den Bereich Dienstleistungsagenturen fördern. Doch leider setzten der Dienstleistungszentren und -agenturen unterentwi- Sie Ihre großen Ziele mal wieder nicht um; denn in der ckelt ist und hier ein erhebliches noch ungenutztes Po- schon erwähnten Antwort auf unsere Anfrage kann man tenzial für die Beschaffung legaler Beschäftigungsver- bis auf eine Verbesserung der steuerlichen Rahmenbe- hältnisse besteht. dingungen keine weiteren Bestrebungen seitens der Bun- desregierung erkennen, Dienstleistungsunternehmen zu- In der Tat wäre es zu überlegen, ob nicht verbesserte künftig zu unterstützen. steuerliche Bedingungen, eine verbesserte Beratungs- struktur sowie eine verbesserte Qualifikationsstruktur Die steuerliche Abzugsfähigkeit von derzeit 20 Pro- zum Ausbau gewerblicher Dienstleistungszentren führen zent, höchstens jedoch 600 Euro für die Beauftragung können. Allerdings setzen Sie bei steuerlichen Überle- (B) von Dienstleistungsagenturen ist der richtige Weg, aber gungen auf der Ebene der Nachfragenden an. Damit be- (D) es reicht nicht. Damit sich die Dienstleistungsagenturen günstigen Sie einseitig die einkommensstarken Haus- besser auf dem Markt behaupten können, ist es wichtig, halte mit entsprechend hoher Steuerpflicht. dass bestehende oder geplante Unternehmen, die sich auf die Vermittlung von Arbeitnehmern für den Privat- Wir dagegen schlagen vor, die Dienstleistungszentren haushalt spezialisieren, gezielt gefördert werden. Es gibt direkt zu entlasten und etwa von der Umsatzsteuerpflicht zwar zahlreiche Hilfen für Existenzgründer, doch der zu befreien. Damit wäre es möglich, zur Schwarzarbeit Bereich Privathaushalt fristet ein Schattendasein. Hier konkurrenzfähige Marktpreise anzubieten und gleichzei- besteht also dringender Handlungsbedarf. Ein wegwei- tig den dort Beschäftigten einen auskömmlichen Stun- sendes Beratungsangebot sowohl in hauswirtschaftlicher denlohn zu zahlen. Auch Nachfrager mit geringer steuer- als auch in betriebswirtschaftlicher Hinsicht ist dabei un- licher Belastung könnten die auf diese Weise geförderten umgänglich. Preise zahlen. Der Anreiz, auf Schwarzarbeit zurückzu- greifen wäre deutlich verringert. Meine sehr geehrten Damen und Herren der Regie- Der Ansatz, einfache Dienstleistungen direkt zu för- rungskoalition, mit den steuerlichen Maßnahmen zur dern, stellt eine gangbare und vor allen Dingen bezahl- Besserstellung des Arbeitsplatzes Privathaushalt wurde bare Alternative zu einem flächendeckenden Niedrig- der richtige Weg beschritten. Seien Sie mutig und nicht lohnsektor dar. Kombiniert man die finanziellen Anreize so zögerlich und fördern Sie noch intensiver den größten mit den in Ihrem Antrag angesprochenen Qualifikations- Arbeitgeber Deutschlands, den Privathaushalt, nicht zu- möglichkeiten, so besteht tatsächlich die Perspektive, letzt im Interesse von Frauen und Familien. Dienstleistungszentren und Agenturen zu einer Wirt- schaftsbranche auszubauen, die nicht nur der Schwarzar- Markus Kurth (Bündnis 90/Die Grünen): Der CDU- beit das Wasser abgräbt, sondern auch existenzsichernde Antrag zur Verbesserung der Rahmenbedingungen Pri- Löhne zahlen kann. Sie sehen also: Gemeinsame Schnitt- vater Dienstleistungen geht von den Zielen her in die mengen sind vorhanden. Es wäre nur schön, wenn Sie richtige Richtung. Eine verbesserte Qualifikation von sich von den vulgärökonomischen Ansichten eines Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern für hauswirt- Friedrich Merz trennen könnten und einsähen, dass Er- schaftliche Dienstleistungen ist sicherlich ebenso wün- folge bei der Entwicklung von Arbeitsmärkten für Ge- schenswert wie die Erschließung von Geschäftsfeldern ringqualifizierte nur dann möglich sind und von den von Dienstleistungszentren und -agenturen im Pflegebe- Beschäftigten akzeptiert werden, wenn Sie mit Arbeits- reich, um nur zwei Beispiele aus Ihrem Antrag zu nen- einkommen verbunden sind, von denen die Beschäftigten nen. auch leben können. Wäre diese Verbindung in Ihrem 9576 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. April 2004

(A) Antrag gelungen, hätte die Fraktion Bündnis 90/Die Grü- 10 Prozent, maximal 510 Euro jährlich, für Aufwendun- (C) nen ihm durchaus zustimmen können. So aber müssen gen von Dienstleistungsagenturen 20 Prozent, maximal wir diesen Antrag ablehnen. aber 600 Euro jährlich steuerlich absetzbar. Für einen voll sozialversicherungspflichtigen Job können bis zu 12 Dirk Niebel (FDP): Die Diskussion über das Gesetz Prozent des Aufwandes, höchstens aber 2 400 Euro gel- gegen Schwarzarbeit und die Androhung, als Schwer- tend gemacht werden. Das reicht nicht aus, um Arbeits- verbrecher behandelt zu werden, haben dazu geführt, platzpotenziale im Privathaushalt auszuschöpfen und ef- dass zahlreiche Putzstellen in Haushalten bei der Bun- fektive Anreize für mehr legale Beschäftigung zu setzen. desknappschaft als geringfügige Beschäftigungen ange- Allerdings werden im Privathaushalt kaum Vollzeit- meldet wurden. Die Minijobs boomen. 1,3 Millionen kräfte benötigt. Die Tätigkeit dauert im Regelfall nur neue Minijobs, davon 100 000 in Privathaushalten, wur- wenige Stunden und wird vielleicht einmal wöchentlich den seit April 2003 gemeldet. Ende November waren es benötigt. Rein rechnerisch könnte auf vier private Haus- nach Berechnung der Bundesagentur rund 4,45 Millio- halte eine Vollzeitstelle kommen. Eine repräsentative nen. Union und Koalition schreiben sich das als Erfolgs- Umfrage hat 2002 ergeben, das in 38 Millionen Privat- geschichte auf ihre Fahnen. Allerdings werden 50 Pro- haushalten 1,3 Millionen gelegentlich und 2,3 Millionen zent von Schülern und Studenten ausgeübt und weitere regelmäßig Putz- und Haushaltshilfen in Anspruch neh- 20 Prozent von Rentnern. men, in legalen oder illegalen Beschäftigungsverhältnis- sen. Dabei wurde nur ein Gesetz zurückgenommen. Die rot-grüne Koalition hatte 1998 in einer Nacht-und-Ne- Warum haben sich Dienstleistungsagenturen bisher bel-Aktion beschlossen, die geringfügigen Beschäfti- nicht so etabliert, wie der Markt es hergeben würde? Sie gungen zu reduzieren. Jetzt ist alles wieder beim Alten. können sich nur entwickeln, wenn ihre Dienste nicht we- Positiv ist, dass durch die höhere Verdienstgrenze die sentlich teurer sind als Schwarzarbeit. Wenn ein be- Schwelle zur Aufnahme einer Teilzeitbeschäftigung he- stimmter Qualitätsstandard eingehalten wird, darf es et- rabgesetzt wurde, wenn auch inzwischen unter bestimm- was teurer sein. Die positiven Nebeneffekte sind die ten Bedingungen ein Rechtsanspruch auf Teilzeitarbeit verbesserte Betreuung von Kindern und Pflegebedürfti- entsteht. Die Arbeitslosigkeit wurde bisher nicht spürbar gen. gesenkt. Aus unserer Sicht wäre es günstiger gewesen, die Einkommensgrenze auf 630 Euro zu erhöhen und Dienstleistungsagenturen können einen legalen Markt eine pauschale Besteuerung vorzunehmen. für Dienstleistungen in Privathaushalten wecken und entwickeln. Damit können geringfügige Beschäftigun- Menschen ohne Berufsqualifikation haben in gen gefördert werden. Private Haushalte haben als Ar- (B) Deutschland ein besonders hohes Arbeitsplatzrisiko. Die beitgeber wenig Erfahrung und wollen sich oft auch dem (D) Ursachen kennen wir: der schnelle technische Fort- bürokratischen Aufwand nicht aussetzen. Hier können schritt, mangelnde Investitionen in Schule und Ausbil- Dienstleistungsagenturen ansetzen, die im Übrigen auch dung in Deutschland und der verkrustete Arbeitsmarkt. für die Zuverlässigkeit ihrer Mitarbeiter garantieren Haushaltliche Tätigkeiten wie Putzen, Gartenarbeiten müssen. oder Reparaturen sind oftmals Anlerntätigkeiten, ein Po- tenzial für Langzeitarbeitslose und zukünftige ALG-II- Der Vorteil für die Arbeitnehmer sind regelmäßige Empfänger. Aufträge, regelmäßiger Lohn und ein rechtlicher und so- zialer Schutz. Gegebenfalls sind sogar Fortbildungs- und Einfache Dienstleistungen in Privathaushalten wer- Aufstiegsmöglichkeiten bis zur Existenzgründung vor- den häufig in Schwarzarbeit erledigt. Hier gibt es kaum handen. sozialversicherungspflichtige Jobs. Kosten von mehr als 10 Euro werden vom Arbeitgeber Privathaushalt als zu teuer angesehen, während Arbeitnehmer nicht bereit sind, für weniger als 7 Euro eine Arbeit zu verrichten, Anlage 7 die wenig gesellschaftliche Anerkennung findet. Zu Protokoll gegebene Reden Wenn diese Tätigkeit legalisiert wird und sozialversi- zur Beratung des Antrags: Umsetzung der Ge- cherungspflichtig ist, sind die Steuer- und Abgabenbe- meinsamen Erklärung zum 40. Jahrestag des lastungen im Vergleich zum Nettolohn zu hoch. Das ist Élysée-Vertrags – Regionale und interregionale weder für den Arbeitgeber noch für den Arbeitnehmer Zusammenarbeit – Schaffung von Eurodistrik- interessant. Der Nettolohn hat kaum mehr als das Niveau ten (Zusatztagesordnungspunkt 5) von Lohnersatzleistungen, sodass ein finanzieller Anreiz zur legalen Arbeitsaufnahme bei Arbeitslosen nicht ge- geben ist. Gunther Krichbaum (CDU/CSU): Im Januar 2003 durften wir ein historisches Datum feiern: 40 Jahre Die FDP fordert seit langem, dass Arbeitsplätze nicht deutsch-französischer Freundschaftsvertrag. Rückbli- diskriminiert werden dürfen. Ein Haushalt muss einen ckend ist dieser Vertrag eine Erfolgsgeschichte und er sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplatz steuerlich steht heute symbolhaft für die erfolgreiche Aussöhnung absetzen dürfen, genauso wie ein Handwerksbetrieb zweier ehemals verfeindeter Staaten. Diese Erfolgsge- oder ein Großunternehmen. Für Haushalte gelten ziem- schichte gilt es fortzuschreiben. In unserem Antrag vom lich komplizierte Regelungen. Für Minijobber sind Dezember 2002 griffen wir deshalb eine von Wolfgang Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. April 2004 9577

(A) Schäuble seit langem propagierte Idee auf und forderten, hat. Ebenso bleibt es bis heute nebulös, in welchen (C) die deutsch-französischen Grenzregionen zu modellhaf- deutsch-europäischen Grenzregionen gleich gelagerte ten Räumen zu entwickeln und damit für ein Zusammen- Eurodistrikte geschaffen werden sollen und welche Linie wachsen über die bisherigen Grenzen hinweg zu sorgen. die Bundesregierung hierbei verfolgt. Hier bleibt die Bundesregierung ihre Vision jedenfalls schuldig. In der Vereinbarung vom 22. Januar 2003 anlässlich des 40. Jahrestages des Élysée-Vertrages hatte diese For- derung ihren Niederschlag gefunden und so sprachen Dr. Andreas Schockenhoff (CDU/CSU): Am vor- sich der französische Staatspräsident Chirac und Bun- letzten Wochenende wurde in Kehl und Straßburg die deskanzler Schröder für die Schaffung von Eurodistrik- erste grenzüberschreitende Landesgartenschau eröffnet. ten aus. Das Gelände beiderseits des Rheins wird durch eine neue Fußgängerbrücke verbunden, die nicht nur archi- Ziel muss es nun sein, das zu überwinden, was das tektonisch ein neues Markenzeichen setzt, sondern auch Zusammenleben der Bürger und die Fortentwicklung der symbolisch eine neue Etappe der Zusammenarbeit in ei- Regionen begrenzt. Der Weg dorthin ist sicherlich stei- ner deutsch-französischen Grenzregion markiert. Das ist nig, alleine schon deshalb, weil die Vorstellungen über ein tolles und nach nur wenigen Tagen bereits ein sehr das endgültige Bild eines Bürodistrikts im Detail ausein- erfolgreiches Beispiel, wie Eurodistrikte vor Ort mit Le- ander gehen. ben erfüllt werden können. Deutlich wird dies an der zu schaffenden Modellre- Die Idee grenzüberschreitender Zusammenarbeit in gion Straßburg-Kehl/Ortenau. So ist die Größe bzw. der der Region, sie stammt übrigens von Wolfgang Umfang des Gebiets genauso offen wie die eigentlichen Schäuble, ist richtig. Diese Zusammenarbeit muss aber Kompetenzen, die hier auf den Eurodistrikt übertragen auch vor Ort gestaltet und mit Leben erfüllt werden. Es werden sollen. Gegenwärtig sind die kommunalen Ent- ist nicht unser Verständnis von Föderalismus und grenz- scheidungsträger auf deutscher wie französischer Seite überschreitender regionaler Identität, wenn nationale mit der konzeptionellen Ausarbeitung gefordert. Der Regierungen oder Landesregierungen Projekte der Euro- erste Schritt wird wohl die Schaffung eines entsprechen- distrikte vereinbaren und initiieren. den Zweckverbandes sein. Am Ende der Entwicklung sollte jedoch eine grenzüberschreitende Gebietskörper- Vielmehr ist es unsere Aufgabe als Deutscher Bun- schaft stehen. destag, die rechtlichen Rahmenbedingungen zu schaffen, Aktivitäten vor Ort nicht durch unterschiedliche Verwal- Der Eurodistrikt darf aber nicht ein verwaltungstech- tungsvorschriften auf beiden Seiten zu erschweren. nisches Modell für juristische Vorlesungen und Disserta- (B) tionen werden. Vielmehr muss er für die Bürger und von Natürlich sind Bund und Land verantwortlich für eine (D) den Bürgern mit Leben gefüllt werden. Das hat schließ- grenzüberschreitende Verkehrsinfrastruktur und Bil- lich auch die Erfolgsgeschichte des deutsch-französi- dungsangebote. Das macht aber noch nicht die Einzigar- schen Vertrags ausgemacht. In der praktischen Umset- tigkeit und die Identität eines Eurodistrikts aus. Die ent- zung bedeutet dies, dass Telefonate von Kehl nach steht durch vielfältige Aktivitäten der Bürger, der Straßburg keine Auslandsferngespräche mehr sein dür- Straßburger und Kehler Bevölkerung, der Vereine, Kir- fen. Fahrpreise im öffentlichen Nahverkehr müssen in- chen, Betriebe. Wo wir solche Initiativen fördern kön- nerhalb des Eurodistrikts einheitlich sein. Eine verkehrs- nen, nicht zuletzt auch durch Maßnahmen des Deutsch- technisch schnelle Anbindung der Bahnhöfe Offenburg Französischen Jugendwerks, sollten wir das tun. Die Zu- und Straßburg an die deutschen und französischen Hoch- sammenarbeit der Gebietskörperschaften, die in dem geschwindigkeitsnetze ist ebenso zu gewährleisten wie Antrag angesprochen wird, die Kooperation der regiona- die schnelle Verbindung zum Flughafen Straßburg. Die len Presse und viele andere gute Vorschläge aus dem An- Liste ließe sich beliebig fortsetzen, insbesondere mit der trag können wir freilich nicht im Bundestag beschließen, Schaffung grenzüberschreitender – zweisprachiger! – sondern nur ausdrücklich begrüßen und für möglichst Bildungseinrichtungen, über den kulturellen Bereich bis vielfältige solche Aktivitäten Freiraum geben. hin zu deutsch-französischen Radio- und Fernsehsen- dungen. Anna Lührmann, (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN): Diese Beispiele sind nur Mosaiksteine eines Gesamt- Für ein wirklich geeintes Europa braucht es eine enge bildes. Sie entscheiden am Ende aber darüber, ob von Vernetzung aller Ebenen. Die grenzüberschreitende Zu- dem Eurodistrikt eine für die Bürger identitätsstiftende sammenarbeit von Kommunen insbesondere zwischen Wirkung ausgeht und somit ein engeres Zusammenleben Deutschland und Frankreich hat eine lange Tradition. Sie der Menschen miteinander entsteht. ist gewachsen auf den Erfahrungen von Kriegen und Feindschaft und dem daraus entstandenen Bewusstsein Gerade die vom Mittelstand geprägte Wirtschaft wird für die friedensstiftende Wirkung von Austausch und en- von dem zu schaffenden Eurodistrikt in besonderem ger Zusammenarbeit, und zwar Zusammenarbeit nicht Maße profitieren. Hierfür ist es aber erforderlich, dass nur von Regierungen und Diplomatischen Diensten, son- innerhalb der Region gleiche gesetzliche Rahmenbedin- dern zwischen Bürgerinnen und Bürgern. Städte und gungen gelten. Mittelfristig ist dies unverzichtbar. Dabei Kommunen haben im Aussöhnungsprozess zwischen ist der Bund gefordert. Leider wurde uns bis heute je- Deutschland und Frankreich eine wichtige Rolle ge- doch kein entsprechendes Konzept seitens der Bundesre- spielt. Was nach dem zweiten Weltkrieg mit wenigen gierung vorgelegt, wann, wo und wie dies zu geschehen Städtepartnerschaften begann, hat sich heute nicht nur in 9578 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. April 2004

(A) ein dichtes Netz von europaweiten Kontakten entwi- stützen und dabei, auch im Sinne der kommunalen (C) ckelt, sondern zeichnet sich darüber hinaus durch neue, Selbstverwaltung, die federführende Kompetenz den innovative Formen der Zusammenarbeit aus. Netzwerke Kommunen überlassen. von Städten und Gemeinden sind heute schon längst grenzüberschreitend organisiert. Die Schaffung von Eu- Sibylle Laurischk (FDP): Vor gut einem Jahr haben rodistrikten ist die logische Fortentwicklung dieses kom- wir gemeinsam den 40. Jahrestag des Élysée-Vertrages munalen grenzüberschreitenden Engagements. begangen. Uns ist noch in guter Erinnerung, wie in der Die Bundesregierung hat sich zusammen mit der fran- Gemeinsamen Erklärung von Bundeskanzler Schröder zösischen Regierung für die Schaffung von Eurodistrik- und Staatspräsident Chirac erneut die deutsch-französi- ten im deutsch-französischen Grenzbereich ausgespro- sche Freundschaft bekräftigt und damit eine neue Etappe chen. Modellregionen wie der Eurodistrikt Straßburg- der Zusammenarbeit eingeleitet wurde. Das bezieht sich Kehl sind im Entstehen begriffen. Konkrete Projekte auch ganz besonders auf die unter Nummer 24 der Ge- werden schrittweise die transnationale Zusammenarbeit meinsamen Erklärung festgeschriebene regionale und in- der Kommunen festigen und eine qualitativ neue Stufe terregionale Zusammenarbeit. Eine Zusammenarbeit, die der europäischen Zusammenarbeit herstellen. Es geht da- sich zwischen den Gebietskörperschaften in den Grenz- bei in einer Anfangsphase um ganz konkrete Projekte, regionen teilweise schon gut entfaltet hat, die es aber gilt die das Modell Eurodistrikt für die Bürgerinnen und Bür- auszubauen, vor allem durch die Schaffung von Euro- ger sichtbar werden lässt – dazu zählen etwa der Ausbau distrikten. Ganz besonders liegt uns dabei die grenzüber- des grenzüberschreitenden öffentlichen Nahverkehrs, schreitende Zusammenarbeit zur Schaffung eines Anstrengungen zur besseren schulischen Vermittlung der Eurodistrikts Straßburg-Kehl, wie in der Erklärung vor- Partnersprache oder die Verknüpfung der Ressourcen der gesehen, am Herzen. Arbeitsvermittlungen. Diese Modellregionen brauchen Was hat sich nun im vergangenen Jahr getan, um die weiterhin die breitestmögliche Unterstützung, um die gu- Gemeinsame Erklärung vom 22. Januar 2003 mit Leben ten Anfänge weiter fortzuentwickeln. zu erfüllen? Deshalb will ich aber auch deutlich sagen, was wir Es hat bereits erste gute Ansätze einer kommunalen nicht wollen und was der vorliegende Antrag an man- Zusammenarbeit im Bereich des vorgesehenen Eurodis- chen Stellen impliziert. Ich beziehe mich etwa auf die trikts Straßburg-Kehl gegeben. So haben in den vergan- Ziffern I.6 und II.1 und möchte klarstellen, dass die Initia- genen Monaten auf kommunaler und regionaler Ebene tive und das Handlungsmonopol in den Händen der Zusammenkünfte stattgefunden, um schrittweise ein ers- Kommunen verbleiben müssen. Eine erfolgreiche Um- tes Ziel vorzubereiten, nämlich die Ausarbeitung einer (B) setzung des Modells Eurodistrikt wird nur gelingen, Satzung zur Gründung eines grenzüberschreitenden (D) wenn die Menschen vor Ort nicht nur einbezogen sind, Zweckverbands. Eine kommunale Arbeitsgemeinschaft sondern wenn sie auch entscheiden, wie sie ihr Gebiet konnte bisher eine Reihe von Vorarbeiten erfolgreich ab- künftig grenzüberschreitend gestalten wollen. Nur die schließen. Aber, und das will ich hier auch nicht ver- Kommunen selber haben die Kenntnis über die Mach- schweigen, es gab Irritationen, die erfreulicherweise barkeit von konkreten und den Einblick in die kommu- überwunden werden konnten. Deshalb fordern wir als nalen Bedürfnisse, mit denen garantiert werden kann, Grundvoraussetzung für eine erfolgreiche Entwicklung dass die Eurodistrikte im Dienste der Bürgerinnen und endlich die gesetzliche Grundlage des Eurodistrikts zu Bürgern entwickelt werden. Die kommunale Selbstver- schaffen. waltung hat bei uns Verfassungsrang, und ich möchte Sie, werte Kolleginnen und Kollegen von der FDP, er- In der Bevölkerung der Ortenau ist das Projekt Euro- mahnen, in ihrem Eifer für die Eurodistrikte dieses hohe distrikt auf gute Resonanz gestoßen. Es wurden mit bür- Gut nicht mit dem Badewasser auszuschütten. gerschaftlicher Initiative Arbeitskreise gebildet, die die Kooperation von Schulen und Hochschulen bis hin zur Die entstehenden Eurodistrikte haben heute noch Mo- Zweisprachigkeit, die uneingeschränkte Anerkennung dellcharakter, sie sind gewissermaßen Experimentierfel- von Bildungs- und Berufsabschlüssen, die Vereinheitli- der dafür, wie sich grenzenloses Europa entwickeln chung des Arbeitsmarktes, die Entbürokratisierung des lässt. Natürlich verlaufen solche Prozesse nicht immer Steuerbereiches, eine gemeinsame Verkehrsentwicklung, reibungslos. Denn sie bedeuten für die Kommunen ein die Abstimmung von Umweltschutzmaßnahmen, die großes Maß an Umstrukturierung, das heißt auch an Um- Einführung von Deutsch und Französisch als Amtsspra- denken. Aber ich bin durchaus guten Mutes, dass wir es che und vieles mehr vorschlagen. hier mit einem zukunftsweisenden und schließlich er- folgreichen Prozess zu tun haben. Denn eines ist bereits Wir halten es für wichtig, dass dieses bürgerschaftli- jetzt ganz deutlich: die Idee Eurodistikt ist sehr positiv che Engagement in den Entwicklungsprozess des Euro- aufgenommen worden. Es ist für die Kommunen in distrikts eingebunden wird und eine aktive Beteiligung grenznahen Regionen ein attraktiver Weg, ihre in der Re- der Bürger im Eurodistrikt möglich wird, beispielsweise gel ohnehin engen transnationalen Kontakte weiter zu durch regionale Wahlen und Teilnahme an den Verhand- vereinfachen. Von diesen Prozessen profitieren vor allem lungen auf Verwaltungsebene. die Bürgerinnen und Bürger. Gerade in Hinblick auf den am 13. Mai 2004 in Paris Die rot-grüne Bundesregierung wird deshalb die stattfindenden deutsch-französischen Gipfel fordern wir neuen Eurodistrikte weiterhin nach Möglichkeiten unter- die Bundesregierung auf, ein politisches Signal zu set- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. April 2004 9579

(A) zen, dass wir den Eurodistrikt Straßburg-Kehl wollen. und Arbeitens geht. Wir wollen den Spielraum der Kom- (C) Eine lange geplante Verknüpfung der Eisenbahn-Hoch- munen vor Ort erweitern und ihnen die europäische Di- geschwindigkeitsnetze von TGV und ICE halte ich für mension eröffnen, statt sie mit einem Top-down-Ap- äußerst dringend und duldet zur Vervollständigung der proach einzuschränken oder ihren Alltag bürokratischer europäischen Transversale Paris–Budapest über Karls- zu gestalten. ruhe, Stuttgart und München keinen Aufschub. Hier ist die Bundesregierung gefordert, schließlich ist die „gute In der Erklärung des deutsch-französischen Minister- Verkehrsanbindung“ eine Forderung der Erklärung von rats zum 40. Jahrestag des Élysee-Vertrags haben wir ge- Versailles. meinsam die Idee des Eurodistrikts Straßburg-Kehl/Or- tenau aus der Taufe gehoben und zur Gründung weiterer Das Überschreiten von Grenzen ist Thema der Euro- Eurodistrikte aufgerufen. Viele Regionen greifen diese päischen Einigung, besonders gut gelungen ist dies am Idee auf und bestätigen mit ihrem Engagement die At- Beispiel der Landesgartenschau der 2 Ufer am Rhein traktivität des Konzepts. zwischen Kehl und Straßburg. So will die Region Saarbrücken/Moselle-Est in der Der Eurodistrikt ist ein Labor europäischer grenz- kommenden Woche am 5. Mai feierlich „einen Eurodis- überschreitender Zusammenarbeit. trikt gründen“, das heißt, die konkreten Vorarbeiten da- für auf den Weg bringen. Freiburg möchte die gut funkti- In zwei Tagen wird sich die europäische Familie ver- onierende Partnerschaft mit Colmar und Mulhouse größern, die EU-Osterweiterung wird vollzogen. Die Zu- ebenfalls zu einem Eurodistrikt ausbauen. Auch die Re- kunft der Europäischen Union liegt in solchen Initiativen gion Pamina, die Südpfalz, Mittelrhein und Nordelsass wie dem Eurodistrikt. umfasst, hat sich zu der Idee bekannt. Aus diesem Grund rufe ich Sie hier und heute auf, So sehr ich die Ungeduld mancher verstehe – und sich ungeachtet der Fraktionszugehörigkeit für diese mitunter teile – so wird doch angesichts der Vielzahl der gute Sache der deutsch-französischen regionalen und in- Aktivitäten deutlich, dass das Projekt der Eurodistrikte terregionalen Zusammenarbeit zur Schaffung von Euro- gut vorankommen und hoffentlich bald zum Beispiel distrikten zu entscheiden und damit dem Antrag der dazu beiträgt, dass in ersten Pilotprojekten grenzüber- FDP-Bundestagsfraktion 15/1111 zuzustimmen. schreitende Rettungsdienste, einheitliche Nahverkehrs- netze oder gemeinsame Maßnahmen zur Luftreinhaltung Hans Martin Bury, Staatsminister für Europa: In und Lärmminderung umgesetzt werden. zwei Tagen erleben wir die Vereinigung Europas. Ein Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Wohlstands Angesichts der symbolischen Bedeutung, dem Sitz (B) entsteht. Gleichzeitig sind die Arbeiten an der europäi- des Europäischen Parlamentes, dem grenzüberschreiten- (D) schen Verfassung weit fortgeschritten. Europa hat damit den Kompetenzzentrum in Kehl und der gemeinsamen die Chance, nicht nur größer, sondern auch handlungsfä- Gartenschau, würde ich mich freuen, wenn die reichhal- higer und bürgernäher zu werden. tige Erfahrung der Zusammenarbeit und der Wahrneh- mung einer europäischen Vorreiterrolle in der Gründung Deutschland und Frankreich sind Motoren dieser Ent- des ersten Eurodistrikts Straßburg-Kehl/Ortenau mün- wicklung. Gemeinsam treiben wir die europäische Inte- den würde, wenn Straßburg-Kehl/Ortenau also seine Pi- gration voran. Gemeinsam sind wir überzeugt, dass die onierrolle ausfüllen würde. Doch das liegt primär in den Fortschritte der Integration nicht in erster Linie in Brüs- Händen der Verantwortlichen vor Ort, die meine Kolle- sel, Berlin oder Paris, sondern besonders in den europäi- gin Claudie Haigneré und ich ausdrücklich ermutigen schen Grenzregionen spürbar werden. Denn dort, wo und unterstützen. Wettbewerb zwischen den Regionen grenzüberschreitendes Leben, Studieren und Arbeiten kann das Projekt nur befördern. zum Alltag gehört, sind auch die Auswirkungen verblei- bender bürokratischer Hürden besonders störend. Die Idee der Eurodistrikte ist ein Element der gemein- samen deutsch-französischen Bestrebungen, Mobilitäts- Grenzen zu überwinden, indem wir Alltagshürden ab- hindernisse in Europa zu beseitigen. Gemeinsam mit bauen, Mobilität fördern: das ist das Ziel der Eurodis- meiner französischen Kollegin Claudie Haigneré setze trikte. Eurodistrikte sind Zukunftswerkstätten, in denen ich mich dafür ein, dass der Abbau von Mobilitätshin- neue Ideen entwickelt und getestet werden, die später dernissen bilateral und auf europäischer Ebene mit Fortschritte in ganz Europa ermöglichen. Eurodistrikte Nachdruck verfolgt wird. Unter dem Titel „Europa der sind ein bürgernahes europäisches Projekt, denn sie Bürger“ werden wir auch den deutsch-französischen Mi- bauen auf konkreter Alltagserfahrung auf. Sie tragen zu nisterrat mit diesem Thema befassen. einer transnationalen, grenzüberschreitenden regionalen Identität bei, die dazu führen kann, dass zum Beispiel die Deutschland ist der Staat mit den meisten Nachbarn Menschen auf beiden Seiten des Rheins sich als Bewoh- in Europa. Es ist uns deswegen ein Herzensanliegen, die ner einer einzigen Region verstehen, dass Grenzen nicht grenzüberschreitende Zusammenarbeit mit all unseren mehr als Trennungslinien, sondern als Ansporn zur Koo- Nachbarn auszubauen und zu intensivieren. Die rechtli- peration verstanden werden. che Basis, das Karlsruher Übereinkommen, soll deshalb auch mit anderen Nachbarn zur Grundlage neuer For- Mit Eurodistrikten verfolgen wir einen Bottom-up- men der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit wer- Ansatz, bei dem es um pragmatische, problemorientierte den. So sind wir mit Polen und der tschechischen Repu- Lösungen für Fragen des grenzüberschreitenden Lebens blik im Gespräch. Beide Regierungen prüfen von uns 9580 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 105. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. April 2004

(A) übermittelte Entwürfe für gemeinsame Abkommen. rausforderung der Globalisierung. Starke Regionen sind (C) Globalisierung und Regionalisierung sind zwei Seiten ein unverzichtbarer Teil eines Europas der Bürger. Las- derselben Medaille. Die Integration Europas – Erweite- sen Sie uns gemeinsam an der Umsetzung der Idee der rung und Vertiefung – sind unsere Antwort auf die He- Eurodistrikte arbeiten.

(B) (D)

Gesamtherstellung: H. Heenemann GmbH & Co., Buch- und Offsetdruckerei, Bessemerstraße 83–91, 12103 Berlin Vertrieb: Bundesanzeiger Verlagsgesellschaft mbH, Amsterdamer Str. 192, 50735 Köln, Telefon (02 21) 97 66 340, Telefax (02 21) 97 66 344 ISSN 0722-7980