Plenarprotokoll 15/102

Deutscher

Stenografischer Bericht

102. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 1. April 2004

Inhalt:

Erweiterung und Abwicklung der Tagesord- , Bundesministerin nung ...... 9147 A BMBF ...... 9160 A Absetzung der Tagesordnungspunkte 17, 20, CDU/CSU ...... 9160 C 23 h und 23 i ...... 9148 B Jörg Tauss SPD ...... 9163 A Nachträgliche Ausschussüberweisungen . . . . 9148 B Katherina Reiche CDU/CSU ...... 9163 C Grietje Bettin BÜNDNIS 90/ Tagesordnungspunkt 3: DIE GRÜNEN ...... 9163 C a) Erste Beratung des von den Fraktionen FDP ...... 9164 A der SPD und des BÜNDNISSES 90/ (Homburg) FDP ...... 9165 A DIE GRÜNEN eingebrachten Ent- wurfs eines Gesetzes zur Sicherung fraktionslos ...... 9165 D und Förderung des Fachkräftenach- Dr. SPD ...... 9166 D wuchses und der Berufsausbil- dungschancen der jungen Genera- Dagmar Wöhrl CDU/CSU ...... 9168 A tion (Berufsausbildungssicherungs- gesetz – BerASichG) (Spandau) SPD ...... 9170 C (Drucksache 15/2820) ...... 9148 C b) Antrag der Abgeordneten Cornelia Pieper, Christoph Hartmann (Hom- Tagesordnungspunkt 4: burg), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Ausbildungsplatz- Antrag der Abgeordneten Karl-Josef abgabe verhindern – Wirtschaft Laumann, Dagmar Wöhrl, weiterer Abge- nicht weiter belasten – Berufsausbil- ordneter und der Fraktion der CDU/CSU: dung stärken Weichen stellen für eine bessere Be- (Drucksache 15/2833) ...... 9148 D schäftigungspolitik – Wachstumspro- gramm für Deutschland Jörg Tauss SPD ...... 9149 A (Drucksache 15/2670) ...... 9172 A CDU/CSU ...... 9151 B Karl-Josef Laumann CDU/CSU ...... 9172 B Dr. Thea Dückert BÜNDNIS 90/ Klaus Brandner SPD ...... 9175 C DIE GRÜNEN ...... 9154 A FDP ...... 9176 A Cornelia Pieper FDP ...... 9155 B Karl-Josef Laumann CDU/CSU ...... 9177 D Edelgard Bulmahn, Bundesministerin BMBF ...... 9157 A Rainer Brüderle FDP ...... 9179 B Friedrich Merz CDU/CSU ...... 9159 C BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN . . 9181 B II Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. April 2004

Dirk Niebel FDP ...... 9184 A tung der EU-Hilfsmaßnahmen für Südosteuropa CDU/CSU ...... 9184 D (Drucksache 15/2424) ...... 9196 C Fritz Kuhn BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN . . 9185 C g) Antrag der Abgeordneten Ulla CDU/CSU ...... 9186 D Burchardt, Jörg Tauss, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion der SPD so- SPD ...... 9188 B wie der Abgeordneten Grietje Bettin, Dirk Niebel FDP ...... 9189 B (Köln), weiterer Abge- ordneter und der Fraktion des BÜND- Dr. Hermann Kues CDU/CSU ...... 9190 B NISSES 90/DIE GRÜNEN: Aktions- Klaus Brandner SPD ...... 9191 A plan zur UN-Weltdekade „Bildung für nachhaltige Entwicklung“ SPD ...... 9192 D (Drucksache 15/2758) ...... 9196 C Wolfgang Grotthaus SPD ...... 9194 B

Tagesordnungspunkt 23: Tagesordnungspunkt 22: a) Zweite und dritte Beratung des von der a) Erste Beratung des von der Bundesre- Bundesregierung eingebrachten Ent- gierung eingebrachten Entwurfs eines wurfs eines Gesetzes zu der in Rom Gesetzes zur Sicherung von Ver- am 17. November 1997 angenomme- kehrsleistungen (Verkehrsleistungs- nen Fassung des Internationalen gesetz – VerkLG) Pflanzenschutzübereinkommens (Drucksache 15/2769) ...... 9196 A (Drucksachen 15/2544, 15/2754) . . . . 9196 D b) Erste Beratung des von der Bundesre- b) Zweite Beratung und Schlussabstim- gierung eingebrachten Entwurfs eines mung des von der Bundesregierung Gesetzes zu dem Abkommen vom eingebrachten Entwurfs eines Geset- 3. März 2003 zwischen der Regie- zes zum Zusatzabkommen vom rung der Bundesrepublik Deutsch- 15. Oktober 2003 zu dem Abkom- land und der Regierung der Repu- men vom 4. Oktober 1954 zwischen blik Türkei über die Zusammenarbeit der Bundesrepublik Deutschland bei der Bekämpfung von Straftaten und der Republik Österreich zur mit erheblicher Bedeutung, insbe- Vermeidung der Doppelbesteue- sondere des Terrorismus und der or- rung auf dem Gebiet der Erbschaft- ganisierten Kriminalität steuern (Drucksache 15/2724) ...... 9196 A (Drucksachen 15/2721, 15/2847) . . . . 9197 A c) Erste Beratung des vom Bundesrat ein- c) Zweite und dritte Beratung des von der gebrachten Entwurfs eines Gesetzes Bundesregierung eingebrachten Ent- zur Änderung des Gesetzes über wurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag Ordnungswidrigkeiten vom 13. Mai 2002 zwischen der Bun- (Drucksache 15/780) ...... 9196 B desrepublik Deutschland und Ka- nada über die Rechtshilfe in Strafsa- d) Erste Beratung des vom Bundesrat ein- chen gebrachten Entwurfs eines … Geset- (Drucksachen 15/2598, 15/2840) . . . . 9197 B zes zur Änderung des Strafvollzugs- gesetzes d) Zweite Beratung und Schlussabstim- (Drucksache 15/2252) ...... 9196 B mung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Geset- e) Antrag der Abgeordneten Michael zes zu dem Zusatzvertrag vom Kauch, Birgit Homburger, weiterer 13. Mai 2002 zu dem Vertrag vom Abgeordneter und der Fraktion der 11. Juli 1977 zwischen der Bundesre- FDP: Haftungsregeln als eigenstän- publik Deutschland und Kanada diges Instrument europäischer Um- über die Auslieferung weltpolitik (Drucksachen 15/2599, 15/2841) . . . . 9197 C (Drucksache 15/2011) ...... 9196 B e) Zweite und dritte Beratung des von der f) Antrag der Abgeordneten Dr. Rainer Bundesregierung eingebrachten Ent- Stinner, (Münster), weite- wurfs eines Gesetzes zu dem Proto- rer Abgeordneter und der Fraktion der koll betreffend die Verringerung von FDP: Grundsätzliche Neuausrich- Versauerung, Eutrophierung und Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. April 2004 III

bodennahem Ozon (Multikompo- (Drucksachen 15/1783, 15/2357, nenten-Protokoll) vom 30. Novem- 15/2557, 15/2830, 15/2636 Nr. 2.40, ber 1999 im Rahmen des Überein- 15/2848) 9199 B kommens von 1979 über weiträumige grenzüberschreitende b) Beschlussempfehlung des Ausschus- Luftverunreinigung ses nach Art. 77 des Grundgesetzes (Drucksachen 15/2410, 15/2846) . . . . 9197 D (Vermittlungsausschuss) zu dem Ge- setz zur Änderung der Vorschriften f) Zweite und dritte Beratung des von der über die Anfechtung der Vaterschaft Bundesregierung eingebrachten Ent- und das Umgangsrecht von Bezugs- wurfs eines Gesetzes zur Umsetzung personen des Kindes und zur Ein- des Beschlusses des Rates (2003/725/ führung von Vordrucken für die JI) vom 2. Oktober 2003 zur Ände- Vergütung von Berufsbetreuern rung von Art. 40 Abs. 1 und 7 des (Drucksachen 15/2253, 15/2492, Übereinkommens zur Durchfüh- 15/2716, 15/2831) ...... 9199 C rung des Schengener Übereinkom- mens vom 14. Juni 1985 betreffend c) Beschlussempfehlung des Ausschus- den schrittweisen Abbau der Kon- ses nach Art. 77 des Grundgesetzes trollen an den gemeinsamen Gren- (Vermittlungsausschuss) zu dem Ge- zen setz zur Umsetzung des Beschlusses (Drucksachen 15/2546, 15/2842) . . . . 9198 A (2002/187/JI) des Rates vom 28. Fe- bruar 2002 über die Errichtung von g) Zweite Beratung und Schlussabstim- Eurojust zur Verstärkung der Be- mung des von der Bundesregierung kämpfung der schweren Kriminali- eingebrachten Entwurfs eines Geset- tät (Eurojust-Gesetz – EJG) zes zu dem Protokoll Nr. 13 vom (Drucksachen 15/1719, 15/2484, 3. Mai 2002 zur Konvention zum 15/2717, 15/2832) ...... 9199 D Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten über die vollstän- d) Beschlussempfehlung und Bericht des dige Abschaffung der Todesstrafe Finanzausschusses zu der Unterrich- (Drucksachen 15/2549, 15/2844) 9198 B, C tung durch die Bundesregierung: Vor- schlag für eine Richtlinie des Rates j) Beschlussempfehlung und Bericht des zur Änderung der Richtlinie 2003/ Ausschusses für Umwelt, Naturschutz 96/EG im Hinblick auf die Möglich- und Reaktorsicherheit zu der Ver- keit der Anwendung vorübergehen- ordnung der Bundesregierung: der Steuerermäßigungen und Dreizehnte Verordnung zur Durch- Steuerbefreiungen auf Energieer- führung des Bundes-Immissions- zeugnisse und elektrischen Strom schutzgesetzes (Verordnung über durch bestimmte Mitgliedstaaten Großfeuerungs- und Gasturbinen- (Drucksachen 15/2636 Nr. 2.40, anlagen – 13. BImSchV) 15/2848) 9199 D (Drucksachen 15/2596, 15/2630 Nr. 2.1, 15/2802) ...... 9198 C e) Beschlussempfehlung des Rechtsaus- schusses: Übersicht 6 über die dem k) – o) Deutschen Bundestag zugeleiteten Beschlussempfehlungen des Petitions- Streitsachen vor dem Bundesverfas- ausschusses: Sammelübersichten 103, sungsgericht 104, 105, 106 und 107 zu Petitionen (Drucksache 15/2834) ...... 9200 A (Drucksachen 15/2763, 15/2764, f) – j) 15/2765, 15/2766, 15/2767) 9198 D–9199 A Beschlussempfehlungen des Petitions- in Verbindung mit ausschusses: Sammelübersichten 108, 109, 110, 111 und 112 zu Petitio- nen (Drucksachen 15/2835, 15/2836, Zusatztagesordnungspunkt 2: 15/2837, 15/2838, 15/2839) ...... 9200 A–C a) Beschlussempfehlung des Ausschus- ses nach Art. 77 des Grundgesetzes (Vermittlungsausschuss) zu dem Ge- Tagesordnungspunkt 6: setz zur Förderung der Ausbildung und Beschäftigung schwerbehinder- Zweite und dritte Beratung des von der ter Menschen Bundesregierung eingebrachten Entwurfs IV Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. April 2004

eines Gesetzes zur Umsetzung der Re- , Bundesministerin BMJ . . . . 9232 A form der gemeinsamen Agrarpolitik (Drucksachen 15/2553, 15/2770, 15/2843, Siegfried Kauder (Bad Dürrheim) 15/2851) ...... 9200 C–D CDU/CSU ...... 9233 D Jella Teuchner SPD ...... 9200 D BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN ...... 9234 D CDU/CSU ...... 9202 A Jerzy Montag BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 9235 D Ulrike Höfken BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN ...... 9203 B Siegfried Kauder (Bad Dürrheim) CDU/CSU ...... 9236 C Hans-Michael Goldmann FDP ...... 9204 C Waltraud Wolff (Wolmirstedt) SPD ...... 9206 A Dr. FDP ...... 9237 C Peter H. Carstensen (Nordstrand) Joachim Stünker SPD ...... 9239 A CDU/CSU ...... 9207 D Daniela Raab CDU/CSU ...... 9240 D Renate Künast, Bundesministerin BMVEL . . 9210 A CDU/CSU ...... 9211 C Michael Müller (Düsseldorf) SPD ...... 9213 C Tagesordnungspunkt 8: Beschlussempfehlung und Bericht des Namentliche Abstimmung ...... 9214 D Ausschusses für Kultur und Medien

Ergebnis ...... 9219 C – zu dem Antrag der Fraktionen der SPD, der CDU/CSU, des BÜNDNIS- SES 90/DIE GRÜNEN und der FDP: Deutsch als Arbeitssprache auf eu- ropäischer Ebene festigen – Ver- Tagesordnungspunkt 7: stärkte Förderung von Deutsch als Vereinbarte Debatte: zu den Ergebnissen erlernbare Sprache im Ausland des Frühjahrsgipfels der Europäischen – zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Union am 25./26. März 2004 , Günter Nooke, weite- Hans Martin Bury, Staatsminister für rer Abgeordneter und der Fraktion der Europa ...... 9215 B CDU/CSU: Deutsch als dritte Ar- beitssprache auf europäischer CDU/CSU ...... 9216 D Ebene – Verstärkte Förderung von Anna Lührmann BÜNDNIS 90/ Deutsch als lernbare Sprache im DIE GRÜNEN ...... 9221 B Ausland (Drucksachen 15/1574, 15/468, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger FDP . . 9222 D 15/1951) ...... 9242 C Martin Dörmann SPD ...... 9224 A Dr. Peter Gauweiler CDU/CSU ...... 9242 D Sabine Leutheusser-Schnarrenberger Eckhardt Barthel (Berlin) SPD ...... 9244 B FDP ...... 9225 C Hans-Joachim Otto (Frankfurt) FDP ...... 9245 C Dr. Gerd Müller CDU/CSU ...... 9226 A Rainder Steenblock BÜNDNIS 90/ Rainder Steenblock BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN ...... 9246 B DIE GRÜNEN ...... 9227 C Heinrich-Wilhelm Ronsöhr CDU/CSU . . . . 9247 B Petra Pau fraktionslos ...... 9228 A Hedi Wegener SPD ...... 9248 A Dr. Martin Schwanholz SPD ...... 9228 D CDU/CSU ...... 9230 B

Tagesordnungspunkt 9:

Tagesordnungspunkt 5: a) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit Erste Beratung des von der Bundesregie- zu dem Antrag der Abgeordneten rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- Dr. Michael Bürsch, , zes zur Reform des Sanktionenrechts weiterer Abgeordneter und der Frak- (Drucksache 15/2725) ...... 9231 D tion der SPD sowie der Abgeordneten Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. April 2004 V

Volker Beck (Köln), SPD ...... 9264 D (Berlin), weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/ Dr. FDP ...... 9266 B DIE GRÜNEN: Öffentlich-private Jochen-Konrad Fromme CDU/CSU ...... 9267 A Partnerschaften (Drucksachen 15/1400, 15/2663) 9249 B BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN ...... 9268 A b) Antrag der Abgeordneten , Gudrun Kopp, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Privatisie- rung und öffentlich-private Partner- schaften Tagesordnungspunkt 11: (Drucksache 15/2601) ...... 9249 B Antrag der Abgeordneten Ingrid Arndt- Brauer, und weiteren Ab- Dr. Michael Bürsch SPD ...... 9249 B geordneten: Mehr Demokratie wagen Dr. Michael Fuchs CDU/CSU ...... 9251 A durch ein Wahlrecht von Geburt an (Drucksache 15/1544) ...... 9269 B BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN ...... 9253 A Rolf Stöckel SPD ...... 9269 C Ingrid Fischbach CDU/CSU ...... Gudrun Kopp FDP ...... 9254 B 9270 D Klaus Haupt FDP ...... 9272 C Dr. Ditmar Staffelt, Parl. Staatssekretär BMWA ...... 9255 B Irmingard Schewe-Gerigk BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN ...... 9273 D Otto Fricke FDP ...... 9255 D Petra Pau fraktionslos ...... 9275 B CDU/CSU ...... 9257 A Johannes Singhammer CDU/CSU ...... 9275 D Barbara Wittig SPD ...... 9276 C Tagesordnungspunkt 10: Dr. BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN ...... 9277 D a) Erste Beratung des von den Abgeord- neten Dr. Andreas Pinkwart, Dr. Daniel Bahr (Münster) FDP ...... 9279 A Günter Rexrodt, weiteren Abgeordne- ten und der Fraktion der FDP einge- brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Begrenzung, Befristung und degres- Tagesordnungspunkt 12: siven Gestaltung von Subventionen (Subventionsbegrenzungsgesetz) Zweite und dritte Beratung des von der (Drucksache 15/2061) ...... 9258 D Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes gegen den unlauteren b) Unterrichtung durch die Bundesregie- Wettbewerb (UWG) rung: Bericht der Bundesregierung (Drucksachen 15/1487, 15/2795) ...... 9280 C über die Entwicklung der Finanzhil- fen des Bundes und der Steuerver- Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär günstigungen gemäß § 12 des Geset- BMJ ...... 9280 D zes zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft CDU/CSU ...... 9281 C (StWG) vom 8. Juni 1967 für die CDU/CSU ...... Jahre 2001 bis 2004 (19. Subventi- 9282 B onsbericht) Ulrike Höfken BÜNDNIS 90/ (Drucksache 15/1635) ...... 9259 A DIE GRÜNEN ...... 9284 A , Parl. Staatssekretär BMF ...... 9259 B FDP ...... 9285 A Georg Schirmbeck CDU/CSU ...... 9260 C Dirk Manzewski SPD ...... 9286 C Anja Hajduk BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN . 9262 B Dr. Jürgen Gehb CDU/CSU ...... 9287 C Dr. Andreas Pinkwart FDP ...... 9263 C Kurt J. Rossmanith CDU/CSU ...... 9288 B Jörg-Otto Spiller SPD ...... 9264 B Ursula Heinen CDU/CSU ...... 9289 D VI Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. April 2004

Hartmut Schauerte CDU/CSU ...... 9291 A , Parl. Staatssekretärin BMI ...... 9305 A

Tagesordnungspunkt 13: Tagesordnungspunkt 16: Antrag der Abgeordneten Gero Antrag der Abgeordneten Cajus Caesar, Storjohann, Dirk Fischer (), wei- Peter H. Carstensen (Nordstrand), weiterer terer Abgeordneter und der Fraktion der Abgeordneter und der Fraktion der CDU/ CDU/CSU: Kleinlaster sicherer machen CSU: Urwaldschutz durch nachhaltige (Drucksache 15/2577) ...... 9305 D Holz- und Forstwirtschaft stärken (Drucksache 15/2747) ...... 9292 B Nächste Sitzung ...... 9306 C Cajus Caesar CDU/CSU ...... 9292 C

Hartmut Schauerte CDU/CSU ...... 9293 C Anlage 1 Gabriele Hiller-Ohm SPD ...... 9294 D Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . 9307 A Dr. Christel Happach-Kasan FDP ...... 9296 A

Cornelia Behm BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN ...... 9296 D Anlage 2 Reinhold Hemker SPD ...... 9297 C Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Dr. Gesine Lötzsch und Petra Pau (beide frak- tionslos) zur namentlichen Abstimmung über den Entwurf eines Gesetzes zur Umsetzung Tagesordnungspunkt 14: der Reform der gemeinsamen Agrarpoli- tik (Tagesordnungspunkt 6) ...... 9307 B Antrag der Fraktionen der SPD, der CDU/ CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- NEN und der FDP: Rating-Agenturen: Integrität, Unabhängigkeit und Trans- parenz durch einen Verhaltenskodex Anlage 3 verbessern Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung (Drucksache 15/2815) ...... 9298 D des Antrags: Rating-Agenturen: Integrität, Unabhängigkeit und Transparenz durch ei- nen Verhaltenskodex verbessern (Tagesord- nungspunkt 14) Tagesordnungspunkt 15: Reinhard Schultz (Everswinkel) SPD ...... 9307 D Antrag der Abgeordneten , Gisela Piltz, weiterer Abge- Stefan Müller (Erlangen) CDU/CSU ...... 9308 C ordneter und der Fraktion der FDP: Passa- gierdatensammlungen und Daten- Hubert Ulrich BÜNDNIS 90/ schutzrechte – EU-Abkommen mit den DIE GRÜNEN ...... 9310 A Vereinigten Staaten von Amerika (Drucksache 15/2761) ...... 9299 A Carl-Ludwig Thiele FDP ...... 9310 C

Ernst Burgbacher FDP ...... 9299 A

Frank Hofmann (Volkach) SPD ...... 9300 B Anlage 4

Beatrix Philipp CDU/CSU ...... 9301 B Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung des Antrags: Passagierdatensammlungen und Sabine Leutheusser-Schnarrenberger Datenschutzrechte – EU-Abkommen mit FDP ...... 9302 D den Vereinigten Staaten von Amerika (Ta- gesordnungspunkt 15) BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN ...... 9304 A Petra Pau fraktionslos ...... 9312 A Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. April 2004 VII

Anlage 5 CDU/CSU ...... 9313 C Ursula Sowa BÜNDNIS 90/ Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung DIE GRÜNEN ...... 9314 B des Antrags: Kleinlaster sicherer machen (Tagesordnungspunkt 16) (Bayreuth) FDP ...... 9315 A Iris Gleicke, Parl. Staatssekretärin SPD ...... 9312 C BMVBW ...... 9315 D

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. April 2004 9147

(A) (C) Redetext

102. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 1. April 2004

Beginn: 9.00 Uhr

Präsident : auf Energieerzeugnisse und elektrischen Strom durch Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die bestimmte Mitgliedstaaten Sitzung ist eröffnet. KOM (2004) 42 endg.; Ratsdok. 5850/04 – Drucksachen 15/2636 Nr. 2.40, 15/2848 – Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die Berichterstattung: verbundene Tagesordnung erweitert werden. Die Abgeordnete Reinhard Schultz (Everswinkel) Punkte sind in der Ihnen vorliegenden Zusatzpunktliste aufgeführt: e) Beratung der Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses (6. Ausschuss) ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der CDU/CSU: Haltung der Bundesregierung zur Finanzsituation beim Übersicht 6 über die dem Deutschen Bundestag zugelei- Fernstraßenbau teten Streitsachen vor dem Bundesverfassungsgericht (siehe 101. Sitzung) – Drucksache 15/2834 – ZP 2 Weitere abschließende Beratungen ohne Aussprache f) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschus- (B) (Ergänzung zu TOP 23) ses (2. Ausschuss) (D) a) Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses nach Sammelübersicht 108 zu Petitionen Art. 77 des Grundgesetzes (Vermittlungsausschuss) zu dem – Drucksache 15/2835 – Gesetz zur Förderung der Ausbildung und Beschäfti- g) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschus- gung schwerbehinderter Menschen ses (2. Ausschuss) – Drucksachen 15/1783, 15/2357, 15/2557, 15/2830 – Sammelübersicht 109 zu Petitionen Berichterstattung: – Drucksache 15/2836 – Abgeordnete Gudrun Schaich-Walch h) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschus- b) Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses nach ses (2. Ausschuss) Art. 77 des Grundgesetzes (Vermittlungsausschuss) zu dem Sammelübersicht 110 zu Petitionen Gesetz zur Änderung der Vorschriften über die Anfech- – Drucksache 15/2837 – tung der Vaterschaft und das Umgangsrecht von Be- zugspersonen des Kindes und zur Einführung von Vor- i) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschus- drucken für die Vergütung von Berufsbetreuern ses (2. Ausschuss) Sammelübersicht 111 zu Petitionen – Drucksachen 15/2253, 15/2492, 15/2716, 15/2831 – – Drucksache 15/2838 – Berichterstattung: Abgeordneter Hans-Joachim Hacker j) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschus- ses (2. Ausschuss) c) Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses nach Sammelübersicht 112 zu Petitionen Art. 77 des Grundgesetzes (Vermittlungsausschuss) zu dem Gesetz zur Umsetzung des Beschlusses (2002/187/JI) des – Drucksache 15/2839 – Rates vom 28. Februar 2002 über die Errichtung von ZP 3 a) Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD und des Eurojust zur Verstärkung der Bekämpfung der schwe- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs ren Kriminalität (Eurojust-Gesetz – EJG) eines Gesetzes zur optionalen Trägerschaft von Kommunen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (Kommunales – Drucksachen 15/1719, 15/2484, 15/2717, 15/2832 – Optionsrecht) Berichterstattung: – Drucksache 15/2816 – Abgeordneter Hans-Joachim Hacker Überweisungsvorschlag: d) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f) Finanzausschusses (7. Ausschuss) zu der Unterrichtung Innenausschuss durch die Bundesregierung: Vorschlag für eine Richtlinie Sportausschuss des Rates zur Änderung der Richtlinie 2003/96/EG im Rechtsausschuss Hinblick auf die Möglichkeit der Anwendung vorüber- Finanzausschuss gehender Steuerermäßigungen und Steuerbefreiungen Verteidigungsausschuss 9148 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. April 2004

Präsident Wolfgang Thierse (A) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Der in der 98. Sitzung des Deutschen Bundestages (C) Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung überwiesene nachfolgende Antrag soll zusätzlich dem Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Ausschuss für Bildung, Forschung und Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent- Technikfolgenabschätzung wicklung zur Mitberatung überwiesen werden. Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Antrag der Abgeordneten Günter Nooke, Entwicklung Ausschuss für Tourismus Dr. Friedbert Pflüger, (Bre- Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen men), weiterer Abgeordneter und der Fraktion Union der CDU/CSU: Auswärtige Kultur- und Bil- Ausschuss für Kultur und Medien dungspolitik stärken Haushaltsausschuss b) Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD und des – Drucksache 15/2647 – BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN überwiesen: Ausschuss für Kultur und Medien (f) Verabschiedung eines Optionsgesetzes Auswärtiger Ausschuss – Drucksache 15/2817 – Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Überweisungsvorschlag: Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f) Haushaltsausschuss Innenausschuss Sportausschuss Sind Sie mit den Vereinbarungen einverstanden? – Rechtsausschuss Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Finanzausschuss Verteidigungsausschuss Ich rufe die Tagesordnungspunkte 3 a und 3 b auf: Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung a) Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN einge- Ausschuss für Bildung, Forschung und brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Sicherung Technikfolgenabschätzung und Förderung des Fachkräftenachwuchses und Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung der Berufsausbildungschancen der jungen Gene- Ausschuss für Tourismus ration (Berufsausbildungssicherungsgesetz – Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen BerASichG) Union Ausschuss für Kultur und Medien – Drucksache 15/2820 – Haushaltsausschuss Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Von der Frist für den Beginn der Beratung soll – so- Technikfolgenabschätzung (f) (B) weit erforderlich – abgewichen werden. Innenausschuss (D) Rechtsausschuss Darüber hinaus sollen abgesetzt werden: Tagesord- Finanzausschuss nungspunkt 17 – Alterseinkünftegesetz –, Tagesord- Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und nungspunkt 20 – Allokationsplan-Gesetz –, Tagesord- Landwirtschaft nungspunkt 23 h – Sperrzeiten für Außengastronomie –, Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Tagesordnungspunkt 23 i – Arbeitserlaubnis für auslän- Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung dische Saisonarbeitskräfte. Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Ausschuss für Tourismus Des Weiteren sollen der Tagesordnungspunkt 5 – Re- Ausschuss für Kultur und Medien form des Sanktionsrechts – erst nach Tagesordnungs- Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO punkt 7 und der Tagesordnungspunkt 19 – Erneuerbare- b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia Energien-Gesetz – vor Tagesordnungspunkt 18 aufgeru- Pieper, Christoph Hartmann (Homburg), Rainer fen werden. Brüderle, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Außerdem mache ich auf nachträgliche Überweisun- gen im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam: Ausbildungsplatzabgabe verhindern – Wirt- schaft nicht weiter belasten – Berufsausbil- Der in der 63. Sitzung des Deutschen Bundestages dung stärken überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich – Drucksache 15/2833 – dem Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Ju- gend und dem Ausschuss für Bildung, Forschung und Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung zur Mitberatung überwie- Technikfolgenabschätzung (f) sen werden. Innenausschuss Rechtsausschuss Gesetzentwurf zur Änderung der Abgaben- Finanzausschuss ordnung Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und – Drucksache 15/904 – Landwirtschaft Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend überwiesen: Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Finanzausschuss (f) Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Rechtsausschuss Ausschuss für Tourismus Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Kultur und Medien Ausschuss für Kultur und Medien Haushaltsausschuss Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. April 2004 9149

Präsident Wolfgang Thierse (A) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für Wer bedauerlicherweise auch nicht zu Wort kam, das (C) die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. – Ich waren jene Betriebe, die in diesem Lande ohne Gedöns höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. ausbilden und es als selbstverständlich ansehen. Ihnen gilt unser Dank. Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen Jörg Tauss, SPD-Fraktion, das Wort. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD) Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich war in Jörg Tauss (SPD): meinem Wahlkreis kürzlich in einem Unternehmen, das Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und sein 25-jähriges Jubiläum gefeiert hat. Der Chef hat bei Herren! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Wir bera- seiner Ansprache gesagt, er erfülle sich nun einen Her- ten heute einen Gesetzentwurf, der mit Sicherheit zu den zenswunsch, indem er eine Ausbildungswerkstatt ein- bedeutenden Gesetzentwürfen gehört; schließlich geht es richten werde. Das brauchen wir: Wir brauchen Unter- um die Zukunft der jungen Generation. nehmer, deren Herzensanliegen es ist, der jungen Generation eine Zukunft zu geben, und keine Unterneh- (Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Wie man mer, die sich aus ihrer Verantwortung verabschieden. beim Redner merkt!) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Es wäre also wichtig, dass dieses Thema ernsthaft debat- DIE GRÜNEN) tiert wird. Ich muss Ihnen aber sagen, dass die Diskus- sion um diesen Gesetzentwurf noch vor Vorlage des Tex- Aus diesem Grunde bedanke ich mich nochmals aus- tes in einem Maße von Propaganda, Desinformation, drücklich bei den 23 Prozent der Betriebe, die ausbilden falschen Zahlen und falschen Behauptungen begleitet und ohne Entlastung heute allein die Verantwortung für war, wie ich es selten erlebt habe. Ich hoffe, dass die De- die Ausbildung der jungen Generation im dualen Be- batte am heutigen Tag dazu beiträgt, die Diskussion zu reich übernehmen. versachlichen. Ich bedauere es sehr, dass sich nun auch Funktionäre (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ der Unternehmerverbände – damit meine ich durchaus DIE GRÜNEN – Eckart von Klaeden [CDU/ auch Herrn Hundt –, die in der Vergangenheit selbst ei- CSU]: Herr Clement ist gar nicht da!) nen Beitrag dazu geleistet haben, solche Ausbildungs- plätze zur Verfügung zu stellen, zum Sprachrohr derer Ich möchte Ihnen ein Beispiel nennen. Die „Financial machen, die nicht ausbilden. Das ist eine verkehrte Welt. Times Deutschland“, ein Blatt, von dem man erwarten Wir brauchen Unternehmerfunktionäre, die sich hinter (B) könnte, dass die Redakteure die normale Multiplikation die Betriebe stellen, die ausbilden, und nicht hinter die, (D) mit der Zahl Tausend beherrschen, hat sich bei den ohne- die nicht ausbilden. Vor dieser gesellschaftlichen He- hin übertriebenen Verwaltungskosten, die ermittelt rausforderung stehen wir. wurden, um eine blanke Null getäuscht. Es wurde darin geschrieben, die Kosten betrügen 730 Millionen Euro. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Das ist falsch. Es sind 73 Millionen Euro. Niemanden DIE GRÜNEN) hat das aber daran gehindert, die Zahl 730 Millionen Weil nur 23 Prozent der Betriebe ausbilden – ich sage Euro weiter abzuschreiben. – So viel zum Thema Desin- noch einmal: bei diesen bedanken wir uns herzlich –, hat formation mit falschen Zahlen. Ich hoffe, dass sich hier sich die Zahl der Ausbildungsplätze seit dem Jahr 2000 etwas ändert. um weitere 11 Prozent reduziert. Wir haben fast wieder (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ die Situation des Jahres 1998, die Sie uns überlassen ha- DIE GRÜNEN) ben. Dieser Trend, der sich über viele Jahre fortgesetzt hat, setzt sich auch weiterhin fort. Heute Morgen stand Wir haben diese Woche Interviews sehen können, in in einer Tickermeldung, dass die Zahl der Ausbildungs- denen Kleinunternehmer als vermeintlich Betroffene be- anfänger auf ein Rekordtief gefallen ist. Im vergangenen fragt wurden. Wie sich herausgestellt hat, bekämen die Jahr gab es 3 600 weniger neu besetzte Lehrstellen. Mit Betriebe, die dort genannt wurden, nach unserem Gesetz diesen nackten Zahlen haben wir es trotz aller Anstren- Geld. Auf die Frage, warum das so gesendet wurde, gungen vieler in der Wirtschaft und der Politik, die an wurde uns mitgeteilt, es handle sich um Funktionäre des keiner Stelle gering geschätzt werden sollen, zu tun. Arbeitgeberverbandes. Das ging aus den Berichten aber nicht hervor. Ich habe also die herzliche Bitte an alle, In diesem Zusammenhang bedanke ich mich aus- auch an diejenigen, die oben auf der Tribüne sitzen, um drücklich bei Bundeswirtschaftsminister Clement und über diese Debatte zu berichten, zur Sachlichkeit zu- Bundesministerin Edelgard Bulmahn, die alles getan ha- rückzukehren. ben, was möglich war, um dafür zu werben, dass die Wirtschaft auf freiwilliger Basis genügend Ausbildungs- Wer nicht zu Wort kam, das waren die Jugendlichen plätze zur Verfügung stellt. Herzlichen Dank allen in der in diesem Land, das waren junge Menschen, die Ausbil- gesamten Bundesregierung und auch vielen Kolleginnen dungsplätze suchen und brauchen. Um diejenigen sollten und Kollegen hier, die sich hierum gekümmert haben! wir uns kümmern. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten DIE GRÜNEN – Ulrike Flach [FDP]: Wie viel des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) bilden sie denn aus?) 9150 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. April 2004

Jörg Tauss (A) – Frau Kollegin Flach, ich konnte Sie nicht verstehen, es (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (C) war zu leise. Sie haben irgendetwas angemerkt, soweit des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) ich das verstanden habe. Wir können uns aber gerne noch einmal unterhalten. Gelegentlich wird gefragt: Wie kommt es zu der Quote von 7 Prozent? Interessanterweise sind es gerade Zum Ende des letzten Ausbildungsjahres waren die kleinen und mittleren Betriebe, die ihrer Verantwor- 35 000 Jugendliche unversorgt. Das sind 11 000 mehr tung nachkommen. Herr Brüderle, Sie sollten sich beim als im Vorjahr. Das bedeutet ein Plus bei der Zahl der Thema Mittelstand nicht vor den Karren der großen Be- Unversorgten um fast 50 Prozent. Diesen standen nur triebe spannen lassen. Die Großbetriebe mit 500 oder 15 000 unbesetzte Ausbildungsplätze gegenüber. Die mehr Beschäftigten sind es, die diese Quote von Lücke hat sich gegenüber dem Vorjahr also vervierfacht. 7 Prozent nicht erfüllen. Aus diesem Grunde tun wir hier Dabei sind die Jugendlichen, die in Ersatzmaßnahmen wirklich etwas für kleine und mittlere Betriebe, die ihrer gehen, nicht mit eingerechnet. Ich meine damit insbe- Verantwortung nachkommen. sondere diejenigen, die in ein Berufsvorbereitungsjahr gehen. 2003 waren das – das müssen wir hinzurechnen – Alle anderen Betriebe wollen wir in der Tat an Kosten 46 700 Jugendliche. und Lasten von Ausbildung beteiligen. Es kann, wie ge- sagt, nicht sein, dass wenige Betriebe für alle anderen Weil in diesem Zusammenhang immer gefragt wird, die Ausbildung des Fachkräftenachwuchses überneh- was der Staat tue, sage ich Ihnen: Jeder neunte Ausbil- men. Ich will nochmals festhalten: Ausbildung ist keine dungsplatz wird heute voll aus Steuern finanziert. Damit Wohltätigkeitsveranstaltung und kein soziales Engage- dies möglich ist, haben wir 733 Millionen Euro aus ment. Es ist vielmehr eine Pflicht und liegt im Eigeninte- Steuermitteln aufgebracht. Daneben wenden wir resse der Wirtschaft zur Sicherung ihrer Zukunft. Dies 2,2 Milliarden Euro für die Berufsvorbereitung und muss man einigen immer wieder deutlich machen. Qualifizierung auf. Dies zeigt deutlich: Der Staat zieht sich aus seiner Verantwortung nicht zurück. Ganz im (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Gegenteil: Wir nehmen unsere Verantwortung insbeson- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) dere auch für die Jugendlichen, die noch nicht berufsreif sind – wir wissen, dass es welche gibt –, wahr. Es geht um die Sicherung des Nachwuchses. Über Fach- kräftemangel zu klagen und gleichzeitig nicht auszubil- Die teilweise erhobenen Vorwürfe der Wirtschaft, die den ist nicht nur dreist, sondern ein teilweise sehr kurz- Umlage führe zu einer Verstaatlichung der Berufsausbil- sichtiges Verhalten. dung, ist angesichts dieser Zahlen falsch. Wir wollen – auch das möchte ich deutlich machen – (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (B) den öffentlichen Dienst nicht ausnehmen. Es gab solche (D) DIE GRÜNEN) Forderungen. Ich kann mir aber nicht ernsthaft ein Ge- Es gibt einen schleichenden Prozess der Verstaatlichung. setz vorstellen, das die Wirtschaft in die Pflicht nimmt Diesen wollen wir stoppen, indem wir wieder stärker an und den öffentlichen Dienst außen vor lässt. Das wollen die Verantwortung der Wirtschaft appellieren. wir nicht. Wir werden prüfen, wie andere Ausbildungs- leistungen, die bereits heute im Umlagesystem erbracht (Cornelia Pieper [FDP]: Das ist ja lächerlich!) werden, beispielsweise in der Krankenpflege, angerech- Die Ausbildung in der Wirtschaft hat Priorität; dies ist net werden können. Aber auf die Forderung, die Wirt- für uns klar. Deshalb führen wir mit diesem Gesetz ein schaft solle allein ausbilden und öffentliche Arbeitgeber Umlagesystem ein, mit dem zusätzliche betriebliche sollten ausgenommen werden, wollen wir nicht einge- Ausbildungsplätze gefördert werden. Diesen Punkt hen. halte ich für wichtig. Wir haben ihn mit unserem Koali- Reden wir einmal von den Belastungen, über die im tionspartner ausdrücklich besprochen. Mit diesem Ge- Moment so viel geschrieben und gejammert wird. Nach setzentwurf wollen wir die betriebliche Ausbildung stär- unserem Gesetzentwurf würde ein Betrieb mit 100 Be- ken. Das hat absolute Priorität. schäftigten und ohne einen einzigen Auszubildenden (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ rund 23 000 Euro an Umlage für fehlende Ausbildungs- DIE GRÜNEN) plätze zahlen müssen. Ich habe mir gestern in ein paar Katalogen der deutschen Automobilindustrie angesehen, Umlagepflichtig werden alle Betriebe mit zehn und welche Autos ich für 23 000 Euro bekommen würde. Ich mehr Beschäftigten sein. Selbstverständlich werden habe nicht sehr viele Fahrzeuge gefunden, mit denen Teilzeitbeschäftigte entsprechend einem Schlüssel ange- man wirklich etwas anfangen kann. Die Aufwendungen rechnet. Alle Betriebe – das ist die gute Nachricht für für die Umlage erreichen noch nicht einmal den Preis für diejenigen, die die Ausbildungsquote von 7 Prozent er- einen Mittelklassewagen. Ich glaube, einem Betrieb mit füllen – werden gefördert. Wer seine Ausbildungsleis- 100 Beschäftigten wäre es zumutbar, Aufwendungen zu tung nachweislich steigert, wird ebenfalls gefördert. erbringen, die unter dem Preis für ein Auto liegen, um Dies ist ein ganz wichtiges Signal. Außerdem ist es ein etwas zur Zukunftssicherung beizutragen. Jeder zusätz- wichtiges Signal, dass auch Betriebe gefördert werden, liche Auszubildende reduziert diese Summe. die nicht umlagepflichtig sind, also kleinere Betriebe. Sie können durch unser Gesetz von der Umlage profitie- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des ren. BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. April 2004 9151

Jörg Tauss (A) Zum Abschluss: Jahrelange Appelle und Absichtser- hinsichtlich dessen, was Sie zum Schluss gesagt haben, (C) klärungen haben nachweislich nicht zu dem erhofften ausdrücklich zu, Herr Tauss – eine Perspektive haben? Ergebnis geführt. Wir wollen mit diesem Gesetz ein Si- Wenn sie aus dem Schulleben heraustreten und in die be- gnal setzen, damit sich die Tarifvertragsparteien, die Ar- rufliche Bildung gehen wollen, muss ihnen diese Gesell- beitgeber und die Arbeitnehmer, die Gewerkschaften schaft ein Angebot machen und sie müssen eine Chance und die Verbände, zusammensetzen, um Tarifverträge haben. zu diesem Thema abzuschließen, so wie das in einigen Aber die Lautstärke des Vortrages meines Vorredners Branchen schon getan wurde. Ich erinnere an die Bau- steht in auffallendem Widerspruch zur Überzeugung in und die Chemieindustrie, den Garten- und Landschafts- den eigenen Reihen. bau sowie die Metallindustrie. Wir begrüßen es sehr, dass die Industriegewerkschaft Metall und die Metallar- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zu- beitgeberverbände zugesichert haben, zu prüfen, ob sie ruf von der SPD: Er ist immer so!) in Tarifverhandlungen eintreten, um zu Lösungen im Sinne der jungen Generation zu kommen. Genau das Es ist doch ganz offenkundig so, Herr Tauss, dass das, wollen wir. Uns geht es nicht prinzipiell um ein Gesetz, was Sie hier heute Morgen vorlegen – es hat etwas Tra- sondern uns geht es in diesem Zusammenhang um eine gikomisches, dass dies ausgerechnet am 1. April vorge- Lösung des Problems. legt wird (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Cornelia Pieper [FDP]: Aprilscherz!) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) – in auffallendem Gegensatz zu dem steht, was aus den Der Bundeskanzler hat am 14. März letzten Jahres in Reihen der Bundesregierung zu hören ist. seiner Rede zur Agenda 2010 ganz klar gesagt: Wenn (Zuruf von der SPD: Ein dümmeres Argument nicht genügend Ausbildungsplätze zur Verfügung ste- gibt es schon gar nicht mehr! – Weitere Zurufe hen, müssen wir zu gesetzlichen Regelungen kommen. von der SPD) Dies wollen wir jetzt tun. Ich will dies mit einem Hin- weis auf die junge Generation verbinden, über die Franz – Ihre Zwischenrufe zeigen nur, wie nervös Sie gewor- Müntefering völlig berechtigt mehrmals erklärt hat: Vie- den sind, nachdem Ihr neuer Vorsitzender dies zu seinem len Jugendlichen, die aus der Schule kommen, wird ge- zentralen Projekt der nächsten Wochen gemacht hat. sagt, ihr habt euch zwar angestrengt, aber ihr bekommt Wenn eine SPD-Bundestagsfraktion tagt und nicht keine Lehrstelle und damit auch keinen Job; es gibt nur einmal die Hälfte der Abgeordneten anwesend ist und Stütze und mit 25 Jahren werdet ihr abgeschrieben. Aber anschließend ein Viertel der Abgeordneten gegen diesen haltet den Mund und lasst uns in Ruhe! – Eine solche (B) Gesetzentwurf stimmt, dann zeigt das, in welchem Zu- (D) Gesellschaft stellen wir uns nicht vor. Wir wollen eine stand Ihre Fraktion ist und was Sie uns heute Morgen Gesellschaft, in der die Verantwortung für die junge Ge- vorgelegt haben. Es ist unglaublich, wie Sie arbeiten! neration von allen übernommen wird: von der Wirt- schaft, vom Staat und allen anderen Beteiligten. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Wi- derspruch bei der SPD – Zuruf von der SPD: (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Kommen Sie doch mal zur Sache!) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Sie können mit Ihren Zwischenrufen versuchen, mich zu Ich hoffe, das gilt ein Stück weit auch für die Opposi- stören; aber das wird Ihnen nicht gelingen. Schauen Sie tion. Stimmen Sie unserem Gesetzentwurf zu! Beteiligen einmal auf die Regierungsbank. Da sitzt nicht ein einzi- Sie sich konstruktiv an diesem Prozess! ger der Minister, die eigentlich für diese Aufgabe zustän- Ich bedanke mich. dig wären. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Widerspruch bei der SPD) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Frau Bulmahn sitzt dort hinten. In der ersten Reihe fehlt der Bundeswirtschaftsminister, der sich ausdrücklich da- Präsident Wolfgang Thierse: gegen ausgesprochen hat. In der ersten Reihe fehlt der Ich erteile das Wort Kollegen Friedrich Merz, CDU/ Bundesfinanzminister. CSU-Fraktion. (Cornelia Pieper [FDP]: Der Außenminister ist (Beifall bei der CDU/CSU) auch nicht da!) Es ist gerade Kernzeit des Deutschen Bundestages und Friedrich Merz (CDU/CSU): nicht irgendeine Nachtsitzung. In der Kernzeit fehlen die Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- beiden zuständigen Ressortminister, die sich ausdrück- ren! Wer will bestreiten, dass wir allen Grund haben, uns lich gegen dieses Gesetz ausgesprochen haben. Es ist Sorgen um die Ausbildung der jungen Menschen in doch keine Überraschung, dass sie heute Morgen fehlen. Deutschland zu machen? Wer will bestreiten, dass dies (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) eine der wichtigsten Aufgaben ist, vor die Politik und Gesellschaft in Deutschland gestellt sind, nämlich dafür Nun müssen wir uns in der Tat fragen, welche Ursa- zu sorgen, dass unter schwierigsten wirtschaftlichen Be- chen es hat, dass wir im Jahr 2004 erneut ein solches dingungen gerade junge Menschen – ich stimme Ihnen Problem mit Ausbildungsplätzen haben. Ich kann Ihnen 9152 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. April 2004

Friedrich Merz (A) nicht ersparen, darauf hinzuweisen, dass dies nach einer Welche Konsequenzen hat das auf die öffentlichen (C) solchen Insolvenzwelle – wir haben im letzten Jahr Haushalte? Die Länder, die Gemeinden und auch der 40 000 Unternehmensinsolvenzen in Deutschland ver- Bund, die allesamt aus unterschiedlichen Gründen die zeichnet; im Jahr davor waren es 36 000 – nicht ausblei- Verpflichtungen, die Sie im Gesetzentwurf vorsehen, nur ben kann. Die Wirtschafts- und Finanzpolitik dieser zum Teil oder gar nicht erfüllen, werden in Zukunft Bundesregierung und diese Insolvenzwelle sind wesent- selbstverständlich die Abgabe zahlen müssen. Das heißt, liche Ursachen dafür, dass in Deutschland nicht genü- Sie belasten die öffentlichen Kassen insbesondere der gend Ausbildungsplätze zur Verfügung gestellt werden. Gemeinden und Länder – diese machen den größten An- Es sind nicht die Unternehmer in Deutschland, denen es teil des öffentlichen Dienstes aus, nicht der Bund –, an Patriotismus mangelt. Das ist der eigentliche Hinter- grund. (Zuruf von der SPD: Sie haben die Entlastung der Kommunen verhindert!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) mit der Folge, dass die öffentlichen Kassen durch eine Nun sind Sie sich über die Wirkung dessen, was Sie solche Abgabe zusätzlich belastet werden. Der Finanz- heute Morgen vorgelegt haben, offensichtlich nur zum minister hat völlig Recht, dass eine zusätzliche Belas- Teil im Klaren. Ich will Sie auf zwei Sachverhalte hin- tung dadurch entsteht, dass die Ausbildungsabgabe der weisen, die von erheblicher Bedeutung sein werden, Betriebe als Betriebsausgabe und -aufwand abzugsfähig wenn dieses Gesetz jemals Wirklichkeit würde. Zum ei- ist und dass auf die öffentlichen Haushalte erhebliche nen haben Sie das Stichwort selbst genannt: Wir steuern zusätzliche Steuerausfälle zukommen. mit einer solchen Entscheidung auf eine endgültige und (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) dauerhafte Verstaatlichung der beruflichen Bildung zu. Das ist das Gegenteil dessen, was die öffentlichen Finan- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Nicolette zen in diesen Tagen und Wochen brauchen. Kressl [SPD]: So ein Blödsinn!) (Jörg Tauss [SPD]: Das ist falsch, Herr Merz!) Wenn die Unternehmer in Deutschland wissen, dass sie diese Abgabe zahlen müssen, dann werden sie jede An- Sie haben auf die freiwilligen Vereinbarungen strengung, auch über den eigenen Bedarf hinaus auszu- – besser: auf die Tarifvereinbarungen – Bezug genom- bilden, einstellen und die Abgabe zahlen. Als Ergebnis men. Es hätte den Tarifvertragsparteien in Deutschland wird das duale System der beruflichen Bildung, das aber nichts im Wege gestanden, schon in früheren Jahren auf der Welt noch immer als Vorbild gilt, endgültig zu bessere Ausbildungstarifverträge zu verabschieden. Grabe getragen. Die Ausbildungsplatzabgabe, die Sie (B) heute Morgen vorgeschlagen haben, wird die Ursache (Beifall des Abg. Jörg Tauss [SPD] – Jörg (D) sein. Tauss [SPD]: Sehr gut! Ohne Gesetz haben sie es nicht gemacht!) Sie sind sich offensichtlich über einen zweiten Sach- verhalt nicht im Klaren, der noch dramatischer ist. Selbst – Ich bedanke mich sehr für den Beifall. Ich habe das an wenn Sie das Erste, was ich gesagt habe, bestreiten, kön- dieser Stelle auch schon bei anderer Gelegenheit festge- nen Sie das Zweite nicht bestreiten. Stellen Sie sich vor, stellt. Es hätte den Tarifvertragsparteien durchaus gut eine solche Abgabe würde eingeführt. Das hätte doch angestanden, in ihren Ausbildungstarifverträgen die zur Folge, dass sich diejenigen, die in besonders an- Frage zu beantworten, ob nicht etwa die berufliche Bil- spruchsvollen Berufen ausbilden, wodurch Kosten in dung in den Betrieben mittlerweile ein wenig zu teuer den Unternehmen verursacht werden, die über die geworden ist Summe dieser Ausbildungsplatzabgabe hinausreichen, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Jörg von ihren Ausbildungsverpflichtungen freikaufen wer- Tauss [SPD]: Ja, einverstanden!) den, weil sie sich ausrechnen können, dass es betriebs- wirtschaftlich sinnvoller ist, die Abgabe zu zahlen als und ob nicht möglicherweise die Ausbildungsordnungen auszubilden. dahin gehend überprüft werden müssen, ob es nicht bes- ser wäre, wenn die Auszubildenden längere Zeiten in (Jörg Tauss [SPD]: Falsch!) den Betrieben und weniger in den Berufsschulen ver- weilten. Von dieser Abgabe werden diejenigen profitieren, die in relativ einfachen Berufsbildern ausbilden, mit der fata- Alle diese Fragen hätten die Tarifvertragsparteien len Folge, dass die Qualifikation in den Berufen, in de- längst beantworten können, wenn sie sich ihrer Verant- nen der Ausbildungsbedarf am höchsten ist, in den Be- wortung gestellt hätten. Sie haben das aber nicht getan, trieben nicht mehr vermittelt wird und dass die weniger weil sie auch von Ihrer Seite immer wieder ermuntert gut qualifizierten Berufsbilder durch die Abgabe sub- worden sind, auf diesem Weg weiter voranzuschreiten. ventioniert werden. Das ist das Gegenteil von Qualifika- Durch die Ausbildungsplatzabgabe bekommen sie jetzt tion und wettbewerbsfähigen Arbeitsplätzen, die wir ge- die Bestätigung der Richtigkeit ihres Vorgehens in den genwärtig in Deutschland brauchen. letzten Jahren, das aber – objektiv gesehen – auch schon in diesem Zeitraum falsch gewesen ist. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Jörg Tauss [SPD]: Sie trauen den Unternehmern (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- aber wenig zu!) neten der FDP – Jörg Tauss [SPD]: Wir saßen Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. April 2004 9153

Friedrich Merz (A) am Tarifverhandlungstisch und haben die er- (Franz Müntefering [SPD]: Das stimmt doch (C) muntert? – Heiterkeit im ganzen Hause) überhaupt nicht! Was erzählen Sie denn da für Geschichten? Märchenerzähler!) – Herr Tauss, regen Sie sich nicht so auf! Wir sind lang- sam um Ihre Gesundheit besorgt. Ganz offensichtlich hat es auch in der ersten Ressort- (Jörg Tauss [SPD]: Um Gottes willen! Die ist abstimmung der Bundesregierung erhebliche verfas- glänzend!) sungsrechtliche Bedenken gegen ein solches Gesetz ge- geben. Es wäre gut, wenn heute Morgen der eine oder Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang noch da- andere von der Koalition, vielleicht sogar jemand von rauf hinweisen, dass die freiwilligen Vereinbarungen nur der Bundesregierung, dann erfolgreich sein können, wenn diese auch die regio- nal unterschiedlichen Arbeitsmarktbedingungen ausrei- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) chend berücksichtigen. Solche freiwilligen Vereinbarun- zu der Frage Stellung nehmen würde, ob das Grundge- gen oder Tarifvereinbarungen, die Sie heute Morgen zu Recht als möglich und notwendig dargestellt haben, wer- setz der Bundesrepublik Deutschland es Ihnen überhaupt erlaubt, eine solche Abgabe zu erheben. den nicht zustande kommen, wenn mit dem von Ihnen vorgelegten Gesetzentwurf im Deutschen Bundestag und (Jörg Tauss [SPD]: Bundesverfassungs- möglicherweise im Bundesrat ein bundesweit einheitli- gericht, Herr Merz!) ches Gesetz verabschiedet wird. Denn Sie haben keine Öffnungsklauseln vorgesehen, die regional unterschied- Ich sage Ihnen das alles nicht, um formelle Einwendun- liche Antworten auf sehr unterschiedliche Arbeitsmarkt- gen gegen ein in der Sache falsches Gesetz zu erheben, und Ausbildungsplatzbedingungen zulassen. Das heißt, sondern deshalb, weil Sie in diesem Staat nicht einfach was Sie heute Morgen als richtig anerkannt haben, ist in tun und lassen können, was Sie wollen, je nachdem wie Ihrem Gesetzentwurf nicht enthalten. Es sind keine re- Ihre innerparteiliche Diskussionslage dies erfordert. Sie gionalen Bündnisse für Ausbildung möglich, weil der haben sich an Regeln zu halten. Das gilt auch und insbe- Gesetzentwurf keine entsprechende regionale Differen- sondere bei diesem Gesetz. zierung zulässt. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Sie wissen im Übrigen selbst, warum Sie keine ent- sprechende Regelung in den Gesetzentwurf aufgenom- In diesem Sinne werden wir in den nächsten Wochen die men haben. Denn mit ziemlich großer Sicherheit wäre Debatte mit Ihnen über den Gesetzentwurf streitig füh- ein solcher Gesetzentwurf zustimmungspflichtig. Dann ren. müsste der Bundesrat dem Gesetzentwurf zustimmen (B) Ich möchte zum Abschluss nur sehr deutlich sagen, (D) und damit wäre richtigerweise das Ende dieses Gesetzes dass wir jeden konstruktiven Beitrag, selbst wenn er von endgültig besiegelt gewesen. Ihnen kommt, unterstützen werden, (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP) ( [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich habe von Ihnen, Herr Merz, gar nicht ge- Abschließend erlaube ich mir, die Frage zu stellen, hört, was Sie wollen!) auf welcher Rechtsgrundlage Sie eine solche Abgabe staatlicherseits erheben zu können meinen. der dazu führt, dass am Ende des Jahres 2004 möglichst alle Jugendlichen in Deutschland einen Ausbildungs- (Jörg Tauss [SPD]: Nicht auf dem Bierdeckel! platz haben. Nur eines scheint mir bei Fortsetzung der Das ist richtig!) Wirtschafts-, der Finanz- und der Sozialpolitik der rot- Worum geht es in dem von Ihnen vorgelegten Gesetzent- grünen Koalition wirklich sicher zu sein: Im Verlauf des wurf eigentlich? Eine solche Abgabe erfordert nach un- Jahres 2004 wird es nicht besser, sondern weiter schlech- serem Grundgesetz eine entsprechende Grundlage. ter werden. Die Zahl der Insolvenzen in diesem Land wird weiter steigen. Mit der Zunahme bei Insolvenzen (Nicolette Kressl [SPD]: Die hat sie ja auch!) und Arbeitsplatzverlusten werden leider auch immer Dafür brauchen Sie eine entsprechende Gesetzgebungs- mehr Ausbildungsplätze in Deutschland verloren gehen. kompetenz. Dann können Sie so viele Abgaben – in welcher Höhe auch immer – erheben, wie Sie wollen, Sie werden am Handelt es sich bei der Abgabe um eine Gebühr? – Ende des Jahres vor einem riesengroßen, zusätzlichen Mit ziemlich großer Sicherheit nicht; denn es handelt Scherbenhaufen stehen. Dann wird dieses Gesetz bedeu- sich ja nicht um eine unmittelbare Gegenleistung für die tungslos sein. Das Einzige, was man dem mit einigem Inanspruchnahme eines staatlichen Angebots. Handelt es Zynismus abgewinnen könnte, wäre, dass dies den Nie- sich möglicherweise um eine Steuer? Wenn die Abgabe dergang der Bundesregierung weiter beschleunigen eine Steuer wäre, dann bin ich ziemlich sicher, dass Ih- würde. Aber es ist ein verdammt hoher Preis, den dieses nen dafür die entsprechende verfassungsrechtliche Land dafür zahlen muss. Grundlage fehlen würde. Es ist also kein Wunder, dass nicht nur der Bundeswirtschafts- und -arbeitsminister so- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Jörg wie der Bundesfinanzminister – der eine aus wirtschafts- Tauss [SPD]: Kein Wort zu den Jugendlichen! politischen, der andere aus finanzpolitischen Gründen – Das ist ein Skandal! Unglaublich! Nicht einen ihre Bedenken gegen das Gesetz geäußert haben. Vorschlag! Aber der März ist ja vorbei!) 9154 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. April 2004

(A) Präsident Wolfgang Thierse: (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (C) Ich erteile das Wort Kollegin Dr. Thea Dückert, Frak- und bei der SPD) tion des Bündnisses 90/Die Grünen. Ich weiß, dass es besser wäre, wenn die Wirtschaft selbst handelte, und dass Eigeninitiative Vorfahrt haben Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): muss. Das werden wir in diesem Gesetz verankern. Aber Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und ich weiß auch, dass die heutige Situation für die jungen Herren! Herr Merz hat am Anfang etwas Richtiges ange- Leute unerträglich ist. Wir Politikerinnen und Politiker merkt: Jeder Jugendliche, jede junge Frau und jeder haben bisher die Hände in den Schoß gelegt, obwohl vie- junge Mann, in diesem Land braucht ein Ausbildungsan- len jungen Leuten eine Perspektive fehlt. Ich weiß auch, gebot – das ist völlig klar. Sie brauchen eine Perspektive. dass die heutige Situation gegenüber den Unternehmen Wir wissen schließlich, dass Jugendliche, die keinen unverantwortlich ist, denen in der Zukunft ein Fach- Ausbildungsabschluss haben, eine ganz schlechte arbeitermangel droht. Erwerbsbiografie vor sich haben und dass in Zukunft unsere Wirtschaft mit einem Fachkräftemangel kämpfen (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- wird. Deswegen ist die Anmerkung von Herrn Merz SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD) richtig. Aber seine einzige Antwort auf die Frage, was Nur noch 24 Prozent der Unternehmen bilden aus. wir tun können, war: Wir sollen die Ausbildungsvergü- 700 000 Unternehmen könnten ausbilden. Wenn nur je- tungen senken. Lieber Herr Merz, ich finde, dass das der des zehnte dieser Unternehmen einen Ausbildungsplatz Aprilscherz des heutigen Tages ist. anböte, dann wäre dieses Problem schon gelöst. In den (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN letzten Jahren wurden uns gegenüber Versprechungen und bei der SPD) gemacht und die Regierung ist aktiv geworden; aber am Ende sind dies leere Versprechungen gewesen. Ich sage Ihnen eines: Die von uns vorgeschlagene Um- lage, die nichts anderes als ein Konzept des Handelns ist, (Beifall bei Abgeordneten der SPD) wird jedem Betrieb, der ausbildet, mehr bringen als das, Deswegen müssen wir an dieser Stelle handeln. Das was Sie auf Kosten der Auszubildenden vorschlagen, Handeln der Wirtschaft wäre die beste Lösung. Es bleibt nämlich die Senkung der Ausbildungsvergütungen. allerdings aus. Wir können aber nicht die Augen ver- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN schließen und wir dürfen uns nicht abwenden. und bei der SPD) Das Geschrei ist groß. Aber woher kommt es? 57,9 Prozent derjenigen Betriebe, die ausbilden, die sich Ein weiterer Punkt: Herr Merz, Sie haben darauf hin- auf diesem Gebiet also wirklich anstrengen, sind für eine (B) gewiesen, dass die hohe Zahl der Insolvenzen des letzten (D) Jahres zwangsläufig zu einem Rückgang der Zahl der Ausbildungsplatzumlage. Ausbildungsplätze führe. Herr Merz, auch Sie leiden of- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN fenbar unter dem kollektiven Gedächtnisschwund Ihrer und bei der SPD) Fraktion; das muss ich ganz klar sagen. Die Zahl der Ausbildungsplätze geht nämlich bereits seit 1992 zu- Daran sieht man doch ganz deutlich, worum es geht: Diese rück. Heute gibt es in den Betrieben 100 000 Ausbil- Betriebe wollen Unterstützung und die anderen, also dieje- dungsplätze weniger. Herr Merz, das Problem, mit dem nigen Betriebe, die nicht ausbilden, machen gegen die wir zu kämpfen haben, ist, dass sich die großen Betriebe Ausbildungsplatzabgabe Front. Ich weiß, dass diese Dis- Stück für Stück aus der notwendigen Ausbildung zu- kussion sehr schwierig ist. Ich weiß auch, dass wir alles tun rückziehen. Es gab es in den vergangenen Jahren immer müssen – in dem Gesetz haben wir diesen Gedanken auf- Betriebe – es gibt sie auch jetzt –, die wirtschaftlich stark gegriffen –, um die Eigeninitiative zu stärken. waren und sich dennoch aus der dualen Ausbildung zu- In dieser Debatte wird aber auch ein politischer rückzogen. Gleichzeitig gab es auch Betriebe, denen es Popanz aufgebaut. nicht so gut ging, die aber trotzdem ihrer Ausbildungs- verpflichtung nachkommen. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Hier wird behauptet, wir führten eine Strafabgabe ein. Ich weiß nicht genau, inwieweit PISA auf Ihre Reihen Herr Merz, Sie haben hier davon gesprochen, wir zutrifft. Wenn Sie sich diese Vorlage anschauen, dann brächten mit unserem Gesetz eine Verstaatlichung auf werden Sie feststellen, dass es sich um eine Umlage han- den Weg. delt. (Dagmar Wöhrl [CDU/CSU]: Keine Ahnung (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- von Wirtschaft!) SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD – Dagmar Wöhrl [CDU/CSU]: Strafsteuer!) Eine schleichende Verstaatlichung findet durch den suk- zessiven Attentismus jener Betriebe statt, die sich Jahr Durch diese Umlage unterstützen die Betriebe, die nicht für Jahr aus der Ausbildung heraushalten. Dagegen wer- ausbilden, diejenigen, die ausbilden. Diese Umlage wird den wir mit einem Gesetz ansteuern, das diejenigen Un- in die betriebliche Ausbildung fließen. Das Geld der ternehmen stärken will, die die Aufgabe der betriebli- Wirtschaft wird in der Wirtschaft bleiben. Es wird nicht chen Ausbildung noch wahrnehmen. abkassiert. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. April 2004 9155

Dr. Thea Dückert (A) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Der Gesetzentwurf, den Sie vorgelegt haben, wird Aus- (C) und bei der SPD) bildungsplätze in Deutschland vernichten und nicht neue Es gibt im Vorfeld dieser Debatte eine Initiative, die Ausbildungsplätze schaffen, meine Damen und Herren darauf abzielt, Stimmung zu machen und dem Attentis- von der Regierungskoalition. mus ein moralisches Gütesiegel aufzudrücken. Es ist (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten aber so: Die Betriebe tragen für sich selbst Verantwor- der CDU/CSU – Jörg Tauss [SPD]: Ist das Ihre tung und müssen betriebswirtschaftlich rechnen. Wenn stille Hoffnung?) sie das tun, wird sich zeigen, dass sich jeder Ausbil- dungsplatz, den sie anbieten, in ihrer Bilanz positiv dar- Sie haben Recht: Der Mittelstand, das Handwerk stellen wird: Wenn sie unter der Quote liegen, dann wird schafft 80 Prozent der Ausbildungsplätze in Deutsch- das ihre Abgabenlast reduzieren; wenn sie über der land. Der Mittelstand ist in diesem Land das Rückgrat Quote liegen, dann werden sie eine Unterstützung be- der Wirtschaft. Aber Sie, meine Damen und Herren von kommen. Es geht um die Unterstützung der betriebli- der Regierungskoalition, treiben den Mittelstand in den chen Ausbildung. Ruin. Ökosteuer, Tabaksteuer, Erbschaftsteuer – und nun kommt auch noch die Ausbildungsplatzsteuer. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) (Jörg Tauss [SPD]: Die Biersteuer!) Ich will noch eines sagen: Es gibt in diesem Gesetz si- Sie treiben die Steuerspirale in die Höhe. Die Abgaben cherlich Punkte, die wir noch verändern müssen, um die und Steuern steigen in Deutschland. betriebliche Ausbildung stark zu machen. Von der Oppo- sition habe ich hier aber kein einziges Wort über die Si- (Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- tuation der Jugendlichen gehört. Stattdessen haben Sie NEN]: Bei Ihnen sind sie gestiegen! Seit 1998 darüber philosophiert, ob das Gesetz zustimmungsbe- ist das um einen Punkt runtergegangen!) dürftig ist oder nicht. Das interessiert die Jugendlichen Sie belasten den Mittelstand und – da können Sie nicht. schreien, wie Sie wollen – treiben die Kosten für die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ausbildung in die Höhe. – Ich weiß, dass ich ins und bei der SPD) Schwarze treffe; sonst würden Sie ja nicht so reagieren. Sie brauchen Angebote. (Lachen des Abg. Jörg Tauss [SPD] – Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (Zuruf des Abg. Friedrich Merz [CDU/CSU]) Schwarz! Genau!) – Ich sitze nicht auf den Ohren, Herr Merz. Ich habe Es geht hier – auch das will ich einmal sagen – um die (B) (D) ganz genau gehört, was Sie gesagt haben. Ihr einziger Situation von jungen Menschen in diesem Land. Sie Vorschlag war, die Vergütung für Auszubildende zu sen- schaffen für die jungen Menschen eine Situation, die sie ken. Keinen anderen Vorschlag haben Sie gemacht. Das wirklich in die Verzweiflung treibt. ist billig. (Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Ihre Rede ist (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zum Verzweifeln!) und bei der SPD) Das kann so nicht weitergehen. Präsident Wolfgang Thierse: (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Kollegin, Sie müssen bitte zum Ende kommen. der CDU/CSU)

Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ihre Politik in Sachen Wirtschaft, Steuern, Ausbil- Herr Präsident, ich komme zum Schluss. – Unsere Ju- dung und Bildung ist gescheitert. Der Ifo-Index für das gendlichen brauchen ein Angebot. Unsere Jugendlichen Wirtschaftsklima ist erneut abgesackt. Das Institut der brauchen eine wirkliche Perspektive. Die Betriebe brau- deutschen Wirtschaft in Köln sagt ganz deutlich: Ausbil- chen Facharbeitskräfte. Deswegen führen wir eine Um- dungsplätze werden geschaffen, wenn das Bruttoinlands- lage ein. produkt um 2 Prozent wächst. – Sie haben uns und den jungen Menschen im letzten Jahr damit gedroht, dass Sie (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN die Folterwerkzeuge für die Wirtschaft herausholen wer- und bei der SPD) den. Sie setzen das nun mit einem Berufsausbildungssi- cherungsgesetz um. Dieses Gesetz, meine Damen und Präsident Wolfgang Thierse: Herren von der Regierungskoalition, ist ein bürokrati- Ich erteile Kollegin Cornelia Pieper, FDP-Fraktion, sches Monster und nichts anderes. das Wort. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Cornelia Pieper (FDP): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Kol- Eine neue Mammutbehörde mit 100 Beamten, in die legin Dückert, ob das nun Ausbildungsplatzabgabe oder 500 Beamte noch zusätzlich eingestellt werden müssen, -umlage heißt, ist völlig egal. um diese Ausbildungsplatzabgabe einzukassieren, (Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (Jörg Tauss [SPD]: Wie kommen Sie denn auf Dass Ihnen das egal ist, glaube ich!) die Zahlen?) 9156 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. April 2004

Cornelia Pieper (A) ist ein fragwürdiger Beitrag zur Innovationsoffensive der trolle der Putzfrauen durch Steuerfahnder in Bezug auf (C) Bundesregierung, Herr Tauss. Schwarzarbeit folgt nun der große Lauschangriff für den Mittelstand und das Handwerk in Deutschland. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Jörg Tauss [SPD]: Freie Er- (Beifall bei der FDP – Lachen bei der SPD – findung, Frau Kollegin!) Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Geht es noch ein bisschen dreister, Frau Kollegin?) Ein Markt lässt sich nun mal nicht per Gesetz regulie- ren. Da hat Herr Merz durchaus Recht: Sie betreiben die Finanzminister Eichel habe den Gesetzentwurf wegen zu schleichende Verstaatlichung der Berufsausbildung. Das hoher Steuermindereinnahmen eigentlich abgelehnt, bewährte System der betrieblichen Ausbildung blutet heißt es. Sie haben in Ihrer eigenen Regierung und auch durch Ihre Politik aus. Der europäische Vergleich zeigt, in der Bevölkerung keine Mehrheit für diese Ausbil- dass in einem staatlichen Ausbildungssystem die Ju- dungsplatzabgabe. gendarbeitslosigkeit viel höher liegt. Deswegen setzen wir auch weiterhin auf die betriebliche Ausbildung, auf (Jörg Tauss [SPD]: 73 Prozent, Frau Pieper! die duale Berufsausbildung in Deutschland. Sie machen Nicht schlecht! Das hätten wir bei Wahlen sie jedoch kaputt. gern!) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Ich kann nur sagen: Ziehen Sie diesen Gesetzentwurf der CDU/CSU – Dr. Thea Dückert [BÜND- zurück! Sie machen die Wirtschaft kaputt und verspielen NIS 90/DIE GRÜNEN]: Machen Sie doch ein- die Zukunft der jungen Menschen in diesem Land. Die mal einen Vorschlag!) beste Mittelstandspolitik für dieses Land wäre es, wenn diese Bundesregierung endlich zurückträte. Sie bringen Sie haben selbst den Beweis dafür angetreten. es einfach nicht! Schauen Sie sich das JUMP-Programm der Bundesregie- rung an! (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Zuruf von der SPD: Sehr erfolgreich! Fragen Sie einmal die Jugendlichen!) Geben Sie den Jugendlichen eine Chance! Sachsen- Anhalt hat eine Bundesratsinitiative eingebracht. In der Jeder dritte Jugendliche wird aus dem JUMP-Programm Tat, Herr Tauss, wir schlagen eine flexiblere Ausbil- in die Arbeitslosigkeit entlassen. Das ist keine Lösung. dungsvergütung vor. (Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (B) Deswegen wollen wir auch betriebliche Aus- DIE GRÜNEN) (D) bildungsplätze!) Warum soll sich der Unternehmer mit den Lehrlingen Wie gesagt: Dieses neue Gesetz wird Ausbildungs- nicht auf eine andere Ausbildungsvergütung einigen? plätze vernichten. Sie bestrafen die kleinen mittelständi- schen Unternehmen, die ausbilden wollen. (Jörg Tauss [SPD]: Bei der Einigung bin ich gern dabei!) (Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die kriegen doch Geld!) Sie wollten doch Politik mit Herz machen! Ich sehe die Auch die, die ausbilden wollen, aber nicht können, weil jungen Leute in Sachsen-Anhalt mit dem Handwerks- es an Nachfrage fehlt, zum Beispiel bei den Berufen der meister bei der Kammer stehen. Sie wollen einen Aus- Elektrotechnik oder im Fleischerhandwerk, werden be- bildungsvertrag über 300 Euro abschließen und die straft. Kammer darf das nicht unterschreiben. Das ist eine un- menschliche Politik, (Dr. [FDP]: Richtig!) (Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Jetzt halten Selbst dann, wenn ein Lehrling seine Berufsausbildung Sie sich aber mal zurück! – Dr. Uwe Küster kurz vor dem Abschluss abbricht, wird der Betrieb zur [SPD]: Haben Sie einmal die Menschenrechts- Kasse gebeten. kommission damit befasst? Unglaublich!) (Jörg Tauss [SPD]: Oh Herr, hilf!) die verhindert, dass ein Ausbildungsplatz entsteht. Bes- ser ein Ausbildungsplatz mit weniger Lehrgeld als gar Was Sie hier vorgelegt haben, ist eine Katastrophe! kein Ausbildungsplatz! (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Jörg Tauss [SPD]: Kassandra (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten war nichts dagegen!) der CDU/CSU)

Die Spitze des Eisbergs, Herr Tauss, ist, dass Ihre ei- Präsident Wolfgang Thierse: gene Regierung Ihren Gesetzentwurf nicht akzeptiert. Frau Kollegin, Sie haben Ihre Redezeit schon deutlich (Beifall bei der FDP) überschritten. Das Justizministerium erhebt verfassungsrechtliche Be- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ denken. Nach der Idee der Strafandrohung bzw. Kon- DIE GRÜNEN) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. April 2004 9157

(A) Cornelia Pieper (FDP): ist unsere große Stärke, unser Vorteil gegenüber anderen (C) Ja. – Greifen Sie unsere Vorschläge auf, auch zur No- Volkswirtschaften. vellierung des Berufsausbildungsgesetzes, dann kom- (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Diese Stärke men Sie weiter! kriegen Sie auch noch kaputt!) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Qualifizierte Menschen sind die Innovationskraft unse- der CDU/CSU) res Landes. Das muss man begreifen.

Präsident Wolfgang Thierse: (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Ich erteile das Wort der Bundesministerin Edelgard DIE GRÜNEN – Hartmut Schauerte [CDU/ Bulmahn. CSU]: Dann handeln Sie aber auch richtig!) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Es gibt in diesem Land viele Unternehmen – ich habe des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) viele besucht und kennen gelernt –, in denen Unterneh- mer mit ganz hohem persönlichem Engagement hervor- ragend ausbilden, Edelgard Bulmahn, Bundesministerin für Bildung und Forschung: (Albrecht Feibel [CDU/CSU]: Ohne Gesetz!) Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten sich jedes Jahr einbringen, damit ausgebildet wird, damit Herren und Damen! Wenn es eine gesellschaftspolitische junge Leute eine Zukunftschance haben. Diese Unter- Aufgabe gibt, die wir vor allen anderen zu lösen haben, nehmen entziehen sich eben nicht ihrer Verantwortung. dann ist es die, für alle jungen Menschen eine qualifi- zierte Ausbildung zu gewährleisten. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Hartmut Schauerte [CDU/ (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ CSU]: Aber auch die sind gegen die Abgabe!) DIE GRÜNEN) Diese Unternehmen sollen für ihre Leistung Anerken- Nur so gewinnen wir die jungen Menschen für unsere nung erhalten, auch finanzielle Anerkennung. Gesellschaft und nur so können wir auch sicherstellen, dass wir in zehn, 20 Jahren Menschen haben, die bereit (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Aber sie sind, für dieses Land, für diese Gesellschaft zu arbeiten, wollen keine Abgabe! – Gegenruf des Abg. Wohlstand zu sichern und eine Zukunftsperspektive zu Swen Schulz [Spandau] [SPD]: So ein schaffen. Quatsch, Herr Schauerte!) (B) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Das halte ich für einen richtigen Weg. Diese Unterneh- (D) DIE GRÜNEN) men kommen ihrer Verantwortung nach und erhalten deswegen eine entsprechende Unterstützung. Wir haben ein Ziel: Wir wollen erreichen, dass kein junger Mensch von der Schulbank in die Arbeitslosigkeit (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ geschickt wird, DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Für das Ausbildungsjahr 2003 haben wir zum vierten DIE GRÜNEN) Mal in Folge einen Rückgang der Zahl der abgeschlosse- nen Ausbildungsverträge feststellen müssen. dass keinem jungen Menschen die Türe vor der Nase zu- geknallt wird, statt dass ihm Zukunftschancen eröffnet (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Unter dieser werden. Herr Merz, dazu habe ich von Ihnen kein einzi- Regierung geht alles zurück!) ges Wort gehört. Wir sind wieder auf dem Stand des Jahres 1998. Sie ha- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE ben damals die negative Entwicklung einfach hingenom- GRÜNEN – Jörg Tauss [SPD]: Traurig!) men. Zu allem Nein zu sagen, (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Dummes Zeug! – Jörg Tauss [SPD]: So ist es!) ( [CDU/CSU]: Das stimmt doch nicht!) Ich sage ausdrücklich, dass ich diese Entwicklung für problematisch halte. Inzwischen wird jede neunte Lehr- aber mit keinem einzigen Wort zu erläutern, wie Sie er- stelle voll aus öffentlichen Mitteln finanziert. reichen wollen, dass alle Jugendlichen eine Ausbildung erhalten, das ist zu billig. (Zuruf von der SPD: Hört! Hört!) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Inzwischen gehen rund 10 Milliarden Euro aus Steuer- DIE GRÜNEN – Friedrich Merz [CDU/CSU]: mitteln und aus Mitteln der BA in die berufliche Ausbil- Sie haben es nicht begriffen!) dung. Offensichtlich ist das für Sie akzeptabel. Das ist aber eine schleichende Verstaatlichung der beruf- Eine qualifizierte Ausbildung sicherzustellen ist auch lichen Bildung. deshalb eine der wichtigsten politischen Aufgaben, weil sich Unternehmen nur mit gut ausgebildeten Menschen (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ im internationalen Wettbewerb behaupten können. Das DIE GRÜNEN) 9158 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. April 2004

Bundesministerin Edelgard Bulmahn (A) Diese schleichende Verstaatlichung halten wir für äu- (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Das ist die (C) ßerst problematisch. Sie wollen sie ja offensichtlich; Reaktion auf Ihre falsche Politik!) dann müssen Sie aber auch Farbe bekennen: dann wird damit dem Ausbildungssystem die Existenz- (Jörg Tauss [SPD]: Ja!) grundlage entzogen. Dieses Problem kann man nicht einfach ignorieren. Wir brauchen vielmehr Vorschläge, Wollen Sie dies? – Dann muss man den Weg der Ver- wie wir es lösen können. staatlichung der beruflichen Bildung mit allen Konse- quenzen gehen. Ich habe aber dagegen größte Bedenken (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des und halte diesen Weg für falsch. Aber darüber kann man BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) streiten. Wenn Sie es wollen, dann müssen Sie es aller- dings ehrlich sagen. Die Koalitionsfraktionen haben heute den Entwurf für ein Berufsausbildungssicherungsgesetz in den Deut- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ schen Bundestag eingebracht. Ich will hier nicht in die DIE GRÜNEN) Details gehen. Ich will aber eine Anmerkung zu der Eines geht nicht: zu allem Nein zu sagen und sich Frage der Rechtmäßigkeit machen. Herr Merz, man nicht darum zu kümmern, wenn Tausende von Jugendli- sollte sich nicht auf Gerüchte verlassen, sondern man chen auf der Straße stehen und keine Perspektive haben. sollte sich mit Fakten und Tatsachen auseinander setzen. Das ist vernünftig. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Friedrich Merz [CDU/CSU]: (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Das ist eine Unverschämtheit, was Sie da sa- DIE GRÜNEN) gen! Eine Frechheit sondergleichen!) Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil von Fast die Hälfte der Betriebe mit mehr als zehn Mit- 1980 eindeutig bestätigt, dass der Bund die Kompetenz arbeiterinnen und Mitarbeitern bildet nicht mehr aus. für diesen Bereich hat. (Friedrich Merz [CDU/CSU]: Stimmt doch (Nicolette Kressl [SPD], zur CDU/CSU ge- überhaupt nicht!) wandt: Das sollten Sie vielleicht einmal le- sen!) – Herr Merz, Sie haben jederzeit die Möglichkeit, hier zu sagen, was Sie wollen. Tun Sie es endlich! Das ist im Übrigen auch die Auffassung des Bundesjus- tizministeriums. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Friedrich Merz [CDU/CSU]: (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (B) Wir kümmern uns in unseren Wahlkreisen des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (D) mehr darum, als Sie das mit diesem Gesetz machen!) Ich will noch auf zwei entscheidende Punkte in dem Gesetzentwurf der Koalitionsfraktionen hinweisen. Machen Sie konkrete Vorschläge und lehnen Sie nicht alles ab! Ich habe bis jetzt keinen einzigen konkreten (Friedrich Merz [CDU/CSU]: Sprechen Sie Vorschlag gehört. jetzt für die Bundesregierung? – Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Es ist doch Ihr Ent- (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Sie hören ja wurf! – Gegenruf des Abg. Jörg Tauss [SPD]: nicht zu!) Durften Sie heute nicht reden, Herr Schauerte? Was Sie hier leisten, ist billige Politik. Was ist los?) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Erstens. Die Wirtschaft hat es selber in der Hand. DIE GRÜNEN – Friedrich Merz [CDU/CSU]: Die im Gesetzentwurf der Koalition vorgesehene Aus- Hören Sie auf, so verleumderisch zu reden!) bildungsplatzumlage wird nicht ausgelöst und darf auch nicht ausgelöst werden – das ist für mich ein ganz wich- Ich sage noch einmal ausdrücklich: Fast die Hälfte tiger Punkt –, wenn es Ausbildungsplätze in ausreichen- der Betriebe mit mehr als zehn Mitarbeitern bildet nicht der Zahl gibt. aus. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Volker Kauder [CDU/CSU]: Wann redet denn DIE GRÜNEN) Minister Clement?) Wie gesagt: Die Wirtschaft hat es selber in der Hand. Ich will aber auch ausdrücklich sagen, dass die andere Wenn sie ihrer Verantwortung nachkommt – ich hoffe Hälfte – genau: 51 Prozent – hervorragend ausbildet und und wünsche mir dies – und Ausbildungsplätze in aus- in den allermeisten Fällen ihren Ausbildungsverpflich- reichender Zahl schafft, dann wird die Ausbildungsplatz- tungen nachkommt. Diese Leistung will ich ausdrück- umlage nicht ausgelöst. So sieht es der Gesetzentwurf lich anerkennen. vor. Das ist auch richtig; denn die Verantwortung für die (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ berufliche Ausbildung liegt aufseiten der Wirtschaft. Da DIE GRÜNEN) gehört sie hin und da muss sie auch bleiben. Wenn sich in einem dualen System zu viele Unter- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten nehmen ihrer Ausbildungsverantwortung entziehen, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Hans Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. April 2004 9159

Bundesministerin Edelgard Bulmahn (A) Michelbach [CDU/CSU]: Da müssen Sie eine Da haben auch Sie in den von Ihrer Partei regierten Län- (C) bessere Wirtschaftspolitik machen!) dern eine Menge zu tun, um bessere Ergebnisse zu errei- chen. Zweitens. In dem Gesetzentwurf wird ausdrücklich festgestellt, dass die Förderung zusätzlicher Ausbil- Ich nenne ausdrücklich die Novelle des BBiG, mit der dungsplätze – ich sage: absoluten – Vorrang hat. Denn wir wir wollen eben keine Verstaatlichung der beruflichen ( [CDU/CSU]: Seit Ausbildung. Es darf auch keine Verlagerung in außerbe- 12 Jahren!) triebliche Ausbildung geben. Diese gab es in den letzten 15 Jahren leider viel zu oft. Es geht also nicht, wie Sie es auf der einen Seite mehr Freiräume für die Betriebe sagen, um einen störenden Eingriff, sondern um eine schaffen und auf der anderen Seite eine bessere Abstim- Stärkung des dualen Systems. Das ist die Zielsetzung. mung und Passgenauigkeit zwischen den Anteilen der Ausbildung in der Berufsschule und denen in den Betrie- (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Das glaubt ben erzielen wollen. in Deutschland keiner!) Kurz gesagt, unser Ziel ist es, die berufliche Ausbil- Ich will ganz kurz auf einen weiteren Gesichtspunkt dung als ein Markenzeichen unseres Bildungssystems eingehen, der mir selber ein wichtiges Anliegen ist. Ich und unserer Wirtschaft aufrechtzuerhalten. Darüber bin nämlich der Auffassung, dass wir vor dem Hinter- lohnt es sich zu streiten. Aber man muss dann auch Ar- grund dieser Diskussion nicht die strukturellen Refor- gumente und Vorschläge auf den Tisch legen. men in der Berufsausbildung aus den Augen verlieren Vielen Dank. dürfen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei Abgeordneten der SPD) DIE GRÜNEN) Die Bundesregierung wird alles dafür tun, dass die duale Berufsausbildung ein Markenzeichen, ein Aushänge- Präsident Wolfgang Thierse: schild des deutschen Bildungssystems bleibt. Kollege Friedrich Merz hat eine Kurzintervention an- gemeldet. – Bitte schön. In diesem Zusammenhang möchte ich kursorisch ei- nige Punkte nennen: Die Bundesregierung unterstützt Friedrich Merz (CDU/CSU): die Anstrengungen der Wirtschaft, ein ausreichendes Frau Bulmahn, wir können uns hier im Deutschen Ausbildungsplatzangebot zur Verfügung zu stellen, auch Bundestag lange und streitig über die Frage unterhalten, weiterhin durch verbesserte Rahmenbedingungen und (B) wie wir ein Problem lösen. Dabei kann man – auch in (D) finanzielle Hilfen. der Bundesregierung – höchst unterschiedlicher Auffas- (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Darauf sung sein. Aber Sie haben es mit Bezug auf meinen Re- warten alle!) debeitrag für richtig gehalten, mir und den Kollegen in der Fraktion der CDU/CSU abzusprechen, dass wir an Wir haben in den vergangenen Jahren durch unsere Maß- der Lösung dieses Problems interessiert seien. nahmen eine ganze Menge erreicht. (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Jörg (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Was zum Tauss [SPD]: Das ist wahr! Daran habt ihr kein Beispiel? Was ist besser geworden? Was haben Interesse! Kein Wort dazu! – Gegenruf des Sie erreicht? Nichts!) Abg. Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Schäm dich!) Ich nenne die Unterstützung beim Aufbau von Ausbil- dungsverbünden, die inzwischen besonders in den neuen – Herr Tauss, wenn ich Sie höre, fühle ich mich an das Bundesländern, aber auch in den alten eine große Rolle erinnert, was Ihnen Herr Schäuble einmal gesagt hat: spielen. Seitdem Sie im Deutschen Bundestag sind, hat das Wort „Morgengrauen“ eine ganz andere Bedeutung bekom- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten men. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und Ich nenne das Programm STARegio, das aufseiten der der FDP – Widerspruch bei der SPD) Wirtschaft auf großes Interesse stößt. Auch den Einsatz Frau Bulmahn, ich weise hier den Vorwurf, den Sie von Ausbildungsplatzentwicklern, der von der Wirt- hier erhoben haben, nämlich dass uns das Schicksal der schaft gewollt wird, unterstützen wir. Ich nenne die Mo- jungen Leute ohne Ausbildungsplätze gleichgültig sei, dernisierung der Berufe. Inzwischen haben wir mehr als entschieden zurück. Hier sitzen Abgeordnete, die sich in die Hälfte der gängigen Berufe modernisiert. Ich nenne ihren Wahlkreisen teilweise in mühevollster Kleinarbeit auch besondere Unterstützungsmaßnahmen für diejeni- bei Unternehmern darum bemühen, jungen Leuten zu gen Jugendlichen, die die Schulen mit sehr schlechten Ausbildungsplätzen zu verhelfen, und sich bemühen, im schulischen Ergebnissen verlassen. Kleinen zu reparieren, was die Bundesregierung in Deutschland im Großen kaputtgemacht hat. (Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Woher kommt das wohl?) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) 9160 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. April 2004

Friedrich Merz (A) Das, was Sie, Frau Bulmahn, hier gesagt haben, geht setzen. Es liegen konkrete Vorschläge auf dem Tisch und (C) weit über das hinaus, was eine parlamentarische Ausei- über diese müssen wir uns auseinander setzen. nandersetzung erlaubt. Das, was Sie hier an unsere Adresse gerichtet gesagt haben, ist eine schiere Unver- Ich erwarte darüber hinaus aber von jeder Politikerin schämtheit gewesen. und jedem Politiker, dass sie Gegenvorschläge machen. Herr Merz, ich kritisiere, dass Sie keinen einzigen kon- (Zurufe von der SPD: Oh!) kreten Gegenvorschlag gemacht haben. Die jungen Leute in diesem Land erwarten zu Recht Ihre Gegenvor- Ich weise das mit Empörung zurück und fordere Sie auf, schläge; sie wollen sich nämlich zwischen Ihren und un- das, was Sie hier gesagt haben, zurückzunehmen. seren Vorschlägen entscheiden können. Das ist politische (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Kultur. neten der FDP – Dr. Uwe Küster [SPD]: Dü- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ senjäger durch Kinderzimmer! – Swen Schulz DIE GRÜNEN – Eckart von Klaeden [CDU/ [Spandau] [SPD]: Lesen Sie im Protokoll CSU]: Sie sagen Merz und meinen Clement! – nach, was Sie gesagt haben und was nicht! – Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Zwei zu null Siegfried Scheffler [SPD]:: Trotzdem haben für die Ministerin!) Sie keinen Vorschlag gemacht!)

Präsident Wolfgang Thierse: Präsident Wolfgang Thierse: Nun hat die Kollegin Katherina Reiche, CDU/CSU- Frau Ministerin, Sie haben Gelegenheit zu antworten. Fraktion, das Wort. (Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Sagen (Beifall bei der CDU/CSU – Jörg Tauss [SPD]: Sie kurz: „Ich entschuldige mich“!) Jetzt kommt die Morgenschwärze! – Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Jetzt kommen die Edelgard Bulmahn, Bundesministerin für Bildung Vorschläge!) und Forschung: Herr Merz, ich habe Sie persönlich angesprochen. Ich Katherina Reiche (CDU/CSU): will ausdrücklich sagen: Ich habe nicht Ihre Kollegen Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- angesprochen. Wenn ich „Herr Merz“ sage, sind Sie, ren! Frau Ministerin, Sie hatten gerade die Chance, Ihre Herr Merz, gemeint. Dass Ihre Kollegen, um Sie zu un- unverschämten Anschuldigungen gegenüber dem Kolle- terstützen, applaudieren, ist etwas anderes. Aber ich will gen Merz zurückzunehmen. ausdrücklich sagen: Ich kenne aus dem Fachausschuss (B) einige Kollegen Ihrer Fraktion, die sich persönlich sehr (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – (D) einsetzen. Ich spreche das auch niemandem ab. Widerspruch bei der SPD – Jörg Tauss [SPD]: He, he, he! – Dr. Uwe Küster [SPD]: Unglaub- Herr Merz, Ihre Redezeit betrug 16 Minuten. Sie ha- lich!) ben in diesen 16 Minuten keinen einzigen konkreten Vorschlag vorgelegt. Das halte ich für billige politische Sie haben diese Chance vertan und verschärfen damit die Argumentation. Debatte in einer unzulässigen Art und Weise. Sie tun da- mit weder der Debatte noch den jungen Menschen in (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Deutschland einen Gefallen. DIE GRÜNEN) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Sie haben keinen Vorschlag dazu auf den Tisch gelegt, neten der FDP – Siegfried Scheffler [SPD]: wie Sie es erreichen wollen, den Tausenden von Jugend- Peinlich, peinlich!) lichen, die zurzeit auf der Straße stehen, weil sie keinen Ausbildungsplatz gefunden haben – manche suchen zum Die Wirtschaft schaut mit Angst auf diese Koalition zweiten oder sogar zum dritten Mal einen Ausbildungs- und ihre eigene wirtschaftliche Situation. Die Lage am platz –, eine Perspektive zu eröffnen. Sie haben den Ju- Ausbildungsmarkt ist mehr als angespannt und Sie über- gendlichen kein einziges Angebot gemacht. Das erwarte ziehen das Land mit neuen Regulierungen und Steuern. ich aber von Ihnen. Andere Vorschläge haben Sie in der Tat nicht. Tobin- steuer, Erbschaftsteuer, Vermögensteuer und jetzt eine (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Ausbildungsplatzsteuer: BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Herr Merz, es ist eine Unverschämtheit, dass Sie hier Das ist doch gar nicht wahr! – Swen Schulz zu allem Nein gesagt, aber keinen einzigen konkreten [Spandau] [SPD]: Das wird ja immer schlim- Vorschlag unterbreitet haben. mer!) (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Volker Damit demotivieren Sie die Unternehmen und die Men- Kauder [CDU/CSU]: Sie sollten sich schämen, schen in diesem Land. Sie glauben immer noch, dass Frau Ministerin! – Gegenruf des Abg. Dr. Uwe man mit Zentralismus und Bürokratie den Herausforde- Küster [SPD]: Kauder, selbst ist der Mann!) rungen der Zukunft begegnen könnte. Ihre Politik bewäl- Das ist keine politische Kultur. Zur politischen Kultur tigt nichts, sie bringt zum Ausdruck, dass Ihr ordnungs- gehört es, sich über konkrete Vorschläge auseinander zu politisches Verständnis gleich null ist. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. April 2004 9161

Katherina Reiche (A) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Das heißt im Klartext: Sie haben die Sache noch ver- (C) neten der FDP) schlimmert. Bundeskanzler Schröder hat in der letzten Woche in Nun wird die Ausbildungsplatzabgabe im Ergebnis seiner Regierungserklärung gesagt: „Wir sind noch ein jährliches Volumen von bis zu 3,45 Milliarden Euro längst nicht am Ende unseres Weges.“ Wenn ich mir den statt wie bisher geplant 2,45 Milliarden Euro erreichen. Gesetzentwurf ansehe, dämmert mir, wohin dieser Weg Erst wurden die Teilzeitbeschäftigten rausgerechnet, geht: schnurstracks in die Staatswirtschaft. jetzt werden sie wieder reingerechnet. Erst wurden Bran- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – La- chenausnahmen restriktiv behandelt, jetzt sind sie weit chen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE gefasst. Ihre geniale Formel haben Sie mittlerweile pau- GRÜNEN) schaliert und im Ergebnis weiß niemand, was Sache ist. Keiner kennt die Anzahl der Betriebe, die aufgrund von Es ist eine Unverschämtheit, wenn Herr Müntefering Branchenausnahmen herausgerechnet werden. behauptet, er sei der Interessenvertreter der jungen Ge- neration. Herr Müntefering, Sie sind der Totengräber des Woher nehmen Sie eigentlich das Geld für die Vor- dualen Ausbildungssystems in Deutschland und Sie be- und Zwischenfinanzierung der Verwaltungskosten? Bun- treiben Politik auf Kosten der jungen Menschen. desfinanzminister Eichel hat schon abgewinkt. Er hat keine Mittel dafür. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP) (Nicolette Kressl [SPD]: Sie sind nicht mehr auf dem neuesten Stand, Frau Reiche! Das ist Anfang März hat eine DIHK-Unternehmensbefra- aber typisch!) gung offen gelegt: Eine Ausbildungsplatzabgabe würde die Situation zusätzlich verschärfen. Wir müssten Er hat Frau Bulmahn aufgefordert, die entsprechenden dann sogar eine Verdoppelung der Ausbildungsplatzlü- Ausgaben aus dem Forschungshaushalt zu nehmen. Im cke gegenüber 2003 befürchten. Ergebnis heißt das, dass Ideologieprojekte durch For- Seit dem 11. November des vergangenen Jahres – das schungskürzungen finanziert werden. Das nenne ich In- ist der Tag, an dem die SPD-Bundestagsfraktion Eck- novation à la SPD! punkte zur Einführung einer Ausbildungsplatzabgabe (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Thea Dückert beschlossen hat – nimmt der Wahnsinn seinen Lauf. [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Betriebliche (Lachen bei der SPD) Ausbildung sind Ideologieprojekte? Jetzt ha- (B) ben Sie sich selber entlarvt! – Jörg Tauss (D) Die Ministerpräsidenten – auch Ihre eigenen – haben es [SPD]: Lesen Sie mal nach!) Ihnen gesagt, der Bundeswirtschaftsminister hat es Ih- nen gesagt, der Bundesfinanzminister warnt, das Bun- Kaum ist der Gesetzentwurf auf dem Markt, werden desjustizministerium hat verfassungsrechtliche Beden- Ausnahmeregelungen in alle Richtungen gefordert, ken angemeldet wie übrigens auch Ihr eigener Gutachter, Herr Tauss: Ausnahmen für Pflegeeinrichtungen, für Professor Däubler. Alle Experten und Studien, vom Ifo- Krankenhäuser, für öffentliche Einrichtungen der Ju- Institut bis zum Bundesinstitut für Berufsbildung, kom- gendhilfe; Ausnahmen für Existenzgründer und vor allen men zu dem Schluss: Mit einer Zwangsabgabe ist kei- Dingen für die Bundesressorts. Hier hinzuschauen ist be- nem geholfen, aber allen geschadet. sonders interessant. Ausbildungsquote im Kanzleramt: 2 Prozent; Bundesfinanzministerium: 0,8 Prozent; Ver- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP) braucherschutzministerium: 0,4 Prozent. Selbst das Bun- desbildungsministerium kommt nur auf 2,8 Prozent, Ihre engsten Mitstreiter, die Gewerkschafter, verlas- sen Sie. Ich zitiere den Vorsitzenden der GdP, Konrad (Edelgard Bulmahn, Bundesministerin: Freiberg, der in der „FAZ“ vom 30. März 2004 gesagt 8,6 Prozent!) hat: weit entfernt von den von Ihnen geforderten 7 Prozent. Wenn wir die Abgabe gegen die Wirtschaft, die CDU, die SPD-Ministerpräsidenten und wichtige Aber, meine Damen und Herren von der Koalition, es Teile der Bundesregierung durchsetzen: Was bleibt gibt tatsächlich auch Klarheiten: Klar ist zum Beispiel denn dann an Glaubwürdigkeit übrig? das Bußgeld. Wer fehlerhafte Angaben macht, dem wer- den drakonische Strafen von bis zu 50 000 Euro aufer- Er spricht von „Gewürge“. – Recht hat der Mann. legt. Klar sind auch die Steuerausfälle für Bund, Länder und Kommunen. Bundesfinanzminister Eichel rechnet Doch der Wahnsinn geht weiter. Erst hat das BMBF mit mindestens 600 Millionen Euro. Hinzu kommt die eine Formulierungshilfe vorgelegt mit einer Formel, wie Abgabenlast, die sich die Kommunen angesichts der lee- sie komplizierter nicht hätte sein können, und nun haben Sie noch einmal nachgebessert. ren Stadtkassen kaum leisten können. Ein paar Zahlen: Die Stadt Leipzig hätte 5,4 Millionen Euro zu zahlen, für (Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- München wären es 3,5 Millionen Euro und für Berlin so- NEN]: Damit Sie es verstehen können, Frau gar 48 Millionen Euro. Wenn Sie das beschließen, trei- Reiche!) ben Sie die Kommunen noch weiter in den Ruin. 9162 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. April 2004

Katherina Reiche (A) Klar ist, dass die Zwangsabgabe die Bürokratie ver- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und (C) schärft. Ihre internen Berechnungen gehen von ungefähr der FDP – Jörg Tauss [SPD]: Unverschämt- 1 000 Mitarbeitern aus. heit!) (Nicolette Kressl [SPD]: Das ist nicht wahr!) Klar ist, dass die Abgabe nicht den Mangel an geeigne- ten Bewerbern beseitigt. Viele junge Leute sind schlicht Ihre eigene Formulierungshilfe gibt an, dass pro Person nicht ausbildungsfähig. 90 000 von ihnen haben keinen Kosten von 72 000 Euro im Jahr verursacht werden. Schulabschluss. Diese Bemerkung richte ich auch an die Nach Adam Riese belaufen sich die Kosten für den Ver- Adresse Ihrer Bildungsminister. Hier müssen die Schu- waltungsaufwand also auf mehr als 70 Millionen Euro; len und auch die Elternhäuser besser werden. und das noch bevor irgendetwas passiert. (Zuruf von der SPD: Richtig dumpf!) Klar ist auch, dass die Ausbildungsplatzabgabe eine Sondersteuer Ost ist, denn die Ausbildungsplatzlücke Klar ist, dass diese Abgabe zu Wettbewerbsverzerrun- ist gerade in den neuen Bundesländern besonders groß. gen zwischen lohn- und kapitalintensiven Unternehmen (Barbara Wittig [SPD]: Nein! Blödsinn!) führen wird. Die Ausbildungplatzabgabe ist und bleibt ein Ideologieprojekt, eine Morgengabe für die Ewigges- Zudem ist in den neuen Bundesländern die Verbeam- trigen. Bei Ihnen herrscht Endzeitstimmung. tungsquote geringer. Die Beamten haben Sie in Ihrem Gesetzentwurf jedoch bewusst nicht mitgerechnet. So (Lachen bei Abgeordneten der SPD) haben die ostdeutschen Kommunen dann noch weniger Sie sind bis aufs Messer zerstritten. Ein Drittel der Grü- Spielraum für Investitionen zum Beispiel in Kindergär- nen ist gegen die Ausbildungsplatzabgabe. 25 Abgeord- ten oder Schulen. Das ist ein wirklicher Skandal. nete aus Ihrer Fraktion haben dagegen gestimmt. Wür- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) den Sie nicht ständig Druck auf Ihre Kolleginnen und Kollegen ausüben, hätten Sie in diesem Haus keine Die Ausbildungsplatzabgabe ist zudem wirkungslos. Mehrheit mehr. Ein Lehrstellenangebot lässt sich nun einmal nicht ge- setzlich festlegen. Sie aber legen willkürliche Quoten (Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- fest. Die Quote von 7 Prozent ist willkürlich gewählt. NEN]: Da haben Sie sich aber vertan!) Danach sollen 15 Prozent mehr Ausbildungsplätze ange- Weder der Bundeskanzler noch der Wirtschafts- oder boten werden. Auch das ist eine willkürliche Quote. Das der Finanzminister besitzen politische Gestaltungskraft. Ausbildungsplatzangebot richtet sich vor allen Dingen Sie machen miserable Politik, entziehen den Unterneh- nach der wirtschaftlichen Situation der Unternehmen men ihre wirtschaftliche Basis und bestrafen sie an- (B) und ihren Zukunftserwartungen. Und die sind in schließend dafür. (D) Deutschland dank Rot-Grün so schlecht wie nie. Der Kollege Merz hat auf die hohe Zahl der Unterneh- (Nicolette Kressl [SPD]: Das müssen gerade mensinsolvenzen hingewiesen. Sie ruinieren den Mittel- Sie sagen!) stand und rufen nun nach einer Ausbildungsplatzabgabe. Heute die Ausbildungsplatzabgabe, morgen der Emis- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- sionshandel, übermorgen das Gentechnik- und Chemika- neten der FDP) lienrecht – das nimmt kein gutes Ende. Was ist mit denen, die trotz intensiver Suche keine (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Lehrlinge finden? Was ist mit den Bäckern, den Flei- Sie haben von uns konkrete Vorschläge gefordert. schern, den Dachdeckern und den Landwirten? All die Jetzt werde ich sie Ihnen nennen. werden von Ihnen abgestraft. (Zurufe von der SPD: Oh!) Klar ist, dass die Ausbildungplatzabgabe das Ende des dualen Systems ist. Sie wollen sich gegen Verstaatli- Entriegeln Sie zunächst den Arbeitsmarkt! Lassen Sie chung wenden, betreiben aber genau den Prozess, gegen nicht nur betriebliche Bündnisse für Arbeit, sondern den Sie sich angeblich wehren: Sie produzieren Ersatz- auch betriebliche Bündnisse für Ausbildung zu! maßnahmen und Warteschleifen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU so- (Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- wie des Abg. Dirk Niebel [FDP]) NEN]: Wir produzieren betriebliche Ausbil- Bauen Sie die Bürokratie ab und reformieren Sie die be- dungsplätze!) rufliche Bildung! Frau Bulmahn, seit fünf Jahren kündi- Sehen Sie sich die Wirkungen des JUMP-Programms an: gen Sie ein Berufsbildungsgesetz an. Bislang liegt aber In Sachsen-Anhalt haben 30 000 junge Leute am JUMP- nichts auf dem Tisch. Programm teilgenommen. 22 000 von ihnen sind, nach- (Cornelia Pieper [FDP]: So ist es!) dem sie JUMP durchlaufen hatten, wieder auf der Straße gelandet. Die Wirkung war gleich null. Wir brauchen moderne Berufsbilder. Wir brauchen diffe- renzierte Angebote für junge Menschen, die ihre unter- Klar ist, dass Arbeit in Deutschland durch Ihre schiedlichen Begabungen berücksichtigen. Zwangsabgabe noch teurer wird. Meine Damen und Herren, die teuerste Auszubildende sitzt derzeit im Bun- (Zuruf von der SPD: Ihre Begabung hält doch desbildungsministerium. keiner aus!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. April 2004 9163

Katherina Reiche (A) Wir brauchen ein modernes Prüfungswesen und mehr unterhalb der Quote. Das zeigt symbolisch Ihr Interesse (C) Flexibilität für Betriebe in Bezug auf Ausbildungsvergü- an der jungen Generation. tung und Ausbildungsinhalte. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Meine Damen und Herren von der Koalition, in dieser des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Woche haben wir in unserer Bundestagsfraktion ein mo- Volker Kauder [CDU/CSU]: Sie sind auch dernes Berufsbildungsrecht beschlossen, noch Auszubildender!) (Jörg Tauss [SPD]: Toll!) Präsident Wolfgang Thierse: mit dem die duale Ausbildung in Deutschland ihren Kollegin Reiche, Sie haben Gelegenheit zur Antwort. Glanz zurückgewinnen kann. Wenn Sie selbst keine Kraft zu guter Politik mehr haben – wir haben sie. Katherina Reiche (CDU/CSU): (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Herr Kollege Tauss, ich weise Sie darauf hin, dass das neten der FDP – Lachen des Abg. Jörg Tauss Bundesbildungsministerium nicht nur die Auszubilden- [SPD]) den des Ministeriums in seine Ausbildungsplatzquote einrechnet, sondern auch die der Ressortforschungsein- Präsident Wolfgang Thierse: richtungen. Dass sich dann solche Quoten ergeben, ist Ich erteile dem Kollegen Jörg Tauss zu einer Kurzin- kein Wunder. Wenn das zeigen soll, dass Sie Forschung tervention das Wort. verstaatlichen, sind wir in der Tat auf einem guten Weg. (Zuruf von der CDU/CSU: Oh! Auch das (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) noch! – Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Das Morgengrauen!) Präsident Wolfgang Thierse: Ich erteile der Kollegin Grietje Bettin für die Fraktion Jörg Tauss (SPD): Bündnis 90/Die Grünen das Wort. Frau Kollegin Reiche, ich lasse den polemischen Ge- (Jörg Tauss [SPD]: Jetzt steigt das Niveau halt Ihrer Rede weg und sage Ihnen zu Ihrer sachlichen wieder!) Information: Niemand in diesem Lande ist daran gehin- dert, ein betriebliches oder regionales Bündnis für Aus- Grietje Bettin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): bildung zu organisieren, es mit Leben zu füllen und jun- Herr Präsident! Meine liebe Kolleginnen und Kolle- gen Menschen Ausbildungsplätze zur Verfügung zu gen! Schon so häufig haben wir das Problem sinkender (B) stellen. Ausbildungsplatzzahlen in diesem Hause diskutiert, das (D) Was ich allerdings in aller Deutlichkeit zurückweise, uns seit so vielen Jahren begleitet. Im Gegensatz zu Ih- ist Ihre Behauptung, dass beispielsweise das Bundesmi- nen, liebe Opposition, suchen wir zumindest nach Lö- nisterium für Bildung und Forschung seine Ausbildungs- sungen; Sie haben außer Polemik und platten Sprüchen verpflichtung nicht erfüllt und unterhalb der Quote aus- absolut nichts beizutragen. bildet. Liebe Frau Reiche, die Ausbildungsquote des (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Bundesministeriums für Bildung und Forschung liegt bei und bei der SPD) 8,6 Prozent. Und unter „Wahnsinn“, liebe Kollegin Reiche, ver- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten stehe ich wirklich etwas anderes: des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall des Abg. Jörg Tauss [SPD]) Das ist es, was ich vorhin gesagt habe: dass bewusst mit falschen Zahlen argumentiert wird. Tausende junger Menschen stehen jedes Jahr nach ihrem Schulabschluss ohne Ausbildungsvertrag auf der Straße. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Der Staat versucht alljährlich mit großen Kraftanstren- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – gungen und viel Geld, kompensatorische Maßnahmen Cornelia Pieper [FDP]: Und was ist mit den anzubieten. Aber der Staat kann die Rolle der Betriebe Gewerkschaften?) nicht ersetzen. Wir haben in Deutschland ein auch über Das Gesundheitsministerium beispielsweise weist Deutschlands Grenzen hinaus viel gelobtes duales Aus- eine Ausbildungsquote von 7 Prozent auf. Aber hier ist bildungssystem, das gerade von der Ausbildung im Be- die unterschiedliche Struktur der Ministerien zu berück- trieb lebt. Eine Ausbildung mit großen praktischen An- sichtigen. Ich habe klar gesagt: Auch der öffentliche teilen sichert den Unternehmen den stetigen Nachwuchs Dienst und die Ministerien haben ihre Verpflichtung zu von Fachkräften, den sie für die wirtschaftliche Weiter- erfüllen. Das ist selbstverständlich. entwicklung brauchen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Volker Leider ist im letzten Ausbildungsjahr das Angebot an Kauder [CDU/CSU]: Und Verdi?) betrieblichen Ausbildungsplätzen im Vergleich zum Vor- jahr wieder um mehr als 2 Prozent gesunken. Auf frei- Abschließend sage ich Ihnen, liebe Frau Reiche: williger Basis – das müssen auch Sie eingestehen – Auch die SPD-Bundestagsfraktion bildet aus und erfüllt konnte wieder kein Durchbruch erzielt werden, obwohl die Ausbildungsquote. Sie gibt jungen Menschen eine viele junge Menschen sich enorm um einen Ausbil- Chance. Aber die CDU/CSU-Bundestagsfraktion bleibt dungsplatz bemüht haben: Für eine Lehrstelle würden 9164 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. April 2004

Grietje Bettin (A) die meisten sogar weit von zu Hause wegziehen, und das ativen, die für einzelne Regionen erfolgreich waren; (C) mit 16 oder 17 Jahren! Schleswig-Holstein ist für mich ganz besonders hervor- zuheben. Flächendeckend hat es aber nicht gereicht; das Vergleichbares Bemühen hätten wir uns von der Wirt- müssen auch Sie eingestehen. schaft gewünscht. Ihr einziges Angebot lag darin, die Ausbildungsvergütung zu senken. Sagen Sie mir einmal, Deshalb legen wir heute einen Gesetzentwurf vor, der liebe Kollegin Pieper, wie Sie von 180 Euro im Monat diese vielfältigen Bemühungen nach unseren Vorstellun- – im Westen – bzw. 150 Euro im Monat – im Osten – auf gen entsprechend berücksichtigt. An dieser Stelle ist mir eigenen Füßen stehen wollen! wichtig, zu betonen, dass für die gesetzliche Lösung ein (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Auslösemechanismus vorgesehen wurde – das wurde und bei der SPD) auch von Frau Bulmahn schon angesprochen –: Ob es zu der Umlage kommt, liegt jedes Jahr aufs Neue in der Hand der Unternehmen. Präsident Wolfgang Thierse: Gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Pieper? und bei der SPD) Wir freuen uns – das können Sie mir glauben –, wenn Grietje Bettin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): der Mechanismus nicht ausgelöst wird. Ja. Gestatten Sie mir in diesem Zusammenhang auch Cornelia Pieper (FDP): noch ein paar Worte zu der von uns schon häufig vorge- Kollegin Bettin, Sie wissen ja, dass außerbetriebliche schlagenen Stiftung Betriebliche Bildungschance. Wir Ausbildungsvergütungen weit unter den betrieblichen Grüne wollen damit über die bisher vorgeschlagene Lö- Ausbildungsvergütungen liegen. Halten nicht auch Sie sung hinausgehen, um die gesellschaftspolitische Di- es für vernünftiger, die Ausbildungsvergütungen – wel- mension der beruflichen Bildung besonders hervorzuhe- che ja einem Tarifsystem unterliegen – zu flexibilisieren ben. Wir wollen die Mittel einer solchen Stiftung vor und dadurch Ausbildungsplätze zu schaffen? allem dazu nutzen, die dringend notwendige Moderni- sierung der beruflichen Bildung voranzubringen; sie ist (Jörg Tauss [SPD]: Das ist sogar regional unabhängig von der Umlage notwendig. Dazu wollen flexibel, Frau Kollegin!) wir Modellprojekte fördern, in denen die Modularisie- Sollten wir nicht versuchen, die Lehrlinge in Bezug auf rung und unser gemeinsames Ziel der Internationalisie- rung auch der beruflichen Bildung beispielhaft umge- (B) die Ausbildungsvergütung besser zu stellen, anstatt sie (D) von staatlich subventionierten Ausbildungsplätzen ab- setzt werden. Förderfähig im Sinne der Stiftung wären hängig zu machen? nach unseren Wünschen betriebliche, aber auch außerbe- triebliche Modellprojekte. Grietje Bettin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Im Rahmen der heute hier vorgelegten gesetzlichen Liebe Kollegin Pieper, ich halte die Debatte über die Lösung zielen wir aber ausdrücklich auf die Förderung Ausbildungsvergütung für eine absolute Ablenkungsde- betrieblicher Ausbildungsplätze in einzelnen Unterneh- batte. men oder Ausbildungsverbünden. Wir Grüne wollen mit diesem Mechanismus der Umlage einen Ausgleich zwi- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN schen ausbildenden und nicht ausbildenden Betrieben und bei der SPD) schaffen. Geld aus der Wirtschaft soll in die Wirtschaft Das Problem liegt in einem ganz anderen Bereich, näm- zurückfließen. lich darin, dass die duale Ausbildung Stück für Stück ausgehöhlt wird, indem immer mehr außerbetrieblich Es gibt im Detail durchaus noch Präzisierungsbe- ausgebildet wird. Entsprechend nimmt der praktische darf. Beispielhaft sei hier der Fall eines Unternehmens Anteil der Ausbildungen – der Teil, den wir alle uns im genannt, welches mehr als zehn Beschäftigte hat, aber in Interesse der Zukunftsfähigkeit unseres Landes wün- einem Berufsfeld tätig ist, in dem keine anerkannte Aus- schen – immer weiter ab. Hier müssen wir gegensteuern; bildung vorzuweisen ist. Zudem müssen noch spezifische über die Ausbildungsvergütung können wir das Problem Härtefallregelungen ausgearbeitet werden. Das betrifft sicherlich nicht lösen. aus unserer Sicht zum Beispiel Träger der Jugendhilfe, der Behindertenintegration oder Ähnliches. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Insgesamt wollen wir zu einem Gesetz kommen, das einerseits den Interessen der jungen Menschen in unse- Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte die rem Land gerecht wird und andererseits ausgewogen und Wirtschaft nicht mit einer pauschalen Kritik überziehen. zielgenau einen gerechten Ausgleich zwischen ausbil- Mit der Ausbildungsplatzumlage wollen wir Unterneh- denden und nicht ausbildenden Betrieben schafft, ohne men fördern, die ihre Ausbildungsverpflichtung ernst allzu viel Papierkram für Wirtschaft und Verwaltung zu nehmen und um eigenen Fachkräftenachwuchs bemüht verursachen. sind. Es geht uns darum, die Kosten der Ausbildung gerecht zu verteilen; das haben wir den Arbeitgebern seit (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN fast einem Jahr zu vermitteln versucht. Es gab viele Initi- und bei der SPD) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. April 2004 9165

Grietje Bettin (A) Dies ist zugegebenermaßen keine einfache, aber den- (Beifall bei der FDP) (C) noch eine lohnenswerte Aufgabe. Liebe Opposition, al- lein zu sagen, was man alles nicht möchte, hilft den jun- Sie betreiben Gleichmacherei. Sie unterscheiden gen Menschen und unserem dualen System absolut nicht nicht nach Branchen: Es ist Ihnen vollkommen gleich, weiter. ob es um die IT-Branche oder um die Landwirtschaft geht. Sie wollen, dass die deutsche Steinkohle ausbildet, Wir haben einen Großteil unserer Hausaufgaben ge- obwohl die Politik von ihr verlangt, dass Arbeitsplätze macht. Wir werden aber zugegebenermaßen noch weiter abgebaut werden. Sie unterscheiden nicht nach Unter- arbeiten müssen. Sie können sich, unter anderem im An- nehmensgrößen: Es ist vollkommen irrelevant, ob es um hörungsverfahren, konstruktiv an einer Verbesserung der 15 Arbeitsplätze oder um 15 000 Arbeitsplätze geht. Das Ausbildungssituation beteiligen. Ich bin gespannt auf ist Planwirtschaft! Das ist der falsche Weg. Ihre Vorschläge. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Danke schön. der CDU/CSU) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Es gibt einen Bereich, die Bauindustrie, in dem es und bei der SPD) eine freiwillige Umlage gibt. Diese Umlage wird immer wieder sehr gerne von Ihnen als Beispiel herangezogen. Präsident Wolfgang Thierse: Seit 1995 hat sich die Zahl der Ausbildungsplätze in der Das Wort hat Kollege Christoph Hartmann, FDP- Bauindustrie – trotz der freiwilligen Umlage – von Fraktion. 55 000 auf 24 000 verringert. (Beifall bei der FDP) (Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Aber Sie wissen nicht, warum, Sie jun- Christoph Hartmann (Homburg) (FDP): ges Kerlchen!) Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und An diesem Punkt kommen Sie immer mit Ihrer Argu- Herren! In einem Punkt hat die Regierung Recht: Wir mentation, die Bauindustrie bilde über dem Durchschnitt müssen die Situation verbessern. Das ist aber der einzige aus. Aber das ist doch nur deshalb der Fall, weil die Bau- Punkt, in dem die Regierung Recht hat. industrie Teil des Handwerks ist und das Handwerk ins- Sie monieren unter anderem, dass es keine Anträge gesamt überdurchschnittlich ausbildet. Die einzigen und keine konkreten Vorschläge gibt. Die FDP hat in Ausbildungsplätze, die Sie mit diesem Gesetz schaffen, dieser Legislaturperiode in diesem Zusammenhang sind Ausbildungsplätze im Bundesverwaltungsamt, dem schon vier Anträge eingebracht. Sie haben alle abge- Amt, das für die Verwaltung der Ausbildungsplatzab- (B) (D) lehnt. Heute liegt wieder ein konkreter Antrag vor. Auch gabe nötig ist. diesen werden Sie ablehnen. Vor diesem Hintergrund können Sie doch nicht guten Gewissens sagen, dass wir (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten nicht an Lösungen interessiert seien! der CDU/CSU – Nicolette Kressl [SPD]: Seit wann gehören die Großen der Bauindustrie (Beifall bei der FDP) zum Handwerk?) Sie belasten mit dem Gesetz den Steuerberater, der – Frau Kollegin Kressl, ich selbst bin Mitinhaber eines keinen geeigneten Bewerber findet, und den Metzger mit kleinen Unternehmens. Ich weiß, wie ein solches Gesetz 15 Angestellten, der überhaupt keinen Bewerber findet. auf diejenigen wirkt, die in einer ähnlichen Situation Sie wollen Unternehmen, die von Insolvenz bedroht sind wie ich. Es wird nicht dazu führen, dass auch nur sind, eventuell von der Ausbildungsabgabe befreien. ein Ausbildungsplatz mehr geschaffen wird. (Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Meine sehr verehrten Damen und Herren, dieses Ge- NEN]: Eventuell?) setz löst keine Probleme, dieses Gesetz schafft Pro- – Ja, weil Sie eine Ausnahmegenehmigung schaffen bleme. wollen, die Sie der Verwaltung aufoktroyieren. Das (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) heißt, die Verwaltung darf darüber entscheiden,

(Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Präsident Wolfgang Thierse: NEN]: Sie sind aber pfiffig!) Ich erteile das Wort Kollegin Petra Pau. ihr obliegt es, darüber zu entscheiden, ob eine Ausbil- dungsplatzabgabe erhoben wird oder nicht. Petra Pau (fraktionslos): Sie wollen Unternehmen belasten, die zwar ausbil- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das den, aber nicht im Rahmen einer dualen Ausbildung, Berufsausbildungssicherungsgesetz – oder kurz, wie es zum Beispiel Medienunternehmen, die Volontäre ausbil- auf der Drucksache steht, das „BerASichG“ – ist allge- den, und Firmen, die in Berufsakademien ausbilden. Sie mein unter „Ausbildungsumlage“ bekannt. Ihr Sinn ist belasten Zeitarbeitsfirmen, deren Arbeitnehmer bei an- übersichtlich: Wer nicht ausbildet, obwohl er es könnte, deren Unternehmen beschäftigt sind. Meine sehr verehr- soll sich wenigstens finanziell an der Ausbildung beteili- ten Damen und Herren, dieses Gesetz ist ein Ausbil- gen. Wer ausbildet, obwohl es ihm schwer fällt, soll fi- dungsplatzkiller und nicht ein Ausbildungsplatzschaffer. nanziell entlastet werden. Eine solche Umlage ist nur 9166 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. April 2004

Petra Pau (A) recht und billig. Die PDS im Bundestag fordert sie seit position zur Rechten findet das gut, die Opposition zur (C) langem. Rot-Grün steht im Wort. Linken findet das nicht gut. Das zu lösende Problem wird deutlich, sobald man Eine Ausbildungsumlage ist nicht nur ein Gebot der die Fakten sprechen lässt. Seit Jahren ist die Zahl der be- Vernunft und der Moral – beides ist der Marktwirtschaft, trieblichen Ausbildungsplätze rückläufig. Nach Anga- wie wir wissen, nicht naturgegeben –, sie ist auch recht- ben des DGB bildet heute nur noch jeder vierte der lich geboten, und zwar spätestens seit dem Urteil des 2,1 Millionen Betriebe in Deutschland aus. Zugleich Bundesverfassungsgerichtes aus dem Jahre 1980. In wächst die Zahl derjenigen, die vergebens eine Lehr- diesem Urteil hat das Gericht allen Jugendlichen das stelle suchen. Nach Angaben der Bundesregierung wa- Recht auf eine praxisbezogene Ausbildung eingeräumt ren es im Herbst 2003 circa 35 000 Jugendliche. Die und die Arbeitgeber verpflichtet, für die Verwirklichung Zahlen des DGB sind wahrscheinlicher. Wenn man näm- dieses Anspruchs zu sorgen. Daneben hat es dem Staat, lich all diejenigen dazuzählt, die in Warteschleifen ge- der Politik, bedeutet – ich zitiere aus dem Urteil –: parkt sind, kommt man auf über 200 000 Betroffene. SPD und Grüne betonen das große Potenzial der Wirt- Das gilt auch, wenn das freie Spiel der Kräfte zur schaft, das brachliegt, wenn nicht ausgebildet wird. Ich Erfüllung dieser Aufgabe nicht mehr ausreichen betone das schlimme Signal für die Jugendlichen, die sollte. sich wert- und nutzlos fühlen. Das kann in der Zukunft Kurzum: Das Recht steht aufseiten von Rot-Grün, wenn nicht gutgehen. die Koalition die Umlage nun endlich einführt. Besonders dramatisch ist die Lage in den neuen In der ganzen Debatte wird der Ball nun zurückge- Bundesländern. Immer mehr Jugendliche bleiben ohne spielt, zum Beispiel mit dem Argument, viele Unterneh- Chance auf eine betriebliche Ausbildung. Sie werden in men seien zwar ausbildungswillig, aber immer mehr Ju- Ersatzmaßnahmen geparkt oder werden außer Landes gendliche seien gar nicht ausbildungsfähig. Dem will ich gedrängt. Das hat Folgen für die Regionen. Ihnen kommt im Einzelfall gar nicht widersprechen. Die Klagen über nämlich die Jugend abhanden und damit auch die Zu- das Ausgangsniveau an deutschen Schulen sind nicht kunft. Der „Spiegel“ schrieb dazu sarkastisch: „Zurück neu und nicht erst seit der PISA-Studie im internationa- bleiben Alte, Kranke und Dumme“. Das ist ein zusätzli- len Vergleich belegt. Allerdings ist das eher ein gutes ches Problem im Problembereich Ausbildungsplätze und Argument für eine gründliche Bildungsreform und ein darf den neuen Bundesländern nicht alleine überlassen schlechtes Argument gegen eine Ausbildungsumlage. werden. Das heißt, die PDS im Bundestag ist grundsätzlich für Nun weht ein Sturm der Entrüstung durch das Land, eine solche Umlage. Über die Details muss man im wei- (B) seitdem Rot-Grün mit der Ausbildungsabgabe ernst teren Verfahren miteinander reden. (D) macht. Ein Argument wird auf das nächste getürmt, um das Berufsausbildungssicherungsgesetz, wie es amtlich (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Jörg heißt, zu verhindern. Unternehmerverbände malen Hor- Tauss [SPD]: Sie kennen die Urteile des Ver- rorszenarien und drohen mit noch weniger Ausbildung. fassungsgerichts besser als die CDU! Das Die FDP warnt vor einer Bußsteuer. Die CDU/CSU sieht spricht für Sie, Frau Pau!) den Standort Deutschland bedroht. Ist Ihnen, liebe Kol- leginnen und Kollegen, noch nie aufgestoßen, dass an- Präsident Wolfgang Thierse: dersherum ein Schuh daraus wird? Ich erteile das Wort Kollegen Ernst Dieter Rossmann, SPD-Fraktion. (Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Die wirt- schaftspolitische Expertise der PDS hat schon (Beifall bei der SPD) die DDR zugrunde gerichtet!) Hunderttausende Unternehmen bilden nicht aus, obwohl Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD): sie es könnten. Diese gefährden den Standort Deutsch- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! land. Sie bürden den anderen Lasten auf, anstatt sie zu Herr Merz von der CDU ist hier ganz gewaltig und pole- teilen, und sie lassen immer mehr junge Menschen hän- misch eingestiegen. Andere haben es ihm nachgemacht. gen. Dagegen muss etwas getan werden. Wir sind hier, Ich möchte nur ganz nüchtern sagen: Mit Schaum vor um politisch zu intervenieren. dem Mund lässt sich schlecht denken. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Das viel gelobte duale Ausbildungssystem hinkt seit langem. Immer weniger Jugendliche werden betrieblich Mit Schaum vor dem Mund wird man zum Dogmatiker. und immer mehr ersatzweise außerbetrieblich ausgebil- Vielleicht können wir uns auf eine solche Unterschei- det. Das ist weder im Sinne des Erfinders noch im Inte- dung einigen: Wir sollten gemeinsam dogmatisch sein in resse der Jugendlichen. Hinzu kommt: Die Unterneh- dem Ziel, dass alle jungen Menschen eine Ausbildungs- men, die nicht ausbilden, sparen Kosten. Stattdessen und Qualifizierungschance erhalten. müssen die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler für die (Beifall bei der SPD) Ersatzmaßnahmen aufkommen. Es ist dasselbe Trauer- spiel, das wir auch auf anderen Gebieten erleben: Viele Ihr Dogmatismus aber ist ein anderer: Sie wollen Unternehmen entziehen sich ihrer Sozialpflicht. Die Op- über alles Mögliche diskutieren, aber eine Erweiterung Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. April 2004 9167

Dr. Ernst Dieter Rossmann (A) des Instrumentariums, mit dem wir uns in Deutschland ein offenes Instrument darstellen und zeitlich befristet (C) diesem Problem und dessen Bewältigung nähern kön- sind! nen, unter keinen Umständen auch nur bedenken. Mit ei- nem solchen Dogmatismus schließen Sie lediglich das Dieses Gesetz ist modern, weil es entstaatlicht. In Instrument aus, konzentrieren sich aber nicht auf das, diesem Zusammenhang möchte ich mich gerne mit der worauf es eigentlich ankommt, nämlich darauf, in der FDP auseinander setzen, da sie immer wieder die Ver- Gesellschaft, bei den Unternehmen und bei uns Politi- staatlichung von Berufsausbildung beklagt. Wir stim- kern dafür zu werben, dass auch die letzten Chancen er- men sicherlich darin überein, dass eine vollzeitschuli- örtert werden, die wir eröffnen können, damit junge sche Ausbildung Verstaatlichung bedeutet. Menschen einen Ausbildungsplatz erhalten. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) An dieser Stelle beobachten wir, dass es zu immer mehr Deshalb muss selbst in Ihre Kreise hinein und bei der vollzeitschulischen Ausbildungen kommt, manchmal Wirtschaft dafür geworben werden, sich ganz nüchtern aus guten Gründen, manchmal auch deshalb, weil im zu fragen, ob das Instrument der Ausbildungsplatzum- dualen System nicht genug ausgebildet wird. Aus die- lage, das in den Kasten der zur Verfügung stehenden In- sem Grund gehen zwischen 60 000 und 70 000 junge strumente aufgenommen werden soll, nicht durchaus Menschen in die Berufsfachschulen und andere voll- modern ist. staatliche Ausbildungen. Mit dem vorliegenden Gesetz- entwurf wollen wir gegensteuern. Es wird versucht, Das Gesetz ist modern, weil es subsidiär ist. Von ihm innerhalb des dualen Systems zusätzliche Ausbildungs- wird nur dann Gebrauch gemacht, wenn die in der Ge- plätze rechtzeitig zu mobilisieren, damit die jungen Men- sellschaft freiwillig entwickelten Lösungen nicht zur Er- schen nicht die Flucht in die Berufsfachschulen antreten. reichung der entsprechenden Ziele führen. Das ist klas- sisch, modern und subsidiär. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Ein anderer Punkt. Zu der Zeit, als Herr Schäuble noch Oppositionsführer war, schleuderte er uns, als wir In Gesprächen mit Unternehmerinnen und Unterneh- vom Instrument JUMP begeistert waren – in Teilen auch mern kann sich über dieses Instrument – hoffentlich mit noch sind –, entgegen, das sei ein Betrug an den Jugend- Ihrer Unterstützung – die Frage, weshalb nicht ausgebil- lichen, weil es keine wirkliche Ausbildung im dualen (B) det wird, zum Positiven wenden: Ja, weshalb bilden wir System sei. In diesem Punkt will ich ihm gerne Recht (D) denn eigentlich nicht aus? Welche Chancen liegen denn geben. Vielleicht ist das Instrument der Ausbildungs- in der Verbundausbildung, in Kooperationen mit Schu- platzabgabe eine Teilantwort auf Erfahrungen, die wir len, in neuen Ausbildungsordnungen, in ausbildungsbe- mit JUMP machen mussten. Es ist etwas anderes als gleitenden Hilfen, die von der Regierung und der Bun- JUMP: Es nimmt die Wirtschaft, die Unternehmen in die desagentur für Arbeit zur Verfügung gestellt werden? – Pflicht. Es wirbt dafür, nicht an erster Stelle auf Ersatz- So muss gedacht werden, wenn man die Zielvorgabe maßnahmen zu setzen, sondern den Lernort Betrieb bes- Subsidiarität – was Sie von uns erwarten und was unser ser zu organisieren, als das mit JUMP im Einzelfall Anspruch an ein modernes Gesetzesinstrumentarium möglich war. ist – ernst nimmt. Ein weiterer Punkt – die differenzierte Betrachtung (Dagmar Wöhrl [CDU/CSU]: Keine Praxis- werden wir sicherlich in der Ausschussanhörung vorneh- erfahrung und keine Ahnung!) men wollen –, mit dem ich mich auseinander setzen will, Das Gesetz ist modern, weil es dynamisch ist. Der ist der FDP-Vorschlag, die Ausbildungsvergütung in Entwurf bezieht offene, sich wandelnde Größen ein – si- den Betrieben an die Ausbildungsvergütung in den au- cher erschwert das die Sache –: Wie viele suchen einen ßerbetrieblichen Lernorten anzupassen. Nimmt dies das Ausbildungsplatz? Wie viele Ausbildungsplätze gibt es? auf, was duale Ausbildung kennzeichnet, nämlich Ler- Wie ist das Verhältnis zu den Arbeitsplätzen? – Genau so nen und Arbeit zunehmend miteinander zu verbinden? In wünscht man sich die Gesetze ja eigentlich. Gesetze sol- der dualen Ausbildung wird akzeptiert, dass der Lernort len nicht ein bestimmtes Maß dogmatisch setzen, son- ein Betrieb ist, dass man vom ersten bis zum dritten dern die gesellschaftliche Wirklichkeit abbilden, auch Lehrjahr zunehmend etwas leistet. Junge Menschen sol- beim Thema Beruf und Bildung. len lernen, dass sie dann, wenn sie sich anstrengen und etwas leisten, dafür etwas bekommen, nämlich Anerken- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) nung und eine tarifmäßige Bezahlung. Dieses Gesetz ist modern, weil es den Blick in die (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Zukunft richtet. Relevant sind die Bedarfe der Zukunft, BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) zum Beispiel der Bedarf an Facharbeitern. Damit wird reflektiert, dass es einen Alters- und Gruppenwandel All das wollen Sie nivellieren. Sie wollen die von Ihnen gibt. Deshalb ist die Geltungsdauer dieses Gesetzes zeit- nicht gewollte außerbetriebliche Ausbildung zum Maß- lich auch begrenzt. Sie fordern doch immer: Macht Ge- stab nehmen, nach dem Sie junge Menschen bezahlen setze, die nicht für die Ewigkeit gedacht sind, sondern wollen. 9168 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. April 2004

Dr. Ernst Dieter Rossmann (A) An dieser Stelle komme ich auf meinen Ausgangs- (Siegfried Scheffler [SPD]: Kommen Sie doch (C) punkt zurück. Vielleicht gibt es einen Unterschied zwi- mal zu Ihren eigenen Vorschlägen!) schen Dogmatismus und Engagement. Ich versuche, das durch den Wunsch vorzuleben, dass wir all das, was Sie Wir wissen es, viele von Ihnen wissen es auch und die aus den Fraktionen zu diesem Gesetzentwurf im Einzel- meisten Menschen draußen vor Ort wissen es ebenfalls. nen an Fragen haben, im Ausschuss sachlich erörtern Ihr Gesetzentwurf ist nur ein Tribut an die SPD-Linken können, dass Sie Vorschläge machen und wir diese Vor- und sonst nichts. schläge aufnehmen, sodass es am Ende einen Gesetzent- (Beifall bei der CDU/CSU – Siegfried Scheffler wurf gibt, der eine große Gemeinschaftsleistung von [SPD]: Nur dummes Gerede!) Wirtschaft und Gesellschaft insgesamt darstellt. Wenn es nicht zur Anwendung dieses Gesetzes kommt, dann des- Sie treiben einen bitterernsten Schabernack mit den halb, weil es in dieser Gesellschaft ein klares Bekenntnis jungen Menschen in unserem Land. Sie erwecken Hoff- dazu gibt, dogmatisch für junge Leute und ihre Ausbil- nungen, dass mit diesem Gesetz mehr Ausbildungs- dungschancen zu streiten und bei der Wahl der Instru- plätze geschaffen werden. Sie wissen aber so gut wie mente offen zu sein. Im Übrigen soll möglichst freiwillig wir, dass dem nicht so sein wird. Im Gegenteil: Es wird und rechtzeitig all das mobilisiert werden, was in unserer nicht besser, sondern es wird schlechter werden. Es wer- Wirtschaft an Kraft für Ausbildung steckt. den weniger Ausbildungsplätze als vorher bereitgestellt werden. Danke schön. (Jörg Tauss [SPD]: Warum stellen Sie weniger (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Ausbildungsplätze zur Verfügung? – Gegenruf des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – des Abg. Volker Kauder [CDU/CSU]: Können Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Da klatscht Sie nicht ein wenig charmant sein?) die Angst!) Warum sind denn inzwischen 16 Prozent aller Unterneh- men in Wartehaltung und haben ihre Lehrstellenange- Präsident Wolfgang Thierse: bote auf Eis gelegt? Warum warten sie ab? Daran sieht Ich erteile das Wort Kollegin Dagmar Wöhrl, CDU/ man, dass Ihr Gesetzentwurf eine ganz verheerende psy- CSU-Fraktion. chologische Wirkung hat. Sie haben das in Ihren Reihen teilweise selbst er- Dagmar Wöhrl (CDU/CSU): kannt. Es kommt doch nicht von ungefähr, dass Ihr Wirt- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die schaftsminister nicht da ist. (B) Ausführungen der Redner von Rot-Grün in dieser De- (D) batte sind deprimierend. Ich sage das so, wie ich es emp- (Johannes Singhammer [CDU/CSU]: So ist es! finde. Wo ist er denn?) Er steht nicht dahinter; das wissen wir. Wir wissen auch, (Jörg Tauss [SPD]: Das befürchte ich!) dass Herr Eichel nicht dahinter steht. Daran sieht man, Ich glaube, ich bin von allen Rednern die Einzige, die dass er auch vernünftig sein kann; ausbildet. Mein Betrieb hat eine Ausbildungsquote von (Zurufe von der SPD: Oh!) 11 Prozent. denn nicht umsonst hat er seine Beamten aufschreiben (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- lassen, die Beschäftigungs- und Wachstumswirkung ei- neten der SPD und der FDP) ner Ausbildungsplatzabgabe sei „fragwürdig“. Das ist Ich erwarte nicht, dass jeder ein Unternehmen hat und ein Zitat. „Fragwürdig“ hat er gesagt. Er rechnet mit Be- die Praxis vor Ort miterlebt. Aber ich erwarte von Kolle- lastungen der Wirtschaft in Höhe von 1,2 Milliarden gen, die sich hier vorne hinstellen und große Reden Euro. schwingen, dass sie in die Betriebe gehen, mit Jugendli- (Jörg Tauss [SPD]: 3,5! Jetzt einigt euch mal!) chen und Betriebsinhabern sprechen und sich vor Ort er- kundigen, wie die wirtschaftliche Lage momentan ist, Sie bauen eine Mammutbehörde mit bis zu 1 000 Beam- sodass sie wissen, wovon sie hier reden. ten auf. Die Vorhaltekosten betragen bis zu 70 Millionen Euro per annum, unabhängig davon, ob Sie diese Ausbil- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- dungsplatzabgabe überhaupt erheben oder nicht. neten der FDP) (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Der Tauss Das heutige Datum ist wirklich bezeichnend für diese soll Präsident werden! – Gegenruf des Abg. Debatte. Ihr Gesetzentwurf, den Sie auf den Tisch gelegt Jörg Tauss [SPD]: Anstelle von Köhler alle- haben, ist ein sehr missglückter Aprilscherz. mal! Aber Schwan ist besser!) (Widerspruch bei der SPD) Sie sammeln für die immense Bürokratie 2,4 Milliarden Euro ein. Dann geben Sie an einige wenige wieder Sie müssen doch zugeben: Es gibt viele in Ihren Reihen, 1,4 Milliarden Euro. die derselben Auffassung sind. Jeder, der einen klaren Menschenverstand hat, sieht doch, dass das Unvernunft (Nicolette Kressl [SPD]: Das ist doch nicht hoch drei ist. wahr!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. April 2004 9169

Dagmar Wöhrl (A) Es verschwinden in dem bürokratischen Apparat (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Jörg (C) 1,2 Milliarden Euro. Sie sind einfach perdu. Tauss [SPD]: Bayerischer Textbaustein!) Das alles geschieht in einer Situation, die durch Das gesamte Vorhaben ist unkoordiniert. Der Gesetzent- 80 000 Firmeninsolvenzen in den letzten zwei Jahren ge- wurf beinhaltet verfassungsrechtliche Problemstellungen prägt ist, was bedeutet, dass junge Menschen 80 000-mal en masse. Das wissen auch Sie. weniger die Chance hatten, einen Ausbildungsplatz zu bekommen, in einer Situation, in der in 20 Monaten Sie haben inzwischen die Anerkennung der Tarifver- 70 000 Jobs weggefallen sind, in der die Osterweiterung träge aufgenommen; stattdessen soll die Quote nicht an- mit einem immensen Wettbewerbsdruck und Kosten- erkannt werden. druck vor der Tür steht, und in der wir weniger Bürokra- (Nicolette Kressl [SPD]: So ein Blödsinn!) tie und nicht mehr Bürokratie brauchen. Sie aber bauen ein Riesenbürokratiemonster par excellence auf. In diesem Zusammenhang frage ich mich, inwiefern ein Ausgleich vorgesehen ist. Denn diejenigen, die zwar (Nicolette Kressl [SPD]: Sie sind nicht à jour! eine tarifvertragliche Vereinbarung getroffen haben, de- Das ist typisch!) ren Ausbildungsquote aber unter 7 Prozent liegt, müssen keine Ausbildungsplatzabgabe zahlen, während ein an- Ihr Minister Eichel sagt nicht umsonst, dass das derer Betrieb, der nicht tarifvertraglich organisiert ist, Ganze aus Haushaltssicht nicht akzeptabel sei. Er hat das aber mehr Lehrstellen anbietet, die Abgabe zahlen muss. ganz genau berechnen lassen: Er erwartet Steuerausfälle Diese Regelung werden Sie aus verfassungsrechtlichen von 600 Millionen Euro. Gründen nicht aufrechterhalten können. (Jörg Tauss [SPD]: Man sollte sich auf eine (Jörg Tauss [SPD]: So ein Quatsch! Was er- Debatte ordentlich vorbereiten! Das kann man zählen Sie denn jetzt?) erwarten!) Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie können uns si- Denn die Abgabe kann man gewinnmindernd abschrei- cherlich nicht absprechen, dass wir uns – ebenso wie ben. Das sind Fakten, die man nicht negieren kann. Sie; das gestehe ich Ihnen zu – große Sorgen um die Lieber Kollege Tauss, ich frage mich, warum Sie die jungen Menschen machen. Beamten ausgenommen haben. Sie sprechen nur von so- (Lachen bei Abgeordneten der SPD) zialversicherungspflichtig Beschäftigten, Sie sprechen nicht von den Beamten. Sie werden Ihre guten Gründe – Das ist nicht zum Lachen. – Wenn heute 16-Jährige auf haben und nach dem Motto verfahren: Wir Bundesbe- der Straße stehen und keinen Ausbildungsplatz bekom- (B) hörden nicht, macht ihr Länder und Kommunen das mal men, obwohl sie gerne einen hätten, dann ist das für sie (D) schön, ihr habt die Angestellten. – Sie kennen doch die frustrierend und oft auch demoralisierend. Wenn das Situation der Kommunen und der Länder: Denen steht Einzige, was sie in dieser Situation von unserer Gesell- das Wasser bis zum Hals. Sie bürden ihnen noch mehr schaft noch zu erwarten haben, eine Ersatzmaßnahme Kosten auf. Allein die Stadt Berlin hat Zusatzkosten von ist, dann wissen sie oft nicht mehr weiter. 48 Millionen Euro. Wie soll denn das überhaupt noch fi- nanziert werden? Wir sind durchaus einer Meinung, dass man dagegen etwas tun muss. Man fragt sich in diesem Zusammenhang, warum Sie (Ernst Küchler [SPD]: Aber was denn?) eigentlich nicht auf die Bund-Länder-Kommission hö- ren. Ihre Beauftragten aus dem Bildungsbereich waren Aber man muss bei den Ursachen anfangen und die sich einig, dass sie nicht erwarten, dass auch nur ein zu- Frage stellen, warum weniger ausgebildet wird. Es ist sätzlicher Ausbildungsplatz mit der Ausbildungsplatzab- doch die Grundlage für jede Lösung, erst einmal heraus- gabe geschaffen wird. zufinden, warum weniger ausgebildet wird. Wir haben Sie letzte Woche gefragt, welche Kosten In der Regel sind es die großen Betriebe – diejenigen auf Bund, Länder und Gemeinden zukommen und wie mit betrieblicher Mitbestimmung –, die weniger ausbil- viel zusätzliche Lehrstellen Sie im staatlichen Bereich den. Das muss ebenfalls berücksichtigt werden. erwarten. Wir haben gefragt, wie hoch die maximale Be- lastung der Betriebe sein könne. Das sind doch elemen- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – tare und wichtige Fragen, die beantwortet werden müs- Nicolette Kressl [SPD]: Jetzt haben wir den sen, bevor ein Gesetzentwurf erarbeitet wird. Wie aber Schuldigen!) hat Ihr Staatssekretär Matschie diese Fragen beantwor- Wo bleibt denn in diesem Bereich die Verantwortung der tet? Die Antwort lautete schlicht und ergreifend – wie Gewerkschaften in den Großbetrieben, in denen sie ver- ich meine, auch erschreckend –: Hierzu ist eine konkrete treten sind, oder auch in den Gewerkschaften selbst? Bei Abschätzung nicht möglich. Verdi beträgt die Ausbildungsquote 0,28 Prozent, aber (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Blindflug!) nach außen wird – nach dem Motto „Immer bei den an- deren, aber nie bei uns“ – laut eine Ausbildungsplatzab- Daran sieht man, wie Sie Gesetze machen, nämlich gabe gefordert. Das entspricht auch Ihrer Methode, Poli- chaotisch, unüberlegt und ohne zu wissen, welche Aus- tik zu machen. Das aber ist der falsche Weg, liebe wirkungen auf viele Bereiche damit verbunden sind. Kolleginnen und Kollegen von Rot-Grün. 9170 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. April 2004

Dagmar Wöhrl (A) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU so- schen sein, wenn dieser Gesetzentwurf Wirklichkeit (C) wie des Abg. Christoph Hartmann [Homburg] werden sollte. [FDP]) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Unsere Mittelständler wollen ausbilden – das wissen wir –, aber sie können es oft nicht. Warum ist das so? Präsident Wolfgang Thierse: Zum einen finden sie keine geeigneten Bewerber. Ob- Ich erteile das Wort Kollegen Swen Schulz, SPD- wohl diese Unternehmen Lehrstellen besetzen wollen, Fraktion. aber keine geeigneten Lehrlinge finden, wollen Sie bei ihnen zukünftig ebenfalls abkassieren. Zum anderen (Beifall bei der SPD) können viele Betriebe nicht ausbilden, weil es ihnen auf- grund der schlechten wirtschaftlichen Lage nicht gut Swen Schulz (Spandau) (SPD): geht. Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr verehrte Damen und Herren! Eine Vorbemerkung (Nicolette Kressl [SPD]: Deswegen kriegen zu Herrn Merz: Er hat bei seinem polemischen Einstieg sie auch die Förderung!) großspurig gesagt, die Bundesregierung sei nicht ange- – Moment. – Wer jetzt einen Lehrling einstellt, unterliegt messen vertreten. Das ist falsch; denn die Bundesregie- der Verpflichtung, ihn in zwei bis drei Jahren zu über- rung ist in der Spitze durch die hier anwesende Bil- nehmen. Der Unternehmer weiß aber nicht, ob er ihn dungsministerin Bulmahn vertreten. Aber wo ist jetzt dann wirklich übernehmen kann und ob die Auftragslage Herr Merz? das zulässt. (Beifall bei der SPD) (Jörg Tauss [SPD]: Wo gibt es denn eine Über- Herr Merz hat großartige Sprechblasen produziert und nahmeverpflichtung im Einzelhandel? Was er- hat sich dann verdrückt. So kann es nicht gehen. zählen Sie denn da?) (Dr. Uwe Küster [SPD]: Billigste Polemik hat Diese Fragen muss man angehen. er abgelassen!) Ein großes Problem, mit dem wir konfrontiert sind, ist Liebe Kollegin Wöhrl, ich möchte nicht im Einzelnen die Ausbildungsfähigkeit unserer jungen Menschen. auf das eingehen, was Sie gesagt haben. Es ist am bes- Pro anno verlassen 90 000 Schüler die Schule ohne Ab- ten, wenn ich Ihnen unseren Gesetzentwurf zur Verfü- schluss. Das kann man nicht einfach negieren. Das kön- gung stelle, damit Sie sich über den aktuellen Stand in- nen Sie auch nicht dadurch ändern, dass Sie den Betrie- formieren können. (B) ben eine Strafsteuer auferlegen. (D) (Beifall bei der SPD – Dagmar Wöhrl [CDU/ (Beifall bei der CDU/CSU) CSU]: Jeden Tag einen neuen Entwurf!) Sie müssen vielmehr die Wurzel des Problems angehen. Dann werden Sie vielleicht beim nächsten Mal keine fal- Dabei sind wir als Politiker gefordert. Wir müssen das schen Dinge erzählen. duale Ausbildungssystem reformieren und Betriebe für solche Jugendliche finden, die nicht hochqualifiziert Ich möchte mit meiner Rede die Debatte wieder auf sind. Wir müssen einfachere Ausbildungswege finden. eine sachliche Basis zurückführen. (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Da bin ich Wir haben, wie Sie wissen, einen Gesetzentwurf zur aber gespannt! Der Anfang war es nicht!) Modernisierung des Berufsbildungsrechtes vorgelegt, in dem wir detailliert Maßnahme für Maßnahme, die wir Warum gibt es jetzt eine solche Gesetzesinitiative? vorschlagen, aufgeführt haben. Wir haben in unserem Antrag zur Beschäftigungspolitik auch Vorschläge zur (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Das fragen Verbesserung der Situation Jugendlicher formuliert, Vor- wir uns auch!) schläge, die im Anschluss an diese Debatte diskutiert Die Antwort ist: weil die Situation auf dem Ausbil- werden müssen. Unsere Vorschläge liegen auf dem dungsmarkt 2003 fast wieder so unbefriedigend war Tisch, auch wenn Sie noch so oft sagen, dass das nicht wie 1997. Die Ausbildungsstellenlücke betrug noch un- stimmt. ter der Regierung Kohl 21 557. Einige Zeit konnten wir dann sogar ein Plus verzeichnen. Aber zuletzt belief sich Lassen Sie uns die Diskussion über die Punkte begin- die Lücke auf 20 175. Auch bei der Zahl der nicht ver- nen, die den Jugendlichen wirklich helfen, statt über Ge- mittelten Jugendlichen drohen wir an die Zeiten der setzentwürfe zu diskutieren, die nur als Placebo für die Kohl-Ära anzuknüpfen. linken Flügel Ihrer Partei dienen. Geben Sie den jungen Menschen eine Chance! Sie brauchen sie wirklich. Ver- Der Bund, die Länder und die Kommunen haben in gessen Sie nicht: Die jungen Menschen sind unsere den letzten Jahren erhebliche Anstrengungen unternom- Zukunft und auch die Zukunft vieler Betriebe. Die Mit- men, Klinken geputzt, Bündnisse geschlossen, Ausbil- telständler wissen das. Aber Sie geben den jungen Men- dungskonsense vereinbart und sehr viele Steuermittel schen keine Chance. Sie nehmen ihnen mit dem vorlie- zur Verfügung gestellt. Damit haben wir vielen Jugendli- genden Gesetzentwurf vielmehr jede Chance. Deswegen chen zwar geholfen, aber das Grundproblem nicht aus fordere ich Sie auf: Nehmen Sie den Gesetzentwurf zu- der Welt geschafft, nämlich die immer weiter sinkende rück; denn die Leidtragenden würden die jungen Men- Ausbildungsbereitschaft der Unternehmen. Obwohl Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. April 2004 9171

Swen Schulz (Spandau) (A) der staatliche Anteil, wie Ministerin Bulmahn das hier (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (C) dargelegt hat, schleichend immer weiter steigt, bleiben des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) immer mehr junge Menschen ohne Ausbildung, ohne Es ist wahr: Im Falle der Auslösung der Umlage müs- Perspektive. Das können und werden wir nicht hinneh- sen auch diejenigen Unternehmen zahlen, die nicht aus- men. bilden können oder keine Auszubildenden finden. Ich (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ verstehe, dass das im Einzelfall ungerecht erscheinen DIE GRÜNEN) kann. Doch es ist im Interesse aller Unternehmen, dass die Jugendlichen ausgebildet werden und später als Nun wirft uns die Opposition vor, wir verstaatlichten Fachkräfte zur Verfügung stehen. Es ist darum nur sach- die Ausbildung und wollten Betriebe bestrafen. Aber das gerecht, wenn sich alle Unternehmen an der Finanzie- genaue Gegenteil ist der Fall. Wir sorgen lediglich dafür, rung der Ausbildung beteiligen. dass die Betriebe, die ausbilden, Unterstützung erhalten, und zwar von denjenigen, die nicht ausbilden. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ In diesem Zusammenhang will ich auf den Report des DIE GRÜNEN) Instituts der deutschen Wirtschaft vom 25. März 2004 – er ist also ganz aktuell – verweisen. Da ist unter der Das ist ein sehr einfaches und gerechtes Prinzip, das je- Überschrift „Lücken in der Nachwuchsmannschaft“ klar der hier im Hause verstehen können sollte. formuliert, dass Deutschland im internationalen Wettbe- Übrigens, noch eine Bemerkung zum Thema Staat: werb einem Fachkräftemangel entgegensieht. Die Die FDP hat vor knapp einem Jahr im Deutschen Bun- Wirtschaft ist dabei, den Ast, auf dem letztendlich wir destag allen Ernstes Subventionen für Ausbildungsplätze alle sitzen, abzusägen. Es ist die Pflicht und Schuldigkeit vorgeschlagen. der Regierungskoalition, hier einzugreifen. (Ina Lenke [FDP]: Das ist etwas anderes als (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eine Abgabe!) und bei der SPD) Das ist sicherlich kein Beitrag zur Entstaatlichung der Wir müssen mit Sicherheit noch über Einzelaspekte Ausbildung. reden. Dafür gibt es das parlamentarische Verfahren mit Anhörungen und Ausschussberatungen. Es gibt auch in (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ unseren Reihen einige Fragen. Auch ich habe Bespre- DIE GRÜNEN) chungspunkte. Tatsächlich ist die Regierungskoalition die politische (Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Welche (B) Kraft, die den öffentlichen Anteil zurückfährt und der denn?) (D) Wirtschaft wieder Verantwortung gibt. Wir handeln, um das duale System vom Kopf auf die Füße zu stellen und Schließlich handelt es sich hierbei nicht um ein Routine- es damit zu retten. gesetz; dafür ist es viel zu wichtig. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Der Unterschied zwischen Ihnen und uns ist jedoch, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) dass Sie, anstatt sinnvolle Vorschläge zu machen, Ein- zelaspekte herausgreifen, um das ganze Anliegen, zu- Mein „Lieblingsargument“ gegen die Umlage, das sätzliche Ausbildungsplätze zu schaffen, zu diskreditie- unter anderem auch von Herrn Merz angeführt wurde, ren. Wir sprechen die Probleme an, um sie zu lösen. Wir ist, die Unternehmen würden sich dann freikaufen. An- wollen für die Menschen etwas bewegen, anstatt zu ver- gesichts dessen muss ich die Frage stellen, für wie blöd hindern. Sie eigentlich die Unternehmer halten. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall bei Abgeordneten der SPD) und bei der SPD) Heute hat kein Unternehmen irgendwelche Sanktionen Abschließend komme ich auf einen Punkt zu spre- zu erwarten, wenn es nicht ausbildet. Die Kosten für chen, der nicht oft genug wiederholt werden kann. Es Ausbildungsverweigerung sind also null. Andere Unter- gibt für die Wirtschaft einen ganz einfachen Weg, die nehmen bilden aus und tragen die entsprechenden Kos- Auslösung der Umlage zu verhindern. Ich appelliere an ten. Durch die Umlage gibt es Geld für Ausbildung und alle Unternehmer, diesen Weg einzuschlagen. Tun Sie Nichtausbildung kostet Geld. Aber plötzlich wollen sich das, wozu Sie sich selbst unzählige Male verpflichtet ha- alle freikaufen? Das ist blanker Unsinn. ben! Tun Sie das, was Ihre Aufgabe ist – und zwar aus sehr guten Gründen –: Bilden Sie die jungen Menschen (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten aus! Nehmen Sie sich ein Beispiel an den Unternehmen, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) die toll ausbilden! Wenn Sie das tun, dann wird das im Im Übrigen eine Anmerkung zu Ihrem Vorschlag, Gesetz vorgesehene Verfahren gar nicht erst ausgelöst. meine Damen und Herren von der Opposition, die Aus- Das wäre gleichzeitig der größte Erfolg, den wir mit die- bildungsvergütungen zu kürzen: Man könnte ja sagen, sem Gesetz erzielen könnten. dies wäre eine Art solidarische Handlung unter den Ju- Herzlichen Dank. gendlichen. Aber auf die Idee, dass sich auch einmal die Unternehmer solidarisch verhalten könnten, kommen (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Sie natürlich nicht. DIE GRÜNEN) 9172 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. April 2004

(A) Präsident Wolfgang Thierse: Das zentrale Versprechen des Hartz-Wahlkampfpa- (C) Ich schließe die Aussprache. pieres lautete damals: Innerhalb von 36 Monaten wird Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen auf die Arbeitslosigkeit von 4,018 Millionen auf 2 Millionen Drucksachen 15/2820 und 15/2833 zu überweisen: zur gesenkt. Deutschland war beeindruckt. Peter Hartz federführenden Beratung an den Ausschuss für Bildung, sprach von der „Bibel für den Arbeitsmarkt“, die in die- Forschung und Technikfolgenabschätzung und zur Mit- ser Kommission geschrieben worden sei. Dies alles war beratung an den Innenausschuss, den Rechtsausschuss, vor genau 593 Tagen. den Finanzausschuss sowie an die Ausschüsse für Wirt- Die Realität sieht anders aus als das, was in der Hartz- schaft und Arbeit, für Verbraucherschutz, Ernährung und Bibel steht. Seit der Hartz-Präsentation sind jeden Tag über Landwirtschaft, für Familie, Senioren, Frauen und Ju- 1 240 sozialversicherungspflichtige Jobs weggefallen. Ins- gend, für Gesundheit und Soziale Sicherung, für Ver- gesamt gibt es heute 730 000 sozialversicherungspflichtige kehr, Bau- und Wohnungswesen, für Tourismus, für Kul- Jobs weniger als im August 2002. Jeden Tag ist die Arbeits- tur und Medien sowie an den Haushaltsausschuss zur losigkeit gestiegen, hat es über 1 050 Arbeitslose mehr ge- Mitberatung und den Gesetzentwurf zusätzlich gemäß geben. Jetzt sind es 4 641 000 Arbeitslose. § 96 der Geschäftsordnung. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann sind die Über- Zusätzlich haben seitdem jeden Tag 28 Jugendliche weisungen so beschlossen. unter 25 Jahren ihre Arbeit verloren. Mittlerweile sind Ich rufe den Tagesordnungspunkt 4 auf: fast 529 000 Jugendliche arbeitslos. Beratung des Antrags der Abgeordneten Karl-Josef Gleichzeitig mussten jeden Tag 94 Unternehmen ihre Laumann, Dagmar Wöhrl, Norbert Barthle, wei- Tore schließen. Insgesamt haben seit August 2002 fast terer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/ 55 700 Betriebe Insolvenz angemeldet. Noch nicht ein- CSU gerechnet sind die Insolvenzen aus dem ersten Quartal 2004, weil uns die Zahlen noch nicht vorliegen. Weichen stellen für eine bessere Beschäfti- gungspolitik – Wachstumsprogramm für Das ganze Ausmaß wäre noch viel deutlicher, wenn Deutschland nicht die Arbeitslosenstatistik geändert worden wäre. – Drucksache 15/2670 – Würden heute die Statistikregeln von 1998 gelten, hätten wir noch 300 000 Arbeitslose mehr, das heißt insgesamt Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f) rund 5 Millionen Arbeitslose. Innenausschuss Rechtsausschuss (Klaus Brandner [SPD]: Das ist gelogen! – Zu- Finanzausschuss ruf von der CDU/CSU: So ist es!) (B) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (D) Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Angesichts dieser Fakten hat der Bundeskanzler in Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen der vergangenen Woche davon gesprochen, dass unser Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Land heute besser dastehe als vor einem Jahr. Ich frage Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung mich: Wie kann man zu einem solchen Urteil kommen? Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Hermann Kues [CDU/CSU]: Traumtänzer! – Volker Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für Kauder [CDU/CSU]: Ja, Traumtänzer!) die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Es ist einfach an der Zeit, finde ich, dass wir uns auch einmal mit den einzelnen Hartz-Modulen auseinander Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen setzen. Fangen wir doch mit der Personal-Service- Karl-Josef Laumann, CDU/CSU-Fraktion, das Wort. Agentur an. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Wolfgang Grotthaus [SPD]: Ist das mit dem (Dagmar Wöhrl [CDU/CSU]: Das ist das Arentz abgestimmt?) Schönste!) Das war laut Hartz damals das Herzstück seiner Vor- Karl-Josef Laumann (CDU/CSU): schläge. Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir alle erinnern uns sicherlich noch sehr gut (Dr. Hermann Kues [CDU/CSU]: Pleite!) an den 16. August 2002 hier in Berlin. Nach Angaben Dieses Herzstück erweist sich als teurer Totalausfall. des Wetterdienstes waren damals 25 bis 26 Grad Celsius und die Sonne schien. Es war ein sehr schöner Tag. Vor (Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Richtig!) allem wurde an diesem Tag am Gendarmenmarkt in Ber- Die Bundesregierung hatte versprochen – das ist hier lin das Hartz-Papier vorgestellt. Was gab es da nicht al- am Rednerpult gesagt worden –, dass allein durch dieses les für schöne Begriffe! Wer hatte jemals zuvor etwas Instrument 500 000 Menschen eine befristete Beschäfti- von „Reformmodulen“, von „Profis der Nation“, von gung und jährlich bis zu 350 000 Arbeitslose eine dauer- „Personal-Service-Agenturen“, von „Ich-AGs“, von hafte sozialversicherungspflichtige Tätigkeit finden wür- „Jobfloatern“ und von „Bridgesystem“ gehört? den; das war der so genannte Klebeeffekt. Bis heute (Wolfgang Grotthaus [SPD]: Alles von der haben gerade einmal 7 700 Vermittlungen in Beschäfti- Wirtschaft vorgeschlagen!) gung stattgefunden, obwohl die Bundesagentur für Ar- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. April 2004 9173

Karl-Josef Laumann (A) beit diese Maßnahmen bislang mit gut 230 Millionen in einer so modernen Volkswirtschaft, wie Deutschland (C) Euro aus Beitragsmitteln subventioniert hat. sie hat, mit Kleinstunternehmertum einen gigantischen Arbeitsmarkt schaffen könnte. Das ist aber nicht mög- Mit der Insolvenz der Firma Maatwerk ist jetzt sogar lich. Sie können unsere Volkswirtschaft, etwa den Ein- jede fünfte PSA in Deutschland pleite. zelhandel, nicht mehr mit der von Spanien oder Portugal (Volker Kauder [CDU/CSU]: So wie die Re- vergleichen. Dadurch, dass in den Gemeinden Lidl, Aldi gierung auch!) und viele andere Einzug gehalten haben, hat sich der Einzelhandel völlig umstrukturiert. In dem Dorf, aus Das bedeutet, dass rund 10 000 in einer PSA Beschäf- dem ich komme, konnten in meiner Kindheit fünf kleine tigte nicht mehr in einer PSA beschäftigt und damit wie- Einzelhändler bestehen. Von ihnen ist kein Einziger üb- der arbeitslos sind. rig geblieben. Heute gibt es dort zwei große Marktket- Die Maatwerk-Pleite hat uns ein Weiteres gelehrt, ten, die das Dorf genauso gut mit Lebensmitteln versor- gen, sogar mit einer noch größeren Auswahl als früher. nämlich dass es auch PSAs gibt, die sich gar nicht an der Eine solche Einzelhandelsstruktur, wie es sie früher gab, Zeitarbeit beteiligt haben. Maatwerk hat überhaupt keine wird es nie wieder geben. Zeitarbeitsvermittlung betrieben, sondern hat die Fälle übernommen, das Geld kassiert und darauf gesetzt, wie (Klaus Brandner [SPD]: Sie wollen doch nicht ein privater Arbeitsvermittler die Leute zu vermitteln sagen, dass die alle geschlossen haben, seit die und dann die Vermittlungsprovision, gestaffelt danach, SPD und die Grünen an der Regierung sind!) ob die Leute unter drei Monaten oder über drei Monate arbeitslos waren, abzukassieren. Allerdings ist dieses – Nein, das hat mit SPD und Grünen nichts zu tun. Aber Modell so danebengegangen, dass die Firma jetzt pleite glauben Sie doch nicht, dass Sie die Probleme des deut- schen Arbeitsmarktes mit Ich-AGs lösen könnten! ist. Da von Zeitarbeit zu sprechen ist verrückt. (Beifall bei der CDU/CSU) Wenn Sie noch etwas Verstand haben, dann stampfen Sie das PSA-Modell ein Wenn Sie zusätzliche Arbeitsplätze schaffen wollen, müssen Sie die Rahmenbedingungen für die Wirtschaft, (Beifall bei der CDU/CSU) für die industriellen Arbeitsplätze, für neue Bereiche, und arbeiten mit der privaten Zeitarbeitsbranche zusam- etwa den Bereich der privaten Haushalte, verbessern; men, die regional sehr gut aufgestellt ist, mittlerweile auf dem von Ihnen gewählten Weg wird Ihnen das nicht auch überregional sehr gut aufgestellt ist. Dann haben gelingen. Sie wenigstens Profis, die dieses Geschäft verstehen. Dann gab es das Instrument des Jobfloaters. Können (B) (Zuruf von der CDU/CSU, zur SPD gewandt: Sie sich daran noch erinnern? (D) Der Verstand fehlt da aber!) (Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Job- Jetzt komme ich zum nächsten Punkt, den Ich-AGs. flopper!) 500 000 Arbeitslose sollten nach den Hartz-Plänen mit Der Jobfloater ist am 1. November 2002 unter dem Titel staatlichen Subventionen in Ich-AGs den Schritt in die „Kapital für Arbeit“ von der KfW auf den Weg gebracht Selbstständigkeit wagen. Obwohl die Bundesregierung und im März 2003 auf die Einrichtung von Ausbildungs- für das erste Jahr sehr großzügig bemessene Staatsmittel plätzen ausgeweitet worden. Anstatt der von der Hartz- ohne jede Prüfung mit vollen Händen ausgibt, haben bis- Kommission versprochenen durchschnittlich 120 000 lang lediglich rund 100 000 Arbeitslose davon Gebrauch neuen Arbeitsplätze pro Jahr hat die KfW bis heute le- gemacht, also 400 000 weniger, als Hartz damals ver- diglich knapp 11 500 Vollzeitarbeitsplätze und rund kündet hat. Ab diesem Sommer – da bin ich mir sicher –, 1 100 Ausbildungsplätze mit einem Mittelvolumen von wenn die Subventionen für die Ich-AGs erstmals redu- 837,4 Millionen Euro subventioniert. Das ist weniger als ziert werden, wird sich zeigen, wie viele von diesen 10 Prozent des versprochenen Beschäftigungseffektes Kleinstgründern auf dem freien Markt überhaupt beste- und bedeutet einen skandalösen Umfang von Subventio- hen können. nen pro Arbeitsplatz von rund 73 000 Euro. Man kann doch heute in jedem Arbeitsamt deutlich Hinzu kommt, dass sich der Bundesminister für den erkennen: Läuft das Arbeitslosengeld aus, ist die beste Aufbau Ost, Manfred Stolpe, vom Jobfloater einen gro- Möglichkeit, an Staatsknete zu kommen, die Gründung ßen Beitrag zur spürbaren Senkung der Arbeitslosenzahl einer Ich-AG, weil dafür noch nicht einmal ein Ge- in Ostdeutschland versprochen hatte. Bislang sind in die schäftsmodell vorgelegt werden muss. Es ist eine Einla- neuen Bundesländer lediglich rund 10 Prozent der KfW- dung, sich Unternehmer zu nennen, ob man am Markt Mittel geflossen; das sind ganze 83 Millionen Euro. operiert oder nicht, und an Zuschüsse von monatlich im- merhin 600 Euro im ersten Jahr zu kommen. Ich sage Ih- (Bartholomäus Kalb [CDU/CSU]: Die haben nen voraus: Wenn die Förderung ausläuft, werden wir Jobs geflutet, nicht gefloatet!) bei den Ich-AGs eine Insolvenzentwicklung haben, die Ein ganz wichtiger Ansatz der Hartz-Kommission sich gewaschen hat. war die Reform der Bundesanstalt für Arbeit. Durch (Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer) verbesserte Vermittlung und ein modernes IT-System sollte der Nachschub von Arbeitslosen nach Nürnberg Das liegt daran, dass Sie schlicht und ergreifend fol- gestoppt werden. Alleine durch die Reform der Bundes- gendem Trugschluss unterliegen: Sie denken, dass man anstalt für Arbeit sollten bis zu 250 000 Arbeitslose im 9174 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. April 2004

Karl-Josef Laumann (A) Jahresschnitt weniger gezählt und gut 100 000 neue Be- Instrumente nicht die Renner in der Arbeitsmarktpolitik (C) schäftigungsverhältnisse geschaffen werden. Anstatt der sind. Deswegen sollten wir, was die Finanzierung dieser erhofften Erfolge und einer Entlastung der Beitragszah- Instrumente, über die ich geredet habe, angeht, mit der ler aber erweist sich insbesondere der virtuelle Arbeits- Geldvernichtung aufhören. markt als Millionengrab. Nach der ersten Ausschreibung wurde noch mit Kosten von 35 Millionen Euro für den (Beifall bei der CDU/CSU) virtuellen Arbeitsmarkt gerechnet. Mittlerweile geht die Der Ansatz bei der Bundesagentur für Arbeit und in neue Führung der Bundesagentur, wie wir alle wissen, der Arbeitsmarktpolitik muss viel stärker im grundsätzli- von Gesamtkosten von 163 Millionen Euro aus. Hinzu chen Bereich liegen. Ich bin zutiefst davon überzeugt, kommt, dass auch die Beitragsmittel, die der ehemalige dass wir gewaltige Anstrengungen unternehmen müssen, BA-Vorsitzende Gerster für Kommunikationsberatungen um in Deutschland im Bereich der Industrie eine gewisse unter Verstoß gegen das Vergaberecht vergeben hat, in den Sand gesetzt worden sind. Tiefe bei der Fertigung erhalten zu können. Es nützt uns nichts, wenn bei uns am Ende Güter zwar zusammen- Vor ein paar Tagen lese ich, meine lieben Kolleginnen montiert werden, aber die Tiefe der Fertigung in einem und Kollegen von der SPD-Fraktion und den Grünen atemberaubenden Tempo abnimmt. und vor allen Dingen vom Ministerium für Wirtschaft und Arbeit, dass das Wirtschaftsministerium vor Diese Entwicklung hat natürlich etwas mit der Kos- 14 Tagen eine Studie – aus den Mitteln des Steuerzah- tensituation zu tun. Wir sollten uns in der Öffentlichkeit lers – über das Image der Bundesagentur für Arbeit in und im Parlament über ein paar Punkte unterhalten, die Auftrag gegeben hat. man am leichtesten und am zumutbarsten verändern kann. Ich bin der Meinung, dass wir zu flexibleren und (Volker Kauder [CDU/CSU]: Schon wieder!) längeren Arbeitszeiten kommen müssen, um unsere Fertigungstiefe zu erhalten. Ich glaube, dass kein Weg Man hat mit dieser Studie ein Bonner Institut beauftragt daran vorbeiführt. Das geeignete Instrument wird nicht und zahlt dafür 830 000 Euro. die stumpfe 40-Stunden-Woche sein. Aber ich bin davon (Volker Kauder [CDU/CSU]: Wahnsinn!) überzeugt, dass wir über das Jahr gesehen 41 oder 42 Stunden – abhängig von Jahreszeit und Branche – re- Ich möchte einmal wissen, wer in Ihrem Haus die Ver- lativ flexibel arbeiten müssen. gabe dieses Auftrags unterschrieben hat. Sie brauchen zurzeit keine Untersuchung über das Image der Bun- (Christian Müller [Zittau] [SPD]: Und sams- desagentur für Arbeit durchzuführen. Sie müssen nur tags!) einmal Straßenbahn fahren. Da hören Sie genug über das (B) Image der Bundesagentur. Das wäre der humanste und zumutbarste Beitrag, um (D) zu einer Kostenentlastung zu kommen. Davon bin ich (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und zutiefst überzeugt. der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU) Diejenigen, die solche Untersuchungen für notwendig halten, sind wahrscheinlich schon lange nicht mehr Stra- Ich will Ihnen einen weiteren Punkt nennen, auf den ßenbahn gefahren. Es wird Zeit, dass sie ihren Fahrer wir uns verständigen müssen. Wir müssen in allen staat- verlieren und wieder mehr Straßenbahn fahren müssen. lichen Bereichen schauen, welche Auflagen im Zusam- Dann erfahren sie, wie das Image der Bundesagentur menhang mit Arbeitsplätzen entbehrlich sind. Ich würde aussieht, auf deren Unterstützung Millionen von Men- in Deutschland das Arbeitszeitgesetz abschaffen. An schen in diesem Land angewiesen sind. dessen Stelle sollte die entsprechende EU-Richtlinie tre- ten. Darin ist die wöchentliche Arbeitszeit festgehalten. (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Thea Dückert Die Entwicklung geht also hin zu einem Abschied von [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie sollten der täglichen Arbeitszeit als Richtgröße, die noch Be- besser Fahrrad fahren!) standteil – das ist bei uns Tradition – der deutschen Ge- Die Vergabe dieser Studie ist zwar für das Institut in setzgebung ist. Diese Maßnahme kostet kein Geld und Bonn sehr schön. Aber wenn ich mir anschaue, wie ver- ist relativ einfach. Ein Federstrich genügt. zweifelt die finanzielle Situation in vielen Bereichen in (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Deutschland ist, dann kann ich nur den Kopf darüber Abg. Dirk Niebel [FDP]) schütteln – das zeugt von Unsensibilität –, dass man eine solche Studie in der jetzigen Zeit vergibt. Ich würde vorschlagen, dass man die Arbeitsstätten- verordnung auf den Gesundheitsschutz konzentriert. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, Alles andere muss uns nicht interessieren. Das können Sie sollten einfach Abschied nehmen von dem Hartz- vernünftige Leute selber regeln. Vorschriften zum Ge- Wahlkampfmanöver. Damals haben einige eitle Herren, sundheitsschutz würde ich vorgeben. Dann wäre aber die Herrn Schröder helfen wollten, in einer Kommission Schluss. zusammengesessen und haben alte Tatsachen mit neuen Begriffen bezeichnet. Sie haben sich Zahlen ausgedacht, Man müsste einmal nachprüfen, wozu die Zahlen, die die – wenn man daran glaubt – zeigen, wie schön die die statistischen Ämter auf Bundes- und Landesebene er- Welt sein kann. Aber mittlerweile wissen wir ganz ge- heben, gebraucht werden. Mich ärgert nicht nur, dass der nau, dass die Hartz-Reformen und die entsprechenden Mittelständler sonntagmorgens diese Formulare ausfül- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. April 2004 9175

Karl-Josef Laumann (A) len muss. Mich ärgert auch, dass sich wahrscheinlich Klaus Brandner (SPD): (C) irgendein gut bezahlter BAT-Mensch damit beschäftigt. Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Im Dezember 2003 haben sich die (Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU) Oppositions- und die Regierungsparteien im Vermitt- Wir müssen uns einmal fragen, ob wir diese Zahlen lungsausschuss zusammengesetzt, um die größten Ar- wirklich brauchen. Was geschieht mit diesen Zahlen? beitsmarktreformen der Geschichte der Bundesrepublik Sind diese Informationen für das Handeln des Staates Deutschland zu besprechen. Sie sind dabei zu einem ein- notwendig? Für die Bereiche, in denen wir diese Zahlen vernehmlichen Ergebnis gekommen und haben hier im nicht benötigen, sollte man sie nicht mehr erheben. Bundestag den überwiegenden Teil sehr einvernehmlich beschlossen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Heute erleben wir einen Oppositionsantrag, der mit Das wäre ein großer Fortschritt auf dem Weg zur Ent- dem Satz beginnt: bürokratisierung. Die rot-grüne Arbeitsmarktpolitik ist auf ganzer Li- Wenn ein Handwerksmeister feststellen würde, dass nie gescheitert. es weniger Bürokratie gibt, dann hätte er vielleicht mehr Spaß an seinem Job und würde allein schon deswegen (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und mehr junge Menschen einstellen. Aber wenn er die Bü- der FDP) rokratie im Zusammenhang mit Ihrer Ausbildungs- So machen Sie sich einen schlanken Fuß; so ziehen Sie platzabgabe sieht, dann wird er sich wahrscheinlich sich aus der Verantwortung bzw. aus einer Angelegen- überlegen, wie er unter die Grenze von zehn Mitarbei- heit, die Sie gemeinsam mit uns auf den Weg gebracht tern kommt, um damit nichts zu tun zu haben. haben. Ich sage es einmal freundlich: Sie haben ein Wir werden – das sage ich Ihnen voraus – nächstes wirklich hocherotisches Verhältnis zum Negativen. Da- Jahr weniger Betriebe mit 13 Anstreichern haben als die- ran – und nicht an Inhalten und praktischen Hilfen für ses Jahr. Denn alle Betriebe werden versuchen, unter die Menschen in diesem Land – ziehen Sie sich anschei- zehn Beschäftigte zu kommen, damit sie mit diesem nend hoch. Sie suchen nach Misserfolgen. Das ist Ihr Er- Thema nichts zu tun haben. So läuft das praktisch ab. folgsrezept und das lassen wir nicht durchgehen. Ich weiß, dass das für jeden, der eine Bindung zur Ge- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten werkschaftsbewegung in Deutschland hat, ein schwieri- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Zuruf ges Thema ist. Aber wenn wir wollen, dass der Flächen- von der CDU/CSU: Armselig!) tarifvertrag seine Bindungswirkung behält, wird der Mir zeigt das: Sie haben die Agenda 2010 weder gele- (B) (D) Weg, den die IG Bergbau, Chemie, Energie und andere sen noch verstanden. Die Wirtschafts- und Arbeitsmarkt- eingeschlagen haben, nämlich die Tarifvereinbarungen politik ist nämlich nicht gescheitert. Sie ist sehr erfolg- flexibler auf Betriebsstrukturen zuzuschneiden, unver- reich. meidlich sein. Wenn dieser Weg unvermeidlich ist, wa- rum können wir dann im Bundestag das Günstigkeits- ( [Hamm] [CDU/CSU]: Bitte? – prinzip im Tarifvertragsgesetz nicht so klarstellen, dass Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Wo Gerichte es nicht verbieten können, wenn sich Beleg- denn?) schaften und Geschäftsleitungen im Rahmen von Inves- 100 000 Gründungen von Ich-AGs im letzten Jahr sind titionen für die Zukunft auf eine andere Auslegung des eben kein Misserfolg, wie es Kollege Laumann hier vor- Günstigkeitsprinzips verständigen? getragen hat. Die Bundesagentur für Arbeit bzw. das Ins- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- titut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung gingen da- neten der FDP) von aus, dass sich in einem Jahr aus der Arbeitslosigkeit im höchsten Fall bis zu 200 000 Existenzgründungen rekrutieren lassen. 250 000 sind es geworden. Sie aber Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: reden dies schlecht, machen es negativ und nehmen jun- Herr Kollege, achten Sie bitte auf die Zeit! gen Menschen, die den Mut haben, Existenzgründungen aufzubauen, den Mut, diesen Weg weiterhin zu beschrei- Karl-Josef Laumann (CDU/CSU): ten. Das ist skandalös! Ich hoffe, dass es früh genug ist, wenn Sie umkehren. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Ich habe praktische Beispiele genannt, die nicht Millio- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) nen in Agenturen kosten. Dafür brauchen Sie auch nicht die Profis der Nation; dafür brauchen Sie nur ein Parla- Auch die Anzahl der Minijobs ist dank unserer unbü- ment mit einer gutwilligen Mehrheit. Wenn Sie diese rokratischen Regelung nicht herstellen, werden wir das bald tun. (Lachen bei der CDU/CSU) Schönen Dank. ganz erheblich gestiegen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Franz Romer [CDU/CSU]: Was habt ihr denn hier beschlossen? – Johannes Singhammer Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: [CDU/CSU]: Wer hat das denn vorgeschla- Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Klaus Brandner. gen?) 9176 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. April 2004

Klaus Brandner (A) – Stehen Sie nicht mehr zu diesem Ergebnis? platz werde mit 73 000 Euro subventioniert. Sie haben (C) das Programm nicht verstanden. Es handelt sich dabei ( [CDU/CSU]: Das ist unser um ein Kreditprogramm. Die Subvention besteht darin, Kind!) dass der Kredit verbilligt wird. Ein Arbeitsplatz kann – Setzen Sie keine falschen Dinge in die Welt! Wir ha- höchstens mit 1 460 Euro bezuschusst werden. Durch ben uns im Vermittlungsausschuss auf ein einfaches Ver- das Programm sind immerhin 11 500 neue Arbeitsplätze fahren verständigt. Stehen Sie zumindest dazu, dass das und 1 100 Ausbildungsplätze entstanden. ein gemeinsames Ergebnis ist! (Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Es sollten (Beifall bei Abgeordneten der SPD) doch 500 000 entstehen!) Wenn es ein gemeinsames Ergebnis ist, dann ist die rot- Die Art, in der Sie diese sinnvollen Elemente, mit deren grüne Arbeitsmarktpolitik eben nicht gescheitert. Sagen Hilfe Unternehmen, die nicht über genügend Eigenkapi- Sie: Das ist ein Erfolg, zu dem auch wir ein Stück weit tal verfügen, Beschäftigungsaufbau organisieren kön- unseren Beitrag geleistet haben. nen, zerreden, ist ein Skandal. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Beifall bei der SPD) Lassen Sie mich ganz deutlich sagen: Sie sind darin Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: geübt, die wirtschaftliche Lage und den Standort ständig Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des schlechtzureden, es ist aber so, dass die realwirtschaftli- Kollegen Niebel? chen Indikatoren eine positive Tendenz aufweisen. Der Umfang der Exporte hat zugenommen, die Industriepro- Klaus Brandner (SPD): duktion zieht an und gestern erst meldeten die Maschi- Bitte. nenbauer ein Auftragseingangsplus von 5 Prozent. ( [SPD]: Hört! Hört!) Dirk Niebel (FDP): Herr Kollege Brandner, erinnern Sie sich daran, dass Es sind auch mehr Auslandsinvestitionen in Deutschland die rot-grüne Bundesregierung und die sie tragenden getätigt worden. Fraktionen im Jahre 1998 die Minijobs abgeschafft ha- Die Arbeitslosenzahl für den Monat März wird unter ben, die Sie jetzt als einen der größten Erfolge Ihrer Poli- dem Vorjahresniveau liegen, und das nach einer langen tik schildern, und würden Sie mir zustimmen, dass wir Stagnationsphase. Wir sind in der Vergangenheit immer diesen großen Erfolg auch in den dazwischenliegenden davon ausgegangen, dass wir nach einer Phase ohne (B) fünf Jahren hätten haben können, wenn Sie nicht ideolo- Wachstum von einer deutlich erhöhten Arbeitslosenbi- (D) gisch gehandelt hätten? lanz ausgehen müssen. Es ist ein Erfolg unserer Arbeits- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – marktpolitik, dass die Arbeitslosigkeit real nicht gestie- Laurenz Meyer [Hamm] [CDU/CSU]: Ich gen ist. würde jetzt einfach mal ehrlich sein!) (Beifall bei der SPD – Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Fahren Sie mal Straßenbahn!) Klaus Brandner (SPD): Ob man es wahrhaben will oder nicht: Die Daten spre- Erstens hat die rot-grüne Regierung die Minijobs chen eine deutliche Sprache. nicht abgeschafft, sondern sozialpolitisch anders geord- net. (Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Wie sieht es bei den Beschäftigten aus?) (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Lachen bei der CDU/CSU und der FDP) Ich bin aber davon überzeugt, dass wir in der Sache viel weiter wären, wenn Sie nicht immer blockiert und Zweitens. Wir wären mit Sicherheit bei den Arbeits- schlechtgeredet hätten. Sie haben das auch jetzt wieder marktreformen schon erheblich weiter, wenn Sie in der bei der Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Vergangenheit nicht so stark blockiert hätten. Wir hätten Sozialhilfe angekündigt. Jahrelang haben Sie an diesem die notwendigen Reformen schneller durch das Parla- Rednerpult gefordert, die Arbeitslosen- und Sozialhilfe ment bringen können. Vor dieser Problematik stehen wir. zu einer Leistung zusammenzufügen. Sie haben im Zu- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten sammenhang mit dem Job-AQTIV-Gesetz gedrängt, in des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) die Puschen zu kommen, um es innerhalb von drei Mo- naten umsetzen zu können. Heute ziehen Sie durch die Die Zahl der Existenzgründungen – sie ist ein Beleg Lande und reden davon, dass wir noch anderthalb Jahre für das, was sich in der Gesellschaft tut – entwickelt sich brauchen werden, positiv. 2003 gab es 12 Prozent mehr Gewerbeanmel- dungen als im Vorjahr. Die Zahl der Unternehmensneu- (Dirk Niebel [FDP]: Weil wir vorher keine gründungen ist seit 1998 um 39 Prozent gestiegen. Mehrheit haben!) Ein Beleg dafür, dass Sie Ihren Antrag mit flinker bis wir überhaupt in der Lage sind, die Zusammenlegung Hand geschrieben haben, ist, dass Sie von skandalösen praktisch umzusetzen. Das zeigt, wie widersprüchlich Subventionen auf der Grundlage des Programms „Kapi- Sie argumentieren. Es geht Ihnen nicht um die Men- tal für Arbeit“ berichten. Es heißt bei Ihnen, ein Arbeits- schen in diesem Land, sondern um Ihren politischen Er- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. April 2004 9177

Klaus Brandner (A) folg. Das muss an dieser Stelle offen und deutlich gesagt (Zuruf von der CDU/CSU: Dann seid ihr aber (C) werden. nicht mehr dran!) (Beifall bei der SPD) Aber Sie gehen doppelzüngig über Land. Sie gehen auf der einen Seite zu den karitativen Einrichtungen wie Kolping Sie fordern das Voranschreiten der Deregulierung des und Caritas und sagen denen: Ihr leistet tolle Arbeit und Arbeitsrechts. Mit einer Zangenbewegung wollen Sie müsst eure betrieblichen Berufsausbildungsergänzungs- normale Arbeitsverhältnisse dadurch unter Druck setzen, maßnahmen ausdehnen. Auf euch kann man nicht ver- dass Sie den Kündigungsschutz fast völlig aufgeben. zichten. Auf der anderen Seite jedoch fordern Sie hier, Das zeigt nur, dass die soziale Markwirtschaft nicht dass die Mittel für genau diese Aufgaben gekürzt oder mehr in Ihrer Grundphilosophie enthalten ist. In den faktisch ganz gestrichen werden. Sie sagen: Die aktive ersten vier Jahren einer Beschäftigung soll es ebenso Arbeitsmarktpolitik ist gescheitert. Es sollen lieber die wie in Betrieben mit weniger als 20 Beschäftigten Beiträge gesenkt werden. Darin zeigt sich Ihre Wider- überhaupt keinen Kündigungsschutz mehr geben. Auch sprüchlichkeit. über 50-Jährige sollen überhaupt keinen Kündigungs- schutz mehr haben. Bei den Arbeitnehmern und Arbeitgebern machen Sie sich mit Ihrer Forderung nach Beitragssatzsenkungen Dabei haben wir im letzten Jahr im Vermittlungsaus- beliebt. Den Konsumenten sagen Sie: Wir brauchen schuss ein Ergebnis erzielt, dem Sie zugestimmt haben. mehr Geld. Den Kommunen sagen Sie: Wir brauchen Wie lange halten Ihre programmatischen Vorgaben? Wie mehr Geld für Investitionsmaßnahmen. Wir wollen si- lang ist die Halbwertszeit Ihrer Zusagen? Nicht einmal cherstellen, dass mehr Geld zur Verfügung gestellt wird. drei Monate sind ins Land gegangen und schon werfen Den Bürgern sagen Sie: Wir wollen die Steuern senken. Sie alles über Bord und bezeichnen alles als Quatsch, zu Sie versprechen allen alles, wollen zugleich aber hier dem Sie vorher Ja gesagt haben. Mit dieser Wider- den vernünftigen Weg nicht mitgehen, damit die Arbeits- sprüchlichkeit müssen Sie fertig werden. Das ist nicht marktpolitik effizienter wird und die Maßnahmen ge- unser Problem. stützt werden. Das lassen wir Ihnen nicht durchgehen. Wir jedenfalls stehen dafür, dass Kündigungsschutz (Beifall bei der SPD) Sicherheit und Planbarkeit für die Menschen in diesem Land bedeutet. Wir können uns nicht vorstellen, dass junge Menschen Familien gründen, wenn sie überhaupt Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: keine Sicherheit in ihren Arbeitsverhältnissen spüren. Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Wenn Sie die Menschen wie Ware, wie Handys oder Au- Laumann? (B) tos, behandeln, werden wir keine positive wirtschaftliche (D) Entwicklung erfahren. Nicht allein der Preis darf zählen. Klaus Brandner (SPD): Marktwirtschaft pur kann nicht unser Programm sein. Ja, bitte schön. Das Soziale in der Marktwirtschaft muss erhalten blei- ben. Deshalb brauchen wir auch weiterhin einen sozialen Karl-Josef Laumann (CDU/CSU): Kündigungsschutz. Kollege Brandner, Sie haben gerade gesagt, wir wür- (Beifall bei der SPD) den den Einrichtungen, die sich um die benachteiligten Jugendlichen kümmern, sagen: Dehnt eure Arbeit aus. Ganz verrückt ist Ihr Antrag bezüglich der betriebli- Gleichzeitig würden wir den Arbeitslosenversicherungs- chen Mitbestimmung. Auf der einen Seite sagen Sie, beitrag senken wollen. Darin sehen Sie einen Wider- dass die Anzahl der Betriebsratsmitglieder reduziert spruch. werden muss, dass die Freistellungen reduziert und die Rechte der Betriebsräte beschnitten werden müssen. Auf Sind Sie denn nicht mit mir der Meinung, dass es gute der anderen Seite stellt sich Kollege Laumann hier hin und weniger erfolgreiche Arbeitsmarktinstrumente gibt? und sagt: Wir brauchen betriebliche Bündnisse für Ar- Dazu, dass wir uns angesichts der derzeitigen Situation beit, die verantwortlich über Lohnreduzierungen, Ur- am Arbeitsmarkt um benachteiligte Jugendliche küm- laubsreduzierungen und Jahressonderzahlungsreduzie- mern, bestand immer Konsens über die Fraktionsgren- rungen reden, verhandeln und entscheiden können. Die zen hinaus. Drecksarbeit sollen sie also machen, aber ihre Rechts- Ich bin schon der Meinung – können Sie mir darin stellung wollen Sie drastisch beschneiden, sodass sie nicht Recht geben? –, dass zum Beispiel die Förderung überhaupt nicht dazu in der Lage sind. Das ist die Wahr- der PSAs in Höhe von 280 Millionen Euro, dass die För- heit und das muss man Ihnen deutlich sagen. derung der Ich-AGs und ABM im Westen Arbeitsmarkt- (Beifall bei der SPD – Johannes Singhammer instrumente sind, die teuer, aber nicht erfolgreich sind. [CDU/CSU]: Die Sicherung von Arbeitsplät- Sollten wir uns nicht davon verabschieden, um dann die zen ist keine Drecksarbeit!) erfolgreichen Modelle weiterfahren zu können? Genauso deutlich sind die Widersprüche in Ihrer Ar- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) beitsmarktpolitik: Sie fordern hier im Parlament, die Beiträge für die Arbeitslosenversicherung zu senken. Klaus Brandner (SPD): Das ist gut und wir würden das auch gerne tun. Sobald Nun, Kollege Laumann, Sie wissen, dass gerade die die Arbeitslosigkeit sinkt, werden wir das auch tun. rot-grüne Regierung dafür steht, die Effizienz der 9178 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. April 2004

Klaus Brandner (A) arbeitsmarktpolitischen Instrumente nicht nur zu über- das ist bei Ihnen ein beliebtes Thema. Die Teilzeitquote (C) prüfen, ist in den letzten fünf Jahren von 22,5 auf 27,3 Prozent gestiegen. Das zeigt, welche Bedarfe und Wünsche vor- (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Lachen handen waren. Das zeigt aber auch, dass durch Teilzeit bei der CDU/CSU) ein Stück weit die Arbeitslosigkeit bekämpft werden sondern auch dafür zu sorgen, dass sie bezüglich der In- kann. Das zeigt auch, dass Teilzeitansprüche gesell- tegration in den Arbeitsmarkt und auch unter finanziel- schaftliche Ansprüche beinhalten können, nämlich die len Gesichtspunkten vorliegt. Von manchen, die nicht ef- partnerschaftliche Arbeit im Betrieb zu ermöglichen. fizient sind, bekommen wir großen Ärger. Diesbezüglich Das steht im krassen Widerspruch zu Ihrer Politik der würden wir gern Ihre Unterstützung in Anspruch neh- pauschalen Arbeitszeitverlängerung, die im Ergebnis men und sagen: Wer die Leistung hinsichtlich der Inte- nichts anderes als Lohndrückerei und höhere Arbeitslo- gration in den Arbeitsmarkt nicht bringt, wird nicht mehr sigkeit bringen würde. Dafür gibt es politisch keinen bedacht. Dafür hätten wir gern die Unterstützung von al- Raum. len in diesem Land, auch von der FDP. Das tritt leider nicht ein. Das ist die eine Erfahrung, die wir machen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Schauen Sie sich – zum Zweiten – einmal die Daten- Wir setzen auf Differenzierung und Flexibilität. Sie lage in diesem Land an. Die Menschen müssen das wis- sind in der Arbeitszeitpolitik notwendiger denn je. Alle sen. Sie fordern, den Beitragsatz von 6,5 auf 5,5 Prozent Maßnahmen in dieser Richtung unterstützen wir. Aber zu senken. Das bedeutet einen Einnahmeverlust von Ihr pauschaler Ansatz, einfach die Arbeitszeit generell 12 Milliarden Euro. Für die aktive Arbeitsmarktpolitik auf 42 Stunden zu verlängern, ist ein Programm gegen werden etwa 20 Milliarden Euro zur Verfügung gestellt. die Beschäftigten und für höhere Arbeitslosigkeit. Das Dann blieben nur noch 8 Milliarden Euro übrig. Für die lassen wir Ihnen nicht durchgehen. aktive Arbeitsmarktpolitik stünden damit praktisch keine (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Fritz Mittel mehr zur Verfügung. Man muss Ihnen ganz dras- Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) tisch sagen, was Sie mit Ihrem Antrag auslösen. (Abg. Karl-Josef Laumann [CDU/CSU] Meine Damen und Herren, mit Ihrem Antrag haben nimmt wieder Platz) Sie sich hinsichtlich der Einseitigkeit geoutet, mit der Sie die sozialen Rechte auf dem Rücken insbesondere – Moment, meine Antwort auf Ihre Frage ist noch nicht der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer abbauen wol- zu Ende. len. Wir fragen uns: Wo bleiben Ihre Forderungen an die Manager, ihre Gehaltsstrukturen zu überprüfen? Wo (B) (Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Das ist zu (D) Ende!) schauen Sie, inwiefern gerade die Klientel, für die Sie sich sonst ins Zeug werfen, noch leistungsgerecht Ge- – Nein, nein. Die Uhr läuft ohnehin die ganze Zeit wei- haltsforderungen in Millionenhöhe erheben kann? ter, Frau Präsidentin. (Bartholomäus Kalb [CDU/CSU]: Das hat doch sicher Gerhard Schröder in Dresden ge- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: sagt!) Ich habe die Uhr vorhin nicht gestoppt. Deswegen muss ich sie weiterlaufen lassen. Ich glaube aber, die Wie Sie wissen, lautet unser Programm „Fördern und Frage ist ausführlich beantwortet. fordern“. Sie fordern nur von den Arbeitnehmern. Das belegt Ihr Antrag, in dem Sie das deutlich machen. Ihnen Klaus Brandner (SPD): fehlt das Augenmaß. Wir sind Ihnen für Ihren Antrag in- Lassen Sie mich ein klares Argument zu dem anfüh- sofern dankbar, als er Ihre politische Richtung zeigt. Un- ren, was Sie ansonsten vorgetragen haben. Der nieder- sere Grundstrategie bleibt eine Politik, die auf Angebot sächsische Ministerpräsident zum Beispiel sagt, dass er und Nachfrage reagiert und die Arbeitnehmer- und Ar- für die aktiven Integrationsmaßnahmen für Langzeit- beitgeberinteressen berücksichtigt. Ihr Antrag hat in sei- arbeitslose dreieinhalb Milliarden Euro mehr haben nem Kern nur die Interessen der Bundesvereinigung der möchte. Der Bund will für die ganze Bundesrepublik Deutschen Arbeitgeberverbände zum Inhalt. Wir wissen, Deutschland sechs Milliarden Euro zur Verfügung stel- dass wir mit Hartz begonnen haben, einen erfolgreichen len. Sie müssen sich einmal vorstellen, wie widersprüch- Reform- und Umstrukturierungsprozess einzuleiten, der lich diese Situation ist: Sie fordern unendlich hohe Sum- auch an harten Zahlen sichtbar wird, men für die kommunale Ebene, aber hier im Parlament (Zuruf von der CDU/CSU: Die Arbeitslosen sagen Sie im Grunde genommen, dass diese Arbeits- werden immer mehr! – Bartholomäus Kalb marktpolitik Quatsch ist, dass sie gescheitert ist und dass [CDU/CSU]: Hartz ist ein bisschen verharzt!) wir diese Maßnahmen überhaupt nicht brauchen. Diese Widersprüchlichkeit lassen wir Ihnen nicht einfach mit dem neue Beschäftigung erschlossen wird, mit dem durchgehen. die Qualität und auch die Geschwindigkeit der Vermitt- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) lung verbessert wird und der die Neuausrichtung der ak- tiven Arbeitsförderung sicherstellt. Wir bauen darauf, Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich dass die Tarifvertragsparteien diesen Prozess unterstüt- noch etwas zum Stichwort Teilzeitarbeit sagen. Auch zen. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. April 2004 9179

Klaus Brandner (A) Deshalb geht auch von dieser Stelle ein aktives und Wir werden mit der Erweiterung der Union Niedrig- (C) deutliches Zeichen für den Erhalt der Tarifautonomie steuergebiete in unserem Gemeinsamen Markt haben. aus. Die Tarifvertragsparteien in Deutschland haben ge- Die baltischen Staaten oder auch Slowenien haben Flat- rade erst wieder bewiesen, dass sie in der Lage sind, auf Tax-Einheitssteuersätze: Existenzminimum frei, maxi- neue Herausforderungen flexibel zu reagieren. Ihr An- male Besteuerung unter 20 Prozent. Relativ bald wird es satz, den Tarifvertragsparteien – im Kern meinen Sie ja: egal sein, wo sich der Hauptsitz eines Unternehmens be- den Gewerkschaften – den Boden unter den Füßen zu findet, in Essen oder in Riga. Der Unterschied wird nur entziehen und damit einseitig die Arbeitnehmerseite zu sein: In Riga zahlen sie unter 20 Prozent, in Essen schwächen, ist eine Angelegenheit, die wir nicht hinneh- 50 Prozent Steuern. men werden. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der SPD) der CDU/CSU) Meine Damen und Herren, wir werden deutlich sa- Das wird Konsequenzen haben. Schon jetzt beobach- gen: Wir sind für gleichgewichtige Partner. Beide Part- ten wir eine Abwanderung von Talenten, von Wissen- ner werden mit unserer Unterstützung – je gemeinsamer, schaftlern, von Unternehmen, von Investitionen aus desto besser – dafür sorgen, dass sie auch neue Heraus- Deutschland. Diese Neuorientierung in Europa wird sich forderungen aufgreifen, zum Beispiel die Frage der Aus- verstärken. Wir müssen uns deshalb grundsätzlich damit bildungsplätze. Das wäre doch ein Thema, bei dem Be- beschäftigen, was wir falsch machen, und zwar über darfe bestehen. Wir könnten sie ermuntern, dieses viele Jahre. Die Obergrenze des Wachstumspotenzials Thema zu behandeln. Das ist eine Wertefrage, die sie ge- der deutschen Wirtschaft liegt seit Jahren bei 1 bis meinsam aufgreifen könnten, was auch uns mit Sicher- 1,5 Prozent. Das ist zu wenig. Für einen Beschäftigungs- heit ermöglichen würde, von mancher komplizierten Re- zuwachs brauchen wir gegen 2 Prozent reales Wachstum. gelung eher Abstand zu nehmen. Die Weichen sind nicht gestellt. Was ist die Antwort Aber wir müssen doch Fragen, die sich in diesem auf die Niedrigsteuergebiete in der Europäischen Union? Land stellen, auch sachgerecht beantworten. Deshalb Sie muss doch sein, dass wir auch bei uns Anpassungen sollten Sie nicht einseitig die Gewerkschaften und die vornehmen, drastisch vereinfachen, andere Strukturen Arbeitnehmer als Sündenböcke für die Problemlagen in entwickeln. Nur ein bisschen Reparatur wird nicht hel- dieser Gesellschaft darstellen. Wir bauen auf eine gute fen. In ganzen Bereichen werden wir einen Systemwech- Zusammenarbeit. Insofern sind wir mit unserem Pro- sel brauchen. gramm „Fördern und fordern“ auf einem richtigen Weg. Weshalb gelingt es der Regierung nicht, die Men- Ich denke, das haben unsere Erfolge deutlich gemacht. schen im Land bei den Veränderungen mitzunehmen? (B) (D) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Das hat zwei Ursachen. Zum Ersten, weil sie ständig DIE GRÜNEN) zickzack macht: Da wird etwas angepackt, dann verän- dert; keiner kann sich orientieren, die Verunsicherung Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: ist groß. Zum Zweiten setzt sie auf eine insgesamt schon sehr hohe Regulierungsdichte weitere Regelungen drauf. Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Rainer Brüderle. Die Bürger stehen vor einer babylonischen Wand. Sie (Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: verstehen die Strukturen nicht mehr, sie können nicht Abteilung Gift und Galle!) mehr Teil des Systems sein, sie können nicht mehr mit- entscheiden und es nicht mehr bewerten, weil das Sys- Rainer Brüderle (FDP): tem so kompliziert geworden ist, dass keiner mehr mit- kommt. Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir de- battieren über das Wachstumsprogramm der Union. Sie, (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Herr Brandner, haben nur draufgehauen. Ich hätte mir in der CDU/CSU) dem Wachstumsprogramm der Union mehr Konkretes zum Aufbrechen des Tarifkartells gewünscht, auch zur Im Grunde brauchen wir eine Redemokratisierung Steuerpolitik manches Konkretere, aber die Richtung durch wieder überschaubare Strukturen, die den Bürgern stimmt. Möglichkeiten zur Partizipation, zur Mitwirkung, zur Mitentscheidung einräumen. So, wie wir die Strukturen (Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Aha!) – die sozialen Sicherungssysteme, das Steuersystem – gestaltet haben, kommen die Bürger nicht mehr mit; des- Grundsätzlich hat Herr Laumann völlig Recht: Wir halb sind sie nicht dabei. So meinen heute zwischen müssen uns mit den Ursachen beschäftigen, warum wir 60 und 70 Prozent der Bevölkerung: Alle Parteien sind heute – am Vorabend der Erweiterung der Europäischen Mist, sie sind nicht in der Lage, die Probleme zu lösen. Union um zehn neue Mitgliedsländer – in der Situation Die innere Zustimmung der Bürger zum parlamentari- sind, dass Deutschland, das früher das reichste Land der schen System schwindet insgesamt. Europäischen Union war, unter dem Durchschnitt liegt, dass die leichte Belebung der Konjunktur schon wieder Deswegen müssen wir die Grundachsen der Politik gefährdet ist: Der Ifo-Index geht zum zweiten Mal he- ändern. Die Ordnungspolitik verfällt in diesem Land. runter; Herr Eichel spricht von der Wachstumsbremse Nicht nur der legendäre Holzmann-Interventionismus, es des Konsums, von der Achillesferse. Auch die Beurtei- geht ja weiter: Das Postmonopol wurde verlängert. Im lung draußen ist nicht positiv. Telekommunikationsgesetz wird – das hat noch keine 9180 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. April 2004

Rainer Brüderle (A) Regierung Deutschlands gewagt – ein Weisungsrecht ren so zu ändern, dass die Tüchtigen und Anständigen (C) des Ministers in Wettbewerbsfragen gegenüber der Re- im Lande mit Fleiß und Engagement auch erfolgreich gulierungsbehörde festgelegt. Eine neue Dimension! sein können. Vielmehr wird auf Beziehungen gesetzt, Oder im Pressefusionsrecht: Verbietet das Kartellrecht wie es früher der Fall war, als die Pompadour die Kakao- eine Fusion, führt man einen Sonderstatus ein. Was ma- ausschankrechte von Ludwig XIV. bekam. Ein großer chen wir denn, wenn morgen etwa die Banken in weitere Konzern, der im Ministerium oder in der Politik jeman- Schwierigkeiten geraten? Etwa ein eigenes Bankenfu- den kennt, bekommt Unterstützung; wenn ein Mittel- sionsrecht, ein Sonderrecht für Banken? Nein, die Kar- ständler oder Handwerker kaputtgeht, interessiert es kei- tellordnung, das Wettbewerbsrecht ist die Magna Charta, nen Menschen. die Grundlage der sozialen Marktwirtschaft. (Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten NEN]: So ein Schwachsinn!) der CDU/CSU) Diese Schieflage wirkt sich jenseits des einzelnen Un- Dort wird permanent interveniert, fehlgesteuert. Und ternehmens auf das Klima im Lande aus. Viele haben dann wundert man sich, wenn die Ergebnisse schlecht das Gefühl, dass dies nicht fair, nicht anständig ist. Dies ausfallen. ist auch ein Grund dafür, dass sich viele innerlich abmel- Eon, Ruhrgas, 85 Prozent Marktanteil. Als Belohnung den. Es findet nicht nur eine objektive Auswanderung bekommt der Wirtschaftsminister dann noch den Vor- von Talenten, Forschern, Begabung und Kapital statt, standsvorsitz bei der Ruhrkohle AG. Welche Einstellun- sondern auch eine innere Auswanderung. Es fehlt die gen und Verhaltensweisen sind das! Wie will man dann moralisch-ethische Grundlage eines solchen Systems: noch dem Pförtner, der abends Papier für sein Faxgerät Freiheit und Verantwortung. Wir müssen mehr Freihei- mit nach Hause nimmt, eine Abmahnung schicken, wenn ten geben und dann Verantwortung einfordern. sich Führungspersonen in Politik und Gesellschaft, auch (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten wenn es rechtlich nicht angreifbar ist, so verhalten, wie der CDU/CSU) Herr Müller sich verhält? Wir haben sie über Jahre reduziert. Ich will gar keine (Beifall bei der FDP) einseitige Zurechnung vornehmen. Das Ergebnis ist Das sind die Ursachen einer Fehlentwicklung und aber, dass Deutschland heute als der kranke Mann Euro- Fehlsteuerung, die in vielen Bereichen zu falschen Er- pas gilt. gebnissen führen. Wenn wir keine Rückbesinnung auf (Zuruf der Abg. Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast mehr Charakter in der Grundausrichtung der Wirt- [SPD]) (B) schaftspolitik erreichen, werden wir es nicht schaffen. (D) – Es ist doch so, Frau Kollegin! Wenn ein Land, das die Ich nehme als Beispiel den Arbeitsmarkt. Weshalb Nummer eins war, heute unter dem Durchschnitt der dürfen die betroffenen Mitarbeiter im Betrieb – in gehei- Europäischen Union angekommen ist, dann müssen wir mer Abstimmung mit einer Mehrheit von 75 Prozent; doch etwas falsch gemacht haben. Wir haben in Wahr- das ist mehr als eine verfassungsändernde Mehrheit – heit doch 6 Millionen Arbeitslose. Es sind nicht nur die keine eigenen Regelungen treffen, wenn sie es wollen? 4,5 Millionen, die in der Statistik auftauchen. 1,5 Millio- Es geht um ihren Job und um ihre Lebensperspektive. nen Menschen sind in Ersatzmaßnahmen wie ABM; sie (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) sind faktisch geparkt und hängen am Tropf von Sozial- transfers, haben aber keine durch Marktmechanismen Ich will Mitbestimmung für die Mitarbeiter und weniger gesicherte Arbeitsplätze. Es muss doch bei uns etwas Mitbestimmung für Funktionäre, die vielfach nicht wis- falsch sein, wenn die Arbeitslosigkeit in Großbritannien sen, wie die Situation vor Ort ist. halb so hoch und in den Niederlanden und in Schweden Dies betrifft übrigens beide Seiten. Es gibt auch bei weniger als halb so hoch wie in Deutschland ist. Dies Arbeitgeberverbänden viele, die nicht in modernen zeigt doch, dass die Menschen dort besser als wir gehan- Strukturen angekommen sind. Aber Sie haben auch delt haben. nicht den Mut, bei der Bundesagentur für Arbeit das (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Kartell aufzubrechen. Wer sitzt denn dort im Verwal- tungsrat? Es sind doch dieselben wie vorher: zu einem Hier werden aber diejenigen, die auf Schwachstellen Drittel die Arbeitgeberverbände, zu einem Drittel die hinweisen und sagen, dass bei uns die Grundachsen Gewerkschaften und zu einem Drittel der Staat. Wenn nicht stimmen und sich hier etwas ändern muss, jetzt als Sie diejenigen, die bewiesen haben, dass sie mit der Fle- unpatriotisch und als vaterlandslose Gesellen be- xibilisierung nicht umgehen können, zu Reformatoren schimpft. Wenn diese unsinnige Debatte überhaupt einen ernennen, dann dürfen Sie sich nicht wundern, wenn wir Sinn hat, dann muss es doch der sein, dass derjenige ein nichts hinbekommen. Patriot ist, der den Mut hat, Veränderungen vorzuneh- men. Die Menschen draußen im Lande wissen, dass es (Beifall bei der FDP) ohne Veränderungen nicht weitergeht, dass wir Verände- Die Strukturen aufzubrechen heißt, Chancen und rungen vornehmen müssen. Es genügt nicht, ein biss- Freiheiten zu geben, das Richtige zu entscheiden. Wir chen zu ändern oder zaghaft nachzusteuern. Das Unso- sind in Deutschland nicht blöder und auch nicht fauler zialste ist, keinen Arbeitsplatz und keine Chance auf als früher. Wir haben es nur nicht geschafft, die Struktu- einen Wiedereinstieg in die Gesellschaft zu haben, weil Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. April 2004 9181

Rainer Brüderle (A) wir nicht den Mut haben, die Dinge in Ordnung zu brin- berichten, Deutschland fange endlich an, seinen Arbeits- (C) gen. markt zu reformieren. Sie brauchen mir das alles gar nicht zu glauben; das (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN können Sie in jedem Gutachten des Sachverständigen- und bei der SPD) rats, in den Monatsberichten der Bundesbank sowie in Herr Laumann, Sie müssen sich gefallen lassen, dass den Veröffentlichungen der OECD und des Währungs- man Ihnen folgende Frage stellt: Hunderttausende Men- fonds nachlesen. Die Europäische Kommission mahnt schen haben eine Ich-AG gegründet, weil sie der Auf- Deutschland, endlich die Dinge zu verändern. Wenn wir forderung, die in den letzten Jahren verbreitet worden in Deutschland nicht die Kraft haben, im Rahmen unse- ist, geglaubt haben, deren Tenor hieß: Werdet selbststän- res parlamentarischen Systems die Veränderungen vor- dig und nehmt euer Schicksal in die eigene Hand. Was zunehmen – die Menetekel können Sie in Italien und sollen diese Menschen nun denken, wenn Sie, Herr Frankreich in vielen Bereichen sehen –, werden sich die Laumann, hier fröhlich erklären, die Ich-AGs seien Probleme andere Lösungswege, vorbei an heute beste- Schwindel, es gebe keinen Markt für die neuen Dienst- henden Strukturen, suchen. leistungen, die von ihnen aufgrund sehr unbürokrati- scher Unterstützung angeboten werden? Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Mir drängt sich der Verdacht auf, dass Sie zynisch mit Herr Kollege, achten Sie bitte auf Ihre Redezeit. den Reformen umgehen.

Rainer Brüderle (FDP): (Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Ja, ja!) Frau Präsidentin, mein letzter Satz: Es ist unsere pa- Sie haben offenkundig ein Interesse daran – das werde triotische Pflicht, Veränderungen vorzunehmen. Deshalb ich Ihnen im Einzelnen belegen –, dass alles, auch der sollten wir hier eine Debatte darüber führen, wie wir Umbau der Bundesagentur für Arbeit, schlechtgeredet wieder Wachstum und Beschäftigung schaffen, und wird. Denn Sie glauben – das ist Ihr Kalkül –, dass es, keine Punkt-, Komma- und Strichdiskussion. Denn das wenn vor Ort in den Arbeitsämtern Chaos herrscht, für schreckt die Menschen in Deutschland noch mehr von die Bundesregierung schlecht und demnach für die Op- unserer Politik ab. position gut ist. Mit dieser Methode nehmen Sie, Herr Laumann, den einzelnen Arbeitslosen in Geiselhaft einer (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten billigen Oppositionspolitik. der CDU/CSU) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: sowie bei Abgeordneten der SPD – Karl-Josef (B) Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Fritz Kuhn. Laumann [CDU/CSU]: Unerhört!) (D) Ich nenne Ihnen hierfür einige Beispiele. Erstens. Es Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): ist doch klar, dass die PSAs, die Personal-Service- Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen Agenturen, in Zeiten einer massiven Konjunkturkrise und Kollegen! Herr Brüderle, natürlich muss man, wenn nicht optimal funktionieren können. Das Instrument der man die Arbeitslosigkeit bekämpfen will, viel verändern. PSAs ist dann geeignet, wenn die Konjunktur wieder an- Das ist doch logisch. Man muss Reformen in allen Be- zieht, weil man dann Menschen in Leiharbeitsfirmen reichen der Wirtschaft durchführen, auch auf dem Ar- vermitteln kann; das ist doch logisch. beitsmarkt. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ich bin aber sehr darüber erstaunt, was hier abläuft. und bei der SPD) Wir stecken mit der Umsetzung des Gesamtpakets der Dieses Instrument ist kein Instrument für die Konjunk- Hartz-Reformen gerade mitten in einer der größten Re- turkrise. Wir brauchen es trotzdem. formen des deutschen Arbeitsmarktes. Damit sind wir noch nicht fertig. (Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Dann brauchen wir eine neue Regierung!) (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD) Ein zweites Beispiel. Alle Welt weiß, dass in Deutschland zwischen Sozialhilfe und Arbeitslosenhilfe Hartz IV – dazu werde ich später noch etwas sagen – ist aufgrund der Finanzierung aus den Gemeindehaushalten noch nicht umgesetzt und aus dem Bundeshaushalt seit Jahren – von Ihrer Re- (Bartholomäus Kalb [CDU/CSU]: Das ist gierung damals gewollt – ein Verschiebebahnhof be- doch gescheitert! – Dr. Hermann Kues [CDU/ steht. Die Gemeinden haben ein Interesse daran, dass die CSU]: Das reicht schon so!) Sozialhilfeempfänger Arbeitslosengeld und später Ar- beitslosenhilfe beziehen können. Der Bund hat das ent- und Sie verkünden wortreich, so wie eben Herr gegengesetzte Interesse. Laumann, das Ganze sei gescheitert und werde nichts Nun gehen wir hin – viele von Ihnen fordern diese bringen. Reform seit Jahren – und legen Sozialhilfe und Arbeits- (Bartholomäus Kalb [CDU/CSU]: So ist es!) losenhilfe zusammen, Dabei stehen wir gerade am Beginn der entscheidenden (Dr. Hermann Kues [CDU/CSU]: Das wollen Arbeitsmarktreform. Die ausländischen Medien dagegen wir auch!) 9182 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. April 2004

Fritz Kuhn (A) damit die Menschen schneller und leichter vermittelt Herr Laumann hat bestimmte Punkte des Antrags, den (C) werden können und damit wir Bürokratie sparen. Wenn Sie heute vorlegen, sicherheitshalber gar nicht erst ange- Sie nun aber wie in dieser Woche blockieren, dass die sprochen. Arbeitslosenhilfe mit der Sozialhilfe zusammengelegt werden kann, dann ist das nichts anderes als destruktive (Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Ich hatte Politik keine Zeit mehr!) – Ja, Sie haben Ihre Zeit gut eingeteilt; das können Sie. – (Volker Kauder [CDU/CSU]: Das ist doch Un- sinn! Das wissen Sie!) (Wolfgang Grotthaus [SPD]: Kollege Arentz wollte doch gar nicht, dass Herr Laumann re- hinsichtlich eines zentralen Reformprojekts, das wir in det!) Deutschland brauchen. Ihr Antrag beinhaltet eine Inkonsequenz nach der ande- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ren. und bei der SPD) (Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Wo denn?) Herr Kauder, ich will Ihnen das im Detail darlegen. Herr Koch ist der Meinung, die Gemeinden sollten das Ich will Ihnen das einmal an einem Beispiel vor Augen in Zukunft machen, obwohl das außer dem Landkreistag führen. Wir haben die größte Steuerreform durchge- kaum eine Gemeinde wirklich will. Denn die Gemein- führt, die es in der Geschichte der Bundesrepublik je- den wissen, dass ihre Kompetenzen bei der Schuldnerbe- mals gegeben hat. Ich will Ihnen das noch einmal in Er- ratung, bei der Drogenberatung innerung rufen: 1998 betrug der Eingangssteuersatz 25,9 Prozent und der Spitzensteuersatz betrug 53 Pro- (Dr. Hermann Kues [CDU/CSU]: Die Land- zent. 2005 wird der Eingangssteuersatz 15 Prozent und kreise machen das!) der Spitzensteuersatz 42 Prozent betragen. und bei solchen Dingen liegen und nicht bei der Arbeits- Die größte Steuerreform aller Zeiten marktvermittlung. Diese Kompetenz hat die Arbeitsver- waltung. (Dr. Hermann Kues [CDU/CSU]: Ist 1997 blo- ckiert worden! – Jochen-Konrad Fromme (Dr. Hermann Kues [CDU/CSU]: Das stimmt [CDU/CSU]: Das hätten wir schon seit 1998 doch gar nicht! Das Gegenteil ist der Fall!) haben können!) Dann hat man sich auf ein Optionsmodell geeinigt. Aber haben wir durchgeführt. Sie haben sie bekämpft, solange plötzlich fordern Sie nach den Beratungen im Vermitt- es ging. (B) lungsausschuss eine Verfassungsänderung. Bringen Sie (D) einmal in die Föderalismuskommission ein, dass Sie für Jetzt haben Sie fröhlich in Ihren Antrag geschrieben, diesen Einzelfall eine Verfassungsänderung durchführen dass die Steuern viel zu hoch sind und sinken müssen. In wollen, sodass die Gelder vom Bund über die Länder zu diesem Zusammenhang kommen Sie auf Ihre 12 und den Gemeinden fließen; so lautete Kochs Konzept. Da- 36 Prozent. bei weiß doch jeder Landespolitiker, dass die klebrigen (Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: So ist es!) Finger der Länder einen Teil dieser Gelder abgreifen werden. Selbst wenn man zu Ihren Gunsten rechnet, haben Sie dafür eine Deckungslücke von 10 Milliarden Euro; diese (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN geben Sie zu. In der Krankenversicherung wollen Sie und bei der SPD) eine Kopfprämie einführen. Die selbst erklärte De- Erklären Sie das einmal Ihren schwarzen Ministerpräsi- ckungslücke beträgt dort 20 Milliarden Euro. Ihrem denten! Jeder hier weiß doch, dass alle, auch die Union, fröhlichen Wachstums- und Belebungskonzept für die diese Verfassungsänderung nicht wollen. deutsche Wirtschaft fehlen nüchtern gerechnet also 30 Milliarden Euro. (Dr. Hermann Kues [CDU/CSU]: Polemik pur!) Daneben schreiben Sie in Ihrem Antrag fröhlich, dass mehr für Forschung und Bildung ausgegeben werden Der Wirtschaftsminister hat einen Vorschlag gemacht: muss. Entsprechend der Lissabon-Ziele sollen wir das Durch die Organleihe soll bei dieser Aufgabe die Zu- 3,0-Ziel im Forschungsbereich verwirklichen. Das sammenarbeit zwischen den Gemeinden und der Bun- würde uns Jahr für Jahr 600 Millionen Euro zusätzlich desagentur für Arbeit möglich werden. Wir alle wollen kosten. Für das, was Sie hier zusätzlich fordern, haben doch, dass die Gemeinden diese Aufgabe mit wahrneh- Sie keinerlei Finanzdeckung, sondern ein Deckungsdefi- men. Sie sagen trotzdem, dass Sie die Verfassungsände- zit von insgesamt 30 Milliarden Euro. Trotzdem wollen rung wollen, obwohl die Union in den Ländern dagegen Sie der staunenden Öffentlichkeit erklären, dass die von ist. Das ist destruktive Politik. Sie wollen die Reform Ihnen präsentierte Milchmädchenrechnung in irgend- nicht, stattdessen wollen Sie Chaos in den Arbeitsämtern einer Weise ein Wachstumskonzept sein soll. Herr im nächsten Jahr. Diesen Vorwurf kann ich Ihnen an die- Laumann, ich kann Ihnen nur sagen: Wer so schlecht ser Stelle einfach nicht ersparen. rechnet (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Er kann und bei der SPD) gut rechnen!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. April 2004 9183

Fritz Kuhn (A) und derart auf Desinformation und Chaos wie Sie setzt, wort nicht geben können, wird das hier skandalisiert. (C) der sollte nicht den Anspruch stellen, die Kompetenz da- Das ist ein Punkt. für zu haben, die Arbeitslosigkeit in Deutschland ernst- haft bekämpfen zu können. (Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Wenn man die Antwort nicht geben kann, kann man sie (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN nicht geben!) und bei der SPD) Auch bei der Arbeitsstättenverordnung können wir je- Ich komme nun zum Subventionsabbau. Sie schrei- derzeit über die Frage reden, was notwendig ist und was ben fröhlich – wie es Ihre Art ist –, dass Sie Subventio- nicht. Ich selber kenne aus Diskussionen mit Unterneh- nen abbauen wollen. Es liegen konkrete Vorschläge der mern eine Reihe von Punkten, die nicht plausibel sind Regierung für den Subventionsabbau auf dem Tisch. und die Überregulierung zum Ausdruck bringen. Bundeskanzler Schröder hat in seiner Regierungserklä- rung jüngst die Abschaffung der Eigenheimzulage ange- Wenn Sie den Masterplan von Herrn Clement kon- sprochen. Die dadurch frei werdenden Mittel sollen für struktiv begleiten würden – Sie machen ihn nur die Bildung in den Gemeinden, Ländern und im Bund schlecht –, verwendet werden. Dazu habe ich von der CDU/CSU, die den vorliegenden Antrag gestellt hat, noch kein ein- (Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Wo ist er ziges konstruktives Wort gehört. denn?) (Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Das ist doch wenn Sie konkrete Vorschläge einbringen oder ein Vier- Unsinn! Das ist eine Steuererhöhung!) oder Achtaugengespräch darüber führen würden, was möglich ist und was nicht, dann könnten Sie vieles von Sie reden von mehr Bildung. Wenn es aber um die Fi- dem erreichen, was Sie angesprochen haben. So weit nanzierung geht, dann ducken Sie sich weg. Herr Kauder sind wir nämlich gar nicht auseinander. geht dann auf die Toilette und schaut, dass er sich ver- drückt. So einfach ist das Spiel, das Sie hier veranstalten, Ich komme zu einem anderen Punkt in Ihrem Antrag, Herr Kauder. bei dem man ganz einfach sagen muss: Sie haben ein an- deres Konzept der sozialen Marktwirtschaft als wir. In (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ihrem Antrag fordern Sie, dass der Kündigungsschutz und bei der SPD – Reinhard Grindel [CDU/ erst bei Betrieben mit 20 Personen gelten und in den ers- CSU]: Sie haben keine Ahnung! – Weitere Zu- ten vier Jahren der Beschäftigung keine Anwendung fin- rufe von der CDU/CSU) den soll. Da 7 Millionen Menschen in Deutschland Jahr (B) für Jahr den Job wechseln, bedeutet Ihr Vorschlag prak- (D) Deswegen sage ich Ihnen: Wenn Sie in Deutschland tisch, dass die große Mehrheit der Beschäftigten in politisch etwas werden wollen, dann müssen Sie in den Deutschland nicht mehr unter die Kündigungsschutzge- nächsten Jahren Vorschläge für die Finanzierung dessen, setzgebung fallen soll. Das halten wir für falsch. Man worüber sie reden, machen. Ansonsten bleibt es bloßes muss es ganz klar sagen: Sie wollen für die Mehrzahl der Gerede und nichts anderes. Beschäftigten in Deutschland keinen Kündigungsschutz. Herr Laumann, Sie haben einige Vorschläge gemacht, Wir hingegen wollen ihn für die Mehrzahl der Beschäf- auf die ich eingehen will. tigten in Deutschland, weil der Schutz vor Kündigung ein elementares Recht der sozialen Marktwirtschaft ist. (Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Gut!) Das ist ein wichtiger Punkt. Da haben Sie sich in Ihrem Antrag vielleicht verrannt. Darüber sollten Sie meines Selbstverständlich können wir darüber reden, welche Erachtens noch einmal in Ruhe nachdenken. Anfragen an die Statistischen Bundes- und Landesämter wirklich notwendig sind. Reden wir dann aber auch ehr- Ich will zum Abschluss einen anderen wichtigen lich darüber! Punkt zu Ihrem Vorgehen ansprechen. Sie setzen darauf, (Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Ja!) dass die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe nicht, wie vorgesehen, zum 1. Januar 2005 Sie wissen, dass die Wirtschafts- und die Handwerksver- eingeführt wird. Übrigens wird dieser Vorschlag von der bände von der Bundesregierung und den Landesregie- Bundesagentur für Arbeit mit ihrer Selbstverwaltung, rungen sehr viel von dem, was dort abgefragt wird und die auch Sie wollen, selbst sabotiert. Die Kollegen vom was den Mittelständler am Sonntagvormittag tatsächlich Wirtschaftsausschuss saßen in Essen mit den entspre- belastet – da haben Sie völlig Recht –, wissen wollen. chenden Kollegen zusammen und haben darüber disku- Das heißt, man muss sich wirklich an einen Tisch setzen tiert, was geht und was nicht. Kaum waren sie aus der und Commitments bezüglich dieser Frage einholen. Tür, hat der Vertreter der Arbeitgeberverbände, Herr Dann ist aber auch Schluss damit, dass die Opposition Clever, öffentlich erklärt, dass der Termin verschoben mit ihren Anträgen jeden Punkt und jedes Komma von werden muss, weil er nicht einzuhalten ist. In der Sit- der Regierung erklärt haben will. zung aber hat er das Maul nicht aufgemacht, obwohl er mit am Tisch saß. Daran können Sie sehen, welches Sie kennen doch das Geschäft. Viele Daten, die statis- Doppelspiel an dieser Stelle gespielt wird. tisch erhoben werden, werden deshalb erhoben, weil Verbände und auch das Parlament insgesamt bzw. die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Opposition diese Zahlen abfragen. Wenn wir die Ant- und bei der SPD) 9184 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. April 2004

Fritz Kuhn (A) Ich sage Ihnen: Wir werden Ihnen nicht durchgehen der Konsequenz zum Chaos in der Bundesagentur für (C) lassen, dass Sie das taktische Oppositionsspiel einer Ver- Arbeit führen wird. Das ist die Konsequenz Ihrer Politik elendungsstrategie der Bundesrepublik Deutschland zu- und resultiert nicht daraus, dass die Opposition den lasten der Arbeitslosen spielen und dadurch die Arbeits- Kommunen eine faire Mitwirkungsmöglichkeit geben losen, die hoffen, schnell vermittelt zu werden, an den wollte. Rand drücken. Diese Taktik wird nicht aufgehen. Da können Sie noch so laut schreien und triumphieren, wie Sie werden morgen die Organleihe vorschlagen. Das Sie es gerade getan haben. heißt, dass die kommunalen Träger der Sozialhilfe, die diese Aufgabe übernehmen, als Organ der Bundesagen- Wir werden es in der Auseinandersetzung der nächs- tur für Arbeit handeln, also auch ihren Weisungen unter- ten zweieinhalb Jahre schaffen, deutlich zu machen, dass liegen. Kein kommunalpolitischer Entscheidungsträger diese Opposition bislang keinerlei Konzepte vorgelegt mit einem bisschen Hirn im Kopf wird so etwas tun. hat, wie wir in Deutschland zu mehr Wachstum und Be- schäftigung kommen werden. Vielmehr chaotisieren und (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) destabilisieren Sie systematisch auf hohem Niveau. Wir Sie wissen aus der Medizin, dass Organleihe nicht funk- werden das offen legen. Am Schluss werden wir sehen, tionieren kann. Das ist bei der Bundesagentur für Arbeit wer Recht bekommt. genauso. Ich danke. Das Ergebnis wird sein: Wenn wir hinterher kein Op- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN tionsgesetz haben werden, weil es keines gibt, dem der und bei der SPD) Bundesrat zustimmt, wird das SGB II, das wir Ende letz- ten Jahres beschlossen haben, gelten. Nach dem SGB II liegt die grundsätzliche Zuständigkeit bei der Bundes- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: agentur für Arbeit. Es können Arbeitsgemeinschaften Zwei Kollegen haben eine Kurzintervention angemel- gebildet werden. Jetzt lernt man im Grundstudium eines det: der Kollege Niebel und der Kollege Kauder. Herr Verwaltungsstudiums, dass man zuerst die Zuständigkeit Kuhn, Sie können danach auf beide zusammen antwor- prüfen muss. Wenn die Kommunen vor dem Hintergrund ten. ihrer kommunalen Haushalte sehen, welche Aufgaben Bitte sehr, Herr Niebel. sie auszuführen haben und welche nicht, dann werden sie nach Prüfung der Zuständigkeit feststellen, dass die Bundesagentur für Arbeit zuständig ist. Dann hat diese Dirk Niebel (FDP): große Behörde mit ihren über 4,6 Millionen Arbeitslo- Sehr verehrter Herr Kollege Kuhn, Sie können am (B) sen, mit denen sie nicht fertig wird, auch noch die er- (D) Pult noch so sehr schreien, aber das ändert nichts daran, werbsfähigen Sozialhilfeempfänger und deren Familien dass Sie das Haus anzünden und dann rufen: Haltet den zu versorgen. Die Kompetenzen dafür hat sie nicht er- Brandstifter! Nicht die Opposition ist für die schlechte worben, weil sie sie nie gebraucht hat. Situation am Arbeitsmarkt und das Stocken von Refor- men verantwortlich, sondern die die Regierung tragen- Dann werden Sie alles vergessen können, was Sie je- den Fraktionen von Rot und Grün. mals über Dosenpfand und Maut gehört haben. Wir wer- den am 1. Januar 2005 aufgrund Ihrer schlechten Politik (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten – nicht aufgrund der Politik der Opposition – eine „Do- der CDU/CSU) senmaut“ in den sozialen Sicherungssystemen erleben Sie regieren seit fünf Jahren. Auch vorherige Regierun- und die existenzielle Grundlage von Millionen von Men- gen haben Fehler gemacht. Wer aber fünf Jahre lang das schen wird dadurch gefährdet werden. Steuer in der Hand hat und ständig nur in den Rückspie- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten gel schaut, muss den Wagen gegen die Wand fahren; das der CDU/CSU) ist ganz klar. Sie haben die Zusammenlegung von Arbeitslosen- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: und Sozialhilfe angesprochen. Nun waren Sie im Ver- Herr Kollege Kauder. mittlungsverfahren Ende letzten Jahres nicht dabei. Des- wegen wissen Sie wahrscheinlich nicht, dass wir verein- Volker Kauder (CDU/CSU): bart und im Bundestag und im Bundesrat über alle Herr Kollege Kuhn, Sie haben vorhin behauptet, dass Fraktionsgrenzen hinweg auch beschlossen haben, den wir uns aus dem Programm der Zusammenlegung von Kommunen eine faire und gleichberechtigte Options- Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe verabschiedet hätten. chance einzuräumen. Das Gesetz aber, das Sie morgen Entweder Sie wissen es nicht, weil Sie nicht Mitglied im einbringen werden, hat entgegen dem überfraktionellen Vermittlungsausschuss sind, oder Sie sagen bewusst die Beschluss des Bundestages und des Bundesrates einen Unwahrheit. Wir haben von Anfang an beantragt, dass anderen Zweck. Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe zu einem Hilfesystem (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten zusammengelegt werden. Wir haben im Deutschen Bun- der CDU/CSU) destag einen Gesetzentwurf, das EGG, vorgelegt. Sie werden einen Gesetzentwurf zur Zusammenlegung Es ist auch wahrheitswidrig, wenn behauptet wird, wir von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe vorlegen, der in hätten nachträglich eine Grundgesetzänderung gefor- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. April 2004 9185

Volker Kauder (A) dert. Wenn Sie den Gesetzentwurf gelesen hätten, dann Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: (C) wüssten Sie, dass wir schon damals die Grundgesetzän- Herr Kollege Kauder! derung gefordert haben, und zwar weil wir wollten, dass sich die Kommunen darauf verlassen können, dass das Volker Kauder (CDU/CSU): Geld bei ihnen ankommt. Hier aber geht es um 4 Millionen Menschen, die Sie Das, was in dieser Woche geschehen ist, wird Konse- mit dem Optionsgesetz hin- und herschieben. quenzen haben. Zum dritten Mal hintereinander hat die (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zu- Regierungskoalition bzw. die Bundesregierung das nicht ruf von der CDU/CSU: Da war jede Sekunde eingehalten, was sie im Vermittlungsausschuss verspro- wertvoll!) chen hat. (Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Genau Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: das ist der Punkt!) Bitte, Herr Kuhn. Das ist der entscheidende Punkt. Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Klaus Herr Kollege Kauder, so wie Sie aussehen, sind Sie Brandner [SPD]: Das ist unwahr!) Mitglied des Ältestenrates. Ich nenne Ihnen die Punkte. (Widerspruch bei der CDU/CSU – Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Kauder- Erstens. Es ist uns versprochen worden, dass die Ein- welsch!) nahmen, die aus der Maut kommen sollen – bis jetzt sind sie nicht da –, zusätzlich für Verkehrsinvestitionen Das heißt, Sie könnten doch Redezeit beantragen. Inso- im Haushalt zur Verfügung gestellt werden sollen und fern kann man leicht Abhilfe schaffen. dass die Einnahmen nicht mit den Haushaltsmitteln ver- rechnet werden sollen. Das steht im Gesetz. Prompt hat (Zustimmung beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- die Bundesregierung den Haushalt so zurückgefahren, NEN und bei der SPD – Zuruf von der CDU/ dass jetzt überhaupt keine Investitionen mehr im Ver- CSU: Das ist ein Kasper! – Weitere Zurufe von kehrssektor stattfinden können. Das geschieht in einer der CDU/CSU) Situation, in der Wachstum notwendig wäre. – Ganz ruhig! Zweitens. Die Bundesregierung hat zugesagt, dass sie (Dr. [CDU/CSU]: Er (B) sich an das hält, was im Vermittlungsausschluss zum so muss sich erst entschuldigen! Das ist doch un- (D) genannten Koch/Steinbrück-Subventionsabbau be- verschämt!) schlossen worden ist. Schauen Sie sich einmal an, was im Haushaltsplan passiert ist. Es werden Dinge gemacht, – Herr Kollege, auch für Ihr Leiden gibt es eine Pro- die mit den Koch/Steinbrück-Beschlüssen nicht zu ver- blemlösung, und zwar in der Apotheke; da gibt es näm- einbaren sind. lich Beruhigungszäpfchen. Drittens. Die Bundesregierung hat zugesagt, dass sie (Dr. Hermann Kues [CDU/CSU]: Das ist eine ein Optionsgesetz als Zustimmungsgesetz vorlegen Unverschämtheit! Flegel! – Weiterer Zuruf wird, das genau das erfüllt, was wir verabredet haben, von der CDU/CSU: Wenn Sie keine Argu- nämlich die Kommunen als Träger der Maßnahmen nach mente haben, dann treten Sie doch einfach ab! Hartz IV zu bestimmen. Jetzt aber sollen die Kommunen Lümmel!) Lakaien der Bundesagentur für Arbeit werden. – Die Argumente kommen noch. – Herr Kauder, im Ver- mittlungsausschuss ist nicht verabredet worden – weder (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) protokollarisch noch mündlich –, Sie haben dreimal hintereinander nicht gehalten, was (Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Sie versprochen haben. Deswegen werden wir im Ver- Das wissen Sie doch gar nicht, wenn Sie nicht mittlungsausschuss mit Ihnen nur noch Gesetze verein- dabei waren!) baren können, die bis auf Punkt und Komma ausformu- liert sind, keine Protokollerklärungen mehr und keine dass das Optionsmodell mithilfe einer Verfassungsände- Absichtserklärungen. Auf diese Regierungskoalition ist rung umgesetzt werden soll. Ich habe mich nach dem kein Verlass. Grund dafür erkundigt. Es hat einen systematischen Grund: Die Unionsländer hätten dem niemals zuge- Jetzt muss ich Ihnen sagen: – stimmt. (Ortwin Runde [SPD]: So ist es!) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Nein, Herr Kollege Kauder. Sie hatten drei Minuten. Deshalb hat man zugunsten eines Optionsmodells argu- mentiert und hat dessen konkrete Ausgestaltung im Un- Volker Kauder (CDU/CSU): klaren gelassen. – Bei der Maut, die gescheitert ist, ging es um Last- Lassen Sie mich eine konstruktive Bemerkung ma- wagen. chen. Bei einer nüchternen Betrachtung – statt sich zu 9186 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. April 2004

Fritz Kuhn (A) ereifern – wird man feststellen, dass die Arbeitsverwal- In einem gebe ich Ihnen Recht, Herr Kauder. Es ist (C) tung bestimmte Kompetenzen hat, über die die Gemein- notwendig, bestimmte Punkte konkreter zu vereinbaren, den nicht verfügen, und dass die Gemeinden bestimmte als es in den langen Sitzungen des Vermittlungsaus- Kompetenzen haben, über die die Bundesagentur für Ar- schusses bis in den späten Abend hinein geschieht. Da- beit nicht verfügt. Wenn Sie im Interesse der Arbeitslo- mit haben Sie völlig Recht. Das Vermittlungsausschuss- sen eine wirklich konstruktive Lösung wollen – verfahren – alle stehen ja auf diese Highnoon-Situation – führt dazu, dass am Schluss – Hauptsache schnell – Vor- (Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Es geht um schläge in den Raum gestellt werden, deren rechtliche die Landkreise, nicht um die Gemeinden!) und praktische Konsequenzen nicht im Einzelnen durch- – ja, die Gemeinden und die Landkreise –, buchstabiert worden sind. (Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Sie haben (Zuruf des Abg. Reinhard Grindel [CDU/ keine Ahnung! Das ist das Problem!) CSU]) – Herr Kollege, machen Sie jetzt nicht den Pöbel! Dafür – dann wird man ein Modell finden, gibt es Fußball- oder Eishockeystadien. Das müssen Sie (Dr. Hermann Kues [CDU/CSU]: Was reden doch nicht im Bundestag machen. Sie denn da?) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN das die Fähigkeiten der einen Seite mit denen der ande- und bei der SPD) ren Seite zusammenbringt. Irgendwie kommen Sie mir vor, als hätten Sie noch Herr Laumann, wenn Sie sich konstruktiv auf den Restalkohol im Blut, so wie Sie sich hier aufpunken. vorliegenden Gesetzentwurf der Bundesregierung ein- Damit bin ich am Schluss. Ich danke Ihnen. lassen würden und über die Frage diskutieren würden, wie die Selbstständigkeit der Gemeinden (Heiterkeit und Beifall beim BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN und bei der SPD – Volker (Zuruf von der CDU/CSU: Er sagt jetzt wieder Kauder [CDU/CSU]: Eine ganz miese Figur „Gemeinden“! Er lernt nicht!) sind Sie! Kommen Sie mal von Ihrem hohen moralischen Ross herunter! So wie Sie redet – der Kreise – in diesem Prozess gestärkt werden kann, der Pöbel! Eine miese Figur!) dann würden wir eine Lösung finden, die dies in der Pra- xis ermöglichen würde. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: (B) Was uns nicht gefällt, ist, dass Sie eine Länder-Lö- Wir brauchen zwar lebhafte Debatten – auch in der (D) sung vorschlagen, Kernzeit –, aber ich bitte alle, sich etwas zu mäßigen, und zwar wirklich in jeder Richtung. (Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Darüber reden wir morgen Mittag!) Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Johannes Singhammer. von der wir wissen, dass sie nicht funktioniert. Ich muss den Kollegen, die sich so ereifern, noch einmal erklären, (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – dass das eine Verfassungsänderung erfordern würde, die Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Johannes, – Kochs Vorstellungen entsprechend – dazu führen halte eine Bierzeltrede! Hau drauf!) würde, dass der Bund den Ländern Mittel zuweist, die diese an die Gemeinden weitergeben sollen. Johannes Singhammer (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und (Klaus Brandner [SPD]: Das ist Trickserei, Herren! Herr Kuhn, angesichts der mehr als was die vorhaben!) 4,5 Millionen Arbeitslosen, die Sie zu verantworten ha- Wer sich einigermaßen in der Landespolitik auskennt ben, und weiß, wie beim kommunalen Finanzausgleich in al- (Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: len Bundesländern mit den Gemeinden Schindluder ge- Ich?) trieben wird, der weiß auch, dass die Gemeinden diese Lösung nicht wollen können. Das ist ganz einfach. kann ich verstehen, dass das schmerzt. (Volker Kauder [CDU/CSU]: Sie reden einen (Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Blödsinn!) DIE GRÜNEN) Wenn Sie konstruktiv an die Fragen herangehen würden, Deshalb kann ich auch verstehen, warum Sie hier so laut dann würden Sie auch eine Lösung herbeiführen. Aber schreien müssen. das wollen Sie nicht. (Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Herr Singhammer, Ihre Stimme ist (Klaus Brandner [SPD]: Deshalb haben sie noch ein bisschen lauter!) den Gesetzentwurf zurückgezogen! – Dr. Hermann Kues [CDU/CSU]: Das weiß Die Lage ist aber ernst. Rot-Grün hat – das ist der Grund Frau Dückert besser! – Volker Kauder [CDU/ für die heutige Debatte – Deutschland und die Menschen CSU]: Hier spricht der Blödsinn!) in unserem Land in eine tiefe Depression gestürzt. Wir Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. April 2004 9187

Johannes Singhammer (A) wollen zeigen, wie man aus dieser Krise wieder heraus- gen, dem unser Land seit vielen Jahren ausgesetzt ist. (C) kommt. Wir könnten es uns als Opposition leicht machen und Pralinen und andere Süßigkeiten verteilen. Aber wir sa- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- gen: Bittere Arznei ist leider notwendig – das entspricht neten der FDP) der Wahrheit –, um auf den Wachstumspfad zurückzu- Vom Beginn bis zum Ende dieser knapp eineinhalb- kehren. stündigen Debatte werden 70 Menschen in Deutschland (Zuruf von der SPD: Placebos!) ihren Arbeitsplatz verloren haben. Das bedeutet, dass es im Monat 25 000 und in diesem Jahr wohl erneut Wir als Opposition versprechen – das haben wir in unse- 300 000 Menschen sein werden, die ihren Arbeitsplatz rem Antrag exakt aufgelistet – nicht nur Wohltaten, son- verlieren. Deutschland hat einen gefährlichen Spitzen- dern wir sagen auch, dass Anstrengungen und Schweiß platz erklommen, nämlich den eines Exportweltmeisters notwendig sind. Wir versprechen – um ganz konkret zu bei den Arbeitsplätzen. Mit über 40 000 Firmenpleiten werden – nicht ständig kürzere Arbeitszeiten und mehr im vergangenen Jahr ist ein neuer Negativrekord erreicht Freizeit, sondern wir sagen: Die Arbeitsplätze in worden. Deutschland können nur dann dauerhaft gesichert wer- den, wenn es in unserem Land auch wieder längere Die von Ihnen als Heilsbringer angekündigten Hartz- Arbeitszeiten gibt. Konzepte haben nichts bewirkt. Die Beschäftigungslo- sigkeit – hier sind nicht nur die 4,5 Millionen Arbeits- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- lose zu berücksichtigen – ist auf deutlich über 6,5 Mil- neten der FDP) lionen Menschen angewachsen. Deshalb können Sie nicht von einem Erfolg sprechen, den Sie eingeleitet ha- Nun wird das von Ihnen auf das Heftigste kritisiert. ben. Im Gegenteil: Das ist ein Misserfolg. Aber auch Sie müssen zur Kenntnis nehmen, dass allein aufgrund der von den Arbeitnehmern als ungünstig emp- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) fundenen diesjährigen Feiertagsregelung – im Ver- Immer mehr Menschen in unserem Land sehen mit gleich zum Vorjahr fallen in diesem Jahr vier Feiertage Sorge und Düsternis in die Zukunft. Das ist auch der weniger auf einen Werktag – ein zusätzliches Wirt- Grund, warum nicht mehr konsumiert wird, warum bei- schaftswachstum von 0,6 Prozent prognostiziert wird. spielsweise auch beim PKW-Absatz in diesem Frühjahr Darauf geht im Übrigen der größte Teil des Wirtschafts- – das ist normalerweise eine Zeit, in der er in die Höhe wachstums zurück, das Sie sich auf die Fahne geschrie- geht – kaum Belebung feststellbar ist. Um zu verdeutli- ben haben. Bei nur einer Stunde Mehrarbeit pro Woche chen, dass nicht nur wir, sondern auch gerade die Wäh- könnte die deutsche Wirtschaft einen Wertzuwachs von (B) ler, die Sie gewählt haben, insbesondere die Wähler der 50 Milliarden Euro verzeichnen. Die Wettbewerbsfä- (D) SPD, das so sehen und dass sie sich massiv getäuscht higkeit der Arbeitsplätze wäre entsprechend größer. fühlen, möchte ich Ihnen ein Zitat von Herrn Klaus Wir stehen vor einer riesigen Herausforderung. Die Ernst, erster Bevollmächtigter der IG Metall in Schwein- Menschen in unserem Land spüren das. Ich möchte die furt und Mitbegründer der regierungskritischen „Initia- Jahresarbeitsstunden in einigen anderen Ländern an- tive für Arbeit und soziale Gerechtigkeit“, vorlesen: sprechen. Die Anzahl der Jahresarbeitsstunden in den Wir haben links geblinkt und sind rechts abgebogen Vereinigten Staaten ist um 350 höher als in Deutsch- und jetzt sind wir irgendwie auf der Geisterbahn. land – und die Amerikaner arbeiten auch nicht schlecht. In der Nacht vom 30. April auf den 1. Mai, also in vier (Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/ Wochen, findet die EU-Osterweiterung statt. Damit CSU]: Das ist bei den Geistern auch nicht an- kommt ein weiteres Stück Globalisierung direkt vor un- ders zu erwarten!) sere Haustür. Ein Vergleich: Die jährliche Arbeitszeit liegt in Deutschland bei 1 444 Stunden, in Belgien bei Ich stelle ohne jegliche Häme fest: Wut und Enttäu- 1 559 Stunden, in Spanien bei 1 807 Stunden und in schung über die Wirtschaftspolitik der Regierung bedro- Tschechien bei 1 980 Stunden. Die Wochenarbeitszeit hen das Vertrauen und das Zutrauen in das gesamte poli- liegt in Deutschland bei 39,9 Stunden, in Tschechien bei tische System. Die rot-grüne Wirtschaftskrise ist bereits 42,4 Stunden, in Ungarn bei 42,9 Stunden und in Polen in eine höchst gefährliche System- und Demokratie- bei 45,2 Stunden. krise ausgefranst. Man hört immer öfter den Satz: Die in der Politik sind doch alle gleich! – Diese Anklage, die Hinzu kommt eine wesentlich niedrigere Unterneh- zunächst an die Regierung gerichtet ist, kann uns als Op- mensbesteuerung in diesen Ländern. In Deutschland position natürlich nicht gleichgültig lassen; denn das liegt sie nominal bei 38,7 Prozent, in Polen und in der Vertrauen in die politische Klasse ist derzeit nicht nur ei- Slowakei bei 19 Prozent, in Litauen und in Zypern bei nem Schwelbrand ausgesetzt; vielmehr brennt es lichter- nur 15 Prozent. Machen wir uns doch nichts vor! Wir loh. wissen, was das bedeutet. Auf der anderen Seite wollen (Beifall bei der CDU/CSU) wir doch nicht das Lohnniveau der Beitrittsstaaten er- reichen. In Tschechien liegt es bei knapp über 3 Euro, Was ist zu tun? Die Aufgabe der politisch Verantwort- während es bei uns im Schnitt bei annähernd 30 Euro lichen ist, zuerst den Menschen in unserem Land reinen liegt. Wir können die Verlagerung der Arbeitsplätze in Wein einzuschenken und ihnen die ungeschminkte andere Länder nur durch flexible Arbeitszeiten verhin- Wahrheit über den bedrohlichen Substanzverlust zu sa- dern. 9188 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. April 2004

Johannes Singhammer (A) Der Bundeskanzler hat auf die patriotische Pflicht der gungsschutzes zeigen ein differenziertes Bild. So gibt es (C) Unternehmen hingewiesen. Dazu sage ich: Diese Bun- kaum Hinweise, dass die Regelungsdichte auf das Ni- desregierung hat die patriotische Pflicht, Rahmenbedin- veau von Beschäftigung und Arbeitslosigkeit Einfluss gungen zu schaffen, die gewährleisten, dass die Unter- hat. nehmen bei uns bleiben. (Jürgen Türk [FDP]: Das weiß jeder!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Meine Damen und Herren von der CDU/CSU, Sie ha- Dazu gehört, dass wir einen nationalen Solidarpakt ben für Ihren Antrag einen hübschen Titel gewählt, näm- für längere Arbeitszeiten und für Beschäftigungsgaran- lich „Weichen stellen für eine bessere Beschäftigungspo- tien vereinbaren. Dem werden auf der lokalen Ebene die litik“. Nur, mit dem Stellen von Weichen hat das – von uns verlangten – betrieblichen Bündnisse ge- lediglich in einer bestimmten Richtung zu tun. Ihr Zug recht. Diese betrieblichen Bündnisse sind vielfach Pra- landet auf dem Abstellgleis. Sie wollen Marktwirtschaft xis. Sie haben sich bewährt. Es gibt eine Vielzahl von pur. „Sozial“ wird bei Ihnen klitzeklein geschrieben. großen Firmen, die diese Bündnisse erfolgreich prakti- Zwar wurden einige Ihrer Positionen durch den Bundes- ziert haben, beispielsweise die Firmen Siemens und vorstand in letzter Sekunde noch abgeschwächt, weil die Deutsche Post AG. Ministerpräsidenten vor dem Hintergrund der Wahlen Wir wollen, dass der gesetzliche Spielraum erweitert des Jahres 2004 schlichtweg kalte Füße bekommen ha- wird. Der Bundeskanzler hat vor drei Monaten im An- ben. schluss an das Bemühen des Vermittlungsausschusses, (Klaus Brandner [SPD]: So ist es! Rüttgers Deutschland gemeinsam fit zu machen, angekündigt, die und Co.!) Möglichkeiten zu erweitern. Seither ist nichts gesche- hen. Wir befürchten, dass auch in den nächsten Monaten Aber eines ist klar: Die Union tritt für drei Sachen ein: aufgrund der Schwäche dieser Regierung nichts passiert. Zerschlagung von Arbeitnehmerrechten, Abbau des Das ist das Allerschlimmste für unser Land. Abwarten, Kündigungsschutzes, Kampf gegen die Tarifautonomie Attentismus, Verdrängen, Nichtstun, das braucht und damit Kampf gegen die Gewerkschaften. Dass Sie Deutschland nicht. Wir brauchen vielmehr neuen ein Wolf im Schafspelz sind, kann man Ihnen wahrlich Schwung. Die deutschen Arbeitnehmer und die deut- nicht vorwerfen. schen Unternehmer sind nicht schlechter geworden; al- (Zuruf des Abg. Bartholomäus Kalb [CDU/ lerdings haben sich die Rahmenbedingungen verschlech- CSU]) tert. Deshalb müssen wir an dieser Stelle ansetzen. Auch beim Minimalkonsens in Sachen Steuern ist (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (B) klar, wer die Zeche zahlt: Weshalb fällt die Absenkung (D) des Spitzensteuersatzes doppelt so hoch aus wie die Ab- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: senkung des Eingangsteuersatzes? Weshalb wird zur Ge- Herr Kollege Singhammer, Sehen Sie, dass Ihre Re- genfinanzierung die Steuerfreiheit für Nacht-, Schicht-, dezeit zu Ende ist? Sonn- und Feiertagszuschläge angegriffen? Weshalb soll der Sparerfreibetrag abgeschafft werden? Fazit: Wer hat, Johannes Singhammer (CDU/CSU): dem wird bei Ihnen gegeben. Ja. (Beifall bei der SPD – Johannes Singhammer Es gibt eine merkwürdige Gemeinsamkeit zwischen [CDU/CSU]: Wer nichts mehr hat, dem kann der Bundesregierung, insbesondere dem Wirtschafts- auch nichts genommen werden!) minister, und der Konjunktur: Beide schwächeln. Wir brauchen wieder eine starke Konjunktur und eine starke Sie versuchen, mit Ihrem Antrag eine Bilanz des Regierung. Dazu muss es eine neue Regierung geben. Hartz-Konzepts zu ziehen. Aber Ihr Versuch, Bilanz zu ziehen, ist wissenschaftlich unseriös und destruktiv. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Bartholomäus Kalb [CDU/CSU]: Dieser Bei- trag ist nicht durch Sachkunde getrübt!) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Anette Kramme. Sie sind die Letzten, die es sich erlauben dürfen, mit dem Finger auf andere zu zeigen. Sie sind nach wie vor Anette Kramme (SPD): der Rekordhalter, was die Arbeitslosigkeit angeht. „Mie- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und sepeter“ sagt man da. Kollegen! Die CDU/CSU hat in diesem Antrag eine ein- (Beifall bei der SPD – Johannes Singhammer fache Gleichung aufgestellt: Arbeitnehmer – plus Ar- [CDU/CSU]: Bitte mal Luft holen!) beitsrecht gleich schlechte Konjunktur. Aber: Anders als für den Satz des Pythagoras – a2 + b2 = c2 – gibt es für Ich will meinerseits Bilanz ziehen, und zwar bei- diese Formel keinerlei wissenschaftlichen Nachweis. spielsweise betreffend die Ich-AG. Die Daten, die da zu nennen sind, sind positiv. Jede zweite Existenzgründung In diesem Zusammenhang möchte ich auf eine ak- erfolgt mittlerweile aus der Arbeitslosigkeit heraus. tuelle Untersuchung verweisen, nämlich vom IAB vom 12. Dezember 2003. Darin heißt es: Empirische Untersu- (Zuruf von der CDU/CSU: Verzweiflungstaten chungen zu den Arbeitsmarktwirkungen des Kündi- sind das!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. April 2004 9189

Anette Kramme (A) 100 000 Ich-AGs gibt es mittlerweile. 157 000 Anträge Anette Kramme (SPD): (C) zum Überbrückungsgeld sind im Jahr 2003 gestellt wor- Herr Niebel, wenn ich Zahlen auswendig repetiere, den. Die Zahl der Förderanträge hat sich verdoppelt. Ins- dann lüge ich immer. gesamt ist noch zu beobachten, dass es beim Überbrü- ckungsgeld eine 27-prozentige Zunahme gegeben hat. (Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Endlich Wir sind da also positiv gestimmt. Wir rechnen damit, ehrlich!) dass binnen zwei Jahren jeder dieser Existenzgründer ei- Fragen Sie mich von daher nicht nach Zahlen, die ir- nen zusätzlichen Arbeitsplatz geschaffen haben wird. gendwann in einer Ausschusssitzung genannt worden (Dirk Niebel [FDP]: Die dürfen doch gar sind. Ich kann Ihnen nur die Zahl nennen, die ich mir ak- keinen einstellen!) tuell aus dem Wirtschaftsministerium habe geben lassen. Danach haben 7 700 Arbeitnehmer mittlerweile in Per- Das ist das, was uns wissenschaftliche Institute sagen. sonal-Service-Agenturen gewechselt. Das ist Punkt eins. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Beifall bei der SPD – Klaus Brandner [SPD]: Seriöse Daten!) Zur Bilanz betreffend die Personal-Service-Agentu- ren: Erst Mitte des Jahres 2003 war die flächendeckende Punkt zwei. Sie haben offensichtlich Herrn Kuhn Einführung. Im Februar 2004 hat es 993 Personal-Ser- nicht zugehört. vice-Agenturen gegeben mit 44 000 Plätzen, einer Be- (Dirk Niebel [FDP]: Doch!) setzungsquote von 74,4 Prozent und 32 700 Teilneh- mern. – Nein, das haben Sie offensichtlich nicht. – Wie Sie wissen, ist die Leiharbeit sehr wohl konjunkturabhän- (Dirk Niebel [FDP]: Die von Maatwerk müs- gig. Mit dem Anspringen der Konjunktur wird es selbst- sen Sie noch abziehen!) verständlich auch dazu kommen, dass wir in stärkerem Ohne weiteres gilt: Wir haben uns für 2003 mehr da- Maße von dem Klebeeffekt profitieren werden. Noch von versprochen. Aber auch dazu gibt es eine Untersu- einmal das IAB zitiert: „Um diese PSAen einer fundier- chung. In einer Veröffentlichung des IAB vom 15. Ja- ten Betrachtung zu unterziehen, ist es noch zu früh.“ Das nuar 2004 heißt es: „Um diese PSAen einer fundierten sollten Sie akzeptieren. Betrachtung zu unterziehen, ist es noch zu früh.“ (Beifall bei der SPD) Die Zahl der Arbeitslosen ist zweifellos viel zu hoch, Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: aber Ihre Instrumente, meine Damen und Herren von der (B) (D) Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen CDU/CSU, weisen schlichtweg in die falsche Richtung. Niebel? Erster Punkt: betriebliche Bündnisse. Was Sie wollen, ist klar und deutlich: Sie wollen Tarifverträge zu unver- Anette Kramme (SPD): bindlichen Meinungsäußerungen erklären. Aber sicher doch. (Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Warum schreien Sie so?) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: – Das geht auch ganz leise. Herr Niebel, Sie haben in dieser Debatte, glaube ich, zwei Zwischenfragen gestellt und eine Kurzintervention (Zurufe von der CDU/CSU: Ja!) gemacht. Das ist jetzt die letzte Zwischenfrage, die ich – Aber umso eindringlicher, damit Sie auch zuhören. – Ihnen in dieser Debatte erlaube. Außerdem wollen Sie das Erpressungspotenzial vor Ort nutzen. Dirk Niebel (FDP): (Bartholomäus Kalb [CDU/CSU]: Reden Sie Der Stoff für Fragen, Frau Präsidentin, ist unerschöpf- doch nicht einen solchen Unsinn!) lich. Sie wollen, dass Arbeitgeber erklären können: Wenn der Frau Kollegin Kramme, können Sie mir die Zahl be- Betriebsrat und die Belegschaft nicht zustimmen, dann stätigen, die dem Wirtschaftsausschuss vorgelegt wurde, gibt es Kündigungen. – Dann ist niemand da, der verifi- dass durch die Personal-Service-Agenturen zum damali- ziert. gen Zeitpunkt – das muss Mitte letzten Monats gewesen sein; da haben wir das diskutiert – insgesamt 6 357 Ar- (Bartholomäus Kalb [CDU/CSU]: Haben Sie schon beitnehmerinnen und Arbeitnehmer dauerhaft in den ers- einmal in einem Betrieb gearbeitet?) ten Arbeitsmarkt vermittelt worden sind? Bestätigen Sie Es geht darum, eine unabhängige Instanz zu haben. Das mir dann, wenn Sie mir diese Zahl bestätigen können, sind die Gewerkschaften. Wenn Sie ehrlich wären, dann auch, dass bei 250 Millionen Euro, die im Haushalt für würden Sie auf das Instrument der Sanierungstarifver- die Ich-AGs vorgesehen sind, pro Arbeitnehmer rein träge verweisen. rechnerisch gut 35 000 Euro eingesetzt worden sind, was eine Dimension ähnlich wie bei der Steinkohlesubven- (Bartholomäus Kalb [CDU/CSU]: Haben Sie schon tion wäre? einmal in einem Betrieb gearbeitet?) 9190 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. April 2004

Anette Kramme (A) – Ich bin Fachanwältin für Arbeitsrecht. Mein Hauptge- wir eben erlebt haben, als der Kollege Kuhn hier vorne (C) schäft in der Kanzlei ist, Interessenausgleiche herzustel- am Rednerpult stand. Ich kann verstehen, dass man sich len und Sozialpläne zu machen, was beinhaltet, dass ich in einer hitzigen Debatte kräftig ausdrückt und auch ein- ständig mit Betrieben zu tun habe, die sich in der Situa- mal emotional reagiert. Wenn man aber auf das Ausse- tion der Insolvenz befinden oder kurz davor sind. Ich hen von Herrn Kauder abhebt und eine Verbindung zum weiß also sehr wohl, was es heißt, auf individuelle Situa- Ältestenrat herstellt und wenn man dem Kollegen tionen einzugehen. Grindel mit dem Hinweis „Pöbel“ antwortet, dann muss ich schon sagen, dass das ein ganz mieser Stil ist, den Sie (Lena Strothmann [CDU/CSU]: Dann können hier an den Tag legen. Sie doch nicht so einen Blödsinn erzählen! – Bartholomäus Kalb [CDU/CSU]: Dann reden (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Sie hier wider besseres Wissen!) Sie sollten sich dafür entschuldigen. Da Sie aber ganz – Nein, ich rede nicht wider besseres Wissen. Ich habe offenkundig auf einem sehr hohen Ross sitzen, werden bereits unzählige Sanierungstarifverträge abgeschlossen wir das von Ihnen nicht erwarten. Ich finde es schäbig, und ich weiß, dass die Gewerkschaften in solch einer Si- wie Sie sich hier präsentieren. Sie sollten sich dafür tuation fast alles zugestehen. schämen. (Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Warum (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) gibt es so viele Insolvenzen? – Gegenruf des Abg. Klaus Brandner [SPD]: Das ist auf Bay- Ich gebe zu, dass es sehr schwierig ist, die Arbeits- ern bezogen! Das sind bayerische Insolven- marktpolitik dieser Bundesregierung schönzureden. Der zen!) erste Satz in unserem Antrag trifft zu: Zweiter Punkt: Kündigungsschutzgesetz. Wir haben Die rot-grüne Arbeitsmarktpolitik ist auf ganzer Li- mit dem Entwurf, der durch den Vermittlungsausschuss nie gescheitert. gegangen ist, beschlossen, dass es 2007 eine Evaluie- rung geben wird. Aber offensichtlich wollen Sie diese Es ist eher unwichtig, was wir im Plenum über Ihre Poli- Evaluierung gar nicht, obwohl Sie wissen müssten, dass tik denken. Es ist viel wichtiger, was die Menschen drau- der Abbau des Kündigungsschutzes überhaupt nichts ßen im Lande von Ihrer Politik halten. Sie sehen, dass bringen wird. Sie wollen, dass 90 Prozent der Betriebe die Personal-Service-Agenturen teilweise Pleite gehen aus dem Kündigungsschutz herausgenommen werden bzw. dass Agenturen Aufträge erhalten haben, die sich in und dass 28 Prozent der Arbeitnehmer keinerlei Kündi- der betreffenden Region überhaupt nicht auskennen. Der gungsschutz mehr haben. Sie betreiben eine Politik der Erfolg auf dem Gebiet der Zeitarbeit hängt natürlich von (D) (B) Angst in der Bundesrepublik Deutschland. der konjunkturellen Situation ab, er wird aber auch da- durch beeinflusst, wie Sie die Sache angehen. Ich sage Ihnen eines: Das, was Sie wollen, wird nie- mals Gesetz werden, denn das Bundesverfassungsge- Ihr Kernproblem ist – das hat sich auch daran gezeigt, richt würde dem schlichtweg einen Riegel vorschieben. wie Sie mit dem Ergebnis des Vermittlungsausschusses Anknüpfungspunkte zum Betriebsinhaber gibt es dabei umgehen –: Sie trauen den Menschen nicht über den nämlich keine mehr. Sie wollen ermöglichen, dass bis zu Weg. Sie trauen auch den Kommunen nicht über den 80 Arbeitnehmer in einem Betrieb ohne Kündigungs- Weg. schutz arbeiten. Das hat mit dem Betriebsinhaber nichts (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) mehr zu tun. Letztendlich trauen Sie den Betriebsräten ebenfalls nicht Meine sehr geehrten Damen und Herren, den wirt- über den Weg. schaftlichen Wandel können wir nicht gegen die Ar- beitnehmer, sondern nur mit ihnen gestalten. Bei uns gibt es eine eher unterentwickelte Verände- rungsbereitschaft; das will ich überhaupt nicht bestrei- (Beifall bei der SPD) ten. Das hat etwas mit der Mentalität in Deutschland zu Die Zukunftschancen Deutschlands liegen vor allem in tun. Viele meinen nämlich, das Heil würde angesichts hoch qualifizierten Arbeitsplätzen. Dafür brauchen wir der zahlreichen Herausforderungen insbesondere vom motivierte und sozial abgesicherte Arbeitnehmer. Mit Staat abhängen. Dieses Hoffen auf eine zentrale Macht, Ihrem Entwurf werden wir das nicht erreichen. wie sie der Staat repräsentiert, ist ein großer Irrglaube, dem Sie nach wie vor unterliegen. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Dirk Niebel [FDP]) Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Dr. Hermann Kues. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: (Beifall bei der CDU/CSU) Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Brandner? Dr. Hermann Kues (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Dr. Hermann Kues (CDU/CSU): Ich möchte gerne auf eine Situation zurückkommen, die Selbstverständlich. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. April 2004 9191

(A) Klaus Brandner (SPD): (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (C) Herr Kollege Kues, Sie haben gerade festgestellt, dass neten der FDP) die SPD-Fraktion den Betriebsräten nicht über den Weg Herr Kollege Kuhn, ich hoffe ja, dass die Leute Ihrer traut. Wie erklären Sie sich dann, dass in Ihrem Antrag Rede nicht so genau zugehört haben. Aber ich hoffe, gefordert wird, dass die Rechte der Betriebsräte deut- dass sie einen Satz gehört haben. Sie haben eben gesagt, lich eingeschränkt werden, dass die Anzahl der Betriebs- die rot-grüne Arbeitsmarktpolitik fange erst an. räte deutlich minimiert wird und dass die Freistellungs- möglichkeiten begrenzt werden? Damit wollen Sie den (Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU) Handlungsspielraum der Betriebsräte ganz erheblich ein- engen. Meine Frage lautet: Wie erklären Sie sich diesen Eine schlimmere Drohung gegenüber Arbeitnehmerin- Widerspruch? nen und Arbeitnehmern sowie Unternehmern in Deutschland können Sie nicht aussprechen. Weiterhin haben Sie festgestellt, wir würden den Ge- meinden nicht über den Weg trauen. Wie erklären Sie (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- dann, dass Sie den hessischen Gesetzentwurf unterstüt- neten der FDP) zen, den Sie in der Arbeitsgruppe, die sich mit der Ar- Das Ergebnis, das wir jetzt vorliegen haben, ist beitslosen- und Sozialhilfe beschäftigt, vorgelegt haben schlimm genug; Kollege Laumann hat die entsprechen- und nach dem nicht der Bund, sondern das Land für die den Zahlen genannt. Herr Hartz hat damals davon Weiterleitung der Mittel an die Kommunen für die Ar- gesprochen – auch er dachte in den Kategorien eines beitslosengeld-II-Bezieher zuständig sein soll? Wie ver- Vertreters eines Großunternehmens mit Mitbestimmung; trägt sich dieses Vertrauen in die Länder – Sie wollen denn er nahm an, die gesamte Volkswirtschaft werde das Land statt den Bund als Zuständigkeitsträger einset- so –, man könne die Arbeitslosenzahl halbieren. Das Er- zen – mit dem, was Sie gerade vorgetragen haben? gebnis kennen Sie: Das Projekt der PSA ist völlig ge- scheitert. Die Minijobs sind nicht gescheitert; das ist völ- Dr. Hermann Kues (CDU/CSU): lig richtig. Aber hinsichtlich der Reform Hartz III Zu Ihrer ersten Frage. Herr Kollege Brandner, ich betreffend die Bundesagentur für Arbeit sollten wir erst gehe davon aus, dass Sie hin und wieder in die Betriebe einmal abwarten. Was wir bislang gehört haben, ist – das gehen. Wenn Sie dort einmal nachfragen, wie viele Be- sage ich ausdrücklich – eher besorgniserregend. Auch triebsräte freigestellt werden, dann können Sie feststel- Hartz IV ist faktisch gescheitert, weil Sie ein richtiges len – das berichten Betriebsräte und Arbeitnehmer –, Instrument, die Zusammenfassung von Arbeitslosen- dass teilweise keine Mitarbeiter gefunden werden, die und Sozialhilfe, wieder einmal zentralisieren, bürokrati- diese Aufgabe übernehmen. Sie wollen nämlich nicht sieren und inflexibel angehen. Vermutlich wird das zu (B) freigestellt werden, sondern sie wollen in ihrer eigentli- Beginn des nächsten Jahres zu einer Katastrophe führen. (D) chen Funktion verbleiben und parallel Betriebsratsfunk- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) tionen wahrnehmen. Wir wollen, dass das Betriebsver- fassungsgesetz effektiv gestaltet wird und dass es Sie regieren schon etwas länger. Sie hätten es ganz tatsächlich den Interessen der Betriebsräte entspricht. leicht gehabt – das ist heute schon einmal angesprochen worden –: Mitte und Ende der 90er-Jahre gab es in den Zu Ihrer zweiten Frage, was die Länder und die Kom- Kommunen erfolgreiche Modellversuche, die wir da- munen angeht. Wir sind uns mit dem Landkreistag völlig mals angeschoben und auf den Weg gebracht haben. Die einig gewesen; auch er ist gegen diese Lösung. Sie wis- Kommunen haben dabei glänzende Erfahrungen gesam- sen das ganz genau; denn Sie kommen ebenfalls aus ei- melt. ner ländlichen Region. Ich vermute sogar, dass Sie hier eine Position vertreten, von der Sie gar nicht überzeugt Ich möchte Ihnen ein Beispiel aus meiner Region, aus sind. Sie wissen ebenfalls ganz genau, dass die Kommu- dem Emsland, nennen. Ich habe einen Jahresbericht der nen vor Ort – es sind die Landkreise, nicht die Gemein- ESBA aus dem Jahre 1999 vorliegen. Er ist damals sogar den; Herr Kuhn hat sich mit diesem Thema anscheinend vom Bundesrechnungshof geprüft worden. Aus einem nicht so intensiv beschäftigt – große Erfahrungen auf Pool von 750 Personen sind 605 Langzeitarbeitslose in diesem Gebiet haben und dass sie ihre Ideen, die sie in den ersten Arbeitsmarkt integriert worden, davon 416 den vergangenen Jahren entwickelt haben, einbringen – das alles wurde vom Rechnungshof überprüft – auf würden, wenn es vernünftige Rahmenbedingungen gäbe. Dauer. Jetzt kommt es: Staatliche Leistungen von mehr Sie sind also sehr wohl dafür, dass die Landkreise ent- als 3 Millionen DM konnten eingespart werden. Das sprechende Zuständigkeiten erhalten. heißt, mit einer klugen, dezentralen Arbeitsmarktpolitik, bei der Sie die Menschen einbinden und ihnen nicht nur (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Geld geben – es ist typisch Wohlfahrtsstaat, dass man der FDP) den Menschen Geld gibt und sich nicht um sie küm- Ich möchte etwas zu der Mentalität sagen, den Men- mert –, können Sie etwas für die Menschen tun und so- schen zu wenig zuzutrauen. Diese zieht sich wie ein gar noch Geld sparen. Um diese Lösungen geht es uns. roter Faden – das kann man auf andere Gebiete übertra- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) gen – durch Ihre Lösungsansätze; denn Ihre Lösungsan- sätze sind von Zentralismus statt kommunaler Selbstver- Ich sage Ihnen auch, was die Kommunen jetzt tun waltung, von Bürokratie statt Flexibilität und von werden. Ich habe mich nach dem, was gestern und vor- Ineffizienz statt Wirksamkeit geprägt. gestern hier abgelaufen ist, ein bisschen erkundigt. Mir 9192 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. April 2004

Dr. Hermann Kues (A) wurde gesagt, die Tendenz gehe zur Variante „gesetz- Ich will Ihnen ausdrücklich sagen: Das ist alles andere (C) liche Mindestleistung“. Man tut das, was man gesetz- als sozial, das ist unsozial. lich in jedem Fall tun muss. Darüber hinaus steht man (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. den in Aussicht genommenen Arbeitsgemeinschaften Dirk Niebel [FDP]) skeptisch gegenüber, weil man natürlich gesehen hat, wie auf einer ganz anderen Ebene mit Ergebnissen des Wenn man ausschließlich auf das Anziehen der Kon- Vermittlungsausschusses umgegangen wird. So entsteht junktur und damit auf größeres Wirtschaftswachstum kein Vertrauen. setzt, werden die strukturellen Probleme nicht gelöst. (Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Richtig!) Diese müssen Sie angehen. Wir haben dazu Vorschläge unterbreitet. Ich will sie hier nicht wiederholen; sie ste- Sie brauchen ein Minimum an Vertrauen zwischen Bun- hen in unserem Antrag. des-, Landes- und kommunaler Ebene, wenn Sie etwas wirksam für die Arbeitslosen erzielen wollen. Ich möchte noch ein paar Worte über den Kündi- gungsschutz verlieren. Ich weiß, dass dieses Thema sehr (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – viel Potenzial für Polemik enthält. Wir müssen uns in die Klaus Brandner [SPD]: Sie wissen, welche Re- Situation eines Arbeitslosen versetzen, wenn wir Lö- gelung der Städte- und Gemeindebund will, sungsansätze suchen. Ein Arbeitsloser fragt nicht zuerst Herr Kues?) nach dem Kündigungsschutz, sondern danach, wie er wieder auf dem ersten Arbeitsmarkt Fuß fassen und sein – Die kommunalen Spitzenverbände sind gelegentlich Geld verdienen kann. Deswegen sollten Sie die Polemik sehr bunt; das weiß ich wohl, Herr Brandner. lassen. (Klaus Brandner [SPD]: Deshalb!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Es ist gut, wenn man sich gelegentlich von außen be- trachtet. Es gibt eine Studie der EU-Kommission, die Es ist überhaupt nicht zu bestreiten, dass wir uns in ei- die Beschäftigungsentwicklung in den Mitgliedsländern ner Umbruchsituation befinden. In einer solchen Situa- unter die Lupe genommen hat. Der Zusammenhang zwi- tion kommt es darauf an, die Weichen richtig zu stellen. schen Produktivität, Lohnstruktur und Beschäftigungs- Ihr Problem ist, dass Sie in die falsche Richtung laufen. dynamik wurde analysiert. Daraus ergeben sich für uns Deswegen kommen wir in Deutschland nicht voran. in Deutschland wichtige Schlussfolgerungen. Jetzt wird (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) gesagt, das schlechte Abschneiden Deutschlands im Hinblick auf den Arbeitsplatzabbau, der 2003 per saldo Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: 400 000 betrug, liege an dem Tempo wirtschaftlicher (B) Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Ortwin Runde. (D) Reformen. Es wird ehrlicherweise auch gesagt, dass das etwas mit den Folgelasten der deutschen Teilung zu tun (Beifall bei Abgeordneten der SPD) habe. In diesem europäischen Vergleich kommen aber zwei Ortwin Runde (SPD): weitere Faktoren ans Licht. Der eine Faktor betrifft den Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Zusammenhang zwischen Lohnhöhe und Arbeitsproduk- Kollege Brüderle hat gesagt, es handele sich um das tivität. In der Studie heißt es dazu: Arbeitslosigkeit ent- Wachstumsprogramm der Union. steht in der Regel dort, wo die Produktivitätsentwick- (Rainer Brüderle [FDP]: So ist es!) lung hinter der Lohnentwicklung zurückbleibt. Eine weitere Ursache dafür, dass die Beschäftigungsdynamik Die Union hat es fälschlicherweise etwas anders formu- in Deutschland hinter der europäischen zurückbleibt, ist liert. Sie spricht in ihrem Antrag vom Wachstumspro- die spezielle Situation niedrig qualifizierter Erwerbsper- gramm für Deutschland. Herr Brüderle hat die Absicht sonen. Man kommt zu dem Ergebnis, dass niedrig quali- dieses Programms gut erkannt. Das ist meines Erachtens fizierte Erwerbspersonen in Deutschland im Grunde ein ganz richtiger Ansatz. genommen nur auf dem so genannten zweiten Arbeits- (Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD) markt eine Chance haben. Herr Brüderle, es ist immer spannend zu untersuchen, Dabei gibt es Unterschiede. In den Niederlanden, in was in einem Antrag enthalten ist und was fehlt. Finnland und in Italien müssen weniger als 30 Prozent aller gering Qualifizierten mit nicht regulären Beschäftigungs- Sie selbst haben auf den sich verschärfenden innereu- verhältnissen mit niedrigem Lohn und hohem Arbeits- ropäischen Wettbewerb hingewiesen und ausgeführt, platzrisiko klarkommen – das sind keine positiven Fakto- dass wir bezüglich unserer Wettbewerbsfähigkeit vor ren –, in Deutschland sind es mehr als 50 Prozent. Das schwierigen Anpassungsprozessen stehen. Wenn man heißt, Ihre Politik, durch die es den niedrig Qualifizierten sich über ein Wachstumsprogramm für Deutschland un- nicht ermöglicht wird, flexibel vom ersten in den zweiten terhält, muss man auch die Weltwirtschaft im Blick ha- Arbeitsmarkt zu wechseln, führt dazu, dass sich die gering ben. Ich schätze, dass alle Wirtschaftsfachleute und auch Qualifizierten in Deutschland in einer deutlich schlechte- die Wirtschaftspresse sehr viel gespannter nach Frank- ren Situation befinden als in den Nachbarländern. furt schauen als auf unsere Diskussion in Berlin. (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Bei dieser Dirk Niebel [FDP]) Regierung wundert das nicht!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. April 2004 9193

Ortwin Runde (A) Die Wirtschaftsfachleute interessieren sich vor dem dass es sich um ein Sammelsurium von Vorschlägen (C) Hintergrund einer leichten konjunkturellen Erholung der handelt, das in einer Kneipe entstanden sein muss. Zu ei- Weltwirtschaft nem Konzept verbunden ist das Ganze jedenfalls nicht. Ich habe den Eindruck, dass die CDU/CSU auf unser (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Wo?) schlechtes Kurzzeitgedächtnis, auch das der Wähler, für andere Fragen: Wie entwickeln sich die Rohölpreise? spekuliert. Ich erinnere mich genau an die Vermittlungs- Wie wirkt sich die Bedrohung durch den internationalen ausschusssitzungen im Dezember des letzten Jahres. Da- Terrorismus auf die konjunkturelle Entwicklung aus? mals gab es ein Wehklagen über die 1 Milliarde Euro, Wie kann die europaweite Stagnationsphase, die wir in um die man sich verrechnet hatte und mit der dann die Frankreich, Spanien, Italien und auch in den von Ihnen Länder, die Gemeinden und der Bund, also die öffentli- gerühmten Niederlanden beobachten, überwunden wer- chen Kassen, belastet wurden. Damals wurde gesagt: den? Es kommt darauf an, diesen Zusammenhang zu se- Das ist eine Katastrophe für die öffentlichen Finanzen. hen. (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: War es doch Ich hoffe, dass wir heute von der Europäischen Zen- auch!) tralbank ein positives Signal erhalten werden. Vor dem Hintergrund der Preisstabilität, die wir in der Europäi- Es ist angesichts der fehlenden Finanzierung nicht hin- schen Union und vor allem in Deutschland seit Jahren nehmbar, dass wir den Bürgern im Rahmen einer Steu- haben, ist die Europäische Zentralbank gut beraten, den erreform Steuerentlastungen in diesem Umfang zugute Leitzins in einem größeren Umfang zu senken und somit kommen lassen. die Konjunktur zu stabilisieren. Das ist angesagt. Jetzt sehe ich unter Punkt 4 Ihres Antrags, dass die (Beifall bei der SPD – Hartmut Schauerte [CDU/ alte Bierdeckelstrategie von Merz wieder recycelt wird. CSU]: Das ist aber ein kühner Rat!) Inzwischen sind die Brauereien dazu übergegangen, die Natürlich geht es in Europa darum, neben Konjunk- entsprechenden Vorlagen für diese Bierdeckelstrategie turpolitik auch Strukturpolitik zu machen. Dazu muss zu liefern. man feststellen: So viele Reformen wie in den letzten (Beifall bei der SPD – Hartmut Schauerte zwei oder drei Jahren hat es – mit all den Schwierigkei- [CDU/CSU]: Herr Kollege, ich weiß jetzt, wa- ten, die damit verbunden sind – in Deutschland und auch rum Sie nicht mehr Oberbürgermeister sind!) in Europa noch nie gegeben. Diejenigen, die 16 Jahre lang Reformen nicht durchgeführt haben, sollten daher Wie kann man innerhalb von nur drei Monaten einen in ihren Bewertungen ein bisschen vorsichtig sein. solchen Richtungswechsel vornehmen? Gemäß Punkt 4 (B) (D) (Beifall bei der SPD) Ihres Antrages sollen nun plötzlich für eine Einkommen- steuerreform 15 oder 25 Milliarden Euro zur Verfügung Diesen Reformmut hätte ich von Ihnen jedoch erwartet. stehen. Haben Sie das mit Ihren Ministerpräsidenten ab- Wenn wir das richtig sehen, stehen in Gesamteuropa geklärt oder ist der Vorschlag nicht so ernst gemeint? Ist der Umbau der Sozialsysteme, aber auch notwendige das übrigens der Vorschlag von Merz oder wessen Vor- Steuerstrukturdebatten und Debatten über Innovationen schlag verbirgt sich hinter diesen kargen Zeilen? an. Ich nenne nur die Lissabon-Strategie: Wie erreichen (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist ein guter wir diese 3 Prozent für Forschung und Entwicklung und Vorschlag!) den Bildungsbereich? Natürlich ist auch die CDU/CSU gefordert, bei sol- Man muss sagen: Alles in Ihrem „klaren“ Konzept ist chen strukturellen Richtungsentscheidungen Farbe zu zutiefst interpretationsbedürftig. Auch die wirtschafts- bekennen und zu sagen, wie sie zu dem Vorschlag des politischen Wirkungen Ihrer Vorschläge muss man et- Kanzlers steht, die Eigenheimzulage, also Investitionen was genauer untersuchen. Sie wollen die Einnahmesitua- in Beton und Steine, durch Investitionen in die Köpfe zu tion von Spitzenverdienern stärken, indem Sie den ersetzen. Wie lauten die konkreten Finanzierungsvor- Spitzensteuersatz noch einmal um 6 Prozentpunkte von schläge, um das Dreiprozentziel zu erreichen und die 42 auf 36 Prozent senken. Der Steuersatz für die Bezie- 6 Milliarden Euro aufzubringen? Darauf erwarten wir her unterer Einkommen soll ab 2005 von 15 auf 12 Pro- Antworten. zent gesenkt werden. Es ist logisch, wer dann die Zeche zahlt: Diejenigen im unteren Einkommenssektor müssen Ich halte konkrete Aussagen dazu, wie man mehr In- die Entlastung der Spitzenverdiener bezahlen. vestitionen in diesen Bereichen finanzieren will, für wichtig und begrüße kreative Vorschläge wie den seitens (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Ist das ein der Bundesbank, über die Goldreserven zusätzliche Unsinn! Unglaublich!) Potenziale für die Finanzierung zu erschließen. Das ist eine Gerechtigkeitsfrage. Sie sagen: Die Gerech- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) tigkeitsfrage kümmert uns nicht; das ist eine Neiddiskus- sion. Aber die wirtschaftspolitischen Auswirkungen sind Wenn man sich den Antrag der CDU/CSU ansieht, sehr wohl von Interesse; denn so kommt es nicht zu ei- muss man feststellen, ner Stärkung, sondern zu einer Schwächung der Binnen- (Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Dass er nachfrage. Eine Stärkung wäre aber wirtschaftspolitisch gut ist!) angezeigt. 9194 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. April 2004

Ortwin Runde (A) Sie müssen Folgendes sehen: Die Leiter der Steuerab- andere Republik. Die Union will Marktwirtschaft pur. (C) teilungen der Finanzministerien, die ja keine Heißsporne Die breite gesellschaftliche Kritik an Ihren Vorschlägen sind, haben deutlich gesagt, welche Auswirkungen die ist zu Recht groß. Der Begriff „sozial“ wird in den Vor- Umsetzung dieses Konzepts auf den Arbeitsmarkt haben schlägen der Union klitzeklein geschrieben. würde. (Dr. Hermann Kues [CDU/CSU]: Wen meinen Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Sie denn?) Herr Kollege, achten auch Sie bitte auf die Zeit? – Herr Dr. Kues, darauf komme ich noch zu sprechen.

Ortwin Runde (SPD): (Hans Michelbach [CDU/CSU]: Ist das eine Ja. – Sie sagen, dass sich der Anreiz zur Arbeitsauf- Drohung?) nahme im Bereich der Bezieher niedriger Einkommen stark verringern wird. Bringen Sie das einmal mit der Der heute von Ihnen vorgelegte Antrag ist nur ein Debatte, die wir hier führen, in Zusammenhang und be- Spiegelbild dieser Beschlüsse. Ihn hier zur Debatte zu rücksichtigen Sie auch das, was Herr Kues vorhin über stellen weist schon Züge von – ich sage das bewusst – die Hauptbetroffenen der strukturellen Veränderungen politischer Unverfrorenheit und Uneinsichtigkeit gegen- gesagt hat! über Ihrem Arbeitnehmerflügel auf. Mich würde interes- sieren, wie Kollege Arentz, der sich ja eindeutig zu den Ich rate der Union, innerhalb ihrer eigenen Fraktion Vorschlägen Ihrer beiden Generalsekretäre geäußert hat, mehr zu koordinieren. Dann könnten Sie vielleicht etwas auf diesen Antrag reagieren wird. Ich bin gespannt, ob er klarere und schlüssigere Konzepte als bisher vorlegen; den Vorschlägen Ihrer Fraktion zustimmen wird. denn das war keine Weichenstellung in die richtige Rich- tung. Dieser Zug fährt ins Nirgendwo. (Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Ja! Alles (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten abgesprochen!) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Zuruf von der CDU/CSU: Sagen Sie doch mal etwas – Herr Laumann, wenn das abgesprochen ist, dann sagt zu Ihrem Konzept!) er jetzt nicht mehr die Wahrheit bzw. steht er jetzt nicht mehr hinter seiner Argumentation oder hat er vorher in den Betrieben nur eine Beruhigungspille verteilen wol- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: len. Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Wolfgang Grotthaus. (B) (Beifall bei der SPD) (D) (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Von dieser Art Sie, meine Damen und Herren von der Union, treten Reden kann man gar nicht genug kriegen!) mit diesem Antrag zum wiederholten Male für die Zer- schlagung von Arbeitnehmerrechten Wolfgang Grotthaus (SPD): Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und (Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Wo denn? Herren! Lassen Sie mich in Erinnerung rufen, wie der Welche denn?) Titel des Antrags der CDU/CSU lautet: „Weichen stellen für eine bessere Beschäftigungspolitik – Wachstumspro- und den Abbau des Kündigungsschutzes ein und be- gramm für Deutschland“. kämpfen offen die Tarifautonomie. Alle, die bisher die Politik der Regierungskoalition kritisieren, sollten sich (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Ja!) ganz genau ansehen, was Sie von der Union an dieser Stelle vorschlagen. Ich kann Ihnen nur den Vorschlag Wer diese Diskussion aufmerksam verfolgt hat, müsste machen: Legen Sie diese Anträge in den Betrieben aus, eigentlich zu dem Schluss kommen, dass die Überschrift sodass sich jeder Mensch in diesem Land, der abhängig heißen müsste: „Abbau von Arbeitnehmerrechten – Re- beschäftigt ist, ein Bild davon machen kann, wohin der duzierung des Jugendarbeitsschutzgesetzes – Differen- Weg Ihrer Meinung nach gehen soll! zierung der Anwendung des Arbeitsstättenrechtes in Klein- und Großbetrieben“. In einer Summe ausge- (Beifall bei der SPD) drückt: „Schaffung von Möglichkeiten zur inneren Kün- digung der Arbeitnehmer – zum Standort Deutschland“. Ihr Ziel ist es nicht, den Staat für die Zukunftsaufgaben neu aufzustellen. Ihr Ziel ist eine Deregulierung, die den (Beifall der Abg. Doris Barnett [SPD]) Menschen nicht nur ihre bisherigen Arbeitnehmerrechte Ihre Vorschläge haben nichts mit einem Wachstumspro- nimmt; sie sollen obendrein auch noch dafür zahlen. Der gramm zu tun. Es geht um knallharte Politik, die zulas- Kollege Runde hat dies bereits im Rahmen der Steuerpo- ten der in den Betrieben Beschäftigten gehen soll. litik dargestellt. Spätestens seit dem 7. März steht fest – das ist auch Liebe Kolleginnen und Kollegen, obwohl der Antrag nachzulesen –, dass die CDU/CSU mit ihren Beschlüs- meines Erachtens nicht das Papier wert ist, auf dem er sen zur Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik endgültig die gedruckt ist, will ich einige Punkte daraus aufgreifen Katze aus dem Sack gelassen hat. Die Union will eine und sie ein bisschen näher betrachten. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. April 2004 9195

Wolfgang Grotthaus (A) Bezüglich der wirtschaftlichen Entwicklung in den damit Anreize zur Einstellung geschaffen würden, ist (C) neuen Bundesländern völlig nichtssagend. Was meinen Sie damit? Hier hätten Sie eine Aussage machen müssen: weniger Gehalt? Drei (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Können wir Azubis teilen sich zwei reguläre Stellen? – Auch hier, nicht zufrieden sein!) meine Damen und Herren von der Opposition, sprechen machen Sie uns dafür verantwortlich – Herr Kollege die Fakten gegen Sie: Trotz geltendem Jugendarbeits- Schauerte, hören Sie einmal zu! –, dass das Versprechen schutzgesetz, Herr Niebel, sind in den letzten zehn Jah- von den „blühenden Landschaften“ nicht gehalten ren 10 Prozent mehr Ausbildungsstellen im gastronomi- wurde. Vorhin wurde über Betriebe geredet. Ich habe schen Bereich entstanden. 36 Jahre in der Industrie gearbeitet und miterlebt, wie Unsere Ausbildungsplatzumlage wird für mehr Aus- der Konzern, dem ich angehörte, sich in Ostdeutschland bildungsplätze sorgen. Statt Gesetze zum Schutz der jun- bereichert hat, indem er Betriebe aufgekauft und die Pro- gen Menschen zum Schlechteren zu verändern, sollten duktion nach Westdeutschland verlagert hat. Dies wurde Sie mit uns gemeinsam auf die einwirken, die sich in den über die Treuhandanstalt abgewickelt und konnte so ge- letzten Jahren der gesellschaftlichen Aufgabe, junge schehen, weil nirgendwo in den Verträgen stand, dass Leute auszubilden, verschlossen haben. der Industriestandort Ostdeutschland aufrechterhalten werden solle. Nirgendwo stand, dass eine Verlagerung (Beifall bei der SPD) von Produktionsstätten nicht stattfinden dürfe. Nein, Ihre Zu den Betriebsräten ist schon einiges gesagt wor- damalige Regierung hat dies sogar noch forciert. Sie hät- den. – Ich sehe, die Zeit läuft mir davon. ten die Entindustrialisierung von Ostdeutschland aufhal- ten müssen, Sie hätten gleich bei der Vereinigung beider Noch eine Anmerkung zum Kündigungsschutz: deutscher Staaten den Standort Ostdeutschland stärken Dieser Begriff soll nach Ihren Vorstellungen für Ältere müssen. Stattdessen haben Sie Ostdeutschland ausbluten und Arbeitslose ein Fremdwort werden. Statt Kündi- lassen. gungsschutz wollen Sie das Aushandeln von Abfindun- Wir werden die Stabilisierung und Weiterentwicklung gen in den Vordergrund stellen. der Wachstumszentren, die sich in Ostdeutschland he- (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Reden Sie rausgebildet haben, vorantreiben. mal mit Herrn Clement!) (Abg. Hartmut Schauerte meldet sich zu einer Wer mag da wohl am längeren Hebel sitzen und das Ver- Zwischenfrage) fahren bestimmen: derjenige, der sich um einen Arbeits- platz bewirbt, oder derjenige, der diesen Arbeitsplatz als – Ich empfange um 13 Uhr eine Besuchergruppe. Ich (B) Ware anbietet und auf das bestmögliche Gebot wartet? (D) bitte Sie deshalb um Verständnis, dass ich die Zwischen- Sie propagieren die freie Marktwirtschaft. Dann wissen frage nicht erlauben kann. Sie auch genau, wie man in diesem Falle am Arbeits- Wir wollen den Solidarpakt II, den wir gemeinsam markt mit den Menschen umgehen wird. beschlossen haben und nach dem in den Jahren 2005 bis Meine Damen und Herren, während wir die Gleich- 2019 105 Milliarden Euro für die ostdeutschen Länder rangigkeit von Human- und Finanzkapital als Zukunfts- zur Verfügung stehen, nicht nur fortführen, sondern wir perspektive ansehen – wir wollen, dass sich Arbeitneh- haben ihn seitens des Bundes um zusätzliche 51 Milliar- merinnen und Arbeitnehmer sowie Arbeitgeber auf einer den Euro für überproportionale Leistungen zugunsten Augenhöhe begegnen –, wollen Sie die Abschaffung von der ostdeutschen Länder ergänzt. Hier nützt es nichts, zu Arbeitnehmerrechten auf breiter Flur. Wir wollen klagen. Hier nützt es nur, konstruktiv mitzuarbeiten. Deutschland zukunftssicher machen; Sie wollen eine an- Eine solche konstruktive Mitarbeit habe ich bei Ihnen dere Republik: eine Republik, in der Arbeitnehmerinnen bisher nicht feststellen können. und Arbeitnehmer zur Manövriermasse des Kapitals Bei Ihren Aussagen zum Arbeitsschutz und zur werden. Dies lassen wir nicht durchgehen. Wir sagen Arbeitsstättenverordnung ist es auffällig, dass Sie eine Nein zu Ihren Plänen, weil wir der Auffassung sind, dass Festlegung auf Betriebe mit mehr als 20 Beschäftigten wir auch weiterhin selbstständige, gute Arbeitnehmerin- als Richtschnur wählen. Ich habe mich gefragt: Was nen und Arbeitnehmer in dieser Republik benötigen. In steckt dahinter? Nach Ihren Vorstellungen genössen Mit- diesem System sind als Interessenvertreter nicht Bittstel- arbeiterinnen und Mitarbeiter in kleinen Betrieben eine ler, sondern gleichberechtigte Partner gefragt. andere, eine mindere gesundheitliche Vorsorge als Mit- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ arbeiterinnen und Mitarbeiter in Großbetrieben. Ich weiß DIE GRÜNEN) nicht, ob dies politisch gewollt ist, aber es ist das Ergeb- nis. Dies beträfe immerhin mehr als 80 Prozent aller Be- triebe in Deutschland. Das Gleichheitsprinzip bliebe auf Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: der Strecke; aus meiner Sicht ist das auch EU-rechtlich Ich schließe damit die Aussprache. überhaupt nicht umsetzbar. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Ihre Forderung, das Jugendarbeitsschutzgesetz sei Drucksache 15/2670 an die in der Tagesordnung aufge- anzupassen, führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung (Dirk Niebel [FDP]: Gastronomie bis 23 Uhr!) so beschlossen. 9196 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. April 2004

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer (A) Ich rufe die Tagesordnungspunkte 22 a bis 22 g auf: Rainer Brüderle, weiterer Abgeordneter und der (C) Fraktion der FDP a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Siche- Grundsätzliche Neuausrichtung der EU-Hilfs- rung von Verkehrsleistungen (Verkehrsleis- maßnahmen für Südosteuropa tungsgesetz – VerkLG) – Drucksache 15/2424 – – Drucksache 15/2769 – Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss (f) Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f) Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Innenausschuss Entwicklung Ausschuss für Tourismus Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- g) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab- Burchardt, Jörg Tauss, Ulrike Mehl, weiterer Ab- kommen vom 3. März 2003 zwischen der Re- geordneter und der Fraktion der SPD sowie der gierung der Bundesrepublik Deutschland und Abgeordneten Grietje Bettin, Volker Beck der Regierung der Republik Türkei über die (Köln), , weiterer Abgeordneter Zusammenarbeit bei der Bekämpfung von und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE Straftaten mit erheblicher Bedeutung, insbe- GRÜNEN sondere des Terrorismus und der organisier- ten Kriminalität Aktionsplan zur UN-Weltdekade „Bildung für nachhaltige Entwicklung“ – Drucksache 15/2724 – – Drucksache 15/2758 – Überweisungsvorschlag: Innenausschuss (f) Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Bildung, Forschung und Rechtsausschuss Technikfolgenabschätzung (f) Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Entwicklung Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Entwicklung c) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Es handelt sich um Überweisungen im vereinfach- ten Verfahren ohne Debatte. (B) Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Ge- (D) setzes über Ordnungswidrigkeiten Interfraktionell wird geschlagen, die Vorlagen an die – Drucksache 15/780 – in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu über- weisen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Überweisungsvorschlag: Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Rechtsausschuss Nun rufe ich die Tagesordnungspunkte 23 a bis 23 g d) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten sowie 23 j bis 23 o sowie die Zusatzpunkte 2 a bis 2 j Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des auf. Es handelt sich um die Beschlussfassung zu Vorla- Strafvollzugsgesetzes gen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist. – Drucksache 15/2252 – Tagesordnungspunkt 23 a: Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss (f) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- Innenausschuss gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu der in Rom am 17. November 1997 ange- e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Michael nommenen Fassung des Internationalen Pflan- Kauch, Birgit Homburger, , zenschutzübereinkommens weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP – Drucksache 15/2544 – Haftungsregeln als eigenständiges Instrument europäischer Umweltpolitik (Erste Beratung 94. Sitzung) – Drucksache 15/2011 – Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- ses für Verbraucherschutz, Ernährung und Land- Überweisungsvorschlag: wirtschaft (10. Ausschuss) Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f) Rechtsausschuss – Drucksache 15/2754 – Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Berichterstattung: Landwirtschaft Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Abgeordnete Dr. f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Rainer Stinner, Daniel Bahr (Münster), Dr. Christel Happach-Kasan Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. April 2004 9197

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer (A) Der Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und bitte Sie um das Handzeichen, wenn Sie dem Gesetzent- (C) Landwirtschaft empfiehlt auf Drucksache 15/2754, den wurf zustimmen wollen. – Gibt es Gegenstimmen? – Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist in zweiter Bera- dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzei- tung angenommen. chen. – Stimmt jemand dagegen? – Gibt es Enthaltun- gen? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung Dritte Beratung mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen wor- und Schlussabstimmung. Ich bitte Sie, sich zu erheben, den. wenn Sie dem Gesetzentwurf zustimmen wollen. – Dritte Beratung Stimmt jemand dagegen? – Gibt es Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist in dritter Beratung angenommen. und Schlussabstimmung. Ich bitte Sie, sich zu erheben, wenn Sie dem Gesetzentwurf zustimmen wollen. – Gibt Tagesordnungspunkt 23 d: es Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Das ist nicht der Zweite Beratung und Schlussabstimmung des Fall. Der Gesetzentwurf ist damit in dritter Lesung ange- von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs nommen. eines Gesetzes zu dem Zusatzvertrag vom Tagesordnungspunkt 23 b: 13. Mai 2002 zu dem Vertrag vom 11. Juli 1977 zwischen der Bundesrepublik Deutschland Zweite Beratung und Schlussabstimmung des und Kanada über die Auslieferung von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Zusatzabkommen vom – Drucksache 15/2599 – 15. Oktober 2003 zu dem Abkommen vom 4. Oktober 1954 zwischen der Bundesrepublik (Erste Beratung 97. Sitzung) Deutschland und der Republik Österreich zur Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus- Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem schusses (6. Ausschuss) Gebiet der Erbschaftsteuern – Drucksache 15/2841 – – Drucksache 15/2721 – Berichterstattung: (Erste Beratung 100. Sitzung) Abgeordnete Erika Simm Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzaus- Siegfried Kauder (Bad Dürrheim) schusses (7. Ausschuss) Jerzy Montag Jörg van Essen (B) – Drucksache 15/2847 – (D) Der Rechtsausschuss empfiehlt auf Druck- Berichterstattung: sache 15/2841, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich Abgeordneter Manfred Kolbe bitte Sie, sich zu erheben, wenn Sie dem Gesetzentwurf Der Finanzausschuss empfiehlt auf Druck- zustimmen wollen. – Stimmt jemand dagegen? – Gibt es sache 15/2847, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wol- des ganzen Hauses angenommen. len, sich zu erheben. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? Tagesordnungspunkt 23 e: – Der Gesetzentwurf ist damit angenommen. Tagesordnungspunkt 23 c: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- zu dem Protokoll betreffend die Verringerung gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes von Versauerung, Eutrophierung und boden- zu dem Vertrag vom 13. Mai 2002 zwischen nahem Ozon (Multikomponenten-Protokoll) der Bundesrepublik Deutschland und Kanada vom 30. November 1999 im Rahmen des Über- über die Rechtshilfe in Strafsachen einkommens von 1979 über weiträumige – Drucksache 15/2598 – grenzüberschreitende Luftverunreinigung (Erste Beratung 97. Sitzung) – Drucksache 15/2410 – Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus- (Erste Beratung 91. Sitzung) schusses (6. Ausschuss) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- – Drucksache 15/2840 – ses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher- heit (15. Ausschuss) Berichterstattung: Abgeordnete Erika Simm – Drucksache 15/2846 – Siegfried Kauder (Bad Dürrheim) Berichterstattung: Jerzy Montag Abgeordnete Astrid Klug Jörg van Essen Marie-Luise Dött Der Rechtsausschuss empfiehlt auf Druck- sache 15/2840, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich Birgit Homburger 9198 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. April 2004

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer (A) Der Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktor- Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus- (C) sicherheit empfiehlt auf Drucksache 15/2846, den Ge- schusses (6. Ausschuss) setzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Aus- – Drucksache 15/2844 – schussfassung zustimmen wollen, um das Handzei- Berichterstattung: chen. – Gibt es Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Abgeordnete Christoph Strässer Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung einstimmig ange- nommen. Jerzy Montag Dritte Beratung Jörg van Essen und Schlussabstimmung. Ich bitte Sie, sich zu erheben, Der Rechtsausschuss empfiehlt auf Druck- wenn Sie zustimmen wollen. – Gibt es Gegenstim- sache 15/2844, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich men? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist in dritter bitte Sie, sich zu erheben, wenn Sie dem Gesetzentwurf Beratung einstimmig angenommen. zustimmen wollen. – Gibt es Gegenstimmen? – Enthal- tungen? – Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen des Tagesordnungspunkt 23 f: ganzen Hauses einstimmig angenommen. Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- Tagesordnungspunkt 23 j: gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung des Beschlusses des Rates Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- (2003/725/JI) vom 2. Oktober 2003 zur Ände- richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz rung von Art. 40 Abs. 1 und 7 des Überein- und Reaktorsicherheit (15. Ausschuss) zu der kommens zur Durchführung des Schengener Verordnung der Bundesregierung Übereinkommens vom 14. Juni 1985 betref- Dreizehnte Verordnung zur Durchführung des fend den schrittweisen Abbau der Kontrollen Bundes-Immissionsschutzgesetzes (Verord- an den gemeinsamen Grenzen nung über Großfeuerungs- und Gasturbinen- – Drucksache 15/2546 – anlagen – 13. BImSchV) (Erste Beratung 94. Sitzung) – Drucksachen 15/2596, 15/2630 Nr. 2.1, 15/2802 – Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus- schusses (6. Ausschuss) Berichterstattung: Abgeordnete Astrid Klug (B) – Drucksache 15/2842 – Marie-Luise Dött (D) Winfried Hermann Berichterstattung: Birgit Homburger Abgeordnete Christoph Strässer Wolfgang Zeitlmann Der Ausschuss empfiehlt, der Verordnung auf Jerzy Montag Drucksache 15/2596 zuzustimmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltun- gen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen Der Rechtsausschuss empfiehlt auf Druck- von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und CDU/CSU bei sache 15/2842, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich Enthaltung der FDP angenommen. bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wol- len, um das Handzeichen. – Gegenstimmen? – Enthal- Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Pe- tungen? – Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung ein- titionsausschusses. stimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 23 k: Dritte Beratung Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- und Schlussabstimmung. Bitte erheben Sie sich, wenn ausschusses (2. Ausschuss) Sie zustimmen wollen. – Gibt es Gegenstimmen? – Ent- haltungen? – Das ist nicht der Fall. Der Gesetzentwurf Sammelübersicht 103 zu Petitionen ist in dritter Beratung einstimmig angenommen. – Drucksache 15/2763 – Tagesordnungspunkt 23 g: Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- Zweite Beratung und Schlussabstimmung des tungen? – Sammelübersicht 103 ist einstimmig ange- von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs nommen. eines Gesetzes zu dem Protokoll Nr. 13 vom Tagesordnungspunkt 23 l: 3. Mai 2002 zur Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten über die Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- vollständige Abschaffung der Todesstrafe ausschusses (2. Ausschuss) – Drucksache 15/2549 – Sammelübersicht 104 zu Petitionen (Erste Beratung 94. Sitzung) – Drucksache 15/2764 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. April 2004 9199

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer (A) Wer stimmt dafür? – Gibt es Gegenstimmen? – Ent- Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp- (C) haltungen? – Sammelübersicht 104 ist einstimmig ange- fehlung ist einstimmig angenommen worden. nommen. (Vorsitz: Vizepräsident Dr. Hermann Otto Tagesordnungspunkt 23 m: Solms) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- ausschusses (2. Ausschuss) Vizepräsident Dr. : Zusatzpunkt 2 b: Sammelübersicht 105 zu Petitionen Beratung der Beschlussempfehlung des Aus- – Drucksache 15/2765 – schusses nach Art. 77 des Grundgesetzes (Ver- Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- mittlungsausschuss) zu dem Gesetz zur Ände- tungen? – Sammelübersicht 105 ist einstimmig ange- rung der Vorschriften über die Anfechtung nommen. der Vaterschaft und das Umgangsrecht von Bezugspersonen des Kindes und zur Einfüh- Tagesordnungspunkt 23 n: rung von Vordrucken für die Vergütung von Berufsbetreuern Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- ausschusses (2. Ausschuss) – Drucksachen 15/2253, 15/2492, 15/2716, 15/2831 – Sammelübersicht 106 zu Petitionen Berichterstattung: – Drucksache 15/2766 – Abgeordneter Hans-Joachim Hacker Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung des Ver- tungen? – Sammelübersicht 106 ist mit den Stimmen der mittlungsausschusses? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposi- tungen? – Die Beschlussempfehlung ist einstimmig an- tionsfraktionen angenommen. genommen. Tagesordnungspunkt 23 o: Zusatzpunkt 2 c: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- Beratung der Beschlussempfehlung des Aus- ausschusses (2. Ausschuss) schusses nach Art. 77 des Grundgesetzes (Ver- Sammelübersicht 107 zu Petitionen mittlungsausschuss) zu dem Gesetz zur Umset- zung des Beschlusses (2002/187/JI) des Rates (B) – Drucksache 15/2767 – vom 28. Februar 2002 über die Errichtung von (D) Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- Eurojust zur Verstärkung der Bekämpfung tungen? – Sammelübersicht 107 ist mit den Stimmen der schweren Kriminalität (Eurojust-Gesetz – von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP gegen die EJG) Stimmen der CDU/CSU angenommen. – Drucksachen 15/1719, 15/2484, 15/2717, Wir kommen zum Zusatzpunkt 2 a: 15/2832 – Beratung der Beschlussempfehlung des Aus- Berichterstattung: schusses nach Art. 77 des Grundgesetzes (Ver- Abgeordneter Hans-Joachim Hacker mittlungsausschuss) zu dem Gesetz zur Förde- Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer rung der Ausbildung und Beschäftigung stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Auch diese Be- schwerbehinderter Menschen schlussempfehlung ist einstimmig angenommen. – Drucksachen 15/1783, 15/2357, 15/2557, Zusatzpunkt 2 d: 15/2830 – Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Berichterstattung: richts des Finanzausschusses (7. Ausschuss) zu Abgeordnete Gudrun Schaich-Walch der Unterrichtung durch die Bundesregierung – Drucksachen 15/2636 Nr. 2.40, 15/2848 – Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur Berichterstattung: Änderung der Richtlinie 2003/96/EG im Hin- Abgeordnete Reinhard Schultz (Everswinkel) blick auf die Möglichkeit der Anwendung vo- rübergehender Steuerermäßigungen und Steu- Georg Fahrenschon erbefreiungen auf Energieerzeugnisse und Der Vermittlungsausschuss hat gemäß § 10 Abs. 3 elektrischen Strom durch bestimmte Mitglied- Satz 1 seiner Geschäftsordnung beschlossen, dass im staaten Deutschen Bundestag über die Änderungen gemeinsam KOM (2004) 42 endg.; Ratsdok. 5850/04 abzustimmen ist. Dies gilt auch für die noch folgenden Beschlussempfehlungen des Vermittlungsausschusses zu – Drucksachen 15/2636 Nr. 2.40, 15/2848 – den Zusatzpunkten 2 b und 2 c. Berichterstattung: Wer stimmt für die Beschlussempfehlung des Ver- Abgeordnete Reinhard Schultz (Everswinkel) mittlungsausschusses, Drucksache 15/2830? – Gibt es Georg Fahrenschon 9200 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. April 2004

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms (A) Der Ausschuss empfiehlt in Kenntnis der Unterrich- men der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von (C) tung, eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für CDU/CSU und FDP angenommen. diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Zusatzpunkt 2 j: Wer enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist ein- stimmig angenommen. Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- ausschusses (2. Ausschuss) Zusatzpunkt 2 e: Sammelübersicht 112 zu Petitionen Beratung der Beschlussempfehlung des Rechts- ausschusses (6. Ausschuss) – Drucksache 15/2839 – Übersicht 6 Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- über die dem Deutschen Bundestag zugeleite- tungen? – Die Sammelübersicht 112 ist mit den Stimmen ten Streitsachen vor dem Bundesverfassungs- der Koalitionsfraktionen und der FDP gegen die Stim- gericht men von CDU/CSU angenommen. – Drucksache 15/2834 – Ich rufe Tagesordnungspunkt 6 auf: Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Ge- Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- genprobe! – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes ist einstimmig angenommen. zur Umsetzung der Reform der gemeinsamen Agrarpolitik Wir kommen zu weiteren Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses. – Drucksachen 15/2553, 15/2770 – Zusatzpunkt 2 f: (Erste Beratung 95. Sitzung) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- a) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- ausschusses (2. Ausschuss) ses für Verbraucherschutz, Ernährung und Land- wirtschaft (10. Ausschuss) Sammelübersicht 108 zu Petitionen – Drucksache 15/2843 – – Drucksache 15/2835 – Berichterstattung: Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- Abgeordnete Waltraud Wolff (Wolmirstedt) tungen? – Die Sammelübersicht 108 ist einstimmig an- Peter H. Carstensen (Nordstrand) genommen. (B) Friedrich Ostendorff (D) Zusatzpunkt 2 g: Hans-Michael Goldmann Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- b) Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss) ausschusses (2. Ausschuss) gemäß § 96 der Geschäftsordnung Sammelübersicht 109 zu Petitionen – Drucksache 15/2851 – – Drucksache 15/2836 – Berichterstattung: Abgeordnete Otto Fricke Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent- (Neuruppin) hält sich? – Die Sammelübersicht 109 ist einstimmig an- Bartholomäus Kalb genommen. Franziska Eichstädt-Bohlig Zusatzpunkt 2 h: Es liegt je ein Entschließungsantrag der Fraktionen Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- der CDU/CSU und der FDP vor. Ich weise darauf hin, ausschusses (2. Ausschuss) dass zur Annahme des Gesetzentwurfs, über den wir später namentlich abstimmen werden, nach Art. 87 Sammelübersicht 110 zu Petitionen Abs. 3 des Grundgesetzes die absolute Mehrheit – das – Drucksache 15/2837 – sind 302 Stimmen – erforderlich ist. Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die tungen? – Die Sammelübersicht 110 ist ebenfalls ein- Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre keinen stimmig angenommen. Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Zusatzpunkt 2 i: Als erster Rednerin erteile ich der Kollegin Jella Teuchner von der SPD-Fraktion das Wort. Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- ausschusses (2. Ausschuss) Jella Teuchner (SPD): Sammelübersicht 111 zu Petitionen Herr Präsident! Sehr geehrte Herren und Damen! Seit Juni 2003 diskutieren wir die nationale Umsetzung der – Drucksache 15/2838 – Agrarreform. Heute werden wir eine Diskussion ab- Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent- schließen, die hier im Bundestag, die zwischen dem hält sich? – Die Sammelübersicht 111 ist mit den Stim- Bund und den Ländern und mit den Landwirten meistens Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. April 2004 9201

Jella Teuchner (A) sehr konstruktiv geführt wurde. Ich sage „meistens“, (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des (C) weil es doch einige gibt, die die EU-Agrarreform nicht BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Friedrich haben wollen und deswegen alles versuchen, um die na- Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: tionale Umsetzung zum Scheitern zu bringen. Da wärmt So funktioniert das!) man sich an einer Früher-war-alles-besser-Ideologie, sitzt in der Ecke und schmollt. Den Landwirten hilft man Die Landwirte haben schon längst gemerkt, wer hier damit allerdings überhaupt nicht. ernsthaft diskutiert. Hören Sie doch einfach auf, hier nur herumzupoltern! (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ( [CDU/CSU]: Haben Sie schon mit Landwirten gesprochen?) Wir alle wissen, dass es in der Förderung der Land- wirtschaft zu einem Umbruch kommen wird, unabhän- – Mehr als genug, und zwar auch in Freising. gig davon welches Modell wir wählen. Jetzt tun die Hören Sie bitte auf, den Teufel Cross Compliance an Union und vor allem der bayerische Landwirtschaftsmi- die Wand zu malen. Cross Compliance bedeutet, dass nister aber so, als sei das Betriebsmodell der Königs- Prämien dann gezahlt werden, wenn bestimmte EU- weg und würde alle glücklich machen. Wir alle wissen: Richtlinien eingehalten werden. Es geht also um die Ein- In dieser Frage gibt es keinen Königsweg. haltung eines bereits bestehenden, gültigen Rechts. Da- (Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/ bei gibt es keinen Spielraum nach oben. Dies war im CSU]: Da ist was dran!) Agrarrat übrigens nie umstritten. Diese anderweitigen Verpflichtungen sind für die Akzeptanz der Agrarpolitik Ich kann nur alle auffordern: Machen Sie endlich die notwendig. Augen auf! Fangen Sie endlich an, mit uns hierüber ehr- lich zu diskutieren! Wir wollen die Landwirte auch in Zukunft bei ihren vielfältigen Aufgaben für die Gesellschaft unterstützen Sprechen Sie einmal mit den bayerischen Bauern. Sie können. Dafür ist diese Akzeptanz notwendig. Ich höre werden feststellen, dass vielen sehr wohl bewusst ist, von Ihnen aber nur, dass wir nicht kontrollieren dürfen. dass sich die Bayerische Staatsregierung in der Agrarpo- Da werden Feldbeobachter beim Pflanzenschutz zu Er- litik isoliert hat. Die Bauern wissen: In dieser Position mittlern, Bauernspionen und Stasimitarbeitern. kann sich Bayern nicht mehr für die Bauern einsetzen. Wer einfach nur verhindern will, der kann auch nicht (Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: So ist es ja mehr gestalten. auch!) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (B) Bei den Cross-Compliance-Regelungen sollen wir, wenn (D) DIE GRÜNEN – Albert Deß [CDU/CSU]: es nach der Union geht, nicht zu viel kontrollieren, damit Bayern will eine Reform zugunsten der Bau- es nicht zu Wettbewerbsverzerrungen kommt. Ich frage ern!) Sie: Rechtsbruch als Standortvorteil? Sie konnten die Agenda 2000 nicht verhindern. Auch die (Albert Deß [CDU/CSU]: Das ist doch ein EU-Agrarreform wird kommen. Sie sollten sich doch dummer Vergleich!) eher die Frage stellen: Wollen wir gestalten oder wollen wir zuschauen, wie gestaltet wird? Wir wollen klar und Halten Sie solche Aussagen für eine Vertrauensoffensive eindeutig gestalten. für die deutsche Landwirtschaft? Wollen Sie so die Ak- zeptanz für die Förderung der Landwirtschaft sichern? (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Wenn Sie so weitermachen, dann werden Sie zu einem BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Kommunikationsrisiko für alle deutschen Bauern. Es ist geradezu absurd, wenn – wie in Ihrem Ent- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten schließungsantrag – gleichzeitig mehr Betriebsprämien des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) und weniger nationale Reserve gefordert werden. Die nationale Reserve dient dem Ausgleich von Härtefällen. Die EU-Agrarreform ist beschlossen. Sie bietet eine Die Union will damit offensichtlich deutlich mehr Härte- gute Grundlage für die zukünftige Agrarpolitik. Sie stellt fälle; denn genau das bedeutet die Ausweitung der Be- sicher, dass unsere Politik in der WTO durchsetzbar ist, triebsprämie. von den Menschen akzeptiert wird und auch in Zukunft finanzierbar ist. (Albert Deß [CDU/CSU]: Die Bundesregie- rung ist ein Härtefall für die Bauern!) Wir wissen, dass es Härten geben wird. In der Ausei- nandersetzung haben wir diese soweit wie möglich ver- Sie will aber keine Mittel, diese auszugleichen. Dies hindert. Es gibt keinen Königsweg. Was aber geschafft steht so in Ihrem Antrag. Die Frage ist: Sagen Sie das wurde: Es ist ein Weg aufgezeigt worden, der den Land- auch so den Landwirten, wenn Sie mit ihnen sprechen? wirten die Möglichkeit gibt, in Zukunft für den Markt (Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE und nicht mehr für die Prämie zu produzieren. Das ha- GRÜNEN]: Nein!) ben wir erreicht und damit haben wir viel erreicht. Sie machen es sich sehr einfach. Sie sammeln alle popu- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ listischen Forderungen, ohne ein eigenes schlüssiges DIE GRÜNEN – Albert Deß [CDU/CSU]: Ihr Konzept vorzulegen. habt erreicht, dass viele Bauern aufhören!) 9202 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. April 2004

(A) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: So ist es!) (C) Das Wort hat der Kollege Peter Bleser von der CDU/ In der Anhörung am 23. März hier in Berlin hat Pro- CSU-Fraktion. fessor Isermeier auf meine Frage hin geantwortet, dass (Beifall bei der CDU/CSU) der Produktionsrückgang allein in der Rindermast mehr als 20 Prozent betragen werde und dass er damit rechne, dass allein in diesem Bereich mehr als 10 000 Arbeits- Peter Bleser (CDU/CSU): plätze verloren gingen. Frau Ministerin, Sie sind Ihrer Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Jeder Ver- grünen Ideologie so sehr verfallen, dass Ihnen das such, einem Branchenfremden die EU-Agrarpolitik und Schicksal dieser Menschen völlig gleichgültig ist. die letzte Reform zu erklären, ist von vornherein zum Scheitern verurteilt. Ich habe auch erhebliche Zweifel, (Beifall bei der CDU/CSU) nachdem ich Sie, Frau Teuchner, gehört habe, ob es ge- Noch dramatischer wird die Senkung der Interventions- lungen ist, zumindest den Fachpolitikern in diesem Haus preise bei der Milchproduktion, die einer Abschaffung diese Reform nahe zu bringen. der Intervention gleichkommt, ausfallen. Schon im Vor- (Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/ griff auf diese Reform befindet sich der Milchpreis im CSU]: Das ist wohl wahr!) freien Fall. Ich bleibe deswegen bei meiner Bewertung vom letzten (Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: So ist es!) Jahr, dass diese bis 2013 angelegte Reform ein Vorstoß Erlauben Sie mir deshalb, dass ich an dieser Stelle an die in eine neue Dimension staatlicher Bevormundung ist, Verantwortlichen im Lebensmitteleinzelhandel appel- eine Verschwendung von Steuergeldern und ein bürokra- liere: Berücksichtigen Sie bei Ihren Preisverhandlungen tischer Exzess, der seinesgleichen sucht. doch die bittere Not vieler landwirtschaftlicher Milcher- zeuger! (Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf von der SPD: Sagen Sie das doch mal Ihren Bundes- (Beifall bei der CDU/CSU – Elke Wülfing ländern!) [CDU/CSU]: Hier kann man auch Namen nen- nen!) Wer geglaubt hat, dass bei der nationalen Umsetzung dieser Reform eine Steigerung dieser Vorwürfe nicht Nach den EU-Ratsbeschlüssen sollen die Milchpreise mehr möglich ist, der muss sich leider getäuscht sehen. um 7 bis 8 Cent pro Liter zurückgehen und die Land- Seit September letzten Jahres analysieren unsere Bauern, wirte sollen einen Ausgleich von 3,5 Cent dafür erhalten. die Verbände, die Bundesländer und die Abgeordneten Die Bauern wollen das übrigens nicht. Ich frage mich, ob (B) in diesem Haus die Auswirkungen dieser Reform auf die diese Preissenkungen letztlich den Verbraucher errei- (D) landwirtschaftlichen Betriebe. Niemand kann voraussa- chen. Da haben wir in der Vergangenheit leider negative gen, wie die Bewirtschaftung unserer Flächen in den Erfahrungen gemacht. nächsten Jahren aussehen wird. Werden sie brach fallen? (Albert Deß [CDU/CSU]: So ist es!) Denn auch in Zukunft wird die Prämiengewährung ohne Lebensmittelproduktion möglich sein. Die Flächen Sie wollen aber diesen Ausgleich für die Betriebe, der müssen lediglich gemulcht werden. Oder wird die Han- ohnehin nicht ausreichend ist, schon nach zwei Jahren delbarkeit von Prämienrechten, das Verkaufen von Prä- wieder senken. Das können diese Betriebe, die in den mienrechten, dazu führen, dass die gewollten Unterstüt- vergangenen Jahren hohe Investitionen in moderne, tier- zungen nicht den weiter wirtschaftenden Betrieben, den gerechte Stallungen getätigt haben, nicht überleben. Zukunftsbetrieben, zukommen, sondern denen, die aus- Wenn wir uns vor Augen führen, dass in der Milch- steigen wollen oder die schon ausgestiegen sind? produktion und in der Rindermast 11 Milliarden Euro Was die Bundesregierung mit diesem Gesetzentwurf umgesetzt werden – das ist ein Drittel aller landwirt- vorhat, nämlich ab 2007 die Prämien zum Beispiel der schaftlichen Erlöse –, dann müssen wir davon ausgehen, Milcherzeuger und der Bullenmäster auf die Flächen dass weitere Markteinbrüche zu erwarten sind. Deutsch- umzulegen, führt dazu, dass diese Betriebe in eine arge land ist schon jetzt der größte Lebensmittelimporteur der wirtschaftliche Existenznot getrieben werden. Welt. Sie, Frau Künast, können dann von sich behaup- ten, dass Sie alles Mögliche dazu beigetragen haben, (Beifall bei der CDU/CSU – Elke Wülfing [CDU/ diese fragliche Spitzenposition auch in Zukunft zu hal- CSU]: Das kann man wohl sagen!) ten. Wenn Sie diesen Gesetzentwurf, den Sie heute einge- Jeder Fachmann weiß: Wenn die Milchproduktion aus bracht haben, beschließen werden – dessen bin ich mir den Mittelgebirgsregionen weggeht, dann stirbt das sicher –, werden Sie die Vernichtung von Tausenden von Grünland. Damit wird sich auch unsere Kulturlandschaft landwirtschaftlichen Existenzen zu verantworten haben. nachhaltig verändern. Welche Auswirkungen diese Ent- Das ist die Konsequenz Ihres Tuns. wicklung auf die Tourismusbranche hat, brauche ich (Albert Deß [CDU/CSU]: Bittere Wahrheit!) nicht zu erläutern. Ich denke, das wissen Sie alle ge- nauso gut wie ich. In den Schlachtereien, in den Molkereien, in den Land- Wir wollen das alles nicht. maschinenwerken oder im Landhandel wird der Arbeitsplatzabbau massiv beschleunigt werden. (Beifall bei der CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. April 2004 9203

Peter Bleser (A) Deswegen haben wir heute unseren Entschließungsan- (Lachen bei der CDU/CSU) (C) trag vorgelegt. Wir wollen, dass die Hilfen der EU den Milcherzeugern über die gesamte Laufzeit der Reform Das ist sehr leicht nachzuvollziehen, wenn es zu den ent- zukommen, dass die Rindermäster längere Übergangs- sprechenden Umstrukturierungen kommt. zeiten bekommen und dass bei der Umsetzung der so ge- Sie wissen, dass der heutige Rindfleischpreis bzw. der nannten Cross-Compliance-Regelungen jede Sonderbe- Bullenpreis zu einem hohen Prozentsatz – und zwar zum lastung von den deutschen Landwirten ferngehalten überwiegenden Teil – durch staatliche Mittel gestützt wird. wird. Diese Entwicklung, die durch die Marktferne her- Ich fasse zusammen und ziehe das Fazit: vorgebracht wurde, will aber niemand. Erstens. Die von Frau Künast gelobte und mitbe- (Widerspruch bei der CDU/CSU) schlossene EU-Agrarreform ist eine nicht honorierte Von der CDU/CSU wird nun aus ideologischen Grün- Vorleistung im WTO-Prozess und in der grundsätzlichen den auch der bislang im Konsens verlaufene Diskussi- Anlage falsch. onsprozess um die Agrarreformen in den politischen Zweitens. Die von der Bundesregierung beabsichtigte Teppichhandel des Vermittlungsausschusses gezogen. Umsetzung der Reform führt zum Verlust von Marktan- (Beifall des Abg. Friedrich Ostendorff teilen und zur Vernichtung von Zehntausenden Arbeits- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) plätzen in der Ernährungswirtschaft. Damit wird das Parlament weitgehend um seine inhaltli- Drittens. Ich fordere den Bundeskanzler auf, ange- chen Mitwirkungsmöglichkeiten gebracht. Ein Aufgrei- sichts von 4,5 Millionen Arbeitslosen das Vorgehen der fen der verschiedenen Vorschläge aus der Anhörung, von Frau Ministerin Künast in dieser Frage zu stoppen. den Verbänden oder den Ländern vonseiten der Koaliti- Viertens. Die Bundesregierung hat kein Konzept, um onsfraktionen hier und heute ist damit völlig unsinnig die deutsche Landwirtschaft in einem Europa der geworden. 27 Staaten und bei einer weiteren Globalisierung wett- Die CDU/CSU-Fraktion legt stattdessen als Tischvor- bewerbsfähiger zu machen. lage einen Entschließungsantrag vor, mit dessen Bera- (Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Aber tung sie gerade fertig geworden ist. Dieser entspricht du hast eins?) eins zu eins den Vorschlägen des Deutschen Bauern- verbandes. Es ist ja in Ordnung, wenn ein Interessen- verband seine Interessen vertritt. Aber die CDU/CSU Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: entzieht sich damit wieder einmal ihrer politischen Ver- (B) Herr Bleser, kommen Sie bitte zum Schluss. antwortung, indem sie Populismus betreibt und allen (D) Wohl und keinem Wehe verspricht, und zwar wider bes- Peter Bleser (CDU/CSU): seres Wissen. Aber hierüber hat Peter Bleser kein einzi- Ich komme gleich zum Ende, Herr Präsident. – Mit ges Wort verloren. der Schwerpunktsetzung auf Ökobetriebe werden wir gnadenlos untergehen. Deswegen hoffen nicht nur die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN deutschen Bauern, sondern auch die Beschäftigten im und bei der SPD) ländlichen Raum auf die CDU/CSU-geführten Bundes- Diese Politik hat in der Vergangenheit der deutschen länder. Landwirtschaft nur marktferne Überschussproduktion, (Jella Teuchner [SPD]: Auf euch hofft doch miserable Erzeugerpreise, hohe Abhängigkeit von keiner mehr!) Staatsknete und überbordende Bürokratie, aber keine Zukunftsperspektive gebracht. Aus diesem Grunde müssen wir den Wählern dafür dan- ken, dass wir dieses Korrektiv haben. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Herzlichen Dank. Ich möchte noch auf den Kern der Vorschläge einge- (Beifall bei der CDU/CSU) hen, die die CDU/CSU in ihrem Entschließungsantrag macht. Diese Vorschläge würden, wenn sie umgesetzt Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: würden, gerade in der Anfangszeit, in der Übergänge Das Wort hat jetzt die Kollegin Ulrike Höfken von notwendig sind, zu einer stärkeren Belastung der tier- Bündnis 90/Die Grünen. haltenden Betriebe – mit Ausnahme der Milchbauern; das ist die Folge des 65/35-Modells – zugunsten der Ackerbauern und zu einer Verschiebung der endgültigen Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Entkopplung auf den Sankt-Nimmerleins-Tag führen. Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Was wäre das Ergebnis einer solchen Politik? Von den Kollegen! Wenn der Kollege Bleser schon auf die durch- Restprämien kann niemand mehr leben. Die Schafhalter, geführte Anhörung zurückgreift, dann sollte er korrekt die flächenarm wirtschaften, und die Ziegenhalter, die zitieren. Professor Isermeier zum Beispiel hat auch vor- Kulturlandschaftspflege betreiben gerechnet, dass durch die Gesetzesreformen der Bundes- regierung im Rindfleischbereich Preissteigerungen von (Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/ 17 Prozent zu erwarten sind. CSU]: Willst du jetzt nicht mal über die 9204 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. April 2004

Ulrike Höfken (A) Ziegenhalter reden? Sag doch mal, für wel- im Rahmen der Umsetzungsbeschlüsse möglich, die Mi- (C) chen Verband du jetzt sprichst!) nisterin Künast vorgelegt hat; – gut, dass Sie mich daran erinnern –, arbeiten schon (Zuruf von der CDU/CSU: Sie müssen nur heute mit der Mutterschafprämie am Existenzminimum. mulchen!) Flächenarme Betriebe müssen also nach Ihrem Modell aufgeben. Gleichzeitig werden aber die Marktorientie- nicht nur mulchen, sondern auch abfahren –, rung und damit die Bildung realistischer Marktpreise – das gilt auch im Hinblick auf mögliche Anstiege im Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Rindfleischsektor – aktiv behindert. Die Mitnahmeef- Frau Kollegin Höfken, kommen Sie bitte zum fekte, also das Beziehen von Prämien, obwohl die Pro- Schluss. duktion schon längst aufgegeben wurde, und die über- langen Übergangszeiten, die die CDU/CSU in ihrem Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Entschließungsantrag vorsieht, würden die gesellschaft- – die zweite Säule und die Modulation voll auszu- liche Akzeptanz massiv gefährden – worauf Jella schöpfen sowie das EEG zu unterstützen; denn dieses Teuchner schon hingewiesen hat. Gesetz bietet der Landwirtschaft und den ländlichen Mit Ihren Vorschlägen ist außerdem eine enorme Bü- Räumen Einkommensperspektiven, die sie unbedingt rokratisierung verbunden. Wenn jemand die EU in Sa- brauchen. chen Bürokratie noch toppt, dann ist es die CDU/CSU- Danke schön. Fraktion mit ihren Vorschlägen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) und bei der SPD) Es wird unrealistischerweise die Illusion genährt, dass Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: die Reformen wieder zurückgenommen werden können. Das Wort hat der Kollege Hans-Michael Goldmann Das verhindert Planungssicherheit sowie einen Moderni- von der FDP-Fraktion. sierungs- und Neuausrichtungsprozess in der Landwirt- schaft. Zudem wird eine massive Instrumentalisierung (Beifall bei Abgeordneten der FDP) der Bauern betrieben – das erlebe ich immer wieder vor Ort –, indem man mit gezielten Falschinformationen Hans-Michael Goldmann (FDP): über angeblich von der Bundesregierung geplante zu- Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und (B) sätzliche Auflagen, die die bisherigen Umweltpro- Kollegen! Lieber Matthias, da du mich so freundlich be- (D) gramme gefährden würden, Widerstände schürt und die grüßt hast, will ich die Atmosphäre hier durchaus ein Menschen auf die Palme treibt. bisschen danach ausrichten. Ich freue mich darüber, dass (Norbert Schindler [CDU/CSU]: Das ist so!) wir über die Reform der Agrarmärkte ganz grundsätzlich sprechen; denn ich halte sie für reformbedürftig. Ich – Das ist überhaupt nicht so! Es gibt keine einzige Vor- halte das, was die Bundesregierung gesetzgeberisch auf lage. Das ist reine Propaganda im übelsten Sinne. den Weg gebracht hat, von der Grundausrichtung her für richtig und notwendig. Ich begrüße es, dass ein Modell (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- aufgegriffen wird, das die FDP schon vor Jahren entwi- SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD) ckelt hat, nämlich das Modell der so genannten Kultur- Die Grünen unterstützen die Vorschläge der Bundes- landschaftsprämie, also ein Modell der gesellschaftli- regierung, die auf eine rasche und möglichst vollstän- chen Leistung für Menschen, die unseren Kulturraum dige Entkopplung, auf eine Verringerung der bisherigen und unseren ländlichen Raum insgesamt erhalten. Benachteiligung von Regionen und Betriebsformen, auf (Beifall bei der FDP) Marktorientierung und Honorierung der gesellschaftli- chen Leistungen zum Beispiel im Hinblick auf Umwelt, Nur unter diesem Gesichtspunkt ist eine Bereitstellung tiergerechte Produktion, Qualität und Lebensmittelsi- dieser Mittel dauerhaft gerechtfertigt. cherheit zielen. Uns ist natürlich klar, dass bestimmte (Albert Deß [CDU/CSU]: Das haben Bayern Produktionsbereiche besonderer Lösungen bedürfen, und Baden-Württemberg schon vor acht Jah- zum Beispiel die Milchproduktion und die extensiven ren umgesetzt!) Erzeugungsformen, und dass ein Gleitprozess notwendig ist. Hier sind wir mit den Ländern einer Meinung. Liebe Kollegen, insbesondere du, Albert Deß, wir sollten uns wirklich besinnen und uns fragen, ob es nicht Wir fordern die Bundesländer und die CDU/CSU auf, besser ist, den Streit hier nicht fortzusetzen, sondern uns die Agrarreform nicht länger für eine parteipolitische darüber zu unterhalten, wie wir diesen Paradigmenwech- Auseinandersetzung zu instrumentalisieren, die Land- sel ausgestalten. wirtschaft in Deutschland mit notwendigen Reformen auf die Osterweiterung und die WTO-Ergebnisse vor- Lieber Peter Bleser, du bist zu dem Ergebnis gekom- zubereiten sowie die Marktorientierung zu unterstützen, men, dass das nicht zu verstehen ist. Ich finde das nicht umwelt- und tiergerechte Produktion, Grünlandbewirt- richtig. Das ist ganz einfach: Bis jetzt bekommt man schaftung und Weidewirtschaft zu stärken – das ist auch Geld dafür, dass man etwas produziert, was auf dem Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. April 2004 9205

Hans-Michael Goldmann (A) Markt nicht unbedingt nachgefragt wird. Das ist unsin- ern ankommt und nicht in den ländlichen Regionen aus- (C) nig. Das sehen sehr viele Bauern genauso wie ich. gegeben wird. Es sollte genutzt werden, um Belastungen der Milchwirtschaft und derjenigen, die ihr Einkommen (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten bis jetzt durch Tierprämien erzielt haben, zu verringern. der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Wir sind in der Frage des Dauergrünlandes einer Mei- Zukünftig bekommt man Geld dafür, dass man etwas nung. Lasst uns das doch gemeinsam auf den Weg brin- macht, was von der Gesellschaft insgesamt akzeptiert gen! Wir sind auch einer Meinung, dass wir im Bereich wird. Das führt zu mehr Markt und dazu, dass der Bauer von Cross Compliance eine Änderung anstreben sollten. eine größere Chance erhält, am Markt Preise zu erzielen, Wir wollen nicht, dass der Umweltminister in diesen Be- die ein vernünftiges Einkommen für seine Leistungen er- reich hineinregiert. Wir wollen vielmehr, dass dieser Be- möglichen. Im Endeffekt bedeutet das wesentlich weni- reich von denjenigen ausgestaltet wird, die besondere ger Bürokratie und wirkt der momentan vorhandenen Beziehungen zur Agrarpolitik und zur Verbraucherpoli- Fehlsteuerung entgegen. tik haben. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (Beifall bei Abgeordneten der FDP) der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE Deswegen ein ganz klares Ja zu diesem Konzept, im GRÜNEN) Grundsatz jedenfalls, verbunden mit dem dringlichen Ich finde es deswegen schade, wenn man sagt: Das Anliegen, dass noch deutliche Verbesserungen erreicht kann keiner verstehen. – Damit tun wir uns keinen Ge- werden. fallen. Die Gesellschaft muss verstehen, was wir hier Liebe Frau Teuchner, Sie haben vorhin etwas ange- machen. Die Gesellschaft versteht sehr wohl, dass wir sprochen. Ich will das mit den Bauernspionen nicht hier eine besondere Leistung für die Landwirte und den übertreiben. Aber jemand, der über Jahre mit der Agrar- ländlichen Raum erbringen. Ich meine, wir können ge- wirtschaft politisch so umgegangen ist wie Sie, darf sich meinsam die Entwicklung in die richtige Richtung len- nun nicht darüber wundern, dass er mit seiner Politik bei ken. den Bauern im Moment kein Vertrauen gewinnt. Sie ha- (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der ben doch die europäischen Vorgaben nicht eins zu eins SPD) umgesetzt, sondern haben immer wieder überzogen und damit im Grunde genommen die unternehmerischen Lieber Peter Bleser, du sagst, dass ihr das alles nicht Landwirte in die Ecke gedrängt. wollt. Dazu muss ich ehrlich sagen: Das trifft mich. Un- sere Fraktionen, die beide in der Opposition sind, müs- (B) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (D) sen vieles gemeinsam – der entsprechende Gesetzent- der CDU/CSU) wurf wird sicherlich im Vermittlungsausschuss landen – auf den Weg bringen. Ich bitte deswegen sehr nach- Sie haben heute einen guten Ansatz gehabt. Ich kann drücklich darum, die Gemeinsamkeiten herauszustellen Ihnen nur empfehlen: Machen Sie einen Clement! Set- und den Finger nicht immer wieder in – sicherlich vor- zen Sie sich gegenüber den Grünen durch! Behalten Sie handene – Wunden zu legen. Es gibt Punkte, bei denen die Arbeitsplätze in diesem Bereich im Auge! Dann kön- wir unterschiedlicher Auffassung sind. Das kommt auch nen wir uns in dieser Frage auf viel Gemeinsamkeit ein- in unserem Entschließungsantrag zum Ausdruck. stellen und eine gute Lösung entwickeln. Wir sollten aber auch einmal gemeinsam hervorhe- (Beifall bei Abgeordneten der FDP) ben, dass wir die Anliegen der Milchbauern und der Rin- Ich will noch etwas betonen, liebe Freunde von der dermäster sehr ernst nehmen. CDU/CSU. (Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/ CSU]: Eben!) (Zuruf von der CDU/CSU: Ach, jetzt sind wir Freunde?) Ihre und unsere Fraktion kommen doch zu dem Ergeb- nis, dass es hier Veränderungen geben muss. Ich meine, – Wir sind fachlich gern zur Zusammenarbeit bereit. – dass 2010 eine gute Marke ist. Diese Auffassung teilen , die marktwirtschaftliche Linie, sowohl der Bundesrat als auch sehr viele CDU-Agrarmi- Ihre Husumer Beschlüsse, das – das will ich noch einmal nister. Ich bin nicht der Meinung, dass es richtig ist, am sagen – war eine gute Linie. Wenn Sie davon jetzt abrü- Jahr 2013 festzuhalten und dann einen abrupten Bruch cken und so handeln, wie es Kollege Deß immer wieder zu vollziehen. Ich glaube, dass der Entschließungsantrag tut der CDU/CSU an dieser Stelle ein Riesenproblem ent- (Albert Deß [CDU/CSU]: Jetzt ist eine andere hält. Geschäftsgrundlage!) (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der – ich sage das jetzt einmal in der Agrarsprache: SPD) MacSharry 1992 war Mist, 2000 war Mist, die Halbzeit- Wir sind uns einig, dass wir bei den Modulationsmit- bewertung war Mist; das ist eine völlig falsche Agrarpo- teln ansetzen müssen. Niederländer haben mir einmal litik –, wenn das die Position der CDU/CSU ist, dann den schönen Satz „Bauerngeld ist Bauerngeld“ gesagt. gibt es in dieser Frage keine Gemeinsamkeit mit der Auch ich bin dafür, dass dieses Geld wieder bei den Bau- FDP. 9206 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. April 2004

Hans-Michael Goldmann (A) Wir wollen eine Reform, die den unternehmerischen (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (C) Landwirt stärkt. Wir wollen eine Reform, die gesell- DIE GRÜNEN – Lachen bei der CDU/CSU – schaftliche Akzeptanz erhält. Albert Deß [CDU/CSU]: Eines ist sicher: Es gibt länger Bauern in Deutschland als diese (Albert Deß [CDU/CSU]: Ihr wollt eine Re- rot-grüne Bundesregierung!) form, die die Bauern kaputtmacht!) Die Umstrukturierung der Förderung durch die GAP Wir wollen eine Reform, die den Agrarbereich, einen ab- war dringend notwendig; denn die Landwirtschaft – das soluten Hochleistungsbereich, einen – das muss man wissen wir alle – wird auch künftig nicht ohne Zuwen- auch einmal betonen – wunderbaren Bereich mit riesigen dungen produzieren können. Die Bauern müssen in einer Exportchancen, WTO-kompatibel macht, die die Chan- liberalisierten globalen Marktwirtschaft bestehen kön- cen der EU-Osterweiterung für unsere Landwirte nutzt. nen. Die umwelt- und tierschutzrechtlichen Anforderun- Von daher werden wir uns heute bei der Abstimmung gen werden immer höher; das will der Verbraucher so. über den Entschließungsantrag der CDU/CSU der Stimme enthalten. Die Regierungsvorstellungen lehnen Nebenbei gesagt: Die bisherige Art der Fördermittel- wir ab, weil wir noch dringend Verbesserungen errei- vergabe kann man der Bevölkerung auch einfach nicht chen müssen. mehr erklären. Das kann man nicht mehr vermitteln. Herzlichen Dank. Die Bauern werden sich also am Markt orientieren müssen. An der Nachfrage wird ihre Produktion ausge- (Beifall bei der FDP – Wilhelm Schmidt [Salz- richtet sein. Die Direktzahlungen der EU werden sich gitter] [SPD]: Ein bisschen konsequenter hätte künftig an den Leistungen ausrichten, die die Landwirte es schon sein können!) für die Gesellschaft erbringen. (Albert Deß [CDU/CSU]: Das ist hier die Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: reinste Märchenstunde! – Dr. Klaus Rose Das Wort hat jetzt die Kollegin Waltraud Wolff von [CDU/CSU]: Wolff und das Märchen!) der SPD-Fraktion. Von diesem Platz aus, liebe Kolleginnen und Kolle- Waltraud Wolff (Wolmirstedt) (SPD): gen, muss ich endlich einmal loswerden, wie schändlich Sehr geehrter Herr Präsident! ich das Verhalten der CDU/CSU-Fraktion auch im Nach- gang finde. Sie haben bis zum Abschluss der Halbzeitbe- Meine Damen und Herren! Zu Beginn möchte ich Ih- wertung der Agenda 2000 gesagt: Entkopplung? Modu- (B) nen, Herr Kollege Goldmann, meine Hochachtung zol- lation? Das brauchen wir nicht, liebe Bauern, alles (D) len. Sie haben eine fantastische Rede gehalten. Besser Quatsch, wir machen weiter wie gehabt. hätte auch ich mit der CDU/CSU nicht umgehen können, aber zum Schluss hat leider die Konsequenz gefehlt. (Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/ CSU]: Bei der Modulation, ja! Bei der Ent- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ kopplung haben wir das nie gesagt! Du er- DIE GRÜNEN) zählst nicht die Wahrheit! Sagen Sie die Wahr- heit, Frau Wolff! – Dr. Klaus Rose [CDU/ Aber dahin kommen wir vielleicht auch noch. CSU]: Wolff, sag die Wahrheit!) (Hans-Michael Goldmann [FDP]: 2007 ist zu früh!) Das war nicht nur vorsätzlich falsch, sondern es ist auch eine sträfliche Art von Verunsicherungstaktik, die Sie bis Zur Wiederholung: Was von der CDU/CSU noch vor zum heutigen Tag fortgesetzt haben. zwei Jahren als Spinnerei verschrien und verlacht wurde, was als nicht umsetzbar galt, machen wir heute. Wir be- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ schließen heute die Reform zur Gemeinsamen Agrar- DIE GRÜNEN) politik. Es gibt keinen notwendigeren Schritt auf dem Verunsichert haben Sie den Berufsstand, dem Sie sich Weg zur Sicherung des Agrarstandorts Deutschland und doch angeblich so verbunden fühlen. Ich finde, Ihr Europa insgesamt. Mit dieser Reform machen wir unsere Chaos ist einfach nicht mehr nachzuvollziehen: Erst for- Landwirte dern Sie unternehmerische Freiheit und wenn sie dann (Zuruf von der CDU/CSU: Kaputt!) kommen könnte, wollen Sie plötzlich die alte Prämien- zahlung beibehalten. Wenn es dann auch noch um die fit für die Zukunft und wettbewerbsfähig – in Europa Erschließung neuer Einkommenspotenziale geht, und auf dem globalisierten Weltmarkt. (Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Genau wie Herr Goldmann gesagt hat, folgen wir nur NEN]: Ja! Gegen die Bauern! – Friedrich der Entwicklung seit 1992. Ich habe schon bei der ersten Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Lesung dieses Gesetzentwurfs gesagt: Ich war auf gro- Bauernverbandsideologie!) ßen Bauernveranstaltungen; ich weiß nicht, wo Sie un- terwegs waren. Unsere Bauern haben gesagt: Wir haben wenn wir für die Erschließung neuer Einkommensquel- MacSharry geschafft. Wir haben die Agenda 2000 ge- len sind und für die Landwirte sorgen, machen Sie nicht schafft. Wir schaffen auch die EU-Agrarreform. mit. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. April 2004 9207

Waltraud Wolff (Wolmirstedt) (A) Ich muss hier öffentlich sagen, dass die Opposition zur Betriebsprämie, zwischen Ackerland und Grünland (C) die Novelle des Erneuerbare-Energien-Gesetzes gestern unterscheiden. Es kommt real zu Umverteilungen zwi- im Ausschuss geschlossen abgelehnt hat, obwohl gerade schen den Höfen. im Bereich der Biomasse ein Quantensprung gelungen (Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/ ist CSU]: Genau! Siehst du? Es kommt zu Um- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ verteilungen!) DIE GRÜNEN – Friedrich Ostendorff Natürlich wird es bei einer solchen Reform – auch das [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist der haben wir bereits bei der Einbringung gesagt – Gewinner Widerspruch!) und Verlierer geben. und die Bauern in der Zukunft die Möglichkeit haben, (Zuruf von der CDU/CSU: Aha! – Peter H. sich ein neues Standbein zu schaffen. Carstensen [Nordstrand] [CDU/CSU]: Und (Elke Wülfing [CDU/CSU]: Das ist doch gar wir kümmern uns um die Verlierer!) nicht wahr, was Sie hier erzählen!) Wir müssen natürlich schauen, wie wir das abmildern. Wir werden diese Novelle morgen hier beraten und be- Wir haben eine nationale Reserve eingeführt, die Sie schließen. Ich sage: ein guter Tag! nicht in der Höhe wollen, wie wir sie brauchen. Aber wir brauchen auch eine bäuerliche Solidarität, damit in allen Aber wessen Interessen vertreten Sie denn eigentlich Regionen landwirtschaftliche Kulturlandschaften erhal- noch? Ich glaube, seit Sie Oppositionsarbeit machen, ten werden können. Deshalb ist die Mehrheit der Bun- drehen Sie sich nur noch um sich selbst und wissen nicht desländer auf unserer Seite und spricht sich mit uns für mehr, auf welchen Veranstaltungen Sie wie reden sollen. das Kombinationsmodell aus. Liebe Kolleginnen und Kollegen, gestern ist also das Dieser Weg bedeutet Flexibilität für Produktionsent- große Wunder geschehen: Die CDU/CSU hat ihren scheidungen und neue Einkommensalternativen. Die Entschließungsantrag angekündigt. Meine Kollegin neuen Forderungen, die in jüngster Zeit vor der zweiten Teuchner und auch Herr Goldmann haben dazu schon et- und dritten Lesung von den Bundesländern erhoben wor- was gesagt, sodass ich mich inhaltlich nicht mehr dazu den sind, halte ich für nicht so günstig. Gut und gern hät- äußern muss. Aber Sie haben ihn wohlgemerkt für die ten wir ausnahmsweise einmal auf ein Vermittlungsver- heutige Debatte eingebracht, nicht für eine Debatte vor fahren verzichten können. Wir hätten nicht nur die Wochen oder zur gestrigen Beratung im Ausschuss, Positionen noch rechtzeitig angleichen können; wir hät- nein, heute. Da kann man nur sagen: Zu spät, liebe ten möglicherweise auch ein positives Signal für die (B) Freunde, der Zug rollt, und zwar ohne euch. In den Bau- Bauern im Lande aussenden können. (D) ernversammlungen sind die Parolen, die ihr ständig dort gebracht habt, endlich verstummt. Ich denke, das ist (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Ihr hättet auch gut so. doch einen Entschließungsantrag stellen kön- nen! – Peter H. Carstensen [Nordstrand] (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ [CDU/CSU]: Ihr hättet euch auch Zeit nehmen DIE GRÜNEN) können!) Ich bin froh, dass wir einen anderen Weg gewählt ha- Zum Schluss sei mir noch eine Bemerkung gestattet. ben. Wir wollen gemeinsam mit den Ländern einen Weg Frau Künast hat die vom Bundesrat geforderte Verschie- finden, und zwar über ein Kombinationsmodell, das zum bung des Abschmelzungsprozesses als richtig anerkannt. einen aus einer Betriebsprämie und zum anderen aus ei- Sie hat auch Verständnis für die Forderungen der Länder ner Flächenprämie besteht. bei den Cross-Compliance-Regelungen gezeigt. Ich (Zuruf von der CDU/CSU: Machen wir auch!) wünsche mir, dass das ein gutes Omen für das Vermitt- lungsverfahren ist, das Sie ins Auge gefasst haben. Wenn wir uns für die Betriebsprämie entschieden hätten, Herzlichen Dank. dann hätten wir die Ungerechtigkeiten, die es bei der jet- zigen Förderung gibt, festgeschrieben. Das wollten wir (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ nicht. Deshalb bin ich froh, dass wir einen anderen Weg DIE GRÜNEN) gewählt haben. Denn in zehn Jahren ist niemandem mehr zu erklären, welche historischen Umstände zur Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Vergabe der Prämie geführt haben. Der Fakt der unglei- Das Wort hat jetzt der Kollege Peter Harry Carstensen chen Verteilung wird trotzdem manifestiert. Das wäre von der CDU/CSU-Fraktion. auch für die wirtschaftliche Entwicklung des Betriebes ein Debakel. (Beifall bei der CDU/CSU) (Albert Deß [CDU/CSU]: Diese Regierung ist Peter H. Carstensen (Nordstrand) (CDU/CSU): ein Debakel für die deutschen Bauern!) Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- Deshalb ist die wesentliche deutsche Forderung, regio- ren! Es ist schon erstaunlich, dass Frau Teuchner, Herr nal einheitliche Flächenprämien zu gewährleisten, letz- Goldmann und auch Frau Wolff darauf aufmerksam tes Jahr von Frau Künast bei der Kommission durchge- machen, dass sie über diese Agrarreform gerne noch so setzt worden. Auf diese Weise können wir, im Gegensatz lange diskutiert hätten, bis es zu einer Einigung 9208 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. April 2004

Peter H. Carstensen (Nordstrand) (A) gekommen wäre. Ich muss mich daher fragen, warum der Sozialversicherung in Millionenhöhe gibt. Es ist un- (C) Sie dann eine solche Eile an den Tag gelegt haben. Wir anständig, so mit den Menschen umzugehen. haben Zeit bis August, das Gesetzgebungsverfahren zum Abschluss zu bringen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ich frage mich auch, ob es akzeptabel ist, die Antwor- Um einige Punkte richtig zu stellen, möchte ich sa- ten auf die während der Anhörung am 22. März gestell- gen: Wir stehen hinter der Entkoppelung, Frau Wolff, ten Fragen nicht einmal abzuwarten. Es wurde nach der Frau Teuchner und Herr Goldmann. Anhörung eine Ausschusssitzung abgehalten und darauf (Matthias Weisheit [SPD]: Ein bisschen folgt heute holterdiepolter die zweite und dritte Lesung. schwanger!) Wenn es Sie stört, dass unser Entschließungsantrag Wir wissen auch, dass die Entkoppelung positive Effekte noch nicht im Ausschuss behandelt wurde, liebe Frau für den Markt haben wird. Wir stehen zu der Entkoppe- Kollegin Wolff, dann sollten Sie sich einmal die Ge- lung, weil sie zu einer Orientierung am Markt führen schäftsordnung ansehen. Alles andere, was wir hätten wird. einbringen können, wäre eine Selbstbefassung gewesen, weil wir es nicht in der ersten Lesung eingebracht haben (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Aha!) und es daher keine Überweisung an den Ausschuss gege- Wenn Sie unseren Antrag gelesen hätten, dann wüssten ben hat. Es ist hier im Hause üblich, Entschließungsan- Sie – es steht dort eindeutig geschrieben –, dass unser träge zur zweiten und dritten Lesung einzubringen. Ziel eine regional einheitliche Flächenprämie ist, die bis (Dr. Klaus Rose [CDU/CSU]: Das war immer 2013 eingeführt werden soll. Das heißt, wir sind uns in so!) der Zielsetzung einig, aber es bestehen Unterschiede, was den Übergang angeht. Das haben wir getan. Es besteht ein tiefer Dissens – der Kollege Goldmann Wie ernsthaft die Bundesregierung mit den Proble- hat ihn schon angesprochen –, was die Regelung in men in der Landwirtschaft umgeht, das konnten wir an Art. 2 § 5 bezüglich des Einvernehmens mit dem Um- dem Abend feststellen, an dem uns die Sozialversiche- weltminister angeht. Meine Damen und Herren, der rungsträger zu einem parlamentarischen Abend eingela- Umweltminister hat auf unseren Äckern nichts zu su- den hatten. Es waren drei Parlamentarische Staatssekre- chen. täre der Bundesregierung zugegen. (Beifall bei der CDU/CSU) (Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär: Vier!) Die Leute wissen schon, wie sie sich im Rahmen der gu- (B) ten fachlichen Praxis zu verhalten haben. Sie haben ihre (D) – Vier? Wer war der Vierte? Äcker gepflegt. Wir wissen, dass es in diesem Bereich (Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär: Ich!) keine Verschärfungen auf nationaler Ebene geben darf. – Ihren Namen habe ich als ersten auf der Liste. Aber wir wissen auch, dass es richtig ist, was der Kol- lege Zöllmer gestern gesagt hat. Er sprach von einem Pa- (Heiterkeit bei der CDU/CSU und der FDP) radigmenwechsel in der Agrarpolitik. Die jetzt anstehen- Ich habe Sie nicht vergessen. Sie saßen neben mir und den Beschlüsse sind ein Paradigmenwechsel. Da dies so ich weiß, wie Sie diesen Abend genossen haben, Herr ist, ist es angebracht, die einzelnen Fälle möglichst sorg- Hartenbach. Anwesend waren noch Herr Thalheim und fältig durchzuspielen und zu überlegen, was auf die Herr Thönnes. Wer war denn der vierte Staatssekretär, Landwirte zukommt. Schon aufgrund der Wortwahl be- Herr Hartenbach? greifen wir manchmal nicht mehr – ich gebe zu, dass auch ich dem zum Teil verfalle –, dass es hier um ein- (Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär: Ich!) zelne Betriebe, um einzelne Schicksale, um Familien, um Betriebsleiter und um Arbeitnehmer geht. – Nein, Sie sind der Erste auf meiner Liste. Es wird von einer Umverteilung zwischen den Län- (Heiterkeit bei der CDU/CSU und der FDP so- dern gesprochen. Aber es kommt im Hinblick auf die wie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ 35 Prozent der Direktzahlungen zu keiner Umverteilung DIE GRÜNEN) zwischen den Ländern. Dabei handelt es sich vielmehr Sie sind nicht der Vierte. Auch wenn Sie es gerne hätten: um einen Solidarbeitrag, der von Bauern aus einigen Ich nenne Ihren Namen nicht zweimal. Das hat etwas Ländern an Bauern in anderen Ländern abgeführt wird. mit Rechnen zu tun und Rechnen war Gegenstand der Dieser kommt nicht aus Landeshaushalten, er wird bei PISA-Studie. Deswegen sage ich noch einmal: Es waren den Landwirten abgezogen. drei Parlamentarische Staatssekretäre anwesend. Eine Umverteilung ist sicherlich notwendig. Aber ich Die Vertreter der Koalition haben die Forderung nach habe meine Probleme damit – dazu stehe ich –, in mei- Eigenständigkeit der Sozialversicherungsträger unter- nem Bundesland die Notwendigkeit eines Betrages von stützt. Aber am nächsten Morgen, an dem die meisten 35 Prozent der Direktzahlungen zu erklären. Ich staune, Gäste kein Frühstück zu sich zu nehmen brauchten, weil wie offen und wie schnell der Landwirtschaftsminister sie am Abend zuvor gut versorgt gewesen sind, kam die aus meinem Land dies zugestanden hat. Die Summe be- Meldung aus dem Ministerium, dass es Kürzungen bei trägt fast 5 Prozent der Prämien in Schleswig-Holstein. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. April 2004 9209

Peter H. Carstensen (Nordstrand) (A) Dass das für die landwirtschaftlichen Betriebe eine Rolle Es geht doch darum, wie wir mit den Betrieben umge- (C) spielt, ist doch wohl selbstverständlich. hen. Da stellt sich die Frage: Wie können wir es schaf- fen, dass man in die Strukturveränderung quasi hinein- (Beifall bei der CDU/CSU) gleitet Wenn dies ein Paradigmenwechsel ist, dann erwarte (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Ja!) ich, dass man darauf achtet, was in den Betrieben pas- siert. Ich erwarte, dass beobachtet wird, was um uns he- und dass nicht gleich am Anfang die größten Brüche auf- rum passiert. Es geht nicht nur um die Akzeptanz, son- treten? Wir wissen, dass wir die Betriebsprämie ab- dern auch um – lieber Kollege Goldmann, ich wundere schmelzen müssen, mich, dass du das vergessen hast – die Wettbewerbs- fähigkeit unserer Landwirte. (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Wo denn?) (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Habe ich um zu diesem Ziel zu kommen. dreimal erwähnt!) (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Dazu steht Es reicht nicht aus, Akzeptanz für ein bestimmtes Sys- nichts im Antrag!) tem zu haben. Wenn unsere Landwirte nicht mehr wett- bewerbsfähig sind, dann brauchen wir auch keine Ak- – Doch, dort steht etwas dazu. Wir haben gesagt: mög- zeptanz mehr; denn dann sind sie nämlich gar nicht mehr lichst spät. Bei euch steht: 2010. Das ist möglichst spät. da. Lies doch einmal die beiden Entschließungsanträge und dann wirst du kaum Unterschiede sehen. Du möchtest (Beifall bei der CDU/CSU) doch nur gerne Unterschiede hineininterpretieren. Stell Deswegen streiten wir über den Weg. Dies hat mit eine Zwischenfrage, dann habe ich noch etwas mehr Zeit Umverteilung zu tun. Hier geht es um Wettbewerbsfä- zu reden! higkeit, um Marktanteile, um den ländlichen Raum und Meine Damen und Herren, bei der Betrachtung des natürlich auch um das Landschaftsbild. Deswegen ist Milchbereiches bestehen Unterschiede. Bei den Bullen Sorgfalt angebracht. und beim Rindfleisch sieht das anders aus als bei der Ich gebe gerne zu, dass ich persönlich mich gewan- Milch; denn durch die Milchbeschlüsse ist von vornher- delt habe, dass ich meine Meinung geändert habe und ein eine Preissenkung eingebaut. Lasst euch doch von ei- dass ich die strikte Linie, die wir in Husum festgelegt nigen Betriebswirten erzählen, wie es letztendlich in die- haben – allerdings ohne Einzelheiten zum Beispiel über sen Betrieben aussieht. (B) den Milchbereich zu wissen –, nicht mehr einhalten Uli Höfken hat von Planungssicherheit gesprochen. (D) kann, da ich weiß, dass wir bei dieser strikten Linie ins- Diejenigen, die 1999 an diesem Pult gesagt haben: „Jetzt besondere im Rindfleischbereich zu Strukturbrüchen haben die Bauern Planungssicherheit, weil wir eine kommen würden, die enorm sind. Agenda bis zum Jahr 2007 festgeschrieben haben“ und Liebe Uli Höfken, ich staune ein bisschen. der Landwirtschaft im Jahr 2003 eine neue Agrarreform, die zu schnellen Veränderungen führte, überstülpten, (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Was wollt können nicht den Anspruch erheben, Planungssicherheit ihr denn beim Rindfleisch?) für die Landwirte zu gewährleisten. – Gemach, das erzähle ich dir gleich. – Du hast unsere (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Verbindungen zum Bauernverband angesprochen. Wir fragen uns manchmal, von wem wir gute Informationen Die Halbwertszeit politischer Beschlüsse ist immer bekommen können. Es ist richtig, wenn Abgeordnete die kürzer geworden. Ich glaube, es hätte uns gut angestan- Verbände mit einschalten. Man kann da aber nicht zwi- den, über den Weg zu unserem gemeinsamen Ziel, über schen dem „bösen“ Bauernverband und den „guten“ Ge- den Zeitrahmen, den wir zur Erlangung dieses Ziels werkschaften und dem „guten“ NABU unterscheiden. brauchen, und die Veränderungen in der Landwirtschaft und für die einzelnen Bauern noch ein wenig länger zu (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- diskutieren. Wenn wir das getan hätten, dann wäre die neten der FDP) Frontstellung, die ihr aufgebaut habt, vermeidbar gewe- Es gibt auch andere, die sich dort Informationen besor- sen. gen. Wenn du in diesem Zusammenhang vom Bauern- (Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- verband sprichst, dann solltest du den Leuten auch ein- NEN]: Das sind nicht wir, das seid ihr gewe- mal sagen, dass es bei dir offensichtlich so manche sen!) Verbindung zu Verbänden gibt, die mit Ziegen und Scha- fen zu tun haben, liebe Kollegin Höfken. Man sollte zu- Ich bedanke mich. mindest in diesem Zusammenhang nicht in dieser Art für die eigenen Leute reden und eigene Betroffenheit nicht (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- mitteilen. neten der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP – Dr. Klaus Rose [CDU/CSU]: Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Im Nebenberuf Schafzüchterin!) Das Wort hat die Bundesministerin Renate Künast. 9210 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. April 2004

(A) Renate Künast, Bundesministerin für Verbraucher- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (C) schutz, Ernährung und Landwirtschaft: und bei der SPD) Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Herr Carstensen und andere haben von Bürokratieab- Agrarreform, über die wir jetzt in zweiter und dritter Le- bau geredet. Ihr Modell aber, das Sie in Ihrem Entschlie- sung debattieren, ist ein wichtiger Schritt für die Land- ßungsantrag vorstellen, würde einen nachgerade giganti- wirtschaft. Wir zeigen den Bäuerinnen und Bauern da- schen Bürokratieaufwand nach sich ziehen. Deshalb mit, wie der Weg in die Zukunft aussehen kann. Ich findet dieses Modell, genau wie das einiger Vertreter des freue mich, dass die Agrarministerkonferenz in Osna- Bauernverbandes, nicht die Unterstützung der A-Länder brück in der letzten Woche die gemeinsame Position von und auch nicht der B-Länder. Bund und der großen Mehrheit der Länder, also der A- und B-Länder, bekräftigt hat. Als ich letzte Woche in Osnabrück ankam, habe ich gefragt: Gibt es ein neues Papier, denn darüber würde Die deutliche Mehrheit für das Flächenmodell, das ich gern diskutieren? Daraufhin bekam ich die Antwort: wir vorschlagen und über das wir hier diskutieren, freut Vergessen Sie es. Das haben wir bereits gestern Abend mich besonders, weil es in der letzten Woche eine kleine diskutiert und es lohnt sich nicht. – Es hieß: Die Zahlen Irritation gegeben hat. Es wurde die Position einiger aus sind falsch, denn – das ist auch in Ihrem Antrag enthal- dem Bauernverband laut, die ein anderes Modell bevor- ten – die nationale Reserve, die eigentlich verringert zugt hätten. Ich habe mich gefreut, dass die CDU/CSU werden soll, wird faktisch erhöht. Insgesamt ist das Mo- bei diesem Modell anerkennt, dass es einen Paradigmen- dell weder durchdacht noch besonders überzeugend. Sie wechsel gibt. Vor ungefähr drei Jahren, als wir die Dis- schaffen im Ergebnis immer mehr Härtefälle, die Sie mit kussion angestoßen und nach einem neuen Modell ge- der nationalen Reserve am Ende finanziell ausgleichen sucht haben, hat die CDU noch Nein gesagt. Ich habe müssten. Insofern können Sie sie gar nicht senken. von Ihnen Sätze wie „Frau Künast, Sie werden das so- wieso nicht durchsetzen, da sind unsere französischen Jetzt geht es darum, zukunftstauglich zu organisieren. Freunde vor“ gehört. Irgendwann in einer Sommernacht Zu Cross Compliance sage ich Ihnen: Sie malen zwar im letzten Jahr haben Sie gemerkt, dass man mit den den Teufel an die Wand, Tatsache ist jedoch, dass es sich Franzosen gemeinsam eine Agrarreform machen kann. um ein Instrument zur wirksamen Kontrolle von Min- Jetzt freue ich mich, dass Herr Carstensen halbwegs zu deststandards handelt. Ich möchte an dieser Stelle eines uns gefunden hat. klarstellen: Die Landwirte haben überhaupt nichts zu be- fürchten. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- und bei der SPD – Friedrich Ostendorff SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD – Wider- (B) [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dafür hat er (D) spruch bei der CDU/CSU) lange gebraucht!) Ich gehe nämlich davon aus – vielleicht habe ich mehr Sie, Herr Carstensen, haben gesagt: Wir müssen sorg- Vertrauen in die Landwirtschaft als Sie –, dass die Land- fältig darüber diskutieren. Herr Carstensen, wir diskutie- wirte ordnungsgemäß wirtschaften. ren darüber schon seit Januar 2001 und wir können nicht jedes Mal darauf warten, dass Sie mit vierjähriger Ver- (Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/ spätung merken, dass sich Reformen im Umsetzungs- CSU]: Eben!) prozess befinden. Wer ordnungsgemäß wirtschaftet, hat eben nichts zu be- Wir haben einen ganz anderen Ansatzpunkt; deshalb fürchten. Ich frage mich, woher Ihr Misstrauen eigent- kommen wir zu dem Flächenmodell. Aus dem gleichen lich kommt. Grund ist wahrscheinlich auch die FDP zu diesem Mo- (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- dell gekommen. Es ermöglicht mehr Wettbewerb und SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD – Hans- mehr Markt und, Herr Carstensen, es bedeutet ein wenig Michael Goldmann [FDP]: Dann sollen Sie mehr Solidarität unter den Landwirten. Ich sage ganz auch nicht so viel Kontrolle machen!) klar: In der Vergangenheit bekamen diejenigen, die die besten Böden besaßen, das meiste Geld. Wir beschließen Umweltstandards, die nachvollzieh- bar sind. Diese sind auch gesellschaftlich richtig, denn (Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/ wenn man Steuergelder ausgibt, darf man auch einige CSU]: Diejenigen mit den besten Böden haben Forderungen stellen. 1992 den niedrigsten Ausgleich bekommen! – Albert Deß [CDU/CSU]: Weil die den größten (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Wo wollen Verlust hatten!) Sie denn das Einvernehmen herstellen, Frau Künast?) Nun ging es dabei aber nicht um Ihr Geld, sondern um Wir wollen Regeln, die die Landwirte nicht über Gebühr Steuergelder. Natürlich geben wir auch das gern für die belasten und die die jetzigen Förderprogramme der Bun- Landwirtschaft, aber wir müssen in Zeiten knapper Kas- desländer für besondere Gebiete möglichst wenig tangie- sen und im Zuge von Neuausrichtungen die Verteilung ren. von Steuermitteln verändern. Es geht also um Solidarität beim Verteilen von Steuergeldern und nicht um etwas, Wir sind an dieser Stelle – dies spiegelt sich auch in auf das man einen Rechtsanspruch hat. der Beschlusslage der Agrarministerkonferenz von Os- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. April 2004 9211

Bundesministerin Renate Künast (A) nabrück – auf einem sehr konstruktiven Weg. Wir wer- liche Leistungen zu honorieren. Das ist die richtige (C) den auch bei den Cross-Compliance-Regelungen, also Richtung. bei den Standards für Umwelt und Tierschutz, einen ge- meinsamen, für Bund und Länder gleichermaßen gang- Ich hoffe, eines ist klar – zuletzt hat es Frau Wolff baren Weg finden. gesagt –: Wir werden im Bundesrat zufrieden stellende Regelungen zur Milchproduktion finden müssen, denn Auch die Erhaltung von Grünland bis jetzt ist das noch nicht gelungen. Wir werden auch noch über die eine oder andere Jahreszahl reden. Das (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Milch!) sage ich zu. Sie können mir alle glauben. Sie wissen, wie – zur Milch komme ich noch – war ein Thema. Ich habe oft ich Ihnen schon etwas zugesagt habe, das kommen in dieser Angelegenheit mit dem zuständigen Kommis- wird, so zum Beispiel diese Reform. Sie haben nicht da- sar gesprochen und ihm klar gemacht, dass wir eine gut ran geglaubt, ich aber habe Wort gehalten. Ich werde umsetzbare Regelung brauchen. Wir haben uns jetzt auf auch mein Wort halten, hier noch über die Zahlen und eine vernünftige Lösung geeinigt, die nicht Individual- das Thema Milch zu reden und eine akzeptable Rege- zuweisungen vorsieht, sondern diese Aufgabe den Bun- lung zu finden. Insgesamt wird diese Reform unseren desländern zuweist. Dadurch sind zum Beispiel auch die Landwirten helfen. Grünlandprogramme geschützt. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall des Abg. Matthias Weisheit [SPD]) und bei der SPD) Außerdem befinden wir uns im Einklang mit der EU-Re- gelung. Was wollen Sie mehr? Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat die Kollegin Gerda Hasselfeldt von der (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN CDU/CSU-Fraktion. und bei der SPD) Auf der AMK haben wir auch über die Probleme bei (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Milch gesprochen. Wir wissen alle um die sehr schwie- Hans-Michael Goldmann [FDP]) rige Situation. Wir appellieren nicht nur an die Verbrau- cherinnen und Verbraucher, sondern auch an die Wirt- Gerda Hasselfeldt (CDU/CSU): schaft, sich für faire Preise einzusetzen. Wir nehmen zur Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- Kenntnis, dass auch der Bauernverband über eine Preis- ren! Frau Ministerin, wenn Sie ernsthaft Wort halten reduzierung redet. Eines wissen wir: Überproduktionen wollten, hätten Sie das gerade in den Beratungen der sind auch ein Werkzeug des Preisdrucks, letzten Wochen zum Thema Milch unter Beweis stellen (B) (D) (Peter Bleser [CDU/CSU]: Sie machen aber können. Sie sind aber nicht auf die Vorschläge der Bun- das Gegenteil!) desratsmehrheit eingegangen. allerdings von den Landwirten und denen, die überpro- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) duzieren, selbst gemacht. Auch haben Sie, gerade in Bezug auf die Milch, schlecht Der Bauernverband hat eine Reduzierung der Milch- verhandelt. Das für uns schwierige Ergebnis in diesem produktion um 70 000 Tonnen zur Diskussion gestellt. Bereich haben wir Ihnen und Ihrer schlechten Verhand- Alle Fachleute sagen mir: Diese 70 000 Tonnen sind an- lung zu verdanken. gesichts einer Überproduktion in einer Größenordnung (Beifall bei der CDU/CSU – Matthias Weisheit von ungefähr 1 Million Tonnen ein Nichts. Wir haben [SPD]: Die Agenda 2000 hatte doch eine viel ein Optionenpapier vorgelegt und gefragt: Was können stärkere Erhöhung der Quote vorgesehen!) wir tun? Darüber will ich reden: mit Ihnen, mit den Län- dern, mit den Verbänden. Von all denen möchte ich wis- Meine Damen und Herren, für die Bewertung dieser sen, was sie wollen, dass ich es tue. Es geht darum, bis Reform, die eine der einschneidendsten Reformen in der zu 1 Million Tonnen nicht mehr in die Saldierung zu Geschichte der Gemeinsamen Agrarpolitik ist, sind mei- nehmen – was bedeuten würde, dass 380 Millionen Euro nes Erachtens die Antworten auf folgende zentrale Fra- von Landwirten gezahlt werden müssen, die wettbe- gen ausschlaggebend: Erstens. Ist diese Reform geeig- werbsfähige, zukunftsfähige Betriebe haben, um die net, die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Landwirte nächsten Jahre zu überstehen. Wir müssen darüber dis- zu verbessern? kutieren, ob wir das wollen oder nicht. Ansonsten müs- sen die Landwirte ihre Produktion selber reduzieren. (Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Und Hinsichtlich der Werkzeuge muss man die Wahrheit aus- wir müssen Ja sagen!) sprechen. Zweitens. Ist sie geeignet, die landwirtschaftliche (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Produktion und die Produktion der ihr nachgelagerten und bei der SPD) Bereiche – und damit die Arbeitsplätze – in Deutschland zu halten? Herr Goldmann hat vorhin schön gesagt: Das alte System hat die Landwirte dazu animiert, zu fragen, wo- (Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE für es Geld gibt, egal wonach der Markt fragt. Das neue GRÜNEN]: Ja! – Zuruf von der CDU/CSU: System orientiert sich am Markt und daran, gesellschaft- Das ist genau der Punkt!) 9212 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. April 2004

Gerda Hasselfeldt (A) Drittens. Ist die Reform geeignet, die leistungsfähigen Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (C) und leistungsstarken Betriebe, also gerade die, die in der Frau Kollegin Hasselfeldt, einen Augenblick bitte. Vergangenheit viel investiert haben, zu stärken? – Liebe Kolleginnen und Kollegen, trotz der gleich statt- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – findenden namentlichen Abstimmung bitte ich um etwas Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE mehr Ruhe und Gehör für die Rednerin. – Bitte schön, GRÜNEN]: Auch Ja!) fahren Sie fort.

Auf diese drei zentralen Fragen würden Sie gerne mit Gerda Hasselfeldt (CDU/CSU): Ja antworten. Aber wenn Sie ehrlich sind, müssen Sie sa- Danke. – Es gibt ja durchaus Spielraum auf nationaler gen: Genau diese Anforderungen erfüllt diese Reform Ebene. Das heißt, wir sind nicht gehalten, das Verhand- nicht. lungsergebnis genau umzusetzen. Andere Länder, bei- (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Das ist nicht spielsweise Frankreich und Österreich, nutzen diesen richtig, was Sie da jetzt sagen!) Spielraum zugunsten ihrer leistungsstarken Betriebe aus. Bei uns hingegen wird diese Reform unter der großen Wenn Sie den Landwirten ehrlich sagen, was ihnen diese Überschrift „Agrarwende“ umgesetzt, obwohl sich da- Reform bringen wird, dann werden Sie sehr schnell zu hinter nichts anderes verbirgt als eine massive und folgenden Ergebnissen kommen: Diese Reform führt schnelle Umverteilung zulasten der leistungsstarken Be- wieder zu Preissenkungen, zu Prämienkürzungen, zu triebe. neuen Bewirtschaftungsauflagen mit zusätzlicher Büro- kratie und – damit verbunden – einer schlechteren Wett- (Beifall bei der CDU/CSU) bewerbssituation innerhalb der Europäischen Union Damit wir uns hier nichts vormachen, sage ich Ihnen: (Jella Teuchner [SPD]: Wovon reden Sie denn Das hat nicht nur Auswirkungen für die Landwirte, son- überhaupt!) dern das hat auch für die nachgelagerten Bereiche mas- sowie zu einer massiven und schnellen Umverteilung in- sive Auswirkungen, nerhalb der Landwirtschaft zulasten der leistungsstarken (Zuruf von der CDU/CSU: Da gehen 10 000 und intensiv wirtschaftenden Betriebe. Arbeitsplätze verloren!) (Beifall bei der CDU/CSU) beispielsweise – um nur ein Stichwort zu nennen – im Gelegentlich sagen Sie dann, dass diese Entscheidung Bullenmastbereich. In dem Moment, in dem die Land- auf EU-Ebene getroffen worden sei und dass wir damit wirte verstärkt aus dieser Produktion aussteigen, was sie nichts zu tun hätten. aufgrund dieser Reform tun werden, werden sich Aus- (B) wirkungen auf die regionalen Schlachthöfe und die ge- (D) (Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE samte Verarbeitungsindustrie ergeben, die eine Fülle von GRÜNEN]: Das ist genau falsch, was Sie jetzt Arbeitsplätzen in Gefahr bringen werden, ganz zu sagen!) schweigen davon, dass die Kälber verkauft werden müs- Diese Entscheidung ist aber von der zuständigen deut- sen.Wenn sie nicht mehr in Deutschland produziert wer- schen Ministerin mitverhandelt und mitgetragen worden. den, dann werden sie eben von anderen Ländern ver- Daher wäre es schön, wenn wir wenigstens in einigen kauft – dort, wo die Maßnahme anders umgesetzt wird. Bereichen eine deutsche Handschrift erkennen könnten. Das ist für uns ein Wettbewerbsnachteil. Das wäre beispielsweise im Bereich der Milchwirt- (Beifall bei der CDU/CSU) schaft notwendig. Wir verfügen in Deutschland über etwa 25 Prozent der gesamten Milchproduktion inner- Neben dieser Prämienregelung ist bei dieser Umset- halb der EU. zung das Stichwort Cross Compliance ganz wichtig. Meine Damen und Herren, wer soll denn glauben, was (Matthias Weisheit [SPD]: Das sind 5 Prozent die Ministerin gesagt hat – dass die Landwirte nichts zu zu viel!) befürchten haben –, wenn er sich bloß einmal anzu- Unsere Milchbauern erleiden aufgrund dieser Reform schauen braucht, was diese Regierung in der Vergangen- Einkommenseinbußen von fast 1 Milliarde Euro. heit bereits bei der Umsetzung europäischen Rechts in nationales Recht gemacht hat: Bei jeder möglichen Gele- (Matthias Weisheit [SPD]: Nein! Die Agenda genheit wurden die deutschen Landwirte stärker zur 2000, gnädige Frau! Nicht diese Reform!) Kasse gebeten, wurden die Auflagen verstärkt. Meine Damen und Herren, das müssen wir uns verge- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- genwärtigen; denn genau das ist das Ergebnis der Ver- neten der FDP – Friedrich Ostendorff [BÜND- handlungen innerhalb der Europäischen Union, das jetzt NIS 90/DIE GRÜNEN]: Wo denn? Sagen Sie umgesetzt wird. doch einmal, wo!) (Beifall bei der CDU/CSU) – Beispielsweise bei der Düngeverordnung; es gibt aber Deshalb müssen wir die Situation der Milchbauern ver- auch jede Menge anderer Beispiele! bessern. Das, was im Rahmen der nationalen Umsetzung Mit den vorgesehenen Regelungen für Cross Compli- noch korrigiert werden kann, muss korrigiert werden. ance ist im Übrigen eine zusätzliche Gefahr verbunden, (Unruhe) nämlich dass die guten Länderprogramme im Agrar- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. April 2004 9213

Gerda Hasselfeldt (A) umweltbereich nicht mehr aufgelegt werden können. derum in guter Gesellschaft mit den unionsregierten (C) Dies werden wir genauso wenig mitmachen wie das Vor- Ländern. haben, dass das Bundesumweltministerium die Einver- Meine Damen und Herren, Kant hat einmal gesagt: nehmensbehörde für die Durchführungsvorschriften im Aus einem krummen Holz kann man keinen geraden landwirtschaftlichen Bereich sein soll. Stab schnitzen. – Entsprechend ist unser Vorschlag ein (Beifall bei der CDU/CSU) Versuch, aus dem verkorksten, schlecht verhandelten Er- gebnis des EU-Beschlusses doch noch ein gutes, tragfä- Vor diesem Hintergrund haben wir unsere Vorstellun- higes Ergebnis für die deutschen Bauern und die deut- gen entwickelt. Ich will nur die wesentlichen nennen: sche Bevölkerung insgesamt zu erreichen. Erstens. Cross Compliance darf nur eins zu eins umge- setzt werden. Die deutsche Landwirtschaft kann keine (Beifall bei der CDU/CSU) zusätzlichen Wettbewerbsnachteile verkraften. (Beifall bei der CDU/CSU) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat der Kollege Michael Müller von der Zweitens. Die laufenden Agrarumweltprogramme der SPD-Fraktion. – Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich Bundesländer müssen auch weiterhin möglich sein, denn bitte noch einmal um ein wenig Ruhe, damit der letzte damit werden zusätzliche Umweltmaßnahmen der Land- Redner in dieser Debatte noch Gehör finden kann. – wirte in den Regionen, die das schätzen, ermöglicht. Bitte schön, Herr Müller. (Beifall bei der CDU/CSU – Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Sind sie doch! Sie hören Michael Müller (Düsseldorf) (SPD): ja gar nicht zu!) Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es wurde mehrfach gesagt, dass es richtig sei, einen Paradigmen- Drittens. Eine Einvernehmensregelung zugunsten des wechsel in der Agrarpolitik einzuleiten. Wenn man Ih- Bundesumweltministers werden wir auf keinen Fall ak- nen von der Union zuhört – Herr Goldmann, Ihre Rede zeptieren. empfand ich bis auf den Schluss als sehr wohltuend –, (Beifall bei der CDU/CSU) dann kann ich nur sagen: Seit 20 Jahren reden Sie über Reformen; wenn es darauf ankommt, knicken Sie ein. Viertens. Die Milchprämie muss bis zum Ende der Nichts anderes ist hier von Ihnen rübergekommen. Laufzeit betriebsbezogen gewährt werden, denn gerade die Milchbauern haben nicht nur durch die aktuelle (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Preissituation, sondern auch durch die EU-Beschlüsse DIE GRÜNEN) ganz gravierende Einbußen. (B) Ihr Kernsatz lautet: Eigentlich wollen wir, dass alles so (D) (Beifall bei der CDU/CSU) bleibt. Angesichts der Probleme in der Landwirtschaft ist dieser Satz unverantwortlich; denn Sie wissen, dass Bei allen Forderungen, die ich jetzt genannt habe, be- dies nicht geht. Sie sind Repräsentanten der deutschen finden wir uns in guter Gesellschaft mit den unionsge- Krankheit, über Reformen zu reden, aber keine zu wol- führten Bundesländern. len. Das geht nicht, meine Damen und Herren. (Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) DIE GRÜNEN) Alle Vorschläge – zu Cross Compliance genauso wie zur Man muss eines hinzufügen: Die Mehrheit dieser Re- Milchwirtschaft – sind durch Bundesratsbeschlüsse in formen wurde noch zu Ihrer Regierungszeit geplant. den einzelnen Ausschüssen gedeckt. Schauen Sie sich einmal an, was Frau Künast seitdem Wir haben noch das Problem zu lösen, wie das übrige verbessert hat. Natürlich nutzen wir den nationalen Prämienvolumen verteilt wird. Auch dafür gibt es einen Spielraum aus – das tun wir wie alle anderen –; aber wir konkreten Vorschlag: Ein fester Anteil von 35 Prozent tun dies erstens in Übereinstimmung mit den nationalen wird flächenbezogen gewährt, die anderen 65 Prozent Bedingungen und zweitens so, dass sich in Europa etwas betriebsbezogen, und zwar für einen möglichst langen bewegen kann. Was nützt es, wenn wir etwas fordern, Zeitraum, um auch denen entgegenzukommen, die im sich aber in Europa nichts bewegt? Genau diese Verbin- Vertrauen auf die Politik gerade in den letzten Jahren In- dung hat Renate Künast aus meiner Sicht gut hinbekom- vestitionen vorgenommen haben. Dies sorgt für Glaub- men; dafür danken wir ihr. würdigkeit und dient der Planungssicherheit der Land- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ wirte und Betriebsinhaber. DIE GRÜNEN) (Beifall bei der CDU/CSU) Meine Damen und Herren, die GAP-Reformen sind Nach diesem Vorschlag wird die Umverteilung bei keine Willkür, sondern notwendige Voraussetzung, weil weitem nicht so schnell und bei weitem nicht so krass wir mehr Markt, mehr Effizienz und mehr gesellschaft- vorgenommen, werden die leistungsstarken Betriebe ge- liche Verpflichtungen brauchen. Sie sind Voraussetzung stärkt, vor allem diejenigen, die in den vergangenen Jah- für eine nachhaltigere Landbewirtschaftung und eine ren investiert haben. Im Grundgedanken, die leistungs- stärkere Orientierung der Landwirtschaft am Markt, um starken Betriebe zu stärken und die Umverteilung so die subventionierte Überschussproduktion zu verringern gering wie möglich zu gestalten, befinden wir uns wie- und eine bessere Ausrichtung auf die Wünsche der 9214 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. April 2004

Michael Müller (Düsseldorf) (A) Verbraucher sowie mehr Lebensmittelsicherheit zu errei- ben sich in der Diskussion von der anfänglich totalen (C) chen. Ablehnung konstruktiv auf die Reform zu bewegt. Sie sind Ihnen von der Union voraus; die Wahrheit ist, dass Ich verstehe auch nicht, wenn ein Widerspruch zwi- Sie in der Zwischenzeit sogar hinter die Positionen des schen Umweltschutz und Landwirtschaft konstruiert Bauernverbandes zurückgefallen sind, von Ihren Län- wird. Die Zukunft unserer Landwirtschaft – dies war dern, die überwiegend die GAP unterstützen, gar nicht auch in der Vergangenheit oft schon so – liegt doch ge- zu reden. rade in der Qualität. Glaubt jemand im Ernst, diese Qua- lität ließe sich bei einem Widerspruch zwischen Um- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ weltschutz und Landwirtschaft erreichen? Das wäre ein DIE GRÜNEN) völlig falscher Weg. Die Landwirte müssen gute Vertre- Meine Damen und Herren, das Kombimodell der ter des Umweltschutzes sein; sie sind es überwiegend Bundesregierung ist unserer Meinung nach der richtige auch. Deshalb empfinde ich es als schlicht falsch, wenn Ansatz. Wir sind bereit, über Einzelheiten zu sprechen, man von einem solchen Gegensatz redet. sind aber nicht bereit, einen Konfrontationskurs mitzu- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ machen. Nein, wir können jetzt den notwendigen Schritt DIE GRÜNEN – Peter H. Carstensen [Nord- in Richtung auf eine moderne Landwirtschaftspolitik strand] [CDU/CSU]: Wir bauen ihn doch nicht machen und so den ländlichen Raum stärken. Das ist der auf!) Weg, den wir gehen werden. Darin lassen wir uns nicht beirren. Wichtig ist schließlich auch, dass wir mit diesem An- satz den ländlichen Raum stärken. Deshalb ist es gut, (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ dass wir die beiden Säulen der GAP in den Mittelpunkt DIE GRÜNEN) stellen und nicht nur über ein Regulierungssystem reden. Wir erweitern die Landwirtschaftspolitik. Genau dies ist Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: künftig die Chance auf mehr Qualität. Ich schließe die Aussprache. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Bevor wir zur Abstimmung kommen, gebe ich Ihnen DIE GRÜNEN) bekannt, dass es eine Erklärung zur Abstimmung nach Meine Damen und Herren, eine Reform der alten § 31 der Geschäftsordnung der Kolleginnen Dr. Gesine Agrarpolitik ist längst überfällig. Sie ist durch ihre un- Lötzsch und Petra Pau gibt. Wir nehmen diese Erklärung durchschaubaren, komplizierten Geflechte aus Quoten, zu Protokoll.1) Interventionspreisen und Regulierungen schon lange Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun- (B) (D) nicht mehr haltbar. Es ist gut, dass wir mit diesen Un- desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Umset- gleichgewichten endlich Schluss machen. Herr zung der Reform der gemeinsamen Agrarpolitik, Druck- Goldmann hat Recht: Man kann über so etwas nicht im- sachen 15/2553 und 15/2770. mer nur reden, sondern man muss auch einmal springen. Der Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Natürlich sind wir bereit, über Einzelheiten zu reden. Landwirtschaft empfiehlt auf Drucksache 15/2843, den Aber wenn wir den Eindruck haben, dass nur auf Kon- Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. frontation gesetzt und versucht wird, alles zu verhindern, Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen dann ist es auch schwierig, konstruktiv über Verbesse- wollen, um ihr Handzeichen. – Gegenstimmen? – Ent- rungen zu reden. haltungen? – Dann ist der Gesetzentwurf in zweiter Be- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ ratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen DIE GRÜNEN) die Stimmen der CDU/CSU-Fraktion und der FDP-Frak- tion angenommen. Das ist das Ergebnis Ihrer Politik. Wir sind bereit, über Verbesserungen zu reden, weil wir wissen, dass es in ein- Dritte Beratung zelnen Punkten durchaus noch Verbesserungen geben und Schlussabstimmung. Nach Art. 87 Abs. 3 des kann. Aber das geht nur, wenn man an die Grundfrage Grundgesetzes ist zur Annahme des Gesetzentwurfs die der Reformen konstruktiv herangeht und nicht versucht, absolute Mehrheit – das sind 302 Stimmen – erforder- alles zu blockieren, zu erschweren und zu verhindern. lich. Es ist namentliche Abstimmung verlangt. Haben Meine Damen und Herren, wenn Sie an diesem Kurs die Schriftführerinnen und Schriftführer ihre Plätze festhalten, müssen Sie auch sehen, welche unverantwort- eingenommen? – Das ist der Fall. Dann eröffne ich die liche Position Sie vertreten. Wir stehen vor der nächsten Abstimmung. WTO-Runde, wir stehen vor der EU-Osterweiterung. Es Ist ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine ist eine Illusion, zu glauben, man könne diese Herausfor- Stimmkarte noch nicht abgegeben hat? – Ich schließe die derungen ohne Reformen bestehen. Deshalb muss heute Abstimmung und bitte die Schriftführerinnen und Schrift- gehandelt werden. Genau dies tun wir. Wir haben nun führer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der lange genug über das Thema geredet. Nun machen wir Abstimmung wird Ihnen später bekannt gegeben.2) den richtigen Schritt. Wir danken Renate Künast. Wir danken übrigens 1) Anlage 2 auch einem großen Teil der Bauernverbände. Diese ha- 2) siehe Seite 9219 C Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. April 2004 9215

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms (A) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte Sie, Platz Der Europäische Rat hat beschlossen, Art. 42 des Ver- (C) zu nehmen, da wir nun mit den Abstimmungen fortfah- fassungsentwurfs bereits heute anzuwenden, wenn einer ren und ich nur so Ihr Abstimmungsverhalten überbli- der Mitgliedstaaten Opfer eines Terroranschlages wird. cken kann. Durch diese Solidaritätsklausel wird sichergestellt, dass in einem solchen Fall alle Mitgliedstaaten die ihnen zur Ich komme zu den Entschließungsanträgen. Verfügung stehenden Mittel mobilisieren und den betref- Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Frak- fenden Staat unterstützen. Diese Klausel war in der Dis- tion der CDU/CSU auf Drucksache 15/2856? – Gegen- kussion des Verfassungsentwurfs in der Regierungs- probe! – Enthaltungen? – Der Entschließungsantrag ist konferenz noch umstritten. Nun zeigt die EU die abgelehnt mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen ge- erforderliche Solidarität und Entschlossenheit. gen die Stimmen der CDU/CSU bei Enthaltung der FDP. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Frak- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) tion der FDP auf Drucksache 15/2857? – Gegenpro- Ein Antiterrorismuskoordinator der EU wird dazu beitra- be! – Enthaltungen? – Der Entschließungsantrag ist ab- gen, Informationen besser und schneller zusammenzu- gelehnt mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen führen und die Arbeit der Sicherheitsbehörden enger zu die Stimmen der FDP-Fraktion bei Enthaltung der CDU/ koordinieren. CSU. Wir müssen und werden die Zusammenarbeit insbe- Ich rufe Tagesordnungspunkt 7 auf: sondere in drei Bereichen verbessern: Bei der polizeili- Vereinbarte Debatte chen Zusammenarbeit werden die Mitgliedstaaten die vorhandenen Informationen über Straftäter besser ver- zu den Ergebnissen des Frühjahrsgipfels der netzen und miteinander austauschen. Die justizielle Zu- Europäischen Union am 25./26. März 2004 sammenarbeit muss insbesondere durch die schnelle Einführung des europäischen Haftbefehls verbessert Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die werden. In Europa wird nicht verstanden, warum dieses Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre und sehe wichtige Projekt im Bundesrat blockiert werden soll. keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat der BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Staatsminister Hans Martin Bury das Wort. Die Arbeit der Nachrichtendienste wird durch eine neue (B) Schnittstelle im Ratssekretariat verknüpft. Damit soll si- (D) Hans Martin Bury, Staatsminister für Europa: chergestellt werden, dass Terrorismusinformationen von Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- nationalen Polizei- und Nachrichtendiensten an einer ren! Der Gipfel in Brüssel war in zweifacher Weise Stelle zusammenlaufen, miteinander abgeglichen und ef- durch die Ereignisse in Madrid geprägt: Die furchtbaren fektiver als heute genutzt werden. Terroranschläge haben dazu beigetragen, dass Europa enger zusammenrückt, und die neue spanische Regie- Auch wenn die aktuellen Ereignisse den eigentlichen rungspartei hatte bereits vor dem Gipfel deutlich ge- Schwerpunkt des Frühjahrsgipfels ein wenig in den Hin- macht, dass sie ihr Land zurück ins Zentrum Europas tergrund gedrängt haben, ist es doch gelungen, den Fo- führen möchte. Es bietet sich nun die Chance einer Eini- kus der Lissabon-Strategie noch stärker auf mehr gung über die zukünftige europäische Verfassung. Wir Wachstum und mehr Beschäftigung zu richten. Zu die- sollten diese Chance ergreifen. sem Zweck sollen vor allem die strukturellen Vorausset- zungen verbessert werden. Das erfordert eine Konzen- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ tration auf Innovation, Bildung, Forschung, Entwicklung DIE GRÜNEN sowie der Abg. Sabine und neue Technologien. Leutheusser-Schnarrenberger [FDP]) Dabei richtet sich die Lissabon-Strategie nicht nur an Was hat uns die Opposition in diesem Haus in den die Institutionen der EU. Konkrete Reformen müssen vergangenen Jahren nicht alles vorgeworfen: die Spal- vor allem in den Mitgliedstaaten umgesetzt werden. Wir tung der EU, die Zerstörung der NATO. Nichts davon modernisieren den Arbeitsmarkt, stellen die sozialen war richtig. Die Realität zeigt: Gerade Deutschland hat Sicherungssysteme auf eine tragfähige Grundlage, ha- zur Einigung Europas entscheidend beigetragen. Die ben Steuern gesenkt und stabilisieren die Lohnneben- Einladung von Bundeskanzler Gerhard Schröder zum kosten. Die Agenda 2010 stellt sich den Herausforde- 60. Jahrestag der Landung der alliierten Streitkräfte in rungen der Gegenwart und eröffnet so Spielräume für der Normandie ebenso wie die Einladung zum die Zukunft. 60. Jahrestag des Warschauer Aufstandes zeigen, wel- ches Vertrauen hier gewachsen ist. Auch die transatlanti- Neue Technologien und Verfahren, Dienstleistungen sche Partnerschaft ist stabil. Gerade die internationale und Investitionen in Forschung und Entwicklung sind Afghanistan-Konferenz, die gestern und heute hier in Elemente einer mehr und mehr wissensbasierten Wirt- Berlin stattfindet, zeigt, welche Fortschritte wir gemein- schaft. Das Fundament jedoch ist noch immer eine sam erzielen können. Sie zeigt aber auch, vor welchen starke industrielle Basis. Deshalb treten wir Gefahren Herausforderungen wir stehen. der Deindustrialisierung entschlossen entgegen. 9216 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. April 2004

Staatsminister Hans Martin Bury (A) ( [CDU/CSU]: Das klingt aber ren Kommission wächst. Wir haben die Zeit genutzt, um (C) „überzeugend“!) auch hier Überzeugungsarbeit zu leisten. Unmittelbar nach der Erweiterung gibt es ein nachvollziehbares Inte- Wir wollen, dass eine aktive, wachstumsfördernde In- resse gerade der neuen Mitgliedstaaten, mit einem eige- dustriepolitik wieder in den Mittelpunkt des Handelns nen Kommissar in Brüssel sichtbar zu sein. Aber im der EU rückt; denn die wirtschaftliche Leistungsfähig- Zeitablauf deutet sich eine Lösung für die Verkleinerung keit Europas und insbesondere die seiner industriellen der Kommission an. Kernländer Deutschland, Frankreich und Großbritannien ist entscheidend dafür, dass wir auch zukünftig Wohl- Es gilt nun, liebe Kolleginnen und Kollegen, auch die stand und das hohe soziale Niveau in Europa sichern Integrationsfortschritte im Bereich der Gemeinsamen können. Außen- und Sicherheitspolitik, der Europäischen Sicher- heits- und Verteidigungspolitik und der Justiz- und In- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ nenpolitik zu sichern. Der Entwurf des Konvents wird DIE GRÜNEN) Europa demokratischer, handlungsfähiger und bürgernä- Es war uns deshalb wichtig, dass die Kommission die her machen. Auswirkungen europäischer Gesetzgebung auf die Wett- bewerbsfähigkeit und den Verwaltungsaufwand für Un- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ ternehmen in Zukunft bereits im Vorfeld neuer Regelun- DIE GRÜNEN) gen untersucht und in ihre Entscheidungen einbezieht. Wir alle haben zu diesem Entwurf beigetragen. Lassen Aber machen wir uns nichts vor. Die Umsetzung der Sie uns den gemeinsamen Kompromissvorschlag jetzt Lissabon-Strategie auf europäischer Ebene muss mit hö- nicht durch Nachforderungen gefährden. herem Tempo und vor allem mit mehr Kohärenz voran- Noch hat die irische Präsidentschaft, der ich an dieser getrieben werden, wenn wir die anvisierten ambitionier- Stelle für ihre hervorragende Arbeit schon heute Dank ten Ziele erreichen wollen. Eine Gruppe unter Leitung und Anerkennung aussprechen möchte, nicht über das von Wim Kok wird bis November eine Halbzeitbilanz weitere Verfahren entschieden. Die Bundesregierung des Lissabon-Prozesses vorlegen. Die Konsequenz der wird – das hat sich während des Konvents und der Re- bereits heute erkennbaren Defizite lautet aus meiner gierungskonferenz bewährt – Bundestag und Bundesrat Sicht: Wir sollten nicht die Ziele revidieren, sondern die weiterhin umfassend über den Fortgang informieren. Anstrengungen erhöhen, um die ambitionierten und rich- tigen Ziele zu erreichen. (Zuruf von der CDU/CSU: So wie gestern!) (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Mit Fortschritten bei der Verfassung erfüllen wir nicht (B) (D) BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) nur die berechtigten Erwartungen der europäischen Bür- Gemeinsam mit Frankreich und Großbritannien ha- gerinnen und Bürger; eine gute Verfassung ist auch die ben wir angeregt, die Kohärenz der Kommissionsarbeit Voraussetzung für das Gelingen der Erweiterung. Heute durch die Einrichtung eines für Fragen der Wettbewerbs- in einem Monat erleben wir die Vereinigung Europas. fähigkeit zuständigen Vizepräsidenten zu stärken. Diese Die Einigkeit des Europäischen Rates, die Geschlossen- Frage wird der neue Kommissionspräsident zu entschei- heit und Entschlossenheit der europäischen Staats- und den haben. Aber es ist auf dem Europäischen Rat deut- Regierungschefs auf dem Frühjahrsgipfel sind eine gute lich geworden: Es zeichnet sich hier eine sehr breite Grundlage für das Gelingen der großen Aufgaben, die Übereinstimmung unter den Mitgliedstaaten ab. vor uns liegen, für die erfolgreiche Verknüpfung von Er- weiterung und Vertiefung, für ein Europa der Bürgerin- Die Staats- und Regierungschefs haben in Brüssel nen und Bürger. auch den Weg für einen Abschluss der Verfassungsver- handlungen geebnet. Unstreitig ist nun, dass das Prinzip (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ der doppelten Mehrheit Grundlage für Entscheidungen DIE GRÜNEN) des Rates werden soll. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Das Wort hat der Kollege Peter Hintze von der CDU/ CSU-Fraktion. Das bedeutet nicht weniger als: Europa wagt mehr De- mokratie. Das ist die Botschaft des Europäischen Rates. (Beifall bei der CDU/CSU) Die EU muss handlungsfähiger und transparenter wer- den, die Bürgerinnen und Bürger müssen nachvollziehen Peter Hintze (CDU/CSU): können, wie Entscheidungen zustande kommen. Die Bil- dung von Gestaltungsmehrheiten muss erleichtert, die Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- von Blockademinderheiten zukünftig erschwert werden. ren! Der Deutsche Bundestag hat heute zum ersten Mal Deshalb – da sind wir uns einig, Herr Kollege Altmaier – Gelegenheit, über zentrale Grundfragen nach dem euro- werden wir sehr sorgfältig auf die noch zu leistende Aus- päischen Gipfel in Brüssel zu sprechen. Was bietet uns gestaltung des Prinzips zu achten haben. zu diesen zentralen Grundfragen die Bundesregierung? Die halbe Bundesregierung war beim Gipfel in Brüssel Auch das Verständnis für die Notwendigkeit einer und lässt heute einen Staatsminister zu uns sprechen, der kleineren und damit effizienteren und handlungsfähige- von den Beratungen ausgeschlossen war. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. April 2004 9217

Peter Hintze (A) (Michael Glos [CDU/CSU]: Er hat lustlos Dazu gehört für die CDU/CSU-Fraktion der klare (C) etwas vorgelesen!) Verweis auf das christliche Erbe Europas in der Präam- bel als Ausdruck unserer Wertgrundlagen. Wer das ge- Damit wird die Tradition fortgesetzt, die wir im Europa- ring schätzt, der versteht die geistigen Herausforderun- ausschuss schon länger zu beklagen haben, nämlich dass gen der Zeit völlig falsch. die Regierung versucht, das Parlament in den entschei- denden Fragen Europas aus den Beratungen herauszu- (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Angelica halten. Unser Verständnis von Demokratie ist ein ande- Schwall-Düren [SPD]: Sie wissen, dass das res. Danach gehört das Parlament mitten in diese nicht durchsetzbar ist!) Beratungen hinein. Was die Politik der Europäischen Union angeht, ist (Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf von der seit der Unterzeichnung der Römischen Verträge 1957 SPD: Unglaublich! – Michael Glos [CDU/ im EG-Vertrag das starke Dreieck der Wirtschaftspolitik, CSU]: Hochmut kommt vor dem Fall!) bestehend aus den Eckpunkten Wachstum, Vollbeschäf- tigung und Preisstabilität, verankert. Die Preisstabilität Liebe Vertreterinnen und Vertreter der Bundesregie- ist zwischenzeitlich leider herausgebrochen worden. Wir rung, denken Sie bitte daran, dass die europäische Ver- wollen, dass sie neben dem Wachstum und der Vollbe- fassung nicht nur das Wohlwollen und die Zustimmung schäftigung wieder als Ziel mit aufgenommen wird. der Bundesregierung braucht, sondern dass die europäi- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- sche Verfassung auch die Zustimmung des Deutschen neten der FDP) Bundestages und des Bundesrates braucht. Gehen Sie bitte mit diesen Verfassungsorganen so pfleglich um, Wir setzen uns auch dafür ein, dass im Rahmen der wie es unsere Verfassung vorsieht. Ratifizierung der europäischen Verfassung die Mitwir- kungsrechte des Deutschen Bundestages gestärkt wer- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- den. Schließlich werden immer mehr Politikbereiche neten der FDP – Dr. Angelica Schwall-Düren und Lebensbereiche der Bürger durch die Gesetzgebung [SPD]: Sie wissen doch, dass Herr Fischer auf auf europäischer Ebene bestimmt. An dieser Gesetzge- der Afghanistan-Konferenz ist!) bung ist zwar die Bundesregierung stark beteiligt – das ist auch gut so im Sinne der europäischen Verträge –, Nie zuvor stand die Europäische Union vor so großen aber wir wollen auch, dass das deutsche Parlament, der Herausforderungen wie heute. Der Beitritt von zehn Bundestag, an diesen Beratungen beteiligt wird. Über neuen Staaten am 1. Mai wird der Europäischen Union die Beteiligung des Deutschen Bundestages wollen wir ein neues Gesicht verleihen. Ich möchte für die CDU/ eine deutsche und europäische Öffentlichkeit für wich- CSU-Fraktion sagen: Wir empfinden den Beitritt dieser (B) tige Gesetzgebungsvorhaben in Brüssel schaffen. (D) zehn Staaten als einen politischen und kulturellen Ge- winn für die Europäische Union. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU – Ute Kumpf [SPD]: Wir auch! – Dr. Angelica Schwall- Die europäische Verfassung wird eine grundlegend Düren [SPD]: Wunderbar!) neue Architektur im innerstaatlichen Umgang mit euro- papolitischen Vorhaben und in der Zusammenarbeit zwi- Wenige Wochen nach der endgültigen Vollendung der schen den einzelnen staatlichen Akteuren erfordern. europäischen Einigung werden wir hoffentlich die Ge- Dies schließt eine Überprüfung und Neubewertung des burtsstunde der europäischen Verfassung feiern können. Art. 23 unseres Grundgesetzes und der darin vorge- Zum Jahresende haben wir die Frage zu beantworten, ob schriebenen Verfahren sowie des Gesetzes über die Zu- die Europäische Union den Beitritt der Türkei verkraften sammenarbeit von Bundesregierung und Deutschem kann. Bundestag in Angelegenheiten der Europäischen Union ein. Schließlich müssen wir alles daransetzen, um der Gei- ßel des Terrorismus in Europa Herr zu werden. Mein Liebe Kolleginnen und Kollegen, noch ein weiterer Wunsch ist, dass die Europäische Union den Mut und die Punkt ist mir sehr wichtig. Zu den Schicksalsfragen Kraft hat, die richtigen Weichenstellungen für die Zu- Europas gehört die Frage, wer in Zukunft noch zur kunft vorzunehmen. Union der 25, die es ab dem 1. Mai 2004 geben wird, hinzustoßen wird. Hier wollen wir durch eine Änderung Was die Verfassung angeht, wünsche ich mir, dass der gesetzlichen Grundlagen in Deutschland erreichen, die Staats- und Regierungschefs die Gunst der Stunde dass wir als Deutscher Bundestag bei der Eröffnung nutzen und die noch offenen Fragen so schnell wie mög- von Beitrittsverhandlungen genauso unser Votum abge- lich klären. Dabei wäre es gut, wenn die Bundesregie- ben können wie die Kammer der Länder, der Bundesrat. rung ihre Hände nicht selbstzufrieden in den Schoß le- Denn das Tor zum Beitritt wird nicht mit dem Abschluss gen würde. Statt tatenlos am Verhandlungstisch zu der Beitrittsverhandlungen aufgestoßen, sondern mit ih- sitzen, sollte sie sich aktiv um einen möglichst optimalen rer Eröffnung. Wir wollen, dass die Repräsentanten der Verhandlungserfolg bemühen. Bürgerinnen und Bürger – und damit unseres Volkes – im Deutschen Bundestag in diesem entscheidenden Mo- (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Angelica ment um ihr Votum gefragt werden. Schwall-Düren [SPD]: Das macht sie doch un- aufhörlich!) (Beifall bei der CDU/CSU) 9218 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. April 2004

Peter Hintze (A) Gleiches gilt für die Zustimmung der Bundesregie- lung, die in Deutschland als Begründung dienen soll, den (C) rung zu möglichen Entscheidungen des Europäischen Beitritt der Türkei praktisch zu erzwingen. Rates, durch einstimmigen Beschluss von der Einstim- (Lachen und Zurufe von der SPD) migkeit zur Mehrheitsentscheidung überzugehen. Das verändert das deutsche Gewicht in Europa erheblich. – Übrigens, wenn Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen Das kann im Einzelfall richtig und förderlich sein – das von Rot-Grün, in Sachen Türkei so vehement dazwi- ist es auch in den meisten Fällen –, aber auch diese ge- schenrufen, dann darf ich Ihnen empfehlen, nicht nur die meinschaftsautonome Verfassungsänderung wollen wir Ausführungen von Helmut Schmidt und von unserem parlamentarisch begleiten. Wir wollen, dass die Bundes- Bundespräsidenten Johannes Rau, sondern vielleicht regierung dem deutschen Parlament über ihre Position in auch das zur Kenntnis zu nehmen, was der Ratsvorsit- diesen Verhandlungen Rechenschaft ablegt. zende der Evangelischen Kirche in Deutschland, Bischof Huber, gesagt hat und was er uns ins Stammbuch ge- (Beifall bei der CDU/CSU) schrieben hat. Es schleicht sich leider mehr und mehr ein, dass inte- (Beifall bei der CDU/CSU) ressante außenpolitische und europapolitische Kurs- wechsel und Positionsbestimmungen der Bundesregie- Bischof Huber hat nicht nur vor einem übereilten Beitritt rung in der Presse und im Fernsehen abgehandelt, aber der Türkei sehr gewarnt, sondern er hat auch klar gesagt, nicht im Plenum des Deutschen Bundestages beraten dass die Diffamierung der Europäischen Union als werden. Der Bundesaußenminister hakelt zurzeit mit christlichen Klub völlig die Tatsache verdunkelt, dass es dem Bundeskanzler um den zukünftigen Kurs in der das Christentum war, das die Werte von Freiheit und Europapolitik. Herr Fischer hat sich eine Abkehr von sei- Menschenwürde sowie von Toleranz, sozialer Gerechtig- ner Humboldt-Rede vorgenommen und verspottet die keit und Rechtsstaatlichkeit in Europa hervorgebracht Gründerstaaten der Europäischen Union als Kleineuropa. hat, und dass das die entscheidenden Werte sind, die auch in Zukunft für unsere Vorstellung von Europa von (Widerspruch bei der SPD und dem BÜND- Bedeutung sind. Wir sollten also das Erbe des Christen- NIS 90/DIE GRÜNEN) tums ernst nehmen. Der Bundeskanzler hat ihm darin widersprochen. Das (Christel Humme [SPD]: Wovon reden Sie möchte ich hier positiv erwähnen. Aber negativ ist, dass überhaupt? In welchem Jahrhundert leben wir bis jetzt keine Gelegenheit hatten, im Plenum des Sie? – Weiterer Zuruf von der SPD: Was ist Deutschen Bundestages mit dem Herrn Bundeskanzler mit den Hexenverbrennungen, Herr Kollege?) und dem Herrn Bundesaußenminister über die Grundfra- – Sie sollten nicht so viel dazwischenbrüllen. Wenn Sie (B) (D) gen der deutschen Europapolitik zu sprechen, weil sie schon nicht auf Ihren Bundespräsidenten und Ihren Alt- sich bisher einer solchen Aussprache konsequent ver- kanzler hören, dann hören Sie wenigstens auf eine solch weigert haben. wichtige Stimme aus dem kirchlichen Raum. (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Angelica (Beifall bei der CDU/CSU) Schwall-Düren [SPD]: Das ist lächerlich! Sie wissen doch, dass Herr Fischer auf der Afgha- Zum Schluss zu den wirtschaftlichen Fragen. Hin- nistan-Konferenz ist!) sichtlich der Lissabon-Strategie ist das Bild gemischt. Während viele Staaten in Europa die Zeichen der Zeit er- Das eine ist die Hakelei zwischen dem Bundesaußen- kannt haben und sich für die Zukunft rüsten, ist Deutsch- minister und dem Bundeskanzler in der Frage, wer ei- land im Jahre 2003 zum ersten Mal in seiner Geschichte gentlich die Zuständigkeit in der Europapolitik hat. unter den EU-Durchschnitt gerutscht. Dass das Land der Unter dieser Fragmentierung in der Europapolitik leidet sozialen Marktwirtschaft und des Wirtschaftswunders übrigens die Position Deutschlands in Europa massiv; einmal zum ärmeren Teil Europas gehören würde, denn die entscheidende Rolle, die wir von Konrad (Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Adenauer bis gespielt haben, nämlich als DIE GRÜNEN) größter und einflussreichster Staat Europas die Mittler- rolle wahrzunehmen, was von allen Staaten Europas als hätten selbst Pessimisten beim Amtsantritt von Rot-Grün positiv und förderlich anerkannt wurde, haben wir unter nicht für möglich gehalten. Rot-Grün zugunsten einer Streiterrolle aufgegeben. Das (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- ist der schwerste Fehler der Europapolitik der Bundesre- neten der FDP) gierung. Der Bundeskanzler hat das geschafft und Herr Trittin hat (Beifall bei der CDU/CSU) das Seine dazu beigetragen. Ich finde es schon merkwürdig, dass wir in einer Zeit, Es täte der deutschen Europapolitik gut, wenn die in der wir zu Recht nach unseren geistigen Grundlagen deutsche Bundesregierung zu einem doppelten Aus- fragen, auf einmal von der Vorstellung, dass Europa ei- gleich zurückfinden würde: zu einem fairen Ausgleich in nen inneren Zusammenhalt, ein Wirgefühl und gemein- Europa und zu einem fairen Ausgleich zwischen den po- same Werte braucht, sowie von der Idee der politischen litischen Kräften hier im Parlament. Die Europäische Union und deren Vertiefung Abschied nehmen und von Union ist auf die breite Unterstützung aller politischen einem Kontinentaleuropa träumen sollen, eine Vorstel- Kräfte angewiesen. Wir fordern die Bundesregierung Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. April 2004 9219

Peter Hintze (A) auf, zu diesem Grundsatz, der von allen Regierungen in Abstimmung über den von der Bundesregierung einge- (C) den letzten Jahrzehnten beherzigt wurde, zurückzukeh- brachten Entwurf eines Gesetzes zur Umsetzung der Re- ren. form der Gemeinsamen Agrarpolitik bekannt. Abgege- bene Stimmen 589. Mit Ja haben gestimmt 305, mit Nein (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) haben gestimmt 281, Enthaltungen eine. Der Gesetzent- wurf ist damit mit der erforderlichen Mehrheit angenom- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: men. Bevor ich der nächsten Rednerin das Wort erteile, gebe ich Ihnen das von den Schriftführerinnen und (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Endgültiges Ergebnis Siegmund Ehrmann Brunhilde Irber Franz Müntefering Abgegebene Stimmen: 589; Renate Jäger Dr. Rolf Mützenich davon Marga Elser Jann-Peter Janssen Volker Neumann (Bramsche) Klaus-Werner Jonas ja: 305 Petra Ernstberger Johannes Kahrs Dr. Erika Ober nein: 283 Karin Evers-Meyer Ulrich Kasparick Holger Ortel enthalten: 1 Annette Faße Dr. h.c. Susanne Kastner Heinz Paula Elke Ferner Johannes Pflug Ja Hans-Peter Kemper Joachim Poß Rainer Fornahl Klaus Kirschner Dr. Wilhelm Priesmeier SPD Gabriele Frechen Hans-Ulrich Klose Astrid Klug Dr. Dr. Lale Akgün Lilo Friedrich (Mettmann) Dr. Heinz Köhler (Coburg) Karin Rehbock-Zureich Iris Gleicke Gerold Reichenbach Ingrid Arndt-Brauer Günter Gloser Fritz Rudolf Körper Dr. Carola Reimann Uwe Göllner Karin Kortmann Christel Riemann- Hermann Bachmaier Renate Gradistanac Rolf Kramer Hanewinckel Ernst Bahr (Neuruppin) Angelika Graf (Rosenheim) Anette Kramme Doris Barnett Dieter Grasedieck Ernst Kranz Reinhold Robbe (B) Dr. Hans-Peter Bartels Nicolette Kressl René Röspel (D) Eckhardt Barthel (Berlin) Volker Kröning Dr. Ernst Dieter Rossmann (Starnberg) Gabriele Groneberg Angelika Krüger-Leißner Karin Roth (Esslingen) Sören Bartol Achim Großmann Dr. Hans-Ulrich Krüger Michael Roth (Heringen) Sabine Bätzing Wolfgang Grotthaus Horst Kubatschka Gerhard Rübenkönig Uwe Beckmeyer Karl-Hermann Haack Ernst Küchler Ortwin Runde (Extertal) Helga Kühn-Mengel Marlene Rupprecht Dr. Hans-Joachim Hacker Ute Kumpf (Tuchenbach) Dr. Uwe Küster Thomas Sauer Hans-Werner Bertl Klaus Hagemann Anton Schaaf Alfred Hartenbach Christian Lange (Backnang) Axel Schäfer (Bochum) Michael Hartmann Christine Lehder Gudrun Schaich-Walch (Heidelberg) (Wackernheim) Waltraud Lehn Nina Hauer Dr. Elke Leonhard Bernd Scheelen Gerd Friedrich Bollmann Eckhart Lewering Dr. Klaus Brandner Reinhold Hemker Götz-Peter Lohmann Siegfried Scheffler Rolf Hempelmann Gabriele Lösekrug-Möller Horst Schild Dr. Barbara Hendricks Erika Lotz (Hildesheim) Gustav Herzog Dr. Horst Schmidbauer Hans-Günter Bruckmann Petra Heß Dirk Manzewski (Nürnberg) Edelgard Bulmahn Monika Heubaum Tobias Marhold (Aachen) Marco Bülow Gisela Hilbrecht Lothar Mark Silvia Schmidt (Eisleben) Gabriele Hiller-Ohm (Meschede) Dr. Michael Bürsch Stephan Hilsberg Wilhelm Schmidt (Salzgitter) Hans Martin Bury Gerd Höfer Heinz Schmitt (Landau) Hans Büttner (Ingolstadt) Jelena Hoffmann (Chemnitz) Carsten Schneider Marion Caspers-Merk Walter Hoffmann Ulrike Mehl Walter Schöler Dr. (Darmstadt) Petra-Evelyne Merkel Dr. Herta Däubler-Gmelin (Wismar) Ulrike Merten Karsten Schönfeld Karl Diller Frank Hofmann (Volkach) Fritz Schösser Martin Dörmann Eike Hovermann Ursula Mogg Wilfried Schreck Peter Dreßen Klaas Hübner Michael Müller (Düsseldorf) Detlef Dzembritzki Christel Humme Christian Müller (Zittau) Gerhard Schröder Lothar Ibrügger Gesine Multhaupt Brigitte Schulte (Hameln) 9220 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. April 2004

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms (A) Reinhard Schultz Cornelia Behm Michael Grosse-Brömer (C) (Everswinkel) Dr. Markus Grübel Swen Schulz (Spandau) Dr. Angelica Schwall-Düren Grietje Bettin Karl-Theodor Freiherr von Dr. Martin Schwanholz Alexander Bonde Peter Bleser und zu Guttenberg Ekin Deligöz Erika Simm Dr. Thea Dückert Dr. Maria Böhmer Holger-Heinrich Haibach Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk Jutta Dümpe-Krüger Gerda Hasselfeldt Dr. Cornelie Sonntag- Franziska Eichstädt-Bohlig Wolfgang Börnsen Klaus-Jürgen Hedrich Wolgast Dr. Uschi Eid (Bönstrup) Wolfgang Spanier Hans-Josef Fell Ursula Heinen Dr. Margrit Spielmann Joseph Fischer (Frankfurt) Klaus Brähmig Siegfried Helias Jörg-Otto Spiller Katrin Göring-Eckardt Dr. Uda Carmen Freia Heller Dr. Ditmar Staffelt Anja Hajduk Ludwig Stiegler Winfried Hermann Monika Brüning Jürgen Herrmann Rolf Stöckel Antje Hermenau Christoph Strässer Peter Hettlich Verena Butalikakis Ernst Hinsken Rita Streb-Hesse Ulrike Höfken Hartmut Büttner Peter Hintze Dr. Peter Struck Thilo Hoppe (Schönebeck) Robert Hochbaum Joachim Stünker Michaele Hustedt Cajus Caesar Klaus Hofbauer Jörg Tauss Fritz Kuhn Peter H. Carstensen Joachim Hörster Jella Teuchner Renate Künast (Nordstrand) Hubert Hüppe Dr. Gerald Thalheim Undine Kurth (Quedlinburg) Susanne Jaffke Wolfgang Thierse Markus Kurth Dr. Peter Jahr Franz Thönnes Dr. Reinhard Loske Albert Deß Dr. Egon Jüttner Hans-Jürgen Uhl Anna Lührmann Alexander Dobrindt Bartholomäus Kalb Rüdiger Veit Jerzy Montag Simone Violka Vera Dominke Steffen Kampeter Kerstin Müller (Köln) Thomas Dörflinger Irmgard Karwatzki Jörg Vogelsänger Ute Vogt (Pforzheim) Marie-Luise Dött Bernhard Kaster Christa Nickels Maria Eichhorn Siegfried Kauder (Bad Dr. Marlies Volkmer Friedrich Ostendorff Hans Georg Wagner Dürrheim) Simone Probst (Lübeck) Volker Kauder Hedi Wegener (Augsburg) Georg Fahrenschon Gerlinde Kaupa Andreas Weigel Krista Sager Eckart von Klaeden Reinhard Weis (Stendal) Christine Scheel (B) Dr. Hans Georg Faust Jürgen Klimke (D) Petra Weis Irmingard Schewe-Gerigk Albrecht Feibel Julia Klöckner Gunter Weißgerber Rezzo Schlauch Kristina Köhler (Wiesbaden) Matthias Weisheit Albert Schmidt (Ingolstadt) Ingrid Fischbach Manfred Kolbe Werner Schulz (Berlin) Hartwig Fischer (Göttingen) Norbert Königshofen (Wiesloch) Petra Selg Dirk Fischer (Hamburg) Hartmut Koschyk Dr. Ernst Ulrich von Ursula Sowa Axel E. Fischer (Karlsruhe- Weizsäcker Rainder Steenblock Thomas Kossendey Jochen Welt Silke Stokar von Neuforn Land) Rudolf Kraus Dr. Hans-Christian Ströbele Dr. Michael Kretschmer Lydia Westrich Jürgen Trittin Günther Krichbaum Inge Wettig-Danielmeier Marianne Tritz Dr. Hans-Peter Friedrich Günter Krings Dr. Hubert Ulrich (Hof) Dr. Martina Krogmann Andrea Wicklein Dr. Antje Vogel-Sperl Erich G. Fritz Dr. Hermann Kues Jürgen Wieczorek (Böhlen) Dr. Antje Vollmer Jochen-Konrad Fromme (Zingst) Heidemarie Wieczorek-Zeul Dr. Ludger Volmer Dr. Michael Fuchs Dr. Karl A. Lamers Dr. Dieter Wiefelspütz Josef Philip Winkler Hans-Joachim Fuchtel (Heidelberg) Brigitte Wimmer (Karlsruhe) Margareta Wolf (Frankfurt) Dr. Peter Gauweiler Dr. Engelbert Wistuba Dr. Jürgen Gehb Barbara Wittig Barbara Lanzinger Dr. Nein Karl-Josef Laumann Verena Wohlleben Waltraud Wolff CDU/CSU Georg Girisch Werner Lensing (Wolmirstedt) Michael Glos Peter Letzgus Heidi Wright Ralf Göbel Ursula Lietz Peter Altmaier Dr. Reinhard Göhner Manfred Helmut Zöllmer Tanja Gönner Dr. Klaus W. Lippold Dr. Christoph Zöpel Norbert Barthle Josef Göppel (Offenbach) Dr. Peter Götz BÜNDNIS 90/DIE Günter Baumann Dr. Wolfgang Götzer Dr. Michael Luther GRÜNEN Ernst-Reinhard Beck Ute Granold Dorothee Mantel (Reutlingen) Kurt-Dieter Grill (Bremen) Reinhard Grindel (Recklinghausen) Volker Beck (Köln) Dr. Hermann Gröhe (Altötting) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. April 2004 9221

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms (A) Dr. Conny Mayer Katherina Reiche Max Straubinger Dr. (C) (Baiersbronn) Hans-Peter Repnik Matthäus Strebl Dr. Christel Happach-Kasan Dr. Martin Mayer (Heilbronn) Christoph Hartmann (Siegertsbrunn) Dr. Lena Strothmann (Homburg) Wolfgang Meckelburg Michael Stübgen Klaus Haupt Dr. Franz-Xaver Romer Ulrich Heinrich Dr. Heinrich-Wilhelm Ronsöhr Edeltraut Töpfer Birgit Homburger Friedrich Merz Dr. Klaus Rose Dr. Hans-Peter Uhl Dr. Laurenz Meyer (Hamm) Kurt J. Rossmanith Doris Meyer (Tapfheim) Dr. Norbert Röttgen Volkmar Uwe Vogel Dr. Heinrich L. Kolb Dr. Christian Ruck Andrea Astrid Voßhoff Gudrun Kopp Hans Michelbach Vo l k e r R ü he Gerhard Wächter Harald Leibrecht Klaus Minkel (Weiden) Marko Wanderwitz Ina Lenke Peter Rzepka Peter Weiß (Emmendingen) Sabine Leutheusser- Stefan Müller (Erlangen) Anita Schäfer (Saalstadt) Gerald Weiß (Groß-Gerau) Schnarrenberger Bernward Müller (Gera) Dr. Wolfgang Schäuble Ingo Wellenreuther Markus Löning Dr. Gerd Müller Hartmut Schauerte Annette Widmann-Mauz Dirk Niebel Hildegard Müller Klaus-Peter Willsch Günther Friedrich Nolting Henry Nitzsche Norbert Schindler Willy Wimmer (Neuss) Hans-Joachim Otto Georg Schirmbeck (Frankfurt) Werner Wittlich Eberhard Otto (Godern) Günter Nooke Christian Schmidt (Fürth) Dagmar Wöhrl Detlef Parr Dr. Georg Nüßlein Andreas Schmidt (Mülheim) Elke Wülfing Cornelia Pieper Franz Obermeier Dr. Andreas Schockenhoff Wolfgang Zeitlmann Gisela Piltz Dr. Ole Schröder Wolfgang Zöller Dr. Andreas Pinkwart Melanie Oßwald Bernhard Schulte-Drüggelte Willi Zylajew Dr. Hermann Otto Solms Rita Pawelski Dr. Rainer Stinner Dr. Peter Paziorek Wilhelm Josef Sebastian FDP Dr. Dieter Thomae Ulrich Petzold Daniel Bahr (Münster) Jürgen Türk Dr. Kurt Segner Rainer Brüderle Dr. Sibylle Pfeiffer Matthias Sehling Angelika Brunkhorst Dr. Claudia Winterstein Dr. Friedbert Pflüger Marion Seib Ernst Burgbacher Dr. Volker Wissing Heinz Seiffert Helga Daub Bernd Siebert Jörg van Essen Fraktionslose Abgeordnete (B) Ulrike Flach (D) Daniela Raab Johannes Singhammer Otto Fricke Horst Friedrich (Bayreuth) Hans Raidel Rainer Funke Enthalten Dr. Dr. Wolfgang Gerhardt Fraktionslose Abgeordnete Peter Rauen Gero Storjohann Hans-Michael Goldmann Christa Reichard (Dresden) Andreas Storm Joachim Günther (Plauen) Petra Pau

Jetzt erteile ich der Kollegin Anna Lührmann vom len und die europäischen Aufgaben angemessen lösen Bündnis 90/Die Grünen das Wort. können wird. Es wurde auch höchste Eisenbahn: In genau einem Anna Lührmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Monat werden die zehn neuen Mitgliedstaaten der EU Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Es war ein guter Gipfel für Europa. Es war beitreten und die EU braucht neue vertragliche Grundla- ein Gipfel, der Europa wieder auf den richtigen Weg ge- gen, um handlungsfähig zu sein. Auch die Bürgerinnen bracht hat; denn auf diesem Gipfel wurde klar, dass Eu- und Bürger sollten wissen, was die Grundlage der euro- ropa eine neue Verfassung bekommen wird, und das päischen Geschäfte ist, wenn sie im Juni zur Europawahl spätestens im Juni. Die EU hat gezeigt, dass sie wieder gehen. Deshalb ist der Abschluss der Verfassung und der bereit ist, nach vorne zu blicken. Das sind gute Nach- Regierungskonferenz noch vor den Wahlen so wün- richten für Europa. schenswert. Nach all den Unwägbarkeiten der vergangenen drei Ich persönlich will an dieser Stelle auch den Vor- Monate, nach dem unwürdigen Gezerre um den Verfas- schlag von Pat Cox begrüßen: Der 9. Mai, der Europa- sungsentwurf des Konventes bin ich nun froh und er- tag, markiert den Beginn der europäischen Kooperation; leichtert, dass sich die europäischen Regierungen end- er ist Symbol für europäischen Fortschritt. Deshalb ist lich besonnen haben. Es ist offensichtlich, dass die dies der optimale Tag für die Annahme der europäischen Europäische Union nur mit dieser Verfassung die globa- Verfassung. 9222 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. April 2004

Anna Lührmann (A) Wie eben wieder einmal deutlich wurde, haben Teile Wettbewerb bestehen. Nur so können wir unsere hohen (C) der Opposition die Zeichen der Zeit aber noch immer Sozial- und Umweltstandards hier verteidigen. nicht erkannt. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) und bei der SPD) An dieser Stelle will ich noch auf etwas Wichtiges Die CSU muss jetzt resigniert feststellen, dass sich Eu- hinweisen. Die EU – das ist in den europäischen Verträ- ropa schneller als die Opposition einigt. Die CSU droht gen verankert; das steht auch noch einmal in den zum Trotz, der neuen Verfassung eventuell gar nicht zu- Schlussfolgerungen dieses Gipfels – will nachhaltiges zustimmen. Anders sehen das die CDU-Kollegen. Ich Wachstum schaffen. Die Göteborg-Strategie, der europäi- würde sagen: Damit folgt die CDU/CSU zur Abwechs- sche Nachhaltigkeitsplan, ist Bestandteil der Lissabon- lung einmal eindeutig den neuen Vorgaben von Frau Agenda; denn Europa hat verstanden, dass Wachstum Merkel; denn sie demonstriert hier vorbildlich die neue auf Kosten der natürlichen Lebensgrundlagen nicht trägt. Zerstrittenheit der Opposition.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: und bei der SPD) Frau Kollegin Lührmann, kommen Sie bitte zum Sehr geehrte Damen und Herren der CSU, ich finde es Schluss. beinahe gruselig, wie Sie argumentieren. Ihre Forderun- gen sind nicht nur überzogen, sondern sie zeigen vor al- Anna Lührmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): len Dingen auch, dass Sie überhaupt kein Gespür für die Das tue ich. – Deshalb gilt für die EU genauso wie für Art und Weise haben, wie europäische Politik funktio- Deutschland, dass die ökologische Modernisierung der niert. Volkswirtschaft kein Hemmschuh für die wirtschaftliche Entwicklung ist; sie ist vielmehr Impuls und Chance für (Michael Glos [CDU/CSU]: Auweia, auweia!) neue Arbeitsplätze. Wirtschaftliche Entwicklung und ökologische Modernisierung sind nicht zu trennen, wenn Europa lebt nämlich vom Kompromiss. Diese Verfas- wir den Auftrag von Lissabon ernst nehmen wollen und sung ist kein Kompromiss auf der Basis des kleinsten Europa zukunftsfähig machen wollen. gemeinsamen Nenners; sie ist vielmehr ein großer Schritt vorwärts für Europa. Es wäre fatal, wegen Ein- Vielen Dank. zelforderungen wie die nach dem Gottesbezug den ge- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN samten Verfassungsprozess scheitern zu lassen. Noch ist und bei der SPD) (B) die Verfassung nicht in trockenen Tüchern. Deswegen ist (D) die Verhandlungsstrategie der Bundesregierung, keine neuen Forderungen aufzustellen und am Entwurf des Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Konvents festzuhalten, nach wie vor richtig. Das Wort hat jetzt die Kollegin Sabine Leutheusser- Schnarrenberger von der FDP-Fraktion. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP): Nicht nur beim Thema Verfassung wird erst im Nach- Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegin- hinein wirklich klar sein, ob dieser Frühjahrsgipfel ein nen und Kollegen! Die schrecklichen Anschläge in Ma- Erfolg war. Auch wenn dieses Mal aus traurigem Anlass drid haben Europa geschockt, aber nicht gelähmt. Sie ha- die Bekämpfung des Terrorismus im Vordergrund stand, ben eines bewirkt: Das Gefühl der europäischen Verbun- so befasst sich der Frühjahrsgipfel traditionell mit der denheit und Solidarität wächst wieder. Die Widerstände europäischen Wirtschaft und der Lissabon-Agenda. Der gegen die europäische Verfassung schwinden; denn auch den integrationsskeptischen europäischen Staats- und Lissaboner Fahrplan ist ein ehrgeiziges Projekt, und das Regierungschefs wird zunehmend bewusst, dass die zu Recht. Die EU hat das Potenzial, sich zum weltweit Antwort auf die gegenwärtigen Herausforderungen lau- wettbewerbsstärksten wissensbasierten Wirtschaftsraum ten muss: mehr Europa, mehr Demokratie, mehr Hand- zu entwickeln. lungsfähigkeit, mehr gemeinsame Außenpolitik und (Markus Löning [FDP]: Richtig!) mehr gemeinsame Rechtsstandards. Diese Agenda ist gut. Aber den Worten müssen jetzt (Beifall bei der FDP) auch Taten folgen: zum einen in der EU und zum ande- Die Chance für eine Verabschiedung der europäischen ren in den Mitgliedstaaten. Verfassung noch unter irischer Ratspräsidentschaft hat (Markus Löning [FDP]: Auch jetzt!) sich mit dem Gipfel vergrößert, auch wenn einige Kom- promisslinien noch sehr unklar sind. Wichtige Impulse, die von der europäischen Ebene aus- Wir von der FDP-Fraktion erwarten von der Bundes- gehen könnten, etwa das Gemeinschaftspatent oder die regierung, dass sie in der jetzt entscheidenden Verhand- Dienstleistungsrichtlinie, sind längst überfällig. Der ge- lungsphase das Parlament bzw. – wo es nicht anders meinsame Binnenmarkt ist ein wichtiger Wettbewerbs- geht – den Europaausschuss über den jeweiligen Ver- vorteil Europas. Es ist die entscheidende Aufgabe, die handlungsstand zeitnah und umfassend informiert. Potenziale des gemeinsamen Marktes wirklich umfas- send auszuschöpfen. Nur so kann Europa im globalen (Beifall bei der FDP) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. April 2004 9223

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (A) Das Parlament hat einen Anspruch darauf, in einer so schen Parlaments, sondern auch eine Verbesserung der (C) grundlegenden Frage wie der Verabschiedung der euro- Handlungsfähigkeit im Bereich der gemeinsamen Au- päischen Verfassung nicht nur mit den Ergebnissen kon- ßen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik sind drin- frontiert zu werden, sondern auch an den entscheidenden gend geboten. Das erwarten die Bürgerinnen und Bürger Schritten zum Ergebnis hin beteiligt zu werden. Ohne nach den Anschlägen in Madrid, aber auch nach den Zustimmung des Parlaments kann keine europäische ganzen Verwerfungen im Zusammenhang mit dem Irak- Verfassung in Kraft treten. krieg. Sie erwarten gemeinsame inhaltliche Positionie- rungen der Europäischen Union in diesen für sie lebens- Für die FDP gibt es folgende Schwerpunkte für einen wichtigen Fragen und sie erwarten, dass dafür auch die Konsens: Ausgestaltung der doppelten Mehrheit, Ver- Strukturen geschaffen werden, damit das besser als der- kleinerung der Kommission, mehr Entscheidungen mit zeit geschehen kann. Deshalb würden wir uns sehr wün- qualifizierter Mehrheit und, verstärkt durch die jüngsten schen, dass in den dafür entscheidenden Verhandlungen Debatten im Europäischen Parlament, ganz besonders jetzt deutliche Verbesserungen beschlossen werden. die Stärkung des Europäischen Parlaments. Aber eines halte ich, sehr geehrte Kollegen und Kol- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten leginnen von der CDU/CSU, schon für falsch: jetzt mit der CDU/CSU) einem Neun-Punkte-Katalog Europa ist den Bürgern nur näher zu bringen, wenn das Demokratiedefizit, das besonders im sensiblen Be- (Michael Glos [CDU/CSU]: Jetzt? Das sagen reich der Innen- und Justizpolitik besteht, abgebaut wird wir schon die ganze Zeit!) und wenn es nicht zunehmend zu unheilvollen Allianzen eine Art Conditio sine qua non aufzustellen, der erfüllt zwischen der Kommission und dem Rat kommt, werden müsse, damit zugestimmt werden könne. In die- (Dr. Werner Hoyer [FDP]: Wohl wahr!) sem Punkt setze ich ausnahmsweise auf Ministerpräsi- dent Stoiber, der signalisiert hat, dass er, auch wenn er in so wie das derzeit zum Beispiel bei der Weitergabe von einzelnen Punkten Bauchweh habe, letztendlich der eu- Passagierdaten von der Europäischen Union an die USA ropäischen Verfassung zustimmen wolle. Denn es ist, der Fall ist. wenn man den Anspruch erhebt, auf Bundesebene eine Ich erwarte von der Bundesregierung, dass sie die wichtige Stimme zu haben, unverzichtbar, dass man Entscheidung des Europäischen Parlaments von ges- nicht Blockierer der europäischen Verfassung ist. tern ernst nimmt. (Beifall bei der FDP, der SPD und dem (Beifall bei der FDP) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (B) (D) Das Europäische Parlament hat die derzeitige Fassung Die FDP begrüßt deshalb die Absichtserklärung, den des Übereinkommens und der Entscheidung über die Verfassungsentwurf möglichst bald, im Juni – je früher, Angemessenheit mit Mehrheit abgelehnt. Es hat gefor- desto besser –, zu verabschieden. dert, dass es zu Verhandlungen kommt. Die Kommission Aber lassen Sie mich ein Wort zu dem Thema sagen, ist anscheinend nicht aufgeschlossen und nicht bereit, das dank der Vorbereitung durch die Innenminister im das aufzugreifen. Aber der Rat hat es in der Hand. Wenn Mittelpunkt des Gipfels stand, nämlich die Terroris- Sie von der Bundesregierung Ihr Gewicht im Rat ein- musbekämpfung, die in der Europäischen Union hohe bringen, dann können Sie bewirken, dass darüber in Ein- Priorität hat. Wie war das Ergebnis dessen, was be- zelpunkten noch einmal verhandelt wird. Es geht nicht schlossen wurde? Typisch für Europa: Zu 90 Prozent um irgendeine exekutive Entscheidung, sondern um eine wurde gesagt, was man vor drei Jahren beschlossen ganz grundlegende Frage der Sicherheit der Bürgerinnen habe, müsse man jetzt endlich umsetzen. Drei Jahre da- und Bürger beim Vorgehen gegen Terrorismus, aber nach! Auch dort, wo man neue Wege gesucht hat, hat auch um wichtige Fragen des Datenschutzes. man einen Beschluss gefasst, der typisch für Europa ist: (Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne eine neue Stelle einzurichten, das Amt eines Antiterro- Kastner) rismuskoordinators. Dessen Kompetenzen und Aufga- ben sind allerdings vollkommen unklar, ebenso die Ab- Dieses Beispiel zeigt: Wenn das Parlament nicht ge- grenzung zum zuständigen Kommissar. stärkt wird, dann wird es künftig noch mehr Entschei- dungen geben, die wir Parlamentarier zur Kenntnis neh- Ich glaube, es wäre besser, sich auf die wichtigen men müssen, die wir dann vielleicht auch noch vertreten Dinge zu konzentrieren, auf den Informationsaustausch sollen, an denen aber kein Parlamentarier in der Sache unter Achtung des Trennungsgrundsatzes, wie wir ihn konstitutiv beteiligt gewesen ist. Das darf nicht die Zu- aus der Verfassung kennen, statt mit neuen Stellen eine kunft Europas sein. neue Unübersichtlichkeit zu schaffen, auch wenn der In- haber dieser Stelle ein sehr kompetenter, hervorragender (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Liberaler ist. Die FDP hält den Entwurf des EU-Konvents für ein Vielen Dank. akzeptables Ergebnis. Natürlich können wir uns an eini- gen Stellen Verbesserungen vorstellen. Wir haben das (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – auch hier im Parlament häufig und deutlich zum Aus- Michael Glos [CDU/CSU]: Sie hat den Stoiber druck gebracht. Nicht nur eine Stärkung des Europäi- gelobt!) 9224 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. April 2004

(A) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: war nicht nur von der Art, sondern auch was den Inhalt (C) Das Wort hat der Kollege Martin Dörmann, SPD- betrifft, der Sache in keiner Weise angemessen. Fraktion. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Martin Dörmann (SPD): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Sie haben ein Zerrbild von der Politik der Bundesregie- Kollegen! Das Jahr 2004 ist für die Europäische Union rung gezeichnet. Ich muss mich schon fragen, ob Sie von historischer Bedeutung, und das gleich in mehrfa- wirklich die Verfassung, also den Termin Mitte Juni, cher Hinsicht. Es geht um nichts Geringeres als die Iden- oder ob Sie nicht vielmehr den 13. Juni im Blick haben. tität und Perspektive Europas, die Handlungsfähigkeit Die emotionale Welle, die Sie zu Wahlkampfzwecken der EU und ihre Legitimation durch die Bürgerinnen und aufbauen wollen, wird ganz schnell wie ein Kartenhaus Bürger. zusammenbrechen. Eines steht fest: Am Ende des Jahres wird das europäi- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten sche Haus anders aussehen als zu Beginn. Mit der Er- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) weiterung um zehn Staaten zum 1. Mai wird eine unna- Am Ende – das sage ich Ihnen voraus – werden auch Sie türliche Trennmauer in Europa endgültig beseitigt. Die dieser vernünftigen Verfassung zustimmen. Ich kann der EU-Osterweiterung bietet große Chancen für eine Union nur raten, diese historische Chance nicht zu ver- friedliche und wirtschaftlich positive Entwicklung des passen. Kontinents, bei allen Herausforderungen, die damit ebenfalls verbunden sind. Auch und gerade im Bereich der inneren Sicherheit ist ein einiges Europa notwendiger denn je. Das haben (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ die verbrecherischen und menschenverachtenden Terror- DIE GRÜNEN) anschläge im März uns allen in erschreckender Weise in Erinnerung gerufen. Die Bekämpfung des Terrorismus Am 13. Juni geben die Europawahlen dem europäi- und die Verhinderung weiterer Anschläge ist eine der schen Haus einen neuen Anstrich und dem Parlament ganz zentralen Aufgaben in den nächsten Jahren. Die At- eine neue demokratische Basis. Ich denke, wir hoffen tentate von Madrid haben allen bewusst gemacht, dass es alle, dass die Regierungskonferenz Mitte Juni endlich auch in Europa keinen wirklich sicheren Ort mehr gibt, die europäische Verfassung als neues Dach für die EU in einer freien Gesellschaft wohl auch nicht geben kann. beschließen wird. Umso wichtiger ist es, alles Erforderliche zu tun, damit Die Staats- und Regierungschefs haben sich hierzu das Risiko für die Bevölkerung minimiert wird. (B) beim Frühjahrsgipfel in Brüssel ausdrücklich selbst ver- Die Mitgliedstaaten der Europäischen Union stehen (D) pflichtet. Die Chancen stehen also gut. Eine Einigung hier in einer besonderen Verantwortung für die Sicher- auf die Verfassung ist aber auch dringend notwendig; heit ihrer Bürgerinnen und Bürger. Die gemeinsame Be- denn nur sie kann gewährleisten, dass die größer gewor- drohung durch den Terrorismus hat die Europäer enger dene Europäische Union handlungsfähig bleibt und der zusammenrücken lassen. Doch wir dürfen nicht bei dem Integrationsprozess fortschreitet. Gefühl der gemeinsamen Betroffenheit stehen bleiben. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Es muss auch gehandelt werden. DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD) Vor allem wird die Verfassung dazu beitragen, die Es ist deshalb wichtig und notwendig, dass sich die Identifikation der Bürgerinnen und Bürger mit Europa Innenminister und Regierungschefs der Mitgliedstaaten zu festigen und noch zu steigern. Noch immer wird die schnell auf zusätzliche Maßnahmen geeinigt haben, um EU leider von zu vielen als ferne Bürokratie wahrge- der Bedrohungslage gerecht zu werden. Die SPD-Bun- nommen und in ihrer politischen wie wirtschaftlichen destagsfraktion begrüßt deshalb nachdrücklich die Er- Bedeutung eher unterschätzt. Durch die Verfassung wird klärung für eine stärkere Zusammenarbeit in der Ter- Europa demokratischer, transparenter und effizienter. rorismusbekämpfung, die vom europäischen Gipfel Es ist deshalb ermutigend, dass in der wichtigen, bis- beschlossen wurde. her umstrittenen Frage der doppelten Mehrheit bei (Beifall bei der SPD) Ratsentscheidungen ein Durchbruch gelungen ist. Alle sind nun bereit, dieses Prinzip mitzutragen. Die irische Der bereits verabredete Aktionsplan muss jetzt zügig Ratspräsidentschaft hat hier ganz hervorragend gearbei- umgesetzt und ergänzt werden. tet. Es ist aber sicher auch der klaren Verhandlungsstra- Die Informationswege werden weiter verbessert. In- tegie und der Überzeugungsarbeit der Bundesregierung formationen der Geheimdienste und der Polizei der Mit- und des Bundeskanzlers zu verdanken, wenn dieser ent- gliedstaaten sollen zukünftig miteinander verknüpft wer- scheidende Schritt in Richtung Verfassung gegangen den. Die Geheimdienste sollen nicht mehr eher werden kann. nebeneinander, sondern stärker miteinander arbeiten. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Die Einsetzung des Niederländers de Vries als EU- Koordinator für die Terrorismusbekämpfung darf dabei In diesem Zusammenhang ein Wort an den Kollegen aber nicht nur eine symbolische Geste sein. In der ge- Hintze. Herr Hintze, was Sie heute vorgetragen haben, genwärtigen Situation kommt es darauf an, dass alle re- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. April 2004 9225

Martin Dörmann (A) levanten Erkenntnisse und Aktionen auf EU-Ebene zu- Martin Dörmann (SPD): (C) sammengeführt werden. Bitte schön. Als wichtigen Schritt sehen wir dabei an, dass die im Verfassungsentwurf vorgesehene EU-Solidaritäts- Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP): klausel mit sofortiger Wirkung in Kraft gesetzt wurde. Sehr geehrter Herr Dörmann, Sie haben uns die Akti- Sie sieht unter anderem eine Verpflichtung zu gegensei- onen dargelegt, die beschlossen worden sind, um gegen tigem Beistand im Falle eines Terrorangriffs vor. Die den Terrorismus vorzugehen, was sehr interessant ist. Bürgerinnen und Bürger erwarten zu Recht, dass das eu- Meine Frage lautet: Sind Ihnen die Wörter „Daten- ropäische Haus so sicher wie möglich gemacht wird. Sie schutz“ und „Rechte des Einzelnen“ bekannt hätten kein Verständnis dafür, wenn bestehende Sicher- heitsmängel nicht beseitigt würden. Grenzüberschrei- (Uta Zapf [SPD]: Sie tut wieder so, als sei die tende Bedrohungen sind nur durch grenzüberschreitende FDP liberal!) Maßnahmen effektiv zu bekämpfen. und welchen Stellenwert nehmen sie in diesem Kontext (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Ihrer Meinung nach ein? des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Die Bundesregierung und die rot-grüne Regierungs- Martin Dörmann (SPD): koalition haben sich von Anfang an auf europäischer Frau Leutheusser-Schnarrenberger, ich bin sehr dank- Ebene für eine stärkere Zusammenarbeit und für ge- bar für diese Frage. Denn ich glaube, wir sollten ehrlich meinsame Institutionen und Handlungsmöglichkeiten miteinander umgehen. Wir alle wissen, dass im Bereich eingesetzt, gerade im Bereich der inneren Sicherheit und der inneren Sicherheit bei allen Maßnahmen, die wir der Justiz. Anfang März haben wir beispielsweise im dort zu treffen haben, insbesondere bei Maßnahmen, die Bundestag den europäischen Haftbefehl in Deutsch- dem Informationsaustausch dienen, zwei Dinge abzuwä- land auf den Weg gebracht, der allerdings – man höre – gen sind: die Gefährdung der Bürgerinnen und Bürger noch immer durch den Widerstand der Union im Bun- und die Maßnahmen, die notwendig sind, um diese Ge- desrat blockiert wird. fährdungen zu minimieren, auf der einen Seite und auf der anderen Seite die Rechte von Bürgerinnen und Bür- (Uta Zapf [SPD]: Pfui! – Günter Gloser gern im Bereich des Datenschutzes. Wir, die SPD-Frak- [SPD]: Hört! Hört!) tion, nehmen beides gleichermaßen ernst. Wir werden Wir könnten in manchem einen Schritt weiter sein, liebe uns vorbehalten, in jedem Einzelfall jede einzelne Maß- Kolleginnen und Kollegen von der Union, wenn Sie mit nahme daraufhin zu überprüfen, ob das eine dem ande- (B) Ihrer Mehrheit im Bundesrat Maßnahmen, die für die ren gegenüber gleichwertig ist oder überwiegt. Da, wo (D) Bürgerinnen und Bürger wichtig sind, nicht aus kleinli- wir ein klares Überwiegen feststellen, werden wir uns chen und nicht nachvollziehbaren Gründen, wie oftmals für diesen Weg entscheiden. Es kann sein, dass wir uns geschehen, blockieren würden. für den Datenschutz entscheiden. Es kann aber auch sein, dass wir uns im Einzelfall für größere Informati- (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das war onsmöglichkeiten entscheiden. gestern im Vermittlungsausschuss auch wieder so!) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Die Bekämpfung des Terrorismus ist jedoch nicht nur Sabine Leutheusser-Schnarrenberger [FDP]: eine Sache der Polizei und der Nachrichtendienste. Maß- Das hätten Sie sofort sagen können und nicht nahmen der inneren Sicherheit mögen Anschläge verhin- erst auf Nachfrage!) dern. Sie beseitigen jedoch nicht ohne weiteres die Basis des Terrorismus. Richtig ist deshalb die verabredete Ver- – wenn ich es sofort gesagt hätte, wäre es von meiner besserung der Terrorismusprävention. Darüber hinaus Redezeit abgegangen. geht es aber auch darum, die gemeinsame Sicherheits- und Außenpolitik der Union weiter nach vorne zu brin- Das europäische Haus hat bereits starke Funda- gen. mente. Doch noch sind nicht alle Mauern und Zimmer fertig gestellt; manches ist noch im Bau und im Werden. (Beifall bei der SPD) Gerade die letzten Wochen haben aber zusätzliche Hoff- nung geweckt, dass ein stabiles Gebäude entsteht, in Es gibt leider zu viele politische Probleme und Kon- dem sich die Bewohner sicher und wohl fühlen können. flikte, durch die die Terroristen einen gefährlichen Nähr- Wenn es gelingt, sich in den nächsten Monaten auf eine boden für ihre Aktivitäten gewinnen können, der ihr europäische Verfassung zu einigen, wird endlich das ge- Agieren erst möglich macht. Deshalb muss die Europäi- meinsame Dach fertig gestellt. Lassen Sie uns alle – ich sche Union noch stärker als bisher als politischer Akteur betone: alle – daran mitwirken, den Menschen mehr Si- handlungsfähig werden, um erfolgreich an der Vorbeu- cherheit und Rechte für eine gute und friedliche Zukunft gung und Lösung von Konflikten mitwirken zu können. in Deutschland und in Europa zu geben! Vielen Dank. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Kollegin Leutheusser-Schnarrenberger? DIE GRÜNEN) 9226 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. April 2004

(A) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: und Betrieben in diesen Regionen in den nächsten Wo- (C) Nächster Redner ist der Kollege Dr. Gerd Müller, chen helfen? CDU/CSU-Fraktion. Der Außenminister glänzt durch Abwesenheit. (Gert Weisskirchen [Wiesloch] [SPD]: Herr (Michael Glos [CDU/CSU]: Das ist auch das Hintze, Sie sollten die letzte Rede einmal mit Einzige, womit er glänzen kann!) Ihrer Rede vergleichen!) Der Gipfel Dr. Gerd Müller (CDU/CSU): (Günter Gloser [SPD]: Der Gipfel ist die Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir Rede!) freuen uns, dass die Regierungsfraktionen aufwachen, wenn auch die Regierungsbank verwaist ist. Weil ich hat sich auch mit dem Kosovo, mit Afghanistan und Bundesminister Eichel auf der Regierungsbank sehe, Russland beschäftigt. Aus aktuellem Anlass möchte ich möchte ich an den Europäischen Rat anknüpfen. In den kurz darauf Bezug nehmen. Wir sind nicht der Meinung, Schlussfolgerungen des Europäischen Rates steht der be- dass die Antwort auf die Frage nach der Zukunft Afgha- merkenswerte Satz: nistans nur lauten kann: mehr Geld und mehr Soldaten. Wir fragen nach dem politischen Konzept, aber der Au- Die wirtschaftliche Erholung, die im zweiten Halb- ßenminister hat keines. jahr 2003 in Europa eingesetzt hat, schreitet voran. Bezüglich des Kosovos müssen wir nach fünf Jahren Europa schreitet wirtschaftlich voran, aber nicht fragen: Herr Minister Struck, liegt die Lösung der dorti- Deutschland. Herr Eichel, wie fühlt man sich, wenn man gen Probleme in der Verdoppelung oder gar in der Ver- von der Lokomotive zum Wachstumsbremser der Ge- dreifachung des Kontingents der eingesetzten Soldaten, meinschaft wird? Es ist beschämend, dass Deutschland die Sie jetzt angeordnet haben? Kann der Einsatz von innerhalb der EU von Platz drei auf Platz 13 zurückge- immer mehr Geld die Antwort sein? Dass dies der rich- fallen ist. tige Weg ist, wage ich zu bezweifeln. Müssen wir uns (Michael Glos [CDU/CSU]: Glückszahl!) nach fünf Jahren nicht eher die Frage stellen, wie wir die Hilfsorganisationen besser koordinieren können? Sollten Im UN-Ranking sind wir zwischenzeitlich von Platz 8 wir nicht eher der Frage der Multiethnizität im Kosovo auf Platz 18 abgestiegen. Rot-Grün hat dieses Land in auf den Grund gehen? die Abstiegszone geführt. Auch die Russlandstrategie der Europäischen Union (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- stand auf der Tagesordnung. Es lohnt sich wirklich ein- (B) neten der FDP – Michael Glos [CDU/CSU]: mal, ein solches Dokument zu lesen. Vermutlich hat das (D) Leider wahr!) kein Regierungschef getan. Das Problem dabei ist: Die Menschen zahlen dafür die (Günter Gloser [SPD]: Nur Müller!) Zeche. Das Paradoxe dieser Gipfel ist, dass die Dokumente zur Wir stehen kurz vor der Osterweiterung; dies ist eine Schlusserklärung Wochen vorher von Beamten vorberei- der letzten Europadebatten des Bundestages vor diesem tet und den Regierungschefs zugeleitet werden. Darin Termin. Es ist kläglich, in welch geringem Maße die Re- steht tatsächlich – zynisch – der Glückwunsch des Euro- gierungsbank besetzt ist. päischen Rates an Präsident Putin zu seiner Wiederwahl. Der Rat gratuliert dem Präsidenten nicht nur zur Wieder- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und wahl, sondern begrüßt den Aufbau eines Mehrparteien- der FDP) systems in Russland und die Anstrengungen, die Presse- Wir blicken mit Freude auf die Osterweiterung. Der freiheit zu gewährleisten. vergangene Europäische Rat war – abgesehen vom for- Meine Damen und Herren, wer weiß, unter welchen mellen Vollzug und vom Feiern der Osterweiterung – Umständen die Wahl in Russland stattgefunden hat, der vermutlich der letzte vor der Osterweiterung. weiß auch, dass das der blanke Zynismus ist. Wir hätten Wir sehen mit Sorge auf die damit verbundenen Pro- ein kritisches Wort zur Gefährdung der Demokratie, der bleme. Große Sorge bereitet uns die Verlagerung der Be- Pressefreiheit und der Menschenrechte in Russland er- triebe, insbesondere in den Grenzregionen. Auf der Be- wartet. suchertribüne sitzen Freunde aus Leuchtenberg und (Uta Zapf [SPD]: Da klatschen nicht einmal Weiden – das sind Orte im bayerisch-tschechischen die eigenen Leute!) Grenzgebiet. Ich denke an die Weidener Erklärung von Bundeskanzler Schröder, in der er vor einem Jahr ausge- Ich komme nun auf den Terrorismus in Europa zu führt hat, wie er die Osterweiterung im thüringischen sprechen. Es gab viele Bekundungen, und Aktionen und und bayerischen Grenzgebiet managen will. Nichts da- Programme wurden beschlossen, aber wir haben bis von ist eingehalten worden. Diese Bundesregierung hat heute keine operativen integrierten Strukturen. Auch die- kein Konzept, sie weiß nicht, wie sie die Probleme der ser Europäische Rat ist darüber nicht hinausgekommen. Osterweiterung im Grenzbereich managen soll. Es hat mich sehr beeindruckt, als Bundesinnenminis- Wir haben ein hohes Steuer-, Förder- und Lohnge- ter Schily darauf hinwies, dass es inzwischen in Deutsch- fälle. Wo sind die Vorschläge, wie wir den Menschen land sage und schreibe 160 Gremien gibt, in denen die in- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. April 2004 9227

Dr. Gerd Müller (A) nere Sicherheit koordiniert wird. Mit der Einsetzung des Rainder Steenblock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (C) europäischen Terrorismusbeauftragten haben wir das NEN): 161. Gremium geschaffen, das wir beschicken können. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Aber auch damit schaffen wir nicht mehr Sicherheit. Angesichts der historischen Dimension der Inhalte die- ser Debatte frage ich mich schon, welche strategischen Zum Verfassungsvertrag: Wir wollen den Verfas- Implikationen die Beiträge der Opposition heute haben. sungsvertrag, aber wir wollen ihn nicht um jeden Preis. Ich kann nur sagen: Wie gut, dass Sie in diesem Lande Der Kollege Hintze hat unsere Kernpunkte bereits ange- keine Verantwortung tragen. sprochen. Wir fordern, dass die Bundesregierung unsere Position in den nächsten Wochen in die Verhandlungen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN einbringt. Die Bundesregierung braucht die Opposition und bei der SPD) zur Ratifizierung und deshalb erwarten wir, dass unsere Schauen wir uns an, was Sie heute hier geboten ha- Forderungen ernst genommen und eingebracht werden. ben: In der Debatte über die europäische Verfassung Erstens. Wir wollen mehr Föderalismus statt Zentra- werden einfach Punkte aneinander gereiht. Wir sind uns lismus. Natürlich stehen wir der vorgesehenen Kompe- doch darin einig, dass die Erweiterung der EU und die tenzausweitung in Politikfeldern, in denen wir eigentlich Vertiefung der europäischen Beziehungen die zentralen national handeln müssten, kritisch gegenüber. Aufgaben sind, die wir gemeinsam lösen müssen. Wir befinden uns jetzt in der entscheidenden Phase der Ge- Der Kollege Hintze hat einen zweiten zentralen Punkt staltung der Verfassung. Dann mit einem Neun-Punkte- herausgestellt. Wir unterstützen die Bundesbank in ih- Katalog zu kommen und die ganze Debatte noch einmal rer Forderung, am Verfassungsziel der Preisstabilität und aufnehmen zu wollen zeugt von Parteipolitik bezogen der Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank fest- auf den EU-Wahlkampf. Das zeugt aber nicht von der zuhalten. Das sind die zwei Kernpunkte der Maastricht- Wahrnehmung deutscher Interessen für Europa in die- Stabilitätsordnung. Unter diesen Bedingungen haben wir sem Prozess. Sie machen Parteipolitik, wir gestalten die D-Mark in den Euro überführt. Wenn Sie diese zwei Europa. Das ist der Unterschied. Punkte jetzt mit dem Verfassungsvertrag auflösen, ist das ein Anschlag auf die Stabilitätsordnung in Europa. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Sie haben die ganze Latte vom christlichen Abend- Sabine Leutheusser-Schnarrenberger [FDP] – land bis zum Türkeibeitritt noch einmal runtergebetet. Günter Gloser [SPD]: Was heißt „wir“? Wer Lieber Kollege Hintze, Sie wissen ganz genau, dass die hat den Vertrag denn entworfen?) Frage des Türkeibeitritts in Ihrer Fraktion nicht so ein- (B) (D) Sie können die Forderungen der Bundesbank und der deutig beantwortet wird, wie Sie das heute dargestellt Opposition an diesem Punkt nicht einfach beiseite schie- haben; sicherlich auch mit Blick auf die CSU, um sie mit ben und zur Tagesordnung übergehen. im Boot zu haben. Sie wissen, dass Herr Rühe, Herr Polenz und andere aus Ihrer Fraktion sehr vernünftige Das Streben nach einer Entparlamentarisierung der Vorstellungen dazu entwickelt haben. europäischen Politik zeigt sich in dieser Verfassungsde- batte. Deshalb fordern wir – der Kollege Hintze hat dies Gerade die Türkeiproblematik zu benutzen, um sich bereits angesprochen; wir werden dies in der Föderalis- von der Vertiefungsdebatte zu verabschieden, halte ich muskommission und an anderer Stelle einbringen – in nicht nur hinsichtlich Ihrer Verantwortung für schwierig. Zukunft ein maßgebliches Mitwirkungsrecht für den Vielmehr deckt sich das auch in der Sache nicht mit Deutschen Bundestag in der europäischen Sekundär- dem, was ansteht. Sie wissen das ganz genau. Die Si- rechtsetzung. Es kann nicht sein, dass Brüssel an den na- cherheitspolitik der EU ist ein zentrales Thema, das ver- tionalen Parlamenten vorbei Recht setzt, das unsere Bür- tieft werden muss. Die GASP wird eine entscheidende ger vor Ort beschwert, und wir nur noch ein Rolle spielen. Die Sicherheitspolitik der EU mit der Tür- Feuerwehrparlament sind, das die Dinge im Nachhinein kei vertiefend zu gestalten ist angesichts der globalen zur Kenntnis nimmt. Herausforderungen, vor denen wir gerade in Europa ste- hen, natürlich eine Chance. Damit könnten wir insbeson- Blickt man nach Spanien, Skandinavien, Polen oder dere eine gemeinsame Antwort auf die Herausforderun- Portugal, merkt man: Diese Europäische Union ist im gen geben, vor die uns der Terrorismus stellt. Der Umbruch und im Aufbruch. Lethargie, Problemstau und Türkeibeitritt bietet die Chance, die europäische Außen- miese Stimmung herrschen nur in Deutschland. Dafür und Sicherheitspolitik zu vertiefen. Wir wollen die Rah- gibt es nur eine Lösung: Ihre Ablösung. menbedingungen streng formulieren. Das haben wir im- mer gesagt. Aber wir sehen in diesem Prozess Chancen. Herzlichen Dank. Für diese Chancen engagieren wir uns. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN neten der FDP) und bei der SPD) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich würde gerne Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: noch mit einem anderen Vorurteil aufräumen, das heute Nächster Redner ist der Kollege Rainder Steenblock, wieder angesprochen wurde. Ich meine die Ausführun- Bündnis 90/Die Grünen. gen zum Thema christliches Abendland. Ich weiß, dass 9228 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. April 2004

Rainder Steenblock (A) man sich in diesen Debatten sehr schnell verzettelt. Aber und Geheimdienste ausgebaut. Der Datenschutz wird (C) wenn es vor dem Hintergrund all der ideologischen Aus- preisgegeben und die Rolle des Parlaments geschwächt. einandersetzungen, die heute – auch im Bezug auf den Das alles steht im Widerspruch zum Verfassungsprozess. Islam – geführt werden, um den Wert der Toleranz geht, Er ging mit mehr Transparenz und Demokratie schwan- dann plädiere ich dafür, das nicht auf das christliche ger. Nun droht uns dort eine Fehlgeburt. Umso mehr be- Abendland zu begrenzen. grüße ich es, dass das EU-Parlament gestern den Handel persönlicher Passagierdaten mit den USA moniert hat. Unsere europäische Kultur – damit haben die Grie- Ich finde, wir sollten heute Abend die Chance ergreifen, chen angefangen – ist durch den Wert demokratischer der Bundesregierung mit dem FDP-Antrag auch einen Entscheidungsstrukturen gekennzeichnet, was auch mit entsprechenden Verhandlungsauftrag zu geben, um die- Toleranz und Akzeptanz von Unterschiedlichkeit ver- sen Fehler zu korrigieren und ihre Zustimmung zur bunden ist. Wäre es nicht das Morgenland gewesen, das Übermittlung sensibler Daten zurückzuziehen. die griechische Kultur wieder nach Europa gebracht hätte, wüsste ich nicht, wo wir mit unseren Kulturbegrif- Die deutschen Unionsparteien wollen der Europäi- fen heute stehen würden. schen Union noch immer einen Gottesbezug verordnen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Die PDS will das nicht. Im Übrigen, liebe Kolleginnen und bei der SPD) und Kollegen, frage ich mich: Was würde ein Gottesbe- zug an der sozialen Schieflage ändern, die mit der so ge- Deshalb plädiere ich sehr dafür, die Debatte über Tole- nannten Lissabon-Strategie verfolgt wird? Überhaupt: ranz tolerant und aufgrund von Wissen um die Ge- Es klingt ja mächtig und gewaltig, wenn die EU bis 2010 schichte Europas zu führen. zur stärksten Wirtschaftsregion der Welt entwickelt wer- den soll. Es nützt nur wenig, wenn dabei immer mehr Vielen Dank. Bürgerinnen und Bürger verarmen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Aus all diesen Gründen teile ich den Optimismus, der auch heute gelegentlich unter dieser Kuppel schwebte, nicht. Auch außerhalb dieses Hauses herrscht Skepsis. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Schauen wir also mal: Am 13. Juni wird ein neues EU- Das Wort hat die Kollegin Petra Pau. Parlament gewählt. Die PDS tritt als proeuropäische Par- tei für soziale Gerechtigkeit und gegen eine Militärunion Petra Pau (fraktionslos): an. Das ist unsere Linke, eine wählbare Alternative. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! (Günter Gloser [SPD]: Wir sind keine Militär- (B) Wir leben in der Europäischen Union. Die EU wird am (D) union, Frau Pau!) 1. Mai dieses Jahres um zehn neue auf insgesamt 25 Staaten erweitert. Allein dies sind gute Gründe, die EU modern zu verfassen. Allerdings wird die künftige Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: EU-Verfassung nur dann eine gemeinsame sein, wenn Das Wort hat der Kollege Dr. Martin Schwanholz, auch alle EU-Bürgerinnen und -Bürger darüber abstim- SPD-Fraktion. men. In vielen Ländern wird das so sein, ausgerechnet in Deutschland nicht. CDU und CSU waren immer dage- gen. SPD und Grüne sprachen sich lange dafür aus. In- Dr. Martin Schwanholz (SPD): zwischen ist Rot-Grün in das Unionslager gewechselt. Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Ich finde, das schwächt die Demokratie, anstatt sie zu Kollegen! Auf der Tagung des Europäischen Rates im stärken. Die PDS im Bundestag bleibt bei ihrer Forde- März 2000 in Lissabon haben sich die europäischen rung: Volksabstimmung über die EU-Verfassung! Staats- und Regierungschefs das fürwahr ehrgeizige Ziel gesetzt, die Europäische Union bis zum Jahr 2010 zum Die Verfassung selbst ist ein Kompromiss, ein um- dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der strittener zudem. Vor einem Vierteljahr kam der Prozess Welt zu machen. Vier Jahre später fällt die Bilanz des ins Stocken. Ein EU-Gipfel scheiterte. Nun, nach dem bisher Erreichten jedoch eher ambivalent aus. Regierungswechsel in Spanien und dem Einlenken Po- lens, ist die Debatte wieder offener. Aber viele Probleme Die vor dem Frühjahrsgipfel von der Kommission bleiben. Ich habe hier schon vor einer Woche gesagt, vorgelegten Strukturindikatoren machen deutlich, dass dass Sie meine grundsätzliche Kritik an der zunehmen- das Reformtempo der Europäischen Union – Herr den Militarisierung der Politik kennen. In der künfti- Staatsminister Bury hat es schon erwähnt – vehement gen Verfassung wurde sie sogar als Pflicht festgeschrie- beschleunigt werden muss, wenn die Lissabon-Ziele bis ben. Als Reaktion auf diesen Satz rief der Abgeordnete 2010 tatsächlich erreicht werden sollen. Deshalb haben Joseph Fischer dazwischen: „Genau so ist es!“. Herr die Staats- und Regierungschefs in der vergangenen Wo- Fischer ist im Ehrenamt Grüner und im Nebenberuf che in Brüssel deutliche Prioritäten gesetzt, nämlich ers- Außenminister. Er muss es also wissen. Die PDS lehnt tens die Schaffung von Arbeitsplätzen und zweitens die eine Militarisierung der EU nach wie vor ab. stärkere Förderung eines umweltverträglichen Wirt- schaftswachstums. Diese beiden Bereiche sollen bis zur Mit ähnlichen Sorgen sehen wir aktuelle Entwicklun- Halbzeitevaluierung der Lissabon-Strategie auf dem gen in der künftigen EU-Innenpolitik. Unter der Über- Frühjahrsgipfel 2005 im Fokus der Kraftanstrengungen schrift „Terrorbekämpfung“ werden Bürgerrechte ab- der Mitgliedstaaten stehen. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. April 2004 9229

Dr. Martin Schwanholz (A) Wir Sozialdemokraten begrüßen diese Schwerpunkt- Die Beschäftigungsquote der Frauen blieb 2002 kon- (C) setzung ausdrücklich; sie bestärkt uns darin, unsere Re- stant bei 58,8 Prozent und liegt damit über dem EU-15- formpolitik fortzusetzen. Mit der Agenda 2010 haben Durchschnitt von 55,6 Prozent. Das reicht uns aber noch wir nämlich schon im vergangenen Jahr die Weichen in nicht. Deshalb haben wir 4 Milliarden Euro zur Verfü- die richtige Richtung gestellt. gung gestellt, um die Ganztagsbetreuung in Deutschland zu verbessern. Das wird viel mehr Frauen die Möglich- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ keit eröffnen, am Berufsleben teilzunehmen; das ist für DIE GRÜNEN) uns eine wichtige Maßnahme. Die Europäische Kommission nennt in diesem Zusam- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ menhang die Gesetze Hartz I bis Hartz IV: so zum Bei- DIE GRÜNEN) spiel die Einrichtung von Jobzentren zur Verbesserung Alles in allem erreichen wir in Deutschland schon der Arbeitsvermittlung sowie die Arbeitsplatzschaffung heute eine Gesamtbeschäftigungsquote von annähernd durch niedrige Steuersätze und Sozialversicherungsbei- 66 Prozent. Würden wir die auf europäischer Ebene fest- träge bei den Minijobs. Die Botschaft, die von diesem gelegten Kriterien zur Messung der Beschäftigungsquote Frühjahrsgipfel ausgeht, ist auch die Botschaft der Poli- heranziehen, erreichten wir mit über 69 Prozent schon tik dieser Regierungskoalition und der sie tragenden heute fast das Lissabon-Ziel von 70 Prozent. Damit be- Fraktionen. wegen wir uns also auf einer Linie mit den zentralen Zie- Im Bereich der Beschäftigungspolitik haben die len der europäischen Beschäftigungspolitik im Rahmen Staats- und Regierungschefs vergangene Woche in Brüs- der Lissabon-Strategie. Für Deutschland als wichtigstes sel vier Herausforderungen hervorgehoben: erstens den Industrieland der Europäischen Union ein starkes Stück Abbau von Lohnnebenkosten, zweitens die Steigerung Deutschland um es einmal so zu auszudrücken. der Attraktivität des Arbeitsmarktes für mehr Menschen, (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ drittens die Erhöhung der Qualität der Beschäftigung DIE GRÜNEN) und viertens die Ausweitung der Investitionen in Hu- mankapital. Wir sind in Deutschland bereits einen wich- Allerdings reichen die Anstrengungen in den Mit- tigen Schritt weiter. Wir haben viele Schritte unternom- gliedstaaten nicht aus, um die Lissabon-Ziele zu errei- men, um die Anreize zur Aufnahme einer Beschäftigung chen; wir alleine können das nicht. Auch auf europäi- zu erhöhen, allerdings ohne dabei das hohe Sozial- scher Ebene müssen sich die Rahmenbedingungen für schutzniveau in unserem Land aufzugeben – wie ich mehr Beschäftigung und Wachstum ändern. So darf es finde, eine bemerkenswerte Leistung. nicht mehr sein, dass bestimmte Gesetze für europäische Unternehmen einen solchen bürokratischen Mehrauf- (B) (D) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ wand verursachen, dass Kosten in einer Höhe entstehen, DIE GRÜNEN) die ihre Wettbewerbsfähigkeit in der globalisierten Welt beeinträchtigen. Damit muss endlich Schluss sein, meine Wir haben mit der Reform des Gesundheitssystems Damen und Herren. den Abbau der Lohnnebenkosten eingeleitet und wir nehmen es ernst mit der Vision einer europäischen Wis- Daher ist es zu begrüßen, dass der Europäische Rat sensgesellschaft, wie sie in der Lissabon-Strategie veran- der Kommission auf diesem Frühjahrsgipfel ins Stamm- kert ist. Deshalb haben wir in den vergangenen fünf Jah- buch geschrieben hat, wie wichtig die Weiterentwick- ren die Ausgaben für Bildung und Forschung um mehr lung des Instruments der Gesetzesfolgenabschätzung als 25 Prozent auf über 9 Milliarden Euro im Jahr 2003 ist. Nur wenn in Zukunft genau evaluiert wird, welche Auswirkungen ein Gesetzesvorhaben auf die europäi- erhöht. Wir werden diese wichtigen Ausgaben weiter er- sche Industrie und Wirtschaft hat, wird die Wettbewerbs- höhen. Denn eines ist klar: Der europäische Wirtschafts- fähigkeit des Standorts Europa gewährleistet und dem raum ist nur dann langfristig konkurrenzfähig, wenn wir Risiko einer Deindustrialisierung entgegengewirkt wer- unseren Bürgerinnen und Bürgern die Möglichkeit ge- den können. Wir sind hier auf dem richtigen Weg. Im ben, sich auf einem hohen Niveau zu qualifizieren und Jahr 2003 wurden circa 20 Prozent der Gesetzesvorla- sich ein Leben lang fortzubilden. gen, die unter diese Gesetzesfolgenabschätzung fielen, Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir in Deutschland einer Überprüfung unterzogen; im Jahr 2004 werden es haben unsere Hausaufgaben gemacht; das bestätigt uns über 50 Prozent sein. Auf diesem Gebiet werden wir also auch die Kommission in ihrem „Entwurf des gemeinsa- einen Schritt vorankommen. men Beschäftigungsberichts 2003/2004“. Durch die Po- Neben einer besseren Rechtsetzung müssen jedoch litik der Bundesregierung wurden beispielsweise – ich auch die Rahmenbedingungen für die europäische In- zitiere aus dem „Entwurf des gemeinsamen Beschäfti- dustrie insgesamt überprüft werden. Unser Bundeskanz- gungsberichts 2003/2004“ – „neue Arbeitsanreize ge- ler Gerhard Schröder, Staatspräsident Chirac und Pre- schaffen für ältere Arbeitskräfte und für Arbeitskräfte mierminister Blair haben dies schon mehrfach gefordert. am unteren Ende der Lohnskala“. Das ist eines der we- Erfreulicherweise hat der Europäische Rat die Anregun- sentlichen Probleme, die wir in Deutschland haben. Die gen der drei Staats- bzw. Regierungschefs berücksichtigt Beschäftigungsquote der älteren Arbeitnehmer ist bei und bekräftigt in seinen Schlussfolgerungen, „dass Wett- uns bisher auf immerhin 38,4 Prozent angewachsen und bewerbsfähigkeit, Innovation und die Förderung einer wird weiter anwachsen, wenn unsere Reformen erst ein- Kultur des Unternehmertums maßgebliche Vorausset- mal ihre volle Wirkung entfalten. zungen für Wachstum sind“. Vor diesem Hintergrund 9230 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. April 2004

Dr. Martin Schwanholz (A) wird die Kommission – auch auf Wunsch der Bundesre- (Zuruf von der CDU/CSU: Richtig!) (C) gierung – bis April einen Bericht vorlegen, der konkrete Maßnahmen zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit der Dieses vernichtende Urteil stammt nicht von irgendei- europäischen Industrie nennt. nem böswilligen Kommentator. Es stammt von niemand anderem als dem Außenminister, dem für Außenpolitik Meine Damen und Herren, wir wissen, dass ein hohes zuständigen Mitglied dieser Bundesregierung, in einem europäisches Beschäftigungsniveau sowie der Erhalt des Interview mit der „FAZ“ vom 6. März dieses Jahres, ge- europäischen Sozialmodells nur dann erreichbar sind, nau fünf Tage vor dem verheerenden Anschlag von wenn es uns gelingt, sowohl durch eine bessere Recht- Madrid. setzung auf europäischer Ebene – dies klang heute schon an – als auch durch die Förderung unternehmerischer In- (Zuruf von der CDU/CSU: Hört! Hört!) novationen Wettbewerbsfähigkeit und Produktivität in Herr Staatsminister Bury, mich interessiert, ob der Bun- der Europäischen Union zu steigern. desaußenminister mit dieser Aussage die offizielle Posi- Wir sind uns bewusst, dass die europäischen Staaten tion der Bundesregierung wiedergegeben hat oder ob es, heute, zu Beginn des 21. Jahrhunderts, vor großen He- wie üblich, die Privatmeinung des Bundesaußenminis- rausforderungen im wirtschaftlichen, aber auch im au- ters war. ßen- und, wie eben gehört, sicherheitspolitischen Be- Darüber hinaus würde mich, wenn die Analyse von reich stehen. Dasselbe gilt für das Projekt einer Herrn Fischer stimmt, interessieren, was sich in der Zwi- europäischen Verfassung. Die Geschichte hat uns ge- schenzeit geändert hat. Welche Schlussfolgerungen ha- lehrt, dass die Europäische Union immer nur dann einen ben wir aus dem Anschlag von Madrid denn gezogen? großen Schritt vorangekommen ist, wenn alle an einem Die Antwort ist ernüchternd, aber eindeutig: eigentlich Strang gezogen haben. nichts. Darüber täuschen auch der kurzzeitige Aktionis- Ich fasse zusammen: Die Europäische Union braucht mus, das Sondertreffen der Innenminister und der Euro- Schwung, keine Frage. Wir Sozialdemokraten haben den päische Rat vom letzten Wochenende nicht hinweg. Schwung. Wir machen das gemeinsam mit unseren euro- Auf diesem Europäischen Rat wurde eine Solidari- päischen Partnern. tätsklausel beschlossen. Wir haben in den vergangenen Vielen Dank. Tagen die Bundesregierung mehrfach gefragt, was denn die konkrete politische, juristische und praktische Be- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ deutung dieser Solidaritätsklausel ist. Nichts gegen Soli- DIE GRÜNEN) darität, aber ich frage mich schon, was nach dem An- schlag von Madrid anders gewesen wäre, wenn wir diese (B) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Klausel zu dem Zeitpunkt schon gehabt hätten. Ich habe (D) Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Peter keinen Vertreter der Bundesregierung gefunden, der im- Altmaier, CDU/CSU-Fraktion. stande gewesen ist, diese einfache Frage zu beantworten. Herr Staatssekretär Körper, Frau Ministerin Zypries, Peter Altmaier (CDU/CSU): wenn Sie diese Frage beantworten können, würde ich Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe mich sehr freuen, wenn Sie das dem Deutschen Bundes- Kolleginnen und Kollegen! Das Ergebnis des Europäi- tag erklären könnten. schen Rates vom letzten Wochenende bestätigt einen de- (Beifall bei der CDU/CSU) primierenden Befund: Zweieinhalb Jahre nach dem ver- heerenden Anschlag des 11. September und drei Wochen Auf diesem europäischen Gipfel wurde auch ein euro- nach dem schrecklichen Anschlag von Madrid verfügen päischer Koordinator für die Terrorismusbekämp- weder die Europäische Union noch die Bundesregierung fung bestellt. Das ist löblich. Ich kenne den Kollegen de über eine nachvollziehbare, adäquate und wirksame Vries aus dem Konvent. Er ist persönlich und fachlich Strategie gegenüber der wachsenden Bedrohung durch hervorragend geeignet. Aber wenn Sie die großartigen den Terrorismus. Ankündigungen hören, dann müssen Sie sich doch fra- gen, was dieser Koordinator für Terrorismusbekämpfung (Beifall bei der CDU/CSU) eigentlich bewirken wird. Die eigentliche Spaltung der EU begann am (Günter Gloser [SPD]: Er formuliert gerade 12. September 2001. Wir stellten fest, dass die eu- den Terrorismus!) ropäischen Nationen entsprechend ihren alten nati- onalen Reflexen handelten. Ich zitiere aus den Schlussfolgerungen des Ratsvorsit- zes: ... dass die Europäer sich nach einem Angriff auf ih- ren wichtigsten Partner sofort zusammengesetzt Der Koordinator koordiniert die Arbeiten des Rates und eine strategische Analyse angestellt hätten, das zur Terrorismusbekämpfung und behält unter ge- ist nicht geschehen. Wir waren nicht dialogfähig, bührender Berücksichtigung der Befugnisse der wo wir es hätten sein müssen, als die Konflikte auf- Kommission alle der Union zur Verfügung stehen- brachen, was dann definitiv in der Irakkrise der Fall den Instrumente im Auge, damit er dem Rat regel- war. Das mangelnde strategische Bewusstsein bei mäßig Bericht erstatten und ein wirksames Vorge- uns führte zur mangelnden strategischen Dialogfä- hen aufgrund von Ratsbeschlüssen gewährleisten higkeit mit dem Partner Amerika. kann. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. April 2004 9231

Peter Altmaier (A) (Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Bürokratie sicht ist ja löblich. Das Ergebnis ist aber, dass alle ande- (C) pur!) ren – die Briten, die Franzosen und die Spanier – ihre Forderungen formuliert haben und dass wir inzwischen Ich bin davon überzeugt, dass der internationale Terro- absehen können, dass es 20 bis 30 Änderungen im Ent- rismus nicht gerade erschüttert sein wird angesichts der wurf des Konvents geben wird. Die Bundesregierung Entschlossenheit der Europäischen Union und ihrer Mit- war nicht imstande, diese negativen Änderungen zu ver- gliedstaaten bei ihrem Vorgehen. hindern, weil sie in diesem Verhandlungsprozess nicht (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- aktiv mit einem eigenen Konzept vorgegangen ist. neten der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ich glaube, mit Worthülsen alleine werden wir den Der wahrscheinlich kläglichste Teil des Gipfels – des- Kampf gegen den Terrorismus nicht gewinnen. Die Bür- halb ist darüber öffentlich auch nur wenig gesprochen ger erwarten von Europa zu Recht nicht nur ein Mehr an worden – war die Debatte zur Lissabon-Strategie. Der Papier, sondern einen echten Mehrwert. Kollege Schwanholz hat auf das Problem hingewiesen. Wir werden den Kampf auch nicht gewinnen – das ist Zur Halbzeit des gemäß der Lissabon-Strategie vorgese- ein Appell an das Bundesinnenministerium –, indem wir henen Zeitplans sind wir dem Ziel, das wir uns gesetzt versuchen, mit den veralteten Mitteln des Intergouverne- haben, nicht näher gekommen. Die Lücke zu den erfolg- mentalismus vorzugehen. Ich verhehle nicht, dass ich reichsten Regionen der Welt hat sich weiter vergrößert. persönlich Bedenken bekommen habe, als ich gelesen habe, dass die fünf großen Mitgliedstaaten der Europäi- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: schen Union – Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Herr Kollege, Sie müssen jetzt zum Ende kommen. Italien und Spanien – eine Arbeitsgruppe zur Bekämp- fung des Terrorismus eingerichtet haben. Ich bin der Meinung, dass sich der Terrorismus nicht per definitio- Peter Altmaier (CDU/CSU): nem auf diese fünf Staaten begrenzen lassen wird. Was Frau Präsidentin, ich komme zu meinen letzten Sät- tun Sie denn, wenn Terroristen die Beneluxstaaten, Por- zen. tugal oder Irland als Ausgangsbasis wählen und von dort Dafür gibt es einen Grund, nämlich die Politikunfä- aus operieren? higkeit der Bundesregierung und ihre Schwäche beim In diesem Fall kommt es zum ersten Mal dazu, dass es Versuch, im innenpolitischen Bereich, also in den Berei- einen exklusiven Kreis von Staaten gibt – das haben wir chen Wirtschaft, Finanzen und Soziales, für Wachstum alle immer abgelehnt –, die eine Zusammenarbeit orga- zu sorgen. Mit jedem Tag, den wir durch Sie unseren ei- (B) nisieren, die für die anderen Staaten nicht offen steht. Sie genen Wachstumszielen nicht näher kommen und den es (D) haben die anderen Staaten wie die Beneluxstaaten nicht Ihnen nicht gelingt, einen Aufschwung herbeizuführen, einmal gefragt, ob sie bereit sind mitzumachen. Das ha- machen wir es der Europäischen Union schwerer, ihre ben Sie noch nicht einmal bei dem berühmten „Pralinen- ursprünglichen Ziele zu erreichen. Deshalb wäre ein Po- gipfel“ getan. Eine solche Strategie wird in der Europäi- litikwechsel hier bei uns auch eine gute Entscheidung für schen Union Misstrauen und Spannungen erzeugen. die gesamte Europäische Union. Die Alternative ist, wie ich glaube, klar: Wir müssen (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – im Rahmen der Gemeinschaftsstrukturen dafür sorgen, Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das war dass wir auch im Bereich der Innen- und Justizpolitik sehr schlicht, Herr Altmaier! – Dr. Martin vernünftige föderale Strukturen aufbauen mit einer star- Schwanholz [SPD]: Warum blockieren Sie im ken Europäischen Kommission und einem Europäischen Vermittlungsausschuss wichtige Reformen?) Parlament, das die Kommission kontrolliert und die Union damit nach außen handlungsfähig macht. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ich schließe die Aussprache. Meine Damen und Herren, wir alle hoffen, dass wir Ich rufe Tagesordnungspunkt 5 auf: bis zum Ende der irischen Präsidentschaft den Verfas- Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- sungsvertrag verabschieden werden. Wir haben ge- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Reform meinsam mit Ihnen an vernünftigen Lösungen gearbei- des Sanktionenrechts tet. Aber ich sehe mit Sorge – das verhehle ich nicht –, dass seit dem Beginn der Regierungskonferenz über den – Drucksache 15/2725 – Verfassungsvertrag in vielen einzelnen Punkten nachver- Überweisungsvorschlag: handelt worden ist. Dadurch ist er nicht besser, sondern Rechtsausschuss (f) schlechter geworden, auch unter dem Gesichtspunkt, Innenausschuss was wir für das europäische Interesse, die Handlungsfä- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die higkeit und die Demokratie in Europa erreichen können. Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen, wobei die FDP fünf Minuten erhalten soll. – Ich höre keinen Die Verhandlungsstrategie der Bundesregierung ist Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. daran nicht ganz unschuldig. Sie haben gesagt: Wir stel- len keine Forderungen, wir wollen nicht nachverhandeln Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Bundes- und wir wollen das Paket beieinander halten. Die Ab- ministerin der Justiz, Brigitte Zypries. 9232 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. April 2004

(A) Brigitte Zypries, Bundesministerin der Justiz: Es kann also aus diesen, aber auch aus anderen Gründen (C) Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und durchaus sinnvoll sein, einen Täter nicht aus seinem so- Herren! Mit dem heute zu beratenden Entwurf eines Ge- zialen Umfeld und Arbeitsumfeld herauszureißen, son- setzes zur Reform des Sanktionenrechts setzen wir ein dern nach anderen Lösungen zu suchen. weiteres Zeichen für eine vernünftige und sachorien- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ tierte Kriminalpolitik. DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Jerzy Montag Das gilt auch und gerade für solche Gefangene, die [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) eine Ersatzfreiheitsstrafe verbüßen müssen, die also eine Seit Mitte der 80er-Jahre hat es schon viele Initiativen Geldbuße nicht bezahlen können. Sie sitzen ja nicht des- zur Umgestaltung des strafrechtlichen Sanktionensys- halb ein, weil die Richterin oder der Richter meinte, dass tems gegeben. Bereits in der 10. Legislaturperiode gab unter Schuld- und Präventionsgesichtspunkten eine Ver- es erste Initiativen dazu. Der Juristentag 1992 hat sich urteilung, ein Einsitzen erforderlich ist. Gerade bei die- sodann damit befasst und Beschlüsse gefasst. In der sen Gefangenen stellt sich die Frage: Warum können sie 12. und 13. Legislaturperiode legte die SPD-Fraktion ihre Schuld nicht abarbeiten und damit innerhalb der Ge- entsprechende Gesetzentwürfe in diesem Hause vor. sellschaft einen Beitrag leisten, statt auf Kosten der Län- Schließlich hat das Bundesjustizministerium zur Zeit der der ihre Strafe im Gefängnis abzusitzen? Regierung Kohl eine Kommission zur Reform des straf- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ rechtlichen Sanktionensystems eingesetzt. Diese legte DIE GRÜNEN) im März 2000 ihren Abschlussbericht vor. Teile davon sind bereits in der letzten Legislaturperiode in einen er- Aus diesen Erwägungen heraus wollen wir die in neuten Gesetzentwurf eingegangen, der allerdings nicht mehreren Bundesländern bereits bestehende Möglichkeit zu Ende beraten werden konnte. zum – schlagwortartig formuliert – „Schwitzen statt Sit- zen“ einheitlich im Bundesrecht verankern und als pri- Mit dem Ihnen nun vorliegenden Gesetzentwurf neh- märe Ersatzstrafe ausbauen. Ich meine, dass man über men wir im Wesentlichen die Vorschläge in dem Gesetz- einen sinnvollen Einsatz gemeinnütziger Arbeit bei den entwurf der letzten Legislaturperiode auf. Darüber hi- Personen nachdenken kann, die zu einer kurzen Frei- naus sehen wir darin Möglichkeiten zur Ersetzung kur- heitsstrafe bereits verurteilt worden sind; denn bei Wie- zer Freiheitsstrafen durch gemeinnützige Arbeit vor. derholungstaten der geringeren Kriminalität kann eine Nun wissen wir alle, dass auch der heute zu beratende unabwendbare Freiheitsstrafe gleichwohl noch zu scharf Gesetzentwurf auf erhebliche Vorbehalte im Bundesrat sein. Damit fände genau das nicht statt, was ich mit ei- gestoßen ist und dass wir bezüglich der Vielfältigkeit der nem gestuften Sanktionensystem gemeint habe. Hier (B) (D) Sanktionsmöglichkeiten im Vergleich zu den anderen wollen wir die Möglichkeit eröffnen, eine unbedingte europäischen Ländern ganz hinten liegen. Deshalb sei Freiheitsstrafe quasi als Warnung zu verhängen, dem Tä- die Frage gestattet, ob sich Deutschland einer Reform ter aber gleichwohl die Chance geben, durch gemeinnüt- des Sanktionenrechts wirklich grundsätzlich verschlie- zige Arbeit ebendiese Freiheitsstrafe abzuwenden. ßen darf. Neben diesem Gesichtspunkt wollen wir den Gerich- (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- ten mehr Gestaltungsspielraum bei der Wahl der Sanktio- NEN]: Richtig!) nen eröffnen und deshalb das Fahrverbot zu einer Hauptstrafe ausbauen und es von jetzt drei Monaten auf Ich meine, das wäre angesichts der Tatsache, dass die dann sechs Monate verlängern. Das Fahrverbot – das Bundesländer immer wieder über überfüllte Haftanstal- wissen wir alle – trifft so manchen Täter härter als eine ten klagen, kaum verständlich. Geldstrafe, insbesondere dann, wenn er über ein erkleck- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ liches Einkommen oder Vermögen verfügt. Wir werden DIE GRÜNEN) außerdem aus der bisherigen Verwarnung mit Strafvor- behalt in § 59 StGB eine Verurteilung mit Strafvorbehalt Ich denke, dass wir den Spielraum der Gerichte er- machen und auch diese Sanktionen ausbauen. Diese Ver- weitern müssen, um im Bereich der Kleinkriminalität urteilung muss mit Auflagen oder Weisungen verbunden und der mittelschweren Kriminalität auch anders auf die werden, die der Tat und dem Täter entsprechen. Wir er- Straftäter einwirken zu können. Deshalb ermöglicht es möglichen so, wie wir meinen, eine bessere Resozialisie- unser Entwurf der Justiz, auf Straftaten künftig flexibler rung. und effektiver zu reagieren. Das ist dringend erforder- lich; denn die Zahl der Gefangenen steigt ständig. 1993 (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ waren es noch rund 37 000 Personen, die zur Verbüßung DIE GRÜNEN) von Freiheitsstrafen inhaftiert waren. Zehn Jahre später, Das weitere Ziel dieses Gesetzentwurfes ist, noch im Jahre 2003, waren es schon 55 000 Personen, also mehr für die Opfer von Kriminalität zu tun. Wir haben 18 000 Gefangene mehr. im Bundestag bereits verschiedene Gesetze verabschie- In unseren Gefängnissen verbüßen außerdem von det, die die Stellung der Opfer insgesamt stärken, und Jahr zu Jahr mehr Menschen eine so genannte Ersatzfrei- auch kürzlich das Opferrechtsreformgesetz auf den Weg heitsstrafe, weil sie eine Geldstrafe nicht bezahlen konn- gebracht. Wir wollen jetzt auch im Sanktionenrecht den ten. Hier stiegen die Zahlen in dem genannten Zehnjah- Gedanken der Wiedergutmachung der Schäden stärker in reszeitraum von knapp 1 800 auf rund 3 500 Gefangene. den Vordergrund rücken. Deswegen ist vorgesehen, dass Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. April 2004 9233

Bundesministerin Brigitte Zypries (A) der Staat von seinem Anspruch auf Eintreibung einer Ich habe aus dieser Presseerklärung den Eindruck ge- (C) Geldstrafe zurücktritt, wenn das Opfer ansonsten keinen wonnen, dass vielleicht viele Länder Sorge haben, wir Ersatz durch den Täter erhalten würde. Auf gut Deutsch: wollten in ihr bestehendes System der Organisation von Wenn die Mittel des Täters zu gering sind, erhält zu- Haftstrafen eingreifen. Das wollen wir natürlich gar nächst einmal das Opfer sein Geld. Erst dann kann der nicht. Das ist nicht das Bestreben der Bundesregierung. Staat seine Forderung nach einer Geldstrafe erheben. Im Gegenteil: Sie wissen, dass wir all das unterstützen, Wir meinen, dass die Interessen der Opfer wichtiger als was sachgerechte und gute Ergebnisse bringt. Uns geht die des Staates und seiner Gerichtsbarkeit sind. es lediglich darum, zum einen diejenigen Länder zu er- muntern, auch solche Verfahren einzuführen, die das bis- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ her noch nicht oder nur in einem sehr geringen Maße DIE GRÜNEN) tun. Zum anderen geht es uns auch darum, Richterinnen Zur Wahrung von Opferinteressen gehört auch, dass und Richtern deutlich zu machen, dass es einen Spiel- die Einrichtungen, die sich speziell um Opfer kümmern, raum gibt, um Sanktionen zu finden, die der jeweiligen finanziell besser ausgestattet werden. Vereine der Opfer- Täterpersönlichkeit angemessen sind. hilfe – das ist hier schon häufig betont worden – leisten (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ einen wichtigen Beitrag für unsere Gesellschaft und ins- DIE GRÜNEN) besondere für die betroffenen Opfer. Denn die Zielgruppe unserer Reform sind – ich möchte (Beifall des Abg. Siegfried Kauder [Bad Dürr- nicht, dass darüber ein Irrtum entsteht – die kleineren heim] [CDU/CSU]) Straftäter, die kleineren Wiederholungstäter wie Laden- diebe oder mehrfache Schwarzfahrer, aber keine – Das ist wahr, Herr Kauder, und Sie ganz besonders. Schwerverbrecher. Wir wollen nicht, dass Schwerverbre- cher „schwitzen statt sitzen“. Unser Gesetzentwurf sieht deshalb vor, dass künftig 5 Prozent einer Geldstrafe einer Einrichtung der Opfer- Ich meine, dass unsere Reform ein ausgewogenes hilfe zugewiesen werden sollen. Damit sind wir der Kri- Konzept bietet, damit Richterinnen und Richter bei der tik des Bundesrates bereits entgegengekommen. Sie wis- Wahl der Sanktionen besser als bisher auf den Einzelfall sen, dass der Entwurf in der letzten Legislaturperiode eingehen können. Das sollten wir alle im Sinne einer noch 10 Prozent für die Opferhilfe vorsah. Die Länder vernünftigen Strafrechtspflege wollen. lehnen aber aus rein fiskalischen Erwägungen auch diese (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ 5 Prozent ab, weil ihnen dann die Einnahmen aus der DIE GRÜNEN) Geldstrafe entgehen. (B) (D) Ich habe bei der Beratung im Bundesrat signalisiert, Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: dass wir bereit sind, über andere Lösungsformen nach- Nächster Redner ist der Kollege Siegfried Kauder, zudenken, um zu vermeiden, dass die Opferverbände CDU/CSU-Fraktion. gänzlich leer ausgehen. Denn es kann nicht sein, dass diese entweder 5 Prozent oder gar nichts bekommen. Siegfried Kauder (Bad Dürrheim) (CDU/CSU): Wir müssen kreativ an eine Lösung herangehen und Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! überlegen, wie man das sonst regeln kann. Insofern bitte Sehr geehrte Frau Justizministerin! Der Gesetzentwurf ich Sie herzlich, auch durch Ihre Beratungen im Rechts- ist eine Sammlung aus dem Kuriositätenkabinett. ausschuss mitzuhelfen, im Interesse der von uns allen gewollten verbesserten Situation der Opfer zu Lösungen (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE zu kommen. GRÜNEN]: Sie haben vorhin doch ge- klatscht!) Ich will nicht verhehlen, dass ich die Einwände des Bundesrates hinsichtlich der Kosten der gemeinnützi- Nicht nur, dass das Sanktionensystem, das aus einem gen Arbeit nicht nachvollziehen kann. fein abgestuften Gebäude besteht, aufgebrochen wird, es wird regelrecht verkehrt und auf den Kopf gestellt. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/ (Ernst Kranz [SPD]: Sie haben doch vorhin DIE GRÜNEN]: Die sind auch nicht nachzu- geklatscht!) vollziehen!) – Beifall, wo Beifall angemessen ist. Mehr als einmal klatschen war bei dieser Vorstellung nicht drin. Kürzlich hat Sachsen-Anhalt dargetan, dass mehr als 96 000 Hafttage allein in Sachsen-Anhalt durch Ableis- (Beifall bei der CDU/CSU – Hans-Christian tung von Ersatzfreiheitsstrafen durch gemeinnützige Ar- Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Im- beit eingespart wurden. merhin!) (Hans-Joachim Hacker [SPD]: Aha!) Lassen Sie mich das an einem Beispiel erklären. Die Brüder A und B fahren nach einem geselligen Zusam- Das wurde unter Zugrundelegung des reinen Verpfle- mensein jeder in seinem Fahrzeug betrunken nach gungsgeldes auf 200 000 Euro und unter Zugrundele- Hause. Sie fahren in eine Fußgängergruppe hinein. Bei gung der realen Haftkosten auf 7,2 Millionen Euro hoch- Bruder A hat das schlimme Folgen; er fährt einen Men- gerechnet. schen tot. Bei Bruder B wird ein Mensch nur verletzt. 9234 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. April 2004

Siegfried Kauder (Bad Dürrheim) (A) (Zuruf von der SPD: Ein ganz schlechtes verbüßen müssen. – Nein! Denn Bruder A – durch einen (C) Beispiel!) Verteidiger gut beraten, Herr Kollege Ströbele – sagt dem Richter: Ich bin gerne bereit, den Schaden wieder- Der Richter reagiert maßvoll. Bruder B, der einen gutzumachen, und biete ein Schmerzensgeld an. Die Menschen nur verletzt hat, erhält eine Freiheitsstrafe von erste Rate habe ich schon überwiesen. – Nach dem Wil- drei Monaten, die zur Bewährung ausgesetzt wird. Er len von Rot-Grün würde der Richter darauf erwidern: Na muss 150 Stunden gemeinnützige Arbeit ableisten, was schön, die Schadenswiedergutmachung geht vor. Deswe- er auch tut. gen kannst du den Schaden wiedergutmachen und ge- Bei Bruder A sieht es anders aus. Er hat einen Men- meinnützige Arbeit leisten; du musst nicht ins Gefängnis schen zu Tode gebracht. Zur Verteidigung der Rechts- gehen. ordnung hält es der Richter für geboten, dass dieser Bru- Wie geht es aber dem anderen Bruder, der weit weni- der eine Freiheitsstrafe von drei Monaten ohne ger kriminelle Energie aufgebracht hat? Bei ihm ist nur Bewährung bekommt. ein Mensch verletzt worden. Bei Bruder A ist ein (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Mensch tot und einer verletzt. Wissen Sie, was mit NEN]: Wo kriegt er so eine Strafe?) Bruder B passiert? – Er fährt vier Monate ins Gefängnis ein, und zwar aus folgendem Grund: Die gegen ihn ver- Nun sollte man vermuten, dass Bruder A die Haft- hängte Freiheitsstrafe von zwei Monaten kann er nicht in strafe verbüßen muss. Das muss er aber nicht. Wenn es Form von gemeinnütziger Arbeit ableisten, weil er ein nach den Vorstellungen von Rot-Grün geht, kann er Wiederholungstäter ist und keinen Schaden wiedergut- nämlich, weil er Ersttäter ist, diese Haftstrafe abarbeiten, machen kann. Er verbüßt die zwei Monate auch voll, und zwar in Form von gemeinnütziger Arbeit, die er weil nach § 57 Abs. 1 Nr. 1 Strafgesetzbuch bei einer auch leistet. Freiheitsstrafe von zwei Monaten keine Aussetzung des (Abg. Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE Strafrestes nach Verbüßung von zwei Dritteln der ver- GRÜNEN] meldet sich zu einer Zwischen- hängten Strafe möglich ist. Bei seiner ersten Strafe, die frage) zur Bewährung ausgesetzt wurde, wird die Bewährung widerrufen. Davon sitzt er zwei Drittel ab. Zwei Drittel – Ich möchte erst mein Beispiel zu Ende führen, Herr von drei Monaten sind – das kann jeder schnell nach- Kollege Montag. rechnen – zwei Monate. Jetzt ziehen wir eine Zwischenbilanz. Bruder A, der Derjenige, der eine geringere kriminelle Energie auf- eine Freiheitsstrafe hätte absitzen müssen, ist nach dem gebracht hat, sitzt also insgesamt vier Monate ab, ohne (B) Ableisten der gemeinnützigen Arbeit lastenfrei; denn die dies abwenden zu können, während derjenige, der die (D) Strafe ist verbraucht. höhere kriminelle Energie an den Tag gelegt hat, davon- Bei Bruder B sieht es anders aus. Er hat zwar auch ge- kommt, ohne die Strafe verbüßen zu müssen. Frau Mi- meinnützige Arbeit geleistet, aber er nimmt eine Bürde nisterin, da halte ich es mit Frau Dr. Merkel: Was sinn- in Form einer Freiheitsstrafe von drei Monaten zur Be- voll ist, machen wir mit. Was nicht sinnvoll ist, tragen währung mit in die Zukunft. wir nicht mit.

Beide Brüder haben darüber hinaus das gleiche Pro- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: blem: Sie haben wegen ihrer Verurteilung keinen Führer- schein mehr. Sie fahren aber ohne Fahrerlaubnis weiter. Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Bruder B wird dabei erwischt. Der Richter sagt: Das Kollegen Montag? kann doch nicht wahr sein; er hat wohl nichts dazuge- (Joachim Stünker [SPD]: Das muss doch nicht lernt. – Nun bekommt Bruder B eine Freiheitsstrafe von sein, Herr Montag! – Weiterer Zuruf von der zwei Monaten ohne Bewährung zur Einwirkung auf ihn SPD: Dann redet der noch länger!) und zur Verteidigung der Rechtsordnung.

Wie es der Teufel will, Siegfried Kauder (Bad Dürrheim) (CDU/CSU): (Zuruf von der SPD: Fritz Teufel oder wer? – Bitte schön. Erwin?) fährt auch Bruder A weiterhin ohne Führerschein. Dies- Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): mal fährt er einen Fußgänger an, der zum Glück nicht Kollege Kauder, das ist ein Beispiel aus Absurdistan. stirbt, sondern nur verletzt wird. Welche Folgen hat das Ich frage Sie, ob Ihnen bekannt ist, dass der Letzte, der für Bruder A? angeklagt war, weil er betrunken Auto gefahren ist und (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE dabei einen Menschen totgefahren hat und mit einer klei- GRÜNEN]: Halbes Jahr!) nen Freiheitsstrafe davonkam, der bayerische CSU-Mi- nister Wiesheu war und dass danach in der Bundesrepu- Er hatte die erste Freiheitsstrafe abgearbeitet; sie ist ver- blik Deutschland keine Freiheitsstrafen von drei braucht. Damals waren es drei Monate ohne Bewährung. Monaten mehr ausgesprochen worden sind, wenn je- Jetzt müssen es fünf Monate ohne Bewährung sein. Nun mand im Straßenverkehr alkoholisiert einen Menschen wird Bruder A sicherlich endlich einmal seine Strafe totgefahren hat? Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. April 2004 9235

(A) Siegfried Kauder (Bad Dürrheim) (CDU/CSU): gefährden, einen Bonus bekommt. Eine ähnliche gesetz- (C) Herr Kollege Montag, ich bin dankbar für Ihre Zwi- liche Vorschrift gibt es bereits. Nach § 459 a der Straf- schenfrage. Sie dokumentiert nämlich, dass Sie dem Pro- prozessordnung können Opfer vor Gericht die Zurück- blem nicht auf den Grund gehen, sondern versuchen, mit stellung der Eintreibung der Geldstrafe beantragen, bis Einzelfallbeispielen rechtliche Grundsätze auszuhebeln. Schadenersatz geleistet ist. Von dieser Möglichkeit wurde auch Gebrauch gemacht. Aber Sie wollen diese (Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Vorschrift ersatzlos streichen. Dafür soll der Täter einen DIE GRÜNEN – Hans-Christian Ströbele Bonus bekommen. Er darf den Schaden wiedergutma- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was haben chen, was auf die Geldstrafe angerechnet wird. Damit Sie denn gerade gemacht? Sie haben das falsch privilegieren Sie Straftäter gegenüber jedem anderen verstanden!) Schuldner. Das wollen und werden wir nicht mitmachen. Wenn Sie mir die grundsätzliche Problematik erläutern (Beifall bei der CDU/CSU) können, höre ich Ihnen im Ausschuss gerne zu. Aber das, was Rot-Grün vorgelegt hat, ist Absurdistan. Hier- Frau Ministerin, Sie reden so locker und lässig von für könnte ich Ihnen noch weitere Beispiele nennen. – „schwitzen statt sitzen“ und weisen darauf hin, dass die Vielen Dank. Gefängnisse voll seien. Sie vertreten hier auf einmal Landesinteressen; denn der Vollzug der Strafe ist Län- (Beifall bei der CDU/CSU – Wilhelm Schmidt dersache und nicht Bundessache. Es kann doch wohl [Salzgitter] [SPD]: Nicht einmal die Antwort nicht sein, dass man der Bevölkerung sagt: Wir können haben sie gegeben!) Straftäter ihre Strafe nicht verbüßen lassen, weil die Ge- Nun komme ich auf das zu sprechen, bei dem ich der fängnisse voll sind. Dann muss man dort etwas regeln. Justizministerin Beifall gezollt habe. Es ist gut – das soll (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE im Übrigen auch europäischer Standard werden –, dass GRÜNEN]: Die Länder müssen etwas re- ein Teil der Geldstrafen den Opferschutzorganisatio- geln!) nen zur Verfügung gestellt werden soll. Aber, Frau Jus- tizministerin, Sie wissen genau, dass das eine Luftnum- Frau Ministerin, Sie weichen aus. Statt „sitzen“ soll mer ist; denn die Länder werden nicht zustimmen. gemeinnützige Arbeit geleistet werden. So viele Vereine, wie Sie dafür brauchen, können Sie gar nicht gründen. (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE Nicht nur ich, sondern wahrscheinlich auch viele von Ih- GRÜNEN]: Dafür müssen Sie sorgen!) nen sind Vorsitzende von gemeinnützigen Vereinen und Ich hätte mir gewünscht, dass die Ministerin strategisch kennen die Last für die Vereine, wenn sie gemeinnützige (B) vorgegangen wäre. Wenn man mit leerem Tornister zu Arbeit ableisten lassen. Das ist ein riesengroßer Verwal- (D) armen Ländern reist, deren Kassen leer sind, dann wird tungsaufwand, der von ehrenamtlich Tätigen erwartet man mit einer Maßnahme, die den Ländern einen Ein- wird. Diese sind aber nicht verpflichtet, den staatlichen nahmeausfall von 20 Millionen Euro beschert, wohl Strafanspruch durchzusetzen. Sie müssen mir einmal er- kaum auf offene Ohren stoßen. Sie haben einen Trumpf klären, wie ein Verein mit einer fünfmonatigen Freiheits- im Ärmel gehabt, den Sie aber verspielt haben. Das Kos- strafe, die durch gemeinnützige Arbeit abgeleistet wer- tenrechtsmodernisierungsgesetz spült nicht zulasten des den soll, umgehen soll. Ein Tag Freiheitsstrafe sind Bundes, sondern zulasten der Kostenschuldner bei Ge- sechs Stunden gemeinnützige Arbeit. Bei fünf Monaten richtsverfahren 111 Millionen Euro in die Kassen der sind das 900 Stunden gemeinnützige Arbeit, von denen Länder. Ich hätte erwartet, dass eine kluge Ministerin zwei Drittel binnen 18 Monaten abgeleistet werden müs- dies als Manövriermasse in ihrem Tornister mitnimmt sen. Erklären Sie mir bitte einmal, welcher Verein das und den Ländern sagt: Wir stimmen dem Entwurf leisten soll! eines Kostenrechtsmodernisierungsgesetzes, das euch Zusammenfassend: Der Gesetzentwurf hat nur we- 111 Millionen Euro einbringt, zu, wenn ihr wenigstens nige vernünftige Ansätze. Wir sind zwar bereit, diese 20 Millionen Euro für die Entschädigung der Opfer von mitzutragen. Aber Sie können von uns nicht verlangen, Straftaten zur Verfügung stellt. Aber diese Chance haben Unsinn zu unterstützen. Sie verspielt. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU – Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das (Beifall bei der CDU/CSU) Geld müssen die Länder doch schon an den Rechtsanwalt Kauder ausschütten!) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Im Übrigen instrumentalisieren Sie in der Debatte Das Wort hat der Kollege Jerzy Montag, Bündnis 90/ über den vorliegenden Entwurf die Opferinteressen. Die Grünen. (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Un- Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): glaublich! – Gegenruf von der CDU/CSU: Ja, finde ich auch!) Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Reform des Sanktionenrechts ist dringend Sie wollen, dass ein Straftäter, der die gegen ihn ver- notwendig. Frau Bundesjustizministerin hat darauf hin- hängte Geldstrafe nicht bezahlen kann, ohne den An- gewiesen, wie viele Jahre in diesem Hause über eine spruch des Opfers auf Schadenswiedergutmachung zu solche Reform nachgedacht worden ist und dass es der 9236 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. April 2004

Jerzy Montag (A) Vorgängerregierung, die viele Jahre regiert hat, nicht ge- gen Tagen habe ich davon gehört, wie in Baden- (C) lungen ist, mehr als nur Reden zu halten, zu einem Württemberg auf der Grundlage dieser Öffnungsklausel schlüssigen Konzept zu kommen und den Entwurf eines angeblich vorgegangen wird: Derjenige, der eine Geld- Gesetzes zur Reform des Sanktionenrechts vorzulegen. strafe nicht zahlt und gegen den eine Ersatzfreiheits- strafe verhängt wird, rückt ein; wenn er am ersten Tag Der jetzt vorliegende Entwurf ist Ausdruck unserer des Vollzugs der Ersatzfreiheitsstrafe die Hälfte der fortschrittlichen, in die Zukunft gerichteten Rechtspoli- Strafe bezahlt, dann wird ihm die andere Hälfte erlassen. tik. Ich muss Ihnen sagen: Das ist allerdings keine moderne (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Form des Umgangs mit diesem Thema. und bei der SPD – Widerspruch bei Abgeord- (Beifall beim BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN neten der CDU/CSU) und bei der SPD) Sie bedauern ja fortwährend, Sie hätten nichts zu tun und es rege sich in der Rechtspolitik wenig. Jetzt haben Sie Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: etwas Konkretes auf dem Schreibtisch liegen; daran kön- Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des nen Sie sich abarbeiten. Es ist ein Beispiel für das, was Kollegen Kauder? wir unter einer fortschrittlichen Reform in der Rechts- politik verstehen. Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (Siegfried Kauder [Bad Dürrheim] [CDU/ Gerne. CSU]: Gnade uns Gott!) Das Erwachsenenstrafrecht im Bereich der kleinen Siegfried Kauder (Bad Dürrheim) (CDU/CSU): und der mittleren Kriminalität ist einfach zu unflexibel. Herr Kollege Montag, sind Sie mit mir einig, dass Es ist notwendig, dass wir dieses Instrument in den Hän- sich aus Ihren Ausführungen ein Wertungswiderspruch den der Strafrichterinnen und Strafrichter flexibler ma- zu Ihrer Zwischenfrage ergibt? Haben Sie mir nicht vor- chen. Warum ist das so? Die Bevölkerung in der Bun- hin vorgehalten, es gebe in Deutschland heutzutage kei- desrepublik Deutschland wächst nicht. Auch die nen Richter mehr, der für eine Trunkenheitsfahrt drei Kriminalität in der Bundesrepublik Deutschland wächst Monate Freiheitsstrafe ohne Bewährung verhänge? Ge- nicht. Nur die Anzahl der Strafgefangenen wächst dra- rade haben Sie mir erzählt, dass es in Deutschland sogar matisch. bei Beleidigungen kurzfristige Freiheitsstrafen geben (Otto Fricke [FDP]: Weil sich die Art der Kri- soll. minalität wandelt!) (B) (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE (D) Das hängt nicht mit der Quote der Aufklärung durch die GRÜNEN]: Ersatzfreiheitsstrafen, Herr Kol- Polizei zusammen, sondern damit, dass wir das Straf- lege! Das ist ein Unterschied!) recht fortwährend verschärfen und keine Möglichkeiten haben, in einer anderen Art und Weise auf diejenigen tat- Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): sächlich einzuwirken, die eine Verfehlung begangen ha- Herr Kollege Kauder, Sie haben meine Zwischenfrage ben und deswegen auch eine Ahndung vonseiten des offensichtlich nicht verstanden Staates zu spüren bekommen sollen. (Zuruf von der SPD: So ist es!) Eine Freiheitsstrafe unter sechs Monaten sollte ei- gentlich eine Ausnahme sein. und Sie haben das, was ich eben gesagt habe, nicht ver- standen. Mir fehlt die Zeit, Ihnen das noch einmal aus- (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist doch so!) führlichst zu erklären. Nur so viel: Wenn Sie Tötungen Sie ist es aber nicht. Die Bundesjustizministerin im Straßenverkehr, seien sie auch fahrlässig begangen, sagte hier in einer Fragestunde zu diesem Thema – ich mit Beleidigungen auf eine Stufe stellen zitiere –: (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Das Gegenteil Im letzten Jahr gab es beispielsweise 144 Fälle, in hat er gemacht!) denen die Bestraften wegen Beleidigung zu einer und sich dann darüber mokieren, dass das – angeblich – Freiheitsstrafe von knapp sechs Monaten ohne Be- gleich bzw. ungleich bestraft wird, dann geht das wirk- währung verurteilt worden sind. lich haarscharf an der Sache vorbei, lieber Herr Kollege Das bisherige Muster ist zu kleinmaschig. Es sieht Kauder. folgendermaßen aus: Geldstrafe, bei Unmöglichkeit der (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Zahlung sofort Ersatzfreiheitsstrafe. Dadurch werden und bei der SPD – Siegfried Kauder [Bad Tausende von Menschen mit Ersatzfreiheitsstrafen in Dürrheim] [CDU/CSU]: Ihr Beispiel liegt den Strafvollzug geschickt. Dorthin kämen sie nicht, doch von der Qualität her sogar noch niedri- wenn wir den Richtern ein vernünftiges Instrument gä- ger!) ben, das diesen Schritt verhindert. – Ich habe Ihre Frage beantwortet. Es gibt in diesem Fall für die Länder eine Öffnungs- klausel. Wir meinen, dass diese Öffnungsklausel das (Lachen bei der CDU/CSU – Zuruf von der CDU/ nicht erreicht hat, was sie erreichen sollte. Erst vor eini- CSU: Herr Montag hat sich bemüht!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. April 2004 9237

Jerzy Montag (A) Herr Kollege Kauder, ich will Ihnen Folgendes sagen: Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (C) Weder Ihre Kritik von heute, die sich auf die Darstellung Herr Kollege, schauen Sie bitte auf die Uhr. eines tatsächlich absurden Falles beschränkt, noch die Kritik, die der rechtspolitische Sprecher Ihrer Bundes- Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): tagsfraktion zum Gesetzesvorschlag zur Reform des Ich komme zum Schluss. – Man muss ferner gegen- Sanktionenrechts geäußert hat, setzt sich sachlich mit rechnen, dass der Staat die Opferhilfeverbände auch dem auseinander, was konkret vorgeschlagen wird. Herr sonst subventionieren und unterstützen müsste. Das alles Dr. Röttgen, Ihr rechtspolitischer Sprecher, hat zu die- müssen Sie in Ruhe gegenrechnen. Wenn Sie das tun, sem Gesetzentwurf gesagt – ich darf zitieren –: dann können wir mit den Ländern in ein konstruktives Inhalt dieses Gesetzentwurfs ist eine Verharmlo- Gespräch treten und dann werden wir die Länder davon sung und Aufweichung staatlicher Sanktionierung überzeugen können, dass dieser Entwurf auch ihnen kriminellen Verhaltens. nützt und außerdem für eine moderne Strafrechtspflege und für eine moderne Kriminalitätspolitik genau das Jetzt dürfen Sie pflichtgemäß klatschen, Richtige ist. (Ilse Falk [CDU/CSU]: Müssen wir aber Danke schön. nicht!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Dr. Wolfgang Götzer aber ich sage Ihnen: Eine inhaltsleerere Kritik als die, [CDU/CSU]: Herr Montag, das war heute die sich Ihr rechtspolitischer Sprecher da geleistet hat, nicht Ihr Tag!) kann es angesichts eines Entwurfs mit vielen ganz kon- kreten Änderungsvorschlägen zum bisher begrenzten Sanktionensystem überhaupt nicht geben. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Nächster Redner ist der Kollege Dr. Volker Wissing, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN FDP-Fraktion. und bei der SPD – Siegfried Kauder [Bad Dürrheim] [CDU/CSU]: Wir haben es mit In- (Beifall bei der FDP) halt gefüllt!) Dr. Volker Wissing (FDP): Wir schauen nach dem, was Sie eigentlich konkret Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! vorschlagen, und finden null Komma null. Seit Jahren Die FDP begrüßt eine Reform unseres strafrechtlichen schlagen Sie Folgendes vor: höhere Strafen, immer mehr Sanktionensystems. Die Frage ist nur: Wie soll diese Re- (B) Repression, Strafe als Zerstörung und nicht als Reinte- form aussehen? Angesichts der langjährigen Diskussion, (D) grationsmöglichkeit und als Hilfe für ein zukünftig straf- die über dieses Thema geführt worden ist, ist der vorge- freies Leben. legte Regierungsentwurf mehr als enttäuschend. (Siegfried Kauder [Bad Dürrheim] [CDU/ (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten CSU]: Das ist eine Unverschämtheit von Ih- der CDU/CSU) nen, Herr Kollege! – Unruhe bei der CDU/ Sie wollen es Straftätern ermöglichen, Geldstrafen CSU) durch gemeinnützige Arbeit abzuarbeiten. Dagegen ist Der letzte Vorschlag von Ihnen lautete: Erhöhung der Ju- nichts einzuwenden. „Schwitzen statt sitzen“ ist eine gendhöchstfreiheitsstrafe von zehn auf 15 Jahre. Alles, gute Idee. Die Länder haben solche Modelle längst ein- was Sie uns anbieten, ist von gestern, ist keine moderne geführt. Sie werden dort erfolgreich praktiziert und ha- Rechtspolitik. ben sich bewährt. Das alles ist nichts Neues, Frau Bun- desjustizministerin. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Joachim Stünker [SPD]: Nur nicht bei Ersatz- und bei der SPD) freiheitsstrafe!) Zu der Länderkritik an unseren Vorschlägen, die den Trotzdem ist Ihr Entwurf einmalig. Opfern und den Opferhilfeverbänden zugute kommen sollen, will ich in allem Ernst nur Folgendes sagen – das (Zuruf von der SPD: Das stimmt!) hat die Bundesregierung auch wortwörtlich in ihrer Ge- Sie führen nämlich den Dreistundenarbeitstag in genäußerung geschrieben –: Die Länder, der Staat, ha- Deutschland ein. Sie wollen, dass ein Tagessatz Geld- ben keinen Anspruch auf Geldstrafen. – Im Sinne eines strafe künftig mit drei Stunden Arbeit abgegolten ist. modernen Blicks auf die Haushalte darf man nicht nur Das kann die FDP weder nachvollziehen noch mittragen. darauf schauen, dass man die 5 Prozent, die von den Geldstrafen an die Opferhilfeverbände gehen sollen, (Beifall bei der FDP) nicht bekommt. Man darf auch nicht nur darauf schauen, Ihr Gesetzentwurf geht damit an den gesellschaftli- was es kostet, die Organisation aufzubauen, damit chen Realitäten in unserem Land vorbei. Im öffentlichen „schwitzen statt sitzen“ wirklich in dem erwarteten Maß Dienst diskutieren wir eine Erhöhung der Arbeitszeit auf möglich wird. Man muss doch auch gegenrechnen, dass 42 Stunden, jeder Tag Vollzug 75 bis 95 Euro kostet. Da kann man sparen. (Joachim Stünker [SPD]: Um Gottes willen!) 9238 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. April 2004

Dr. Volker Wissing (A) eine Arbeitszeit, die für Selbstständige eine reine desjustizministerin, hatte vorgeschlagen, 10 Prozent der (C) Wunschvorstellung ist, Geldstrafen an Opferhilfeeinrichtungen zu geben, Sie kommen uns mit 5 Prozent. Mein Vorschlag lautet: Ge- (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- hen Sie noch einmal 5 Prozent runter, dann sind wir mit- NEN]: Das von der FDP zu hören!) einander im Geschäft. und Sie wollen ausgerechnet für Straftäter die 15-Stun- (Beifall bei der FDP) den-Woche einführen. Diese Idee hätte ich allenfalls der IG Metall zugetraut. Sie drehen hier an den falschen Schrauben. Die Opfer von Straftaten würden es mehr begrüßen, wenn Sie dafür (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten sorgten, dass eine Strafe in Deutschland eine Strafe der CDU/CSU – Hans-Christian Ströbele bleibt. Die Opfer von Straftaten erwarten vor allen Din- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Gemeinnüt- gen eine konsequente Strafvollstreckung und eine effi- zige Arbeit!) ziente Strafverfolgung. Ihre Rechtspolitik ist an dieser Stelle abgehoben. Sie (Zuruf von der SPD: Das sind liberale Gedan- wird der Sache nicht gerecht und sie ist auch den Men- ken!) schen in Deutschland nicht mehr zu vermitteln. Ihr Ge- setzentwurf lässt ganz entscheidende Fragen unbeant- Es macht doch keinen Sinn, immer härtere Strafen in un- wortet. Es ist nicht klar, ob es überhaupt möglich sein sere Gesetzbücher hineinzuschreiben und Verfahren mit wird, genügend geeignete Arbeitsplätze anzubieten. erheblichem Aufwand zu betreiben, wenn am Ende die Ebenso ist nicht klar, was die Betreuung, Begleitung und Vollstreckung der Strafe zur Farce verkommt. Überwachung der gemeinnützigen Arbeit kosten wird. (Beifall bei der FDP – Wilhelm Schmidt [Salz- Hier, Frau Ministerin, liegen doch in der Praxis die Pro- gitter] [SPD]: Das gilt jetzt gerade der Union, bleme. oder?) (Beifall bei der FDP) Bei Ihrem Gesetzentwurf gewinnt man den Eindruck, Sie belasten die Länder mit zusätzlichen Kosten, deren Sie wollten die Strafvollstreckung mit möglichst gerin- Höhe Sie überhaupt nicht einschätzen können. gem Aufwand und möglichst wenigen Belastungen für die Verurteilten auf dem kleinen Dienstweg erledigen. Solange diese wesentlichen Punkte nicht geklärt sind, Ich sage Ihnen ganz klar: Diesen Weg gehen wir nicht lehnen wir die Reform ab. Ihr Gesetz wird erhebliche mit. Kosten mit sich bringen. Die ohnehin schon knappe Per- sonaldecke der Strafverfolgungsbehörden wird dadurch Wir akzeptieren auch nicht die von Ihnen vorgeschla- (B) weiter belastet. Ich warne davor; Sie werden der Straf- gene Entwertung der Geldstrafe. Es ist rechtspolitisch (D) rechtspflege damit einen Bärendienst erweisen. verfehlt, dass zwei Tagessätze künftig nur noch einem Tag Ersatzfreiheitsstrafe entsprechen sollen. Es kann (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) doch nicht sein, dass jemand, der zur Zahlung von zehn Ich habe den Eindruck, mit jeder verlorenen Land- Tagessätzen verurteilt wurde und diese weder bezahlt tagswahl verliert die SPD mehr und mehr Praxis- und noch abarbeitet, am Ende nur fünf Tage Ersatzfreiheits- Realitätsbezug. Sie scheinen sich von der Verantwortung strafe verbüßen muss. Im Klartext bedeutet Ihre Rech- auf Landesebene schleichend zu verabschieden. nung doch, dass man seine Strafe halbieren kann, indem man sich weigert, sie zu bezahlen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Dirk Manzewski [SPD]: So wie in Hamburg! Das (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten war jetzt irgendwie ganz schlecht!) der CDU/CSU) – Wir regieren auf Landesebene verantwortlich mit. – Ihr Vorschlag wird – das prophezeie ich Ihnen – dazu Ein Beleg dafür ist Ihr Vorschlag, künftig 5 Prozent jeder führen, dass die Gerichte bei der Festsetzung von Geld- Geldstrafe zwingend an Opferschutzeinrichtungen zu strafen künftig das Doppelte wie bisher festsetzen. überweisen. Sie greifen damit in fremde Taschen, Frau (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Sie hal- Bundesjustizministerin, um rot-grüne Träume zu finan- ten die Richter aber für ziemlich dämlich!) zieren. Sie bringen ein funktionierendes System durcheinander, (Beifall bei der FDP) ohne dass Sie eine durchdachte Alternative bieten könn- ten. Wir können nicht widerspruchslos hinnehmen, dass der Bund das Geld der Länder großzügig an gemeinnützige (Alfred Hartenbach [SPD]: Was habt ihr denn Organisationen verteilt. Sie zahlen ja auch nicht da eingekauft, Herr Funke? – Gegenruf des 5 Prozent der Einnahmen aus der Ökosteuer an Umwelt- Abg. Otto Fricke [FDP]: Qualität, Herr Kol- verbände. lege!) Der Opferschutz in Deutschland muss nicht neu er- Meine sehr geehrten Damen und Herren, Sie schrei- funden werden. Es gibt genügend Opferschutzstiftungen ben in Ihrem Gesetzentwurf, es gehe Ihnen um eine bes- und gemeinnützige Organisationen, die hervorragende sere Berücksichtigung der Opferinteressen. Wie müssen Arbeit leisten und auch in Zukunft in der Lage sind, sich die Opfer von Straftaten fühlen, wenn sie Ihren Ka- diese Aufgabe zu erfüllen. Ihre Vorgängerin, Frau Bun- talog der Annehmlichkeiten für Straftäter lesen? Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. April 2004 9239

Dr. Volker Wissing (A) Frau Bundesjustizministerin, Ihr Gesetzentwurf ist Fülle von Gesetzesinitiativen belegen diese Linie. Ich (C) unausgegoren. Die FDP sieht hier noch erheblichen habe diese Initiativen einmal heraussuchen lassen. Es Nachbesserungsbedarf. Ich bin sicher, dass dafür mehr gibt in der kurzen Zeit dieser Legislaturperiode schon als drei Stunden am Tag gearbeitet werden muss. 30 entsprechende Vorstöße aus den Reihen der Union. Der letzte Vorstoß ist schon genannt worden, nämlich Ich danke Ihnen. dem Erziehungsgedanken im Jugendstrafrecht endgül- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – tig den Garaus zu machen. Das war die letzte Initiative, Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Dann ge- die uns auf den Tisch gelegt wurde. hen Sie mal an die Arbeit, wenn Sie bisher nur (Siegfried Kauder [Bad Dürrheim] [CDU/ drei Stunden am Tag gearbeitet haben!) CSU]: Das stimmt doch nicht!)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Andererseits wird die Überfüllung der Strafvollzugs- anstalten beklagt. Welch Wunder, kann ich nur sagen. Herr Kollege Wissing, Sie sind am 23. Januar dieses Die Rechts- und Kriminalpolitik der CDU/CSU kulmi- Jahres in den Deutschen Bundestag nachgerückt. Es war niert in einer Bundesratsinitiative – auch die liegt uns Ihre erste Rede in diesem Hohen Hause. Ich gratuliere vor – mit der letztendlichen Zielrichtung, das Strafvoll- Ihnen recht herzlich und wünsche Ihnen für die Zukunft zugsgesetz zu ändern und den allgemeinen Anspruch auf alles Gute. Einzelunterbringung der Häftlinge während der Ruhezeit (Beifall) einzuschränken oder sogar – das ist eine weitere Initia- tive aus Hessen – das Vollzugsziel zu ändern. Das heißt, Das Wort hat der Kollege Joachim Stünker, SPD- das Ziel der Resozialisierung steht danach nicht mehr Fraktion. im Mittelpunkt. Damit entfernen Sie sich meilenweit von der Verfassungsrechtsprechung in diesem Land. Joachim Stünker (SPD): (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und DIE GRÜNEN) Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Mehrheit des Bundesrates und die CDU/CSU-Fraktion in diesem Damit entfernen Sie sich meilenweit von einer vertretba- Hause haben in der Tat äußerst kritische Stellungnahmen ren Kriminalpolitik. zu dem vorliegenden Gesetzentwurf abgegeben. Bei der (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Damit wäre ich FDP war das bisher anders. Ich hoffe, dass das, was wir an Ihrer Stelle vorsichtig!) gerade gehört haben, nicht die neue liberale Rechtspoli- tik der FDP darstellt. Da stellt sich wirklich die Frage: Erkennen Sie den (B) Teufelskreis dieser Spirale, die Sie auslösen, wirklich (D) (Zuruf von der CDU/CSU: Das klang doch nicht? Wollen Sie wirklich das, was Sie da sagen? Oder gut!) sagen Sie das nur aus populistischen Überlegungen? Ist In den Stellungnahmen der Länder heißt es, dass die das wirklich Ihr Gesellschaftsbild? Ist das wirklich Ihre wesentlichen Punkte der Regierungsvorlage kriminalpo- Vorstellung von Kriminalpolitik? Ich sage Ihnen ganz litisch verfehlt seien. Die Vorschläge zur gemeinnützi- deutlich: Unsere Vorstellung ist das nicht. gen Arbeit und zur Verwarnung mit Strafvorbehalt wür- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ den die strafrechtliche Praxis vor kaum überwindbare DIE GRÜNEN) Probleme stellen. Man versteigt sich sogar zu der Be- hauptung, das verfassungsrechtliche Gebot einer effekti- Das Anliegen des vorliegenden Gesetzentwurfs ist, ven Strafverfolgung werde dadurch verletzt. Weiter heißt eine eindeutige Alternative in der Kriminalpolitik zu es, die Spezial- und die Generalprävention des Straf- bieten. Er ist aus diesem Grunde aus unserer Sicht voll rechts würden geschwächt und die Strafvollstreckung unterstützungswürdig. Es macht kriminalpolitisch Sinn, werde in beträchtlichem Maße verzögert. Das ist in der das strafrechtliche Sanktionensystem zu erweitern und Tat starker Tobak. Wenn dem so wäre, hätten wir einen zu flexibilisieren sowie die Interessen von Opfern von solchen Entwurf nicht vorgelegt. Das Gegenteil ist aber Straftaten bei der Gestaltung der Sanktionen einzubezie- der Fall. hen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Der Gesetzentwurf sieht insoweit sinn- und maßvolle DIE GRÜNEN) Änderungen im Sanktionenrecht vor. Schon seit Jahren werden in Wissenschaft, Praxis und Politik als Ergän- Wer so dicke Backen macht wie Sie mit Ihren Formu- zung zu den traditionellen Geld- und Freiheitsstrafen, lierungen, der muss einen Grund dafür haben. wie wir sie kennen, neue, kreativere Freiheitsbeschrän- (Otto Fricke [FDP]: Sie meinen: Wangen!) kungsstrafen bei kleinen und mittleren Straftaten gefor- dert. Genau darüber reden wir. Wir reden nicht über – Ja, ich meine die Wangen. Schwerstkriminalität und über organisierte Kriminalität. Wenn man Sie hört, Herr Kauder, dann könnte man fast Das ist – im Chor mit der CDU/CSU – die Stellung- meinen, der Untergang des Abendlandes stünde bevor, nahme genau der Länder, die sich in dieser Legislaturpe- weil wir diesen Gesetzentwurf eingebracht haben. riode ansonsten ausschließlich dadurch hervorgetan ha- ben, im Bereich der Kriminalpolitik immer mehr, immer (Siegfried Kauder [Bad Dürrheim] [CDU/CSU]: schärfere und immer höhere Strafen zu fordern. Eine Der Untergang Ihrer Rechtspolitik!) 9240 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. April 2004

Joachim Stünker (A) Es geht hier um den breiten Bereich der kleinen und Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (C) mittleren Kriminalität. Herr Kollege Stünker, gestatten Sie eine Zwischen- frage? Der Vorschlag, der jetzt zur Diskussion auf dem Tisch liegt, ist das Ergebnis der Reformdiskussion der Vergan- (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Wir ha- genheit. Ich sage Ihnen: In der Praxis ist man sich, das ben noch Ausschussberatungen!) heißt Staatsanwälte, Richter, Rechtsanwälte, Gerichts- hilfe, Bewährungshilfe und wer alles in diesem Bereich Joachim Stünker (SPD): arbeitet, also alle diejenigen, die im Strafrecht tätig sind, Nein, Frau Präsidentin. Die Beiträge von Herrn schon seit Jahren darin einig, dass das geltende Sanktio- Kauder werden durch Zwischenfragen nicht besser. nensystem, das die Geld- und die Freiheitsstrafe als Hauptstrafen vorsieht, den Gerichten zu wenig Gestal- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ tungsmöglichkeiten bietet, um gerade im Bereich kleiner DIE GRÜNEN) und mittlerer Kriminalität in geeigneter Weise spezial- Ich möchte noch einmal auf das eingehen, worauf die präventiv tätig werden zu können. Ministerin, aber auch der Kollege Montag hingewiesen haben. Im Zusammenhang mit den Kosten, die an den (Siegfried Kauder [Bad Dürrheim] [CDU/CSU]: Gerichten entstehen, geht es auch darum, dass 5 Prozent Und was sagen die Richter dazu?) der gezahlten Geldstrafen Opferverbänden und -einrich- Der vorliegende Gesetzentwurf wird daher in der Praxis tungen zugeführt werden sollen. Gerade mit einer Erwei- ganz überwiegend begrüßt, Herr Kollege Kauder. terung der Möglichkeit der Anordnung gemeinnütziger Arbeit können die Kosten im Vollzug – das wurde nach- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) gewiesen; die Länder haben da erhebliche Kosten – in großem Umfang eingespart werden. Das Land Bayern Mit Ihrer ablehnenden Haltung werden Sie den Anforde- hat bekannt gegeben, im Jahre 2002 durch gemeinnüt- rungen an eine moderne Kriminalpolitik nicht mehr ge- zige Arbeit 65 226 Hafttage eingespart zu haben. Bei recht; das sage ich Ihnen auch heute. Haftkosten von täglich rund 80 Euro bedeutet dies rund 5,2 Millionen Euro. Der Justizminister aus Hessen hat (Beifall bei der SPD) für das Jahr 2002 eine Summe von 4,7 Millionen Euro Aus meiner Sicht noch ein letztes Wort zu der von Ih- bekannt gegeben und Niedersachsen kommt auf 7,5 Mil- nen so sehr bekämpften gemeinnützigen Arbeit als pri- lionen Euro. Mecklenburg-Vorpommern hat im Jahre märe Ersatzstrafe bei Uneinbringlichkeit einer Geld- 2002 einen Modellversuch durchgeführt, um einmal die Kosten zu berechnen, die entstehen, wenn gemeinnüt- (B) strafe oder als Ersatz für die Verhängung von kurzen (D) Freiheitsstrafen. zige Arbeit abgeleistet wird. Dadurch entstehen natür- lich auch Kosten; das ist klar. (Zuruf von der CDU/CSU: Die bekämpft nie- mand!) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Herr Kollege, Sie müssen zum Ende kommen. Das betrifft die in § 59 StGB vorgesehene Neuregelung einschließlich des Strafvorbehalts. Joachim Stünker (SPD): Ich darf darauf hinweisen, dass bereits nach gelten- Ja, ich komme zum Ende. – Man kam dort netto auf dem Recht, nämlich nach Art. 293 des Einführungsge- 1 Million Euro. setzes zum StGB, die Vollstreckung der Freiheitsstrafe durch Erbringung von Arbeitsleistungen abgewendet Deshalb sage ich Ihnen: Wenn all die Diskussionen werden kann. Dies ist geltendes Recht. der letzten Wochen und Monate in diesem Hause über verstärkten Opferschutz und über die Implementierung (Zurufe von der CDU/CSU: Eben!) von Opferrechten in die Strafprozessordnung ernst ge- meint gewesen sind, dann sollten wir uns dem Gedan- Allerdings bedarf es hierzu jeweils der Rechtsverord- ken, den ich eben vorgetragen habe, nicht verschließen. nung durch eine Landesregierung. Schönen Dank. Darum frage ich mich: Weshalb wehren Sie sich (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ eigentlich so vehement gegen die Implementierung der DIE GRÜNEN) gemeinnützigen Arbeit in das geltende Strafgesetzbuch? Das ist für mich einfach nicht nachvollziehbar. Oder ist es Ihnen lieber, die Anordnung der gemeinnützigen Ar- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: beit nicht durch ein Gericht im Zusammenhang mit dem Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin Urteil vornehmen zu lassen, sondern durch die Exeku- Daniela Raab, CDU/CSU-Fraktion. tive, das heißt je nach Bedarf oder Kassenlage, Herr Kol- (Beifall bei der CDU/CSU) lege Kauder? Das kann es im Ergebnis nicht gewesen sein. Daniela Raab (CDU/CSU): (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen DIE GRÜNEN) und Kollegen! Sie werden meinen Eindruck nicht ganz Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. April 2004 9241

Daniela Raab (A) teilen; aber lassen Sie ihn mich trotzdem schildern. Man (Joachim Stünker [SPD]: Warum ist das (C) möchte fast meinen, die heutige Sitzung ist eine Sonder- verfehlt?) veranstaltung zum 1. April. Das begann heute Morgen mit der Debatte über Ihre geplante Ausbildungsplatzab- Ein weiterer Punkt, der die spezialpräventive Wir- gabe. Das war kein Aprilscherz. Das Lachen bleibt kung, die ein Urteil auf den Täter haben soll, außer Kraft einem schier im Halse stecken; denn Sie meinen es tat- setzt, ist die Erweiterung der Verwarnung mit Straf- sächlich ernst. vorbehalt. Die Verwarnung mit Strafvorbehalt gibt es bereits in § 59 StGB, allerdings als Kannregelung. Das Da Sie gerade beim Reformieren sind, haben Sie sich reicht in meinen Augen völlig aus. Wir lehnen die Muss- jetzt überlegt, auch gleich das Sanktionenrecht anzuge- regelung, die Sie einführen wollen, ab. hen. Das ist sozusagen der nächste lang ersehnte rechts- politische Wurf Ihrerseits. (Beifall bei der CDU/CSU) (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Gut, Ich komme zu Ihrer neuen Geldstrafenregelung, die dass Sie das erkannt haben!) zu massiven Einnahmeausfällen bei den Ländern führen wird. Der Kollege Kauder hat sie bereits auf Das Sanktionenrecht eignet sich allerdings nicht für 20 Millionen Euro beziffert. Sie sagen, die Länder hätten einen Aprilscherz. Wir sind heute nicht wirklich zum keinen Anspruch auf eine Geldstrafe. Ich muss Ihnen Scherzen aufgelegt. entgegenhalten: Bei Ihrer Politik müssen die Länder ein- fach schauen, woher sie das Geld bekommen. Dazu ist (Eckhardt Barthel [Berlin] [SPD]: Was heißt auch die Geldstrafe geeignet. „heute“?) (Hans-Joachim Hacker [SPD]: Unmöglich!) Deswegen fordere ich Sie auf, sich ein paar Gedanken zu Ihrem Gesetzentwurf zu machen. – Das finde ich nicht unmöglich. Die armen Länder! Unser bisher geltendes Sanktionenrecht, in dem Geld- Es ist sicherlich kein schlechter Ansatz, strafen und Freiheitsstrafen als Hauptstrafen angewandt (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Was werden, bedarf meiner Ansicht nach keiner so grundle- denn nun?) genden Reform, wie sie jetzt von Ihnen angedacht wurde. Die Praktiker werden mir wahrscheinlich Recht dass 5 Prozent der Geldstrafe an eine gemeinnützige geben, wenn ich sage, dass unser ohnehin schon schwer Einrichtung zum Opferschutz gehen sollen. Das finde überlastetes Justizsystem diese so genannte Reform defi- ich grundsätzlich nicht verkehrt. Sie haben uns nur nicht nitiv nicht braucht. Vorhin war von aufgeblasenen Ba- gesagt, wer das organisieren soll. (B) cken oder Wangen – man kann sich darüber streiten – die (D) Rede. Ich sehe schon, dass die verfassungsrechtlich ge- (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: So ist botene effektive Strafverfolgung durch Ihren Entwurf es!) unnötig verzögert wird. Wollen Sie wieder eine neue Behörde gründen? (Beifall bei der CDU/CSU) (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE Einige konkrete Beispiele: Es ist unserer Ansicht GRÜNEN]: Wollen Sie das alles in das Gesetz nach absolut nicht zu verantworten, dass es Straftätern schreiben?) erlaubt wird, eine nicht zur Bewährung ausgesetzte Frei- Wollen Sie die Beamten nehmen, die seit der Maut- heitsstrafe bis zu sechs Monaten lediglich abzuarbeiten. Schlappe arbeitslos sind? Es steht nichts im Gesetz. Den Freiheitsstrafen werden nicht ohne weiteres verhängt. Es organisatorischen Mehraufwand hat auch keiner berech- wird auch nicht ohne weiteres von den Gerichten auf net. Bürokratieaufbau der reinsten Sorte! Etwas anderes eine Aussetzung zur Bewährung verzichtet. In vielen sind wir von Ihnen auch nicht gewöhnt. Fällen ist nun einmal die Verhängung einer Freiheits- strafe unumgänglich, sozusagen die Ultima Ratio. Dies (Beifall bei der CDU/CSU) gilt gerade für die Täter, die eine kurze Freiheitsstrafe Die Opfer sind schon angesprochen worden – mehr absitzen sollen. Es dreht sich hier in aller Regel um Wie- von uns und weniger von Ihnen. derholungstäter, von denen die Richter wohl nicht ohne Grund annehmen, dass sie rückfällig werden könnten. (Hans-Joachim Hacker [SPD]: Nicht so Deswegen hat der Richter durch sein Strafmaß zum Aus- überheblich!) druck gebracht, dass eine Haftstrafe unumgänglich und angemessen ist. In solchen Fällen eine reine Abarbei- Wie wirkt es auf ein Opfer, wenn der Täter seiner ge- tung der Strafe durch den Täter zu ermöglichen, ist rechten Strafe einfach durch minimales Abarbeiten ent- grob verharmlosend und hilft uns in keiner Weise weiter. gehen kann? Ich glaube nicht, dass die Opfer das unter- stützen und dass die Opferverbände hier Zustimmung Selbstverständlich – auch wenn Sie uns das nicht signalisieren werden. „Schwitzen statt sitzen“ ist einer glauben – verkennen wir nicht die präventive Wirkung Ihrer tollen Slogans. Er klingt nicht schlecht. Die Idee ist gemeinnütziger Arbeit. Bei Wiederholungstätern aber, vom Grundsatz her bestimmt nicht falsch. Aber der um die es uns in diesem speziellen Fall geht, ist das allei- staatliche Strafanspruch darf nicht ausgehöhlt werden. nige Abstellen auf Prävention völlig verfehlt und läuft Angemessenes Strafübel darf nicht abgemildert werden. ins Leere. Sie haben hier den falschen Weg eingeschlagen. 9242 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. April 2004

Daniela Raab (A) Aber Sie gehen diesen Weg konsequent weiter, indem – zu dem Antrag der Fraktionen der SPD, der (C) Sie die gemeinnützige Arbeit als primäre Ersatzstrafe CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- für nicht eintreibbare Geldstrafen einführen. Den Bedarf NEN und der FDP für eine solche Regelung kann ich leider nicht sehen. Deutsch als Arbeitssprache auf europäischer (Hans-Joachim Hacker [SPD]: Das ist Ihr Ebene festigen – Verstärkte Förderung von Problem!) Deutsch als erlernbare Sprache im Ausland Wir sind nach wie vor der Meinung: Kann eine Geld- – zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Peter strafe nicht bezahlt werden, muss weiterhin die Ersatz- Gauweiler, Günter Nooke, Bernd Neumann freiheitsstrafe greifen. Strafe hat schließlich auch das (Bremen), weiterer Abgeordneter und der Frak- Ziel, unsere Rechtsordnung zu wahren, das Unrechtsbe- tion der CDU/CSU wusstsein des Täters zu schärfen und auf die Schuld des Deutsch als dritte Arbeitssprache auf euro- Täters angemessen zu reagieren. päischer Ebene – Verstärkte Förderung von Deutsch als lernbare Sprache im Ausland Hinzu kommt die in meinen Augen absurde Umrech- nungsweise, die Sie in Ihrem Gesetzentwurf vorschla- – Drucksachen 15/1574, 15/468, 15/1951 – gen: Ein Tagessatz nicht eingetriebener, nicht bezahlter Geldstrafe entspricht drei Stunden gemeinnütziger Ar- Berichterstattung: beit. Der Kollege von der FDP hat dazu bereits – durch- Abgeordnete Eckhardt Barthel (Berlin) aus nicht unzutreffend – angemerkt: Was sind schon drei Dr. Peter Gauweiler Arbeitsstunden in den Augen eines durchschnittlichen Dr. Antje Vollmer Arbeitnehmers? – Hübsch wenig, würde ich sagen. Hans-Joachim Otto (Frankfurt) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre GRÜNEN]: Die sollen auch nicht davon le- keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. ben!) Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Immer schlechter wird das Verhältnis, wenn man Ihre Dr. Peter Gauweiler, CDU/CSU-Fraktion. geplante Lösung bei der Ersatzfreiheitsstrafe betrachtet, frei nach dem Motto, dass Rabatte ja derzeit in sind. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Auch hier wird plötzlich die Umrechnung geändert. Mo- mentan gilt noch die Formel: Ein Tagessatz nicht gezahl- Dr. Peter Gauweiler (CDU/CSU): (B) ter Geldstrafe entspricht einem Tag Freiheitsstrafe. Sie Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und (D) ändern das in das Verhältnis 2 : 1; zwei Tagessätze nicht Herren Kollegen! Mit unserem heutigen Antrag, den wir gezahlter Geldstrafe entsprechen also einem Tag Frei- voraussichtlich einstimmig beschließen können, erfül- heitsstrafe. Den Grund für diese Wohltaten am Täter er- len wir zwei wichtige Aufgaben: zum Ersten, Deutsch in kenne ich nicht. der Europäischen Union zu stärken, und zum Zweiten, Deutsch als erlernbare Sprache im Ausland zu fördern. (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das kommt den Staat billiger!) Zur Stärkung von Deutsch in der Europäischen Union ist bei der letzten Beratung ein ganzer Katalog von Not- Einiges leuchtet mir nicht ein, einige Ansätze sind si- wendigkeiten vorgetragen worden. Ich möchte bei dieser cherlich nicht schlecht. Dennoch können wir diesem Gelegenheit die Bitte an die Bundesregierung richten, Entwurf so, wie er jetzt vorliegt, nicht zustimmen. Herr Staatsminister Bury, dass die Bundesregierung auch Danke. die Forderung prüft, dass jeder neu eingestellte europäi- sche Spitzenbeamte oder zumindest jeder Beamte oder (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Angestellte des höheren Dienstes als Einstellungsvo- neten der FDP) raussetzung – wie es früher war – zwei Fremdsprachen können muss. Denn die Reduktion auf eine Fremdspra- che führt logischerweise zu einer Präferenz für Englisch Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: und Französisch. Wir glauben, dass dieses Verlangen Ich schließe die Aussprache. den Beamten absolut zumutbar ist. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie wurfs auf Drucksache 15/2725 an die in der Tagesord- der Abg. Hedi Wegener [SPD]) nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es Das Goethe-Institut hat im Rahmen einer großen dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Kampagne bezüglich des zweiten Teils unseres Antrags, Dann ist die Überweisung so beschlossen. nämlich das Lernen von Deutsch in Europa und im Aus- Ich rufe Tagesordnungspunkt 8 auf: land zu fördern, einen Katalog von zehn Gründen vorge- legt. Ich kann Ihnen aus Zeitgründen nicht alle zehn vor- Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- tragen, aber die wichtigsten sind sehr einprägsam: richts des Ausschusses für Kultur und Medien Deutschland ist das wichtigste Exportland der Welt. (21. Ausschuss) Deutsch ist die meistgesprochene Sprache in der Euro- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. April 2004 9243

Dr. Peter Gauweiler (A) päischen Union. 18 Prozent aller Bücher weltweit er- stimmte Positionen schon früher aufgegeben wurden. (C) scheinen in Deutschland. Viele internationale Unterneh- Das ist wahr. Wir brauchen uns hier wechselseitig nichts men haben ihren Sitz in Deutschland. Deutsch ist die zu schenken. Aber es ist ja nicht verboten, zu versuchen, zweithäufigste Sprache in der Wissenschaft auf der Welt. verloren gegangenes Terrain zurückzugewinnen. Ich Wer Deutsch spricht und versteht, lernt die Kultur besser glaube, die Forderung ist richtig, dass auch im Bereich kennen und verbessert seine Chancen auf dem Arbeits- der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der markt. Die Deutschen sind in vielen Ländern die wich- Europäischen Union auf das bewährte, Dreisprachen- tigsten Touristen. regime – Englisch, Französisch und Deutsch – zurückge- griffen und nicht mehr nur Englisch und Französisch ge- Ich glaube, dass in den Forderungskatalog aufgenom- sprochen werden soll. men werden muss, Deutsch als Einstellungsvorausset- zung im Ausland mehr zu fördern. Bei der Reise des (Beifall bei der CDU/CSU) Kulturausschusses nach Prag ist vor den Mitgliedern des Ein letzter Gesichtspunkt. Aus Gründen der Unver- Kulturausschusses von tschechischen jungen Germanis- dächtigkeit verweise ich auf eine Aussage der Staatsmi- ten und Germanistikstudenten beklagt worden, dass nisterin Weiss, deutsche Firmen im Ausland nicht mehr – wie früher ganz selbstverständlich – deutsche Sprachkenntnisse als (Horst Kubatschka [SPD]: Sie ist nicht unver- zusätzliche Einstellungsvoraussetzung präferieren, son- dächtig! Sie ist sehr gut!) dern dass deutsche Sprachkenntnisse der ausländischen die bei der Eröffnung eines Generalsekretariats des Bewerber unserer Wirtschaft wegen angeblicher Domi- Deutschen Musikrats in Berlin mehr deutsche Musik- nanz des Englischen gleichgültig geworden sind. produktionen in deutschen Rundfunksendern for- (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE derte. GRÜNEN]: Das ist nun einmal so!) (Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Ja, Ich habe heute zur Vorbereitung auf diese Sitzung aber das ist ein anderes Thema! Eine andere noch einmal beim Deutschen Industrie- und Handels- Baustelle!) kammertag nachfragen lassen. Dort wurde uns mitge- Auch das gehört letzten Endes zu diesem Thema. teilt: Englisch ist bei der Einstellung für uns die wich- (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE tigste Sprache am Markt. Daran orientieren wir uns. – GRÜNEN]: Aber Musik ist international!) Das ist eine ungute Entwicklung. Es ist die Aufgabe eines Parlaments, das sich als Interessenvertretung des Kein geringerer als Herr Bundestagspräsident eigenen Landes versteht, dieser Entwicklung entgegen- Wolfgang Thierse hat die Rundfunksender vor wenigen (B) zuwirken. Tagen, am 29. März 2004, aufgefordert, mehr deutsche (D) Musik zu spielen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was ist denn deutsche Musik?) In unserem Antrag sehe ich, wenn Sie so wollen, eine Einladung an die Verantwortlichen, sich um dieses Sollte dies nicht freiwillig geschehen, müsse über eine Thema in seiner Gesamtheit zu kümmern. Das gilt auch Quotenregelung diskutiert werden. für die ungute Entwicklung, dass ganz bestimmte Groß- (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE institutionen meinen, sie müssten sich von Deutsch als GRÜNEN]: Herr Gauweiler, was ist deutsche Firmensprache verabschieden. Das ist nicht nur ein Musik?) sprachliches Problem, sondern letzten Endes auch ein Problem der Gesetzeskontrolle und des Gesetzesvoll- Die deutsche bzw. europäische Kultur müsse sich gegen zugs. Als Beispiel nenne ich eines der auf der ganzen die Allmacht des amerikanischen Kulturimperialismus Welt berühmtesten deutschen Unternehmen bzw. Bank- durchsetzen. Ich möchte den Herrn Bundestagspräsiden- institute, die Deutsche Bank. ten hier gegen jede Art respektloser Zwischenrufe in Schutz nehmen. Der Unverdächtigkeit halber sei auf den „Spiegel“ verwiesen, der vor wenigen Wochen in einer großen Do- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und kumentation berichtet hat, dass es immer mehr gelingt, der SPD) sich der deutschen Bankenaufsicht durch Verlagerung In diesem Zusammenhang erinnere ich an die bemer- ins Ausland, durch fremdsprachigen Schriftverkehr, kenswerte Protokollerklärung aller Ministerpräsidenten durch fremdsprachige Aktenführung und Ähnliches zu zum Siebten Rundfunkänderungsstaatsvertrag, in der entziehen. Ich glaube, dass wir, so wie wir es auch hin- es heißt: sichtlich des Schutzbereichs anderer Gesetze tun, eine Die Länder erwarten von den Hörfunkveranstaltern, Vernetzung herstellen müssen, um das in diesem Antrag insbesondere von den in der ARD zusammenge- formulierte Anliegen der Förderung der deutschen Spra- schlossenen Rundfunkanstalten und dem Deutsch- che durchzusetzen. landradio, eine stärkere Berücksichtigung von Wir verlangen ein Weiteres. Herr Staatsminister, in deutschsprachiger Musik und deshalb eine Förde- Ihrem Vortrag bei der letzten Debatte, den ich mir durch- rung auch neuerer deutschsprachiger Musikange- gelesen habe, haben Sie – mit einer kleinen Spitze an bote durch ausreichende Sendeplätze in den Pro- Ihre Vorgängerregierung – darauf hingewiesen, dass be- grammen. 9244 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. April 2004

Dr. Peter Gauweiler (A) (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Und Antrag vorliegen. Insofern finde ich es ein bisschen be- (C) was hat das mit dem Thema zu tun? – Hans- dauerlich, Herr Gauweiler, dass Sie nicht auf den Antrag Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Das Thema und seine Folgen eingegangen sind. ist doch „Deutsch im Ausland“!) (Zuruf von der CDU/CSU: Er wusste, dass Sie – Dieses Thema ist zweigleisig. es machen!) (Abg. Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/ Dass wir, also alle vier Fraktionen gemeinsam, diesen DIE GRÜNEN] meldet sich zu einer Zwi- Antrag gezimmert haben, ist schon eine gute Sache. Das schenfrage) Zweite, was ich etwas bedauere, ist, dass Sie nicht da- rauf eingegangen sind, dass wir hier die angenehm Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: merkwürdige Situation haben, vor dem Beschluss eines Herr Kollege Gauweiler, Sie müssen zum Ende kom- Antrages zu stehen, dessen Forderungen zum großen men. Deswegen kann ich auch nicht mehr die Zwischen- Teil bereits erfüllt sind. frage des Kollegen Ströbele zulassen. (Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Na (Zurufe von der CDU/CSU: Oh! – Günter ja!) Nooke [CDU/CSU]: Wir hätten uns aber alle – Ich werde es Ihnen gleich vortragen. – Das ist, wie ich gefreut!) finde, eigentlich eine gute Sache. Herr Kollege Gauweiler, Sie dürfen zum Ende kom- Ich glaube, zwei Drittel unser Forderungen, die men. Punkte 1 und 2 dieses Antrages, sind bereits in unserem (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Er ist Sinne erfüllt. Wir haben gefordert, das so genannte am Ende!) Marktmodell im europäischen Sprachenregime zu ver- ankern. – Ich bitte, eine Fußnote machen zu dürfen: Viel- Dr. Peter Gauweiler (CDU/CSU): leicht sollte man einmal überlegen, ob der Begriff „Spra- Herr Kollege, ich hätte Ihnen gerne zugehört. – Aber chenregime“ richtig ist. Mit „Regime“ assoziiere ich lassen Sie uns dieses Thema nicht zerreden. Wir verfol- eigentlich etwas Negatives; ich weiß nicht, woran das gen doch ein gemeinsames Interesse. liegt. Aber das ist jetzt nicht das Thema. (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das Es ist gelungen, auf europäischer Ebene – ich freue stimmt!) mich, dass Herr Bury hier ist – dieses Marktmodell ein- zuführen; die Forderung in unserem Antrag ist damit er- Die „Los Angeles Times“ hat vor nicht allzu langer (B) füllt. Nun weiß ich, dass vielen der Begriff „Marktmo- (D) Zeit geschrieben dell“ noch nichts sagt. Deswegen will ich es in (Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Aber Erinnerung rufen: Mit dem Marktmodell – damit wäre auf Englisch!) auch die politische Bewertung vorgenommen – ist die Gleichwertigkeit aller Sprachen anerkannt. Jeder Mit- – ja, auf Englisch –, warum die Deutschen ihre eigene gliedstaat kann selbst entscheiden, welche Sprache be- Sprache zu wenig benutzen. Die Amerikaner hoffen, nutzt werden soll. – Das ist wichtig; wir reden schließ- dass die Deutschen ihre Stimme wiederfinden, wenn sie lich von der Vielfalt der Kulturen in Europa als Teil dazu ermutigt werden. Dieser Ermutigung dient unser unserer europäischen Identität. heutiger Antrag. (Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Barthel Ich danke Ihnen. für den Markt – das ist etwas Neues!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie – Wenn er vernünftig ist und niemand verdrängt wird, bei Abgeordneten der SPD und des BÜND- immer. NISSES 90/DIE GRÜNEN) Ich schildere jetzt die Erfolgsbilanz der Bundesregie- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: rung: Sie hat sofort für alle 94 Gruppen, die dem Markt- Das Wort hat der Kollege Eckhardt Barthel, SPD- modell unterliegen, die Deutsch-Dolmetschung ange- Fraktion. meldet; somit ist auch dieses festgelegt, Herr Gauweiler. Das Zweite zu diesem Marktmodell: Es ist flexibel und spart übrigens eine Menge Kosten. Wenn ich das Eckhardt Barthel (Berlin) (SPD): richtig gelesen habe, spart die EU jedes Jahr Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich 100 Millionen Euro. Ich wäre froh, wenn wir das im werde jetzt im Unterschied zu Herrn Gauweiler etwas Kulturetat hätten. Das wäre eine tolle Sache. ganz Revolutionäres machen. Ich werde nämlich zu dem Antrag reden, der hier zur Abstimmung steht. (Horst Kubatschka [SPD]: Zusätzlich!) (Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der Die Vielfalt der genutzten Sprachen hat also auch diesen SPD) positiven Effekt. Auch mir fallen dazu Quoten ein. Das Schöne an die- Ich möchte diese beiden, wie ich glaube, wichtigsten sem Thema ist ja, dass man eigentlich über alles reden Entscheidungen zusammenfassen, Herr Gauweiler, und kann, weil es um Sprache geht. Wir haben aber einen komme damit zu unserem Antrag; über Quoten können Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. April 2004 9245

Eckhardt Barthel (Berlin) (A) wir immer noch reden. Es ist also gelungen, dieses von nen nur sagen, dass ich dies für in Ordnung halte. Das (C) uns geforderte Marktmodell in der EU einzuführen. Das sollten wir beschließen, weil wir nicht nur bei diesem ist das Erste. Das Zweite ist – man sollte es nicht gering Haushalt, sondern auch in Zukunft häufig darum kämp- schätzen –: Es gab ja bisher für den AStV, den Aus- fen werden, wie Kultur einzuordnen ist. Wenn wir nach schuss der Ständigen Vertreter der Mitgliedstaaten, die- dem wichtigen Etappenziel, das wir heute erreicht ha- ses Dreisprachenregime. – Hier taucht schon wieder ben, auch dies erreichen, dann können wir sagen: Auch der Begriff Regime auf. – Diese drei Sprachen – Eng- der Deutsche Bundestag bemüht sich gleichermaßen um lisch, Französisch und Deutsch – sind jetzt zum ersten die Verbreitung der deutschen Sprache nach außen und Mal festgeschrieben worden. um ihre Pflege im Inneren. Ich glaube, mit der Umsetzung unseres noch nicht be- Ich bedanke mich. schlossenen Antrages werden wir einen großen Schritt vorankommen, wenn wir auch noch nicht am Ende ste- (Beifall im ganzen Hause) hen. Auch mir ist natürlich klar: Alleine mit Regeln wer- den wir das eigentliche Ziel, nämlich die Verbreitung Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: und die Pflege der deutschen Sprache im Ausland, nicht Nächster Redner ist der Kollege Hans-Joachim Otto, erreichen. Dies bildet ja die Überschrift von dem, worü- FDP-Fraktion. ber wir jetzt reden; was im Antrag steht, ist lediglich ein wichtiger Teil davon. Deswegen bin ich froh, heute nicht nur einen gemeinsamen Antrag verabschieden zu kön- Hans-Joachim Otto (Frankfurt) (FDP): nen, sondern gleichzeitig auch noch eine Erfolgsmel- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Sehr ge- dung bezüglich der Ziele dieses Antrags vortragen zu ehrter Herr Kollege Barthel, es gibt ein chinesisches können. Wir müssen uns bewusst sein, dass der Auftrag Sprichwort, das besagt, auch die längste Reise beginne der Pflege und der Verbreitung der deutschen Sprache im mit dem ersten Schritt. Ich begrüße es sehr, dass wir hier Ausland im Inneren beginnt; das habe ich schon mehr- den ersten Schritt getan haben, indem wir uns über alle fach gesagt und wir haben in der letzten Debatte hier Fraktionen hinweg gemeinsam auf diesen Antrag ver- eine breite Diskussion dazu geführt. ständigt haben. Aber zu meinen, zwei Drittel dieses An- Lassen Sich mich daher ein bisschen selbstkritisch trags seien bereits erfüllt, ist, freundlich formuliert, blau- darauf hinweisen, wie wir im Parlament mit unserer äugig. Wir sind weit davon entfernt, dass zwei Drittel Sprache umgehen, die dann vielleicht auch nach außen dieses Antrags erfüllt seien. Das Marktmodell und das getragen wird. In letzter Zeit habe ich mir im Hinblick Sprachenregime gibt es bisher lediglich auf dem Papier. darauf einige Gesetzestexte angeschaut. Das meine ich Aber wenn man in die europäischen Institutionen nach (B) jetzt nicht beckmesserisch; jede Fraktion kann sich unter Brüssel und Straßburg schaut, wird man feststellen, dass (D) diesem Gesichtspunkt angesprochen fühlen. sich in der Praxis überhaupt noch nichts verändert hat. (Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Public Nachdem wir uns im Deutschen Bundestag über die Private Partnership!) Fraktionen hinweg verständigt haben, bestärken wir die Bundesregierung in ihrem Ziel, dafür zu sorgen, dass – Ja, es wimmelt von Begriffen wie Jobfloater. die deutsche Sprache mehr zur Anwendung kommt. Hier (Zuruf von der CDU/CSU: Oder „Brainup“) ist allerdings noch viel zu tun. Nur rund 1 Prozent aller EU-Bediensteten sprechen Deutsch als Muttersprache. – Ich habe bewusst ein Beispiel aus einem Gesetz von Dies muss sich ändern. Wir verlangen – Herr Kollege uns gewählt. Aber Sie müssen nicht mit dem Finger auf Gauweiler hat zu Recht darauf hingewiesen –, dass jeder uns zeigen; diese Sprache geht quer durch alle Fraktio- höhere EU-Bedienstete in der Lage ist, zwei Fremdspra- nen. Wir haben in diesem Bereich also auch als Parla- chen zu sprechen. Das ist nicht zu viel verlangt und muss ment eine Vorbildfunktion nach innen wie nach außen. durchgesetzt werden. Dies trüge entscheidend dazu bei, Eine letzte Bemerkung: Der dritte Punkt unseres An- dass deutsche Bewerber französischen und englischen trags betrifft etwas, was zurzeit unser täglich Brot im Bewerbern gleichgestellt werden. Kulturausschuss ist, die auswärtige Kulturpolitik. In (Beifall bei der FDP) diesem Zusammenhang steht auch das Thema Deutsche Welle an. Der Kulturausschuss nimmt diese Themen Diesem Marktmodell – ich freue mich, dass auch Kol- sehr ernst. Wir alle sind froh, dass es uns in einer ge- lege Barthel beim Markt angekommen ist – müssen wir meinsamen Anstrengung gelungen ist, dass die Sprach- in der Tat zum Durchbruch verhelfen. Bisher steht dieses vermittlung im Ausland nicht darunter leidet, dass Kul- Modell nur auf dem Papier; in die Praxis wird es noch tur unter die Subventionen fällt und somit reduziert wird. nicht richtig umgesetzt. Darauf werden wir wohl auch in Zukunft achten müssen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, der zweite Teil die- Herr Otto, weil ich Sie hier so fröhlich sehe, sage ich ses Antrags ist von uns selbst noch nicht richtig umge- noch ein Wort zu Ihrem Änderungsantrag. setzt. Wenn es im Antrag heißt, Deutsch sei als Fremd- sprache im Ausland zu fördern, dann müssen wir als (Otto Fricke [FDP]: Liberale sind immer Parlamentarier dazu beitragen, dass die Mittel im Be- fröhlich!) reich der auswärtigen Kulturpolitik nicht nur gegen Sie haben sinngemäß beantragt, dass Kultur nicht unter Steinbrück/Koch, sondern generell verteidigt werden. Wir Subventionen fallen dürfe. Von meiner Seite kann ich Ih- wissen, dass der Anteil der auswärtigen Kulturpolitik im 9246 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. April 2004

Hans-Joachim Otto (Frankfurt) (A) Etat des Auswärtigen Amtes in den letzten Jahren konti- turförderung in diesem Land, die aus meiner Sicht äu- (C) nuierlich auf rund 23 Prozent gesunken ist. ßerst wichtig ist, wird leider aufgrund der monetären As- pekte von der Politik nicht richtig wahrgenommen. Ich (Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer) glaube, dass auswärtige Kulturpolitik nicht nur die Stär- Wenn wir es mit dem dritten Teil des Antrages ernst mei- kung der deutschen Sprache und Kultur im Ausland, nen, dann müssen wir als Parlamentarier in den Haus- sondern auch gerade die ökonomische Dimension von haltsberatungen dazu beitragen, dass dieser Anteil wie- Politik unterstützt und vorbereiten hilft. Dies sollten wir der gestärkt wird. Wir sind nicht glaubwürdig, wenn wir gemeinsam tun. Das steht uns allen gut an. fordern, dass Deutsch verstärkt in den EU-Gremien ge- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sprochen wird, während wir selber die Mittel für den und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der Deutschunterricht im Ausland immer weiter zurückfah- CDU/CSU und der FDP) ren und die Position der Goethe-Institute und der Sprachmittler schwächen. Aber es geht auch um die europäische Dimension. Wir haben einen ersten Schritt in die richtige Rich- Europa lebt von der Vielfalt, von der kulturellen und von tung getan, was ich sehr begrüße. Ebenso begrüße ich es, der sprachlichen Vielfalt. Diese Vielfalt wird mit dem dass wir den Antrag heute über alle Fraktionsgrenzen Beitritt der zehn neuen Länder, den wir sehr begrüßen, hinweg annehmen. Aber zu glauben, wir hätten jetzt un- noch größer. Er macht das Sprachenregime in Europa sere Arbeit getan und wir könnten uns getrost zurückleh- komplizierter. Aber ich bin der Meinung: Wir sind in der nen, wäre ein großer Fehler. EU auf einem guten Wege. Wir haben im Europäischen Rat, im Europäischen Parlament und im Ministerrat die (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Volldolmetschung ab dem 1. Mai 2004 in 20 Amtsspra- der CDU/CSU – Eckhardt Barthel [Berlin] chen. [SPD]: Das macht doch keiner!) Wir haben im Ausschuss der Ständigen Vertreter – das Wir haben, lieber Kollege Barthel, beileibe noch nicht ist schon angesprochen worden, aber ich möchte es wie- zwei Drittel dessen, was im Antrag vorgesehen ist, ver- derholen – die Gleichberechtigung von Französisch und wirklicht. Die Bemühungen beginnen jetzt erst. Deutsch. Sobald auf EU-Kosten ins Französische gedol- metscht wird, wird automatisch auch ins Deutsche ge- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: dolmetscht. Dieser Fortschritt wurde schon erreicht. In Herr Kollege Otto, die Arbeit ist noch nicht getan, den ratsvorbereitenden Gruppen – das Marktmodell ist aber die Redezeit ist vorbei. festgesetzt, es funktioniert und ist beschlossen – tritt ab 1. Mai 2004 eine Reform des Sprachregimes in Kraft. (B) Das heißt, jedes Land bekommt einen Basisbetrag und (D) Hans-Joachim Otto (Frankfurt) (FDP): alles, was darüber hinaus gefordert wird – sei es die Frau Präsidentin, meine Arbeit ist getan. Ich habe uns Dolmetschung ins Englische, Französische, Deutsche, alle ermahnt, am Ball zu bleiben, nachdem wir einen ers- Litauische oder in eine andere Sprache –, wird von den ten Schritt gemacht haben. Wir müssen das Ganze jetzt einzelnen Ländern bezahlt. Dieses Sprachregime ist gül- umsetzen. Ich bitte insbesondere die Bundesregierung, tig und vernünftig. gestärkt durch diesen Beschluss darauf hinzuwirken, dass in der Praxis Erfolge erzielt werden. Lassen Sie mich zum Schluss noch einmal, weil wir uns in vielen Punkten einig sind, auf einen Aspekt, der Vielen Dank. deutlich gemacht worden ist, hinweisen: Neben diesen (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Sprachstrukturen, die wir politisch verabreden – wir sind der CDU/CSU) dort auf einem guten Weg –, brauchen wir in der Kom- mission auf der Arbeitsebene, auf der Ebene der Beam- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: tinnen und Beamten, Personen, die die deutsche Sprache Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Rainder nicht nur sprechen können, weil sie schön, wichtig und Steenblock. wertvoll ist, sondern wir brauchen – ein Antrag dazu ist in Vorbereitung – deutsche Beamtinnen und Beamte, Vertreter der Bundesregierung, die unser Land zahlen- Rainder Steenblock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- mäßig tatsächlich repräsentieren. NEN): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bei der Durchsetzung dieser Interessen sind wir nicht Ich war am letzten Wochenende und die Tage davor als in allen internationalen Gremien auf allen Ebenen der Wahlbeobachter des Europarates in Georgien. Es ist er- EU, UN und wo auch immer so weit, wie wir gerne sein hebend und bewegend, wenn man durch die Dörfer des würden. Deshalb muss die Politik Anstrengungen unter- Kaukasus fährt und in fast jedem Ort jemandem begeg- nehmen, damit diese Gremien stärker als bisher mit net, der Deutsch spricht und einem sozusagen um den deutschen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern besetzt Hals fällt, und man die Akzeptanz dieser Sprache und werden; das hielte ich für richtig. der Kultur, die dahinter steht, erlebt. Es wurde vorhin moniert, dass wir hier noch nicht Genau diese Verpflichtung haben wir hier aufgenom- mehr erreicht haben. Bezüglich der Beamten sind wir men. Wir müssen uns dafür einsetzen, diese nationale aber schon deutlich weiter. Vielleicht ist das auch zu ak- Aufgabe umfassend zu erfüllen. Die Bedeutung der Kul- tuell, weshalb ich das hier noch einmal sagen will: In der Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. April 2004 9247

Rainder Steenblock (A) letzten Woche wurde das EU-Beamtenstatut geändert Die Einlassung von Herrn Gauweiler ist ganz wichtig; (C) und in unserem Sinne verbessert; denn von nun an muss denn es geht auch ein Stück weit darum, mit welchem ein Beamter oder eine Beamtin vor seiner oder ihrer ers- Selbstverständnis wir die deutsche Sprache nach innen ten Beförderung nach der Einstellung nachweisen, dass verwenden. Manchmal hat man hier den Eindruck, dass er oder sie in einer dritten Sprache der Gemeinschaft ar- dort, wo Anglizismen draufstehen, schon Modernität beiten kann. enthalten ist. Dadurch spiegelt man sich etwas Falsches vor. Um das ganz deutlich zu sagen: Damit macht man (Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Noch die Sprache zum Teil kaputt. schöner wäre es vor der Einstellung!) (Beifall bei der CDU/CSU) – Ja, das hat aber mit dem Dienstrecht zu tun. Das wird vor den Beförderungen geprüft. Sie müssen sich nur einmal Toll Collect anschauen. Auf den Apparaturen stehen irgendwelche Anglizismen. Das ist bereits ein Fortschritt. Ich finde, wir sollten an Hier war keine Modernität drin. Es lag nichts Funktions- dieser Stelle nicht immer das, was noch nicht erreicht tüchtiges vor. Dort war nichts, aber auch gar nichts drin. wurde, in den Vordergrund stellen. Wir sollten betonen, Man lässt sich dadurch etwas vortäuschen. Vielen ist dass wir gemeinsam dabei sind, das, was in der Vergan- dies so ergangen. genheit versäumt worden ist, Schritt für Schritt zu errei- chen. Ich glaube, dass wir hier auf einem guten Weg Ich glaube, hier gilt es umzudenken. Wir müssen ein sind. anderes Selbstverständnis entwickeln. Dieses Selbstver- ständnis muss nicht nur die EU, sondern auch die Unter- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN nehmen erreichen. Für deutsche Unternehmen im Aus- sowie bei Abgeordneten der SPD) land muss es selbstverständlich sein, dass sie sich auch Ich hoffe, dass die Sensibilität in diesem Hohen der deutschen Sprache bedienen. Hause und in der Bundesregierung auf einem hohen Ni- veau bleibt, damit diese Interessen durchgesetzt werden (Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Auch im können. Man muss natürlich aufpassen, dass man sich in Inland!) der Begrifflichkeit nicht vergreift. Ich glaube aber, wir Auch ich war mit dem Kulturausschuss unterwegs. alle zusammen haben ein Interesse daran, Deutsch zur Herr Otto, Sie waren dabei: Wir haben in Südafrika ge- Durchsetzung von ökonomischen Interessen und politi- hört, dass die deutsche Sprache manchmal als Nachteil schen Strategien in dieser Welt – das sage ich jetzt tat- empfunden wird, wenn sie von jemandem gesprochen sächlich einmal etwas überspitzt – zu stärken. Das soll- wird, der sich bei deutschen Unternehmen bewirbt. Das ten wir selbstbewusst und ohne falsche Zwischen- und (B) darf nicht sein. Es geht schließlich um Chancen für (D) Misstöne tun. Dieses Selbstbewusstsein sollten wir ha- Deutsche und Deutschsprechende. Herr Steenblock, Sie ben. haben eben deutlich gemacht, dass der Osten wie ein of- Vielen Dank. fenes Buch vor uns liegt und in diesem Buch das Deut- sche sehr häufig vorkommt. Das heißt, wenn es um (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Chancen für das Deutsche geht, dann sind dies nicht nur und bei der SPD sowie des Abg. Dr. Peter Chancen für Deutsche, sondern auch Chancen für Ost- Gauweiler [CDU/CSU] und des Abg. Hans- europäer. Dies gilt auch für Leute innerhalb der EU, die Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]) weiter östlich wohnen als wir. Ich habe vorhin eine junge und sehr hübsche sloweni- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: sche Praktikantin empfangen. Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Heinrich- Wilhelm Ronsöhr. (Heiterkeit im ganzen Hause) – Das kann man doch einmal sagen. Politik hat schon so Heinrich-Wilhelm Ronsöhr (CDU/CSU): manches Schöne mit sich gebracht und wird auch weiter- Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und hin sehr viel Schönes mit sich bringen. Die Kultur, damit Herren! Vielleicht kann man die unterschiedlichen En- auch die deutsche Sprache, ist etwas sehr Schönes, das den, die hier zum Ausdruck gekommen sind, zusammen- möchte ich klar Ausdruck zu bringen. – Diese junge führen. Es geht ja um eine Gemeinsamkeit. Ich glaube, Praktikantin hat erklärt, das Deutsche sollte sich in der es geht nicht nur um einen gemeinsamen Antrag, son- EU stärker durchsetzen, als das bisher der Fall gewesen dern es geht um die Gemeinsamkeit der deutschen Poli- ist. Das heißt, es ist auch im Interesse vieler junger Men- tik. Das möchte ich bewusst herausstellen. schen, die zur EU gestoßen sind oder noch stoßen wer- den, dass wir den Gebrauch des Deutschen weiter forcie- Eckhardt, nun mag es ja sein, dass zwei Drittel der ren. Beschlüsse bisher erfüllt wurden. Herr Otto hat auf der anderen Seite aber auch Recht, da von diesen Beschlüs- Wenn wir uns dieser Aufgabe gemeinsam widmen, sen noch nicht alles so umgesetzt wurde, wie es umge- wie das letztlich in diesem Antrag zum Ausdruck setzt werden sollte. Ich will mich nun nicht darüber strei- kommt, dann bin ich mir sicher, dass das Deutsche die ten, wie weit wir den Weg bisher gegangen sind. Ich Bedeutung erhält, die auch in Zukunft von möglichst glaube, dass wir uns alle darüber einig sein sollten, dass vielen – nicht nur in der EU, sondern auch darüber wir uns auf dem richtigen Weg befinden. hinaus – anerkannt werden sollte. 9248 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. April 2004

Heinrich-Wilhelm Ronsöhr (A) Vielen Dank, dass Sie mir zugehört haben. und das nicht nur im Hinblick auf unsere europäischen (C) Nachbarn. Die Goethe-Institute leisten wirklich eine (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Georg unschätzbare wertvolle Arbeit. Schirmbeck [CDU/CSU]: Sagen Sie mal, Ronsöhr, wollen Sie heiraten? – Renate Blank (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ [CDU/CSU]: Ein richtiger Schwerenöter!) DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Ich betone noch einmal – das ist in der Debatte zur Kul- Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Hedi Wegener. turpolitik schon gesagt worden –, dass wir in den letzten Jahren keine Goethe-Institute geschlossen haben. Das ist Hedi Wegener (SPD): in den Vorjahren übrigens anders gewesen. Im Gegen- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe teil: Es sind neue Goethe-Institute geplant. Wir haben ei- Gäste auf der Tribüne, Sie erleben heute ein seltenes Er- nes in Kabul eröffnet, eignis in diesem Haus. Wir beraten einen von allen Frak- (Renate Blank [CDU/CSU]: Dafür das in tionen gemeinsam eingebrachten Antrag. Das ist nicht Island geschlossen!) oft der Fall. Die Diskussionen, die bisher geführt wur- den, hörten sich zwar kontrovers an, waren es aber nicht. eines ist in Algier geplant und in diesem Jahr soll noch eines in Laibach eröffnet werden. (Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Wir lieben uns alle!) Ich habe Anfang des Jahres eine Mädchenschule in Taschkent besucht und dort erfahren, dass Deutsch von Dieser Antrag ist einstimmig eingebracht worden, den Kindern geradezu aufgesogen wird. In Turkmenistan weil alle erkannt haben, dass auf europäischer Ebene die lernen die Kinder im hintersten Dorf Deutsch. Die deut- Tendenz vorherrscht, englisch und französisch zu spre- schen Auslandsschulen und Lehrerprogramme wer- chen. Wir wollen dazu beitragen, dass sich Deutsch mehr als bisher etabliert. Wir begrüßen daher ausdrück- den vom Auswärtigen Amt unterstützt. Dadurch werden lich den Einsatz der Bundesregierung, die deutsche weltweit 250 000 Schüler erreicht. Es ist nicht nur so, Sprache auf europäischer Ebene zu stärken, und fordern, dass die Jugendlichen die deutsche Sprache lernen, son- diesen Einsatz fortzusetzen. dern sie lernen sie aus deutschen Schulbüchern. Damit lernen sie deutsche Kultur und das Menschenbild, das (Beifall bei der SPD) wir ihnen vermitteln wollen. Was ich zu den Schulbü- chern gesagt habe, gilt im Übrigen auch für die Lesesäle. Vor dem Hintergrund der EU-Erweiterung findet eine Neuregelung des Sprachenregimes statt. Bei 4 000 Ar- Es gibt 55 Lesesäle, die unterstützt werden und in denen (B) beitsgruppensitzungen und 20 Amtssprachen gibt es deutsche Zeitungen, Broschüren und Hefte ausliegen. (D) 380 denkbare Sprachkombinationen. Dabei stößt man Das ist von unschätzbarem Wert, weil damit deutsche auf logistische und finanzielle Grenzen. Das Marktmo- Demokratie vermittelt wird. dell – es ist ein komischer Begriff für ein ganz einfaches (Eckhardt Barthel [Berlin] [SPD]: Auch in System – ist schon häufig erwähnt worden. Es bedeutet: Nordkorea! – Gegenruf des Abg. Hans- Wer die Musik bestellt, der bezahlt sie auch. Der Kern- Joachim Otto [FDP]: Etwas zähflüssig!) gedanke ist, dass es einen Grundtopf gibt und diejenigen, die eine weitere Versprachlichung fordern, diese extra – In Pjöngjang ist jetzt gerade ein Lesesaal hinzugekom- bezahlen müssen. men. Das ist unglaublich wichtig für eine Region, in der es keine Pressefreiheit gibt. Die jungen Generationen Die deutsche Sprache erhält eine eindeutige Aufwer- saugen das wie ein Schwamm auf. tung, weil gleichzeitig für alle 94 Arbeitsgruppen, die dem Marktmodell unterliegen, eine Vollverdolmet- Ich mache auch immer auf www.deutschland.de auf- schung ins Deutsche beantragt wurde. Damit wird merksam. Da präsentieren wir uns in fünf Sprachen. Es Deutsch als Arbeitssprache in der Europäischen Union ist eine Chance nicht nur für junge Leute, wenn sie Inte- weiterhin gestärkt. Herr Steenblock hat schon darauf resse an Deutschland haben, auf diese Seite zuzugreifen hingewiesen: Bei der Verabschiedung des neuen EU-Be- und mehr über Deutschland zu erfahren. Die Deutsche amtenstatus am 22. März dieses Jahres ist entschieden Welle wäre auch ein Thema, das wir noch erwähnen worden, dass eine dritte EU-Sprache für eine Beförde- könnten. rung Pflicht ist. Zum Schluss möchte ich aus der Begründung des An- (Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Aber trags zitieren: in Datenbanken und in Ausschreibungen ist es Die Verbreitung von Deutsch als Fremdsprache im das immer noch nicht!) Ausland ist von ganz zentraler Bedeutung. Durch Ich bin Mitglied der Parlamentarischen Versammlung die Sprache wird eine Beschäftigung mit dem Land, des Europarates. Da erlebe ich häufig, dass Vertreterinnen den Menschen und der Kultur erreicht. und Vertreter aus anderen Ländern, in deren Sprache nicht Ich hätte es nicht besser als der gemeinsame Antrag sa- übersetzt wird, den deutschen Kanal hören. Diesen Schatz gen können. müssen wir uns erhalten. Das sehe ich als Erfolg an. Vielen Dank. Es gibt noch einen weiteren Aspekt in dem Antrag. Das ist die Pflege der deutschen Sprache im Ausland, (Beifall im ganzen Hause) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. April 2004 9249

(A) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: ähnlich wie das vorige Thema „Deutsch als Arbeitsspra- (C) Ich schließe die Aussprache. che auf EU-Ebene“ fraktionsübergreifende Zustimmung finden. Betrachtet man die Infrastrukturmaßnahmen Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschus- als Ausgangspunkt, dann zeigt sich, dass zum Beispiel ses für Kultur und Medien auf Drucksache 15/1951. Der bei Schulen, Kindergärten, sozialen Einrichtungen, Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Be- Krankenhäusern und Straßen sowie im Personennahver- schlussempfehlung die Annahme des Antrags der Frak- kehr, in der Wasserversorgung, bei der Kommunika- tionen der SPD, der CDU/CSU, des Bündnisses 90/Die tionstechnik und in vielen anderen Bereichen ein gewal- Grünen und der FDP auf Drucksache 15/1574 mit dem tiger Bedarf besteht. Titel „Deutsch als Arbeitssprache auf europäischer Ebene festigen – Verstärkte Förderung von Deutsch als Für die Kommunen beläuft sich der Investitionsbe- erlernbare Sprache im Ausland“. Wer stimmt für diese darf für Infrastrukturmaßnahmen bis 2009 auf eine Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltun- Summe von fast 700 Milliarden Euro, sei es für die gen? – Die Beschlussempfehlung ist einstimmig ange- Energieversorgung, den Wohnungsbau, die Telekommu- nommen worden. nikation und Ähnliches. Allein bei den Schulen beläuft sich der Investitionsbedarf – zum Beispiel für den Bau Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss, den An- und die Sanierung von Schulen – auf 80 Milliarden trag der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 15/468 Euro. Die Kommunen bzw. die öffentliche Hand können mit dem Titel „Deutsch als dritte Arbeitssprache auf eu- diese Summen nicht mehr aufbringen. ropäischer Ebene – Verstärkte Förderung von Deutsch als lernbare Sprache im Ausland“ für erledigt zu erklä- (Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: Warum ren. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Ge- denn?) genstimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfeh- Nun fragen wir uns, wie wir diesem Problem beikom- lung ist einstimmig angenommen worden. men können. Warum ist die Situation so schwierig ge- Ich rufe die Tagesordnungspunkte 9 a und 9 b auf: worden? Die Gründe dafür aufzuzählen würde sicherlich eine abendfüllende Veranstaltung: die Verschuldung der a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- öffentlichen Hand, die Vorbelastungen aus den 16 Regie- richts des Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit rungsjahren von Helmut Kohl – der Kollege hat nach (9. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten den Gründen gefragt, also bekommt er auch die entspre- Dr. Michael Bürsch, Ludwig Stiegler, Klaus chende Antwort –, Brandner, weiterer Abgeordneter und der Frak- (Anton Schaaf [SPD]: Sie erinnern sich nur an tion der SPD sowie der Abgeordneten Volker die letzten fünf Jahre! Den Rest haben sie ver- Beck (Köln), Werner Schulz (Berlin), Katrin (B) drängt!) (D) Göring-Eckardt, Krista Sager und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN das hohe Leistungsniveau des Staates und nicht zuletzt auch die deutsche Einheit. Sie ist uns zwar lieb und Öffentlich-private Partnerschaften teuer, aber wir müssen dafür wahrscheinlich noch über – Drucksachen 15/1400, 15/2663 – sehr viele Jahre mehr als 100 Milliarden Euro allein von staatlicher Seite aufbringen. Das ist aber berechtigt; Berichterstattung: denn in den neuen Ländern gibt es einen gewaltigen In- Abgeordneter Werner Schulz (Berlin) frastrukturbedarf. b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Otto Wir können nun den klassischen Weg weiterbeschrei- Fricke, Gudrun Kopp, Rainer Brüderle, weiterer ten und die Verschuldung erhöhen, indem wir versuchen, Abgeordneter und der Fraktion der FDP die notwendigen Mittel weiterhin aus öffentlicher Hand Privatisierung und öffentlich-private Partner- aufzubringen, oder wir können – was die FDP als Kö- schaften nigsweg ansieht – alle Bereiche privatisieren. – Drucksache 15/2601 – (Otto Fricke [FDP]: Nicht alles!) Überweisungsvorschlag: Das wird von den Sozialdemokraten anders gesehen. Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f) Wir sehen in der Privatisierung keine Daueraufgabe für Innenausschuss die soziale Marktwirtschaft, werte Kolleginnen und Kol- Rechtsausschuss Finanzausschuss legen von der FDP. Wir sehen durchaus auch die Gefah- Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ren der Privatisierung. Ein Blick nach England zeigt, dass die in den 16 Jahren unter Maggie Thatcher durch- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die geführten Maßnahmen noch heute ihre Spuren hinterlas- Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Wider- sen. Das britische Gesundheitswesen ist nicht unbedingt spruch höre ich nicht. Dann ist so beschlossen. beispielhaft. Auch andere Bereiche, die umfassend pri- Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst vatisiert worden sind, zeigen, dass dieser Weg nicht der der Abgeordnete Michael Bürsch. beste ist. Insofern plädieren wir – das ist die Zielrichtung unse- Dr. Michael Bürsch (SPD): res Antrags – für einen dritten Weg, nämlich mit öffent- Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle- lich-privaten Partnerschaften eine neue Verantwor- gen! Das Thema, über das wir jetzt sprechen, könnte tungs- und Risikoaufteilung zwischen öffentlicher und 9250 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. April 2004

Dr. Michael Bürsch (A) privater Hand zu suchen. Es geht um eine Kooperation, Nehmen wir ein Beispiel aus England – so etwas gibt (C) wohlgemerkt auf derselben Augenhöhe, bei der die Auf- es in Anfängen auch schon in Deutschland –: Die Auf- gaben gemeinsam wahrzunehmen sind und die Risiken gabe, ein Gefängnis zu errichten und zu betreiben, wird – darum geht es bei solchen Partnerschaften immer – an eine öffentlich-private Partnerschaft vergeben. Natür- wie auch die dabei erzielten Gewinne gerecht verteilt lich wird die öffentliche Hand immer darauf achten müs- werden. sen, dass die Sicherheitsbelange gewahrt bleiben. Selbst- verständlich müssen bestimmte Aufgaben weiterhin im Sie von der FDP haben das viel zitierte Beispiel der Sinne des Staates erfüllt werden. Aber es steht nir- Maut aufgegriffen. Bei der Maut, wie sie bis vor zwei gendwo geschrieben, dass die Aufgabenwahrnehmung oder drei Monaten gehandhabt worden ist, gab es aber nicht auch durch private Dienste erfolgen kann. keine öffentlich-private Partnerschaft; vielmehr wurde im Zusammenhang mit der Einführung eines Mautsys- Die Engländer haben einen wunderbaren Vergleich tems ein Auftrag vergeben. Es gab einen Auftraggeber angestellt, als ich vor kurzem über ein solches Projekt, – die öffentliche Seite – und einen Auftragnehmer. Der also das Errichten und Betreiben eines Gefängnisses, ge- Auftrag ist auf vielen Seiten schriftlich festgehalten wor- sprochen habe – er macht vielleicht auch beispielhaft den. den Unterschied zwischen England und Deutschland deutlich, wo es bereits eine vergleichbare Ausschreibung Bei der Maut hat es keine öffentlich-private Partner- gibt –: Die Deutschen werden in einem solchen Falle mit schaft gegeben, bei der eine solche ausführliche Auf- deutscher Gründlichkeit alles bis in das kleinste Detail tragsbeschreibung im Übrigen nicht nötig ist, weil diese – die Höhe der Mauern, der Fenster und der Türen – be- Partnerschaft auf etwas anderem basiert, nämlich auf schreiben. Die Engländer dagegen legen als Aufgaben- Vertrauen. In gegenseitigem Vertrauen müssen unerwar- stellung bzw. Rahmenbedingung einfach vertraglich fest, tete Risiken gemeinsam verantwortet und getragen wer- dass niemand aus dem Gefängnis entkommen darf. Das den. ist alles; das ist schließlich die Zielstellung. Wenn je- Die Maut ist jetzt auf gutem Wege. Ich bin der Über- mand entkommt, muss dafür natürlich Verantwortung zeugung, dass wir ein so riesiges Projekt auch als Vor- übernommen und müssen Konsequenzen gezogen wer- zeigeprojekt brauchen, um zu zeigen, dass es der bessere den. Ich wünsche mir, dass wir Deutschen uns an sol- Weg ist, wenn sich die öffentliche Seite mit der privaten chen Beispielen orientieren. Das wäre nämlich ein wun- Seite zusammentut. Wir können einerseits die Vorteile derbarer Beitrag zur Entbürokratisierung und zur der privaten Seite und die damit verbundenen Effizienz- Vereinfachung. Zudem entspräche es dem, was ich unter gewinne, die vorsichtig geschätzt 10 bis 20 Prozent aus- öffentlich-privater Partnerschaft verstehe, nämlich eine machen, nutzen. Kooperation auf gleicher Augenhöhe und mit gegen- (B) seitigem Vertrauen, in der die Risiken und die Chancen (D) (Alexander Dobrindt [CDU/CSU]: Wenn es gerecht verteilt werden. klappt!) Ich möchte noch einmal in Erinnerung rufen, dass der Andererseits haben wir aber auch weiterhin die Mög- Investitionsbedarf bis 2009 auf kommunaler Seite bei lichkeit, steuernd einzugreifen und die Aufgabe wahrzu- fast 700 Milliarden Euro liegt. Davon entfallen allein nehmen, die die öffentliche Hand wahrnehmen muss, 80 Milliarden Euro auf den Bau und die Ausstattung un- nämlich für soziale Gerechtigkeit und Gleichheit vor serer Schulen. Nach Schätzungen von Fachleuten könnte dem Gesetz zu sorgen. etwa ein Drittel der Aufgaben in diesem Bereich in Form von öffentlich-privaten Partnerschaften erledigt werden. (Otto Fricke [FDP]: Chancengleichheit!) Das wäre allein im Bereich der Schulsanierung ein Auf- tragsvolumen von rund 26 Milliarden Euro. Wohlge- – Auch für Chancengleichheit. – Die öffentlich-private merkt, niemand sollte glauben, dass damit die Finanz- Partnerschaft nutzt also die Möglichkeiten der privaten not der öffentlichen Hand in irgendeiner Weise Seite, insbesondere die bessere Qualität, die man durch behoben werden kann. Öffentlich-private Partnerschaf- private Aufgabenwahrnehmung erreichen kann. Aber sie ten sind kein Allheilmittel und dürfen erst recht nicht zur lässt auch die Möglichkeiten zu, Einfluss zu nehmen, Bildung von Schattenhaushalten führen. Sie sind ledig- wie das im Interesse der Öffentlichkeit tatsächlich not- lich ein modernes Instrument des Zusammengehens und wendig ist. der Kooperation von öffentlicher und privater Seite zum Diese vertraglich geregelte Kooperation wird bislang beiderseitigen Nutzen. Insofern werbe ich für dieses In- bei uns leider fast nur unter dem Gesichtspunkt der In- strument. vestition betrieben. Wenn man sich andere Länder, ins- Liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, lassen besondere England, anschaut, dann stellt man fest, dass Sie uns das gemeinsam machen. Liebe Kolleginnen und diese schon wesentlich weiter sind. Der Charme einer Kollegen von der CDU/CSU, das ist kein Konfliktthema, öffentlich-privaten Partnerschaft entfaltet sich erst rich- sondern ein Instrument der Modernisierung von Staat tig – dies nutzen wir noch gar nicht –, wenn man eine und Gesellschaft, das uns allesamt voranbringen wird. solche Partnerschaft über den gesamten Lebenszyklus einer Infrastruktur zum Gegenstand eines Vertrages Danke schön. macht, das heißt, wenn man die Effizienzgewinne und die damit verbundene Qualität über den gesamten Le- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ benszyklus nutzt. DIE GRÜNEN) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. April 2004 9251

(A) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Wir sollten erst einmal nachdenken. Am Anfang (C) Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Dr. Michael müsste eine Aufgabenkritik des Staates stehen. Was der Fuchs. Staat nicht machen muss, das darf er auch nicht machen. Er sollte sich da also zurückhalten. Sie benennen große Bereiche in Bezug auf PPP, zum Beispiel die sozialen Dr. Michael Fuchs (CDU/CSU): Dienste. Ich bin der Meinung, dass wir gerade hierbei Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und auf mehr Eigenverantwortlichkeit der Bürger setzen soll- Herren! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Verehrter ten. Dem Subsidiaritätsgedanken folgend sollten wir Herr Kollege Bürsch, „Es gibt nichts Gutes, außer man möglichst viele Dinge nach unten delegieren. Die Arbeit tut es“, sagte schon Erich Kästner. All das, was Sie uns der Privaten ist sicherlich nicht nur kostengünstiger, son- gerade mit viel Feuer und Pathos vorgetragen haben, dern auch besser für die Bürger. können Sie tun. Niemand hält Sie auf, das öffentliche Vergaberecht so zu verändern, wie Sie sich das vorge- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) stellt haben. Neben der Aufgabenkritik muss der Staat allerdings (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – zuallererst seine Hausaufgaben machen. Unsere Staats- Dr. Michael Bürsch [SPD]: Steht im Antrag quote liegt mittlerweile bei 50 Prozent. Ist das noch so- drin!) ziale Marktwirtschaft? Wir wünschen uns das Ganze. Eine Partnerschaft, wie (Gudrun Kopp [FDP]: Die Staatsquote ist Sie sie gefordert haben, hat ihren Nutzen darin, dass man höher!) Dinge zu zweit besser als allein bewältigen kann. – Frau Kollegin Kopp, Sie haben vollkommen Recht: (Dr. Michael Bürsch [SPD]: Wie in der Ehe!) Unsere Staatsquote ist schon höher als 50 Prozent, Ten- denz ständig steigend. Wenn das stimmt, was in den De- Dies trifft auf das Thema der heutigen Debatte bes- batten heute Morgen gesagt worden ist, dann sind wir tens zu. Es ist richtig, sich mit dem Thema „Public Pri- mittlerweile in Richtung 55 Prozent unterwegs. vate Partnership“ oder – eben hat die Debatte über Deutsch als Arbeitssprache auf EU-Ebene stattgefun- Von sozialer Marktwirtschaft kann keine Rede mehr den – „ÖPP“, also öffentlich-private Partnerschaften, zu sein. Wir sollten ÖPP deswegen nicht als ein Ausweich- beschäftigen. Es geht um die Frage, was der Staat allein manöver betrachten, um die grundlegenden Probleme zu bewerkstelligen hat und in welchen Bereichen priva- erst einmal zu umgehen. tes Unternehmertum besser wäre. Von Bereichen, in de- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) nen dies der Fall ist, brauchen wir einfach mehr. (B) Die zugrunde liegenden Fakten, Herr Kollege Bürsch, (D) Meiner Meinung nach ist der Staat beispielsweise sind nämlich erdrückend: Unsere Steuereinnahmen sin- nicht dafür zuständig – Sie haben das in der Debatte ken ständig, die Ausgaben für Sozialleistungen steigen heute Morgen gefordert –, eine neue Behörde zur Erhe- ständig und auch die Investitionen gehen immer weiter bung der Ausbildungsplatzabgabe zu gründen. Dort zurück. In der gestrigen Verkehrsdebatte wurde deutlich, müssten zusätzlich 1 000 Mitarbeiter eingestellt werden. dass in diesem Jahr kaum noch Investitionen im Ver- Das würde uns in der Zukunft mit 72 Millionen Euro pro kehrsbereich, und zwar auf allen Ebenen – Straße, Jahr belasten. Schiene etc. –, vorgenommen werden. Ich sage Ihnen (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) schon jetzt voraus: Die Arbeitslosigkeit im Tiefbausek- tor wird dieses Jahr erheblich steigen. Das ist eine Folge Die angestrebten Investitionsmöglichkeiten haben wir Ihrer Politik. dann wieder nicht, Herr Kollege Bürsch. Es kann nicht angehen, dass wir zwei Haushaltsjahre Der heutige Sozialstaat interveniert meiner Meinung hintereinander das verfassungsrechtlich verankerte Ziel, nach in viel zu vielen Bereichen, vor allen Dingen in den für eine bestimmte Investitionshöhe zu sorgen, nicht er- Bereichen der Daseinsvorsorge. Er hat den Höhepunkt reicht haben. Wir werden dieses Ziel auch dieses Jahr seiner Leistungsfähigkeit absolut überschritten. Er nicht erreichen. Ich sage Ihnen voraus: Wir werden die krankt daran, dass im Prinzip nur noch – ich denke, darin 40-Milliarden-Euro-Grenze im Haushalt dieses Jahres sind wir uns fast alle einig – umverteilt wird. Der Staat wieder überschreiten; die Investitionen werden wieder sollte aber nur dort eingreifen, wo es allen zum Nutzen wesentlich niedriger als die konsumtiven Ausgaben sein. gereicht und wo es um hoheitliche Aufgaben geht. Alle anderen Dinge sollte er Privaten überlassen. (Alexander Dobrindt [CDU/CSU]: Leider wahr!) Subsidiarität – ein Wort, das wir alle in Sonntags- reden von jedem Politiker immer wieder hören – ist in Das hat eben katastrophale Auswirkungen auf den Ar- vieler Hinsicht nur noch eine Worthülse; dennoch beitsmarkt und auf die Wirtschaft insgesamt. Sichtbare müsste es wieder zum zentralen Thema in der Politik Folgen sind die Staus auf den Autobahnen und die werden. Daher begrüßt es die Union, dass der Privatisie- Raumnot in den Hochschulen. Wir hören von Ihnen im- rung im FDP-Antrag Vorrang vor öffentlich-privaten mer Diverses über Bildungsprogramme, aber über Kür- Partnerschaften einräumt wird. zungen bei den Investitionen müssen wir auch etwas ver- nehmen. In vielen Bereichen Deutschlands gibt es (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Straßen, die man bald nur noch mit Geländewagen 9252 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. April 2004

Dr. Michael Fuchs (A) befahren kann. Die Schwimmbäder in den Kommunen spiel nichts davon, jetzt wieder neue Kommissionen (C) werden geschlossen. Na gut, wir haben ja Mosel, Rhein, oder Arbeitsgruppen beim Bauministerium zu bilden, Spree etc. da können unsere Kinder dann schwimmen länderübergreifende Zusatzarbeitsgruppen einzurichten gehen. In vielen Schulen und Kindergärten sieht es so etc. Das alles hilft uns nicht weiter. aus, dass die Kinder nur noch mit Schutzhelmen hinein- gehen können. Wir sollten möglichst unbürokratisch arbeiten. Ich warte schon lange auf die Vorschläge des Ankündi- Das alles sind Folgen einer Politik, die die Kommu- gungsministers Clement zum Bürokratieabbau. Da sind nen an den Rand des Abgrunds gebracht hat. Das hat wir bis jetzt keinen Zentimeter weitergekommen. dazu geführt, dass wir bei der Reform im Gemeindefi- nanzbereich nichts vernünftig hinbekommen haben. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Gudrun Kopp [FDP]: Leider wahr!) Ich will Ihnen das aus meiner Heimatstadt Koblenz schildern. Im letzten Jahr hatten wir bei einem Etat von Herr Kollege Bürsch, ich bin nicht mit Ihnen der Mei- 247 Millionen Euro eine Neuverschuldung von 51 Mil- nung, dass die Maut kein Beispiel von ÖPP ist. Es ist lionen Euro, davon allein 12 Millionen Euro zusätzlich doch so, dass der Staat einem privaten Konsortium eine für die Jugendhilfe. So etwas kann keine Kommune Aufgabe übertragen hat, und zwar die Aufgabe, für ihn mehr bewältigen. Es müssen Gesetze her, die die Kom- Maut-Gelder zu erheben. Das ist ein klassisches Beispiel munen wieder handlungsfähig machen, die die Kommu- einer ÖPP. nen wieder in die Lage versetzen zu investieren. Was ist dabei herausgekommen? Es ist ein Versagen (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Ihres Ministers Bodewig gewesen, der – Entschuldi- neten der FDP – Anton Schaaf [SPD]: Das ha- gung – lausige Verträge gemacht hat, ben Sie doch verhindert! – Hans-Werner Bertl (Otto Fricke [FDP]: Wieso Versagen? Das war [SPD]: Das haben Sie doch bei der Gewerbe- doch Absicht!) steuer verhindert! – Alexander Dobrindt [CDU/CSU]: Das haben die vorgestern im die er zwei Tage vor der Wahl – und damit seiner Ab- Ausschuss abgelehnt!) wahl durch den Bundeskanzler sozusagen – noch schnell unterschrieben hat. „Honi soit qui mal y pense!“, sagt Auch dazu eine Zahl. 1992 war das Investitionsvolumen der halbgebildete Franzose. der Kommunen 10 Milliarden Euro höher als heute. (Dr. Ditmar Staffelt, Parl. Staatssekretär: Wir (Hans-Werner Bertl [SPD]: Haben wir die haben doch über Deutsch gesprochen!) 6 Milliarden für die Kommunen verhindert (B) oder Sie?) – Ich kann es Ihnen gern übersetzen, Herr Staffelt; keine (D) Sorge. Das mache ich dann aber nachher. – Das zeigt Daher fordere ich Sie auf: Überlassen Sie viele Berei- doch, dass da irgendetwas nicht in Ordnung war. Einen che dem privaten Sektor und den natürlichen Regeln des solch komplizierten Vertrag unterschreibt man nicht Wettbewerbs! Erst in einem zweiten Schritt sind dann zwei Tage vor einer Wahl. Die Folgen haben wir jetzt zu ÖPP anzugehen. So sinnvoll diese ÖPP-Maßnahmen tragen. sind: Ich warne davor, sie zu überschätzen. Ich halte sie für eine Second-best-Lösung. Meiner Meinung nach Es gibt aber auch noch eine ganze Reihe anderer Bei- sollte in vielen öffentlichen Bereichen zunächst einmal spiele dafür, dass das nicht klappt. Ich nenne den Vertei- die Privatisierung Vorrang haben. digungsbereich. Nehmen wir doch einmal die GEBB! Herr Kollege Bürsch, ich empfehle Ihnen, sich das ein- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) mal anzuschauen. Ich bin ja Koblenzer und habe mit Selbstverständlich begrüßen wir ÖPP. Aber das kann dem BWB viel zu tun. Gehen Sie dahin und hören sich nur nach den Prinzipien des Wettbewerbs gehen. Es an, was bei der GEBB läuft! Es ist ein Desaster. Das gilt muss unbürokratisch sein. Moderne Maßnahmen sollte genauso für die LH Bundeswehr Bekleidungsgesell- man heute natürlich IT-stützen. Großbritannien, der schaft oder auch für die Fuhrpark-Service GmbH. Ich große Vorreiter in Sachen ÖPP, hat bewiesen, dass pri- habe das Gefühl: Alle diese Dinge sind eigentlich nur vatwirtschaftlich durchgeführte Projekte – Sie haben dazu da, dass man Posten schafft, Aufsichtsrats- und eben das Beispiel mit den Gefängnissen genannt – um Vorstandsposten, auf die man Leute entsorgt. 20 Prozent günstiger realisiert werden als staatlich (Alexander Dobrindt [CDU/CSU]: Für ehe- durchgeführte. malige Wirtschaftsminister!) Aber hierzulande fehlt der Mut. Das verschlingt Geld. Geld hat das bisher nicht ge- (Alexander Dobrindt [CDU/CSU]: Und das bracht. Fragen Sie bitte den ehemaligen Verteidigungs- Können!) minister, was er damals zur GEBB angekündigt hat und dazu, was wir in Koblenz denn an Privatisierung erwar- Ihr Antrag ten dürften, wie schnell die Objekte verkauft würden! (Dr. Michael Bürsch [SPD]: Guter Antrag!) Nichts ist verkauft! Gucken Sie bitte nach, was von der GEBB im letzten Jahr verkauft wurde! – Nichts! zeigt mir, Herr Kollege Bürsch, dass Ihnen der Mut fehlt. Es wird eine ganze Menge von Vorschlägen gemacht, So kann man das nicht machen. So werden wir bei über die man nachdenken kann. Aber ich halte zum Bei- ÖPP-Projekten mit Sicherheit keine Chance haben. Wir Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. April 2004 9253

Dr. Michael Fuchs (A) brauchen deswegen keine Taskforce im Verkehrsminis- Leistungen der öffentlichen Hand bisher in Eigenregie, (C) terium und keinen zusätzlichen Behördenapparat. Das nach eigenen Regeln, organisiert und durchgeführt wur- widerspricht ja dem Gedanken, den Sie und ich für rich- den. Mit ÖPP ergibt sich nun die Möglichkeit, alte, ein- tig halten. gefahrene Abläufe zu hinterfragen und moderne Techno- logien verstärkt zu nutzen. Für diese Organisationsform Deutschland wird zu Recht als Trockenschwimmerre- schafft der Antrag von SPD und Grünen, den wir hier le- publik bezeichnet. Es wurde ein 1 500 Seiten starkes sen, die Voraussetzungen. Gutachten angefertigt, aber nichts passiert. Wir brauchen Leuchtturmprojekte, die die Leute anregen, solche Pro- Wir müssen uns in diesem Kontext natürlich auch mit jekte durchzuführen, und nicht zusätzliche Bürokratie in übergeordneten Fragen beschäftigen. Wir müssen die Form von weiteren Kommissionen. Da sind Sie auf dem Debatte darüber führen, was wir uns als Staat heute leis- falschen Wege. Deswegen müssen wir Ihren Antrag lei- ten können und wo wir Staatsaufgaben entrümpeln müs- der ablehnen. Er ist vom Grundgedanken her in Ord- sen. Privatisierung wie ÖPP sind dabei an unterschiedli- nung, aber von der Organisation her falsch. chen Stellen wichtige Instrumente. Sich aber nur auf (Beifall bei der CDU/CSU und der reine Privatisierung zu verlassen oder gar einen Automa- FDP – Dr. Michael Bürsch [SPD]: Da sind wir tismus einzuräumen, wie der FDP-Antrag es formuliert, ja schon mal einig! Aber Enthaltung wäre auch wäre weit über das Ziel hinausgeschossen. ein Weg!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Alex Bonde. Wichtig ist, dass Wirtschaft und öffentliche Hand gemeinsam Lösungen für die Erbringung öffentlicher Dienstleistungen suchen. Mit dem Antrag soll ein guter Alexander Bonde (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ordnungsrahmen geschaffen werden, der sichere Inves- Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! titionen ermöglicht und für Vertrauen sorgt. Durch ÖPP Mit den öffentlich-privaten Partnerschaften, ÖPP – ich soll ermöglicht werden, dass Kooperationspartner zu- gebe zu, PPP ist gebräuchlicher, aber der Hinweis auf nächst voneinander lernen und im nächsten Schritt die die letzte Debatte ist ja bereits erfolgt –, beschreiten wir Erfahrungen nutzen und die Kooperation umsetzen. Auf neue Wege, um die Modernisierung des Staates voranzu- kommunaler Ebene sind wir da zugegebenermaßen wei- bringen, die Bürokratie zu verschlanken und mehr Effi- ter. Mit dem vorliegenden Antrag tragen wir dieser Tat- zienz und Leistungsfähigkeit in öffentliche Verwaltun- sache Rechnung, indem wir eine ebenso häufige Anwen- gen zu bringen. Angesichts der derzeitigen Probleme ist (B) dung dieser Organisationsform auf Länderebene und (D) ÖPP ein Instrument, dessen Möglichkeiten wir bei wei- Bundesebene ermöglichen. Dafür müssen wir aus den tem noch nicht ausschöpfen. Gerade als Haushaltspoliti- gemachten Erfahrungen lernen. Es bedarf der Überprü- ker – durch die Berichterstattung für Bildung und For- fung der rechtlichen Rahmenbedingungen, die durch schung sowie Verteidigung bin ich außerdem in zwei unseren Antrag angeschoben werden. Bedeutsam ist bei- Bereichen mit ersten ÖPP-Projekten tätig – möchte ich spielsweise die Anpassung des Haushaltsrechts und der für die weitere Nutzung dieser Möglichkeiten werben. BHO, unter anderem um einen einheitlichen Maßstab für Herr Kollege Dr. Fuchs, weil Sie die GEBB, die Fuhr- Wirtschaftlichkeitsvergleiche zu schaffen. Genauso park-Service GmbH und die LH Bundeswehr Beklei- wichtig sind die Überprüfung des Vergaberechts und die dungsgesellschaft angesprochen haben: Ich will gar steuerliche Gleichbehandlung der unterschiedlichen Mo- nicht bestreiten, dass es bei ÖPP-Projekten nicht auch delle. Schwierigkeiten gibt. Aber wenn Sie sich auf den Stand- Wir reden über eine Vielzahl von politischen Berei- punkt stellen, dass Sport gut für die Gesundheit ist, dann chen, in denen wir mit ÖPP vorankommen können. Mit können Sie nicht beim ersten Seitenstechen mit dem Jog- der Wirtschaft haben wir im Bereich Bildung und For- gen aufhören, sondern dann stellt sich die Frage, ob Sie schung erfolgreiche Kooperationen für den flächende- bereit sind, das auch durchzuziehen. ckenden Anschluss von Schulen an das Internet ab- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN schließen können. Im Bereich des Einzelplans 14, der und bei der SPD – Dr. Michael Bürsch [SPD]: Verteidigung, gibt es Gebiete, die nicht gut vorankom- Marathonlauf ist angesagt! – Christian men, wie Sie beschrieben haben. Ebenso gibt es aber Ge- Freiherr von Stetten [CDU/CSU]: Warm ma- biete, die deutlich machen, wie wichtig ÖPP in den chen! Dann passiert das nicht! – Dr. Michael nächsten Jahren sein wird. Fuchs [CDU/CSU]: Nennen Sie einmal ein Großprojekt, das gut gelaufen ist!) Ich nenne beispielsweise das Projekt „Herkules“. Mit diesem Projekt sind wichtige Fragen verbunden. Die Ich bin mir sicher – da sind wir uns auch einig –, dass Frage, wie die gesamte IT-Struktur der Bundeswehr durch ÖPP nicht überall finanzielle Einsparungen mög- modernisiert werden kann, schreit geradezu danach, lich sind, wohl aber die effizientere Nutzung von Res- neue Wege zu gehen. Über eine Anschubfinanzierung sourcen und häufig mehr oder bessere Leistung pro für die Modernisierung könnte man dieses Pilotprojekt Steuer-Euro. Wenn wir dabei auch noch die Kluft zwi- so vorantreiben, wie es die Bundeswehr allein mit den schen öffentlichem Raum und privater Wirtschaft redu- ihr zur Verfügung stehenden IT-Mitteln nicht schaffen zieren, ist das umso besser. Wir alle wissen, dass die könnte. 9254 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. April 2004

Alexander Bonde (A) Wir alle können zu Recht Zweifel daran anmelden, ob geschaffen, dass der Staat in den Bereichen, die staatlich (C) die Bundeswehr in Eigenregie die Modernisierung der geregelt werden müssen, handeln kann. IT, die Einführung von SAP und das Betreiben von Re- chenzentren – das alles sind Prozesse, die in der Wirt- Wir müssen damit anfangen, die vorhandenen Struk- schaft tagtäglich ablaufen und für die in der Wirtschaft turen zu evaluieren und neue Strukturen zu schaffen. Erfahrungen vorliegen – wirtschaftlicher durchführen Neue Strukturen können wir durch die öffentlich-priva- kann. Wir müssen uns vielmehr fragen, ob es an dieser ten Partnerschaften aufbauen. Die FDP steht diesem Stelle nicht angebracht ist, von der Erfahrung der Wirt- Vorhaben positiv gegenüber. Ein solches Instrument schaft zu profitieren. kann durchaus sinnvoll sein, wenn es effizient eingesetzt wird. Dann trägt es dazu bei, Leistungen, die im öffentli- Die Tatsache, dass Projekte dieser Art auch in der chen Interesse liegen, kostengünstig zu erbringen. Man Wirtschaft von keinem Konzern mehr selbstständig muss aber beachten, dass nicht alle Leistungen komplett durchgeführt werden, spricht dafür, in diesem Bereich von privater Seite erbracht werden können. In diesem neue Wege zu beschreiten. Komplexer werdende Anfor- Fall ist ÖPP ein sehr sinnvolles Instrument. derungen und neue Technologien erfordern von der Poli- tik zwingend neue Wege, Kooperationen und Finanzie- Lieber Herr Kollege Bürsch, Sie haben in Ihrem An- rungsmechanismen. trag gute Beispiele für ÖPP genannt. Wir sind uns grund- sätzlich einig, dass dies ein sinnvoller Ansatz ist. Aber Ich glaube, wir wären an dieser Stelle gut beraten, ge- Sie haben in Ihrem Antrag nicht an einer einzigen Stelle meinsam voranzugehen. Wir alle wissen, wo die Defizite die Privatisierung erwähnt. in der öffentlichen Verwaltung liegen. Wir alle wissen auch, dass es insbesondere in Zeiten knapper Kassen für (Beifall bei der FDP) den Staat schwierig ist, zu handeln. Insofern hoffe ich, dass wir es jenseits allen Parteienstreits und jenseits der Sie sprechen immer nur von ÖPP. Ich finde es sehr inte- verschiedenen ideologischen Ansätze, die auch in diese ressant, dass Sie die vorhin von dem Kollegen Fuchs ge- Debatte eingeflossen sind, hinbekommen, unseren Staat nannten Beispiele in Ihrem Antrag erwähnen. Sie spre- moderner zu gestalten und die notwendigen Rahmenbe- chen von dem Lenkungsausschuss, den Sie eingerichtet dingungen zu schaffen. haben, und von der Gesellschaft zur Finanzierung von Verkehrsinfrastrukturmaßnahmen. Von der GEBB war Erste Erfahrungen liegen vor. Lassen Sie uns gemein- ebenfalls die Rede. Das alles sind aber Beispiele für kos- sam daraus lernen! tenträchtige Flops und nicht etwa Beispiele, die zeigen, Vielen Dank. wie man ÖPP so nach vorn bringen kann, wie wir uns (B) das vorstellen. (D) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Sie schreiben in Ihrem Antrag sehr richtig, dass es nö- Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Gudrun Kopp. tig ist, im Zusammenhang mit ÖPP-Modellen Erfahrun- (Dr. Michael Bürsch [SPD]: Jetzt kommt die gen und Erkenntnisse zu sammeln und daraus Schluss- blanke Privatisierung!) folgerungen zu ziehen, um auf diesem Gebiet erfolgreich zu sein. Aber an all dem, was Sie sich selber verschrie- ben haben, fehlt es. Den Antrag haben Sie im vergange- Gudrun Kopp (FDP): nen Jahr eingebracht. Inzwischen hat uns alle das Maut- Frau Präsidentin! Sehr geehrte Herren und Damen! desaster – das kann man ja nur als „Desaster“ Jawohl, jetzt kommt die blanke Privatisierung. – Lassen bezeichnen – überrollt. Dies zeigt, dass es Ihnen nicht Sie mich zunächst einmal zur Ausgangslage zurückkeh- gelungen ist, in diesen Bereichen Erkenntnisse zu erwer- ren. Wir alle wissen, dass die Staatskassen leer sind und ben, Schlussfolgerungen zu ziehen und dies dann auch dass es immer noch starre Strukturen und eine riesige tatsächlich umzusetzen. Bürokratie gibt. Unterm Strich kann man sagen: Der Staat ist seit langem überfordert mit der großen Anzahl (Dr. Michael Bürsch [SPD]: Es gibt einen von Aufgaben und Lasten. Es ist dringend notwendig, neuen Vertrag, Frau Kollegin! Der ist der rich- dass er sich davon befreit. tige Weg!) An welcher Stelle soll man anfangen? Es ist natürlich Die FDP-Bundestagsfraktion legt Ihnen hingegen völlig klar, dass wir eine umfassende Steuerreform und einen Antrag vor, in dem die vollständige Privatisierung auch eine Gemeindefinanzreform brauchen. vor ein ÖPP-Modell gesetzt wird. Wir haben die Vor- (Hans-Werner Bertl [SPD]: Oh! Was ist denn rangstellung der Privatisierung klar herausgestellt. Wir im Bundesrat mit der Gemeindefinanzreform sagen: Wenn trotzdem ÖPP-Projekte eingerichtet wer- passiert, Frau Kopp? Haben Sie die befürwor- den sollen, dann knüpfen wir das an bestimmte Bedin- tet?) gungen. Ich nenne ein paar: Zum einen sind parlamenta- rische Kontrollmöglichkeiten ganz wichtig, mit denen Dazu hat die FDP-Bundestagsfraktion ein ausgearbeite- ÖPP-Auswirkungen auf öffentliche Haushalte darge- tes Konzept vorgelegt. Damit würde die Grundlage dafür stellt werden können. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. April 2004 9255

Gudrun Kopp (A) (Dr. Michael Bürsch [SPD]: Zustimmung! – packen. Ich glaube, dass wir in diesem Lande die Res- (C) Gegenruf des Abg. Otto Fricke [FDP]: sourcen, die dieses Thema bietet, bisher nicht ausge- Danke!) schöpft haben. Darum sollten wir uns in der Hauptsache kümmern. Zum anderen brauchen wir dringend eine Prüfung der gesetzlichen Regelungen, und zwar im Hinblick auf die Niemand von den Antragstellern hat je behauptet, Verteilung des Risikos zwischen den Vertragsparteien, dass mit solchen Partnerschaften alle Probleme, die wir auf Haftungsfragen, Vergaben – das haben Sie selber in diesem Lande haben, gelöst werden könnten. Aber eben angesprochen – und die Durchführung sowie Be- dies ist als Ergänzung des Instrumentariums, das uns zur endigung von ÖPP-Projekten. Auch das sind wichtige Verfügung steht, interessant genug und es ist deshalb Merkmale, die berücksichtigt werden müssen. meines Erachtens auch wert, dass man dem nachgeht. (Dr. Michael Bürsch [SPD]: Richtig!) Nur darum wird in diesem Antrag gebeten. Er ist – ohne jede Verurteilung der Vergangenheit und nur nach vorne Zum letzten muss man dafür sorgen, dass bei ÖPP- gerichtet – absolut sachlich gehalten. Vorhaben des Bundes auch mittelständische Unterneh- men und nicht immer nur Großunternehmen eine Deshalb ist es umso enttäuschender, wenn vonseiten Chance haben, im Zusammenhang mit solchen Projekten der CDU/CSU auch bei diesem späten Tagesordnungs- öffentlich-private Partnerschaften einzugehen. Das kann punkt heute wieder nur herumgeeiert wird. Das fing man zum Beispiel sehr gut mit Landestestaten machen, heute Morgen an und setzte sich den ganzen Tag über die schon sehr erfolgreich in einem Bundesland ausgege- fort. ben wurden und die eine Firma unter zinsgünstigen Be- Im Übrigen haben wir viele der hier angesprochenen dingungen an Banken verkaufen kann. Unter solchen Aspekte berücksichtigt. Ich will am Anfang auf das ein- Voraussetzungen haben auch kleine und mittelständische gehen, was die Kollegin Kopp hier eben bezüglich der Unternehmen die Chance, hieran teilzunehmen. Mittelständler sagte. Es gibt beispielsweise ein ganz ex- (Dr. Michael Bürsch [SPD]: Zustimmung!) plizit mittelständisches Projekt in Monheim in Nord- rhein-Westfalen zur Unterhaltung von Schulen. Auch Dies ist also sehr wichtig. Dies sind Voraussetzungen, wir denken natürlich daran; die Länder denken daran. die wir vorher festsetzen müssen. Das Beispiel England wurde sehr häufig genannt. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Dazu sage ich Ihnen: Der britische Rechnungshof hat Gestatten Sie eine Zwischenfrage? vor kurzem eine Evaluierung vorgenommen und mitge- teilt, dass 75 Prozent aller ÖPPs rechtzeitig und budget- (B) Dr. Ditmar Staffelt, Parl. Staatssekretär beim Bun- (D) gerecht fertig gestellt werden konnten und dass enorme desminister für Wirtschaft und Arbeit: Kosteneinsparungen zu erzielen waren. Auch in Groß- britannien hat sich sehr viel zum Positiven entwickelt. Ja, bitte.

(Dr. Michael Bürsch [SPD]: Ja, genau!) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Privatisierungen sind also als vorrangig anzusehen; Bitte. ÖPPs sind als Zwischenschritt durchaus akzeptabel. Ich glaube, wenn es gelingt, beides miteinander zu verbin- Otto Fricke (FDP): den, dann wird es auch gelingen, den Wirtschaftsstand- Herr Kollege Staffelt, Sie haben eben ausgeführt, das ort Deutschland zu revitalisieren. Ich bitte Sie: Überprü- sei ein netter, freundlicher – ich will nicht sagen: harm- fen Sie Ihren Antrag und stimmen Sie unserem loser – Antrag. Ich möchte Ihnen die Kernfrage stellen: letztendlich zu! Würden Sie mir zustimmen, dass dieser Antrag nicht Vielen Dank. sagt, dass Privatisierung vor Public Private Partnership geht? (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Dr. Michael Bürsch [SPD]: Das Erste ja, das (Dr. Michael Bürsch [SPD]: Weil das falsch Zweite nicht! Im Prinzip verstehen wir uns, ist, sagt er das nicht!) Frau Kollegin! Aber keine Privatisierung!) Dr. Ditmar Staffelt, Parl. Staatssekretär beim Bun- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: desminister für Wirtschaft und Arbeit: Der Parlamentarische Staatssekretär Ditmar Staffelt Das kann ich Ihnen gerne beantworten. Das trifft hat jetzt das Wort. meine tiefe Überzeugung. (Beifall des Abg. René Röspel [SPD]) Dr. Ditmar Staffelt, Parl. Staatssekretär beim Bun- desminister für Wirtschaft und Arbeit: Eine solche Haltung wäre gegen das Haushaltsrecht ge- Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und richtet. Jeder, der über eine öffentliche Investition zu Herren! Lassen Sie mich zu Beginn meiner kurzen Aus- entscheiden hat, hat die Möglichkeit zu suchen, die für führungen darauf hinweisen, dass ich glaube, dass es die jeweilige Gebietskörperschaft die wirtschaftlich nicht der Sache dient, wenn wir alle Probleme dieser beste ist. Das kann eine private Lösung sein; das kann Welt in das Thema „öffentlich-private Partnerschaften“ eine öffentliche Lösung sein. Das kann aber auch – das 9256 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. April 2004

Parl. Staatssekretär Dr. Ditmar Staffelt (A) wollen wir ausdrücklich ergänzen – eine öffentlich-pri- Wir sind angetreten, hier als Bund, Land und Kom- (C) vate Partnerschaft sein. Nur darum geht es. mune einfach mehr Know-how zu vermitteln und dieses Know-how durch praktische Beispiele zu unterfüttern. Ich bin dagegen zu präjudizieren. Ich bin sehr dafür, Es handelt sich quasi um Learning by Doing. dass der öffentliche Sektor privatisiert. Der Bund tut das in vielfältiger Weise. Beispielsweise haben wir Anteile (Zurufe von der CDU/CSU: Oh!) an staatlichen Unternehmen an Private veräußert. – Na, hören Sie mal! Wenn er „honi soit, qui mal y (Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: An die KfW! pense“ sagen kann, dann werde ich doch wohl noch eng- Rechte Tasche, linke Tasche!) lisch sprechen dürfen. Wir müssen aber – ich sage es noch einmal – unser In- (Heiterkeit und Beifall bei der SPD und der strumentarium erweitern. CDU/CSU – Johannes Singhammer [CDU/ CSU]: Und Latein!) An dieser Stelle sei auf einige Maßnahmen verwie- sen, die wir eingeleitet haben. Wir haben im Fernstra- – Ja, das kann ich auch – großes Latinum! Die Berliner ßenbau einen ersten Schritt in diese Richtung unternom- Schule ist besser, als Sie glauben. men. Wir sind dabei, Konzepte abzustimmen, wie An dieser Stelle will ich nur noch einmal ergänzend öffentlich-private Partnerschaften im Autobahnbau reali- sagen: Lassen Sie uns gemeinsam auf die Reise gehen. siert werden können. Denken Sie an die Feste Warnow- Es macht überhaupt keinen Sinn, hier eine politische De- querung, aber auch an den Landes- und den kommuna- batte zu führen, die ideologisiert oder die parteipolitisch len Bereich! geprägt ist. Ich gebe Ihnen Brief und Siegel: Die Kom- Im Dialog mit Ländern und Gemeinden müssen wir munen und Länder, die von Ihren Parteifreunden regiert die zentrale Frage beantworten, wie wir öffentlich-pri- werden, haben genau die gleichen Probleme wie die so- vate Partnerschaften hinsichtlich ihrer Wirtschaftlichkeit zialdemokratisch geführten. mit anderen Lösungen vergleichen können. Ein Problem (Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Weil Sie sind Ängste im Umgang mit solchen Neuerungen. Da vorher diese Länder zugrunde gewirtschaftet wollen wir helfen. Wir haben gemeinsam mit den Ban- haben!) ken und der Bauwirtschaft ein Gutachten zum Thema „Public Private Partnership im öffentlichen Hochbau“ in – Hören Sie doch bloß auf! Das glaubt ja niemand. Auftrag gegeben. Die Taskforce „Öffentlich-private (Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Das glauben Partnerschaften“ bietet eine hervorragende Basis für ein alle Wähler mittlerweile!) Kompetenznetzwerk, das wir dringend benötigen. (B) – Ja, das können Sie vielleicht im Bierzelt erzählen. Hier (D) (Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: Also wieder glaubt Ihnen das keiner mehr. mehr Bürokraten! – Gegenruf des Abg. Dr. Michael Bürsch [SPD]: Das sind ja nicht (Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Fahren Sie Hunderte von Leuten! Das sind vielleicht einmal Taxi und sprechen Sie mit dem Taxi- fünf!) fahrer!) Es geht darum, wie wir private Leistungsfähigkeit – Ja, Rot-Grün regiert seit fünf Jahren und wir haben das und private Qualitäten mit öffentlicher Leistungsfähig- Land heruntergewirtschaftet. Sie sollten sich als gewähl- keit und öffentlichen Qualitäten verbinden können, wo ter Abgeordneter des Deutschen Bundestages eigentlich es Sinn macht. Ich sage ganz ausdrücklich: Das ist kein zu schade dafür sein, sich auf einem solchen Niveau zu Modell, das jetzt zwingend für jedermann vorgeschrie- unterhalten. Das könnten wir gegebenenfalls nämlich ben wird. auch ganz gut. Im Übrigen ist dieses Modell nicht aus der Not gebo- Ich wollte mich hier in der Sache mit Ihnen auseinan- ren. Es ist der Versuch, verschiedene Denkweisen mit- der setzen. Bei diesem Tatbestand ist nämlich Gemein- einander zu verbinden: die notgedrungen kameralisti- samkeit angesagt. Eine Auseinandersetzung auf einer sche Denkweise, die im öffentlichen Bereich herrscht, solchen Ebene könnte ohnehin keiner nachvollziehen, die betriebswirtschaftliche Denkweise; die öffentliche übrigens, Herr Kollege Abgeordneter, auch jene nicht, Verantwortung auf der einen Seite und die technische die aufseiten der Privatwirtschaft schon lange darauf Leistungsfähigkeit, das Know-how auf der anderen warten, endlich auch Aufträge im Bereich von Public Seite. Private Partnership zu bekommen, weil die öffentliche Hand in vielen Bereichen bisher darauf verzichtet, Pri- Wir sollten nur jenen unsere ausdrückliche Unterstüt- vate mit ins Boot zu nehmen. Deshalb ist ein vernünfti- zung zusagen, die sich auf den Weg gemacht haben. Es ges und nachvollziehbares PPP-Konzept, das auf eine ist unglaublich schwierig, bei der Gegenüberstellung breite Basis gestellt wird, auch ein Konzept zur Ankur- jeweils die steuerliche und die finanzielle Seite zu be- belung der Konjunktur und zur Stabilisierung von Unter- trachten und in diesem Konstrukt noch die Wirkung von nehmen in unserem Land. Vergessen Sie das bitte nicht! privater Finanzierung und Kommunalkrediten auseinan- der zu halten. Hinzu kommt – Sie wissen das alles –, Die Unsicherheiten in vielen Kommunen, von denen dass auch der Wertverfall einer Investition vernünftig in ich sprach, können sicherlich beseitigt werden, wenn wir die Kameralistik einzubauen ist, will man das Ganze ihnen in verstärktem Maße Leitlinien mit auf den Weg vergleichbar machen. geben. Niemand in einer Stadt, einer Kommune oder Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. April 2004 9257

Parl. Staatssekretär Dr. Ditmar Staffelt (A) einem Landkreis hat Lust, sich am Ende vom Rech- ja den Bedarf feststellt und im Zweifelsfall das Geld zur (C) nungshof die Ohren lang ziehen zu lassen, weil er aus Verfügung stellt. Genau das reicht aber nicht aus, wenn Unkenntnis oder zu großem Wagemut den einen oder an- man eine Win-win-Situation erreichen will. deren Fehler gemacht hat. Auch davor sollten wir schüt- zen, um diese Wege zu öffnen. Meine Damen und Herren, wer dem heute weit ver- breiteten Gedanken anhängt, PPP könne einen Großteil Ich sage noch einmal: Neben Privatisierung und öf- der Finanzlücken der öffentlichen Haushalte schlicht- fentlicher Tätigkeit gehört dieses dritte Element drin- weg schließen, da dieses Instrument langfristige Finan- gend in unser Repertoire. Deshalb bitte ich Sie an dieser zierungsmöglichkeiten biete, ist falsch beraten. Im Be- Stelle um Zustimmung. Die Bundesregierung jedenfalls sonderen gilt das dann, wenn man in dem Glauben lebt, teilt den Tenor und den Inhalt dieses Antrages ganz aus- dass in Zukunft alles, was politisch wünschenswert ist drücklich. und wofür keine andere Finanzierungsform gefunden wird, über diesen Weg finanziert werden könne. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Dr. Michael Bürsch [SPD]: Weil dies genau der falsche Weg ist, ist es auch nicht Wunderbare Rede! Mit Augenmaß und Lei- wünschenswert, fixe Handlungsweisen zu entwickeln denschaft!) – hier komme ich auf Ihren Antrag zu sprechen –, durch die die eigentliche Entscheidungsfindung nach einer Art Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Rasterschema von den handelnden Personen entkoppelt Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Alexander wird. Dies erweckt lediglich den Anschein von Allge- Dobrindt. meingültigkeit. Genau dies darf bei der Fortentwicklung des Gedankens der öffentlich-privaten Partnerschaften (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) aber nicht passieren: dass dieses Instrument zu einer Art Universalwerkzeug ausgebaut wird, das sich im Werk- Alexander Dobrindt (CDU/CSU): zeugkoffer der Kommunen oder sonstiger staatlicher Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Stellen befindet und – gewissermaßen wie eine Zwi- Herr Staatssekretär, Sie haben erwähnt, PPP sei eine Er- schenfinanzierung über Kommunalkredite oder Ähnli- gänzung und ein neues Instrument. Ich sage: Öffentlich- ches – den Anschein erweckt, beliebig einsetzbar zu private Partnerschaften sind – gar keine Frage! – aktive sein. Zukunftsmodelle für die Zusammenarbeit zwischen (Dr. Michael Bürsch [SPD]: Ich weiß nicht, ob öffentlicher Hand und privater Wirtschaft. Das bedeutet Sie über den Antrag reden, den wir gestellt ha- aber, dass es im Besonderen unsere Aufgabe ist, sie wei- ben!) (B) terzuentwickeln, gebrauchsfähiger und effektiver zu ma- (D) chen. Dabei muss es hauptsächlich darum gehen, den – Doch, Sie müssten ihn vielleicht einmal lesen. partnerschaftlichen Gedanken stärker herauszustellen, (Dr. Michael Bürsch [SPD]: Wir haben ihn ja als es bisher der Fall ist. formuliert!) (Hans-Werner Bertl [SPD]: Wie macht man Öffentlich-private Partnerschaften können kein Stan- aus so viel Zustimmung Ablehnung?) dardinstrument sein, um die Finanznot der öffentlichen – Nicht so viele Vorschusslorbeeren, Herr Kollege! Haushalte zu bekämpfen. Dabei ist die Grundidee, die öffentliche Hand und private Unternehmen miteinander (Zuruf von der SPD: So weit war es noch zu verbinden – hier stimme ich Ihnen zu –, durchaus nicht!) vernünftig. Ein solches Leitmotiv der Zusammenarbeit zwischen öf- (Dr. Michael Bürsch [SPD]: Na, siehst du!) fentlicher Hand und privater Wirtschaft bei der effizien- ten Erbringung öffentlicher Dienstleistungen wollen Die klare Devise muss lauten, dass jeder das macht, was wir allgemein stärken und verbindlicher gestalten. er am besten kann, dem anderen aber zwingend auf die Finger schaut, ob dieser auch wirklich sein Bestes tut (Beifall bei der CDU/CSU) und seine Möglichkeiten ausschöpft. Im Ergebnis muss dabei immer ein Plus herauskom- (Hans-Werner Bertl [SPD]: Wenn jeder das tun men. Das heißt, es muss erreicht werden, dass man ge- sollte, was er am besten kann, sollten Sie jetzt meinsam zu einem besseren Ergebnis als allein kommt. aufhören!) Das ist zwangsläufig nicht immer gegeben. Dafür gibt es eine ganze Reihe von Beispielen; die Lkw-Maut wurde – Herr Kollege, warten Sie doch einmal ab! Der Sinn bereits genannt. Ein solches Chaos bricht dann aus, einer Rede besteht ja darin, ihr als Ganzes zuzuhören. wenn keine echte Partnerschaft vorliegt, sondern wenn sich der eine auf den anderen verlässt und wenn die Part- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: ner – was im Zweifelsfall noch viel verheerender ist – ihre gegenseitigen Kontrollpflichten nicht erfüllen. Ge- Meine Kollegen, ich bitte Sie: Lassen Sie uns diese rade diese Kontrollpflichten sind im Bereich der PPP Debatte in Ruhe führen! ausgesprochen wichtig. Interessanterweise ist es wohl regelmäßig die öffentliche Hand, die nicht oder nur un- Alexander Dobrindt (CDU/CSU): zureichend kontrolliert und sich darauf verlässt, dass sie – Danke schön, Frau Präsidentin. 9258 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. April 2004

Alexander Dobrindt (A) Der öffentliche Partner bestimmt die Aufgabe in dem Aber ich kann nicht nachvollziehen, dass Sie ernsthaft (C) erforderlichen Umfang, der private Partner liefert das glauben, durch Servicestrukturen – bei Einbeziehung technische Know-how, das Management und die Umset- von Bund, Ländern, Kommunen, Verbänden, privater zungskraft. Beide teilen sich die Risiken und im Ergeb- und öffentlicher Wirtschaft, sämtlicher Ministerien, des nis verbuchen beide einen Vorteil. Doch leider ist das in Bundesrechnungshofes, der Landesrechnungshöfe usw. – der Praxis oft auch anders herum. Das Ganze bleibt oft ein nationales Kompetenzzentrum zu schaffen, das PPPs Theorie. PPP bietet keine Garantie für das bessere Gelin- fördert und dass „ÖPP-Arbeitsstäbe“, wie Sie sie nen- gen einer Aufgabe. Im Gegenteil, oftmals ist das Ganze nen, auf allen staatlichen und kommunalen Ebenen die zum Scheitern verurteilt. Wegbereiter einer neuen Kultur des Zusammenwirkens von Staat und Wirtschaft werden. Ich kann Ihnen ein gutes Beispiel aus meiner Heimat nennen. Bereits 1992 wurde in meinem Landkreis im Meine Damen und Herren, Bürokratie ist ein deut- Zusammenhang mit einem Abfallentsorgungszentrum sches Problem und nicht die Lösung. Mit Ihrem Antrag eine PPP eingegangen. Der private Betreiber hatte als schaffen Sie unnötige Bürokratie und keine Partner- Anlagenbauer 49 Prozent der GmbH inne, der Landkreis schaften. 51 Prozent. Alle Aufgaben, die im Bereich der Abfall- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – wirtschaft anfielen, wurden über diese GmbH abgewi- Dr. Michael Bürsch [SPD]: Da wird ein Po- ckelt. Das ist auch heute noch so. Das ist eine funktio- panz aufgebaut, das gibt es doch gar nicht!) nierende Partnerschaft, die sich bewährt hat und die Partner in eine Win-win-Situation gebracht hat. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das ist ein schönes Modell, das zeigt, dass eine solche Ich schließe damit die Aussprache. Kooperation in ihrer Reinform funktionieren kann. Al- lerdings muss der Wille beider Seiten vorhanden sein, Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschus- den Einfluss des jeweils anderen zuzulassen und sich ses für Wirtschaft und Arbeit auf Drucksache 15/2663 zu entsprechend in hohem Maße kontrollieren zu lassen. dem Antrag der Fraktionen der SPD und des Eine Idealkonstellation lag im vorliegenden Fall deswe- Bündnisses 90/Die Grünen mit dem Titel „Öffentlich-pri- gen vor, weil nicht der Finanzierungsgedanke im Vorder- vate Partnerschaften“. Der Ausschuss empfiehlt, den An- grund stand, sondern die tiefe Überzeugung, dass die Be- trag auf Drucksache 15/1400 anzunehmen. Wer stimmt teiligten sich gegenseitig unterstützen können und die für diese Beschlussempfehlung? – Gegenprobe! – Ent- kommunale Aufgabe effizienter und hochwertiger wahr- haltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stim- nehmen können. men der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Op- position angenommen. (B) Inzwischen ist die Partnerschaft beendet. Auch das ist (D) grundsätzlich nicht verkehrt: Es ist im Geiste von PPP, Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf dass die Partnerschaften gelöst werden; in der Regel sind Drucksache 15/2601 an die in der Tagesordnung aufge- feste Laufzeiten vereinbart. Auf jeden Fall sollte die führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- Partnerschaft dann beendet werden, wenn eine Win-win- verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung Situation eingetreten ist, aber nicht dann, wenn die Part- so beschlossen. nerschaft kurz vor dem Scheitern steht, wie bei der Ich rufe die Tagesordnungspunkte 10 a und 10 b auf: Maut, wo der eine nur versucht, dem anderen die Kosten anzuhängen. a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. Andreas Pinkwart, Dr. Günter Rexrodt, Otto PPP kann also eine riesige Chance bieten, wenn das Fricke, weiteren Abgeordneten und der Fraktion Projekt geeignet ist und die zukünftigen Partner richtig der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes motiviert sind. Um solche Konstellationen zu lokalisie- zur Begrenzung, Befristung und degressiven Ge- ren, ist es hilfreich, wenn sich eine Art Kultur von öf- staltung von Subventionen (Subventionsbegren- fentlich-privaten Partnerschaften bildet; das sehe ich zungsgesetz) ganz genauso, wie es sicherlich auch bei Ihnen gesehen wird. Eine solche Kultur lässt sich aber nicht staatlich – Drucksache 15/2061 – verordnen: Weder bei der Ausbildungsplatzabgabe – wir Überweisungsvorschlag: haben diese Diskussion heute geführt – noch hier wird Haushaltsausschuss (f) ein solches Zusammenwirken von Staat und Wirtschaft Auswärtiger Ausschuss funktionieren. Sportausschuss Rechtsausschuss (Dr. Michael Bürsch [SPD]: Es wird nichts Finanzausschuss verordnet!) Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Ich kann ja noch gut nachvollziehen, wenn man einen Landwirtschaft Wirtschaftlichkeitsvergleichsmaßstab finden will, mit Verteidigungsausschuss dem bei der Gegenüberstellung – Partnerschaftsangebote Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend auf der einen Seite, selbstständiges Durchführen der Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Maßnahme auf der anderen Seite – die Organisations- Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit vorteile, Optimierungsmöglichkeiten, die Finanzierung Ausschuss für Bildung, Forschung und und die steuerlichen Auswirkungen geprüft werden. Technikfolgenabschätzung Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. April 2004 9259

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer (A) Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Volumen – trotz des kräftigen Anstiegs in den 90er-Jah- (C) Entwicklung ren infolge der Wiedervereinigung – geringer als 1990. Ausschuss für Tourismus Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Die Entwicklung der Steuervergünstigungen dage- Ausschuss für Kultur und Medien gen zeigt, dass in diesem Bereich großer Handlungsbe- b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre- darf besteht. Die auf den Bund entfallenden Steuersub- gierung ventionen sind im Berichtszeitraum nicht gesunken, sondern um 2 Milliarden Euro gestiegen, was die Er- Bericht der Bundesregierung über die Entwick- folge beim Abbau von Finanzhilfen überlagert. Mehr als lung der Finanzhilfen des Bundes und der Steuer- zwei Drittel dieses Anstiegs machen Steuerminderein- vergünstigungen gemäß § 12 des Gesetzes zur nahmen infolge der Ausnahmeregelungen bei der ökolo- Förderung der Stabilität und des Wachstums der gischen Steuerreform für energieintensive Betriebe aus. Wirtschaft (StWG) vom 8. Juni 1967 für die Zugenommen haben aber auch die Steuermindereinnah- Jahre 2001 bis 2004 (19. Subventionsbericht) men wegen der Eigenheimzulage. Den Kolleginnen und Kollegen von der Opposition sei deshalb gesagt: Wenn – Drucksache 15/1635 – Sie schon einen verschärften Subventionsabbau fordern, Überweisungsvorschlag: dann müssten Sie hier bei der Eigenheimzulage endlich Haushaltsausschuss (f) Farbe bekennen. Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (Rüdiger Veit [SPD]: Richtig!) Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft Der Bundeskanzler hat in der letzten Woche in seiner Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Regierungserklärung erneut einen Vorschlag zur Ab- Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung schaffung der Eigenheimzulage und zur Verwendung Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen der dadurch frei werdenden Milliardenbeträge gemacht. Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Der Bund soll sie in mehr Forschung und Entwicklung Ausschuss für Tourismus investieren, die Länder in bessere Schulen und die Ge- meinden in ein besseres Betreuungsangebot für Kinder Nach interfraktioneller Vereinbarung ist für die Aus- im Alter bis zu drei Jahren. sprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen, wobei die FDP sechs Minuten erhalten soll. – Widerspruch höre (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des ich nicht. Dann ist das so beschlossen. BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Manfred Grund [CDU/CSU]: Das ist der moderne Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst (B) Jäger 90! Zehnmal verkauft und nicht einmal (D) der Parlamentarische Staatssekretär Karl Diller. eingenommen!) Die Zielsetzungen der Bundesregierung für die zu- Karl Diller, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister künftige Subventionspolitik sind: erstens mehr Transpa- der Finanzen: renz, zweitens ein höherer Rechtfertigungsdruck für Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen Subventionen und drittens bessere Steuerungsmöglich- und Kollegen! Der vorliegende Subventionsbericht um- keiten. Wir haben dies in dem Kabinettsbeschluss zu fasst den Zeitraum der Jahre 2001 bis 2004 und belegt, dem Ihnen vorliegenden Subventionsbericht entspre- dass wir beim Subventionsabbau erneut ein gutes Stück chend fixiert. Ich nenne Ihnen die beiden wesentlichen vorangekommen sind. Die Finanzhilfen des Bundes und Eckpunkte: die Steuervergünstigungen sinken von 22,8 Milliarden Euro im Jahre 2001 auf 22,3 Milliarden Euro. Das ist ein Erstens. Im Rahmen des Haushaltsmoratoriums wer- Rückgang um 500 Millionen Euro oder 2,3 Prozent. den wir Subventionen grundsätzlich nur noch als Finanz- Wenn man jetzt die Ausnahmeregelungen in der ökolo- hilfen gewähren, also auf der Ausgabenseite; denn stär- gischen Steuerreform für die energieintensiven Betriebe ker als Finanzhilfen haben Steuervergünstigungen, die außen vor lässt, vermindern sich die Subventionen im sich auf der Einnahmenseite des Haushalts etatisieren, gleichen Zeitraum sogar um mehr als 10 Prozent, näm- die Eigenschaft, sich zu verfestigen, weil sie im Bundes- lich um 1,8 Milliarden Euro, auf nunmehr 16,7 Milliar- haushalt nicht mehr als Subventionen wahrnehmbar den Euro. sind. Sie werden bekanntlich auf der Einnahmenseite nicht gesondert erfasst und ausgewiesen. Finanzhilfen Bei der Regierungsübernahme im Jahre 1998 hatten dagegen sind auf der Ausgabenseite präzise nachzulesen übrigens die Subventionen des Bundes noch ein Gesamt- und in jedem Jahr Gegenstand stundenlanger parlamen- volumen von 21,2 Milliarden Euro. Lässt man wiederum tarischer Beratungen im Haushaltsausschuss, wie mir die Ausnahmetatbestände bei der ökologischen Steuerre- der Kollege Fricke bestätigt. form für energieintensive Betriebe außen vor, haben wir einen Abbau um mehr als 20 Prozent erreicht. Zweitens. Wenn überhaupt Finanzhilfen, dann sollen sie künftig nur noch gesetzlich befristet und grund- Eindeutige Erfolge gibt es bei den Finanzhilfen. Sie sätzlich degressiv ausgestaltet werden und eine Erfolgs- sinken um mehr als ein Viertel, nämlich um 2,5 Milliar- kontrolle ermöglichen. den Euro. Verglichen mit dem Zeitpunkt der Regierungs- übernahme im Jahr 1998 haben wir die Finanzhilfen so- (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE gar um fast 40 Prozent reduziert. Mittlerweile ist ihr GRÜNEN und der FDP) 9260 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. April 2004

Parl. Staatssekretär Karl Diller (A) Damit wirken wir der Gefahr einer strukturellen Verfes- dann am Ende – dafür spricht leider die wenige Monate (C) tigung entgegen. Eine verstärkte Prioritätensetzung wird zurückliegende Erfahrung aus dem Dezember – übrigens sowohl für die Regierung als auch für das Par- lament unumgänglich. (Rüdiger Veit [SPD]: Obwohl: Der März ist jetzt vorbei! – Gegenruf des Abg. Jochen- Ich bedanke mich für den Beifall der Kolleginnen und Konrad Fromme [CDU/CSU]: Der kommt je- Kollegen von der FDP für diesen Ansatz. des Jahr wieder!) (Dr. Andreas Pinkwart [FDP]: Wir haben dies zu erleben, wie diese Grundsätze von der Opposition via gerade beantragt!) Bundesrat und dortiger Mehrheit nicht nur verwässert, sondern am Schluss sogar ganz verworfen werden. Zu Ihrem ebenfalls zur Debatte stehenden Gesetzentwurf merke ich Folgendes an: Sie fordern mit diesem Gesetz- Deswegen bleiben wir bei unserer Linie, bedanken entwurf eine Kehrtwendung bei der Subventionsgewäh- uns aber am Schluss noch einmal ausdrücklich für Ihre rung. Meine sehr verehrten Damen und Herren von der ansonsten bekundete Sympathie und Unterstützung. FDP, offenbar plagt Sie das schlechte Gewissen. Denn (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ der Anstieg des gesamten Subventionsvolumens, so, wie DIE GRÜNEN) Sie es im Antrag beschreiben – nämlich: Bund, Länder, Gemeinden, ERP-Sondervermögen und EU –, Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: (René Röspel [SPD]: 1989 bis 1998!) Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Georg erfolgte vor allem in der Zeit, in der Sie selber zusam- Schirmbeck. men mit der CDU/CSU in der Regierungsverantwortung (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) waren. (Widerspruch bei der FDP) Georg Schirmbeck (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Wir dagegen haben seit 1998 längst die Kehrtwende Staatssekretär Diller, meine persönliche Sympathie ha- eingeleitet. Deswegen ist richtig: Wir müssen den Sub- ben Sie auch. Aber im Übrigen: So ist das eben. Die ventionsabbau energisch fortsetzen und dürfen uns nicht Leute sagen, Bürokratie sei etwas Schlimmes, Bürokra- mit dem Erreichten zufrieden geben. Denn schließlich tie müsse man eigentlich ganz abschaffen. Doch wenn leistet der Abbau überkommener Finanzhilfen und Steu- man dann an der einen oder anderen Stelle in einer Be- ervergünstigungen einen ganz entscheidenden Beitrag hörde nur wenige Planstellen einsparen will, dann geht (B) zur Konsolidierung der öffentlichen Haushalte von es gerade dort nicht. Es gibt auch den einen oder ande- (D) Bund, Ländern und Gemeinden. Ich begrüße deshalb ren, der sagt: Kannst du mich, meinen Sohn oder einen ganz ausdrücklich, dass die Kolleginnen und Kollegen Bekannten nicht noch dort unterbringen, es ist doch für der FDP mit ihrem Gesetzentwurf die geschilderten Sub- einen guten Zweck. ventionsgrundsätze der Bundesregierung nicht nur unter- stützen, sondern hier auch mit Beifall begleitet haben. Mit den Finanzhilfen, mit den Subventionen und Steuervergünstigungen ist es so eine Sache: Generell ist (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ es Teufelswerk, es sei denn, ich profitiere davon. Ich DIE GRÜNEN) finde es sehr sympathisch, dass die FDP dies zum Tages- Nicht folgen kann ich allerdings – jetzt kommt das ordnungspunkt erhoben hat. Aber nachdem ich den An- Aber, auf das Sie gewartet haben – trag gelesen hatte, hatte ich eine Presseerklärung in der Hand, in der ein Vertreter der FDP schreibt: Die Steuer- (Dr. Andreas Pinkwart [FDP]: Ah!) vergünstigungen bei den Lebensversicherungen sollten Ihrem Vorschlag, eine entsprechende gesetzliche Regelung natürlich erhalten bleiben. – Ich finde auch das sehr zu treffen und diese auch noch in ein zustimmungs- sympathisch, weil nämlich auch ich eine Lebensversi- pflichtiges Gesetz aufzunehmen, nämlich in das Haus- cherung habe. Daher fände ich es ebenfalls gut, wenn die haltsgrundsätzegesetz. Warum? Die geforderte Ergänzung Steuerbefreiung erhalten bliebe. Es geht also immer des Haushaltsgrundsätzegesetzes ist nicht zielführend nach dem Motto: Wasch mir den Pelz, mach mich nicht und auch rechtssystematisch bedenklich. Denn es legt nass. allgemeine Grundsätze für das Haushaltsrecht des Bun- Wenn man dann noch berücksichtigt, dass wir in einer des und aller Länder fest. Neid- und Missgunstgesellschaft leben, dann weiß man, (Dr. Andreas Pinkwart [FDP]: Richtig!) dass es bei diesen Themen eine Menge Verhetzungspo- tenzial gibt. Jeder hat seine Themen, die er besonders Die Umsetzung der Grundsätze der Subventionspoli- liebt. Deshalb vergeht kein Parteitag, auf dem nicht die tik ist aber kein Haushaltsrechtsproblem, sondern in ers- Forderung nach einer Steuerreform erhoben wird. Ge- ter Linie eine finanzpolitische Zielsetzung, der wir uns rade hieß es in einem Zwischenruf, der März sei vorbei. verpflichtet fühlen. Die Bundesregierung wird die vom Aber Steuerreformen sind – da sind wir uns wohl einig – Kabinett beschlossenen Grundsätze umsetzen. Es macht nach wie vor notwendig. Die SPD besetzt in dieser Dis- aus unserer Sicht keinen Sinn, meine Damen und Herren kussion Themen wie Nachtarbeitszuschläge und Entfer- von der Opposition, Ihrem Vorschlag zu folgen und ein nungspauschale. Das ist natürlich schon Teufelswerk, langwieriges Gesetzgebungsverfahren einzuleiten, um wenn man nur über den Abbau entsprechender Vergüns- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. April 2004 9261

Georg Schirmbeck (A) tigungen spricht, geschweige denn eine solche Entschei- Wunschkatalog ist. Um es einmal so zu sagen: Ein Mär- (C) dung trifft. Bei den Kohlesubventionen hingegen kommt chenbuch ist ja auch ein Fleißwerk. es auf eine Milliarde gar nicht an, weil es ja sein könnte, dass irgendwann – das hat man gehört – Kommunalwah- Ich hatte einmal die Aufgabe, dem Vaterland zu die- len in Nordrhein-Westfalen stattfinden. nen. Sie haben von einer Kehrtwendung gesprochen. Wenn ich Ihnen die Kehrtwendung befehlen würde, dann (René Röspel [SPD]: Fragen Sie einmal Herrn wären Sie wieder an Ihrem Ausgangspunkt. Schon das Rüttgers, was der dazu sagt!) Wort verrät, was wirklich konkret umgesetzt worden ist. Auch wenn es ums EEG geht, spielt ein solches Denken Sie haben hier eben sehr akademisch dargelegt, dass überhaupt keine Rolle. Man hat ein bestimmtes Klientel, die FDP fordere, bestimmte Regelungen ins Haushalts- welches bedient werden muss. grundsätzegesetz aufzunehmen, und dann ausgeführt, was dafür und was dagegen spricht. Man kann das natür- Man kann sich natürlich auch über andere Themen lich so wie Sie sehen. Als junger Mann habe ich im Ge- unterhalten, zum Beispiel über den Agrardiesel, die Ei- meinderat und im Kreistag von den Altvorderen aber genheimzulage oder die Wohnungsbauprämie. Hier einmal gehört, dass die Grundsätze von Haushaltswahr- kann, wenn es nach Ihnen geht, gar nicht tief genug ein- heit und Haushaltsklarheit berücksichtigt werden müs- geschnitten werden. Wir müssen uns ehrlicherweise zu- sen. gestehen, dass – wählerklientelscharf – jeder seine Lieb- lingsthemen hat. Bei den anderen kann gar nicht tief (Dr. Andreas Pinkwart [FDP]: Völlig richtig!) genug eingeschnitten werden. Einschnitte bei den eige- nen Themen aber sind Teufelswerk. Deshalb sage ich noch einmal: Wenn man sich anschaut, was Sie uns vorlegen, dann muss man wirklich von ei- Nun haben Sie – Sie haben es angesprochen – dieses nem Märchenbuch sprechen. Es handelt sich um eine dicke Werk herausgegeben, den 19. Subventionsbericht. freie Erfindung. Bei einigen der von Ihnen angesetzten Dort steht in der Tat – vom Kabinett so beschlossen – Zahlen weiß niemand mehr, wie diese zustande gekom- folgender Satz, den ich zitiere: men sind. Sie müssen nur irgendwie hineinpassen und Darüber hinaus sollen neue und bestehende Finanz- werden einfach zusammengeschoben. hilfen nur noch gesetzlich befristet und grundsätz- Das gilt auch für andere Bereiche: Kassenkredite sind lich degressiv ausgestaltet werden. im kommunalen Bereich zum Beispiel nicht zulässig. (Otto Fricke [FDP]: Das haben sie von uns ab- Jochen-Konrad Fromme, der hierin Experte ist, hat mir geschrieben!) gesagt, dass das so in den Kommunalgesetzen und in den Länderverfassungen steht. Trotzdem ist das die Regel. (B) – Man könnte zumindest unterstellen – die Sympathien Was interessiert es also, ob wir hier noch ein Gesetz er- (D) zwischen Ihnen waren ja sehr ausgeprägt –, dass das lassen und noch einen Grundsatz verabschieden? Es hält wörtlich vom FDP-Antrag abgeschrieben wurde sich offensichtlich doch niemand daran. (Dr. Andreas Pinkwart [FDP]: Die Regierung (Beifall bei der CDU/CSU) ist noch lernfähig!) Deshalb sage ich Ihnen: Wir müssen uns bewegen. und dass die FDP und die Regierung offensichtlich Wir haben ein gemeinsames Interesse daran, unseren das Gleiche wollen. Staat weiter voranzubringen. Der Weg von Koch/ Ich habe in diesem großen Werk einmal ein wenig ge- Steinbrück ist wahrscheinlich richtig und er wird wahr- blättert und festgestellt, dass die darin enthaltenen Zah- scheinlich gemeinsam umzusetzen sein; denn er hat len dem Entwurf des Haushaltsplans und dem Entwurf einen Vorteil: Man betreibt keinen Kahlschlag und es des Nachtragshaushaltsplans entstammen. Sie haben hier kommt zu keinen Brüchen. Der Bürger erfährt, wie die besonders betont – das habe ich mir mitgeschrieben –, Entscheidungen der Politik in Zukunft aussehen werden. dass Sie „erneut ein gutes Stück vorangekommen“ seien. Darauf kann er reagieren. Wer also weiß, dass in diesem Jahr 4 oder 6 Prozent und im nächsten Jahr wiederum (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: In die fal- ein bestimmter Prozentsatz von seinen Vergünstigungen sche Richtung!) gestrichen wird, der hat die Möglichkeit, darauf zu rea- gieren. Er kann sich also entsprechend verhalten; das ist Legen Sie doch bitte einmal auf der Grundlage des be- fair. Entscheidend für alles, was wir tun, ist natürlich, schlossenen Haushaltsplans dar, wie weit Sie wirklich dass wir die Subventionsmentalität in unseren eigenen vorangekommen sind! Sie können das Ergebnis ja viel- Reihen – also bei uns, die wir in diesem Bereich han- leicht schriftlich nachreichen – sozusagen im vorausei- deln – und auch bei der Bevölkerung bekämpfen. Des- lenden Gehorsam –; ansonsten können wir das auch im halb müssen wir dies immer wieder zum Thema machen Haushaltsausschuss beantragen. und dafür werben. (Jochen-Konrad Fromme [CDU/CSU]: Und dann noch einmal anhand des vollzogenen Das Unwort des Jahres lautet für mich „Zuschuss“, Haushaltsplans!) weil ich es am häufigsten höre. Wie oft werde ich ange- rufen und gefragt: Da wird doch dieses und jenes ge- – Ja, die wirklich interessanten Zahlen, auf die es an- macht, habt ihr beim Kreis nicht einen kleinen Zuschuss kommt, liefert erst die Jahresrechnung. Man kann sagen, dafür? – Dann muss man darauf hinweisen, dass dies dass es ein unwahrscheinliches Fleißwerk und ein zwar eine tolle Sache ist, für die es sich lohnt, sich 9262 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. April 2004

Georg Schirmbeck (A) zusammenzuraufen, um sie richtig anzupacken, dass überdenken. Ich bin sicher, dass dieses Thema in diesem (C) aber dafür keine Mittel zur Verfügung stehen. – Eine sol- Herbst wieder einer eingehenden Beratung im Haus- che Antwort findet kein Verständnis, und es heißt dann, haltsausschuss bedarf. es sei unsozial, hier nicht zu helfen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Das liegt daran, dass wir über Jahrzehnte daran ge- und bei der SPD – Manfred Grund [CDU/ wöhnt sind, umzuverteilen: einsammeln, verwalten und CSU]: Hat das Koch/Steinbrück-Papier nichts auszahlen. Dabei haben wir aus dem Blick verloren, dass mit Subventionsabbau zu tun?) wir viel mehr einsammeln, als der Bevölkerung zugute kommt. Die Mittel für das Verwalten muss man nämlich – Ich werde auf das Koch/Steinbrück-Papier noch einge- auch sehen. Es gilt: Nicht derjenige, der dem Bürger am hen. Das hat Herr Schirmbeck in der Tat beispielhaft vo- meisten verspricht und vielleicht auch gibt, macht gute rangestellt. Wirtschaftspolitik bzw. gute Politik, sondern derjenige, (Manfred Grund [CDU/CSU]: Eben!) der die Leute in Ruhe lässt. Ich denke, der konsequente Abbau von Subven- Eines kann man feststellen: In unserem Staat leben tionen gehört zu den wichtigsten Aufgaben einer zu- eben nicht Produzenten, Ingenieure, Kaufleute und kunftsorientierten Finanzpolitik, so wie es in der Pro- Facharbeiter am besten, sondern Beratungsfirmen, Steu- blembeschreibung des FDP-Gesetzentwurfs aufgeführt erberater, Anwälte und Anlageberater. Bei den Findigen ist. Ich bin froh, dass Sie in Ihren Ausführungen und in und Cleveren herrscht Konjunktur, nicht aber bei den Ihrer Begründung auch auf die dringend notwendige Fleißigen, die das Rückgrat unserer Wirtschaft sind. Es Konsolidierung zu sprechen kommen. Ich erinnere mich, ist auch festzustellen, dass sich nicht diejenigen Wirt- dass wir während des letzten Jahres häufiger über den schaftsbereiche, Firmen und Regionen am besten entwi- Teil des Subventionsabbaus diskutiert haben, der sich ckeln, die die höchsten Steuervergünstigungen oder die mit Steuervergünstigungen beschäftigt. Dabei ist mir fast höchsten Finanzhilfen erhalten, sondern die mit der immer das Argument begegnet: Die Regierung verfährt größten Kreativität, dem größten Innovationsgeist und nach dem Prinzip linke Tasche, rechte Tasche. vor allen Dingen mit der größten Tatkraft. (Jochen-Konrad Fromme [CDU/CSU]: So ist In Bezug auf soziale Gerechtigkeit sollten wir deut- es!) lich machen: Von der ganzen Umverteilung sind diejeni- gen am meisten betroffen, die das Rückgrat unserer Ge- – Dieses Argument ist nicht zielführend, Herr Fromme. – sellschaft und unserer Wirtschaft sind: der Mittelstand Vielleicht können wir uns darauf einigen, dass man beim und besonders die Facharbeiter. Sie haben in aller Regel Steuervergünstigungsabbau bestimmten Leuten – es ist (B) hinsichtlich steuerlicher Vorteile keinen Gestaltungs- in der Regel immer nur eine Gruppe – tatsächlich etwas (D) spielraum. Das, was heute Praxis ist, ist höchstgradig un- wegnimmt. Dabei darf bei der Senkung von Steuersät- sozial. Hier muss sich etwas ändern; denn gerade diese zen, für die eine Steuervergünstigung gestrichen wird, Gruppen brauchen wir, wenn es in Deutschland weiter nicht sofort der Vorwurf von dem Prinzip linke Tasche, aufwärts gehen soll. rechte Tasche kommen. Ich halte mich an Ihre Worte, dass Sie beides wollen. Ich weiß, dass Sie mit Ihren Herzlichen Dank. Steuerreformkonzepten – da sind wir im Grundsatz (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) einig – eine Vereinfachung wollen, eine Tarifsenkung in unterschiedlichem Ausmaß anstreben, es aber auch rich- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: tig finden, dass zukünftig der Haushalt der öffentlichen Ich danke auch. – Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Gebietskörperschaften zu konsolidieren ist, auch mit Anja Hajduk. diesem Instrument. Ich begrüße es und finde es angemessen und richtig, Anja Hajduk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): dass Herr Diller darauf hingewiesen hat, dass die rot- Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und grüne Regierung in diesem Fall durch die Opposition zu Herren! Herr Schirmbeck, ich möchte zuerst ein Wort an wenig Unterstützung erfahren hat. Nun könnte man sa- Sie richten. Sie haben einen gewissen Fatalismus bezüg- gen: Da wir die Mehrheit haben, sollten wir das verant- lich der Frage gezeigt, ob die in unserem Lande verbrei- wortlich tragen. Sie wissen aber genau, dass wir in dem tete Subventionsmentalität überhaupt geändert werden Bereich, in dem es um den Abbau von steuerlichen Ver- kann. Ich möchte Ihnen in diesem Punkt Mut machen, günstigungen geht, auf die Zustimmung des Bundesrates weil wir als Politiker eine Vorbildfunktion haben. Ich angewiesen sind. stelle jedoch fest: Sie haben hier für die CDU in einer In diesem Zusammenhang muss ich sagen, dass es sehr wichtigen haushalts- und finanzpolitischen Frage nicht nur ärgerlich, sondern auch höchst unehrlich war, keine Stellung bezogen. Ich finde das wirklich schwach. wie dort nach einem allgemeinen Subventionsabbau ge- Ich muss sagen: Der Grundtenor des FDP-Gesetzent- rufen wurde. Ich finde es bezeichnend, dass es uns bei wurfs und die Art, wie das ganze Thema angepackt wird, den Finanzhilfen gelingt, einen wirklichen Subven- findet meine Unterstützung. Es besteht Grund, in vielem tionsabbau von bis zu 26 Prozent nachweisen zu können, einig zu sein. Ich bedauere aber, dass Sie völlig offen ge- den gesamten Abbau von Steuersubventionen aber des- halten haben, wie Sie sich in Zukunft zum Subventions- wegen nicht hinbekommen, weil es immer wieder Brem- abbau stellen wollen. Ich hoffe, dass Sie Ihre Haltung sen bei den Steuervergünstigungen gibt. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. April 2004 9263

Anja Hajduk (A) Deswegen will ich auf die Anregung in Ihrem Gesetz- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (C) entwurf eingehen – ich finde sie gut –, dass wir uns bei und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der den Subventionen ausschließlich auf die Finanzhilfen FDP) konzentrieren sollten. Das ist eine gute Idee, wenn auch der Umbau schwierig sein wird. Ich hoffe, dass die Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Union an dieser Stelle nicht blockiert. Sie von der Union Das Wort hat der Abgeordnete Andreas Pinkwart. könnten das, aber ich hoffe, Sie tun es nicht. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Dr. Andreas Pinkwart (FDP): sowie bei Abgeordneten der SPD) Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zunächst einmal bedanke ich mich für die FDP- Ich möchte auf das Argument eingehen, die Vor- Fraktion bei Herrn Diller und Frau Hajduk für die vom schläge von Koch und Steinbrück seien das einzig Grundansatz her sehr freundlichen Worte, wenngleich Sinnvolle, das man machen könnte. Unter dem pragmati- zumindest Sie, Herr Diller, zurückhaltender waren und schen Gesichtspunkt, dass sich zwei Ministerpräsiden- einer gesetzlichen Regelung des konsequenten Subven- ten, einer von der SPD, einer von der CDU, geeinigt ha- tionsabbaus noch nicht so recht folgen wollten. ben, habe ich im letzten Herbst gesagt: Bevor wir nichts zustande bekommen, lasst uns das machen! – Sie haben Sie verweisen auf die Absichtserklärung der Bundes- aber wahrscheinlich auch den Bericht des Sachverständi- regierung, Herr Diller, Subventionen künftig zeitlich be- genrates gelesen. Danach sollte sich eine Subvention im fristen und degressiv ausgestalten zu wollen. Das ist Prinzip argumentativ rechtfertigen. Sie sollte gezielt und zwar sehr ehrenwert, aber tatsächlich verstoßen Sie in effizient sein. Dazu passt das Rasenmäherprinzip nicht. Ihrer Verantwortung als Mitglied der Bundesregierung gegen diese Absichtserklärung. Denn in dem Subven- Ich glaube, wir müssen konsequenter an bestimmte tionsbericht, der uns in umfangreicher Form vorliegt Subventionen herangehen. Eine Kürzung in 4-Prozent- – es gibt so viele Subventionen, dass wir mit den Berich- Schritten genügt nicht. Ein Argument war, dass sich die ten darüber ganze Bücherschränke füllen könnten –, gibt Leute auf die Kürzungen einstellen sollen. Wenn wir die es die Spalte „Befristung“, in der nahezu alle Finanzhil- Eigenheimzulage komplett abschaffen, dann soll sie so fen, die darin erfasst sind, als unbefristet ausgewiesen auslaufen, dass irgendwann keine neuen Anträge mehr sind. Insofern gibt es eine Menge zu tun, Herr Diller. gestellt werden können. Das ist berechenbar, und es gibt eine Zeitschiene, auf die sich jeder einstellen kann. Ge- (Beifall bei der FDP) ben Sie Ihrem Herzen einen Stoß! Machen Sie an dieser Deshalb reicht es mir nicht, dass der Bundeskanzler in Stelle mit! Das ist letztlich nichts anderes als degressi- der vorigen Woche hier feststellte, jetzt müsse etwas ge- (B) ver Subventionsabbau. Wenigstens die FDP hat heute tan werden – und zwar nicht nur zur Haushaltskonsoli- (D) Farbe bekannt. Ich hoffe, dass sie mit dieser Festlegung dierung, sondern um im Haushalt andere Prioritäten zu ihre Verantwortung in den Bundesländern wahrnimmt. setzen, was Sie schon längst hätten tun müssen, um den (Otto Fricke [FDP]: Dann setzt ihr das Geld Standort Deutschland nach vorne zu bringen –, und auf eine einzige Subvention verwies. Nach der Absichtser- aber nicht für eine andere Subvention ein!) klärung der Bundesregierung hätte er vielmehr feststel- – Wenn man das Geld für eine andere Subvention einset- len müssen, dass die Bundesregierung ihre bisher nicht zen würde, dann wäre das sehr seltsam. erledigten Hausaufgaben noch erledigen muss – ich ver- weise auf den Subventionsbericht – und dass bis 2010 Das bringt mich zu meinem letzten Punkt, den ich an- systematisch alle Steuervergünstigungen und Finanzhil- sprechen möchte. Wir werden diesen Gesetzentwurf in fen abgebaut werden müssen. verschiedenen Ausschüssen beraten, mit Sicherheit auch ausführlich im Haushaltsausschuss. Eine interessante (Beifall bei der FDP) Frage wird sein, wie wir Subventionen definieren. Sie Das wäre eine klare Ansage des Bundeskanzlers gewe- bieten pragmatisch die Definition an, die die Regierung sen. Eine solche Agenda 2010 wäre glaubwürdig gewe- ihrem Bericht zugrunde legt. Ich glaube, dass es richtig sen. und sinnvoll ist, sich darüber zu verständigen, was eine Subvention ist. Der etwas unsystematischen Liste von Denn wenn wir so mutig wären, zu sagen: „Wir müs- Koch/Steinbrück, die auch ihre Ausnahmen hat – das sen den rund 60-Milliarden-Euro-Ballast an Altsubven- muss ehrlicherweise gesagt werden; da sind wegen Kli- tionen abbauen“ – Frau Hajduk hat darauf hingewiesen, entelinteressen bestimmte Dinge herausgenommen wor- dass dies dem engeren Subventionsbegriff entspricht; den –, sollten wir uns widmen. man kann ihn auch weiter fassen und kommt dann auf 150 Milliarden Euro –, dann hätte der Staat endlich die Ich freue mich auf die Beratungen, denn ich halte an- Möglichkeit, die Haushalte zu konsolidieren, Steuersen- gesichts der sehr schwierigen Situation der öffentlichen kungen vorzunehmen, das Steuersystem zu vereinfachen Haushalte eine Offensive für notwendig. Ob wir dann und neue Prioritäten in den öffentlichen Haushalten zu bei einer gesetzlichen Regelung landen, wie Sie von der setzen. Dazu haben wir aber vom Bundeskanzler und in FDP sie vorschlagen, werden wir sehen. Dazu hat Herr der heutigen Debatte von Ihnen, Herr Diller, wie auch Diller einige bedenkenswerte kritische Anmerkungen leider von den Koalitionsfraktionen nichts Substanziel- gemacht. Wir werden uns unser eigenes Urteil bilden. les gehört. Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) 9264 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. April 2004

Dr. Andreas Pinkwart (A) Insofern freuen wir uns darüber, dass wir uns gemein- Hätten wir in allen anderen Fällen der Koch/Stein- (C) sam über eine gesetzliche Normierung austauschen kön- brück-Liste – wir haben sie sehr genau geprüft – einen nen, die Bund und Länder bindet. Das ist notwendig; ähnlich konsequenten Einstieg in den Subventionsabbau denn die Länder gewähren ihrerseits Finanzhilfen und vorgenommen wie bei der Eigenheimzulage, dann hätten beteiligen sich an der gesetzlichen Verankerung von wir in 2004 nicht nur 2,4 Milliarden Euro, sondern Steuervergünstigungen. Insofern halten wir es für erfor- 15 Milliarden Euro weniger für Steuervergünstigungen derlich, dass wir parallel zu unseren Bemühungen hier und Finanzhilfen aufwenden müssen. Dann hätten wir auch zu einer solchen gesetzlichen Regelung kommen. noch mehr Spielraum für Steuersenkungen und Investi- tionen in unsere Zukunft gehabt, Herr Spiller. Es nützt nichts, Herr Schirmbeck, uns gegenseitig Versäumnisse aus der Vergangenheit vorzuhalten, auch (Beifall bei der FDP – Anja Hajduk [BÜND- wenn wir das ausufernd tun könnten. NIS 90/DIE GRÜNEN]: Das war nicht ehr- (Anja Hajduk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: lich, Herr Pinkwart! Sie wissen doch, wie der Leider auch aus der jüngsten Vergangenheit!) Vorschlag der Bundesregierung war!) – Auch aus der jüngsten Vergangenheit, Frau Hajduk. – Frau Hajduk, diese Zahlen können Sie eigentlich nicht Das ist auch Ihre Vergangenheit; denn Sie haben bei der in Zweifel ziehen; denn sie sind das Ergebnis der Ver- jüngsten namentlichen Abstimmung über die Steinkoh- handlungen im Vermittlungsausschuss. lesubventionierung bis 2012 zugestimmt. Das müssen Herr Spiller, wir wollen – das beinhaltet der von uns Sie sich leider vorhalten lassen. vorgelegte Entwurf eines Gesetzes zur Steuerreform – (Beifall bei der FDP) Steuervergünstigungen wie die Eigenheimzulage syste- matisch abbauen, aber nach der Maßgabe – das möchte Sie haben auch in Nordrhein-Westfalen der weiteren ich betonen –, dass die Steuersätze in unserem Land wei- Steinkohlesubventionierung zugestimmt. ter gesenkt werden und dass das Steuerrecht endlich ver- Wir könnten die Liste noch verlängern. Aber das hilft einfacht wird. uns nicht weiter. Wir müssen vielmehr feststellen, ob wir es wirklich ernst meinen. Dann müssen wir die Spielre- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten geln, nach denen wir die Haushalte aufstellen, die Steu- der CDU/CSU) ergesetze gestalten und Finanzhilfen gewähren, neu be- Aber auch davor drücken Sie sich in Wahrheit. Der Bun- stimmen. desfinanzminister hat uns jetzt mitgeteilt, eine Zinsab- geltungsteuer – sie wäre ein weiterer Beitrag zur Verein- (B) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: fachung in unserem Land – sei nicht möglich, weil der (D) Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Grenzsteuersatz für Unternehmen nach seiner Reform Kollegen Spiller? weiterhin 52 Prozent betragen werde. Aber dieser Steu- ersatz ist international längst nicht mehr konkurrenzfä- Dr. Andreas Pinkwart (FDP): hig. Sehr gerne. Sie müssen einen Beitrag dazu leisten, dass der Stand- ort Deutschland attraktiver wird und dass mehr Wachs- Jörg-Otto Spiller (SPD): tum, Beschäftigung und Wohlstand entstehen. Dann Vielen Dank, Herr Kollege Pinkwart. – Können Sie können wir trotz niedriger Steuersätze mehr Steuerein- dem Haus vor diesem Hintergrund schildern, wie sich nahmen für die öffentlichen Haushalte generieren und in die FDP bei dem Vorhaben, die Subvention Eigenheim- Zukunft auf Finanzhilfen zur Unterstützung Not leiden- zulage abzubauen, verhalten hat? der Branchen verzichten. Das ist die Politik, für die die FDP-Fraktion in diesem Hause steht. (Zuruf von der SPD: Und verhalten wird!) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Dr. Andreas Pinkwart (FDP): der CDU/CSU) Das kann ich Ihnen sehr gerne schildern, Herr Kol- lege Spiller. Aus den Koch/Steinbrück-Vorschlägen ist Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: für 2004 ein Einsparvolumen von insgesamt 2,4 Milliar- Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Carsten den Euro herausgekommen, und zwar bezogen auf die Schneider. von Ihnen vorgelegte Gesamtsumme von 127,3 Milliar- den Euro. Ein maßgeblicher Anteil dieser 2,4 Milliarden Euro ist allein auf die Kürzung der Eigenheimzulage Carsten Schneider (SPD): um 30 Prozent in 2004 zurückzuführen. Das ist der Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! größte Beitrag gewesen, Als der Entwurf eines Gesetzes der FDP zum Subven- tionsabbau auf meinem Tisch lag, musste ich ein biss- (Anja Hajduk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: chen schmunzeln, Herr Pinkwart. Ich erinnere mich noch Wer hat das denn vorgeschlagen?) sehr genau, wo wir Ende vergangenen Jahres standen, der insgesamt mit dem Koch/Steinbrück-Papier und den als wir den Haushalt 2004 beraten und verabschiedet ha- Anstrengungen im Vermittlungsausschuss erreicht wor- ben und mit dem Haushaltsbegleitgesetz in vielen Berei- den ist. chen, auch und gerade beim Abbau von Subventionen, Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. April 2004 9265

Carsten Schneider (A) maßgebliche Veränderungen auf den Weg gebracht ha- Eigenheimzulage im Haushaltsbegleitgesetz komplett zu (C) ben. streichen. Wir haben dann – federführend war der Haushaltsaus- (Dr. Andreas Pinkwart [FDP]: Warum strei- schuss – eine Anhörung durchgeführt. Da ich damals chen Sie dann nicht in 20-Prozent-Schritten die ganze Zeit dabei gewesen bin, erinnere ich mich alle Subventionen? Das wäre glaubwürdig!) noch sehr genau an die Fragen, die vonseiten der FDP gestellt worden sind. Ich bin mir nicht sicher, ob Sie sich – Ich komme noch darauf zu sprechen. Man sollte sich noch so genau daran erinnern. – Wie ich sehe, ist Ihr zunächst einmal die größte Subvention vornehmen; man Kollege Thiele nicht anwesend. Das wundert mich bei sollte sie nicht nur infrage stellen, sondern auch abschaf- diesem Thema nicht. – Auf jeden Fall war es der Kollege fen. Thiele, der in der damaligen Anhörung an jeden einzel- nen Interessenverband – seien es die Vertreter des Deut- Subventionen führen immer zu Fehlallokationen von schen Bauernverbandes, der Bausparkassen oder diejeni- Ressourcen. Sie verzerren Marktergebnisse und behin- gen gewesen, die sich eine Verbesserung der dern einen schnelleren Strukturwandel. Die Abschaffung Familienförderung zum Ziel gesetzt haben – die Frage einer Subvention oder ihre degressive Ausgestaltung gerichtet hat, inwieweit denn die Abschaffung der Ei- – da haben wir sicherlich noch Nachholbedarf – führt genheimzulage – das Volumen dieser größten im Sub- immer zu einem Konflikt mit Interessengruppen und mit ventionsbericht ausgewiesenen Subvention betrug da- der Gesellschaft. mals noch 10 Milliarden Euro – negative Auswirkungen Einer der Hauptgründe dafür, dass es uns weder in haben werde. Dabei hatte seine Frage gleich die Antwort den Ländern noch im Bund gelingt, konsequenter vorzu- impliziert, dass sich die Abschaffung dieser Subvention gehen, ist der Aufbau des föderalen Systems in der negativ auswirken wird. Das ist für mich keine wirklich Bundesrepublik. konsequente Position. Daher kann ich Ihrem heutigen Entwurf eines Subventionsbegrenzungsgesetzes nicht (Beifall des Abg. Rolf Stöckel [SPD]) zustimmen. Ich hoffe, dass es auf der Grundlage der Arbeit der Föde- (Dr. Andreas Pinkwart [FDP]: Stimmen Sie ralismuskommission gelingt – entsprechende Ansätze ihm doch zu! Das wäre der Einstieg in den sind vorhanden –, für eine stärkere Entflechtung der Zu- Ausstieg aus den Subventionen!) stimmungsbefugnisse zu sorgen. Wenn es im Bundestag Zwar befürworte ich ihn grundsätzlich. Aber ich sehe bei eine Mehrheit für einen Gesetzentwurf, zum Beispiel Ihnen keine Einheit von Wort und Tat. Sowohl Ihr Ver- zum Subventionsabbau, gibt, dann darf es nicht mehr so (B) halten bei der Abstimmung über das Haushaltsbegleitge- sein, dass dem entgegenstehende Länderinteressen dazu (D) setz im Bundestag als auch das, was in den Ländern ge- führen, das sein In-Kraft-Treten über den Bundesrat ver- schieht, in denen Sie Regierungsverantwortung tragen, hindert werden kann. Man sollte dies anders handhaben, sprechen eine andere Sprache. Das ist leider so. egal welche Farbe die Mehrheit im Bundesrat oder im Bundestag hat und egal welche Partei die Bundesregie- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ rung stellt. Ich glaube, dass eine Entflechtung an dieser DIE GRÜNEN) Stelle sowohl im Hinblick auf die Transparenz des politi- schen Systems als auch im Hinblick auf eine ordnungs- Ich hätte mir gewünscht, dass die FDP, die eine lange gemäße Haushaltsführung unabdingbar ist. Tradition hat und die eine wichtige Kraft im deutschen Parteiensystem ist, (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des (Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) War!) Ich möchte noch auf das Koch/Steinbrück-Papier zu an dieser Stelle konsequenter gewesen wäre. Ich möchte sprechen kommen. Es hat in dieser Woche eine ganz be- zwar nicht zu weit in die Zukunft schauen. Wenn Sie sondere Rolle gespielt. Die beiden Ministerpräsidenten aber so weitermachen und weiter so inkonsequent sind, haben in einem Brief an die Haushälter – ich weiß nicht, dann wird es das für Sie gewesen sein. Das konnte man ob Sie alle ihn bekommen haben – kritisiert, dass wir schon bei der Hamburgwahl sehen. ihre Vorschläge, zum Beispiel was den Bereich Straßen- bau betrifft, nicht umgesetzt haben. Ich möchte noch einige allgemeine Punkte betreffend den Subventionsabbau ansprechen. Ich glaube, dass wir Das Zustandekommen des Koch/Steinbrück-Papiers alle in gewisser Weise in einem Boot sitzen – darauf hat – wir haben es in die Beratungen des Haushalts 2004 der Kollege Schirmbeck bereits hingewiesen –, und zwar eingebunden und wir haben es umgesetzt – war von ei- sowohl im Hinblick auf die Verteilung als auch im Hin- ner besonderen öffentlichen Aufmerksamkeit gekenn- blick auf die Mindereinnahmen in den Haushalten von zeichnet. Diesem Papier liegt das Rasenmäherprinzip Bund, Ländern und Kommunen. Es ist schwierig, sich zugrunde. Ich glaube, es ist wirklich nicht erklärlich, gegen eine Interessengruppe, die zur eigenen Wählerkli- dass zum Beispiel in den Bereich Schiene Subventionen entel gehört – wir alle vertreten Interessengruppen; ich fließen sollten, weil die Bahn Eigentümer des Bahnnet- nehme die SPD da nicht aus –, durchzusetzen. Daher war zes ist, und in den Bereich Straße nicht. Man hat ge- es zum Beispiel eine große Leistung der SPD und des merkt, dass Landesbeamte in Landesministerien die Bündnisses 90/Die Grünen, sich dazu durchzuringen, die Liste erstellt haben. 9266 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. April 2004

Carsten Schneider (A) (Anja Hajduk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: politischen Mutes, darüber zu entscheiden. Die Entschei- (C) Beamte in den unionsgeführten Ländern!) dung, überall gleich vorzugehen, kann jeder Beamte tref- fen; dafür brauchen wir keine Abgeordneten des Deut- – Ja, vor allen Dingen Beamte in den unionsgeführten schen Bundestages. Ländern. (Dr. Andreas Pinkwart [FDP]: Also doch ein Uns hat der politische Mut gefehlt, gezielte Ein- Widerspruch zur Bundesregierung!) schnitte vorzusehen und nicht nach dem Rasenmäher- prinzip vorzugehen. Ich will ganz klar sagen: Jede Ich würde gern noch einmal zum 19. Subventionsbe- Subvention hat positive wie negative Folgen. Zu richt zurückkommen. Was Ihren Entwurf zur Änderung einigen Subventionen würde ich sagen: Sie erzielen eine des Haushaltsgrundsätzegesetzes angeht, so teile ich die Wirkung, die wir politisch wollen. Daher bin ich – um Haltung der Bundesregierung, nach der eine solche Re- das ganz klar und deutlich zu sagen – für mutige politi- gelung nicht in das Haushaltsgrundsätzegesetz übernom- sche Entscheidungen und nicht für ein Vorgehen nach men werden sollte; denn dieses regelt die Grundsätze des Haushaltsrechts, aber nicht finanzpolitische Zielsetzun- dem Rasenmäherprinzip. gen. Finanzpolitische Zielsetzungen kann der jeweilige (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Haushaltsgesetzgeber in jedem Jahr festlegen. DIE GRÜNEN) Ich begrüße die Neuerung sehr, die die Bundesregie- Ich hoffe – das sage ich in Richtung CDU/CSU-Frak- rung beschlossen hat und die sich auch in Ihrem Gesetz- tion –, dass es uns in den Fraktionen gelingt – ich be- entwurf inhaltlich wiederfindet. Grundsätzlich werden ziehe mich dabei zumindest auf die SPD-Fraktion –, bei Subventionen nur noch als Finanzhilfen gewährt und der Aufstellung des Haushalts 2005, die schwierig genug damit klar sichtbar im Haushalt ausgewiesen. Das geht sein wird, das Maastricht-Kriterium einzuhalten, nicht mehr über Steuervergünstigungen, die nicht so Schwerpunkte auf den Gebieten Bildung und Forschung transparent sind und auch nicht derselben Verteilung un- zu setzen und Subventionen gezielt abzubauen. terliegen wie Ausgaben, die im Rahmen der Haushalts- beratungen jeweils beschlossen werden müssen. Ich halte es für richtig, dass diese Finanzhilfen gesetzlich Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: befristet und grundsätzlich degressiv ausgestaltet wer- Herr Kollege Schneider, gestatten Sie eine Zwischen- den. frage des Kollegen Professor Pinkwart? Man muss auch überlegen – das ist zumindest meine persönliche Einschätzung –, ob man an bestehende Hil- Carsten Schneider (SPD): fen herangeht. Sie haben das vorhin aufgezeigt. Das Gern. könnte ein Weg sein; darüber müssen wir befinden. Dazu (B) kann ich aber noch keine abschließende Meinung der (D) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Fraktion sagen. Herr Pinkwart, bitte schön. Die Frage ist auch, ob wir bestehende Steuervergüns- tigungen in Finanzhilfen überführen können. Ich würde Dr. Andreas Pinkwart (FDP): dies sehr begrüßen, weil es letztlich dazu führen würde, Herr Schneider, Sie haben soeben ausgeführt, dass Sie dass wir in jedem Jahr bei den parlamentarischen Haus- gegen das Rasenmäherprinzip sind und offensichtlich haltsberatungen – das Budgetrecht ist nun einmal das nur noch punktuell eingreifen wollen, da Sie davon aus- höchste Recht des Parlaments – tatsächlich überprüfen, inwieweit die Hilfen sinnvoll sind. gehen, dass gewisse Subventionen von dauerhaftem Nutzen seien. Befinden Sie sich damit möglicherweise Dazu noch eine Anmerkung. Ich glaube, dass auch in einem Widerspruch zu der hier von der Bundesregie- das Haushaltsrecht geändert werden muss. Wir müssen rung vorgetragenen Haltung? Denn die Bundesregierung Steuerungsinstrumente bekommen, die es uns erlauben, hat in ihrem 19. Subventionsbericht zum Ausdruck ge- zu erkennen: Wie sinnvoll ist die eine oder andere Sub- bracht, dass sie Subventionen – zumindest künftig – nur vention? Welche Ziele erreichen wir? Wir können jetzt noch zeitlich befristet und degressiv ausgestalten will. eigentlich nur noch Soll- und Istzahlen feststellen, aber nicht, ob die Hilfen tatsächlich sinnvoll sind. Carsten Schneider (SPD): Ich halte also eine Änderung des Haushaltsgrundsät- Herr Professor Pinkwart, darauf antworte ich sehr zegesetzes für notwendig. Wir haben dieses Gesetz 1997 gerne. Ich wollte damit zum Ausdruck bringen, dass ich – da war ich noch nicht dabei – geändert und für die Re- die Schnitthöhe des Rasenmähers unterschiedlich ein- gierung eine hohe Flexibilität geschaffen. Diese Flexibi- stellen würde. Bei manchen Subventionen würde ich lität ist grundsätzlich zu begrüßen, aber das Parlament eine stärkere Abschmelzung vornehmen – wir sind der hat Steuerungsinstrumente aus der Hand gegeben. Ich Haushaltsgesetzgeber; wir haben diese Entscheidung zu für meinen Teil finde, dass wir diese wieder zurückbe- treffen, dafür sind wir gewählt, dafür haben wir die Ver- kommen müssten, dass wir praktisch wie ein Aufsichts- antwortung – und bei manchen würde ich nicht so stark rat Controllinginstrumente haben müssten. ansetzen, etwa da, wo Umstrukturierungsprozesse statt- Vielen Dank. finden. Sie haben vorhin das EEG genannt, das hier nicht direkt vorkommt. Es ist politisch gewollt, regenerative (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Energien stärker zu fördern. Wir müssen also sehen, ob DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr. Andreas uns das gelingt. Ich halte es auch für ein Zeichen des Pinkwart [FDP]) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. April 2004 9267

(A) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: worden; es liegt nur daran, dass Sie die Subventionen (C) Das Wort hat jetzt der Kollege Jochen-Konrad nicht abgebaut, sondern neue Subventionen geschaffen Fromme von der CDU/CSU-Fraktion. haben. Ich erinnere an die so genannte ökologische Steuerreform, die weder öko noch logisch ist. Aber (Beifall bei der CDU/CSU) durch sie wurden riesige Subventionen geschaffen. Sie haben einen Fehler gemacht und das wussten Sie. Des- Jochen-Konrad Fromme (CDU/CSU): wegen haben Sie, um den Standort Deutschland nicht zu Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! gefährden, an bestimmten Stellen Ausnahmen einge- Herr Kollege Schneider, wenn Sie die Rolle des Bundes- räumt und neue Subventionen geschaffen. Das zeigt rats beklagen, dann sollten Sie einmal einen Blick zu- doch, wie fragwürdig das Ganze ist. Im folgenden Jahr rück werfen. Wenn Sie damals den Petersberger Be- kommt dann Herr Eichel und streicht diese Subventio- schlüssen zugestimmt hätten, hätten Sie den größten nen. Ihre Subventionspolitik bzw. Nichtabschaffungs- Subventionsabbau in der Geschichte erreicht – da sehen politik macht den Standort kaputt. Sie, welchen Mut wir in dieser Frage hatten –; (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP) Sie rühmen sich, besonders erfolgreich zu sein. Wenn ich mir allerdings die Eichel-Liste im Haushalt ansehe, das müssen Sie sich heute vorhalten lassen. stelle ich fest, dass davon relativ wenig übrig geblieben ist. Die Eigenheimzulage zum Beispiel – Ihr Jäger 90 – (Alexander Bonde [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- haben Sie schon mindestens dreimal verbraten: zur NEN]: Das ist schon eine Weile her!) Haushaltssanierung, zur Stadtsanierung und jetzt für die Der FDP-Gesetzentwurf ist auf den ersten Blick sym- Bildung. Was wollen Sie denn eigentlich? Sie können pathisch. Mit drei Paragraphen sozusagen das ganze Pro- das Geld doch nur einmal ausgeben. Dass Sie sich aus- blem zu lösen klingt gut, aber der Antrag ist eben FDP: gerechnet die Eigenheimzulage herausgegriffen haben, faszinierend, doch problematisch. kann ich verstehen. Das hat ideologische Gründe. Ihnen ist es nicht recht, dass Menschen, die Besitz haben, an- (Heiterkeit bei der CDU/CSU und der FDP) ders denken. Vor diesem ideologischen Hintergrund ha- Er ist ein guter Denkanstoß, aber im Detail ist es doch ben Sie sie abgeschafft, nichts anderes war der Grund. ein wenig schwieriger. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Was sind denn Subventionen? Ist die Kilometerpau- Alexander Bonde [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- schale eine Subvention oder nur Ausfluss des Nettoprin- NEN]: Tiefste Mottenkiste! – Carsten (B) zips? So wie sie jetzt ist, ist sie als Gegenleistung für die Schneider [SPD]: Das ist ja Mittelalter!) (D) Ökosteuer überhöht und mit Sicherheit eine Subvention. – Das macht nichts, es bleibt trotzdem wahr. Wenn Sie Aber im Kern steht nach meiner Auffassung das Netto- einen solchen Zwischenruf machen, beweist das, dass prinzip dahinter. Sie sich getroffen fühlen. Das zeigt mir, dass ich Recht Wie ist es denn mit den Zuweisungen für den Straßen- habe. bau oder für den Schienenbau? Verbreiten Sie doch nicht die Legende, die Union sei (Otto Fricke [FDP]: Ja, ist das eine Investi- nicht zum Subventionsabbau bereit. Ich habe es gesagt: tion? – Dr. Andreas Pinkwart [FDP]: Das Ab- Wir haben mit den Petersberger Beschlüssen den umfas- grenzungsproblem besteht!) sendsten Vorschlag vorgelegt. Sie haben ihn blockiert. Sie hätten es natürlich gerne gehabt, dass wir im Zuge Nur deshalb, weil das jetzt über die Bahn abgewickelt des Haushaltsbegleitgesetzes viele Subventionen geop- wird, steht es als Zuwendung im Haushalt. Aber es ist fert hätten, in den Orkus Ihrer chaotischen Haushaltspo- doch eine Infrastrukturmaßnahme und bleibt eine öffent- litik geworfen hätten, um Ihnen aus der Patsche zu hel- liche Aufgabe. fen. Aber das werden wir nicht tun. Wenn wir An die Adresse der SPD: Wie ist es mit der Steuer- Subventionen abbauen, dann nur in Verbindung mit freiheit für Nacht- und Feiertagszuschläge? Da haben strukturellen Veränderungen. Wir wollen die Subven- Sie sich ja geziert. Das ist eine Subvention und nichts tionen nicht einfach wie Tafelsilber verschleudern, um anderes. die laufenden Ausgaben zu decken, sondern wir wollen strukturelle Veränderungen. Wir wollen das Geld für Herr Kollege Diller, wenn Sie sich hier mit einem eine Steuerreform einsetzen, damit mehr Kaufkraft im großen Zahlenwerk hinstellen und ausführen, wie erfolg- Binnenmarkt und mehr Investitionskraft bei den Unter- reich Sie waren, dann muss ich doch sagen: Zählen Sie nehmen entsteht. Das ist unser Konzept. einmal die Finanzhilfen, die Subventionen und die Steu- erbefreiungen zusammen, dann sehen Sie, dass gerade (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) das, wovon Sie gesprochen haben, nicht erreicht worden Wenn Sie da mitmachen, meine Damen und Herren, ist. Wenn ich einmal die Zahlen des Instituts für Wirt- dann werden wir uns an dieser Stelle sehr schnell han- schaft zugrunde lege, hatten wir 1998 59 Milliarden delseinig. Euro, im Jahre 2003 waren es wieder 58,6 Milliarden Euro. Wir haben das Ziel noch nicht erreicht. Der Sub- Wir haben mit der Koch/Steinbrück-Liste bewiesen, ventionsbericht ist nicht umsonst 24 Seiten dicker ge- dass wir selbst auf Ihren fragwürdigen Weg ein Stück 9268 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. April 2004

Jochen-Konrad Fromme (A) weit eingehen. Aber Sie marschieren in die falsche Rich- Wir können nicht ständig über Subventionsabbau re- (C) tung, indem Sie – ich habe es gesagt – neue Subventio- den, aber faktisch – auch wenn eine Degression vorgese- nen einführen. Bei der Windenergie spielt das über- hen ist – das Gegenteil bewirken. Der Ansatz ist richtig, haupt keine Rolle. Auch wenn es formal nicht um eine aber er ist nicht konsequent zu Ende gedacht. Subvention geht, das Geld wird den Bürgern weggenom- men und umverteilt. Weg ist weg, egal wie das heißt. Ich sage es noch einmal: Für uns bedeutet Subven- Dieses Vorgehen mindert die Kaufkraft und ist wirt- tionsabbau, dass wir substanzielle Veränderungen erzie- schaftspolitisch der falsche Weg. In demselben Augen- len; er bedeutet aber nicht, Geld zu verschleudern, indem blick, in dem über die Koch/Steinbrück-Liste verhandelt Defizite im laufenden Haushalt ausgeglichen werden, worden ist, haben Sie die Kohlesubvention in Milliar- die Sie durch Ihre schlechte Wirtschaftspolitik verur- denhöhe unkritisch verlängert. So kann man das nicht sacht haben. Da müssen Sie einen anderen Weg suchen. machen. Auch ich weiß, dass es im Zuge des Subventionsab- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) baus Opfer geben wird. Mit jeder Veränderung bei den Subventionen tritt man bestimmten Gruppen auf die Die Schlagworte müssen lauten – insofern ist der Füße. Es ist daher nicht einfach, Subventionen durchzu- FDP-Antrag richtig –: Begrenzung, Befristung, Degres- setzen. Wir sind dazu bereit, aber nicht um Ihren Preis, sion. Dabei muss ein gezielter Zweck verfolgt werden; sondern um den Preis einer nachhaltigen Verbesserung es darf nicht etwas konserviert werden. der wirtschaftlichen Lage in Deutschland. Koch/Steinbrück zeigt, dass wir bereit sind, etwas zu Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: tun. Gleichzeitig wird klar, dass es gefährlich ist, mit Ih- Herr Kollege Fromme, erlauben Sie eine Zwischen- nen einen Weg gemeinsam zu gehen. Es wurde nämlich frage der Kollegin Anja Hajduk? im Vermittlungsausschuss ausdrücklich vereinbart, dass die Liste von Koch/Steinbrück unter Beteiligung des Jochen-Konrad Fromme (CDU/CSU): Haushaltsausschusses umgesetzt wird. Sie stellen sich Aber gerne. die Parlamentsbeteiligung aber so vor: Sie präsentieren eine Liste, die von der Bundesregierung vorgegeben Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: wird. Die Beratung darüber betrachten Sie als Majestäts- Bitte schön. beleidigung. Also erfolgt sofort die Abstimmung, weil Sie keine Lust haben, mit uns darüber zu reden. Anja Hajduk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Aber das ist nur die halbe Wahrheit. Sie haben sich (B) Sehr geehrter Herr Kollege Fromme, Sie haben vom sogar generell vorbehalten, die Koch/Steinbrück-Liste (D) Opfern der Subventionen gesprochen. Ich möchte Sie zu zu verfälschen. Sie haben diese Liste gar nicht umge- den genannten Subventionen, bei denen Sie uns kritisiert setzt, sondern Sie haben Punkte, die ursprünglich nicht haben, fragen: Ist Ihnen wenigstens bewusst, dass bei der enthalten waren, aufgenommen und wiederum andere relativ jungen Windenergieförderung, die ja nicht direkt Punkte ausgespart. Es wurde im Vermittlungsausschuss über den Haushalt stattfindet – das hatten Sie auch ge- beispielsweise klar vereinbart, dass die Landwirtschaft sagt –, schon in den letzten Jahren eine ganz starke ausgenommen wird. Trotzdem gehen Sie ans Brannt- Degression stattgefunden hat, die in den nächsten zehn weinmonopol. Im Einzelplan 17 haben Sie Kürzungen Jahren fortgesetzt wird, nämlich von 50 Prozent und der Mittel für die Integration von Zuwanderern, bei Zu- noch einmal 40 Prozent, dass bei den von Ihnen erwähn- schüssen für Vertriebenenverbände und für Zivildienst- ten hohen und politisch sicherlich nicht einfachen Koh- leistende vorgenommen, die bei Koch/Steinbrück gar lesubventionen ebenfalls eine Degression stattfindet und nicht vorgesehen waren. Sie wollten nicht einmal eine dass die jetzige Planung, die bis 2012 reicht, ausdrück- Diskussion darüber zulassen. Das ist Ihr Weg. Sie benut- lich einem Sperrvermerk unterliegt, weil dieser Punkt zen die Koch/Steinbrück-Liste als Ausrede und verne- noch ausgestaltet werden soll? Ist Ihnen das aus der beln damit Ihre Politik. Haushaltsausschusssitzung noch in Erinnerung? (Beifall bei der CDU/CSU)

Jochen-Konrad Fromme (CDU/CSU): Ministerpräsident Steinbrück hat Ihnen dieses aufge- Aber natürlich ist mir das in Erinnerung. Mir ist das schrieben. Wir haben die Maut unter zwei Gesichtspunk- auch bewusst. Trotzdem haben Sie das Volumen der ten beschlossen: Ausländische LKWs sollen zur Steuer- Kohlesubvention beachtlich ausgeweitet. Das halte ich zahlung herangezogen werden und der Verkehrshaushalt für einen falschen Weg. soll mithilfe dieser Einnahmen aufgestockt werden. Was aber haben Sie gemacht? Sie haben den Verkehrshaus- (Dr. Andreas Pinkwart [FDP]: Die hätte aus- halt fortgeschrieben, haben die Mautmittel – unabhängig laufen müssen!) davon, ob sie fließen oder nicht – eingestellt und haben Die Degression ist richtig. Das Subventionsvolumen bei erst einmal 2 Milliarden Euro sozusagen abgezwackt, der Windenergie wird beachtlich steigen, obwohl eine um Ihre Haushaltslöcher an anderer Stelle zu stopfen. Degression vorgesehen ist. Das halte ich für einen fal- Aber in der Öffentlichkeit erklären Sie, dass wegen der schen Weg. fehlenden Mauteinnahmen und wegen der Kürzungen aufgrund der Koch/Steinbrück-Liste der Verkehrshaus- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) halt nicht aufgestockt werden kann. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. April 2004 9269

Jochen-Konrad Fromme (A) Mit Genehmigung des Präsidenten lese ich Ihnen ei- Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red- (C) nen Satz aus dem Brief des Ministerpräsidenten ner dem Kollegen Rolf Stöckel das Wort. Steinbrück, der kein Ministerpräsident der CDU ist, vor: Deshalb ist Ihre Begründung der Kürzung von In- Rolf Stöckel (SPD): vestitionen im Straßenbau unter Berufung auf un- Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle- sere Vorschläge schlicht falsch. gen! Meine Damen und Herren! Aktuell sind etwa 13,8 Millionen Mitglieder des deutschen Staatsvolkes, Das sagt Ihr eigener Ministerpräsident, der bei der Er- nämlich alle Kinder und Jugendlichen, von der Geburt stellung dieser Liste beteiligt war. So kann man mit uns bis zum 18. Geburtstag vom Wahlrecht ausgeschlossen. nicht umgehen. Wir Abgeordneten aller Fraktionen, die den vorliegen- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) den Antrag eingebracht haben, wollen das ändern und fordern die Bundesregierung auf, dazu einen Gesetzent- Ich sage Ihnen: Wer Subventionsabbau wirklich will, wurf einzubringen. (Carsten Schneider [SPD]: Kann das nicht mit (Beifall bei Abgeordneten der SPD, des der CDU machen!) BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der CDU/ CSU und der FDP) der kann das nicht mit Ihnen machen; Das heißt konkret, das Wahlalter auf null zu senken (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) und den nachrangigen Art. 38 Abs. 2 des Grundgesetzes denn Sie haben kein Konzept. Sie setzen die aus dem wie das Bundeswahlgesetz in den entsprechenden Vor- Subventionsabbau frei werdenden Mittel nur dafür ein, schriften zu ändern. Haushaltslöcher zu stopfen. Damit schmeißen Sie Geld (Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Aber auch aus dem Fenster heraus. Das ist Perlen vor die Säue wer- das passive Wahlrecht!) fen. Wir brauchen strukturelle Veränderungen, die wir mit Mitteln aus dem Subventionsabbau finanzieren wol- Bis das Wahlrecht auch persönlich ausgeübt werden len. Das geht aber nicht mit Ihnen und insbesondere kann, wird es durch die gesetzlichen Vertreterinnen oder nicht mit Ihrem neuen Parteivorsitzenden, der bei jeder Vertreter ausgeübt. Eine Absenkung der persönlichen Veränderung zurückrudert, anstatt den Blick nach vorn Wahlrechtsausübung auf 16 oder sogar auf 14 Jahre ist zu richten und für tatsächliche strukturelle Veränderun- damit ausdrücklich nicht ausgeschlossen. gen zu sorgen. Das geht nur mit einem Regierungswech- Wir haben nicht die Illusion, dass wir hierfür auf An- sel. hieb eine Zweidrittelmehrheit erreichen. Aber wir sind (B) (D) Danke schön. uns mit vielen, die in Deutschland für Kinderrechte, Generationengerechtigkeit und eine familienfreund- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) liche Gesellschaft arbeiten, in unseren Zielen einig, (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: CSU und der FDP) Ich schließe die Aussprache. nicht zuletzt mit der Jugendministerin , Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf die unsere Debatte heute leider nicht persönlich verfol- Drucksachen 15/2061 und 15/1635 an die in der Tages- gen kann und mich gebeten hat, herzliche Grüße auszu- ordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind richten. Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf: FDP) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ingrid Meine Damen und Herren, wir wollen ernsthaft und Arndt-Brauer, Norbert Barthle, Veronika unserer Meinung nach im Einklang mit Buchstaben und Bellmann und weiterer Abgeordneter Geist unseres Grundgesetzes mehr Demokratie wagen. Mehr Demokratie wagen durch ein Wahlrecht Wir fordern ein Wahlrecht von Geburt an von Geburt an (Beifall der Abg. Dr. Christel Happach-Kasan – Drucksache 15/1544 – [FDP]) Überweisungsvorschlag: als überfälligen Fortschritt in der demokratischen Ent- Innenausschuss (f) wicklung, in der das Prinzip „one man – one vote“ bzw. Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung „jeder Mensch – eine Stimme“ noch nicht verwirklicht Rechtsausschuss ist und eine von drei Generationen keinen Einfluss aus- Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend üben kann. „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus“ – und nicht nur vom volljährigen Volke. Interfraktionell ist vereinbart, für die Aussprache zwei Fünfminutenrunden vorzunehmen. Gibt es dazu (Beifall bei Abgeordneten der SPD, des Widerspruch? – Das ist nicht der Fall. Dann ist es so be- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der CDU/ schlossen. CSU und der FDP) 9270 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. April 2004

Rolf Stöckel (A) „Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.“ Jeder Risiken eines zusätzlichen Missbrauchs sind, wie auch (C) Deutsche hat in jedem Land die gleichen staatsbürgerli- in anderen Wählergruppen, wie die Chancen für alle Par- chen Rechte und Pflichten. Das sind die Grundrechte mit teien gleich verteilt. Sie sind in einer stabilen Demokra- Dauergarantie in unserer Verfassung, in Art. 79 tie aushaltbar. Abs. 3. Das ist der Kern unserer demokratischen Grund- ordnung. Manche Jugend- und Familienpolitiker und auch -ver- bände behaupten – das ist der zweite Einwand –, es han- Die gesetzliche Festlegung eines Mindestwahlalters dele sich nur um ein Alibirecht und behindere die direkte ist dagegen der politisch-sozialen Entwicklung und Partizipation von Minderjährigen. Dazu sage ich: Die Aushandlung unterworfen wie etwa die Absenkung des Chancen von Kindern für Teilhabe und Demokratisie- Wahlrechtsalters im Jahre 1970 auf 18 Jahre. Die Demo- rung in den Familien und in der Gesellschaft wären grö- kratie entwickelt sich wie die Gesellschaft weiter und ßer, mitnichten kleiner als beim bisherigen Wahlrecht. beide können dabei auf längere Sicht nur gewinnen. Die Geschichte des Wahlrechts seit der Antike, die Überwin- Das Wahlrecht ab Geburt ist im Gegenteil die Einla- dung des Dreiklassenwahlrechts, die Einführung des dung zum demokratischen Dialog innerhalb der Fami- Frauenwahlrechts in der Weimarer Verfassung belegen lien. Die Chancen von entwicklungsgemäßer Mitwir- das eindrucksvoll. Ein Vertretungswahlrecht kennen wir kung und von Demokratie-Lernen wachsen. Das bei der Briefwahl. Es ist zum Beispiel im Vereinigten Wahlrecht ab Geburt behindert nicht die direkte Mitwir- Königreich, dem Mutterland der Demokratie, lange kung von Minderjährigen. Vielmehr ergänzt und bestärkt Praxis. sich beides gegenseitig. Das Wahlrecht ab Geburt ist wie ein paar Schuhe, mit dem Kinder in der Demokratie lau- Weil wir reflektieren, wie die Weiterentwicklung des fen lernen. gleichen Wahlrechts auf die langfristige Überwindung Das Bild der Erwachsenen, insbesondere der Politik, von Diskriminierungen im Rechts- und Lebensalltag der von Kindern würde sich – da bin ich mir sicher – wan- zuvor ausgeschlossenen Menschen wirken kann, und vor deln. Das ist dringend geboten, wenn wir Zukunft ge- dem Hintergrund der Bevölkerungsentwicklung und un- winnen wollen. serer Verantwortung für die Nachkommen, für zukünf- tige Generationen sind wir überzeugt, dass die Interes- Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und sen von Kindern und Familien an politischem Gewicht Kollegen, Sie haben mit diesem Antrag die Gelegenheit, gewinnen müssen und dass dazu das Wahlrecht ab Ge- an einer historischen Weichenstellung für Kinderrechte burt einen wesentlichen Anschub leisten wird. in unserer Demokratie teilzunehmen. Verhindern Sie eine Beerdigung erster Klasse in den Ausschüssen! Ge- (B) (Beifall bei Abgeordneten der SPD, des ben Sie sich einen Ruck! Seien Sie dabei! Vergessen Sie (D) BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der CDU/ nicht: Der Kopf ist rund, damit das Denken die Richtung CSU und der FDP) ändern kann. Stets sind die Initiatoren demokratischen Fortschritts Vielen Dank. belächelt oder für verrückt gehalten worden, bis alle so weit waren und dann sogar ein Streit um die Urheber- (Beifall bei allen Fraktionen) rechte entbrannte. (Dr. Antje Vollmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: NEN]: Genau!) Das Wort hat jetzt die Kollegin Ingrid Fischbach. Stets hat es interessengeleitete und kleinmütige Beden- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) ken der Beharrenden gegeben, die die praktische Un- durchführbarkeit, den Missbrauch, ja sogar den Unter- Ingrid Fischbach (CDU/CSU): gang der staatlichen Ordnung beschworen haben. Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber Rolf Stöckel, wir haben schon manche Schlacht für die Gegen das Wahlrecht ab Geburt bleiben meines Er- Kinder in unserem Lande geschlagen. Ich muss deutlich achtens im Grunde nur zwei wesentliche Einwände, die sagen: Heute stehen wir nicht auf einer Seite. Heute un- erst in der Praxis widerlegt werden können: terscheiden sich unsere Aussagen ganz deutlich, wenn es Erstens. Kinder blieben Anhängsel der Eltern, die das darum geht, die Belange der Kinder und ihre Teilhabe zu delegierte Wahlrecht missbrauchen könnten, bzw. es berücksichtigen. gebe Probleme, zu entscheiden, welcher Elternteil es „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus.“ Keine Fra- ausüben solle. Dazu sage ich: Gesetzliche Vertreter fäl- ge – auch Kinder sind „das Volk“. Immerhin fast 20 Pro- len unabhängig von der Familiensituation alle öffentlich- zent – ein Fünftel – der Bevölkerung sind Kinder. rechtlichen Entscheidungen für ihre Kinder. Sie sind da- bei in der Pflicht und der Verantwortung, den Willen ih- (Zuruf von der CDU/CSU: Noch!) rer Kinder zu berücksichtigen und zu ihrem Wohle zu handeln. Es ist schon sympathisch, dass dieser Antrag heute de- battiert wird und der Fokus der Öffentlichkeit auf die Fa- (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ milien, auf die Kinder gelenkt wird. Das ist eine tolle Sa- CSU und der FDP) che, die ich voll und ganz unterstütze. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. April 2004 9271

Ingrid Fischbach (A) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- nicht darum, dass Kinder und Jugendliche das Wahlrecht (C) neten der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE bekommen. GRÜNEN und der FDP) (Dr. Antje Vollmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Denn wer von uns will nicht Kinder und Familien stär- NEN]: Doch! Doch! Genau um die geht es!) ken? Ich glaube, wir alle haben das gleiche Ziel. Nur in Dann müsste logischerweise erst einmal ein Antrag dem Weg dorthin unterscheiden wir uns. kommen, das Wahlalter herabzusetzen. Aber der kommt Ich habe große Zweifel, ob mit dem Antrag, der heute nicht. vorliegt, das Ziel, das die Antragsteller verfolgen, näm- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der lich Kindern und Jugendlichen die Ausübung der Staats- SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- gewalt zu ermöglichen, wirklich erreicht wird. Denn die NEN – Klaus Haupt [FDP]: Das ist zu kurz ge- Umsetzung dieser Idee hat nicht nur demokratietheoreti- sprungen!) sche Mängel, sondern auch verfassungsrechtliche Män- gel Sie sagen, die Eltern sollen treuhänderisch das Wahl- recht für die Kinder wahrnehmen. Jetzt machen wir uns (Dr. Antje Vollmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- doch nichts vor: In welchen Familien ist es denn wirk- NEN]: Es gibt Verfassungsrechtler, die das an- lich nicht schon einmal vorgekommen, dass die Kinder ders sehen!) eine andere politische Meinung haben als die Eltern? und vor allen Dingen, lieber Rolf Stöckel, praktische (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der Mängel. Ich weiß nicht, liebe Frau Vizepräsidentin, ob SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN es richtig ist, einen Antrag auf den Weg zu bringen und und der FDP – Klaus Haupt [FDP]: Das ist das zu sagen: Die Praxis wird zeigen, was wir noch machen Leben!) müssen. – Da sagt der Kollege Haupt: Das ist das Leben, die Pra- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- xis soll es richten; wir gehen zum Familiengericht und neten der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE der Richter entscheidet, welche Stimme gewertet wird. GRÜNEN und der FDP) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Das wird den Kindern und ihrem Anspruch auf echte Lachen bei Abgeordneten der SPD) Partizipation und Beteiligung nicht gerecht. Lieber Klaus Haupt, wir können ja wieder für Arbeits- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der plätze sorgen, aber ich glaube, das ist der falsche Weg. SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- (B) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der (D) NEN) SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Meine Damen und Herren, unsere Demokratie zeich- und der FDP) net sich dadurch aus, dass wir Wählerstimmen nur zäh- Was machen wir also in den Fällen, wo Dissens zwi- len, aber nicht wägen. Das bedeutet, dass es nicht unter- schen den Eltern und den Kindern besteht? Was machen schiedliche Arten von Stimmen geben kann. Es kann wir in den Fällen, wo Dissens zwischen den Elternteilen nicht sein, dass Eltern privilegiert werden. besteht? Auch das kommt vor: Der Mann ist für die (Dr. Antje Vollmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- CDU und die Frau ist für die SPD, die Grünen oder sonst NEN]: Aha! Das ist des Pudels Kern!) was. Viel wichtiger für mich ist: Wie wird sichergestellt, lieber Herr Stöckel, dass die Eltern ihr Stimmrecht im Ich würde selber davon profitieren. Ich habe eine Toch- Sinne und im Interesse der Kinder ausüben? ter und könnte selber über ein höheres Stimmengewicht verfügen. Aber das kann es nicht sein. In unserer Demo- (Zuruf von der SPD: Das kann man nicht kratie können wir nicht einige Stimmen mit besonderem sicherstellen!) Gewicht belegen. Das kann niemand kontrollieren; denn die Stimme wird (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der geheim abgegeben. SPD und der FDP) (Dr. Antje Vollmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Wenn ich etwas ketzerisch wäre, könnte ich sagen: Wir NEN]: Wollen Sie das kontrollieren?) kommen hier zu einem etwas moderneren Klassenwahl- Letztendlich gehe ich an die Wahlurne und entscheide recht. Das hatten wir schon einmal und das sollte es als Elternteil im Sinne und zum Nutzen meiner Tochter. nicht wieder geben. Genau das werden andere Eltern auch tun. (Beifall bei der CDU/CSU und dem BÜND- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der NIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordne- SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN ten der SPD und der FDP) und der FDP – Zuruf von der SPD: Sie trauen den Eltern zu wenig zu!) Wenn Sie ehrlich sind, dann müssen Sie zugeben – das ist auch für mich der wichtigste Punkt –: Wenn Sie Ich glaube auch, dass Ihr Begriff „Wahlrecht von Ge- von der treuhänderischen Wahrnehmung des Stimm- burt an“ in die Irre führt; denn so, wie es dargestellt wird rechtes durch die Eltern sprechen, geht es eigentlich und wie es faktisch aussieht, wird kein Kind und kein 9272 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. April 2004

Ingrid Fischbach (A) Jugendlicher vor der Vollendung des 18. Lebensjahres Klaus Haupt (FDP): (C) wählen können. Also ist das ein Etikett, das ein wenig Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zu- an eine Mogelpackung erinnert. gegeben, der überparteiliche Antrag für ein Wahlrecht (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der von Geburt an ist unkonventionell. Er ist mutig quer ge- SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN dacht, er verlässt die eingetretenen Pfade der Verfas- und der FDP) sungsinterpretation und wirft Fragen von grundsätzlicher Bedeutung auf. Meine Damen und Herren, ich will gar nicht näher auf die Fälle eingehen, die aufgeklärt werden müssen. Was Mir sind drei Punkte ganz besonders wichtig: erstens ist in Scheidungsfällen? Nimmt der Ehepartner, der die das Demokratieprinzip, zweitens die Generationenge- Familie verlässt, das Wahlrecht mit? rechtigkeit, drittens die Rolle der Familie in unserer Ge- sellschaft. (Rainer Funke [FDP]: Natürlich!) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Was ist denn, wenn Minderjährige Eltern werden? Dann der SPD und der CDU/CSU) haben wir zweimal Großeltern, die die elterliche Für- sorge für die minderjährigen Eltern haben. Dem Demokratieprinzip kommt in unserem Grund- gesetz eine dominierende Rolle zu. Art. 20 bestimmt, (Dr. Antje Vollmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- dass alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht – nicht nur NEN]: Das sind aber wirklich Spezialfälle!) vom volljährigen Volk, sondern von jedem Deutschen ab der Geburt. Die Staatsgewalt wird durch Wahlen und Diese bekommen dann Viertelstimmen. Abstimmungen ausgeübt. (Klaus Haupt [FDP]: Das klären wir alles mit (Barbara Wittig [SPD]: Unter anderem! Nicht der Fünften Durchführungsverordnung!) nur!) Genau das ist der Punkt, lieber Herr Haupt: So sym- Dieses Prinzip gehört zum Verfassungskern und ist vor pathisch Ihr Antrag ist, er wird dem Ziel nicht gerecht, jeder Änderung prinzipiell geschützt. Kinder wirklich wahrzunehmen, ernst zu nehmen und ihnen Beteiligung zu ermöglichen. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU und des BÜNDNIS- (Ina Lenke [FDP]: Wo ist die Alternative? – SES 90/DIE GRÜNEN) Harald Leibrecht [FDP]: Machen Sie doch (B) selbst einmal einen Vorschlag!) In Art. 38 wird diese Ausübung der Volkssouveränität (D) jedoch auf die Staatsbürger beschränkt, die das 18. Le- Ich glaube, wir werden, liebe Frau Lenke, den Kindern bensjahr vollendet haben. Die rund 14 Millionen Min- besser gerecht, wenn wir für echte Partizipation sorgen, derjährigen werden davon ausgeschlossen. Das heißt, wenn wir also dafür sorgen, dass Kinder beteiligt wer- nur etwa 80 Prozent des Volkes legitimieren so die den. Wenn Sie es ernst meinen mit Ihrem Antrag, dann Staatsgewalt, aber mit erheblicher Wirkung auch für die müsste der nächste Antrag folgen, nämlich der Antrag nicht beteiligten 20 Prozent. auf die Herabsetzung des Wahlalters. Das wäre die logi- sche Konsequenz. Ich bin gespannt, wie viele von Ihnen Unbestreitbar sehen heute Verfassungsjuristen die dann noch hier stehen und diesen Antrag unterschreiben Kinder als Träger von Grundrechten von Geburt an. Un- werden. strittig ist, dass das Wahlrecht ein entscheidendes Grund- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- recht, ein zentrales Bürgerrecht ist und dass Kinder Bür- neten der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE ger sind. GRÜNEN und der FDP – Hans-Christian (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Vor der SPD, der CDU/CSU und des BÜNDNIS- allen Dingen für das passive Wahlrecht!) SES 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Kollegin Fischbach, unser Rechtssystem sieht, soweit Rechtsfähigkeit und Geschäftsfähigkeit auseinander fal- Zur Erläuterung für die Zuschauer will ich sagen, dass len, übrigens schon seit 100 Jahren die Möglichkeit der ich die Zugehörigkeit zu den Fraktionen nicht bekannt Stellvertretung vor und weist diese im Falle von Min- gebe, wenn ich die Redner aufrufe, weil es Zustimmung derjährigen den Eltern als geborene Stellvertreter ihrer aus allen Fraktionen und ebenso Ablehnung aus allen Kinder zu. Aus Art. 6 des Grundgesetzes, dem besonde- Fraktionen gibt. Diese Debatte richtet sich also direkt an ren Elterngrundrecht, folgen generelle Wahrnehmungs- die Abgeordneten, ohne parlamentarische oder fraktio- rechte der Eltern, auch und gerade im Bereich der Aus- nelle Bindung. übung der Grundrechte ihrer Kinder. Beispielsweise Das Wort hat jetzt der Kollege Klaus Haupt. vertreten Eltern ihre Kinder bei der Ausübung der als Grundrecht ausgestalteten Religionsfreiheit bis zum Ein- (Beifall bei Abgeordneten der FDP, der SPD, tritt der Teilrechtsmündigkeit mit 14 Jahren. Warum soll der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE das nicht auch beim Grundrecht auf politische Mitwir- GRÜNEN) kung, beim Wahlrecht, möglich sein? Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. April 2004 9273

Klaus Haupt (A) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten schaftlichen Bedeutung entsprechend durch die Einfüh- (C) der SPD, der CDU/CSU und des BÜNDNIS- rung eines Wahlrechts ab Geburt erhöhen. SES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Deshalb sollen Kinder nach unserer Ansicht Inhaber der SPD, der CDU/CSU und des BÜNDNIS- des Wahlrechts werden, das treuhänderisch von ihren El- SES 90/DIE GRÜNEN) tern ausgeübt wird, bis die Kinder das Wahlalter erreicht haben. Selbstverständlich wird man darüber diskutieren Noch vor 200 Jahren galt ein allgemeines Männer- dürfen, ab wann junge Menschen ihr Wahlrecht selbst wahlrecht als fixe Idee. ausüben. Der vielfach gegen unseren Antrag ins Feld ge- (Barbara Wittig [SPD]: Schreien Sie doch führte Grundsatz der Höchstpersönlichkeit steht nicht nicht so!) im Grundgesetz. Schon heute wird er in der Praxis viel- fach durchbrochen. In anderen demokratischen Ländern Vor 100 Jahren erschien ein Frauenwahlrecht als ebenso wie Frankreich oder Großbritannien gibt es ihn in dieser absurd. Form überhaupt nicht. In jedem Fall aber ist er gegen- (Gudrun Kopp [FDP]: Genau so ist es!) über der ausdrücklichen Verfassungsbestimmung, dass die Staatsgewalt vom Volke ausgeht, absolut nachrangig. All diese Änderungen wurden zunächst als abwegig, suspekt und utopisch abgetan. Mit der Anerkennung des (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Wahlrechts von Geburt an würde unser Wahlrecht durch der SPD, der CDU/CSU und des BÜNDNIS- den Grundsatz „Jeder Mensch – eine Stimme“ wirklich SES 90/DIE GRÜNEN) zu einem allgemeinen Wahlrecht vollendet. Politik Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, angesichts würde zukunftsfähiger und nachhaltiger, übrigens zum der hoch aktuellen Probleme von Verschuldung, Renten- Vorteil der gesamten Gesellschaft. kürzung und Bildungsmisere verschärft sich in Deutsch- (Beifall bei Abgeordneten der FDP, der SPD, land die Debatte um das Thema Generationengerech- der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE tigkeit. Solange unsere Gesellschaft finanzielle und GRÜNEN) soziale Lasten auf Pump finanziert, sie auf die junge Ge- neration verschiebt und ihr die Zukunftschancen raubt, Denn schon Martin Luther stellte fest: „Bei den Kindern so lange ist keine Generationengerechtigkeit möglich. muss angefangen werden, damit es im Staate besser Der Grundfehler der heutigen Politik ist, dass sie nur auf wird.“ zwei Generationen fokussiert ist. Der Generationenver- Danke. trag setzt jedoch ein solidarisches Miteinander von drei (B) Generationen voraus. Die Einführung eines Wahlrechts (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (D) ab Geburt würde bedeuten, der Zukunft eine Stimme zu der SPD, der CDU/CSU und des BÜNDNIS- geben. Mit einem Dreigenerationenwahlrecht würde SES 90/DIE GRÜNEN) der Generationenvertrag mit neuem Leben erfüllt. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: der SPD, der CDU/CSU und des BÜNDNIS- Das Wort hat die Kollegin Irmingard Schewe-Gerigk. SES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Liebe Kolleginnen und Kollegen, Familien mit Kin- Dr. Antje Vollmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- dern werden in Deutschland gravierend benachteiligt. NEN]: Jetzt kommt das Wort der Feministin! – Kinder sind in unserer Gesellschaft inzwischen eines der Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Das ist das größten Armutsrisiken, vor allem für Alleinerziehende. Gegenteil von Basisdemokratie!)

(Zuruf von der FDP: Gleichzeitig die größte Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/DIE Belastung!) GRÜNEN): Obwohl die Familie durch Art. 6 des Grundgesetzes un- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! ter besonderen staatlichen Schutz gestellt ist, haben sich „Kinder an die Macht!“ – das wünschte sich Herbert die Lebensverhältnisse der Familien kontinuierlich ver- Grönemeyer. Und das suggerieren auch die Antragsteller schlechtert. Warum? Ihr Einfluss auf politische Entschei- und Antragstellerinnen mit ihrem Antrag auf Einführung dungen ist relativ gering. eines Wahlrechts von Geburt an. Aber werden Kinder tatsächlich mehr Macht erhalten, wenn ihre Eltern stell- (Ingrid Fischbach [CDU/CSU]: Also doch ein vertretend für sie wählen können? Familienwahlrecht, Herr Haupt?) (Zuruf von der SPD: Nein!) Aufgrund der demographischen Entwicklung wird er noch dramatisch zurückgehen. Ich sage: Nein. (Dr. Hans-Peter Friedrich [Hof] [CDU/CSU]: (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Das ist wahr!) sowie bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ CSU und der FDP) Wir können die Zukunft der Familien und damit unserer ganzen Gesellschaft aber nur sichern, wenn wir das poli- Denn nicht die Kinder erhalten mehr Macht, sondern tische Gewicht von Familien und Kindern ihrer gesell- deren Eltern. Darum müsste es ehrlicherweise 9274 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. April 2004

Irmingard Schewe-Gerigk (A) Elternwahlrecht heißen oder – in vielen Fällen vielleicht Generationengerechtigkeit ist das zentrale Thema. Die (C) besser – Väterwahlrecht. Kinder sind unsere Zukunft, sie sind es auch, die künftig die Folgen von Staatsverschuldung, Bildungsmisere und (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Jetzt ver- Umweltproblemen schultern müssen. Darum ist hier die stehe ich das!) Politik insgesamt gefragt. Es wäre doch für dieses Haus Wir alle wissen doch: In vielen Fällen wären sie es, geradezu ein Armutszeugnis, wenn wir als Politiker und die für ihre Kinder die „richtige“ Partei aussuchen wür- Politikerinnen quasi eine Bankrotterklärung abgeben den. Einer der Antragsteller, der Kollege Singhammer, würden und die Eltern als Garanten für eine gute Politik hätte wunderbare sieben Stimmen. bräuchten. (Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Nicht (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ mehr! Zwei sind schon über 18!) DIE GRÜNEN und der SPD – Zuruf von der CDU/CSU: Es ist notwendig!) Ich gehe einmal davon aus, dass die CSU sie bekäme. Ich kann Ihnen sagen: Seit 1998 sind die Ausgaben für Dass so ein „parlamentarisches Kindergeld“ einen Reiz Familien von 40,2 auf 60 Milliarden Euro im Jahre 2003 hat, ist zuzugeben. Unser Grundgesetz hat aber gerade erhöht worden. Das ist eine riesengroße Summe. Trotz- dies nicht gewollt und 75 Prozent unserer Bevölkerung dem brauchen wir weitere Anstrengungen. sind gegen eine solche Wahlrechtsänderung. Die Einführung eines Elternwahlrechts ist aber nicht (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Genauso nur verfassungsrechtlich bedenklich, sondern auch le- viele sind gegen die Grünen!) bensfremd: Wer sich die konkrete Situation in Familien Die Grundsätze der Allgemeinheit und der Gleichheit einmal vorstellt, entdeckt noch weitere, nicht aufzulö- der Wahl schließen es aus, Gruppen verschiedene Stim- sende Widersprüche. mengewichte beizumessen. Die Kollegin Fischbach hat (Rolf Stöckel [SPD]: Ihnen fehlt die Fantasie!) gesagt, das preußische Klassenwahlrecht mit unter- schiedlicher Stimmengewichtung – je nach dem Stand, Sind die Kinder noch nicht in der Lage, einen eigenen ob Adel oder nicht – wurde 1918 abgeschafft. Also ver- Wahlwunsch zu bekunden, müssen sich die Eltern darü- suchen wir doch jetzt nicht, ein solches für Eltern wieder ber einigen, durch welche Entscheidung sie dem Kind einzuführen. zum Recht verhelfen. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ (Klaus Haupt [FDP]: Eltern schaffen das im DIE GRÜNEN, der SPD, der CDU/CSU und Leben! Auch die Alleinerziehenden!) (B) der FDP – Klaus Haupt [FDP]: Polemik! Gerade bei älteren Kindern und Jugendlichen ist es doch (D) Heiße Luft!) schon fast der Regelfall, dass die politische Meinung der Der Gleichheitsgrundsatz gehört zum Kern des Grund- Eltern von der der Kinder abweicht. Ich hätte mich je- gesetzes und ist somit jeder Veränderung durch das Par- denfalls nicht durch meine Eltern vertreten lassen wol- lament entzogen. len. Das Elternwahlrecht käme aber auch in Konflikt mit (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- dem Prinzip der Höchstpersönlichkeit. Ein höchstper- SES 90/DIE GRÜNEN, der SPD und der sönliches Recht ist unveräußerlich, unübertragbar und CDU/CSU) unverzichtbar, Herr Haupt. Wie sollen die Eltern damit umgehen? Sie sind nicht (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ an Weisungen ihrer Kinder gebunden, wie zum Beispiel DIE GRÜNEN, der CDU/CSU und der FDP) Wahlhelfer, die Menschen mit Behinderungen helfen. Ob sich die politische Meinung der Kinder tatsächlich Das Wahlrecht duldet keine Stellvertretung. Auch der im Stimmverhalten der Eltern widerspiegelt, ist mehr als Grundsatz der geheimen Wahl wäre gefährdet, wenn sich fraglich. Der Vergleich, den Herr Haupt vorhin brachte, Eltern mit ihren Kindern darüber auseinander setzen, dass Eltern ihre Kinder in zivilrechtlichen Angelegen- welche Partei zu wählen wäre. heiten vertreten könnten, ist in keiner Weise stichhaltig. Bei einer politischen Wahl handelt es sich um eine politi- Liebe Kolleginnen und Kollegen, Ihre Ziele – mehr sche und ideelle Willensentscheidung und nicht um eine Rechte für Kinder bei politischen Entscheidungen, eine Privatangelegenheit und ein Privatinteresse. familienfreundlichere Politik durchzusetzen – teile ich ausdrücklich. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der CDU/CSU – Klaus Haupt (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Was tun Sie [FDP]: Religionsfreiheit ist ein Grundrecht!) dafür?) Geradezu lächerlich wird es, wenn Eltern untereinan- Verantwortungsvolle Politik, gleich welcher Couleur, der oder Eltern und Kind unterschiedliche Meinungen muss die Interessen von Familien und Kindern ernst neh- haben. Dafür schlagen Sie den Gang vor das Familien- men. gericht vor. (Zuruf von der CDU/CSU: Das tun Sie aber (Klaus Haupt [FDP]: Das steht nicht im nicht! Alles Sonntagsreden!) Antrag!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. April 2004 9275

Irmingard Schewe-Gerigk (A) Das soll dann entscheiden, welcher Elternteil nach Ein- sie wählen würden, und sie wären sich hinterher nicht (C) schätzung des Gerichts eher im Sinne und zum Wohle einmal sicher, ob ihr Wunsch tatsächlich erfüllt wurde. des Kindes abstimmen würde. Für mich ist das eine ab- Wenn schon das Szenario gerichtlicher Streitigkeiten surde Vorstellung und eine Arbeitsbeschaffungsmaß- hier an die Wand gemalt wurde, dann glaube ich, dass nahme, die die Gerichte kurz vor den Bundestagswahlen wir diese Streitigkeiten nicht nur vor der Wahl, sondern lahm legen würde. auch mit Blick auf das Wahlergebnis nach der Wahl hät- ten, wenn Kinder nachrechneten und feststellten, dass ihr Eigentlich stellt sich die Frage: Was ist mit der Ände- Wille offensichtlich nicht umgesetzt wurde. rung des Wahlrechts beabsichtigt? Eine Veränderung der Parteienlandschaft? In Ihrer Begründung steht (Hans-Joachim Hacker [SPD]: Bei den Wahlen haben Sie Erfahrung, Frau Pau!) Dabei ist … nicht von einer grundsätzlichen Ver- schiebung innerhalb des parteipolitischen Spek- Spannender sind allerdings alle Debatten, die sich trums auszugehen. wirklich um das Wahlalter drehen. Die einen meinen, eine Absenkung auf 16 Jahre wäre denkbar. Andere plä- Geht es um mehr Macht und mehr Rechte für eine be- dieren für 14 Jahre. Die Kinderrechtsorganisation stimmte Personengruppe? Davon hatten wir uns meiner „KRÄTZÄ“ aus Berlin wirbt mit guten Gründen für kei- Meinung nach schon 1918 verabschiedet. Unsere Demo- nerlei Altersbeschränkung. Die „Kinderrächtszänker“, kratie zeichnet sich doch gerade dadurch aus, dass alle wie sie in Langfassung heißen, argumentieren demokra- Menschen unabhängig von ihrer Lebensweise die glei- tietheoretisch. Sie plädieren aber auch aus Erfahrung, chen Rechte haben. Das sollte auch so bleiben. wenn sie sagen, nur jene, die wählen könnten, würden Das berechtigte Ziel, die Interessen von Kindern und auch von der Politik ernst genommen. Kinder gehören Jugendlichen stärker zu berücksichtigen, lässt sich durch leider viel zu selten dazu. andere Maßnahmen wie die Absenkung des Wahlalters Die PDS ist gegen alle Formen, bei denen ohne Not oder durch eine verbindliche Beteiligung von Kindern an stellvertretend gewählt wird. Wir sind zugleich für eine politischen Prozessen und Entscheidungen erreichen, die deutliche Senkung des Wahlalters. ihre Belange betreffen. (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Seid ihr Ich danke Ihnen. eigentlich für die Demokratie?) (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ Grundsätzlich sind wir für mehr Demokratie. Dies sage DIE GRÜNEN, der SPD, der CDU/CSU und ich auch mit Blick auf Vorschläge, künftig nur noch alle der FDP) fünf statt bislang alle vier Jahre zur Wahl zu rufen. Der (B) Bundestagspräsident bringt dies gelegentlich auch in die (D) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Debatte. Darüber lässt sich reden, vorausgesetzt, mehr Das Wort hat jetzt die Kollegin Petra Pau. Bürgerinnen und Bürger – auch Kinder und Jugendliche, die immer auch betroffen sind – können zwischendurch in Sachfragen mehr direkt bestimmen. Dafür steht auch Petra Pau (fraktionslos): die PDS im Bundestag. Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es gibt immer wieder Bestrebungen, ein Wahlalter unter (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [frak- 18 Jahren einzuführen. Sie kommen aus verschiedenen tionslos] – Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Parteien. Die PDS spricht sich seit langem dafür aus. Ach ja, da war noch eine!) (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [frak- tionslos]) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat jetzt der Kollege Johannes Singhammer. Eine Absenkung des Wahlalters ist ebenso überfällig wie mehr direkte Demokratie auf Bundesebene. Aller- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) dings gibt es – wir bekamen dies eben schon illustriert – selbst bei den Befürwortern unterschiedliche Auffassun- Johannes Singhammer (CDU/CSU): gen über die Art und Weise, wie Kinder und Jugendliche Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! De- mitbestimmen sollen. Ein wiederkehrender Vorschlag mokratie bedeutet im Kern Herrschaft der Mehrheit und meint, Eltern sollten das Stimmrecht für ihre Kinder Schutz der Minderheit. Kinder sind in Deutschland lei- wahrnehmen. Ich halte dies für falsch; der zu einer Minderheit geworden, die Tag für Tag mehr (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [frak- schrumpft. Im Jahre 1950 waren noch 27,7 Prozent der Menschen in Deutschland unter 18 Jahren, heute sind es tionslos]) nur noch 18,3 Prozent oder 13 Millionen Kinder und Ju- denn es wäre für die Kinder und Jugendlichen keine Mit- gendliche. Noch nie war Deutschland ein so von Er- bestimmung. Sie würden selbst dann fremdbestimmt, wachsenen geprägtes Land wie in diesen Tagen. wenn ihnen die Eltern sehr nahe stünden. (Dr. Antje Vollmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Zustimmung bei der SPD) NEN]: Allerdings!) Eine solche stellvertretende Wahl widerspräche übri- Die Entwicklung wird so weitergehen. Die Deutschen gens auch dem Grundsatz der geheimen Wahl. Die Kin- werden immer weniger. Die demographische Entwick- der und Jugendlichen müssten doch vorher sagen, wen lung verschiebt sich dramatisch. Ein Herausgeber der 9276 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. April 2004

Johannes Singhammer (A) „FAZ“ hat vor wenigen Tagen ein Buch mit dem Titel Es wird oft gesagt: Das hat es noch nicht gegeben, das (C) „Das Methusalem-Komplott“ veröffentlicht, in dem er hat man bisher nirgendwo so gemacht. Das ist vor jeder darauf hinweist, dass jetzt geborene Kinder eine Lebens- Ausweitung des Wahlrechts so kundgetan worden. 1848 erwartung von 100 Jahren hätten und sich das Verhältnis wurde das Wahlrecht von den selbstständigen Hausvä- von Jung und Alt weiter zuungunsten der Kinder und zu- tern auf alle Männer, die das 25. Lebensjahr vollendet gunsten der Erwachsenen verschieben werde. hatten, erweitert. 1919 in der Weimarer Republik wurde das Wahlrecht auf alle Männer und erstmals auch auf Wir wollen mit diesem Antrag den Kindern Gehör Frauen im Alter von mindestens 20 Jahren ausgedehnt. verschaffen. Wir glauben nicht, dass damit eine Umkehr 1949 in der Bundesrepublik wurde das Wahlrecht ab in der demographischen Entwicklung verbunden ist. 21 Jahren eingeführt. 1972 erfolgte die Absenkung des Dazu sind viele andere grundlegende Weichenstellungen Wahlalters auf 18 Jahre. nötig. Es gibt einen starken Trend, das Wahlrecht für alle (Ingrid Fischbach [CDU/CSU]: Das ist doch einzuführen – bei den Kindern und Jugendlichen bis zum nichts anderes!) Alter von 18 Jahren wahrgenommen durch die Eltern. Wir sollten uns diesem Trend nicht entgegenstellen. Aber wir glauben schon, dass die Interessen der Kinder durch ein allgemeines Wahlrecht besser zur Geltung ge- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der bracht werden können. SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat jetzt die Kollegin Barbara Wittig. Mit einem Wahlrecht für alle wird sich die Politik nicht mehr ausschließlich um die Stimmen der Majorität der Barbara Wittig (SPD): Älteren und Erwachsenen bemühen, sondern wird auch Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Zu- die Anliegen der Kleinsten, Jüngsten und Jugendlichen kunft unserer Gesellschaft sichern, familien- und kinder- nicht mehr aus den Augen verlieren. freundliche Politik durchsetzen, Belange der jungen Generation in Gesellschaft und Politik angemessen be- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und rücksichtigen – das sind Ziele, die ich voll und ganz un- der FDP – Ingrid Fischbach [CDU/CSU]: Ehr- terstütze. Die Frage ist nur: Führt ein Wahlrecht von Ge- lich sein!) burt an dorthin? (B) (D) Die Betrachtung des Umfelds aus 80 Zentimetern Au- (Klaus Haupt [FDP]: Ja!) genhöhe muss nicht zu einer Verzwergung der Politik führen, sondern kann auch eine neue humane Dimension – Nein. eröffnen. Behauptet wird: Schließe man Minderjährige von der (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der Teilnahme an Wahlen aus, bleibe es bei einer Schieflage SPD und der FDP) der Familien mit Kindern. Dazu muss ich sagen: Eine Schieflage gab es in der Tat. Nicht umsonst rügte das Nun wird eine ganze Reihe von Argumenten dagegen Bundesverfassungsgericht mit seinem Urteil vom vorgebracht, beispielsweise dass Eltern eigene Interes- 10. November 1998, sen haben, die nicht mit denen der Kinder identisch sind. (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Die alten Kämpfe! Ich nehme das Argument ernst, meine aber, dass Eltern Bleiben Sie doch mal beim Thema!) ohnehin originäre Vertreter ihrer Kinder sind. Dies ist in vielen anderen Lebensbereichen so. Warum dann dass die Vorgängerregierung den Familienleistungsaus- nicht bei der Wahl? gleich nicht angemessen weiterentwickelt hat. Unsere Reaktion darauf war: mehr Erziehungsgeld für Kinder, (Ingrid Fischbach [CDU/CSU]: Es geht um die Erhöhung des Kinderfreibetrages, mehr BAföG, 4 Mil- Stärkung der Rechte der Kinder und Jugendli- liarden Euro für die Einrichtung von Ganztagsschulen, chen!) Steuerentlastungsbetrag usw. Mit anderen Worten: Seit Jahren arbeiten wir an der Beseitigung der vom Bundes- Es werden immer wieder die Fragen gestellt: Was ist, verfassungsgericht gerügten Mängel. wenn Vater und Mutter unterschiedlicher Meinung sind? Wer darf dann abstimmen? Was ist bei Geschiedenen? (Klaus Haupt [FDP]: Deswegen haben wir Welche anderen organisatorischen Probleme tun sich in 1,1 Millionen Sozialhilfeempfänger bei den diesem Bereich noch auf? Ich denke, es ist hinreichend Kindern!) dargelegt worden – mittlerweile auch im Schrifttum –, Wir tun das, was gemäß Art. 38 des Grundgesetzes dass alle diese organisatorischen Fragen lösbar sind. Ich vorgesehen ist: Wir sind die Vertreter des ganzen Volkes möchte nur stellvertretend auf ein Interview hinweisen, und somit auch die der Kinder und Jugendlichen unter das der Verfassungsrichter Paul Kirchhof – er ist nicht ir- 18 Jahren. gendjemand, sondern ein anerkannter Experte – zu die- sem Thema gegeben hat: Alle diese Probleme sind orga- (Klaus Haupt [FDP]: Das stimmt auch! – Zu- nisatorisch lösbar. ruf von der SPD: Richtig!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. April 2004 9277

Barbara Wittig (A) Eine Teilnahme von Minderjährigen an den Wahlen war grundsätzlich austauschen müssten. Die Initiatoren wol- (C) für die Aktionen, die ich vorhin aufgezählt habe, einfach len ja gerade, dass die Eltern die Wahlentscheidung mit nicht nötig. Das soll auch so bleiben. den schon verständigen Kindern und Jugendlichen be- sprechen müssen. (Klaus Haupt [FDP]: Weil wir diese Regierung haben! – Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Ir- (Markus Löning [FDP]: Sie wollen mit den gendwie läuft das mit Ihrer Rede nicht!) ganzen Ausreden, die Sie hier laufend bringen, nichts für die Kinder tun! – Dr. Hans-Peter Herr Haupt, schon die Wahlgrundsätze in Art. 38 des Friedrich [Hof] [CDU/CSU]: Alles Ausreden!) Grundgesetzes sprechen gegen ein Wahlrecht von Ge- burt an. Erstens: die unmittelbare Wahl. Die Stimm- – Das, was Sie erzählen, ist doch Quatsch. abgabe ist verfassungsrechtlich nur höchstpersönlich möglich. Selbst ein Briefwähler hat an Eides Statt zu Lassen Sie mich zusammenfassen: Ein Wahlrecht von versichern, dass er sein Kreuz persönlich gemacht hat. Geburt an ist mit den allgemeinen Wahlgrundsätzen des Das Gebot der höchstpersönlichen Stimmabgabe ist in Grundgesetzes nicht vereinbar. § 14 Bundeswahlgesetz normiert. (Dr. Hans-Peter Friedrich [Hof] [CDU/CSU]: (Klaus Haupt [FDP]: Das ist ein nachrangiges Falsch! – Klaus Haupt [FDP]: Das sehen die Gesetz!) Verfassungsrichter anders!) Dadurch werden die Grundsätze des Art. 38 Grundge- Es kann weder erwartet noch kontrolliert werden, ob die setz konkretisiert. Wenn man sich Art. 38 Grundgesetz über eine oder mehrere Stimmen verfügenden Eltern anschaut, dann sieht man – ich zeige es Ihnen noch ein- diese auch im Interesse ihrer Kinder einsetzen. Wir Ab- mal –, dass in Abs. 3 ausdrücklich steht, dass das Nähere geordnete sind die Vertreter des ganzen Volkes; das habe ein Bundesgesetz bestimmt. Was wollen Sie also bitte ich vorhin schon ausgeführt. streichen? (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Wenn man Der Grundsatz der Unmittelbarkeit der Wahl ergibt sich damals so verhalten hätte wie Sie heute, sich natürlich auch daraus, dass zwischen dem wahlbe- dann wäre das Frauenwahlrecht nicht Wirk- rechtigten Kind oder Jugendlichen und dem Wahlbewer- lichkeit geworden!) ber eine dritte Person geschaltet würde. Es wäre eben Wir wollen auf unserem Weg zur Vereinbarkeit von nicht sichergestellt, dass der unverfälschte Wille des Familie und Beruf, zur Verbesserung von Betreuungs- Wahlberechtigten zum Durchbruch käme. Zudem würde möglichkeiten, zu mehr Selbstbestimmung, meine Her- sich die Frage stellen, von welchem Willen die Eltern ei- ren von der FDP, gegen Fremdbestimmung durch ein (B) gentlich ausgehen sollen. Stellvertreterwahlrecht und zu mehr Beteiligung von (D) (Dr. Hans-Peter Friedrich [Hof] [CDU/CSU]: Kindern und Jugendlichen durch das Einüben eines de- Nichts verstanden! – Klaus Haupt [FDP]: Sie mokratischen Verhaltens weitermarschieren. Um die haben das Problem nicht erkannt! Verwirklichung dieses verfassungsrechtlichen Auftrags geht es. Sie können gerne mitmachen. Zweitens: die freie Wahl. Da sich die Eltern auch ge- gen den Willen der schon verständigen Kinder und Ju- Ich danke Ihnen. gendlichen an der Wahl beteiligen oder auch nicht betei- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des ligen könnten, kann von einer freien Wahl wohl kaum BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN sowie des die Rede sein. Zudem ist auch nicht auszuschließen, dass Abg. Daniel Bahr [Münster] [FDP] – Markus im Rahmen der gewünschten Eltern-Kind-Gespräche Löning [FDP]: Das sind doch alles Sonntags- eine Beeinflussung im Sinne der Wahlentscheidung der reden! Da passiert doch nichts!) Eltern erfolgt.

Drittens: die gleiche Wahl. Sofern Eltern stellvertre- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: tend für ihre Kinder zusätzliche Stimmen erhielten, ver- Das Wort hat die Kollegin Antje Vollmer. fügten sie gegenüber anderen Wahlberechtigten über ein stärkeres Stimmengewicht und somit über einen unter- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der schiedlich großen Einfluss auf das Wahlergebnis. Das FDP) Bundesverfassungsgericht stellt dazu übrigens fest: (Markus Löning [FDP]: Haben Sie eigentlich Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): auch politische Anmerkungen?) Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, ein positives Zwischenergebnis können wir an- Angesichts der in der demokratischen Grundord- gesichts der Heftigkeit mancher Debattenbeiträge erst nung verankerten unbedingten Gleichheit aller einmal festhalten: Diese Debatte hat der demokratischen Staatsbürger bei der Teilhabe an der Staatswillens- Kultur in diesem Raum auf jeden Fall gut getan. bildung darf es keine Wertungen geben, die es zu- lassen würden, beim Zählwert der Stimmen zu dif- (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ ferenzieren. CSU und der FDP) Viertens: die geheime Wahl. Dieser Grundsatz wäre Ich kann auch nicht bedauern, dass das Wahlrecht in auch verletzt, da sich Wahlberechtigter und Vertreter dieser Debatte und in der Öffentlichkeit zu einer heiß 9278 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. April 2004

Dr. Antje Vollmer (A) umkämpften Kostbarkeit wird. Das nützt dem Wahl- worden ist. Ich frage mich die ganze Zeit, warum diese (C) recht, der Demokratie und dem Parlament. älter werdende Gesellschaft als Geste und Vertrauen schaffendes Angebot die jüngere Generation, die fast (Beifall bei Abgeordneten der SPD) 20 Prozent ausmacht, nicht einfach dadurch einbezieht, Die Tonlage der Kritiker wundert mich allerdings dass sie ihr das Recht gibt, über die Zukunft, die vor al- manchmal. Ich bin ja für das Wahlrecht von Geburt an. lem ihre Zukunft ist, mit zu entscheiden. Das wäre eine Ganz ehrlich: Vieles kommt mir genauso vor – ich habe Vertrauen schaffende Maßnahme. einmal die gesamten Akten studiert – wie der damalige Alle wissen, dass die praktische Umsetzung solcher Kampf um das Frauenwahlrecht. Maßnahmen sehr schwierig ist. Deswegen ist es die Ab- sicht der Antragsteller, die Politik durch so eine Ent- (Klaus Haupt [FDP]: Genau so ist es!) scheidung zu binden. Viele Befürworter dieser Initiative Man fragte zum Beispiel: Sind sie denn schon einsichtig wollen Politiker dadurch mehr binden, dass sie diese genug? Wird das nicht die Mehrheitsverhältnisse än- knapp 20 Prozent der Gesellschaft in ihren Entscheidun- dern? gen berücksichtigen müssen. (Ingrid Fischbach [CDU/CSU]: Dabei ging es (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ aber nicht um ein Vertreterwahlrecht!) CSU und der FDP) Mich wundert bei manchen Kritikern deren Heftigkeit All dies sind altbekannte Argumente. Das Wahlrecht in und Häme. Ich kann nicht umhin, in dieser Häme und der Demokratie gilt aber nun einmal ohne Vorbedingun- Heftigkeit manchmal auch die Gegenwartsfesselung der gen. Man kann dabei nicht ausrechnen, was zum Schluss Singlegesellschaft zu sehen. Wenn man die Parallelen herauskommt; denn das Wahlrecht ist das Königsrecht zur Debatte um das Wahlrecht für Frauen sieht, wundert der Demokratie. mich vor allen Dingen, warum sich gerade die herausra- Im Moment streiten wir vor allen Dingen über den genden Vertreterinnen der Feministinnen so heftig gegen Punkt: Wer ist eigentlich Bürger dieses Landes? Das dieses Wahlrecht von Geburt an sperren. Ich persönlich, Wahlrecht ist schließlich das vornehmste Bürgerrecht. die ich von dieser Frauenbewegung sehr viel profitiert Es ist schon darauf hingewiesen worden, dass der habe, glaube, dass sie an dieser Stelle einen großen his- Bürgerbegriff in der Geschichte tatsächlich eine hochin- torischen Fehler wiederholt. Er besteht darin, in das Zen- teressante Entwicklung genommen hat. Im alten trum der Fraueninteressen nicht das Leben mit Kindern Griechenland war er an das Eigentum und an einen be- zu rücken, sondern nur das Leben der Frauen für sich. Das war schon in der Vergangenheit ein Fehler der Femi- stimmten Rang gebunden. Danach gab es das Dreiklas- nistinnen. Ich finde, sie sollten ihn in diesem Fall nicht senwahlrecht. Dann galt nur das Wahlrecht für Männer, (B) wiederholen. (D) ab einem bestimmten Zeitpunkt schließlich auch für Frauen. Später kam noch das Wahlrecht für Ausländer (Beifall bei Abgeordneten der FDP) hinzu. Diesen Gedanken spinnen wir weiter, indem wir Es gab einmal eine Zeit, in der alle Argumente gegen sagen: Bürger ist jeder existierende Mensch dieses Lan- eine Ausweitung des Wahlrechts gegen die Frauen ge- des. Damit ist das Wahlrecht das zentrale Menschenrecht wendet wurden. Daran sollte man sich gelegentlich erin- in einer Demokratie. nern. (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ Eltern – so wird angeführt – entscheiden für ihre Kin- CSU und der FDP) der. Wenn die Eltern nicht für ihre Kinder entscheiden, dann entscheiden eben diejenigen, die nicht mit Kindern Ich möchte einen weiteren Gedanken ansprechen, von zu tun haben; denn deren Votum wird Wirkung haben. dem ich vermute, dass er bei einigen der Kritiker eine Rolle spielt. Kinder vom Wahlrecht auszunehmen geht Wir wissen doch alle: Eltern entscheiden vieles, auch von der Idee eines besonderen Schonraums für Kinder Hartes und Schwieriges für Kinder. Sie entscheiden, auf aus, in dem die Politik keine Rolle spielen soll. Es geht welche Schule ein Kind kommt, sie entscheiden, wel- um einen Raum der Privatheit, der von einer meist als chen Wohnort das Kind hat, sie entscheiden, ob es einer böse verstandenen politischen Welt ausgenommen sein Religionsgemeinschaft angehört oder nicht und sie ent- soll. Nicht nur in diesem Bereich müssen wir feststellen, scheiden auch, ob sie sich trennen und die Kinder damit dass es in diesem Sinne diesen Schonraum, diesen Frei- eine große Belastung des persönlichen Lebens erleiden. raum von Politik, Werbemöglichkeiten und anderen Ein- All dieses entscheiden immer Eltern. Das kann man flussnahmen überhaupt nicht mehr gibt. Kinder sind Ob- nicht ändern. Wieso sollen sie nicht auch in diesem Fall jekte von Werbestrategien und Medien. Kinder merken für eine kurze Zeit entscheiden? es, wenn ihre Eltern unter Kriegsängsten leiden. Das Ich bin übrigens sehr dafür, das Wahlalter zu senken. sind Alltagsthemen von Kindern. Deswegen muss man Das wird ohnehin die Konsequenz sein; denn die Kinder Abschied von der Idee nehmen, es gebe für Kinder einen werden von den Eltern wissen wollen, wie diese das Schonraum, völlig unberührt von dem, was in der Welt Wahlrecht verwalten. Sie werden dann sagen, dass sie es passiert. selber früher ausüben wollen. Das ist aber Schule in De- mokratie in den Familien. Ehrlich gesagt weiß ich nicht, Umgekehrt aber wissen alle – das hat sich in den De- was dagegen sprechen soll. batten der letzten Wochen widergespiegelt –, dass die Si- tuation von Familien mit Kindern in einer immer älter (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ werdenden Gesellschaft außerordentlich schwierig ge- CSU und der FDP) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. April 2004 9279

(A) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: burt muss also jemand anderer, also ein Stellvertreter, (C) Das Wort hat jetzt der Kollege Daniel Bahr. das Wahlrecht wahrnehmen. Das wären die Eltern oder die Erziehungsberechtigten. Deswegen, Frau Kollegin Daniel Bahr (Münster) (FDP): Vollmer, ist die Debatte nicht mit dem Frauenwahlrecht zu vergleichen. Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist schon (Beifall bei Abgeordneten der FDP und des erfreulich, dass wir heute über dieses wichtige Thema BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) eben nicht parteipolitisch diskutieren. Die Meinung zur Frage eines Familienwahlrechts geht quer durch alle Par- Denn das Frauenwahlrecht wäre analog dem Modell des teien. vorliegenden Antrags eigentlich ein Ehemännerwahl- recht, wobei die Ehemänner das Wahlrecht stellvertre- Es ist auch bemerkenswert, dass sich der erste Grup- tend für die Frauen wahrnehmen. Darum geht es hier penantrag in dieser Legislaturperiode mit dem Altersauf- nicht. bau unserer Gesellschaft beschäftigt, einem Thema, das uns noch viel mehr beschäftigen und zu Konsequenzen (Beifall bei Abgeordneten der FDP, der SPD und anleiten sollte. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Es ist ebenfalls bezeichnend, dass wir heute am Die Stellvertreter, also die Eltern, vertreten einen Wil- 1. April über diesen Antrag diskutieren. Heute treten len, den das Kind zu diesem Zeitpunkt noch nicht äußern nämlich Belastungen für die Rentnerinnen und Rentner kann. Worin besteht aber der Wille des Kindes? Wo- in Kraft. Erstmals werden die Renten in Deutschland de nach werden die Eltern entscheiden? Sind es nicht die facto gekürzt. Eltern, die dann über den Willen der Kinder entschei- den? Manche Eltern können sich noch nicht einmal auf Der demographische Wandel unserer Gesellschaft den Namen ihres Kindes einigen. Wie sollen sie sich ist eine der größten Herausforderungen, der wir Politiker dann auf die Wahl einer Partei einigen? uns stellen müssen. Immer mehr ältere Menschen wer- den immer weniger jüngeren Menschen gegenüberste- (Klaus Haupt [FDP]: One man, one vote!) hen. Im Jahre 2030 werden die über 60-jährigen Men- – Das ist nicht „one man, one vote“, weil mit dem Fami- schen knapp 40 Prozent der deutschen Bevölkerung lienwahlrecht nicht die Interessen der Kinder vertreten ausmachen. Zum Vergleich: Heute ist es nur ein Viertel. werden, sondern die Interessen der Eltern mehr Gewicht Natürlich – das will ich gar nicht bestreiten – wirkt sich erhalten. das auf die Wählerstimmen aus. Die junge Generation (Beifall bei Abgeordneten der FDP, der SPD (B) hat deswegen die Sorge – die ist berechtigt –, dass ihre (D) Interessen unter die Räder der quantitativ stärkeren und der CDU/CSU) – Klaus Haupt [FDP]: Wählerklientel geraten könnten. Nein!) Angesichts der Situation der umlagefinanzierten So- – Lieber Kollege Klaus Haupt, ein Vater, der im Stein- zialsysteme – Rente, Gesundheit und Pflege – drohen kohlebergbau arbeitet, wird möglicherweise für sein Rentnerfunktionäre heute schon mit der Gründung einer Kind die Partei wählen, die die Subvention erhalten will. Rentnerpartei. Ich halte davon nichts. Wer glaubt, mit ei- Öffentliche Gelder würden weiterhin für die Vergangen- ner Rentnerpartei unsere strukturellen Probleme lösen zu heit ausgegeben und für Zukunftsinvestitionen wie Bil- können, irrt gewaltig. dung fehlen. Der Antrag, den wir heute beraten, macht aber auch (Beifall bei Abgeordneten der FDP) eines deutlich: Wir dürfen die Interessen der jungen und Ein weiteres Problem ist Folgendes: Was ist denn, der älteren Generation nicht gegeneinander ausspielen. wenn sich während des Reifeprozesses der Jugendlichen (Beifall bei Abgeordneten der FDP, der SPD herausstellt, dass sich ihre politische Meinung und die und der CDU/CSU) ihrer Eltern voneinander unterscheiden? Ich bin im Alter von 16 Jahren Mitglied einer Partei geworden. Welche Ich möchte keinen Generationenkrieg heraufbeschwö- Partei hätten denn meine Eltern möglicherweise ge- ren. Deshalb müssen wir die unbestreitbaren Lasten, die wählt, wenn ich mich ihnen gegenüber schon als 16-Jäh- auf uns zukommen, fair verteilen. Das Ziel des Antrages riger für eine Partei ausgesprochen hätte? Wie kann denn ist es, eine nachhaltige Politik im Interesse der Kinder zu sichergestellt werden, dass die Eltern die Partei wählen, unterstützen. Mit dem Antrag wird das Ziel aber nicht die ihr Kind bevorzugt? Wie können wir verhindern, erreicht, weil sich nicht das Wahlrecht ändern muss, son- dass sich die Eltern darauf berufen, dass sie besser wis- dern weil sich die Politik ändern muss, damit wir Nach- sen, was für ihr Kind gut ist, und dementsprechend wäh- haltigkeit hinbekommen. len? Der Grundsatz der Höchstpersönlichkeit der Wahl würde damit unterlaufen. (Beifall bei Abgeordneten der FDP, der SPD und der CDU/CSU) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU und des BÜNDNIS- Das Familienwahlrecht ist nicht geeignet, das Un- SES 90/DIE GRÜNEN) gleichgewicht zwischen den Generationen zu verändern. Dass ein neugeborenes Kind nicht zur Wahlurne gehen Ich will nicht verhehlen, dass sich der Vorschlag sym- kann, ist doch jedem klar. Bei einem Wahlrecht ab Ge- pathisch anhört. Aber mich hat ein Argument für das 9280 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. April 2004

Daniel Bahr (Münster) (A) Familienwahlrecht sehr erstaunt. Es wird gesagt, wenn einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überwei- (C) die jüngere Generation ein erweitertes Stimmrecht hätte, sung so beschlossen. dann würde die Politik auch mehr auf die Interessen die- ser Generation eingehen und sich nicht von den Älteren Ich rufe Tagesordnungspunkt 12 auf: dominieren lassen. Das aber ist die Kapitulation der Po- Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- litik. Damit würden wir zugeben, dass in der Politik die gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes Entscheidungen eindeutig nach Wählergruppen ausge- gegen den unlauteren Wettbewerb (UWG) richtet werden. – Drucksache 15/1487 – (Klaus Haupt [FDP]: Das ist Realität!) (Erste Beratung 63. Sitzung) – Das ist aber nicht unsere Aufgabe, lieber Klaus Haupt. Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus- Unsere Aufgabe ist doch, das Wohl nicht nur unserer schusses (6. Ausschuss) Wählerinnen und Wähler, sondern des gesamten deut- schen Volkes zu mehren. Deswegen ist Ihr Vorschlag – Drucksache 15/2795 – nicht geeignet. Berichterstattung: (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Abgeordnete Dirk Manzewski der SPD, der CDU/CSU und des BÜNDNIS- Ingo Wellenreuther SES 90/DIE GRÜNEN – Klaus Haupt [FDP]: Jerzy Montag Darum sieht die Politik auch so aus, wie sie Rainer Funke aussieht!) Es liegen vier Änderungsanträge der Fraktion der Meine Damen und Herren, wir müssen uns für eine FDP vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist wirklich generationengerechte Politik engagieren, das für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – heißt, die strukturellen Probleme in Deutschland zu än- Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlos- dern. Der letzte Finanzierungsüberschuss im Bundes- sen. haushalt wurde 1970 erzielt. Seitdem sind die Schulden Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat der immer weiter gestiegen. Dabei handelt es sich um Hypo- Parlamentarische Staatssekretär Alfred Hartenbach das theken auf die Zukunft, die wir der jungen und kommen- Wort. den Generation hinterlassen. Deswegen brauchen wir Handschellen, die die Politiker an die Aufgabe binden, (Vorsitz: Vizepräsident Dr. Norbert Lammert) eine generationengerechte Politik zu gestalten. Das be- (B) deutet für mich zum Beispiel, dass wir einmal in jeder Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär bei der Bun- (D) Legislaturperiode eine Generationenbilanz auflegen, desministerin der Justiz: die zeigt, welche Lasten der jungen Generation in Form Herr Präsident! Verehrtes Präsidium! Liebe Kollegin- von Schulden, Pensionslasten und Rentenversprechen nen! Liebe Kollegen! Die vorliegende Reform unseres auferlegt werden und welche Zukunftsinvestitionen in Gesetzes gegen den unlauteren Wettbewerb ist in einer Bildung und Infrastruktur getätigt werden. Mit einer sol- Arbeitsgruppe beim Bundesministerium der Justiz im chen Generationenbilanz wird sichtbar, ob die Politik ge- Dialog mit Vertretern der Wirtschaft, der Verbraucher- nerationengerecht ist. verbände, mit Wissenschaftlern und Richtern intensiv Warum verankern wir das Prinzip der Nachhaltigkeit vorbereitet worden. und Generationengerechtigkeit nicht endlich auch im Wir sind uns in den Zielen weitgehend einig: Wir Gesetz? Das würde die Politik mehr binden als ein Fami- wollen die Stellung der Verbraucherinnen und Verbrau- lienwahlrecht, das nicht in erster Linie den jüngeren Ge- cher stärken, das Werberecht liberalisieren und die Euro- nerationen, sondern den Familien zugute kommt. patauglichkeit unseres nationalen Rechts verbessern. Herzlichen Dank. (Peter Dreßen [SPD]: Das ist immer gut!) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten – Was bedeutet das im Einzelnen, Peter? der SPD, der CDU/CSU und des BÜNDNIS- (Heiterkeit bei der SPD) SES 90/DIE GRÜNEN) Das neue UWG hebt Überregulierungen auf. Som- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: mer- und Winterschlussverkäufe, Jubiläums- und Räumungsverkäufe werden nicht länger über Verbote Ich möchte mich zunächst einmal bei allen bedanken, eingeengt. Wir schaffen damit Raum für kreative Ver- die sich an dieser Diskussion beteiligt haben. Es war kaufsideen. Auch künftig werden aber Sommer- und eine wirklich gute und interessante Diskussion, wie man Winterschlussverkäufe möglich sein. Der Einzelhandel sie öfter wiederholen sollte. kann solche Verkaufsaktionen zeitlich flexibel und da- (Beifall im ganzen Hause) mit auch regional unterschiedlich gestalten und ist auch nicht wie bisher auf den Verkauf von Saisonartikeln be- Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf schränkt. Der Handel kann sich gemeinsam entscheiden, Drucksache 15/1544 an die in der Tagesordnung aufge- und zwar innerhalb einer Stadt oder Gemeinde, einer führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit Einkaufsstraße oder Passage. Wir setzen auf Selbstregu- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. April 2004 9281

Parl. Staatssekretär Alfred Hartenbach (A) lierung statt auf staatliche Reglementierung. Das Kar- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: (C) tellrecht steht dem nicht entgegen. Das hat uns das Bun- Herr Staatssekretär, der Kollege von Klaeden möchte deskartellamt ausdrücklich bestätigt. offenbar – wahrscheinlich weil er auf die Entfernung die Adresse nicht komplett lesen konnte – Wichtig ist mir auch: Das neue UWG wird den Ver- braucherschutz stärken. Wirtschafts- und Verbraucher- (Heiterkeit) rechte sind keine Gegensätze. Im Gegenteil: Die Auf- das im Einzelnen vorgelesen bekommen. Das ist mög- gabe eines modernen Wirtschaftsrechts ist, beidem lich, wenn Sie ihm Gelegenheit geben, diese Bitte auch gerecht zu werden, förmlich vorzutragen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär bei der Bun- desministerin der Justiz: nämlich die Wirtschaft von unsinnigen Fesseln zu be- Ich weiß zwar nicht, was er will, aber bitte. freien, aber die Verbraucher dabei nicht zum Freiwild werden zu lassen. Eckart von Klaeden (CDU/CSU): (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Herr Staatssekretär, da Sie gerade die Minderwertig- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) keit eines Anliegens mit der Größe einer Anzeige in Ver- bindung gebracht haben, frage ich Sie: Können wir da- Verbraucherinnen und Verbraucher werden in unse- mit rechnen, dass die Bundesregierung jetzt beginnt, rem Gesetzentwurf erstmals als Schutzsubjekte aus- ihren Etat für Öffentlichkeitsarbeit zu reduzieren, oder drücklich erwähnt. Diesen Programmsatz konkretisieren war das eine verkappte Kritik an der Öffentlichkeitsar- wir in den Einzelbestimmungen. So wird die belästi- beit der Bundesregierung, die ja mit ähnlich großen An- gende Werbung ausdrücklich geregelt. Ich finde es zeigen Steuermittel zum Fenster hinauswirft? richtig, dass wir hier streng sind. Ich teile deshalb nicht die Auffassung, dass wir künftig die Telefonwerbung, (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – die bekanntlich bereits nach geltendem Richterrecht ver- Rainer Funke [FDP]: Sie wird nur noch kleine boten ist, erlauben sollten. Anzeigen aufgeben!) (Rainer Funke [FDP]: Ein Urteil aus dem Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär bei der Bun- Jahre 1970!) desministerin der Justiz: Das würde zu erheblichen Belästigungen der Verbrau- Verehrter Herr Kollege von Klaeden, da ich heute und (B) cher durch Telefonanrufe gerade in den Abendstunden in den vorangegangenen Tagen häufiger hier anwesend (D) führen. – Das haben Sie, Herr Funke, scheinbar noch war, weiß ich, dass Ihre Zwischenfragen nicht immer be- nicht erlebt, weil Sie eine Geheimnummer haben. sonderen Tiefgang haben. Das gilt auch für diejenige, die Sie gerade gestellt haben. Wenn Sie zugehört hätten, (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Rainer dann wüssten Sie, dass ich gesagt habe: wer solche An- Funke [FDP]: Nein, ich habe keine Geheim- zeigen nötig hat. Aber wir machen schönere Anzeigen. nummer!) (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Vor al- Das sieht im Übrigen nicht nur die Bundesregierung so. len Dingen bessere! – Zuruf des Abg. In einer Umfrage des Westdeutschen Rundfunks lehnten Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]) 96,5 Prozent der Befragten unverlangte Telefonwerbung – Herr Präsident, darf ich noch auf den Zuruf von Herrn im privaten Bereich ab. Gehb reagieren? (Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: War das eine Telefonumfrage? – Heiterkeit) Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Ja, Herr Staatssekretär. Wenn Sie aber schönere An- Ich möchte noch einmal festhalten: Da hier keine Ver- zeigen versprechen, dann müssen Sie die demnächst schärfung des geltenden Rechts erfolgt, kann diese Re- auch mitbringen. gelung schwerlich Arbeitsplätze vernichten. Die Argu- mente der Werbewirtschaft, die mit großformatigen Anzeigen wie dieser, die ich gerade hochhalte, gegen Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär bei der Bun- den Gesetzentwurf Front macht, sind schlichtweg falsch. desministerin der Justiz: Ich sage aus Erfahrung: Wer solche Anzeigen nötig hat, Herr Präsident, da ich Ihren scharfen Geist zu schät- ist immer im Unrecht. zen und zu achten weiß, sage ich einfach: bessere Anzei- gen als diejenige, die ich hoch gehalten habe. Einver- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ standen, Herr Gehb? DIE GRÜNEN – Zuruf von der CDU/CSU: Was ist mit den Anzeigen der Bundesregie- Wenn Sie die Adresse nicht mehr lesen wollen, rung?) möchte ich meine Rede fortsetzen. Eine erhebliche Ver- besserung des Verbraucherschutzes bringt auch die Neu- – Wir schalten nicht solche Anzeigen wie die Werbewirt- regelung des Gewinnabschöpfungsanspruchs. Wer schaft, sondern farblich gestaltete. Das ist etwas ganz an- vorsätzlich viele Verbraucher um kleine Beträge schä- deres. digt, wird den Gewinn künftig nicht behalten können. 9282 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. April 2004

Parl. Staatssekretär Alfred Hartenbach (A) Unsere Regelung zum Gewinnabschöpfungsanspruch Außerdem hieß es: Deutschland als Vorreiter in Sachen (C) geht dem Handel zu weit und den Verbraucherverbänden freier Wettbewerb. Damit sind Sie gescheitert. Die vor- nicht weit genug. Das ist ein sicheres Indiz dafür, dass liegende UWG-Novelle ist weder wirtschaftsfreundlich wir in der Mitte und damit genau richtig liegen. noch praktikabel. Deswegen lehnen wir sie ab. Ein Blick auf die EU-Regelungen zeigt, dass unser Seit der ersten Lesung im letzten Herbst ist es Ihnen neues UWG vorbildlich sein wird. In der EU sollen nicht gelungen, in entscheidenden Punkten Verbesserun- Wettbewerb und Verbraucherschutz in vollkommen un- gen vorzunehmen. koordinierten Vorschriften geregelt werden. Wir dage- Thema Telefonmarketing: Sie sind in Ihrem Gesetz- gen tun gut daran, beides in unserem UWG zu regeln. entwurf bis heute bei der so genannten Opt-in-Regelung Wenn aber Handel und Verbraucher auf Dauer in diesem geblieben. Danach darf nur angerufen werden, wer vor- gemeinsamen Haus wohnen sollen, dann müssen sich her sein ausdrückliches Einverständnis gegeben hat. Auf beide, auch die Verbraucher, darin wohl fühlen. Dazu den ersten Blick erscheint dies vernünftig, weil es ver- brauchen sie eigene, wohnliche Zimmer. ständlich zu sein scheint, dass keiner durch ungewollte In der EU galt unser altes UWG als antiquiert und in Telefonanrufe belästigt werden möchte. Aber bei ge- manchen Bereichen wie eine Zwangsjacke. Bei diesem nauerem Hinsehen ist das kein Argument, weil dadurch Ruf war es für uns schwierig, im Rat Gehör zu finden. eine ganze Branche aus Deutschland vertrieben wird. Durch diese Reform können wir uns in Europa künftig Wir alle wissen, wie es derzeit um die wirtschaftliche sehen lassen. Dies wird uns helfen, die notwendigen Lage in Deutschland steht: Die Zahl der Arbeitslosen Nachbesserungen bei den anstehenden Rechtsakten der steigt weiter. Dank rot-grüner Wirtschaftspolitik gibt es EU zu erreichen. Wir haben in der Kooperation mit allen nur noch wenige Bereiche, die heute Wachstum verspre- Beteiligten einen Grundkonsens gefunden, auch und ge- chen und Arbeitsplätze schaffen. Einer davon sind die so rade bei den angenehmen Diskussionen der Bericht- genannten Callcenter. Gerade in den neuen Bundeslän- erstatter und in den Ausschüssen dieses Hohen Hauses. dern haben sich besonders viele solcher Center angesie- Hierfür möchte ich mich bedanken, auch bei der Opposi- delt. In dieser Branche gibt es deutschlandweit knapp tion. Herr Grosse-Brömer war da sehr hilfreich, Herr 400 000 Arbeitsplätze. Dort wurden über 20 000 Ausbil- Funke ebenfalls. dungsplätze geschaffen. (Rainer Funke [FDP]: Jetzt habe ich etwas Auf der einen Seite haben Sie heute Morgen hier im falsch gemacht!) Bundestag den unsäglichen Gesetzentwurf zur Ausbil- – Ich habe gesagt: Sie waren hilfreich. Das ist doch gut, dungsplatzabgabe vorgestellt und auf der anderen Seite oder? Sie haben dazu beigetragen, dass wir nicht so ent- gefährden Sie durch die UWG-Novelle eine Vielzahl (B) (D) schieden haben, wie Sie es wollten. von Lehrstellen. Das verstehe wer will. Ich bin gespannt, Herr Hartenbach, wie Sie den Bürgerinnen und Bürgern Noch größer wäre meine Freude, wenn die Opposi- diesen Widerspruch klar machen wollen. tion über ihren Schatten springen und angesichts der nur noch sehr geringen Differenzen zustimmen könnte. Da (Andrea Astrid Voßhoff [CDU/CSU]: Mit heute Abend keine Sonne scheint, gibt es keinen Schat- großen Anzeigen!) ten; der Sprung würde also nicht so schwer fallen. Bereits heute sind viele Callcenter ins Ausland abge- Vielen herzlichen Dank. wandert. Mit Ihrem Gesetz werden weitere 50 000 Ar- beitsplätze vernichtet. Ich kann nur sagen: Deutsches (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Wettbewerbsrecht als Standortnachteil. Na, bravo! DIE GRÜNEN) Wie dramatisch die Lage wirklich ist, Herr Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Hartenbach, beweist eine Anzeige in der „FAZ“ von ges- Das Wort hat nun der Kollege Ingo Wellenreuther, tern, die die führenden 13 Callcenterbetreiber geschaltet CDU/CSU-Fraktion. haben. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wissen Sie, was diese Callcenter machen?) Ingo Wellenreuther (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- – Herr Ströbele, zuhören, dann verstehen Sie es besser! – ren! Der Anlass dieser Rede ist ein trauriger: Wir beerdi- Ich zitiere nur kurz: gen heute ein weiteres Projekt von Rot-Grün, nämlich Dieses Gesetz vernichtet Ausbildungs- und Arbeits- die Schaffung eines modernen Wettbewerbsrechts. plätze, ist keine Basis für den Übergang ins Infor- (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE mationszeitalter und verlagert massiv Beschäfti- GRÜNEN]: Wir beerdigen überhaupt nichts! – gung ins liberalere Ausland. Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das ein- Dies, meine Damen und Herren von Rot-Grün, ist keine zig Traurige ist Ihre Rede!) Stimmungsmache, sondern ein verzweifelter Hilfeschrei Es ist noch kein Jahr her, dass es aus dem Justizminis- der deutschen Wirtschaft, der Sie wirklich zum Nach- terium hieß, Herr Ströbele: Das neue deutsche Wettbe- denken bringen sollte. Herr Hartenbach, ich glaube, Sie werbsrecht soll das liberalste in ganz Europa werden. müssen sich diese Anzeige noch einmal anschauen. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. April 2004 9283

Ingo Wellenreuther (A) Haben Sie eigentlich einmal verfolgt, wie die meisten Es ist genauso wenig richtig, dass das Verbot von un- (C) unserer europäischen Nachbarn den Wettbewerb regeln? erwünschten E-Mails, den so genannten Spams, auch In zwölf von 15 EU-Mitgliedstaaten ist das Telefon- zum Verbot von Telefonmarketing führen muss. Sie ha- marketing grundsätzlich zulässig. England und Frank- ben sich dabei auf die Mitteilung der Europäischen reich haben sich für die so genannte Opt-out-Regelung Kommission über Spams bezogen. Aber dieser Vergleich entschieden. Das heißt, wer nicht mehr mit Telefonwer- geht ins Leere. Er zeigt eigentlich ganz deutlich, dass Sie bung belästigt werden möchte, kann dies im Laufe des sich mit der Materie nicht intensiv auseinander gesetzt Telefonats kundtun und darf dann nicht mehr telefonisch haben. Die Telefonwerbung ist in dem genannten Ent- beworben werden. wurf der EU-Richtlinie ausdrücklich geregelt. Diese Re- gelung ist eine speziellere. Für einen Rückgriff auf die (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE Spam-Regelung besteht daher kein Raum. GRÜNEN]: Das wissen die anderen Callcenter nicht!) Welch seltsame Konsequenzen Ihr Entwurf haben wird, möchte ich abschließend an einem kleinen Beispiel Unsere Fraktion wäre für einen vernünftigen Kom- verdeutlichen. Wenn ein Vertreter an der Haustür klin- promiss zu haben gewesen. Wir sind dafür eingetreten, gelt und der Verbraucher den Hörer der Sprechanlage ab- dass bei bestehenden Geschäftsverbindungen Anrufe nimmt, ist das zulässiges Marketing. Wenn ein Mitarbei- auch ohne vorherige ausdrückliche Erlaubnis gestattet ter eines Callcenters anruft und der Verbraucher ans sein sollen. Im Gegensatz zur Bundesregierung setzen Telefon geht, dann soll das unzulässig sein. wir auf den mündigen Bürger, der in seinen Entschei- dungen frei ist. (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es ist auch mehr Arbeit, an der Sie haben sich für die restriktivste Regelung entschie- Haustür zu klingeln!) den, mit der Begründung, dass damit nur die ständige Sie hätten diese kuriose Rechtslage ändern können Rechtsprechung in Gesetzesform gegossen wird. Herr – Herr Ströbele, das hätte vorausgesetzt, dass man sie Manzewski, wenn Sie, wie angekündigt, ein liberales überhaupt verstanden hat –, aber passiert ist nichts. Wettbewerbsrecht schaffen wollen, dann ist das Auf- schreiben dieser deutschen Rechtsprechung allein ein- Zweites Thema: Gewinnabschöpfungsanspruch. fach zu wenig. Rechtspolitisch begrüßen wir den Gedanken, dass je- mand das, was er durch wettbewerbswidriges Verhalten (Dirk Manzewski [SPD]: Was?) erlangt hat, wieder herausgeben muss. Der Herr Montag Ihre weitere Behauptung, es gebe wegen des im inter- hat gesagt, der Gewinnabschöpfungsanspruch sei ein (B) nationalen Recht heute geltenden Marktortprinzips kei- scharfes Schwert zur Durchsetzung des Verbraucher- (D) nen Standortnachteil für deutsche Unternehmen, ist schutzes. Falsch. Das Schwert ist stumpf, und zwar aus schlichtweg falsch. Ein englisches Unternehmen, das in mehreren Gründen: Deutschland werben möchte, muss sich zwar derzeit an Erstens. Warum sollten die Verbände von ihrem Kla- deutsches Recht halten – heute liegen Sie mit dieser Be- gerecht überhaupt Gebrauch machen? Wenn sie verlie- urteilung also richtig –, aber die Frage ist: Was ist mor- ren, tragen sie alle Kosten. Wenn sie gewinnen, müssen gen? Der Gesetzesvorschlag von Ihnen steht im Wider- sie den Gewinn an die Staatskasse abführen. spruch zu dem Vorschlag für eine europäische Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken. Diese Zweitens. Der ursächliche Zusammenhang zwi- Richtlinie enthält eine so genannte Binnenmarktklau- schen wettbewerbswidrigem Verhalten und erzieltem sel, nach der sich jedes Unternehmen nur an das Wettbe- Gewinn kann nicht festgestellt werden. Auch die In- werbsrecht seines eigenen Landes halten muss. Wenn stanzrichter müssen eine etwaige Schätzung auf Fakten diese Richtlinie planmäßig im nächsten Jahr verabschie- stützen. Sie können nicht einfach ins Blaue hinein han- det wird, dann können Unternehmen mit Sitz im Aus- deln, auch nicht über § 287 ZPO. Meine armen Kollegen land in Deutschland unbeschränkt Telefonmarketing be- bei den Instanzgerichten tun mir jetzt schon Leid. Die treiben, während deutsche Unternehmen weiter an die einzige Folge Ihrer unpraktikablen Regelung ist Rechts- Opt-in-Regelung gebunden sind. unsicherheit. (Dirk Manzewski [SPD]: Das ist so nicht ganz Zu guter Letzt lehnen wir Ihren Gesetzentwurf auch richtig, aber das erkläre ich gleich!) wegen der fehlenden Marktzutrittsregelungen ab. An- ders als noch im Referentenentwurf vorgesehen, enthält – Sie können es nachher erklären, Herr Manzewski. die Novelle eine solche Regelung nicht mehr. Mittelstän- dische Unternehmen hätten dadurch vor einer rechtswid- (Dirk Manzewski [SPD]: Ja!) rigen Betätigung der Kommunen – sie erschließen sich wettbewerbswidrig neue Einnahmequellen – geschützt Die vorgeschlagene Richtlinie verbietet unerwünschte werden können. Leidtragender ist dabei wieder einmal Telefonanrufe nur dann, wenn sie hartnäckig erfolgen. der Mittelstand; denn die Tätigkeit der Kommunen führt Ein erstmaliger Anruf oder ein Anruf im Rahmen beste- zu einer massiven Wettbewerbsverzerrung. hender Geschäftsbeziehungen, den Sie verbieten wollen, wäre nach dieser EU-Richtlinie also zulässig. Es ist nicht Meine Damen und Herren von Rot-Grün, mit dieser zu verstehen, warum Sie diese eindeutigen europäischen Novelle haben Sie die Chance vergeben, ein liberales Vorgaben ignorieren. und praktikables Wettbewerbsrecht zu schaffen. Trotz 9284 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. April 2004

Ingo Wellenreuther (A) einiger zugegebenermaßen guter Ansätze in Ihrem Ge- der Missbrauch des gesamten Systems wirklich wirt- (C) setz bleibt es dabei, dass gut gemeint eben nicht gut ge- schaftsschädigenden Charakter haben. macht ist. (Kurt J. Rossmanith [CDU/CSU]: Sie müssen Ich danke Ihnen. differenzieren!) (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Also noch einmal: Telefonmarketing ist nur mit der Zu- Rainer Funke [FDP] – Wilhelm Schmidt [Salz- stimmung des Kunden erlaubt. gitter] [SPD]: Dafür brauchen Sie uns nicht zu Auch der Gewinnabschöpfungsanspruch, besser ge- danken!) sagt, der Anspruch auf die Abschöpfung von unrechtmä- ßig erzielten Gewinnen, ist noch einmal auf seine Prakti- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: kabilität hin überprüft worden. Der neu geregelte Ich erteile der Kollegin Ulrike Höfken, Bündnis 90/ Anspruch kann von den Verbraucherverbänden in Zu- Die Grünen, das Wort. kunft geltend gemacht werden, wenn jemand vorsätzlich gegen das UWG verstößt und dadurch Gewinne anhäuft. Bei Werbefaxen – ein typisches Beispiel übrigens –, die Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): mittlerweile zu Dutzenden täglich dazu auffordern, über Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und eine kostenpflichtige Nummer die Zusendung wieder ab- Kollegen! Zunächst einmal möchte auch ich mich be- zubestellen, ist der Schaden des Einzelnen möglicher- danken, und zwar bei meinen Kollegen von SPD und weise gering; der Gesamtgewinn des Werbenden aber Grünen für die gute Zusammenarbeit in puncto Quer- summiert sich bei hunderttausendfach verschickten Fa- schnittsaufgabe Verbraucherschutz. Das Gesetz, das wir xen beachtlich. Neben dem Recht auf Unterlassungs- heute verabschieden, bringt uns beim Verbraucherschutz klage haben Verbraucherorganisationen nun also eine ein großes Stück voran. weitere Möglichkeit, gegen diese Rechtsverstöße vorzu- (Zuruf von der CDU/CSU: Na?) gehen. Unternehmer erhalten ein modernes Lauterkeitsrecht, Wir haben festgestellt, dass das Verfahren noch etwas das schwarze Schafe – zu denken ist zum Beispiel an die vereinfacht werden kann, allerdings nicht in der Art und eben erwähnten unerwünschten Telefonanrufe und lästi- Weise, wie es uns die FDP in ihren Änderungsanträgen gen Spam-Mails – eindeutig in die Ecke stellt. empfiehlt. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- (Kurt J. Rossmanith [CDU/CSU]: Sie hauen SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD) immer alles in einen Topf!) (B) (D) Die Abschöpfung von unrechtmäßig erzielten Gewinnen Hier ist klar und unmissverständlich geregelt, dass kein hat – das muss man noch einmal sagen – keinen Straf- Werbekontakt ohne die vorherige Einwilligung des Ver- charakter. Der Gewinn, der dem Unternehmen wegen brauchers erfolgen darf. Alles andere ist und bleibt rechtswidrigen Verhaltens nicht zusteht, wird wieder rechtswidrig. weggenommen. Das ist noch keine Strafe; die würde erst Im Gegensatz zur Opposition wollen wir dem Bürger danach kommen. Mit der Abschöpfung von unrechtmä- nicht zumuten, Zeit, Geld und Nerven aufwenden zu ßig erzielten Gewinnen wird lediglich der Anreiz ge- müssen, um seine Privatsphäre zu schützen. nommen, vorsätzlich gegen das UWG zu verstoßen. Da- mit hat diese Regelung eine präventive Wirkung und das (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ist im Grunde auch beabsichtigt. und bei der SPD) Dieses Verfahren kann in bewährter Weise durch Ver- Es gibt die einfache Regel: Wenn ich nicht ausdrücklich braucherverbände und die anderen berechtigten Einrich- auffordere oder zustimme, Werbung zu erhalten, dann tungen eingeleitet werden. Dass die FDP hier auf einmal sind mein Telefon, mein PC und mein Briefkasten tabu. den staatlichen Eingriff fordert, verwundert doch sehr. Wir haben dieses Thema im Übrigen auch in einer Die unrechtmäßig erzielten Gewinne sollen direkt an Anhörung im Rechtsausschuss intensiv beleuchten las- den Bundeshaushalt abgeführt werden. Auch das ist eine sen. Die Experten haben den Gesetzentwurf in diesem Vereinfachung. Zudem wird das Merkmal „auf Kosten Punkt ebenfalls mehrheitlich begrüßt und uns eine re- einer Vielzahl von Abnehmern“ durch das Tatbestands- daktionelle Klarstellung für Ausnahmen empfohlen, da- merkmal „zulasten einer Vielzahl von Abnehmern“ er- mit zum Beispiel Kundenkontakte im laufenden Ver- setzt. Dadurch soll klargestellt werden, dass der An- tragsverhältnis unmissverständlich im Rahmen des spruch auf Abschöpfung von unrechtmäßig erzielten UWG liegen. Dem sind wir gefolgt. Gewinnen nicht die Ermittlung von einzelfallbezogenen Nachteilen voraussetzt. Vielmehr ist es ausreichend, dass Mich wundert, dass die CDU/CSU in diesem Bereich durch die Zuwiderhandlung eine Schlechterstellung bei so unverblümt dem Missbrauch und, wie ich finde, einer einer Vielzahl von Abnehmern eingetreten ist. enormen Wirtschafts- und Verbraucherschädigung Rü- ckendeckung gibt. Ich bin gespannt, was Frau Heinen Die letzte wichtige Änderung, die wir mit den Kolle- gleich dazu sagen wird. Arbeitsplätze, die auf einem sol- gen dankenswerterweise erzielen konnten: Menschen- chen Missbrauch beruhen, sind auf Sand gebaut. Außer- verachtende Werbung ist auch weiterhin eine Unlauter- dem muss man betonen, dass diese Belästigungen und keitshandlung und daher ausdrücklich verboten. Der Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. April 2004 9285

Ulrike Höfken (A) hohe Rang der menschlichen Würde, die durch Art. 1 nen und Verbraucher profitieren. Wichtig war uns, dass (C) des Grundgesetzes geschützt ist, erfordert ihre Achtung die Händler auch weiterhin die Möglichkeit haben, sich und Wahrung auch im Wettbewerb. Wettbewerbshand- zur Durchführung von Sonderveranstaltungen zusam- lungen sind dann menschenverachtend, wenn sie dem menzuschließen. Betroffenen durch Erniedrigung, Brandmarkung, Verfol- gung, Ächtung oder durch andere Verhaltensweisen sei- Ich komme nun zum Schatten. Zu den Verlierern des nen Achtungsanspruch als Mensch absprechen. Wir ha- neuen Wettbewerbsrechts gehören die Anbieter von ben mit den Regelungen im Rahmen dieser Novelle Telefonwerbung. Was in Europa fast überall erlaubt ist, klargestellt, dass wir diese Art von Werbung nicht dul- bleibt in Deutschland verboten. Es sei denn, es liegt ein den. Einverständnis vor. Der deutsche Sonderweg bei der Te- lefonwerbung schwächt Wachstumspotenziale und ge- Mit diesen Änderungen – sie betreffen auch andere fährdet Arbeitsplätze, Bereiche, nicht nur den Verbraucherschutz – wird das vorliegende Gesetz eine runde Sache, die auch für (Beifall bei der FDP) Europa vorbildlich ist. Unlautere Geschäftspraktiken auch und gerade in den neuen Bundesländern, wo sich treffen Konsumenten und Mitbewerber gleichermaßen. besonders viele Callcenter angesiedelt haben. Dabei Hier muss es – auch Sie haben es angesprochen – euro- handelt es sich um Arbeitsplätze, die sich im Übrigen paweite Regelungen geben. Dafür werden wir uns ein- hervorragend für eine Teilzeitbeschäftigung eignen und setzen. Denn Wettbewerb macht vor den Grenzen nicht deshalb unter dem Gesichtspunkt der Vereinbarkeit von halt. Familie und Beruf insbesondere für Beschäftigte mit Danke schön. Kindern interessant sind. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Der deutsche Sonderweg bei der Telefonwerbung ist und bei der SPD) ein weiteres Beispiel für die mittelstandsfeindliche und arbeitsplatzvernichtende Politik von Rot-Grün. Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Das Wort hat nun der Kollege Rainer Funke, FDP- der CDU/CSU) Fraktion. Er ist ein Beitrag – das gebe ich zu – zum Aufbau Ost, nämlich zum Aufbau in Warschau und Prag. Vielleicht Rainer Funke (FDP): sorgt er auch für einen Aufschwung in Luxemburg und Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Libe- Irland. Unternehmen werden sich nämlich dort ansie- (B) ralisierung des Lauterkeitsrechts ist eine alte Forderung deln, wo Telefonwerbung erlaubt ist. Nach dem Her- (D) der FDP, aber auch der Wirtschaft und des Handels. Wir kunftslandprinzip können sie dann von dort aus unge- freuen uns daher, dass das Gesetz gegen den unlauteren stört mit dem deutschen Verbraucher in Kontakt treten. Wettbewerb novelliert wird, nachdem wir schon zu der Zeit der alten Regierung im Jahr 1996 entsprechende Lieber Herr Hartenbach, wenn Sie ins Hamburger Te- Anstöße gegeben haben. lefonbuch schauen, werden Sie darin den Namen Rainer Funke finden. Jeder kann mich anrufen: jeder Bürger (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten und natürlich jeder Staatssekretär. Als mündiger Ver- der CDU/CSU – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] braucher bin ich Manns genug, einen Anruf abzuweisen. [SPD]: Aber gemacht haben Sie es nicht!) (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Sie Herr Kollege Hartenbach, Sie haben völlig Recht: haben kein ruhiges Wochenende mehr!) Unser altes UWG-Recht ist antiquiert und muss deswe- gen novelliert werden. – Mein Name steht doch schon jetzt im Telefonbuch. Mich kann jeder erreichen. (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Sehr richtig!) Unterstützen Sie also unser Bemühen, diese Telefon- Ihr Gesetz jedoch hat Licht und Schatten. werbung wenigstens in eingeschränktem Umfang zu er- halten! Entsprechende Änderungsanträge liegen Ihnen (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: So ist vor. das im Leben!) Unterstützen Sie uns ferner in unserem Bemühen, den Ich will zunächst auf das Licht eingehen. Die bisheri- Gewinnabschöpfungsanspruch aus dem UWG zu gen starren Regelungen im Hinblick auf Schlussver- streichen! Der Gewinnabschöpfungsanspruch führt zu käufe, Jubiläums- und Räumungsverkäufe fallen weg. einem nicht akzeptablen Eingriff in den Markt. Unter Zukünftig soll es jedem Händler erlaubt sein, wann im- dem Vorwand des Verbraucherschutzes räumt Rot-Grün mer er will, eine Sonderaktion durchzuführen. den Verbraucherschutzverbänden Rechte ein, die dem deutschen Recht bisher aus gutem Grund fremd waren (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Kurt J. und uns eher aus der amerikanischen Rechtsordnung mit Rossmanith [CDU/CSU]) ihren exzessiven Schadensersatzprozessen bekannt sind. Die FDP begrüßt diese neue Regelung ausdrücklich. Sie Marktteilnehmer werden unzumutbaren Prozessrisiken entspricht den Vorstellungen einer liberalen Marktord- ausgesetzt, ohne dass der Verbraucher irgendeinen Vor- nung. Hiervon werden insbesondere die Verbraucherin- teil hätte. Der Gewinnabschöpfungsanspruch liegt allein 9286 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. April 2004

Rainer Funke (A) im Verbandsinteresse und im Haushaltsinteresse des Dirk Manzewski (SPD): (C) Bundes. Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir debat- tieren heute abschließend über die Reform des Gesetzes (Beifall bei der FDP) gegen den unlauteren Wettbewerb. Streitig sind, auch Derartige Interessen haben im UWG nichts zu suchen. wenn das hier anders dargestellt worden ist – ich denke Der Gewinnabschöpfungsanspruch begegnet deshalb dabei an die Rede des Kollegen Funke oder an die Rede schwer wiegenden rechtssystematischen Bedenken. des Kollegen Wellenreuther –, allenfalls vier Punkte. Deswegen braucht man, wenn man Ihre Kritik über- Lassen Sie mich zum Schluss zum unfairen Wettbe- nimmt, auch wenn sie mit der Sache nichts zu tun hat, werb von Kommunen kommen. Unter dem Deckman- nicht wie üblich den Untergang des Abendlandes an die tel der Daseinsvorsorge stoßen Kommunen in immer Wand zu malen. neue Geschäftsfelder vor: in das Friedhofswesen, den Straßenbau und in viele andere Bereiche. Leidtragende Zum einen geht es um die Frage – das ist hier ange- dieser Entwicklung sind insbesondere kleine und mitt- sprochen worden –, wie wir zukünftig in Deutschland lere Betriebe im Mittelstand und im Handwerk, mit Telefonmarketing umgehen. Die Bundesregierung hat sich insoweit für die so genannte Opt-in-Regelung (Ernst Burgbacher [FDP]: Richtig!) entschieden. Das heißt, Telefonwerbung darf nur nach vorherigem Einverständnis mit dem Empfänger erfol- die weder über eine garantierte Finanzausstattung noch gen. Ich halte das anders als Sie, liebe Kolleginnen und über günstige Finanzierungsmöglichkeiten verfügen Kollegen von der Opposition, für richtig – und dies nicht (Beifall bei der FDP) nur deshalb, weil die Bundesregierung damit der heute geltenden Rechtsprechung folgt. Schon heute ist anderes und zudem einem permanenten Insolvenzrisiko unterlie- verboten. Für die Rechtsprechung stellen nämlich unauf- gen. Nach geltendem Recht haben die Unternehmen geforderte private Telefonanrufe zur Werbung oder zur praktisch keine Möglichkeit, sich gegen diesen unfairen Geschäftsanbahnung einen groben Missbrauch durch un- Wettbewerb zu wehren. kontrollierbares Eindringen in die häusliche Sphäre dar und sind deshalb verboten. Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Herr Kollege Funke, Sie denken an Ihre Redezeit? DIE GRÜNEN) Die Bürgerinnen und Bürger in unserem Land Rainer Funke (FDP): – einige sitzen ja heute im Zuschauerbereich – können (B) Ja, nur noch wenige Sätze, wenn ich darf. froh sein, dass das so ist. Wenn man Ihnen folgen würde, (D) wäre die Konsequenz, dass man zu jeder Tages- und Das UWG wäre ein geeigneter Ort gewesen, diesen Nachtzeit Anrufe bekommen würde, um mit mehr oder hemmungslosen erwerbswirtschaftlichen Betätigungen weniger frohen und unsinnigen Werbebotschaften und der Kommunen eine enge Grenze zu setzen. Im Übrigen: Angeboten beglückt zu werden. Die Bürgerinnen und Die Regierung war damit einverstanden. Sie wollte diese Bürger wären dem hilflos ausgeliefert; Betätigungen nur nicht hier geregelt haben. Aber das ist eine faule Ausrede; denn gerade diese gehören in das (Kurt J. Rossmanith [CDU/CSU]: Mein Gott!) Wettbewerbsrecht. denn sie wissen ja nicht, wer sie anruft, und sind quasi Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. gezwungen, zunächst das Telefonat anzunehmen, gleich wo sie sich gerade befinden und womit sie sich gerade (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten beschäftigen. der CDU/CSU – Kurt J. Rossmanith [CDU/ Wenn erst einmal ein Unternehmen damit angefangen CSU]: Das ist die Stärke der derzeitigen Bun- hat, dann wird sich dies ausweiten. Denn andere Unter- desregierung: faule Ausreden!) nehmen werden spätestens dann nachziehen müssen, wenn sie Verluste beim eigenen Marktanteil hinnehmen Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: müssen. Darauf, dass man sich in diesem Zusammen- Die letzte unvermeidliche Beschimpfung der Bundes- hang insbesondere die schwächeren Marktteilnehmer he- regierung war entschieden außerhalb der Redezeit. raussuchen wird und bei dieser Art von Werbung die größeren Unternehmen den kleineren Unternehmen ge- (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Hat aber gut genüber klar im Vorteil sind, will ich nicht weiter einge- getan!) hen. Dafür hat nun das Wort der Kollege Dirk Manzewski Im Übrigen – das ist hier nicht richtig deutlich gewor- für die SPD-Fraktion. den – sind Anrufe nicht völlig ausgeschlossen. Das muss nur vorher ausdrücklich vereinbart werden. In einem (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Der kann Vertrag kann geregelt sein, dass Anrufe erlaubt sind. das jetzt zurückweisen! – Kurt J. Rossmanith [CDU/CSU]: Der SPD-Kollege bekommt eine Auch Anrufe im mutmaßlichen Interesse sind mög- Minute für die Beschimpfung der Bundesre- lich. Wenn zum Beispiel eine Gesetzesänderung durch gierung!) den Bundestag Einfluss auf einen Lebensversicherungs- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. April 2004 9287

Dirk Manzewski (A) vertrag hat, kann der Lebensversicherer selbstverständ- wenn auch bislang nur durch die Rechtsprechung. Wer (C) lich bei seinem Kunden anrufen und ihn darauf hinwei- sich heute schon nicht an die Rechtsprechung hält und sen, dass eine Anpassung des Vertrages möglich ist. Das derart unerlaubt wirbt, der wird sich erst recht nicht an geht. eine unverbindliche Robinsonliste halten. (Rainer Funke [FDP]: Aber nicht die Konkur- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ renz!) DIE GRÜNEN) – Natürlich nicht die Konkurrenz. Das wollen wir auch nicht. Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Herr Kollege Manzewski, jetzt möchten gleich meh- (Rainer Funke [FDP]: Wettbewerbsschädlich!) rere Kollegen Zusatzfragen stellen. Wir wollen nicht, dass die Bürgerinnen und Bürger zu (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das jeder Tages- und Nachtzeit mit solchen Werbeanrufen muss zu später Stunde nur bedingt sein!) belästigt werden. Wie Sie das anders sehen können, kann ich nicht begreifen. Zunächst der Kollege Gehb.

(Lebhafter Beifall bei der SPD und dem Dirk Manzewski (SPD): BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Kurt J. Ja. Rossmanith [CDU/CSU]: Entmündigen Sie doch nicht ständig die Bürger!) Dr. Jürgen Gehb (CDU/CSU): Meine Damen und Herren, dass das alternativlos ist, Herr Manzewski, habe ich richtig in Erinnerung, dass zeigt im Grunde genommen schon Ihr eigener Vor- Sie bei Forderungen der Opposition, Tatbestände – etwa schlag. Sie präferieren die so genannte Opt-out-Lösung. Graffiti – unter Strafe zu stellen, häufig gesagt haben, Das heißt, die Unternehmen dürfen nach Belieben anru- das habe gar keinen Sinn, weil man der Täter sowieso fen. Derjenige, der dies nicht möchte, muss sich in eine nicht habhaft werden könne? so genannte Robinsonliste eintragen lassen. Wer sich darin eintragen lässt, wird angeblich nicht angerufen. (Lachen bei der SPD) (Kurt J. Rossmanith [CDU/CSU]: Man kann Wie erklärt sich Ihre spontane Sucht nach Bestrafung im auch einfach auflegen!) Vergleich zu Ihrer Haltung, wenn man nachts die Häuser vollgespritzt bekommt? Aber wer führt diese Robinsonliste? Wer bringt sie im- (B) mer wieder auf den neuesten Stand? Dabei meine ich (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das hat (D) nicht nur Neuanmeldungen, sondern auch Adressen- und nun wirklich nichts miteinander zu tun!) Namensänderungen. Das sind alles ungeklärte Fragen. Dirk Manzewski (SPD): (Unruhe bei der CDU/CSU) Was? – Ich habe offen gestanden nicht verstanden, – Man merkt, wie nervös Sie werden, weil Sie dagegen Kollege Gehb, was das mit meinem Vortrag zu tun hat. nicht vernünftig argumentieren können. Dr. Jürgen Gehb (CDU/CSU): Entscheidend ist aber Folgendes: Was passiert, wenn Er hat es nicht verstanden, Herr Präsident; dann wie- ein Unternehmen sich einfach nicht an diese Robinson- derhole ich die Frage. liste hält, wenn es gleichwohl die hierin festgehaltenen Personen anruft? Hier wird relativ schnell deutlich, dass (Zurufe von der SPD: Nein!) die Robinsonliste überhaupt keine Verbindlichkeit hat. Dementsprechend hätte ein solches Vorgehen keine Dirk Manzewski (SPD): Konsequenzen für die Unternehmen. Weil dies so ist, Gerne. stellt sie keine annehmbare Alternative zum Gesetzent- wurf dar. (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Beim Telefon kann man feststel- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ len, wer anruft!) DIE GRÜNEN) Wie wenig Erfolg dieser Vorschlag verspricht, ergibt Dr. Jürgen Gehb (CDU/CSU): sich im Übrigen aus Folgendem: Die Werbewirtschaft Habe ich richtig verstanden, dass Sie in der Vergan- hat uns schriftlich mitgeteilt, dass es bei einem gesetzli- genheit häufig Forderungen der Opposition nach Bestra- chen Telefonmarketingverbot zu einem Abbau von Ar- fung bestimmter Tatbestände mit dem Einwand begegnet beitsplätzen kommen werde. Aber dies kann nur der Fall sind, die Strafbewehrung – materielles Recht – bringe sein, wenn schon heute Menschen in einem Bereich ar- nichts, weil man der Täter im Verfolgungswege kaum beiten, der verboten ist. Denn solche Anrufe sind bereits habhaft werden könne, so etwa beim Graffiti? verboten, (Ingo Wellenreuther [CDU/CSU]: Wo steht Dirk Manzewski (SPD): das?) Ja. 9288 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. April 2004

(A) Dr. Jürgen Gehb (CDU/CSU): gesprochen hatte. Darum geht es meiner Auffassung (C) Worin sehen Sie den Unterschied zwischen der Ver- nach nicht. Natürlich können die Bürger entsprechend folgung etwa von Graffititätern und der Verfolgung von reagieren. Aber in jeder Situation – wo immer sie sich Leuten, die einen nachts oder wann auch immer anru- gerade befinden, zu jeder Tages- und Nachtzeit – sind sie fen? erst einmal gezwungen, sich zum Telefon zu begeben und das Telefonat anzunehmen. (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das ist auch durch Wiederholung nicht besser gewor- Sie müssen sich das einfach einmal vorstellen. Das den!) passiert nicht nur einmal am Tag, sondern mehrfach. Ge- Können Sie mir das erklären? nau diese Situation hat der Bundesgerichtshof als nicht hinzunehmendes Eindringen in die Privatsphäre bezeich- Dirk Manzewski (SPD): net. Diese Einschätzung teile ich; das sehe ich genauso Das habe ich immer noch nicht verstanden. Was hat wie der Bundesgerichtshof. das eine mit dem anderen zu tun? (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Ich danke für DIE GRÜNEN) die Beantwortung! Auch nach zweimaligem Fragen hat Herr Manzewski die Frage nicht Ich folge mit meiner Auffassung der ständigen Recht- verstanden!) sprechung dazu. – Die Frage war so dämlich, Kollege Gehb, dass man sie (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE nicht verstehen konnte. GRÜNEN]: Das ist ein Lauschangriff!) Nächste Frage. Mich wundert im Übrigen schon sehr, liebe Kollegin- nen und Kollegen, wie sehr sich die Opposition anderer- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: seits für das Spam-Verbot einsetzt, also gegen die Wer- Nun möchte der Kollege Rossmanith eine Frage stel- bung mittels elektronischer Post. Das wundert mich sehr, len. weil die elektronische Post bei weitem nicht so weit in die Privatsphäre eingreift wie eben Telefonate. Auf eine Dirk Manzewski (SPD): SMS-Mitteilung oder eine E-Mail brauche ich nicht im- Ja, selbstverständlich. mer gleich zu reagieren; ich kann sie mir gegebenenfalls noch später anschauen oder brauche sie mir, wenn ich nähere Erkenntnisse über den Adressaten habe, auch gar (B) Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: nicht anzuschauen. Wenn allerdings das Telefon klingelt (D) Bitte schön. – damit gehe ich noch einmal auf Ihre Frage ein, Herr (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Aber, Herr Kollege Rossmanith –, sieht das völlig anders aus: Ich Präsident, so schwer war die Frage doch gar bin gezwungen, den Anruf erst anzunehmen, um festzu- nicht!) stellen, wer am anderen Ende ist. Da sehe ich schon ei- nen erheblichen Unterschied. – Es hilft nicht weiter, wenn der Präsident die Frage ver- standen hat, Herr Schauerte. Das muss schon zwischen Wie sehr die Wirtschaft darunter leidet, ergibt sich dem Fragesteller und dem Redner abgewickelt werden. nicht zuletzt aus der aktuellen Mitteilung der Kommis- (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Das habe ich sion an das Europäische Parlament über unerbetene Wer- auch unterstellt, Herr Präsident!) benachrichten. Das ganz große Problem ist, dass sich in der Regel nicht die seriösen Unternehmen dieses Me- Bitte schön, Herr Rossmanith. diums bedienen, sondern eher die unseriösen Unterneh- men. Gerade bei Spam ist es mittlerweile sogar so, dass Kurt J. Rossmanith (CDU/CSU): die seriösen Unternehmen Angst davor haben. Sie sagen: Herr Kollege Manzewski, halten Sie die Bürgerinnen Das Medium gerät in ein derart schlechtes Licht, dass und Bürger unseres Landes für so unfähig, wir mit unserem seriösen Verhalten dort gar keine Marktchancen mehr haben. (Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Nein! Setzen!) Wenn Sie auf die Situation im europäischen Aus- dass sie nicht in der Lage sind, den Telefonhörer schlicht land aufmerksam machen, wo dies tatsächlich laxer ge- und einfach wieder aufzulegen? handhabt wird, dann kann ich Ihnen nur eines sagen: Man muss nicht jeden Unsinn, der in anderen Ländern (Lachen bei der SPD – Wilhelm Schmidt gemacht wird, mitmachen, Herr Kollege Wellenreuther. [Salzgitter] [SPD]: Das ist ja unglaublich! Wenn Sie auch noch sagen, die entsprechende Richtlinie Auch Sie haben überhaupt nichts verstan- zum UWG handhabe das anders, dann muss ich Ihnen den! – Weitere Zurufe von der SPD) entgegnen: Die Richtlinie, die Sie angesprochen haben, geht von einer Vollharmonisierung aus. Einer Vollhar- Dirk Manzewski (SPD): monisierung steht jedoch immer noch Rom II entgegen. Darf ich diese Frage beantworten, liebe Kolleginnen Wenn wir nicht zu einer Vollharmonisierung kommen, und Kollegen? – Das ist genau das Problem, das ich an- wird bei uns auch nicht das Herkunftsprinzip gelten. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. April 2004 9289

Dirk Manzewski (A) Wie vorsichtig – das ist ganz interessant, weil Herr Wenn kritisiert wird, dass sich der Bund dabei etwas (C) Kollege Schauerte gleich noch redet – man mit Liberali- zuschustere, muss man ganz klar sagen: Da sind wir auf sierungen im Wettbewerbsrecht umgehen muss, zeigt im die Ergebnisse der Anhörung eingegangen; das war am Übrigen der zweite Punkt, den ich ansprechen möchte, Anfang im Gesetz ganz anders geregelt. Von den Sach- nämlich die Abschaffung von Sommer- und Winter- verständigen ist der Vorschlag gekommen, dass diese schlussverkauf. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wie Gelder – anders, als es geplant war – nicht den Verbän- sehr hat uns die Wirtschaft noch in der letzten Legisla- den, sondern dem Bund zufließen sollen. Sie werden mir turperiode immer wieder dazu gedrängt, so schnell wie Recht geben, dass das die breite Meinung in dem Sach- möglich Rabattgesetz und Zugabeverordnung abzu- verständigenkollegium war. Ich halte den Gewinnab- schaffen! Mittlerweile hat sich das Bild ein wenig geän- schöpfungsanspruch für praktikabel und richtig. dert; denn insbesondere beim Einzelhandel hat man fest- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ stellen müssen, dass der Bürger trotz vermeintlicher DIE GRÜNEN) Billigangebote nur das ausgeben kann, was er im Porte- monnaie hat, dass die Großen mehr davon profitieren als Zuletzt ist von den Vertretern der Opposition gerügt die Kleinen und dass Geiz nicht immer geil sein muss. worden, dass im UWG keine Aussage zum wirtschaftli- Die Bürger werden zurzeit derart mit Rabattaktionen chen Handeln der öffentlichen Hand gemacht wird. überfrachtet, dass sich die hiervon versprochenen Ich meine, dass das UWG allgemeinverbindlich zu sein Effekte für die Wirtschaft nicht ergeben haben. Ganz im hat und eine Lex, die die öffentliche Hand betrifft, des- Gegenteil, liebe Kolleginnen und Kollegen: Meiner Auf- halb nichts im UWG zu suchen hat. fassung nach sind die Verbraucher eher verunsichert. Meine Damen und Herren, ich meine, dass der Bun- Ich hatte seinerzeit erhebliche Probleme damit, ge- desregierung mit diesem Gesetzentwurf ein guter Ent- nauso wie der Kollege Schauerte am Anfang, ich bin wurf gelungen ist. aber als Jurist für eine stringente Regelung. Nach Aufhe- (Erich G. Fritz [CDU/CSU]: Das ist der Witz bung von Rabattgesetz und Zugabeverordnung machen des Tages!) Sommer- und Winterschlussverkauf einfach gar keinen Sinn mehr, schon allein deshalb nicht, weil anders als Ihre Kritik ist marginal und beschränkt sich auf wenige früher kurz zuvor zum Beispiel mit einem Vorsommer- Punkte. Wie Sie meiner Rede entnommen haben, sind schlussverkauf oder einer wie auch immer gearteten ähn- Ihre Argumente auch nicht besonders stichhaltig. lichen Rabattaktion geworben werden darf. Dies hat (Zuruf von der CDU/CSU: Im Gegenteil!) nicht zuletzt der letzte Winterschlussverkauf mit seinen schlechten Ergebnissen gezeigt. Sommer- und Winter- Deshalb fordere ich Sie auf, (B) schlussverkauf – das hat die Anhörung ergeben – wür- (D) (Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- den einzig noch eine kostenlose Werbung für den Einzel- NEN]: Ultimativ!) handel darstellen. Das kann nicht Sinn und Zweck des UWG sein. dem Gesetzentwurf der Bundesregierung zuzustimmen. Streitig ist des Weiteren noch die Frage nach dem so (Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Das genannten Gewinnabschöpfungsanspruch. Bei unlau- erstaunt uns ja!) teren Wettbewerbshandlungen gibt es bislang nur die Wir jedenfalls werden das tun. Möglichkeiten einer Unterlassungsklage oder einer Klage auf Schadenersatz. Insbesondere in den Fällen, in Ich danke Ihnen. denen eine Vielzahl von Abnehmern nur zu jeweils klei- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ nen Beträgen geschädigt worden ist, kam es oft zu dem DIE GRÜNEN) unbefriedigenden Ergebnis, dass der unlauter Handelnde den hieraus gezogenen Gewinn behalten durfte. Dies kann eigentlich niemand ernsthaft wollen, zumal sich Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: der Anspruch nur gegen vorsätzlich Handelnde richten Das Wort hat nun die Kollegin Ursula Heinen, CDU/ soll. CSU-Fraktion. Soweit die Opposition die Gewinnermittlung für (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Obwohl problematisch erachtet, teile ich diese Bedenken, die ich sie eigentlich nicht mehr reden müsste!) anfangs auch etwas hatte, nicht mehr. Ich bin insbeson- dere nach der Befragung des Vertreters des Bundesge- Ursula Heinen (CDU/CSU): richtshofs in der Sachverständigenanhörung zu dem Er- Das tue ich aber mit ganz besonderem Vergnügen, gebnis gekommen, dass dies meinen Kolleginnen und weil so viele Fragen offen geblieben sind. Kollegen aus der Rechtsprechung keine Probleme berei- Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Die ten wird. Eine Gewinnermittlung ist insbesondere dem Bundesregierung wollte bei der Reform des Gesetzes ge- BGB ja nun auch nicht völlig unbekannt; ich erinnere an gen den unlauteren Wettbewerb auch EU-Recht beein- § 721 und § 252 BGB. Einen Strafrechtscharakter ver- flussen und hierfür ein Vorbild schaffen. mag ich auch nicht zu erkennen, da hier kein Strafaus- spruch erfolgt, sondern lediglich die Herausgabe des wi- (Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- derrechtlich Gewonnenen verlangt wird. NEN]: Das tun wir auch!) 9290 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. April 2004

Ursula Heinen (A) Das ist ein Ziel, das wir durchaus unterstützen. Wir ha- nicht, warum man diesen Zusatz nicht eingefügt hat. Das (C) ben immer wieder gesagt, dass das eine gute Idee ist, da- wäre eine Opt-in-Regelung gewesen, die eine Ausnahme mit wir in Deutschland einmal Vorreiter für die Rechtset- ermöglicht. Das wäre gegenüber der Wirtschaft und den zung auf europäischer Ebene sind. Verbrauchern fair gewesen. Wir brauchen – darüber sind wir uns sicherlich alle (Beifall bei der CDU/CSU) einig – eine grenzübergreifende Harmonisierung des Lauterkeitsrechts. Aber die Antwort auf eine Frage sind Welche Regelung besteht jetzt? Nach Ihrem Vor- Sie völlig schuldig geblieben, obwohl verschiedene Kol- schlag darf beispielsweise die Firma Mercedes-Benz legen, zum Beispiel Herr Funke oder Herr keinen BMW-Kunden mehr anrufen, Wellenreuther, diese Frage aufgeworfen haben: Wie ver- (Dirk Manzewski [SPD]: Das darf sie schon einbaren Sie zum Beispiel beim Telefonmarketing un- jetzt nicht! – Gegenruf des Abg. Hartmut sere UWG-Regelung mit der Binnenmarktklausel und Schauerte [CDU/CSU]: Jetzt hört mal zu!) der Rechtsetzung im jeweiligen Herkunftsland? weil es sich hierbei nicht um eine laufende Geschäftsbe- Sprich: Nach der Binnenmarktklausel soll bei Wettbe- ziehung handelt. Aber wie sieht es beim Thema Wahl- werbsverstößen – so ist es geplant – das Herkunftsland- werbung aus, die natürlich gesondert geregelt wird? Sie, prinzip gelten. Das heißt, dass ein Unternehmen aus dem Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, dürfen Ausland bei uns in Deutschland anrufen darf. meine mutmaßlichen Wähler belästigen. (Erich G. Fritz [CDU/CSU]: So ist es!) (Widerspruch bei der SPD und dem BÜND- In Deutschland gilt der Bezug auf den Marktort, also das NIS 90/DIE GRÜNEN – Hartmut Schauerte Recht des Angerufenen. Wie wollen Sie diese Regelun- [CDU/CSU]: Die haben ja keine eigenen gen miteinander verbinden? Wie wollen Sie, wenn die mehr! – Weiterer Zuruf von der CDU/CSU: Binnenmarktklausel gilt, verhindern, dass die Unterneh- Genau! Deshalb können sie ja nur noch bei men tatsächlich, wie es manche Kollegen gesagt haben, Wettbewerbern anrufen!) vom Ausland aus bei uns in Deutschland anrufen, weil Ich finde, Sie müssten auch dem einen Riegel vorschie- sie das nach dem EU-Recht dürfen? Die Antwort auf ben. Wieso darf die SPD meine Leute anrufen, aber Mer- diese Frage sind Sie schuldig geblieben. cedes-Benz die BMW-Kunden nicht anrufen? Ich muss (Dirk Manzewski [SPD]: Ich habe sie beant- sagen: Hier wird mit zweierlei Maß gemessen. wortet, Frau Kollegin! – Zuruf von der CDU/ (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE CSU: Hört! Hört!) GRÜNEN]: Das hat mit Politik zu tun!) (B) (D) Daher kann ich Ihnen vorhersagen, dass die von Ihnen Wenn Sie glauben, dass Ihre Anrufe die Leute nicht ner- vorgesehene UWG-Bestimmung eine Haltbarkeit von ven, dann ist Ihnen nicht zu helfen. gerade einmal einem halben Jahr haben wird. Das war Punkt eins. Tatsächlich gehen Ihre Vorstellungen an der Lebens- (Beifall bei der CDU/CSU) wirklichkeit vorbei. Punkt zwei. Jetzt komme ich auf den Inhalt Ihres Ent- (Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- wurfs zu sprechen. Beim Thema Telefonmarketing zeigt NEN]: Sie unterstützen den Telefonterror! – sich Ihre gesamte Denkweise, was Sie vom Verbraucher Gegenruf von der CDU/CSU: Sie machen Re- halten und wie er Ihrer Meinung nach geschützt werden gierungsterror!) muss. In der Tat scheint es eine gute Idee zu sein, zu sa- Ich kann Sie nur herzlich auffordern, sich noch einmal gen, dass die Verbraucher nicht angerufen werden dür- anzuschauen, was Sie da angerichtet haben, und zu ver- fen, das Telefonmarketing also – bis auf laufende suchen, unseren Vorschlägen, die auch von der Wirt- Geschäftsbeziehungen – ganz zu verbieten. Allerdings schaft unterstützt werden, entgegenzukommen. Wir muss man dann festlegen, wann es sich um eine lau- kümmern uns um die Verbraucher, wir kümmern uns fende Geschäftsbeziehung handelt. Handelt es sich also aber auch um die Wirtschaft, weil es um den Ausgleich um keine laufende Geschäftsbeziehung, wenn man sie der Interessen beider geht. erst vor ein paar Wochen eingegangen ist, sodass man nicht angerufen werden darf? Oder gilt das erst bei län- (Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: geren Zeiträumen? Das ist mir nicht ganz klar. Das ist ein Schein-Verbraucherschutz!) Wir haben vorgeschlagen, eine modifizierte Opt-in- Ich will noch etwas zu den E-Mails sagen: Ich Regelung einzuführen. Es wäre in der Tat überhaupt glaube, Sie haben nicht ganz begriffen, warum Firmen kein Problem gewesen, sie in Art. 7 aufzunehmen anrufen. Sie rufen doch nicht an, um die Leute zu beläs- tigen; (Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Wir können ja mal eine Volksbefragung (Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- machen!) NEN]: Doch!) und festzulegen: Wenn ein Unternehmen die elektroni- sie wollen Kunden werben. Es gibt einen Unterschied sche Adresse und die Telefonnummer eines Kunden be- zwischen automatisierten E-Mails bzw. Faxen und per- kommen hat, darf es ihn auch anrufen. Ich verstehe sönlichen Anrufen über Callcenter; Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. April 2004 9291

Ursula Heinen (A) (Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Der zweite Punkt ist das Sonderveranstaltungsrecht. (C) Das ist noch viel schlimmer!) Wir haben das Rabattgesetz Gott sei Dank gemeinsam abgeschafft. Der Wunsch nach der Durchführung von das sollten Sie bei Ihren Überlegungen beachten. Sommer- bzw. Winterschlussverkäufen ist jetzt proble- (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE matisch. Deswegen haben wir uns dem nicht geöffnet, GRÜNEN]: Belästigung ist schädlich!) auch wenn die Verbände das gefordert haben. Klar sein muss aber – das hätte man etwas klarer machen können, Ich wette mit Ihnen heute hier, dass wir, wenn die wenn man es in die Begründung aufgenommen hätte –, Binnenmarktklausel, das EU-Recht kommt, wir wieder dass die Verbände gemeinsam einen Sommer- oder einen hier sitzen müssen, um das UWG zu überarbeiten – wie Winterschlussverkauf oder allgemein einen Schlussver- alles, was Sie hier in diesem Hause durchpeitschen. kauf für eine Region und für eine bestimmte Zeit verab- Danke schön. reden können. Was natürlich nicht sein darf, sind Preis- vereinbarungen. Es gibt ein berechtigtes Interesse des (Beifall bei der CDU/CSU – Ulrike Höfken Handels, solche Vereinbarungen treffen zu können. Aber [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie unterstüt- diesbezüglich ist Ihr Gesetzentwurf unserer Meinung zen den Psychoterror!) nach nicht klar genug formuliert. Nach dem, was ich höre, will sich das Bundeskartellamt vernünftig verhal- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: ten, von den Länderkartellbehörden droht aber das eine Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der oder andere. Kollege Hartmut Schauerte für die CDU/CSU-Fraktion. (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Sie wis- sen es doch! Dann sagen Sie es denen!) Hartmut Schauerte (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine liebe Kolleginnen und Kolle- Wenn es in der Begründung etwas klarer formuliert wor- gen! Ich will drei Punkte noch einmal kurz ansprechen; den wäre, hätten wir dieses Problem lösen können. denn eigentlich beschäftigen wir uns mit einer Materie, (Beifall bei der CDU/CSU) bei der man sich nicht streiten muss, wenn guter Wille auf allen Seiten da ist. Ich will einen dritten Punkt benennen, der heute noch gar nicht angesprochen worden ist, den wir allerdings Das eine ist das Thema Gewinnabschöpfungs- unter Mittelstandsgesichtspunkten für sehr wichtig hal- anspruch. Sie haben ja nachgebessert – Sie haben selber ten. Wir hatten mit einer Reihe von Verbänden darum erkannt, dass Ihre ersten Entwürfe viel zu weit gingen gebeten, die wirtschaftliche Betätigung von Kommu- und bestimmten Klagen und Fehlentwicklungen Tür und (B) nen im UWG-Recht mit zu erfassen. In der jetzigen Fas- (D) Tor geöffnet hätten –, eine Beschränkung auf Vorsatz sung sieht § 3 Nr. 11 vor, das Marktverhalten im Inte- vorgenommen und verfügt, dass der abgeschöpfte Ge- resse der Marktteilnehmer zu regeln. Wir wollten, dass winn an eine staatliche Stelle abzuführen sei. Die Rege- „oder den Marktzutritt“ hinzugefügt wird. lung ist aber sehr kompliziert. Immer noch besteht ein hohes Interesse, zu klagen. Was verbirgt sich hinter dieser schlichten Formulie- rung? Sie wissen, dass wir unendlich viele Abgren- Wir haben eine einfachere Regelung vorgeschlagen: zungsprobleme haben und in wachsendem Maße bekom- Die Gewinnabschöpfung soll das Kartellamt vornehmen; men werden, was öffentliche Hände wirtschaftlich tun der Fall soll beim Kartellamt landen. Das ist ein absolut sollen und was die Privatwirtschaft tun soll. In vielen handhabbarer Weg: Keiner muss Angst haben, dass seine Ländergesetzen wurde beschlossen, was die öffentlichen Geschäftsgeheimnisse, seine kalkulatorischen Grundla- Hände in Form von wirtschaftlicher Betätigung nicht tun gen vor einer staunenden Öffentlichkeit ausgebreitet sollen. Wir wollen mit diesem kleinen Zusatz an unser werden. Das Kartellamt kennt die Fälle und die Pro- Bestreben erinnern, dass sich alle an diese Landesge- bleme ohnehin; das wäre einfach zu handhaben gewesen setze halten. Wir müssen es an irgendeiner Stelle ahnden und vernünftig. Sie haben sich dem nicht beugen kön- und unter Strafe stellen, wenn dies nicht geschieht. nen, weil Sie Ihren Verbraucherverbänden etwas Ge- schmäckle machen wollten, ein eigenes geschäftliches Eigentlich ist an die SPD die Frage zu stellen: Warum Interesse, permanent solche Klagen anzustrengen. wollt ihr nicht, dass ein Gesetz, das ihr selber auf Bun- Wir sagen: Vorsicht! Wir wollen keine amerikani- des- oder auf Landesebene beschlossen habt, anschlie- schen Verhältnisse im Wettbewerbsrecht. Sie alle wis- ßend auch ernsthaft beachtet und eingehalten wird? Nur sen, wie das die Wirtschaft lähmen kann, zu welchen um diese Frage ging es. Ihrer Klärung haben Sie sich abstrusen Entwicklungen das führen kann, wie fehlge- verweigert; das ist schade. Wir werden deswegen eine steuert reine Geldinteressen sind, wie Abmahnvereine Reihe weiterer Prozesse führen müssen. Sie alle kennen ihr Unwesen entwickeln, sodass man nicht mehr zum die Abgrenzungsprobleme, die vermeidbar gewesen wä- normalen Wirtschaften kommt. Deshalb ist unsere Emp- ren. Wenn man einen eindeutigen Hinweis darauf ins fehlung: Ändern Sie Ihre Position an der Stelle noch ein- Gesetz geschrieben hätte, hätte jeder, auch jeder Käm- mal und öffnen Sie sich unseren Vorschlägen! Ansonsten merer, gewusst, worauf er zu achten hat; denn die Markt- werden wir es ändern, wenn wir regieren. Wir halten Ih- zutrittsregelungen sind genauso ernsthafte Wettbewerbs- ren Weg für falsch. und Lauterkeitsregeln wie die Marktverhaltensregelun- gen. Eigentlich gehört das sinnvollerweise zusammen. (Beifall bei der CDU/CSU) Hier lagen die Unterschiede. 9292 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. April 2004

Hartmut Schauerte (A) 80 oder 90 Prozent dessen, was jetzt vorliegt, ist ver- Überweisungsvorschlag: (C) nünftig; das haben wir gemeinsam entwickelt. Da es Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft (f) beim Rest an Vernunft bei Ihnen gefehlt hat – das ist, ge- Rechtsausschuss messen an Ihren sonstigen Gesetzgebungsvorhaben, eine Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ausgesprochen kleine Defizitquote –, können wir nicht Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zustimmen. Dafür werden Sie sicherlich Verständnis ha- Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und ben. Entwicklung Herzlichen Dank. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache zu diesem Tagesordnungspunkt eine halbe (Beifall bei der CDU/CSU – Hans-Christian Stunde vorgesehen. – Dazu höre ich keinen Wider- Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: spruch. Dann ist das so beschlossen. Überhaupt kein Verständnis!) Ich eröffne die Aussprache und erteile zunächst dem Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Kollegen Cajus Caesar das Wort. Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den von der (Zurufe von der CDU/CSU: Cajus Julius!) Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes – Wenn ich „Julius“ gesagt hätte, könnte er meinen, er gegen den unlauteren Wettbewerb auf der Druck- hätte noch zusätzliche Redezeit. Davon kann keine Rede sache 15/1487. Der Rechtsausschuss empfiehlt auf sein. Drucksache 15/2795, den Gesetzentwurf in der Aus- schussfassung anzunehmen. Dazu liegen vier Ände- Bitte schön, Herr Kollege. rungsanträge der FDP-Fraktion vor, über die wir zuerst abstimmen. Cajus Caesar (CDU/CSU): Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Druck- Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! sache 15/2852? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält Die Union sieht im Erhalt unserer Urwälder eine der sich? – Damit ist der Änderungsantrag abgelehnt. zentralen Herausforderungen unserer Gesellschaft. Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Druck- Wichtig ist dies, um die Ernährung der vor Ort lebenden sache 15/2853? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält Menschen zu sichern, für den Klimaschutz, für die Ar- sich? – Auch dieser Änderungsantrag ist abgelehnt. tenvielfalt und die komplexen Ökosysteme, aber natür- lich auch um den wertvollen Rohstoff Holz nachhaltig Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Druck- zur Verfügung zu haben. (B) sache 15/2854? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält (D) sich? – Der Änderungsantrag ist abgelehnt. Illegalität, Kriminalität und auch Profitgier Einzelner Ich ahne, was mit dem vierten Änderungsantrag auf dürfen nicht zulasten der Natur und unserer Gesamtge- Drucksache 15/2855 passiert. Wer stimmt dafür? – Wer sellschaft gehen. CDU und CSU wollen deshalb mit dem stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Es reicht nicht; hier eingebrachten Antrag deutlich machen, wie wichtig der Änderungsantrag ist abgelehnt. dieses Vorhaben auch für unsere Kinder, für unsere En- kel, ja für die zukünftigen Generationen ist. Unser An- Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf in trag findet aufgrund seiner Wichtigkeit daher sicherlich der Ausschussfassung zustimmen, um das Handzei- die Unterstützung aller Fraktionen. chen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Da- mit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung angenom- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) men. 15 Millionen Hektar Urwald gehen jährlich verloren. Wir kommen zur Das entspricht der Fläche von Bayern, Baden-Württem- dritten Beratung berg und Niedersachsen. Das ist eine riesige Fläche, die jährlich verloren geht. Hier in Deutschland reden wir und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem über Versiegelung, dort reden wir über Verwüstung, Ver- Gesetzentwurf zustimmen, sich zu erheben. – Wer steppung und damit auch über eine Vernachlässigung un- stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzent- seres Klimas. wurf ist mit den Stimmen der Koalition gegen die Stim- men der Opposition angenommen. Nur 20 Prozent der Urwälder sind noch unberührt. Deshalb gibt es aus unserer Sicht dringenden Hand- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf: lungsbedarf. Wir setzen darauf, dass die Bundesregie- Beratung des Antrags der Abgeordneten Cajus rung vor dem Hintergrund unserer sechs Punkte in die- Caesar, Peter H. Carstensen (Nordstrand), sem Bereich tätig wird; denn das ist wichtig. Wir bitten Dr. Christian Ruck, weiterer Abgeordneter und die Bundesregierung deshalb, den illegalen Holzein- der Fraktion der CDU/CSU schlag schnellstmöglich zu stoppen. Durch Raubbau, durch illegalen Einschlag werden riesige Flächen ent- Urwaldschutz durch nachhaltige Holz- und waldet. Diese Flächen werden innerhalb kürzester Zeit Forstwirtschaft stärken – drei bis fünf Jahre – vorübergehend landwirtschaftlich – Drucksache 15/2747 – genutzt. Dann versteppen sie oder sie werden zur Wüste. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. April 2004 9293

Cajus Caesar (A) (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE Hartmut Schauerte (CDU/CSU): (C) GRÜNEN]: Schauen wir, wo das Holz geblie- Herr Kollege Caesar, ich bedanke mich für die Mög- ben ist!) lichkeit, eine Zwischenfrage zu stellen. Wir alle sind der Meinung, dass für die Rettung des Urwalds unterschied- Schauen wir uns einmal die Verhältnismäßigkeit der liche Wege möglich sind, aber viel getan werden muss. Mittel an, die wir zum Klimaschutz und zur CO -Re- 2 Was halten Sie von Aktionen wie die meiner benachbar- duzierung einsetzen. In diesen Tagen streitet die Bun- ten Brauerei Krombacher, die sagt: Wenn man einen desregierung über den Emissionshandel. Kasten Bier von ihr kauft, kauft und sichert sie dafür (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Sie lei- dauerhaft 1 Quadratmeter Urwald? der nicht, weil es Sie nicht interessiert!) Wir reden über die zukünftigen Regelungen im EEG. Cajus Caesar (CDU/CSU): Wir diskutieren auch darüber, ob wir 2, 2,5 oder 3 Milli- Ich bedanke mich beim Kollegen Schauerte für diese arden Euro im Zuge von Stromeinspeisung für die erneu- Frage. erbaren Energien ausgeben. Hinzu kommen rund Natürlich ist es sinnvoll, wenn sich jeder Einzelne aus 500 Millionen Euro als Steuersubventionen für Investiti- dem Bereich der Naturschutzverbände und der Wirt- onen und rund 500 Millionen Euro allein in Nord- schaft sowie natürlich auch jeder von uns für die Erhal- deutschland für die Kosten der Netzerweiterung. Die tung des Urwaldes und damit natürlich auch für die dort Tatsache, dass gleichzeitig täglich 40 000 Hektar Wald lebenden Menschen, für die Natur und für die wirtschaft- auf Dauer verloren gehen und versteppen, hat weitaus liche Entwicklung der Menschen dort und hier engagiert. größere Auswirkungen auf das Klima. Da richten wir Deshalb können wir solche Aktionen auch nur unterstüt- mit zweieinhalb Milliarden Euro im Jahr für den Klima- zen. Ich darf sagen: Das ist sehr positiv. Weiter so – auch schutz nur wenig aus. Das kann nicht sein. im Kreis Olpe! (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU – Jörg Tauss Wie sieht es mit den entsprechenden Mitteln im Bun- [SPD]: Fragen Sie mal, wie viel Quadratmeter deshaushalt aus? 1998, zu Unionszeiten, hatten wir noch Urwald er schon gerettet hat!) etwa 130 bis 150 Millionen Euro pro Jahr für diesen Be- Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, wenn wir reich im Haushalt. Die Mittel sind kontinuierlich zurück- von der Verhältnismäßigkeit reden, dann ist es schon gegangen auf jetzt rund 100 Millionen Euro im Jahr. Da- wichtig, dass wir dabei natürlich auch daran denken, durch werden wichtige Projekte vernachlässigt. Das dass es nicht sein kann, dass wir den 1,3 Millionen trägt nicht dazu bei, voranzukommen, stattdessen schrei- Waldbesitzern hier durch eine geplante Novellierung (B) (D) tet die negative Entwicklung weiter fort. Deshalb bitten des Bundeswaldgesetzes vorschreiben wollen, welche wir als Union Sie, hinsichtlich dieses Antrages tätig zu Pflanze auf welchem Quadratmeter in welcher Höhe ge- werden, sowohl haushaltsrelevant als auch gesetzgebe- setzt wird, gleichzeitig aber das Große aus den Augen risch. verlieren. Ich denke, es ist wichtig, zu wissen, dass (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – 50 Prozent aller Pflanzenarten der Welt in den tropischen Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE Urwäldern vorkommen. Deshalb gilt es, hier den Schutz GRÜNEN]: Der soll einmal in unsere Büros anzusetzen. Auf einem Hektar Regenwald am Amazonas schauen!) leben etwa 400 verschiedene Baumarten und damit mehr als in ganz Europa. Auch das zeigt, wie wertvoll diese Dies ist auch eine Frage der Wirtschaft. Sie haben ei- Gebiete für unsere Natur sind. nen Zwischenruf gemacht. Sie sollten natürlich auch an Diejenigen, die durch die Natur schreiten, wissen, die Kooperation zwischen den Menschen vor Ort, an die dass es hier etwa einige Monate dauert, bis aus den Blät- wirtschaftliche Entwicklung und an den Klimaschutz tern Humus wird. Schauen wir uns einmal die Besonder- denken. Wenn Holz in Deutschland illegal eingeführt heiten des Urwaldes an. Was glauben Sie, wie lange es wird, dann schadet das auch unserer Holzwirtschaft, im Tropenwald dauert? – Dort sind es vier Tage. Daran (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE erkennen wir, welche Kräfte das Klima dort freisetzt und GRÜNEN]: Gehen wir einmal in unsere Büros welche Möglichkeiten dort vorhanden sind. 50 000 ver- hier!) schiedene Tierarten leben im Regenwald auf einem Qua- dratkilometer. Deshalb sagen wir als Union: Es lohnt weil das Holz zu Dumpingpreisen verkauft wird. sich, hier tätig zu werden und den Urwald für unsere (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Welt, für unsere Generation und auch für unsere Kinder der FDP) zu erhalten, zu schützen und dort, wo er zerstört wurde, wieder zu entwickeln. Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Herr Kollege Caesar, darf der Kollege Schauerte eine Wesentlich ist auch – darüber haben wir auch hier im Zwischenfrage stellen? Plenum schon mehrfach diskutiert –, wie es mit unserem Wasservorkommen und unserer Wasserreinheit aus- Cajus Caesar (CDU/CSU): sieht. Schauen wir uns einmal die Tropenwälder an. Aber selbstverständlich, Herr Präsident. Diese versorgen 1 Milliarde Menschen mit Süßwasser. 9294 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. April 2004

Cajus Caesar (A) Sie sind zudem ein gigantischer Filter für Luft und Was- mit der dortigen Landwirtschaft zu tun. Man muss wis- (C) ser. Auch dies dürfen wir nicht außer Acht lassen. Diese sen, dass viele Flächen nur wenige Jahre landwirtschaft- Urwälder sind in Hundert Millionen Jahren entstanden lich genutzt werden können, weil dann die Nährstoffe und werden in wenigen Jahren zerstört. verbraucht sind. Damit gehen diese Flächen für die Er- nährung der Bevölkerung endgültig verloren. Deshalb Es ist wichtig, den Lebensraum der Menschen vor muss man auch im Rahmen der Landwirtschaft tätig Ort, die direkt im Wald leben, zu sichern. Nur ein Wald, werden, wodurch die Lebensgrundlagen der Menschen der seinen An- und Bewohnern die Chance des wirt- gewährleistet werden können, sodass sie nicht auf Ein- schaftlichen Überlebens bietet, kann auf Dauer selbst nahmen aus dem Wald angewiesen sind. überleben. Deshalb müssen wir uns anschauen, wie die Menschen vor Ort ihren Wald beobachten und wie sie ja- Wir müssen im Bereich der Entwicklungshilfe bei gen, fischen und sich von Wildpflanzen ernähren. Dabei der Ausbildung aktiv werden. An unseren Fachhoch- nehmen sie von der Natur nicht mehr in Anspruch, als schulen und Universitäten müssen wir junge Menschen erforderlich ist, um auf Dauer – also nachhaltig – dort le- ausbilden, die anschließend vor Ort tätig sein werden. ben zu können. Wir müssen aber auch internationale Instrumente und Vereinbarungen nutzen, um hier voranzukommen, indem Wenn die Wälder dort illegal genutzt und abgeholzt wir nur zertifiziertes Holz aus nachhaltiger Wirtschaft in werden, dann bedeutet das, dass diesen Menschen ihre unseren Wirtschaftskreislauf einführen. Wir müssen Lebensgrundlage genommen wird und sie in die Städte ebenso dafür sorgen, dass Bereiche, die illegal abgeholzt abwandern müssen. In den Armutsvierteln der Städte le- wurden und noch nicht versteppt und verwüstet sind, ben sie dann in Armut, unterernährt und in Arbeitslosig- durch Wiederaufforstungsmaßnahmen und auch durch keit. Auch das muss man hier berücksichtigen. Das be- Plantagen – das sage ich ganz deutlich; denn eine Plan- trifft nicht einen oder zehn, sondern zig Millionen tage ist mir immer noch lieber als eine Wüste – wieder in Menschen. den Kreislauf eingebunden werden. Es ist wichtig, zu beobachten, was dort geschieht. Durch die illegale Nutzung eines wertvollen Mahago- Ich sage es noch einmal: Schluss mit illegalem Holz- nistammes, der dort für etwa 30 Euro erworben wird, ist einschlag! Es ist besonders wichtig, dass nicht jährlich es möglich, auf dem Exportmarkt 3 000 Euro zu erzie- eine bewaldete Fläche von der Größe der Waldfläche der len. Wenn man den Stamm in Blockwaren massiv und Bundesrepublik Deutschland verloren geht. Das können Furnierholz zerlegt, dann kann er beim Verkauf an den und dürfen wir uns nicht leisten, sonst steht im Endverbraucher einen Wert von rund 100 000 Euro er- Jahre 2050 – so sagen es die Experten – am Amazonas zielen. Daran erkennen Sie die Gewinnspannen. Das kein Baum mehr. (B) kann nicht sein. Das schadet allen – auch unserem Holz- Wir werden unserer Verantwortung nur dann gerecht, (D) markt. Deshalb müssen wir hier tätig werden. wenn wir jetzt tatsächlich aktiv werden. Deshalb darf ich (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Sie alle bitten: Unterstützen Sie die sechs Forderungen in unserem Antrag! Dann sind wir im Bereich der Ar- Noch gibt es 13,5 Millionen Quadratkilometer Ur- mutsbekämpfung, des Klimaschutzes, der Artenvielfalt wald. Das sind aber nur noch etwa 20 Prozent der ur- und der nachhaltigen wirtschaftlichen Entwicklung auf sprünglichen unberührten Fläche. Deshalb müssen wir dem richtigen Weg. handeln: an der Westküste Kanadas mit tausendjährigen Zedern, Fichten, Tannen und dem Vorkommen des Wol- Ich bedanke mich. fes genauso wie in den Bergwäldern Chiles, aber auch (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) im westlichen Russland, in den Schneewäldern Sibi- riens, in den Regenwäldern Südostasiens oder in den Re- genwäldern des Amazonas mit über 60 000 Pflanzen, Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: 1 000 Vogel- und mehr als 300 Säugetierarten. Ich erteile das Wort der Kollegin Gabriele Hiller- Ohm, SPD-Fraktion. Was sollte die Bundesregierung tun? Wir haben das in unserem Antrag in sechs Punkten formuliert. Es ist aber (Beifall bei der SPD) zusätzlich wichtig, dass durch Waldinventuren die wertvollen Gebiete – ich meine wertvoll für die Natur, Gabriele Hiller-Ohm (SPD): den Artenschutz und die wirtschaftliche Entwicklung – Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kol- dokumentiert werden und dass insbesondere durch inter- lege Caesar, nicht Sie, sondern Greenpeace hat vor kur- nationale Vereinbarungen sichergestellt wird, diese zem den Entwurf eines Urwaldschutzgesetzes in die Dis- Gebiete zu erhalten. Unser Antrag zielt darauf, das Mit- kussion gebracht. Ich habe dieses wichtige Thema in der einander von Schutz, Erhalten und nachhaltiger Ent- letzten Plenardebatte zum Wald aufgegriffen und eine wicklung zu gewährleisten. Nachhaltige Entwicklung ist gemeinsame politische Initiative aller Fraktionen dieses nichts anderes, als nicht mehr Holz zu nutzen, als im Hauses angeboten. Dieses Angebot steht nach wie vor. gleichen Zeitraum auf einer bestimmten Fläche nach- wächst. (Beifall bei der SPD) Wir müssen die Rahmenbedingungen für die vor Ort Ich war allerdings schon überrascht, dass Sie, liebe lebenden Menschen entsprechend gestalten. Das hat et- Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU-Fraktion, was mit dem Wald, mit legaler Holznutzung, aber auch dieses Angebot nicht aufgegriffen haben Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. April 2004 9295

Gabriele Hiller-Ohm (A) (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Ist das eine Die Europäische Kommission arbeitet zurzeit an (C) Frage der Eitelkeit? Es geht um den Wald, einem Verordnungsvorschlag zum Nachweis der legalen nicht um Eitelkeiten!) Herkunft von Holz in der EU. Ergebnisse werden bis Mitte dieses Jahres erwartet. Ich bin schon über das Ver- und nun Ihren Antrag im Alleingang präsentieren. Was halten der CDU/CSU in diesem Punkt überrascht. Sonst sagt uns das? Sie haben mit diesem Verhalten wieder sind Sie doch auch immer gegen nationale Alleingänge. einmal Ihre Schwäche unter Beweis gestellt. Ich habe noch sehr wohl die Diskussion über die (Beifall bei der SPD) Schweinehaltungsverordnung und die Käfighaltung von Legehennen im Ohr. Da hieß es: Bloß kein deutscher Sie machen dicke Backen, sorgen aber nicht für die not- Sonderweg. – Und jetzt? Volle Rolle rückwärts. Das ist wendigen parlamentarischen Mehrheiten, um Ihre Anlie- schon ein bisschen erstaunlich. gen durchzubringen. Für die Sache wäre ein breiter poli- tischer Konsens wichtig. Vielleicht, Herr Kollege Was können wir noch tun, um Importe von illegal ge- Caesar, bekommen wir das im Ausschuss hin. schlagenem Holz einzudämmen? Wir stärken den Ab- satz von heimischem Holz, zum Beispiel mit der Charta Man sieht es dem Holz nicht an, ob es legal oder ille- für Holz. Die Chancen stehen gut; denn wir haben deut- gal geschlagen wurde. Wir finden es deshalb richtig, lich mehr Holzressourcen, als wir verbrauchen. Im Ge- dass dem Importeur eine Pflicht zur Nachvollziehbar- gensatz zu den Urwäldern, die immer mehr schwinden, keit der Produkt- und Handelskette auferlegt wird. wachsen unsere Holz- und Waldbestände. Dies ist ein Das ist eine Forderung in Ihrem Antrag. Wie können wir Erfolg rot-grüner Umwelt- und Wirtschaftspolitik. das erreichen? Ein wirksamer Weg ist eine umfassende, international anerkannte Zertifizierung, die auch die so- (Manfred Grund [CDU/CSU]: Das glaubt Ih- zialen Belange der Länder und deren Bevölkerung ein- nen keiner!) schließt. FSC ist zurzeit das einzige Siegel, das diese Mit der Novellierung des Bundeswaldgesetzes und Kriterien im internationalen Maßstab erfüllt. Wenn es Ih- der Festschreibung naturnaher Waldwirtschaft werden nen mit Ihrer Forderung ernst ist, dann müssen Sie Ihren wir diesen Erfolgskurs fortsetzen. Wir machen das auch ideologisch befrachteten Widerstand gegen dieses Siegel mit dem Erneuerbare-Energien-Gesetz. Sie, Herr Kol- endlich aufgeben. lege Caesar, haben es angesprochen. Dieses Gesetz Ihr vorliegender Antrag beschränkt sich fast aus- schließt unsere Wälder als Energieträger ein und sieht schließlich auf nationale Sanktionen. Das ist uns zu we- eine angemessene Förderung von Waldholz als Bio- nig. Mit nationalen Alleingängen retten wir die Urwäl- masse zur Stromgewinnung vor. Ihnen ist diese Aufwer- (B) der nicht. Wir brauchen weltweit völkerrechtlich tung in Ihrer Regierungszeit nicht gelungen, obwohl Ih- (D) verbindliche Regelungen. nen der Wald offensichtlich so am Herzen liegt. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Das Gesetz wird morgen hier im Bundestag beschlos- DIE GRÜNEN) sen werden. Die Bundesregierung ist auf internationaler Ebene trei- Sie werden es nicht ablehnen können, meine Damen bende Kraft. und Herren von der CDU/CSU-Fraktion, (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Helmut (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE Kohl war da ganz weit vorne!) GRÜNEN]: Sie können zustimmen!) Dazu zwei Beispiele. Das erste Beispiel ist die wenn es Ihnen wirklich ernst mit den Wäldern ist. 7. Vertragsstaatenkonferenz zur Konvention über die biologische Vielfalt. Bis 2010 soll ein internationales Morgen werden Sie in diesem Hause Ihre politische Netzwerk von geschützten Gebieten zu Land und bis Glaubwürdigkeit unter Beweis stellen müssen. Ich bin 2012 ein solches für die Weltmeere geschaffen werden. mir ziemlich sicher, dass Sie sie, wie schon so oft, wie- Das zweite Beispiel ist der europäische Aktionsplan zum der einmal verspielen werden. Ihre großen Worte sind Schutz der internationalen Wälder, kurz: FLEGT. Mit nichts als heiße Luft, den betroffenen Ländern werden Partnerschaften ge- (Karl-Theodor Freiherr von und zu Guttenberg schlossen und gemeinsam wirksame Systeme zur Rück- [CDU/CSU]: Das haben wir von Ihnen ge- verfolgbarkeit des Holzes entwickelt. Dies geschieht lernt!) übrigens zurzeit mit Russland. Um international glaubwürdig zu bleiben, müssen wir die möglicherweise zur Klimaerwärmung, aber nicht alle uns zur Verfügung stehenden nationalen Maßnah- zum Schutz unserer Wälder beitragen werden. men ausschöpfen. Das ist überhaupt keine Frage. Ein (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ wirksames Instrument könnte vielleicht das Geld- DIE GRÜNEN) wäschegesetz sein. Aber ist es richtig und sinnvoll, eine rein nationale Insellösung anzustreben? Wir haben ein starkes Europa und müssen den Raubbau an den letzten Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Urwäldern gemeinsam bekämpfen. Das ist eine viel wir- Das Wort hat nun die Kollegin Christel Happach- kungsvollere Strategie. Kasan, FDP-Fraktion. 9296 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. April 2004

(A) Dr. Christel Happach-Kasan (FDP): Wir alle haben eine durchaus konkrete Vorstellung (C) Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen, die davon, was Urwälder sind. Dennoch gibt es keine inter- Sie hier noch ausharren! Frau Hiller-Ohm, es ist schon national abgestimmte Definition des Begriffs Urwald. einzigartig, die Schweinehaltungsverordnung mit dem Das geht aus der Antwort der Bundesregierung auf Urwald in Indonesien in Verbindung zu bringen. Ich meine Kleine Anfrage hervor. Dies ist bedauerlich; denn habe nicht den Eindruck, dass Ihnen der Urwaldschutz eine solche international abgestimmte Definition ist wirklich am Herzen liegt. durchaus erforderlich. Sie verhindert, dass der Begriff Urwald für ganz andere Ziele als den Schutz der Urwäl- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) der missbraucht wird. Jeder von uns hat eine Vorstellung davon, was Urwäl- Ein Beispiel dafür ist die Initiative von Greenpeace, der sind. Sie sind Sinnbild für eine ursprüngliche Natur. mit der versucht wurde, die finnische Forstwirtschaft in Weil wir in Deutschland fast keine ursprüngliche, vom Misskredit zu bringen, und zwar nicht aus Sorge um die Menschen nicht beeinflusste Natur mehr haben, üben dortigen Wälder, sondern um ein in Deutschland überaus Urwälder eine besondere Faszination auf uns aus. erfolgreiches Zertifikat für Holz zu diskreditieren. Wir beobachten seit Jahrzehnten die Zerstörung der (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Urwälder der Erde. Der brutale illegale Raubbau ist eine der CDU/CSU) wesentliche Ursache dafür. Ich finde, Sie haben das ein- drucksvoll beschrieben, Herr Caesar. Die Armut der Be- Dieses Verhalten von Greenpeace wird unserer Sorge um völkerung in verschiedenen Ländern der Erde trägt aber den Erhalt der Urwälder und der dringenden Notwendig- ebenfalls zur Zerstörung der Urwälder bei. keit, ihren Schutz voranzubringen, nicht gerecht. Wir brauchen die Urwälder für die Menschen vor Ort, Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: für den Schutz von Klima, Wasser und Artenvielfalt, Frau Kollegin, denken Sie bitte an die Zeit. aber auch als Quelle für den nachwachsenden Rohstoff Holz. Für die Bekämpfung beider Ursachen für die Zer- störung von Urwäldern müssen wir eine jeweils eigene Dr. Christel Happach-Kasan (FDP): Strategie finden. Holz aus illegalem Raubbau darf bei Ich komme zu meinem letzten Satz. – Wir brauchen uns keinen Markt finden und nicht zu Dumpingpreisen den Erhalt der Wälder für das Leben der Menschen vor angeboten werden. Ort, den Artenschutz, die Sicherung der Wasserressour- cen und den Klimaschutz. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜND- Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. (B) (D) NISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Um den Import von Holz aus illegalem Einschlag zu unterbinden, enthält der Antrag praktische und gute Vor- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: schläge, die auf die Umsetzung der bestehenden Gesetze Das Wort hat nun die Kollegin Cornelia Behm, Bünd- setzen. In Ergänzung dazu muss die Nutzung heimischen nis 90/Die Grünen. Holzes aus nachhaltiger Waldwirtschaft in Deutschland gestärkt werden. Aber auch das reicht noch nicht aus. Cornelia Behm (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): In Deutschland hat sich aufgrund der hohen Bedeu- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! tung, die die Wälder seit Jahrhunderten für die Siche- Greenpeace – davon war gerade die Rede – hat Anfang rung der Existenz der Menschen und die Entwicklung dieses Jahres unter anderem den Entwurf eines Gesetzes von Wohlstand hatten, ein ausgeprägtes Bewusstsein für zur Bekämpfung des Handels mit illegal geschlagenem die Bedeutung von Wald und den Schutz der Wälder ent- Holz zum Schutz von Urwäldern und anderen Primär- wickelt. Der multifunktionale Wald ist unser Leitbild. wäldern – ein so genanntes Urwaldschutzgesetz – vorge- legt. Wir sollten versuchen, den armen Ländern der Erde zu helfen, ihre Wälder in entsprechender Weise für die Das haben wir, die Bundestagsfraktion des Bündnis- Bekämpfung der Armut zu nutzen und gleichzeitig ein ses 90/Die Grünen, begrüßt; denn laut FAO gehen jähr- Bewusstsein für die Bedeutung des Schutzes ihrer Wäl- lich 15 Millionen Hektar Urwald verloren. Hielte diese der zu entwickeln. Statt internationaler Verordnungen, Tendenz an, wären die Urwälder in wenigen Jahrzehnten die zu mehr Bürokratie führen, ist Hilfe zur Selbsthilfe verschwunden. Es besteht also tatsächlich akuter Hand- angesagt, Frau Hiller-Ohm. lungsbedarf. Allerdings ist das Problem nicht neu. In ih- rem ersten Gesamtwaldbericht vom Juli 2001 hat die (Beifall bei der FDP) Bundesregierung sowohl eine Situationsanalyse vorge- nommen als auch Handlungsmöglichkeiten aufgezeigt. Einen Beitrag dazu könnte die von der Weltbank ent- Es gibt bereits zahlreiche Initiativen gegen die Urwald- wickelte neue Strategie zum Schutz der Wälder leisten. zerstörung. Nichtsdestotrotz konnte ihr bisher kaum Ein- Die Weltbank will das Potenzial der Wälder zur Vermin- halt geboten werden. Eine Urwaldkonvention kam bis- derung der Armut einsetzen, Wälder in eine nachhaltige lang nicht zustande. Entwicklung integrieren und lokal und global bedeut- same Wälder schützen. Das ist, wie ich meine, ein richti- Welches sind die Triebfedern für Waldzerstörung ger Ansatz. und Raubbau? Übergreifend sind hier Strukturschwä- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. April 2004 9297

Cornelia Behm (A) che und die weltwirtschaftlichen Rahmenbedingungen So sinnvoll der Ansatz ist, gesetzwidriges Handeln (C) – anders ausgedrückt: Unterentwicklung – zu nennen. So durch Sanktionen zurückzudrängen, so muss ich noch gehen mangelhafte oder fehlende Umwelt- und Sozial- einmal darauf hinweisen: Dieser Ansatz ist nur ein Teil standards eine unheilige Allianz mit Brandrodung, forst- der Lösung. licher Übernutzung, Anlagen von Plantagenwäldern und (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN dem Handel mit Holz aus illegalem Einschlag ein. Etwa sowie bei Abgeordneten der SPD) zwei Drittel der Urwälder befinden sich in wirtschaftlich schwachen Ländern, also in Ländern, in denen Korrup- Die Ursachen für den Raubbau an Urwäldern kann eine tion an der Tagesordnung ist und deshalb dem Kriminali- Sanktionierung des Handels mit Holz aus illegalem Ein- tätsdruck auf die Nutzung der Wälder wenig Widerstand schlag nicht beseitigen. Dennoch freue ich mich, dass entgegengesetzt wird. Angesichts dessen verwundert es die CDU/CSU-Fraktion den vorliegenden Antrag zur nicht, dass circa 10 Prozent des weltweit gehandelten Sanktionierung des Handels mit Holz aus illegalem Ein- Holzes aus illegalem Einschlag stammen. schlag eingebracht hat. Er offenbart, dass wir in diesem Punkt einig sind. Um das Übel an der Wurzel zu packen, müssen die ursächlichen Verhältnisse verändert werden. Deutsch- Unser Wunsch wäre es, dass wir im Laufe der parla- land leistet hier durchaus seinen Teil, zum Beispiel mentarischen Beratungen zu einem fraktionsübergrei- durch gezielte Entwicklungshilfe und internationale Ab- fenden Konsens kommen, um einen gemeinsamen Be- kommen. Für grundsätzliche Veränderungen müssen schluss zum Urwaldschutz zu fassen. aber viele Akteure ins Boot geholt werden. Trotzdem (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN dürfen wir als bedeutendes Holzabsatzland nicht mit und bei der SPD) Verweis auf internationale Abkommen und die Verant- wortung der Erzeugerländer unseren Beitrag zum Ur- waldschutz verweigern. Da der illegale Holzeinschlag Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: zu den Hauptursachen der Waldzerstörung gehört, bedarf Das Wort hat nun der Kollege Reinhold Hemker, es tatsächlich wirksamer Instrumente sowohl gegen ille- SPD-Fraktion. galen Holzeinschlag als auch gegen den Handel mit Holz aus illegalem Holzeinschlag. Mit den von Greenpeace Reinhold Hemker (SPD): vorgeschlagenen Sanktionen gegen den wissentlichen Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Handel mit Holz aus illegalem Holzeinschlag könnten Kollege Caesar, herzlichen Dank, dass Sie, offensicht- die schwarzen Schafe unter den Unternehmen des Holz- lich ein Freund nicht nur des Waldes in Deutschland, in handels und der Holzverarbeitung zurückgedrängt wer- Ostwestfalen, sondern auf der ganzen Erde, sich wieder (B) den. Insofern kann ein Urwaldschutzgesetz mit entspre- so eingebracht haben. Ich habe nachgeschaut: Seit Sie (D) chenden Sanktionen durchaus zielführend sein. im Deutschen Bundestag sind, haben Sie eine Reihe von Mein Fazit lautet: Wir müssen das eine tun und dürfen Aktivitäten entfaltet, die Ihnen eigentlich zu dem Ehren- das andere nicht lassen. Das bedeutet auch, die Maßnah- namen „amicus silvae“, Freund des Waldes, verhelfen men umzusetzen, die die Bundesregierung im Gesamt- müssten. waldbericht vorschlägt. Dazu gehören die Verstärkung (Beifall bei Abgeordneten der SPD, des der Forschung, die Unterstützung der Kennzeichnung BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der von Tropenholz aus nachhaltiger Nutzung und die For- FDP) cierung waldrelevanter Vorhaben bei der Entwicklungs- zusammenarbeit Deutschlands, der EU und der Verein- Ich freue mich schon auf das, was Sie zu unserer Diskus- ten Nationen. sion im Ausschuss beitragen. Meine sehr verehrten Damen und Herren von der Op- Sie haben auch aufgezeigt, dass der Ansatz im Forde- position, an dieser Stelle komme ich wieder auf ein viel rungskatalog des Unionsantrages eigentlich zu kurz strapaziertes Thema zu sprechen. Um Sanktionen zu ent- greift. Sie haben Dinge vorgetragen, die den ordnungs- gehen, werden Handel, Industrie und Verbraucher künf- rechtlichen Rahmen dieses Forderungskataloges weit tig verstärkt zertifiziertes Holz nachfragen; denn ein an- übersteigen. Das ist gut so. Insbesondere Cornelia spruchsvolles forstwirtschaftliches Zertifikat ist die Behm, meine liebe Kollegin von den Grünen, hat eben beste Gewähr für eine legale Holzwirtschaft. Wirksame darauf hingewiesen, dass wir in den Diskussionen im Maßnahmen gegen den Handel mit Holz aus illegalem Ausschuss ein Stück weiterkommen müssen. Die Grund- Einschlag haben also einen doppelten Effekt: Sie tragen lage für das, worüber wir heute Abend sprechen, ist der zum Schutz von Urwäldern bei und verbessern die Ver- Gesamtwaldbericht 2001. marktungsbedingungen für nachhaltig erzeugtes und ein- Wenn ich richtig gezählt habe, hat es danach insge- heimisches Holz. samt sieben Initiativen aus diesem Parlament gegeben – Kleine Anfragen, zum Beispiel von der Union; eine (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Große Anfrage der Union; zuletzt hat die FDP dankens- und bei der SPD) werterweise eine Kleine Anfrage gestellt –, die immer Aus diesem Grund prüft die Bundesregierung, welche darauf abzielten, zu fragen, wie sich die Bundesregie- der von Greenpeace vorgeschlagenen Maßnahmen sinn- rung an weltweiten Initiativen beteiligt, Stichworte: Ent- voll und umsetzbar sind. Dabei ist klar: Die Regelungen wicklungsoptionen, globale Umweltfazilität und vieles müssen so unbürokratisch wie möglich sein. mehr. Es ging auch um die Option – ich sehe gerade 9298 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. April 2004

Reinhold Hemker (A) meinen alten Kollegen aus dem Nord- Ich finde es gut, dass Sie heute einen Einstieg gefun- (C) rhein-Westfalen –, soziale und ökologische Standards für den haben. Liebe Kollegin von der FDP, ich unterstütze den Bereich der WTO-Verhandlungen zu berücksichti- die Bewertung der Bundesregierung in der Antwort auf gen. Mit all dem sind Forderungen verbunden, die wir die Kleine Anfrage, die Sie Anfang dieses Monats ge- seit der Rio-Konferenz 1992 bis zur Rio-Nachfolgekon- stellt haben. Ich fand es übrigens gut, Herr Staatssekre- ferenz erhoben haben. tär, dass die Bundesregierung in so kurzer Zeit geant- wortet hat; das trägt die Unterschrift des beamteten Wenn man das, liebe Kolleginnen und Kollegen und Staatssekretärs. insbesondere lieber Kollege Caesar, ernst nimmt, dann heißt das, dass wir im Ausschuss noch einmal deutlich Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: machen müssen: Wichtig ist, jetzt nicht nur ein bisschen Ein ausführliches Lob der Bundesregierung ist jetzt zu zählen. Die Bundesregierung hat 2001 auf eine allerdings nicht mehr möglich, weil die Redezeit das Anfrage geantwortet: Im Haushalt 2002 stehen nicht mehr hergibt. 125 Millionen Euro zur Verfügung. Heute beteiligt sich die Bundesregierung an den entsprechenden Program- men, etwa an denen von UNDP und von UNEP. Es gibt Reinhold Hemker (SPD): übrigens Dankesschreiben des Kollegen Töpfer, mit de- Ich sage nur noch einen letzten Satz. – Bisher – so die nen er zum Ausdruck bringt, dass wir in der globalen Bewertung – konnte in der Staatengemeinschaft jedoch Strukturpolitik mittlerweile ein Stück weitergekommen kein Konsens über ein Rechtsinstrument für Wälder er- sind und Naturschutz sowie biologische Vielfalt ernster zielt werden; daneben muss, vor allem in den Ländern nehmen als noch vor einigen Jahren. der Tropen, weiter an der Beseitigung der Ursachen von Waldvernichtung angesetzt werden. Ich nenne zum Bei- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ spiel: ländliche Armut, politische Instabilität, volkswirt- DIE GRÜNEN) schaftliche Unterentwicklung und mangelnde Beteili- gung der lokalen Bevölkerung. Darüber werden wir im Ich sage Ihnen schon heute – das werden wir im Aus- Ausschuss diskutieren. schuss noch diskutieren –: Es wird nicht möglich sein – darüber müssen wir uns im Klaren sein; Sie können Herzlichen Dank. mit dem Kollegen Schauerte einmal über die Frage des (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE Ordnungsrechts sprechen; wir haben das auch damals in GRÜNEN und der FDP) der Kommission getan –, überall solche Kontrollmecha- nismen überhaupt in Gang zu setzen, selbst dann nicht, Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: (B) wenn sich alle WTO-Mitgliedstaaten darauf einigen, (D) dass solche Kontrollen und auch solche Sanktionen Ich schließe die Aussprache. durchgesetzt werden müssen. Das ist der Punkt. Ich bin Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf zwar dafür; aber ich bin mittlerweile schon allzu lange Drucksache 15/2747 an die in der Tagesordnung aufge- im Parlament und weiß, wie die Realität weltweit ist. führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Dazu stelle ich Einvernehmen fest. Dann ist die Überweisung so be- Es ist wichtig, dass wir uns in den Ausschüssen schlossen. – Ausschuss für Verbraucherschutz, Landwirtschaft und Ernährung, Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Re- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf: aktorsicherheit und insbesondere im Ausschuss für wirt- Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD, schaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung – darauf der CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE einigen, welche Förderfähigkeit möglich ist und welche GRÜNEN und der FDP Programme sowohl multilateral als auch bilateral einge- setzt werden müssen. Wenn das geschieht, dann ist es Rating-Agenturen: Integrität, Unabhängig- auch in diesem Rahmen möglich, darüber zu reden, wie keit und Transparenz durch einen Verhaltens- etwa solche Kontrollbehörden wie die, in der Sie, Herr kodex verbessern Caesar, in Ostwestfalen einmal gearbeitet haben, auch in – Drucksache 15/2815 – Entwicklungsländern eingerichtet werden können. In den meisten Ländern, aus denen über Raubbau und an- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung war hier- dere Formen der Illegalität Holz zu uns exportiert wird, für eine halbe Stunde vorgesehen. Das wäre sicherlich kann eine entsprechende Kontrolle gar nicht durchge- auch so beschlossen worden, hat sich aber dadurch erle- führt werden. digt, dass die Kollegen Reinhard Schultz, Stefan Müller, Hubert Ulrich und Carl-Ludwig Thiele ihre Reden zu Hinzu kommt Folgendes – das zu sagen ist ganz Protokoll geben.1) wichtig –: Es sind ja nicht die armen Waldbauern oder Holzfäller, die für kurze Zeit beschäftigt werden, die den Damit kommen wir gleich zur Abstimmung über den Preis von 30 Euro, der hier erwähnt worden ist, ermögli- Antrag aller Fraktionen auf der Drucksache 15/2815. chen, sondern es sind diejenigen, die dafür sorgen, dass Wer stimmt für diesen Antrag? – Stimmt jemand dage- zu Dumpingpreisen eingekaufte Hölzer dann hier ver- gen oder möchte sich jemand der Stimme enthalten? – marktet werden. Dieser Zusammenhang muss auch im Ausschuss deutlich gemacht werden. 1) Anlage 3 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. April 2004 9299

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert (A) Das ist nicht der Fall. Dann ist der Antrag einstimmig unter Beachtung des Prinzips der Verhältnismäßigkeit (C) angenommen. zu rechtfertigen sind. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf: (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und dem Beratung des Antrags der Abgeordneten Ernst BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Burgbacher, Gisela Piltz, Sabine Leutheusser- Dabei kommt dem Datenschutz ganz besondere Bedeu- Schnarrenberger, weiterer Abgeordneter und der tung zu. Fraktion der FDP (Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Passagierdatensammlungen und Datenschutz- Immer!) rechte – EU-Abkommen mit den Vereinigten Staaten von Amerika Die Haltung der Bundesregierung in diesem Punkt verwundert mich sehr. Einerseits erklärt sie in einer Ant- – Drucksache 15/2761 – wort auf eine Kleine Anfrage der FDP wörtlich: Überweisungsvorschlag: Innenausschuss (f) Im Hinblick auf den Datenschutz schließt sich die Auswärtiger Ausschuss Bundesregierung der Bewertung durch die Europäi- Rechtsausschuss sche Kommission an. Die Europäische Kommis- Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Tourismus sion hatte im Juni 2002 zum Online-Zugriff auf PNR-Daten festgestellt, dass die entsprechende Auch hierzu gibt es eine interfraktionelle Vereinba- Verpflichtung der Fluggesellschaften mit den in- rung über eine halbstündige Debatte. – Auch dazu stelle folge der EG-Datenschutzrichtlinie 96/46/EG erlas- ich Einvernehmen fest. senen Datenschutzgesetzen der EU-Mitgliedstaa- Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst ten im Widerspruch stehen kann. der Kollege Ernst Burgbacher für die FDP-Fraktion. (Beifall bei der FDP)

Ernst Burgbacher (FDP): Andererseits erklärt jetzt offenbar Bundesinnenminister Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Schily, es sei alles mit dem Datenschutz vereinbar. Er Gestern hat sich das Europäische Parlament gegen das geht in die USA und nach Brüssel und sagt, die Bundes- von der EU-Kommission mit den USA ausgehandelte republik werde selbstständig mitmachen. Liebe Kolle- Übereinkommen zur Übermittlung von privaten Flug- ginnen und Kollegen, hier ist ein Bruch, den wir so nicht gastdaten ausgesprochen. Die liberalen Kollegen im mittragen. (B) Europaparlament haben eine Klage vor dem Europäi- (Beifall bei der FDP – Hans-Christian Ströbele (D) schen Gerichtshof für den Fall angekündigt, dass die [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Auch ein Mi- EU-Kommission die Zahl der an die USA übermittelten nister kann irren!) Daten nicht einschränkt. Die Brüsseler Art.-29-Datenschutzgruppe hat große Worum geht es? Seit März 2003 verlangen die USA Bedenken angemeldet. Wir haben das im Innenaus- von europäischen Luftfahrtgesellschaften, die in die schuss vom Bundesdatenschutzbeauftragten Schaar noch USA fliegen oder dort einen Zwischenstopp einlegen, ei- einmal bestätigt bekommen. Herr Schaar hat im Innen- nen Online-Zugriff auf den so genannten Passenger ausschuss dezidiert darauf hingewiesen, welche Beden- Name Record. ken er hat und dass er nicht bereit ist, dieses Vorgehen zu (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE unterstützen. Auch das musste uns nachdenklich ma- GRÜNEN]: Unerhört!) chen. Dieser Record speichert eine Fülle von Informationen: (Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/ Name, Reiseverlauf, Art der Bezahlung, Kreditkarten- DIE GRÜNEN) nummer, ausgewählter Platz bis hin zu Essenswünschen. Insgesamt handelt es sich um 34 Datenelemente, auf die Wir teilen die Vorbehalte der Art.-29-Gruppe. Des- dem US Bureau of Customs and Border Protection Zu- halb haben wir diesen Antrag eingebracht. Als einzige griff gewährt werden muss. Fluggesellschaften, die dies Fraktion haben wir einen Antrag eingebracht. Wir leh- ablehnen, müssen mit hohen Geldstrafen oder dem Ent- nen eine Zustimmung zu einem einfachen internationa- zug der Landerechte rechnen. len Abkommen, einem so genannten Light International Agreement, wie die EU-Kommission es will, strikt ab. Gemeinsame Anstrengungen für die Sicherheit sind Wir setzen uns stattdessen für den Abschluss eines inter- vor dem Hintergrund der furchtbaren terroristischen An- nationalen Übereinkommens der EU mit den USA ein. griffe selbstverständlich. Auch wir wissen natürlich, dass zu diesen gemeinsamen Anstrengungen zur Erhö- (Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE hung der Sicherheit die Übermittlung von Daten gehört GRÜNEN]: Völkerrechtlich verbindlich!) – darum geht es in dieser Debatte überhaupt nicht; das Ein solches Übereinkommen muss dann übrigens auf ist, denke ich, völlig unstrittig –, um potenzielle Täter Gegenseitigkeit beruhen. frühzeitig finden zu können. Allerdings sind wir als FDP-Bundestagsfraktion der Überzeugung, dass staatli- (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und dem che Zugriffe auf persönliche, schutzbedürftige Daten nur BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) 9300 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. April 2004

Ernst Burgbacher (A) Es kann nicht sein, dass die USA Daten von uns wollen, bezogenen Daten durch Fluggesellschaften bei Transat- (C) wir aber keine Daten von den USA bekommen. lantikflügen. Ich nenne einige Eckpunkte: Wenn man Ihren Antrag liest, dann muss man sich schon fragen, warum die FDP den Teufel an die Wand Es geht um die Zweckbindung der Datenübermitt- malt. Sie befürchtet nämlich, dass Millionen von Flug- lung. Natürlich dürfen Daten nur zur Bekämpfung terro- gästen „in die Gefahr allgemeiner Überwachung und ristischer Straftaten übermittelt werden. Kontrolle durch ein Drittland“ geraten. Sie wollen aus Es geht um den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. dem europäischen Abseits heraus und an den Tisch der Die Liste der zu übermittelnden Daten darf nicht über Europaparlamentarier. das Notwendige hinausgehen. (Ernst Burgbacher [FDP]: Überhaupt nicht! – Ein Punkt ist von besonderer Bedeutung. Die USA Sabine Leutheusser-Schnarrenberger [FDP]: fordern das so genannte Pull-Verfahren, das heißt, die Die Zeit läuft einfach ab!) USA wollen online auf unsere Datensätze zugreifen. Wir Dazu ist Ihnen jedes Mittel recht. Deswegen bringen Sie sagen, das kann nicht sein. Das Pull-Verfahren muss einen solchen Antrag ein. Dieses Spiel mache ich nicht durch das Push-Verfahren ersetzt werden, das heißt, es mit. Ich will mich nicht von Science-Fiction-Autoren der muss in unserer Entscheidung liegen, welche Daten FDP, sondern von der Realität leiten lassen. übermittelt werden. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Nach dem 11. September 2001, dem Terroranschlag auf das World-Trade-Center, tun die USA alles zum Lassen Sie mich auf einen weiteren Punkt hinweisen. Schutz ihres Landes und ihrer Bevölkerung. Nicht alles Es ist völlig ungeklärt, wer eigentlich bei fehlerhaften stößt in Europa und in Deutschland auf Zustimmung. Es Eingaben haftbar gemacht werden soll. Was passiert ist aber nur zu gut verständlich, dass die Amerikaner die denn, wenn im Reisebüro eine fehlerhafte Eingabe er- Gefahr, die von Flugzeugen oder durch Flugzeuge aus- folgt? Wer soll dafür haftbar gemacht werden? Wir wol- gehen kann, als besonders gravierend einschätzen und len klarstellen, dass bei Fahrlässigkeit kein Haftbarkeits- eine entsprechende Verschärfung der Kontrollen ihrer grund vorliegt. Auch ohne diese Regelung können wir Grenzen und der Einreisewilligen ergriffen haben. nicht zustimmen. Gleich im November 2001 haben die Vereinigten Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich komme zum Staaten die Vorschrift erlassen, dass Fluggesellschaften, Schluss. Ich halte diesen Antrag für unabdingbar, weil die Flüge nach, von oder durch die USA durchführen, wir nicht mittragen können, dass der deutsche Innenmi- den amerikanischen Zoll- und Grenzbehörden Zugang (B) nister unter Missachtung jeglicher Persönlichkeitsrechte zu Fluggastdatensätzen zu gewähren haben. Diese legiti- (D) und jeglichen Datenschutzes nach Brüssel und Washing- men Sicherheitsinteressen dienen der Verbesserung der ton geht und die Zustimmung Deutschlands signalisiert. Flugsicherheit und des Grenzschutzes und sollen Terro- Wir werden dem nur zustimmen, wenn die Datenschutz- rismusverdächtige identifizieren, bevor sie in die USA rechte wirklich gewahrt bleiben. Wir wollen ein sauberes einreisen können. Im Gegensatz zu Deutschland ist der Abkommen; einem solchen werden wir selbstverständ- Schutz der Privatsphäre in den USA kein Grundrecht, lich nicht im Wege stehen. sondern lediglich als Verfassungszusatz erwähnt. Ich freue mich auf die Diskussion, aber vor allem auf (Ernst Burgbacher [FDP]: Aber bei uns!) die Zustimmung zu unserem Antrag, die mir eigentlich von verschiedenen Seiten signalisiert worden ist. Der Datenschutz in den USA steht in einem völlig ande- ren Rechtsgefüge. Herzlichen Dank. Die FDP erwartet – das kann man dem Antrag ent- (Beifall bei der FDP) nehmen –, dass die USA voll und ganz die deutschen und europäischen Rechtsvorschriften über den Schutz Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: personenbezogener Daten übernehmen. Kann man das Nächster Redner ist der Kollege Frank Hofmann, realistischerweise von einem anderen autonomen Staat SPD-Fraktion. erwarten? (Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE Auf der Grundlage dieser völlig anderen Konzeption GRÜNEN]: Jetzt bin ich mal gespannt! – von Datenschutz hatte die US-Regierung Anforderungen Beatrix Philipp [CDU/CSU]: Ich nicht!) an die Daten gestellt, die dem europäischen Standard, wie er in der europäischen Datenschutzrichtlinie zum Ausdruck kommt, nicht standhalten. Weder kann man Frank Hofmann (Volkach) (SPD): erwarten, dass die US-Regierung den europäischen Stan- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe dard zu ihrem eigenen macht, noch kann man erwarten, Kolleginnen und Kollegen! Herr Burgbacher, Sie freuen dass sich die europäischen Staaten mit dem US-Standard sich in meinem Fall ein bisschen zu früh auf die Zustim- zufrieden geben. mung zu Ihrem Antrag. – Seit einiger Zeit beschäftigen sich die Fluggesellschaften, die EU-Kommission, das Die EU-Kommission und die USA haben sich be- Parlament, die Datenschutzbeauftragten und die Öffent- müht, bei der Lösung des Problems im Zusammenhang lichkeit mit dem Problem der Weitergabe von personen- mit der Übermittlung von PNR-Daten die Rechtsvor- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. April 2004 9301

Frank Hofmann (Volkach) (A) schriften beider Seiten zu respektieren. Hierbei ist es aus ständnis der CDU/CSU-Bundestagsfraktion für die Da- (C) meiner Sicht der Kommission gelungen, von den USA tenschützer der 29er-Gruppe nicht immer besonders Zusagen zu erhalten, die den europäischen Daten- groß ist. Es ist dort ja, glaube ich, in federführender schutzvorstellungen nahe kommen. Die Grundzüge un- Funktion der neue Datenschutzbeauftragte, der Herr seres Datenschutzrechts spiegeln sich in dieser Ver- Schaar, tätig, den Sie, die FDP und die Koalitionsfraktio- pflichtungserklärung wider. Sie wird zwar nicht eins zu nen, gewählt haben. Wir konnten uns nicht darauf ver- eins umgesetzt, aber zu erheblich mehr als 50 Prozent er- ständigen. Wenn man die Berichte nachliest und an sei- füllt. nen gestrigen Auftritt im Innenausschuss denkt, So wurde der Umfang der Datensätze begrenzt. Die (Ernst Burgbacher [FDP]: Der gut war!) Speicherdauer wurde drastisch verkürzt. Die Zweckbin- hat das unsere Meinung eher bestätigt, als uns verunsi- dung der Passagierdaten, die auch Sie angesprochen ha- chert. ben, wurde erreicht für die Übermittlung, Verwendung und Weiterübermittlung. Die Zoll- und Grenzbehörden Herr Hofmann hat sehr ausführlich darauf hingewie- werden die Reisenden über den Zweck der Datenüber- sen, worum es eigentlich geht; deswegen kann ich mich mittlung und Datenverarbeitung informieren. kurz fassen. Es handelt sich dabei – und es ist bedauer- lich, dass durch Ihren Antrag eher Verunsicherung in die Mittlerweile haben alle – ich betone: alle – EU-Mit- Bevölkerung getragen wird, als dass zur Beruhigung bei- gliedstaaten dem Vorschlag der Kommission zuge- getragen wird – um die üblichen, völlig normalen Anga- stimmt. Währenddessen wird in dem FDP-Antrag davon ben, die für die Buchung eines Tickets erforderlich sind. ausgegangen, dass verschiedene europäische Staaten Ich habe mir einmal die Mühe gemacht, mir diese ge- – Sie nennen aber nur Frankreich; andere Staaten werden nauer anzuschauen; ich nehme an, auch andere haben nicht aufgeführt – erklärt hätten, sie könnten dem Ab- das getan. Hier stehen also das Datum der Reservierung, kommen nicht zustimmen. Es haben aber alle zuge- die geplanten Abflugdaten, der Name des Flugpassa- stimmt. giers, die Anschrift usw. Ich habe damit keine Probleme. Das Engagement des Europäischen Parlaments hat si- Diese Daten muss ich auch jetzt angeben, wenn ich flie- cherlich dazu beigetragen, die Position der Europäischen gen will. Kommission zu stärken und die Rechte der europäischen (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE Bürgerinnen und Bürger auch in den USA zu berück- GRÜNEN]: Ist die Kreditkartennummer auch sichtigen. Die USA und Europa bewegen sich aufeinan- dabei?) der zu: bei der internationalen Terrorismusbekämpfung und beim Datenschutz. Ich finde, das ist ein gutes Zei- Das ist allgemein so. Ich glaube, das gilt auch für uns, (B) chen. auch im Bundestag. Wenn Sie fliegen wollen, müssen (D) Sie wohl sagen, wer Sie sind. Nicht mehr und nicht we- Danke. niger als die ganz normalen Daten müssen angegeben (Beifall bei der SPD) werden. Übrigens ist mir das Redepult hier viel zu hoch. Ich Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: weiß nicht, wie man es hinunterfahren kann. Das ist die Ich bedanke mich für die seltene Unterschreitung der Technik. – Jetzt funktioniert es. angemeldeten Redezeit und erteile mit diesem leuchten- den Vorbild vor Augen nun der Kollegin Beatrix Philipp Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: von der CDU/CSU-Fraktion das Wort. Es gab bis vorhin einen Knopf, mit dem man das sel- (Beifall bei der CDU/CSU) ber machen konnte. Wenn der Vorredner diesen nicht be- seitigt hat, müsste das nach wie vor möglich sein. Beatrix Philipp (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich weiß Beatrix Philipp (CDU/CSU): nicht genau, ob ich dem Vorbild des Herrn Hofmann ge- Ich will jetzt aber nicht suchen. recht werde. Ich gebe zu: In vielen Passagen hat er Ich will jetzt nicht weiter albern sein; denn es geht ja Recht. um ein ernstes Thema. Die Übermittlung von Flug- Herr Burgbacher, als ich Ihren Antrag gelesen habe, gastdaten an die USA ist ein Thema, das die Bürger, die habe ich ein Déjà-vu-Erlebnis gehabt. Wenn man die Luftfahrtgesellschaften und auch die Tourismuswirt- Seite 16 in der Stellungnahme 2/2004 der Art.-29-Daten- schaft sehr beschäftigt. schutzgruppe genau nachliest, findet man, um es vor- (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE sichtig auszudrücken, tatsächlich mehr als nur Anregun- GRÜNEN]: So ist es! Zu Recht!) gen für Ihren Antrag. Nur, Herr Burgbacher, diese sind zum Teil überholt. Darauf hat Herr Hofmann bereits hin- Dabei geht es im Wesentlichen um eine unzureichende gewiesen. Information der Fluggäste; das ist richtig. Ebenso gab es Rechtsunsicherheit; auch das ist richtig. Nun will ich nicht behaupten, dass der vorliegende Antrag deswegen ein typischer FDP-Antrag ist. Aber er Wir haben daher eine sehr ausführliche Anfrage ge- ist eben, um es vorsichtig auszudrücken, etwas unver- stellt. Ich muss ganz ehrlich sagen: Mit großem Erstau- ständlich. Ich führe das darauf zurück, dass das Ver- nen haben wir zur Kenntnis genommen, dass die 9302 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. April 2004

Beatrix Philipp (A) Bundesregierung bzw. das Innenministerium ausgespro- (Beifall bei der CDU/CSU – Thomas Strobl (C) chen exakt und ausgesprochen ausführlich gearbeitet [Heilbronn] [CDU/CSU]: Gott sei Dank!) hat. Sechstens. Auch die Beschwerdemöglichkeit halte (Hans-Peter Kemper [SPD]: Das ist immer ich für wichtig. Für die Verhältnisse Amerikas, wo man, so!) wie auch Herr Hofmann gesagt hat, mit Daten völlig an- ders umgeht als bei uns, ist die vorgesehene Möglichkeit, – Nein, das ist eben nicht immer so! Wenn alle Anfragen dass sich die Passagiere durch ihren nationalen Daten- in dieser Qualität beantwortet würden, dann würde das schützer oder direkt bei den Zoll- und Grenzschutzbehör- unsere parlamentarische Arbeit sehr erleichtern. Davon den beschweren, nicht selbstverständlich. kann normalerweise keine Rede sein. Siebtens. Die jährliche gemeinsame Überprüfung (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- der Umsetzung dieser Verpflichtung in den USA durch neten der FDP) ein EU-Team ist ebenfalls verankert. Unter der Leitung von Herrn Bolkestein sind, wie Meine Damen und Herren, gegen diesen Kompromiss man in der Antwort nachlesen kann – das empfehle ich kann man eigentlich nichts haben. Hinzu kommt, dass jedem –, sehr intensive und, wie ich glaube, schwierige die Amerikaner nach den Ereignissen des 11. September Verhandlungen geführt worden. Basis war, wie eben ein erhöhtes Sicherheitsbedürfnis haben. Sie haben viel schon erwähnt wurde, die Entschließung des Europäi- mehr, als im normalen Umgang miteinander üblich, da- schen Parlaments vom 9. Oktober 2003. Es ist, wie ich für gesorgt, dass sie wissen, wer ihr Land betritt. Dafür finde, ein vernünftiger Kompromiss gefunden worden. habe ich volles Verständnis. Ich würde mir an mancher Das hat auch die Bundesregierung so gesehen und hat Stelle wünschen, dass auch wir in Deutschland Wege deswegen, wie ich nach eigenem Bekunden feststellen und Möglichkeiten fänden, unsere Außengrenzen siche- konnte, am 27. Februar zugestimmt. rer zu machen und Einreisen effektiver zu kontrollieren. Dieser ausgehandelte Kompromiss basiert auf einer Aber das ist wirklich ein anderes Thema. Verpflichtungserklärung des Heimatschutzministeriums (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) der USA und dessen Zoll- und Grenzschutzbehörde, die für die Datenerhebung auf amerikanischer Seite ver- antwortlich ist. Die wesentlichen Punkte dieser Ver- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: pflichtung sind – ich mache es kurz – erstens die aus- Frau Kollegin Philipp, ich will Sie weder stören drückliche Zweckbindung der Datenübermittlung und noch erschrecken. Aber die Kollegin Leutheusser- -verwendung für die Bekämpfung des Terrorismus, von Schnarrenberger würde Ihnen gerne eine Zwischenfrage (B) Zusammenhangsstraftaten und schwerer länderübergrei- stellen. (D) fender Straftaten. Dagegen kann man eigentlich nichts haben. (Ute Kumpf [SPD]: Frau Kollegin, so spät noch so neugierig? Muss das sein?) Zweitens. Die Speicherfristen wurden auf drei Jahre und sechs Monate verkürzt. Das ist erheblich weniger, Beatrix Philipp (CDU/CSU): als die USA ursprünglich beabsichtigten. Bitte. (Ernst Burgbacher [FDP]: Aber immer noch lange!) Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP): Drittens. Eine umfassende Information der Reisen- Es wird nicht auf Ihre Redezeit angerechnet. den durch die US-Behörden ist vorgesehen. Auch das (Manfred Grund [CDU/CSU]: Das ist ja das war nicht selbstverständlich, entspricht aber unseren An- Schlimme!) forderungen an einen modernen Datenschutz. Viertens. Die US-Behörden haben Auskunfts- und Beatrix Philipp (CDU/CSU): Berichtigungsansprüche der Passagiere ausdrücklich Ich bin ganz ruhig. anerkannt. Auch dies ist keine Selbstverständlichkeit. Fünftens. Die sofortige Löschung so genannter sen- Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP): sibler Daten ist zugesagt worden. Das ist eine Vorsichts- Ich habe auch nur eine ganz kurze Frage. Frau maßnahme, weil man der Möglichkeit vorbeugen will, Philipp, wie bewerten Sie die Entscheidung des Europäi- dass durch freiwillige Angaben – – schen Parlaments von gestern? Ich meine nicht den Be- (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE schluss vom letzten Jahr. Gestern hat das Europäische GRÜNEN]: Sie glauben doch sonst nicht alles, Parlament mit Mehrheit beschlossen, dass die Vorausset- was man Ihnen zusagt!) zungen für die Angemessenheitsfeststellung, die der erste Schritt in diesem Verfahren ist, nicht gegeben – Wenn es von Ihnen kommt, schon gar nicht. Aber mit seien. Ich denke, das ist eine Aufforderung an uns, dass den USA habe ich bisher keine schlechten Erfahrungen wir uns nicht nur damit befassen, sondern auch neu über- machen müssen. Deswegen bin ich da optimistisch. Ich legen, inwiefern den Bedenken, die dort mehrheitlich habe vielleicht auch ein anderes Amerikabild als Sie. zum Ausdruck gekommen sind, entsprochen werden Das kann sein. kann. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. April 2004 9303

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (A) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Die wichtigste Rolle spielen in diesem grenzüber- (C) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) schreitenden Konflikt ohnehin die Passagiere selbst. Sie müssen letztlich entscheiden, ob ihnen Beatrix Philipp (CDU/CSU): der Flug in die USA wichtiger ist als die Preisgabe Frau Leutheusser-Schnarrenberger, auch bei uns gibt von Daten – in der Regel sind das im Fluggeschäft es Leute, die Bedenken haben. Das bestreite ich über- nicht mehr als ein Dutzend. haupt nicht. Das ist übrigens in diesem Hause etwas Das ist von heute, also ganz aktuell. Übrigens ist der Ar- ganz Normales. Aber ich teile diese Bedenken nicht. tikel ausgesprochen lesenswert. Wir reden heute zum ersten Mal darüber. Wir werden Meine Damen und Herren, ich habe auf das akute uns mit diesen Bedenken auseinander setzen. Das ist ein amerikanische Sicherheitsbedürfnis bereits hingewiesen. ganz normaler Vorgang, den ich schon lange gelernt Ich denke, es ist richtig, wenn wir die Initiative der habe. Ich werde das auch hier anwenden. Kommission begrüßen, einen weltweiten Standard für (Ernst Burgbacher [FDP]: Das haben Sie aber die Fluggastdatenübermittlung zu schaffen. Diese Initia- bisher nicht gemacht! – Sabine Leutheusser- tive liegt im Augenblick bei der ICAO. Einheitliche Da- Schnarrenberger [FDP]: Die Mehrheit des Par- tenschutzstandards sind sicherlich ein Schritt in die rich- laments interessiert nicht! Das ist interessant!) tige Richtung. Wir müssen noch einmal darauf hinweisen, dass die Nun warten aber die Terrorgefahren – auch das ist je- Amerikaner sich in einem ungewöhnlich hohen Maße dem bekannt – nicht bis zum Abschluss weltweiter Ver- bewegt haben. Bisher haben die Amerikaner die Daten handlungen, sodass der Vorschlag der Kommission, Frau einfach gezogen – nach der so genannten Pull-Methode. Leutheusser-Schnarrenberger, auch vor dem Hintergrund Demnächst wird es an uns liegen, die Daten zu übermit- der zeitnahen Schaffung klarer Datenübertragungsregeln teln. Das war ein für amerikanische Verhältnisse ausge- gesehen werden muss. Wir dürfen das nicht auf die lange sprochen großer Schritt. Wir werden diese Daten filtern Bank schieben. Wenn die FDP, so wörtlich, „seriöse Ga- und selektieren und dann erst versenden. rantien“ seitens der Vereinigten Staaten verlangt, dann habe ich Probleme mit dem Bild, das die FDP von Ame- Herr Burgbacher, auch der Fall, dass in den Reisebü- rika – vielleicht auch nur von der Datenschutzgruppe ros einmal ein Fehler passiert – das haben Sie angespro- nach Art. 29 – hat. Für die Union ist jedenfalls die Ver- chen –, ist geregelt. Die Luftfahrtgesellschaften tragen pflichtungserkärung des US-Heimatschutzministeriums, dafür die Verantwortung. Auch das ist expressis verbis die eine jährliche Überprüfung, und zwar vor Ort durch zum Ausdruck gebracht worden. ein EU-Team – auch das ist sehr ungewöhnlich –, bein- (B) Im Gegensatz zu Ihnen – wenn ich es richtig sehe – haltet, absolut seriös und auch akzeptabel. (D) bin ich sehr optimistisch, dass es eine schnelle Umset- Ich weise auch noch einmal ausdrücklich darauf hin, zung geben wird. Ich denke, dass die Fluggesellschaften dass der Datenschutz kein Selbstzweck ist, der isoliert ein eigenes Interesse daran haben, dass diese neuen Ver- betrachtet werden kann. Es geht, wie es eben schon ge- einbarungen so schnell wie möglich umgesetzt werden. sagt wurde, um eine Verhältnismäßigkeitsabwägung. Nun noch ein paar Bemerkungen zu Ihrem Antrag. Es ist einfach zu respektieren, dass in den USA eine völ- Ich habe schon darauf hingewiesen, dass Sie sich an die lig andere Gewichtung bei der Abwägung zwischen Si- Maximalforderungen der Art.-29-Datenschutzgruppe cherheit und Datenschutz getroffen wird. Wir meinen, – um es vorsichtig auszudrücken – mindestens angelehnt der Kompromiss trägt dem Rechnung. haben. Sie sollten vielleicht noch einmal darüber nach- Schließlich: Wir haben nicht in die Politik – auch denken, wie realistisch die Forderung ist, dass die Bun- nicht in den Datenschutz – der USA einzugreifen oder desregierung eine bereits erteilte Zustimmung von inter- sie zu bewerten. Es war eigentlich schon immer so, dass nationaler Bedeutung zurückziehen soll. Ich wünschte sich die Besucher eines Landes den Gesetzen des Gast- mir, dass viele andere Beschlüsse der Bundesregierung landes unterzuordnen hatten. zurückgenommen würden; das will ich überhaupt nicht verhehlen. Aber eine Zurückziehung dieser Zustimmung Ich wünschte mir, dass zumindest in diesem Punkt Ei- von internationaler Bedeutung zu fordern ist einfach nigkeit in diesem Haus bestünde; ich bin mir allerdings weltfremd. nicht ganz sicher, ob wir diese Einigkeit herstellen kön- nen. Auch die Forderung nach einer vollständigen Ausset- zung der Übermittlung von Fluggastdaten bis zum Ab- Es geht um die Passagierdaten derjenigen, die in die schluss eines internationalen Übereinkommens ist eben- Vereinigten Staaten reisen wollen. Insofern haben sie falls etwas weltfremd. Dann sagen die Amerikaner: auch die entsprechenden Einreisebestimmungen zu ak- Ohne diese Daten kommt ihr hier nicht rein. zeptieren. Wenn die Amerikaner in ihrem Land ein „Su- perdatenerfassungssystem“ wie CAPPS II installieren Die „Süddeutsche Zeitung“ – sie ist nicht gerade un- wollen, dann ist das eine hoheitliche Maßnahme, die sere Hauspostille – sich unserer Bewertung und Beurteilung entzieht. Das gilt natürlich auch dann, wenn ein derartiges System (Ute Kumpf [SPD]: Das ist eine sehr gute nicht unseren Auffassungen entsprechen würde. Insofern Zeitung!) kann sich unsere heutige Debatte nur auf den Umfang schreibt: der auf europäischer Seite rechtmäßig zu erhebenden 9304 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. April 2004

Beatrix Philipp (A) und zu übermittelnden Daten beziehen, nicht aber auf in- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (C) neramerikanische Angelegenheiten. und bei der FDP) Ich habe das Gefühl, dass der Antrag der FDP das lei- Die Anzahl der übermittelten Daten steht in keinem der verkennt. Der Überweisung dieses Antrags an den Verhältnis zum Sicherheitsgewinn. In diesem Punkt sind Innenausschuss stimmen wir selbstverständlich zu. wir nicht auseinander. Wir sind doch alle darin einig, dass die USA ein Interesse daran und auch ein Recht Vielen Dank. darauf haben, Passagierdaten zu erfahren. Aber wenn Sie (Beifall bei der CDU/CSU) sich die Liste, über die verhandelt wurde, anschauen, stellen Sie fest: Die USA forderten, alle 38 Datenele- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: mente zu erfahren. Dann hat man sich auf 34 Datenele- mente geeinigt. Um die entsprechenden Sicherheitsinte- Das Wort hat nun die Kollegin Stokar von Neuforn ressen zu gewährleisten, ist – unter Beachtung des für Bündnis 90/Die Grünen. Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit – die Übermittlung (Beifall des Abg. Volker Beck [Köln] [BÜND- von 19 Datenelementen erforderlich. Die Weitergabe ge- NIS 90/DIE GRÜNEN]) nau dieser 19 Datenelemente hat die EU-Datenschutz- gruppe nach Art. 29 in den Verhandlungen akzeptiert. Hier einen Widerspruch zwischen den Sicherheitsinte- Silke Stokar von Neuforn (BÜNDNIS 90/DIE ressen der USA und ihrer Behinderung durch den Daten- GRÜNEN): schutz herzustellen, das ist der völlig falsche Ansatz. Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist hier schon mehrfach gesagt worden: Das Europäische Parla- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ment hat sich gestern gegen die von der EU-Kommission und bei der FDP) ausgehandelte Weitergabe von Fluggastdaten an die USA ausgesprochen. Ich glaube, das Europäische Parla- Die US-Behörden haben sich in diesen Verhandlun- ment hat es sich mit dieser mehrheitlich gefassten Ent- gen geweigert. Sie haben keinerlei Belege oder Hin- scheidung nicht einfach gemacht. weise vorgelegt, aus denen sich ableiten ließe, inwieweit die Verarbeitung weiter gehender Datenelemente – über (Beifall des Abg. Josef Philip Winkler die genannten 19 Datenelemente hinaus – tatsächlich für [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) die Terrorismusbekämpfung erforderlich ist. Auch wir Das Europäische Parlament fordert die EU-Kommis- haben in all unseren Papieren den Grundsatz definiert, (B) sion auf – ich finde, das ist eine berechtigte Forderung –, dass wir die Maßnahmen, die für die Gewährleistung der (D) erneut in Verhandlungen einzutreten. Ich begrüße diese Sicherheit erforderlich sind, durchführen. Aber wenn Haltung des Europäischen Parlaments ausdrücklich. darüber hinaus Datenmengen gesammelt werden, ohne Ich habe den Anspruch an eine rot-grüne Bundesregie- dass politisch belegt oder begründet wird, worin der da- rung, dass sie diesen Beschluss des Europäischen Parla- raus resultierende Sicherheitsgewinn besteht, und ohne ments als politische Verpflichtung aufnimmt, auch wenn dass Sicherheit bezüglich der Weitergabe dieser Daten er politisch nicht bindend ist. Die Termine sind auch ge- besteht, ist das ein Ansatz, den wir als grüne Fraktion setzt; über dieses Abkommen wird in der EU-Kommis- nicht mittragen können. sion und im EU-Rat erneut geredet werden müssen. Des- wegen ist jetzt genau der richtige Zeitpunkt dafür, dass (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) sich auch der Deutsche Bundestag – wenn auch in klei- ner Besetzung – mit diesem Thema befasst. Ich kritisiere, dass nicht hart genug mit den Vereinig- ten Staaten verhandelt worden ist. Ich denke, dass (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Europa gut daran tut, auch bei der Entwicklung einer bei der SPD und der FDP) europäischen Sicherheitsstrategie – nach Madrid füh- ren wir diese Diskussion ja verstärkt – auf Souveränität In ihrer Bewertung sind die europäischen Abgeordne- und Eigenständigkeit zu achten. Wir als grüne Fraktion ten – genau das ist ihre Aufgabe – zu dem Ergebnis ge- wollen ein sicheres Europa und ein Europa der Bürger- kommen, dass das ausgehandelte Abkommen gegen das rechte. In diesem Sinn kann ich die Bundesregierung nur europäische Gemeinschaftsrecht verstößt und mit den ermutigen, sich für die Aufnahme neuer Verhandlungen EU-Datenschutzbestimmungen nicht vereinbar ist. Hier mit den USA einzusetzen. hat das Parlament seine Kontrollfunktion wahrgenom- men. Die Rechte der EU-Bürgerinnen und -Bürger sind Danke schön. durch dieses Abkommen nicht hinreichend geschützt. EU-Bürger werden wesentlich schlechter gestellt als US- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Bürger. Zum Beispiel haben sie – das erkennt man erst sowie bei Abgeordneten der SPD und bei der anhand der Details der Verpflichtungserklärung – keinen FDP ) Rechtsanspruch darauf, dass falsche Daten korrigiert werden, und kein Auskunftsrecht. Der wichtigste Punkt ist: Sie haben keine Kontrolle mehr darüber, in welcher Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Form ihre Daten weiterverarbeitet und an andere Länder Zum Schluss hat die Parlamentarische Staatssekretä- weitergegeben werden. rin Ute Vogt für die Bundesregierung das Wort. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. April 2004 9305

(A) Ute Vogt, Parl. Staatssekretärin beim Bundesminister ben mit dieser Lösung etwas erreicht, was unserem ge- (C) des Innern: meinsamen Interesse entgegenkommt, die internationale Danke schön, Herr Präsident! Liebe Kolleginnen, Zusammenarbeit bei der Bekämpfung des Terrorismus liebe Kollegen! Sehr geehrter Herr Kollege Burgbacher, zu fördern. der Antrag der FDP-Fraktion beginnt recht hoffnungs- (Beifall des Abg. Manfred Grund [CDU/CSU] voll. In seiner Einleitung heißt es, dass wir den interna- sowie des Abg. Cajus Caesar [CDU/CSU]) tionalen Terrorismus nur gemeinsam in der internationa- len Staatengemeinschaft bekämpfen können und dass ein Das bedeutet, dass wir zusammenwirken müssen, auch gemeinsames Handeln die zwingende Voraussetzung da- bei ganz unterschiedlichen Voraussetzungen: bei unter- für ist. Das findet sicherlich die Zustimmung des ganzen schiedlichen nationalen Gesetzgebungen und einer ande- Hauses. ren Kultur im Umgang mit Daten. Auch sind wir uns darin einig, dass die Bekämpfung Ich glaube, dass Sie mit Ihrem Antrag nicht den Kern des Terrorismus den Schutz unserer Bürgerinnen und Bür- der tatsächlich getroffenen Vereinbarungen treffen und ger voraussetzt, und zwar insbesondere durch eine vor- an manchen Stellen nicht den aktuellen Stand der Ver- beugende Bekämpfung des Terrorismus; denn wir werden einbarungen wiedergegeben haben. nicht in der Lage sein, alle weichen Ziele umfassend zu (Ernst Burgbacher [FDP]: Sagen Sie einmal schützen. Sonst würden wir in der Tat Bürgerrechte wie etwas zum Europäischen Parlament!) die Bewegungsfreiheit einschränken müssen. Insofern geht es darum, vorbeugend eingreifen zu können, von Ich empfehle Ihnen, die tatsächlichen Details einmal vornherein zu verhindern, dass mögliche Attentäter An- nachzulesen. Unsere Antwort auf die Anfrage zu dem schläge planen und insbesondere begehen können. Dazu Thema zeigt, dass wir zu dieser Vereinbarung guten Ge- ist der Austausch von Daten unserer Ansicht nach ein be- wissens stehen können, weil wir nichts zu verbergen ha- deutender Aspekt, nicht nur ein kleiner Teilaspekt. Dabei ben, weil wir große Verhandlungserfolge erreicht haben ist es für uns selbstverständlich, dass es notwendig ist, die und weil wir eine angemessene Lösung durchsetzen Bürgerrechte zu schützen. Der Datenschutz, der zu den konnten, im Übrigen – das ist mindestens genauso be- Bürgerrechten gehört, darf nicht außer Acht bleiben. merkenswert wie die Tatsache, dass wir mit den USA in Wenn wir Bürgerrechte aufkündigen würden, hätten wir diesem wichtigen Punkt einen großen Schritt vorange- dem Terrorismus bereits zu viel Raum gegeben. kommen sind – im Zusammenwirken mit allen anderen EU-Staaten. Aus diesem Grund hat die Bundesregierung die Be- mühungen der Europäischen Kommission, zu verhan- Das alles war zum Nutzen der Bürgerinnen und Bür- deln, unterstützt. Wir haben uns bemüht, das Auskunfts- ger: Deren Schutz ist gewahrt und ihre Bürgerrechte sind (B) verlangen in unserem Sinne zu gestalten und den besser geschützt als nach dem vorherigen Verfahren. (D) datenschutzrechtlichen Anforderungen anders nachzu- kommen, als es nach dem ersten Entwurf der USA der (Beifall bei der SPD – Silke Stokar von Fall gewesen ist. Es ging darum, bei der Gestaltung mit- Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das zumachen. Übrigens ist es entgegen der Vermutung Ihres sehen die Sozialdemokraten im Europäischen Antrags so, dass die ganze Bundesregierung, insbeson- Parlament ganz anders!) dere auch das Justizministerium, unsere Zustimmung in diesem Punkt unterstützt hat. Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Die Kollegin Pau hat eine vorbereitete Rede zu Pro- Unser Datenschutzrecht verlangt für internationale Da- tokoll gegeben1). Damit schließe ich die Aussprache. tenübermittlungen ein angemessenes Datenschutzni- veau, es verlangt keine Gleichwertigkeit. Es wäre eine Stimmen Sie der interfraktionell vorgeschlagenen falsche Vorstellung, wenn wir glaubten, wir könnten mit Überweisung der Vorlage auf Drucksache 15/2761 an den USA die Gleichwertigkeit in Bezug auf den Daten- die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu? – schutz erreichen; dafür haben wir eine zu unterschiedliche Das ist überraschenderweise einvernehmlich der Fall. Kultur im Umgang mit Daten – schon in den europäischen Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ländern, erst recht aber im Vergleich mit den USA. Wir Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf: haben die Aufgabe, unter Berücksichtigung aller Um- stände ein inhaltlich und rechtlich angemessenes Daten- Beratung des Antrags der Abgeordneten Gero schutzniveau zu gewährleisten. Das haben wir erreicht. Storjohann, Dirk Fischer (Hamburg), Eduard Oswald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion Die Kollegin Philipp hat dankenswerterweise schon der CDU/CSU einige der konkreten Verhandlungserfolge aufgezählt. Es ist eben nicht so – Sie haben ausdrücklich darauf hin- Kleinlaster sicherer machen gewiesen –, dass die USA weiterhin auf dem Online-Ab- rufverfahren beharren. Vielmehr hat man zugesichert, – Drucksache 15/2577 – dass sie so schnell wie möglich auf eine aktive Übermitt- Überweisungsvorschlag: lung umstellen wollen. Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f) Innenausschuss Wenn man beklagt, dass die Speicherfrist von 3,5 Jah- Rechtsausschuss ren zu lang sei, muss man sehen, dass vorher 50 Jahre Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit vorgesehen waren. Bei Verhandlungen geht es darum, dass man etwas erreicht. Wir sind der Meinung: Wir ha- 1) Anlage 4 9306 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. April 2004

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert (A) Das ist ein Thema, das sich für diese Nachtzeit Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf (C) vorzüglich geeignet hätte und zu dem auch eine halb- Drucksache 15/2577 an die in der Tagesordnung aufge- stündige Aussprache vorgesehen war. Nun haben sich führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Dazu besteht of- die Kollegen Uwe Beckmeyer, Gero Storjohann, Ursula fenkundig ebenfalls Einvernehmen. Dann ist die Über- Sowa, Horst Friedrich und auch die Parlamentarische weisung so beschlossen. Staatssekretärin Iris Gleicke entschlossen, ihre Reden zu Protokoll zu geben,1) Damit sind wir am Schluss unserer heutigen Tages- ordnung. (Ute Kumpf [SPD]: Wie schade! – Weitere Zurufe von der SPD) Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun- sodass ich, wie die Zwischenrufe zu Recht deutlich ma- destages auf morgen, Freitag, den 2. April 2004, 9 Uhr, chen, mit Bedauern feststellen muss, dass damit die Aus- ein. sprache entfällt. Die Sitzung ist geschlossen.

1) Anlage 5 (Schluss: 22.16 Uhr)

(B) (D) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. April 2004 9307

(A) Anlagen zum Stenografischen Bericht (C) Anlage 1

Liste der entschuldigten Abgeordneten des Agrarausschusses hat deutlich gemacht, dass Län- dervertreter wie Wissenschaftler – unabhängig vom Par- teibuch – für eine zeitliche Verschiebung der Prämienan- entschuldigt bis gleichung plädieren. Gerade Milchproduzenten würden Abgeordnete(r) einschließlich durch Preissenkung und Prämienabschmelzung doppelt getroffen. Das Brandenburger Agrarministerium be- Deittert, Hubert CDU/CSU 01.04.2004* fürchtet – Zitat – „umfangreiche Existenzaufgaben“ von Milchviehbetrieben. Um das zu vermeiden, muss den Hartnagel, Anke SPD 01.04.2004 Betrieben die erforderliche Anpassungszeit im Interesse der künftigen Wettbewerbsfähigkeit und zur Vermeidung Irber, Brunhilde SPD 01.04.2004 der Entwertung von Investitionen und Gesellschafteran- teilen eingeräumt werden. Die heutige Debatte hat ver- Koppelin, Jürgen FDP 01.04.2004 deutlicht, dass der Konflikt zwischen „Besitzstandswah- rung“ und „Beseitigung von Ungerechtigkeit“ nicht mit Laurischk, Sibylle FDP 01.04.2004 der Brechstange lösbar ist. Deshalb hat die PDS in ihrem Europawahlprogramm unter anderem formuliert: Link (Diepholz), Walter CDU/CSU 01.04.2004 Beim Umbau des Agrarförderungssystems, der mit Dr. Rexrodt, Günter FDP 01.04.2004 erheblichen Umschichtungen zwischen Betrieben und Regionen verbunden sein wird, sollten die natio- Simm, Erika SPD 01.04.2004 nalen Entscheidungsspielräume so genutzt werden, dass die Umschichtungen aus Einkommensgründen Thiele, Carl-Ludwig FDP 01.04.2004 nicht abrupt, sondern als mehrjähriger Übergang er- folgen. * für die Teilnahme an den Sitzungen der Parlamentarischen Ver- Zweitens. Für uns und die Landwirte, die mit der Re- sammlung des Europarates form leben müssen, ist eine zentrale Frage offen geblie- ben, nämlich die Einschätzung der komplexen Wirkun- gen dieser umfassenden Reform. Das betrifft Anlage 2 (B) insbesondere ihre Konsequenzen für die regionale Wirt- (D) Erklärung nach § 31 GO schaftskraft, für Wachstum, Wertschöpfung, Beschäfti- gung. Es ist schlimm, dass die Bundesregierung nicht in der Abgeordneten Dr. Gesine Lötzsch und Petra der Lage ist, Einschätzungen und Auswirkungsberech- Pau (beide fraktionslos) zur namentlichen Ab- nungen vorzulegen. Damit wird dem Bundestag zuge- stimmung über den Entwurf eines Gesetzes zur mutet, die „Katze im Sack zu kaufen“. Damit ist kein Umsetzung der Reform der gemeinsamen solides Gesetzgebungsverfahren möglich. Unsere Be- Agrarpolitik (Tagesordnungspunkt 6) denken betreffen Voraussagen, die von der Wissenschaft, dem Bauernverband und Agrarministerien der Länder Die PDS fordert seit Jahren eine Neuausrichtung der getroffen wurden, wonach vor allem die Rindfleischpro- EU-Agrarpolitik. Deshalb unterstützten wir den Luxem- duktion erheblich absinken werde. Ostdeutschland wäre burger Beschluss zur Reform der gemeinsamen Agrar- davon besonders betroffen. Das ist weder akzeptabel politik, auch wenn diese Reform nur bedingt unseren noch mit der in der Koalitionsvereinbarung zwischen weiter gehenden Vorstellungen entspricht. Der System- SPD und Bündnis 90/Die Grünen formulierten und im- wechsel in der Agrarförderung, der die Landwirtschaft mer noch nicht eingelösten Aussage vereinbar, sich „für wettbewerbsfähiger und marktgerechter machen und einen höheren Tierbestand in Ostdeutschland einzuset- umweltgerechte Erzeugungsverfahren sicherstellen soll, zen, um Wertschöpfung wieder verstärkt in ländlichen ist ein gesellschaftliches Erfordernis. Regionen Ostdeutschlands anzusiedeln“. Aus diesem Grund sind wir vom Grundsatz her für die dem Gesetzentwurf zugrunde liegende Grundkon- Anlage 3 struktion für die nationale Umsetzung der Reform. Trotzdem haben wir dem Gesetz nicht zugestimmt. Un- Zu Protokoll gegebene Reden sere Gründe dafür waren folgende. zur Beratung des Antrags: Rating-Agenturen: Erstens. Die Bundesregierung lehnt in ihrer Gegenäu- Integrität, Unabhängigkeit und Transparenz ßerung die vom Bundesrat vorgeschlagene Verschiebung durch einen Verhaltenskodex verbessern (Ta- des Beginns der Prämienangleichung auf 2010 ab. Le- gesordnungspunkt 14) diglich im Bereich der Milch- und Schafproduktion will sie Ausnahmen in Erwägung ziehen. Das ist uns zu un- Reinhard Schultz (Everswinkel) (SPD): Als im ver- verbindlich. Die Bundesregierung hatte ausreichend gangenen Sommer eine Delegation des Finanzausschus- Zeit, etwas Konkretes anzubieten. Die jüngste Anhörung ses des Deutschen Bundestages unter meiner Leitung die 9308 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. April 2004

(A) Vereinigten Staaten besuchte und dort internationale Fi- Gesichtspunkten die angesammelten Daten eingesetzt (C) nanzmarktprobleme erörterte, trafen wir dort kaum je- werden. manden, weder in der Politik noch bei Aufsichtsbehör- den, der ernsthaft die Notwendigkeit sah, die Tätigkeit Es ist nur sehr selten der Fall, dass Ratings eine Vor- von Rating-Agenturen zu regulieren. Zwar haben die warnfunktion im Sinne eines Coachings für große Ge- Vereinigten Staaten durch eine Verpflichtung der Rating- sellschaften wahrnehmen, wie wir es zum Beispiel bei der Entlassung der Landesbanken aus der Gewährs- Agenturen, bei der Finanzaufsicht zugelassen zu sein, trägerhaftung haben. Hier wird über mehrere Jahre ein die wenigen US-amerikanischen und kanadischen Ra- Als-ob-Rating durchgeführt, sodass sich die Gesellschaft ting-Agenturen de facto weltweit monopolisiert. Aber auf den „Ernstfall“ einstellen kann. Die Refinanzierung alles andere sollte nach Auffassung unserer Gesprächs- einer Landesbank ist am günstigsten, wenn sie mit „aaa“ partner der Markt regeln. eingestuft wird, und gerade noch möglich bei einem ein- Vor diesem Hintergrund bin ich besonders erfreut, fachen „a“. Alle Einstufungen darunter verteuern die dass die Wertpapieraufsichtsbehörden aller großen Konditionen so sehr, dass ein Bankgeschäft nicht mehr Industrieländer sich inzwischen gemeinsam bemühen, möglich ist. Vor diesem Hintergrund kann man sich vor- einen so genannten Verhaltenskodex für Rating-Agen- stellen, dass auch Wettbewerber Rating-Agenturen be- turen zu entwickeln. Dies ist auch dringend erforderlich. auftragen, den Konkurrenten zu beobachten, und das nicht nur uneigennützig mit dem Ergebnis, diesen am Das Gutachten einer Rating-Agentur entscheidet über Markt zu stärken. die Kreditwürdigkeit und die Finanzierungskosten von Unternehmen und damit über deren Zukunft. Versiche- All diese Probleme müssen gelöst werden. Die rungsunternehmen, Finanzdienstleister, Banken und Lösungen können Eingang finden in einen internationa- Börsen unterliegen national und zum Teil inzwischen len Verhaltenskodex für Rating-Agenturen. Die BaFin auch international einer Aufsicht. Die Rechnungslegung verhandelt für Deutschland im Rahmen der internationalen von Konzernen wird zunehmend standardisiert und da- Organisationen der Wertpapieraufsichtsbehörden IOSCO mit transparent, aber die „selbsternannten“ Schiedsrich- genau mit diesem Ziel. Der Deutsche Bundestag bestärkt ter über die Kapitalausstattung und Bonität von Unter- die BaFin und Herrn Sanio ausdrücklich in dieser Zielset- nehmen, die Rating-Agenturen, unterliegen keinerlei zung und wünscht ihm auch im Interesse der deutschen Spielregeln. Wirtschaft viel Erfolg. Es gibt Rating-Agenturen, die unabhängig sind. Sie blicken auf lange Zeitreihen von Finanzmarktdaten und Stefan Müller (Erlangen) (CDU/CSU): Die Bedeutung unternehmensbezogenen Informationen zurück, sie ha- von Rating-Agenturen hat vor dem Hintergrund der stär- keren gesamtwirtschaftlichen Bedeutung der Finanz- (B) ben eine offene Eigentümerstruktur und sind nicht mit (D) anderen Zweigen von Finanzdienstleistungen verstrickt. märkte in den letzten Jahren weiter zugenommen. Bei diesen Rating-Agenturen kann davon ausgegangen Ratings sind eine wesentliche Grundlage für Kapital- werden, dass sie immer und ausschließlich ihrem einzi- marktteilnehmer bei deren Investitionsentscheidungen. gen Produkt, nämlich dem objektiven Rating, verpflich- Damit besitzen Rating-Agenturen einen erheblichen Ein- tet sind. fluss auf die Zins- und Preisgestaltung an den Kapital- Es gibt andere Rating-Agenturen, die sind selbststän- märkten und damit auch auf die Finanzierungskosten der diger Bestandteil von Finanzdienstleistungskonzernen Unternehmen. und arbeiten unter einem Dach mit Wirtschaftprüfern, Vor dem Hintergrund von Basel II und der voraus- Anlageberatern und Investmentbankern und haben in ih- sichtlich ab 2007 geltenden neuen Eigenkapitalvor- rer unternehmerischen Verwandtschaft sogar noch füh- schriften für Banken werden externe Ratings noch mehr rende Wirtschaftszeitungen. Bei solchen Unternehmen an Bedeutung gewinnen, auch im Bereich der Mittel- kann unterstellt werden, dass es zu Interessenskonflikten standsfinanzierung. kommen kann. Manches spricht dafür, dass die von den internationa- Es gibt Herauf- und Herabstufungen von Unterneh- len Rating-Agenturen praktizierten Bewertungsstan- men durch Rating-Agenturen, die auch für Kenner des dards einen prägenden Einfluss auch auf das bankinterne Marktes nicht nachvollziehbar sind. Ein Offenlegen der Rating der Kreditinstitute ausüben. Damit erlangt das Methode und der empirischen Basis des Ratings gibt es Thema auch für den industriellen Mittelstand hohe Be- in der Regel nicht. Es ist erforderlich, dass die Methoden deutung. Für viele Banken, die sich zu den Basel-Il-Vor- offen gelegt werden und auch einer Methodenkritik zu- gaben auf ein bankinternes Rating vorbereitet haben, gänglich sind. Es muss sich ein State of the Art hinsicht- waren die Rating-Standards der internationalen Agentu- lich der Durchführung von Ratings herausbilden, der un- ren ein Vorbild. angreifbar ist. Ich möchte für die CDU/CSU-Bundestagsfraktion Die ersten Ratings von Unternehmen werden häufig klarstellen: Rating-Agenturen erfüllen eine wichtige durch die Unternehmen selbst in Auftrag gegeben. Die Aufgabe im Bereich der Überprüfung der Kreditwürdig- Ergebnisse sind dann Grundlage einer langen Zeitreihe, keit von Unternehmen. die ohne Rückfragen bei den betroffenen Unternehmen von den Rating-Agenturen weiterverwandt werden kann. Allerdings sind die internationalen Rating-Agenturen Auch dies kann zu einem Problem werden, weil die Un- verstärkt in die öffentliche Diskussion geraten. Positive ternehmen wenig Einfluss darauf haben, unter welchen Bonitätseinschätzungen im Vorfeld spektakulärer Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. April 2004 9309

(A) Firmenpleiten, Herabstufungen deutscher Großunterneh- unterzogen werden. Im Interesse einer umfassenden (C) men, Überprüfung der Bonität der Bundesrepublik Transparenz erscheint es sinnvoll, Änderungen der ange- Deutschland sowie die Diskussion um die Bonität der wandten methodischen Grundlagen vor In-Kraft-Treten Landesbanken haben zu einer verstärkten Kritik an den zu veröffentlichen. Rating-Agenturen geführt. Die Behandlung von Ratings ohne Auftrag des Emit- Wesentliche Kritikpunkte sind mangelnde Objektivi- tenten ist ein wesentlicher Aspekt einer funktionierenden tät und fehlende Nachvollziehbarkeit von Gründen, die Marktkommunikation. Wir sprechen uns daher dafür zu einer Rating-Entscheidung führen, sowie der geringe aus, solche auftragslosen Ratings als solche zu kenn- Wettbewerb unter den Agenturen. zeichnen. Angesichts des von mir soeben beschriebenen Ein- Wichtig bei alledem ist: Ratings müssen unabhängig flusses der Rating-Agenturen auf den Markt, das ein- von geschäftspolitischen Interessen der Agenturen sein. zelne Unternehmen und letztlich der gesamten Volks- Dabei sind potenzielle Interessenkonflikte zu vermeiden. wirtschaft stellt sich die Frage nach möglichem Ein Rating kann nur dann dazu beitragen, die Effizienz Handlungsbedarf für die Politik. von Finanzmärkten zu erhöhen, wenn sichergestellt ist, dass die Bewertung nicht durch andere Interessen beein- Sowohl auf internationaler Ebene wie auf europäi- flusst wird. scher Ebene ist in den letzten Monaten ein Diskussions- prozess über die mögliche Regulierung von Rating- Es muss also Sorge dafür getragen werden, dass Agenturen in Gang gekommen. etwaige Interessenkonflikte möglichst vermieden wer- den oder zumindest offen gelegt werden. Im Deutschen Bundestag haben wir als CDU/CSU- Bundestagsfraktion eine Kleine Anfrage an die Bundes- Hierzu zählen insbesondere die Vergütungsstruktur regierung gerichtet und im Finanzausschuss die Durch- und die Erbringung von nicht rating-bezogenen Dienst- führung der nicht öffentlichen Anhörung angeregt. Wir leistungen durch die Agenturen und finanziellen Interes- haben damit deutlich gemacht, dass wir an einer kon- sen von Rating-Analysten. struktiven Diskussion des Themas interessiert sind. Angesichts der weitreichenden Auswirkungen der Vor diesem Hintergrund ist auch der heutige frak- Entscheidungen der Agenturen stellt sich die Frage, in- tionsübergreifende Antrag zu sehen. Wir wollen mit die- wieweit die Rating-Agenturen ihrerseits einer Gegen- ser Entschließung den deutschen Verhandlungsführern kontrolle bedürfen. In diesem Zusammenhang wird im- bei der IOSCO einen parlamentarischen Beschluss für mer wieder die Forderung nach einer laufenden die Gespräche, die Ende April stattfinden, mit auf den Beaufsichtigung und Regulierung von Rating-Agenturen (B) Weg geben. Wir setzen damit auch ein Signal für mehr aufgestellt. Dazu ist zunächst festzustellen: Eine rein na- (D) Demokratie in diesen Expertengremien. tionale Regulierung macht keinen Sinn. Dies würde zu einer Diskriminierung deutscher Agenturen bzw. Nie- Ziel ist es, einen international gültigen und agentur- derlassungen internationaler Agenturen führen. übergreifenden Verhaltenskodex – einen so genannten Code of Conduct – zu entwickeln. Ein solcher Kodex Letztlich wäre der Abbau von Arbeitsplätzen die könnte die Vergleichbarkeit und Transparenz von Ra- Folge. Deshalb ist den Forderungen nach gesetzgeberi- ting-Entscheidungen und die Effizienz im Rating-Pro- schen Maßnahmen in Deutschland ohne Berücksichti- zess spürbar verbessern. gung internationaler Diskussionen eine Absage zu er- teilen. Erst wenn die internationalen Gremien zu Ergeb- In erster Linie geht es um die Verbesserung der Trans- nissen gekommen sind, können wir über nationale Um- parenz des Rating-Prozesses. Den Unternehmen muss setzung reden. eine angemessene Zeit eingeräumt werden, um auf ge- plante Marktkommuniqués der Agentur reagieren zu Ich sage aber ganz offen: Selbstverpflichtung geht vor können. Nicht zuletzt auch um Fehlinterpretationen zu Regulierung. Grundsätzlich sollte der Markt die Regu- vermeiden. Jede Veränderung des Ratings sollte vorher lierungsfunktion übernehmen. zwischen Agentur und Unternehmen diskutiert werden. Eine Rating-Agentur kann auf Dauer nur erfolgreich Wichtig dabei ist, dass die Ratings laufend beobachtet sein, wenn ihre Analysen von den Marktteilnehmern ak- und auf den neuesten Stand gebracht werden. Die Agen- zeptiert sind und sich über einen längeren Zeitraum als tur muss unverzüglich handeln, sobald sie von Informa- zuverlässig erwiesen haben. Inwieweit ein stärkerer tionen Kenntnis erlangt, die zu einer Änderung der Boni- Wettbewerb wirksam wird, hängt nicht zuletzt auch da- tätseinschätzung führen. von ab, ob die Investoren die Ratings neuer Marktteil- nehmer als verlässliche Indikatoren für die Bonität von Ein weiterer wichtiger Punkt ist in diesem Zusammen- Kreditnehmern ansehen. hang die Offenlegung der Rating-Verfahren und -Metho- den. Über wesentliche Elemente wie beispielsweise Viel wichtiger scheint daher zu sein, den Wettbewerb angewandte Kennziffern, Definitionen Annahmen, zu stärken. Eventuell vorhandene Markteintrittsbarrieren Benchmarks und so weiter sollte regelmäßig informiert für neue Rating-Agenturen sind abzubauen und die Rah- werden. menbedingungen für deren Etablierung müssen verbes- sert werden. Gegenwärtig teilen sich im Wesentlichen Zur Sicherung eines ausreichend hohen Rating-Stan- drei Rating-Agenturen den Markt auf: Standard & dards sollten die Kriterien regelmäßig einer Überprüfung Poor’s, Moody’s und Fitch. Generell wird durch derartige 9310 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. April 2004

(A) oligopolistische Strukturen der Wettbewerb einge- Unternehmen aufgrund ihrer unterschiedlichen Struktu- (C) schränkt. Deshalb ist ein größerer Wettbewerb auf dem ren und Bilanzierungseigenschaften im Rating-Verfah- Rating-Markt wünschenswert. Dies könnte insbesondere ren nicht benachteiligt werden, und die internationale Fi- eine differenzierte Betrachtung der Unternehmen in den nanzarchitektur stabilisiert wird. verschiedenen Ländern ermöglichen. Von daher sollte es im Interesse einer qualitativ hochwertigen Versorgung Carl-Ludwig Thiele (FDP): Im Markt für die Ver- von Bonitätseinschätzungen nicht bei den genannten drei gabe von Bonitätsbewertungen, so genannter Ratings, Agenturen bleiben. Aber auch hier gilt: das Regulativ ist besteht ein von US-Unternehmen beherrschtes Oligopol. der Markt. Die Rating-Agenturen Standard & Poor’s, S&P, und Zusammenfassend möchte ich feststellen: Die CDU/ Moody’s haben zusammen 80 Prozent des Weltmarkts in CSU-Bundestagsfraktion hat ein Interesse daran, das der Hand, weitere 15 Prozent hält die drittgrößte Agen- Vertrauen in einen stabilen Finanzmarkt zu stärken. Mit tur Fitch Ratings. dem heute vorliegenden Antrag aller Fraktionen und den Mit dem vorliegenden Entschließungsantrag setzen darin geforderten Einzelpunkten leisten wir dazu einen sich die Bundestagsfraktionen der CDU/CSU, FDP, SPD wesentlichen Beitrag. und Bündnis 90/Die Grünen übereinstimmend für die Formulierung eines Verhaltenskodex für diesen Markt Hubert Ulrich (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wir – „Code of Conduct“ – durch die IOSCO, die Internatio- beraten heute den interfraktionellen Antrag zu Rating- nale Organisation der Wertpapieraufsichtsbehörden, ein. Agenturen mit dem Titel „Integrität, Unabhängigkeit und Transzparenz durch einen Verhaltenskodex verbes- Die FDP stimmt diesem Antrag zu, da es bisher keine sern“. Über Rating-Agenturen wird viel diskutiert. international abgestimmten Verhaltensregeln für Rating- Agenturen gibt. Ein Kodex der IOSCO sollte allgemeine Rating-Agenturen haben eine wichtige volkswirt- Grundsätze zur Integrität, Unabhängigkeit und Transpa- schaftliche Aufgabe. Sie erhöhen die Effizienz der Fi- renz der Rating-Agenturen umfassen. Außerdem braucht nanzmärkte, indem sie die Komplexität von Unterneh- der Rating-Markt dringend mehr Wettbewerb. Die For- mensdaten reduzieren und auf eine verständliche mulierung der Grundsätze soll dabei helfen, die Macht Kurzformel bringen. Ein Rating entscheidet über Kosten der Oligopolisten zu beschränken und neue Wettbewer- der Kapitalbeschaffung auf den internationalen Finanz- ber zum Eintritt in den Markt zu ermuntern. märkten. Nach Ansicht des Präsidenten der Bundesanstalt für Jedoch besteht der Rating-Markt de facto aus einem Finanzdienstleistungsaufsicht, Jochen Sanio, sind die Ra- (B) Oligopol. Drei große Rating-Agenturen – Moody’s, S&P ting-Agenturen die „größte unkontrollierte Machtstruktur (D) und Fitch – beherrschen den Markt. Dies führt zu über- im Weltfinanzsystem“. Damit liegt er richtig. Wir leben in höhten Gebühren und vor allem zu unkontrollierter einer Zeit, in der die Bedeutung des traditionellen Bank- Macht. Die Skandale um Enron und Worldcom haben kredits für die Finanzierung von Unternehmen abnimmt. gezeigt, wo unkontrollierte Macht hinführen kann. Diese Gleichzeitig werden die Kapitalmärkte für die Finanzie- Macht der Rating-Agenturen muss eingeschränkt und rung der Firmen immer wichtiger. Somit gewinnen die mehr Wettbewerb etabliert werden. Rating-Agenturen immer größere Macht. Ihre Bewertun- gen entscheiden letztlich darüber, wohin das internatio- Auch müssen die besonderen Strukturen in Europa nale Kapital fließt. Sie bestimmen Anleihe- und Aktien- von den angelsächsischen Agenturen besser beachtet kurse. Ohne Rating durch die großen Agenturen ist es werden. Denn in der Vergangenheit wurden zum Bei- mittlerweile fast unmöglich, sich an den Kapitalmärkten spiel die deutschen Unternehmen Thyssen und Linde Geld zu leihen. Ob die Agenturen bei ihren Bonitätsbe- schlechter geratet, weil sie hohe Pensionsverpflichtun- wertungen den Daumen senken oder nicht, entscheidet gen ausweisen. In den USA gibt es dieses Problem erst nicht selten über die Zukunft von Unternehmen. Die Ra- gar nicht, weil die betriebliche Altersvorsorge in Pen- ting-Agenturen sind die wichtigsten Kontrolleure der Ka- sionsfonds ausgelagert ist. Zudem hat es im letzten Jahr pitalmärkte. Ärger um ein geplantes Rating der Landesbanken im Hinblick auf den Wegfall der Staatsgarantien gegeben. Das Problem dabei ist, dass die Kontrolleure selbst Nach Kritik vonseiten der Bundesbank und der BaFin nicht kontrolliert werden. Es ist höchste Zeit, dass sich wurde das Rating um einige Monate verschoben. dies ändert und dass dieser oligopolistische Markt mehr Wettbewerb und einen Verhaltenskodex bekommt. Ins- Ich begrüße daher ausdrücklich den nun erarbeiteten besondere deutsche Unternehmen haben in den vergan- interfraktionellen Antrag, indem die deutschen Interes- genen Jahren bereits negative Erfahrungen mit der riesi- sen bei den Verhandlungen zur Entwicklung eines Ver- gen Macht der Rating-Agenturen gemacht. haltenskodices der „Internationalen Organisation der Wertpapieraufsichtsbehörden“, IOSCO, gestärkt werden. Zuerst möchte ich in diesem Zusammenhang die neue Es ist richtig, Verhaltensregeln auszustellen, die nach Bewertung von Pensionsrückstellungen von Unterneh- dem Grundsatz funktionieren: so viel Aufsicht wie nötig, men durch Standard & Poor’s nennen. Seit vergangenem so wenig Regulierung wie möglich. Und es ist wichtig, Jahr stuft diese Rating-Agentur Pensionsrückstellungen den Verhaltenskodex so zu erweitern, dass mehr Trans- von Unternehmen als herkömmliche Finanzverbindlich- parenz und Qualität etabliert werden. Denn nur so kann keiten ein. Stark davon betroffen sind insbesondere Fir- sichergestellt werden, dass deutsche und europäische men mit hohen Pensionsrückstellungen in ihren Bilanzen Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. April 2004 9311

(A) wie Thyssen-Krupp, Deutsche Post und Linde, die nun Der Markt für Rating-Bewertungen ist amerikanisch (C) als stärker verschuldet gelten als zuvor. Durch die He- dominiert. Er ist ein natürliches Oligopol. Das heißt, im rabstufung des Ratings hat sich die Geldaufnahme dieser Markt werden fast ausschließlich nur die Bewertungen Firmen am Kapitalmarkt deutlich verteuert. der etablierten Rating-Agenturen akzeptiert. Neue Wett- bewerber haben es sehr schwer. Die Hürden für einen Besonders hart hat es Thyssen-Krupp getroffen. In Eintritt in den Markt sind sehr hoch. der neuen Bewertung gibt Standard & Poor’s dem Unter- nehmen nicht einmal mehr das Rating bzw. die Note „in- Das Wichtigste ist, dass dieser Markt mehr Wettbe- vestitionswürdig“. An den Kapitalmärkten gelten Anlei- werb bekommt. Nach Ansicht der FDP heißt dies keines- hen von Unternehmen mit einem solchen Rating als wegs, dass der Staat eine neue, europäisch geprägte Ra- „Ramsch-Anleihen“. Die Kurse der Thyssen-Krupp- ting-Agentur auf dem Reißbrett entwerfen sollte. Dafür Anleihen stürzten nach Bekanntgabe der Rating-Verän- ist der Markt zuständig. derung ab, und die Kapitalaufnahme hat sich für Thys- Die FDP unterstützt aber Initiativen wie diejenige des sen-Krupp immens verteuert. Dies erschwert die Lage Deutschen Aktieninstituts, ein unabhängiges Aktien-Ra- für das Unternehmen und kostet im Endeffekt deutsche ting für Deutschland und später eventuell für ganz Eur- Arbeitsplätze. opa aufzubauen. Langfristig könnte der Aufbau dieser Als zweites Beispiel für das unkontrollierte Vorgehen neuen Rating-Agentur namens „Equirate“ ein Anfang der Rating-Agenturen möchte ich die Bewertung der sein, um im Rating-Bereich ein Gegengewicht zu den deutschen Landesbanken, ebenfalls durch Standard & amerikanischen Anbietern Standard & Poor’s und Poor’s, nennen. Bei den Landesbanken fällt im Jahr Moody’s zu schaffen. Insbesondere in Deutschland bie- 2005 die Staatsgarantie für Kredite weg, was zu neuen ten sich hier Chancen, da im deutschen Mittelstand die Rating-Noten führen wird. Um sich hier in Position zu Marktanteile nicht, wie in den meisten anderen Berei- bringen, wollte Standard & Poor’s schon jetzt, ohne von chen, bereits an die Amerikaner vergeben sind. den Landesbanken darum gebeten worden zu sein, neue Vor diesem Hintergrund begrüßt die FDP auch die im Noten verteilen. Nach massiven Protesten der BaFin und September 2003 verabschiedeten Ansätze zu einer auf- der deutschen Politik hat Standard & Poor’s das Vorha- sichtsrechtlichen Regulierung des Rating-Markts durch ben aufgegeben. die Internationale Organisation der Wertpapieraufsichts- Dennoch zeigt dieser Vorfall, welch großen Einfluss behörden IOSCO. Ein internationaler Verhaltenskodex diese amerikanischen Agenturen am hiesigen Kapital- ist notwendig, da nur eine solche den global agierenden markt haben. Es geht doch nicht, dass sich die Rating- Rating-Agenturen gerecht werden kann. Nun ist es an der Zeit, dass diese Verhaltens- und Arbeitsstandards (B) Agenturen auf eine solche Art und Weise versuchen, (D) neue Aufträge beschaffen – und das alles, ohne von ir- weiter konkretisiert werden. Den Rating-Agenturen gendeiner Instanz kontrolliert zu werden. Die Kriterien, müssen klare Pflichten auferlegt werden. nach denen unbestellte Ratings erstellt werden, sind üb- Die wichtigsten Inhalte des Verhaltenskodexes sollten rigens keineswegs transparent. Und für die Landesban- folgende sein: Erstens geht es dabei um Regelungen der ken, die sich mitten im Umbruch befinden, kam die un- Vorgehensweise der Rating-Agenturen bei der Bewer- gebetene Profilierungsstrategie von S&P zur absoluten tung der Schuldner. Die Agenturen müssen schriftlich Unzeit. fest gelegte, systematische Verfahren befolgen und de- tailliert darlegen, wie sie zu ihren Ergebnissen kommen. Drittens hat eine Vielzahl von Fällen bereits gezeigt, Zweitens geht es dabei um die Veröffentlichungspflich- dass die Agenturen mit ihren Rating-Urteilen keines- ten und um die Transparenz der Rating-Prozesse; die in- wegs immer richtig liegen. Die Unternehmenskrisen bei ternen organisatorischen Regelungen der Agenturen dem Energiehändler Enron und dem Telekomkonzern müssen offen gelegt werden. Drittens müssen die Ra- Worldcom haben die Rating-Agenturen genauso wenig ting-Agenturen dazu angehalten werden, Interessens- vorher gesehen wie die anderen Akteure an den konflikte zu vermeiden. Schließlich werden die Agentu- Kapitalmärkten – obwohl diese Krisen schließlich ein ren von den Unternehmen, die sie bewerten, bezahlt. Die wahres Beben an den Aktien- und Anleihemärkten aus- Ratings dürfen nicht von den Geschäftsbeziehungen zu gelöst haben. Außerdem haben die Rating-Agenturen den Emittenten berührt werden. auch bei den Krisen um den niederländischen Handels- konzern Ahold und, ganz aktuell, bei dem italienischen Ein weiterer wichtiger Punkt sind viertens die „nicht- Nahrungsmittelkonzern Parmalat zu spät reagiert. Auch bestellten“ Ratings wie im Falle der deutschen Landes- die Rating-Agenturen sind letztlich machtlos, wenn Un- banken. Hier muss dargelegt werden, welche Verfah- ternehmensführer betrügen und Zahlen fälschen. Und rensweise zulässig sind. Außerdem müssen die Agentu- gerade weil die Agenturen alles andere als unfehlbar ren angeben, dass es sich um Ratings handelt, für die sind, tut Kontrolle not. kein Auftrag des Emittenten vorliegt. Alle diese Beispiele zeigen, dass es im Interesse des Die IOSCO hat bereits Anfang Februar eine Arbeits- Deutschen Bundestages ist, dass die amerikanischen Ra- gruppe beauftragt, die nun den Verhaltenskodex für die ting-Agenturen an den Kapitalmärkten nicht weiter Rating-Agenturen ausarbeitet. Es ist im Interesse schalten und walten können, wie sie wollen. Die Rating- Deutschlands, dass der deutsche Verhandlungsführer, Agenturen dürfen nicht unbegrenzte Freiheiten haben – der Präsident der Bundesanstalt für Finanzdienstleis- gerade, weil sie so wichtig sind. tungsaufsicht Jochen Sanio, hier die weitestgehende 9312 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. April 2004

(A) Legitimation erhält. Dies stärkt seine Verhandlungsposi- das Informationszeitalter. Man muss der damit verbun- (C) tion in der Arbeitsgruppe. denen politischen Verantwortung auch gerecht werden. Das gilt auch für Rot-Grün. Allerdings wendet sich die FDP gegen die laufende Überwachung des Verhaltenskodexes durch eine neue Behörde. Bei dem „Code of Conduct“ geht es in erster Linie darum, den Spielraum der Rating-Agenturen aus- Anlage 5 zuformulieren und nicht darum, neue Bürokratie zu Zu Protokoll gegebene Reden schaffen. zur Beratung des Antrags: Kleinlaster sicherer machen (Tagesordnungspunkt 16) Anlage 4 Uwe Beckmeyer (SPD): Seit geraumer Zeit werden Zu Protokoll gegebene Rede eine ganze Reihe von Maßnahmen zur Minderung des Unfallrisikos, das von so genannten Kleinlastern aus- zur Beratung des Antrags: Passagierdaten- geht, intensiv diskutiert. Ab Mitte der 90er-Jahre ist der sammlungen und Datenschutzrechte – EU-Ab- Bestand dieser Fahrzeuge zur Güterbeförderung auf kommen mit den Vereinigten Staaten von Ame- Deutschlands Straßen aus verschiedenen Gründen spür- rika (Tagesordnungspunkt 15) bar gewachsen, leider ist mit dem Anstieg der Zulassun- Petra Pau (fraktionslos): Seit Monaten gibt es inten- gen auch ein deutlicher Zuwachs an Unfällen verbunden. sive Versuche, insbesondere seitens der USA, Passagier- Daraus ergibt sich für die SPD-Bundestagsfraktion daten zu erfassen, zu speichern und zu verarbeiten. Da- ein umfassender Handlungsbedarf. Eine Gefährdung der bei handelt es sich nicht nur um Erwägungen, sondern Straßenverkehrssicherheit durch den Gütertransport mit um praktische Eingriffe in den Datenschutz. Die PDS Kleinlastern muss möglichst gering gehalten werden. hat das stets kritisiert. Das größte Gefährdungspotenzial geht von Kleinlastern Nun hat die FDP einen Antrag vorgelegt und damit zwischen 2,8 und 3,5 Tonnen zulässigem Gesamtge- die Bundesregierung aufgefordert, das Grundrecht der wicht aus, die nach einer Änderung der Straßenverkehrs- Bundesbürgerinnen und Bundesbürger auf informatio- ordnung im Jahre 1997 wie PKW von Geschwindig- nelle Selbstbestimmung zu schützen und zu stärken. Ich keitsbeschränkungen auf Autobahnen ausgenommen schließe mich namens der PDS im Bundestag diesem sind. Sie unterliegen nur der Richtgeschwindigkeitsemp- Anliegen grundsätzlich an – dies umso mehr, da die fehlung. Die Fahrzeuge sind allerdings zwischenzeitlich Bundesregierung bislang weder Zweifel noch Skrupel so hoch motorisiert, dass sie vollbeladen bis zu 180 km/h (B) erkennen lässt, den Forderungen der USA zu folgen. Sie erreichen – man bedenke die dabei gespeicherte kineti- (D) steht damit auch im Gegensatz zum Europäischen Parla- sche Energie – und mit Recht von vielen Autofahrern als ment und zu zahlreichen internationalen Organisationen, Verkehrsbedrohung angesehen werden. Kleintransporter die sich kritischer auf die Seite des Datenschutzes und unter 3,5 Tonnen zulässigem Gesamtgewicht unterliegen damit von Bürgerrechten stellen. Die PDS tut das auch. nicht den Einschränkungen für LKW wie dem Sonntags- Bei alledem geht es bekanntlich nicht nur um den fahrverbot, obwohl sie meist als LKW zugelassen sind. Austausch von Daten, die zur Identifikation von Passa- gieren wichtig sein könnten. Es geht um ein Sammel- Die Haupteinsatzbereiche der Kleintransporter sind surium von persönlichen Daten, die von Fluggesell- Verteilverkehre, Post- und Paketdienste. Die Nachfrage schaften gespeichert und de facto ohne Einwilligung der nach diesen Dienstleistungen ist ständig angestiegen, die Passagiere und ohne Rechtsgarantien weitergegeben Unternehmen und die selbstständigen Fahrer sind aber werden. Dazu gehören unter anderem der geplante Rei- einem starken Wettbewerb um die Aufträge ausgesetzt. severlauf, die Buchungsstelle, die Art der Bezahlung, bei Zahlung mit Kreditkarte deren Nummer, der Sitzplatz, Es liegt auf der Hand, dass die legalen Möglichkeiten die Essenswünsche, die Hotel- oder Mietwagenreservie- und Freiheiten genutzt werden, die Transporte mithilfe rungen und vieles andere mehr. Insgesamt geht es um der schnellen und wendigen Kleintransporter zeitsparend 30 persönliche Daten und mehr. Das ist – selbst unter der durchzuführen. Nur darf das nicht zulasten der Verkehrs- Überschrift „Terrorismusbekämpfung“ – absolut unver- sicherheit erfolgen. hältnismäßig und nicht hinnehmbar. Neben den Daten aus der Verkehrsstatistik liegen Die FDP hat in ihrem Antrag zahlreiche Punkte vor- Zwischenberichte aus den noch nicht abschließend geschlagen, wie dem zu begegnen ist – sie sind nachzu- veröffentlichten Studien der Bundesanstalt für Straßen- lesen. Ich teile viele davon, will sie aber jetzt nicht im wesen und des Verkehrstechnischen Instituts der Deut- Einzelnen bewerten. Dazu ist in den parlamentarischen schen Versicherer zum Bestand sowie zu den Risikofak- Ausschüssen noch Gelegenheit. toren und zur Struktur von Unfällen vor, an denen Keinen Zeitverzug verträgt allerdings das grundsätzli- Kleinlaster beteiligt waren: Insgesamt waren in Deutsch- che Agieren der Bundesregierung. Sie darf nicht länger land im Jahre 2002 rund 1,84 Millionen Kleintransporter dulden, was nicht duldbar ist. Sie darf nicht länger zulas- zwischen 2 und 3,5 Tonnen zulässiges Gesamtgewicht sen, was nicht zulässig ist. Und sie darf nicht länger be- zugelassen, davon 386 000 zwischen 2,8 und 3,5 Tonnen fördern, was irreparabel werden kann. Denn jeder Daten- Gesamtgewicht. Gegenüber 1996 ist der Bestand der zu- satz, der einmal in die Welt gesetzt wurde, entwickelt ein letzt genannten Fahrzeugklasse um 135 Prozent gestie- Eigenleben. Deshalb reichen keine Sonntagsreden über gen. 85 Prozent aller Unfälle unter Beteiligung dieser Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. April 2004 9313

(A) Kleinlaster ereignen sich innerhalb geschlossener Ort- Daher sehe eine gute Chance, in den folgenden Beratun- (C) schaften und auf Landstraßen. gen im Ausschuss eine gute Lösung für mehr Sicherheit auf Deutschlands Straßen auf den Weg zu bringen. Während die Beteiligung von Kleintransporter unter 2,8 und LKW über 3,5 Tonnen zulässigem Gesamtge- wicht an Unfällen mit Personenschäden gesunken ist, ist Gero Storjohann (CDU/CSU): Wir diskutieren bei den Kleinlastern über 2,8 Tonnen leider ein Anstieg heute den Antrag der CDU/CSU-Fraktion zur Verbesse- um 201 Prozent – auf Autobahnen sogar um 308 Pro- rung der Verkehrssicherheit von Kleinlastern. Die Zu- zent – zu verzeichnen. nahme der Unfälle mit so genannten Kleinlastern stellt immer mehr eine ernst zu nehmende Gefährdung der Si- Wieder zeigt es sich, dass wir unsere besondere Auf- cherheit im Straßenverkehr dar. Es ist deshalb erforder- merksamkeit diesen Fahrzeugen schenken müssen. Nach lich, dass hier endlich etwas getan wird! Die Zahl der der Schilderung der Situation wende ich mich anschlie- Unfälle mit Beteiligung von Kleinlastern hat in den letz- ßend den Gründen für die gestiegene Häufigkeit und ten Jahren zugenommen! 1991 waren 10 173 der 2,8- bis Schwere der Unfälle von Kleintransportern zu: Über- 3,5-Tonnen-Sprinter an Unfällen mit Personenschäden höhte Geschwindigkeit, gerade in geschwindigkeitsredu- beteiligt. Diese Zahl schließt auch ausländische Fahr- zierten Abschnitten der Autobahnen und in Baustellen zeuge ein. 2001 waren 20 678 an Verkehrsunfällen betei- sowie zu geringer Sicherheitsabstand machen zusammen ligt. Diese Zahl hingegen bezieht sich nur auf deutsche 50 Prozent der ermittelten Unfallursachen aus. Kleinlaster! Das macht ein Plus von 103 Prozent aus, und das nur innerhalb von zehn Jahren! Ein Drittel der Unfälle geschehen bei Dunkelheit, oft treten Alleinunfälle auf, darunter fällt zum Beispiel das Kurz gefasst: Seit 1996 hat sich die Zahl der Unfälle Abkommen von der Fahrbahn. Nicht unerwähnt sollte in mit Kleinlastern verdreifacht, die Zahl der Fahrzeuge diesem Zusammenhang die Tatsache bleiben, dass über- selbst hat sich hingegen nur verdoppelt! Hauptverursa- durchschnittlich viele an Unfällen beteiligte Fahrer unter cher der Unfälle mit Kleinlastern waren in den meisten 24 Jahren alt waren. Zumeist ist als Unfallursache eine Fällen die Fahrer dieser Fahrzeuge selbst. In gut unangepasste Geschwindigkeit festzuhalten. 65 Prozent der Fälle lag die Unfallschuld bei ihnen. In meiner schleswig-holsteinischen Heimat zieht die Poli- Hier zeigt sich deutlich, dass die relativ jungen Fahrer zei mittlerweile jeden dritten Kleintransporter bei Kon- das Fahrverhalten und den Bremsweg ihres beladenen trollen aus dem Verkehr. Nicht angepasste Geschwindig- Transporters nicht richtig einschätzen können. Dazu keit und Abstandsfehler sind hier die häufigsten kommen mangelnde Kenntnisse über die Bedeutung und Ursachen. Und kaum jemand kann behaupten, sich noch fachgerechte Durchführung der Ladungssicherung für nie über die Fahrweise eines Kleintransporters geärgert die Fahrstabilität des Fahrzeugs. Die unter Termindruck (B) zu haben. Es geht hier um alltägliche Situationen. Es (D) stehenden Fahrer versuchen, durch Erhöhung der Ge- geht um alltägliche Gefahren! Gefahren, die ihre Ursa- schwindigkeit ihre Aufträge zeitgerecht durchzuführen. che zumeist in der Verwendung der Kleinlaster durch Die hohe Anzahl der Alleinunfälle und der Unfälle in der ihre Fahrer selbst haben. Oft sind die Fahrer dieser Fahr- Dunkelheit deuten darauf hin, dass die vorgeschriebene zeuge übermüdet und lassen sich leicht zu aggressivem Dauer der Arbeitszeit oft überschritten wird. Fahren verleiten. Welche Maßnahmen sollten zur Verbesserung der Was sind die Gründe dafür? Sie sind oft eine logische Verkehrssicherheit im Zusammenhang mit den Kleinlas- Folge aus der beruflichen Verpflichtung. Zu den Haupt- tern ergriffen werden? Die seit Juni 2003 laufende Qua- nutzern der Kleinlaster zählen nämlich Kurierdienste lifizierungsoffensive „Kleintransporter“ könnte zu einer und Handwerksbetriebe. Diese umgehen durch die Nut- Pflichtschulung für alle Fahrer von Kleintransportern zung dieser Fahrzeuge die für LKW vorgeschriebenen ausgebaut werden. Ruhezeiten und Regelungen wie das Sonntagsfahrver- Die SPD-Bundestagsfraktion unterstützt den Vor- bot. Es ist leicht nachzuvollziehen, dass sich das negativ schlag, den Einbau von EG-Kontrollgeräten – als einzig auf die Fahrtüchtigkeit auswirkt, da die Fahrer viel län- zulässige Möglichkeit zur Überwachung der Lenk- und ger hinter dem Steuer sitzen als beim Führen eines LKW. Ruhezeiten und der Geschwindigkeit – in Kleintranspor- Blicken wir aber noch einmal zurück auf die Zahlen. tern zwischen 2,8 und 3,5 Tonnen zulässigem Gesamtge- Im Jahr 2001 ereigneten sich 60 Prozent der Unfälle mit wicht vorzuschreiben. Kleinlastem innerorts, 30 Prozent auf Landstraßen und Wir setzten uns auch dafür ein, die Einhaltung des Si- nur zehn Prozent auf Autobahnen. Eine Lösung des Pro- cherheitsabstands, von streckenbezogenen Geschwin- blems kann deshalb nicht bei einem allgemeinen Tempo- digkeitsbeschränkungen und innerhalb von Baustellen- limit auf Autobahnen gefunden werden. bereichen stärker zu kontrollieren und Verstöße mit höheren Sanktionen zu belegen. Daneben bedürfen die Wir müssen vielmehr bei der Qualifikation der Fahrer Vorschriften zur Ladungssicherung dringend einer Präzi- ansetzen! Tatsache ist, dass jeder Führescheininhaber sierung. der Klasse B befugt ist, einen Kleinsprinter zu lenken. Aber nicht jeder ist sich darüber bewusst, dass ein Klein- Die gestrigen Beschlüsse der Verkehrsministerkonfe- laster in vielen Fahrsituationen eben anders reagiert als renz und des 42. Deutschen Verkehrsgerichtstags zeigen, ein herkömmlicher PKW. In Kurven, beim Bremsen dass die Vorschläge der deutschen Verkehrspolitiker und oder bei voller Beladung entstehen Situationen, auf die Verkehrsexperten zur Senkung der Unfallgefahr durch man als normaler PKW-Fahrer überhaupt nicht vorberei- Kleintransporter nicht weit voneinander entfernt sind. tet ist. Vor diesen Tatsachen dürfen wir nicht die Augen 9314 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. April 2004

(A) verschließen! Wir brauchen deshalb dringend eine hö- Obwohl dem Antrag aus den Reihen der Opposition (C) here Qualifizierung und mehr Verantwortungsbewusst- eine treffende Problemanalyse zugrunde liegt – ich sein der Fahrer der Kleinlaster! Die Experten des nenne die zwei wesentlichen Punkte: Verdoppelung der 42. Verkehrsgerichtstages in Goslar haben diesbezüglich Unfälle mit Verletzten in den letzten zehn Jahren und vernünftige Lösungsvorschläge entwickelt. eine überproportionale Hauptschuld der an den Unfällen beteiligten Fahrer von Kleinlastern – kommt Ihr Antrag Mit dem heutigen Antrag greifen wir von der CDU/ jedoch nicht zu der nahe liegenden Schlussfolgerung, CSU-Fraktion diese Vorschläge auf. Wir fordern daher dass Kleinlaster oft schlicht zu schnell unterwegs sind. die Unterstützung von Schulungsprogrammen für die Auf dem Deutschen Verkehrssicherheitstag wurde die- Fahrer von Kleintransportern. Weiterhin setzten wir uns sen Fahrzeugen das Label „Rasende Kleinlaster“ zuge- vordringlich für eine verstärkte Kontrolle aller sicher- wiesen, denn bei einer alarmierenden Anzahl führte oft heitsrelevanten Verkehrsvorschriften ein. Sicherheitsab- auch zu hohe Geschwindigkeit zum nachfolgenden Un- stand, streckenbezogene Geschwindigkeitsbeschränkun- fall. gen und Gurtpflicht müssen unbedingt eingehalten werden. Außerdem benötigen wir die verbesserte Siche- Unsere Aufforderung an die Union heißt auch des- rung der Ladung sowie die verstärkte Kontrolle einer halb: Schließen Sie sich endlich unserer Forderung nach möglichen Überladung. Auch muss geprüft werden, ob einem allgemein gültigen Tempolimit an. Deutschland geltende Bußgeldregelsätze gegebenenfalls zu erhöhen ist das letzte Land in der Europäischen Union, in dem und ob Fahrverbotsregelungen strenger zu fassen sind. auf Autobahnen gilt: Freie Fahrt für verantwortungslose Weiterhin muss auch in die Sicherheit der Fahrzeuge Raser! Das darf so nicht bleiben, wir sollten uns auch in investiert werden. Wir müssen zu einer erheblich verbes- diesem Punkt an den Richtlinien der EU orientieren – serten Fahrzeugtechnik der Kleinlaster gelangen, so etwa Stichwort: Harmonisierung. durch die Ausstattung der Fahrzeuge mit einer stärkeren Und würden wir uns auf ein Tempolimit auf allen Bremsleistung, mit Anti-Blockier-System (ABS), mit deutschen Autobahnen einigen können, hätten wir auch Elektronischem-Stabilitäts-Programm (ESP), mit Fahr- noch einen weiteren großen Schritt m Richtung Siche- dynamikreglern und Airbags, Reifen mit ausreichender rung unserer Zukunft und der Zukunft unserer Kinder Belastungsreserve und Reifendruckkontrollsystemen gemacht: Durch den Verzicht auf Spitzengeschwindig- Wie die zu Beginn genannten Zahlen zeigen, stehen keiten von über 130 Stundenkilometern würden sich der wir hier nicht nur vor einem rein nationalen Problem, Ausstoß von Klimagasen und Luftschadstoffen ebenso sondern vor einem europaweiten. Auch ausländische wie der Lärmpegel deutlich verringern – eine Erkennt- Firmen haben die Attraktivität der Kleinlaster entdeckt. nis, die ja schon auf vielen Autobahnkilometern zu Ge- (B) Wir wollen deshalb dringend die Änderung der entspre- schwindigkeitsbeschränkungen geführt hat. (D) chenden Richtlinien auf europäischer Ebene durchset- Trotz unzähliger Studien und zahlreicher Feldversu- zen. Besonders ist uns an der europaweiten Einführung che verleugnen Sie jedoch hartnäckig den Zusammen- des EG-Kontrollgeräts zur Überwachung vorgeschriebe- hang von Höchstgeschwindigkeit und Risiko von Unfäl- ner Lenk-und Ruhezeiten gelegen. Hier darf es nicht zu len mit Todesfolge. Hier ein ganz aktuelles Beispiel, das weiteren Verzögerungen kommen! meine Feststellung unterstreicht: Auf der A 24 – nicht Meine Damen und Herren von Rot-Grün, eines geht weit von hier, im schönen – hat es seit Ein- aber nun wirklich nicht: Im letzten Unfallbericht der führung des Tempolimits vor fast einem Jahr keinen töd- Bundesregierung vom 4. Juli 2002 wird deutlich, wel- lichen Unfall mehr gegeben! Das Tempolimit liegt im cher Stellenwert den Kleinlastern durch diese rot-grüne Übrigen genau auf dem Level, der von Bündnis 90/Die Bundesregierung beigemessen wird. Nämlich gar keine. Grünen favorisiert wird, nämlich bei 130 Stundenkilo- Nicht mit einem Wort wird in diesem umfangreichen metern. Werk auf diese Problematik hingewiesen. Politik muss aber auf Probleme flexibel und auch schnell reagieren. Aber kommen wir zurück auf die Problematik der Dies gilt besonders bei der Sicherheit im Straßenverkehr. Unfälle von Kleinlastern. Ja, ich spreche hier bewusst Für mehr Verkehrssicherheit auf unseren Straßen fordere von Unfällen von Kleinlastern, weil zwei von drei der ich sie daher auf: Stimmen Sie unserem Antrag zu! betreffenden Unfälle von den Fahrern der Kleinlaster verschuldet werden. Sehen wir uns genauer an, wo diese Unfälle passieren, dann erstaunt es wenig, dass mit Ursula Sowa (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Im 60 Prozent der Löwenanteil in den Städten und Dörfern Sinne aller Verkehrsteilnehmer ist das Anliegen der liegt. Das sagt in etwa auch die allgemeine Unfallstatis- CDU/CSU-Fraktion sehr zu begrüßen, das Thema Ver- tik. kehrssicherheit erneut auf die politische Agenda zu set- zen. Wir erinnern uns sicher alle mit Entsetzen an die Die viel zu hohe Zahl der Unfälle insgesamt und die Rücksichtslosigkeit eines Mercedes-Testfahrers im ver- 7 000 Verkehrstoten und nahezu 450 000 Verletzten, die gangenen Jahr, dessen Fahrverhalten auf der Autobahn wir im Straßenverkehr in Deutschland jedes Jahr zu be- zum Tod einer Mutter und ihres Kindes geführt hat. Das klagen haben, sollten uns alle überlegen lassen, wie wir Problem der viel zu hohen Unfallzahlen mit Verletzten endlich unser Verkehrsgeschehen sicherer machen kön- oder gar mit Toten insbesondere bei Kleinlastern ver- nen – ganz sicher nicht, indem wir – wie Sie uns von der langt nach unserer Auffassung nach Maßnahmen, die Union glauben machen wollen – alle Fahrer von Klein- leider im Antrag der Union nicht bedacht werden. lastern zu Fahrertrainings verpflichten. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. April 2004 9315

(A) Lange Zeit ist den Menschen von den Fürsprechern Gemäß den Empfehlungen des Verkehrsgerichtstags (C) der Raserei vorgegaukelt worden, dass mit Airbag, ABS sind alternative Maßnahmen zu untersuchen, um die Un- und all den technischen Weiterentwicklungen der Stra- fallrate bei Kleinlastern zu senken. Wie der Bundesver- ßenverkehr sicher sei. Was war die Folge? Ein dramati- kehrsminister immerhin eingesehen hat, sollte die La- scher Anstieg der Unfälle und, damit einhergehend, der dungssicherung eine wichtigere Rolle spielen. Aber für Todesopfer, die diese Entwicklung nach sich gezogen den Sicherheitsabstand zwischen zwei Fahrzeugen und hat. Geschwindigkeitsbeschränkungen bezogen auf be- stimmte Strecken gibt es schon reichlich Vorschriften, Wir alle begrüßen die Umkehr dieses schlimmen deren Einhaltung schlicht stärker kontrolliert werden Trends seit dem Jahr 2000, doch dürfen wir uns nicht da- müsste. mit zufrieden geben, dass die Zahlen gesunken sind. Noch immer sterben auf deutschen Straßen im Jahr Daher ist der vorliegende Antrag der CDU/CSU- 7000Menschen. Fraktion ein Schritt in die richtige Richtung. Darüber hi- naus wäre nach Meinung der FDP-Bundestagsfraktion Und deshalb braucht dieses Land eine Reform des zu prüfen, ob die Fahrer gewerblich eingesetzter Klein- Verkehrs insgesamt – eine Verkehrswende muß her! Wir transporter den Vorschriften des Güterkraftverkehrsge- brauchen endlich ein allgemeines Tempolimit auf den setzes hinsichtlich Fahrausbildung und Zuverlässigkeit Autobahnen, die Verlagerung von Gütern auf die sowie den zulässigen Lenk- und Ruhezeiten unterworfen Schiene, damit wir den gefährlichen LKW-Verkehr aus werden, auch wenn das zulässige Gesamtgewicht der den Städten zurückdrängen – um nur die Punkte zu nen- Fahrzeuge unterhalb von 3,5 Tonnen liegt. nen, die in Bezug auf das heutige Thema relevant sind. Mit einer solchen Strategie würden wir unsere Innen- Die Bundesregierung sollte auf jeden Fall echte Lö- städte ebenso wie den Autobahnverkehr endlich sicherer sungsansätze aufgrund gesicherter Daten anbieten, an- machen – zum Wohle aller Bürgerinnen und Bürger. statt eine ideologische Diskussion zu führen, die nicht zur Problemlösung beiträgt. Horst Friedrich (Bayreuth) (FDP): Als ob wir es Ein langjähriger Präsident des Verkehrsgerichtstages nicht schon ausreichend in allen anderen Politikberei- hat einmal gesagt, dass jede Verkehrsvorschrift erfah- chen erleben dürfen, demonstriert diese Bundesregie- rungsgemäß nur so viel wert ist, wie sie auch überwacht rung auch in der Verkehrspolitik wieder einmal ihre Be- wird. Wenn der Bundesverkehrsminister schon nicht auf ratungsresistenz: Herr Stolpe kündigt ein Tempolimit für die konstruktive Kritik der Opposition eingehen möchte, Kleintransporter aufgrund ihrer erhöhten Unfallbeteili- so sollte er wenigstens auf die außerparlamentarischen gung an. Eine Menge neuer Gesetze und Verordnungen Verkehrsexperten hören. (B) soll zur Senkung der Unfallrate beitragen. Allerdings ist (D) vonseiten der Verkehrsfachleute keine derartige Empfeh- lung ausgesprochen worden. Zum Beispiel lehnt der Iris Gleicke, Parl. Staatssekretärin beim Bundes- letzte Deutsche Verkehrsgerichtstag, der, wie ich hörte, minister für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen: Auch eine anerkannte Institution in Verkehrssicherheitsfragen die Bundesregierung betrachtet die zunehmende Zahl ist, ein Tempolimit für Kleinlaster ab; die Mehrheit der der Verkehrsunfälle unter Beteiligung der so genannten Verkehrsminister der Länder auch. Außerdem steht seit Kleintransporter mit Sorge. Aus diesem Grunde hat das einem Jahr eine Studie der Bundesanstalt für Straßenwe- Bundesministerium für Verkehr, Bau- und Wohnungs- sen aus, die die Ursachen bei Unfällen mit Kleinlastern wesen bereits im Frühjahr 2002 die Initiative ergriffen analysieren soll. Die FDP-Bundestagsfraktion hat im und eine wissenschaftliche Untersuchung der Thematik Frühjahr 2003 eine Kleine Anfrage zu dem Thema Tem- bei der Bundesanstalt für Straßenwesen in Auftrag ge- polimit für Kleinlaster gestellt, die von der Bundesregie- geben, nachdem Beschwerden von Bürgern über das rung mit den Worten beantwortet wurde, dass die Mitte verkehrssicherheitsgefährdende und unfallrisikobehaf- 2003 zu erwartende Studie abzuwarten sei. Allerdings ist tete Verhalten von Kleintransportern vermehrt eingegan- vorab veröffentlichten Zwischenergebnissen der Studie gen waren. zu entnehmen, dass Unfälle eher innerorts und auf Land- straßen stattfinden als auf Autobahnen, das heißt in Be- Auch die Verkehrsministerkonferenz und die Innen- reichen, die bereits mit Tempolimits versehen sind. Also ministerkonferenz der Länder haben dieses Thema auf- ist die Forderung der Bundesregierung nach einer Ge- gegriffen. Gestern hat die Verkehrsministerkonferenz in schwindigkeitsbeschränkung ein weiterer reflexhafter Weimar abschließend befunden und ein ganzes Paket Ruf mit der zweifelhaften Hoffnung, der Situation per von gesetzgeberischen und untergesetzlichen Maßnah- Verbot Herr zu werden. Ein zusätzliches Tempolimit für men zur Bekämpfung des von Kleintransportern ausge- Kleintransporter wird aber dem eigentlichen Problem henden Unfallrisikos beschlossen. Das BMVBW hat nicht gerecht. dieses Paket bereits im Vorfeld der Konferenz in jedem einzelnen Punkt ausdrücklich unterstützt. Sämtliche Die Kontrolle der Einhaltung eines zusätzlichen Tem- – auch vom 42. Deutschen Verkehrsgerichtstag Ende Ja- polimits hat Herr Stolpe überhaupt noch nicht angespro- nuar in Goslar empfohlenen – Maßnahmen sind geeig- chen. Die Ordnungshüter kommen nicht einmal mit den net, dem Unfallrisiko von Kleintransportern nachhaltig Geschwindigkeitskontrollen bei den PKW nach. Wie zu begegnen. Die Verkehrsministerkonferenz hat ihre sollen sie es dann zusätzlich noch bei Kleinlastern schaf- Beschlüsse auf der Grundlage tragfähiger Erkenntnisse fen? aus den nunmehr abgeschlossenen wissenschaftlichen 9316 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 102. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 1. April 2004

(A) Untersuchungen vor allem der Bundesanstalt für Stra- lichen Anforderungen an das verkehrssichere Verstauen (C) ßenwesen gefasst. der Ladung zu präzisieren. Denn gerade bei der Güterbe- förderung mit Kleintransportern werden immer wieder Dem war eine intensive Diskussion in der Öffentlich- eklatante Mängel bei der Ladungssicherung bis hin zum keit, aber auch in den zuständigen Fachgremien des Bun- Fehlen jeglicher Sicherung festgestellt Der richtige An- des und der Länder vorangegangen. Im Zentrum der kon- satz zur Lösung dieses Problems besteht darin, die ge- trovers und zum Teil auch emotional geführten setzlichen Anforderungen der Straßenverkehrsordnung Diskussion stand die Frage, ob mit einem gesetzlichen an die Ladungssicherung zu verdeutlichen und nicht Tempolimit von 120 oder 130 km/h auf Autobahnen für – worauf Ihr Antrag in diesem Punkt abzielt –, durch Kleintransporter mit einem zulässigem Gesamtgewicht Änderung von EU-Richtlinien die Ausstattung von von 2,8 bis 3,5 Tonnen die Unfallhäufigkeit und -schwere Kleintransportern mit stabileren Trennwänden oder deutlich verringert werden kann. Diese Frage hat die mehr Zurrpunkten generell vorzuschreiben. Denn die Mehrheit der Verkehrsminister und -Senatoren der Län- notwendigen Sicherungsmaßnahmen sind von der La- der gestern verneint. dung abhängig und müssen individuell den Anforderun- Auch in dem vorliegenden Antrag der CDU/CSU- gen angepasst werden. Fraktion findet die gesetzliche Einführung eines Tempo- Als weitere Maßnahme wollen wir die Sanktionen für limits für Kleintransporter auf Autobahnen keine Er- das Unterschreiten des gesetzlichen Mindestabstandes wähnung. In der Tat ist es zweifelhaft, ob ein solches anheben, um ein deutlich abschreckendes Signal gegen Tempolimit zur Bekämpfung des Unfallrisikos von das vielfach beobachtete „Drängeln“ von Kleintranspor- Kleintransportern geeignet wäre, weil nur 14 Prozent al- tern auf Autobahnen zu setzen. Für die Ladungsverstöße ler Unfälle unter Beteiligung von Kleintransportern auf wurden die Sanktionen erst vor kurzem erhöht und sind Autobahnen geschehen. Davon finden gerade die schwe- mit dem heutigen Tage in Kraft getreten. Die Verschär- ren Kleintransporterunfälle überproportional häufig auf fungen waren zwar durch die Verbesserung der LKW- Autobahnabschnitten statt, in denen bereits Geschwin- Sicherheit im Allgemeinen motiviert, erstrecken sich digkeitsbegrenzungen durch Verkehrszeichen angeord- aber auch auf den Spezialfall Kleintransporter. net sind. Auffallend häufig ist dies in Baustellenab- schnitten der Fall. Die Wirkung eines Tempolimits wäre Mit diesen Maßnahmen führen wir unsere Bemühun- deutlich geringer, als sie öffentlich vielfach eingeschätzt gen zur Verbesserung der Verkehrssicherheit von Klein- wird. transportern fort, die wir bereits im Sommer letzten Jahres gemeinsam mit den Verbänden und der Automo- Deshalb hat die Verkehrsministerkonferenz anstelle bilindustrie mit der „Qualifizierungsoffensive Klein- eines gesetzlichen Tempolimits für Kleintransporter die transporter“ begonnen haben. Diese zielt auf eine bessere (B) verstärkte Überwachung der Einhaltung der streckenbe- (D) Fahrerschulung sowie auf eine technische Verbesserung zogen angeordneten Höchstgeschwindigkeitsbeschrän- der Fahrzeuge in Eigeninitiative der Nutzer und Herstel- kungen zu fordern, von denen heute schon weit mehr als ler ab und hat bereits erste Erfolge hervorgebracht. So ein Drittel des gesamten Autobahnnetzes betroffen ist. können inzwischen in über 50 Fahrsicherheitszentren Das BMVBW hat schon in der Vergangenheit gegenüber des ADAC die Fahrer von Kleintransportern spezielle den für die Verkehrsüberwachung zuständigen Ländern Trainingseinheiten zur Verbesserung der Fahrsicherheit stets deutlich gemacht, dass besonders an Unfallschwer- und Ladungssicherung absolvieren. Im Bereich der punkten die Verkehrskontrollen zu intensivieren sind. Fahrzeugtechnik bin ich zuversichtlich, dass auch die Die Bundesregierung wird jetzt zügig daran gehen, Automobilindustrie dem Appell der Verkehrsminister- die von der Verkehrsministerkonferenz beschlossenen konferenz folgen wird, in Eigeninitiative die Kleintrans- gesetzgeberischen Maßnahmen auf den Weg zu bringen. porter mit den gleichen „Sicherheitsfeatures“ auszustat- Hierbei halte ich es für besonders bedeutsam, die gesetz- ten wie PKW.

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