Plenarprotokoll 15/66

Deutscher

Stenografischer Bericht

66. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2003

Inhalt:

Nachträgliche Gratulation zum 60. Geburtstag (Köln) BÜNDNIS 90/ des Abgeordneten ...... 5589 A DIE GRÜNEN ...... 5609 B Benennung des Abgeordneten Burgbacher FDP ...... 5610 D Brandner als stellvertretendes Mitglied des Vermittlungsausschusses ...... 5589 A fraktionslos ...... 5612 B Erweiterung und Abwicklung der Tagesord- Wilhelm Schmidt (Salzgitter) SPD ...... 5613 B nung ...... 5589 B CDU/CSU ...... 5614 A Nachträgliche Ausschussüberweisung ...... 5590 B Volker Beck (Köln) BÜNDNIS 90/ Absetzung der Tagesordnungspunkte 13, 17 DIE GRÜNEN ...... 5615 C und 25 ...... 5590 A Dr. Hans-Peter Friedrich (Hof) CDU/CSU . . 5616 B Begrüßung des algerischen Parlamentspräsi- denten Younès und seiner Delegation ...... 5598 B Tagesordnungspunkt 5:

Tagesordnungspunkt 4: Unterrichtung durch die Bundesregierung: Jahresbericht der Bundesregierung Antrag der Fraktionen der SPD, der CDU/ zum Stand der Deutschen Einheit 2003 CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- (Drucksache 15/1550) ...... 5618 C NEN und der FDP: Einsetzung einer ge- meinsamen Kommission von Bundestag Dr. h. c. Manfred Stolpe, Bundesminister und Bundesrat zur Modernisierung der BMVBW ...... 5618 C bundesstaatlichen Ordnung CDU/CSU ...... 5620 D (Drucksache 15/1685) ...... 5590 B Dr. h. c. Manfred Stolpe, Bundesminister , Präsident ...... 5590 C BMVBW ...... 5621 B Dr. Wolfgang Böhmer, Präsident des Jörg Schönbohm, Minister Brandenburg . . . . 5621 C Bundesrates ...... 5593 A Peter Hettlich BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Franz Müntefering SPD ...... 5595 A 5623 D CDU/CSU ...... 5598 C FDP ...... 5625 C SPD ...... 5601 A Dr. Gesine Lötzsch fraktionslos ...... 5626 D BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 5601 D Siegfried Scheffler SPD ...... 5627 C Dr. FDP ...... 5603 C Cornelia Pieper FDP ...... 5628 A , Bundesministerin BMJ . . . . 5603 C (Zingst) CDU/CSU ...... 5630 B CDU/CSU ...... 5607 C Siegfried Scheffler SPD ...... 5631 D II Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2003

Tagesordnungspunkt 6: Sanierung und Liquidation von Ver- sicherungsunternehmen und Kredit- a) Große Anfrage der Abgeordneten Dirk instituten Fischer (), , (Drucksache 15/1653) ...... 5646 B weiterer Abgeordneter und der Frak- tion der CDU/CSU: Aktuelle Eisen- d) Erste Beratung des von der Bundesre- bahnpolitik in der 15. Wahlperiode gierung eingebrachten Entwurfs eines (Drucksachen 15/234, 15/1106) . . . . . 5633 C Gesetzes über die Zustimmung zur Änderung der Satzung des Europäi- b) Antrag der Abgeordneten Horst schen Systems der Zentralbanken Friedrich (Bayreuth), Rainer Brüderle, und der Europäischen Zentralbank weiterer Abgeordneter und der Frak- (Drucksache 15/1654) ...... 5646 C tion der FDP: Zurückdrehen der Bahnreform stoppen e) Erste Beratung des von der Bundesre- (Drucksache 15/1591) ...... 5633 C gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 2. Juli c) Beschlussempfehlung und Bericht des 2001 zwischen der Bundesrepublik Ausschusses für Verkehr, Bau- und Deutschland und der Republik Ös- Wohnungswesen zu dem Antrag der terreich über den Verlauf der ge- Abgeordneten (Bay- meinsamen Staatsgrenze im Grenz- reuth), Rainer Brüderle, weiterer Ab- abschnitt „Salzach“ und in den geordneter und der Fraktion der FDP: Sektionen I und II des Grenzab- Einsetzung einer Kommission der schnitts „Scheibelberg-Bodensee“ Bundesregierung zur Fortsetzung sowie in Teilen des Grenzabschnitts der Bahnreform „Innwinkel“ (Drucksachen 15/66, 15/1294) ...... 5633 C (Drucksache 15/1655) ...... 5646 C Dr. Klaus W. Lippold (Offenbach) f) Erste Beratung des von der Bundesre- CDU/CSU ...... 5633 D gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Durchführung gemein- , Parl. Staatssekretärin schaftsrechtlicher Vorschriften über BMVBW ...... 5635 B die Verarbeitung und Beseitigung Horst Friedrich (Bayreuth) FDP ...... 5636 D von nicht für den menschlichen Ver- zehr bestimmten tierischen Neben- Albert Schmidt (Ingolstadt) BÜNDNIS 90/ produkten DIE GRÜNEN...... 5637 D (Drucksache 15/1667) ...... 5646 C CDU/CSU ...... 5639 D g) Erste Beratung des von der Bundesre- gierung eingebrachten Entwurfs eines Karin Rehbock-Zureich SPD ...... 5641 A Dritten Gesetzes zur Änderung des Saatgutverkehrsgesetzes Dirk Fischer (Hamburg) CDU/CSU ...... 5642 C (Drucksache 15/1645) ...... 5646 D Heinz Paula SPD ...... 5644 B h) Erste Beratung des von der Bundesre- gierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Tagesordnungspunkt 26: Verfütterungsverbotsgesetzes (Drucksache 15/1668) ...... 5646 D a) Erste Beratung des von der Bundesre- gierung eingebrachten Entwurfs eines i) Erste Beratung des vom Bundesrat ein- Gesetzes zur Neuregelung des gebrachten Entwurfs eines Gesetzes Rechts der Verkehrsstatistik zur Änderung des Deutschen Rich- tergesetzes (Drucksachen 15/1666, 15/1706) . . . . 5646 B (Drucksache 15/1471) ...... 5646 D b) Erste Beratung des von der Bundesre- j) Erste Beratung des vom Bundesrat ein- gierung eingebrachten Entwurfs eines gebrachten Entwurfs eines Gesetzes Gesetzes zu dem Zusatzprotokoll zur Änderung des Gesetzes über die Nr. 7 vom 27. November 2002 zu der Umweltverträglichkeitsprüfung Revidierten Rheinschifffahrtsakte (Drucksache 15/1497) ...... 5647 A vom 17. Oktober 1868 (Drucksache 15/1649) ...... 5646 B k) Erste Beratung des vom Bundesrat ein- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes c) Erste Beratung des von der Bundesre- zur Änderung des Asylverfahrens- gierung eingebrachten Entwurfs eines gesetzes und zur Änderung des Aus- Gesetzes zur Umsetzung aufsichts- ländergesetzes rechtlicher Bestimmungen zur (Drucksache 15/903) ...... 5647 A Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2003 III

l) Erste Beratung des vom Bundesrat ein- (2002) vom 23. Mai 2002, 1444 gebrachten Entwurfs eines Gesetzes (2002) vom 27. November 2002 und zur Änderung des Bundesvertriebe- 1510 (2003) vom 13. Oktober 2003 nengesetzes des Sicherheitsrats der Vereinten (Drucksache 15/911) ...... 5647 A Nationen (Drucksache 15/1700) ...... 5647 D m) Erste Beratung des von der Bundesre- gierung eingebrachten Entwurfs eines b) Erste Beratung des von der Bundesre- Gesetzes zu dem Übereinkommen gierung eingebrachten Entwurfs eines vom 17. Oktober 2000 über die An- Gesetzes zur Neuordnung der Si- wendung des Art. 65 des Überein- cherheit von technischen Arbeits- kommens über die Erteilung euro- mitteln und Verbraucherprodukten päischer Patente (Drucksache 15/1620) ...... 5647 D (Drucksache 15/1647) ...... 5647 A c) Erste Beratung des von der Bundesre- n) Erste Beratung des von der Bundesre- gierung eingebrachten Entwurfs eines gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom Gesetzes zur Änderung des Geset- 13. Januar 2003 zwischen der Regie- zes über internationale Patentüber- rung der Bundesrepublik Deutsch- einkommen land und der Regierung der Sonder- (Drucksache 15/1646) ...... 5647 B verwaltungsregion Hongkong der Volksrepublik China zur Vermei- o) Erste Beratung des von der Bundesre- dung der Doppelbesteuerung von gierung eingebrachten Entwurfs eines Schifffahrtsunternehmen auf dem Gesetzes zum Schutz des olympi- Gebiet der Steuern vom Einkommen schen Emblems und der olympi- und vom Vermögen schen Bezeichnungen (OlympSchG) (Drucksache 15/1644) ...... 5648 A (Drucksache 15/1669) ...... 5647 B p) Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/ Tagesordnungspunkt 27: DIE GRÜNEN eingebrachten Ent- a) Zweite und dritte Beratung des von der wurfs eines Siebten Gesetzes zur Än- Bundesregierung eingebrachten Ent- derung des Bundesverfassungsge- wurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag richtsgesetzes vom 29. April 2003 zwischen der (Drucksache 15/1686) ...... 5647 B Bundesrepublik Deutschland und q) Antrag der Abgeordneten Sibylle dem Königreich der Niederlande Laurischk, Ulrich Heinrich, weiterer über die Durchführung der Flugver- Abgeordneter und der Fraktion der kehrskontrolle durch die Bundesre- FDP: Ausnahmeregelung für Kraft- publik Deutschland über niederlän- fahrzeug-Haftpflichtversicherung für dischem Hoheitsgebiet und die landwirtschaftliche Nutzfahrzeuge Auswirkungen des zivilen Betriebes erhalten des Flughafens Niederrhein auf das (Drucksache 15/759) ...... 5647 C Hoheitsgebiet des Königreichs der Niederlande (Gesetz zu dem r) Antrag der Abgeordneten Markus deutsch-niederländischen Vertrag Löning, Horst Friedrich (Bayreuth), vom 29. April 2003 über den Flug- weiterer Abgeordneter und der Frak- hafen Niederrhein) tion der FDP: Lärmschutz an der An- (Drucksachen 15/1522, 15/1651, 15/ halter Bahn - Folgen der Teilung 1697) ...... 5648 B Berlins überwinden (Drucksache 15/1115) ...... 5647 C b–g) Beschlussempfehlungen des Petitions- ausschusses: Sammelübersichten 58, Zusatztagesordnungspunkt 2: 60, 61, 62, 63 und 64 zu Petitionen (Drucksachen 15/1536, 15/1569, 15/ a) Antrag der Bundesregierung: Fortset- 1570, 15/1571, 15/1572, zung und Erweiterung der Beteili- 15/1573) ...... 5. 648. . . C–5649 A gung bewaffneter deutscher Streit- kräfte an dem Einsatz einer Internationalen Sicherheitsunter- Tagesordnungspunkt 7: stützungstruppe in Afghanistan auf Grundlage der Reso-lutionen 1386 a) Antrag der Abgeordneten Dr. Michael (2001) vom 20. Dezember 2001, 1413 Fuchs, Karl-Josef Laumann, weiterer IV Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2003

Abgeordneter und der Fraktion der eines Gesetzes zu dem Protokoll von CDU/CSU: Freiheit wagen – Büro- Cartagena vom 29. Januar 2000 über kratie abbauen die biologische Sicherheit zum Überein- (Drucksache 15/1330) ...... 5649 A kommen über die biologische Vielfalt (Drucksachen 15/1519, 15/1652, 15/1737) 5664 D c) Antrag der Abgeordneten Birgit Homburger, Rainer Brüderle, weiterer Dr. Ernst Ulrich von Weizsäcker SPD . . . . . 5665 A Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Anreize zum Bürokratieabbau Helmut Heiderich CDU/CSU ...... 5666 B setzen – Bürokratiekosten-TÜV ein- , Parl. Staatssekretär richten BMVEL...... 5667 D (Drucksache 15/1006) ...... 5649 B Dr. Christel Happach-Kasan FDP ...... 5668 D d) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit zu dem Antrag der Abgeordneten Rainer Brüderle, , weiterer Tagesordnungspunkt 9: Abgeordneter und der Fraktion der Antrag der Abgeordneten Günther FDP: Abbau von Bürokratie sofort Friedrich Nolting, Helga Daub, weiterer einleiten Abgeordneter und der Fraktion der FDP: (Drucksachen 15/65, 15/1183) ...... 5649 B Wehrpflicht aussetzen (Drucksache 15/1357) ...... 5669 D in Verbindung mit Günther Friedrich Nolting FDP ...... 5670 A Dr. Hans-Peter Bartels SPD ...... 5671 B Zusatztagesordnungspunkt 3: Anita Schäfer (Saalstadt) CDU/CSU ...... 5673 D Antrag der Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Den Marianne Tritz BÜNDNIS 90/ Weg für Investition und Innovation DIE GRÜNEN ...... 5675 A durch den Abbau bürokratischer Hemmnisse frei machen Jürgen Herrmann CDU/CSU ...... 5676 B (Drucksache 15/1707) ...... 5649 C Dr. Michael Fuchs CDU/CSU ...... 5649 D Tagesordnungspunkt 10: Dr. Michael Bürsch SPD ...... 5652 A Erste Beratung des von den Abgeordneten Birgit Homburger FDP ...... 5653 C Wolfgang Bosbach, Hartmut Koschyk, weiteren Abgeordneten und der Fraktion Rezzo Schlauch, Parl. Staatssekretär der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs ei- BMWA ...... 5655 C nes Gesetzes zur wirksamen Bekämp- Tanja Gönner CDU/CSU ...... 5656 D fung organisierter Schleuserkriminali- tät (Gesetz zur Änderung des Ersten Rezzo Schlauch, Parl. Staatssekretär Gesetzes zur Änderung des Bundes- BMWA ...... 5657 A grenzschutzgesetzes) (Drucksache 15/1560) ...... 5677 C (Altötting) CDU/CSU . . . . . 5657 C , Parl. Staatssekretärin BMI ...... 5658 D Dr. Ole Schröder CDU/CSU ...... 5677 D Dr. Michael Fuchs CDU/CSU ...... 5659 B Hans-Peter Kemper SPD ...... 5678 D Birgit Homburger FDP ...... 5660 C Dr. FDP ...... 5680 A Andrea Astrid Voßhoff CDU/CSU ...... 5660 D BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN ...... 5680 D Walter Hoffmann (Darmstadt) SPD ...... 5662 B Otto Schily, Bundesminister BMI ...... 5681 C Stephan Mayer (Altötting) CDU/CSU . . . . . 5663 D Günter Baumann CDU/CSU ...... 5682 D Walter Hoffmann (Darmstadt) SPD ...... 5664 B Otto Schily SPD ...... 5683 D Günter Baumann CDU/CSU ...... 5684 A Tagesordnungspunkt 8: Fritz Rudolf Körper SPD ...... 5684 B Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs CDU/CSU ...... 5684 D Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2003 V

Ernst Burgbacher FDP ...... 5685 B Dr. CDU/CSU ...... 5696 C Otto Schily, Bundesminister BMI ...... 5685 C Ulrike Flach FDP ...... 5697 A Vera Dominke CDU/CSU ...... 5697 D Dr. Reinhard Loske BÜNDNIS 90/ Tagesordnungspunkt 11: DIE GRÜNEN ...... 5698 A Erste Beratung des von der Bundesregie- Hubert Hüppe CDU/CSU ...... 5699 A rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zur Änderung der Regelungen über René Röspel SPD ...... 5700 C Altschulden landwirtschaftlicher Un- ternehmen (Landwirtschafts-Altschul- dengesetz – LwAltschG) Tagesordnungspunkt 14: (Drucksache 15/1662) ...... 5686 C Zweite und dritte Beratung des vom Bun- Dr. Gerald Thalheim, Parl. Staatssekretär desrat eingebrachten Entwurfs eines Ge- BMVEL...... 5686 D setzes über eine einmalige Entschädi- gung an die Heimkehrer aus dem Dr. CDU/CSU ...... 5687 D Beitrittsgebiet (Heimkehrerentschädi- BÜNDNIS 90/ gungsgesetz) DIE GRÜNEN...... 5689 D (Drucksachen 15/407, 15/1625, 15/1626) 5701 C Fritz Rudolf Körper, Parl. Staatssekretär Hans-Michael Goldmann FDP ...... 5690 D BMI ...... 5701 D Petra Pau fraktionslos ...... 5691 B Hartmut Büttner (Schönebeck) CDU/CSU . . 5702 D Waltraud Wolff (Wolmirstedt) SPD ...... 5692 A Hans-Joachim Hacker SPD ...... 5704 A Hartmut Büttner (Schönebeck) CDU/CSU . . 5704 C Tagesordnungspunkt 12: Silke Stokar von Neuforn BÜNDNIS 90/ a) Antrag der Abgeordneten Dr. Maria DIE GRÜNEN ...... 5705 A Böhmer, Wolfgang Bosbach, weiterer Dr. Max Stadler FDP ...... 5705 D Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Verbot des Klonens mit Gerold Reichenbach SPD ...... 5706 C menschlichen Embryonen weltweit CDU/CSU ...... 5707 A durchsetzen (Drucksache 15/301) ...... 5693 A Klaus Brähmig CDU/CSU ...... 5708 C b) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Bildung, Forschung Tagesordnungspunkt 15: und Technikfolgenabschätzung Beschlussempfehlung und Bericht des – zu dem Antrag der Abgeordneten Ausschusses für Verkehr, Bau- und Woh- Hubert Hüppe, Christa Nickels und nungswesen zu dem Antrag der Abgeord- weiterer Abgeordneter: For- neten Petra Weis, Eckhardt Barthel (Ber- schungsförderung der Europäi- lin), weiterer Abgeordneter und der schen Union unter Respektierung Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten ethischer und verfassungsmäßi- Franziska Eichstädt-Bohlig, Volker Beck ger Prinzipien der Mitgliedstaa- (Köln), weiterer Abgeordneter und der ten Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE – zu dem Antrag der Abgeordneten GRÜNEN: Die Qualitätsoffensive für Ulrike Flach, Cornelia Pieper und gutes Planen und Bauen voranbringen weiterer Abgeordneter: Kein Aus- (Drucksachen 15/1092, 15/1683) ...... 5710 A stieg aus der gemeinsamen Ver- Achim Großmann, Parl. Staatssekretär antwortung für die europäische BMVBW...... 5710 B Stammzellforschung CDU/CSU ...... 5711 B (Drucksachen 15/1310, 15/1346, 15/1725) 5693 B Ursula Sowa BÜNDNIS 90/ Kerstin Müller, Staatsministerin AA ...... 5693 C DIE GRÜNEN ...... 5713 C Dr. Maria Böhmer CDU/CSU ...... 5694 C Joachim Günther (Plauen) FDP ...... 5714 A Dr. SPD ...... 5695 D Petra Weis SPD ...... 5714 D VI Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2003

Tagesordnungspunkt 16: Anlage 2

a) Erste Beratung des von den Abgeord- Verbesserung des Genossenschaftsrechts neten Jörg van Essen, hinsichtlich der Sicherung der Einlagen (Münster), weiteren Abgeordneten und der Genossenschafter bei Insolvenz der Fraktion der FDP eingebrachten MdlAnfr 2 Entwurfs eines Gesetzes zur Ände- Dr. Gesine Lötzsch fraktionslos rung des Grundgesetzes (Art. 48 Abs. 3) Antw PStSekr Hans Georg Wagner BMVg . . 5719 B (Drucksache 15/751) ...... 5716 A Drucksache 15/1676 b) Erste Beratung des von den Abgeord- (65. Plenarsitzung, Tagesordnungspunkt 3) neten Jörg van Essen, Daniel Bahr (Münster), weiteren Abgeordneten und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Vierundzwanzigsten Anlage 3 Gesetzes zur Änderung des Abge- Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung ordnetengesetzes über den Entwurf eines Gesetzes über eine (Drucksache 15/753) ...... 5716 B einmalige Entschädigung an die Heimkeh- rer aus dem Beitrittsgebiet (Heimkehrer- in Verbindung mit entschädigungsgesetz) (Tagesordnungs- punkt 14) Petra Pau fraktionslos ...... 5719 C Zusatztagesordnungspunkt 4:

Erste Beratung des von den Fraktionen der Anlage 4 SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung: Vierundzwanzigsten Gesetzes zur Än- – Entwurf eines Gesetzes zur Änderung derung des Abgeordnetengesetzes des Grundgesetzes (Art. 48 Abs. 3) (Drucksache 15/1687) ...... 5716 B – Entwurf eines Vierundzwanzigsten Ge- setzes zur Änderung des Abgeordneten- Tagesordnungspunkt 18: gesetzes (Tagesordnungspunkt 16 a und b, Zusatzta- Erste Beratung des von der Bundesregie- gesordnungspunkt 4) rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- Dr. Uwe Küster SPD ...... 5720 A zes zur Änderung des Gesetzes über die Errichtung einer Bundesanstalt für CDU/CSU ...... 5721 B Landwirtschaft und Ernährung (Drucksache 15/1663) ...... 5716 C Silke Stokar von Neuforn BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN...... 5722 B Hans-Michael Goldmann FDP ...... 5716 D FDP ...... 5723 A

Tagesordnungspunkt 7: Anlage 5 Antrag der Abgeordneten , Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung , weiterer Abgeordneter über den Entwurf eines Gesetzes zur Ände- und der Fraktion der CDU/CSU: Klini- rung des Gesetzes über die Errichtung ei- sche Prüfung in Deutschland entbüro- ner Bundesanstalt für Landwirtschaft und kratisieren Ernährung (Tagesordnungspunkt 18) (Drucksache 15/1345) ...... 5717 D Matthias Weisheit SPD ...... 5724 A Nächste Sitzung ...... 5718 C Albert Deß CDU/CSU ...... 5724 C BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN ...... 5726 D Anlage 1 Dr. Gerald Thalheim, Parl. Staatssekretär Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . 5719 A BMVEL ...... 5727 D Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2003 VII

Anlage 6 Dr. Carola Reimann SPD ...... 5728 B Helge Braun CDU/CSU ...... 5730 A Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung über den Antrag: Klinische Prüfung in Hans-Josef Fell BÜNDNIS 90/ Deutschland entbürokratisieren (Tagesord- DIE GRÜNEN ...... 5732 A nungspunkt 7 b) Cornelia Pieper FDP ...... 5733 A

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2003 5589

(A) (C) Redetext

66. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2003

Beginn: 9.00 Uhr

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrach- ten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuordnung der Si- Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die cherheit von technischen Arbeitsmitteln und Verbrau- Sitzung ist eröffnet. cherprodukten – Drucksache 15/1620 – Zunächst gratuliere ich dem Kollegen Walter Überweisungsvorschlag: Riester, der am 27. September seinen 60. Geburtstag be- Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f) ging, im Namen des Hauses nachträglich recht herzlich. Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft (Beifall) Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Die Fraktion der SPD hat mitgeteilt, dass die Kollegin Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Helga Kühn-Mengel als stellvertretendes Mitglied aus Reaktorsicherheit dem Vermittlungsausschuss ausscheidet. Als Nachfol- c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrach- ger wird der Kollege Klaus Brandner vorgeschlagen. ten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom (B) 13. Januar 2003 zwischen der Regierung der Bundes- (D) Sind Sie damit einverstanden? – Ich höre keinen Wider- republik Deutschland und der Regierung der Sonder- spruch. Dann ist der Kollege Brandner als stellvertreten- verwaltungsregion Hongkong der Volksrepublik des Mitglied im Vermittlungsausschuss bestimmt. China zur Vermeidung der Doppelbesteuerung von Schifffahrtsunternehmen auf dem Gebiet der Steuern Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die vom Einkommen und vom Vermögen verbundene Tagesordnung um die in einer Zusatzpunkt- – Drucksache 15/1644 – liste aufgeführten Punkte erweitert werden: Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss (f) 1 Aktuelle Stunde Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen auf Verlangen der Fraktion der CDU/CSU 3 Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD und des Haltung der Bundesregierung zum Eingeständnis des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Bundesfinanzministers, dass er 2003 für den Bund mit Den Weg für Investitionen und Innovationen durch den über 40 Milliarden Euro die höchsten Schulden in der Ge- Abbau bürokratischer Hemmnisse freimachen schichte der Bundesrepublik aufnehmen wird – Drucksache 15/1707 – 2 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren (Er- gänzung zu Tagesordnungspunkt 26) Überweisungsvorschlag: Innenausschuss (f) a) Beratung des Antrags der Bundesregierung Auswärtiger Ausschuss Fortsetzung und Erweiterung der Beteiligung bewaff- Sportausschuss Rechtsausschuss neter deutscher Streitkräfte an dem Einsatz einer In- Finanzausschuss ternationalen Sicherheitsunterstützungstruppe in Af- Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ghanistan auf Grundlage der Resolution 1386 (2001) Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und vom 20. Dezember 2001, 1413 (2002) vom 23. Mai Landwirtschaft 2002, 1444 (2002) vom 27. November 2002 und 1510 Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (2003) vom 13. Oktober 2003 des Sicherheitsrats der Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Vereinten Nationen Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen – Drucksache 15/1700 – Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Auswärtiger Ausschuss (f) Technikfolgenabschätzung Rechtsausschuss Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Verteidigungsausschuss Entwicklung Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe Ausschuss für Tourismus Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Entwicklung Ausschuss für Kultur und Medien Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO Haushaltsausschuss 5590 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2003

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner (A) 4 Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD und des Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für (C) BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs ei- die Aussprache im Anschluss an die Reden der Präsiden- nes Vierundzwanzigsten Gesetzes zur Änderung des Abge- ordnetengesetzes ten des Deutschen Bundestages und des Bundesrates zwei Stunden vorgesehen. – Ich höre keinen Wider- – Drucksache 15/1687 – spruch. Dann ist das so beschlossen. Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Das Wort hat zunächst der Präsident des Deutschen Geschäftsordnung (f) Bundestages, Wolfgang Thierse. Innenausschuss Rechtsausschuss 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Hans-Joachim Otto Präsident Wolfgang Thierse: (Frankfurt), Rainer Brüderle, , weiterer Ab- Frau Präsidentin! Meine liebe Kolleginnen und Kolle- geordneter und der Fraktion der FDP gen! Ich freue mich über den Konsens zwischen Bundes- Transparenz für den Hauptstadtkulturfonds tag und Bundesrat und zwischen den Fraktionen dieses – Drucksache 15/1708 – Hauses, heute hier im Bundestag und morgen im Bun- Überweisungsvorschlag: desrat eine gemeinsame Kommission mit der Moderni- Ausschuss für Kultur und Medien (f) sierung der bundesstaatlichen Ordnung zu beauftragen. Ausschuss für Tourismus Ich möchte dazu ermuntern und ermutigen, im Sinne Von der Frist für den Beginn der Beratung soll – so- dieses gemeinsamen Problembewusstseins, das im Ein- weit erforderlich – abgewichen werden. setzungsantrag zum Ausdruck kommt, auch gemeinsame Wege zur Neuordnung der Kompetenzen zwischen Bund Des Weiteren ist vereinbart worden, den Tagesord- und Ländern einzuschlagen, nicht zuletzt auch mit Blick nungspunkt 7 b – es handelt sich um die Beratung des auf die Europäische Union. Antrags der CDU/CSU-Fraktion „Klinische Prüfung in Deutschland entbürokratisieren“ – heute als letzten Über Länder- und Parteigrenzen hinweg hat sich die Punkt der Tagesordnung aufzurufen. Einsicht durchgesetzt, dass das föderale Gleichgewicht neu justiert werden muss. Ich halte es nicht für eine Die Tagesordnungspunkte 13 – Entschädigungs- Übertreibung, wenn in der medialen Kommentierung da- rechtsänderungsgesetz –, 17 – ERP-Wirtschaftsplange- von die Rede ist, dass diese Kommission wahrlich eine setz 2004 – und 25 – Gesetz zur Förderung Schwerbe- Herkulesaufgabe vor sich habe. Wir wissen doch: Je grö- hinderter – sollen abgesetzt werden. ßer die Aufgabe, desto größer auch die öffentlichen Er- wartungen und umso größer die Gefahr eines Scheiterns. Außerdem mache ich auf eine nachträgliche Überwei- Ein häufig gebrauchtes Bild ist hier durchaus ange- (B) sung im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam: bracht: Es darf für diese Kommission nicht gelten, dass (D) Der in der 63. Sitzung des Deutschen Bundestages der Berg kreißt, um schließlich ein Mäuslein zu gebären. überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätz- (Beifall im ganzen Hause) lich dem Ausschuss für Gesundheit und Soziale Siche- rung zur Mitberatung überwiesen werden: Ich will die Schwierigkeiten zu Beginn dieser Debatte benennen. Sie liegen zum einen in der Sache selbst. Un- Gesetzentwurf der Bundesregierudng zur Moder- sere bundesstaatliche Ordnung, die im Kommissionsauf- nisierung der Justiz (Justizmodernisierungsge- trag richtigerweise in den Mittelpunkt gerückt wird, ist setz – JuMoG) in eine bedrohliche Schieflage geraten. So leicht uns – Drucksache 15/1508 – nämlich der Begriff der parlamentarischen Demokratie für unsere Verfassungsordnung über die Lippen geht, so überwiesen: Rechtsausschuss (f) offensichtlich ist zugleich doch geworden, dass sich der Innenausschuss Gesetzgebungsprozess auf vielfältige Weise in die Struk- Finanzausschuss turen eines Beteiligungsföderalismus verlagert hat. Wir haben nicht mehr und nicht weniger als die Aufgabe vor Sind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? – uns, an der Wiederherstellung eines transparenten parla- Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlos- mentarischen Entscheidungssystems mit klaren Verant- sen. wortlichkeiten zu arbeiten, also an einer im eigentlichen Ich rufe Tagesordnungspunkt 4 auf: Sinne klassischen Demokratie- und Staatsreform. Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD, Sie alle kennen die Zahlen, mit denen dieser Miss- der CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE stand seit Monaten illustriert wird: Bis etwa 1970 waren GRÜNEN und der FDP 30 Prozent der Gesetze zustimmungspflichtig. Heute ist die Zahl der Gesetze, bei denen die Zustimmung des Einsetzung einer gemeinsamen Kommission Bundesrates zwingend erforderlich ist, auf gut 60 Pro- von Bundestag und Bundesrat zur Moderni- zent gestiegen. Allerdings sollten wir uns davor hüten, sierung der bundesstaatlichen Ordnung die Verantwortung dafür auf die Länderseite, auf den – Drucksache 15/1685 – Bundesrat, zu schieben. Wir, der Deutsche Bundestag, der Gesetzgeber, sind selbst für eine Entwicklung ver- Es liegt ein Änderungsantrag der fraktionslosen Ab- antwortlich, in der der Bund im Bereich der konkurrie- geordneten Dr. Gesine Lötzsch und Petra Pau vor. renden Gesetzgebung immer mehr Kompetenzen mit Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2003 5591

Präsident Wolfgang Thierse (A) einer Regelungsdichte bis in die kleinsten Verästelungen (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (C) hinein an sich gezogen hat. DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Wir sind die Hauptverantwortlichen für das, was un- sere Verfassung seit einiger Zeit „Gemeinschaftsaufga- Die Aufgabe der Kommission wird es sein müssen, ben von Bund und Ländern“ nennt – ein Konstrukt, das all die politischen Komplexe in die Verantwortung der unseren Verfassungsmüttern und Verfassungsvätern regionalen Ebene, das heißt die der Länder, zu geben, die fremd war, das uns heute aber mehr Schwierigkeiten als dort entschieden werden können. Es geht um Politikfel- Freude bereitet. der, in denen regionale Vielfalt einen Gewinn darstellt und nicht zu einem Verlust an Rechtssicherheit und zu (Jörg van Essen [FDP]: Sehr richtig!) Schwierigkeiten mit der gerade aus ostdeutscher Sicht weiter wünschenswerten Angleichung von Lebensver- Denn dahinter verbergen sich Intransparenz und Unklar- hältnissen führt. heit in Sachen Verantwortlichkeit, insbesondere die der verwirrenden Finanzierungs- und Besteuerungsstruktu- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ ren. DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Die Herausforderungen für die einzusetzende Kom- mission werden nicht kleiner, wenn wir sie mit dem Ich vermute, in dieser abstrakten Form werden mir großartigen Projekt einer europäischen Verfassung zu- die meisten in meiner Problembeschreibung folgen. Wie sammendenken. Dennoch plädiere ich dafür, dass wir schwer dies im Detail umzusetzen sein wird, will ich an uns dieser Aufgabe nicht kleinlich und beckmesserisch, zwei kleinen Beispielen illustrieren. sondern mit Freude und dem Bewusstsein widmen, wel- Der saarländische Ministerpräsident hat neulich in ei- che großen Chancen darin liegen. Wer von uns hätte vor nem Interview zu Recht auf die Überregulierung auf- 15 Jahren davon zu träumen gewagt, dass wir in den merksam gemacht, die darin liegt, dass der Bund den Ta- Jahren 2003/2004 ganz praktisch über Zuständigkeits- xen elfenbeinfarbige Lackierung vorschreibt. Ich habe fragen eines europäischen Unionsprojektes verhandeln wie er nichts dagegen, wenn Taxen aller Farben durch und streiten, das nicht mehr nur von Rom bis Stockholm, Saarbrücken fahren können. sondern auch von Lissabon bis Tallinn reicht? Schwieriger wird es in einem anderen Fall. Gerade Wer diesen einzigartigen Vorgang richtig bewerten hat die Kultusministerkonferenz der Länder ihren ers- und einordnen will, der wird nicht umhinkommen, nach ten Bildungsbericht verabschiedet. Neben anderen Be- kleineren historischen Vergleichsprojekten zu suchen. sorgnis erregenden Befunden stellt der Bericht fest, dass (B) Was wir dabei feststellen können, ist eine fast unabweis- sich Deutschland einen weltweit einmaligen Wirrwarr (D) bare Bewegung der Abgabe von Zuständigkeiten nach von weit mehr als 2 500 Lehrplänen für unsere Schulen oben. Dies war Ende des 19. Jahrhunderts der Fall, als leistet. Die Lehrplandatenbank weist sogar über die Wiederbegründung des Deutschen Reiches gelang 4 400 Eintragungen auf. Die Kommission wird die Frage und die zersplitterten Teilstaaten Kompetenzen an die zu beantworten haben, ob wir gemeinsam die Kraft auf- Zentralgewalt abgeben mussten. Dies findet sich im Pro- bringen, diesen Wirrwarr im Interesse der Schülerinnen zess der Neugründung der Bundesrepublik Deutsch- und Schüler wie der Eltern zu beenden. Denn immerhin land durch die bereits früher gebildeten Länder wieder. erwarten wir von den Menschen Flexibilität und muten Dies erleben wir seit Jahren als Deutscher Bundestag, Familien auch Ortswechsel zur Arbeitsaufnahme zu. der Kompetenzen an die europäischen Entscheidungs- Aber das dürfen doch nicht die Kinder in schlecht auf- strukturen abzugeben hat. einander abgestimmten Schulsystemen auszubaden ha- ben! Dieser Prozess ist bislang schleichend und eher unko- ordiniert erfolgt. Deshalb, meine ich, macht es Sinn, dass (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ wir gewissermaßen im Nachgang zur Arbeit des euro- DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der päischen Verfassungskonvents unsere eigenen föderalen FDP) Entscheidungsstrukturen einer Überprüfung unterziehen. Ich habe eingangs darauf hingewiesen, dass die (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Schwierigkeiten für diese große Aufgabe schon in der des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Sache selbst liegen. Sie liegen aber zum anderen in glei- cher Weise in der großen Vielfalt der beteiligten Es mag für manchen unter uns in diesem Hause Akteure, deren Interessen berührt sind und die im Mei- schmerzlich erscheinen, aber mir scheint es unabweisbar nungsfindungsprozess der Kommission mit zu entschei- zu sein, dass die Verlagerung von nationalstaatlichen den haben. Wir haben hier den Deutschen Bundestag mit Kompetenzen nach Brüssel und Straßburg auch die seinen vier Fraktionen und einer Regierungs- und einer Frage nach einer binnenstaatlichen Neujustierung der Oppositionsseite; wir haben den Bundesrat mit ganz un- Zuständigkeit aufwirft, und zwar aus einem besonderen terschiedlichen Koalitionen bei den Landesregierungen, Grund: Alles, was wir in diesem Zusammenhang tun, hat mit der A- und B-Länder-Koordination. Innerhalb des von den Interessen der Bürgerinnen und Bürger auszuge- Bundesrates gibt es verständlicherweise Interessendiver- hen. Je weiter die politischen Entscheidungsvorgänge genzen zwischen den armen und den reichen, den klei- von ihnen wegdelegiert werden, umso unpersönlicher nen und den großen Ländern. Bereits im Prozess der und undurchschaubarer wird die Politik für die Bürger. Kommissionszusammensetzung wurde deutlich, dass 5592 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2003

Präsident Wolfgang Thierse (A) sich auch die Länderparlamente nicht immer durch ihre und einige Eckpunkte positiv herausstellen, die der Kol- (C) Landesregierung voll vertreten fühlen. lege Kauder Schließlich haben wir die Interessen unserer Kom- (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Jetzt munen zu achten, ohne deren aktive Mitwirkung am de- wird‘s gefährlich!) mokratischen Prozess unsere Demokratie von unten her ausgetrocknet würde. Deswegen dürfen wir sie auch bereits im Juni in einem Interview in die Debatte ge- finanziell nicht austrocknen. bracht hat. Innerhalb einer neuen, klaren Verteilung der Kompetenzen und Finanzstrukturen zwischen Bund und (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE Ländern befürwortet Kollege Kauder, dass dies zu einer GRÜNEN und der FDP) Stärkung der Länderkompetenzen bei der Gesetz- Aus dieser Interessenvielfalt ergibt sich zwingend gebung führen müsse. Zugleich aber bedeute dies, dass zweierlei: Erstens darf es in der Kommission zu keiner der Bund bei den verbleibenden Kompetenzen wiederum Polarisierung entlang der Parteigrenzen bzw. der beiden mehr eigenständige Entscheidungskraft erhalten müsse. aktuell großen „politischen Lager“ kommen. Diese Denn, so der Kollege Kauder wörtlich, Kommission wurde und wird nicht eingerichtet, um be- der Bundesrat hat nach der grundgesetzlichen Ord- stimmten politischen Projekten aus der Bredouille der nung nicht die Funktion eines ständigen Veto-Or- Blockade zwischen Bundestag und Bundesrat zu helfen. gans. Sie dient vielmehr der Entwicklung von Vorschlägen zum besseren Funktionieren unserer parlamentarischen (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Demokratie im Interesse aller Beteiligten. Wenn ich „al- DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der ler Beteiligten“ sage, dann habe ich dabei vor allem die CDU/CSU) Bürgerinnen und Bürger im Auge. Sie haben einen An- spruch auf Transparenz in der Demokratie. Mit einer Erweiterung der Länderrechte wäre des- halb im Gegenzug der Anteil der im Bundesrat zu- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ stimmungspflichtigen Gesetze deutlich zu senken. DIE GRÜNEN) Das betrifft auch den Vermittlungsausschuss. Das Sie müssen erleben und sie müssen wissen können, wer Grundgesetz hat ihm die Rolle eines Sonderorgans für bestimmte Entscheidungen die Verantwortung trägt, zur Kompromisssuche gegeben. Inzwischen aber sei es die Mehrheit des Deutschen Bundestages, sei es hat der Vermittlungsausschuss nahezu die Funktion die Mehrheit eines Landesparlaments. Ein quasi perma- eines Ersatzparlaments bekommen. nent tagender Vermittlungsausschuss zwischen Bundes- (B) Diese Beobachtungen und Eckdaten, so meine ich, (D) tag und Bundesrat verwischt genau diese Transparenz dürften im Hause breite Zustimmung finden können. und verunmöglicht es den Bürgern, die Verantwortlich- Aber – wir wissen es – wie immer steckt der Teufel im keiten zu erkennen. Detail, wird es Streit bei und in jedem Politikbereich ge- (Beifall im ganzen Hause) ben. Doch wenn wir uns mit den anderen Beteiligten auf eine solche Linie verständigen können, dann wird die Demokratie aber – darin sind wir doch alle einig – Arbeit der Kommission nicht ohne konkrete Ergebnisse lebt gerade von dieser Transparenz, davon, dass erkenn- bleiben. bar unterschiedliche Konzepte und Lösungen vorgelegt werden und wählbar sind und dass der Streit darum öf- Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte nicht fentlich und nicht hinter verschlossenen Türen ausgetra- schließen, ohne der Kommission ein mir besonders am gen wird. Herzen liegendes Problem mit auf den Weg zu geben, nämlich das unserer Hauptstadt Berlin. Mit guten Zweitens. Sobald es in der Kommission zu einer Pola- Gründen wird sich die Kommission sicherlich nicht risierung entlang der Linie Bundestag gegen Bundesrat mit einem Neuzuschnitt der Länder befassen. Die bzw. Länder kommt, werden wir ebenfalls unsere Auf- nächste Entscheidung darüber haben die Bürgerinnen gabe verfehlen. Hier hilft nur die Einsicht auf beiden und Bürger von Berlin und Brandenburg zu fällen. Sie Seiten, dass eine klarere Trennung von Aufgaben und wird auch nicht die Entscheidung des Bundesverfas- Zuständigkeiten letztlich allen beteiligten Akteuren sungsgerichts in Sachen der Finanzverfassung Berlins nützlich sein wird. Diese Warnung heißt allerdings nicht, im Verhältnis zum Bund vorwegnehmen können und dass wir nicht hier, im eigenen Hause, bereits bei der wollen. Konsenssuche beginnen müssten. Ich glaube, dass wir guten Grund haben, an dieser Aber jenseits der im Rahmen unseres Kulturfödera- Stelle optimistisch zu sein. Anlass dafür gibt nicht nur lismus immer neu auftauchenden Detailfragen einer der konstruktive und trotz allem zügige Prozess, inner- Bundeskulturförderung unserer gemeinsamen Haupt- halb dessen die Struktur dieser heute vorgeschlagenen stadt werden auch die Länder darüber mitzubefinden Kommission entwickelt wurde. Ich glaube, dass dies haben, was es heißt, dass Berlin die Hauptstadt dieser auch für die Möglichkeiten einer Konsensfindung in der Republik geworden ist und wie sich dies dort ausdrü- Sache selbst gilt. cken soll und muss, wo nicht die Rolle eines normales Bundeslandes, sondern die Hauptstadtfunktion gefragt Da ich von Ihnen selten öffentliches Lob gewohnt ist. Denn Berlin ist nicht nur eine Angelegenheit der bin, will ich umgekehrt mit gutem Beispiel vorangehen Berliner und des Bundes allein, sondern aller Deut- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2003 5593

Präsident Wolfgang Thierse (A) schen und also aller Länder der Bundesrepublik Es könnte sein, dass einige zurzeit diskutierte Reforman- (C) Deutschland. liegen nur eine Chance auf eine erfolgreiche Umsetzung haben, wenn auch die Föderalismusreform gelingt. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. In seiner derzeitigen Ausgestaltung ist der deutsche (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Föderalismus an eigene Grenzen gestoßen. Das ist im DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der Bundesrat schon früh erkannt worden. Bereits 1998 hat CDU/CSU und der FDP) einer meiner Vorgänger im Amt des Bundesratspräsiden- ten, der heutige Bundesfinanzminister Eichel, die Einset- zung einer Reformkommission angeregt, wie wir sie Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: jetzt schaffen wollen. Das Wort hat nun der Präsident des Bundesrates, Pro- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) fessor Dr. Wolfgang Böhmer. Die Ministerpräsidenten der Länder sind bereits im Ok- tober 2001 übereingekommen, Verhandlungen mit dem Dr. Wolfgang Böhmer, Präsident des Bundesrates: Bund über die Modernisierung der bundesstaatlichen Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Ordnung aufzunehmen. Im Dezember 2001 haben sich Herren! Ich darf auch meinerseits für den Bundesrat mit die Regierungschefs von Bund und Ländern über die Freude feststellen, dass über die grundsätzliche Notwen- Notwendigkeit einer Überprüfung der bundesstaatlichen digkeit der Einsetzung einer Föderalismuskommission Ordnung im Hinblick auf die Zweckmäßigkeit und Effi- zwischen uns ein breiter, parteiübergreifender Konsens zienz der Aufgabenerfüllung und die Zuordnung der po- besteht. Das gilt auch für die allgemeine Zielsetzung, bei litischen Verantwortlichkeiten verständigt. einer Reform der bundesstaatlichen Ordnung zu einer Die im Wesentlichen gemeinsamen Positionen der klareren Zuordnung der Gesetzgebungskompetenzen Länder zielen darauf ab, die politische Handlungs- und von Bund und Ländern und zu einer Neuordnung auch Entscheidungsfähigkeit von Bund und Ländern zu stär- der Mischfinanzierungen zu gelangen. ken sowie eine klare Zuordnung politischer Entschei- Bei den jeweiligen Schwerpunktsetzungen gibt es al- dungen zu den staatlichen Ebenen zu erreichen. Dies lerdings je nach Interessenlage gravierende Unter- setzt aus Sicht der Länder insbesondere voraus, dass die schiede, über die Sie andeutungsweise schon gesprochen Gesetzgebungsbefugnisse der Länder dort gestärkt wer- haben und über die wir auch in der Kommission ausführ- den, wo die Länder mehr Gestaltungsrechte als bisher lich sprechen werden müssen. benötigen, um spezifischen regionalen Bedürfnissen durch die Landesgesetzgebung gerecht werden zu kön- (B) (D) Für den Bund hat eine Reduzierung der Bundesrats- nen. Zu diesem Zweck sollten Gesetzgebungsbereiche mitwirkung durch die Verringerung der Zahl der zustim- wie zum Beispiel die Förderung der wissenschaftlichen mungspflichtigen Gesetze Vorrang. Das ist verständ- Forschung oder das Wohnungswesen aus der Zuständig- lich. Die Länder fordern mehrheitlich mehr eigene keit des Bundes an die Länder übertragen und den Län- Gestaltungsmöglichkeiten bei der Gesetzgebung und dern durch verfassungsrechtliche Zugriffsrechte und eine Zusammenführung von Aufgaben- und Ausgaben- Öffnungsklauseln Möglichkeiten eröffnet werden, von kompetenz durch eine Entflechtung von Gemeinschafts- vorhandenen bundesrechtlichen Regelungen abzuwei- aufgaben und Mischfinanzierungen. Für die Vertreter der chen. Wirtschaft ist das umständliche und langwierige Zusam- Die Rahmengesetzgebung soll nach Vorstellung der menspiel von Bundes- und EU-Ebene sowie den einzel- Länder aufgelockert werden, da sich die Verflechtung nen Ländern zumindest aus ihrer Sicht ein Standortnach- von bundesrechtlichen Rahmenbedingungen und ausfül- teil. Vor dem Hintergrund der Globalisierung und des lendem Landesrecht nicht immer bewährt hat. Stattdes- internationalen Konkurrenzdrucks fordern sie schnelle sen sollten Gegenstände der Rahmengesetzgebung, zum Entscheidungen vor Ort. Für die Bürgerinnen und Bür- Beispiel das Hochschulrecht, im Wesentlichen der Bun- ger – hier kann ich Ihnen, Herr Präsident Thierse, nur zu- desgesetzgebung mit verfassungsrechtlich gesicherten stimmen – muss nachvollziehbar sein, welche Entschei- Zugriffsrechten für die Landesgesetzgebung zugewie- dungen an welcher Stelle verantwortet werden. Für sie sen werden. Auf diese Weise würden Gesetzgebungs- sollten Entscheidungen so bürgernah wie möglich ge- verfahren vereinfacht und beschleunigt. Dieser Ent- troffen werden. flechtungsschritt wäre auch deshalb sinnvoll, weil Es ist deshalb eine ausgesprochen anspruchsvolle Rahmenregelungen heute zunehmend auf der europäi- Aufgabe für die zu bildende gemeinsame Föderalismus- schen Ebene getroffen werden. Die Auflösung der Rah- kommission, die unterschiedlichen Interessenlagen zu mengesetzgebung bei gleichzeitiger Öffnung der jeweili- einem Gesamtkonzept zusammenzuführen. Angesichts gen Bereiche für eine Länderkompetenz könnte die der gegenwärtigen Rahmenbedingungen – stagnieren- Umsetzung von europarechtlichen Vorgaben erleichtern. des Wirtschaftswachstum, internationaler Wettbewerbs- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und druck und hohe Arbeitslosigkeit – sind Reformen für der FDP) Deutschland – ich denke, darin können mir alle zustim- men – notwendiger denn je. Die Zahl zustimmungsbedürftiger Bundesgesetze sollte verringert werden. Das ist auch die einhellige Mei- (Beifall im ganzen Hause) nung der Länder. Im Gegenzug könnte den Ländern ein 5594 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2003

Präsident des Bundesrates Dr. Wolfgang Böhmer (A) Zugriff auf bundesgesetzliche Organisations- und Ver- Die Modernisierung in Deutschland wird auch von ande- (C) fahrensregelungen eingeräumt werden. Die Zustim- ren Staaten in Europa mit Interesse beobachtet. Die Eu- mungspflicht muss allerdings nach Ansicht der Länder ropäische Union hat im jetzt auslaufenden Jahr der Bun- für Gesetze gelten und erhalten bleiben, die den Ländern desratspräsidentschaft Sachsen-Anhalts auf diesem besondere Belastungen aufbürden, zum Beispiel Kosten Gebiet deutliche Fortschritte gemacht. Der europäische für Verfahren, oder durch die Einfluss auf die jeweilige Konvent hat den Entwurf eines Vertrages für eine euro- Infrastruktur genommen wird. päische Verfassung vorgelegt. Die Verträge über die Er- weiterung der Europäischen Union um zunächst zehn Im Bereich der Mischfinanzierungen sollte die Ei- neue Mitglieder wurden ratifiziert. genständigkeit der Länder gestärkt werden. Die beste- henden Mischfinanzierungstatbestände sind unter die- Zukünftig wird auf EU-Ebene verstärkt über Themen sem Gesichtspunkt auf der Grundlage der bisherigen entschieden werden, die Zuständigkeiten der Länder Beschlüsse zu überprüfen und möglichst zu vermindern, unmittelbar berühren. Die im Verfassungsentwurf veran- wir sagen nicht: abzuschaffen. kerte Kompetenzabgrenzung und Kontrolle des Subsi- diaritätsprinzips machen nur Sinn, wenn die verfas- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) sungsmäßige Ausübung dieser Rechte innerstaatlich Die in der gegenwärtigen Finanzverfassung begrün- entsprechend gesichert ist. Der Bundesrat ist sich dabei deten Mischfinanzierungen engen die haushaltspoliti- der Tatsache bewusst, dass in Europa verschiedene Kon- schen Gestaltungsspielräume der Länder in einem be- struktionen zweiter Kammern bestehen und unterschied- trächtlichen Maße ein. In Sachsen-Anhalt zum Beispiel liche Lösungswege vorhanden sind. Wir sollten deshalb werden allein durch die Bund-Länder-Mischfinanzie- bei der Modernisierung unserer Verfassungsordnung den rungskonditionen circa 42 Prozent des Investitionshaus- Blick über die Grenzen zu unseren Nachbarn nicht ver- haltes faktisch festgelegt. Die Entscheidungen über die nachlässigen. Prioritäten der Landesinvestitionspolitik werden also in Das Leitbild des Grundgesetzes ist der so genannte der politischen Wirklichkeit ganz wesentlich auch auf kooperative Föderalismus. Oberstes Ziel der Finanz- der Bundesebene getroffen. Ein solidarischer Ausgleich verfassung soll es bleiben, alle Länder und den Bund von gesamtstaatlich nicht hinnehmbaren strukturellen finanziell so auszustatten, dass sie ihren Aufgaben ge- Unterschieden muss allerdings auch künftig gewährleis- recht werden können. In der Reformdebatte wird schon tet bleiben. bisher gelegentlich die Auffassung vertreten, dass ein (Beifall bei der CDU/CSU) mehr autonomieorientierter Systemwechsel hin zu einem so genannten Wettbewerbsföderalismus unabdingbar sei. Das ist nicht nur für die neuen Bundesländer wichtig. (B) Der Begriff des Wettbewerbsföderalismus wurde, meine (D) Deswegen halten wir diese Aussage für mindestens ich, in der letzten Zeit sehr strapaziert. Diesen Begriff ebenso bedeutsam. Ich will auch auf das Gegenteil noch brauchen jedoch auch die wirtschaftlich schwächeren zu sprechen kommen. Länder dann – aber eben nur dann – nicht zu fürchten, Bei der Neuordnung der Finanzverflechtung zwi- wenn man sich auf die Selbstverständlichkeit verstän- schen Bund und Ländern geht es mittel- bis langfristig digt, dass hierzu Chancengleichheit bei den Startbedin- darum, größere Freiheiten bei der Verfügbarkeit der Mit- gungen gehört. Davon sind wir noch weit entfernt. tel innerhalb der Gemeinschaftsaufgaben zu erlangen. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie Für die neuen Länder stehen diese Verhandlungen bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE grundsätzlich unter dem Vorbehalt, dass die für sie bis- GRÜNEN und der FDP) lang eingesetzten Mittel bis zum Jahr 2019 vollständig und dauerhaft als freie Mittel zur Verfügung gestellt wer- Meine Damen und Herren, ich hoffe, dass die heute den. Durch die Reform darf kein Land finanziell zu beschließende gemeinsame Föderalismuskommission schlechter gestellt werden als bisher; sonst werden wir im Hinblick auf den Handlungsbedarf Reformvorschläge keine Zustimmung erlangen können. vorlegen wird, die es ermöglichen, das System der bun- desstaatlichen Ordnung auf eine neue, zukunftsfähige Auch Fragen der Steuererhebungspraxis sind mit dem Grundlage, und zwar auch im europäischen Kontext, zu Ziel einer Modernisierung und der Steigerung der Effi- stellen. zienz der Steuerverwaltung einer kritischen Überprüfung zu unterziehen. In den Verhandlungen zur bundesstaatli- Ich glaube, dass die Regelungen des Einsetzungsbe- chen Modernisierung sollten Regelungskompetenzen für schlusses eine ausreichende Grundlage dafür sind, diese Steuern, deren Ertrag vollständig den Ländern bzw. den schwierige Aufgabe erfolgreich in Angriff zu nehmen. Kommunen zufließt, im Hinblick auf eine mögliche Die vorgesehene Beteiligung der Landtage und der kom- Stärkung der Steuergesetzgebungskompetenzen der Län- munalen Spitzenverbände halten wir für angemessen. der überprüft werden. Eine reale Erfolgschance haben diese Absichten aber vermutlich nur im zeitlichen Zu- Ich möchte Herrn Bundestagspräsidenten Thierse an sammenhang mit einer grundsätzlichen Steuerreform. dieser Stelle für die konstruktive Zusammenarbeit dan- ken, die es ermöglicht hat, dass offene Punkte kurzfristig Im Rahmen der Reformüberlegungen ist auch die geklärt werden konnten und heute der Beschlussvor- Europakompatibilität von Grundgesetz und bundesstaat- schlag in der Ihnen bekannten Form vorgelegt werden licher Ordnung besonders zu berücksichtigen. Dieser kann. Auch der Bundesrat betrachtet die vereinbarte Fö- Aspekt ist nicht nur für uns von besonderer Bedeutung. deralismuskommission als Chance, die wir gemeinsam Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 66. Sitzung. 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Präsident des Bundesrates Dr. Wolfgang Böhmer (A) nutzen sollten. Deshalb erbitten auch wir Ihre Zustim- Fraktionen des Deutschen Bundestages wollen wir Mit- (C) mung. glieder des Bundestages und des Bundesrates beauftra- gen, im Verlauf des kommenden Jahres Vorschläge für Vielen Dank. die Fortentwicklung dieser bundesstaatlichen Ordnung (Beifall im ganzen Hause) zu machen. Es ist ein gutes Zeichen, dass alle Fraktionen mitmachen und der Bundesrat morgen einen Einset- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: zungsbeschluss treffen will, der wortgleich mit dem des Bundestages ist. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Franz Müntefering, SPD-Fraktion. (Vorsitz: Präsident Wolfgang Thierse)

Franz Müntefering (SPD): Ich bedanke mich beim Präsidenten des Deutschen Bundestages, Wolfgang Thierse, und in gleicher Weise Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und beim Präsidenten des Bundesrates, Professor Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Demokratie Dr. Wolfgang Böhmer, dafür, dass sie mit ihren heutigen hat Bedingungen, inhaltliche und praktische; sie hat Beiträgen Zeichen gesetzt und den Willen zum gemein- Werte und Regeln als Voraussetzung für ihr Gelingen. samen Handeln von Bundestag und Bundesrat sichtbar Bei uns in Deutschland sind diese Werte und diese gemacht haben. Regeln im Grundgesetz niedergeschrieben. Das Grund- gesetz ist in einer Zeit tiefster Schmach Deutschlands (Beifall im ganzen Hause) entstanden: nach Nationalsozialismus, nach Verirrungen und Verbrechen, nach Krieg, in einem zerstörten Land. Was ist Ausgangslage für unsere Debatte? Das Grundgesetz hat sich als eine verlässliche und weit- In den vergangenen fünf Jahrzehnten ist es Zug um sichtige Grundlage für diese deutsche Demokratie erwie- Zug zu einer Verlagerung von Zuständigkeiten, insbeson- sen. Unser Grundgesetz ist ein großer Erfolg in der deut- dere bei den Gesetzgebungskompetenzen, auf den Bund schen Geschichte. Wir sind und bleiben stolz auf dieses gekommen. Dabei ging es meist um einheitliche Rege- Grundgesetz. lungen in allen Ländern oder – sagen wir es ehrlich – (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ auch um Geld. Es ging um Geld, das der Bund hatte und DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der das er für sinnvolle Zwecke, zum Beispiel für den Hoch- CDU/CSU und der FDP) schulbau, einsetzen wollte, ohne dafür die Kompetenz zu haben. Per Verfassungsänderung sind dafür quasi zum Darin wurden vor gut 54 Jahren in Bonn Maximen Ausgleich die Rechte der Länder zur Mitwirkung an der (B) formuliert und Sätze geprägt, die Leitlinien für unsere Gesetzgebung ausgebaut worden. Das hat zusammen mit (D) Politik waren und auch heute sind. Zu den Menschen- der sehr länderfreundlichen Auslegung von Art. 84 rechten heißt es in Art. 1: Grundgesetz durch das Bundesverfassungsgericht dazu Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu geführt, dass heute über 60 Prozent der Gesetze zustim- achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staat- mungspflichtig sind. Es waren einmal viel, viel weniger. lichen Gewalt. So haben es sich die Mütter und Väter unserer Verfas- Zu Bund und Ländern heißt es in Art. 20: sung damals jedenfalls nicht vorgestellt. Sie gingen im Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokrati- Jahr 1949 davon aus, dass die Länder nur dann an der scher und sozialer Bundesstaat. Bundesgesetzgebung entscheidend mitwirken, wenn die Länderinteressen besonders stark – besonders stark! – Die Herausforderung, ein demokratischer und sozia- berührt werden. 1949 gab es im Grundgesetz nur in ler Staat sein zu wollen, begleitet uns, die Abgeordneten 12 Artikeln zustimmungspflichtige Tatbestände; heute des Bundestages, in unseren tagtäglichen politischen Be- ist das in 35 Artikeln der Fall. mühungen, gerade in dieser Zeit großer Neuerungen, in der es um wichtige Entscheidungen geht. Man kann jetzt lange darüber lamentieren, wer für diese Entwicklung verantwortlich ist, ob nicht auch die Die Frage, die damit verbunden ist, lautet: Ist die Ord- Länder Machtzuwachs gewollt haben, ob nicht auch sie nung dieses Bundesstaates in vollem Umfang zeitge- diese Entwicklung befördert haben. Man kann partei- mäß? Dieser Frage haben wir uns heute im Bundestag, politische Motive ins Feld führen. Aber alles das hilft morgen im Bundesrat und dann in der Kommission, die nicht weiter. Die Realität ist jedenfalls, dass der Bundes- wir gemeinsam einrichten wollen, zu stellen. Werden die rat mit seiner jeweiligen Mehrheit wesentliche politi- Regeln, nach denen wir funktionieren und nach denen sche Initiativen des Bundes blockieren und so maßgebli- unsere Demokratie organisiert ist, unserem Anspruch ge- chen Einfluss auf die Gesetzgebung des Bundes ausüben recht, die Unantastbarkeit der Würde des Menschen zu kann. Der Bundesrat hat faktisch die Funktion eines per- garantieren sowie ein sozialer und demokratischer Bun- manenten Vetoorgans. Er übt sie längst nicht immer aus, desstaat zu sein? – Das klingt technisch; aber es geht um aber auch nicht selten. Im Parlamentarischen Rat damals die Handlungsfähigkeit der Politik und ganz konkret um war das so sicherlich nicht gemeint. Diese Entwicklung die Praxis der Demokratie. bedeutet andererseits, dass die Länder Souveränität auf- Heute debattieren wir über die Modernisierung der geben, ungenutzt lassen, sich bundeseinheitlichen Re- bundesstaatlichen Ordnung. Mit einem Antrag aller geln unterwerfen. 5596 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2003

Franz Müntefering (A) Deutlich sind hier die Worte eines Ministerpräsiden- darf der Föderalismus keine Bremse sein, dürfen sich (C) ten: Bund, Länder und Gemeinden nicht gegenseitig blockie- ren. Als Beispiel nenne ich die bessere Vereinbarkeit von Die Bundesregierung ist in wesentlichen Teilen ih- Familie, Kindern und Beruf. Diese wichtige gesell- rer Aktivitäten der intensiven Kontrolle und der schaftliche Innovation soll in diesem Jahrzehnt in rechtlichen Mitentscheidung des Bundesrates unter- Deutschland gelingen. Sie kann aber nur gelingen, und worfen. Man kann sogar sagen, dass der Bundesrat zwar bald, wenn Bund, Länder und Gemeinden dafür das für die Bundesregierung ein schwierigerer Partner nötige zielgerichtete, abgestimmte Engagement zeigen, als der Deutsche Bundestag ist, da sie mit der Mehrheit des Bundestages in parteipolitischer Iden- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten tität steht. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Man spricht in unserer Gesellschaft – wir tun es auch – wenn sie sich nicht in Zuständigkeitsfragen und stark un- öffentlich von der zweiten Kammer und meint, Bundes- terschiedlichen Geschwindigkeiten verlieren. tag und Bundesrat seien bei der Gesetzgebung gleichbe- rechtigt, was, wie wir alle wissen, so nicht ist. Im Grund- Als Bund geben wir in dieser Legislaturperiode gesetz steht: 8,5 Milliarden Euro an die Kommunen, damit dort die Möglichkeiten von Ganztagsbetreuung verbessert wer- Durch den Bundesrat wirken die Länder bei der Ge- den. Wer die Debatten über die Umsetzung miterlebt hat, setzgebung und Verwaltung des Bundes und in An- hat erfahren, dass das manchmal sehr schwierig ist. Nach gelegenheiten der Europäischen Union mit. wenigen Minuten war man nicht mehr bei der Frage von Vereinbarkeit von Familie und Beruf, sondern bei der Sie wirken mit! Frage, wer denn eigentlich zu entscheiden hat. Es hieß, Mit der skizzierten Entwicklung ist die Bedeutung dass sich der andere bitte schön nicht einmischen soll des Vermittlungsausschusses gestiegen. Er ist in die und dass die Frage das Geld betreffend ganz einfach zu Rolle eines Ersatzparlaments gerutscht, in dem Kompro- beantworten ist: Wenn das Geld gegeben wird, dann misse gebastelt werden. Er ist ein Gremium, das nicht wird das schon irgendwo gemacht werden. öffentlich in weitgehender Intransparenz, in kleinster Unklarheit über die Zuständigkeiten ist eine Bremse Runde, mit oft widerstrebenden Motiven aus vorliegen- für das, was wir wollen. Wir müssen uns darüber klar den Gesetzentwürfen Gesetze macht, die dann in Bun- sein, dass große gesellschaftliche Innovationen, die wir destag und Bundesrat gebilligt werden – oder auch nicht. vor uns haben, nur funktionieren werden, wenn wir ein Der Vermittlungsausschuss als Organ der Bündelung, Einvernehmen darüber herstellen, dass Bund, Länder (B) als Konzentrat unserer parlamentarischen Demokratie ist und Gemeinden sich solchen Aufgaben gemeinsam stel- (D) etwas, was schon für uns hier schwer zu verstehen und len und sie gemeinsam realisieren müssen. zu akzeptieren ist; noch viel mehr gilt das für die Bürge- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ rinnen und Bürger im Land. Wohlgemerkt: Es geht nicht DIE GRÜNEN) um die Qualität der Gesetze, die da entstehen. Das ist kein Vorwurf an die Kolleginnen und Kollegen, die im Die massive Verflechtung und Unübersichtlichkeit Vermittlungsausschuss die Arbeit tun. Aber für das hat einen gefährlichen Nebeneffekt: Die Bürgerinnen Funktionieren von Demokratie und für die Transparenz und Bürger sehen nicht mehr, wer für was zuständig und von Demokratie ist das, was sich eingebürgert hat, nicht verantwortlich ist. Hier ist auch eine der Ursachen für gut. die wachsende Entfremdung zwischen der Bevölkerung und der handelnden Politik. Es muss klar sein, wofür der (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE Bund zuständig ist und wofür jedes einzelne Land zu- GRÜNEN und der CDU/CSU sowie bei Abge- ständig ist. Wahlen verlieren ihren Reiz und sogar teil- ordneten der FDP) weise ihren Sinn, wenn auch nach Wahlen nicht klar ist, Wir wollen die Rolle des Parlaments stärken. Wir Parla- wer Verantwortung bekommen hat und sie wahrnehmen mentarier wollen die Auseinandersetzung um die besten kann und muss. Das Problem ist klar: Es muss entwirrt Ideen im Parlament öffentlich führen und hier – hier! – werden, bei den Zuständigkeiten, den Gesetzgebungs- über Gesetze entscheiden. kompetenzen und den Gesetzgebungsmodalitäten. Die Entstehungsgeschichte der jüngsten Gesundheits- Eine diskussionsbedürftige Problematik sind dabei reform wirkte eher ungewöhnlich, war aber parlaments- die Finanzbeziehungen zwischen Bund und Ländern. näher und eher grundgesetzkonform als viele Entschei- Sie werden sicher ein wichtiges Thema in der Kommis- dungsprozesse im Vermittlungsausschuss. Die Debatte, sion sein, deren Einsetzung wir heute beschließen wol- die dazu in der politischen Öffentlichkeit geführt worden len. Manche sagen, die Länder seien Gewinner dieser ist, war schon verwunderlich. Entwicklung. Schließlich könnten die Länder bei ent- sprechenden Mehrheiten im Bundesrat viele Gesetze Die Zeit, die eine Demokratie für Entscheidungen aufhalten. braucht, ist eine andere wichtige Größe. Sorgfältige Ar- beit erfordert ihre Zeit. Die Frage ist aber, ob es einge- In Wahrheit ist es viel differenzierter. Die gesetzgebe- fahrene oder auch eingerostete Mechanismen gibt, die rische Gestaltungsmöglichkeit der Länderparlamente ist dazu führen, dass die Dinge immer wieder verschleppt fast gänzlich verloren gegangen. Gewonnen haben die werden. Wenn wir als Nation erfolgreich sein wollen, Landesregierungen. Der Exekutivföderalismus, den wir Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2003 5597

Franz Müntefering (A) in Deutschland faktisch haben, hat dazu geführt, dass die wird, ist ein Zustand, der diskussionsbedürftig ist und, (C) Länderparlamente uns – auch in der Vorbereitung auf wie ich finde, so nicht bleiben darf. diese Kommission – fragen: Was ist unsere Rolle? (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Ich weiß nicht, ob wir ihnen in der Debatte, die wir zu DIE GRÜNEN) führen haben, helfen können. Wir müssen uns trotzdem schlichtweg dieser Wahrheit stellen. Wer spricht da mit- Es geht deshalb um eine Neujustierung der Rahmen- einander? Es spricht der Bundestag, das Gesetzgebungs- gesetzgebung des Bundes. Es geht darum, Raum für organ unserer Demokratie, mit den Exekutiven der Län- Subsidiarität, Eigenverantwortung, mehr Vernetzung, der. Die Länderparlamente sind, wenn überhaupt, nicht weniger Hierarchie und mehr Bürgernähe zu schaffen. unmittelbar an dem beteiligt, was da „zwischen Bund Diesem Ziel dienten auch die Erörterungen der Konfe- und Ländern“, wie wir schnell sagen, besprochen wird. renz der Landtagspräsidenten in Lübeck, die wir mit in Ich kann das nicht auflösen und will das auch nicht mal unsere weiter gehenden Beratungen einbeziehen wollen. eben versuchen. Ich sage nur: Darüber wird zu sprechen Auch die europäische Verfassung ist ein Anlass da- sein. Es wird um die Frage gehen, ob wir die Möglich- für, dass wir diese Debatte zu führen haben, und bringt keit haben, den Parlamenten neues Gewicht zu geben. wichtige Aspekte ein. Welche Rolle spielen die Bundes- Die Länder haben kaum noch die Möglichkeit, zu re- länder in einem Europa der Regionen? Europa selbst gibt gional unterschiedlichen Regelungen zu gelangen, weil sich eine Verfassung und justiert seine Institutionen neu. der Bund überall seine Hand mit im Spiel hat. Bei seiner Nationale Aufgabe ist es dabei festzulegen, welche Auf- Rahmengesetzgebung ist – wie der Bundespräsident gabe die Länder in einem föderalen Staat wie Deutsch- gesagt hat – der Rahmen oft so groß, dass man das Bild land haben. Die Wechselwirkungen zwischen Brüssel, nicht mehr sieht. Ob der Bund dabei seine Kompetenzen der Bundes- und der Länderebene werden zunehmen und überzieht oder ob die Länder gar kein Bild entwerfen die Beziehungen müssen klar geordnet werden. Für wollen, ist eine zweite Frage, der wir uns stellen müssen. Deutschland steht in Europa viel auf dem Spiel. Deshalb Jedenfalls hat sich bei uns in der Bundesrepublik müssen wir in Europa mit einer Stimme und nicht mit Deutschland eine Rahmengesetzgebung herausgebildet, 16 Stimmen sprechen. Die Gefahr, die sich sonst ergibt, die den Ländern keine Möglichkeit mehr lässt, diesen ist groß; an vielen Stellen merkt und hört man es. Es Rahmen auszufüllen. Vielleicht wollen die Länder das nützt aber nicht den Interessen unseres eigenen Landes. sehr oft gar nicht. Vielleicht tauchen sie vor der Verant- Andere Länder haben andere Ausgangsbedingungen. wortung weg und blicken auf den Bund – in der Erwar- Deshalb wird das Thema Europafestigkeit unserer Insti- tung, dass er die Probleme löst. tutionen – so möchte ich es einmal nennen – eine Rolle spielen müssen in der Diskussion, die wir führen. (B) Nein, diese Vernetzung und Vermischung von Zustän- (D) digkeiten muss ein Ende haben. Gesetzgebungsverfah- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ ren sind zu umständlich, zu langwierig und viel zu kom- DIE GRÜNEN) pliziert geworden. Wir brauchen und wollen keine neue Verfassung. Wir wollen keine Revision des Grundgeset- In vergangenen Legislaturperioden beschäftigten nur zes. Wir brauchen eine Reföderalisierung, eine Rück- sehr wenige Vorgaben aus Europa den Bundestag; so in besinnung auf die ursprünglichen Aufgaben von Bund der dritten und vierten Wahlperiode jeweils 15. In der und Ländern, klare Regeln und klare Verantwortlichkei- letzten Legislaturperiode waren es irgendwo zwischen ten. 2 500 und 3 000. Wer von uns könnte denn ehrlich von sich behaupten, dass er die Übersicht hat? Wer von uns (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ würde denn von sich behaupten, dass er Einblick hat in DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der das, was sich da entwickelt, und er rechtzeitig Einfluss CDU/CSU) auf das nehmen kann, was da vorbereitet wird? So bleibt Diese Aufgabe steht im Vordergrund der Arbeit der ihm zum Schluss nur übrig, zuzustimmen bzw. die Be- Kommission. schlüsse zu akzeptieren. Das ist nicht gut für das Selbst- verständnis dieses nationalen Parlaments im Verhältnis Das bedeutet im Einzelnen eine Sicherung der Hand- zu Europa. Deshalb muss auch dieses offen und ehrlich lungsfähigkeit von Bund und Ländern, eine Stärkung der angesprochen werden. Rolle der Landtage in der Gesetzgebung, eine Reduzie- rung der Zahl der zustimmungsbedürftigen Gesetze – (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Einspruchsgesetze als Regelfall, zustimmungsbedürf- DIE GRÜNEN) tige Gesetze als Ausnahme. Zu einigen Fragen, die kommen werden, nur einige Ich will noch einmal auf die Gesundheitsreform zu- kurze Anmerkungen, ohne das heute vollständig zu be- rückkommen. Es mag manchem parteipolitisch schei- antworten. Zwei Komplexe werden nicht Gegenstand nen, aber mir leuchtete nicht ein, dass der Bundesrat in der Beratungen der Kommission sein: der Zuschnitt der der Gesetzgebung zur Gesundheitsreform ein Vetorecht Bundesländer und die Frage, ob stärkere plebiszitäre hatte. Er hatte es, weil die Länder für die Finanzierung Elemente auf nationaler Ebene vorgesehen werden sol- der Krankenhäuser zuständig sind. Das ist es aber auch. len. Für den ersten Bereich sind einzig und allein die Dass in einer solchen Situation Länder aufgrund ihres Länder selbst zuständig. Mit dem zweiten Thema wird Vetorechtes darüber wesentlich mitentscheiden können, sich der Deutsche Bundestag in absehbarer Zeit separat wie eine Gesundheitsreform auf Bundesebene gestaltet befassen. Wir befinden uns hier in den Vorbereitungen. 5598 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2003

Franz Müntefering (A) Das Stichwort Wettbewerbsföderalismus ist gefal- druck von unserer parlamentarischen Arbeit gewinnen (C) len. Wir werden uns damit auseinander zu setzen haben. können. Für Ihren Aufenthalt heute in unserem Hause Es gehört zu dem Grundsatz der Souveränität der Länder und für Ihr weiteres parlamentarisches Wirken begleiten im Bundesstaat, der im Grundgesetz verankert ist, dass Sie unsere besten Wünsche. die Länder auch im Wettbewerb untereinander stehen. (Beifall) Wir dürfen die Idee des Wettbewerbs, hinter dem ja auch die Idee des Avantgarde-sein-Könnens steckt, nicht ver- Ich erteile nun Kollegen Wolfgang Bosbach, CDU/ dunkeln. CSU-Fraktion, das Wort. (Volker Kauder [CDU/CSU]: Kann man das auch auf Deutsch sagen?) Wolfgang Bosbach (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Alexander Es müssen nur die Ausgangsbedingungen, von denen der Große wusste sich zu helfen, auch ohne eine Kom- aus die Länder antreten, vergleichbar sein. Wir von unse- mission: Ein einziger Schlag genügte – Problem gelöst. rer Seite werden jedenfalls nicht der Idee entgegenste- Zugegeben: König Gordios hatte sich die Form der Pro- hen, den Ländern in unserem Bundesstaat Platz und blemlösung wahrscheinlich anders vorgestellt. Aber im- Raum für eigene Ideen und eigenes Handeln zu geben. merhin – der Gordische Knoten war entzwei. Es muss nur abgestimmt und geklärt sein, wem welche Zuständigkeiten zukommen. Eine so einfache Lösung wird es diesmal wohl nicht geben. Aber die Aufgabenstellung der Kommission zur Nicht wenige haben abgeraten, überhaupt an das Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung er- Thema der bundesstaatlichen Ordnung heranzugehen. innert schon ein wenig an den Versuch, einen unentwirr- Viele haben gesagt: zu komplex, zu zäh, undankbar. – baren Knoten zu lösen, einen Knoten, den diesmal aller- Wir versuchen es trotzdem. Wir haben bei uns im Lande dings nicht fremde Mächte geknüpft haben, sondern schon Leute genug, die resigniert haben oder uns besser- Bundestag und Bundesrat gemeinsam in den vergange- wisserisch Ratschläge geben. Wir wissen alle miteinan- nen Jahrzehnten; natürlich nicht in der Absicht, beson- der in Bund und Ländern, dass wir gut beraten sind, ders komplizierte verfassungsrechtliche Regelungen zu wenn wir uns die Mechanismen der Organisation der erfinden, nicht, um klare Zuständigkeiten zu verschlei- Demokratie anschauen und versuchen, sie auf die Höhe ern, sondern in dem Bemühen, sich wechselseitig ein ho- der Zeit zu bringen. Wir versuchen das mit Zuversicht. hes Maß an Einflussnahme auf die jeweils andere Seite Alle, die Mut haben, können dabei mitmachen. Wir ge- zu sichern. hen ohne Hektik, aber zügig vor. Ich denke, dass sich im Verlauf des Jahres 2004 herausstellen muss und heraus- Solange die Interessen und die politischen Ziele der (B) stellen wird, ob wir in der Lage sind, gemeinsam zielfüh- unterschiedlichen staatlichen Ebenen deckungsgleich (D) rende Maßnahmen auf den Weg zu bringen. Als Grund- sind, kann das funktionieren. Ganz anders ist die Lage lage für Beschlüsse in der Kommission haben wir ja die jedoch bei grundlegend unterschiedlichen politischen Zweidrittelmehrheit vereinbart. Es täte der Demokratie Auffassungen, bei Interessen- und Zielkonflikten. Dann in Deutschland gut, wenn wir uns nicht nur bewusst wä- heißt es oft: Nichts geht mehr. Dann werden wortreich ren, dass wir manche wichtige Inhalte erneuern müssen, Stillstand und Blockade beklagt. Dann entsteht beim sondern auch, dass – nach 50 Jahren Erfolgsgeschichte – Bürger der Verdacht, dass es den Parteien und Fraktio- vieles verändert werden muss. Wir müssen das Verhält- nen nicht in erster Linie um die Sache gehe, um die Lö- nis zwischen Bundestag und Bundesrat, aber auch die sung von Problemen, sondern um das eigene politische Rolle der Kommunen und das Verhältnis Deutschlands Interesse, dass also Eigennutz mit Gemeinwohl ver- und seiner Bundesländer zu Europa klarstellen und uns wechselt werde. auf die Erfordernisse unserer Zeit einstellen. Der Begriff Föderalismusreform elektrisiert nicht je- Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit. den. Er kommt spröde daher. Wenn wir ihn dann noch garnieren mit Begriffen wie Rahmengesetzgebung, Kon- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ nexitätsprinzip, Vorranggesetzgebung, Gemeinschafts- DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der aufgaben und Mischfinanzierung, geraten Staatsrechtler CDU/CSU und der FDP) und Politologen vielleicht ins Schwärmen, aber viele im Publikum werden sich fragen: Was hat das mit mir zu Präsident Wolfgang Thierse: tun? Was bedeutet das eigentlich ganz konkret für die Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auf der Tribüne hat alltägliche politische Praxis? Was soll sich wie ändern? soeben der algerische Parlamentspräsident Younès Formal geht es darum, unsere verfassungsmäßige mit einer Delegation des algerischen Parlaments Platz Ordnung so zu ändern, dass die Gewichte im Bundes- genommen. Wir begrüßen Sie sehr herzlich. staat neu justiert werden; einerseits in horizontaler Rich- (Beifall) tung – beim Bund und in den Ländern zwischen den Ver- fassungsorganen und Institutionen –, andererseits in Ihr Besuch, Herr Präsident, ist Ausdruck der guten Be- vertikaler Richtung – im Verhältnis zwischen Bund, ziehungen zwischen unseren beiden Ländern. Wir wis- Ländern und Gemeinden. So kompliziert die verfas- sen, dass Algerien ein besonders wichtiger Nachbar an sungsrechtlichen Details im Einzelnen sein mögen – die der Südgrenze der Europäischen Union ist. Wir hoffen, Probleme, die wir lösen wollen, sind von großer Bedeu- dass Sie in diesen Tagen einen aufschlussreichen Ein- tung für die Praxis. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2003 5599

Wolfgang Bosbach (A) Erstens. Wir wollen die Mischzuständigkeiten zwi- neuen Belastungen befrachtet wurden und die gleichzei- (C) schen Bund und Ländern entflechten. tig mit wegbrechenden Einnahmen zu kämpfen haben. (Beifall des Abg. Klaus-Peter Willsch [CDU/ Beispiel Integration. Wir haben keinen Mangel an Zu- CSU]) wanderung, aber wir haben einen erkennbaren Mangel an Integration. Nicht mehr Zuwanderung, sondern mehr Dabei geht es um die höchst praktische Frage, welche Integration ist daher das Gebot der Stunde. Deshalb ist staatliche Ebene für welche Aufgaben zuständig, dann es richtig und notwendig, dass wir mehr tun für eine bes- aber auch verantwortlich sein soll – nicht ein bisschen sere Integration, auch für die nachholende. verantwortlich, nicht mitverantwortlich, sondern allein verantwortlich. Die Integrationsangebote und -leistungen können nur ortsnah erfolgen, also in den Städten und Gemeinden. Klare Zuständigkeiten stärken die Handlungskraft der Das darf im Umkehrschluss jedoch nicht bedeuten, dass politischen Akteure. Wenn Verantwortung nicht mehr die Städte und Gemeinden mit den dadurch entstehenden klar erkannt werden kann, ist eine Reform vonnöten. Kosten belastet werden. Wenn der Bund Rechtsansprü- Wenn die Zuständigkeiten unklar sind, führt das zu orga- che auf Teilnahme an Sprach- und Integrationskursen nisierter Unverantwortlichkeit. Das wollen wir alle ge- gewährt oder wenn er sogar Teilnahmeverpflichtungen meinsam ändern. festschreibt, dann muss er auch die Kosten tragen. Un- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie sere Kommunen können wir jedenfalls nicht mit zusätz- bei Abgeordneten der SPD und des BÜND- lichen Kosten belasten. NISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Wir wollen, dass die Bürger klar erkennen können, wer der FDP) auf welchen Politikfeldern für sie handelt und wer die Viertens. Wir wollen die Länder und die Landespar- Verantwortung trägt, die Verantwortung für Erfolg, aber lamente stärken. Die Stichworte lauten hier: Reduzie- auch für Scheitern. Wir wollen mehr Transparenz in den rung oder gar Abschaffung der Rahmengesetzgebung, politischen Entscheidungsprozessen. Das stärkt unsere Öffnungs- und Experimentierklauseln, Vorranggesetzge- Demokratie. bung und Wettbewerbsföderalismus. Das bedeutet dann Zweitens. Wir wollen die Zusammenführung von allerdings auch einen Wettbewerb zwischen Ländern, die Sachverantwortung und Finanzverantwortung. Des- sich im Hinblick auf Größe, Einwohnerzahl und Wirt- wegen kann eine Neuordnung der staatlichen Kompe- schaftskraft ganz erheblich voneinander unterscheiden. tenz- und Aufgabenverteilung nicht ohne eine Entflech- Sie werden deshalb mit ganz unterschiedlichen Bedin- gungen an den Start gehen. Das dürfen wir nicht verges- (B) tung und eine Neuordnung der finanzwirtschaftlichen (D) Vermengungen erfolgen. sen. Das Grundgesetz ist ursprünglich von einem Trenn- Dieses Kapitel verdeutlicht, dass es Zielkonflikte system ausgegangen. Im Laufe der Jahre wurde jedoch, gibt, die wir nicht verschweigen sollten. Auf der einen immer gut gemeint und fachlich überzeugend begründet, Seite wollen wir mehr Vielfalt durch föderalen Wettbe- ein höchst komplizierter Verschiebebahnhof errichtet. Er werb; das ist auch ein Wettbewerb um die besseren poli- ist mit seinen horizontalen und vertikalen Einnahme-, tischen Konzepte und Ideen. Auf der anderen Seite be- Ausgabe- und Ausgleichsmechanismen so perfekt, dass klagen wir eine wahre Flut von Vorschriften auf allen kaum noch jemand in der Lage sein dürfte, die horizon- staatlichen Ebenen. Ein undurchdringbares Dickicht von talen und vertikalen Finanzbeziehungen in allen Veräste- Gesetzen, Rechtsverordnungen und Verwaltungsvor- lungen zu durchschauen. Deswegen wollen wir die Auf- schriften lähmt unser Land. Stattdessen müssten wir ihm gabenkompetenz einerseits sowie die Einnahmen- und neuen Schwung verleihen. Ausgabenkompetenz andererseits in eine Hand legen. Der Verzicht auf bundeseinheitliche Regelungen Drittens. Wir wollen eine stärkere Beachtung des stärkt zwar die Kompetenz der Länder, wird aber gleich- Konnexitätsprinzips. Obwohl es – anders als in einem zeitig die Anzahl der Gesetze und Paragraphen nicht ver- Zentralstaat – in einem föderalen Aufbau mit drei unter- ringern, sondern erhöhen. Beide Ziele – mehr Vielfalt schiedlichen Ebenen – Staat, Länder und Gemeinden – auf der einen Seite und eine geringere Regelungsdichte schwieriger ist, dieses Prinzip einzuhalten, muss zukünf- auf der anderen Seite – gleichzeitig zu erreichen dürfte tig gelten: Wer die Musik bestellt, der muss sie auch be- nicht einfach sein. Vermutlich ist es sogar unmöglich. zahlen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie Wir werden weiter zu untersuchen haben, wo Vielfalt zu bei Abgeordneten der SPD und der Abg. mehr Wettbewerb und zum Ringen um bessere Lösun- Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) gen führt, aber auch zu neuen Problemen führen kann. Es darf nicht sein, dass der Bund durch seine Gesetz- Vor wenigen Tagen wurde vonseiten der Länder gebung zusätzliche Vollzugsaufgaben der Länder und dezent, aber deutlich darauf hingewiesen, dass eigentlich der Kommunen begründet, ohne die zur Aufgabenerfül- sie die Bundesrepublik gegründet hätten – Überschrift: lung notwendigen Finanzmittel gleich mitzuliefern. Dies „Im Anfang waren die Länder“. Die Frage, ob es beklagen insbesondere die Städte und Gemeinden, die wirklich die Länder waren, die die Bundesrepublik ge- gerade in den letzten Jahren mit neuen Aufgaben und mit gründet haben, oder ob es nach dem Krieg und dem 5600 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2003

Wolfgang Bosbach (A) Zusammenbruch noch immer den Staat Deutschland Seitdem sind knapp fünf Jahre vergangen. Es besteht (C) gab, ist nicht nur für Historiker und die politische Wis- also Gelegenheit für eine kurze Zwischenbilanz. Tat- senschaft von Interesse. sächlich hat es die rot-grüne Koalition in diesem Zeit- raum geschafft, 89 Gesetze und 446 Rechtsverordnun- Mit dieser Thematik verbindet sich nämlich eine an- gen abzuschaffen. – Das ist die gute Nachricht. dere Frage, die für uns wie für die Kommission von Be- deutung ist: Wie viel Vielfalt und wie viel Einheit wollen Jetzt kommt die schlechte. Allerdings ist es derselben wir in Deutschland? Was wollen wir eigentlich sein, Regierung im gleichen Zeitraum gelungen, 518 neue Ge- diese Bundesrepublik Deutschland oder doch eher ein setze und 1 832 neue Rechtsverordnungen zu erlassen. Bund deutscher Länder? Das Grundgesetz verlangt zwar Im Klartext: Es gibt heute rund 1 800 Gesetze und nicht identische Lebensverhältnisse in allen Ländern, Rechtsverordnungen mehr als zu dem Zeitpunkt, zu dem aber gleichwertige. Daher dürfte richtig sein: so viel diese Regierung an den Start gegangen ist. Das ist der Vielfalt wie möglich, so viel Einheit wie nötig. weltweit einzigartige Versuch, durch 1 800 Gesetze und Verordnungen die Regelungsdichte in unserem Staat zu Welches Verständnis haben wir eigentlich von unserer vermindern und Bürokratie abzubauen. eigenen politischen Arbeit hier im Deutschen Bundes- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie tag? Was wollen wir selber noch regeln? Wofür wollen des Abg. Volker Kröning [SPD] – Wilhelm wir noch die politische Verantwortung tragen? Wir leben Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Sie wissen doch, in einem Spannungsfeld: Auf der einen Seite zieht die dass das eine Milchmädchenrechnung ist!) Europäische Union tagtäglich mehr Kompetenzen an sich – die EU ist längst auf dem Wege, die Regelungs- Dieser etwas kuriose Versuch wird fortgesetzt. Vor dichte in unserem Land zu überbieten –, auf der anderen genau drei Wochen hat eine Kollegin der SPD-Fraktion Seite stehen die Bundesländer, die für sich mehr Freihei- von dieser Stelle aus ein Heimtierschutzgesetz gefor- ten, mehr Emanzipation und mehr Kompetenzen vom dert, mit der Begründung, es gebe in Deutschland zwar Bund fordern. Daneben gibt es die dritte Kammer na- rund 90 Millionen Heimtiere, aber wie sie lebten und mens Vermittlungsausschuss und eine wahre Kommissio- wie sie gehalten würden, das wisse der Staat nicht. Des- nitis. Für jeden Bundestagsabgeordneten stellt sich die halb brauche man klare Regelungen auf Bundes- und natürliche Frage: Wofür ist er eigentlich noch zuständig? Landesebene für die Zucht, die Ausbildung, die Haltung Welche Kompetenz hat er? Was wollen wir zukünftig und den Handel von Heimtieren. selber und abschließend regeln? (Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Und Fort- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- bildung!) (B) neten der SPD) Diese Forderung ist nicht nur deshalb bemerkenswert, (D) weil durch sie der völlig falsche Eindruck erweckt wird, Diese Fragen sollten wir nicht nur in der Kommission er- als gelte das Tierschutzgesetz nicht für Haustiere, son- örtern und beantworten. Auch der Deutsche Bundestag dern auch, weil jetzt offenbar wieder einmal geplant sollte diese Frage für sich selbst beantworten. Diese De- wird, ein neues Gesetzespaket auf den Weg zu bringen batte müssen wir hier in diesem Hause führen. und staatlichen Behörden neue Aufgaben zuzuweisen – Eine nur scheinbar andere Thematik gehört untrenn- und dies ausschließlich zu dem Zweck, in Millionen von bar zu dem Thema „Reform der bundesstaatlichen Ord- Haushalten zu kontrollieren, ob dort Goldfische, Meer- nung“. Die Stichworte lauten hier: Deregulierung und schweinchen, Katzen, Hunde und Co. nach noch näher Entbürokratisierung. Wir werden über dieses Thema zu definierenden Vorschriften für die Haltung von Haus- heute noch eine gesonderte Debatte führen. Aber vor der tieren einquartiert sind. So geht es nicht weiter! Ich be- fürchte nämlich, dass diese Forderung auch noch ernst Frage, welche staatliche Ebene welche Kompetenzen ha- gemeint ist. ben und wer welche Aufgaben erfüllen soll, müsste ei- gentlich die Frage stehen, ob der Staat – ganz gleich an (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) welcher Stelle – tatsächlich all das regeln und verwalten muss, was er in den letzten Jahren und Jahrzehnten an Wir können doch nicht einerseits einen viel zu großen staatlichen Aufgaben zuerst definiert, dann an sich gezo- öffentlichen Dienst beklagen – immer versehen mit dem gen und schließlich bis in das kleinste Detail geregelt Hinweis, Anfang der 50er-Jahre gab es 2 Millionen öf- hat. fentlich Bedienstete, heute sind es knapp 5 Millionen – (, Bundesminister: Aber nicht (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie beim Bund!) bei Abgeordneten der SPD) und andererseits immer neue staatliche Aufgaben erfin- Die allseits beklagte Zunahme der Zahl von Gesetzen, den und diese den Behörden und damit den dort tätigen Verordnungen und Verwaltungsvorschriften geht im Ge- Mitarbeitern übertragen. Wir müssen den umgekehrten gensatz zu dem, was immer behauptet wird, auf Bundes- Weg gehen: Wir müssen jede staatliche Aufgabe dahin ebene munter weiter. Im Herbst 1998 hieß es in der rot- gehend überprüfen, ob sie erstens tatsächlich noch not- grünen Koalitionsvereinbarung: Wir werden die hem- wendig ist, ob sie zweitens zwingend von staatlichen In- mende Bürokratie rasch beseitigen. Dabei werden wir stanzen erfüllt werden muss und drittens, wenn ja, auf überflüssige Vorschriften streichen und auf diese Weise welcher Ebene sie zweckmäßigerweise erledigt werden die Regelungsdichte vermindern. soll. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2003 5601

Wolfgang Bosbach (A) Wenn sich der Staat vornimmt, all das, was theore- übertragen, das heißt, einer geringer werdenden Zahl (C) tisch geregelt werden könnte, auch tatsächlich gesetzlich von Beamten immer mehr Aufgaben übertragen. zu regeln, wenn der Staat sich vornimmt, jedes einzelne Problem, das im Leben auftreten kann, von Amts wegen (Erich G. Fritz [CDU/CSU]: Richtig, erkläre es zu lösen, dann wird dieser Staat selber zu einem Pro- ihm noch einmal! – Dr. Wolfgang Gerhardt blem. [FDP]: Gut, dass wir einmal ausführlich da- rüber sprechen!) (Beifall bei der CDU/CSU) Anfang der 50er-Jahre gab es 2 Millionen öffentlich Bedienstete, jetzt gibt es knapp 5 Millionen. Ich möchte Präsident Wolfgang Thierse: ein Beispiel aus meinem Heimatland, aus Nordrhein- Kollege Bosbach, gestatten Sie eine Zwischenfrage Westfalen, anführen. Dort gab es Mitte der 60er-Jahre des Kollegen Schily? für etwa 16 Millionen Einwohner 200 000 Beschäftigte im öffentlichen Dienst, jetzt gibt es dort für knapp Wolfgang Bosbach (CDU/CSU): 18 Millionen Einwohner 416 000 Beschäftigte im öf- Ja. fentlichen Dienst. Nur dann, wenn wir uns auf unsere Kernaufgaben Otto Schily (SPD): konzentrieren und nicht alles regeln, was wir regeln Herr Kollege Bosbach, Sie haben von der Zahl der könnten, sondern nur das, was dringend geregelt werden Beschäftigten im öffentlichen Dienst gesprochen und da- muss, kann es uns gelingen, Bürokratie abzubauen, die bei offenbar beklagt, dass diese Zahl zu groß sei. Staatsquote zu senken und Freiheiten zurückzugeben. Dann dürfte auch die beliebte Pauschalkritik am öf- (Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Hat er fentlichen Dienst im Allgemeinen und an Beamten im gar nicht! Das war eine Feststellung!) Speziellen nicht ständig neue Nahrung bekommen. Demjenigen, der sich an dieser Pauschalkritik betei- Wolfgang Bosbach (CDU/CSU): ligt, sei Folgendes gesagt: Die Zahl der Beamten wächst Nein, das habe ich nicht beklagt. nicht von selber, kein Beamter sitzt auf einer Planstelle, die er selber geschaffen hat; nicht Beamte, sondern Poli- Otto Schily (SPD): tiker beschließen Gesetze und übertragen Aufgaben auf Sie haben das nicht getan? – Ich möchte Sie fragen, Behörden und die dort tätigen Mitarbeiter. ob Ihnen bekannt ist, dass beim Bund die Zahl der öf- In diesem Bereich wie auch für die Arbeit der Kom- (B) fentlich Bediensteten niedriger ist als nach der Wieder- mission sollte gelten: Wir müssen uns bescheiden. Die (D) vereinigung. Qualität unserer Arbeit sollte am Ende einer Wahlperiode nicht daran gemessen werden, wie viele Wolfgang Bosbach (CDU/CSU): Gesetze wir erlassen und – das gilt für die Regierung, die Ich weiß, sie ist geringer als nach der Wiedervereini- Exekutive – wie viele Rechtsverordnungen wir in Gang gung. gesetzt haben, sondern daran, ob wir als Gesetzgeber auch den Mut hatten, einmal Gesetznehmer zu sein. Otto Schily (SPD): Wir wollen unseren Bundesstaat erhalten und die Ist Ihnen auch bekannt, dass die Zahl für ganz Länder stärken. Das ist kein Widerspruch. Klare Zustän- Deutschland gilt? digkeiten stärken Bund und Länder in gleicher Weise. Klare Zuständigkeiten nützen dem Staat und vor allen Dingen den Bürgern. Wolfgang Bosbach (CDU/CSU): Ja. Danke fürs Zuhören. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie Otto Schily (SPD): bei Abgeordneten der SPD und des BÜND- Dann möchte ich nur noch einmal hervorheben, dass NISSES 90/DIE GRÜNEN) wir die Zahl der Beschäftigten im öffentlichen Dienst zurückgeführt haben. Präsident Wolfgang Thierse: (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Ich erteile der Kollegin Krista Sager, Bündnis 90/Die BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Grünen, das Wort.

Wolfgang Bosbach (CDU/CSU): Krista Sager (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Kollege Schily, Sie haben bestimmt wichtige Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die rot- Regierungsgeschäfte erledigt und nicht die Muße ge- grüne Regierungskoalition hat sich in diesem Jahr sehr habt, mir wörtlich zuzuhören. Ich habe gesagt, wir kön- ehrgeizige Reformprojekte vorgenommen und sie auch nen nicht beklagen, dass der öffentliche Dienst zu aufge- schnell auf den Weg gebracht. Dass unsere bundesstaat- bläht ist und es zu viele so genannte Bürokraten gibt, liche Ordnung nicht gerade dazu beiträgt, dass wir bei und gleichzeitig den Behörden ständig neue Aufgaben diesen Reformprojekten schnell vorankommen, haben in 5602 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2003

Krista Sager (A) den letzten Monaten viele gemerkt. Ich glaube, das ist dass die Länderkammer für das Durchsetzen parteipoliti- (C) auch unumstritten. Wir wollen nicht jammern und sind scher Oppositionsinteressen genutzt wird. auch nicht verdrießlich, sondern gehen weiter energisch ans Werk. (Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Das haben wir von Ihnen gelernt!) Wenn inzwischen in diesem Land Konsens herrscht, dass dieses Land dringend Strukturreformen braucht, Dabei werden die eigentlichen Länderinteressen in den dann ist es in der Tat richtig und wichtig, dass wir ge- Hintergrund und an den Rand gedrängt, ganz zu schwei- meinsam einen Blick auf unsere bundesstaatliche Ord- gen von den kommunalen Interessen, die dabei gar nicht nung werfen und uns fragen, welcher Reformbedarf dort berücksichtigt sind, und davon, dass die Landtage als besteht. Hier ist die Politik richtig gefordert. Deswegen Landesgesetzgeber marginalisiert worden sind. begrüßen wir es, dass die Kommission zur Modernisie- Was daraus erwächst, hat mit Effizienz wenig zu tun. rung der bundesstaatlichen Ordnung heute eingesetzt Es hat übrigens auch nichts mit Effizienz zu tun, dass wird. wir in einer nationalen Wahlperiode 16 verschiedene Insbesondere die internationalen Herausforderun- Landtagswahlen haben und vor jeder Landtagswahl gen, die sich uns stellen, haben sich geändert. Der für die nichts Wichtiges mehr entschieden werden darf. Die Rechtsgebung maßgebliche Wirtschaftsraum ist nicht Bürgerinnen und Bürger merken, dass das mit Demo- mehr der nationale Wirtschaftsraum. Es geht nicht mehr kratieeffizienz nichts zu tun hat. nur um nationales Einheitsrecht für den nationalen Wirt- Das, was darauf folgt, nämlich Tauschgeschäfte und schaftsraum. Der für uns maßgebliche Wirtschaftsraum Verhandlungen, empfinden die Bürgerinnen und Bür- ist zunehmend das integrierte Europa, wo auch zuneh- ger als intransparent; das wurde hier schon mehrfach zu mend die entsprechende Rechtssetzung stattfindet. Recht gesagt. Die Leute fragen sich, wer für Entschei- Gleichzeitig ist es offenkundig, dass die Globalisie- dungen überhaupt verantwortlich ist, wer verantwortlich rung den Wettbewerb zwischen den Volkswirtschaften ist, wenn es in bestimmten Bereichen nicht vorangeht. um die besten Lösungen für ähnliche Probleme ver- Ihnen ist nicht klar, welche Teile eines Gesetzes, das ver- stärkt, aber auch beschleunigt hat. Gerade die kleinen abschiedet wurde, wem zuzuschreiben sind. Das ist ein Volkswirtschaften machen uns da zum Teil heute etwas Demokratiedefizit, das nicht nur der Politik schadet, son- vor. Unsere bundesstaatliche Ordnung muss also in Be- dern auch dem Ansehen der Demokratie insgesamt. Zu zug auf die Frage, ob sie europatauglich und unter diesen Recht haben die Bürgerinnen und Bürger den Eindruck, veränderten Herausforderungen noch effizient ist, auf dass man sich in den Gesetzgebungsprozessen zu vielen den Prüfstand. Hier müssen wir als Politiker ran. Fragen, ob das der Subventionsabbau oder die Gesund- (B) heitsreform ist, am Ende nicht auf die notwendigen Än- (D) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN derungen einigt, sondern nur auf den kleinsten gemein- und bei der SPD) samen Nenner. Der kleinste gemeinsame Nenner reicht heutzutage aber einfach nicht mehr aus. Es geht aber nicht nur um die Effizienz, sondern auch um die Demokratiedefizite. Die Bürgerinnen und Bür- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ger merken, dass die gestiegenen Anforderungen an Effi- und bei der SPD) zienz, Transparenz und Schnelligkeit einerseits und die realen Möglichkeiten unseres Systems andererseits zu- Ich will unser föderatives System nicht schlechtreden. nehmend auseinander driften. Es ist deutlich, dass die Es hat eine Menge Vorteile: Bürgernähe, innovative Bürgerinnen und Bürger dieses Auseinanderdriften der Vielfalt. Verhandlungsdemokratien gibt es auch in ande- Politik insgesamt anlasten. Natürlich lasten sie diese De- ren Ländern, allerdings nicht unbedingt solche, in denen fizite der Regierung immer ein bisschen mehr an als der die Landesregierungen der Teilstaaten das nationale Par- Opposition. Das ist auch in Ordnung. lament aushebeln können. Dieses System an sich ist nicht schlecht, wir wollen es auch nicht als Ganzes auf Aber ich war viele Jahre Oppositionspolitikerin und den Kopf stellen. Wir wollen aber realistische Schritte bin mir ziemlich sicher, dass heute auch das Geschäft der machen. Die Mütter und Väter unseres Grundgesetzes Opposition schwieriger geworden ist. Früher konnte sind davon ausgegangen, dass 10 Prozent der Gesetze man als Oppositionspolitikerin sagen: Hurra, ich bin der zustimmungspflichtig sein sollten; heute stellen wir da- Held, wir haben etwas verhindert. Heute aber merken die gegen fest, dass 60 Prozent der Gesetze zustimmungs- Bürgerinnen und Bürger sehr genau, dass mit Aufhalten, pflichtig sind. Dieser Prozentsatz ist einfach zu hoch und Verhindern und Blockieren kein Problem in unserem ist nicht angemessen angesichts der Aufgaben, vor de- Land gelöst wird. Deswegen reicht das auch für die Op- nen wir stehen. position nicht. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei der SPD) und bei der SPD) Es geht nicht nur darum, Demokratiedefizite zu besei- Wir wollen uns hier nicht gegenseitig etwas vorwer- tigen, sondern auch darum, die Problemlösungsfähig- fen. Wenn die Mehrheit im Bundesrat eine andere ist als keit in unserer bundesstaatlichen Ordnung zu erhöhen. die Mehrheit im Bundestag, dann wird es immer die Ob wir in der Lage sind, beim Verbraucherschutz dafür Tendenz geben – egal, ob schwarz-gelb in Bonn regiert zu sorgen, dass die Bürger überall gleich gut, gleich wurde oder ob heute rot-grün in Berlin regiert wird –, schnell und gleich effizient vor Krankheiten wie BSE ge- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2003 5603

Krista Sager (A) schützt werden, ob wir in der Lage sind, EU-Umwelt- stalten wollen. Ich glaube, deswegen wäre es gut, sich (C) richtlinien schnell, zuverlässig und unbürokratisch umzu- dieser Frage anzunehmen. setzen, ob wir im internationalen Wettbewerb und in der Bildungs- und Forschungspolitik – dazu gehören Themen Wir werden in der Kommission nicht alle Fragen be- wie Kinderbetreuung und Ganztagsschulen – strategie- antworten können. Ich glaube aber: Wenn wir uns im und handlungsfähig sind, das sind Fragen, bei denen un- Kopf ein Stück weit davon befreien, immer nur zu beden- ser jetziges Politiksystem auf dem Prüfstand steht. ken, wer gerade wo die Mehrheit hat, und immer nur die Querelen des Tagesgeschäftes im Blick zu haben, und Ich will ganz deutlich sagen: Verbesserung der Pro- wirklich rollenübergreifend in die Zukunft schauen, dann blemlösungsfähigkeit ist nicht gleich entfesselter Stand- können wir in dieser Kommission die notwendigen, ortwettbewerb. Ein entfesselter Standortwettbewerb wichtigen Schritte gemeinsam tun. Das ist für das Land führt teilweise auch zur Ausweitung staatlichen Handelns: und das Ansehen der Politik in der Zukunft auch nötig. mehr indirekte Subventionen, mehr verbeamtete Lehrer. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Er führt andererseits auch zu einem Verzicht auf Einnah- und bei der SPD) men – was einer nachhaltigen Infrastrukturpolitik scha- det – und setzt eine Abwärtsspirale bei Schutzrechten in Gang. Das kann nicht die Lösung sein. Mit einem entfes- Präsident Wolfgang Thierse: selten Standortwettbewerb wird man nicht nur einen Poli- Ich erteile das Wort Kollegen Wolfgang Gerhardt, tikstreit auslösen, sondern auch die Länder spalten. Die FDP-Fraktion. Länder haben nämlich kein Interesse daran, dass die Au- tonomie der Starken entfesselt wird und die Schwachen Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP): abgehängt werden. Solche Vorstellungen werden uns des- halb in der Kommission sicherlich nicht voranbringen. Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Frak- tion der FDP wird, wie es auf dem Antrag ja auch steht Es wird uns aber voranbringen, wenn wir uns ernst- – sie ist eine der Antragstellerinnen –, der Vorlage zu- haft mit dem Thema auseinander setzen, wie Aufgaben stimmen, mit der wir uns an die Arbeit begeben wollen, besser und effektiver wahrgenommen werden können ein Stück mehr Transparenz in das Gefüge der politi- und wie wir den Wettbewerb der Länder verbessern und schen Entscheidung der Bundesrepublik Deutschland zu eine Benchmark der Länder in Gang setzen können. Wir bringen; darum geht es. müssen uns ernsthaft mit Modellen befassen – solche sind in der Diskussion –, die Experimentier- und Öff- Ich glaube, dass wir das auch können, weil jeder von nungsklauseln zum Inhalt haben. Es gibt verschiedene uns – egal wo er seinen politischen Standort hat – spürt, dass man nicht mehr ausreichend vermitteln kann, für (B) Vorstellungen darüber, wie man diese Prozesse durch (D) Befristung, Zustimmungs- und durch Vetorechte beglei- was man selbst die politische Verantwortung trägt, was ten kann. Eine pauschale Rückübertragung von großen man hat entscheiden können und was nicht und wo die Komplexen an Gesetzgebungskompetenz an die Länder übrigen Positionen lagen. Mit Blick auf die spätere halte ich nicht unbedingt für den richtigen Weg. Wahlbeteiligung und die politische Wachsamkeit sowie das politische Interesse der Bevölkerung haben wir alle Meine Damen und Herren, es wird auch viel die Frage ein massives Interesse daran, dass diese Sachverhalte in diskutiert, ob wir nicht eine Neugliederung unseres der Öffentlichkeit klarer werden, als sie heute sind. Bundesstaates brauchen. Das halte ich im Prinzip für eine wünschenswerte Überlegung. Ich sage als Hambur- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten gerin ganz offen: Ich bin für einen Nordstaat. Aber das der CDU/CSU) kann man nicht von oben verordnen. Wenn wir solche Der Kollege Müntefering hat zu Recht gesagt, dass Überlegungen an den Anfang stellen, dann werden wir das Grundgesetz überhaupt nicht zur Disposition steht. in der Kommission scheitern. Darin sind wir uns, glaube Das Grundgesetz ist eine äußerst kluge Verfassung, seine ich, einig. Mütter und Väter bewiesen große Klugheit angesichts (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN der historischen Erfahrung. Durch das Grundgesetz wird sowie bei Abgeordneten der SPD) die einzigartige Chance eröffnet, zur Balance of Power, zu einem Machtgleichgewicht, zu Machtkontrolle und Worüber wir uns aber Gedanken machen sollten, ist, Kontrollmechanismen in einem demokratischen Staat zu wie wir Anreize für eine Kooperation der Länder schaf- kommen. Trotz dieser Verfassung wird aber niemandem fen können, gerade auch beim Lastenausgleich. Das in Deutschland mehr klar, wie diese ausgeübt werden. Es kann durchaus ein Thema für die Kommission sein. ist wahr, dass wir herausgefordert sind, das wieder deut- licher zu machen. Ich möchte noch eine Frage aufgreifen, die der Bun- destagspräsident hier gestellt hat: Wie sehen wir die (Beifall bei der FDP) Aufgabe und die Situation unserer gemeinsamen Haupt- Das bedeutet zuallererst, dass wir den einzelnen staat- stadt in der Zukunft? Ein sozialer, fairer Wettbewerbsfö- lichen Ebenen wieder die Fähigkeit geben müssen, einen deralismus und auch die Neugliederungsdiskussion wer- größeren Teil ihrer eigenen Angelegenheiten selbst zu den uns diese Frage nicht beantworten. Ich weiß, dass regeln – das muss auch öffentlich deutlich werden –, gerade hier in Berlin viele Menschen darauf hoffen, dass die Kommission eine Antwort darauf gibt, wie wir in der (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Zukunft Berlin als unsere gemeinsame Hauptstadt ge- der CDU/CSU) 5604 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2003

Dr. Wolfgang Gerhardt (A) und zwar beginnend von unten. Das heißt: Hier im Bun- Courage notwendig, um die Finanzierungsgeflechte auf- (C) destag ist in absehbarer Zeit die Entscheidung unum- zulösen. gänglich, das – auch wenn dieses Fremdwort schwer zu Wahr ist, dass uns zwei erkennbare Schwächen an der vermitteln ist – Konnexitätsprinzip zum Prinzip der po- Umsetzung solcher Entscheidungen hindern. Die eine litischen Entscheidung zu machen. Wenn es nach der Seite ist unsere eigene mangelnde Courage zu wirklicher Fraktion der FDP ginge, müsste dies im Grundgesetz politischer Führung. Die andere Seite – auch das ist klar und eindeutig an hervorragender Stelle verankert wahr – ist, dass wir uns ein Geflecht von politischen Be- werden. teiligungsmechanismen, das sich in unseren Gesetzen (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten widerspiegelt, aufgebaut haben, das nichts mehr mit der der CDU/CSU) Balance of Power zu tun hat, die die Verfasser des Grundgesetzes diesem Land geben wollten. Wir können nicht immer nur über die Eigenständig- (Beifall bei der FDP) keit der Gemeinden reden, ohne dass wir das im Grund- gesetz fein formulieren, was der Kollege Bosbach mit Das müssen wir ändern. Deshalb ist die Einsetzung dem verständlichen Ausdruck „Wer die Musik bestellt, dieser Kommission richtig. Herr Kollege Müntefering, bezahlt sie auch“ umschrieben hat. Ein Kommunalver- ich will mich nicht wiederholen, aber auf Folgendes hin- treter kann für die Wähler nur dann glaubwürdig eintre- weisen: Nach unserer Überzeugung wäre es besser ge- ten, wenn er auch Verantwortung übernehmen kann. Aus wesen, diese Aufgabe in einem Konvent zu verhandeln. welchen politischen Gründen auch immer – die Entwick- Ich bin nämlich der Auffassung, dass wir keine abge- lung der Bundesrepublik Deutschland war in der Wirk- stimmte Ausübung der Stimmrechte brauchen. Auch die lichkeit nun einmal so – sind die Länder heute sowohl Gemeinde- und Landtagsvertreter hätten wie wir Stimm- bezüglich ihrer Finanzierungsgrundlagen als auch be- recht bekommen sollen. Ein Konvent hätte mehr politi- züglich ihrer tatsächlichen eigenen Fähigkeiten – ich schen Druck als eine Kommission gemacht. Aber sei es denke an das, was ein heute wirklich noch ent- drum! Sich überhaupt an diese Arbeit zu machen war für scheiden kann – ernsthaft in Bedrängnis geraten. uns wichtiger. Es wird hier beklagt, dass die Länder über den Ver- Frau Kollegin Sager, Sie haben vom Profil der Länder mittlungsausschuss immer mehr in die Position geraten, gesprochen. Es geht nicht darum, dass mit einem Wett- Entscheidungen dieses Parlaments zu verzögern und zu bewerbsföderalismus nun ein riesiger Standortwettbe- beeinträchtigen. Sie selbst sind aber auch in keiner be- werb einsetzt. Aber es ist doch legitim, dass ein Land neidenswerten Lage. Unsere Kolleginnen und Kollegen seine Chancen zu nutzen sucht. Wenn jemand in einem Land Verantwortung trägt, ist es doch vernünftig, dass er (B) in den Landtagen würden uns hier wahrscheinlich einen (D) Vortrag darüber halten, dass man sich die Frage stellen sich in einen Wettbewerb begibt, dass er auf dem Ar- muss, was außer den Fragen bezüglich der Begleitung beitsmarkt, bei der Investitionsvergabe, bei Standortent- des Verwaltungshandelns in den Ländern tatsächlich scheidungen, bei der Infrastruktur und beim Bildungs- noch zu entscheiden ist. Die Länder müssen ein Interesse wesen eine bessere Politik zu machen versucht als ein daran haben, sich Spielraum zu verschaffen. Wenn sie benachbartes Bundesland. Das ist legitim und auch diesen Spielraum nutzen wollen, dann können sie sich Wählerauftrag. Es geht nicht um einen ruinösen Wettbe- nicht ausschließlich auf die Begleitung der Bundesge- werb, sondern es geht darum, eine gute politische Leis- setzgebung konzentrieren, um sich dort politisch zu pro- tung zu erbringen und dafür die Früchte zu ernten. filieren. Sie müssen zur Ausgestaltung ihres Wirkungs- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten kreises politisch konzeptionell arbeiten können. Einen der CDU/CSU) solchen Wettbewerbsföderalismus streben wir an. Eine solche gute politische Leistung kann heute nicht Wir wollen keinen entfesselten Wettbewerb. Die Re- mehr erbracht werden; denn durch den jetzigen Finanz- geln der Fairness müssen eingehalten werden. Auch in ausgleich besteht mehr und mehr die Gefahr, dass er- einem Wettbewerbsföderalismus – Professor Böhmer hat folgreiche Politik bestraft wird: Über die Transfers kann es zum Ausdruck gebracht – muss Chancengleichheit so manches erfolgreiche Land an die Grenze der Über- gelten. Man kann den ostdeutschen Bundesländern heute forderung gebracht werden. Das ist keine Chancen- nicht ausschließlich Wettbewerbsföderalismus predigen, gleichheit; denn zur Chancengleichheit gehört auch wenn die politisch Verantwortlichen nicht einmal die Chancengerechtigkeit. Einem Land, das in einem wett- Chance haben, von der gleichen Linie aus zu starten, um bewerblichen System mit überzeugender Politik erkenn- am Wettbewerb teilzunehmen. Das ist völlig klar. bar erfolgreicher als ein anderes ist, muss aus Gründen der Chancengerechtigkeit eine Belohnung für diese gute (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten politische Leistung zuteil werden können. Dies aber ist der CDU/CSU) nicht mehr sichergestellt. Das muss erörtert werden. Hier wären Sonderzuweisungen des Bundes begrün- Wir wollen nicht die Verfassung auf den Kopf stellen det. Allerdings darf das nicht auf Kosten politischer Füh- oder das Grundgesetz ändern. Wir wollen – das ist die rungsfähigkeit in den westdeutschen Bundesländern ge- Absicht der Fraktion der FDP und der Vertreter, die wir hen. Das Budget des Saarlands beispielsweise deckt entsenden – der föderalen Ebene ein Stück Entschei- ohne Zuweisungen des Bundes noch nicht einmal die dungskraft zurückgeben, was nach unserem Verständnis Kosten der eigenen Verwaltung. Deshalb ist ein Stück so in unserem Grundgesetz vorgesehen war, als unsere Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2003 5605

Dr. Wolfgang Gerhardt (A) bundesstaatliche Ordnung nach 1945 geschaffen wurde. es heute bei Wahlen und in der Öffentlichkeit transparent (C) Wenn man den Ländern Möglichkeiten zu Entdeckungs- begründen können. verfahren geben will, was eine Notwendigkeit ist, Frau Kollegin Sager – das ist von Ihnen ausgedrückt worden Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. und entspricht auch meiner Haltung; wir wollen ihnen (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Möglichkeiten zu Entdeckungsverfahren geben –, dann der SPD und der CDU/CSU) muss man das auch glaubwürdig durchhalten. Dann gilt das auch für viele Bereiche der Gestaltung des sozialen Lebensumfeldes und nicht nur der wirtschaftlichen Ent- Präsident Wolfgang Thierse: wicklung. Wenn sich Lösungen in Entdeckungsverfah- Ich erteile das Wort Bundesministerin Brigitte ren bewähren, dann muss man sie den Ländern auch Zypries. ermöglichen, auch wenn sie nicht der politischen Mehr- heitsmeinung derer entsprechen, die auf Bundesebene Brigitte Zypries, Bundesministerin der Justiz: demokratisch legitimiert für bestimmte Zeit Verantwor- tung haben. Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Bundesregierung begrüßt es (Beifall bei der FDP) sehr, dass Sie heute über alle Fraktionsgrenzen hinweg die Einsetzung einer gemeinsamen Kommission von Wenn ein Land zum Beispiel das Umfeld von Sozial- Bundestag und Bundesrat zur Modernisierung der bun- hilfe, Hilfe zum Lebensunterhalt, Arbeitslosenhilfe mit desstaatlichen Ordnung einsetzen wollen. Morgen wird anderen Mechanismen anders als die Mehrheit hier re- ein vergleichbarer Beschluss im Bundesrat gefasst wer- geln möchte – und zwar ohne Mindeststandards zu un- den. Beide Institutionen sind sich darin einig, dass un- terschreiten –, dann muss man die Courage haben, dieses sere bundesstaatliche Ordnung modernisiert werden Land das auch machen zu lassen. Wettbewerbsfödera- muss. lismus heißt, dass von einigen bessere Ergebnisse als von denen erzielt werden können, die alles überall gleich Diese Erkenntnis teilt die Bundesregierung. Wir ha- regeln wollen. ben deshalb schon vor gut einem Jahr auf Initiative des Bundeskanzlers eine Arbeitsgruppe eingesetzt, geleitet (Beifall bei der FDP) vom Bundeskanzleramt, die Vertreter der Ministerien Wenn Hochschulen miteinander im Wettbewerb ste- und der Staats- und Senatskanzleien der Länder umfasst, hen, dann muss man es der Autonomie der Länder und in der wir uns mit eben diesem Thema befasst haben, das der Hochschulen überlassen, ob sie Studiengebühren er- Sie sich vorgenommen haben. (B) (D) heben oder nicht, und dann darf der Bundesgesetzgeber Wir haben auch den Befund zur Kenntnis nehmen nicht Studiengebühren verbieten. müssen, dass, wie Herr Gerhardt gerade sagte, für die (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Bürgerinnen und Bürger offenbarer werden muss, wer in diesem Lande eigentlich wofür zuständig ist, wer die po- Dann werden wir sehen, welche Hochschulen aufge- litische Verantwortung trägt und wen demzufolge Bür- sucht werden und welche nicht. gerinnen und Bürger bei der nächsten Wahl, sei es die Bundestagswahl oder eine Landtagswahl, wieder abwäh- Wenn man ein Bundesgesetz macht, dann sollte man len können, weil er nicht das gemacht hat, was sie sich Experimentierklauseln für die Länder einführen, weil vorgestellt haben. in den Ländern Kolleginnen und Kollegen von uns, wie auch immer die Mehrheiten sind, in politischer Verant- Diese Wahrnehmung ist heute nicht mehr möglich. wortung sind, die nicht nach dem Schlimmen trachten, Denken Sie an die großen Verfahren. Das letzte war das sondern sich vielleicht durch eine individuell andere Lö- Zuwanderungsgesetz. Es ist nicht mehr klar, wer eigent- sung nicht nur selbst im Wettbewerb besser behaupten lich die politische Verantwortung trägt. Das muss wieder wollen, sondern auch glauben, damit einen Beitrag zur geändert werden. Das muss aber im Rahmen dieses Sys- Lösungskompetenz des Gesamtstaates zu leisten. tems geändert werden, denn der Föderalismus hat sich im Grundsatz in Deutschland bewährt. Dagegen wird (Beifall bei der FDP) man sicherlich nichts sagen können. Insofern, glaube Zum Abschluss, meine Damen und Herren: Es macht ich, ist der Begriff Konvent, Herr Gerhardt, eher mit sich niemand etwas vor; es ist offen, ob wir einen großen einer grundsätzlichen Reform der Verfassung oder mit Sprung schaffen. Das ist eine mühselige Arbeit. Aber einer Neuschaffung von Verfassung belegt. Das ist egal, wo unser politischer Standort ist: Wir müssen ein etwas, was wir nicht brauchen. Wir brauchen bestimmte massives Interesse daran haben, dass die Öffentlichkeit Korrekturen an Stellschrauben, und zwar im Blick auf wieder erkennen kann, wer welche politischen Ziele ver- Probleme, die noch nicht einmal vom Grundgesetz sel- tritt, wer sie wie begründet und wer wofür Verantwor- ber verursacht worden sind, sondern im Wesentlichen tung hat. Man kann unterliegen oder man kann Wahlen von der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung der gewinnen, aber es muss wieder Klarheit herrschen. letzten 50 Jahre. Diese Korrekturen sind notwendig, nicht aber grundsätzlich neue Überlegungen im Sinne ei- Ich habe die Hoffnung, dass wir ein Ergebnis zu- nes Konvents. Von daher halte ich es für richtig, dass Sie stande bringen, das es uns erlaubt, in den jeweiligen par- sich auf die Kommission zur Modernisierung der bun- teipolitischen Vorhaben das besser zu begründen, als wir desstaatlichen Ordnung beschränkt haben und sich damit 5606 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2003

Bundesministerin Brigitte Zypries (A) ausdrücklich auf die bestehende bundesstaatliche Ord- föderalen Bundesstaat beschlossen, damit alle Länder (C) nung beziehen. möglichst heftig gegeneinander kämpfen und abwei- chende Regelungen schaffen; vielmehr sei das Ziel eines Wenn wir feststellen, dass wir den Föderalismus zu- solchen Staates, im Grundsatz die gleiche Richtung ein- kunftsfähig gestalten und mehr Handlungsfähigkeit für zuschlagen. Ich glaube, wir sollten diese sehr einleuch- Bund und Länder erreichen müssen, dann würde ich tende Erkenntnis, die nur unterstrichen werden kann, – das sehen Sie mir sicherlich nach – darauf Wert legen, auch in dieser Debatte zur Kenntnis nehmen. Es kann dass auch der Bund mehr Zuständigkeiten bekommt. Es nicht darum gehen, dass wir die Vielfalt um der Vielfalt kann nicht nur darum gehen, dass die Länder mehr Ge- willen propagieren. Ansatzpunkt sollten vielmehr die In- setzgebungskompetenzen und Verantwortung bekom- teressen der Menschen sein, die in diesem Staat leben, men, sondern auch für den Bund ist dies notwendig. und die Frage, wie die Zuständigkeiten in deren Inte- Denn viele der Veränderungen beziehen sich auf eine resse formuliert werden sollten. verminderte Verantwortung des Bundes. Ich denke in diesem Zusammenhang an Art. 84 Grundgesetz und die (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Frage der Zustimmungsbedürftigkeit von Gesetzen. DIE GRÜNEN) (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Sehr Das bedeutet auch, dass wir einheitliche umweltrechtli- richtig!) che und soziale Schutzstandards bewahren müssen. Es Die Bundesregierung geht davon aus, dass wir mit der geht nicht an, dass Sozialgefälle von Ost nach West oder angestrebten Reform drei Ziele verwirklichen müssen. von Nord nach Süd entstehen. Wir brauchen mehr Klarheit und Wahrheit bei der Auf- ( [Heilbronn] [CDU/CSU]: gabenverteilung – das erwähnte ich bereits –, straffere Schon verlässt Sie der Mut!) Entscheidungsprozesse und vor allen Dingen einen euro- patauglichen Bundesstaat. – Nein, mich verlässt keineswegs der Mut. Die Frage ist, wen irgendwann der Mut verlässt, weil das nämlich auch (Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Ja!) heißt, dass man Kompetenzen abgeben muss. Das wird Das heißt, wir brauchen eine Form der Gesetzgebung, in dieser Debatte gerade für die Länder nicht einfach die auch auf die Anforderungen reagieren kann, die aus werden. Denn der wesentliche Punkt im Zusammenhang Europa auf uns zukommen. mit der Verantwortungsteilung nach Art. 84 wird von den Ländern sehr viel Mut erfordern. Zum Thema Gesetzgebungskompetenzen – ich habe das eben schon angedeutet – bestand in der Arbeits- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) gruppe zwischen Bund und Ländern auf der Ebene der (B) Das Grundgesetz sieht in Art. 84 das Erfordernis ei- (D) Staats- und Senatskanzleien und des Kanzleramtes be- ner Zustimmung der Länder eigentlich nur dort vor, wo reits in einem Punkt grundsätzlich Einigkeit, nämlich es um Verwaltungsverfahren und die Einrichtung der Be- dass die Rahmengesetzgebung – das heißt, die Kompe- hörden geht. Die enorme Menge von Zustimmungsge- tenzverteilung, nach der zunächst der Bund einen Rah- setzen, die hier schon mehrfach beklagt worden ist, geht men setzt, innerhalb dessen den Ländern die Ausführung auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts obliegt – abgeschafft werden sollte. zurück. Diese Form der Gesetzgebung führt dazu, dass Ver- Im Grunde muss eine Norm gefunden werden, aus der antwortlichkeiten verschwimmen. Sie führt aber auch hervorgeht, dass die Verfassungsgeber das Grundgesetz dazu, dass wir EU-Vorgaben nicht in der von der EU nicht so gemeint haben, wie es das Bundesverfassungs- vorgesehenen Zeit umsetzen können. Der Bund hat in gericht auslegt, sondern so, wie es in der Verfassung der Vergangenheit schon häufiger erhebliche Strafen steht. zahlen müssen, weil einzelne Länder bestimmte Voraus- setzungen nicht erfüllt haben. Wir meinen, das geht zu- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ künftig nicht mehr an. In diesem Bereich müssen wir DIE GRÜNEN) insgesamt schneller tätig werden. Eine solche Norm zu formulieren wird schon schwierig Wir sind in dieser Debatte sehr offen in der Frage, in- genug sein. wieweit den Ländern Kompetenzen übertragen werden Wir können allerdings insofern entspannt reagieren, als bzw. inwieweit sie vollständig dem Bund übertragen die Rechtsprechung des Karlsruher Gerichts erkennen werden sollten. Das muss man im Einzelfall prüfen, um lässt, dass inzwischen auch die Bundesverfassungsrich- dann zu einer Entscheidung zu kommen. ter der Meinung sind, dass ihre bisherige Auslegung Man muss sich aber auch über eines im Klaren sein: nicht mehr zeitgemäß ist. Es gibt erste Bewegungen, die Der Bundesgesetzgeber wird sich nicht einfach aus Be- vermuten lassen, dass das Bundesverfassungsgericht sel- reichen zurückziehen können, in denen er bisher bun- ber Art. 84 des Grundgesetzes wieder anders auslegen deseinheitliche Regelungen geschaffen hat. Das heißt, wird. Wir müssen das auf jeden Fall auf die ursprüngli- es muss im Einzelfall geprüft werden, wo im Sinne der che Formulierung zurückführen. Das wird von den Län- Wahrung der Rechts- und Wirtschaftseinheit in Deutsch- dern erheblichen Mut erfordern; denn das bedeutet na- land oder auch zur Wahrung der gleichwertigen Lebens- türlich, dass die Ministerpräsidenten nicht mehr in der verhältnisse einheitliche Regelungen notwendig sind. bisherigen Weise über den Bundesrat bei Themen mitre- Johannes Rau hat einmal festgestellt, wir hätten keinen gieren können, für die sie nicht gewählt sind. Zu wel- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2003 5607

Bundesministerin Brigitte Zypries (A) chem Ergebnis die Kommission à la longue kommen sollte man sich an den finanzverfassungsrechtlichen Teil (C) wird, ist für meine Begriffe noch nicht geklärt. Allein die heranwagen. Tatsache, dass die Landesparlamente dafür mehr Kom- petenzen erhalten werden, wird die Ministerpräsidenten Ich jedenfalls wünsche allen Mitgliedern der Kom- im Zweifel nicht entschädigen. Die Frage nach dem Mut mission eine glückliche Hand und den erforderlichen muss also auch auf der Seite der Länder beantwortet Mut. Die Bundesregierung wird die Arbeit der Kommis- sion unterstützen, wo immer sie es kann. werden. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Lassen Sie mich noch einen Gesichtspunkt erwähnen, DIE GRÜNEN) den ich schon eben angesprochen habe. Die föderale Ordnung muss auch europatauglich werden. Wir müs- sen also sehen, dass in den Kompetenzbereichen wie Präsident Wolfgang Thierse: zum Beispiel dem Umweltrecht ein übergreifender An- Ich erteile dem Kollegen Volker Kauder, CDU/CSU- satz besteht. Es interessiert in Europa niemanden, wie Fraktion, das Wort. wir unser innerstaatliches Rechtssystem, zum Beispiel die Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern, (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- organisiert haben. Es wird vielmehr verlangt, dass wir neten der FDP) insgesamt reagieren. Es wird in Brüssel nicht wahrge- nommen, dass wir bei den Gesetzgebungskompetenzen Volker Kauder (CDU/CSU): jeweils nach Luft, Wasser und Boden unterscheiden und Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und dementsprechend differenziert handeln müssen. Es kann Herren! Der Deutsche Bundestag und – morgen – der außerdem nicht sein – das sagte ich bereits –, dass wir in Bundesrat machen sich an eine gewaltige Aufgabe, eine Brüssel Strafen dafür zahlen müssen, dass einzelne Län- Aufgabe, die, wie Wolfgang Bosbach gesagt hat, spröde der ihre Hausaufgaben nicht machen und das, was be- wirkt und bei der viele Menschen gar nicht verstehen schlossen worden ist, nicht rechtzeitig umsetzen. Des- können, worum es dabei eigentlich geht. Deswegen halb brauchen wir auch im Hinblick auf Europa eine wünsche ich mir, dass die Vorsitzenden, aber auch alle Straffung der Kompetenzen und eine deutlichere Zuord- Mitglieder der Kommission über die Kommissionsarbeit nung der Zuständigkeiten. in einer Art und Weise berichten, dass die Menschen er- kennen, dass es hier nicht um irgendeine Formalie zwi- Wenn die Kommission zur Modernisierung der bun- schen Bund, Bundesländern und Bundesrat sowie zwi- desstaatlichen Ordnung Erfolg haben soll, dann – so schen Ministerien und verschiedenen Behörden geht, meine ich – sollte sie sich zunächst auf das beschränken, (B) sondern um etwas, was die Menschen in ihrem täglichen (D) was unter den ersten beiden Spiegelstrichen im Einset- Leben betrifft. zungsantrag behandelt ist, nämlich auf die Beantwortung der Frage nach der bundesstaatlichen Ordnung. Das, was (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) unter dem letzten Spiegelstrich aufgeführt ist – hier geht es um die Finanzverfassung –, sollte erst dann behandelt Dies wird dann auch die notwendige Beteiligung weit werden, wenn man hinter die ersten beiden Spiegelstri- über den Bundestag und den Bundesrat hinaus ermögli- che einen Haken machen kann. chen. Mein Wunsch, Herr Kollege Gerhardt, könnte nun (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des dahin gehend interpretiert werden, dass genau der Kon- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) ventsgedanke, den Sie angesprochen haben, dies beför- Es besteht – so meine ich wenigstens – eine erhebli- dern könnte. Ich habe diese Idee aber in einem Beitrag che Gefahr, dass das eintritt, was der Bundestagspräsi- in einem Magazin beleuchtet und bin zu dem Ergebnis dent heute Morgen in seiner Rede sagte, nämlich dass gekommen, dass die Zusammensetzung eines Konven- der Berg kreißt und ein Mäuschen gebiert. Das kann ge- tes die Aufgaben nicht erleichtert, weil danach im Deut- schehen, wenn man zu viele Themen auf einmal anpackt schen Bundestag und im Bundesrat mit Zweidrittel- und sich in der zur Verfügung stehenden Zeit – das ist mehrheit beschlossen werden muss. Deswegen haben wir – zwar nicht als Verpflichtung, aber am Rande un- die laufende Legislaturperiode – nicht darauf verständi- seres Einsetzungsbeschlusses – den Wunsch formuliert, gen kann, alles zum Abschluss zu bringen. Die Probleme dass auch alle Beschlüsse in der gemeinsamen Kom- der Welt, die heute Morgen teilweise als Probleme des mission mit Zweidrittelmehrheit gefasst werden; denn Bundes, der Länder und der Kommunen diagnostiziert dann haben sie die größte Chance, umgesetzt zu wer- wurden – hinzu kommt noch die europäische Verfassung –, den. wird die Kommission sicherlich nicht lösen können. Deshalb meine ich, dass wir schon eine Menge geschafft Worum geht es ganz konkret? Es geht nicht, wie hätten, wenn es uns gelingen sollte, die Zuständigkeiten manche meinen, um eine Verfassungskommission, die im Zusammenhang mit der Rahmengesetzgebung, mit viele Punkte regeln soll. Es geht im Kern um eine zen- Art. 84 und in anderen Punkten wirklich zu reformieren. trale politische Frage in der Demokratie: Wer ist für Im Interesse eines solchen Ergebnisses sollte man also was zuständig und wer trägt Verantwortung für Ent- bei der Wahl der Aufgaben bescheiden bleiben. Man scheidungen? Nur dann, wenn diese Frage beantwortet sollte zunächst mit einfachen Schritten beginnen und die wird, ist es den Bürgerinnen und Bürgern in einer von mir angesprochenen Themen abarbeiten. Erst dann Demokratie möglich, bei Wahlen ihr Urteil darüber 5608 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2003

Volker Kauder (A) abzugeben, ob die Entscheidungen richtig gefallen sind Im Rahmen der Vorbereitung dieser Kommission sind (C) oder nicht. immer wieder folgende Fragen gestellt worden: Ent- machtet sich der Bundestag selbst? Welche Aufgaben (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- bleiben für ihn noch übrig, wenn auf der einen Seite das neten der SPD und der FDP) Europäische Parlament und auf der anderen Seite die Wenn ich in Veranstaltungen bin, bin ich immer wie- Landesparlamente stehen? Was haben wir eigentlich der beunruhigt, wenn wir, wie beispielsweise morgen noch zu tun? Diese Fragen ängstigen mich überhaupt – um ein ganz konkretes Beispiel anzusprechen –, über nicht. Vor dem Hintergrund mancher Debatte und man- Arbeitsmarkt und Bundesanstalt für Arbeit sprechen und cher Initiative der Fraktionen meine ich, wir könnten entscheiden werden. Dann berichten die Medien darü- angesichts der Größe der Aufgaben des Deutschen Bun- ber, wie die Bundesanstalt für Arbeit in Zukunft organi- destages noch manches konzentrieren. Zur Regierungs- siert wird, wie Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe ausse- koalition gewandt, möchte ich fragen: Wäre es nicht, hen werden und in welcher Größenordnung wenn wir uns von einigen Aufgaben trennten, wieder Arbeitslosengeld bezahlt wird. Dann beginnt eine Dis- eher möglich, mehr im Deutschen Bundestag miteinan- kussion darüber, was der Deutsche Bundestag beschlos- der zu besprechen? sen hat. Drei bis sechs Wochen später erleben die Men- Wir hätten dann wieder mehr Zeit und es müssten, vor schen auf einmal, dass ein ganz anderes Ergebnis allem aufseiten der Regierung, nicht so viele Kommis- herausgekommen ist. Derjenige, der sich nicht jeden Tag sionen eingesetzt werden. Dies wäre ein schöner Ge- mit Politik beschäftigt, versteht überhaupt nicht, was winn. passiert ist, und denkt: Am Freitag, dem 17. Oktober, hat der Bundestag entschieden, wie das aussehen soll, und Der Herr Präsident hat heute darauf hingewiesen, dass sechs Wochen später, am 26. November, beschließt er et- ich gefordert habe, den Ländern mehr Kompetenz und was ganz anderes – die in Berlin müssen irre sein. Dieser mehr Macht zukommen zu lassen. Herr Präsident, Sie Zustand muss geändert werden. Wir müssen klare Zu- haben das völlig richtig wiedergegeben. Ich werde ständigkeiten haben und dürfen nicht eine verwirrende gleich zwei konkrete Fragen stellen, durch die verständ- Botschaft an die Menschen in unserem Land aussenden. lich wird, was in dieser Kommission passiert oder pas- sieren könnte. Heute, mehr als zehn Jahre nach der deut- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie schen Einheit, sind die Lebensverhältnisse in den bei Abgeordneten der SPD und des BÜND- neuen und in den alten Bundesländern noch immer NISSES 90/DIE GRÜNEN) unterschiedlich; dennoch haben wir hier, im Deutschen Ich habe die große Ehre und Freude, im Vermitt- Bundestag, Sachverhalte zu regeln, die wir weitgehend lungsausschuss tätig zu sein – eine Tätigkeit, die viel nur einheitlich regeln können. Warum muss aber über (B) (D) Zeit kostet. Der Vermittlungsausschuss ist eine Einrich- die Sozialhilfe und ihre Höhe hier im Deutschen Bun- tung, in der gestaltet werden kann. Aber genau das, was destag, also zentral, entschieden werden? Könnten dies vielfach von Kolleginnen und Kollegen aus allen Frak- die Länder unter Berücksichtigung ihrer besonderen Si- tionen im Deutschen Bundestag gefordert wird, nämlich tuation nicht viel besser machen? dass wir mehr an der Entscheidung über Gesetze betei- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und ligt sein müssen, findet im Vermittlungsausschuss nicht der FDP) mehr statt. Ein Gesetz kommt ganz anders aus dem Ver- mittlungsausschuss heraus, als es hineingekommen ist. Die Länder könnten zielgenauer reagieren. Dann kann ich meiner Fraktion oder kann der Kollege Morgen werden wir im Deutschen Bundestag über Schmidt seiner Fraktion am Freitagmorgen nur sagen: „Hartz IV“ diskutieren. Für die Menschen ist überhaupt Leute, gestern Nacht war Vermittlungsausschuss, ihr nicht erkennbar, was sich dahinter verbirgt. Es geht um könnt mit Ja oder Nein stimmen; mehr ist nicht mehr zu die Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozial- machen. Mancher fragt sich dann: Wer hat unser Gesetz hilfe zu einer neuen Form von Hilfe mit einer einheitli- so zerstört? Deswegen muss die Aufgabe des Vermitt- chen Höhe. Wir, die wir aus den alten Bundesländern lungsausschusses so definiert werden, dass sie eine Aus- kommen, müssen erkennen, dass sich die Situation in nahme und nicht der Regelfall ist. Herr Kollege den neuen Bundesländern – die Arbeitslosigkeit liegt Müntefering hat darauf ganz entschieden hingewiesen. dort teilweise bei 25, 27 oder 28 Prozent; der Mittelstand (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie ist dort noch nicht so ausgebaut wie im Westen, weswe- bei Abgeordneten der SPD und des Abg. gen man dort weniger Möglichkeiten hat – anders als in Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- den alten Bundesländern darstellt, wo die Arbeitslosig- NEN]) keit teilweise bei 5, 6, 7 oder 8 Prozent liegt. Deswegen liegt es im Interesse der Menschen – es geht gar nicht Damit keine Missverständnisse entstehen, will ich gleich um die Interessen der Länder oder des Bundes –, dass dazusagen: Solange die Kompetenzen so verteilt sind die Politik näher an ihre Lebenswirklichkeit heran- wie jetzt, werden wir natürlich unsere Einflussmöglich- kommt. Das können die Länder in vielen Bereichen bes- keiten im Interesse des Landes, um für die Menschen ser als der Deutsche Bundestag. bessere Gesetze zu bekommen, nutzen müssen. Wir wer- den sie auch nutzen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Frau Kollegin Sager, ich trete leidenschaftlich für den neten der FDP) Wettbewerbsföderalismus ein. Es geht dabei nicht Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2003 5609

Volker Kauder (A) – der Kollege Gerhardt hat das richtig dargestellt – um den Weichenstellung. Es geht um nicht weniger als um (C) einen Wettbewerb, der isoliert in jedem einzelnen Land die Reformierbarkeit der politischen Entscheidungs- und ohne Verantwortung für das Gemeinwesen insge- strukturen unserer Republik. Die Demokratie – Herr samt stattfindet. Wir wissen sehr genau, dass es einen Kauder hat das beschrieben – hat eine Vertrauenskrise, Länderfinanzausgleich geben muss. Er wird durch die weil viele Bürgerinnen und Bürger nicht mehr verstehen, Arbeit dieser Kommission überhaupt nicht zur Disposi- wer welche Entscheidungen zu verantworten hat, warum tion gestellt. Aber wer Wettbewerb will – jeder, der den bestimmte Reformen sozusagen halbiert aus dem Ver- Föderalismus stärken will, muss Wettbewerb wollen; da mittlungsausschuss herauskommen und warum die Bun- sollten wir uns nicht in die Tasche lügen –, muss den am destagsmehrheit, die einen demokratischen Gestaltungs- Wettbewerb Teilnehmenden die Chance geben, durch die auftrag bekommen hat, an bestimmten Punkten durch bessere Erfüllung von Aufgaben für sein Land mehr zu den Bundesrat gehindert ist, den Auftrag der Wählerin- erreichen. Mehr Föderalismus und mehr Wettbewerb nen und Wähler auch so umzusetzen, wie sie ihn umset- heißt, dass die einzelnen Länder trotz des Länderfinanz- zen will. Die Verfassungsreform, die 1994 gescheitert ist, ausgleichs mehr von den Erträgen ihrer Arbeit behalten. muss jetzt gelingen. Es stehen an eine Neuaufstellung der staatlichen Ebenen und eine Reform der Institutionen, (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und des Institutionengefüges dieser Republik. der FDP) Ein in diesem Sinne verstandener Wettbewerbsföde- Als Frankreichs vierte Republik 1958 feststellte, dass ralismus findet in den Ländern schon in ganz anderer Art ihre Institutionen nicht mehr in der Lage waren, die He- und Weise statt, und zwar mit großem Erfolg. In den rausforderungen der Zeit zu bewältigen, hat man sich Ländern, aber auch in der ganzen Republik stehen die dort dafür entschieden, das verfassungsrechtliche Ge- Städte und Gemeinden im Wettbewerb. Es geht darum, füge grundsätzlich zu reformieren. Wir sprechen heute wie eine Kommune Aufgaben besser erfüllen kann als von der fünften Republik in Frankreich. die Nachbarkommune. Es geht darum, ob sie sich für Gelingt mehr als eine redaktionelle Überarbeitung des diese oder für jene Investition entscheidet. Genau dieser Grundgesetzes, nämlich, wie es in dieser Debatte an- Wettbewerb hat uns auf kommunaler Ebene enorm vor- klang, eine grundsätzliche Reform der Gesetzgebungs- angebracht. Es sind neue Ideen entstanden. kompetenzen sowie der Finanzverteilung und der Fi- Ich nenne wieder ein Beispiel aus dem Bereich, über nanzströme, dann wird man in Deutschland von einer den wir morgen sprechen wollen. Warum meinen wir im dritten deutschen Republik sprechen können. Das erste Bundestag, besser zu wissen, wie in einer Stadt mit Kapitel dieser Republik wäre am Ende dieses Reform- 20 000 Einwohnern Arbeitsvermittlung stattfinden prozesses aufgeschlagen. (B) sollte, und trauen der Kommune nicht zu, das selbst zu Frankreich hat zu seiner Verfassung am Ende jenes (D) entscheiden? Warum wollen wir das zentral steuern? Prozesses damals eine Volksabstimmung durchgeführt. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Volksabstimmungen zu ermöglichen und unsere Ver- fassung endlich auch dem deutschen Volk vorzulegen Damit bin ich wieder bei meinem Thema. Es geht wäre, meine ich, ein Thema, über das wir in diesem Zu- ganz entscheidend darum, den Menschen zu vermitteln: sammenhang ebenfalls diskutieren sollten. Hier sitzen nicht zwei große Gremien der Demokratie, Bundestag und Bundesrat, zusammen, um über die Auf- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – gabenverteilung und darüber, wer was kann, zu streiten. Zuruf von der CDU/CSU: Darum geht es ge- Vielmehr haben wir hier das Ziel, eine Verbesserung rade nicht!) der Entscheidungsstrukturen zu erreichen, um mit un- Die anstehende Föderalismusreform bietet in erster seren Entscheidungen, den Entscheidungen von Bund Linie neue Chancen für unsere Demokratie. Sie bietet und Ländern, näher bei den Menschen zu sein. Auf die- die Möglichkeit, Verantwortung erkennbar zu machen sem Weg wünsche ich viel Erfolg und viel Glück. Herr und auch für die Bürgerinnen und Bürger deutlich zu Präsident, Sie haben mich zitiert. Jawohl, wir sind bereit, machen, welche Akteure, welche Parteien politisch die dazu beizutragen. Wir wollen, dass dieses große Vorha- Verantwortung für Gesetzgebungsvorhaben oder für die ben im Interesse der Menschen zum Erfolg geführt wird. Verhinderung solcher Vorhaben tragen. Der Wahldemo- Herzlichen Dank. kratie laufen heute die Wählerinnen und Wähler weg. Wir können mit der Föderalismusreform dafür sorgen, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie die Demokratinnen und Demokraten wieder zurückzuge- bei Abgeordneten der SPD und des BÜND- winnen, und den Bürgerinnen und Bürgern deutlich ma- NISSES 90/DIE GRÜNEN) chen, dass es sich lohnt, mitzumachen.

Präsident Wolfgang Thierse: Unser Föderalismus ist kein starres Gebilde, sondern muss als dynamisches System fortentwickelt und an Ich erteile dem Kollegen Volker Beck, Bündnis 90/ aktuelle Entwicklungen angepasst werden. Die Institu- Die Grünen, das Wort. tionen haben sich in 50 Jahren Verfassungsgeschichte immer weiter ineinander verkantet. Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (Vorsitz: Vizepräsident Dr. Norbert Lammert) Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir stehen in dieser Legislaturperiode vor einer ganz entscheiden- Das Ergebnis ist allzu oft Stillstand. 5610 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2003

Volker Beck (Köln) (A) Uns wird diese Föderalismusreform nur gelingen, Die Union hat gesagt, sie sei in diesem Zusammen- (C) wenn es zu einem fairen Geben und Nehmen zwischen hang bereit, die Rahmengesetzgebung abzuschaffen. Das Bund und Ländern bei Gesetzgebungskompetenzen und ist richtig. Von den Ländern habe ich noch wenig gehört Zuständigkeiten der verschiedenen staatlichen Ebenen und in ihren Papieren wenig darüber gelesen, wie sie die kommt. Dabei müssen wir uns von einer Philosophie lei- Gestaltungsfähigkeit des Bundes sichern und die Blo- ten lassen, die allen Ebenen – Bund, Ländern und Kom- ckadeposition des Bundesrates aufbrechen wollen. Ich munen – mehr Gestaltungsfreiheit und mehr eigenstän- glaube, das ist ein ganz entscheidender Punkt. Wir müs- dige Kompetenzen zuweist. Auf welchem Wege sich die sen – die Justizministerin hat es angesprochen – von der Gesetzgebungsautonomie der Länder stärken lässt, darü- Zustimmungsbedürftigkeit zahlreicher Gesetzesmaterien ber wird die Kommission ausführlich beraten müssen. herunter. Es kann nicht sein, dass Gesetze allein wegen des Verwaltungsaspektes zustimmungsbedürftig werden. In der Wissenschaft wird, frei von politischen Rah- menbedingungen, häufig die Meinung vertreten, wir bräuchten acht leistungsfähige, starke Länder. Ich Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: glaube, wer die Hürde für das Gelingen der Föderalis- Herr Kollege, Sie denken bitte an die Redezeit. musreform so hoch legt, wird daran scheitern. Aber wir müssen darüber diskutieren, dass die Länder unter- Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): schiedlich leistungsfähig sind. Damit die Zuweisung neuer Kompetenzen und neuer Gestaltungsspielräume Vielen Dank, Herr Präsident. im Rahmen des fairen Gebens und Nehmens glücken Zum Schluss: Wir müssen auch darüber reden, wie kann, müssen wir wahrscheinlich auch neue Formen der weit die Rechte der Länder, in die Gesetzgebung einzu- Kooperation zwischen den kleineren und schwächeren wirken, gehen sollen. Wir hatten gestern im Vermitt- Ländern unterhalb der Fusionsebene finden. lungsausschuss einen exemplarischen Fall. Da hatten die Hier wurde viel von Wettbewerbsföderalismus ge- Länder doch in der Tat den Vermittlungsausschuss ange- redet. Wir müssen ganz klar darauf achten, dass es keine rufen – Rechtszersplitterung geben darf. Der Bund muss in Kernbereichen immer die Möglichkeit haben, für gleich- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: wertige Lebensverhältnisse in Deutschland zu sorgen. Das können Sie nun nicht mehr im Einzelnen darstel- (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- len. SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD) Zum Beispiel in Fragen der Existenzsicherung, beim Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (B) (D) Wohngeld, bei der Sozialhilfe, bei der Daseinsvorsorge – mein letzter Satz –, um in die Ressortzuständigkei- und in der Wohnraumversorgung ist dies unerlässlich. ten eines Bundesministeriums einzugreifen. Sie haben Im Hinblick auf Hartz III und IV bin ich sehr dafür, sich Sorgen darüber gemacht, in welcher Bundesbehörde dass die Kommunen, die in diesem Bereich sehr gute Ar- die Mitarbeiter arbeiten. Es hat schon wundersame Blü- beit leisten – meine Heimatstadt gehört dazu –, in den ten getrieben. Vermittlungsprozess aktiv einbezogen werden. Köln hat Manche Beiträge in dieser Debatte könnte man sich schon heute ein Jobcenter beim Sozialamt. Warum sollte schon jetzt hinter die Ohren schreiben, damit wir uns auf man diese Kompetenz nicht nutzen? Aber wir können die wesentlichen Fragen konzentrieren können und nicht auch nicht darüber hinwegschauen, dass andere Kom- jeder Quatsch im Rahmen der Verfahrensmöglichkeiten, munen eine solche Arbeit nicht leisten können und auch die die Verfassung heute noch vorsieht und die wir über- gar nicht wollen. Wir müssen darauf achten, dass der Ar- arbeiten müssen, auf den Tisch des Vermittlungsaus- beitslose keine Niete zieht, wenn er in der falschen Stadt schusses kommt. lebt. Der Bund hat die Aufgabe, für einheitliche Vermitt- lungsanstrengungen zu sorgen. Vielen Dank. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD) sowie bei Abgeordneten der SPD) Darüber hinaus wird es darum gehen, bereits vorhan- dene Zuständigkeiten des Bundes präziser auszugestal- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: ten und die Entwicklungen auf EU-Ebene, zum Beispiel Ich erteile das Wort dem Kollegen Ernst Burgbacher, im Umweltschutz, in unserer verfassungsrechtlichen FDP-Fraktion. Ordnung zu reflektieren. Beim Umweltschutz brauchen wir einen medienübergreifenden Ansatz. Wir haben heute einen Sektorenansatz, der noch dazu in einzelnen Ernst Burgbacher (FDP): Bereichen Rahmengesetzgebung und in anderen Berei- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die chen konkurrierende Gesetzgebung vorsieht. Alles ist Ziele, die die Arbeit der FDP in der Föderalismuskom- schön unübersichtlich zersplittert. Wir schaffen es regel- mission bestimmen werden, lassen sich mit den Schlag- mäßig nicht, sinnvoll oder gar zeitgerecht die Vorgaben worten Wettbewerb, Entscheidungsfähigkeit und Trans- der Europäischen Union umzusetzen. Hier müssen wir parenz umschreiben. Die Reform des Föderalismus ist entrümpeln. für mich und für die FDP eine der ganz zentralen Aufga- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2003 5611

Ernst Burgbacher (A) ben dieser Legislaturperiode. Darin sind wir uns alle, Dass dabei die Situation der neuen Länder besonders be- (C) wie ich glaube, einig. rücksichtigt werden muss, versteht sich von selbst. Darü- ber hat ja auch Wolfgang Gerhardt bereits gesprochen. Ich verkenne nicht, dass ich eine gewisse Skepsis be- züglich der Zusammensetzung dieser Kommission Die Diskussion um eine Föderalismusreform läuft in hege – ich hoffe, dass sie überwunden wird –; denn ne- der FDP seit vielen Jahren. Es war vor allen Dingen die ben 16 Bundestagsabgeordneten, die alle, wie ich der Friedrich-Naumann-Stiftung, die dabei wesentliche Vor- Debatte entnehme, vom Willen beseelt sind, etwas zu er- arbeiten geleistet hat. Unter Leitung von Otto Graf reichen, sind noch 16 Ministerpräsidenten Mitglieder Lambsdorff wurden fünf Föderalismusmanifeste verab- dieser Kommission. Ich hoffe wirklich, dass diese 16 schiedet. Ich empfehle allen Kolleginnen und Kollegen, nicht bei jedem Vorschlag mit dem Taschenrechner die in der Kommission mitarbeiten, diese Manifeste ein- nachrechnen, ob er ihnen schadet oder nützt. Wenn diese mal sehr genau zu lesen. Ich glaube, sie stellen eine gute Einstellung vorhanden sein sollte, dann wäre die Arbeit Grundlage für unsere Arbeit dar. der Kommission zum Scheitern verurteilt. Deshalb for- Nun gibt es verschiedene Felder, über die teilweise ja dere ich gleich am Anfang alle Mitglieder auf, dieses schon geredet wird. Ich will zunächst der Bundesjustiz- Denken zu überwinden und immer die Sache insgesamt ministerin – sie ist jetzt leider nicht mehr hier – ganz ent- im Blick zu haben. schieden widersprechen. Liebe Kolleginnen und Kolle- gen, eine Reform der bundesstaatlichen Ordnung ohne (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Thomas Modernisierung der Finanzbeziehungen zwischen Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]) Bund, Ländern und Gemeinden ist für uns nicht denk- Die Kommission darf sich auch nicht nur vom dem bar. Motiv leiten lassen – das ist meine zweite Bemerkung –, (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten danach zu schauen, wo es Machtzuwachs und -verlust der CDU/CSU) gibt. Leitmotiv der Kommission muss es vielmehr sein, dafür zu sorgen, dass unserem föderalen System Deshalb müssen wir hier sogar die Vorgehensweise än- wieder mehr Entscheidungsfähigkeit zukommt, wie es dern: Wir müssen zuerst die Finanzverfassung moderni- Wolfgang Gerhardt vorher ausgeführt hat, und die Ent- sieren; erst danach können wir uns der Lösung der ande- scheidungen transparenter werden, damit auch die Wäh- ren Probleme wirklich zuwenden. lerinnen und Wähler erkennen können, wer für welche Weiterhin muss im Vordergrund eine klar strukturierte Entscheidung zuständig ist und gegebenenfalls dafür Trennung und Neuverteilung der Gesetzgebungskompe- verantwortlich zu machen ist. tenz stehen. Im Augenblick neigen ich und meine Frak- (B) tion dazu – das sage ich Ihnen ganz offen –, die Rah- (D) (Beifall bei Abgeordneten der FDP) mengesetzgebung weitgehend abzuschaffen. Wir neigen auch dazu, den Katalog der konkurrierenden Gesetzge- Im Verlaufe der Geschichte der Bundesrepublik bung sehr stark zu beschneiden. Auf diese Weise wollen Deutschland hat man sich immer mehr dem Modell des wir Gesetzgebungskompetenzen wieder klarer dem kooperativen Föderalismus zugewandt bzw. es selbst ge- Bund oder den Ländern zuordnen. Dabei darf nicht der schaffen. Ausgangspunkt war aber vielmehr das Modell jeweilige Ehrgeiz eine Rolle spielen, sondern der des Wettbewerbsföderalismus. Zu den Reformhinder- Aspekt, auf welche Ebene sie eher gehören. Ich denke, nissen gehört an erster Stelle – ich sage das auch noch in der Kommission werden wir uns den Katalog vor- einmal in Ihre Richtung, Herr Beck – die Überbetonung knöpfen und Punkt für Punkt diskutieren müssen, wo der der Gleichwertigkeit und der Einheitlichkeit der Lebens- Bund besser alleine zuständig sein sollte und was wir in verhältnisse, die das Grundgesetz an zwei Stellen, näm- die Zuständigkeit der Länder zurückverlagern sollten. lich in Art. 72 und in Art. 106, als Nebenbedingungen Das wird ganz wesentlich sein. erwähnt, aber nicht als Staatsziel proklamiert. Der Über- interpretation dieser Nebenbedingungen ist entschieden Liebe Kollegin Sager, an dieser Stelle stört mich ein entgegenzutreten. Begriff, den Sie, wie ich glaube, zweimal gebraucht ha- ben, und zwar der Begriff der Öffnungsklausel. Eine (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Öffnungsklausel ist eigentlich ein fauler Kompromiss. der CDU/CSU) Ich will keine Öffnungsklauseln, sondern eine klare Zu- weisung der Zuständigkeiten. Wohin es führt, wenn man Meine Damen und Herren, von der falschen und im Öffnungsklauseln einführt, sehen wir im Übrigen im Au- Kern für alle Beteiligten schädlichen Nivellierungsideo- genblick bei der Beamtenbesoldung. Sobald man be- logie muss endlich Abschied genommen werden und ginnt, Öffnungsklauseln einzuführen, ist das Scheitern Bürgern wie Politikern wieder bewusst gemacht werden, eigentlich schon vorgezeichnet. Nein, lassen Sie uns den dass Föderalismus nicht Gleichmacherei bedeutet, son- Mut haben, jetzt klare Entscheidungen zu treffen, was dern exakt das Gegenteil davon, nämlich Länderautono- wohin gehört! mie, Wettbewerb und die Gewährleistung kultureller, so- zialer, ökonomischer und politischer Vielfalt. Das Im Rahmen dieser Zuordnung weise ich auf einen wollen wir doch in unserem Staat. Dafür müssen wir Punkt hin, der heute noch keine Rolle gespielt hat: Die auch jetzt Sorge tragen. Entflechtung der Aufgabenzuständigkeiten im Interesse einer klaren Zuordnung der Verantwortung verlangt (Beifall bei der FDP) dann aber auch, dass sich die niedrigere Ebene – hier die 5612 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2003

Ernst Burgbacher (A) Länder – bei der höheren – hier dem Bund – nicht über Die Differenz beträgt fast 1 Milliarde Euro. Diese Rech- (C) Gebühr in die dortige Aufgabenwahrnehmung ein- nung trifft – in unterschiedlicher Höhe – auf fast alle mischt. Deshalb rege ich an, Art. 23 des Grundgesetzes Länder zu. Im richtigen Leben geht es dabei um Tau- zu überdenken. Viele wissen noch, wie der Artikel da- sende Kitas, Hunderte Schwimmbäder, zig Theater und mals neu aufgenommen wurde. Wenn wir eine klare vieles mehr. Aufgabentrennung wollen, muss auch die Kompetenz Die EU und ihre Erweiterung sind ein weiterer Grund, des Bundes bei der EU wieder klarer geregelt sein. das Prinzip des Föderalismus einem aktuellen Praxistest (Beifall bei Abgeordneten der FDP und zu unterziehen. Immer mehr Entscheidungen werden auf der SPD) EU-Ebene getroffen oder dorthin delegiert. Für viele ist das undurchsichtig und oft auch uneinsichtig. Politik im Die Europakompatibilität wurde einige Male ange- Nebel ist aber das Gegenteil von Transparenz und De- sprochen. Ich halte sie für maßgeblich. Uns als Bundes- mokratie. Das ist ein zusätzlicher Grund, uns darüber republik Deutschland ist daran gelegen, unsere Interes- klar zu werden, wie wir unser föderales System weiter sen bei der Europäischen Union zu vertreten. Eine ausgestalten können. Aufgabe der Kommission muss darin bestehen, uns in die Lage dazu zu versetzen. Hinzu kommt ein grundsätzlicher Streit; denn Födera- lismus ist nicht gleich Föderalismus. Auch das haben wir Liebe Kolleginnen und Kollegen, am 7. November heute Vormittag schon mehrfach gehört. Die einen wol- dieses Jahres wird die Kommission zum ersten Mal ta- len einen solidarischen, kooperativen Föderalismus – die gen. Wir haben eine große Aufgabe. Ich freue mich auf PDS gehört dazu –, diese Aufgabe. Meine Fraktion ist entschlossen, alles da- für zu tun, dass wir diese Aufgabe erfolgreich bewälti- (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [frak- gen. Ich fordere alle Mitglieder der Kommission auf, tionslos]) auch die Mitglieder der Länderseite, nicht eigene Inte- andere wollen einen Wettbewerbsföderalismus, bei dem ressen, sondern das Wohl unseres Landes, die größere die starken Länder gewinnen und die ohnehin schwa- Effizienz und Transparenz unseres Systems in den Vor- chen weiter verlieren. Die PDS im Bundestag will dies dergrund zu stellen und endlich mehr Wettbewerb zwi- nicht. schen den Ländern, aber auch zwischen den Kommunen zuzulassen und zu fördern. Schließlich gibt es noch einen weiteren Konflikt. Er Herzlichen Dank. betrifft das Verhältnis von Exekutive und Legislative, also von Regierung und Parlament. Das Gewicht des (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Parlaments wird immer geringer und der Einfluss der (B) der SPD und der CDU/CSU) Regierung immer stärker. Der Versuch, ein Entsendege- (D) setz zu verabschieden, nach dem künftig nicht mehr der Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Bundestag, sondern eine elitäre Untergruppe des Parla- ments über Auslandseinsätze der Bundeswehr entschei- Nächste Rednerin ist die Kollegin Petra Pau. den soll, ist dafür nur ein aktueller Beleg. Wider das Grundgesetz ist er außerdem. Petra Pau (fraktionslos): Heute geht es um eine gemeinsame Kommission von Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Bundestag und Bundesrat zur Modernisierung der bun- Föderalismus gehört zu den Säulen der Bundesrepublik. desstaatlichen Ordnung, also um ein Gremium, das sich Als Prinzip hat er sich bewährt. Mit ihm wird geregelt, mit den von mir aufgeworfenen Fragen und vielen ande- was der Bund soll und darf, was allein Ländersache und ren Punkten befassen soll. Gerade deshalb sollten wir ei- was Angelegenheit der Kommunen ist. Die PDS bejaht nen Konstruktionsfehler gleich von Anfang an vermei- dieses Prinzip. Gleichzeitig verweisen wir seit Jahren den. Sie wissen es – wenn nicht, dann sage ich es Ihnen –: auf Mängel und Schieflagen in der Praxis. Diese gehen Es gibt seit geraumer Zeit einen Konvent deutscher Lan- im Übrigen überwiegend zulasten der Länder und Kom- desparlamente. Er befasst sich mit der Frage, wie den munen. Sie drohen das Prinzip auszuhöhlen. Deshalb tei- Landesparlamenten die ursächlichen Rechte wiederge- len wir die zunehmenden Klagen und Forderungen des geben werden können und wie das Recht der Parlamenta- Städte- und Gemeindetages. Es ist löblich, wenn Städte rier gegenüber den Regierenden gestärkt werden kann. und Kommunen möglichst viel in eigener Sache ent- scheiden können, aber es ist tödlich für sie, wenn ihnen Dieser Konvent hat am 31. März dieses Jahres die Ressourcen und das Geld dazu durch eine falsche Repräsentanten bestimmt. Sie sollen die Interessen der Steuerpolitik immer mehr entzogen werden. Landesparlamente gegenüber dem Bund, aber auch ge- genüber den Landesregierungen vertreten. In der gemein- Ein aktuelles Beispiel: Würde die Steuerreform vor- samen Kommission von Bundestag und Bundesrat, die gezogen, wie von Rot-Grün geplant, verlöre das Land heute zur Debatte steht, findet sich das berechtigte Anlie- Berlin Einnahmen von circa 400 Millionen Euro. Käme gen der Landesparlamente allerdings überhaupt nicht dagegen die Vermögensteuer, wie die PDS sie fordert, wieder. Damit setzt sie sich über den erklärten Willen von flössen rund 400 Millionen Euro mehr in die Landeskas- rund 2 000 Landesparlamentariern hinweg. Ich finde, das sen. ist kein Fehlstart, sondern schlichtweg ein Foul. (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [frak- (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [frak- tionslos]) tionslos]) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2003 5613

Petra Pau (A) Ich kann auch nicht mit dem Argument des Bundestags- das ist zu Recht betont worden. Es haben sich aber im (C) präsidenten von heute Morgen leben, dass die Landesre- Laufe der Jahrzehnte einige Verwerfungen entwickelt, gierungen die Interessen der Landesparlamente in dieser an denen wir alle übrigens partei-, fraktions- und institu- Kommission besser vertreten würden. tionenübergreifend beteiligt gewesen sind. Es kann des- wegen keine Schuldzuweisungen geben; das hat auch Mit der Reform des Föderalismus geht es auch um die niemand getan. Zukunft des Ostens. In den neuen Bundesländern arbei- ten 144 Parlamentarier der PDS. Die PDS aber – und Das Entscheidende aber ist: Wir stehen vor diesem damit rund 20 Prozent der Wählerinnen und Wähler – Hintergrund unter großem Druck. Denn die Veränderun- wird durch die vorgeschlagene Zusammensetzung der gen, die wir herbeiführen wollen und müssen, wie wir Kommission schlicht ausgegrenzt – nicht zufällig, son- alle betont haben, sind von großer Bedeutung und von dern wohl wissend; denn es gab Vorschläge – im Übri- maßgeblichem Umfang. gen nicht nur Vorschläge der PDS, sondern Vorschläge quer aus allen Landesparlamenten –, diesen Fehler zu Neben dieser schwierigen Aufgabe stehen wir aber korrigieren. Professor hat dies als PDS- auch vor einer großen Chance: vor der Möglichkeit, wie- Vorsitzender in einem Brief an den Parlamentspräsiden- der mehr als bisher demokratisch-parlamentarische ten Thierse und an den Präsidenten des Bundesrates an- Strukturen zu beleben und wiederzugewinnen und damit gemahnt. Bisher gab es keine Resonanz. Diese Ignoranz dafür zu sorgen, dass die Menschen dem Parlamentaris- werden wir nicht hinnehmen. mus wieder mehr Vertrauen entgegenbringen. Das ist nö- tig. (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [frak- tionslos]) (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU und der FDP) Die PDS im Bundestag bedauert, dass damit ein gro- ßes und wichtiges Thema von Anfang an durch kleinli- Wir wollen Berufsskeptiker wie Robert Leicht von chen Egoismus belastet wird. Wir haben mehrere Ände- der „Zeit“ widerlegen; diesen Willen habe ich mit wirk- rungen beantragt. Unter anderem wird verlangt, die elf lich großem Genuss von allen Seiten des Hauses gespürt. Mitglieder der Verhandlungskommission des Föderalis- Aber wir müssen dann auch sehr intensiv arbeiten, um muskonvents der Landesparlamente in unsere Kommis- die vor uns liegenden Aufgaben zu bewältigen. sion gleichberechtigt aufzunehmen. Die Zurückhaltung, die Bundesministerin Zypries an Danke schön. den Tag gelegt hat, entspringt – wie ich finde, zu Recht – (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [frak- der Stellung der Bundesregierung in diesem Prozess. Sie (B) tionslos]) soll uns begleiten, helfen und unterstützen; das ist zuge- (D) sagt worden. Zurückhaltung ist aber deswegen geboten, weil die Bundesregierung nicht direkt am Gesetzge- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: bungsverfahren beteiligt ist. Dass die Bundesregierung Das Wort für die SPD-Fraktion hat nun der Kollege aber eine wichtige Rolle spielen muss, ist einheitliche Wilhelm Schmidt. Auffassung.

Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Wer sich das Ausmaß der Verflechtungen gerade in der Gesetzgebung, aber auch in den Finanzbeziehungen Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich zwischen Bund und Ländern konkret vor Augen führt, stehe sozusagen mit dem Grundgesetz unterm Arm am der wird spüren, dass Veränderungen wirklich nötig sind. Rednerpult. Ich will damit verdeutlichen, an welcher Herr Kauder hat vorhin kurz aus unserer gemeinsamen Stelle der Debatte wir uns befinden. Wir müssen an un- Tätigkeit im Vermittlungsausschuss – auch viele andere serem Grundgesetz, mit dem die Politik unseres Landes daran Beteiligte sind hier – berichtet. Ich muss zugeben: gestaltet wird, etwas verändern, damit die Menschen Als wir gestern Abend im Vermittlungsausschuss relativ draußen im Lande spüren, dass wir ihre Sorgen ernst zügig mit zwei Ablehnungen und einer Vertagung zu nehmen, wenn es um ihre Lebensverhältnisse geht. Wir Ende gekommen waren, konnte man auf der einen Seite müssen versuchen, mit der Entflechtung von Gesetzge- damit nicht zufrieden sein. Auf der anderen Seite sagte bungsüberschneidungen voranzukommen und mit dem mir ein Mitglied des Bundesrates hinter vorgehaltener Gesetzgebungswirrwarr aufzuräumen, und zwar gemein- Hand: Ich muss bekennen, auch ich weiß nicht, warum schaftlich. wir im Bundesrat das Gentechnikgesetz zu behandeln Ich fühle mich von dem Auftakt dieser Debatte heute haben. Denn es geht da wirklich nur, wie Herr Beck mit Morgen und von allen Vorrednerinnen und -rednern er- Recht betont hat, um Veränderungen in den Abläufen mutigt, wenngleich man feststellen muss, dass es doch und Zuständigkeiten innerhalb von Bundesressorts und den einen oder anderen Unterschied gibt. Das will ich nachgeordneten Behörden des Bundes. Das Verhältnis nicht verhehlen; ich komme darauf gleich zurück. zwischen Bundestag und Bundesrat treibt manchmal un- glaubliche Blüten. Wenn aber in den letzten Tagen und Wochen in der Öffentlichkeit zum Beispiel mit Schlagzeilen wie „Augi- Ich will mit Blick auf Art. 84 des Grundgesetzes, den asstall ausmisten“ oder „Einen elenden Kuhhandel rück- ich in unserer Debatte als einen ganz zentralen Punkt abwickeln“ operiert wurde, dann ist das, wie ich finde, empfinde, darauf hinweisen, dass es auch in dieser Hin- eine Übertreibung. Wir haben ein gutes Grundgesetz; sicht eine ganze Reihe von Entwicklungen gibt, die uns 5614 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2003

Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (A) nicht einerlei sein können. Nehmen Sie nur – Finanz- den Thesen zur Föderalismusreform von Herrn Koch (C) minister Eichel ist ja hier – und Herrn Rüttgers – beide sind immerhin CDU-Präsi- diumsmitglieder – vortragen. (Volker Kauder [CDU/CSU]: Noch hier!) Die unklaren Zuständigkeiten von Bund und Län- das Förderbankenneustrukturierungsgesetz. Was spielte dern haben zu einem System der organisierten Un- sich da vor der Sommerpause ab? Es war ursprünglich verantwortlichkeit geführt. nicht zustimmungspflichtig. Aufgrund des Drucks der Länder und der Tatsache, dass wir das Ganze nicht ver- Wie wahr! Daneben werden eine gerechte Aufgabenver- zögern wollten, haben wir für den im Rahmen dieses teilung und klare Zuständigkeiten angemahnt. Es heißt neuen Förderbankeninstrumentariums vorgesehenen weiter: Mittelstandsrat drei Vertreter der Länder zugelassen. Von Der ursprüngliche Gestaltungsföderalismus hat sich diesem Augenblick an war das Gesetz in vollem Um- zu einem bloßen Beteiligungsföderalismus dezi- fange zustimmungspflichtig. Man fragt sich wirklich, miert. welchen Unsinn wir uns ab und zu selber zumuten. Die Schlussfolgerungen, die gezogen werden, können Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: wir zu Beginn der Debatte meiner Meinung nach nicht einfach stehen lassen. In diesem Zusammenhang komme Herr Kollege Schmidt, gestatten Sie eine Zwischen- ich auch auf Sie, Herr Burgbacher und Herr Gerhardt, zu frage des Kollegen Heiderich? sprechen. Auch Sie haben in ähnlicher Weise Ihre Ziel- setzungen formuliert. Manchmal handelt es sich dabei Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): um, wie ich finde, ungehemmten Wettbewerbsföderalis- Gerne. mus. Wir müssen die Schaffung gleichwertiger Lebens- Helmut Heiderich (CDU/CSU): verhältnisse in diesem Lande mehr im Blick haben. Herr Kollege Schmidt, Sie haben eben das Problem Herr Burgbacher, dies steht, mit Verlaub gesagt, nicht als der Behandlung des Gentechnikgesetzes im Bundesrat Nebenabrede im Grundgesetz, sondern es geht dabei um angesprochen. Können Sie sich vorstellen, dass Ihrem eine zentrale Aufgabe, der wir uns in den letzten Jahren Problem durch eine Rückfrage bei fachkundigen Kolle- immer wieder zugewandt haben. gen abgeholfen werden und man Sie darüber informieren (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ könnte, welchen Sinn es hat, dieses Gesetz im Bundesrat DIE GRÜNEN – Dr. Wolfgang Gerhardt zu behandeln? [FDP]: Wir müssen über Ausgleichsänderun- (B) (D) gen reden und sie neu formulieren!) Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Ich fand die Formulierung von Herrn Burgbacher schon Die Frage ist, was man, wenn ein solches Gesetz nach kritikwürdig; deshalb wollte ich noch einmal darauf ein- unserer grundgesetzlichen Basis dem Bundesrat zuge- gehen. So etwas darf sich erst gar nicht einschleifen; wiesen werden muss, verhindern kann. Das liegt dann in denn das könnte auch zu falschen Zielsetzungen in der der Hand des Bundesrates. Wenn man trotz des hinter Kommissionsarbeit führen. den Kulissen formulierten guten Willens das Gegenteil in der Praxis erlebt, wird man etwas skeptisch. Deshalb Wir wollen, dass die Mitwirkungsrechte der Länder kann ich nur an alle Beteiligten appellieren. Darin wird zurückgeführt werden. Wir wollen klare Verlagerungen der Sinn unserer Kommissionsarbeit in Zukunft liegen. auf Bund und Länder, ohne dass man sich gegenseitig Schwierigkeiten machen kann. Ich habe das Grundge- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des setz deshalb mitgebracht, damit wir ab und zu hinein- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) schauen können. Ich möchte auch Ihnen empfehlen, das Ich möchte für unsere Seite sagen, dass wir die Arbeit ab und zu zu tun. Ich weiß, diejenigen, die hier sind, sind sehr konsequent und zugleich pragmatisch angehen wol- so engagiert, dass sie das Grundgesetz fast auswendig len. Wir wollen ganz bewusst nicht mit Vorfestlegungen können. Der interessierten Öffentlichkeit sei gesagt, dass im Detail operieren, weil wir auf alle, auch auf die Län- zum Beispiel die konkurrierende Gesetzgebung, die im der als Beteiligte, zugehen wollen. Es war jedoch Grundgesetz verankert ist, 26 verschiedene Elemente wichtig, dass der SPD-Fraktionsvorsitzende, Franz mit zum Teil vielen Untergruppen enthält. Hier könnte es Müntefering, schon im Juni den Beginn der Debatte im durchaus zu einem konkreten Ergebnis kommen, sodass Deutschen Bundestag ausgelöst hat. Entscheidend ist, wir eine Entflechtung herbeiführen können. Die Rah- dass wir das, was wir geplant haben, konsequent umset- mengesetzgebung des Bundes mit sieben Einzelpunkten zen. Deshalb wird Herr Müntefering einer der alternie- unterliegt genau der gleichen Bewertung. renden Vorsitzenden des Gremiums werden. Das ist ein Wir hören jetzt aber schon wieder die Reaktionen von wichtiges Zeichen dafür, dass meine Fraktion und wir Interessengruppen, die nicht möchten, dass wir die Rah- alle dieses Thema besonders ernst nehmen. mengesetzgebung beim Hochschulrecht oder an anderer (Beifall bei der SPD) Stelle aufgeben. Sie befürchten nämlich, dass bundes- weit große Komplikationen eintreten könnten, wenn wir Bezüglich der Analysen haben wir vieles gehört, was den Rahmen des Bundes nicht mehr setzen. So könnten uns miteinander verbindet. Ich möchte Ihnen etwas aus sich zum Beispiel in den Ländern ganz unterschiedliche Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2003 5615

Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (A) Verhältnisse an den Hochschulen entwickeln. Diese Wir haben uns dies übrigens vom Justizministerium (C) Skepsis sollten wir ernst nehmen, ohne deswegen das rechtlich absichern lassen. Es wird nicht anders gehen. Ziel der Entflechtung auch bei der Rahmengesetzgebung Ich glaube aber, die Beteiligung der Länder ist über den zu vernachlässigen. Bundesrat ebenso wie die der Landtage auf diesem Wege durchaus gewährleistet. Art. 84 des Grundgesetzes ist schon angesprochen worden. Wir müssen bei allem Respekt vor dem Bundes- (Abg. Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE verfassungsgericht, das uns vor fast 30 Jahren etwas ein- GRÜNEN] meldet sich zu einer Zwischen- gebrockt hat, eine Klarstellung herbeiführen. Deswegen frage) wird es eine wichtige Aufgabe sein, Art. 84 des Grund- – Ich glaube, Herr Präsident, der Kollege Beck möchte gesetzes in seinen ursprünglichen Sinn zurückzuführen. mir eine Zwischenfrage stellen. Ich hoffe, dass wir uns darüber schnell einigen können. Auf diese Weise könnten wir uns von dem Monstrum der (Volker Kauder [CDU/CSU]: Hat der Koaliti- Beteiligungsrechte, die wir alle nicht wollen, verabschie- onsausschuss nicht getagt?) den. Ich will auf die Frage der Föderalismuswirkung mit Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Blick auf die neuen Länder eingehen. Ich glaube näm- Da der Redner damit offensichtlich einverstanden ist, lich, sie sind in der Gesamtdebatte ein wenig vernachläs- erteile ich Kollegen Beck das Wort zu einer Zwischen- sigt worden. Die neuen Länder haben sich nach der deut- frage. schen Einheit im Föderalismus gut eingerichtet. Sie haben auch unglaublich davon profitiert. Daran erkennt Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): man den grundsätzlichen positiven Wert der föderalisti- schen Bestimmungen und Strukturen in diesem Land. Ich möchte den Kollegen Schmidt fragen, ob er bereit ist, sich zu erinnern, dass wir uns in dieser Frage zwar so Die unterschiedlichen Lebensbedingungen – wenn wir geeinigt haben, wie er es gerade dargestellt hat, das Er- sie in einer Weise aufarbeiten wollen, wie es unser grund- gebnis aber nicht die einhellige Auffassung aller Fraktio- gesetzlicher Auftrag ist – erfordern aber nicht, dass wir nen widerspiegelt. Wir konnten uns durchaus vorstellen, zum Beispiel die in ihren Strukturen und in ihrer Finanz- dem Anliegen einer breiteren Repräsentanz der Landtage kraft immer noch schwächeren ostdeutschen Bundeslän- stattzugeben. der in einen Wettbewerb zu den westdeutschen Bundes- ländern setzen, die – jedenfalls im Grundsatz – besser Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): gestellt sind. Unsere Aufgabe, Herr Burgbacher von der (B) FDP und viele andere von der CDU/CSU, ist es, das in Ich bestätige, dass es bei der Fraktion der Grünen in (D) besonderer Weise zu berücksichtigen. Wir haben dem den Vorgesprächen eine solche Tendenz gab. Ich habe mit der Verlängerung der Geltung des Solidarpakts II aber hier über die Ergebnisse und nicht darüber zu spre- und der damit verbundenen Sicherung der notwendigen chen, was im Vorfeld alles stattgefunden hat, Herr Kol- Ressourcen bis zum Jahre 2019 Rechnung getragen. Ich lege Beck. Ich bitte dafür um Nachsicht. glaube, das ist eine wichtige Grundlage. (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Volker (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Kauder [CDU/CSU]: Sehr richtig!) DIE GRÜNEN) Ich will noch etwas sagen, was der Ehrlichkeit halber auch dazugehört: Liebe Kolleginnen und Kollegen, hier Zum Antrag der beiden fraktionslosen Abgeordneten, sollten keine Stellvertreterkriege ausgetragen werden: der hier vorliegt, will ich ganz kurz Stellung nehmen: nicht hier und jetzt zwischen uns – das sowieso nicht –, Wir können Ihren Antrag nicht unterstützen, weil wir die aber auch nicht in der Sache zu Punkten, die wir mit der Beteiligungsrechte der Landtage nicht von hier aus re- Kommission nicht regulieren können. Das gilt zum Bei- geln können und von Anfang an im Einvernehmen mit spiel für das Innenverhältnis zwischen den Landesregie- allen Beteiligten bei den Vorabsprachen auch nicht re- rungen, die von der Mehrheit der jeweiligen Landtage geln wollten. Wir haben jedoch nach einigem Hin und gewählt worden sind, und ihren jeweiligen Landtagen. Her Folgendes getan: Es gibt sechs beratende Mitglieder Das sollen diese bitte schön untereinander austragen. aus den Landtagen sowie sechs Stellvertreter für diese. Die Auswahl organisieren wir nicht selber. Das tut der Das Gleiche gilt für das Innenverhältnis des Konvents zitierte Konvent, wie ich finde, zu Recht, Frau Pau. und seine Arbeit. Sie ist ohnehin informell genug. Wir haben uns auf eine Institution verständigt, die aus 32 Mit- Ich will alle Beteiligten auf eines hinweisen: Diejeni- gliedern besteht. Das ganze Drumherum hat eher infor- gen, die mit der Konventsidee gespielt haben – so zum mellen Charakter. Beispiel die FDP, aber auch andere –, bekommen indi- rekt fast so etwas wie einen Konvent. Die Kommission Ich will zum Schluss noch etwas zu den Kommunen wird 32 ordentliche Mitglieder sowie zusätzlich 70 wei- sagen, weil ich glaube, dass es wichtig ist, dass wir die tere Beteiligte, beratende Mitglieder und Sachverstän- kommunalen Spitzenvertreter mit am Tisch haben, und dige, haben. Das wird sehr schwer zu handhaben sein. zwar in einer Weise, die ihnen nach meiner Überzeugung Dabei wird es sehr auf die beiden Vorsitzenden sowie das Gespür vermittelt, dass wir es mit ihnen ernst mei- das Sekretariat ankommen, damit die Organisation nen. Dass wir als Koalition es mit den Kommunen ernst stimmt. meinen, wird sich noch einmal morgen in der Debatte 5616 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2003

Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (A) zeigen, wenn wir den Entwurf einer kommunalen Fi- Parlamente. Das halte ich für falsch und bedauere es. (C) nanzreform beraten, Das sage ich an dieser Stelle ausdrücklich. (Ernst Burgbacher [FDP]: Eine falsche!) (Beifall bei der CDU/CSU) von der wir hoffen, dass die Opposition sie unterstützen Die zweite Ebene des Angriffs gegen den Parlamenta- wird. rismus wird seit einigen Jahren besonders hier in Berlin deutlich. Durch die Vielzahl von Sachverständigengre- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ mien soll die parlamentarische Arbeit verdrängt oder er- DIE GRÜNEN – Volker Kauder [CDU/CSU]: setzt werden. Dass Professoren gescheite Leute sind, Wenn Sie sagen, dass wir es auch ernst mei- muss nicht bewiesen werden; das bestreitet niemand. nen, kann ich nachher klatschen!) Dass Professoren aber die besseren Politiker sind, ist Es ist, wie ich glaube, wichtig, dass wir alle Ebenen be- schwer zu beweisen, zumindest schwerer als das Gegen- rücksichtigen, auch die europäische Ebene. Das ist be- teil. Damit spreche ich ausdrücklich nicht gegen die reits angeklungen; Fraktionsvorsitzender Müntefering Sachverständigen, die in diese Kommission berufen hat das, wie ich finde, zu Recht in seiner Rede themati- werden, die wir einsetzen werden. Ich bin allerdings siert. froh, dass es nicht 32 Sachverständige sind, wodurch quasi jedes Mitglied seinen eigenen Professor neben sich Wir sind auf einem schwierigen, aber auch interessan- bekommen hätte, sondern dass wir mit weniger auskom- ten Weg, der sicherlich viele Chancen bietet. Heute Mor- men. gen ist mit guten Zeichen und guten Ansätzen begonnen worden. Ich würde mich sehr freuen, wenn sich dieses Wir erfinden das Rad schließlich nicht neu; das ist Klima im Laufe der Debatte und der Kommissionsarbeit heute von der Frau Ministerin schon gesagt worden. Wir aufrechterhalten ließe. haben ein Grundgesetz. Es geht darum, notwendige Mo- dernisierungen und Korrekturen vorzunehmen. Wir Vielen Dank. knüpfen erstens an einen Dialog zwischen Bund und Ländern an, der seit vielen Jahren geführt wird und der (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ nicht frei von Sachverstand ist, sondern der, im Gegen- DIE GRÜNEN) teil, von Professoren, Wissenschaftlern und Experten be- gleitet wird. Zweitens gibt es eine Reihe von Vorschlä- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: gen nicht nur in der Literatur, sondern auch im Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der politischen Raum, von Ideen und Überlegungen. Es muss dieser Kommission darum gehen, all diese Vor- (B) Kollege Dr. Hans-Peter Friedrich für die CDU/CSU- (D) Fraktion. schläge zu einer praktikablen verfassungsrechtlichen Änderung zusammenzuführen.

Dr. Hans-Peter Friedrich (Hof) (CDU/CSU): Allein die Tatsache, dass wir in dem Einsetzungsbe- schluss festgelegt haben, dass alle inhaltlichen Be- Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und schlüsse mit Zweidrittelmehrheit zu entscheiden sind, Herren Kollegen! Nach den umfangreichen lichtvollen garantiert, dass wir – ich sage es auf Neudeutsch – eine Ausführungen meiner zahlreichen Vorredner bleiben mir Win-win-Situation für beide Seiten, für Bund und Län- nur einige wenige Gebiete für meine Anmerkungen. Ge- der, bekommen: Der Bund hat Interesse an der Funk- statten Sie mir, dass ich zunächst kurz auf den Dialog tionsfähigkeit der Länder. Im Sinne des Subsidiaritäts- zwischen dem Kollegen Beck und dem Kollegen prinzips müssen sie in der Lage sein, ihre eigenen Schmidt eingehe. Wir als Parlamentarier dieses Hauses Angelegenheiten in die Hand zu nehmen und zur Zufrie- sollten es begrüßen, dass die Landtage in der Kommis- denheit der Bürgerinnen und Bürger zu regeln. Umge- sion vertreten sind, ob beratend oder stimmberechtigt ist kehrt haben aber auch die Länder ein Interesse an der nicht entscheidend. Parlamentarier müssen darauf ach- Handlungsfähigkeit des Bundes. ten, dass das parlamentarische Element, wo immer und auf welchen Ebenen es in Rede steht, zur Geltung Das Stichwort „Europatauglichkeit“ ist heute mehr- kommt. Deswegen finde ich diese Diskussion richtig. fach bemüht worden. Es geht in der Tat auch darum, die Vorgaben, die aus Europa kommen, möglichst rasch und Wir haben in den letzten Jahrzehnten eine beispiel- ohne ein kompliziertes, langwieriges und manchmal lose Aushöhlung der parlamentarischen Rechte er- auch wenig praktikables Verfahren umzusetzen. Es muss lebt. Der Generalangriff gegen die parlamentarischen aber möglich sein, dass der Bund bei allen neuen Kom- Rechte findet sicherlich auf europäischer Ebene statt. petenzzuweisungen und allem, was man hier diskutieren Die Aushöhlung der faktischen Einflussmöglichkeiten mag, auch in Zukunft Querschnittsaufgaben wahrnimmt. der nationalen Parlamente gegenüber ihren nationalen Auch das ist schon gesagt worden. Regierungen in Europaangelegenheiten hat dazu geführt, dass sich die starken Bürokratien der Nationalstaaten in Es darf nicht passieren, dass wir Zuständigkeiten neu Brüssel eine Überbürokratie installiert haben. Es ist des- zuweisen und dann plötzlich feststellen, dass bei be- wegen kein Wunder, dass wir beim EU-Verfassungsver- stimmten Querschnittsaufgaben eine Gesetzgebungszu- trag, der diskutiert wird, in eine Situation gekommen ständigkeit der Länder begründet worden ist, sodass wir sind, in der es ausschließlich darum geht, was die Regie- erst auf die Gesetzgebungstätigkeit der Länder warten rungen sagen, und nicht um Willensbildungsprozesse der müssen, um diese Querschnittsaufgaben befriedigend lö- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2003 5617

Dr. Hans-Peter Friedrich (Hof) (A) sen zu können. Das wäre mit Sicherheit noch unbefriedi- Kernsubstanz der staatlichen Ordnung, der Föderalis- (C) gender als das momentane Zustimmungsverfahren im mus, darf aber nicht angetastet werden. Bundesrat. (Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich warne vor Illusionen: Wir werden damit leben Das habe ich auch nicht gesagt! Ich habe ge- müssen, dass der Bundesrat dort, wo es Verflechtungen sagt, wir wollen das System nicht auf den zwischen Bund und Ländern gibt, nach wie vor Zustim- Kopf stellen!) mungsrechte haben wird. Die Kommission wird alle Ich muss sagen: Die Diskussion über den Wettbe- Grenzen ausloten; das ist sicher. Dort, wo die Länder werbsföderalismus hat mich etwas irritiert. Dass wir im substanziell betroffen sind, werden sie im Bundesrat Jahre 2003 die Spannungen zwischen Freiheit und aber weiter mitreden. Das ist für die Regierenden und Gleichheit in diesen Fragen immer noch aufrechterhal- damit momentan für Sie, meine Damen und Herren von ten, finde ich merkwürdig. Wir sollten uns darin einig der Koalition, lästig. Ich denke aber – vorhin wurde ent- sein, dass es beim Wettbewerb, beim Ringen um die bes- sprechend appelliert –, dass man das über die Zeit, wäh- ten Lösungen, immer darum geht, dass es am Ende allen rend der es die momentane Konstellation gibt, hinaus se- besser geht und dass es überall besser funktioniert. Ich hen muss. denke, die Art und Weise, wie die Europäische Union Bundesratspräsident Böhmer hat hier Wichtiges zur Kompetenzen an sich reißt und wie mit den Mitglied- Mischfinanzierung gesagt. Es ist nicht akzeptabel, dass staaten umgegangen wird, sollten wir uns im Bund-Län- sich der Bund oder die Länder einseitig aus der Mischfi- der-Verhältnis nicht zu Eigen machen. nanzierung und der Finanzverantwortung herausstehlen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Auch das wird man in dieser Kommission sicher aus- führlich beraten müssen. Maßstab ist vielmehr das Bewusstsein, dass die Ver- flechtung, Vermischung und Verwischung politischer Ein gewichtiges Problem wird mit Sicherheit auch die Kompetenzen die föderative Ordnung und Substanz unterschiedliche Größe und Leistungsfähigkeit der nicht stärken, sondern schwächen. Jede Intransparenz ist Bundesländer sein. Je nach Größe wird der Wunsch, ein Stück Demokratiedefizit, weil der Bürger nicht mehr mehr eigene Zuständigkeiten zu erhalten, die dann auch begreifen kann, wo er wen oder was wählt. Auch das ist ausgefüllt werden müssen, unterschiedlich ausgeprägt heute an vielen Beispielen plastisch ausgeführt worden. sein. Ich will nicht bestreiten, dass es die Idealsituation wäre, wenn wir gleich große und starke Länder hätten. Eine funktionsfähige und tatkräftige föderale Struk- Ich wage hier allerdings nicht die Prognose, dass eine tur ist auch im Angesicht der ökonomischen Herausfor- künftige Neugliederung der Länder zügig, also in abseh- derungen als Antwort auf die Globalisierung von (B) (D) barer Zeit, vonstatten gehen wird. Deswegen müssen wir entscheidender Bedeutung. Wenn es heute um Standort- in dieser Kommission nach einer Kompetenzverteilung entscheidungen von Unternehmen geht, dann stehen we- suchen, die sowohl den Interessen der großen Länder als niger ganze Nationalstaaten, aber immer mehr einzelne auch den Interessen der kleineren Länder angemessen Regionen im Vordergrund. Wenn man in ein Land Inves- ist. Grundprinzip des Föderalismus ist natürlich, dass je- titionen holen will, dann bedeutet das, dass man eine be- des Land die Chance haben muss, in diesem Gefüge in stimmte Region individuell, flexibel, innovativ und angemessener Weise berücksichtigt zu werden. strukturangemessen als Wirtschaftsstandort aufbereiten muss. Ich bin überzeugt, dass dafür die föderale Struktur Die Bundesstaatskommission – so möchte ich sie unseres Gemeinwesens viel besser geeignet ist und in nennen – kommt nicht umhin – das haben wir heute in der Zukunft viel bessere Möglichkeiten haben wird als den Redebeiträgen gehört –, vielleicht ganz am Anfang die Entscheidungsmechanismen zentralistischer Staaten. auch über die Grundphilosophie und die Grundeinstel- lung zum Föderalismus zu reden. Frau Sager hat heute Aber auch und gerade angesichts dieser ökonomi- gesagt, dass das föderative System an sich nicht schlecht schen Herausforderungen ist es wichtig, dass die Funk- ist. tionsfähigkeit der bundesstaatlichen Ordnung durch eine Modernisierung in der Zukunft gesteigert werden kann. (Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dadurch wird es möglich, in einem Staat unterschied- In Hamburg heißt das: Das ist gut!) liche Konzepte, wo nötig mit unterschiedlichen gesetz- lichen Bedingungen, zur Auswahl zu stellen. Vielleicht Wenn ich das so sagen darf, liebe Frau Sager: Das ist ist dies ein Beitrag zur Entbürokratisierung, wenn ein schon sehr halbherzig. Land den anderen Ländern beweisen kann, dass es mit weniger oder sogar ganz ohne Vorschriften in einem Be- (Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: reich auskommt. „An sich nicht schlecht“ ist in Hamburg schon ein ziemlich großes Kompliment!) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP und des Abg. Volker Kröning Das föderative System – lassen Sie mich das sagen – ist [SPD]) die Kernsubstanz unseres Staates. Deswegen denke ich, dass die Einschränkung, es sei an sich nicht schlecht, Die Frau Ministerin hat ausgeführt, dass der Zeitrah- nicht notwendig ist. Wenn man über die Modernisierung men sehr eng gesteckt sei und wir uns nicht zu viel vor- der bundesstaatlichen Ordnung redet, dann muss man nehmen sollten. Ich möchte ihr in diesem Punkt wider- auch über die Veränderung von Kompetenzen reden. Die sprechen; denn es darf nicht dazu kommen, dass wir 5618 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2003

Dr. Hans-Peter Friedrich (Hof) (A) nicht die Gelegenheit nutzen, Perspektiven aufzugreifen, Ich rufe Tagesordnungspunkt 5 auf: (C) die vielleicht über die geplante Zielsetzung 2004/2005 hinausreichen. Damit will ich nicht den Zeitrahmen er- Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre- weitern; denn auch für die Modernisierung des Bundes- gierung staates gilt: Ein schneller Erfolg ist ein guter Erfolg. Jahresbericht der Bundesregierung zum Stand der deutschen Einheit 2003 Auch verdammt dicke Bretter sollten nicht dazu füh- ren, sie liegen zu lassen – möglicherweise ist eine Zwei- – Drucksache 15/1550 – drittelmehrheit in einigen Bereichen nicht auf Anhieb zu Überweisungsvorschlag: erreichen –, sondern wir müssen wenigstens versuchen, Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f) sie zu durchbohren. In der einen oder anderen Frage Sportausschuss kann ein Konsens möglicherweise schneller erreicht Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit werden, als wir uns das vorstellen können. Ganz konkret Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und nenne ich das Thema Steuerautonomie der Länder, das Landwirtschaft ein sehr komplexes Thema ist. Aber auch das muss an- Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung gesprochen werden. Man muss sich darauf einigen, wie Ausschuss für Tourismus sehr man dieses Thema vertiefen will. Ausschuss für Kultur und Medien Lassen Sie mich abschließend etwas zu den Kommu- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die nen – der Kollege Schmidt hat dieses Thema zu Recht Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Dazu höre ich angesprochen – sagen. Wir sollten froh sein, dass wir die keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Kommunen bei der Verfassungskommission in dieser Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem Weise mit berücksichtigen; denn die Kommunen, Städte Bundesminister Manfred Stolpe. und Gemeinden fühlen sich gerade in der aktuellen poli- tischen Debatte oft nicht mehr verstanden. Kollege Dr. h. c. Manfred Stolpe, Bundesminister für Ver- Schmidt, es ist ein wichtiges und deutliches Signal an kehr, Bau- und Wohnungswesen: unsere Bürgermeister, Gemeinde- und Stadträte, dass ihre Interessen bei der Arbeit der Kommission stärker in Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und den Fokus gestellt werden, gerade weil sie oft das Ge- Herren! Wann ist die deutsche Einheit vollendet, wann fühl haben, bei der Gesetzgebung der Länder und des muss ein Bericht dieser Art nicht mehr vorgelegt wer- Bundes vergessen zu werden. Wenn es jetzt darum geht, den, und wann verliert die jeweilige Opposition die das Grundgesetz neu zu justieren, dann sollen ihre Ver- Chance, der jeweiligen Regierung vorzuhalten, welche teilungsbedingten Nachteile im Osten noch vorhanden (B) treter dabei sein. Diese Vertreter von Städten und Ge- (D) meinden sollen sehen, dass wir ihre Belange im Blick sind? haben. Das ist in dieser Zeit das richtige Signal. In die- Helmut Schmidt hat den von uns im Solidarpakt II an- sem Sinne freue ich mich auf eine gute Zusammenarbeit. gedachten Termin, den Silvesterabend 2019, an dem die Vielen Dank. deutsche Einheit vollendet sein könnte, als sehr optimis- tisch bezeichnet. Henning Voscherau prophezeite im (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie Jahr 1990, dass die Vollendung der deutschen Einheit bei Abgeordneten der SPD und des BÜND- 40 Jahre dauern würde, also bis zum Jahr 2030. Ich sehe NISSES 90/DIE GRÜNEN) das ein bisschen anders. Es spielen viele Momente mit hinein, die ökonomi- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: schen, die sozialen und die mentalen. Viele mentale Un- Ich schließe die Aussprache. terschiede werden schon deshalb bleiben, weil sie auch landsmannschaftlich bedingt sind. Der Sachse wird nicht Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der zum Bayern und der Mecklenburger wird nicht zum Hol- Fraktionen der SPD, der CDU/CSU, des Bündnisses 90/ steiner, auch wenn sie sich in manchen Dingen durchaus Die Grünen und der FDP auf Drucksache 15/1685 zur ähnlicher werden. Einsetzung einer gemeinsamen Kommission von Bun- destag und Bundesrat zur Modernisierung der bundes- Die gegenwärtige Ostalgiewelle, oft von Selbstironie staatlichen Ordnung. und Spott begleitet, zeigt mir vor allem eines: Es ist das Selbstbewusstsein im Osten gewachsen. Man muss nicht Hierzu liegt ein Änderungsantrag der fraktionslosen mehr so tun, als ob man erst am 3. Oktober 1990 gebo- Abgeordneten Dr. Gesine Lötzsch und Petra Pau auf ren sei. Man kann offen und freimütig auch über die da- Drucksache 15/1721 vor, über den wir zuerst abstim- vor liegende Zeit reden. Das Selbstbewusstsein wächst men. Wer stimmt für diesen Änderungsantrag? – Wer und das haben meine Landsleute im Osten nötig. Das stimmt dagegen? – Wer enthält sich der Stimme? – Der wird auch für die Vollendung der deutschen Einheit hilf- Änderungsantrag ist abgelehnt. reich sein. Wer für den interfraktionellen Antrag auf Einsetzung (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ der gemeinsamen Kommission von Bundestag und Bun- DIE GRÜNEN) desrat auf Drucksache 15/1685 stimmt, den bitte ich um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält Die mentale Ost-West-Lage ist wichtig, mir aber geht sich? – Der Antrag ist angenommen. es heute vor allem um die ökonomischen und die sozia- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2003 5619

Bundesminister Dr. h. c. Manfred Stolpe (A) len Unterschiede. Wir haben Ihnen den Jahresbericht aus auch im Westen Deutschlands. Sie aber haben starke (C) zum Stand der deutschen Einheit vorgelegt als eine Bi- Wachstumszentren in der Nähe. Dagegen sind die drei lanz, als ein Programm der ökonomischen, sozialen und großen Wachstumsregionen im Osten Deutschlands um gesellschaftlichen Dimensionen für das, was man so lo- Dresden, Leipzig und Potsdam – das haben alle Nachfor- cker „Aufbau Ost“ nennt. Mir war wichtig, dass der Be- schungen ergeben – noch nicht stark genug, um genü- richt ungeschminkt in der Bestandsaufnahme, klar in den gend Menschen aus schwachen Regionen Arbeit zu bie- Zielen, effektiv bei den Instrumenten und auch redlich ten. Die Westdrift hält an. im Gesamturteil ausfällt. (Klaus Brähmig [CDU/CSU]: Sie wird dyna- Ungeschminkt in der Bestandsaufnahme heißt: We- misiert!) sentliche teilungsbedingte Strukturprobleme bestehen Dies ist kein Klagelied. Das sind Fakten, aber es ist noch. Es gibt im Osten kein ausreichendes Arbeitsplatz- nur die halbe Wahrheit. angebot. Die Arbeitslosigkeit ist unser Hauptproblem. Trotz des leichten Rückgangs im September dieses Jahres (Michael Kretschmer [CDU/CSU]: Jetzt wol- ist die Arbeitslosigkeit im Osten mehr als doppelt so hoch len wir mal etwas dazu hören, wie es weiter- wie im Westen. Die Zahl wäre übrigens noch höher, wenn geht!) nicht täglich 350 000 Menschen aus den Ostländern in Zur Wahrheit gehören auch diese Fakten: Im vergange- den Westen pendeln würden. Diese Sonderbelastung, die nen Jahrzehnt konnten 520 000 Unternehmen mit mehr die Leute auf sich nehmen und die der deutschen Wirt- als 3 Millionen Arbeitsplätzen geschaffen werden. Die schaft hilfreich ist, sollte nicht mit einschneidenden Kür- Entwicklung im verarbeitenden Gewerbe ist positiv. Die zungen der Entfernungspauschale bestraft werden. Wachstumsraten lagen in den letzten sieben Jahren im Nach wie vor schlägt die hohe Arbeitslosigkeit in der Schnitt zwischen 5 und 6 Prozent und auch im ersten Bauwirtschaft dramatisch zu Buche. 160 000 ostdeut- Halbjahr dieses Jahres ist das verarbeitende Gewerbe in sche Bauarbeiter sind arbeitslos. Ich hoffe, dass die Ostdeutschland um 5,5 Prozent gewachsen. heute Nacht geschlossene Vereinbarung zur Tarifflexibi- Mit industriellen Neuansiedlungen im Automobil- lisierung hierbei etwas Abhilfe schaffen kann. und Maschinenbau, in der chemischen Industrie, der Auch die Herausforderungen der Globalisierung und Hochtechnologie, aber auch in der Energiewirtschaft der neuen technologischen Entwicklungen machen vor wurden nicht nur zukunftssichere Arbeitsplätze, sondern Ostdeutschland nicht Halt. Die darin liegenden Chancen auch die Voraussetzung für die Ansiedlung von Dienst- werden zwar genutzt, doch zunächst einmal kostet diese leistungs- und Zulieferunternehmen geschaffen. Entwicklung Arbeitsplätze. In den wettbewerbsfähigen (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (B) (D) und leistungsstarken ostdeutschen Standorten der Ener- DIE GRÜNEN) giewirtschaft, der Stahlindustrie, der chemischen Indus- trie, des Maschinenbaus und auch in der Landwirtschaft Auch im Dienstleistungsbereich werden ermutigende erledigt heute eine Arbeitskraft die Arbeit, die früher sie- Fortschritte erzielt. Die Tourismusbranche ist dafür ein ben oder acht Menschen verrichtet haben. gutes Beispiel. Mecklenburg-Vorpommern beispiels- weise hat seit Jahren die höchsten Wachstumsraten in Der Verlust von Arbeitsplätzen löst Abwanderung dieser Branche. aus. Seit der ersten starken Abwanderungswelle 1989/90 verlassen weiterhin mehr Menschen Ostdeutschland, als Mit der Entwicklung von Hochschulen und For- neu hinzukommen. Ostdeutschland hat seit 1991 etwa schungseinrichtungen sind in Ostdeutschland moderne 620 000 Bürgerinnen und Bürger verloren. Es gehen vor Kompetenzzentren entstanden, die sehr eng – vorbildlich allem die jungen und gut qualifizierten Menschen, die eng – mit der Wirtschaft zusammenarbeiten und dabei beim weiteren Aufbauprozess fehlen werden. Zwei Drit- noch zusätzliche Impulse liefern. tel davon sind Frauen. Das freut mich zwar für die Män- (Arnold Vaatz [CDU/CSU]: Cargolifter!) ner im Westen, Meine Damen und Herren, der Jahresbericht zum (Heiterkeit bei der SPD) Stand der deutschen Einheit zeigt Schatten und Licht. aber uns fehlen die Mütter von morgen. Vor allem aber ist er ein Auftrag zum Handeln. Die Bun- desregierung verfolgt folgende Hauptziele: Hinzu kommt der demographische Wandel in ganz Deutschland, der in den neuen Ländern durch eine sehr Erstens. Wir müssen die Grundlagen für mehr und si- niedrige Geburtenrate weiter verschärft wird. Unsere chere Beschäftigung durch eine Stärkung und Entfaltung Gesellschaft wird älter, weil die Kinder fehlen. Kinderta- der wirtschaftlichen Kräfte schaffen. Dazu gehört die gesstätten und Schulen müssen geschlossen werden. Wir Stärkung des Mittelstandes durch verbesserte Finanzie- können bereits absehen, dass in den nächsten Jahren rungsangebote und die Verbesserung der Eigenkapital- deutlich weniger Auszubildende zur Verfügung stehen quote. werden als gebraucht werden. Diese Lösung des Ausbil- Zweitens. Ostdeutschland muss seine eigenen Stand- dungsproblems brauchen wir nicht! ortvorteile, Kompetenzen und Qualitäten noch stärker nutzen. Entsprechende Regierungsprogramme müssen Nach wie vor gibt es viele strukturschwache Regio- fortgesetzt werden. nen in den neuen Ländern mit sehr hohen Arbeitslosen- zahlen. Einige strukturschwache Regionen gibt es durch- (Zuruf von der CDU/CSU: Welche?) 5620 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2003

Bundesminister Dr. h. c. Manfred Stolpe (A) Drittens. Bei all den notwendigen Veränderungen 100 000 Langzeitarbeitslose und das Sonderprogramm (C) müssen wir das soziale Gleichgewicht im Blick behal- des Bundes für 100 000 jugendliche Sozialhilfeempfän- ten. Vor allem junge Familien müssen die Möglichkeit ger sind Maßnahmen, die gebraucht werden, und zwar haben, ihre Zukunft in Ostdeutschland zu finden. auch in Zukunft. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Fünftens. In ganz Deutschland müssen die Finanzen DIE GRÜNEN) der Kommunen gestärkt werden. Die Kommunen könnten größter Auftraggeber für Investitionen sein, Aus der Bestandsaufnahme und aus der Zielbeschrei- wenn ihre Finanzkraft gestärkt würde oder wenn ihnen bung folgen aber auch die Aktionsfelder und die Instru- zumindest bedienbare Kredite angeboten würden, wie mente. Schwerpunkte unseres Regierungshandelns für wir das mit dem erfolgreichen Milliardenprogramm seit Ostdeutschland sind: April dieses Jahres praktizieren. Erstens. Investitionen müssen weiter gefördert wer- den. Noch hat Ostdeutschland ein erhebliches industri- Sechstens. Wir müssen schließlich die vielen Chan- elles Defizit in Folge der Deindustrialisierung der 90er- cen, die sich mit der EU-Osterweiterung verbinden, Jahre. Jede Chance einer Industrieansiedlung muss ge- konsequent nutzen. Hier ist es auch wichtig, dass vor al- nutzt werden. Das gilt auch für die Chipfabrik in lem die Grenzregionen eine flankierende Unterstützung Frankfurt (Oder). Für Industrieansiedlungen haben wir bekommen, wie sie die Europäische Union in Aussicht den Vertrag mit der Agentur zur Anwerbung ausländi- gestellt hat. scher Investoren, IIC, bis 2008 verlängert, um welt- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten weit Partner darauf aufmerksam zu machen, dass Ost- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) deutschland ein idealer Investitionsstandort ist. Deshalb müssen die Möglichkeiten für Investitionszu- Auch die Umsetzung der anstehenden Reformen kann schüsse erhalten bleiben. Die beiden Fördermöglich- dem Osten helfen. Ich kann Ihnen versichern, dass die keiten, die Investitionszulage und die Zuweisungen aus Ostdeutschen reformbereit sind. Sie erwarten allerdings, den europäischen Strukturfonds, müssen verlängert dass die Reformen gerecht durchgeführt werden, dass werden. also die Armen nicht noch ärmer werden. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten DIE GRÜNEN) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Zweitens. Innovationen im Osten müssen weiter un- Gezielt Politik für Ostdeutschland zu machen bleibt terstützt werden. Neue Forschungseinrichtungen und an- eine der wichtigsten Aufgaben der deutschen Innenpoli- (B) dere Bundeseinrichtungen müssen, wie vorgesehen, auf tik. (D) absehbare Zeit vorrangig im Osten Deutschlands ange- siedelt werden. Ich möchte Ihnen ein Beispiel nennen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Vor wenigen Tagen hat sich ein winziges Institut mit ge- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) rade einmal 70 Mitarbeitern auf dem Beeskower Landrü- Mit dem Solidarpakt II haben wir Vereinbarungen bis cken – das ist eine sehr strukturschwache Region – ange- zum 31. Dezember 2019 getroffen, die insgesamt für ei- siedelt. Sie ahnen gar nicht, was das für die Belebung nen Zeitraum von 30 Jahren gelten. In knapp der Hälfte der Wirtschaft bedeutet und welch eine Ermutigung das dieser Zeit haben wir deutlich mehr als die Hälfte des für die dort lebenden Menschen ist! Weges geschafft. Die Weichen sind in die richtige Rich- Drittens. Die Infrastruktur im Osten muss weiter ge- tung gestellt. stärkt werden. Ich meine damit die Verkehrswege, die Ich möchte zum Schluss die Gelegenheit nutzen, al- kommunale Infrastruktur und den Stadtumbau. len in diesem Haus für das Mitdenken und auch die Be- reitschaft für die Unterstützung wichtiger Maßnahmen Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: zu danken. Ich bitte Sie um Ihre weitere konstruktive, Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischen- aber auch kritische Begleitung des großen Projektes frage des Kollegen Kretschmer? deutsche Einheit. Es wird gelingen; das ist meine Über- zeugung. Dr. h. c. Manfred Stolpe, Bundesminister für Ver- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ kehr, Bau- und Wohnungswesen: DIE GRÜNEN) Hinterher gerne. – Wie gesagt, wir müssen die Infra- struktur im Osten weiter stärken. In dieser Legislaturpe- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: riode darf hier nicht nachgelassen werden. Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort dem (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Kollegen Kretschmer. DIE GRÜNEN) Viertens. Auf absehbare Zeit muss eine aktive Arbeits- Michael Kretschmer (CDU/CSU): marktpolitik für strukturschwache Regionen mit hoher Herr Bundesminister, mit Verlaub, aber gerade für die Arbeitslosigkeit fortgesetzt werden, so wie das schon die junge Generation aus den neuen Ländern war Ihr Vortrag jetzigen Regelungen vorsehen. Das Programm für deprimierend, sowohl wegen der lustlosen und gleich- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2003 5621

Michael Kretschmer (A) gültigen Art, wie Sie vorgetragen haben, als auch wegen Ich erteile nun das Wort dem Innenminister des Lan- (C) des Inhalts. des Brandenburg, Herrn Dr. Schönbohm. (Beifall bei der CDU/CSU – Widerspruch bei der SPD) Jörg Schönbohm, Minister (Brandenburg): Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- Wir wünschen uns eine Zukunftsperspektive für die ren! Der frühere Bundeskanzler Helmut Schmidt, den neuen Ländern. Wir brauchen – ich habe das schon vor ich persönlich schätze, hat mit seinem Unwort von der einem Jahr gesagt; ich weiß es noch heute – ein Konzept. Weinerlichkeit der Ostdeutschen manches gefördert, Was ist denn das Ziel der Regierung? aber auf gar keinen Fall die deutsche Einheit. Ich be- (Zuruf von der SPD: Haben wir doch gesagt! dauere dies. Sie müssen einmal zuhören!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie Wie schaffen wir den Aufbau Ost? bei Abgeordneten der SPD und des BÜND- NISSES 90/DIE GRÜNEN) Ich will nur ein paar Details nennen. Sie haben For- schung und Entwicklung angesprochen. 1,6 Milliarden Seine Kennzeichnung ist unzutreffend, verletzend und Euro, Herr Bundesminister, hat Frau Bulmahn Anfang töricht. Sie zeugt von Unkenntnis. Die Menschen in Ost- des Jahres für Großforschungseinrichtungen zugesagt. deutschland haben in den zurückliegenden Jahren Von 1,6 Milliarden Euro sind 12,4 Millionen Euro für Herausforderungen gemeistert, von denen viele in un- das Forschungszentrum Rossendorf in Dresden vorgese- serem Land nicht einmal vom Hörensagen Kenntnisse hen, alles andere geht in die alten Länder. Ist das eine haben. Wenn man über die neuen Bundesländer spricht, Schwerpunktsetzung für die neuen Länder? In einer kann man von Hoffnung oder Enttäuschung, von Auf- Ausarbeitung des BMBF über die Haushaltsentwicklung bruch oder Resignation sprechen – ja, es gibt alles ne- von 2002 bis 2004 wird auf die Auswirkungen der Kür- beneinander. Die neuen Bundesländer sind wie ein Ve- zungen in den neuen Länder hingewiesen: Die Mittel für xierbild: Je nachdem, wie oder mit welchem Vorurteil optische Technologien sinken von 15 auf 14 Millionen Sie hineinschauen, sehen Sie das Bild, das Sie erwarten. Euro, die Mittel für Mobilität und Verkehr von 11 Mil- Darum müssen wir von den Menschen sprechen, die lionen auf 8,4 Millionen Euro. Im Hochschulbau haben in den neuen Bundesländern leben, von den Menschen, wir ganz massive Einschnitte. Ich frage Sie, wie das, was die in Regionen mit mehr als 20 Prozent Arbeitslosigkeit Sie uns vorgetragen haben – Schwerpunkt Innovation, Arbeit suchen, oder von denen, die zum vierten oder Schwerpunkt Aufbau Ost –, mit den Zahlen, die ich ge- fünften Mal den Arbeitsplatz verloren haben, sich haben (B) rade vorgetragen habe, zusammenhängt. umschulen lassen und wieder vor dem Nichts stehen. Ich (D) (Beifall bei der CDU/CSU) möchte das sehr konkret an einem Beispiel deutlich ma- chen. Eine junge Frau war zum Ende der DDR Fleisch- fachverkäuferin. Der Beruf fiel weg. Sie hat umgeschult, Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: ist Bürokauffrau geworden und hat bei einem Immobi- Zur Erwiderung, Herr Minister Stolpe. lienunternehmen gearbeitet. Das Immobilienunterneh- men ging Pleite. Sie ist zum nächsten Unternehmen ge- Dr. h. c. Manfred Stolpe, Bundesminister für Ver- gangen. Auch dieses ging Pleite. Dann hat sie als allein kehr, Bau- und Wohnungswesen: erziehende Frau mit einem Kind bei einer Zeitarbeits- firma gearbeitet und hat sich so bewährt, dass sie einen Herr Präsident! Das war eine bemerkenswerte An- festen Arbeitsplatz bekommen hat. Dieses kleine Bei- frage. Ich denke aber, es wäre wichtiger, dass wir kon- spiel steht für den Alltag, mit dem wir uns in den neuen kret an diesen Themen arbeiten. Sie wissen, dass das Bundesländern auseinander setzen müssen. Material in die Ausschüsse überwiesen wird. Ich bin ge- spannt, welche handfesten Vorschläge zu Maßnahmen Wir müssen auch von den Tausenden von Existenz- Sie dann machen können, mit denen man wirklich etwas gründern sprechen, die gescheitert sind, weil sie keine erreichen kann. Eigenkapitaldecke hatten, weil die Zahlungsmoral schlecht ist oder weil sie sich am Markt nicht durchset- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des zen können. Darum, Herr Kollege Stolpe, finde ich es BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Lachen bei gut, dass Sie sagen, Sie wollen die Eigenkapitaldecke Abgeordneten der CDU/CSU) verbessern. Das wollen wir seit langer Zeit; wir haben damit nach wie vor ein Problem. Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Wir müssen auch von den Jugendlichen sprechen, die Ich bitte um Nachsicht, dass wir jetzt nicht jenseits keinen heimatnahen Ausbildungsplatz bekommen, weil der vereinbarten Wortmeldungen eine spontane Debatte es in ihrer Heimat keine Betriebe mehr gibt. Wir müssen durch kurzfristige Wortmeldungen herbeiführen wollen; auch von den Eltern sprechen, die Sorge haben, dass ihre denn es ist natürlich absehbar, dass das dann nicht auf Kinder von zu Hause weggehen, weil sie zu Hause keine die eine Seite beschränkt bliebe, sondern sich quer durch Zukunft sehen. Wir müssen auch von den Jugendlichen alle Fraktionen verteilen würde. Deswegen bemühen wir sprechen, die an den Universitäten fleißig studieren, da- uns zunächst einmal um die Abarbeitung der vereinbar- nach im heimatnahen Bereich keine Arbeit bekommen ten Redeliste. und woanders hingehen. Wir müssen an die fehlende 5622 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2003

Minister Jörg Schönbohm (Brandenburg) (A) Verkehrsinfrastruktur in ländlichen Gebieten erinnern, in all seinen Teilen, werden wir der Einheit nicht wirk- (C) die das Leben täglich so schwer macht. lich näher kommen. Beim Hochwasser hatten wir diese hohe Emotionalität der Gemeinsamkeit. Wir müssen uns Wir müssen aber auch an die Erfolgreichen erinnern, dazu bekennen, dass wir diese Aufgabe als Nation, also die sich am Markt durchgesetzt haben. Sie haben nicht gemeinsam, schultern und nicht als Westen oder als Os- resigniert, sondern sie sind tatkräftig, durch Eigeninitia- ten oder als Westen gegen den Osten. Für mich gehören tive, der Arbeitslosigkeit entronnen. Wir müssen von das Bekenntnis zur Nation und die deutsche Einheit zu- den jungen Unternehmern sprechen, die in ihrer Heimat sammen. bestehen. Sie haben mutige Entscheidungen getroffen und ein großes Risiko auf sich genommen. Sie stellen ihr Bisweilen reden die Menschen im Westen über den persönliches Vermögen, zum Beispiel den Grundbesitz, Osten so, wie sie nie über die Saarländer, die Holsteiner, den sie von ihren Eltern bekommen haben, zur Verfü- die Bayern oder die Niedersachsen geredet haben. Die gung und setzen sich in konjunkturell schwierigen Zei- Menschen im Osten reden über den Westen häufig so, ten in einem strukturell schwierigen Landstrich durch. wie sie es früher wahrgenommen oder mittlerweile er- Diese Menschen gibt es auch – Gott sei Dank. Es handelt lebt haben – mit Vor- und Nachteilen. Häufig herrschen sich um junge Handwerksmeister mit eigenen Hand- Sprach- und Interessenlosigkeit, von den Vorwürfen der werksbetrieben und um andere Personen, die in der ge- Weinerlichkeit und der Arroganz einmal abgesehen. Wir werblichen Wirtschaft tätig sind. sollten mehr miteinander reden, mehr voneinander ler- nen und wissen. Sich lediglich einmal gemeinsam foto- In Brandenburg gibt es zum Beispiel, wie in anderen grafieren zu lassen und das Foto zu veröffentlichen för- Bundesländern, erfolgreiche Industrieansiedlungen. Ich dert diesen Dialog nicht. möchte nur an die Luft- und Raumfahrtindustrie oder an die chemische Industrie erinnern. Wir alle schauen jetzt Die Oberfläche des Jahresberichts der Bundesregie- mit großer Spannung nach Frankfurt an der Oder, wo rung zum Stand der deutschen Einheit ist glatt. Dieser eine Chipfabrik gebaut werden soll. Es geht um 1 300 Bericht liest sich gefällig und gut. Alles scheint gut zu Arbeitsplätze. Hunderte von Familien warten auf den sein. Vieles ist erreicht, ja. Wir brauchen Investitionen, Bau dieser Fabrik. Man wartet darauf, dass man an eine ja. Wir müssen die Investitionsbereitschaft und auch die in der DDR große und erfolgreiche Tradition, nämlich an Innovationen fördern, natürlich. Mittelstand und Hand- die eines Halbleiterwerks – dort wurden viele Männer werk müssten gefördert werden, ja. Die Stabilisierung und Frauen ausgebildet; sie waren sehr qualifiziert –, an- im Bausektor müsste unterstützt werden, ja. Das alles ist knüpfen kann. Dieses Bangen überschattet im Augen- richtig. Die Frage ist aber: Welche Impulse werden gege- blick alles, was in dieser Region geschieht. ben, um dies umzusetzen? (B) Wenn Sie sich mit Unternehmern unterhalten, die Be- In diesem Bericht ist von Netzwerken und von inno- (D) triebe in Ost- und in Westdeutschland haben, dann wer- vativen Impulsen für die Region, von Bildung und For- den Sie immer wieder eines hören: das Lob für den Fleiß schung sowie vom Ausbau der Verkehrsinfrastruktur die und die Flexibilität der Arbeitnehmer in Ostdeutschland, Rede. Es ist richtig: Das alles muss geschehen. Aber an- das Lob für ihre Zuverlässigkeit und für ihre Bereit- gesichts der Realitäten bleibt dies ein Katalog von For- schaft, die Aufgaben zu erfüllen, die ihnen der Markt mulierungen. Der Bericht mag weitgehend zutreffend vorgibt. Auch ich möchte den Arbeitnehmern in Ost- sein. Aber täuscht er wegen der verwendeten Allgemein- deutschland einmal dafür danken. plätze und der zum Teil sozusagen ewigen Wahrheiten, (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, dem BÜND- die seit zehn Jahren wahr sind und auch noch in zehn NIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP) Jahren wahr sein werden, nicht über den gelebten Alltag hinweg? Wirklichkeit und Bericht, meine ich, klaffen Enttäuschung und Resignation sind da besonders ver- auseinander. breitet, wo Versprechungen, Hoffnungen und die Wirk- lichkeit nicht übereinstimmen. Das ist unser Problem. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Ich denke an Menschen, die noch immer fühlen, dass sie neten der FDP) mit ihren Sorgen und Problemen nicht für voll genom- Von dem statistischen Teil abgesehen, vermittelt der men werden. Es ist völlig klar: Wir in den neuen Län- Bericht einen Eindruck, der mit der allgemeinen Wahr- dern brauchen auch in Zukunft Geld und wir bekommen nehmung offenkundig nicht in Einklang steht. Ich auch viel Geld. Ich möchte hier ausdrücklich all denjeni- möchte zwei Beispiele für solche semantischen Luxus- gen danken, die uns dieses Geld zur Verfügung gestellt verpackungen zitieren. Auf Seite 30 – das ist noch unter haben, seien es die Bundesländer, sei es die Europäische der Überschrift „Stabilisierung im Bausektor unterstüt- Union oder die Bundesregierung. Wir Deutsche haben zen“ – findet sich als Zusammenfassung folgende For- insgesamt eine großartige Gemeinschaftsleistung voll- mulierung: bracht. Das müssen wir auch einmal dankend anerken- nen. Mit dem beispielhaft aufgeführten Maßnahmenbün- del (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, dem BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP) – Public Private Partnership, Kontrolle illegaler Be- schäftigung usw. – Solange der Gedanke im Vordergrund steht, dass das Geld in den Osten fließt, und nicht der Gedanke, dass werden trotz des unverminderten Zwangs zur Haus- wir Deutschland gemeinsam wieder aufbauen, und zwar haltskonsolidierung auch von öffentlichen Investi- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2003 5623

Minister Jörg Schönbohm (Brandenburg) (A) tionen Impulse für eine Verstetigung der Bautätig- Ich habe keine Patentlösung, aber wir müssen die Wirk- (C) keit ausgehen, die eine wichtige Voraussetzung für lichkeit doch so wahrnehmen, wie sie ist, Herr Meckel; mehr Wachstum und Beschäftigung insbesondere in Sie wissen das genauso gut wie ich. Fahren Sie einmal den neuen Ländern ist. durch die Uckermark! Wir haben doch gemeinsame Vor- stellungen von den Dingen. Richtig! Nur: Die Zahlen sprechen eine andere Spra- che. Bei uns gibt es eine Verstetigung auf niedrigem Ni- Im Teil A des Berichts findet sich lediglich eine halbe veau. Um es ganz einfach auszudrücken: Uns steht das Seite zum Thema Arbeitsmarktpolitik, obwohl der Ar- Wasser bis zum Hals. Wir können den Kopf nicht mehr beitsmarkt unser großes Problem ist. Die Lage in den hängen lassen; wir wollen es auch nicht. neuen Ländern ist unterschiedlich. Sie finden Aufbruch- stimmung und Resignation, je nachdem, wie Sie Die brandenburgischen Kommunen haben im ersten schauen. Manche – ja, auch die gibt es – mögen der all- Halbjahr wegen Einnahmeverlusten von 30 Millionen umfassenden Daseinsfürsorge nachtrauern. Aber die Euro bei der Einkommensteuer, 17 Millionen Euro bei Mehrheit möchte selbst Hand anlegen, möchte etwas der Gewerbesteuer und wegen einer Steigerung der Aus- schaffen, möchte aus eigener Kraft das Leben und die gaben für die Sozialhilfe um 30 Millionen Euro ihre In- Zukunft gestalten, möchte etwas leisten, vorankommen, vestitionsausgaben um 50 Millionen Euro reduzieren dafür sorgen, dass es ihren Kindern einmal besser geht, müssen, weil sie an der Verschuldungsgrenze waren. In- möchte eine Chance bekommen, wenn nicht für sich, vestitionen in die kommunale Infrastruktur sind solche dann für ihre Kinder, wenn nicht bei uns zu Hause, dann für das örtliche Handwerk, für Hoch- und Tiefbau, für woanders. Darum bleibt die Bekämpfung der Arbeitslo- alle anderen Gewerke. Darum brauchen die Kommunen sigkeit das Hauptthema. Im Bericht ist dargelegt, dass Hilfe und darum ist es wichtig, dass Sie hier im Bundes- rund 9 Milliarden Euro für den Arbeitsmarkt ausgegeben tag zu einer Entscheidung über eine kommunale Finanz- werden. Dafür bedanken wir uns, weil es eine wichtige ausstattung kommen, die es ermöglicht, das umzusetzen, Hilfe ist, aber unser Problem lösen wir durch die anderen was wir gemeinsam wollen. Dinge, die ich vorher angesprochen habe. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Es geht um die Zukunftsgestaltung von 16 Millio- neten der FDP – Zuruf des Abg. Stephan nen Mitbürgern. Sie wollen eine faire Chance bekom- Hilsberg [SPD]) men, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen. Viele von Wir wollen das gemeinsam machen – ich hoffe das – und ihnen treibt die Sorge um das Hier und Heute. Helfen wir müssen es wohl auch gemeinsam machen, Herr Kol- wir ihnen, die Zukunft entschlossen anzugehen! Wir ha- lege Hilsberg, weil es in Bundesrat und Bundestag unter- ben viel erreicht – das ist richtig –, aber unsere Mitbür- schiedliche Mehrheiten gibt. Seien wir doch froh darü- ger wollen Verlässlichkeit und eine Perspektive. Der Be- (B) (D) ber, dass wir in diesem Punkt einen Zwang zur richt weckt Hoffnung, aber das reicht nicht. Zu viele Gemeinsamkeit haben! Sie gehen nicht auf die Probleme Hoffnungen sind enttäuscht worden. Es müssen konkrete ein, die die Menschen vor Ort erleben. Das müssen Sie Entscheidungen folgen. Die Zeit ist reif. Die Menschen genauso gut wissen wie ich; denn Sie kennen die Wirk- wissen es. Enttäuschen wir sie nicht und versuchen wir, lichkeit. gemeinsam zu handeln! Die Wirtschafts-, Finanz- und Steuerpolitik der Bun- Herzlichen Dank. desregierung hat dazu geführt, dass die Bundesländer (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- und die Kommunen erheblich weniger Einnahmen haben neten der FDP) als bisher. Im Bericht sucht man das vergeblich. Da heißt es nur: Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Die Bundesregierung hat in den letzten Jahren mit Ich erteile dem Kollegen Peter Hettlich, Bündnis 90/ nachhaltigen Reformen die Attraktivität und Wett- Die Grünen, das Wort. bewerbsfähigkeit des gesamten Wirtschaftsstandor- tes Deutschland deutlich verbessert. Peter Hettlich (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die Arbeitslosigkeit hat zugenommen und das ist un- ser Problem; Kollege Stolpe hat darauf deutlich hinge- Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und wiesen. Kollegen! Am 17. September stellte Bundesminister Manfred Stolpe den Jahresbericht zum Stand der deut- Die gesamtwirtschaftliche Entwicklung in den schen Einheit vor und erklärte dabei auch, dass der neuen Ländern – so heißt es sinngemäß in dem Be- Traum von einer schnellen Angleichung zwischen Ost richt – ging um 0,2 Prozent zurück und blieb hinter der und West endgültig beerdigt werden müsse. Wenige Entwicklung in den alten Ländern zurück. Man könnte Tage später fragte mich ein Journalist, in welchem Zeit- es auch einfach ausdrücken: Die Schere zwischen Ost raum ich mir eine Angleichung vorstellen könne. und West öffnet sich wieder. Das ist unser großes Pro- blem und damit müssen wir uns auseinander setzen. Ich persönlich habe nie den Traum geträumt, dass eine Angleichung innerhalb von zehn oder fünf Jahren (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) möglich sei. Denn aus meiner persönlichen Erfahrung und den Erlebnissen in Sachsen war mir schon Anfang Zur Wahrheit gehört, dass man dies anspricht. der 90er-Jahre bewusst und bekannt, welche riesigen (Zuruf des Abg. [SPD]) Aufgaben mit der Wiedervereinigung bewältigt werden 5624 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2003

Peter Hettlich (A) mussten. Für mich galt daher schon frühzeitig, dass wir zu den wenigen offenen Stellen und das deutlich niedri- (C) eine Generation – das sind für mich 30 Jahre – brauchen gere Einkommensniveau bleiben die wesentlichen He- würden, um eine ungefähre Angleichung der wirtschaft- rausforderungen für die nächsten Jahre. lichen Lebensverhältnisse zwischen Ost und West zu er- Wir können uns darüber streiten, wie wir diese Ziele reichen. am besten und am schnellsten erreichen können. Aber Mir fiel in diesem Interview als Schlüsseljahr spontan ich darf wohl den Konsens in diesem Hause vorausset- das Jahr 2019 ein. Denn 2019 werden wir des 30. Jahres- zen, dass die Angleichung der Lebensverhältnisse kom- tages der friedlichen Revolution gedenken. Aber in je- men muss, und zwar je eher, desto besser. nem Jahr wird auch der Solidarpakt II auslaufen, der den (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ostdeutschen Bundesländern in den kommenden 15 Jah- und bei der SPD) ren nochmals erhebliche Transferleistungen zur Verfü- gung stellt. Ich will aber daran erinnern, dass wir auch dann noch re- gionale, aber vertretbare Disparitäten haben werden. Das Wie ist es nun mit dem Stand der deutschen Einheit? war schon immer so, auch im Westen. Das ist auch gut Der Vollzug der wirtschaftlichen Einheit lässt sich an Pa- so; denn dabei handelt es sich um einen ganz natürlichen rametern wie Bruttoinlandsprodukt, Arbeitslosigkeit Vo rga n g. und Lohnniveau dokumentieren. Aber was ist mit der Einheit in den Köpfen? Woran lässt sich diese festma- Für meine Fraktion will ich klarstellen, dass wir zu chen? Woran können wir eine Angleichung zwischen den Vereinbarungen des Solidarpaktes II stehen und uns Ost und West erkennen? für eine sinnvolle Verlängerung der Investitionszulage und den Erhalt der EU-Strukturförderung engagiert ein- Auch wenn manche es anders sehen werden: Für setzen werden. Wir müssen uns aber der Verantwortung mich persönlich haben wir hier in den letzten fünf Jahren dafür bewusst sein, dass diese Fördermittel bestmöglich große Fortschritte gemacht. Denn alles braucht seine eingesetzt werden. Die Kritik an falscher Allokation von Zeit. Vieles lässt sich eben nicht mit Transferleistungen Fördermitteln müssen wir ernst nehmen. Lassen Sie uns regeln. Wir haben in den letzten Jahren lernen müssen, darüber diskutieren, wie wir es schaffen, diese erhebli- dass wir einander fremder waren, als unsere – zumindest chen Finanzmittel zielführender und erfolgreicher einzu- zum größten Teil – gemeinsame Sprache und Geschichte setzen. glauben macht. Ich finde, dass sich daraus ein ganz neuer und spannender Prozess eines zweiten Kennenler- In diesem Zusammenhang möchte ich noch einmal nens entwickelt hat. kurz auf die so genannte Neiddebatte eingehen, die un- ser Spätsommerloch anfüllte. Wir negieren nicht die Tat- Viele Menschen haben den Film „Good bye, Lenin!“ (B) sache, dass es auch im Westen strukturschwache Regio- (D) gesehen, gelacht und vielleicht auch einige Tränen ver- nen gibt, die unsere Solidarität benötigen. Aber es hat gossen. Dieser Film war nicht nur im Osten, sondern mich schon sehr geärgert, dass suggeriert wurde, der Os- auch im Westen ein Erfolg. Ich erinnere mich auch noch ten greife zum Beispiel im Bereich der Städtebauförde- sehr gut an den Film „Sonnenallee“, der im Osten alle rung zu Lasten der westdeutschen Kommunen alles ab. Kassenrekorde brach. Als ich ihn in Köln anschaute, be- Für mich ist das insofern besonders unverständlich, als fand ich mich in der Gesellschaft von etwa fünf Cineas- es zum Beispiel beim Stadtumbau Ost länderübergrei- ten, von denen drei vorzeitig das Kino verließen, da sie fenden Konsens gab. Das lässt sich damit dokumentie- offensichtlich überhaupt nichts mit dem Thema anfan- ren, dass die entsprechende Verwaltungsvereinbarung gen konnten. Dazwischen liegen wenige Jahre. Aber in von allen 16 Bundesländern unterschrieben wurde. Wie diesem Zeitraum hat sich nach meiner Beobachtung eini- auch bei anderen Fördermaßnahmen können wir uns ges deutlich verändert. Ich bin der Meinung, dass wir gerne darüber verständigen, was besser gemacht werden einander anders, besser und bewusster wahrnehmen, ge- kann. Aber für mich gilt auch hier: pacta sunt servanda – lassener miteinander umgehen und bereit sind, uns er- Verträge bzw. Vereinbarungen sind zu erfüllen. neut näher kennen zu lernen. Ich möchte zum Schluss meiner Rede auf die Aus- Gerade die Ostdeutschen haben in den letzten Jahren wirkungen der Agenda 2010 und insbesondere der so erkannt, dass Geschichte und Vergangenheit nicht ein- genannten Hartz-Gesetze auf die ostdeutschen Bundes- fach in Müllcontainern und auf Mülldeponien landen länder eingehen. Die Zusammenlegung von Arbeitslo- können und dürfen. Ein gesundes und differenziertes senhilfe und Sozialhilfe zum Arbeitslosengeld II be- Verhalten zur eigenen Geschichte ist zur Identitätsstif- trifft den Osten sehr viel stärker, da hier der Anteil der tung unerlässlich. Daher sehe ich persönlich die Inflation Arbeitslosenhilfeempfänger mit über 1 Million Men- von Ostalgieveranstaltungen eher gelassen und weniger schen sehr hoch ist und die finanzielle Entlastung der aufgeregt, auch wenn ich das Niveau mancher Veranstal- Kommunen bei der Sozialhilfe deutlich niedriger aus- tung lieber in den Mantel des Schweigens hüllen fällt. Die Festlegung der Höhe des Arbeitslosengeldes II möchte. auf das Sozialhilfeniveau macht mich alles andere als (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN glücklich. Die verschärfte Anrechnung von Partnerein- sowie bei Abgeordneten der SPD) kommen führt gerade bei Frauen im Osten zu harten Einschnitten. Dennoch bleibt ohne eine Angleichung der wirt- schaftlichen Verhältnisse die Einheit unbalanciert und (Zuruf von der CDU/CSU: Warum tun Sie es unvollständig. Die hohe Arbeitslosigkeit im Verhältnis denn dann? Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2003 5625

Peter Hettlich (A) – Warten Sie einmal ab! – Wir haben uns in unserer Cornelia Pieper (FDP): (C) Fraktion an vielen Stellen gemeinsam für eine Entschär- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Kolle- fung und Verbesserung der Gesetze eingesetzt und dabei gen von der Regierungskoalition können ja kaum erwar- auch vieles erreicht. ten, dass ich anfange zu reden. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- (Dr. Uwe Küster [SPD]: Wie immer irren Sie SES 90/DIE GRÜNEN – Arnold Vaatz [CDU/ sich! Wir warten auf das Ende! – Weitere Zu- CSU]: Was haben Sie denn erreicht?) rufe von der SPD) Mehr war angesichts der schwierigen Haushaltslage ein- – Ich weiß, dass Sie sich freuen. fach nicht möglich. Das Thema deutsche Einheit ist der FDP-Fraktion viel Es ist aber auch sichergestellt, dass in Zukunft Maß- zu wichtig, als dass es ihr ausreichte, über rein ökonomi- nahmen der Bundesanstalt für Arbeit in veränderter sche Daten zu reden. Für uns ist die deutsche Einheit Form als ABM neu oder BSI einen Marktersatz für feh- auch 13 Jahre danach keine Selbstverständlichkeit. Es lende Arbeitsplätze darstellen werden. Wir wissen, dass waren die Grundpfeiler unserer Gesellschaft – Grund- dies keine Dauerlösung sein kann. Die eigentlichen Ar- rechte, Freiheit und Demokratie –, die uns die deutsche beitsplätze müssen nämlich am ersten Arbeitsmarkt ent- Einheit ermöglicht haben. Dank der Kraft, die aus diesen stehen. Wir brauchen aber den zweiten Arbeitsmarkt, um Werten unserer Gesellschaft kommt, konnten wir die eine gewisse Stabilisierung der sozialen Verhältnisse zu deutsche Einheit vollenden. Ich will auch noch einmal an gewährleisten; deshalb ist er unersetzlich. das anknüpfen, was Minister Schönbohm hier zum Aus- druck gebracht hat: Es geht einfach nicht an, dass Politi- Ich habe aus Gesprächen mit Vertretern der Bundes- ker aus den Landesregierungen, aber auch aus dem Bund anstalt für Arbeit, aber auch der Landesarbeitsämter den die deutsche Einheit mit ihren Worten diffamieren. Wir positiven Eindruck mitgenommen, dass die Reformen sagen ganz deutlich, dass die deutsche Einheit die Leis- auf diesem Gebiet wirklich zu einer Verbesserung führen tung der Menschen selbst gewesen ist, werden. Es gibt das ehrliche Bemühen und die Zusage, die Fördermaßnahmen auch in 2004 in beinahe unverän- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten derter Höhe fortzuführen. Oberstes Ziel muss auch hier der CDU/CSU) sein, eine möglichst hohe Erfolgsquote zu erreichen, das dass die Ostdeutschen mit der selbst errungenen Freiheit heißt letztlich die Vermittlung in den ersten Arbeits- und die Westdeutschen mit einer gut funktionierenden markt. Marktwirtschaft diese deutsche Einheit politisch voll- (B) Hartz III und Hartz IV werden wir morgen in zweiter endet haben. Es soll nicht aus den Augen verloren wer- (D) und dritter Lesung verabschieden, wohl wissend, dass es den, dass wir auf diese Weise eine gute Grundlage für zu einem Vermittlungsverfahren kommen wird. Liebe die Zukunft geschaffen haben. Kolleginnen und Kollegen der CDU, dann werden wir Meine Damen und Herren, mich haben die Worte des auch über das unsägliche Existenzgrundlagengesetz des Altbundeskanzlers Schmidt, die Ostdeutschen, vor allem Ministerpräsidenten Koch und über die Androhungen Ih- die Rentner, sollten endlich aufhören zu jammern, sehr res Parlamentarischen Geschäftsführers, Volker Kauder, enttäuscht, und zwar deswegen, weil hier alte Vorurteile diskutieren müssen, die angeblich sozialen Wohltaten, geprägt und die Lebensleistungen gerade älterer Men- zum Beispiel bei der Zumutbarkeitsregelung oder bei der schen im Osten infrage gestellt werden. Höhe des Arbeitslosengeldes II, zurückfahren zu wollen. Machen Sie Ihren Kollegen einmal klar, wozu das im (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Osten führen wird! Was versprechen Sie sich davon au- der CDU/CSU) ßer der Lufthoheit über den Stammtischen? Es waren doch die Menschen in den neuen Ländern, die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN in der aktuellen Reformdebatte die Kugel ins Rollen ge- und bei der SPD) bracht haben. Was hätten wir denn gemacht, wenn die Leipziger und Hallenser damals in der Leipziger Bahn- Es liegt auch in Ihrer Verantwortung, die an sich schon hofspassage nicht mit den Füßen abgestimmt hätten? harten Einschnitte durch die Reformgesetze so zu gestal- Dann hätten wir bis heute nicht die Liberalisierung des ten, dass sie noch sozial vertretbar sind. Aus dieser Ver- Ladenschlussgesetzes. Wir hätten bis heute keine Be- antwortung werden wir Sie, aber auch die ostdeutschen triebsbündnisse zwischen Arbeitnehmern und Unterneh- Ministerpräsidenten nicht entlassen. mern und keine Arbeitsplätze gesichert, wenn die Ost- deutschen nicht die entsprechende Einsicht gezeigt Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. hätten. Wir hätten bis heute keine Debatte über moderne Familienpolitik in der Bundesrepublik Deutschland. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Im Osten gibt es mehr Kreativität und Wachstumspo- tenzial als im gesamtdeutschen Durchschnitt. Die Bereit- schaft zur Veränderung, selbst zu sozialen Einschnitten, Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: ist weitaus größer. Vieles, was im Osten gelebte Praxis Ich erteile das Wort der Kollegin Cornelia Pieper, ist, ist für Gesamtdeutschland noch blanke Theorie. FDP-Fraktion. Denken Sie an die Aufhebung des Tarifzwangs, an die 5626 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2003

Cornelia Pieper (A) Streichung der Arbeitsplatzsubvention im Braunkohle- Trotz des Lichtblicks der Zuwachsraten in der Indus- (C) bergbau – im Gegensatz zum Steinkohlebergbau! Den- trie und im verarbeitenden Gewerbe, die in diesen Bran- ken Sie an die kürzeren Ausbildungs- und Studienzeiten, chen zu einem Beschäftigungszuwachs beigetragen aber auch an die hohe Mobilität der jungen Menschen im haben, fehlt es an großen, wertschöpfungsstarken Betrie- Osten Deutschlands! ben. Der Anteil der in der Industrie Beschäftigten beträgt in Ostdeutschland lediglich 68 Prozent des Westniveaus. (Beifall bei der FDP) Die Gründungsquote im Osten nimmt seit 1998 radikal Aber genau Letzteres ist das Problem. Das kommt ab. Das Institut für Wirtschaftsforschung Halle gab Mitte auch in dem Jahresbericht zum Stand der deutschen Ein- September bekannt, im Osten fehlten nach wie vor rund heit zum Ausdruck. Von 1989 bis 2002 hat eine Abwan- 100 000 Unternehmen. Da müssen wir den Hebel anset- derung von 1,45 Millionen Menschen aus dem Osten zen. Niedrigere Steuern und niedrigere Sozialabgaben stattgefunden. Allein im Jahr 2002 ist die Bevölkerung müssen das Ziel für Gesamtdeutschland, aber insbeson- einer Stadt in der Größenordnung Jenas von der Bildflä- dere für die neuen Bundesländer sein. che verschwunden. Deswegen muss es das Ziel dieser (Beifall bei der FDP) Bundesregierung sein, für Wachstum zu sorgen und die Menschen in den neuen Ländern mit Zuversicht zu erfül- len. Aber ich erlebe, dass – insbesondere in den Ländern – Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: von Politikern der Regierungskoalition im Prozess der Frau Pieper, denken Sie bitte an die Redezeit! deutschen Einheit mehr Zwietracht gesät wird. (Karin Rehbock-Zureich [SPD]: Na, na, na!) Cornelia Pieper (FDP): Es war Herr Vesper von den Grünen, der gefordert hat, Der Anteil der Industrieforschung im Osten beträgt die Fördermittel für den Wohnungsbau zu streichen. Es nur noch 5 Prozent. Das ist zu wenig. Auch in diesem war Herr Steinbrück, der die Investitionszuschüsse für Bereich setzt die Bundesregierung keine Prioritäten. Die die neuen Länder infrage gestellt hat. Bundesforschungsministerin hat gerade einmal 1 Pro- zent der Mittel, die für Großgeräte zur Verfügung stan- Ich bin Liberale. Ich will, dass strukturschwache Re- den, in die neuen Bundesländer fließen lassen. Das ist gionen in allen Ländern gefördert werden. Aber trotz- nicht die richtige Weichenstellung. dem halte ich diese Diskussion für nicht gerechtfertigt. Ich erwarte auch, dass die Bundesregierung das (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten nächste größere europäische Forschungsvorhaben, näm- der CDU/CSU) lich die Neutronenspallationsquelle, unterstützt und (B) Die Menschen dort brauchen Arbeit. Jeder Fünfte im Os- sich für einen Standort in Deutschland, möglichst in den (D) ten Deutschlands ist arbeitslos. Das ist die eigentliche neuen Bundesländern, einsetzt. Das wäre eine richtige politische Herausforderung, auch für die Bundesregie- Weichenstellung. rung. Die Bundesregierung hat versäumt – wir wissen, (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Herr Stolpe, dass die Industriebasis nicht stark genug ist, der CDU/CSU) um den nötigen Beschäftigungszuwachs zu befördern –, gerade für den Mittelstand, die Freiberufler und das Aber Sie vernachlässigen dieses Gebiet schon seit länge- kleine Gewerbe die Grundlagen für die Entstehung von rem. Arbeitsplätzen zu schaffen. Dazu gehört für uns zualler- erst ein Niedrigsteuergebiet mit einem Dreistufentarif Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: für ganz Deutschland. Frau Kollegin, ich muss Sie nun wirklich bitten, auf (Beifall bei der FDP) die Redezeit zu achten. Dazu gehört auch die Senkung der Lohnzusatzkosten. Cornelia Pieper (FDP): Wir wollen sie auf 35 Prozent reduzieren. Gerade im Hinblick auf die EU-Osterweiterung ist doch klar, dass Ja, Herr Präsident. – Was Sie tun, hat nur Alibifunk- der Druck auf die Unternehmen, was die Löhne und Ge- tion. Wir haben daher nur wenig Hoffnung, dass für die hälter anbelangt, auch in Ostdeutschland viel größer Bundesregierung der Aufbau Ost Herzenssache ist. wird. Deswegen brauchen wir schnell Entscheidungen; Vielen Dank. wir brauchen den großen Wurf und nicht kleine Trippel- schritte in Reformpaketen. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Während im Westen trotz Konjunkturschwäche 2002 ein Anstieg des Bruttoinlandsprodukts um 0,3 Prozent zu verzeichnen war, haben wir im Osten erstmals seit Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: zehn Jahren ein Minuswachstum von 0,2 Prozent. Das ist Das Wort hat nun die Kollegin Dr. Gesine Lötzsch. auch ein Ergebnis falscher Weichenstellungen Ihrer Poli- tik für den Aufbau Ost, meine Damen und Herren von Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos): der Bundesregierung. Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Herren! Sehr geehrte Gäste! Ich bin Abgeordnete der der CDU/CSU) PDS. – In dieser Debatte haben sich schon alle über Alt- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2003 5627

Dr. Gesine Lötzsch (A) kanzler Helmut Schmidt empört. Ich will ihn in Schutz unzureichend berücksichtigt. Ein Beispiel sind die (C) nehmen. Natürlich gibt es Weinerlichkeit, in Ost und in Hartz-Gesetze; der Kollege von den Grünen hat es klar West; auch ich finde sie nicht gut. Mir sind die erkannt. Bei einer durchschnittlichen Arbeitslosigkeit in 5 000 Rentnerinnen und Rentner lieber – das ist eine an- Ostdeutschland von 20 Prozent ist es absurd und men- dere Reaktion –, die am Montag dieser Woche auf den schenverachtend, den Druck auf die Arbeitslosen ständig Straßen Berlins gegen die Rentenpläne der Bundesre- zu erhöhen, ohne ihnen Arbeitsplätze anzubieten. Die gierung demonstriert haben. Ich hoffe, es werden in den Gesetze, die morgen verabschiedet werden sollen, ma- nächsten Wochen und Monaten noch mehr Menschen chen deutlich, dass es in diesem Bundestag ein dramati- gegen Sozialabbau auf die Straße gehen. sches Defizit an Ostkompetenz gibt. (Beifall der Abg. Petra Pau [fraktionslos]) (Beifall der Abg. Petra Pau [fraktionslos]) Ich finde es wirklich nicht erträglich, wenn von der Hier haben Ost-SPD und Ost-CDU völlig versagt. In der Bundesregierung immer wieder argumentiert wird, dass morgigen Abstimmung über die Hartz-Gesetze haben es den Rentnern gut gehe. Viele Rentnerinnen und Rent- Sie Gelegenheit, diesen Eindruck zu korrigieren. Dazu ner haben 40 Jahre und länger gearbeitet und müssen fordere ich Sie auf. nun mit Minirenten auskommen. Sie empfinden es als ungerecht, wenn sie nach einem langen Arbeitsleben zu Vielen Dank. Bedürftigen degradiert werden sollen. Altkanzler (Beifall der Abg. Petra Pau [fraktionslos]) Schmidt ist wirklich schlecht informiert, wenn er in der Rentenfrage behauptet, es werde über manches geklagt, was nicht beklagenswert sei. Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Ich will Ihnen ein Beispiel nennen. Die ehemaligen Nächster Redner ist der Kollege Siegfried Scheffler Mitarbeiter der Deutschen Reichsbahn haben in der für die SPD-Fraktion. DDR Ansprüche auf eine Altersversorgung erworben, (Beifall bei der SPD) die ihnen der Bund nicht gewähren will. Obwohl die Bahnen und das entsprechende Vermögen zusammenge- führt wurden, erhielten nur die Bundesbahner Besitz- Siegfried Scheffler (SPD): schutz für ihre Altersversorgung. Für die Hunderttau- Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle- send Reichsbahner wurde bis heute keine Regelung gen! Mir geht es heute wie im vorigen Jahr: Angesichts gefunden. Es geht also nicht um Weinerlichkeit, sondern des zuvor Gesagten kann man die vorbereitete Rede nur es geht um berechtigte Forderungen, denen die Bundes- beiseite legen. Insbesondere das, was Sie, Frau Pieper, (B) regierung endlich nachkommen muss. Da helfen auch ausgeführt haben, ist blanke Theorie und entbehrt jeder (D) schöne Sonntagsreden, wie wir sie heute gehört haben, Tatsache. Die Situation ist schon sehr schwierig. nicht. Ich darf Ihnen einmal ein Zitat von Ministerpräsident (Beifall der Abg. Petra Pau [fraktionslos]) Böhmer – ich gehe einmal davon aus, dass Sie den Mi- Altkanzler Schmidt hat in dem Interview mit der nisterpräsidenten in Sachsen-Anhalt unterstützen; Kol- „Sächsischen Zeitung“ auch viel Richtiges gesagt, was lege und ich waren zwei Tage nach der in der allgemeinen Hysterie leider untergegangen ist. Er Feier in Magdeburg in Sachsen-Anhalt unterwegs – aus hat festgestellt, dass der Aufholprozess im Osten schon „Innovative Verwaltung“, Heft 10 des Jahres 2003, vor- 1996 unterbrochen wurde und dass in Ostberlin und lesen: Bonn ökonomische Dilettanten am Werk waren. Einen Heute haben sich an zahlreichen Standorten, die mit dieser laut Altkanzler Schmidt ökonomischen Dilettan- hohem finanziellen Aufwand saniert wurden, wie- ten, Herrn Schäuble, will die CDU nun zum Bundesprä- der zukunftsträchtige Unternehmen angesiedelt. sidenten wählen. Ein wahrlich schlechter Vorschlag! Dieser Strukturwandel läuft permanent weiter. Der Osten kippt. Die Arbeitslosigkeit im Osten ist Denken Sie, dass sich diese Unternehmen erst seit dem doppelt so hoch wie im Westen. Die Investitionen sinken Zeitpunkt angesiedelt haben, seit dem Ministerpräsident und die Jugend wandert aus dem Osten in den Westen Böhmer die Regierung übernommen hat? Das ist viel- ab. Natürlich wurde viel Geld in den Osten transferiert. mehr ein Prozess, den die rot-grüne Regierung seit 1998 Aber offensichtlich haben diese Transfers ihre Wirkung mit ihren Clusters in Gang gesetzt hat. nicht erzielt. Ist es nicht verwunderlich, dass unsere öst- lichen Nachbarn ein beachtliches Wirtschaftswachstum (Beifall bei der SPD) haben, obwohl sie über weniger Geld verfügen und ihre Frau Pieper, wir haben Unternehmen besucht. Wir ha- wirtschaftliche Ausgangslage schlechter ist als die im ben uns nicht nur in der Staatskanzlei mit dem Finanz- Osten Deutschlands? Es ist eben so, dass es offensicht- staatssekretär bzw. mit Kollegen des Landtages unterhal- lich nicht reicht, nur viel Geld auszugeben. Man muss ten. Wir waren auch bei Unternehmern in Staßfurt und manchmal auch ganz neue und ungewöhnliche Maßnah- Barleben. Die haben uns händeringend darum gebeten, men und Methoden anwenden, um etwas nach vorne zu in der Förderpolitik, aber insbesondere auch in der Steu- bringen. Doch dazu fehlt es Ihnen an Mut und Ideen. erpolitik nicht nachzulassen und Einfluss auf die Länder Es ist wirklich schlimm, dass die Bundesregierung die zu nehmen, damit steuerliche Entlastungen zustande Besonderheiten des Ostens in ihrer Gesetzgebung nur kommen und unsere Förderung weiter fließt. 5628 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2003

(A) Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (C) Herr Kollege Scheffler, gestatten Sie eine Zwischen- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) frage der Kollegin Pieper? Es wird das dargestellt, was im Grunde genommen in den alten Bundesländern bemängelt wird. Sie gehen nur Siegfried Scheffler (SPD): auf die Problemregionen ein. Natürlich haben wir solche Bitte. Problemregionen; das kehren wir nicht unter den Tisch. Aber bei einer Redezeit von zwölf Minuten kann weder der Minister noch ich all das ansprechen. Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Bitte schön. Auf konstruktive Dinge sollte man eingehen, zum Beispiel auf das Konzept des Ministerpräsidenten Milbradt – er ist Ihr Kollege – Cornelia Pieper (FDP): Herr Kollege Scheffler, Sie hatten mich direkt ange- (Arnold Vaatz [CDU/CSU]: Guter Mann!) sprochen. Deswegen eine Rückfrage von mir: Ist Ihnen für den Aufbau Ost, das er in einigen Monaten vorlegen bekannt, dass es SPD-Ministerpräsidenten und -Minister will. Dazu kann ich Ihnen nur sagen: Wenn der Bericht sind, die Investitionszuschüsse und -zulagen für die in den Ausschuss überwiesen wird, wird die Landes- neuen Länder infrage stellen? Diese sind ja mehreren gruppe Ost gemeinsam mit unserem Koalitionspartner Gutachten gemäß die Ursache dafür, dass es überhaupt einen eigenen Antrag vortragen, und nicht erst in Mona- Anreize für Investitionen und Industrieansiedlungen ten. Darin werden die Dinge konstruktiv angesprochen, gibt. Ist Ihnen bekannt, dass das Bundesland Sachsen- die wir in Abstimmung mit der Bundesregierung erarbei- Anhalt eine Bundesratsinitiative gestartet hat – sie hat tet haben. dem Bundesrat vorgelegen –, Modellregionen im Hin- blick auf den Bürokratieabbau zu schaffen, und dass die (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Bundesregierung bis heute nicht gehandelt hat und, wie DIE GRÜNEN) ich gehört habe, plant, nur in strukturschwachen Regio- nen in den alten Bundesländern Modellregionen zuzulas- Den Kollegen, die dazwischenrufen, möchte ich sa- sen? gen: (Zuruf von der CDU/CSU: Sie müssen sich Siegfried Scheffler (SPD): besser auf Ihre Rede vorbereiten! So ein Blöd- Ich möchte darauf jetzt nicht direkt eingehen, weil ich sinn! Das darf nicht wahr sein!) (B) im Laufe meiner Rede den Masterplan Bürokratieabbau Der Einigungsprozess muss mit Blick auf die aktuelle (D) konkret ansprechen werde. Ich werde die Probleme am Steuersituation und unter Berücksichtigung der weltwei- Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz deutlich ten Entwicklung, aber insbesondere unter Berücksichti- machen. gung der europäischen Entwicklung, fortgeschrieben (Norbert Schindler [CDU/CSU]: Wissen Sie es werden. Es wäre doch schlimm, wenn wir bei den Kon- oder wissen Sie es nicht?) zepten der alten Regierung stehen bleiben würden. Die Welt hat sich weiterentwickelt. Auf die I-Zulage und auf weitere Dinge werde ich dann in diesem Zusammenhang zu sprechen kommen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Insofern kann ich Sie nur ermuntern, auf die Minister- präsidenten über die Parteigrenzen hinaus einzuwirken Auch hinsichtlich der EU-Osterweiterung mussten be- – das betrifft nicht nur Herrn Steinbrück, sondern auch stimmte Maßnahmen ergriffen werden. Ministerpräsident Koch; hier sind die verschiedenen Par- (Jürgen Türk [FDP]: Dann tun Sie es endlich teifarben verantwortlich –, dass für die neuen Bundes- mal!) länder letztendlich eine entsprechende Entlastung zu- stande kommt. Insofern stimme ich Ihnen zu und kann Auf den Solidarpakt II möchte ich jetzt nicht weiter Sie nur ermuntern, diese Bundesratsinitiative zu unter- eingehen. Gestatten Sie aber auch mir als Landesgrup- stützen. pensprecher Ost in der SPD-Fraktion, die Menschen in den neuen Bundesländern direkt anzusprechen; einige Herr Minister Schönbohm, der Bericht, den Minister Kollegen haben das bereits getan. Trotz aller Transfer- Stolpe für die Bundesregierung heute vorgestellt hat, ist leistungen, die wir über die Parteigrenzen hinaus aner- überhaupt nicht glatt. Wer ihn intensiv gelesen hat, kennen, haben die Bürgerinnen und Bürger in den neuen kommt zu der Meinung, dass das der erste Bericht ist, Ländern einen unvergleichlichen Härtetest bestanden (Klaus Brähmig [CDU/CSU]: Das ist der und müssen ihn wahrscheinlich noch einige Jahre lang dünnste, den wir jemals gehabt haben!) bestehen. Die übergroße Mehrheit der Menschen hat ihn mit Bravour bestanden. In diesem Zusammenhang weise in dem die Probleme in aller Deutlichkeit aufgezeigt ich den Vorwurf der Weinerlichkeit in den neuen Bun- werden. Ganz wichtig ist – das ist in den vorherigen De- desländern zurück. battenbeiträgen und auch in dem von Frau Pieper über- haupt nicht zum Ausdruck gekommen –, dass auch kon- (Klaus Brähmig [CDU/CSU]: Das hat Herr struktive Vorschläge vorgetragen werden. Schönbohm schon gesagt!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2003 5629

Siegfried Scheffler (A) Auch schließe ich mich über die Parteigrenze hinweg leistungen in die Sozialsysteme haben, wie es die Debatte (C) den Worten von Minister Schönbohm an. Er hat ausge- zum Gesundheitsmodernisierungsgesetz gezeigt hat. führt, dass auch dann, wenn die Parteifarben wechseln, Minister Schönbohm, Sie haben die kommunalen Fi- nicht weniger Geld für den Aufbauprozess zur Verfü- nanzen angesprochen. Anfang des Jahres hätten wir hier gung gestellt werden dürfe. Ja, auch wir fordern das. Ich über das Steuervergünstigungsabbaugesetz Einigkeit er- füge hinzu: Wer weiß, ob das Selbstvertrauen der Men- zielen können. Wenn uns das gelungen wäre, wäre die schen in den neuen Ländern, das durch diese Erfahrung Finanzkraft der Kommunen in den neuen und alten Bun- gewachsen ist, nicht noch einmal zu einem wichtigen desländern jetzt wesentlich stärker. Kapital für ganz Deutschland wird, nämlich dann, wenn wir die anstehenden Reformen – hier wird sich noch so (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ mancher aus den alten Bundesländern wundern – umset- DIE GRÜNEN) zen werden. Aber die unionsregierten Länder haben uns hier auflau- Wir haben heute schon vom überproportionalen fen lassen. Ich gebe zu, wir haben uns hier eine Wat- Wachstum im verarbeitenden Gewerbe gehört. In Bran- schen, wie Herr Stiegler sagen würde, abgeholt. Den denburg gibt es international wettbewerbsfähige Zen- Kommunen haben Sie damit aber überhaupt nicht gehol- tren. Das gilt auch für Berlin; in meinem Wahlkreis gibt fen. Es gibt gravierende Probleme und ich hoffe, dass es unter anderem den Wissenschafts-, Wirtschafts- und wir im Rahmen der Verhandlungen von Bundestag und Medienstandort Adlershof. Diese Zentren gibt es auch in Bundesrat zu den anstehenden Reformen eine Einigung der chemischen Industrie und im Automobilbau. Aber erzielen und die Finanzkraft der Kommunen in den – das wurde weder von Minister Stolpe noch von der neuen und den alten Bundesländern stärken. Bundesregierung beschönigt – Fakt ist, dass Jahr für Jahr (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ einhunderttausend zumeist gut ausgebildete und qualifi- DIE GRÜNEN) zierte junge Leute unsere strukturschwachen Regionen verlassen. Bei unserer Reise durch Mecklenburg-Vor- Ich halte das integrative Aufbaukonzept der Bundes- pommern, insbesondere durch den Landkreis Uecker- regierung für richtig. Natürlich ist dann, wenn man mehr Randow – der Kollege Meckel wurde bereits erwähnt –, Geld hat, alles verbesserungsbedürftig, liebe Kollegin- konnten wir uns davon überzeugen. nen und Kollegen von der Opposition. Wir können gern einmal die Leistungen unserer Bundesregierung für Bil- Wir verkennen nicht, dass hier besondere Anstren- dung und Forschung mit den finanziellen Leistungen in gungen notwendig sind; der Kollege Hettlich hat das diesem Bereich unter Ihrem damaligen Superminister Hartz-IV-Paket bereits angesprochen. Aufgrund der Fi- Rüttgers bis 1998 vergleichen. Die Mittel für diesen Be- nanzsituation des Bundes ist es manchmal aber nicht (B) reich waren rückläufig. BAföG und Meister-BAföG (D) möglich, die Situation besser zu meistern. Wir dürfen in müssen finanziert werden, und zwar vor dem Hinter- diesem Zusammenhang nicht verschweigen, dass wir grund der Konsolidierung des Haushalts. Ich bitte Sie Arbeitsplätze nicht auf dem zweiten, dem öffentlich ge- wirklich, einmal ganz ehrlich Bilanz zu ziehen und das förderten Arbeitsmarkt schaffen wollen, sondern auf entsprechend zu berücksichtigen. dem ersten. Wir wollen den ersten Arbeitsmarkt beleben, dort wollen wir die Arbeitsplätze schaffen. Aber auch im Zur Ehrlichkeit gehört – Minister Stolpe, hier würde Jahr 2004 und darüber hinaus müssen wir den Menschen ich Sie stellvertretend für die Regierung bitten; vorhin auf dem zweiten Arbeitsmarkt durch Anstrengungen der war noch Minister Schily hier – auch, den Goldenen Bundesanstalt für Arbeit bzw. der Bundesagentur für Ar- Plan Ost und die Förderung der Kultur in den neuen beit, wie sie nach den Hartz-III-Vorstellungen heißen Ländern anzusprechen. wird, helfen. Auch ABM, SAM und Wiedereingliede- ( [CDU/CSU]: Ich denke auch, rungshilfen müssen in der Bilanz berücksichtigt werden. dass das angesprochen werden muss!) Diese Hilfen werden uns immer wieder bei Veranstaltun- gen in den alten Bundesländern vorgeworfen, wenn es Ich glaube schon, dass mit dem Goldenen Plan Ost in um den Vergleich von neuen Bundesländern und struk- den Ländern und Kommunen Investitionen angeschoben turschwachen Regionen in den alten Bundesländern werden können. geht. Ich erkenne durchaus an, dass es zum Beispiel in (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ der Oberpfalz und im Ruhrgebiet durchaus Regionen DIE GRÜNEN) gibt, in denen die Arbeitslosenquote wie bei uns bei über 20 Prozent liegt. Aber an die alten Bundesländer – das Vor allen Dingen würde es der Innenminister an seiner hat Minister Stolpe hier angeführt – grenzen wirtschaft- Kriminalitätsstatistik merken, wenn es gelingt, das eh- lich sehr viel stärkere Regionen an, im Gegensatz zu den renamtliche Engagement zu stärken und in den Vereinen neuen Bundesländern. etwas für junge Leute aufzubauen, das nicht hinterher wieder weggenommen wird. Das wäre ebenso wichtig Hinzu kommt ein spezielles ostdeutsches Problem bei wie die Förderung der Kultur in den neuen Ländern. der demographischen Entwicklung. Das ist der so ge- nannte Wendeknick. Dieser wird in einigen Jahren Aus- Im Zusammenhang mit dem Sanierungsprogramm wirkungen auf die Ausbildungsplatzsituation in den „Dach und Fach“ könnte ich die Wohnungsbau- und neuen Bundesländern haben. Dann werden dort junge Stadtentwicklungspolitik der Bundesregierung beim Menschen fehlen, die von den Unternehmen gesucht wer- Namen nennen. Ich kann mich nicht erinnern, dass es bis den. Das wird auch gravierende Folgen für die Transfer- 1998 so etwas wie unsere Programme Soziale Stadt, 5630 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2003

Siegfried Scheffler (A) Stadtumbau Ost und Denkmalschutz in der gegenwärti- samt in einem gesellschaftlichen Umwälzungsprozess (C) gen Höhe gegeben hätte. Das betrifft Brandenburg befinden, der schon epochalen Charakter hat. ebenso wie Sachsen-Anhalt oder Mecklenburg-Vorpom- In diesem Kontext muss man den 16. Oktober 1978 mern. Wir Berliner profitieren vor dem Hintergrund der erwähnen, an dem ein Mann in ein wichtiges Amt ge- schwierigen Haushaltslage in erheblichem Maße davon, wählt wurde. Aus diesem Grund wurde an den Unis in dass hier Mittel bereitgestellt werden. Ich behaupte, Ihre der DDR im wissenschaftlichen Kommunismus seiner- Bauminister hätten davon noch nicht einmal geträumt. zeit die Botschaft verkündet, in dieser Nacht sei ein An- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten schlag des Imperialismus auf die sozialistische Staaten- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) gemeinschaft verübt worden, ein Pole sei zum Oberhaupt der katholischen Kirche gewählt worden. Das Gleiche gilt für den Ausbau der Verkehrsinfra- Das war ein ganz wichtiges Ereignis, das die Bürgerbe- struktur. Insofern verstehe ich überhaupt nicht, Minister wegung in Polen, in Europa insgesamt befördert hat und Schönbohm, dass Sie dieses Thema hier so negativ dar- das dazu beigetragen hat, dass der Eiserne Vorhang letzt- gestellt haben. lich gefallen ist. Diesem Mann möchte ich zu Beginn (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Keine Ah- meiner Rede zu seinem 25-jährigen Dienstjubiläum die nung auf hohem Niveau!) Reverenz erweisen. Wenn ich über die Lande in Brandenburg fahre, also (Beifall bei allen Fraktionen) dort, wo der Bund Verantwortung für die Verkehrsinfra- Ich möchte nun auf meinen Kollegen Scheffler einge- struktur trägt und auch schon unter der alten Bundesre- hen. Er hat hier auf interessante Weise dargestellt, wie in gierung Verantwortung getragen hat, – Ostdeutschland Investitionen gerade im Bereich der wei- chen Standortfaktoren weiter befördert werden, und hat Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: den Goldenen Plan Ost angesprochen. Wenn ich mei- Herr Kollege Scheffler, denken Sie freundlicherweise nen Kollegen Riegert richtig verstanden habe, so sind in an die Überschreitung der Redezeit, sodass die Schilde- den Haushaltsberatungen die Mittel im Goldenen Plan rung der Eindrücke aus den Fahrten über Land etwas Ost auf null gefahren worden. Im Goldenen Plan Ost knapper ausfallen muss. sind für die neuen Bundesländer überhaupt keine Inves- titionen mehr vorgesehen. Das halte ich für sehr besorg- (Heiterkeit) niserregend. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Siegfried Scheffler (SPD): (B) Weiterhin ist besorgniserregend – Herr Stolpe, das (D) – dann kann ich schon eine gut ausgebaute Infrastruk- können Sie tagtäglich aus den Zeitungen erfahren –, dass tur erkennen. die Einnahmen aus der Maut fehlen, die für die Infra- Ich komme zum Schluss. Ich kann Minister Stolpe struktur verwendet werden sollten. Wir können uns nur ermuntern, dass er in den Beratungen des Kabinetts heute nicht hier hinstellen und verkünden, wir würden in und wir als Parlament in den Haushaltsberatungen bzw. den neuen Bundesländern die Verkehrsprojekte Deut- in den Sitzungen, in denen es um Haushaltsbereinigung sche Einheit zu Ende bringen und zusätzliche Straßen geht, über die Bereiche Bürokratieabbau, Verkehrsinfra- bauen. Ich will Ihnen die Wahrheit sagen: Im Vermitt- struktur und insbesondere Innovationen in Forschung lungsausschuss ist vereinbart worden, dass über und Bildung eine Verstetigung der Mittel erreichen, so- 1 Milliarde Euro für die Infrastruktur im Straßenbau zur dass hier wie bisher das hohe Niveau gehalten werden Verfügung gestellt werden. Was ist das Ende vom Lied? kann. Der Haushaltsansatz wurde gekürzt. Es wurden nur noch 200 Millionen Euro draufgelegt. Das wird alte und neue Ich danke Ihnen. Bundesländer gemeinsam treffen. Gegen diesen Dilet- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ tantismus, der von der Bundesregierung hinsichtlich DIE GRÜNEN) Maut und Verkehrsinfrastruktur zurzeit betrieben wird, müssen wir uns wehren. Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zu- Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt er- ruf von der SPD) hält der Kollege Werner Kuhn für die CDU/CSU-Frak- – Lassen Sie Herrn Mangold in Ruhe! Schauen Sie sich tion das Wort. besser die Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts in (Beifall bei der CDU/CSU) den neuen Bundesländern im letzten Jahr an! Es ist erst- mals seit 1991 auf 60 Prozent des Niveaus in den alten Bundesländern geschrumpft. Werner Kuhn (Zingst) (CDU/CSU): (Siegfried Scheffler [SPD]: 0,2 Prozent Rück- Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und gang! Das haben wir schon angesprochen!) Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bei aller Nüchternheit der Zahlen, die wir in diesem Jahresbericht Die Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts beschreibt zum Stand der deutschen Einheit nachlesen können, dür- die Lage insgesamt: Wir haben im Osten eine Arbeitslo- fen wir nicht verkennen, dass wir uns in Europa insge- sigkeit von 20 Prozent. Sie ist doppelt so hoch wie im Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2003 5631

Werner Kuhn (Zingst) (A) Westen. Die gut ausgebildeten, mobilen jungen Men- (Siegfried Scheffler [SPD]: Das ist doch (C) schen verlassen unser Land; das wurde heute in dieser unerhört!) Debatte immer wieder angebracht. Hier muss endlich ein Aktionsplan in Angriff genommen (Dr. Uwe Küster [SPD]: Faden finden!) werden, damit Sie mehr Arbeit in die neuen Bundeslän- der bringen. Als allererstes muss hier eine Industriepoli- Das ist besorgniserregend. Diese Menschen stehen uns tik gestartet werden, die ihren Namen verdient. nämlich nicht nur als Humanressourcen nicht mehr zur Verfügung, sondern auch als zukünftige Existenzgrün- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- der, als unsere Köpfe für die kleinen und mittelständi- neten der FDP) schen Unternehmen. Es gibt gerade im verarbeitenden Gewerbe etliche (Maria Michalk [CDU/CSU]: Als Familien!) hoffnungsvolle Ansätze. Früher haben wir immer darü- ber diskutiert, dass die Lohnstückkosten in Deutschland Deshalb ist das sehr problematisch. zu hoch sind, dass es keine vernünftige Auslastung gibt, Von der Bundesregierung muss etwas unternommen dass die Maschinenlaufzeiten zu gering sind usw. Mitt- werden. Uns steht noch kein Aufbauplan Ost, aufge- lerweile haben sich im verarbeitenden Gewerbe sehr schrieben von dieser Bundesregierung, federführend gute Unternehmen herausgebildet, die eine Wettbe- Herr Stolpe, zur Verfügung, über den wir debattieren werbsposition erreicht haben. Das gilt besonders in den könnten. Eine Stunde wird uns gerade einmal für ein so Ländern Sachsen, Thüringen und Sachsen-Anhalt, in de- wichtiges wirtschaftspolitisches Thema zur Verfügung nen die Landesregierungen für eine Kofinanzierung und gestellt. -förderung sorgen. Das muss man einmal positiv erwäh- nen. (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist zu wenig! Viel zu wenig!) Die Konjunktur insgesamt befindet sich in einer abso- lut desolaten Lage. Sie müssen erst einmal dafür Sorge Man könnte drei Stunden darüber diskutieren. Minister- tragen, dass die Binnenkonjunktur wieder in Gang präsident Milbradt hat das ganz eindeutig gesagt. Es kommt. Die privaten Haushalte sind mit ihren Investitio- muss viel mehr Zeit investiert werden. Wir dürfen das nen sehr zögerlich, weil sie nicht wissen, welche private Thema Aufbau Ost nicht nonchalant einem Minister an- Vorsorge in der Renten- und Krankenversicherung in vertrauen, der die meiste Osterfahrung hat, bei dem aber Zukunft für sie erforderlich ist. Dies alles ist Teil einer nichts passiert. strukturellen Krise. Hier müssen die Reformen möglichst (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – schnell zu Ende gebracht werden, damit jeder genau weiß, (B) Siegfried Scheffler [SPD]: Das ist Quatsch! welche Vorsorge für sich persönlich in Zukunft notwendig (D) Blödsinn!) ist. Dann wird auch die Binnenkonjunktur wieder ansprin- gen. Herr Scheffler, jetzt wartet eure Fraktion darauf, dass Ministerpräsident Milbradt einen Aktionsplan vorlegt, Im Moment bleiben die öffentlichen Aufträge aus. den ihr dann abschreiben könnt, sodass ihr euch in die- Die Haushalte der Gemeinden, Städte und Landkreise sem Bereich wieder gut verkaufen und positionieren sind am absolut unteren Niveau angekommen. könnt. (Ludwig Stiegler [SPD]: Nur jammern!) (Siegfried Scheffler [SPD]: Wir sind schon Sie können leider keine Investitionen mehr tätigen. Des- lange so weit!) halb ist es notwendig, dass die Gemeindefinanzreform So spielen wir nicht. Hier werden Sie unseren erbitterten so schnell wie möglich greift. Widerstand spüren. Es fehlt ein schlüssiges Konzept der Bundesregie- Die Menschen in den neuen Ländern fallen in eine ge- rung. wisse Mutlosigkeit und Resignation; das muss man so sagen. Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: (Ludwig Stiegler [SPD]: Jeder, der Sie reden Herr Kollege Kuhn, würden Sie zur Verlängerung Ih- hört, wird resignativ!) rer Redezeit nun eine Zwischenfrage des Kollegen Scheffler zulassen? Für die Eltern und Großeltern ist es sehr bedauerlich, wenn die jungen Leuten fortgehen. Das sollten sie natür- lich auch sagen. Sie werden aber auch von der Bundesre- Werner Kuhn (Zingst) (CDU/CSU): gierung verlassen, die ihnen seinerzeit große Verspre- Ich warte schon sehr darauf. Ich hoffe nicht, dass er chungen gemacht hat. Die Bundesregierung ist in den enttäuscht sein wird. neuen Bundesländern mit über 40 Prozent wieder in die- (Dr. Uwe Küster [SPD]: Siggi, hilf ihm, seinen ses Amt gewählt worden. Hier helfen Ihnen keinesfalls Faden zu finden!) die platten Parolen – Sie sagten: „Lieber mit Schröder in der Arbeitslosigkeit als mit Stoiber im Krieg“ –, die Sie über die Marktplätze getragen haben. Sie wollen die Siegfried Scheffler (SPD): erste Androhung doch nicht etwa tatsächlich wahrma- Lieber Werner Kuhn, Sie kommen ja aus Mecklen- chen! burg-Vorpommern, das in diesem Jahr wahrscheinlich 5632 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2003

Siegfried Scheffler (A) Tourismusland Nummer eins ist und sich im Jahre 2002 In der Rede des Bundesfinanzministers bei der Haus- (C) mit Bayern um diesen Platz gestritten hat. haltseinbringung tauchten nur Marginalien wie Entfer- nungspauschale und eine mögliche Änderung der Eigen- (Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. ) heimzulage auf. Daher muss ich schon sagen, dass dies Ich bin in Mecklenburg-Vorpommern sehr viel unter- sehr verwunderlich ist. Der erste Kaufmann unserer Na- wegs. Stimmen Sie mir zu, dass das, was dort bei der tion muss doch erst einmal die Einnahmeseite vernünftig Verkehrsinfrastruktur, der Wohnungsbauförderung, den erklären und deutlich machen, welche Steuer zu Einnah- Existenzgründungen und durch entsprechende Förderpro- men in welcher Höhe führt. Er muss andererseits aufzei- gramme insbesondere in den vergangenen Jahren – ich gen, welche Kosten auf uns zukommen. Danach wird gebe zu: auch schon seit 1992 – durch die rot-grüne eine Gewinn- und Verlustrechnung aufgemacht, wobei Bundesregierung geschehen ist, dazu beigetragen hat, ein riesiger Verlust herauskommt. Dieser Verlust muss dass Mecklenburg-Vorpommern zum Tourismusland entweder durch Kredite oder durch einen Liquiditätskre- Nummer eins in Deutschland werden konnte? dit ausgeglichen werden. Da ich dort oft unterwegs bin und die Unternehmen Diese betriebswirtschaftliche Analyse muss für die und Bauernhöfe besuche – ich kenne sehr viele Höfe Deutschland AG, die Bundesrepublik, gemacht werden. dort –, weiß ich, dass der Bericht, den Sie hier der Öf- Dabei wird sich herausstellen, dass dieser Liquiditäts- fentlichkeit vorgetragen haben, in keinster Weise zutrifft. kredit möglichst in zwei oder zweieinhalb Jahren abge- baut werden muss. Danach kommt der Break-even- Werner Kuhn (Zingst) (CDU/CSU): Point. Durch das wirtschaftliche Wachstum sind dann höhere Steuereinnahmen zu erwarten. – Das, was Sie er- Verehrter Herr Kollege Scheffler, dieser Bericht trifft zählen, ist doch nur blauer Dunst. Davon lässt sich nichts natürlich schon zu. Wir dürfen uns nämlich nicht einfach verwirklichen. nur fragen, wie wir das Dienstleistungsgewerbe, die Ser- viceunternehmen und was weiß ich noch alles in (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Deutschland fördern, und dabei unser „core business“, neten der FDP) unsere Kernkompetenzen, total vernachlässigen. In un- Mit dem Thema Bürokratieabbau beschäftigen wir uns serer Industrielandschaft gibt es eine Entvölkerung. Hier immer wieder. In den neuen Bundesländern sollte als Erstes ist aber eine größere Wertschöpfung möglich. Daher ein Pilotprojekt zum Bürokratieabbau starten. Denn die muss man so arbeiten, dass man Kapital dort generiert Bürokratie hat eher zu- als abgenommen. In der letzten und Leute dort in Arbeit bringt. Alles andere hat nur ei- Wahlperiode sind 24 Änderungsgesetze zum Einkom- nen sehr kurzen Bestand. mensteuergesetz eingebracht worden. Durch 118 Ge- (B) Wir haben schließlich bis 1998 die Regierungsverant- setze und 87 Verordnungen muss sich jeder quälen, der (D) wortung gehabt und das Erreichte ist nicht einfach vom ein Unternehmen neu gründen oder den Bestand erhalten Himmel gefallen. will. Ein Unternehmer beschäftigt sich Dreiviertel des Tages nur mit diesen Regelungen und um sein eigentli- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- ches Geschäft kann er sich nicht kümmern. Das kann so neten der FDP – Eduard Oswald [CDU/CSU]: nicht weitergehen. Hier muss aufgeräumt werden. Das war eine gute Zeit für Deutschland!) Genauso ist es beim Arbeitsrecht. Das trifft für die Im Bezug auf die Infrastruktur in unseren Städten und neuen wie für die alten Bundesländer zu. Das alte bun- Gemeinden haben wir mit der Städtebauförderung viel desrepublikanische Rechtssystem mit allen Verordnun- geleistet. gen und Vorschriften für die Wirtschaft hat – das müssen (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) wir einfach konstatieren – die Herausforderungen des Aufbaus Ost nicht bestehen können. Die Bundesregie- Die kommunale Wohnungsverwaltung der DDR hat rung ist gefordert, entsprechende Änderungen auf den doch den Slogan gehabt: Ruinen schaffen ohne Waffen. Weg zu bringen. Dazu ist die Opposition auf jeden Fall Wohnblocks wurden einfach auf die grüne Wiese gesetzt bereit. Wir sind immer und die Infrastruktur wurde vernachlässigt. Schauen Sie sich unsere Städte genau an. Dann wissen Sie, dass die (Klaus Brähmig [CDU/CSU]: Immer bereit!) Transferleistungen richtig angelegt sind. in der Lage, diese Initiativen aufzugreifen. Ich war mit meiner Rede noch gar nicht fertig. Wichtig ist aber auch, dass die ostdeutschen Regionen unbedingt die Ziel-1-Förderung bei der Gemeinschafts- (Zurufe von der SPD: Doch!) aufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruk- Lieber Siegfried Scheffler, wir müssen uns darauf kon- tur“ behalten. Die neuen Bundesländer dürfen nicht zwi- zentrieren, wie wir den Osten tatsächlich nach vorne schen die Mühlsteine der reichen Regionen im Westen bringen können. Dies kann nicht mit Minijobs oder mit und der Billiglohnländer im Osten geraten. Wenn der der Förderung des Dienstleistungs- und Tourismusge- Europäischen Union noch mehr Länder mit einem nied- werbes erreicht werden, sondern wir müssen Industrie- rigen Bruttoinlandsprodukt beitreten, dann wird das Ni- politik machen. Diese Industriepolitik vermisse ich. veau weiter gesenkt und die neuen Länder werden mög- licherweise zu einem Ziel-3-Gebiet. (Siegfried Scheffler [SPD]: Das ist eine Frech- heit! Was ist mit dem Hafenausbau und der (Klaus Brähmig [CDU/CSU]: Dazu darf es Hinterlandanbindung?) nicht kommen!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2003 5633

Werner Kuhn (Zingst) (A) Dagegen müssen wir gemeinsam kämpfen. Das trifft weisen. Sind Sie einverstanden? – Das ist der Fall. Dann (C) übrigens auch auf die Förderung in den alten Bundeslän- ist die Überweisung so beschlossen. dern zu. Das sind Tatsachen. Die Investitionszulage Ich rufe die Tagesordnungspunkte 6 a bis 6 c auf: muss umgebaut werden. So, wie sie jetzt gestaltet ist, führt sie nicht zum Ziel. Ich sage Ihnen: Sie müssen die a) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Industriepolitik verbessern. Synergieeffekte und Investi- Dirk Fischer (Hamburg), Eduard Oswald, Georg tionen, durch die Arbeitsplätze geschaffen werden, müs- Brunnhuber, weiterer Abgeordneter und der Frak- sen kombiniert werden. Zum Vergleich: Das Bruttoin- tion der CDU/CSU landsprodukt unseres Spitzenreiters Sachsen in den neuen Bundesländern liegt bei 17 358 Euro pro Kopf. Aktuelle Eisenbahnpolitik in der 15. Wahl- Die rote Laterne in den alten Bundesländern hat Nord- periode rhein-Westfalen; dass muss ich leider so sagen. In NRW – Drucksachen 15/234, 15/1106 – liegt das Bruttoinlandsprodukt aber bei 22 957 Euro pro Kopf. Das zeigt, dass die Schere zu weit auseinander b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Horst klafft und wir diese besondere Förderung brauchen. Friedrich (Bayreuth), Rainer Brüderle, , weiterer Abgeordneter und der Frak- Für die gegenwärtige desolate Wirtschafts- und Haus- tion der FDP haltslage in der Bundesrepublik Deutschland wird alles Mögliche verantwortlich gemacht. Der 11. September, Zurückdrehen der Bahnreform stoppen die schwache Binnenkonjunktur und die allgemeine – Drucksache 15/1591 – weltwirtschaftliche Lage werden als Argumente ange- Überweisungsvorschlag: führt. Aber Herr Eichel hat es auf den Punkt gebracht Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen – für ihn ist die Lage klar –: Hauptgrund für die düstere Misere sind die Folgen der deutschen Einheit mit ihren c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- hohen Transfers. Dies sind die Ursachen für die Wachs- richts des Ausschusses für Verkehr, Bau- und tumsschwäche. Wohnungswesen (14. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Horst Friedrich (Bayreuth), (Klaus Brähmig [CDU/CSU]: Das ist Rainer Brüderle, Jörg van Essen, weiterer Abge- Quatsch!) ordneter und der Fraktion der FDP Hier wird immer nur über die Transferleistungen ge- Einsetzung einer Kommission der Bundesre- sprochen. Dabei wird offensichtlich vergessen, dass wir gierung zur Fortsetzung der Bahnreform in Ostdeutschland mit 16 Millionen Einwohnern ein in- (B) teressanter Markt sind, und zwar auch für Unternehmen – Drucksachen 15/66, 15/1294 – (D) aus den alten Bundesländern. Eine gesamtwirtschaftli- Berichterstattung: che Bilanz würde die Situation aufhellen. Nur so können Abgeordnete Karin Rehbock-Zureich wir das Werk der deutschen Einheit wieder gemeinsam in Angriff nehmen. Aber ich erwarte auch ein Umden- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die ken von der Bundesregierung. Das muss ich ganz ein- Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Widerspruch höre deutig sagen. ich nicht. Dann ist so beschlossen. (Beifall bei der CDU/CSU) Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst der Abgeordnete Klaus Lippold. Wir sind letztendlich nicht nur mit einer Stunde Debat- tenzeit über dieses wichtige Thema bedient, sondern wir (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) sind auch mit einem Minister bedient, der sozusagen mit der Maut total überfordert ist Dr. Klaus W. Lippold (Offenbach) (CDU/CSU): (Zuruf von der FDP: Die sind schon ohne Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Maut überfordert!) Herren! Wir haben in der letzten Zeit sehr viel über das Thema Straße und das Thema Maut diskutiert und fest- und überhaupt keine Aktivitäten mehr in den Aufbau Ost gestellt, dass die Bundesregierung völlig dabei versagt einbringen kann. Hier muss sich etwas ändern. Da müs- hat, das anstehende Problem zu lösen. Das hat davon ab- sen sich möglicherweise auch Köpfe ändern. gelenkt, dass wir einen weiteren wesentlichen Bereich in der Verkehrsinfrastrukturpolitik haben, nämlich die Herzlichen Dank. Bahnpolitik. Hier kommen wir genauso zu der Feststel- (Beifall bei der CDU/CSU) lung, dass die Bundesregierung und insbesondere das Verkehrsministerium unter Führung von Minister Stolpe das Ziel eindeutig verfehlt hat. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Ich schließe die Aussprache. Wir diskutieren im Moment über den Börsengang; aber das eigentliche Versagen liegt darin, dass die beiden Interfraktionell wird vorgeschlagen, den Jahresbericht Ziele, die mit der Bahnreform verbunden waren, nämlich auf Drucksache 15/1550 an die in der Tagesordnung auf- auf der einen Seite mehr Verkehr auf die Schiene zu geführten Ausschüsse sowie an den Ausschuss für Ver- bringen und auf der anderen Seite die Bahnreform zu braucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft zu über- vollenden, eindeutig verfehlt worden sind. 5634 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2003

Dr. Klaus W. Lippold (Offenbach) (A) Ich halte das für mehr als falsch. Wir müssen feststel- die das, was der frühere Bundesverkehrsminister einmal (C) len, dass im Personenverkehr die Verkehrsleistung im auf einem grünen Parteikongress zum Ausdruck ge- vergangenen Jahr um mehr als 6 Prozent zurückgegangen bracht hat, entsprechend umsetzen. ist. Im Güterverkehr ist sie um 3 Prozent geschrumpft. Dieser Trend setzt sich fort, und das trotz der immensen Aber offensichtlich wird die Bahnpolitik nicht mehr Steuermittel, die wir für die Bahn aufbringen. Seit Be- von dieser Bundesregierung gestaltet. Vielmehr hat Herr ginn der Bahnreform haben die Steuerzahler 94 Milliar- Mehdorn einen völlig unangemessenen Handlungsspiel- den Euro in den Konzern gesteckt und für das Eisenbahn- raum, sodass sich die Frage stellt, wer eigentlich regiert: wesen insgesamt 170 Milliarden Euro ausgegeben. Stolpe oder Mehdorn? Früher habe ich diese Frage nicht beantworten wollen, weil Herr Stolpe erst seit kurzem Wenn ich jetzt die Effizienz dessen betrachte, dann im Amt war. Aber inzwischen ist eindeutig erkennbar, stelle ich fest, dass die Verkehrsleistungen sowohl auf dass sich Herr Stolpe ähnlich wie Herr Bodewig in die- der Schiene als auch die Leistungen in anderen Berei- sen entscheidenden Fragen nicht durchsetzen kann und chen rückläufig sind. Das ist eine eindeutige Verfehlung. dass die Dinge deshalb völlig falsch laufen. Hier hätte Bahnpolitik ansetzen müssen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wir wissen, dass wir mit der EU-Osterweiterung noch dringender eine Entlastung der Straßen vom Ver- Wir müssen nach wie vor auch in Erinnerung rufen, kehr brauchen. Also brauchen wir die Schiene umso dass, um ein Funktionieren der Bahn sicherzustellen die mehr. Trotzdem ist in dieser Frage nichts erreicht wor- Wettbewerbsbedingungen in Deutschland mit den Be- den. dingungen gleichgestellt werden müssen, die für die Bahnen in anderen europäischen Ländern gelten. Des Weiteren müssen wir monieren, dass eine konse- quente Umsetzung des Wettbewerbsprinzips nicht er- (Lachen bei der SPD) reicht wurde und dass es keine stabilen Wettbewerbsbe- Notwendig ist eine Harmonisierung der fiskalischen Be- dingungen in Form eines diskriminierungsfreien lastungen. Zugangs auch anderer Unternehmen als der DB AG zum Schienennetz gibt. Eine weitere zentrale Forderung von (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Sehr richtig!) uns ist die dezentrale Organisationsform, der Wegfall der Diese ist bislang nicht erfolgt. Keine andere Bahn in Eu- Holding, die Privatisierung der Einzelgesellschaften und ropa wird mit dem vollen Mineralölsteuersatz belastet. damit die Realisierung der dritten Stufe der Bahnreform. An dieser Stelle besteht Korrekturbedarf. Die Schienen- Ich halte noch einmal fest: Das alles ist nicht erreicht. verkehrsunternehmen in Deutschland sind im Gegensatz Die Straßen wurden nicht entlastet, die DB AG verschul- zu der überwiegenden Zahl der anderen EU-Mitglied- (B) (D) det sich immer mehr, Mehdorn setzt statt auf Dezen- staaten mehrwertsteuerpflichtig. tralisierung auf Zentralisierung durch Stärkung der (Ludwig Stiegler [SPD]: Was sagt denn Koch Holdingstrukturen und erklärt damit de facto die Bahn- dazu?) reform für beendet. Der Börsengang steht durch schlechte Unternehmensbilanzen infrage. Ich meine, wenn wir uns schon konsequent für die Bahn einsetzen wollen, die wir auch brauchen, dann Ich will hier eines noch einmal deutlich machen: Ich müssen klare und faire Wettbewerbsbedingungen ge- glaube, dass es nicht gut war, dass die Bundesregierung schaffen werden. Diese sehe ich aber zurzeit nicht. diese Frage offen strittig diskutiert hat, dass die einen den Börsengang haben laufen lassen und die anderen, Wenn es um die Frage geht, wie die Bundesregierung wie zum Beispiel Frau Wolf deutlich gemacht hat, der ihre Verantwortung für ein leistungsfähiges Schienen- Meinung waren, dass der Börsengang umgehend reali- netz wahrnimmt, wird darauf verwiesen, dass sie dies siert werden soll. So kann man in der Sache nicht vorge- unter Einbeziehung der Mittel aus den künftigen Maut- hen. Das ist völlig daneben und schadet der Bahn. einnahmen macht. Ich will an dieser Stelle verdeutli- Die Diskussion dieser Frage in der Öffentlichkeit hat chen: Wer in Antworten auf unsere Anfragen auf die zur Folge, dass ein ähnlicher Eindruck durchaus entsteht Einnahmen aus der Maut verweist, liegt ja wohl völlig wie bei der Einführung der Maut: Die einen reden so, die falsch. Denn bisher konnte noch kein einziger Cent flie- anderen so; es gibt kein klares Konzept. Ich meine, das ßen und die Termine 1. Januar und, nach Meinung vieler, muss endgültig ein Ende haben. auch der 1. April können ebenfalls nicht eingehalten werden. Vielmehr wird die Einführung der Maut bis weit (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) in das kommende Jahr verschoben werden müssen. Ob- wohl Sie also in absehbarer Zeit keine Einnahmen aus Ich gehe davon aus, dass der Börsengang nicht nur an der Maut erzielen, verweisen Sie darauf. Das ist unhalt- der fehlenden Kapitalmarktfähigkeit auf absehbare Zeit bar. Sie sollten endlich zu soliden Ausführungen zurück- scheitern wird, sondern dass er de facto nicht in Frage kehren, die deutlich machen, dass Sie auf eichelschen kommt, solange keine Trennung von Netz und Betrieb Druck die Mittel für die Verkehrsinfrastruktur im Bun- erfolgt. Aus Insiderkreisen – insbesondere aus Banken- deshaushalt nicht reduzieren, sondern dass Sie diese kreisen – wird das zunehmend kritisch beurteilt. Ich Mittel mindestens im bisherigen Umfang erhalten, und meine, hierzu sollte die Bundesregierung Vorstellungen dass die Mauteinnahmen nicht dazu gedacht sind, die entwickeln, sinkenden Haushaltsansätze zu kompensieren. Das ist (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Sehr wahr!) auch die klare und deutliche Linie der EU. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2003 5635

Dr. Klaus W. Lippold (Offenbach) (A) Sie verfehlen die EU-Zielsetzungen, die deutlich be- Ich möchte lediglich auf zwei Sachverhalte hinweisen. (C) sagen, dass Mittel wie die Mauteinnahmen nicht dazu Der eine ist: Der jetzige Verkehrshaushalt liegt 1,5 Mil- gedacht sind, Haushaltslöcher zu stopfen. Kehren Sie liarden Euro über dem, was Sie 1998 eingestellt hatten. deshalb endlich wieder zu den notwendigen Vorgehens- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ weisen zurück! Sofern Mauteinnahmen in einer derzeit DIE GRÜNEN – Horst Friedrich [Bayreuth] noch nicht absehbaren Zeitspanne fließen, sollten diese [FDP]: Falsche Zahlen werden auch nicht zur schnelleren Realisierung von Verkehrsprojekten dem durch ständiges Wiederholen richtiger!) Haushalt additiv zugute kommen. Ich glaube, dass das der richtige Weg ist, den wir beschreiten sollten. Der andere ist: Nicht das Ministerium verlängert die Ver- träge mit Herrn Mehdorn. Vielleicht erkundigen Sie sich Ich möchte angesichts des öffentlichen Erschei- einmal, wer dafür zuständig ist. Das Ministerium ist es nungsbildes der Deutschen Bundesbahn noch eines jedenfalls nicht. ausführen: Wir sollten auch deutlich machen, dass Füh- rung gefordert ist. Die misslungene Preisreform hat viel 1994 ist die Bahnreform mit großer Einigkeit verab- Lärm um nichts erzeugt. Aber derjenige, der sie zu ver- schiedet worden. Man war sich über die Ziele einig. Es antworten hatte, wurde mit ein paar Bauernopfern gerettet handelt sich übrigens nicht um zwei, sondern um vier und gleichzeitig – obwohl er diesen Mist gebaut hatte – Ziele. Das erste Ziel war die Umwandlung der Sonder- noch durch eine vorzeitige Vertragsverlängerung geför- vermögen „Deutsche Bundesbahn“ und „Deutsche dert. Auch diesen Fehler hat das Ministerium begangen. Reichsbahn“ in ein privatrechtlich geführtes, gewinn- So etwas sollte künftig nicht mehr passieren. orientiertes Wirtschaftsunternehmen. Das zweite Ziel war die Entlastung der Steuerzahler. Das dritte Ziel war (Beifall bei der CDU/CSU) die Verhinderung weiterer Marktanteilsverluste der Bahn Sie sollten Ihre Kontrollaufgaben auch wahrnehmen, im Personen- und im Güterverkehr. Das vierte Ziel war wenn es um die schnellere Beseitigung von Zugdefekten die Öffnung des DB-Netzes für andere Eisenbahnunter- und Kostensteigerungen bei Prestigeobjekten geht, in- nehmen zu diskriminierungsfreien Bedingungen. dem Sie ein besseres Controlling einführen. Sie haben Letztlich ist das ein Beschluss gewesen, um den Nie- das erforderliche Controlling bei der Mauteinführung dergang der Bahn bzw. der Bahnen zu stoppen. Das ist nicht geleistet. Wie wir feststellen müssen, leisten Sie es kein deutsches Phänomen. Aber wir haben mit der Bahn- auch nicht in der Bahnpolitik. reform, denke ich, sehr konsequent und richtig darauf reagiert. Jedenfalls geben uns die Ergebnisse und die (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Höchst interes- Produktivität Recht; denn beide haben sich positiv ent- sant!) wickelt. (B) (D) Alles in allem – von der Verfehlung der Ziele der Bahn- (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Sie sollen sa- reform bis hin zu der Verfehlung des Ziels, Verkehr von gen, was Sie nicht gemacht haben!) der Straße auf die Schiene zu bringen – betreiben Sie eine falsche Bahnpolitik, weil Sie die Dinge laufen las- Ich weiß nicht, woher Sie Ihre Zahlen haben, Herr sen und nicht konsequent und entschieden handeln und Lippold. Aber seit der Bahnreform weisen der Personen- weil Sie vor allen Dingen Ihrer Kontrollaufgabe gegen- verkehr ein Plus von 11 Prozent und der Güterverkehr ein über der Deutschen Bahn nicht im notwendigen Umfang Plus von 13 Prozent auf. Ich möchte auch die Arbeitspro- gerecht werden. duktivität besonders herausstellen, die um ungefähr 150 Prozent gestiegen ist. Deshalb sollte man großen Re- Herzlichen Dank. spekt vor den Eisenbahnerinnen und Eisenbahnern ha- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – ben. Eduard Oswald [CDU/CSU]: Die Antwort (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ wird sehr spannend werden! Mal schauen, was DIE GRÜNEN) die Staatssekretärin zu sagen hat!) Nennen Sie mir nur ein Unternehmen, das so etwas in dieser kurzen Zeit geschafft hat! Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Die Verkehrsleistungen sind im Personenverkehr ge- Für die Bundesregierung hat jetzt die Parlamentari- stiegen. Im Güterverkehr ist die Entwicklung allerdings sche Staatssekretärin Angelika Mertens das Wort. hinter unseren Erwartungen zurückgeblieben. Das liegt an der besonderen Konkurrenzsituation in diesem Be- Angelika Mertens, Parl. Staatssekretärin beim Bun- reich. Aber auch hier bewegt sich einiges. Schauen Sie desminister für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen: sich einmal genau an, was es in diesem Bereich außer Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolle- der DB noch alles gibt! Besonders die so genannten Pri- ginnen und Kollegen! Herr Lippold, Sie sprachen gerade vaten sind hier im Kommen. Auch im Bereich des kom- von der „Deutschen Bundesbahn“. Ich denke, das war so binierten Verkehrs kann sich das, was sich im Moment etwas wie ein freudscher Versprecher. Es kann auch nur entwickelt, sehen lassen. Es ist auch ein Ergebnis der ein Versprecher gewesen sein. Umsetzung der vier Ziele, dass wir die Voraussetzungen für den Wettbewerb auf der Schiene geschaffen haben. (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Es schadet nicht, Darüber sollten Sie einmal nachdenken. Nennen Sie mir wenn das Wort „deutsch“ dabei ist!) nur ein Land in Europa, das mehr Verkehrsunternehmen 5636 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2003

Parl. Staatssekretärin Angelika Mertens (A) im Netzbereich vorzuweisen hat! Ich glaube, dass Sie sein. Sie können ganz beruhigt sein, die organisatorische (C) keines finden werden. und die rechnerische Trennung der Unternehmensberei- che nach § 25 Bahngründungsgesetz sind in keiner (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Weise verletzt. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Opposition ist bekanntlich jener erkenntnisfördernde Die parlamentarische, aber auch die außerparlamenta- Zustand, in dem eine Partei zu der Einsicht kommt, dass rische Auseinandersetzung mit der Bahn lässt den Ver- Missstände, die während ihrer eigenen Regierungszeit dacht aufkommen, dass die Vaterschaft bzw. die Mutter- zu klein und unbedeutend waren, nun wirklich überhand schaft der Bahnreform infrage gestellt werden und dass nehmen. die Debatte immer kleinkarierter wird. Ich möchte nichts beschönigen. Die Bahn muss in der Tat besser werden. (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Das sagt Man ist sich logischerweise des Beifalls der Öffentlich- die Richtige!) keit sicher, wenn man über seine Erlebnisse mit der Bahn bzw. den Bahnen berichtet. Ich ärgere mich ge- Herr Lippold, Sie haben die Harmonisierung in der fis- nauso. Vom Kunden kann man nicht erwarten, dass er kalischen Belastung angesprochen. Als Sie an der Re- hier differenziert. Aber wir können das sehr wohl und gierung waren, hatten Sie wirklich genügend Zeit, das zu sollten es auch tun. ändern. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Ludwig Stiegler [SPD]: 16 zu lange Jahre!) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Es ist natürlich Ihr gutes Recht, als Opposition so zu rea- Eigentlich sollte es völlig egal sein, um welchen Ver- gieren. Ich kann nur sagen: Sie sollten in Ihrem eigenen kehrsträger es geht, ob um das Flugzeug, die Bahn oder Interesse den Anschluss – vor allen Dingen den europäi- den Bus. Ich habe aber manchmal den Eindruck, dass schen Anschluss –, was die Bahn angeht, nicht verlieren. wir das, was im Luftverkehr schief geht, in der Regel (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten sehr viel gelassener hinnehmen. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Fachleute hingegen können unterscheiden: Liegt es am – Eduard Oswald [CDU/CSU]: Das kann es ja Material, sind es Kapazitätsengpässe, sind es Reparatu- wohl nicht gewesen sein!) ren, ist es die DFS oder ist es die DB Netz AG, ist es ein Managementfehler oder ist es einfach nur Schlamperei? Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Schnell, bequem, kostengünstig und zuverlässig: Das Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Horst Friedrich. sind die Ansprüche, die an das Transportmittel Bahn ge- (B) (D) stellt werden. Diese Ansprüche zu erfüllen ist auch das Horst Friedrich (Bayreuth) (FDP): Ziel, dem die Bahn näher kommen muss. Kein Trans- Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol- portmittel wird jemals perfekt funktionieren, das wissen legen! Lassen Sie mich mit einer kurzen persönlichen wir; dazu gibt es viel zu viele äußere Einflüsse. Erklärung beginnen. Sie haben vielleicht mit verfolgt, Wir haben auf die Anfrage der CDU/CSU umfassend dass jemand versucht hat, Mitglieder des Parlamentes geantwortet. Wir haben unsere Karten im Sinne der vor Gericht an bestimmten Aussagen zu hindern. Dank Bahnreform auf den Tisch gelegt. Ihrer Unterstützung und auch Dank der Unterstützung des Bundestagspräsidenten, für die ich mich ganz aus- (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Viel ist da nicht drücklich bedanke, hat die Bahn die Klage mittlerweile drin!) zurückgenommen. Ich darf also weiterhin sagen, was ich Wir wollen, dass die DB AG zu einem erfolgreichen will, hier sowieso und auch draußen. Nochmals herzli- europäischen Mobilitäts- und Logistikdienstleister chen Dank für Ihre Unterstützung in jederlei Hinsicht! wird. Dazu gehört als nächster Schritt auch die Kapital- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) marktfähigkeit. Ob Sie das wollen, wird – auch nach Ih- rem Beitrag – immer unklarer. Das war es jetzt allerdings mit der Freundlichkeit, Ich kann nur sagen: Kein französischer Politiker sehr verehrte Frau Staatssekretärin; denn das, was Sie käme auf die Idee, die SNCF so runterzureden, wie Sie hier vor dem Hintergrund einer Evaluierung nach zehn das zurzeit bei der Bahn tun. Jahren Bahnreform geboten haben, war eigentlich nichts anderes als Pfeifen im Walde. Sie haben nichts dazu ge- (Beifall bei der SPD – Dirk Fischer [Hamburg] sagt, was die Bundesregierung vorhat. Das erinnert einen [CDU/CSU]: Sie runterzuwirtschaften, wie Sie doch ziemlich signifikant an das Verhalten, das Sie bei das tun, ist noch schlimmer!) der Maut dargeboten haben. Auch da sind wir von Ihnen beschimpft worden, wir sollten doch das Mautsystem Das, was Sie machen, hat auch mit konstruktiver Kritik nicht schlechtreden und die Firmen um Gottes Willen wenig zu tun. nicht madig machen. Und was haben wir jetzt für ein Zum FDP-Antrag will ich gerne noch sagen: Die Füh- Problem? Jetzt, nachdem es zu spät ist und das Kind in rungsorganisation des Unternehmensbereiches Perso- den Brunnen gefallen ist, fangen Sie an, uns vorzuwer- nenverkehr ist eine Reaktion auf die Anforderungen des fen, wir würden die Bahn – bei der es ähnlich läuft – Marktes. Die FDP ist doch angeblich eine Wirtschafts- schlechtreden. Wie blauäugig sind Sie eigentlich in Ih- partei; das sollte für Sie also eigentlich nichts Neues rem Regierungsturm, sehr verehrte Frau Staatssekretä- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2003 5637

Horst Friedrich (Bayreuth) (A) rin, dass Sie sich trauen, so etwas hier im Bundestag zu Transportbereich – das ist keine staatliche Aufgabe – an (C) erklären? den Markt gebracht wird. Ein bisschen Privatisierung führt hier mit Sicherheit nicht weiter. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Sehr verehrte Frau Staatssekretärin, ein Börsengang Meine Damen und Herren, es ist doch richtig, jetzt, der Deutschen Bahn inklusive Netz AG würde voraus- nach zehn Jahren, Bilanz zu ziehen und zu hinterfragen: setzen, dass der Bund eventuellen Privatinvestoren für Was wollte man mit der Bahnreform erreichen? Wo ste- einen Zeitraum von schätzungsweise 15 Jahren garantie- hen wir? Was hat der Steuerzahler bisher gezahlt, was ist ren müsste, jährlich Investitionen in Höhe von 4 bis die Aufgabe der Bundesregierung und was ist die Auf- 5 Milliarden Euro zu übernehmen. Ich glaube nicht, dass gabe des Parlamentes? Als Erstes kann man sicherlich Sie dazu in der Lage sind, eine entsprechende verbindli- feststellen, dass die Bundesregierung vorrangig nicht die che Erklärung abzugeben. Das macht signifikant deut- Aufgabe hat, auf die Schalmeienklänge aus dem Bahn- lich, wie unsinnig ein Börsengang der DB inklusive Netz tower vom Potsdamer Platz hereinzufallen; denn sonst AG ist. erlebt sie das Gleiche wie bei der Maut. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (Beifall bei der FDP) Das heißt im Umkehrschluss: Es ist notwendig, den Wenn man aber selbst nicht weiß, was man will, dann ist verbleibenden DB-Konzern auf das Netz und diejenigen man ja vielleicht froh, wenn man wie beim Rattenfänger Einrichtungen zu reduzieren, die für Wettbewerber not- von Hameln – ihm sind die Kinder auch hinterhergelau- wendig sind, damit sie diskriminierungsfrei das Netz fen, ohne zu wissen, was sie machen – Schalmeienklän- nutzen können, sodass Wettbewerb stattfinden kann. gen folgen kann. Wettbewerb findet nicht statt, indem man die Zahl der Fakt ist: Der deutsche Steuerzahler hat für die Bahn- möglichen Wettbewerber nennt, sondern indem man das reform seit ihrem Beginn 177 Milliarden Euro bezahlt. Marktpotenzial, das sie bisher abdecken, betrachtet. Davon sind dem Unternehmen Deutsche Bahn circa Dann ergibt sich ein ganz anderes Bild. Es muss damit 100 Milliarden Euro im Wesentlichen für die Erreichung Schluss sein, dass die Netz AG ihren Auftrag mit „dis- von zwei Zielen zur Verfügung gestellt worden, nämlich kriminierungsfreiem Warten auf Trassenkunden“ erfüllt erstens mehr Verkehr auf die Schiene zu bringen und und das vorhandene Netz nicht aktiv und intensiv ver- zweitens die Belastung für den Haushalt zu reduzie- marktet. ren. Keines von den beiden Zielen ist erreicht worden. Die DB Netz AG muss europäisch ausgerichtet sein, Frau Mertens, wenn Sie unseren Verkehrszahlen nicht damit das „Verhinderungswarten“ an den Grenzen ein (B) glauben, dann empfehle ich Ihnen, in Ihr Buch „Verkehr Ende hat und ein Durchbruch auf europäischer Ebene er- (D) in Zahlen 2001/2002“ zu schauen. Das haben Sie ja ver- folgen kann. Der Transportbereich – das muss man noch öffentlicht. Darin steht etwas anderes als das, was Sie einmal deutlich sagen – muss mittelfristig materiell pri- hier vorgetragen haben. Die Belastung für den Haushalt vatisiert werden. Nur dann wird die ganze Sache rund. ist auf der historischen Höhe – bezogen auf die Zeit, seit Das ist ein Ziel unserer Bahnpolitik. die Bahn im Haushalt aufgeführt wird – von 18,6 Mil- Sehr geehrte Frau Staatssekretärin, Sie wären gut be- liarden Euro angelangt. Das ist zwar nicht alles der Bahn raten, wenn Sie dieses Mal – mit der Opposition – recht- zuzurechnen; aber es ist eine Belastung für den Steuer- zeitig den richtigen Pfad einschlagen. Seien Sie bezüg- zahler. Das muss einmal deutlich gesagt werden: Das lich der Bahn bereit – Sie haben ja bei der Maut zweite Ziel ist auch nicht erreicht worden. bewiesen, dass Sie es nicht können –, auf uns zuzuge- Deswegen ist es jetzt wichtig, zu sagen, was wir brau- hen. Ansonsten müssen wir Sie genauso wie bei der chen. Zuallererst muss allen Entscheidungen – auch bei Maut vorführen. den Träumen über den Börsengang – die Einsicht zu- Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. grunde liegen, dass das von Gesetzes wegen Notwendige ohne die rechtzeitige Mitwirkung des Bundestages gar (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) nicht auf den Weg gebracht werden kann; denn sonst passiert Ihnen das gleiche Desaster wie bei der Maut. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Hinsichtlich der Bahnreform muss zunächst einmal Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Ali Schmidt. auch als Voraussetzung für vernünftiges Controlling – eine schonungslose Bilanz vorgenommen werden. Das heißt, Sie können nicht die Zahlen von Herrn Sack, Albert Schmidt (Ingolstadt) (BÜNDNIS 90/DIE Herrn Mehdorn oder von wem auch immer kritiklos ent- GRÜNEN): gegennehmen. Es müssen andere Institutionen – etwa Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und eine Wirtschaftsprüfungsgesellschaft – mit diesen Zah- Kollegen! Fast zehn Jahre nach der Bahnreform wird es len arbeiten, um dann sagen zu können, wie sich die Si- in der Tat allmählich Zeit, sich ernsthaft mit einer Zwi- tuation tatsächlich darstellt. schenbilanz zu beschäftigen. Dies sollte ohne Polemik geschehen; ich will auch sagen, warum. Es muss für uns klar sein, dass die Bahnreform auf eine Trennung des Transportbereiches vom Infra- (Zuruf von der CDU/CSU: Das sagt ein strukturbereich angelegt war. Das Ziel ist also, dass der Grüner!) 5638 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2003

Albert Schmidt (Ingolstadt) (A) – Das sind Sie von mir vielleicht nicht gewöhnt, aber ich wenn die Wettbewerbsbedingungen stimmen. Herr Kol- (C) kann auch so; lieber Kollege, Sie werden sich wundern. lege Lippold, es ist schon richtig gesagt worden – das ist überhaupt keine Frage –: Es ist noch viel nachzuholen. (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Da sind wir Ich möchte auch gar nicht darüber streiten, wer das je- sicher einig! Wer macht Polemik?) weils verursacht hat, was Sie versäumt haben oder was Die Bahnreform wurde 1993/94 – ich war damals auch wir noch nicht geschafft haben. noch nicht Mitglied dieses Hauses, aber viele der Anwe- Eine Randbemerkung kann ich mir heute aber nicht senden werden es noch aus eigenem Erleben wissen – als verkneifen. Ich sage sie in allem Ernst und richte sie konsensuales Projekt betrieben und beschlossen. Das hat fraktionsübergreifend an alle. Schauen Sie sich das, was sich bewährt. Eine grundlegende Reform eines Bundes- zwei Herren unter der Überschrift Koch/Steinbrück- unternehmens in dieser Größenordnung kann eigentlich Papier über den Schienenverkehr, über die Bahn insbe- nur im Konsens umgesetzt werden, ja, sie muss so umge- sondere, aber auch über den straßengebundenen ÖPNV setzt werden. haben aufschreiben lassen, bitte ganz genau und auch (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Da stimme ich vorurteilsfrei an! Da kann man nicht davon sprechen, ausdrücklich zu!) dass man mit einem Rasenmäher drübergegangen ist; da ist die Axt an die Wurzeln des öffentlichen Verkehrs in Das schließt eine kritische Diskussion nicht aus. Deutschland gelegt worden. Nach der Vorstellung der Die heutige Diskussion im Bundestag anlässlich der beiden Herren sollen von 15,8 Milliarden Euro, die über Großen Anfrage der Unionsfraktionen und der Anträge drei Jahre eingespart werden sollen, allein 4,4 Milliarden der FDP-Fraktion kann eigentlich nur ein Auftakt zu der Euro aus dem Bereich öffentlicher Verkehr, aus Regio- Zwischenbilanz sein, die wir im Parlament brauchen. nalisierungsmitteln, aus Zuschüssen für den ÖPNV, aus Wir brauchen eine vertiefte Diskussion, aber auch eine Investivmitteln für den Schienenbau kommen. Das sind externe Evaluation dessen – der Kollege Horst Friedrich überhaupt keine Investitionen; hat es schon kurz angesprochen –, was das Unternehmen (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: „Keine aus unternehmerischer Sicht bisher geschafft hat, was Subventionen“, wolltest du sagen!) noch nicht, was verbesserungsbedürftig ist, woran das liegt usw. das ist der Schienenbautitel. Da könnten wir genauso gut Ich möchte den Einstieg in diese Diskussion heute fordern, den Straßenbautitel zu kürzen, um Subventio- nutzen, um wenigstens kurz auf die aktuellen Kernfra- nen – in Anführungszeichen – einzusparen. Liebe Freun- gen einzugehen. Was von Frau Staatssekretärin Mertens dinnen und Freunde, liebe Kolleginnen und Kollegen, das kann niemals Grundlage unserer gemeinsamen ver- (B) gesagt worden ist und von Ihnen, Kollege Friedrich, im (D) Grunde bestätigt worden ist, ist völlig richtig: Vorrangi- kehrspolitischen Überzeugung werden; denn sonst kön- ges Ziel der Bahnreform 1993/94 war, ist und bleibt es, nen wir uns hier verabschieden und können unser Pro- mehr Verkehr auf die Schiene zu bringen. Der Fortgang gramm gleich bei den „Finanzern“ abgeben nach dem der Bahnreform ist nach der geltenden Rechtslage vom Motto: Verkehrspolitik findet nicht mehr statt, es sei Eigentümer Bund, von den zuständigen Gremien, vom denn, als Sparschwein der Nation. – Ich wäre strikt dage- Parlament zu gestalten. Hier hat aus meiner Sicht ganz gen. klar das Primat der Verkehrspolitik zu gelten. Wir sollten (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN den weiteren Fortgang der Bahnreform nicht ausschließ- und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der lich unter fiskalischen oder sonst irgendwelchen Erwä- FDP) gungen, sondern gezielt auch unter verkehrspolitischen Erwägungen und Zielsetzungen diskutieren. Nach dieser Randbemerkung möchte ich auf den Punkt zu sprechen kommen, um den es in diesen Tagen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und Wochen eigentlich geht und um den es sicherlich und bei der SPD – Eduard Oswald [CDU/ auch in den nächsten Monaten noch gehen wird, nämlich CSU]: Das ist sehr wahr!) die Zukunft des Unternehmens, die Frage, wie es aufge- Das gilt meines Erachtens auch für die Frage einer stellt werden soll. In den zuständigen Gremien in unserer möglichen Privatisierung oder Teilprivatisierung des Fraktion haben wir in diesen Tagen eine Art Grundsatz- Konzerns, in welcher Konstruktion auch immer. Wir beschluss gefasst, den ich hier für meine Fraktion vortra- sollten uns von niemandem Zeitpläne diktieren lassen. gen möchte. Was auch immer im Fortgang der Entwick- Wir sollten uns von niemandem Zielvorgaben machen lung mit der Bahn als Unternehmen geschieht, muss lassen, denen wir als Parlament dann gleichsam hinter- nach unserer Auffassung dem Grundsatz folgen, der in herzuhecheln haben. Art. 87 e Grundgesetz festgelegt ist und der auch im Ko- alitionsvertrag so festgehalten ist, nämlich dass das Ei- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gentum am Streckennetz beim Bund, in der öffentlichen und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der Hand, zu verbleiben hat. CDU/CSU) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN So etwas sollten wir aus Gründen der Selbstachtung, sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) aber auch aus sachlichen Gründen nicht mitmachen. Die Bahn als Unternehmen, aber auch der Schienenverkehr Das ist keine Frage der Ideologie oder der Grundüber- generell haben nur dann eine aussichtsreiche Chance, zeugung, sondern eine Frage nüchterner Analyse. Wenn Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2003 5639

Albert Schmidt (Ingolstadt) (A) das Streckennetz materiell privatisiert würde, wenn es einer entsprechenden Gesellschaft wahrnimmt – sie (C) also verkauft oder in welcher Konstruktion auch immer muss gar nicht groß sein –, den Job der Bewirtschaftung, den Eigentümer wechseln würde, und sei es nur teil- Entwicklung, Vorhaltung und Modernisierung dieses weise, dann hätten wir nicht nur die merkwürdige Kon- Netzes aber denen überträgt, die etwas davon verstehen, struktion, dass der Staat dem Shareholder über Jahre mit nämlich zum Beispiel der DB Netz AG. Steuermilliarden eine Rendite garantieren würde – das (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Das muss nur am Rande –, sondern auch die Diskussion darüber, nicht sein!) welches Netz sich private Shareholder überhaupt leisten wollen. Ich sage Ihnen voraus, was dann passieren – Das muss nicht sein, aber das könnte man in einem würde: Dann würde das Streckennetz Kilometer für Ki- Vertrag tun. Dann hätte man ein klares Verhältnis zwi- lometer verschwinden; denn unrentable Strecken würden schen Eigentümer und Auftragnehmer, wie wir es von sofort stillgelegt, der Rest nach und nach. der Verkehrsbestellung im Rahmen der Regionalisierung kennen. Die öffentliche Infrastruktur Schiene eignet sich nicht als Renditeobjekt, genauso wenig wie die Infra- (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Ich weiß schon, struktur Straße. Das zu missachten war der Kernfehler warum er im Aufsichtsrat der Bahn immer an- der misslungenen britischen Bahnreform, die den briti- geeckt ist!) schen Steuerzahler nun teuer zu stehen kommt, nachdem Dann ist klar, wer zu sagen hat, wie das Netz aussieht, der Staat das Netz zurückkaufen musste und jetzt die un- wie groß es ist und – terbliebenen Investitionen abarbeiten muss. (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Das ist auch un- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: sere Position!) Herr Kollege, Sie wollten zum Schluss kommen. Diesen britischen Fehler, in welcher Variante auch im- mer, sollten wir in Deutschland nicht wiederholen. Albert Schmidt (Ingolstadt) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Ab- – ich komme zum letzten Satz, Frau Präsidentin – wie geordneten der FDP) viel Geld uns das jedes Jahr wert ist. Dann können wir über Verträge reden, ohne den technisch-operativen Zu- Deswegen geht es für mich unter der Überschrift sammenhang zwischen Netz und Betrieb infrage stellen „Börsengang“ weder um eine Volksaktie à la Telekom zu müssen. – das ist sowieso ein großes Missverständnis – noch da- (B) rum, einen Anteil von 10, 15, 20 oder 25 Prozent des Wir sind am Anfang der Diskussion. Ich bin über- (D) Konzerns zu veräußern. Kapitalmarktfähigkeit ist etwas zeugt, dass wir hier mehr Übereinstimmung als Dissens anderes als ein schierer Notverkauf. Kapitalmarktfähig- haben werden. keit verlangt bestimmte Voraussetzungen im Hinblick (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Die einen sagen auf das Verhältnis des Eigenkapitals zum Fremdkapital, dies, die anderen jenes!) auf ROCE und EBITDA – man kennt die Stichworte aus der Bilanzsprache. Keine dieser Voraussetzungen ist bis- Deshalb freue ich mich auf den Fortgang dieser kon- her erfüllt. Das Ergebnis wären zu wenig Reinvestitio- struktiven Debatte. nen ins Netz und letztlich eine Vernachlässigung des Vielen Dank. grundgesetzlichen Auftrags, für eine gemeinwohlorien- tierte Schieneninfrastruktur zu sorgen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist ein Auftrag an uns, nicht an das Unternehmen. Das Unternehmen hat Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: keinen Gemeinwohlauftrag. Aber wir als Eigentümer, als Politik haben diesen Auftrag. Wir sollten ihn auch in Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Eduard Lintner. Zukunft gemeinsam ernst nehmen. Eduard Lintner (CDU/CSU): (Beifall im ganzen Hause – Eduard Oswald [CDU/CSU]: Da hat er Recht! Mit diesen Aus- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr sagen muss sich die Regierung beschäftigen!) Kollege Schmidt, ich stelle mit wohlwollendem Erstau- nen fest, dass Sie mit Ihren bahnpolitischen Vorstellun- Ich komme auch schon zum Schluss. Wenn das Stre- gen mittlerweile zu hundert Prozent bei der Union ange- ckennetz nicht privatisiert werden soll, dann bleiben für kommen sind. Diesen Erkenntnisprozess kann man die durchaus sinnvolle und aus meiner Sicht sogar er- natürlich nur begrüßen. wünschte Hereinnahme privaten Kapitals in das Unter- (Beifall bei der CDU/CSU) nehmen im Grunde nur die Transportgesellschaften üb- rig, in welcher Form auch immer. Ich bitte Sie, ernsthaft Dennoch muss die Eisenbahnpolitik dieser Bundesre- zu prüfen – lassen Sie uns das in den nächsten Wochen gierung als ein folgenschweres Trauerspiel bezeichnet und Monaten in einer ideologiefreien Debatte vertie- werden. Was 1994 unter dem Stichwort „Bahnreform“ fen –, ob vorstellbar ist, dass der Bund seine Eigentü- gemeinsam auf den Weg gebracht worden ist, droht nun, merschaft für das Netz und die Infrastruktur im Rahmen Frau Staatssekretärin, endgültig zum Fiasko zu werden. 5640 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2003

Eduard Lintner (A) Ich kann mich immer noch nicht darüber beruhigen, dass tomdiskussion, die mit der Wirklichkeit in unserem (C) Sie es gewagt haben, solche Zahlen in den Raum zu stel- Lande und dem wirklichen Zustand der DB AG über- len. Es müsste eigentlich von jemandem aus dem Ver- haupt nichts zu tun hat. kehrsministerium verlangt werden können, dass er hier (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) echte und belastbare Angaben macht und sich beispiels- weise an die Erkenntnisse in Bezug auf Verkehrsanteile Ich möchte auch davor warnen, zu glauben, dass der und -entwicklung bei der Schiene hält, die sein Ministe- für 2004 vorausgesagte Gewinn – ob er denn kommt, rium uns selbst mitgeteilt hat. Sich einfach hier hinzu- warten wir einmal ab – das entscheidende Kriterium für stellen und flapsig zu sagen, es sei alles in Butter und die Börsenfähigkeit der Bahn sei. Das ist vielleicht ein habe sich bestens entwickelt, ist einfach zu wenig. Hinweis, ein Punkt in einem Katalog weiterer Erwartun- gen und Anforderungen. Ich kann mir nicht vorstellen, Wenn Sie bei der Klausurtagung Ihrer eigenen Frak- dass sich private Investoren davon täuschen lassen, dass tion dabei gewesen wären und etwa das Eckpunktepapier 2004 ein Gewinn erzielt wird, der dadurch zustande der entsprechenden SPD-Arbeitsgruppe noch einmal zur kommt, dass vorweg schon einige andere Dinge gemacht Hand genommen hätten, dann hätten Sie hier eine solche worden sind. Vielmehr werden eine verlässliche positive inkompetente Aussage nicht machen dürfen. Da werden Entwicklung und eine effektive Verzinsung des einge- nämlich die ganzen Defizite der Bahnpolitik aufgelistet; setzten Kapitals auf Jahre hin erwartet und nicht nur ir- ich will sie jetzt nicht im Einzelnen vorlesen, sondern gendwelche kurzlebigen Effekte. Da hat die Bahn – das nur darauf verweisen, dass dort zwischen den Zeilen in ist auch schon mehrfach betont worden – leider wenig einer etwas gewundenen und umständlichen Form einge- Positives zu bieten. räumt wird, dass die Gestaltung der Bahnpolitik an den Vorstand der Deutschen Bahn abgegeben worden ist. Unsere Aufgabe hier ist es aber nun – deshalb will ich Denn in der „DVZ“ findet sich in der Darstellung der mich nun nicht zu sehr mit der Bahn bzw. ihrem Vor- Forderungen der SPD-Arbeitsgruppe die Überschrift: standsvorsitzenden beschäftigen –, daran zu erinnern, „DB-Börsenpläne müssen sich der Politik unterordnen“. dass letztlich der Bund sowohl unter verkehrspolitischen Dahinter steckt doch wohl die Erkenntnis, dass die ent- Gesichtspunkten als auch als Alleineigentümer diese fa- sprechenden Kompetenzen mittlerweile vom Ministe- tale Entwicklung zu verantworten hat. Sie hätten recht- rium zur Bahn gewandert sind und jetzt erst wieder müh- zeitig einschreiten und Vorgaben machen müssen. Sie sam zurückgewonnen werden sollen. hätten sich durchsetzen müssen und bei dieser Entwick- lung nicht einfach zuschauen dürfen. (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Der Bahnchef ist nicht Verkehrsminister! Das muss man Da liegt der eigentliche politische Skandal in dieser Situation. Dass Herr Mehdorn mit Händen und Füßen (B) doch einmal festhalten!) (D) für seine Sache kämpft, steht ihm zu und ist im Grunde Meine Damen und Herren, es ist schon darauf hinge- genommen sogar seine Aufgabe. Aber dass die Bundes- wiesen worden, dass die Hauptziele der Bahnreform lei- regierung die verkehrspolitischen Zielsetzungen aus dem der bis heute nicht erreicht worden sind. Es stellt nach Auge verloren und nichts getan hat, um diese Dinge in wie vor ein ungelöstes Problem dar, wie die Zielsetzung, die richtige Richtung zu lenken, das haben wir zu kriti- mehr Personen- und Güterverkehr auf die Schiene zu sieren. bringen, erreicht werden kann. Der Kollege Lippold hat die derzeitige Situation schon mit genauen Zahlen exakt (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) dargestellt. Ich möchte es aber aufgrund des Zahlen- In einem Punkt kann ich Herrn Schmidt nur Recht ge- werks, das Sie dargeboten haben, noch einmal für das ben: Solange Betrieb und Netz nicht getrennt sind, wird Protokoll erwähnen: Wir haben beispielsweise zu bekla- sich die Bahn sehr schwer tun, ihren Börsengang zu or- gen, dass der Anteil des Verkehrsträgers Schiene am ganisieren. Güterverkehr seit der Bahnreform von 17 auf 14 Prozent zurückgegangen ist. Diese Erkenntnis liegt sicher auch (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Das habe in Ihrem Haus vor. auch ich schon gesagt!) Fatal ist an dieser ganzen Entwicklung insbesondere, – Der Kollege Friedrich hat es auch gesagt. dass damit Perspektiven für die Bahn verloren gehen. (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Noch vor Die Bahn geht ja davon aus, dass sie bis 2007 ein jährli- Herrn Schmidt!) ches Durchschnittswachstum von 4,9 Prozent erreichen könne. Für dieses Jahr hatte sie sogar ein Wachstum von Denn welcher private Investor lacht sich ein Netz an, 9,9 Prozent bei dem von vornherein feststeht, dass außer einem stän- digen Zuschuss in der Größenordnung von 4 oder 5 Mil- (Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ liarden Euro pro Jahr nichts zu erwarten ist? DIE GRÜNEN]: Im Fernverkehr!) Ich weise auch auf Folgendes hin – gestern gab es im – im Personenfernverkehr – erwartet. Nur, das ist jetzt Zusammenhang mit Toll Collect eine analoge Diskus- leider nicht eingetreten, warum auch immer. Die Folge sion –: Die Bundesregierung sollte sich nicht täuschen; davon ist aber, dass wir von dem Ziel Börsengang wei- sie ist nicht in der Lage, über Jahre Finanzzusagen in ter weg sind denn je, eher bewegen wir uns genau in die dieser Größenordnung zu machen. Falls Sie damit lieb- entgegengesetzte Richtung. Deshalb ist eigentlich die äugeln sollten, Investoren 4 oder 5 Milliarden Euro jähr- Diskussion um Börsenpläne und dergleichen eine Phan- lich zu versprechen, kann ich nur sagen: Eine solche Zu- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2003 5641

Eduard Lintner (A) sage können Sie schon rein haushaltsrechtlich nicht sache: Erst seit 1998 haben wir eine verlässliche Finanz- (C) machen; denn Sie können das Parlament nicht in seiner ausstattung. Entscheidungsfreiheit binden. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ (Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Horst Friedrich [Bayreuth] DIE GRÜNEN]: Außer per Vertrag!) [FDP]: Das sieht man! Deswegen beschwert sich Herr Mehdorn schon öffentlich, dass er nicht mehr Deshalb bitte ich Sie, gar nicht erst mit diesem Gedan- genug Geld bekommt!) ken zu spielen, wie es gelegentlich zu lesen war. Trotz der schwierigen Lage werden wir im Haushalt In jedem Fall habe ich den Eindruck, dass uns die 2004 und in den Folgejahren Investitionsmittel für die Bahnreform noch viele Jahre begleiten wird. Von einem Bahn bereitstellen. Im Jahr 2004 sind es 4 Milliarden Abschluss der Bahnreform, von dem man aus DB-Krei- Euro. sen hört, kann überhaupt keine Rede sein. Ich glaube, wir tun alle gut daran und tun auch der Sache einen Ge- Wir sind tatsächlich an einem Punkt, an dem wir uns fallen, wenn wir jetzt eine Art Zwischenbilanz durch un- gemeinsam Gedanken machen müssen. Sie müssen sich abhängige Sachverständige ziehen lassen und uns dann dazu äußern, ob Sie den Verkehrsträger Schiene in der auf der Basis dieser Erkenntnisse mit dieser Frage seriös Zukunft als einen wichtigen Verkehrsträger in dieser Re- und ohne Polemik beschäftigen. Das ist unser Ziel. publik wollen. Wenn das so ist, dann müssen Sie gewisse Dinge mit uns gemeinsam auf den Weg bringen. Vielen Dank. (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Die Dis- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie kussion hätte so schön werden können! Die bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE Rede passt überhaupt nicht ins Bild!) GRÜNEN) Wenn Sie sich aber in der Diskussion über die Maut da- hin gehend äußern, dass Sie die dadurch aufkommenden Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Mittel am liebsten ausschließlich in den Verkehrsträger Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Karin Rehbock- Straße zurückfließen lassen würden, dann habe ich die Zureich. allergrößten Bedenken, ob Sie in Zukunft wirklich ernst- haft über den Verkehrsträger Schiene reden wollen. Karin Rehbock-Zureich (SPD): (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! DIE GRÜNEN – Horst Friedrich [Bayreuth] Herr Lintner, ich greife Ihren letzten Satz auf. Wenn Sie [FDP]: Zunächst einmal wäre es wichtig, die (B) (D) sagen, dass wir uns „seriös und ohne Polemik“ mit der Mauteinnahmen überhaupt zu haben, Frau Sache beschäftigen sollten, dann haben Sie damit sicher Kollegin! Bevor man sie verteilt, muss man sie nicht Ihre heutige Rede oder die Anmerkungen vieler Ih- erst haben! – Dr. Klaus W. Lippold [Offen- rer Kollegen gemeint. Ich bin schon der Meinung, dass bach] [CDU/CSU]: Kennen Sie eigentlich die wir uns seriös und ohne Polemik mit der Weiterführung europäische Entwicklung?) der Bahnreform beschäftigen und Bilanz ziehen sollten. Aber das, was Sie heute hier geboten haben, ist von einer Wenn wir schon über gemeinsame Grundlagen reden, seriösen Bewertung weit entfernt. dann müssen auch faire Wettbewerbsbedingungen auf dem Schienennetz, die diskriminierungsfrei zu garantie- Sie sagen – das ist ein Punkt, auf dem wir aufbauen ren sind, angesprochen werden. Wir haben die Weiter- sollten –, unser gemeinsames wichtigstes Ziel bei der entwicklung des Allgemeinen Eisenbahngesetzes auf Bahnreform sei, mehr Verkehr auf die Schiene zu brin- den Weg gebracht, um für alle Mitbewerber auf der gen. Schiene diese fairen Wettbewerbsbedingungen zu ge- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten währleisten. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Im Übrigen gibt es auf dem deutschen Schienennetz im Bereich Güterverkehr schon 250 private Unterneh- Sie aber haben dieses Ziel in den letzten Jahren Ihrer Re- men. Ich erinnere in diesem Zusammenhang an unseren gierungszeit völlig vernachlässigt. Besuch in Frankreich, liebe Kolleginnen und Kollegen (Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ von der Opposition. Da ist ganz deutlich geworden, dass DIE GRÜNEN]: Das ist leider wahr! – Horst wir, was die Netzöffnung angeht, in Europa am weites- Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Oh! – Gegenruf ten sind. des Abg. Dr. Uwe Küster [SPD]: Alles verges- (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Albert sen? Der Friedrich, der Friedrich, der ist ein Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/DIE großer Liederich! – Eduard Oswald [CDU/ GRÜNEN]) CSU]: Wer nur von der Vergangenheit redet, vernebelt die Gegenwart!) Dies kann aber keine Einbahnstraße bleiben. Wir müssen vielmehr dafür sorgen, dass die Netzöffnung in ganz Die Investitionsmittel, die Sie zur Verfügung gestellt ha- Europa vorangetrieben wird. ben, waren in keiner Weise ausreichend, um diesem Ziel näher zu kommen. Auch wenn es für Sie lästig ist, hier Eine ausreichende finanzielle Ausstattung der immer wieder daran erinnert zu werden, ist es eine Tat- Schiene vonseiten des Bundes bedeutet aber nicht, dass 5642 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2003

Karin Rehbock-Zureich (A) keine Investitionsmittel vonseiten der DB AG selbst flie- der Schwerpunkt in der Diskussion sein. Lassen Sie uns (C) ßen müssen. Es kann nämlich nicht sein, dass der Bund in die Weiterentwicklung der Bahnreform einsteigen! als Erster zu Hilfe gerufen wird, wenn sich die DB AG Denn wir benötigen den Verkehrsträger Schiene. Er in einer schwierigen Lage befindet. muss in der Zukunft gleichwertig zur Straße sein. An- sonsten fahren wir die Mobilität an die Wand. (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Wie denn jetzt? Verstetigung der Investitionsmittel ha- Ich danke Ihnen. ben Sie doch selber gefordert! Was wollen Sie eigentlich?) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Ich möchte nun auf die Diskussion der vergangenen Wochen eingehen. Ziel muss es sein, mehr Verkehr auf Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: die Schiene zu bringen. Wir brauchen also auch in Zu- kunft ein flächendeckendes Schienennetz. Dazu sind Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Dirk Fischer. Transparenz und Netzöffnung nötig. Aus meiner Sicht sind wir weit von einem Börsengang entfernt – das Dirk Fischer (Hamburg) (CDU/CSU): sollte man in zukünftigen Diskussionen beachten –, so- Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle- lange die Kapitalmarktfähigkeit der DB AG nicht ausrei- gen! Bundesminister Stolpe hat nicht nur das Problem chend ist. Vor einem Börsengang müssen wichtige Vo- der Maut, sondern auch das Problem der Bahn: rote Bi- raussetzungen erfüllt sein. lanzen, ein Rekordverschuldungstempo, das seit 1994 Wir sollten in den kommenden Monaten eine Bilanz zweieinhalbmal so hoch ist wie in den 32 Jahren vor der der Bahnreform ziehen und eine Weiterentwicklung die- Bahnreform, und Verluste an Marktanteilen. Vor diesem ser Reform ernsthaft diskutieren. Ich verweise in diesem Hintergrund ist das Ziel des Börsengangs im Jahr 2005 Zusammenhang auf Art. 87 e des Grundgesetzes. Dort illusorisch. Der wünschenswerte starke ordnungspoliti- sind Festlegungen getroffen, die Auswirkungen auf die sche Arm des Bundesministers Stolpe ist nicht sichtbar, Größe und auf die Standards des Netzes der Zukunft ha- die verantwortliche Rolle als Alleineigentümer schon ben. Auch nach einem Börsengang muss gewährleistet gar nicht. Der Deutsche Bundestag hat nicht nur das sein, dass der Bund zumindest mittelbar Eigentümer des Recht, sondern sogar die Pflicht, das bundeseigene Un- Schienennetzes bleibt. Die Verantwortung des Bundes ternehmen DB AG kritisch zu begleiten, insbesondere in für dieses Schienennetz muss also bestehen bleiben. einer so dramatischen Lage. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der CDU/CSU) (B) DIE GRÜNEN) Die zukünftige Marktstellung des Verkehrsträgers (D) Ich möchte die alte Diskussion über die Trennung von Schiene insgesamt wird von marktfähigen Angeboten zu Netz und Betrieb, die es in den vergangenen zwei Jahren wettbewerbsfähigen Preisen abhängig sein. Die Union gab und die – ich es will einmal so sagen – teilweise will ausdrücklich mehr, besseren und steigenden Schie- fundamentalistisch geführt wurde, nicht neu beginnen. nenverkehr. (Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Das wurde (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- 1993 mit der Bahnreform entschieden!) neten der FDP) Ich möchte daran erinnern, dass es in England inzwi- Sie will, um das zu erreichen, einen größeren Wett- schen als ein Fehler gesehen wird, das Netz vom Betrieb bewerb mehrerer starker Marktpartner statt den Fort- getrennt zu haben. bestand faktischer Monopolstrukturen. Sie will Investi- tions- und Ertragsdynamik sowie mehr Arbeitsplätze im (Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Die Schienenverkehr. Aber sie will keinen Dirigismus und materielle Privatisierung, Frau Kollegin!) keine Dauersubventionitis. Wir sollten diese Fehler nicht wiederholen und die Tren- (Beifall bei der CDU/CSU) nung von Netz und Betrieb nicht durchführen. Verehrte Kollegen von der Regierungskoalition, es ist (Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Die doch ein absolut propagandistisches Wunschdenken, materielle Trennung!) dass die Verkehrsleistung Schienenpersonenverkehr bis 2015 um 32 Prozent und die Verkehrsleistung Schienen- Bevor wir über einen möglichen Börsengang disku- güterverkehr sogar um 103 Prozent steigen wird. So tieren, muss der Konzern DB AG schwarze Zahlen steht es im Verkehrsbericht 2000 der Bundesregierung. schreiben, und zwar nachhaltig. Ein einziges positives So ist es im Vorspann des Bundesverkehrswegeplanes Bilanzergebnis ist nicht ausreichend, wenn man einem 2003 wiederholt worden. Börsengang näher treten will. Es muss eine nachhaltige und sichere Finanzgrundlage geben, bevor ein Börsen- (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Leider gang erfolgreich auf den Weg gebracht werden kann. wahr!) Messlatte für uns alle muss bei aller Weiterentwick- Sie haben diese Prognose sogar dem Bundesverkehrswe- lung der Bahnreform dieses verkehrspolitische Ziel sein. geplan unterlegt. Da diese Prognose absolut illusorisch Mehr Verkehr auf die Schiene muss die Messlatte und ist, ist der Bundesverkehrswegeplan in einem Kernbe- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2003 5643

Dirk Fischer (Hamburg) (A) stand nicht sachgerecht und illusionär. Das ist doch dra- Herr Eichel schweigt dazu. (C) matisch. (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Es ist auch (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- besser, wenn er nichts sagt!) neten der FDP – Eduard Oswald [CDU/CSU]: Man gewinnt den Eindruck, dass ihm diese Schulden die Das ist genau das Problem! – Horst Friedrich Sprache verschlagen haben. Das ist für den Bundeshaus- [Bayreuth] [FDP]: Märchenbuch!) halt – man muss es laut aussprechen – eine einzige Kata- Die Realität sieht völlig anders aus. Seit 2000 kommt strophe. Das muss endlich von der deutschen Öffentlich- es im Güterverkehr zu einem Rückgang. Seit Beginn der keit und vom Parlament wahrgenommen und Bahnreform, Frau Kollegin Mertens, ist, wie Modal-Split- entsprechend behandelt werden. Hier besteht Hand- Untersuchungen im Bereich des Güterverkehrsmarktes lungsbedarf. zeigen, ein Rückgang des Schienengüterverkehrs von (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) 17 auf 14 Prozent, aber ein Anstieg des Straßengüterver- kehrs zu verzeichnen. Das haben wir uns eigentlich anders Horst Friedrich hat die Zahlen genannt. Seit Beginn vorgestellt. Sie kennen doch die Zahlen. Sie können doch der Bahnreform hat der Schienenverkehrsträger 177 Mil- hier nicht mit Zahlen eines insgesamt steigenden Güter- liarden Euro erhalten, die DB AG deutlich über 95 Mil- verkehrsmarktes antreten und in diesem Zusammenhang liarden Euro. Aber trotz regelmäßiger Preiserhöhungen beklagen, dass die Zuwächse des Schienengüterverkehrs und Zukäufe – ich lasse Stinnes außen vor – verzeichnen unzureichend sind. Es wäre ja noch schlimmer, wenn der wir seit 1998 stagnierende Umsätze in Höhe von 15 Mil- Schienengüterverkehr bei einem insgesamt dynamisch liarden Euro. Da bewegt sich nichts. wachsenden Güterverkehrsmarkt, absolut gesehen, zu- Es gibt heute eine Finanzierungslücke bei der mittel- rückfallen würde. Das wäre die totale Katastrophe. Ich fristigen Planung bis 2007 von 5 Milliarden Euro. Das bitte aber, zu bedenken, dass wir im Vergleich zu anderen wird die Sondersitzung des Aufsichtsrates der DB AG am Verkehrsträgern beim Schienengüterverkehr keinen Zu- 23. Oktober zutage bringen. Somit werden neue Projekte wachs erreicht haben. Das sollten wir beklagen. und Instandhaltungsmaßnahmen fallen gelassen. Offen- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- bar will man Instandhaltung weiter zurückfahren, damit neten der FDP) das Netz so marode wird, dass der Bund einen Neubau finanzieren muss. Das ist die Strategie, die dahinter steckt. Die DB AG hat im Personenfernverkehr Marktanteile von 99,5 Prozent und im Nahverkehr von 91,5 Prozent. Das sind Verhältnisse, die wir nicht akzeptieren dür- Ohne die Regionalisierungsmittel und die Bestellerfunk- fen. Die Bahn ist nicht börsenfähig. Der Marktwert des Eigenkapitals muss nämlich zum Zeitpunkt des Börsen- (B) tion der Länder würde auch der Nahverkehr bei über (D) 99 Prozent liegen. Im Güterverkehr haben wir einen gangs grundsätzlich dem Buchwert des Eigenkapitals Marktanteil von 97,2 Prozent. Das heißt, es gibt de jure entsprechen. Dies soll anhand des Vielfachen des EBIT kein Monopol, aber angesichts der Anteile des Schienen- mithilfe von Zahlungsströmen und einer ausgewogenen verkehrsmarktes absolut monopolistische Strukturen. Verschuldung ermittelt werden. Wir bräuchten bei der Das ist nach meiner Auffassung eine Belastung für das DB AG ein EBIT in Höhe von 1,6 Milliarden Euro, Fakt gesamte System Schiene. Denn privates Kapital wird bei waren Ende 2002 37 Millionen Euro. monopolistischen Strukturen nicht investiert. Das ist viel Der Free Cashflow müsste – das ist die Mindestanfor- zu riskant. derung – bei 1,4 Milliarden Euro liegen. Diese Zahl hat- Deswegen haben wir leider Gottes seit drei Jahren ten wir Ende 2002 bei der DB AG, leider mit einem Mi- eine kontinuierlich sinkende Verkehrsleistung: im Schie- nus davor. Für ein Rating A brauchen wir eine nenpersonenverkehr im Jahr 2002 minus 6,2 Prozent, im Tilgungsdeckung von 30 Prozent; die DB AG erreichte Schienengüterverkehr im Jahr 2002 minus 3 Prozent. Ende 2002 nur 11,1 Prozent. Bei Vergleichsunternehmen ist das Verhältnis von Verschuldung zu Eigenkapital Wir haben aber seit Beginn der Bahnreform eine dra- 1 : 1, bei der DB AG war es 2,7 : 1. – Ein Börsengang ist matisch steigende Verschuldung zu verzeichnen. In also doch wirklich illusionär. 32 Jahren, seit 1961, sind 34,3 Milliarden Euro aufgelau- fen, diese wurden vom Bundeshaushalt übernommen. Das Frau Mertens, Ihnen werfe ich vor: Die Bundesregie- Unternehmen ist ohne jede Verschuldung gestartet. Ende rung kennt die Zahlen und verschweigt sie dem deut- 2002 beliefen sich die Schulden auf 24,5 Milliarden Euro schen Parlament und der Öffentlichkeit. Sie müssen end- und werden Ende des Jahres bei deutlich über 26 Milliar- lich ehrlich mit uns umgehen und uns die nötigen den Euro liegen. Ich sage Ihnen voraus: In kürzester Zeit Informationen geben, die das deutsche Parlament von werden wir bei über 30 Milliarden Euro sein. Dann sind der Regierung erwarten kann. wir innerhalb von zehn bis zwölf Jahren dort angelangt, (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Das ist ja wo wir ursprünglich einmal nach 32 Jahren waren. unglaublich!) Der Bund haftet für diese Schulden natürlich nicht im Dann sehen wir uns auch nicht veranlasst, sie uns auf an- juristischen Sinne – man kann Herrn Mehdorn sagen: dere Weise zu beschaffen. Seien Sie aufrichtig! „Geh doch zum Insolvenzverwalter!“ –, wohl aber im politischen Sinne. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Eduard Oswald [CDU/CSU]: Unglaublich! (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Das ist ja ein Skandal!) 5644 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2003

Dirk Fischer (Hamburg) (A) Wenn Sie das Unternehmen materiell privatisieren, Das mag man zwar als weiteres Zeichen der Schwäche (C) dann verlieren Sie auch den Zinsvorteil durch implizierte der Opposition durchgehen lassen können, aber, Kolle- Bundesgarantie. Diese hat der DB AG im Jahre 2002 ei- ginnen und Kollegen, eines lassen wir Ihnen nicht durch- nen Zinsvorteil in Höhe von 333 Millionen Euro ver- gehen: dieses permanente Schlechtreden der Bahn. schafft. Auch dieser Betrag muss geschultert werden. (Zurufe von der FDP: Oh!) Wir wollen eine kundenfreundliche Bahn, einen fai- ren Wettbewerb, den diskriminierungsfreien Zugang un- Wir wissen ganz genau, dass dort Zehntausende von terschiedlicher Unternehmen zum Schienennetz und Mitarbeitern einen guten Job machen. operative Unabhängigkeit von Netz und Transport. Wir (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten lehnen die materielle Privatisierung des Netzes ab. Ein des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Netz, das vom Steuerzahler hoch subventioniert wird, kann nicht zum Renditeobjekt gemacht werden. Wir Diese haben es nicht verdient, dass ihre Bahn permanent wollen eine staatlich verantwortete Infrastruktur, auf der mies gemacht wird. möglichst viele leistungsfähige Wettbewerber zuneh- (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Wir sind menden Schienenverkehr abwickeln. durchaus bereit, zwei Bilanzen zu ziehen: eine Dazu müssen schnellstens die Task-Force-Ergebnisse Mitarbeiterbilanz und eine Managementbi- umgesetzt werden. Damit sind Sie ein Jahr im Rück- lanz! Mal sehen, was dabei herauskommt!) stand. Danach muss dringend die Evaluierung unterneh- Ein zentrales Anliegen der Regierungskoalition ist es, mensexterner Kräfte stattfinden, damit das Parlament ei- eine moderne Verkehrspolitik zu gestalten, die mit Inno- nen objektiven Bericht erhält. Wir brauchen, wie bei der vationen die Infrastruktur leistungsfähiger und das Ver- Bahnreform als Option vorgesehen, die Verselbstständi- kehrssystem effizienter macht, die Mobilität im gung der Einzelgesellschaften bei gleichzeitiger Auflö- 21. Jahrhundert nachhaltig sichert und somit den Wirt- sung der Holding. schaftsstandort Deutschland insgesamt stärkt.

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: In einem am Prinzip der Nachhaltigkeit orientierten integrierten Verkehrssystem kommt der Schiene eine Die Redezeit ist jetzt deutlich überschritten. wichtige Rolle zu. Mit der im Dezember 1993 beschlos- senen Bahnreform wurden entscheidende Rahmenbedin- Dirk Fischer (Hamburg) (CDU/CSU): gungen für ein leistungsfähiges Eisenbahnnetz in Ich komme zum Schluss. Gestatten Sie mir noch ei- Deutschland gestellt. Ziel der Bahnreform war und ist es, nen Satz: Ich glaube, ohne diese Voraussetzung kann im das ständig steigende Bedürfnis nach Mobilität in um- (B) (D) Haupttransitland Europas keine hervorragende Verkehrs- weltgerechter Weise abzusichern, in allen Transportbe- politik geleistet werden. reichen mehr Verkehr auf die Schiene zu bringen und mittels Wettbewerb zu erreichen, dass die Bahn effizien- Der Schauspieler Carlo Nell hat einmal gesagt: ter – markt- und kundenorientiert – wirtschaftet, damit Die sicherste Art, einen Zug zu erreichen, besteht sie finanziell aus eigener Kraft lebensfähig ist darin, den vorangegangenen zu versäumen. (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Das war das Wenn Herr Stolpe weiterhin nach diesem Motto handelt, Ziel! Das hätte sollen sein!) wird es für die Verkehrsträger immer schlimmer – und damit letztendlich auch der Bund, der Steuerzahler, entlastet wird. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Eine Zwischenbilanz ist erforderlich. Bei dieser Zwi- Herr Kollege, jetzt ist der letzte Satz aber reichlich schenbilanz gilt es, einen Blick auf das Schienennetz, ausgefüllt. auf die Infrastruktur zu werfen; denn Züge rollen zügig nur auf intakten Gleisen. Bei einem Blick zurück werden Dirk Fischer (Hamburg) (CDU/CSU): wir feststellen, dass die damalige Bundesregierung trotz – und für die Steuerzahler immer teurer. des Wissens um den horrenden Investitionsbedarf die entsprechenden Mittel deutlich zusammengestrichen hat. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: DIE GRÜNEN]: Von Jahr zu Jahr!) Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Heinz Paula. 1998 zum Beispiel konnten nur noch weniger als 3 Milliarden Euro für den Bau von Schienenwegen aus- Heinz Paula (SPD): gegeben werden. Verehrte Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kolle- (Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Die gen! Große Anfrage scheint große Lautstärke zu bedeu- Bahn hat unverbaute Mittel zurückgegeben! ten, dafür aber weniger Inhalte. Sie hat immer mehr gehabt, als sie verbauen konnte!) (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Sie meinen den Kollegen Albert Schmidt! – Horst Friedrich Herr Fischer, ich bitte Sie, jetzt genau zuzuhören: [Bayreuth] [FDP]: Das war aber nicht nett!) Darüber hinaus besteht das Problem, dass neben dem Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2003 5645

Heinz Paula (A) Rückbau im investiven Bereich die ohnehin immer scheidende Voraussetzung für die Steigerung der Ver- (C) knapper werdenden Mittel vor allem für sehr schönge- kehrsleistung und der Wettbewerbsfähigkeit der Bahn rechnete Großprojekte verwendet worden sind. Kollege vorgenommen hat. Wir stehen durch eine Reihe von Oswald, wir beide wissen ganz genau, wie verheerend Maßgaben mit an der Spitze. Ich darf in Anbetracht der die damalige Fehlentscheidung der Bayerischen Staats- Kürze der Zeit nur an die Regionalisierungsmittel in regierung für den gesamten bayerischen Raum war, die Höhe von 6,84 Milliarden Euro und die Mittel aus dem ICE-Strecke von München nach Nürnberg nicht über GVFG-Bundesprogramm in Höhe von rund 1,7 Milliar- Augsburg, sondern über Ingolstadt zu führen. den Euro erinnern. (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Augsburg wäre (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Die habt besser gewesen!) ihr aber nicht erhöht! Die habt ihr schon so Geplant waren 3,5 Milliarden D-Mark, nach dem jetzi- übernommen!) gen Stand sind es 3,5 Milliarden Euro – auf einer nach Wir setzen neue Schwerpunkte auch im Bereich der oben offenen Skala. Gleisanschlüsse. Ich könnte noch mehr Beispiele nen- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten nen. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Die Bahn Kollege Oswald, hier bekommen wir weitere Probleme, baut sie ab und der Steuerzahler baut sie wie- nämlich wenn es darum geht, Mittel für den dringend be- der auf! Das ist ein gutes Geschäft!) nötigten Ausbau der Verbindung von Frankreich über Augsburg und München nach Osteuropa bereitzustellen. Bezüglich der internationalen strukturellen Rah- Für diese Fehler haben Sie geradezustehen. menbedingungen möchte ich unterstreichen, dass unter anderem mit der Umsetzung des ersten Eisenbahninfra- (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Eduard strukturpaktes der EU und der Ergebnisse der Task- Oswald [CDU/CSU]: So leicht kann man es Force die Bedingungen für einen diskriminierungsfreien sich natürlich nicht machen!) Netzzugang und damit für einen fairen Wettbewerb auf Mit dem Regierungswechsel 1998 wurden die Schie- der Schiene weiter verbessert werden. Viele Probleme neninvestitionen deutlich angehoben. bei der Harmonisierung des Wettbewerbs der Verkehrs- träger lassen sich jedoch nur gesamteuropäisch lösen, (Renate Blank [CDU/CSU]: Was ist mit der wie zum Beispiel die Harmonisierung der Leit- und Si- ICE-Trasse über Erfurt?) cherungstechnik bei den europäischen Bahnen, was zu einer wesentlichen Verkürzung der Transportzeiten im (B) Auf hohem Niveau wurden und werden jährlich die (D) Haushaltsmittel für den Aus- und Neubau der Schienen- grenzüberschreitenden Verkehr führen wird, oder die wege bereitgestellt. Kollege Fischer, wie Sie darauf kom- Einführung einer Steuer auf Flugbenzin, die der Bahn men, von einem maroden Schienennetz zu sprechen und gerade auf Langstrecken neue Möglichkeiten zur attrak- dies mit einem entsprechenden Vorwurf an die Bundes- tiven Angebotsgestaltung eröffnen wird. regierung zu verknüpfen, lasse ich einmal dahingestellt. Ein kurzes Wort zur Fortführung der Bahnreform, in Denn gerade auf die Sanierung des Schienennetzes haben der wir uns befinden. Die Bahnreform hat die Entschei- wir unser Hauptaugenmerk gerichtet. Sie wissen: Mit zu- dung über einen späteren Wegfall der Holding bewusst sätzlichen Mitteln aus dem Zukunftsinvestitionspro- offen gelassen. Die künftige Gestaltung und Organisati- gramm haben wir in den letzten drei Jahren insgesamt onsstruktur des Schienenverkehrs kann deshalb ohne Ta- 13,5 Milliarden Euro in diesen Bereich investiert. Wenn bus, Vorurteile und Zeitdruck behandelt werden. Maßstab Sie in Ihrer Regierungszeit nur annähernd so viel ge- für die anstehenden Entscheidungen ist die Erhöhung des macht hätten, hätten wir heute eine Reihe von Problemen Schienenverkehrs. Deshalb erwarten wir von der DB AG weniger. eine weiterhin konsequente Rationalisierungs- und Mo- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ dernisierungspolitik. Wir erwarten, dass sie die Heraus- DIE GRÜNEN – Horst Friedrich [Bayreuth] forderungen des Marktes annimmt und durch innovative [FDP]: Sehen Sie sich die Zahlen seit 1994 und kundengerechte Produkte eine Angebotsoffensive an!) eröffnet. Der Kunde braucht Sicherheit und Verlässlich- keit über das künftige Bahnangebot. Kollege Friedrich, wir haben bei den Investitionen ein hohes Niveau erreicht. Das kann ich so festhalten. Wir (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Das ist wahr!) müssen nun alle Hebel in Bewegung setzen – Kollege Albert Schmidt, ich gebe Ihnen vollkommen Recht –, An dieser Stelle sei es noch einmal ausdrücklich gesagt: dass die Überlegungen der Herren Koch und Steinbrück Die Bahn steckt in dem schwierigen Wandel hin zu einer nicht Wirklichkeit werden. Denn das wäre auf unserem modernen, offensiven Bahn. An dieser Stelle sollten wir Weg, zu einem vernünftigen Schienennetz zu kommen, den Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Bahn, die Enor- mehr als hinderlich. mes geleistet haben – das muss in aller Deutlichkeit aner- kannt werden –, ein Dankeschön aussprechen. Kolleginnen und Kollegen, an den wenigen Beispie- len und Zahlen sehen Sie, dass die Regierungskoalition (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ ihre Verantwortung wahrnimmt und eine klare Weichen- DIE GRÜNEN – Eduard Oswald [CDU/CSU]: stellung für ein leistungsfähiges Schienennetz als ent- Jawohl!) 5646 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2003

Heinz Paula (A) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir werden die zung aufsichtsrechtlicher Bestimmungen zur (C) Maßnahmen zur Verbesserung der Wettbewerbsbedin- Sanierung und Liquidation von Versiche- gungen der Schiene im Verhältnis zu den anderen Ver- rungsunternehmen und Kreditinstituten kehrsträgern auf nationaler und auf europäischer Ebene – Drucksache 15/1653 – fortführen und die Bahnreform kontinuierlich fortsetzen. Einen Rückschritt, wie Sie befürchten, Kollege Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss (f) Friedrich, wird es mit Sicherheit nicht geben. Ich bitte Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Sie dringend – in Zukunft werden Sie ja keine Probleme mehr haben, anwesend sein zu können –, dass wir diesen d) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Prozess nicht über die zwanzigste Kommission beglei- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die ten, sondern dass wir als Parlamentarier unsere ureigene Zustimmung zur Änderung der Satzung des Aufgabe im Parlament wahrnehmen und diesen Prozess Europäischen Systems der Zentralbanken und entsprechend vorantreiben. der Europäischen Zentralbank – Drucksache 15/1654 – Ich bedanke mich sehr herzlich für die Aufmerksam- keit. Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss (f) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union DIE GRÜNEN) e) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Vertrag vom 2. Juli 2001 zwischen der Bundes- Auch wir danken Ihnen und gratulieren Ihnen zu Ihrer republik Deutschland und der Republik Ös- ersten Rede in diesem Hause. terreich über den Verlauf der gemeinsamen Staatsgrenze im Grenzabschnitt „Salzach“ (Beifall) und in den Sektionen I und II des Grenzab- schnitts „Scheibelberg-Bodensee“ sowie in Tei- Ich schließe damit die Aussprache zu diesem Punkt. len des Grenzabschnitts „Innwinkel“ Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf – Drucksache 15/1655 – Drucksache 15/1591 an den Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen vorgeschlagen. Sind Sie da- Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss mit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Über- weisung so beschlossen. f) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Durch- (B) Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschus- führung gemeinschaftsrechtlicher Vorschrif- (D) ses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen zu dem Antrag ten über die Verarbeitung und Beseitigung von der Fraktion der FDP zur Einsetzung einer Kommission nicht für den menschlichen Verzehr bestimm- der Bundesregierung zur Fortsetzung der Bahnreform. ten tierischen Nebenprodukten Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag abzulehnen. Wer – Drucksache 15/1667 – stimmt für diese Beschlussempfehlung des Ausschus- Überweisungsvorschlag: ses? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Beschluss- Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und empfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktio- Landwirtschaft (f) nen gegen die Stimmen der Opposition angenommen. Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ich rufe die Tagesordnungspunkte 26 a bis 26 r sowie g) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- die Zusatzpunkte 2 a bis 2 c auf: gebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Saatgutverkehrsgesetzes 26 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neure- – Drucksache 15/1645 – gelung des Rechts der Verkehrsstatistik Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und – Drucksachen 15/1666, 15/1706 – Landwirtschaft Überweisungsvorschlag: h) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f) gebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Innenausschuss Änderung des Verfütterungsverbotsgesetzes b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- – Drucksache 15/1668 – gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Überweisungsvorschlag: Zusatzprotokoll Nr. 7 vom 27. November 2002 Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und zu der Revidierten Rheinschifffahrtsakte vom Landwirtschaft 17. Oktober 1868 i) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten – Drucksache 15/1649 – Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des Überweisungsvorschlag: Deutschen Richtergesetzes Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen – Drucksache 15/1471 – c) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Überweisungsvorschlag: gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umset- Rechtsausschuss Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2003 5647

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer (A) j) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Änderung des Bundesverfassungsgerichtsge- (C) Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Ge- setzes setzes über die Umweltverträglichkeitsprü- – Drucksache 15/1686 – fung Überweisungsvorschlag: – Drucksache 15/1497 – Rechtsausschuss Überweisungsvorschlag: q) Beratung des Antrags der Abgeordneten Sibylle Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f) Laurischk, Ulrich Heinrich, Horst Friedrich (Bay- Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit reuth), weiterer Abgeordneter und der Fraktion Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft der FDP Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Ausnahmeregelung für Kraftfahrzeug-Haft- Ausschuss für Tourismus pflichtversicherung für landwirtschaftliche k) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Nutzfahrzeuge erhalten Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des – Drucksache 15/759 – Asylverfahrensgesetzes und zur Änderung des Überweisungsvorschlag: Ausländergesetzes Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f) – Drucksache 15/903 – Rechtsausschuss Finanzausschuss Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Innenausschuss (f) Landwirtschaft Rechtsausschuss Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe r) Beratung des Antrags der Abgeordneten Markus Löning, Horst Friedrich (Bayreuth), Angelika l) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Brunkhorst, weiterer Abgeordneter und der Frak- Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des tion der FDP Bundesvertriebenengesetzes Lärmschutz an der Anhalter Bahn – Folgen Überweisungsvorschlag: Innenausschuss der Teilung Berlins überwinden m)Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- – Drucksache 15/1115 – gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Überweisungsvorschlag: Übereinkommen vom 17. Oktober 2000 über Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f) Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit die Anwendung des Artikels 65 des Überein- (D) (B) kommens über die Erteilung europäische Pa- ZP 2a) Beratung des Antrags der Bundesregierung tente Fortsetzung und Erweiterung der Beteiligung – Drucksache 15/1647 – bewaffneter deutscher Streitkräfte an dem Einsatz einer Internationalen Sicherheitsun- Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss (f) terstützungstruppe in Afghanistan auf Grund- Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit lage der Resolutionen 1386 (2001) vom 20. De- Ausschuss für Bildung, Forschung und zember 2001, 1413 (2002) vom 23. Mai 2002, Technikfolgenabschätzung 1444 (2002) vom 27. November 2002 und 1510 n) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- (2003) vom 13. Oktober 2003 des Sicherheits- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände- rats der Vereinten Nationen rung des Gesetzes über internationale Pa- – Drucksache 15/1700 – tentübereinkommen Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss (f) – Drucksache 15/1646 – Rechtsausschuss Überweisungsvorschlag: Verteidigungsausschuss Rechtsausschuss (f) Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ausschuss für Bildung, Forschung und Entwicklung Technikfolgenabschätzung Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO o) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Schutz gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neu- des olympischen Emblems und der olympi- ordnung der Sicherheit von technischen Ar- schen Bezeichnungen (OlympSchG) beitsmitteln und Verbraucherprodukten – Drucksache 15/1669 – – Drucksache 15/1620 – Überweisungsvorschlag: Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss (f) Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f) Sportausschuss Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft p) Erste Beratung des von den Fraktion der SPD und Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN einge- Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen brachten Entwurfs eines Siebten Gesetzes zur Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit 5648 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2003

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer (A) c) Erste Beratung des von der Bundesregierung haltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Be- (C) eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem ratung einstimmig angenommen. Abkommen vom 13. Januar 2003 zwischen Dritte Beratung der Regierung der Bundesrepublik Deutsch- land und der Regierung der Sonderverwal- und Schlussabstimmung. Bitte erheben Sie sich, wenn tungsregion Hongkong der Volksrepublik Sie dem Gesetzentwurf zustimmen wollen. – Gibt es Ge- China zur Vermeidung der Doppelbesteue- genstimmen? – Gibt es Enthaltungen? – Das ist nicht der rung von Schifffahrtsunternehmen auf dem Fall. Also wurde der Gesetzentwurf auch in dritter Bera- Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom tung einstimmig angenommen. Vermögen Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Pe- – Drucksache 15/1644 – titionsausschusses. Überweisungsvorschlag: Tagesordnungspunkt 27 b: Finanzausschuss (f) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ausschusses (2. Ausschuss) Es handelt sich um Überweisungen im vereinfach- Sammelübersicht 58 zu Petitionen ten Verfahren ohne Debatte. – Drucksache 15/1536 – Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu tungen? – Sammelübersicht 58 ist mit den Stimmen der überweisen. Zu dem Entwurf eines Gesetzes zur Neure- Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der gesamten gelung des Rechts der Verkehrsstatistik liegt inzwischen Opposition angenommen. auf Drucksache 15/1706 die Gegenäußerung der Bun- desregierung zu der Stellungnahme des Bundesrates vor, Tagesordnungspunkt 27 c: die wie der Gesetzentwurf überwiesen werden soll. Sind Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann sind ausschusses (2. Ausschuss) die Überweisungen so beschlossen. Sammelübersicht 60 zu Petitionen Wir kommen zu den Tagesordnungspunkten 27 a bis 27 g. Es handelt sich um die Beschlussfassung zu Vorla- – Drucksache 15/1569 – gen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist. Wer stimmt dafür? – Gibt es Gegenstimmen? – Ent- haltungen? – Sammelübersicht 60 ist einstimmig ange- (B) Tagesordnungspunkt 27 a: nommen. (D) Zweite und dritte Beratung des von der Bundes- Tagesordnungspunkt 27 d: regierung eingebrachten Entwurfs eines Geset- Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- zes zu dem Vertrag vom 29. April 2003 zwi- ausschusses (2. Ausschuss) schen der Bundesrepublik Deutschland und dem Königreich der Niederlande über die Durchfüh- Sammelübersicht 61 zu Petitionen rung der Flugverkehrskontrolle durch die Bun- – Drucksache 15/1570 – desrepublik Deutschland über niederländischem Hoheitsgebiet und die Auswirkungen des zivi- Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun- len Betriebes des Flughafens Niederrhein auf das gen? – Auch Sammelübersicht 61 wurde einstimmig zu- Hoheitsgebiet des Königreichs der Niederlande gestimmt. (Gesetz zu dem deutsch-niederländischen Ver- Tagesordnungspunkt 27 e: trag vom 29. April 2003 über den Flughafen Niederrhein) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- ausschusses (2. Ausschuss) – Drucksachen 15/1522, 15/1651 – Sammelübersicht 62 zu Petitionen (Erste Beratung 63. Sitzung) – Drucksache 15/1571 – Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- Wer stimmt dafür? – Gibt es Gegenstimmen? – Ent- ses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen haltungen? – Sammelübersicht 62 ist einstimmig ange- (14. Ausschuss) nommen. – Drucksache 15/1697 – Tagesordnungspunkt 27 f: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- Berichterstattung: ausschusses (2. Ausschuss) Abgeordneter Norbert Königshofen Sammelübersicht 63 zu Petitionen Der Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswe- – Drucksache 15/1572 – sen empfiehlt, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun- um das Handzeichen. – Gibt es Gegenstimmen? – Ent- gen? – Einstimmige Zustimmung. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2003 5649

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer (A) Tagesordnungspunkt 27 g: ZP 3 Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD (C) und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- ausschusses (2. Ausschuss) Den Weg für Investition und Innovation durch den Abbau bürokratischer Hemmnisse frei- Sammelübersicht 64 zu Petitionen machen – Drucksache 15/1573 – – Drucksache 15/1707 – Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun- Überweisungsvorschlag: gen? – Sammelübersicht 64 ist mit den Stimmen von Innenausschuss (f) SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP gegen die Stim- Auswärtiger Ausschuss men von CDU/CSU angenommen. Sportausschuss Rechtsausschuss Ich rufe die Tagesordnungspunkte 7 a, 7 c und 7 d so- Finanzausschuss wie Zusatzpunkt 3 auf: Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und 7 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Landwirtschaft Dr. Michael Fuchs, Karl-Josef Laumann, Dagmar Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Wöhrl, weiterer Abgeordneter und der Fraktion Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen der CDU/CSU Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Freiheit wagen – Bürokratie abbauen Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung – Drucksache 15/1330 – Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Überweisungsvorschlag: Entwicklung Innenausschuss (f) Ausschuss für Tourismus Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Sportausschuss Ausschuss für Kultur und Medien Rechtsausschuss Haushaltsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Widerspruch höre Landwirtschaft Verteidigungsausschuss ich nicht. Dann ist so beschlossen. Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen der Abgeordnete Michael Fuchs. (B) Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (D) Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für Bildung, Forschung und Dr. Michael Fuchs (CDU/CSU): Technikfolgenabschätzung Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen! Liebe Kolle- Entwicklung gen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Lassen Ausschuss für Tourismus Sie mich diese Debatte mit einem Zitat Otto von Bis- Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union marcks beginnen, Ausschuss für Kultur und Medien Haushaltsausschuss ( [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Birgit Oh weh!) Homburger, Rainer Brüderle, Daniel Bahr der seinerzeit schon beklagte: „Die Bürokratie ist es, an (Münster), weiterer Abgeordneter und der Frak- der wir überall kranken“. tion der FDP Anreize zum Bürokratieabbau setzen – Büro- (Beifall bei der CDU/CSU) kratiekosten-TÜV einrichten Herr Kuhn, das war schon damals richtig. Die Bun- – Drucksache 15/1006 – desregierung hat das auch erkannt. Die Folge daraus ha- ben wir im Oktober 2002 ja verspürt, nämlich die Groß- Überweisungsvorschlag: Innenausschuss (f) ankündigung des berühmten Masterplans durch den Rechtsausschuss Bundesminister für Wirtschaft, Wolfgang Clement. Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: d) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Sehr gut!) richts des Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit (9. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Am 26. Februar dieses Jahres – die Ankündigungen Rainer Brüderle, Dirk Niebel, Birgit Homburger, kommen immer sehr früh, aber die Umsetzung erfolgt weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP erst ein halbes Jahr später – wurde das Eckwertepapier dieses Masterplans herausgebracht. Am 9. Juli wurde Abbau von Bürokratie sofort einleiten das Gesamtkonzept der Initiative Bürokratieabbau – Drucksachen 15/65, 15/1183 – vorgestellt. Berichterstattung: (Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Abgeordneter Fritz Kuhn Sehr gut!) 5650 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2003

Dr. Michael Fuchs (A) Ergebnis – Herr Kuhn, jetzt wird es spannend –: Von den (Walter Hoffmann [Darmstadt] [SPD]: Posi- (C) 54 Punkten, die Sie angekündigt haben, tive, nur positive!) (Walter Hoffmann [Darmstadt] [SPD]: 52!) Also, Ihr Erfindungsreichtum ist wirklich großartig. haben Sie bis heute vier realisiert. Das sind noch nicht (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und einmal 10 Prozent. 200 Prozent werden immer angekün- der FDP) digt und noch nicht einmal 10 Prozent umgesetzt. Ich will dies anhand einiger Zahlen belegen, die Sie, Realisiert haben Sie eine Anhebung bei den Buchfüh- Herr Kuhn, nicht wegdiskutieren können: Seit der letz- rungsgrenzen, einige Regelungen beim Kriegsdienstver- ten Bundestagswahl – das ist noch nicht so lange her – weigerungsrecht und bei der Ausbildereignungsverord- haben Sie schon 52 neue Gesetze und 442 Rechtsverord- nung – ganz nebenbei: das war sehr vernünftig – sowie nungen geschaffen. die Reform der Arbeitsstättenverordnung; darauf komme ich noch zurück. Das, was Sie machen, ist kein Master- ( [CDU/CSU]: Grandios!) plan, sondern ein Armutszeugnis. Ich möchte an uns alle appellieren: Diese Verord- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) nungen sehen wir im Parlament nicht. Wir beschließen Verordnungsermächtigungen. Die Verordnungen selber, Mittlerweile ist es so weit, dass sogar Juso-Chef Annen in denen dann die Details festgelegt werden – bekannter- sagt – ihn kann ich ganz unverblümt zitieren –: Clement maßen steckt der Teufel im Detail –, sehen wir nicht. Sie ist ein Ankündigungsweltmeister. Mehr kommt nicht da- sind für mich parlamentarisch nicht ordnungsgemäß le- bei heraus. gitimiert. Mit diesem Thema müssen wir uns einmal ge- Zurück zur Arbeitsstättenreform. Auch diese Reform meinsam auseinander setzen; denn da steckt die meiste – ich habe mir die Sache einmal angesehen – ist enttäu- Bürokratie. Vieles, was vielleicht gut gemeint ist, wird schend. Der Verordnungstext ist zwar erheblich ge- übertrieben umgesetzt. An diesen Punkt müssen wir ge- schrumpft, nämlich von 58 auf zehn Paragraphen. Aber meinsam herangehen. was haben Sie gemacht? Sie haben schlicht und einfach Die IHK des Saarlandes hat geschätzt, dass die deut- die Details aus diesen 58 Paragraphen in den Anhang sche Wirtschaft mittlerweile 30 Milliarden Euro pro Jahr verschoben. Das ist nichts anderes als eine Umbuchung. für Bürokratiedienste ausgeben muss. Die Kosten dieses Geholfen hat das der Wirtschaft und den betroffenen Un- Wirrwarrs bei der umfangreichen Änderung der Steuer- ternehmen mit Sicherheit nicht. gesetze von 1999, die 2000 noch einmal korrigiert und (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und 2001 wieder neu gefasst wurden, sind dabei noch gar (B) der FDP) nicht berücksichtigt. Es ist doch ein Treppenwitz, dass in (D) Deutschland 70 Prozent der Weltsteuerliteratur produ- Fast ein Jahr ist nun schon die clementsche Offensive ziert wird, bei 3 Prozent des Weltsteueraufkommens. her und Deutschland erstickt im rot-grünen Demokratie- Das muss uns allen zu denken geben. An dieses Monster wust. Lassen Sie mich noch einen Herrn zitieren: müssen wir herangehen. Wir werden die Verwaltung schlanker und effizien- Noch etwas – Herr Kuhn, hier muss ich Sie anspre- ter machen, und wir werden hemmende Bürokratie chen, weil das Ihr liebstes Kind ist –: die Ökosteuer. In rasch beseitigen … Dabei werden wir überflüssige den Hauptzollämtern sind die Beamten mit nur einem Vorschriften streichen … einzigen Antrag auf Mineralölsteuererstattung bis zu Wissen Sie, wer das gesagt hat? – Das war der Bundes- fünf Stunden beschäftigt. Bürokratischer kann man das kanzler in seiner Regierungserklärung von 1998. nun wirklich nicht machen. (Walter Hoffmann [Darmstadt] [SPD]: Wo er (Beifall bei der CDU/CSU – Fritz Kuhn [BÜND- Recht hat, hat er Recht!) NIS 90/DIE GRÜNEN]: Deswegen bin ich ge- gen diese Ausnahmen!) Was ist daraus geworden? Warum tun Sie denn nichts? Die Bürokratieschraube dreht sich immer schneller. Der Der Ausstoß der rot-grünen Bürokratieformulierungsma- Wust von neuen Regelungen wird immer größer. schinerie hat ein Tempo erreicht, das wahrscheinlich schon die Erfinder selbst schwindlig macht. Sie sind auf Ich will nur einmal an die Ämter erinnern, die Sie dem Weg, bei den Gesetzen nur noch Masse zu produ- eingerichtet haben. Das Zulagenamt für die Verwaltung zieren, aber keine Klasse. Auch dazu habe ich einige der Riester-Rente hat mittlerweile 600 Mitarbeiter. Die Beispiele. Finanzagentur für öffentliche Schuldenverwaltung – bei den vielen Schulden, die Sie machen, brauchen Sie diese Ankündigungsminister Clement wird für mich zum Agentur tatsächlich; das kann ich verstehen – beschäftigt Eichel der Wirtschaftspolitik. Er häuft mittlerweile so schon 100 Mitarbeiter. Die Privatisierungsgesellschaft viel Bürokratie auf, wie Hans Eichel Schulden macht. der Bundeswehr, die GEBB, die bis heute auf dem Lie- (Beifall bei der CDU/CSU) genschaftssektor noch keine Einnahmen verzeichnet, hat mittlerweile 200 Mitarbeiter. Bürokratie zu schaffen ist Diese Seuche von Bürokratie haben Sie in die anderen für Sie ganz einfach. Ich bin überzeugt, bei der Umset- Ministerien übertragen. Nehmen Sie nur einmal das Do- zung von Hartz III und IV werden wir in Kürze ähnliche senpfand oder gar die Maut. Mich hat eine Bürgermeis- Verhältnisse haben. terin aus dem schönen Eifelörtchen Polch, Frau Moesta, Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2003 5651

Dr. Michael Fuchs (A) angeschrieben und mir mitgeteilt, dass Sie wieder etwas brauchen, ist ein systematisches Großkonzept, um uns (C) ganz Neues erfunden haben. Denn bei Toll Collect muss selbst aus diesem Bürokratiesumpf – da meine ich uns man jetzt jedes Feuerwehrfahrzeug von der Mautpflicht alle – herauszuziehen. Ein solches Konzept liegt mit un- befreien lassen. Aber, Herr Hoffmann, es ist nicht so, serem Antrag „Freiheit wagen – Bürokratie abbauen“ dass das für immer gilt und Feuerwehrfahrzeug gleich auf dem Tisch. Wir wollen mit Ihnen gemeinsam dieses Feuerwehrfahrzeug ist; nein, das muss man jedes Jahr Masterkonzept umsetzen und wollen grundsätzliche wieder neu beantragen. Das ist ein riesiger bürokrati- Maßnahmen und Instrumente haben, mit denen wir end- scher Aufwand. Stellen Sie sich die Tausende von Fahr- lich aus der schwierigen Situation herauskommen. zeugen vor. Warum man nicht eine generelle Befreiung für solche Fahrzeuge einführt, ist für mich absolut un- Das muss auch eine Selbstverpflichtung des Parla- verständlich. mentes sein. Wir müssen nicht nur Gesetzgeber sein, sondern auch Gesetznehmer werden. Wir wollen Vor- (Zuruf von der FDP: Da wiehert der Amts- schläge haben, wie die Verordnungen wegkommen. Es schimmel!) muss bei über 40 000 Verordnungen möglich sein, zwei abzuschaffen, wenn eine neue geschaffen wird. Wir Ähnliches erleben wir bei unseren Soldaten in Afgha- müssen radikal herangehen. Anders werden wir diesen nistan mit ihren Bundeswehrfahrzeugen, die keine Ab- Wust nie in den Griff bekommen. Bei den vielen Verwal- gassonderuntersuchung haben. Die dürfen dann damit tungsvorschriften kann und sollte das möglich sein. nicht fahren. Der Verteidigungsminister hat damit seine Probleme in Afghanistan gehabt. Solche bürokratischen Wir haben uns darum zu kümmern, dass mehr Ent- Monster – ich glaube, in Afghanistan gibt es mehr Au- scheidungsfreiheit für die Bürger da ist. Es muss darum tos, die gar keinen Auspuff haben, als solche mit Aus- gehen, nicht mehr Staat, sondern weniger Staat zu schaf- puff – sollten möglichst abgeschafft werden. Das sind fen. Da sind wir alle gefordert. Lachnummern. Damit machen wir uns in der Welt lä- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) cherlich. Wenn wir das gemeinsam angehen, sind wir auf dem (Beifall bei der CDU/CSU) richtigen Weg. Ich habe wirklich das Gefühl, dass die Bürokratie- Die Ausrichtung des Bürokratieabbaus muss sich liebe bei vielen von Ihnen eher dazu führt, dass Sie den meiner Ansicht nach streng an das Subsidiaritätsprinzip Masterplan falsch verstanden haben und ihn nicht zu ei- halten. Das halte ich für die einzige Lösung, um aus die- nem Abbauprogramm, sondern zu einem Aufbaupro- ser Misere herauszukommen. gramm machen. Wir sollten endlich beginnen, die (B) unnützen Verordnungen – da will ich nur zwei kleine Wir haben unsere Vorschläge mit den Wirtschaftsver- (D) Beispiele nennen – radikal abzubauen. Das haben zwei bänden diskutiert, bei denen wir großes Verständnis ge- Bundesländer hervorragend gemacht. Im Saarland hat funden haben. man mittlerweile über 50 Prozent der Verordnungen ge- strichen und man stelle sich vor: Das hat kaum jemand (Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: gemerkt. In Hessen ist man auf dem gleichen Weg. Wa- Beim Handwerk zum Beispiel!) rum tun wir nicht etwas Ähnliches? Denn eine Vorschrift Man hat uns gesagt, genau das sei in Deutschland not- wie „Halsorden sind an einem Band um den Hals zu tra- wendig, um so schnell wie möglich aus der Misere he- gen“ oder die Anweisung in einer Zentralen Dienstvor- rauszukommen. schrift der Bundeswehr „Ab 1,25 m Wassertiefe hat der Soldat mit Schwimmbewegungen zu beginnen“ finde ich In vielen Bereichen des Bürokratieabbaus ist es – das relativ überflüssig. sollte man wissen – ähnlich wie bei den Subventionen. Grundsätzlich wollen alle Bürokratieabbau, wenn es (Beifall bei der CDU/CSU) dann aber um spezifische Bereiche geht, ist die Bereit- schaft dazu nicht mehr besonders groß. Wir sollten gemeinsam daran arbeiten, dass ein solcher Blödsinn möglichst schnell verschwindet. (Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Handwerksordnung! – Ute Kumpf [SPD]: Ho- Man hat sich in Deutschland leider daran gewöhnt, bei- norarordnung für Ingenieure!) nahe bei jedem Lebensbereich auf eine passende Vor- schrift zurückgreifen zu können. Auf eigenes Risiko – da Meine Damen und Herren, ich habe Ihnen erläutert, werde ich jetzt sehr ernst – und ohne Rückendeckung, was ich von der Arbeit der Bundesregierung halte. Im ohne Regelungen zu handeln, ist unüblich und vielfach Bereich Bürokratieabbau war das bisher nicht allzu viel. unmöglich geworden. Ernsthafter Bürokratieabbau bedeu- Ich fordere Sie auf: Nehmen Sie unsere Vorschläge zum tet aber mehr Risiko, mehr Freiheit und mehr Eigenver- Bürokratieabbau an, werden Sie Ihren eigenen Wahlver- antwortung. Diese Wandlung kann für mich nur durch sprechen – ich habe eben den Bundeskanzler zitiert – ge- ein geändertes Bewusstsein vollzogen werden. Der recht und machen Sie der flächendeckenden Bürokratie Schlüssel hierzu liegt im Subsidiaritätsprinzip. den Garaus! Das würde einen erheblichen Schwung in unser Land bringen, den wir auch brauchen. Was immer im engeren Lebenskreis getan werden kann, muss und soll dort verantwortet werden. Subsidiarität, „Wenn es nicht notwendig ist, ein Gesetz zu erlassen, konsequent und modern praktiziert, verhindert letztend- ist es notwendig, kein Gesetz zu erlassen.“ Diesen Aus- lich, dass Deutschland an zu viel Staat erstickt. Was wir spruch Montesquieus sollten wir gemeinsam beherzigen. 5652 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2003

Dr. Michael Fuchs (A) Ich glaube, damit sind wir auf dem richtigen Weg. Ich einzelne Leistungen gab, sind sicherlich im Einzelfall (C) wünsche mir auch, dass wir das gemeinsam in die Wege gerechter, werden aber durch pauschalierte Leistungen leiten. zur Abdeckung des Regelbedarfs ersetzt, durch die alles abgedeckt ist. Das ist eine Vereinfachung, bei der aber Vielen Dank. auch in Kauf genommen wird, dass der Einzelfall viel- (Beifall bei der CDU/CSU) leicht nicht bis auf die zweite Stelle hinter dem Komma gerecht geregelt wird. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Wir müssen insofern alles, was wir mit dem Bürokra- Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Dr. Michael tieabbau erreichen wollen, in dieses Spannungsverhält- Bürsch. nis setzen. Jetzt kommt die positive Botschaft: Genau das macht der erwähnte Masterplan der Bundesregie- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) rung. Dr. Michael Bürsch (SPD): (Andrea Astrid Voßhoff [CDU/CSU]: Nicht!) Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Er setzt nämlich genau an der Stelle an, das Spannungs- An das letzte Zitat des Kollegen Fuchs kann ich nahtlos verhältnis zwischen Vereinfachung und Rechtssicherheit anknüpfen. „Weniger ist mehr“ gilt sicherlich für die Ge- sachgerecht aufzulösen. Verfahren und Antragserforder- setzgebung. Aber – wenn wir einmal die Polemik weg- nisse sollen so weit abgebaut werden, wie sie Hemm- lassen, Herr Fuchs – nisse für Innovationen oder Investitionen darstellen. (Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: Ich habe doch keine Polemik gemacht!) Alle beklagen die Bürokratie. Wir fragen uns aber auch, wo sie überhaupt entsteht. Ein genauer Blick zeigt, wenn man die vorgelegten Entwürfe vergleicht, lässt dass wahrhaftig nicht nur die Gesetze für den hohen Büro- sich fraktions- und parteiübergreifend eines feststellen: kratieaufwand sorgen. Es liegt vielmehr auch an Folgen- In Deutschland herrscht in der Tat kein Mangel an dem: Im Gesundheits- und Sozialversicherungsbereich re- Rechtsvorschriften. Es gibt vielmehr eine deutliche Ten- gistrieren wir jährlich 700 Millionen Kassenrezepte mit denz zur Überregulierung. mehr als 900 Millionen Verordnungen, 113 Millionen (Arnold Vaatz [CDU/CSU]: Das stimmt!) Meldungen der Arbeitgeber an die Einzugsstellen für So- zialversicherungsbeiträge sowie 120 Millionen Beitrags- Das ist aber nicht neu; es ist nicht das Ergebnis der ver- nachweise, im Steuer- und Kfz-Bereich 34 Millionen gangenen fünf Jahre. Die 86 000 Paragraphen auf Bun- Lohnsteuerkarten, 29 Millionen Einkommensteuererklä- (B) (D) desebene sind bereits in den letzten 50 Jahren entstan- rungen und 15 Millionen Kfz-Neuzulassungen sowie im den. An dem Bestand hat sich nicht viel geändert. Meldewesen 14 Millionen Anträge auf Personalausweise und Reisepässe bei den Meldestellen, 6,5 Millionen Die Wurzeln der Regulierungsdichte liegen wohl in Wohnungsan- und -abmeldungen und 750 000 Geburts- einer deutschen Liebe zum Detail oder, wie manche sa- anzeigen bei den Standesämtern. Hier erlaube ich mir ei- gen, in einer Kultur des Misstrauens. Im Unterschied zu nen kleinen Hinweis grundsätzlicher Art. Es gibt Länder angelsächsischen Traditionen erscheint es uns offenbar wie zum Beispiel Frankreich und die USA, die über- notwendig, alles bis ins Kleinste zu normieren und zu haupt kein zentrales nationales Meldewesen haben. überwachen. Ein ganz engmaschig geknüpftes Netz von Wir in Deutschland – luxuriös wie wir sind – leisten uns Vorschriften allein ist jedoch kein Garant für eine entwi- gleich zwei, nämlich Standesämter und Einwohnermel- ckelte Streit- oder Entscheidungskultur. Dies wird immer deämter. Ich möchte gerne, dass wir parteiübergreifend dann deutlich, wenn langwierige Verwaltungsverfahren – die darüber nachdenken, ob wir uns das weiterhin leisten wir genauso beklagen wie Sie – über alltägliche Begebenhei- können oder ob wir nicht eine gemeinsame Initiative er- ten durchlaufen werden oder Bagatellkonflikte über Jahre ei- greifen sollten, um diese beiden Meldebehörden zusam- ner abschließenden Entscheidung harren. menzulegen. Vergleichbares gelingt uns jetzt ja auch bei Die Vereinfachung der Entscheidungsprozesse im der Arbeitslosen- und der Sozialhilfe. Verwaltungsverfahren – oder kurz: Bürokratieabbau – ist ein wünschenswertes und parteiübergreifendes Ziel. Da- (Beifall bei der SPD) rin sind wir uns völlig einig. Es lässt sich allerdings nicht Wichtig sind die Lösungsansätze. Hier möchte ich ein isoliert verfolgen, sondern es ist in einem Spannungsver- paar Stichworte nennen. Das haben Sie, Herr Fuchs, un- hältnis mit anderen Zielen zu sehen. Ich glaube, das terlassen. Sie haben nur eine breite Polemik geboten und muss bei allen populistischen Forderungen nach Büro- danach eine allgemeine Philosophie vorgetragen, die ich kratieabbau im Blick behalten werden. Die anderen voll unterstütze. Welches sind die Handlungsfelder? Ziele sind nämlich Rechtssicherheit und Einzelfallge- Ganz wichtig ist der Arbeitsmarkt. Insbesondere die rechtigkeit. Hemmnisse für Existenzgründungen und Selbstständig- Fest steht eines: Regelungsdichte vermittelt im Ein- keit müssen wir identifizieren und abbauen. Auch im zelfall sicherlich gerechtere Entscheidungen, als es pau- Bereich der Sozialverwaltung – ich habe ein Beispiel ge- schale Lösungen können. Die Regierung geht mit gutem nannt – lassen sich durchaus Ansatzpunkte feststellen. Beispiel voran. Morgen wird das neue Sozialhilfegesetz Mit dem Hartz-Konzept, das zum Beispiel den Übergang verabschiedet. Die Einzelabrechnungen, die es bisher für auf pauschalierte Sätze vorsieht, unternimmt die Bun- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2003 5653

Dr. Michael Bürsch (A) desregierung durchaus einen sinnvollen Versuch der Ar- Zum Schluss noch einen Hinweis: Bürokratieabbau, (C) beitserleichterung. mit dem ich mich als Verwaltungsreformer die letzten zehn Jahre intensiv beschäftigt habe, ist, wie schon ein- Ein weiteres Stichwort ist „Staat-Bürger-Verhält- gangs erwähnt, ein Langzeitthema. Solange es Vorschrif- nis“. Es gibt viele öffentlich wahrgenommene Aufga- ten gibt, wird über Bürokratie geklagt werden. Wir müs- ben, die den Staat an die Grenze seiner Leistungsfähigkeit sen uns dem trotzdem stellen. Aber Bürokratieabbau bringen. Wenn wir im Sinne einer Bürgergesellschaft über darf keine isolierte Maßnahme sein. Wer an eine Ver- ein neues Verhältnis, eine neue Verantwortungsvertei- waltungsreform denkt, kommt nicht an dem bekannten lung zwischen Staat und Gesellschaft nachdenken, wenn Gesetz von Murphy vorbei. Herr Fuchs, für den Bereich wir also die Bürger wieder zu mehr Selbstorganisation von Bürokratieabbau und Verwaltung bedeutet Murphy’s und Selbstverantwortung bringen wollen Gesetz dreierlei: Erstens. Nichts ist so leicht, wie es aus- (Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: Das steht in sieht. Zweitens. Jede Lösung bringt neue Probleme. unserem Papier!) Drittens. Wenn das Problem nicht mehr besteht, bleiben immer noch Leute, die an der Lösung arbeiten. – das will die SPD mindestens genauso wie die CDU/ Das sollte keine Erinnerung an die Arbeit im Bundes- CSU und viel mehr als die FDP –, dann müssen wir für tag sein. Gemeint war damit: Bürokratieabbau erfordert Erleichterungen sorgen und Bürokratie vermeiden, wo es auch die Einsicht von Murphy. möglich ist. Vielen Dank. (Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: Dann folgen Sie unserem Antrag!) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Das betrifft zum Beispiel den Bereich, für den ich mich besonders einsetze, nämlich Ehrenamt und bürger- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: schaftliches Engagement. Ich bin sehr dafür, dass wir den Organisationen, für die Menschen ehrenamtlich tätig Gut, dass Murphy so kurz war, daher haben Sie den sind, die Wahrnehmung der Meldepflicht erleichtern. Im letzten Satz zeitlich noch hinbekommen. Moment müssen solche Organisationen den Sozialversi- Das Wort hat jetzt die Kollegin Birgit Homburger. cherungen monatlich melden, wer bei ihnen ehrenamt- lich tätig ist. Das betrifft auch die Aufwandsentschädi- Birgit Homburger (FDP): gungen. Hier kann man zum Beispiel durch eine Verlängerung der Meldefristen für Erleichterung sorgen. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! (B) Auch die Abrechnungsmodalitäten für die Mittelverwen- Wir haben heute erneut eine Debatte zum Thema Büro- (D) dung können vereinfacht werden. Es gibt hier einige kratieabbau. Wenn man den Reden hier Glauben schen- Möglichkeiten. ken soll, dann sind wir uns offensichtlich in dem Ziel ei- nig. Das ist eine gute Voraussetzung, um etwas zu Mein letztes Stichwort ist „E-Government“, also – zu erreichen. Ich frage mich aber, warum wir dann so wenig Deutsch – die elektronische Wahrnehmung von zustande bringen. Warum bringen Sie von der Regie- öffentlichen Aufgaben. rungskoalition bei diesem Thema so wenig zustande? (Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: Da sind wir (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten auf dem drittletzten Platz!) der CDU/CSU – Dr. Michael Bürsch [SPD]: Das ist eine Fehleinschätzung!) Ich sehe darin ein gewaltiges Feld. Es wäre wünschens- wert, wenn wir das, was sich der Bund in seinem Pro- Sie schreiben in Ihrem Antrag, dass Sie mit dem Bü- gramm „Deutschland-Online“ vorgenommen hat, im Be- rokratieabbau – ich zitiere – „die Stärkung der Wettbe- reich des elektronischen Regierungshandelns bzw. des werbsfähigkeit … und die spürbare Entlastung von Bür- öffentlichen Handelns umsetzten, wenn wir vereinfachte gerinnen und Bürgern“ erreichen wollen. und für alle verständliche Regelungen fänden und wenn (Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: wir dafür sorgten, dass sich daran möglichst viele Men- Sehr gut!) schen beteiligen. Es darf keine Trennung zwischen Inter- netnutzern und denjenigen geben, die über keinen Zu- Damit könnten wir anfangen. Wir haben morgen im gang zum Internet verfügen. Wir sind dafür, dass dieses Deutschen Bundestag einige Entscheidungen auf der Ta- Programm bis 2005 in großem Stil verwirklicht wird. gesordnung, die tatsächlich zu einer Entlastung führen Wir sollten uns aber – das mahne ich an – darauf ver- könnten. ständigen, dass es keine isolierte Lösung des Bundes ge- (Zuruf von der SPD: Da sind wir gespannt, wie ben darf. Länder wie Bremen und Schleswig-Holstein Sie sich verhalten werden!) sind bei der Einrichtung von elektronischem Regie- rungshandeln, von E-Government, schon weit voraus. Zum Beispiel geht es morgen im Zusammenhang mit Wir müssen, wenn wir wollen, dass das ein Projekt wird, dem Haushaltsbegleitgesetz auch um das Vorziehen der das auch national funktioniert, einen gemeinsamen An- Steuerreform. Sie wollen das aber über Schulden finan- satz finden, und zwar sowohl auf der Bundesebene als zieren und dadurch, dass Sie den Bürgern zusätzliche auch auf der Länderebene und auch auf der kommunalen Lasten aufbürden, die hinterher alles, was an Entlastun- Ebene. Das halte ich für sehr wichtig. gen hätte kommen sollen, auffressen. 5654 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2003

Birgit Homburger (A) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) vaten und der öffentlichen Arbeitgeber, der Länderbe- (C) hörden, der Gewerkschaften und der Träger der gesetzli- Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich würde mir gut chen Unfallversicherung, überlegen, was ich in Anträge hineinschreibe! (Dirk Niebel [FDP]: Was ist mit den Kirchen? Wir werden hier einen Gesetzentwurf zum Thema – Zuruf von der SPD: Die FDP fehlt!) Steuerreform vorlegen, der eine Vereinfachung vorsieht und der Bürgerinnen und Bürgern die Möglichkeit gibt, die zukünftig definieren sollen, welche Regelungen der wieder zu verstehen, was sie beim Finanzamt abliefern Arbeitsstättenverordnung auf einen Betrieb anzuwenden müssen. sind. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Sehr geehrte Damen und Herren, ich kann Sie nur der CDU/CSU – Dr. Michael Bürsch [SPD]: auffordern: Ziehen Sie diesen Unsinn zurück, anstatt ihn Das wäre schön! Das ist richtig!) auch noch anzupreisen, und legen Sie eine wirkliche De- – Das werden Sie noch sehen; dem können Sie dann zu- regulierung vor! stimmen. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Sie schreiben auch von Meilensteinen auf dem Weg der CDU/CSU) zu weniger Bürokratie und davon, dass Sie mehr unter- Das Problem ist aber, dass Ihnen der Mut fehlt; denn nehmerische Freiheit erreichen wollen – und das bei ei- Deregulierung würde ja bedeuten, dass man bestimmte ner Last von 30 Milliarden Euro Bürokratiekosten im Regelungen abschaffen müsste. Das wäre doch das Ziel. Jahr bei den Betrieben, das heißt, pro Arbeitsplatz bei ei- Es gibt in dieser glorreichen Arbeitsstättenverordnung nem kleinen Betrieb ungefähr 3 600 Euro und bei einem Regelungen zur Beschaffenheit der Abfallbehälter, zur Großbetrieb ungefähr 150 Euro Belastung. Insbesondere Mindestbreite von Laderampen, zur Mindestgrundfläche für die kleinen und mittleren Betriebe ist das eine un- von Büros, zur Beschaffenheit der Oberlichter, zur Min- glaubliche finanzielle Belastung, die sie durch Mehrar- destraumtemperatur, zur Beleuchtung und zur Selbstbe- beit aufbringen müssen. Durch das, was Sie in den letz- leuchtung der Lichtschalter. Wenn Ihnen selbst bei so ten Jahren entschieden haben, ist diese Last noch größer popeligen Dingen – ich sage das einmal ganz deutlich – geworden. der Mut fehlt, etwas abzuschaffen, und Sie stattdessen (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten die Regelungen von einem Paragraphen in den Anhang der CDU/CSU – Dirk Niebel [FDP]: Schein- verschieben, dann sind Sie zum Regieren nicht in der selbstständigkeit!) Lage. (B) Sie werden sich in der nächsten Woche damit auseinan- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (D) der setzen müssen, weil es dazu ein neues Gutachten Nun komme ich auf das Thema Innovationsregionen gibt. Das wird Ihnen die Zahlen vor Augen führen und zu sprechen. Wir von der FDP haben bereits am 13. No- dann werden wir uns hier wieder sehen. Ich hoffe, dass vember 2002, also kurz nach der Bundestagswahl, einen wir dann weiterkommen. Antrag vorgelegt, in dem wir detailliert aufgeführt ha- Jetzt komme ich zu den wunderbaren Kabinettsbe- ben, welche Regelungen am Arbeitsmarkt zu großen schlüssen, die Sie in Ihrem Antrag anpreisen: nichts als Problemen führen und Arbeitsplätze kosten. Wir haben Gerede! dort dargestellt, wo wir, ohne dass es etwas kosten würde, deregulieren müssten, um weitere Arbeitsplätze (Dirk Niebel [FDP]: Heiße Luft!) zu schaffen. Da heißt es, man wolle ergebnisorientiert vorgehen, (Dirk Niebel [FDP]: Das kostet halt nur die Hemmnisse abbauen und Ressourcen konzentrieren. In Kanzlermehrheit! Das kostet kein Geld!) dem Zusammenhang reden Sie von elf Projekten. Die Arbeitsstättenverordnung – das wurde gerade schon Ich denke zum Beispiel an die Teilzeitregelung oder an angesprochen – soll von 58 auf 10 Paragraphen reduziert Regelungen im Betriebsverfassungsgesetz. Ich denke werden. Das ist aber eine Mogelpackung, weil Sie eine auch daran, mehr Vereinbarungen zwischen den Arbeit- Anlage mit sage und schreibe 30 Unterpunkten gemacht nehmern und den Arbeitgebern in den Betrieben vor Ort haben, die im Wesentlichen aus den Detailregelungen zuzulassen. der alten Verordnung besteht. Diesen Antrag werden Sie heute ablehnen. (Dirk Niebel [FDP]: Also nur Politlyrik!) (Fritz Kühn [Bündnis 90/Die Grünen]: Mit Dann steht in § 3 Abs. 1: Und dieser Anhang gilt auch. Recht!) (Walter Hoffmann [Darmstadt] [SPD]: Das ist Ich frage Sie: Warum? Präzisierung!) (Fritz Kühn [Bündnis 90/Die Grünen]: Weil es Liebe Kolleginnen und Kollegen von Rot-Grün, das, Unsinn ist, was Sie vorschlagen, blanker Un- was Sie da machen, ist mitnichten Bürokratieabbau; es sinn!) ist vielmehr Bürokratieaufbau. Das zeigt sich auch da- ran, dass Sie einen neuen Ausschuss einsetzen wollen Sie tun das, weil Sie nicht den Mut haben, zu sagen, dass bzw. vorgesehen haben, bestehend aus Vertretern der pri- an diesen Stellen Regelungen abgeschafft werden müs- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2003 5655

Birgit Homburger (A) sen, um wieder mehr Beweglichkeit, mehr Freiheit für Birgit Homburger (FDP): (C) unternehmerische Tätigkeit zu schaffen. Da wollen wir wieder hin. Ich frage mich, warum Sie (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten das abgeschafft haben. der CDU/CSU – Dirk Niebel [FDP]: Freiheit! (Zuruf von der SPD: Weil es Quatsch war!) Das versteht der Kuhn gar nicht!) Wir fordern Sie auf, solche Strukturen wieder einzufüh- Das ist der Punkt. ren, um beim Bürokratieabbau endlich voranzukommen. Da Sie nicht in der Lage sind, die notwendigen Verän- (Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: derungen herbeizuführen, wollen Sie jetzt Innovations- Ein viel zu bürokratischer Redeaufbau!) regionen einführen. Das begrüßen wir sehr. Über Öff- nungsklauseln könnte in bestimmten Regionen sofort Vielen Dank. ausprobiert werden, wie es wirkt, wenn bestimmte Rege- lungen ausgesetzt werden. Mit anderen Worten: Es ginge (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) darum, zu klären, ob die Aussetzung bestimmter Rege- lungen tatsächlich dazu führt, dass neue Arbeitsplätze Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: geschaffen werden. Für die Bundesregierung hat jetzt der Parlamentari- Was aber machen Sie? Der Bundeswirtschaftsminister sche Staatssekretär Rezzo Schlauch das Wort. hat mehrfach – im Oktober oder im November letzten Jahres erstmals – die Schaffung von Innovationsregionen Rezzo Schlauch, Parl. Staatssekretär beim Bundes- angekündigt. Danach wurde darüber diskutiert, ob Inno- minister für Wirtschaft und Arbeit: vationsregionen verfassungsrechtlich überhaupt möglich Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wie im- sind. Im Januar folgte eine erneute Ankündigung. Später mer bei Diskussionen um Bürokratieabbau erlebt man folgte ein Kabinettsbeschluss. Heute liegt ein Antrag der heute Folgendes: Alle sind sich im Ziel einig – das ist ei- Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen gentlich ein guter Ausgangspunkt –; der Schlachtruf al- vor. ler lautet „Bürokratieabbau“ bzw. „Entbürokratisie- Ich frage mich: Schämen Sie sich eigentlich nicht? rung“. Schaut man einmal näher hin, Herr Kollege Fuchs – dieses Phänomen stelle ich in allen Diskussionen zu (Zuruf von der FDP: Nein!) diesem Thema fest –, macht man die Erfahrung: Je eini- In diesem Antrag wird tatsächlich begrüßt, dass drei ger man sich ist, desto weniger kommt man voran. (B) Testregionen für Modellregionen eingeführt werden. Das ist nicht nur beim Bürokratieabbau, sondern – das (D) Wenn Sie in diesem Tempo weitermachen, dann wird wurde richtigerweise gesagt – auch beim Subventionsab- man am Ende dieser Legislaturperiode keine Erfahrun- bau so. gen gemacht haben, auf denen man aufbauen kann, son- dern dann wird man Bestimmungen haben, nach denen (Zuruf von der SPD: Das ist der vierte Teil des die Testregionen prüfen können, ob man Modellregionen Gesetzes von Murphy!) in Deutschland schaffen kann. So geht es jedenfalls Die Diskutanten – das haben wir erlebt, als Sie, Herr nicht. Fuchs, und Sie, Frau Kollegin Homburger, gesprochen (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Dirk haben – überschlagen sich in Radikalität, in Lautstärke Niebel [FDP]: Das ist doch gaga!) und in weitestgehenden Forderungen. Beispielsweise die Forderung eines Ex-Bundespräsidenten nach einem Wir debattieren hier unter anderem über einen Antrag Ruck war noch vergleichsweise moderat. Dieser ehema- der FDP-Bundestagsfraktion zum Thema Bürokratie- lige Bundespräsident hat jetzt seine liebe Not, seine For- kosten-TÜV. derung nach einem Ruck umzusetzen, und zwar im eige- (Walter Hoffmann [Darmstadt] [SPD]: Das ist nen politischen Lager. doch FDP-Bürokratismus! – Dr. Michael Deshalb sollte man da etwas zurückhaltender sein. Bürsch [SPD]: Das ist ja auch wieder eine neue Behörde!) (Zuruf von der SPD: Nachdenken ist wichtig!) Wir wollen, dass der Bürokratiekosten-TÜV wieder ein- Solche Diskussionen nützen irgendwie nur uns selbst. geführt wird, damit mehr Kostentransparenz geschaffen Wir klopfen uns auf die Schulter und sagen: Wir haben wird. Das gab es in der Geschäftsordnung der Bundes- jetzt wieder etwas für den Bürokratieabbau getan. – Da- regierung bereits. Es hat sich bewährt, dass die Verwal- bei haben wir nur geredet. tungsarbeiten systematisch erfasst und in den Gesetzes- (Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: Dann han- blättern aufgeführt wurden. Das hat dazu geführt, dass deln Sie doch!) bestimmte Dinge aus Kostengründen einfach nicht ge- macht worden sind. Wenden wir uns also den konkreten Projekten zu! (Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: So ist es! – Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss. Ich bin sehr gespannt!) 5656 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2003

Parl. Staatssekretär Rezzo Schlauch (A) An dieser Stelle möchte ich einmal Folgendes deut- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Sie haben doch (C) lich machen: Bürokratie ist nicht per se schlecht. Büro- das Gesetz gemacht, nicht wir!) kratie ist, wenn sie richtig eingesetzt wird, zum Wohle der Bürger. Bürokratie ist im Grunde genommen Grund- und Sie haben das alte Spiel des Schützens Ihrer Klientel pfeiler einer guten Demokratie. Ich nenne Ihnen zwei gespielt. So wird Ihr Ansatz zum Bürokratieabbau nicht Beispiele: Erstens. Wir haben eine neue Institution mit glaubwürdig. Fangen Sie endlich an, sich zu den konkre- Personal zum Managen der 400-Euro-Jobs geschaffen. ten Projekten, die die Bundesregierung auf den Tisch Das haben Sie als Aufbau von Bürokratie diskreditiert. legt, zu verhalten. Morgen haben Sie die Gelegenheit Zweitens. Um die Dinge im Zusammenhang mit der dazu. Hartz-Gesetzgebung effizienter zu machen, wollen wir Morgen stellen wir zur Abstimmung, die zwei Sys- den Schlüssel „Arbeitsvermittler zu Arbeitslosen“ von teme der Sozialhilfe und der Arbeitslosenhilfe zusam- 1 : 350 auf 1 : 75 ändern. Sie diskreditieren das als Büro- menzuführen. Das ist ein riesiger Sieg gegen überflüs- kratieaufbau. Ich aber kann nur sagen: Das ist Bürokratie sige Bürokratie. zum Wohle der Bürger. Man kann also nicht immer nur behaupten, Bürokratie sei schlecht und von Übel, (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das haben wir schon in der 14. Legislaturperiode zur Abstim- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Wir brauchen mung gestellt!) mehr Bürokratie?) – Die FDP ist immer dann gut, wenn es darum geht, das sondern es ist notwendig, da zu unterscheiden. Maul aufzumachen. Wenn es darum geht, zu konkretisie- Wo sind die konkreten Projekte und Ihre Positionen ren, dazu? Sie haben die Arbeitsstättenverordnung zitiert. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das liegt alles Haben Sie eigentlich etwas dagegen, dass man beispiels- vor!) weise die Gestaltung von Pausen-, Bereitschafts-, Liege-, Sanitär- und Sanitätsräumen nicht mehr in vielfältigen dann fallen Sie in alten Klientelismus zurück. Details regelt? Haben Sie etwas dagegen, dass man da- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN von Abstand nimmt, Raumtemperatur etc. zu regeln? – und bei der SPD) Sie haben nichts dagegen. Dann ist das doch okay. Herr Westerwelle hat das doch selber zugegeben. Haben Wir haben die Arbeitsstättenverordnung reformiert. Sie die Diskussion der letzten Tage verschlafen? Oder Wir haben das Verwaltungsdatenverwendungsgesetz auf wo leben Sie? den Weg gebracht. Wir haben die Handwerkszählung verschoben. Wir haben das Rohstoffstatistikgesetz ver- (Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne (B) (D) schlankt. Wir wollen ein schlankes Geräte- und Produkt- Kastner) sicherheitsgesetz. Das sind konkrete Projekte, die die Wirtschaft und insbesondere den Mittelstand von Pflich- Morgen steht unter anderem auch die Neuordnung der ten entlastet. Sozialhilfe zur Diskussion. Auch in ihr ist ganz erhebli- cher Bürokratieabbau enthalten. Dann haben Sie die Ge- (Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: Der merkt legenheit, Ihren großen Worten von heute Taten folgen nur nichts davon!) zu lassen. Ich bin gespannt, wie Sie da abstimmen. Ich Das ist konkretes Vorgehen. hoffe, dass Sie Ihre eigenen Vorgaben erfüllen. Sie dagegen bleiben bei der großen Geste: Bürokra- Danke schön. tieabbau, Bürokratieabbau, der große Wurf, die tiefen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Einschnitte. Wenn es aber darum geht, die tiefen Ein- und bei der SPD) schnitte vorzunehmen – dafür gibt es viele Beispiele, die Sie auch genau kennen; das sind Ihre Schwachpunkte, Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: beispielsweise die Handwerksordnung; Das Wort gebe ich zu einer Kurzintervention der Kol- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN legin Gönner. und bei der SPD) da ist zu fragen, wo denn da Ihr Wille zum Bürokratieab- Tanja Gönner (CDU/CSU): bau ist –, ergehen Sie sich in übelstem, antiquiertestem Herr Staatssekretär, es ist für mich hochinteressant Klientelismus, so wie wir es von Ihnen gewohnt sind, ist und nicht nachvollziehbar, wie Sie auf die Idee kommen, Bürokratieabbau, ist das Senken von Zugangshemmnis- die Änderung der Handwerksordnung habe etwas mit sen von Ihnen überhaupt nicht gewollt. Im Gegenteil: Da Bürokratieabbau zu tun. Das hat sich mir während der bauen Sie die Zäune um Ihre Klientel – Handwerker, ganzen Diskussion nicht erschlossen. Insofern würde ich Apotheker, Ärzte – noch höher. mich freuen, wenn Sie das einmal erklären könnten. (Lachen der Abg. Birgit Homburger [FDP]) Sie haben gesagt, Handwerker und Apotheker seien Gucken Sie sich doch einmal die Ergebnisse der Ge- unsere Klientel. Weil sie nicht Ihre Klientel sind, ändern sundheitsreform an! Da ist Ihre Klientel geschont wor- Sie die Handwerksordnung. Aber Sie sind nicht bereit, den! Wir haben versucht, mehr Wettbewerb und mehr im Tarifvertrags- und Arbeitszeitrecht einiges an Büro- Konkurrenz in die Systeme zu bringen, kratie abzubauen – im Übrigen im Interesse der Wirt- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2003 5657

Tanja Gönner (A) schaft, die Sie als Staatssekretär im Wirtschaftsministe- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (C) rium zu vertreten hätten. Nächster Redner in dieser Debatte ist der Kollege Stephan Mayer, CDU/CSU-Fraktion. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Und der Arbeits- plätze vor allen Dingen!) (Dr. Michael Bürsch [SPD]: Gilt auch für Rechtsanwälte!) Dort sind Sie nicht in der Lage, für Entlastung zu sorgen. Vielmehr sind Sie dort bereit, Verwaltung aufzubauen und Stellen zu schaffen. Vielleicht sollten Sie ab und zu Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU): einmal zur Wirtschaft gehen und sie fragen, wie sie sich Geschätzte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin- freut, wenn die Verwaltung aufgebläht wird. Anschlie- nen und Kollegen! Auf den so genannten Masterplan ßend muss sich nämlich die Wirtschaft mit den Verwal- Bürokratieabbau der rot-grünen Bundesregierung trifft tungsbeamten herumschlagen. meines Erachtens ein Wort Erich Kästners bestens zu: Es gibt nichts Gutes, außer man tut es. Die Ankündigungen Sie sollten sich einmal überlegen, was zu tun ist, da- sind zwar vollmundig und ehrgeizig, aber das Resultat mit sich Wirtschaft entwickeln kann. Gehen Sie an die mehr als dürftig und beschämend. Selbst der verheißungs- Tarifverträge und an die Arbeitszeit – das betrifft Ihre volle Titel des Masterplans „Mittelstand fördern – Beschäf- Klientel –, tigung schaffen – Bürgergesellschaft stärken“ kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass gerade im letzten Jahr (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Nur Mut!) durch die rot-grüne Bundesregierung in allen Bereichen zusätzliche bürokratische Hemmnisse und Hürden auf- anstatt – völlig daneben – eine Handwerksordnung zu gebaut wurden. ändern, die mit Bürokratie in diesem Sinne überhaupt nichts zu tun hat! (Zuruf von der CDU/CSU: Schlimm genug!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Lachen Wer intensiv über eine Ausbildungszwangsabgabe bei Abgeordneten der SPD und des BÜND- diskutiert, eine LKW-Maut einführen will, die das Spe- NISSES 90/DIE GRÜNEN) ditionsgewerbe vor unüberbrückbare Probleme in der praktischen Umsetzung stellt, die Landwirtschaft mit bü- rokratischen Auflagen knechtet, sodass der Landwirt Rezzo Schlauch, Parl. Staatssekretär beim Bundes- letztendlich mehr Zeit im Büro als im Stall verbringt, minister für Wirtschaft und Arbeit: wohin er eigentlich gehört, dem kann nicht ernsthaft an Werte Frau Kollegin, die schlimmste Überbürokrati- einem wirklichen Abbau von Bürokratie und Überregu- (B) (D) sierung liegt vor, wenn Menschen von der Umsetzung lierung in der Wirtschaft und in der Verwaltung gelegen ihrer Motivation und ihres Bedürfnisses, sich selbststän- sein. dig zu machen, durch gesetzliche Regelungen ausge- Wenn nicht alle staatlichen Ebenen schnellstens die schlossen werden. Die Handwerksordnung enthält in Zeichen der Zeit erkennen und einen mutigen und deutli- vielen Gewerken – nicht bei allen; wir wollen ja nicht chen Schritt in Richtung weniger Staat und weniger Re- alle ändern – unnötige Zugangsbeschränkungen für glementierung gehen, fährt der Wirtschaftsstandort Menschen, die sich selbstständig machen wollen. Eine Deutschland sehenden Auges in den Abgrund. Wir kön- schlimmere Bürokratie gibt es nicht. Denn die Hand- nen dann aber immer noch behaupten, für den Bau von werksordnung schließt Menschen von der Partizipation Schweinemastställen ein immissionsschutzrechtliches aus. Da müssen Sie ein absolut falsches Bild haben. Genehmigungsverfahren vorzuschreiben, eine Arbeits- stättenverordnung zu besitzen, die Mindesttemperaturen Bei der Honorarordnung für Architekten und Ingeni- auf Toiletten vorschreibt und Mindestgrundflächen für eure besteht die Bürokratieabbau-FDP auf staatlich ga- Sanitär- und Umkleideräume definiert. Nobel geht die rantierten Preisen. Was hat das mit einem freien Beruf zu Welt zugrunde, kann man dazu nur sagen. tun? Herr Staatssekretär, ich möchte Ihnen ganz klar ant- (Birgit Homburger [FDP]: Quatsch!) worten: Ich bin gegen diese Mindestvorschriften in der Arbeitsstättenverordnung. Bei uns, bei der CDU/CSU, Wenn Sie vor allen diesen Dingen und auch vor der laufen Sie wirklich offene Türen ein, wenn Sie Initiati- Kassenärztlichen Vereinigung zurückschrecken und die ven zur Vereinfachung vorbringen. Nur, Sie haben es in bestehenden Verhältnisse erhalten wollen, dann sind alle der Hand, Sie sind seit fünf Jahren an der Regierung Ihre Reden, die Sie hier mit großspurigen Forderungen untermalen, jedenfalls für meine Begriffe nicht glaub- (Dr. Michael Bürsch [SPD]: Gott sei Dank!) würdig. Das wird Ihnen nicht nur hier im Bundestag, und haben nichts erreicht. sondern auch in allen Diskussionen mit der Wirtschaft, mit dem Mittelstand, mit den Industrie- und Handels- Herr Kollege Bürsch, Sie haben vorher erwähnt, wir kammern gesagt. Offensichtlich sind Sie da wenig zu sollten in Sachen E-Government Fortschritte machen und Hause. Initiativen starten. Sie sind seit fünf Jahren am Ruder. Was ist das Resultat? Wir nehmen unter allen westeuropäischen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ländern gemäß einer Studie, in der überprüft wurde, wie sowie bei Abgeordneten der SPD) weit die Länder schon in Sachen E-Government sind, den 5658 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2003

Stephan Mayer (Altötting) (A) glorreichen 17. Platz, den drittletzten Platz, ein – à la satzrendite für Unternehmen mit weniger als 100 Mitar- (C) bonne heure! beitern nach Angaben der Bundesbank zwischen 1,5 und 2,5 Prozent liegt, belaufen sich die Bürokratiekosten für (Dr. Michael Bürsch [SPD]: Wir arbeiten uns diese Unternehmensgruppe nach verschiedenen Schät- nach vorne! Unaufhaltsam!) zungen je nach Größe auf 1,5 bis 7 Prozent. Wir von der CDU/CSU sind bereit, diesen mutigen Nach unserer Auffassung sollte nicht nur ein eigener Schritt zu gehen. So sind wir der Auffassung, dass sich Kabinettsausschuss auf der Ebene des Bundeskabinetts dieses Hohe Haus in vermehrtem Maße nicht als Gesetz- mit dem Auftrag, der Bürokratie und Überreglementie- geber, sondern auch als Gesetznehmer verstehen sollte. rung Herr zu werden, eingesetzt werden, sondern zusätz- Schon im Vorfeld des Erlasses von neuen Gesetzen sollte lich ein eigener Bundestagsausschuss. Ein deutlicher eine effiziente Gesetzesfolgenabschätzung erfolgen, und spürbarer Schritt in Richtung weniger Staat und we- (Dr. Michael Bürsch [SPD]: Richtig!) niger Vorschriften kann nur dann gelingen, wenn dieses Ziel auf allen staatlichen Ebenen von den politischen bei der untersucht wird, welche Kosten und welcher zeit- Entscheidungsträgern nachhaltig und unnachgiebig ver- liche Aufwand den Bürgern, der Wirtschaft und den folgt wird. Kommunen bei der Anwendung des Gesetzes entstehen. Auch im Bereich des Richterrechts sind Reformen (Dr. Michael Bürsch [SPD]: notwendig. In den letzten Jahren und Jahrzehnten hat Da sind wir dabei!) sich die Tendenz verstärkt, dass die Justiz die Funktion Gesetze und Verordnungen sollten unserer Auffassung eines Ersatzgesetzgebers übernimmt. Gerade bei Groß- nach in stärkerem Maße befristet werden und nach Ab- investitionsvorhaben und bei technisch und naturwissen- lauf der Befristung daraufhin überprüft werden, ob sie schaftlich geprägten Genehmigungsverfahren sind die sich bewährt haben, und nur für den Fall weiter in Kraft Handlungsspielräume der Behörden sehr eng geworden, bleiben, falls das mit ihnen verfolgte Ziel tatsächlich ein- da sie in zunehmendem Maße durch den Einfluss der getreten ist. Rechtsprechung dominiert werden. Im Ergebnis sollte bei verwaltungsrechtlichen Abwägungs-, Prognose- oder (Fritz Schösser [SPD]: Wie viele solcher Ge- Beurteilungsentscheidungen der Maßstab der gerichtli- setze gibt es denn in Bayern?) chen Anfechtbarkeit auf eine prinzipielle Evidenz- und Willkürkontrolle beschränkt werden. Wir brauchen endlich deutlich kürzere Genehmi- gungs- und Verwaltungsverfahren. Es kann nicht an- Wir brauchen mehr Mut und mehr Entschlusskraft, gehen, dass ein Unternehmer im Einzelfall vor der Be- um diese nationale Aufgabe der Entbürokratisierung, (B) triebsgründung bis zu zehn einzelne Genehmigungen Deregulierung und Verwaltungsvereinfachung endlich (D) einholen muss und dabei von Pontius zu Pilatus rennen anzupacken. Deshalb bitte ich Sie alle um Zustimmung darf. Unser konkreter Vorschlag – Sie haben ja bemän- zu unserem Antrag – in der Hoffnung, dass der Zustand, gelt, wir hätten keine Vorschläge; wir haben sie sehr den Kurt Tucholsky beschrieben hat, nämlich dass es das wohl – lautet: Eine Behörde wird federführend mit dem deutsche Schicksal sei, vor einem Schalter zu stehen, Genehmigungsverfahren betraut und alle anderen zu be- und das deutsche Ideal, hinter einem Schalter zu sitzen, teiligenden Institutionen werden aufgefordert, sich in- endlich der Vergangenheit angehört. nerhalb bestimmter Fristen zu dem Investitionsvorhaben Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. zu äußern. Falls dann von einer Behörde innerhalb von sechs Wochen keine Stellungnahme abgegeben wird, gilt (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dr. die Genehmigung automatisch als erteilt. Michael Bürsch [SPD]: Es geht doch nichts über ein schönes Zitat!) Als vorbildlich ist in diesem Zusammenhang das bayerische Vorhaben anzuführen, das Widerspruchsver- fahren abzuschaffen. Denn gerade die überlangen Ge- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: nehmigungs- und Verwaltungsverfahren in Deutschland Das Wort hat die Parlamentarische Staatssekretärin tragen stark dazu bei, dass viele Unternehmer in der heu- Ute Vogt. tigen Zeit davor zurückschrecken, in Deutschland zu in- vestieren. Laut einer Befragung des Ifo-Instituts für Ute Vogt, Parl. Staatssekretärin beim Bundesminister Wirtschaftsforschung aus dem Jahr 2002 würden bei ei- des Innern: ner umfassenden Entbürokratisierung 45 Prozent aller Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Unternehmen mehr investieren und 38 Prozent zusätzli- In der Tat: Weniges ist so populär wie, sich gegen Büro- ches Personal einstellen. Nur 28 Prozent sehen bei einer kratie und überbordende Vorschriften zu wehren. Das Entbürokratisierung keine Auswirkungen auf Investitio- war für Sie allerdings 16 Jahre lang kein allzu populäres nen und Arbeitsplätze. Thema. Neben den hohen Lohnnebenkosten und dem in der (Stephan Mayer [Altötting] [CDU/CSU]: Sie Praxis nicht mehr zu handhabenden Steuerrecht gehören müssen nach vorne schauen! Schauen Sie in die durch die überbordende Bürokratie ausgelösten Aus- unseren Antrag!) gaben mit Sicherheit zu den Hauptinvestionshemmnis- sen, die wir in Deutschland haben – ganz abgesehen von Ich kann verstehen, dass Sie jetzt die Gelegenheit nut- der rot-grünen Bundesregierung selbst. Während die Um- zen, zumal es nicht mehr darum geht, dass Sie selbst Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2003 5659

Parl. Staatssekretärin Ute Vogt (A) Konkretes vorzeigen müssten. Aber ich rate Ihnen, über Teile werden noch bearbeitet. Elf Entwürfe werden der- (C) den Bundestag hinaus, insbesondere in den Ländern, in zeit im parlamentarischen Verfahren beraten; zumindest denen Sie die Verantwortung haben, genau hinzu- diese dürften Ihnen bekannt sein. schauen. Ich will ein Beispiel aufgreifen, das der Kollege (Andrea Astrid Voßhoff [CDU/CSU] Bürsch schon erwähnt hat, elektronische Organisation Saarland! Hessen!) der Gesundheitskarte: 700 Millionen Rezepte, 900 Millionen Verordnungen. Die Einführungskosten – Da Sie gerade einige Beispiele nennen: Es wäre drin- werden sich nach den ersten beiden Jahren amortisiert gend nötig, dass auch Sie beispielsweise in Baden- haben. Zum Schluss ist eine jährliche Einsparung in Württemberg zum Bürokratieabbau beitragen. Höhe von 1 Milliarde Euro zu erwarten. Dies ist nicht Die Kunst liegt nämlich darin, dass wir uns in Selbst- wenig. Ich bitte Sie zur Kenntnis zu nehmen, dass dieses beschränkung üben. Wer fordert, dass die Zahl der Ge- eines von 54 Projekten ist, das wir alle gemeinsam mit setze, Vorschriften und Vorgaben reduziert wird, muss Freude vorantreiben. bei sich selbst anfangen. Fangen Sie dort an, wo Sie nicht in der Opposition sind, aber fangen Sie auch als Es entgeht Ihnen manches, was schon vor längerer Opposition an: Die Opposition hat seit 1998 sage und Zeit auf den Weg gebracht worden ist. Allein in der letz- schreibe 219 Gesetzentwürfe in den Bundestag einge- ten Legislaturperiode haben wir 92 Behörden des Bun- bracht, die sie gerne verabschiedet gewusst hätte. des geschlossen. Uns ergeht es so, wie es ein Redner vorhin geschildert hat: Es werden Regelungen außer (Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Kraft gesetzt und keiner merkt es. Wie gesagt: Aha! – Zuruf von der CDU/CSU: Allemal bes- 92 Behörden des Bundes, die es noch gab, als wir die ser als Ihre!) Regierung übernommen haben, wurden geschlossen. 137 weitere Gesetzentwürfe haben uns über den Bundes- Sie müssen auch zugeben, dass es kaum eine Kollegin rat erreicht. oder einen Kollegen gibt, die bzw. der nicht massiv dafür gekämpft hat, dass selbst die kleinste Außenstelle einer Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Behörde in seinem Wahlkreis erhalten bleibt. Wenn wir über Bürokratieabbau reden, dann sollten wir also auch Frau Staatssekretärin, gestatten Sie eine Zwischen- darüber reden, dass wir uns auch dort beschränken müs- frage des Kollegen Fuchs? sen – Herr Kollege Schlauch hat vorhin einige Beispiele angeführt –, wo Menschen betroffen sind, die wir vertre- Ute Vogt, Parl. Staatssekretärin beim Bundesminister ten. (B) des Innern: (D) Bitte schön, Herr Fuchs. Es gibt aus meiner Sicht auch die Notwendigkeit, den Bürgerinnen und Bürgern zu sagen: Allein der Ruf nach Abschaffung von Gesetzen reicht nicht aus. Ich will ein Dr. Michael Fuchs (CDU/CSU): kleines Beispiel aus dem Bereich des Sports, der be- Frau Staatssekretärin, sind Ihnen die Bürokratieab- kanntermaßen zur Innenpolitik gehört, nennen. Es gibt bauprogramme des Saarlandes und von Hessen bekannt? ein Gesetz zum rechtlichen Schutz der olympischen Ringe, ein Gesetz, von dem die meisten Bürgerinnen und Ute Vogt, Parl. Staatssekretärin beim Bundesminister Bürger sagen würden, dass man es nicht benötigt. Dieses des Innern: Gesetz ist aber Grundvoraussetzung dafür, dass Leipzig der Austragungsort der Olympischen Spiele werden Mir ist bekannt, dass im Saarland schon der Kollege kann. Man braucht also manchmal auch Gesetze und Heiko Maas als Umweltminister begonnen hatte, über- Verordnungen, die auf den ersten Blick nicht sinnvoll er- flüssige Vorschriften in seinem Ressort zu reduzieren. scheinen. Ich halte das für etwas Positives. Aber Sie müssen einge- stehen, dass viele Bundesländer, auch die Mehrzahl der Manchmal werden auch die Rahmenbedingungen so CDU-regierten, solche Maßnahmen nicht eingeleitet ha- gesetzt, dass neue Gesetze notwendig werden. Ein aktu- ben. Unbekannt ist es mir nicht, aber es ist, jedenfalls elles Beispiel ist das Urteil des Bundesverfassungsge- was das Saarland anbetrifft, mitnichten neu, sondern da- richts im Kopftuchstreit. Es hat entschieden, dass die mit wurde schon lange vor der Regierungszeit des Mi- Länder in ihrem jeweiligen Verantwortungsbereich nisterpräsidenten Müller angefangen. selbst regeln sollen, ob eine Lehrerin ein Kopftuch im Unterricht tragen darf oder nicht. Im ungünstigsten Fall (Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: Ich stelle bedeutet dies, dass es 16 unterschiedliche Regelungen also fest: Es ist Ihnen nicht bekannt!) gibt, wenn sich die 16 Länder nicht einigen können. Sie – Eben habe ich doch gesagt, dass ich es kenne. Zuhören dürfen also nicht von vornherein fordern, Gesetze ein- gehört auch dazu, wenn man differenziert diskutieren fach abzuschaffen. will. Zu einem ernsthaften Umgang mit Bürokratieabbau Ich will Ihnen noch einmal darstellen – auch wenn Sie und zu einer ernsthaften Debatte darüber, wie wir uns als es zuweilen nicht bemerken mögen –, dass wir anders ar- Staat und als demokratische Gemeinschaft verstehen, ge- beiten. Die 54 Projekte, die von Ihnen häufig zitiert wur- hört auch die Erkenntnis, dass manche Gesetze durchaus den, sind alle in Arbeit. Ein Teil ist bereits umgesetzt, ihren Sinn haben und notwendig sind. Wir müssen uns 5660 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2003

Parl. Staatssekretärin Ute Vogt (A) darüber verständigen, in welchen Bereichen wir auf Ge- Birgit Homburger (FDP): (C) setze verzichten können. Frau Staatssekretärin, ich habe mich zu dieser Kurzin- Es geht um ein effektives Arbeiten. „Bund online“ tervention gemeldet, weil Sie uns aufgefordert haben, in ist ein Beispiel dafür, dass man zu Einsparungen kom- den Bereichen, in denen wir dazu in der Lage sind, zu men kann. Es gibt etwa 400 Dienstleistungen des Bun- handeln. Ich möchte Ihnen deutlich machen, dass sich die FDP in den Landesregierungen, in denen sie vertre- des in über 100 Bundesbehörden. Mehr als die Hälfte ten ist, das Thema Bürokratieabbau nicht nur auf die dieser Dienstleistungen werden bereits online bereitge- Fahnen geschrieben, sondern auch umgesetzt hat. Wäh- stellt. Diese Möglichkeiten gab es in früheren Zeiten rend Sie in der letzten Legislaturperiode über 400 neue aufgrund der fehlenden Technik nicht. Gesetze und 1 000 neue Verordnungen beschlossen ha- Wir haben das Thema E-Government nachdrücklich ben, haben wir Verordnungen und Rechtsvorschriften in vorangetrieben. Entgegen der Informationen des Kolle- den Ländern, in denen wir mitregieren, abgebaut. gen Mayer kann ich sagen: Wir sind inzwischen unter (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE den Top Ten der E-Government-Länder. Wir haben in GRÜNEN]: Was hat das dem Bürger ge- diesem Bereich große Erfolge und werden bis 2005 das bracht?) Ziel, alle internetfähigen Dienstleistungen der Bundes- verwaltung im Internet bereitzustellen, auch erreichen. Ich möchte Ihnen einige Zahlen nennen, um das deut- Die entsprechenden Einsparungen betragen 5 bis 10 Pro- lich zu machen. In Baden-Württemberg wurden im Jahr zent des Beschaffungsvolumens. Würden alle, also 2000 1 127 Vorschriften von insgesamt 4 303 Vorschrif- Bund, Länder und Gemeinden, deren jährliches Auf- ten, also 26 Prozent, abgebaut. Im Jahr 2001 wurden tragsvolumen insgesamt etwa 250 Milliarden Euro be- noch einmal 11 Prozent abgebaut. In der Zeit, in der es in trägt, am gleichen Strang ziehen und so wie der Bund Hessen eine Regierungskoalition von CDU und FDP E-Government einsetzen, könnten wir 25 Milliarden gab, haben wir 39 Prozent der Verordnungen und 15 Pro- Euro einsparen. Das sind einige eindrucksvolle Bei- zent der weiteren Rechtsvorschriften, insgesamt spiele. 3 500 Vorschriften und 1 400 allgemeine Verfügungen, abgeschafft. Lassen Sie mich zum Schluss noch auf folgenden (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE Punkt hinweisen. Entscheidend ist nicht allein die Zahl GRÜNEN]: Die meisten im Umweltbe- der Gesetze und Verordnungen, die wir außer Kraft set- reich!) zen. Entscheidend ist vielmehr, ob es uns gelingt, bei diesem Thema ein anderes Bewusstsein zu schaffen, Be- (B) Im Rahmen des Rechtsbereinigungsgesetzes in Rhein- (D) amtinnen und Beamten mehr Ermessensspielräume zu land-Pfalz – das immer wieder, wie Sie, Frau Staatssek- geben, deutlich zu machen, dass sie Verantwortung tra- retärin, wissen sollten, zu Überprüfungen führt – wurden gen sollen, und den Bürgerinnen und Bürgern klar zu im September 2000 unter Regierungsbeteiligung der machen, dass nicht bei jedem Streit nach dem Staat geru- FDP 53 Rechtsverordnungen abgeschafft. fen werden kann. Diese Zahlen sprechen eine klare Sprache. Da, wo wir Gerne würde ich auf Regelungen verzichten, die die Möglichkeit haben, etwas zu tun, da tun wir dies. Sie Grenzabstände bestimmen oder im Bereich des Bau- haben die Möglichkeit, den Anträgen und Entwürfen rechts festlegen, wer was wohin bauen darf. Aber dies von Gesetzen zum Bürokratieabbau, die die FDP in den würde voraussetzen, dass sich die Bürgerinnen und Bür- Deutschen Bundestag eingebracht hat, zuzustimmen. ger untereinander einigen und dass sich ein anderes Be- Dann tut sich auch auf Bundesebene etwas. wusstsein entwickelt. Das erreicht man nicht durch Vielen Dank. Streichungsrufe, sondern nur dann, wenn man den Men- schen deutlich macht: Bürokratie abbauen heißt auch, (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Verantwortung gerade dort zu übernehmen, wo es Kon- flikte gibt und Schwierigkeiten bestehen. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Wir sind dazu bereit. Es wäre schön, wenn wir in die- Nächste Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin sem Sinne bewusstseinsbildend an einem Strang ziehen Andrea Voßhoff, CDU/CSU-Fraktion. könnten. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Andrea Astrid Voßhoff (CDU/CSU): DIE GRÜNEN) Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Staatssekretär Schlauch, Sie haben ein bemerkens- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: wertes Verständnis von Bürokratieabbau. Die Abschaf- fung des Meisterbriefes mit Bürokratieabbau gleichzu- Zu einer Kurzintervention gebe ich der Kollegin setzen halte ich für sehr kühn. Die Abschaffung des Homburger das Wort. Meisterbriefes bedeutet Abbau von Qualität und von Qualifizierung und ist kein Abbau von Bürokratie. (Zurufe von der SPD: Oh! – Beifall bei Abge- ordneten der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2003 5661

Andrea Astrid Voßhoff (A) Frau Staatssekretärin Vogt, Sie haben die 16 Jahre un- durchforsten und andererseits Instrumente zu entwi- (C) ser Regierungszeit erwähnt. Ich nenne Ihnen einmal ein ckeln, mit denen bürokratische Hemmnisse künftig ver- paar Zahlen, die Sie nachdenklich stimmen sollten. In hindert werden können? Ich will das mit einem Bild ver- den 50er-Jahren umfasste das Bundesgesetzblatt jährlich gleichen, das das Institut der deutschen Wirtschaft in circa 1 000 Seiten. In den 70er-Jahren waren es schon seiner Studie gewählt hat: Bildlich gesprochen muss 2 700. Rot-Grün hat es im Durchschnitt der Jahre 2000 nicht nur die Badewanne geleert, sondern auch der Zu- bis 2002 auf stolze 3 700 Seiten pro Jahr gebracht. Sie lauf eingedämmt werden. haben damit sogar den im Zuge der Wiedervereinigung notwendigen Regelungsumfang Anfang der 90er-Jahre Lassen Sie uns heute über die Rezepte streiten, aber getoppt, Frau Vogt. seien wir uns in dem Anspruch einig, es auch tun zu wol- len. Dazu gehört auch, dass wir uns mit den bürokrati- In der vergangenen Legislaturperiode hat Rot-Grün schen Folgen eines Gesetzes künftig intensiver auf parla- pro Kalendertag, also auch an Sonn- und Feiertagen, mentarischer Ebene befassen, als wir es bisher getan durchschnittlich 1,2 neue Gesetze oder Verordnungen haben. verabschiedet. Tag für Tag, ob der Bürger abends von der Arbeit oder am Sonntagabend von einem Tagesaus- Bei Medikamenten hören wir immer wieder: Zu Risi- flug mit der Familie nach Hause kam, hat sich Rot-Grün ken und Nebenwirkungen lesen Sie die Packungsbeilage mit einer neuen Regelung mit durchschnittlich oder fragen Sie Ihren Arzt oder Apotheker. Wie halten 20 Einzelvorschriften in sein Leben eingemischt. Eine wir es denn mit dem Studium der „Packungsbeilage“ bei Bundesregierung sollte beim Regieren Spitze sein und Gesetzesinitiativen? Wie werden sie überhaupt erstellt? nicht beim Regulieren. (Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) PISA-Schwäche überwinden!) Die Bilanz Ihrer bisherigen Regierungszeit lässt sich Was lesen wir denn dazu in den Gesetzesinitiativen? – daher ganz einfach beschreiben: bei der Bürokratie vorn, „Alternativen: keine“. Gerade hier sollte das Parlament beim Wirtschaftswachstum hinten. In einer Studie zum die Frage stellen, warum der Staat eine Regelung treffen Bürokratieabbau kommt das Institut der deutschen Wirt- muss. Beim Stichwort Kosten heißt es in der Regel: schaft zu dem Ergebnis: Je höher die Regulierungsinten- keine. Manchmal werden sie aber auch so schöngeredet, sität, umso weniger gelingt es einem Land, sein Beschäf- dass das politische Ziel entscheidet. Zu den sonstigen tigungspotenzial auszuschöpfen. Bestes Beispiel dafür Kosten, nämlich zu den Belastungen für die Unterneh- ist die Politik von Rot-Grün. Bei der Frage, wer am we- mer, steht oftmals: keine. Manchmal gibt es den Hin- nigsten reguliert, belegen wir nach einer OECD-Studie weis: nicht bezifferbar. (B) den traurigen 14. Platz von 20 Industrieländern. Ich denke, mit diesen dürftigen „Packungsbeilagen“ (D) Wir alle kennen die Fakten, wir alle kennen Beispiele, bei Gesetzesinitiativen zur Abschätzung der Gesetzes- bei denen der Amtsschimmel wiehert. Wir wissen, wie folgen sollten wir Schluss machen. Wir brauchen mehr oft und wie viel Klage über die Bürokratie in Deutsch- Transparenz in der Bewertung der bürokratischen und land geführt wird. Natürlich sind die Ursachen viel- – das möchte ich ergänzen – der gesamtgesellschaft- schichtig; ich will Sie nicht allein in die Haftung dafür lichen Gesetzesfolgenabschätzung. nehmen. (Dr. Michael Bürsch [SPD]: Sehr gut!) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Wir brauchen das nicht nur in den Fachministerien, son- Ich will die EU-Bürokratie ebenso wenig ausblenden dern auch in diesem Hause im Rahmen einer parlamen- wie die Landesgesetze und deren Folgen, ganz zu tarischen Diskussion, wenn es um die Beratung der Ge- schweigen von den auf Bundes- und Landesebene las- setzentwürfe geht. tenden Verordnungen und Verwaltungsvorschriften. (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Michael Wenn ich die Antwort der Bundesregierung auf eine Bürsch [SPD]: Gern! Das können wir ma- Anfrage der FDP richtig gelesen haben, gibt es im steu- chen!) erlichen Bereich 79 000 steuerliche Verwaltungsvor- Wenn es uns allen mit dem Abbau von Bürokratie schriften. Kommissionen, Institutionen, Ratschläge und ernst ist, sollten wir auch die Prüfung der Gesetzesfol- Vorschläge dazu, was getan werden müsste, kennen wir genabschätzung in das Parlament einführen. Was wäre zur Genüge. Wie aber bekämpft man Bürokratie wirk- dazu besser geeignet, als einen entsprechenden Bundes- sam und nachhaltig? Ich glaube, dass unser Vorschlag ei- tagsausschuss einzusetzen? nen guten Ansatz bietet. (Dr. Michael Bürsch [SPD]: Wieder einen Der Weg zu dauerhaft weniger Bürokratie – hier soll- Ausschuss?) ten wir alle sehr selbstkritisch mit uns umgehen – muss in den Parlamenten beginnen, also auch bei uns in die- Kritische Stimmen sagen dazu: Das ist wieder neue Bü- sem Hause. Der Gesetzgeber muss – das hat heute Mor- rokratie. Ich meine aber, es geht um unser Selbstver- gen der Kollege Bosbach gesagt – vom Gesetzgeber wie- ständnis und um unseren Anspruch, mit dem wir uns an der zum Gesetznehmer werden. die Wähler wenden. Hier müssen wir Ernst machen. Wir haben uns eine weitere Frage gestellt: Wie kann (Dr. Michael Bürsch [SPD]: Das können wir es gelingen, einerseits den Bestand an Regelungen zu im Innenausschuss machen!) 5662 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2003

Andrea Astrid Voßhoff (A) Prüfen wir künftig in einem solchen Ausschuss – wie Wenn man das Mengenproblem berücksichtigt – der (C) zum Beispiel im Haushaltsausschuss, der die finanziel- Staatssekretär hat vorhin darauf hingewiesen, dass es in len Belastungen der öffentlichen Haushalte bei allen Ge- vielen Regionen einen Betreuungsschlüssel von 1 : 400, setzen als mitberatender Ausschuss zu prüfen hat –, wie 1 : 600, sogar von 1 : 800 im Osten gibt –, wird einem bürokratisch ein Gesetzentwurf ist und ob es vielleicht klar, dass der einzelne Vermittler sich eigentlich gar nicht auch anders möglich ist. nicht um den konkreten Fall kümmern kann, selbst wenn er das will. Beim besten Willen ist das nicht möglich. Ich appelliere an unser Selbstverständnis und unseren Für alle Zusatzaufgaben und die originären Vermitt- Anspruch als Parlamentarier. Folgen Sie unserem Vor- lungsaufgaben gibt es unterschiedliche gesetzliche Re- schlag. Er ist gut und wird endlich Bürokratie abbauen. gelungskreise: eine Fülle von Bürokratie, welche im Vielen Dank. Grunde genommen eine effektive und wirkungsvolle Ar- beit verhindert. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Herr Fuchs, auch deshalb – nicht nur deshalb – haben wir Hartz III und Hartz IV gemacht. Ich wiederhole Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: das, was meine Vorredner gesagt haben: Morgen können Das Wort zu einer Kurzintervention gebe ich dem Sie sich für ein Stück Bürokratieabbau aussprechen. Kollegen Stephan Mayer. Der Kollege Kuhn und ich hatten in einer kleineren Arbeitsgruppe die Gelegenheit, an den Eckpunkten mit- Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU): zuarbeiten. Wir haben sehr genau darauf geachtet, dass Frau Staatssekretärin Vogt, Sie haben gerade behaup- endlich Regelungen aufgenommen werden, die sich auf tet, Deutschland – – den Bürokratieabbau effektiv auswirken und den Ar- beitsvermittlern mehr Zeit geben, damit sie sich um die Interessen der Arbeitssuchenden kümmern können. Im Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Leistungsrecht haben wir eine Fülle von Vereinfachun- Herr Kollege, eine Kurzintervention ist nur in Bezug gen vorgenommen. Zahlreiche Regelungen haben auf auf den vorhergehenden Redner möglich. diesem Gebiet bisher einen erheblichen Verwaltungsauf- wand erzeugt und das ganze Arbeitsförderungsrecht un- (Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: übersichtlich gemacht. Reden Sie über Badewannen ohne Zulauf!) Lassen Sie mich das an zwei kleinen, wenig spektaku- Ich kann Ihre Kurzintervention nicht zulassen, wenn sie lären, aber wie ich finde, eindrucksvollen Beispielen (B) sich auf Frau Vogt bezieht. verdeutlichen: (D) Erstens. Bisher gab es sieben verschiedene Eingliede- Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU): rungszuschüsse. Im Einzelfall musste geprüft werden, Dann melde ich sie zum nächsten Redner an! ob die Voraussetzungen für den jeweiligen Zuschuss zu- treffen. Es gab verschiedene Zuschüsse für Ältere, (Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: schwer Vermittelbare, Jugendliche, Schwerbehinderte Das geht auch nicht!) usw. In Zukunft wird es nur noch zwei Zuschussarten geben: zum einen für Personen mit Vermittlungshemm- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: nissen und zum anderen für behinderte und schwerbe- Nächster Redner in der Debatte ist der Kollege Walter hinderte Menschen. Das ist vielleicht wenig spektakulär, Hoffmann, SPD-Fraktion. bedeutet für die Verwaltung aber eine enorme Vereinfa- chung. Das wird Luft und Raum schaffen, damit sich die Sachbearbeiter um die wirklichen Problemfälle küm- Walter Hoffmann (Darmstadt) (SPD): mern können. Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Durch alle (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Debattenbeiträge wurde klar, dass Bürokratieabbau ein BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) permanenter Prozess ist, der nicht mit einem Masterplan Wie lange und in welchem Umfang jemand Geld be- beginnt und endet, sondern alle Schritte unserer politi- kommt, soll der Sachbearbeiter vor Ort entscheiden. Das schen Arbeit kontinuierlich begleiten muss. liegt in seinem Ermessensspielraum, weil er das am bes- ten beurteilen kann. Das spiegelt im Kleinen wider, was Ich möchte von einem persönlichen Aha-Erlebnis mit wir mit „mehr Eigenverantwortung“ meinen: nicht regle- Bürokratie, das ich bei einem Workshop von Arbeits- mentieren, nicht alles in einer Verordnung aufgliedern vermittlern vor circa drei Jahren hatte, erzählen. Eine und von vorne bis hinten genau beschreiben. Nein, hier Gruppe von circa 15 Arbeitsvermittlern kam zusammen. hat der Sachbearbeiter einen eigenen Ermessensspiel- Sie unterhielten sich über das Thema Arbeit. Sie listeten raum, er kann im konkreten Fall entscheiden. auf, was sie an Tätigkeiten zu machen hatten. Heraus kam – ich habe das zusammengestellt; man kann das im Zweiter Punkt: Weiterbildungsmaßnahmen. Sie Detail nachlesen –, dass jeder Vermittler insgesamt acht werden sich vielleicht daran erinnern, dass es früher üb- originäre Vermittlertätigkeiten hatte. Hinzu kamen ins- lich war, dass während einer Weiterbildungsmaßnahme gesamt 21 Zusatzaufgaben. Unterhaltsgeld gezahlt wurde. Zunächst bekam ein Teil- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2003 5663

Walter Hoffmann (Darmstadt) (A) nehmer Arbeitslosengeld und dann Unterhaltsgeld. Wir Lassen Sie mich nun ein paar Sätze zu dem Antrag (C) haben uns gefragt, ob es nötig ist, dass die Voraussetzun- der FDP zur Arbeitsstättenverordnung sagen. Es ist gen für das Unterhaltsgeld neu geprüft werden. Muss das richtig: Bisher gab es 58 Paragraphen, die jetzt auf zehn ganze bürokratische Spiel noch einmal durchgezogen reduziert werden. In der Anlage gibt es 30 Punkte, in de- werden? Wir haben entschieden: Nein, wir streichen das nen wir Mindestanforderungen definieren. Ich finde es Unterhaltsgeld. In Zukunft wird während der Weiterbil- gut, dass wir nun nicht mehr alles vorgeben und zum dungsmaßnahme das Arbeitslosengeld weiter gezahlt. Es Beispiel die Temperatur auf Betriebstoiletten regeln, die gibt kein neues Antragsverfahren, sondern einen nahtlo- Höhe der Räume vorgeben und die Mindestpersonenzahl sen Übergang. Die Höhe des Betrages ist in etwa gleich. vorschreiben, ab der es geschlechtergetrennte Toiletten Das ist eine große verwaltungsmäßige Vereinfachung, zu geben hat. Es ist meiner Meinung nach positiv, dass die das Ziel hat zu entbürokratisieren. es dabei Erleichterungen gibt. Wenn in Zukunft zwischen der Bundesanstalt für Ar- Ich komme auf diesen Punkt deshalb zu sprechen, beit – sprich: Bundesagentur für Arbeit – und der Politik weil man sich vorhin über die Quadratmeterzahl, die für Zielvereinbarungen getroffen werden, dann bedeuten Büroräume vorgeschrieben wird, mokiert hat. In meinem diese Zielvereinbarungen auch einen Rückzug des Staa- beruflichen Leben habe ich einmal einen heftigen Ar- tes aus diesem Bereich und eine Übertragung von mehr beitsrechtsprozess über die Größe eines Büroraumes Eigenverantwortung auf die Bundesagentur und damit führen müssen. An diesem konkreten Fall habe ich ge- eine Übertragung von mehr Eigenverantwortung auf den merkt, dass es wichtig ist, bestimmte Dinge klar und ein- einzelnen Sachbearbeiter. Wir werden sehen, wie Sie deutig zu regeln. In vielen Punkten handelt es sich um sich morgen in der Abstimmung über Hartz III und Schutzbestimmungen. Da wir über dieses Thema Hartz IV entscheiden. Das ist auch eine Entscheidung manchmal etwas populistisch sprechen und es etwas ins über mehr oder weniger Bürokratie in der Arbeitsver- Witzige oder Lächerliche ziehen, möchte ich Sie ein- waltung. dringlich daran erinnern, dass viele Regelungen, die für den einen oder anderen Bürokratie bedeuten, für viele (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Menschen Schutzregelungen sind. Diese brauchen wir BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) dringend, gerade auch im Interesse der betroffenen Per- Ich spreche hier als ein Vertreter des Bereichs Wirt- sonen. schaft und Arbeit. Von den 52 Maßnahmen zum Büro- Ein letzter Punkt. kratieabbau betreffen allein 25 Maßnahmen diesen Be- reich. Wir haben im Grunde genommen drei Pakete geschnürt: Das erste Paket betrifft die Reduktion der Sta- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (B) tistikbelastung für Unternehmen, wie zum Beispiel die Herr Kollege, Ihre Redezeit ist überschritten. (D) Verschiebung der Handwerkszählung, die Einführung elektronischer Verdienstbescheinigungen, einheitliche Walter Hoffmann (Darmstadt) (SPD): Formulare bei den Krankenkassen, gemeinsame Nut- zung von Datenbeständen zwischen Arbeits- und Fi- Damit komme ich zum Schluss. Ich bin davon über- nanzverwaltung und vieles andere mehr. Ich will Sie hier zeugt: Wenn es Ihnen gelingt, die gesellschaftspoliti- nicht mit Einzelheiten langweilen; aber man kann doch schen Forderungen von den Forderungen zur Entbüro- nicht behaupten, dass nichts geschehen sei. kratisierung systematisch zu trennen – diese vermischen Sie immer wieder –, dann werden wir gemeinsam ver- Das zweite Paket enthält Gesetze, die Arbeitnehmer nünftige Lösungen finden. Der Vorsitzende von General und Unternehmen direkt betreffen. Auch hier hat sich in Electric hat einmal gesagt: Wir werden die Befreiung den letzten Wochen und Monaten eine Menge Positives von den Fesseln der Bürokratie durch alle Hierarchiestu- getan. Ich nenne nur die Änderung des Rabattgesetzes, fen treiben. – Das versuchen wir im Moment. Schließen des Ladenschlussgesetzes und des Gesetzes gegen den Sie sich doch einfach uns an. unlauteren Wettbewerb. Wir trauen uns jetzt sogar an die Vereinfachung der Lohn- und Einkommensteuerverfah- Vielen Dank. ren heran und an viele andere Dinge mehr. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Beim dritten großen Paket geht es um Erleichterun- DIE GRÜNEN) gen beim Marktzugang für Unternehmen. Hierzu zählen die Zulassung des Arzneimittelversandhandels und Er- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: leichterungen für Existenzgründer. Vieles davon ist be- Das Wort zu einer Kurzintervention gebe ich dem reits angesprochen worden. Kollegen Stephan Mayer. Ich bin davon überzeugt – das sage ich ganz deutlich –, dass sich diese Maßnahmen mittelfristig positiv auswir- Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU): ken werden. Sie wirken nicht von heute auf morgen, son- Der geschätzte Vorredner, Herr Hoffmann, hat in sei- dern verändern die Kultur und die Mentalität; die Staats- ner Rede vergessen, auf die Aussage der Staatssekretärin sekretärin hat das bereits gesagt. Mittelfristig werden Vogt einzugehen. diese Maßnahmen im wirtschaftlichen Bereich zu mehr Wachstum und Beschäftigung führen. Davon bin ich fel- (Dr. Michael Bürsch [SPD]: Das ist schon ein- senfest überzeugt. mal ein Punkt für Humor! – Fritz Kuhn 5664 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2003

Stephan Mayer (Altötting) (A) [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Jetzt schämen ob diese Rankingliste, die meines Wissens nach relativ (C) Sie sich!) alt ist, in der Tat stimmt. Sie hat gesagt, dass Deutschland mit dem Modell „Bund (Zuruf von der CDU/CSU: Er glaubt keiner online“ und der Förderung des E-Governments, der elek- Statistik, es sei denn, er hat sie selbst ge- tronischen Verwaltung, unter den ersten zehn Ländern fälscht!) rangieren würde. Ich bitte Sie, diese Aussage zu reflek- tieren. Meine Damen und Herren, Spaß beiseite: Es ist in der Tat ein dringendes sachliches Problem. Die Regierung (Dr. Michael Bürsch [SPD]: Frage!) greift das auf. E-Government ist einer der zentralen – Das ist gar nicht lustig. – Ausweislich eines Artikels des Schwerpunkte bei der Entbürokratisierung. Ich denke, „Handelsblatts“ vom 7. Februar 2003 rangiert Deutschland das ist das Entscheidende. Wir müssen auf das Gaspedal nämlich auf dem drittletzten, dem 16. Platz. Ausweislich ei- drücken, damit wir schneller vorankommen. Ich denke, ner Studie der Firma Cap Gemini Ernst & Young, die von diesbezüglich haben wir hier eine große Einigkeit. der EU-Kommission in Auftrag gegeben wurde, liegt (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Deutschland auf dem 16. Platz. DIE GRÜNEN) (Dr. Michael Bürsch [SPD]: Das liegt ein Jahr zurück! Veraltet!) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Platz 1 belegt Schweden. Der letzte Platz wird von Lu- Ich schließe die Aussprache. xemburg, der vorletzte Platz von Belgien und der dritt- Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf letzte Platz von Deutschland eingenommen. den Drucksachen 15/1330 und 15/1006 an die in der Ta- Frau Staatssekretärin, ich hätte Ihre Anregung, eine gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. schriftliche Anfrage an die Bundesregierung zu stellen, Abweichend von der Tagesordnung sollen die Vorlagen natürlich gerne aufnehmen können. federführend im Innenausschuss beraten werden. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann sind (Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: die Überweisungen so beschlossen. Es handelt sich um Herrn Hoffmann!) Tagesordnungspunkt 7 d. Wir kommen zur Abstim- Dies würde aber genau das bedeuten, weswegen wir mung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses heute hier diskutiert haben, nämlich Bürokratie. Ich für Wirtschaft und Arbeit auf Drucksache 15/1183 zu würde eine schriftliche Anfrage an die Bundesregierung dem Antrag der Fraktion der FDP mit dem Titel „Abbau stellen, die natürlich von einem Mitarbeiter Ihres Hauses (B) von Bürokratie sofort einleiten“. Der Ausschuss emp- (D) bearbeitet werden müsste. Genau dadurch entsteht mehr fiehlt, den Antrag auf Drucksache 15/65 abzulehnen. Bürokratie. Diese wollen wir vonseiten der CDU/CSU Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegen- abschaffen. probe! – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist (Beifall des Abg. Arnold Vaatz [CDU/CSU]) mit den Stimmen der Koalition und der CDU/CSU ge- gen die Stimmen der FDP angenommen. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Zusatzpunkt 3. Interfraktionell wird Überweisung der Herr Kollege Hoffmann, Sie können antworten. Vorlage auf Drucksache 15/1707 an die in der Tagesord- nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann sind die Walter Hoffmann (Darmstadt) (SPD): Überweisungen so beschlossen. Wäre ich Frau Vogt, Ich rufe Tagesordnungspunkt 8 auf: (Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes würde ich Ihnen vielleicht so oder ähnlich antworten: Ich zu dem Protokoll von Cartagena vom 29. Ja- habe keinen Grund, an den Aussagen der Kollegin Vogt nuar 2000 über die biologische Sicherheit zum über das Ranking bezüglich des E-Governments zu Übereinkommen über die biologische Vielfalt zweifeln. Aufgrund meiner Erfahrungen – wohlgemerkt: ich bin nicht in dem Bereich tätig – weiß ich, dass man – Drucksachen 15/1519, 15/1652 – wirklich versucht, beim E-Government enorme Schritte (Erste Beratung 58. Sitzung) zu unternehmen, um dieses Anliegen innerhalb der Ad- ministration zügig voranzutreiben. Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- ses für Verbraucherschutz, Ernährung und Land- Da Sie große Zweifel an diesen Rankinglisten haben, wirtschaft empfehle ich Ihnen, Ihre Anfrage schriftlich zu stellen. (10. Ausschuss) Ich bin davon überzeugt, dass die Bundesregierung dann überprüfen wird, – wäre ich Frau Vogt, würde ich das – Drucksache 15/1737 – auch tun –, Berichterstattung: (Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD und des Abgeordneter Matthias Weisheit BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Abgeordneter Helmut Heiderich Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2003 5665

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner (A) Abgeordnete Ulrike Höfken quem zur Verfügung. Das schafft Rechtssicherheit und (C) Abgeordnete Dr. Christel Happach-Kasan erschwert das Unterlaufen von Sicherheitsvorschriften durch Exporteure. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre Das Wissen von den ökologischen Langzeitwirkun- keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. gen der grünen Gentechnik hat sich seit dem Cartagena- Protokoll erheblich fortentwickelt. Das heißt, es steht Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege nicht still. Wir brauchen dieses Clearing House über das Dr. Ernst Ulrich von Weizsäcker, SPD-Fraktion. abrufbare Wissen. Wir haben gesehen, dass springende Gene mit Resistenzfaktoren von Kulturpflanzen tatsäch- Dr. Ernst Ulrich von Weizsäcker (SPD): lich auf Wildkräuter übergehen können. Was das lang- Frau Präsidentin! Meine verehrten Damen und Her- fristig ökologisch bedeutet, ist sehr schwer abschätzbar. ren! Der Kabinettsbeschluss vom Juli für die Vorberei- tung der Ratifikation des Cartagena-Protokolls war Im Laufe der ersten vier Jahre nach der 1. Vertrags- überfällig. Es war absehbar, dass das Protokoll im Sep- staatenkonferenz soll nach Art. 27 des Protokolls ein tember in Kraft treten würde. Zwischen unserer Ratifi- Verfahren für Schadenshaftung und Wiedergutma- kation und der Vollmitgliedschaft haben wir eine chung etabliert werden. Das heißt, das Verursacherprin- dreimonatige Karenzzeit. Im Februar nächsten Jahres zip kann greifen. Wenn Versicherungskonzerne das Haf- findet die 1. Vertragsstaatenkonferenz statt. Damit wir tungsrisiko übernehmen sollen, dann bekommt das dort das volle Stimmrecht haben, müssen wir uns mit der Risiko einen im Markt sichtbaren Preis für die Verursa- Ratifikation beeilen. cher. Nach Art. 26 des Protokolls sollen die Staaten auch eine sozioökonomische Kosten-Nutzen-Abwägung Das Cartagena-Protokoll über die biologische Sicher- vornehmen. Damit dürfte dann wohl die grüne Gentech- heit zur Biodiversitätskonvention ist in mindestens vier nik aus dem Status der angeblichen Wunderwaffe gegen Hinsichten einzigartig: Not und Hunger auf das Normalmaß einer technischen Innovation zurückgeführt werden, die sich mit den exis- Erstens. Es ist die erste in Kraft getretene Konkreti- tierenden und bewährten Anbautechniken und lokal an- sierung der beiden großen Konventionen des Erdgipfels gepasstem Saatgut messen muss. von Rio de Janeiro. Zweitens. Es ist wohl das erste Umweltabkommen, Ich war vor 14 Tagen in Indien und habe dort die bei dem die Entwicklungsländer die treibende Kraft wa- große Frustration der Inder im Staat Andhra Pradesh mit ren. In Cartagena Ende 1999 und dann in Montreal im gentechnisch veränderter Baumwolle erlebt. Mit großem Trara ist der Anbau von gentechnisch verändertem (B) Januar 2000 kam es zu einer für die Weltpolitik sehr be- (D) deutsamen Koalition zwischen einem Großteil der Ent- Baumwollsaatgut angekündigt worden, das nunmehr ge- wicklungsländer auf der einen Seite und uns Europäern gen den am häufigsten auftretenden Baumwollschädling auf der anderen Seite, während die US-Amerikaner, die resistent ist. Das Saatgut war zwar viermal so teuer. Der während der Verhandlungen ständig blockiert haben, am Mehrpreis sollte aber durch einen entsprechend vermin- Ende ziemlich isoliert dastanden. derten Pestizideinsatz eingespart werden. Tatsächlich ist das Gegenteil passiert. Es wurden eher noch mehr Pesti- Drittens. Das Cartagena-Protokoll ist das erste welt- zide gebraucht, weil es eben noch viele andere Schäd- weite Umweltabkommen, in dem das Vorsorgeprinzip linge gab. Im Übrigen waren die Ernteerträge geringer. verbindlich verankert und nicht den internationalen Han- Insgesamt waren die Bauern, die gentechnisch veränder- delsregeln untergeordnet ist. tes Baumwollsaatgut benutzt hatten, die Betrogenen. Viertens. Während die meisten internationalen Ab- Art. 22 des Protokolls regelt den Aufbau der Kapazi- kommen für die Vertragsstaaten auf einen Souveränitäts- tät, insbesondere der Entwicklungsländer, mit der neuen verzicht hinauslaufen, verleiht das Cartagena-Protokoll Technologie und der Risikobewertung umzugehen. den Staaten eine neue Souveränität. Das gefällt insbe- sondere den Entwicklungsländern. Hier kann man sagen, dass sich das deutsche Entwick- lungsministerium besondere Verdienste erworben hat Worum geht es inhaltlich? Es geht um die Souveräni- und hohes Ansehen bei den afrikanischen und anderen tät der Vertragsstaaten, die Einfuhr von lebenden, gen- Ländern genießt, was den Umgang mit der Gentechnik technisch veränderten Organismen von einer Beurtei- und die Einfuhr von gentechnisch verändertem Saatgut lung der ökologischen und gesundheitlichen Risiken betrifft. abhängig zu machen. Die staatliche Entscheidung auf der Basis dieser Risikoabwägung geschieht nach dem (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Vorsorgeprinzip. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Nach Art. 20 des Protokolls wird eine Informations- Es gibt zweifellos noch viele offene Fragen, die nun stelle für biologische Sicherheit, ein Biosafety Clearing durch eine Serie von Vertragsstaatenkonferenzen geklärt House, eingerichtet. Dadurch wird sichergestellt, dass werden müssen. Wenn zum Beispiel auf einem Getrei- das in den unterschiedlichsten Ländern anfallende Wis- desack, dessen Inhalt zum Verzehr bestimmt ist, klein sen über Auswirkungen von Freisetzungen, über natio- gedruckt steht, dass der Sack gentechnisch veränderte nale Zulassungen und über Gesetzgebungen gesammelt Organismen enthalten kann und dass deshalb die Körner wird. Das Wissen steht den Vertragsstaaten rasch und be- nicht zur Aussaat bestimmt sind, dann ist das alles 5666 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2003

Dr. Ernst Ulrich von Weizsäcker (A) andere als ein sicherer Schutz vor womöglich gravieren- Besondere Bedeutung gewinnen diese Grundsätze (C) den Veränderungen der ländlichen Biodiversität. durch ihre Anerkennung als gleichrangiges internationa- les Recht. Damit haben wir eine erste internationale Re- Wenn es durch unachtsame Vertragsstaatenbeschlüsse gelung zum grenzüberschreitenden Handel mit leben- dazu käme – in diese Richtung gibt es Bemühungen –, den, gentechnisch modifizierten Organismen. Ich meine, dass beträchtliche Beimischungen von mehr als 1 Pro- das passt genau in eine Zeit mit einer starken globalen zent von gentechnisch veränderten Körnern im Sack to- Aufwärtsentwicklung der Biotechnologie, insbesondere leriert werden, ohne dass das kenntlich gemacht wird, auch im Pflanzenbau. Auch wenn an der einen oder an- dann würde die Kennzeichnungspflicht völlig zur Farce. deren Stelle noch Dinge geprüft werden müssen: Immer (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ mehr Länder nutzen die Chancen der grünen Biotechno- DIE GRÜNEN) logie, ganz aktuell zum Beispiel Brasilien, das gerade diese Entscheidung getroffen hat. Wir haben hier in Europa im Zusammenhang mit der Saatgutkennzeichnung einen Streit. Ich erinnere an die Die weltweite Weiterentwicklung der Pflanzenbio- Save-our-Seeds-Kampagne. technik – in starkem Maße auch in den Schwellenlän- dern – erfordert insbesondere die gegenseitige Anerken- Das Protokoll ist gleichwohl ein Meilenstein der in- nung von Zulassungen, Prüfungsverfahren und Risikobe- ternationalen Umweltpolitik. Es muss noch viel bekann- urteilungen. Dabei geht es insbesondere um den Informa- ter werden. Alle kennen das Kioto-Protokoll, das leider tionsaustausch und die Verstärkung der Transparenz beim immer noch nicht in Kraft ist und das bezüglich des Vor- Handel mit pflanzlichen Biotechnikprodukten zwischen sorgeprinzips viel zahmer ist als das Cartagena-Proto- den Mitgliedstaaten sowie um die Unterstützung der Län- koll. Es lohnt sich also, dieses Protokoll weiter bekannt der – das sind in der Regel die Entwicklungsländer –, die zu machen. Deutschland kann stolz darauf sein, dass es noch nicht über entsprechende rechtliche oder wissen- bei den Verhandlungen in Cartagena und in Montreal am schaftliche Systeme verfügen. Ende eine sehr positive Rolle gespielt hat, übrigens nach jahrelangem Bremsen in den Jahren vor 1999. Deutsch- Wenn wir diese Grundsätze und Vereinbarungen land sollte bei der weiteren Ausgestaltung des Protokolls heute übereinstimmend begrüßen und gemeinsam be- weiterhin eine solche führende Rolle spielen und dabei schließen, muss ich doch auch darauf hinweisen, wie wi- die, wie ich gesagt habe, weltpolitisch sehr wichtige dersprüchlich die Bundesregierung – insbesondere das Einigkeit zwischen Europäern und Entwicklungsländern zuständige Bundesministerium und die zuständige Bun- über das Vorsorgeprinzip in der Umweltpolitik und der desministerin – demgegenüber auf nationaler Ebene Landwirtschaft fortsetzen. agiert. Das zeigen beispielsweise die massiven politi- (B) schen Eingriffe in die Zulassung biotechnischen Saatgu- (D) Vielen Dank. tes, die wir in den vergangenen Jahren mehrfach erlebt (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten haben, die politische Einflussnahme auf die Zentrale des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Kommission für die Biologische Sicherheit, die wir hier mehrfach diskutiert haben, und die völlige Zielumkehr im Gentechnikrecht, die von Ministerin Künast in den Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: bekannt gewordenen Entwürfen offensichtlich beabsich- Das Wort hat der Kollege Helmut Heiderich, CDU/ tigt ist. CSU-Fraktion. Wenn wir auf internationaler Ebene Verträge unter- zeichnen, die wir als großen Erfolg begrüßen, und wenn Helmut Heiderich (CDU/CSU): wir international festlegen, dass Risikobeurteilungen Frau Präsidentin! Interessierte Kolleginnen und Kol- streng wissenschaftlich durchzuführen sind, dann müs- legen! Wir behandeln heute einen Gesetzentwurf der sen wir uns aber, wie ich meine, auch im eigenen Land Bundesregierung zum Themenfeld der Biotechnologie, daran halten. Das geht jedenfalls nicht mit dem geplanten der geradezu topaktuell ist; denn vor rund einem Monat Gentechnikgesetz zusammen, in dem die wissenschaftli- ist das Cartagena-Protokoll in Kraft getreten, nachdem chen Beurteilungen immer weiter zurückgedrängt und es inzwischen 57 Staaten ratifiziert haben. durch gesellschafts-, sozial- und allgemeinpolitische Ziele ersetzt werden sollen. Das Cartagena-Protokoll ist eine der ersten Rege- lungen für die weltweite Nutzung und Fortentwicklung (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. der grünen Biotechnologie. Mit ihm werden Prinzipien Dr. Christel Happach-Kasan [FDP] – Ulrike festgeschrieben, die inzwischen international als Stan- Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das dard etabliert sind. Ich will einige der wichtigsten davon ist gut!) nennen: das Vorsorgeprinzip – eben schon angespro- Das ist genau das Gegenteil dessen, was wir heute ge- chen – zum Schutz menschlicher Gesundheit und biolo- meinsam beschließen wollen. gischer Vielfalt, die Festlegung eines angemessenen Schutzniveaus, die Anerkennung der großen Chancen Wer unterschreibt, dass er die Öffentlichkeit besser für die menschliche Zukunft durch moderne Biotechno- über die grüne Gentechnik informieren will, kann sich logie, die gegenseitige internationale Abstimmung von nicht auf nationaler Ebene mit Greenpeace, einer Orga- Regelungen und Verfahren sowie die streng wissen- nisation, die gerade mit einer Kampagne gegen Gift und schaftliche Beurteilung eventuell möglicher Risiken. Gentechnik – man höre sich das einmal an! – das Gegen- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2003 5667

Helmut Heiderich (A) teil von Verbraucheraufklärung betreibt, in gemeinsame meinen Argumenten nicht nur der Bundesminister für (C) Werbesendungen begeben und dort verbrauchertäu- Wirtschaft und Arbeit, sondern auch der forschungspoli- schende Versprechungen abgeben. tische Sprecher der SPD inhaltlich zugestimmt. Demgegenüber muss festgestellt werden, dass seit Wer das Cartagena-Protokoll heute beschließt und so- Jahren jährlich rund 40 Millionen Tonnen Futtermittel mit für das eigene Land in Kraft setzt, der muss sich, so auf GVO-Basis nach Europa und entsprechend nach meine ich, auch an dessen Intentionen orientieren. Viel Deutschland importiert werden, wo sie auch verbraucht wird dabei von der Folgekonferenz im kommenden Fe- werden. Dabei hat die Bundesregierung interessanter- bruar abhängen, auf der konkretere Anwendungsre- weise auf meine Kleine Anfrage hin selber zugestanden, geln festgelegt werden müssen. Ich bedauere deshalb, dass sie nicht in der Lage ist, eindeutig festzustellen, dass die Bundesregierung, wie sie gestern im zuständi- wann Gentechnik eingesetzt wird und wann nicht. Als gen Ausschuss explizit ausgeführt hat, bisher weder Vor- ich sie nach einer Beurteilung des Imports von Sojapro- stellungen noch Konzepte hat, mit denen sie in diese in- dukten aus Brasilien gefragt habe, lautete die Antwort: ternationale Konferenz gehen will. Eines ist nach meiner Es liegen keine Daten über den Import gentechnisch ver- Ansicht jedoch unverkennbar: Die grüne Biotechnologie änderter Soja aus Brasilien vor. Wir haben weder belast- gewinnt gerade in den Schwellen- und den Entwick- bare Zahlen über das Ausmaß des Anbaus noch über lungsländern zunehmend an Bedeutung. Deshalb müs- mögliche Exporte nach Deutschland. Dann folgte der sen wir uns auch bald mit gentechnisch verbesserten Hinweis, die Zollbehörden würden aufgrund der Liefer- Produkten dokumente regelmäßig überprüfen, ob in äußerlich er- kennbarer Weise die Angaben auf den Dokumenten mit (Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- dem Inhalt übereinstimmten. NEN]: Genau, verwässerte!) Dazu kann ich nur feststellen: Wer auf dieser Basis – das geht natürlich auch – wie beispielsweise Reis, Pa- gemeinsam mit Greenpeace Versprechen wie die Garan- paya oder Bananen vertraut machen, die nicht in Europa tie von nicht gentechnisch produziertem Schweine- entwickelt, geprüft und zugelassen sind und die trotzdem fleisch gibt, der täuscht die Verbraucher und macht nicht in absehbarer Zeit auf unsere Märkte kommen werden. das, was wir mit dem internationalen Vertrag unterzeich- nen und verlangen. Wer vor diesem Hintergrund – der einzelne Abgeord- nete, wie auch immer sein Gusto sein mag, wird nicht (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. bestimmen können, wohin die Entwicklung geht; aber Dr. Christel Happach-Kasan [FDP]) wir können das mit dem vorliegenden Vertragswerk re- Wer außerdem – das will ich auch wiederholen; ich geln – die kleinkarierten Verhinderungsstrategien in (B) (D) habe es schon mehrfach ausgeführt – ungerührt zusieht, Deutschland weiter betreibt, hat die Perspektiven des wenn Organisationen wie Greenpeace selbst solche Ver- vorliegenden Vertragswerkes in keiner Weise begriffen. suchsfelder zerstören, die vom Bundesministerium für Wer die zügige Weiterentwicklung insbesondere in den Bildung und Forschung direkt gefördert werden, der asiatischen Ländern mitbestimmen will, darf sich nicht handelt ebenfalls den Intentionen dieses internationalen durch ein kleinkariertes Regelwerk ausschließen, son- Vertragswerks direkt zuwider. dern muss dafür sorgen, dass wir auch in Zukunft in den internationalen Entwicklungen vorne dabei sein können. Erlauben Sie mir noch einen Hinweis zum Thema Hier liegt meines Erachtens unsere politische Aufgabe, Forschung. Wie groß die Unterschiede zwischen den wenn ich das Protokoll von Cartagena richtig verstehe. Entwicklungen in Deutschland und anderswo sind, zeigt eine aktuelle Nachricht. In den USA hat die NSF, die Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. National Science Foundation, gerade veröffentlicht, dass (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) sie die Genomforschung im Pflanzenbereich an den Uni- versitäten und Instituten erneut mit 100 Millionen Dollar unterstützen wird. Bei uns dagegen werden die Mittel für Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: das Projekt GABI, mit dem wir einmal an der Spitze da- Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär bei waren, im nächsten Haushalt in erheblichem Maße Matthias Berninger. zusammengestrichen. Wer – um noch einen anderen Punkt zu nennen – im Matthias Berninger, Parl. Staatssekretär bei der Zusammenhang mit dem Cartagena-Vertragswerk unter- Bundesministerin für Verbraucherschutz, Ernährung und streicht, dass die moderne Biotechnik ein großes Poten- Landwirtschaft: zial für die Menschheit bei angemessenen Sicherheits- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr maßnahmen hat, darf nicht im eigenen Land, so meine Kollege von Weizsäcker, ich bin Ihnen für die Einord- ich, mit immer neuen bürokratische Hürden, mit immer nung des Cartagena-Protokolls in den langen Reigen an- weiter ausgreifenden Regelungsmechanismen und da- derer internationaler Abkommen außerordentlich dank- durch immer höheren Kosten genau dieses Potenzial der bar. Ich teile Ihre Einschätzung, dass sich dieses Biotechnik wieder infrage stellen. Protokoll tatsächlich sehen lassen kann und durchaus auf Ich begrüße ausdrücklich, dass ich Unterstützer für einer Stufe mit dem Kioto-Protokoll steht, dass es aber meine Forderungen gefunden habe, und zwar dort, wo in der öffentlichen Diskussion häufig im Hintergrund ich es gar nicht vermutet habe. Im „Handelsblatt“ haben steht. Wenn jemand wie Sie, der sich mit internationalen 5668 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2003

Parl. Staatssekretär Matthias Berninger (A) Konferenzen sehr gut auskennt, eine solche Einordnung Die Kleine Anfrage, auf die Sie hingewiesen haben, (C) vornimmt, dann gewinnt das zusätzlich an Gewicht. belegt noch etwas anderes. Wenn bereits 40 Millionen Tonnen gentechnisch veränderter Futtermittel auf den Darüber hinaus freue ich mich sehr, dass sich nicht deutschen Markt kommen, dann belegt das doch ein- nur alle Fraktionen im Deutschen Bundestag, sondern drücklich, in welchem Ausmaß die Industrie versucht, auch der Bundesrat dazu haben durchringen können, den ihre Interessen durchzusetzen und – ohne die Menschen Prozess der Inkraftsetzung dieses Protokolls zu be- daran zu beteiligen – dieser Technologie zum Durch- schleunigen und diesem Protokoll zuzustimmen. Ich er- bruch zu verhelfen. Die Gewinne werden dabei privati- wähne das deshalb, weil das nicht immer der Fall war. siert. Wir wissen aber, dass die Risiken einer solchen Vor dem Regierungswechsel 1998 waren die Verhand- Politik sozialisiert werden. Vorsorgender Verbrau- lungen über ein solches Protokoll in Deutschland von cherschutz setzt genau an dieser Stelle an und will über einem anderen Geist getragen. Damals war die Bundes- klare Regeln, klare Kennzeichnung, die Sicherstellung republik Deutschland eher im Bremserhäuschen und war von Information und Wahlfreiheit dafür Sorge tragen, eher die gleiche Skepsis gegenüber solchen internationa- dass Gefahren von den Bürgerinnen und Bürgern abge- len Vereinbarungen Bestandteil der offiziellen Regie- wendet werden. rungspolitik, wie das heute noch in den Vereinigten Staa- ten der Fall ist. Mich wundert nicht, dass das in Ihrer Rede überhaupt keine Rolle gespielt hat, Herr Kollege Heiderich; Ich erwähne das, Herr Kollege Heiderich, vor allem aus einem Grund – er hört zwar nicht zu, aber vielleicht (Helmut Heiderich [CDU/CSU]: Zuhören!) will er das auch gar nicht hören –: Wenn Sie sagen, dass das Protokoll sozusagen Ihren politischen Intentionen denn Sie haben dazu immer eine klare und eindeutige des „Macht hoch die Tür, die Tor’ macht weit“ für Gen- Haltung. Ich glaube, Sie sind der Einzige im Parlament, technik entsprechend hilft, dann müssten die Amerika- der genau weiß, dass die grüne Gentechnik alle Chancen ner geradezu begeistert beitreten. Das tun sie aber nicht; bietet und dass die Risiken bei Null sind. denn das Protokoll regelt etwas anderes. Es soll verhin- Ich freue mich, dass eine Mehrheit im Deutschen dern, dass sich die grüne Gentechnik global auf leisen Bundestag und eine breite Mehrheit der Bevölkerung Sohlen verbreitet, ohne dass die Politik, dass die Staaten, hier skeptischer ist. Die Zeiten blinder Technikgläubig- dass die Demokratie und dass die Menschen daran teil- keit sind vorbei. Sie sind vor allem dort vorbei, wo Pro- haben können. Das können die Mitgliedstaaten dieses zesse irreversibel sind. Bei der grünen Gentechnik sind Protokolls verhindern, indem ganz wesentliche Ele- diese Prozesse irreversibel. Deswegen freue ich mich, mente einbezogen werden. dass wir in der Bundesregierung, gestützt auf einen sehr (B) Ein ganz wesentliches Element ist das der Transparenz. klaren Koalitionsvertrag, zu der Erkenntnis gekommen (D) Ohne Transparenz wird es keine Wahlfreiheit im Bereich sind, dass der vorsorgende Verbraucherschutz das we- der grünen Gentechnik geben. Künftig werden Staaten, in sentliche Instrument ist, um Chancen und Risiken der die gentechnisch veränderte Organismen – seien es Nah- grünen Gentechnik zu bewerten. Wir werden das auch in rungsmittel, seien es lebende Organismen – exportiert Zukunft tun, beispielsweise bei der Kennzeichnung von werden sollen, darüber informiert werden müssen, dass Saatgut. Wir werden das aber gemeinsam mit unseren es sich um solche handelt. europäischen Partnern tun, vor allem bei der ersten Ver- tragsstaatenkonferenz in Malaysia, in der Hoffnung, dass Ich freue mich, dass die Europäische Union schon wir als Europäer in der Allianz mit den Entwicklungs- einen Schritt weiter ist. Sie möchte nicht nur den Infor- ländern einigen multinationalen Konzernen etwas Wich- mationsaustausch zwischen Staaten gewährleistet sehen. tiges entgegensetzen, nämlich Demokratie. Die Europäische Union will vielmehr auch, dass die Ver- braucherinnen und Verbraucher klare Kenntnis darüber Vielen Dank. haben, ob es sich bei den Produkten, die sie kaufen, um gentechnisch veränderte Lebensmittel handelt oder aber (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ um solche, die nicht gentechnisch verändert sind. Wir DIE GRÜNEN) haben mit einem Kraftakt auf europäischer Ebene diese Wahlfreiheit für die Verbraucherinnen und Verbraucher Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: sichergestellt. Ich glaube, das ist etwas, auf das wir in Die letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin Deutschland sehr stolz sein können. Dr. Christel Happach-Kasan, FDP-Fraktion. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Dr. Christel Happach-Kasan (FDP): Wenn der Kollege Heidereich auf eine kleine Anfrage Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! hinweist, nach der wir nicht ausreichende Informationen Ziel des Cartagena-Protokolls ist es, die biologische darüber haben, wie sich die grüne Gentechnik in be- Vielfalt vor Risiken zu schützen, die von lebenden trans- stimmten Bereichen verbreitet hat, dann ist auch das ein genen Organismen möglicherweise ausgehen. Wir als sehr gutes Argument dafür, hier im Rahmen des Carta- FDP-Fraktion unterstützen diese Zielsetzung mit Nach- gena-Protokolls zu Fortschritten zu kommen; denn in druck. Der Erhalt der biologischen Vielfalt ist im Inte- dem Maße, in dem die Informationen verbessert werden, resse unserer Gesellschaft, ist im Interesse künftiger Ge- können wir auch einen besseren Überblick bekommen. nerationen. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2003 5669

Dr. Christel Happach-Kasan (A) Was heißt biologische Vielfalt? Finden nicht auch Sie Vielfalt ist ein ganz wichtiges Thema im Bereich des Na- (C) es traurig, dass unsere Kinder ihre Lehrer in der Schule turschutzes. Dafür ist an und für sich der Umweltminis- nicht mehr mit Maikäfern ärgern können, weil es einfach ter zuständig, das Bundesamt für Naturschutz ist die zu- keine mehr gibt? Das ist ein Verlust an biologischer Viel- ständige Behörde. Nach Auskunft von Staatssekretär falt. Berninger soll die Sicherung der biologischen Vielfalt dem Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebens- (Beifall bei der FDP) mittelsicherheit übertragen werden, als ob dieses Bun- Wir von der FDP haben sehr deutlich gemacht, dass desamt die Gefährdung von bittersüßem Nachtschatten wir die Aufhebung des Zulassungsmoratoriums für durch transgene Kartoffeln beurteilen könnte. Das kann transgene Pflanzen wollen. Dies ist aus Sicht des Natur- es nicht! Der Umweltminister zeigt kein Interesse an bio- und Gesundheitsschutzes verantwortbar, zur Sicherung logischer Vielfalt. von Arbeitsplätzen in Deutschland wirtschaftlich erfor- Offensichtlich hat dieser Unsinn Methode: Die derlich und zur Verbesserung der Ernährungssituation in Zuständigkeiten für die Genehmigung von Freiset- den ärmsten Ländern der Erde ethisch geboten. zungsversuchen wurden dem Bundesamt für Verbrau- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten cherschutz und Lebensmittelsicherheit übertragen, die der CDU/CSU) Zuständigkeit des Umweltbundesamtes dem Bundesamt für Naturschutz. Das verstehe, wer will. Minus mal mi- Wir wollen gleichzeitig sicherstellen, dass unsere Befür- nus ergibt plus, aber falsch plus falsch ist doppelt falsch. wortung der grünen Gentechnik die biologische Vielfalt nicht gefährdet. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass die Menschen der grünen Gentechnik inzwischen sehr viel positiver als Diese Bundesregierung ist völlig unfähig, die notwen- vor Jahren gegenüberstehen. Dies ist das Ergebnis der digerweise zu erfüllenden Aufgaben fachgerecht auf die vom Bundespresseamt im Herbst 2001 in Auftrag gege- ihr zur Verfügung stehenden Behörden zu verteilen. Das benen Umfrage. ist ein Armutszeugnis. Die FDP fordert die Bundesregie- rung auf, den Verwaltungsaufwand angesichts der gerin- Viele Kolleginnen und Kollegen in diesem Haus erin- gen Bedrohung der biologischen Vielfalt durch transgene nern sich noch – ich war damals noch nicht dabei – an den Organismen zu minimieren. Schade, dass die Beschluss- TAB-Bericht „Gentechnik, Züchtung und Biodiversität“. fassung des Protokolls von Cartagena die von der Regie- Der Bericht sagt aus, dass die gentechnisch unterstützte rung eingestimmte negative Begleitmusik erhält. Pflanzenzüchtung keinen nachweisbaren Einfluss, also auch keinen negativen Einfluss, auf die Biodiversität hat. Ich danke für die Aufmerksamkeit. (B) (D) Rot-Grün hat das Urteil der Wissenschaftler nicht ge- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten fallen. Ihre verzweifelten Versuche, das Ergebnis durch der CDU/CSU) einseitige und falsche Interpretation zu diskreditieren, waren nicht überzeugend. Welchen Sinn macht es eigent- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: lich, solche Berichte in Auftrag zu geben, wenn Sie deren Ich schließe die Aussprache. Ergebnisse bei Ihren Überlegungen nicht berücksichtigen, wenn Sie gar nicht die Absicht haben, solche – Ihren Be- Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun- strebungen entgegenstehenden – Ergebnisse zu berück- desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zu dem Pro- sichtigen? tokoll von Cartagena vom 29. Januar 2000 über die bio- logische Sicherheit zum Übereinkommen über die (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten biologische Vielfalt, Drucksachen 15/1519 und 15/1652. der CDU/CSU) Der Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Vor dem Hintergrund des Anbaus von 60 Millionen Landwirtschaft empfiehlt in seiner Beschlussempfeh- Hektar transgener Kulturpflanzen in diesem Jahr entlar- lung auf Drucksache 15/1737, den Gesetzentwurf anzu- ven sich Ihre Versuche, diese Innovation zu verhindern, nehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zu- als ideologisch motiviert. Die Fläche nimmt von Jahr zu stimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt Jahr zu. Gleichwohl ist es nicht zu Problemen gekom- dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist in men, wie mir die Bundesregierung auf Anfrage bestätigt zweiter Beratung mit den Stimmen des ganzen Hauses hat. Diese Bilanz ist erfreulich. Sie rechtfertigt, dass wir angenommen. ein solches Protokoll mit einer solch anspruchsvollen Dritte Beratung Zielsetzung unterschreiben können. Tatsächlich können wir doch feststellen, dass ganz andere Prozesse die bio- und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem logische Vielfalt in Deutschland gefährden: Flächenver- Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – siegelung, Schadstoffemissionen, sich ausbreitende Neo- Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent- phyten. Was tun Sie dagegen? Nichts! wurf ist in dritter Lesung mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen. (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Unvorstell- bar!) Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf: Die Umsetzung des Protokolls durch die Bundesre- Beratung des Antrags der Abgeordneten Günther gierung lässt Schlimmes befürchten. Die biologische Friedrich Nolting, Helga Daub, Birgit 5670 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2003

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner (A) Homburger, weiterer Abgeordneter und der Frak- Er bezeichnet damit alle amerikanischen, belgischen, (C) tion der FDP britischen, französischen, italienischen, niederländi- schen und spanischen Soldatinnen und Soldaten, Wehrpflicht aussetzen ( [SPD]: Keinen vergessen, Herr – Drucksache 15/1357 – Kollege?) Überweisungsvorschlag: Verteidigungsausschuss (f) denen wir übrigens in einem nicht unerheblichen Maß Auswärtiger Ausschuss unsere staatliche Einheit zu verdanken haben, als Söld- Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ner. Streng genommen, Herr Kollege Erler, bezeichnet er Haushaltsausschuss sogar alle länger dienenden Soldatinnen und Soldaten Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die der Bundeswehr als Söldner. Das vergrößert den Skan- Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die dal. Sie sollten sich solche Zwischenrufe sparen. FDP sechs Minuten erhalten soll. – Ich höre keinen Wi- (Beifall bei der FDP) derspruch. Dann ist das so beschlossen. Es sind genau diese länger dienenden Soldatinnen und Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Soldaten, die durch ihren vorbildlichen Dienst das Anse- Günther Nolting, FDP-Fraktion. hen Deutschlands im Ausland mehren, mittlerweile schon über viele Jahre. Günther Friedrich Nolting (FDP): Der weltweite Kampf gegen den internationalen Ter- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die rorismus steht im Mittelpunkt der militärischen Planung. Bundesregierung hinkt in der Frage der Bundeswehrre- Die internationale Konfliktverhütung und Krisenbewäl- form der Entwicklung unverändert dramatisch hinterher. tigung sowie die Unterstützung der Bündnispartner ste- (Beifall bei der FDP – Dr. Ludger Volmer hen im Vordergrund. Dies hat der Verteidigungsminister [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Bundes- in den Verteidigungspolitischen Richtlinien ausdrücklich regierung hinkt grundsätzlich nicht!) festgehalten. Das Hauptargument für den Erhalt der Wehrpflicht, die Landesverteidigung, ist somit entfallen. Die faktischen Veränderungen in der Frage der allgemei- nen Wehrpflicht nimmt sie offensichtlich wahr; es fehlt ihr Wir alle haben erlebt, dass sich die sicherheitspolitische aber die Kraft, entsprechende Konsequenzen zu ziehen. Lage verbessert hat. Staaten des ehemaligen Warschauer Paktes und der ehemaligen Sowjetunion sind Mitglieder Warum mutet die Bundesregierung den Angehörigen der NATO geworden bzw. werden Mitglieder der NATO der Bundeswehr Reförmchen auf Reförmchen zu, die werden. Das Bündnis ist jedem potenziellen Gegner, wo (B) (D) dann auch noch äußerst kurzlebig sind? Warum schafft immer er auch stehen mag, um ein Vielfaches überlegen, sie nicht endlich Planungssicherheit? Warum folgt sie ohne auch nur einen einzigen Reservisten einziehen zu nicht der überwiegenden Mehrheit der NATO-Staaten müssen. Die Wehrpflicht als Krücke zur Möglichkeit der und -Beitrittskandidaten und gliedert die Bundeswehr in Rekonstitution zu begründen, wie in den Verteidigungs- eine Freiwilligenarmee um? Polen, Ungarn und Tsche- politischen Richtlinien geschehen, ist deshalb nicht trag- chien haben diesen Schritt angekündigt. Andere NATO- fähig. Beitrittskandidaten werden diesen Weg gehen. (Beifall bei der FDP) Studien der Stiftung für Wissenschaft und Politik, des Instituts für Friedens- und Sicherheitspolitik, Hamburg, Die Fähigkeit der Bundeswehr zu einem schnellen Auf- und des BDI haben in den letzten Monaten die Abkehr wuchs ist nicht mehr notwendig. von der allgemeinen Wehrpflicht gefordert. Was setzt die In den Verteidigungspolitischen Richtlinien und den Bundesregierung den stichhaltigen Argumenten ver- 31 Thesen zur Beibehaltung der Wehrpflicht werden schiedenster gesellschaftlicher Gruppen entgegen? Man auch die asymmetrische Bedrohung oder Angriffe von mag es kaum glauben: 31 „Pro Wehrpflicht“-Thesen, ge- außen als Argumente für die Wehrpflicht aufgeführt. strickt mit heißer Nadel! An diese Thesen glaubt im Ver- Wollen Sie, meine Damen und Herren von Rot-Grün, teidigungsministerium niemand. wirklich Wehrpflichtige im Kampf gegen den Terroris- Zur Krönung des ganzen Vorgangs veröffentlicht der mus einsetzen? Verteidigungsminister im Heft 3 der „Information für die ( [BÜNDNIS 90/DIE Truppe“ auf Seite 7 den Text eines Vortrags, den er im GRÜNEN]: Nein!) Mai an der Führungsakademie der Bundeswehr gehalten hatte. Ich zitiere aus diesem Vortrag des Verteidigungs- Das kann wohl nicht richtig sein. Wenn das so ist, dann ministers eine Kernaussage: setzen Sie sich dafür ein, Herr Kollege, dass insoweit eine Veränderung vorgenommen wird, und stimmen Sie Wehrpflicht erhalten heißt für mich: Deutsche Sol- unserem Antrag zu, so wie Sie es draußen immer erzäh- daten werden nicht zu Söldnern! len! Ich frage den Herrn Minister, woher er das Recht (Beifall bei der FDP) nimmt, in einer derart üblen Form über die Wehrverfas- sung der Streitkräfte unserer Verbündeten zu urteilen. Aufgaben im Kampf gegen den Terrorismus und Aus- landseinsätze lassen sich nur durch hoch motivierte, sehr (Beifall bei der FDP) gut ausgebildete und mit modernster Bewaffnung ausge- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2003 5671

Günther Friedrich Nolting (A) stattete Zeit- und Berufssoldaten erfüllen, die professio- Viele Argumente tragen Sie nicht dagegen vor. Ganze (C) nell handeln und flexibel einsetzbar sind. zehn Zeilen – Überschrift und Datum schon mitgezählt – umfasst der Text Ihres Antrags: Sicherheitspolitisch sei Natürlich gibt es auch Gründe für die Wehrpflicht, die Wehrpflicht nicht mehr erforderlich; mangelnde zum Beispiel Transparenz, Austausch mit der Gesell- Dienstgerechtigkeit entziehe ihr die gesellschaftliche schaft, Rekrutierung. Aber diese Gründe legitimieren die Akzeptanz. Wehrpflicht nicht. Die Wehrpflicht stellt einen so tiefen Eingriff in die individuelle Freiheit der jungen Bürger (Günther Friedrich Nolting [FDP]: So ist es!) dar, dass sie von einem demokratischen Rechtsstaat nur Vielleicht fällt die Begründung Ihrer Forderung deshalb dann gefordert werden darf, wenn es die äußere Sicher- so kurz aus, weil Sie sich selbst der Argumente für eine heit des Staates gebietet. Sie ist nicht ewig gültig, son- Abschaffung der Wehrpflicht nicht so sicher sind. dern von der konkreten Sicherheitslage abhängig. Ihre Beibehaltung, Aussetzung oder Abschaffung sowie die (Günther Friedrich Nolting [FDP]: Den Antrag Dauer des Wehrdienstes müssen sicherheitspolitisch be- muss man nicht extra schriftlich begründen! Er gründet werden. ist so gut!) (Beifall bei der FDP) Ich verstehe das, weil Ihre Ablehnung erst neueren Da- tums ist. Das weitere Festhalten an der allgemeinen Wehrpflicht Sie haben in dieser Frage in den vergangenen Jahren ohne stichhaltige sicherheitspolitische Begründung ist einen weiten Weg zurückgelegt. Wolfgang Gerhardt ant- schlicht illegitim. wortete 1995 jenen, die nach dem Ende des Kalten Krie- Bei einer intelligent angelegten Streitkräftestruktur, ges die Wehrpflicht infrage stellten: wie sie die FDP-Bundestagsfraktion vorschlägt und for- Die Verteidigung unserer Freiheit muss auch in Zu- dert, muss überdies keiner der genannten Vorteile einer kunft die Angelegenheit aller bleiben. Der Schutz Wehrpflichtarmee aufgegeben werden. von Freiheit und Recht ist nicht ausschließlich als Leistung von Berufssoldaten zu verstehen. Theodor Problematisch erscheint zusätzlich, dass mittlerweile Heuss hat die Wehrpflicht deshalb zu Recht als le- mehr von Wehr- und Ersatzdienstwillkür denn von Wehr- gitimes Kind der Demokratie bezeichnet. Der frü- und Dienstgerechtigkeit gesprochen werden muss. In here Bundespräsident hat sie als konstitutives den neuesten Planungen von Minister Struck werden we- Merkmal unserer Streitkräfte genannt. niger als 20 Prozent der Wehrpflichtigen zur Bundes- wehr einberufen. Von Gerechtigkeit kann nicht einmal Wir sprechen uns für die Beibehaltung der Wehr- mehr im Ansatz gesprochen werden. pflicht aus. Sie ist Ausdruck des Willens einer De- (B) mokratie, die Verteidigung der Freiheit als ständige (D) Ich komme auf die „Information für die Truppe“ zu- Aufgabe in der gesamten Gesellschaft zu veran- rück. Hier erklärt der Sprecher der Grünen, Herr kern. Wir werden den Gedanken der Wehrpflicht Nachtwei, dass er und die Grünen insgesamt für eine nicht aufgeben, nur weil es schwieriger geworden Freiwilligenarmee einträten. Ich bin gespannt, wie die ist, eine Wehrpflichtarmee zu organisieren. grüne Rednerin gleich begründen wird, warum Sie den So Herr Gerhardt. Antrag der FDP ablehnen. (Günther Friedrich Nolting [FDP]: (Beifall bei der FDP) Guter Mann!) Ich sage: Richtig! Deshalb bleiben wir bei der Wehr- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: pflicht und werden Ihren Antrag ablehnen. Nächster Redner ist der Kollege Dr. Hans-Peter (Günther Friedrich Nolting [FDP]: Wir sind Bartels, SPD-Fraktion. inzwischen bedeutend weiter! Denken Sie ein- mal an die neuen Aufgaben!) Dr. Hans-Peter Bartels (SPD): Ihr Sinneswandel erfolgte im Sommer 2000. Er ging sehr schnell. Noch kurz vor der parlamentarischen Som- Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und merpause, am 7. Juni 2000, hat die FDP einen Entschlie- Herren! Einmal mehr befassen wir uns heute in diesem ßungsantrag ins Parlament eingebracht, in dem ihre Hause auf Antrag der FDP-Fraktion mit der Aussetzung Fraktion sich für eine Reduzierung des Wehrdienstes auf der Wehrpflicht, maximal sechs Monate aussprach. Von einem Ende der (Günther Friedrich Nolting [FDP]: Und nicht Wehrpflicht war damals noch keine Rede. das letzte Mal!) Aber kaum war die Sommerpause vorüber, überrasch- ten Sie uns am 11. Oktober mit einem neuen Antrag, in offenbar einem Herzensanliegen der Liberalen. Denn be- dem nun die Aussetzung der Wehrpflicht gefordert wurde. reits in der vergangenen Wahlperiode haben sie drei An- Dazwischen lag ein Parteitag, der – so kann man der Pres- träge gleichen Inhalts in den Bundestag eingebracht. seberichterstattung entnehmen – von der damals in Ihrer Eine Mehrheit haben sie dafür nicht gefunden. Sie wer- Partei populären „Projekt 18“-Euphorie geprägt war. den sie auch heute nicht erhalten. Unsere Position, die Wehrpflicht beizubehalten, hat nichts von ihrer Richtig- (Günther Friedrich Nolting [FDP]: Hahaha! keit verloren. Wer hat das aufgeschrieben?) 5672 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2003

Dr. Hans-Peter Bartels (A) Die „Frankfurter Rundschau“ kommentierte damals tref- Wir Verteidigungspolitiker der SPD-Fraktion haben (C) fend, uns im Juli ebenfalls deutlich für die Beibehaltung der Wehrpflicht ausgesprochen, dass gravierende inhaltliche Positionsveränderun- gen allerdings einen höheren Glaubwürdigkeitsge- (Günther Friedrich Nolting [FDP]: Deshalb halt erreichten, könnte man sie denn von dem Ver- wurde die Abstimmung verschoben!) dacht befreien, sie seien doch nur Revuenummern verbunden mit der Feststellung, dass der Wehrdienst sich in einer großen Profilierungsshow. den veränderten politischen Rahmenbedingungen anpas- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) sen muss. Nur eine Wehrpflicht, die auf der Höhe der Zeit ist, wird Bestand haben. Wichtig ist für uns: Die Wir Sozialdemokraten haben uns im Wahlprogramm Ausgestaltung des Dienstes, Ausbildung und Aufgaben zur Bundestagswahl 2002 ausdrücklich für die Wehr- haben sich an den militärischen Erfordernissen zu orien- pflicht ausgesprochen. Aber natürlich sehen wir, dass die tieren. Welt und das sicherheitspolitische Umfeld sich gewan- delt haben und weiter wandeln und dass dies nicht ohne Lassen Sie mich einige Worte zum verfassungsrecht- Folgen für die Bundeswehr bleiben kann. Deshalb ist es lichen Rahmen sagen, weil in der öffentlichen Diskus- richtig, die Wehrform immer wieder auf ihre Tauglich- sion, auch von Ihnen, oft der falsche Eindruck erweckt keit zu überprüfen, wie es im Koalitionsvertrag unserer wird, rot-grünen Regierung steht. Deshalb hat die Bundes- regierung seit ihrem Amtsantritt 1998 weit reichende (Günther Friedrich Nolting [FDP]: Das kann Reformen der Streitkräfte auf den Weg gebracht. überhaupt nicht sein!) (Günther Friedrich Nolting [FDP]: Gerade da- allein die sicherheitspolitische Notwendigkeit des Kalten bei, nachzubessern!) Krieges habe die Wehrpflicht begründen können. Das ist kein einfacher Prozess, der auch nicht in kurzer Das Grundgesetz hat die Entscheidung zwischen Zeit jedes Problem löst, doch wir sind auf dem richtigen Wehrpflichtarmee und Freiwilligenheer ausdrücklich Kurs. Die Reform muss übrigens bei voller Fahrt vorge- dem Gesetzgeber überlassen. Wir in diesem Hause ha- nommen werden, denn parallel zum Umbau der Streit- ben diese politische Entscheidung zu treffen. Selbst kräfte sind mehr als 8 000 Soldaten im Auslandseinsatz. wenn Ihre Prämisse richtig wäre, dass die sicherheitspo- litische Lage keine Wehrpflicht mehr erfordere – was ich Seit Beginn unserer Regierungszeit sind Anforderun- bestreite, aber natürlich kann man darüber diskutieren –, gen an die Bundesrepublik Deutschland hinzugekom- würde sich hieraus kein Automatismus für ihre Abschaf- men, die sich vorher niemand hätte träumen lassen: Ein- fung ergeben. (B) sätze gegen den Terrorismus wie auch unsere (D) Beteiligung an der ISAF-Truppe in Afghanistan, weit (Günther Friedrich Nolting [FDP]: Deshalb außerhalb des alten NATO-Gebiets – out of area, wie haben wir nun auch den Antrag gestellt! Das man früher sagte. Natürlich leisten Wehrpflichtige und wissen wir auch selbst!) auch Zeitsoldaten in Deutschland einen Beitrag zum Kampf gegen den Terrorismus, wenn sie Kasernen unse- – Das ist Ihnen unbenommen. Es ist mir immer wieder rer amerikanischen Verbündeten bewachen. eine Freude, mit Ihnen darüber zu diskutieren. Ich bin mir auch sicher, dass dies, nachdem Sie in der letzten (Anita Schäfer [Saalstadt] [CDU/CSU]: Legislaturperiode drei Anträge gestellt haben, nicht der Richtig!) letzte gewesen sein wird. Das müssen Sie zur Kenntnis nehmen. Das ist nicht ein- Die Entscheidung für oder gegen die Wehrpflicht ist, fach ein Dienst, den man schlicht abschaffen kann. so das Verfassungsgericht, eine grundlegende staatspoli- Der Bundesminister der Verteidigung hat deshalb im tische Entscheidung, die auf wesentliche Bereiche des Mai neue Verteidigungspolitische Richtlinien mit Vor- staatlichen und gesellschaftlichen Lebens einwirkt und gaben für den künftigen Weg der Bundeswehr festgelegt. bei der der Gesetzgeber neben verteidigungspolitischen Gesichtspunkten auch allgemeinpolitische, wirtschafts- (Hans-Michael Goldmann [FDP]: und gesellschaftspolitische Gründe zu bewerten und ge- Haben Sie sie gelesen?) geneinander abzuwägen hat. Dazu sind wir verpflichtet. Jetzt sind wir dabei, die Weiterentwicklung der Bundes- Nach Abwägung aller Argumente sprechen nach unserer wehr zu konkretisieren. Peter Struck hat in seinem Auffassung auch unter den geänderten sicherheitspoliti- Hause die entsprechende Weisung erlassen. Er hat sich schen Rahmenbedingungen fast fünf Jahrzehnte nach ih- in diesem Zusammenhang ausdrücklich dafür ausgespro- rer Einführung gute Gründe für die Beibehaltung der chen, an der Wehrpflicht von neun Monaten festzuhal- Wehrpflicht. ten, sie aber neu auszugestalten und den neuen Struktu- Die Wehrpflicht sichert die Professionalität der Bun- ren und Aufgaben der Bundeswehr anzupassen. Die SPD-Fraktion begrüßt die Schritte, die der Minister be- deswehr. 40 bis 50 Prozent aller Zeit- und Berufssolda- absichtigt, auch sein Bekenntnis zur Wehrpflichtarmee. ten entschließen sich während des Grundwehrdienstes für ein längerfristiges Engagement in den Streitkräften. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der Gerade vor dem Hintergrund der teilweise erheblichen CDU/CSU – Günther Friedrich Nolting [FDP]: Probleme zum Beispiel unserer NATO-Partner ohne Wo bleibt der grüne Partner?) Wehrpflicht, neues und vor allem qualifiziertes Personal Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2003 5673

Dr. Hans-Peter Bartels (A) zu gewinnen, ist dies ein nicht zu unterschätzender Vor- – Natürlich muss das abgewogen werden. Auch das ge- (C) teil des Wehrdienstes. hört in diesen Zusammenhang. Bei 34 Punkten ist 26 ja eine gute Nummer. Das ist ein wichtiger Punkt. Deshalb Wehrpflichtige bringen ein großes Potenzial an allge- erwähne ich das auch hier. meiner und fachlicher Bildung mit. 30 Prozent der Grundwehrdienstleistenden haben die mittlere Reife, (Beifall bei Abgeordneten der SPD) 30 Prozent die Fachhochschulreife oder Abitur, fast Auch wenn es vielleicht in manchen Ohren etwas alt- 40 Prozent eine abgeschlossene Berufsausbildung. Die modisch klingen mag, möchte ich noch einen anderen Wehrpflicht hat einen entscheidenden Anteil an der Pro- guten Aspekt der Wehrpflicht nennen: Jeder taugliche fessionalität unserer Bundeswehr. Mann im entsprechenden Alter ist verpflichtet, Wehr-, Zivil- oder Ersatzdienst zu leisten. Das ist bindend, eine Auch die Möglichkeit, kurzfristig im Inland auf eine Pflicht, die vielleicht als überholt und nicht mehr zeitge- größere Zahl von Soldaten zurückgreifen zu können, hat mäß empfunden werden mag. In einer Zeit aber, in der ihren Sinn keineswegs gänzlich verloren. Dies gilt für persönliche Interessen zunehmend über das Gemein- denkbare Bedrohungen durch den Terrorismus ebenso wohl gestellt werden, wäre es das falsche Signal, einen wie für Naturkatastrophen oder Unglücke. verbindlichen und sinnvollen Dienst an der Gesellschaft Vielleicht ist es auch hilfreich, sich ein paar Zahlen zu aufzukündigen. vergegenwärtigen: Mehr als 8 Millionen junge Männer Aus den Gründen, die ich genannt habe, werden wir haben in der Bundeswehr seit ihrer Gründung gedient. Sozialdemokraten die Wehrpflichtarmee nicht leichtfer- Die Wehrpflicht sorgt – auch heute – in jedem Jahr für tig aufgeben. Auch 46 Jahre nach ihrer Einführung den stetigen Austausch von rund 100 000 jungen Solda- spricht vieles für sie. Dass ihre Ausgestaltung den jewei- ten; das ist ein gutes Drittel der gesamten Streitkräfte. ligen militärischen Erfordernissen angepasst werden Dadurch bleibt die enge Verbundenheit von Bundes- muss, ist nicht neu. So war es immer. Deswegen vari- wehr und Gesellschaft gewahrt. Dies ist in Zeiten, in ierte, um ein Beispiel zu nennen, die Dauer des Grund- denen unsere Soldaten weit über die Grenzen NATO-Eu- wehrdienstes in Abhängigkeit von der sicherheitspoliti- ropas hinaus einen schwierigen und gefährlichen Dienst schen Lage: Mal waren es zwölf, mal 18, zu meiner Zeit versehen, wichtiger als je zuvor. 15, mal zehn Monate; jetzt sind es neun Monate. Wir Es besteht ja nicht nur die Gefahr, dass sich das Mili- bleiben mit der Wehrpflicht flexibel. Eine kurzfristige tär von der Gesellschaft abkapselt – das ist heute wirk- Aussetzung lich nicht unser Problem –, sondern auch, dass sich die (Günther Friedrich Nolting [FDP]: Das will Gesellschaft von der Bundeswehr abwendet, dass das doch keiner! Das wissen Sie doch ganz genau! (B) (D) Militärische dem Zivilen fremd wird. Dem beugt die Schauen Sie sich den Antrag doch einmal an!) Wehrpflicht mit ihren Grundwehrdienstleistenden und ihren FWDLern erfolgreich vor. Das haben auch Sie ohne Rücksicht auf die Auswirkungen, wie Sie in Ihrem wahrscheinlich einmal so gesehen, aber heute vertreten Antrag fordern, lehnen wir ab. Sie eine andere Position. Schönen Dank. Das mag auch dazu beitragen, dass wir in Deutsch- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten land uns mit Auslandseinsätzen manchmal schwerer tun der CDU/CSU) und die Bevölkerung sich stärker damit beschäftigt als in manchen anderen Ländern. Das ist kein Nachteil. Im Ge- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: genteil, bei uns ist es mittlerweile eine gute, verfassungs- Nächste Rednerin ist die Kollegin Anita Schäfer, feste Tradition, dass Beschlüsse über Auslandseinsätze CDU/CSU-Fraktion. vom Parlament gefasst werden. Das ist gut so und das bleibt so. Anita Schäfer (Saalstadt) (CDU/CSU): Mit der Wehrpflicht stehen immer auch der Zivil- Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol- dienst und die Ersatzdienste bei freiwilligen Feuerweh- legen! Der 11. September 2001 hat uns nicht nur den ren oder dem Technischen Hilfswerk zur Disposition. Terrorismus als Bedrohung aufgezeigt. An diesem Tage Das Bundesverfassungsgericht hat wiederholt bestätigt, sind so gut wie alle Vorhersagen über die sicherheitspoli- dass die Politik die Auswirkungen auf den Zivildienst in tische Zukunft Deutschlands und seiner Verbündeten zu- Betracht ziehen darf. Aus meiner Sicht muss sie das sammengestürzt. Dies war auch für die Wehrpflicht und auch. Allerdings kann – das ist klar – der Zivildienst ihre sachliche Notwendigkeit von nachhaltiger Bedeu- nicht zur Legitimation der Wehrpflicht als solcher heran- tung. gezogen werden. Bevor ich zu der angeblich fehlenden Dienstgerech- (Günther Friedrich Nolting [FDP]: Das tut der tigkeit komme, möchte ich Ihnen daher einige Worte Minister aber!) über die sicherheitspolitische Sinnhaftigkeit der allge- meinen Wehrpflicht sagen. – Das tut der Minister nicht. Auslandseinsätze sind die große militärische Aufgabe (Günther Friedrich Nolting [FDP]: Doch! unserer Zeit, aber sie sind nicht alles. Nicht nur am These 26! Da ist das genau aufgeführt!) Hindukusch, auch in Heidelberg hat die Bundeswehr 5674 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2003

Anita Schäfer (Saalstadt) (A) Aufträge zu erfüllen. Für beides brauchen wir die Wehr- fen oder ein sonstiges Großenschadensereignis: Wir (C) pflicht, aber eine Wehrpflicht, die sinnvoll gestaltet wird. müssen ruhende Strukturen aufrufen können. Die Debatte über den Sinn der Wehrpflicht wurde erst richtig laut, als Rot-Grün den Wehrdienst auf neun Mo- Von Heidelberg wieder an den Hindukusch. Auslands- nate verkürzt hat. Diese neun Monate sind die Schmerz- einsätze sind ohne Wehrpflichtige nicht zu leisten. Frei- grenze; für manche Einheiten ist sie damit sogar über- willige Wehrpflichtige stellen hier über ein Drittel der schritten, weil der Verkürzung keine konsequente Mannschaften und sie erfüllen ihre Aufträge hervorra- Strukturreform folgte. Dauer und Inhalte müssen ein gend. Viele Wehrpflichtige schließen Lücken, die in der Ganzes ergeben. Truppe in der Heimat entstehen. Sie sehen also: Wehr- pflichtige erfüllen auch hier sicherheitspolitisch wichtige Aus den zahlreichen Gründen für eine Wehrpflicht Aufgaben. Allein an diesen beiden Beispielen erkennen – etwa Nachwuchsgewinnung, Verankerung der Truppe Sie die sicherheitspolitische Notwendigkeit der Wehr- in der Bevölkerung, Aufwuchsfähigkeit der Truppe, bes- pflicht. sere Qualifikation der Rekruten und besonders der Mannschaften, bessere soziale Mischung der Soldaten in Die Wehrpflicht ist aber auch notwendig, um die rich- der Bundeswehr – greife ich drei heraus: die Aufwuchs- tige Mischung an Personal für die Bundeswehr zu ge- fähigkeit der Truppe, die Bedeutung der Wehrpflichtigen winnen. Eine Armee, die sich mit neuen jungen Wehr- auch für Auslandseinsätze und die soziale Mischung in pflichtigen immer geistig jung hält, eine Armee, in der der Bundeswehr. sich Wehrpflichtige einbringen können, ist eine Armee, wie sie für unsere Sicherheitsvorsorge sehr gut geeignet Im August habe ich die Bundesregierung gefragt, wie ist. Abgesehen davon ist bei gleicher Truppenstärke eine viele zivile Infrastrukturobjekte mit militärischer Be- Berufsarmee immer viel teurer. In Ländern ohne Wehr- deutung von der Bundeswehr betreut werden. Es sind pflicht muss mit enormen Summen um Rekruten gewor- etwa 3 500 zivile Objekte. Es geht hier also nicht um ben werden. Trotzdem melden sich nicht immer die Bes- Kasernen, Depots und Stützpunkte. Für diese 3 500 Ob- ten. jekte – darunter Bahnhöfe, Tankanlagen und Eisenbahn- brücken – sind nach Auskunft der Regierung immerhin Es stellt sich aber die Frage, ob eine allgemeine 25 000 nicht aktive Soldaten der Heimatschutztruppe Wehrpflicht noch den Bedürfnissen der Gegenwart ge- vorgesehen. nügt. Neben dem militärischen Heimatschutz stehen noch die Feuerwehren, das Technische Hilfswerk, die (Günther Friedrich Nolting [FDP]: Billiger Rettungsdienste und andere gesellschaftliche Einrichtun- Hilfsdienst!) gen, die im Notfall auf die Leistungsbereitschaft vieler – So würde ich das nicht bezeichnen. – Diese Zahl wirkt Menschen angewiesen sind. Ohne Vorbereitung und (B) (D) imposant; aber rechnen wir nach: Das sind 7,1 Soldaten Ausbildung geht das aber nicht. Wir müssen vielleicht pro Objekt. Damit kann vielleicht tagsüber eine Eisen- darüber nachdenken, von allen jungen Menschen einen bahnbrücke bewacht werden, aber kein Fernbahnhof und Beitrag für die Gemeinschaft zu fordern. kein großes Tanklager. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Warum habe ich Heidelberg erwähnt? In Heidelberg Viele junge Frauen leisten schon heute ein freiwilli- bewacht die Bundeswehr eine US-Liegenschaft mit Sol- ges soziales Jahr, während junge Männer, die ausgemus- daten, die aus der aktiven Truppe zusammengesucht tert werden, keine gemeinnützige Aufgabe übernehmen wurden. Hier und an anderen Standorten stehen von müssen. Aus einer Vielzahl von Gründen leistet heute Bootsbesatzungen der Marine bis zu Angehörigen der etwa ein Drittel eines wehrpflichtigen Jahrgangs über- Luftwaffe Soldaten, die in einem Spannungsfall andere haupt keinen Dienst. Etwa 30 Prozent eines Jahrgangs Aufgaben erfüllen müssen, also dann nicht mehr zur verweigern den Wehrdienst; 20 Prozent werden aus ge- Verfügung stehen. Nur die Wehrpflicht schafft hier Per- sundheitlichen Gründen ausgemustert; 10 Prozent sind sonalreserven, nur sie hat die wichtige Aufwuchsfähig- Wehrdienstausnahmen. Aber über ein Drittel leistet sei- keit, die aktive Truppe zu entlasten. nen Wehrdienst. Nur etwa 2 Prozent der tauglich Ge- Die Polizei ist heute auch ohne Krisen schon überlas- musterten dienen nicht. Dieses Problem an den Wehr- tet. Wir benötigen klare Rechtsgrundlagen und Zustän- dienstleistenden und ihren Aufgaben festzumachen digkeiten, um in besonderen Gefährdungslagen den Ein- verzerrt die Perspektive. Der Weg weist nicht in die Aus- satz der Bundeswehr im Rahmen ihrer besonderen setzung der Wehrpflicht, sondern eher in die Erweite- Möglichkeiten ergänzend zu Polizei und Bundesgrenz- rung der Möglichkeit zu dienen. Das Prinzip „Für jeden schutz zu ermöglichen. Sie sehen also: Die schmalen eine Aufgabe nach seinen Fähigkeiten“ sollte in diesem Ressourcen für diese wichtige Aufgabe ruhen auf den Zusammenhang nicht vergessen werden. Schultern unserer Wehrpflichtigen. Ohne Wehrpflicht Noch ein Wort zur Neuordnung der Kriegsdienst- hätten wir diese Reserven nicht. verweigerung durch Rot-Grün. Die Regierung hat die Die Zukunft der Wehrpflicht liegt daher auch in ei- Verweigerung des Wehrdienstes zu einer Formsache nem modernen Konzept für den Heimatschutz. Nicht gemacht, die nicht mehr den Anspruch einer Gewissens- nur im Objektschutz: Wehrpflichtige können auch als entscheidung erheben kann. Ich zolle daher jedem jun- Sanitäter, Pioniere oder ABC-Abwehrsoldaten in einem gen Mann Respekt, der nicht der Verlockung, dass Ver- neu organisierten Heimatschutz wichtige Aufgaben weigern so einfach wie noch nie ist, folgt und seinen übernehmen. Ob Flutkatastrophe, Anschlag mit C-Waf- Wehrdienst antritt. Die Frage der Dienstgerechtigkeit be- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2003 5675

Anita Schäfer (Saalstadt) (A) trifft also nur eine geringe Anzahl von jungen Männern, schnelle Einsatzbereitschaft und gut ausgebildete Spe- (C) nicht aber die Bundeswehr. Hier muss ein gesamtgesell- zialisten. schaftlicher Ansatz für den Dienst an der Gemeinschaft gefunden werden. Die Wehrpflicht ist sicherheitspoli- (Günther Friedrich Nolting [FDP]: Wohl tisch notwendig und gesellschaftspolitisch akzeptabel. wahr!) Nach Abwägung aller Faktoren komme ich zu dem Ausgerechnet mit der antiquierten Wehrpflicht wollen Schluss, dass wir die allgemeine Wehrpflicht aus vielen wir die Bundeswehr reformieren? Das ist fragwürdig. Gründen benötigen. Staatliche Sicherheitsvorsorge ist so Eine flexible, moderne Einsatzarmee, bestehend aus Sol- wichtig, dass wir sie immer über den Tag und das Jahr daten, die wir zwangsverpflichten, ist nicht mehr zeitge- hinaus betrachten müssen. Dem vorliegenden Antrag, mäß. lieber Herr Nolting, können wir daher nicht zustimmen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall bei der CDU/CSU – Günther Friedrich sowie bei Abgeordneten der FDP) Nolting [FDP]: Der wird erst überwiesen! – Unsere europäischen Nachbarn haben das längst er- Helga Daub [FDP]: Schade, schade!) kannt; Sie haben es angesprochen. Frankreich, Spanien, Belgien und die Niederlande haben keine Wehrpflicht Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: mehr. In Italien, Portugal, der Slowakei, in Slowenien, Nächste Rednerin ist die Kollegin Marianne Tritz, Tschechien und Ungarn wird sie spätestens in drei Jah- Bündnis 90/Die Grünen. ren ausgesetzt oder abgeschafft sein. Die USA, Kanada und Großbritannien haben sowieso keine. Marianne Tritz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wir können von unseren europäischen Partnern ler- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! nen, dass die positiven Erfahrungen bei der Umstellung Die Frage der Abschaffung oder Aussetzung der Wehr- auf eine Berufsarmee überwiegen und welche Fehler pflicht ist ein Abwägungsprozess. Deshalb, Herr wir vermeiden können. Die Niederländer zum Beispiel Nolting, können wir die Diskussion ganz unaufgeregt widerlegen die Bedenken gegen eine Abschaffung der und in aller Ruhe führen. Wehrpflicht ganz deutlich. In den Niederlanden ist kein Staat im Staate geschaffen worden. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – (Dr. Hans-Peter Bartels [SPD]: Das sagt ja Günther Friedrich Nolting [FDP]: Sie sollten auch keiner!) mich einmal nervös sehen!) (B) Das Ansehen der Streitkräfte ist hoch. Die Berufssolda- (D) Das Hauptargument für den Erhalt der Wehrpflicht ist ten sind in der Gesellschaft stark verwurzelt. Das Rekru- die Nachwuchsrekrutierung. Wir holen pro Jahr circa tieren von Nachwuchs gelingt mittlerweile durch ein 100 000 junge Männer aus ihrer Lebensplanung zum umfangreiches Maßnahmenpaket, mit dem das Bewer- Dienst an der Waffe, damit einige wenige Tausend übrig beraufkommen erhöht wurde. Die Armee wurde refor- bleiben, die sich nach dem Grundwehrdienst als Berufs- miert, effizienter und letztendlich kostengünstiger. soldaten verpflichten. Jedem einzelnen jungen Mann, der zum Wehrdienst herangezogen wird, müssen wir er- Wer behauptet, eine Berufsarmee könne sich zu ei- klären, warum ausgerechnet er zur Bundeswehr muss nem Söldnerheer entwickeln, unterschätzt, dass deutsche und der gleichaltrige Freund von nebenan nicht, warum Soldaten zum Staatsbürger in Uniform ausgebildet wer- er, wenn er verweigert, einen mehrmonatigen Ersatz- den dienst leisten muss, die Freunde aber gleich eine Berufs- (Beifall der Abg. Helga Daub [FDP] – Günther ausbildung oder ihr Studium beginnen dürfen. Von Ge- Friedrich Nolting [FDP]: Das macht der Mi- rechtigkeit, von Wehrgerechtigkeit kann hier keine Rede nister aber!) sein. und dass wir seit Jahrzehnten viel Wert auf die innere (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Führung legen, die selbstverständlich weiterentwickelt und bei der FDP) werden muss. Auch unsere jetzigen Berufs- und Zeitsol- Es gibt genügend junge Menschen, die eine Karriere bei daten sind keine Rambos, sondern Menschen, die ihre den Streitkräften anstreben würden, wenn man ihnen Aufgaben verantwortungsvoll ausüben. denn ein attraktives Angebot unterbreitet, aber freiwillig (Dr. Hans-Peter Bartels [SPD]: Papp- und zu einer Zeit, die in ihren persönlichen Lebensent- kameraden!) wurf passt. Die Wehrpflicht hat keine Zukunft und es ist nur noch Mit dem Ende des Kalten Krieges steht die klassische eine Frage der Zeit, bis die Freiwilligenarmee kommt. Landesverteidigung nicht mehr im Vordergrund. Heute Im Zuge der weiteren Reformen der Bundeswehr ist es haben wir es mit Bedrohungen zu tun, die anderer Art von daher nur konsequent, jetzt den Ausstieg aus der sind. Der internationale Terrorismus, Regionalkonflikte, Wehrpflicht zu planen. Die Wehrpflicht ist ein Hemm- neue asymmetrische Kriege usw. ergeben für die Streit- schuh für Reformen, sie ist ein Auslaufmodell. kräfte gänzlich neue Aufträge, zum Beispiel Peacekee- ping-Einsätze. Diese neuen Anforderungen an die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Bundeswehr erfordern eine moderne Ausstattung, eine und bei der FDP) 5676 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2003

Marianne Tritz (A) Liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, wir be- Armeen, sondern der Kampf gegen die asymmetrischen (C) grüßen Ihr Engagement, schließlich greifen Sie eine Gefahren terroristischer Aktivitäten. Die daraus erwach- grüne Herzensangelegenheit auf. Wir haben aber noch senden Bündnisverpflichtungen erfordern eine Armee- – jetzt verrate ich kein Geheimnis – Diskussionsbedarf struktur, die flexibel, hoch qualifiziert und von einer mit unserem Koalitionspartner. breiten Mehrheit der Menschen getragen wird. (Anita Schäfer [Saalstadt] [CDU/CSU]: Aber Aus gesellschaftspolitischen Erwägungen können gewaltig!) wir es uns gar nicht leisten, die allgemeine Wehrpflicht abzuschaffen. Das Image unserer Soldaten im Ausland Das halte ich bei der Tragweite dieser Entscheidung ist besser denn je. Sie sind Botschafter des Friedens für auch für völlig in Ordnung. Wir brauchen dazu Zeit und Deutschland, das seit mehr als 50 Jahren auf eine stabile wir werden sie uns nehmen. demokratische Vergangenheit zurückblicken kann. Die (Dr. Ludger Volmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Soldaten helfen beim Aufbau friedlicher Strukturen in NEN]: Das ist eine souveräne Haltung!) Mazedonien, im Kosovo und in Afghanistan. Bei der Er- füllung dieser wichtigen Aufgabe sind nicht nur freiwil- Ich sehe, dass Sie momentan Schwierigkeiten im ei- lig länger dienende Wehrpflichtige vor Ort beteiligt, son- genen Lager haben. Sie haben sich weitestgehend margi- dern auch ihre wehrpflichtigen Kameraden in den nalisiert und brauchen natürlich dringend ein Thema, mit deutschen Standorten. Bei der Bewältigung von Kata- dem Sie in der Öffentlichkeit wieder wahrgenommen strophen – ich erinnere hier insbesondere an das Elbe- werden. und Oderhochwasser – haben sie unermessliche Hilfe- (Günther Friedrich Nolting [FDP]: Bis jetzt leistungen erbracht und wurden zu Helden unserer Na- war die Rede gut!) tion. Das ist natürlich auch nachvollziehbar und ich kann ver- Dafür steht die allgemeine Wehrpflicht. Sie steht aber stehen, dass Sie die Regierungsfraktionen vor sich her- auch für eine Armee, die sich nicht nur als hoch leis- treiben wollen; uns ist das Thema aber zu wichtig dafür. tungsfähig, sondern auch als gesellschaftlich akzeptiert und demokratietauglich bewährt hat. Mit der Wehr- (Günther Friedrich Nolting [FDP]: Deshalb pflicht werden die hohen Qualitätsansprüche an die Be- wird es in den Ausschuss überwiesen! Es wird werberinnen und Bewerber gehalten. Die Verankerung heute nicht abgestimmt!) des oft zitierten, aber nach wie vor gültigen Etiketts des Schließlich geht es um die Zukunft der Bundeswehr. Staatsbürgers in Uniform bürgt für eine breite Akzeptanz in der Gesellschaft. Danke. (B) Ich komme zum Stichwort Nachwuchsgewinnung. (D) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Diesem Argument wird meines Erachtens viel zu wenig sowie bei Abgeordneten der SPD) Bedeutung beigemessen. Über lange Jahre kam etwa die Hälfte der freiwillig Dienst leistenden Soldaten aus den Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Reihen der Grundwehrdienstleistenden. Unter anderem Frau Kollegin Tritz, dies war Ihre erste Rede im Deut- fällt mir beispielsweise der Inspekteur des Heeres, Gene- schen Bundestag. Ich gratuliere Ihnen recht herzlich und ralleutnant Gert Gudera, ein, der 1966 als Grundwehr- wünsche Ihnen persönlich und politisch alles Gute. dienstleistender bei der Bundeswehr eintrat. Meine Frage lautet: Hätte er diese Position heute inne, wenn er (Beifall) damals nicht gezogen worden wäre? Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Welche Anstrengungen wären nötig, um dieses Poten- Jürgen Herrmann, CDU/CSU-Fraktion. zial durch Werbung und finanzielle Prämien zu gewin- nen? Die Erfahrungen unserer Bündnispartner sind bei- Jürgen Herrmann (CDU/CSU): spielhaft. Belgien hat jüngst auf einer Expertentagung Frau Kollegin, auch ich beglückwünsche Sie zu Ihrer konstatiert, dass es seit der Abschaffung der Wehrpflicht ersten Rede und wünsche Ihnen alles Gute auf Ihrem zu extremen Nachwuchsproblemen gekommen ist. Nur weiteren Weg in diesem Hohen Hause. durch eine drastische Gehaltserhöhung ist es gelungen, neue Soldaten zu rekrutieren. Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Heute diskutieren wir über die Aussetzung In Spanien werden inzwischen junge Männer einge- der Wehrpflicht. Für meine Kolleginnen und Kollegen stellt, deren IQ bei 85 liegt. Das ist Sonderschulniveau der FDP ist das die Lösung schlechthin. Für mich bedeu- und lässt nicht auf eine hoch qualifizierte Berufsarmee tet sie jedoch den Einstieg in den Ausstieg aus der Wehr- schließen. Selbst Amerika – dort genoss die Berufsar- pflicht. mee lange Zeit ein hohes Ansehen – zahlt hohe Prämien, um die Sollstärke zu gewährleisten. Natürlich ist es legitim, die Wehrpflicht nach 50 Jah- ren auf den Prüfstand zu stellen. Es ist keine Frage, dass Da wir gerade bei den Finanzen sind, möchte ich an- wir es heute mit anderen sicherheitspolitischen Anforde- merken, dass eine Freiwilligenarmee wesentlich höhere rungen zu tun haben. Das Freund-Feind-Bild hat sich Kosten verursachen würde. Bei den heutigen und zu- massiv verschoben. Nicht mehr die Bedrohung durch die künftigen Verteidigungsetats in Höhe von circa Staaten des ehemaligen Ostblocks steht im Fokus der 24,4 Milliarden Euro ist dies kaum aufzufangen, es sei Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2003 5677

Jürgen Herrmann (A) denn, die Anzahl der Soldatinnen und Soldaten würde (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (C) massiv heruntergefahren. Hier schließt sich jedoch neten der SPD) gleich die Frage an, wie wir unseren Bündnisverpflich- tungen und dem Auftrag der Landesverteidigung in Zu- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: kunft nachkommen sollen. Zusätzlich müssten – wie in unseren Nachbarländern – wesentlich höhere finanzielle Ich schließe die Aussprache. Mittel für die Anwerbung, die Qualifizierung und die Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf notwendige Attraktivitätssteigerung zur Verfügung ge- Drucksache 15/1357 an die in der Tagesordnung aufge- stellt werden. führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- Manöverkritik muss sein. Dringend überholungsbe- verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung dürftig ist die inhaltliche Ausgestaltung des Grund- so beschlossen. wehrdienstes. Das sind wir insbesondere den jungen Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf: Soldaten schuldig. Nicht nur aus Überzeugung entschei- den sich immer mehr junge Leute, den Dienst an der Erste Beratung des von den Abgeordneten Waffe zu verweigern und statt dessen Zivildienst zu leis- Wolfgang Bosbach, Hartmut Koschyk, Thomas ten. Die Sinnhaftigkeit des Wehrdienstes muss wieder in Strobl (Heilbronn), weiteren Abgeordneten und den Vordergrund gestellt werden. Wir müssen wieder der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Ent- deutlicher herausstellen, dass junge Männer mit dem wurfs eines Gesetzes zur wirksamen Bekämp- Wehrdienst staatsbürgerliche Verantwortung für unser fung organisierter Schleuserkriminalität (Ge- Land übernehmen. setz zur Änderung des Ersten Gesetzes zur Deshalb ist es höchste Zeit, das Weißbuch endlich neu Änderung des Bundesgrenzschutzgesetzes) aufzulegen; das ist längst überfällig. – Drucksache 15/1560 – (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Überweisungsvorschlag: der FDP) Innenausschuss (f) Auswärtiger Ausschuss Das letzte Weißbuch wurde 1994 in Umlauf gebracht. Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Das neue Weißbuch ist für 2005 angekündigt. Ich bin ge- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die spannt, ob es die Bundesregierung nach ihren vielen An- Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Sind Sie da- kündigungen schafft, diesen Zeitplan einzuhalten. mit einverstanden? – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. (B) Stichwort Wehrgerechtigkeit. Darüber ist schon viel (D) gesagt worden. Deshalb mache ich nur noch eine kurze Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Anmerkung. Neu gefasste Auswahlkriterien sind ein ers- Dr. Ole Schröder, CDU/CSU-Fraktion. ter Ansatz. Es ist positiv zu sehen, dass familiären Ver- pflichtungen Rechnung getragen wird und eine Ausbil- dung zunächst abgeschlossen werden kann. Wir müssen Dr. Ole Schröder (CDU/CSU): aber aufpassen, dass dies nicht in die falsche Richtung Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und geht. Eine Reduzierung der Anzahl an Wehrpflichtigen Herren! 16 426 Personenfahndungserfolge, die Aufde- und der Grundwehrdienstdauer wäre kontraproduktiv ckung von 6 789 unerlaubten Einreisen, von fast und käme einer Aushöhlung gleich. 50 000 Straftaten und circa 45 000 Ordnungswidrig- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) keiten. Was sagen uns diese Zahlen? – Dies ist die Er- folgsbilanz der lagebildabhängigen, also der erlaubten Das Verfassungsgericht hat in seinem Beschluss vom verdachtsunabhängigen Kontrolle an Bahnhöfen, an Frühjahr dieses Jahres grundsätzlich die Verfassungs- Flughäfen und in Zügen zwischen dem 1. Januar 1999 mäßigkeit der Wehrpflicht ein weiteres Mal eindeutig und dem 31. Dezember 2002, also innerhalb von vier bestätigt. Es hat den gesellschaftspolitischen Aspekt her- Jahren. Die BGS-Beamten sind berechtigt, dort Personen vorgehoben. Im Urteil ist unter anderem von „der Rekru- zu befragen und Ausweise zu kontrollieren. Aufgrund tierung qualifizierten Nachwuchses … nach … der poli- der guten Arbeit der Beamten hatte jede 20. Kontrolle, tischen Klugheit“ die Rede. die im Rahmen dieser Befugnis durchgeführt wurde, eine Strafanzeige zur Folge. Durch die Befragung kam Daraus ergibt sich für mich nur eine Bewertung: Wer es zu über 10 000 Aufenthaltsermittlungen. Diese erwei- die Wehrpflicht allein aus Kostengründen abschaffen terte Befugnis in § 22 Abs. 1 a Bundesgrenzschutzgesetz will, ist einäugig. Wer sie aussetzen will und glaubt, sie wurde 1998 jedoch zeitlich begrenzt und läuft zum Ende problemlos wieder einführen zu können, ist blauäugig. dieses Jahres aus. Wer aber die Wehrpflicht erhält und damit gesellschaft- lich akzeptierte Risikovorsorge langfristig betreibt, han- Meine Damen und Herren, lassen Sie uns diese Er- delt weitsichtig. folgsgeschichte der BGS-Beamten, die übrigens nur durch die Initiative eines CDU-Bundesinnenministers Lassen Sie uns die Erfolgsgeschichte der allgemeinen möglich wurde, durch die genannten Kontrollbefugnisse Wehrpflicht fortschreiben! Aus den genannten gesell- des Bundesgrenzschutzes auch in Zukunft fortsetzen. schafts- und sicherheitspolitischen Gründen kann es kei- nen anderen Weg geben. (Beifall bei der CDU/CSU) 5678 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2003

Dr. Ole Schröder (A) Das ist im Sinne einer effektiven Bekämpfung der illega- lichste Republik, die wir je auf deutschem Boden (C) len Einreise geboten. hatten und die wir behalten wollen. Es hat sich gezeigt, dass die Möglichkeit der ver- (Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Und so je- dachtsunabhängigen Kontrollen erhebliche Vorteile mit mand ist Staatssekretär geworden!) sich bringt. Die seit Bestehen der Regelung erzielten be- Liebe Kollegen von den Grünen: Herzlich willkommen achtlichen Erfolge basieren auf den verbesserten Über- im 21. Jahrhundert! prüfungsmöglichkeiten. Solche Erfolge wären ohne eine solche Regelung nicht möglich gewesen. Die verdachts- (Beifall bei der CDU/CSU) unabhängige Kontrolle ist darüber hinaus ein unverzicht- bares Instrument zur Bekämpfung des internationalen Natürlich sind wir uns auch bewusst, dass diese ver- Terrorismus geworden. dachtsunabhängigen Kontrollen Eingriffe in die per- sönliche Freiheit des Kontrollierten bedeuten. Darüber Auch die Bekämpfung der menschenverachtenden hinaus verursachen diese Überprüfungen natürlich auch Schleuserkriminalität konnte durch die Regelung er- nicht zu vernachlässigende Kosten durch die BGS-Be- heblich verbessert werden. Verbrechen an Frauen, die amten. Wir denken jedoch, dass diese Einschnitte und nach Deutschland gebracht wurden, um zur Prostitution Kosten verhältnismäßig sind. gezwungen zu werden, konnten in erheblicher Zahl auf- gedeckt und verhindert werden. Bedenken Sie, meine Meine Damen und Herren, wir verzeichnen eine Damen und Herren, dass die Bekämpfung der organi- wachsende grenzüberschreitende Kriminalität und ein sierten Kriminalität nicht nur an den europäischen Au- Ansteigen der unerlaubten Zuwanderung mit negativen ßengrenzen, sondern auch im Inland geführt werden Auswirkungen auf die innere Sicherheit. Daneben stehen muss. Ein Wegfallen dieser Befugnis hätte fatale Folgen wir kurz vor der EU-Osterweiterung. Vor diesem Hinter- für unsere innere Sicherheit. grund muss der Bundesgrenzschutz in der Lage sein, seine grenzpolizeilichen Aufgaben effektiv und effizient (Beifall bei der CDU/CSU) zu erfüllen. Umso unverständlicher ist es, dass es diese Regierung Die seit 1998 eröffneten erweiterten Möglichkeiten mit Innenminister Schily zunächst versäumt hat, eine für den Bundesgrenzschutz müssen erhalten bleiben. Verlängerung der Befugnis in Angriff zu nehmen. Erst Stimmen Sie deshalb gemeinsam mit uns unserem An- aufgrund des Antrags der CDU/CSU-Fraktion hat die trag zu. Bundesregierung ihr Versäumnis eingestanden und ist (Beifall bei der CDU/CSU) selbst aktiv geworden. (B) (D) (Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: GRÜNEN]: Das stimmt überhaupt nicht!) Nächster Redner ist der Kollege Hans-Peter Kemper, Leider sind Sie in Ihrem Gesetzentwurf nicht unserem SPD-Fraktion. Vorschlag gefolgt, die Frist um fünf Jahre zu verlängern. (Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Jetzt hast du Mit Ihrer dreieinhalbjährigen Verlängerung greifen Sie aber einen schweren Stand! – Gegenruf der zu kurz. Warum ausgerechnet dreieinhalb Jahre? Konnte Abg. Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast [SPD]: sich die Regierungskoalition wieder einmal nicht eini- Das wünschen Sie sich wohl!) gen? Es hört sich mal wieder wie ein fauler Kompromiss zwischen Rot und Grün an. Hans-Peter Kemper (SPD): (Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Leider wahr!) Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Darüber hinaus folgen Sie nicht unserem Vorschlag, vor Herr Kollege Schröder, wenn man Ihre Rede hört, Ablauf der neuen Frist einen Evaluierungsbericht zu (Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Dann ist man erstellen. beeindruckt!) (Zuruf von der CDU/CSU: Warum eigentlich dann muss man den Eindruck erhalten, wir seien hier nicht?) völlig unterschiedlicher Meinung. Sie versuchen, Ge- Übrigens, meine lieben Kolleginnen und Kollegen gensätze zu konstruieren, wo keine sind. von der Fraktion der Grünen: Ich habe mich unheimlich (Dr. Ole Schröder [CDU/CSU]: Ich freue mich, gefreut, als ich erfahren habe, dass Sie unserem Antrag dass mir auch die Grünen zustimmen!) dem Grunde nach zustimmen werden, zumal sich in dem Protokoll der ersten Lesung vor Einführung der Maß- Worum geht es hier? Es geht darum, die Gültigkeits- nahme folgende Aussage Ihres damaligen Fraktionsvor- dauer eines Gesetzes, bei dem wir inhaltlich überein- sitzenden Rezzo Schlauch finden lässt: stimmen, zu verlängern. Dessen Gültigkeit würde ohne unser Eingreifen zum Jahresende auslaufen. Unser In- (Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE nenminister hat die Initiative sehr frühzeitig und vor al- GRÜNEN]: Die kenne ich! Sie ist von 1998!) len Dingen rechtzeitig auf den Weg gebracht. Diese Maßnahme ist einer Demokratie unwürdig. ( [CDU/CSU]: Weil wir Sie passt in einen Polizeistaat, nicht in die freiheit- Druck gemacht haben!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2003 5679

Hans-Peter Kemper (A) – Sie können die Urheberschaft gerne für sich mit bean- handel mit Frauen aus der Dominikanischen Republik, (C) tragen. Da sind wir relativ großzügig. die dem Rotlichtmilieu zugeführt werden sollten, betrie- ben. Dies alles konnte unterbunden werden. Das alles (Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Oh!) waren hervorragende Leistungen. Sie weisen darauf hin, dass die Initiative ursprünglich von einem anderen Bundesinnenminister ausgegangen Es ist aber auch wichtig, dass die Gültigkeit dieses ist; das ist genauso richtig. Allerdings haben Sie verges- Gesetzes nicht ausläuft – das ist klar –; denn dieses Ge- sen, zu erwähnen, dass sich dieser Bundesinnenminister, setz stellt eine Kompensation für den durch das Schen- der mit diesem Gesetz zur Bekämpfung der organisierten gener Abkommen bedingten Wegfall der Grenzsiche- Kriminalität sicherlich Gutes geleistet hat, anschließend rung dar. selbst im Dunstkreis der organisierten Kriminalität be- Ich will auf Ihre Hauptvorwürfe kurz eingehen. Sie wegt hat und dann gehen musste, fordern mit großem Brimborium eine Verlängerung um (Dr. Ole Schröder [CDU/CSU]: Am Thema fünf Jahre, während wir nur eine Verlängerung um drei- vorbei!) einhalb Jahre wollen. Ich glaube nicht, dass bedingt durch diesen zeitlichen Unterschied von anderthalb Jah- weil er Bilanzfälschungen und Steuerhinterziehungen ren ein Sicherheitsleck entstehen kann. Es ist völlig begangen und Geld gewaschen hat. gleich, ob wir nun am Ende oder zur Mitte der nächsten (Beifall bei der SPD – Wilhelm Schmidt [Salz- Legislaturperiode prüfen: Wie hat sich dieses Gesetz be- gitter] [SPD]: Hört! Hört!) währt? Ist es richtig, die Befristung zu verlängern? Kön- nen wir es auslaufen lassen? Das sollte man nicht vergessen. Wenn Sie den einen Teil erwähnen, dann sollten Sie den anderen auch erwähnen. Unser Vorschlag entspricht im Übrigen auch Ihren Forderungen nach Bürokratieabbau und der Befristung (Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Wo war das von Gesetzen. Genau das machen wir hier. Wir kommen denn organisierte Kriminalität?) damit Ihren Forderungen sehr entgegen. Wir brauchen Es ist richtig, dass das Bundesgrenzschutzgesetz im keine Gesetze für die Ewigkeit. Gesetze müssen immer August 1998 geändert worden ist. Die 30-Kilometer- wieder an die Gegebenheiten der inneren Sicherheit an- Grenze wurde aufgehoben und die Befugnisse des Bun- gepasst werden. desgrenzschutzes sind auf Bahnanlagen und Verkehrs- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ flughäfen erweitert worden. Das hat sich in zweierlei DIE GRÜNEN) Hinsicht bewährt: zum einen bei der Verhinderung und (B) Unterbindung der illegalen Einreise und zum anderen Das tun wir. Deswegen wird der Frage der Entfristung (D) insbesondere nach dem 11. September 2001 als wichti- in der nächsten Legislaturperiode eine ausreichende ges Fahndungsinstrument im Rahmen der Bekämpfung Evaluierung vorangehen, bei der aufgelistet wird, ob des internationalen Terrorismus. eine Verlängerung sinnvoll ist oder nicht. Ich denke, wir Es ist selbstverständlich, dass ein freiheitlicher Staat sind auf einem guten Weg. Ich bin sicher, dass wir uns mit offenen Grenzen wie Deutschland auf solche Instru- bis zur zweiten und dritten Lesung über diese zeitliche mentarien nicht verzichten kann. Es gibt ein hohes Maß Diskrepanz einigen werden; an Reisetätigkeit. Die grenzüberschreitenden Reisen ge- (Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Dann haben hören zu unserem Lebensstandard und zur Lebensquali- wir dreidreiviertel Jahre!) tät. Man muss allerdings darauf reagieren. Ein Instru- ment ist die Grenzüberwachung in der Form, wie sie denn inhaltlich haben Sie an diesem Gesetz nichts auszu- durch den Bundesgrenzschutz jetzt durchgeführt wird. setzen. Dieses Instrument verliert bei offenen Grenzen natürlich zunehmend an Wirkung. Nach der Osterweiterung wird (Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Wir haben es es noch weiter an Wirkung verlieren. Deswegen ist es ja gemacht!) richtig, dass dem Bundesgrenzschutz durch das Gesetz Ich denke, die Verlängerung der Befristung dieses Ge- lagebedingte Kontrollmöglichkeiten auf Flughäfen setzes um dreieinhalb Jahre ist ein wichtiger Beitrag für und Bahnhöfen mit internationalen Verbindungen ein- den Bundesgrenzschutz und die innere Sicherheit. Der geräumt werden. Bundesgrenzschutz und die Länderpolizeien leisten im (Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer) Bereich der inneren Sicherheit hervorragende Arbeit. Wir sind verpflichtet, ihnen dazu die nötigen Instru- Es ist auch richtig, dass der Bundesgrenzschutz sehr mente an die Hand zu geben. Dieses Gesetz ist eines die- erfolgreich gearbeitet hat. Sie haben einige Zahlen ge- ser Instrumente. Ich kann Sie nur ermuntern: Machen nannt. Es gab über 30 000 Anzeigen wegen Verstoßes Sie mit, damit wir im Bereich der inneren Sicherheit gegen das Ausländergesetz, über 4 000 Anzeigen wegen dem Bundesgrenzschutz und den Länderpolizeien ge- des Verstoßes gegen das Waffen- und Sprengstoffgesetz meinsam helfen. sowie gegen das Betäubungsmittelgesetz, über 4 000 Festnahmen und über 10 000 erfolgreich abge- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten schlossene Aufenthaltsermittlungen. Das alles ist richtig. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Daneben hat es Aufgriffe gegeben. In vielen dieser Fälle Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Wir gehen wurde Rauschgift transportiert oder es wurde Menschen- voran!) 5680 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2003

(A) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: nung waren, die Fahndungserfolge, die der Kollege (C) Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Max Stadler. Schröder gerade genannt hat, wären auch auf der Basis des früheren Rechtes möglich gewesen. Dr. Max Stadler (FDP): (Zuruf von der CDU/CSU: Das kann ich mir Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und nicht vorstellen!) Herren! Das Gesetz, über dessen Befristungsverlänge- Darüber wollen wir uns im Ausschuss noch einmal prä- rung heute diskutiert wird, ist 1998 auf Initiative des da- zise informieren. maligen Innenministers Kanther gegen Ende der Legis- laturperiode verabschiedet worden. Die FDP – damals Ich nenne noch ein Argument, das wir in den Aus- zusammen mit der CDU/CSU in der Regierung – hat schussberatungen bedenken sollten. Wir haben der Be- ihm im Wege eines Kompromisses zugestimmt, obwohl fugniserweiterung damals zugestimmt, weil wir nicht es in unserer Fraktion gewisse Bedenken gegen die Ein- wollten, dass es beim Wegfall der Grenzkontrollen eine führung verdachtsunabhängiger Kontrollen gegeben hat. Sicherheitslücke gibt. Infolge dessen hat es eine Logik, (Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE wenn im Grenzraum verdachtsunabhängig kontrolliert GRÜNEN]: Die gab es auch beim Abgeordne- wird. Wir haben dem Gesetz damals im Wege des Kom- ten Schily!) promisses zugestimmt. Der jetzige Gesetzentwurf geht aber viel weiter und lässt diese verdachtsunabhängigen Wir haben damals aber durchgesetzt, dass diese neue Kontrollen praktisch im gesamten Bundesgebiet zu. Je Befugnis zunächst auf fünf Jahre beschränkt wird, weil weiter die Kontrolle räumlich von einer Grenze entfernt wir der Meinung waren, das sei der ausreichende Zeit- ist, umso mehr fehlen die Logik und die Rechtfertigung, rahmen, um zu klären, ob sich eine solche Neuregelung eine solche verdachtsunabhängige Kontrolle als Ersatz in der Praxis bewährt. Die fünf Jahre sind übrigens be- für eine Grenzkontrolle einzuführen. wusst gewählt worden, weil wir die Diskussion über eine Verlängerung oder Beibehaltung der Regelung aus dem Aus diesem Grunde bitte ich um Verständnis dafür, Bundestagwahlkampf 2002 herausnehmen wollten. dass wir von der FDP uns heute noch nicht auf unser Vo- tum festlegen, sondern dass wir zunächst im Innenaus- (Dr. Ole Schröder [CDU/CSU]: Sehr gut!) schuss in einem Fachgespräch – vor allem mit Prakti- Daher können wir heute sine ira et studio über die kern – das Für und Wider erörtern möchten. Fortführung sprechen. Wir alle stellen fest, dass diese Vielen Dank. verdachtsunabhängigen Kontrollen ohne Zweifel zu Fahndungserfolgen geführt haben. Insofern wundere (Beifall bei der FDP) (B) ich mich sowohl über den Antrag der CDU/CSU als (D) auch über die Ausführungen der SPD, in denen Sie beide Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: für eine weitere Befristung eintreten, nachdem Sie in Ih- ren Redebeiträgen zum Ausdruck gebracht haben, dass Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Silke Stokar. dies eine unverzichtbare Maßnahme sei. Ich kann nicht verstehen, warum Sie nicht für eine Verlängerung Silke Stokar von Neuforn (BÜNDNIS 90/DIE schlechthin eintreten. GRÜNEN): Wir von der FDP können es uns allerdings nicht so Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich leicht machen, und zwar aus folgendem Grund. denke, dass der Herr Abgeordnete Stadler in sehr char- manter und offener Weise noch einmal deutlich gemacht Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: hat, wie problematisch die Rolle der Opposition in der Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Innenpolitik ist, wenn sie vorher an der Regierung betei- Koschyk? ligt war. Das gilt insbesondere, wenn es sich um den kleineren und bürgerrechtlich orientierten Partner han- delt. Dr. Max Stadler (FDP): Nein, ich möchte meinen Gedanken im Zusammen- (Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Eine Erfah- hang vortragen. – Nach wie vor gilt, dass verdachtsun- rung, die Ihnen noch bevorsteht!) abhängige Kontrollen ein Fremdkörper in unserem Ich habe noch einmal die Protokolle der Anhörung Rechtssystem sind. gelesen, die 1998 im Zusammenhang mit der Schaffung (Beifall bei der FDP – Silke Stokar von der Sonderbefugnis – Herr Stadler hat das hier noch Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das einmal deutlich gemacht – stattgefunden hat. Ich muss ist mein Satz!) mich nicht von Rezzo Schlauch distanzieren, weil das, was er damals gesagt hat und was Sie nicht aufgenom- Für einen polizeilichen Eingriff musste vor der Befug- men haben, im Kern nach wie vor richtig ist. niserweiterung ein konkreter Verdacht als Voraussetzung vorliegen. Der Wegfall dieser Voraussetzung war neu. (Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Was? – Daher muss man schon genau fragen: Ist dies wirklich Dr. Ole Schröder [CDU/CSU]: Also leben wir notwendig? Wir hatten gestern ein Gespräch mit Prakti- in einem Polizeistaat, der von Rot-Grün regiert kern des Bundesgrenzschutzes, die sehr wohl der Mei- wird!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2003 5681

Silke Stokar von Neuforn (A) Wir sollten nicht so tun, als hätten wir nicht im Polizei- es aber schon Erfahrungswerte gibt, wollen wir mög- (C) recht eine Sonderbefugnis geschaffen, die natürlich ein lichst schnell – noch in dieser Legislaturperiode – einen sehr relevanter Eingriff in Grundrechte ist und die von Evaluierungsbericht. Deswegen ist eine kürzere Frist- der in der Strafprozessordnung geltenden Unschuldsver- setzung notwendig. Nach dieser Evaluierung können wir mutung abweicht. sehr schnell feststellen, welchen Handlungsbedarf es im politischen Bereich insgesamt gibt. Wir werden im In- (Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Da muss der Mi- nenausschuss intensiv über die einzelnen Punkte reden. nister mal ein klarstellendes Wort sagen!) Dort verläuft die Diskussion meistens etwas ruhiger als im Plenum. Wir haben die Ermächtigung geschaffen, Bürgerinnen und Bürger verdachtsunabhängig und anlassunabhängig (Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Wenn Sie zu kontrollieren. Wir haben den Begriff der Prävention nicht da sind, ja! – Gegenruf des Abg. Rüdiger sehr weit gedehnt. Ich teile die damals geäußerte Kritik. Veit [SPD]: Musste das sein?) Ich mache mir allerdings auch keine Illusionen und Danke schön. glaube nicht, dass wir uns jetzt, nachdem die Schleier- fahndung in allen Landespolizeigesetzen verankert ist, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN in einer Situation befinden, die es uns erlaubt, eine sach- und bei der SPD liche Diskussion darüber zu führen, ob tatsächlich die Regelung in § 22 des BGS-Gesetzes zu den Fahndungs- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: erfolgen geführt hat, von denen der Erfahrungsbericht spricht, oder ob nicht in vielen Fällen zumindest ein va- Das Wort hat jetzt der Herr Bundesminister des In- ger Anlass für eine Kontrolle bestanden hat. nern, Otto Schily. (Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Jetzt muss Wir tun uns keinen Gefallen, wenn wir den Begriff der Minister aber einiges richtig stellen! – der „verdachtsunabhängigen Kontrolle“ durch „lagebild- Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Jetzt müssen abhängige Kontrolle“ ersetzen, weil sich „verdachtsun- Sie für Ordnung sorgen! So geht es nicht!) abhängig“ so schlecht anhört. Tatsächlich ändert sich nichts, denn die Lagebilder, die den Kontrollen zugrunde liegen, ergänzt durch grenzpolizeiliche Erkenntnisse, Otto Schily, Bundesminister des Innern: sind nicht dokumentiert und nicht definiert. Sie sind we- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich bin der zeitlich noch räumlich begrenzt. schon froh, dass wir uns wenigstens grundsätzlich da- rüber einig sind, dass die Frist verlängert werden soll. (Zuruf von der CDU/CSU: Die Lagebilder (B) sind definiert!) (Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Herr Minis- (D) ter, wir schon, aber die Grünen nicht! – Gegen- Das heißt, die Bürgerinnen und Bürger haben de facto ruf der Abg. Silke Stokar von Neuforn nicht die Möglichkeit, den Klageweg zu beschreiten. [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir brauchen mehr Zeit als Sie!) Die damals in der Anhörung geäußerten Kritikpunkte sind im Bundesrat insbesondere von CDU/CSU-geführ- Dann kann auch jeder hier mit einem Lorbeerkranz auf- ten Ländern geteilt worden. So wurden Zweifel an einer treten. Herr Schröder hat festgestellt, seine Fraktion habe grundgesetzkonformen Kompetenzabgrenzung geäu- das erreicht. Wissen Sie, Herr Kollege Schröder, das ßert. Darüber wurde 1998 – das ist noch nicht so lange Ganze erinnert mich etwas an meine Kindheit. Ich hatte her – auch im Bundesrat eine intensive Debatte geführt. den Berufswunsch, Lokomotivführer zu werden, und rief Ich teile die Kritik; denn ich habe mich sehr intensiv mit immer, wenn der Zug abfuhr, „Puff! Puff!“, zog an ir- dem Erfahrungsbericht befasst und habe Zweifel an der gendwelchen Hebeln und meinte, dadurch setze sich der tatsächlichen Effektivität der Befugnisnorm. § 22 des Zug in Bewegung. Bundesgrenzschutzgesetzes ist geschaffen worden, um (Heiterkeit bei der CDU/CSU – Clemens die grenzüberschreitende Kriminalität zu reduzieren. Die Binninger [CDU/CSU]: Hat sich das geän- im Bericht aufgeführten Zahlen stehen tatsächlich je- dert?) doch zu weniger als 1 Prozent mit einem illegalen Grenzübergang im Zusammenhang. Ich erwarte insofern Wenn das Ihrer Vorstellung von Gesetzgebung ent- keinen Erfahrungsbericht, sondern eine ehrliche und spricht, lasse ich sie Ihnen gerne. Sie ist aber eher eine wissenschaftliche Evaluation. Illusion. (Beifall bei der SPD) (Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Soll das eine Kritik an der Regierung sein?) Sie können sich sicherlich vorstellen, dass jeder Bun- desinnenminister, der die Erkenntnisse, die wir aufgrund Ich habe nur noch wenig Redezeit, die ich dazu nut- der Erfahrungen mit der neuen Vorschrift gewonnen ha- zen möchte, Ihnen unsere Position zu erläutern. Weil die ben, kennt, dafür eintreten muss, diese Befugnis des damals vom Parlament in Auftrag gegebene Evaluierung Bundesgrenzschutzes – das heißt der Bundespolizei, wie nicht vorliegt, diese Polizeieinheit künftig heißen wird – beizubehalten. (Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Wir finden Was die hinsichtlich der weiteren Befristung in der den Bericht der Bundesregierung gut!) Koalition durchaus bestehenden Meinungsunterschiede 5682 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2003

Bundesminister Otto Schily (A) angeht, muss ich sagen – darauf hat der Kollege Stadler mit den neuen Befugnissen sehr sorgsam umzugehen (C) schon hingewiesen – dass es diese auch in der damaligen und den Menschen sehr freundlich gegenüberzutreten, Koalition gegeben hat. Das wollen wir doch nicht weg- damit die Kontrollen nicht als Belastung empfunden diskutieren. werden. Ich glaube, dass dies in der Regel auch der Fall ist. (Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Immer Ärger mit den Kleinen!) (Beifall der Abg. Dr. Cornelie Sonntag- Wolgast [SPD]) Allerdings dürfen wir die Fakten auch nicht durchei- nander bringen, Frau Kollegin Stokar. Ich möchte bei dieser Gelegenheit die Beamtinnen und Beamten dafür loben, dass sie ihre schwierigen Auf- (Beifall bei der CDU/CSU) gaben mit großem Erfolg bewältigen. Wir sollten ge- Sie haben die Strafprozessordnung erwähnt, die aber mit meinsam die Leistungen unserer Bundespolizei feiern. dem heutigen Thema nichts zu tun hat. (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der (Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Sehr richtig!) FDP) Sie haben in Ihrem nächsten Satz selbst festgestellt, dass Wenn Sie den Bericht genau studieren, dann werden Sie es um polizeiliche Prävention geht. Es geht in der Tat auch die Feststellung entdecken, dass es keine nennens- nur darum. Lassen Sie die Strafprozessordnung beiseite! werten Beschwerden gibt. Das sollten Sie zur Kenntnis Die Opposition macht im Zusammenhang mit der Aus- nehmen. weisung und der Einreise immer wieder denselben Feh- Bei allem Lob, das ich an alle Seiten verteilt habe, ler. Diesen Fehler sollten Sie sich nicht aneignen. muss ich einen Wunsch äußern – Herr Kollege Stadler (Beifall bei der CDU/CSU – Silke Stokar von hat das schon erwähnt –, über den in den Ausschussbera- Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es tungen diskutiert werden sollte. Nachdem wir eine ver- geht doch ums Prinzip!) nünftige Evaluierung vorgenommen haben – darüber gibt es, wie gesagt, einen ausführlichen Bericht –, sehe – Es ist gut, dass Sie aufseiten der CDU/CSU klatschen, ich keinen einzigen Grund, warum wir eine neue Befris- wenn ich Ihnen Ihren Fehler vorhalte. tung vornehmen sollten – ich finde, an dieser Stelle soll- (Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Sie sollten ten wir konsequent sein –, es sei denn, jemand ist der jetzt nicht wieder die Kurve kriegen, Herr Mi- Ansicht, dass sich das geltende Gesetz nicht bewährt hat. nister! Sie waren auf dem richtigen Weg! Puff! Dann muss man natürlich über eine weitere Befristung Puff!) nachdenken. (B) (D) Ich glaube auch nicht, Frau Kollegin Stokar, dass wir Ich meine, dass wir das Gesetz unbefristet gelten las- unbedingt immer Regelungen treffen sollten, durch die sen sollten. Aufgrund der Sachlage sehe ich keinen ein- möglichst vielen Bürgerinnen und Bürgern ein Klage- zigen Grund, das anders zu handhaben. Ich appelliere an weg eröffnet wird. Wir haben heute bereits über den Bü- Sie alle, einen entsprechenden Gesetzentwurf zu erarbei- rokratieabbau geredet. Manche sagen, unser Rechtsstaat ten. sei zu einem Rechtswegestaat verkommen. Seien wir lie- (Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Wir sind da ber froh, wenn wir solche Verfahren nicht brauchen. offen, Herr Minister!) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Vielen Dank. Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Es gibt nur von der CDU/CSU Beifall für Minister (Beifall bei der SPD) Schily!) Wir haben im Übrigen eine Evaluierung vorgenom- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: men, Frau Kollegin Stokar. Es gibt einen ausführlichen Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Günter Baumann. Bericht des Bundesgrenzschutzes. Sie haben die Zah- len bereits gehört, wir müssen sie nicht wiederholen. Günter Baumann (CDU/CSU): Herr Kollege Schröder hat sie aus der Antwort der Bun- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und desregierung vorgetragen. Das ist auch in Ordnung. Das Herren! Herr Minister Schily, ich finde es gut, dass Sie ist – darauf möchte ich Sie aufmerksam machen – aber das geltende Gesetz heute sehr positiv darstellen. 1998 nur ein Teil dieses Berichtes. Es gibt noch einen anderen. hatten Sie noch einige Vorbehalte gegen dieses Gesetz; Die damalige Befristung hatte auch den Sinn, zu über- das kann man im Protokoll nachlesen. prüfen, ob eine solche Befugniserweiterung zu einer Be- lastung der Bevölkerung führt bzw. eine willkürliche Seit 1998 ist der Bundesgrenzschutz befugt, auch au- Amtsausübung zur Folge hat. Davor müsste man auf der ßerhalb des 30-Kilometer-Grenzgebietes den Reisever- Hut sein. Deshalb halte ich an dem Ausdruck „lageab- kehr auf Bahnhöfen und Flughäfen zu kontrollieren. hängige Kontrolle“ fest. Es geht nicht darum, Willkür zu Diese Befugnis hat der Gesetzgeber damals vorbehalt- etablieren, dass zum Beispiel ein Bundespolizeibeamter lich der EU-Osterweiterung aufgenommen. Er hat damit aus Willkür oder aus Jux und Tollerei irgendjemanden für eine sicherheitspolitische Kompensation des künfti- einer Kontrolle unterwirft. Ich ermahne auch meine gen Wegfalls der Binnengrenzen in der EU gesorgt. Bundespolizeibeamtinnen und Bundespolizeibeamten, Heute, nach fünf Jahren Probezeit, können wir diesem Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2003 5683

Günter Baumann (A) Instrument im Kampf gegen die Schleuserkriminalität nanzierung blockiert die Bundesregierung gegenwärtig (C) ein gutes Zeugnis ausstellen. Es hat sich bewährt und gilt die Einführung eines modernen Digitalfunksystems, das inzwischen als unverzichtbar für die Reduzierung der alle Sicherheitsdienste dringend benötigen. Zahl der unerlaubten Einreisen. Aufgrund meiner persönlichen Kenntnisse des BGS Vor allem haben sich auch die Beamtinnen und Beam- vor Ort an der sächsisch-tschechischen Grenze muss ich ten des Bundesgrenzschutzes bewährt. Sie haben für die leider sagen, dass es auch in vielen anderen Punkten der- erfolgreiche Anwendung des Gesetzes in der Praxis ge- zeit noch Sicherheitsdefizite gibt, zum Beispiel in der sorgt. An dieser Stelle muss auch gesagt werden: Das Ge- Technik, in der persönlichen Ausstattung der Beamten, setz und seine Anwendung werden von der Bevölkerung der Qualifizierung der Fortbildung oder auch – das ist sehr gut angenommen und finden breite Zustimmung. ein offenes Problem – hinsichtlich der angedachten Re- duzierung der Zollbeschäftigten zum 1. Mai nächsten (Beifall bei der CDU/CSU) Jahres. Die CDU/CSU-Fraktion fordert die Bundesregie- Ich möchte an dieser Stelle die Gelegenheit nutzen, un- rung auf, den sicherheitspolitischen Nachholbedarf an- seren Beamtinnen und Beamten vom Bundesgrenzschutz zuerkennen und zu handeln. für ihre Arbeit ganz herzlich zu danken, die sie jeden (Beifall bei der CDU/CSU) Tag für uns alle und für unsere Sicherheit leisten. Wir haben als Fraktion einen weiteren Antrag mit dem (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der Titel „Bundesgrenzschutz für die EU-Osterweiterung FDP) tauglich machen“ in den Bundestag eingebracht; bei der Der aktuelle Erfahrungsbericht des Bundesinnen- Beratung dieses Antrages werden wir uns erneut mit dem ministers zeigt, dass diese Regelung von 1998 bis heute heutigen Thema beschäftigen müssen. Die CDU/CSU viel Positives gebracht hat. Meine Vorredner haben in wird sich auch weiterhin für die Verbesserung der Sicher- diesem Zusammenhang bereits eine Reihe von Zahlen heit in Deutschland und an seinen Grenzen einsetzen. Ich genannt, die ich nicht wiederholen möchte. Die erweiter- bitte Sie, unserem Antrag zuzustimmen. ten Kontrollmöglichkeiten des BGS haben sich auch als Vielen Dank. eine sinnvolle Verstärkung für die Arbeit von Zoll und Landespolizeien erwiesen. (Beifall bei der CDU/CSU) Die Frist für die verdachtsunabhängigen Personen- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: kontrollen läuft aber Ende 2003 aus. Daher hat die CDU/ CSU-Fraktion – mein Kollege Schröder hat darauf be- Zu einer Kurzintervention erhält der Abgeordnete (B) reits hingewiesen – im September dieses Jahres den Ent- Otto Schily das Wort. (D) wurf eines Gesetzes zur Verlängerung der Frist um fünf Jahre eingebracht. Herr Minister, Sie schlagen eine Ver- Otto Schily (SPD): längerung um dreieinhalb Jahre vor. So weit liegen wir Herr Kollege Baumann, Sie haben es für erforderlich also nicht auseinander. Ich denke, man wird sich hier gehalten, das leidige Thema Digitalfunk anzusprechen, vernünftig verständigen können. und das kritisierend und im Zusammenhang mit dem Die Bundesregierung sollte aber nicht glauben – das Bundesinnenminister. Das ist nicht gerechtfertigt. möchte ich deutlich sagen, Herr Minister –, dass sie da- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten mit ihre Aufgaben, ihr Soll auf dem Gebiet der Sicher- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) heit im Grenzbereich vollkommen erfüllt hat. Deutsch- land ist für die Herausforderung der organisierten Der Bundesinnenminister – das muss ich für ihn, der ja Kriminalität und des grenzüberschreitenden Men- normalerweise auf der Regierungsbank sitzt, in Anspruch schenhandels noch nicht ausreichend gerüstet. Wir ken- nehmen – ist der Einzige, der den Digitalfunk zum gegen- nen Statistiken, die belegen, dass Schleusergruppen al- wärtigen Zeitpunkt wirklich energisch vorantreibt. lein mit dem Schmuggel von Menschen in Europa mehr (Dr. Ole Schröder [CDU/CSU]: Wie viel Geld als 5 Milliarden Euro verdienen. Das organisierte Ver- ist denn im Haushalt für 2004 dafür vorgese- brechen floriert. Es ist gut ausgerüstet, verschiebt flexi- hen?) bel seine Marschrouten und nutzt zielstrebig Sicherheits- lücken, die irgendwo in der EU auftreten. Die Schwierigkeiten liegen in der Tat bei den Ländern, vor allen Dingen bei denen, die aus den Kreisen Ihrer In einem Bericht der EU-Kommission von 2003 heißt Partei regiert werden. Das ist die Realität. es: Die Sicherheit der Bürger vor der organisierten Kri- minalität und dem Schmuggel von Gefahrengütern hängt Es ist gerade ein Beschluss der Finanzminister der derzeit davon ab, wo die Grenzen der EU passierbar Länder gefasst worden, in dem die provokante Forde- sind. Die Analyse kann für uns nur bedeuten: Auch nach rung aufgestellt worden ist, 50 Prozent der Kosten des dem Beitritt von Polen und Tschechien werden wir noch Digitalfunks sollten vom Bund getragen werden. Wenn für längere Zeit im Grenzbereich zu diesen Ländern Sie Bundestagsabgeordnete und nicht Landtagsabgeord- hohe sicherheitspolitische Standards beibehalten müs- nete sind, dann müssten Sie einem solchen Beschluss sen. Derart negative Beispiele, Herr Innenminister, wie entschieden widersprechen. Ich habe bisher keinen beim Digitalfunk können wir uns einfach nicht mehr Mucks von Ihnen dazu gehört, außer im stillen Kämmer- leisten. Ich denke, durch die starre Haltung bei der Fi- lein. Verbreiten Sie also in dieser Frage keine falschen 5684 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2003

Otto Schily (A) Nachrichten, sondern bleiben Sie bei der Wahrheit und Das sollten Sie zur Kenntnis nehmen. (C) unterstützen Sie das sehr wichtige und vernünftige Pro- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) jekt Digitalfunk in einer Weise, dass auch wirklich etwas zustande kommt. Das, was bisher stattgefunden hat, Zweitens. Das, was Sie zum Digitalfunk gesagt ha- kann man nur als ewiges Karussellfahren bezeichnen. ben, ist unverantwortlich. Das habe ich Ihnen schon Anstatt nur über Finanzierungsfragen zu reden und sich beim letzten Mal gesagt. Es gibt bei uns keine Grundlage dann nicht einigen zu können, sollte man lieber das tun, dafür, dass die Länder 50 Prozent fordern. Der Bund ist was ich jetzt tue, nämlich das Ausschreibungsverfahren gegenwärtig am Endgerätebereich – es handelt sich da- voranbringen, damit am Ende ein Angebot der Industrie bei um analogen Funk – mit 8,5 Prozent beteiligt. vorliegt, welches als Grundlage der Diskussion über Fi- nanzierungsfragen dienen kann. Ich wäre Ihnen wirklich (Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Wie viel dankbar, wenn Sie in diesem Zusammenhang einen kon- geben Sie denn, Herr Körper?) struktiven Beitrag leisten und die Dinge derart verzerrt Daran erkennen Sie, dass die Forderung nach einer darstellen würden. 50-prozentigen Beteiligung der Länder nichts als eine (Beifall bei der SPD) Blockade dieses Projekts darstellt. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: DIE GRÜNEN – Reinhard Grindel [CDU/ Zur Erwiderung Herr Baumann, bitte schön. CSU]: Aber über die Umsatzsteuer verdient ihr doch daran!) Günter Baumann (CDU/CSU): Es ist notwendig, dies einmal deutlich zu machen. Herr Abgeordneter Schily, ich möchte Ihnen etwas Da wir diese technischen Möglichkeiten in der Tat entgegnen. Ich glaube, wir sind uns einig, dass die Si- brauchen, appelliere ich auch an Sie, Ihren Beitrag dazu cherheitsdienste und die Hilfsdienste dringend Digital- zu leisten, dieses Projekt umzusetzen. Im Übrigen kön- funk brauchen. Es gibt in Europa nur zwei Länder, die nen Sie dem Haushaltsentwurf entnehmen, dass wir ei- mit derart veralteten Funksystemen arbeiten: Albanien nen Einstieg in dieses Projekt mit 5 Millionen Euro pla- und Deutschland. nen. Das wird ausreichend sein. Ich weiß, dass es das ist, (Otto Schily [SPD]: Nein! Das stimmt nicht!) was wir für das Jahr 2004 brauchen. Seit Jahren beschäftigen wir uns damit, seit Jahren wird (Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Davon kann dieses Thema im Innenausschuss behandelt und seit Jah- man gerade eine freiwillige Feuerwehr mit (B) ren gibt es auch mit den Ländern keine Einigung. Endgeräten ausstatten!) (D) (Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast [SPD]: Woran – Entschuldigung, auch dieser Zwischenruf macht deut- liegt das?) lich, Herr Grindel, dass Sie von dieser Materie keine Ah- nung haben. Das habe ich Ihnen schon beim letzten Mal Ich erwidere Ihnen: In den Bundeshaushalt für dieses bestätigt. Jahr ist kein einziger Euro eingestellt, um dieses System einzuführen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) (Otto Schily [SPD]: Auch falsch!) Wenn es anders ist, dann berichtigen Sie mich bitte! Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Jetzt sind wir faktisch in eine kleine neue Debatte ein- neten der FDP) gestiegen. Dazu sind Kurzinterventionen und Erwide- rungen darauf eigentlich nicht da. Damit sie kurz reagie- ren können, werde ich den Kollegen Binninger und Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Burgbacher das Wort erteilen. Weitere Kurzinterventio- Herr Körper, ich gebe Ihnen das Wort. Bitte. nen werde ich nicht zulassen; dazu müsste man sich nämlich am Ende der Debatte gemeldet haben. Damit Fritz Rudolf Körper (SPD): alle fair behandelt werden, kommen sie beide noch an die Reihe. Herr Kollege Baumann, da Herr Abgeordneter Schily Ihre Kurzintervention jetzt nicht mehr erwidern darf, Herr Binninger, bitte. übernehme ich das gerne. Erstens. Sie sollten hier keine falschen Zahlen und Clemens Binninger (CDU/CSU): Tendenzen verbreiten, insbesondere was die Entwick- Herr Minister, Herr Staatssekretär, es wundert mich lung an unseren Grenzen, die illegale Migration und die schon, dass das Stichwort Digitalfunk ausreicht, damit organisierte Kriminalität anbelangt. Die Zahlen zeigen, Sie beide förmlich an die Decke gehen. dass wir in diesen Bereichen sehr erfolgreich arbeiten. (Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast [SPD]: Weil es (Günter Baumann [CDU/CSU]: Ich habe höchst ärgerlich ist, wie die Länder sich ver- nichts anderes gesagt! – Dr. Ole Schröder halten! – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: [CDU/CSU]: Darum geht es doch gar nicht!) Sie verbreiten Unwahrheiten!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2003 5685

Clemens Binninger (A) Das scheint seinen Grund zu haben. „Getroffene Hunde Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: (C) bellen“, so lautet ein Sprichwort. Der Herr Bundesminister Schily erhält jetzt noch ein- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) mal das Wort. Als Mitglied der Bundesregierung hat er Recht auf jederzeitiges Gehör. Herr Minister, ich möchte auf einen Punkt hinweisen. Sie sagen, der Bund sei am Endgerätebereich mit nur Otto Schily, Bundesminister des Innern: etwa 8,5 Prozent beteiligt. Das trifft zu. Wenn die Rede davon ist, dass sich alle 16 Länder und der Bund zusam- Nach der Geschäftsordnung des Deutschen Bundesta- mentun, weil sie nicht mehr bezahlen wollen, dann geht ges ist bekanntlich zulässig, dass ich jederzeit das Wort es nämlich nicht um die Endgeräte, sondern um die ergreife. Summe der Mittel für den Netzaufbau. Die Endgeräte (Dr. [CDU/CSU]: Aber gehören gar nicht dazu. Vom Netzaufbau haben die Bun- nicht in Form einer Kurzintervention!) desbehörden einen noch größeren Vorteil. Sie werden mir zustimmen müssen, wenn ich behaupte, dass da – Wie bitte? 10 Prozent zu wenig sind. (Clemens Binninger [CDU/CSU]: Das ist ja Ich habe Ihnen schon in der letzten Debatte gesagt: auch wichtig! – Weiterer Zuruf von der CDU/ Dieses Projekt wird scheitern, wenn der Bund nicht be- CSU: Dann ist die Debatte eröffnet! – Peter reit ist – sicherlich müssen sich auch die Länder bewe- Hintze [CDU/CSU]: Wenn es der Wahrheits- gen –, mehr als 10 Prozent beizusteuern. Wenn der Bund findung dient, sollte der Bundesinnenminister dies nicht tut, dann nimmt er sehenden Auges das Schei- sprechen! – Gegenruf von der SPD: Herr tern dieses Projektes in Kauf. Dafür wären Sie verant- Hintze spricht ein weises Wort!) wortlich. Es geht eben nicht um die Endgeräte, sondern Sie vermissen die Koordination, Herr Kollege um den Aufbau des Netzes. Burgbacher. Sie wissen doch, dass der Bundeskanzler (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) und der Bundesinnenminister Ende Juni eine Vereinba- rung mit den Ministerpräsidenten der Länder getroffen haben, die sehr vernünftig ist. Auf der Basis arbeite ich. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Wir arbeiten an einer Dachvereinbarung, in der wir das Herr Burgbacher, bitte. Verfahren unter uns klären. Aufgrund der Dachvereinba- rung gehen wir in die Ausschreibung. Daran kann sich Ernst Burgbacher (FDP): jeder beteiligen. Dann wird es einen Rahmenvertrag ge- (B) ben. So wird es zu einer bestimmten zeitlichen Abfolge (D) Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! kommen. Mir wäre es am liebsten, wenn alle Länder Wir hatten vor kurzer Zeit schon einmal eine heftige De- mitmachen; möglicherweise machen aber einige Länder batte zu diesem Thema. Ich will deshalb nur noch auf nicht mit. zwei Punkte abheben. (Clemens Binninger [CDU/CSU]: Wann wird Erstens. Herr Körper, wenn Geld in den Haushalt ein- über die Finanzierung geredet?) gestellt wird – Sie haben, wenn ich Sie richtig verstan- den habe, gesagt: Warten Sie den Entwurf ab! –, dann – Sie sind sehr ungeduldig, Herr Kollege. sollten wir bei dieser Diskussion darüber informiert wer- (Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Das ist ja den. Der Stand meiner Information ist, dass nichts in den auch verständlich!) Haushalt eingestellt ist. – Ich verstehe es, Sie sind temperamentvoll. Bei mir rü- (Clemens Binninger [CDU/CSU]: So ist das!) gen Sie das Temperament, aber Sie haben es auch; da be- Wenn das vorbereitet werden soll, dann – das wissen wir gegnen wir uns vielleicht. alle – brauchen wir im Jahr 2004 auch Geld. Also: Infor- Der Kollege Körper hat schon erklärt, dass wir mieren Sie uns doch bitte! So wäre diese Kontroverse 5 Millionen Euro in den Haushalt einstellen. Sie sagen, schon einmal aus der Welt. das reiche nicht. Da hätten Sie Recht, wenn es darum (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) ginge, damit schon den Digitalfunk als solchen zu fi- nanzieren. Zweitens. Wir sind uns doch alle darüber einig, dass (Zuruf von der CDU/CSU: Es geht um die der Aufbau dieses Systems eminent wichtig ist. Ich habe Ausschreibung!) in der Debatte konkrete Beispiele dafür genannt, dass mit Digitalfunk Katastrophen hätten verhindert werden Diese 5 Millionen Euro dienen nur der Vorbereitung der können. Es nützt doch nichts, den schwarzen Peter stän- Ausschreibung. Eine Ausschreibung ist, wie Sie wissen, dig hin- und herzuschieben. Wir alle wollen das System. eine teure Angelegenheit. Dafür also haben wir die Mit- Der Bund hat da eine Koordinationsfunktion. Er sollte tel in den Haushalt eingestellt. sie wahrnehmen und sie nicht auf andere abschieben, also jetzt tätig werden, damit wir endlich einen Schritt Der Kollege Burgbacher vermisst eine Information weiterkommen. darüber. Ich erinnere Sie daran, dass wir kürzlich mit den Berichterstattern, auch Ihrer Fraktion, über diese Frage (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) geredet haben. Wenn Herr Fricke Ihnen nicht darüber 5686 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2003

Bundesminister Otto Schily (A) berichtet, ist es nicht mein Verschulden. Bei der Gele- Denken Sie an Probleme dieser Art! Wir sind, verdammt (C) genheit ist die Zahl ausdrücklich genannt worden. Sie noch einmal, alle in der Pflicht, dieses Projekt voranzu- müssen sich einmal erkundigen, wie die Informationska- bringen. Das Heckmeck, das hier heute veranstaltet wor- näle bei Ihnen intern laufen. den ist, ( [SPD]: Die Fraktion ist ja klein (Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Na, na!) genug! Da müsste das funktionieren!) sollten wir uns nicht leisten. Wenn man bei Ihnen nicht in der Lage ist, eine solche Deshalb bitte ich darum, dass jeder bei sich konstruk- Information weiterzugeben, dann kann ich Ihnen nicht tiv daran arbeitet, dass die Dinge vorankommen. An die- helfen. Aber vielleicht kann ich demnächst sicherstellen, sem Dialog sind durchaus auch einige sozialdemokra- dass die Post von Herrn Fricke auch zu Herrn Kollegen tisch oder rot-grün regierte Länder beteiligt. Auch ich Burgbacher kommt. muss da Arbeit leisten. Aber ich wäre Ihnen dankbar, Der Kollege von der CDU/CSU hat gesagt, man wenn Sie es wirklich ehrlich meinten und das auch in Ih- könne sich nicht an den 8,5 Prozent für die Endgeräte ren Reihen täten. orientieren, sondern müsse den Netzaufbau zugrunde Vielen Dank. legen. Dazu sage ich Ihnen Folgendes: Nach dem Ein- druck, den ich gewonnen habe, werden wir angesichts (Beifall bei der SPD) der leeren Kassen aller Finanzminister nicht erleben, dass die Investition vom Bund oder von den Ländern ge- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: tätigt wird. Das halte ich für völlig ausgeschlossen. Es ist eine Milliardeninvestition, für die weder Geld im Damit schließe ich die Aussprache. Bundeshaushalt noch in den Haushalten der Länder vor- Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent- handen ist. wurfs auf Drucksache 15/1560 an die in der Tagesord- Deshalb wird es nach meiner Einschätzung – es gibt nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es auch andere Auffassungen dazu – auf ein Betreibermo- andere Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann ist die dell hinauslaufen, bei dem die Betreiber dem Bund und Überweisung so beschlossen. den Ländern eine bestimmte Benutzungsgebühr in Rech- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf: nung stellen. Die Investition tätigen die Betreiber. Selbstverständlich gehen in die Berechnung einer sol- Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- chen Benutzungsgebühr dann auch die Investitionskos- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände- (B) ten ein. Die Betreiber wollen ja einen Return on Invest- rung der Regelungen über Altschulden landwirt- (D) ment erzielen. Ich habe den Ländern längst gesagt: Wir schaftlicher Unternehmen (Landwirtschafts- müssen uns nicht, wie beim Telefonfestnetz, sklavisch Altschuldengesetz – LwAltschG) an der reinen Benutzung orientieren, sondern können – Drucksache 15/1662 – eine Grundgebühr festlegen, zumal es zwischen der Flä- Überweisungsvorschlag: che und den Ballungsgebieten Unterschiede gibt; da sind Haushaltsausschuss (f) unterschiedliche Komponenten enthalten. Finanzausschuss Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Wir müssen auch zwischen den Ländern Abgrenzun- Landwirtschaft gen vornehmen. Wenn eine Netzstation zum Beispiel in Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Rheinland-Pfalz an der Grenze zum Saarland steht, dann müssen sich Rheinland-Pfalz und das Saarland, das Nach interfraktioneller Vereinbarung ist eine halbe ebenfalls davon profitiert, natürlich einigen. Das alles Stunde für die Aussprache vorgesehen. – Kein Wider- haben wir erarbeitet; das ist nicht die Frage. spruch. Dann ist es so beschlossen. Einige Länder wollen aber leider das ganze Vorhaben Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort für die bremsen und sind nicht bereit, es voranzubringen, bevor Bundesregierung dem Parlamentarischen Staatssekretär der Bund auf die Forderung eingeht, 50 Prozent der Kos- Gerald Thalheim. ten zu übernehmen. Darin kann ich nur einen Blockade- willen und keine konstruktive Politik erkennen. Darum Dr. Gerald Thalheim, Parl. Staatssekretär bei der geht es mir. Wenn Sie das in Ihren Reihen verändern, Bundesministerin für Verbraucherschutz, Ernährung und dann bin ich Ihnen dankbar. Landwirtschaft: Wir wollen doch alle diesen Digitalfunk. Der Analog- Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und funk verfällt. Daher ist der Digitalfunk kein Luxus, den Herren! Im Landwirtschafts-Altschuldengesetz wollen wir uns leisten wollen, sondern dringend notwendig. wir das letzte teilungsbedingte Problem der ostdeut- Denken Sie an die Flut-Katastrophe! Denken Sie an eine schen Landwirtschaft lösen. Landwirtschaftliche Alt- Katastrophe, wie sie am 11. September in New York schulden gehen auf Kredite der ehemaligen LPGs zum stattgefunden hat! Beispiel für Stallanlagen, Wohnhäuser, Rohbraunkohle- feuerungsanlagen und selbst kommunale Einrichtungen (Reinhard Grindel [CDU/CSU]: An die Kata- zurück. Sie wurden in Mark der DDR aufgenommen strophe denke ich jedes Mal, wenn ich und mussten nach der Wirtschafts- und Währungsunion Schröder sehe!) in D-Mark bedient werden. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2003 5687

Parl. Staatssekretär Dr. Gerald Thalheim (A) Das war wie in der Industrie und im Wohnungsbau gleichzeitig die Rückzahlungsbedingungen angepasst (C) nur schwer oder überhaupt nicht möglich. Um eine werden; zum einen durch eine Verbreiterung der Bemes- Überschuldung der Unternehmen nach der Wirtschafts- sungsgrundlage, zum anderen durch die Erhöhung des und Währungsunion durch die 3,9 Milliarden Euro Alt- Abführungssatzes von bisher 20 Prozent auf künftig schulden zu verhindern, wurden folgende Maßnahmen 65 Prozent. Mit dem Angebot einer einmaligen Zahlung ergriffen: erstens die Entschuldung nach Art. 25 Abs. 3 in Höhe des Barwertes der künftigen Zahlung geben wir Einigungsvertrag in Höhe von 0,7 Milliarden Euro, den rund 1 500 Betrieben die Möglichkeit, die Altschul- zweitens die bilanzielle Entlastung durch so genannte den abzulösen. Die Betriebe gewinnen damit größere un- Rangrücktrittsvereinbarungen in Höhe von rund 2 Mil- ternehmerische Handlungsfreiheit. liarden Euro. Zwangsläufig ruft dies Kritiker auf den Plan. Den ei- Die Rangrücktrittsvereinbarungen boten sehr nen ist der Gesetzesvorschlag zu weitgehend, die ande- günstige Bedingungen; die Schulden mussten nur in ren fühlen sich überfordert. Denjenigen, denen die vor- Höhe von 20 Prozent des Gewinns vor Steuern bedient geschlagene Lösung zu weit geht, sei entgegengehalten, werden. Das war anfangs zweifellos sehr wichtig, um dass die Verfassung uns hierbei Grenzen setzt. Auch Arbeitsplätze zu erhalten und den Betrieben Investitio- wenn es sich um ein Gesetzgebungsverfahren handelt, nen zu ermöglichen. Aber sie haben dazu geführt, dass greifen wir in gewissem Rahmen rückwirkend in privat- aus den 2 Milliarden Euro Altschulden zwischenzeitlich rechtliche Regelungen – darum handelt es sich bei den rund 2,56 Milliarden Euro geworden sind, weil wegen Rangrücktrittsvereinbarungen – ein. Denen, die sich der niedrigen Gewinne die Zahlungen nicht einmal mehr überfordert fühlen, sei gesagt: Die Regelung stellt auf ausreichten, um die Zinsschuld zu bedienen. In der ge- die individuelle Leistungsfähigkeit der Unternehmen ab. nannten Summe sind also aufgelaufene Zinsen in Höhe Es gilt der Grundsatz: Wer leistungsfähig ist, muss zu- von rund 1 Milliarde Euro enthalten. rückzahlen und wer heute nicht zurückzahlen kann, der muss das in der Zukunft tun. Meine Damen und Herren, allein dieser Umstand macht deutlich, dass hier Handeln angesagt ist, zumal Denn Sinn der Rangrücktrittsvereinbarung war es auch wissenschaftliche Untersuchungen belegt haben, nicht, Betriebe von der Zahlung zu entlasten, sondern es dass die Rangrücktrittsvereinbarungen sehr großzügig war das Ziel, die Unternehmen und die Arbeitsplätze zu gestaltet waren. erhalten. Aber das Ziel war auch, dass im Rahmen der Aber Handlungsbedarf gibt es noch aus anderen Leistungsfähigkeit ein Beitrag erbracht wird. Genau Gründen. Das Bundesverfassungsgericht hat mit seiner das hat die Bundesregierung mit dem Gesetzentwurf vor. Grundsatzentscheidung vom 8. April 1997 dem Gesetz- Wir lösen hiermit ein vor langer Zeit gegebenes Verspre- chen ein. Seit vielen Jahren befasst sich der Bundestag (B) geber den Auftrag erteilt, zu prüfen: (D) – insbesondere meine Fraktion – mit der Altschuldenre- ob die Entschuldung tatsächlich einen ausreichen- gelung. den Entlastungseffekt hat, sodass die Altschulden innerhalb eines angemessenen Zeitraums von der Ich denke, jetzt liegt ein Gesetzentwurf vor, der den Mehrzahl der betroffenen LPGs bei ordentlicher Bedürfnissen der Schuldner Rechnung trägt, aber am Wirtschaftsführung abgetragen werden können. Ende auch im Interesse des Bundes zu Einnahmen füh- ren wird, die der wirtschaftlichen Lage der Unternehmen Da letztendlich der Bund über den Erblastentilgungs- angemessen sein werden. fonds Gläubiger der Altschulden ist, hat die bisherige Entwicklung – zumindest aus der Sicht des Bundes – zu Herzlichen Dank. einer untragbaren Situation geführt, da die Forderungen (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ – wie ich ausgeführt habe – in den letzten Jahren ge- DIE GRÜNEN) wachsen sind und nach wie vor wachsen. Handeln ist aber auch im Interesse der Unternehmen Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: angezeigt. Denn eine ständig wachsende Schuldenbe- Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Peter Jahr, CDU/ lastung ist aus der Sicht der Unternehmen ein unhaltba- CSU-Fraktion. rer Zustand, zumal es wenig Motivation gibt, in solche Unternehmen zu investieren. Es gab bisher auch keine (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Motivation, die Schulden intensiver zurückzuzahlen, da der Schuldenstand in vielen Betrieben so hoch war, dass Dr. Peter Jahr (CDU/CSU): sich die Unternehmen selbst bei ordnungsgemäßer Wirt- Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und schaftsführung nicht in der Lage sahen, die Schulden ab- Herren! Mit der Debatte über das Gesetz zur Änderung zulösen. der Regelungen über Altschulden landwirtschaftlicher Ziel des Gesetzentwurfs ist es daher, eine beschleu- Unternehmen diskutieren wir in diesem Hohen Hause nigte Ablösung der Altschulden durch die Betriebe ent- ein wenig über die aufregenden 90er-Jahre in den neuen sprechend ihrer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit Bundesländern. Im Jahre 1990 waren die landwirt- – darauf liegt die Betonung – herbeizuführen. Im Detail schaftlichen Unternehmen in der ehemaligen DDR mit sieht der Gesetzentwurf vor, dass die Altschuldner gegen Krediten in Höhe von 3,9 Milliarden Euro belastet. Je- einmalige Zahlung eines unternehmensindividuellen Ab- der, der mit dem Thema halbwegs vertraut war, wusste, lösebetrages die Schuld vorzeitig zurückzahlen und dass dass diese Kredite mit marktwirtschaftlichen Krediten 5688 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2003

Dr. Peter Jahr (A) wenig zu tun hatten, dass die Werthaltigkeit der Kredite zweifeln. Es ist also richtig und notwendig, dass die (C) sehr unterschiedlich war und dass eine sofortige Fällig- Bundesregierung einen entsprechenden Entwurf vorlegt. stellung bzw. Umschuldung für viele landwirtschaftliche Zweitens. Die Grundphilosophie des Entwurfes, zu- Unternehmen das ungeordnete wirtschaftliche Aus be- nächst die Rangrücktrittsvereinbarung zu verschärfen, deutet hätte. dem Unternehmen aber in einem zweiten Schritt zu er- Politisch hatte es damals zwei Lösungsansätze gege- lauben, sich von dieser neuen Verpflichtung freizukau- ben: Zum einen hätte man in jedem Einzelfall die Wert- fen, ist durchaus schlüssig. haltigkeit des Kredites überprüfen und eine Neufestle- Damit haben Sie, meine Damen und Herren von Rot- gung der Altschulden vornehmen können. Der Vorteil Grün, immerhin zwei Ansätze mit der Union für die wei- dieses Verfahrens wäre gewesen, dass das Problem heute tere Diskussion gemeinsam. Allerdings schwindet das nicht mehr erörtert werden müsste, weil es gelöst wäre. Maß unserer Zustimmung angesichts des konkreten Ge- Andererseits war Anfang der 90er-Jahre niemand in der setzestextes erheblich. Mit dem konkreten Gesetzestext Lage, ein solches Vergleichsverfahren halbwegs nach- hat die Union, habe ich noch eine Vielzahl von kleineren vollziehbar und in einem überschaubaren Zeitraum zu und größeren bis hin zu schwerwiegenden Problemen. gestalten. Anfang der 90er-Jahre gab es in den neuen An dieser Stelle ein paar Anmerkungen zu den Hauptkri- Bundesländern keinen gefestigten Immobilienmarkt. tikpunkten: Viele Eigentumsverhältnisse waren ungeklärt. Es gab riesige Umstrukturierungsprobleme. Der erste Kritikpunkt betrifft die Verschärfung der be- stehenden Rangrücktrittsvereinbarung. Ich betone noch- Aus diesen Gründen entschied sich die damalige Bun- mals, dass wir die Verschärfung grundsätzlich unterstüt- desregierung zu Recht für einen anderen Weg: Sie half zen. Im vorliegenden Entwurf ist vorgesehen, den sanierungsfähigen Unternehmen, die Altschulden hatten, Abführungssatz von 20 auf 65 Prozent des Bruttoge- durch zwei Maßnahmen – der Staatssekretär hat es schon winns zu erhöhen. Zusätzlich wird die Gewinnermitt- erwähnt –: Zum einen übernahm die Treuhandanstalt auf lungsbasis verbreitert und die Möglichkeit von Verlust- der Grundlage von Art. 25 Abs. 3 des Einigungsvertra- vorträgen eingeschränkt. In vielen Unternehmen würde ges Altschulden in Höhe von 0,7 Milliarden Euro. Zum dies dazu führen, dass sie ihren gesamten Gewinn nach anderen wurden mit Unternehmen, die sonst überschul- Handelsgesetzbuch abführen müssten. Ich meine, diese det wären und deren Fortbestand gefährdet gewesen Verschärfung der Rangrücktrittsvereinbarung von bisher wäre, zivilrechtliche Rangrücktrittsvereinbarungen 20 auf de facto 100 Prozent des Gewinns nach HGB ist getroffen. Immerhin wurden Altschulden in Höhe von nicht nur verfassungsrechtlich bedenklich, sondern auch rund 2 Milliarden Euro in Form solcher Rangrücktritts- für das Unternehmen einfach unannehmbar. (B) vereinbarungen abgelöst. (D) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Die damit verbundenen Wirkungen waren sowohl für das Unternehmen als auch für die Altschulden verwal- Ich habe den Verdacht, dass das Finanzministerium tenden Banken sowie für den Bund durchaus positiv. ohnehin keine neue Rangrücktrittsvereinbarung einfüh- Unternehmen konnten die Altschulden der Rangrück- ren möchte, sondern den Betrieben die Ablöseregelung trittsvereinbarung nachrangig einordnen und als Eigen- aufdrängen will. Die Betriebe sollen keine Rangrück- kapital ausweisen. Den Banken ging kein Geld verloren, trittsvereinbarung unterschreiben, sondern sie sollen die denn sie waren über den Erblastentilgungsfonds abgesi- Ablöseregelung zwangsweise freiwillig oder freiwillig chert. Die Banken konnten sogar, weil die Unternehmen zwangsweise in Anspruch nehmen. Die Betriebe sollen wieder kreditwürdig waren, neues Geld, neue Kredite nicht abbezahlen, sondern sie sollen bezahlen. Man ausreichen. Der Bund konnte nicht nur mit Freude beob- könnte es auch so formulieren: Cash money geht hier vor achten, wie sich eine Vielzahl von Unternehmen wirt- Solidität. schaftlich stabilisierte, sondern er konnte anfangs auch Wir sagen Ja zur Rangrücktrittsvereinbarung, aber sie hoffen, dass die Altschulden zum Großteil getilgt wer- muss – das ist unsere Forderung – annehmbar sein und den könnten. sie muss im Vergleich zur alten Regelung verhältnismä- Heute wissen wir: Die letzte Hoffnung hat sich nicht ßig sein. erfüllt. Mit der Fortschreibung der geltenden Gesetzes- (Beifall bei der CDU/CSU) lage wurde lediglich ein Barwert von circa 7 Prozent der ursprünglichen Altschulden beglichen. Es ist richtiger- Die im Entwurf enthaltene Regelung wird diesem An- weise festgestellt worden, dass, wenn die geltende Rang- spruch nicht gerecht. rücktrittsvereinbarung nicht zum Erfolg führt, der Ge- Das zweite Problem betrifft die Ablöseregelung. Es setzgeber zum Handeln verpflichtet ist. Nicht zuletzt ist richtig und vernünftig, dass sich ein landwirtschaftli- kann man diesen Handlungsauftrag auch aus einer ches Unternehmen von der Verpflichtung, die mit der Grundsatzentscheidung des Bundesverfassungsgerich- Rangrücktrittsvereinbarung verbunden ist, freikaufen tes vom April 1997 ableiten. kann. Die Aussage, die Höhe des Ablösebetrages im We- Vorab an dieser Stelle deshalb zwei zustimmende Be- sentlichen an der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit merkungen zu dem vorliegenden Gesetzentwurf: zu orientieren, klingt gut, schafft aber auch ein weiteres Problem. Die latente Zustimmung der betroffenen Unter- Erstens. Niemand wird ernsthaft die Notwendigkeit nehmen zu der im Entwurf enthaltenen Regelung resul- einer Regelungsbedürftigkeit der Altschuldenfrage be- tiert daraus, dass fast alle landwirtschaftlichen Unterneh- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2003 5689

Dr. Peter Jahr (A) men davon ausgehen, dass sie keinen Gewinn machen Wichtig ist: Gerade weil das Unternehmen keinen (C) und deshalb nichts zahlen müssten. So verstehe ich aber Rechtsanspruch auf einen Ablösebetrag der Höhe nach den Gesetzentwurf nicht und so scheinen ihn auch das hat, sollte ein zweistufiges Verfahren vorgesehen wer- Finanzministerium bzw. die Bundesregierung nicht zu den. Ich halte es für wenig sinnvoll, dass der Antrag auf verstehen. eine vorzeitige Ablösung der landwirtschaftlichen Alt- schulden nur innerhalb von neun Monaten nach In- Es geht hier auch um Fairness innerhalb des Berufs- Kraft-Treten der entsprechenden Rechtsverordnung ge- standes. Es gibt Unternehmen, die ihre Altschulden – es stellt werden kann. Diese enge Frist muss gestrichen handelte sich meistens um geringere Beträge – bereits werden. Man sollte ohnehin darüber diskutieren, ob in getilgt haben. Es gibt ferner altschuldenbelastete Unter- diesem Zusammenhang überhaupt eine Frist notwendig nehmen, die in Erwartung einer gesetzlichen Regelung ist. auf Investitionen verzichtet und einen gewissen Geldbe- trag angespart haben. Da gibt es auch Neu- und Wieder- (Beifall bei der CDU/CSU) einrichter, die bei der Bedienung ihrer Kredite nicht nach Ich fasse zusammen: ihrer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit gefragt wer- den; sie müssen die Zahlungen für Zinsen und Tilgung Erstens. Die Notwendigkeit einer gesetzlichen Initia- leisten. tive zur Regelung der Altschulden in der Landwirtschaft ist unbestritten. ( [CDU/CSU]: Sehr richtig!) Zweitens. Die Verschärfung der bestehenden Rang- Zugespitzt formuliert: Es kann nicht sein, dass offen- rücktrittsvereinbarung ist grundsätzlich richtig. Die sichtliches Missmanagement durch einen Ablösebetrag Verschärfung, die im vorliegenden Gesetzentwurf vorge- nahe null Euro belohnt und dass der solide Unternehmer sehen ist, ist allerdings unzumutbar und verfassungs- mit einem hohen Ablösebetrag bestraft wird. rechtlich bedenklich. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Drittens. Die Ablöseregelung allein an der wirtschaft- lichen Leistungsfähigkeit der Unternehmen zu orientie- Deshalb halte ich es für erforderlich, bei den Betrieben ren ist nicht richtig. Missbräuchliche Anwendungen der von einer standardisierten Gewinnerwartung auszugehen Regelungen sind zu vermeiden. und die Werthaltigkeit der Altschulden mit einzubezie- hen. Wenn ein landwirtschaftliches Unternehmen den er- Aus den genannten Gründen wird meine Fraktion im rechneten Ablösebetrag nicht annehmen kann oder will, zuständigen Ausschuss eine Anhörung zu dem vorlie- so kann es immer noch die geänderte Rangrücktrittsver- genden Gesetzentwurf beantragen. Meine Fraktion geht fest davon aus, dass auch die Regierungsfraktionen ein- (B) einbarung unterzeichnen, die aber annehmbar sein (D) müsste. sichtig sind und sich vernünftigen Änderungsvorschlä- gen nicht verschließen werden. In diesem Sinne freue Beim dritten Problem geht es um Missbrauchstatbe- ich mich auf die Diskussion in den Ausschüssen. stände. Wir müssen an dieser Stelle über sie reden und auch darüber, wie man ihnen vorbeugen kann. Auch Danke schön. wenn es meist nur wenige Fälle sind und sein werden, so (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- bereiten sie mit Blick auf die Öffentlichkeit die größten neten der FDP) Probleme. Es gibt Betriebe, bei denen die Gesellschafterstruktur Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: bereinigt worden ist. Weniger als 5 Prozent der ur- Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Cornelia Behm. sprünglichen Gesellschafter sind heute noch vorhanden. Gleiches gilt manchmal leider auch für die Arbeitskräfte. Cornelia Behm (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Meine Fraktion will vermeiden, dass ein landwirtschaft- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und liches Unternehmen bei der Bestimmung des Ablösebe- Kollegen! Es gibt gute Gründe für ein Landwirtschafts- trages mangelndes Ertragspotenzial nachweist und somit Altschuldengesetz. Die aktuelle Regelung taugt nicht zur einen geringen Ablösebetrag zahlt, aber sich ein paar Lösung des Problems. Herr Jahr, ich freue mich, dass wir Monate später plötzlich beim Verkauf des Gesamtbetrie- in diesem Punkt übereinstimmen. bes ein ganz anderes Ertragspotenzial ergibt. Auch hin- sichtlich dieses Problems greift der Gesetzentwurf aus Darüber hinaus haben die Gutachter Forstner und meiner Sicht zu kurz. Hirschauer festgestellt, dass die Entlastungen für die LPG-Rechtsnachfolger die Belastungen, die aus den Viertens. Dieser Punkt betrifft das Verfahren der Ab- DDR-Altschulden resultieren, in der großen Mehrzahl löseregelung. Über das Verfahren zur Ermittlung des der Fälle überkompensiert haben. Diese Entlastungen Ablösebetrages heißt es in der Gesetzesbegründung lapi- bestanden zum Ersten in einer Teilentschuldung durch dar: die Treuhandanstalt, zum Zweiten in einer bilanziellen Die Einzelheiten der Ermittlung des Ablösebetrages Entlastung in Form einer schon angesprochenen Rang- werden in der … zu erlassenden Rechtsverordnung rücktrittsvereinbarung und in Form eines zins- und festgelegt. steuerbegünstigten Bedienens der Altschulden sowie zum Dritten in einem Schutz des dadurch gewonnenen Ein wenig genauer hätten wir uns das schon gewünscht. Eigenkapitals vor Abfindungsansprüchen bei der 5690 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2003

Cornelia Behm (A) Vermögensauseinandersetzung nach dem Landwirt- Euro. Außerdem fließen die zu erwartenden Rückzah- (C) schaftsanpassungsgesetz. Im Ergebnis stellen die Gut- lungen schneller als nach der gültigen Rechtslage. Dies achter fest, dass die meisten betroffenen Betriebe heute eröffnet in Zeiten knapper Kassen Spielräume, die wir wirtschaftlich besser dastehen, als wenn ihnen die Alt- dringend für Investitionen in die Zukunft benötigen. schulden schon Anfang der 90er-Jahre erlassen worden wären. Den LPG-Rechtsnachfolgern ist zu sagen: Auch zu- künftig werden nur Unternehmen, die Überschüsse er- Die allermeisten Deutschen gehen bis heute davon wirtschaften, zur Bedienung ihrer Altschulden herange- aus, dass die Altschulden für die LPG-Rechtsnachfolger zogen. Eine wirtschaftliche Gefährdung der Betriebe ist eine schwer tragbare Last sind. Aufgrund des Gutach- damit ausgeschlossen. tens müssen wir heute aber feststellen: Die dereinst von CDU/CSU und FDP geschaffenen Altschuldenregelun- Die Versuche aus den Reihen der CDU, sowohl von gen entfalten eine deutliche Subventionswirkung und den Wiedereinrichtern als auch von den LPG-Rechts- verzerren den Wettbewerb. nachfolgern Zustimmung zu erheischen, dürften ange- sichts der verhärteten Fronten zum Scheitern verurteilt Angesichts dieses Ergebnisses muss und will die sein. Die Wiedereinrichter werden sich nicht täuschen Bundesregierung Konsequenzen ziehen. Der vorlie- lassen; denn sie wissen ganz genau, dass es seinerzeit gende Gesetzentwurf hat das Ziel, dass die Rückzahlung CDU und FDP waren, die die aus ihrer Sicht ungerechte zukünftig tatsächlich im Rahmen der wirtschaftlichen Altschuldenregelung beschlossen haben. Diese Bauern Möglichkeiten der Unternehmen erfolgt. Dazu werden in müssen nämlich ihre Kredite bedienen, ohne dass es eine dem Gesetzentwurf die Rückzahlungsbedingungen für staatliche Bewahrung vor der Insolvenz gibt. die Betriebe unter Berücksichtigung ihrer wirtschaftli- chen Leistungsfähigkeit verschärft. Dies wird vor allem (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN durch die Erhöhung des abzuführenden Gewinnanteils und bei der SPD – [CDU/ von 20 auf 65 Prozent erreicht. CSU]: Was sollte dieser Schluss jetzt? Wer hat Ihnen diesen Blödsinn aufgeschrieben? – Ge- Daneben wird in diesem Gesetz die Möglichkeit genruf der Abg. Waltraud Wolff [Wolmirstedt] geschaffen – das ist mir besonders wichtig –, Altschul- [SPD]: Das darf man doch ruhig mal sagen!) den mit einer Einmalzahlung abzulösen. Der Ablösebe- trag ist betriebsindividuell auszuhandeln und soll sich an der Höhe der in Zukunft zu leistenden Rückzahlungen Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: orientieren. Da sowohl die Bank als auch der Altschuld- Das Wort hat jetzt der Kollege Hans-Michael ner der Höhe des auszuhandelnden Ablösebetrages zu- Goldmann. (B) stimmen müssen, sollte eine Übervorteilung einer der (D) beiden Seiten vermieden werden. Dieser Komplex der Hans-Michael Goldmann (FDP): Vereinigungspolitik wird damit rechtlich abgeschlossen. Ich hoffe, dass möglichst viele Betriebe diese Chance Sehr verehrte Frau Präsidenten! Liebe Kolleginnen auch ergreifen. und Kollegen! Für jemanden, der fast von der niederlän- dischen Grenze, aus dem Emsland kommt, stellt sich das Diesem Gesetzentwurf widerfährt eine Bewertung, Thema Landwirtschafts-Altschuldengesetz als äußerst die widersprüchlicher kaum sein könnte. Die Wieder- schwierig dar. Bei Besuchen vor Ort spürt man auch die einrichter und die Vertreter der bäuerlichen Landwirt- ganze Härte der Auseinandersetzung. Frau Behm, Sie schaft sprechen von Milliardensubventionen für die etwa haben völlig zu Recht angesprochen, dass das ein Thema 1 500 Altschuldner. Die LPG-Rechtsnachfolger hinge- ist, welches die Menschen in den so genannten neuen gen sprechen vom drohenden Ruin ihrer Betriebe, weil Ländern ganz besonders bewegt. Ich bin auch dafür, dass sie nun von ihrem Gewinn einen größeren Teil als bisher wir – allerdings gemeinsam – den Versuch unternehmen, abführen sollen. Beide Bewertungen beruhen auf einer hier sozusagen abzuräumen; denn weiteres Verärge- verzerrten Interpretation der vorliegenden Sachlage. rungspotenzial wäre dem dortigen agrarischen Miteinan- Den Wiedereinrichtern ist zu sagen: Aufgrund der seit der sicherlich sehr abträglich. Jahren gültigen Rechtslage ist längst klar, dass die LPG- (Beifall bei der FDP) Rechtsnachfolger ihre Altschulden nicht komplett zu- rückzahlen werden. Unabhängig davon, ob uns das heute Die Sache ist aber schwierig: Hilft man dem einen be- passt oder nicht, müssen wir feststellen: Es ist nicht sonders, ist der andere sauer. Hilft man zu wenig, hilft möglich, das Rad zurückzudrehen. Die Rückzahlungsbe- dies wiederum uns gar nicht. Einige haben sogar die dingungen lassen sich aber nicht beliebig verschärfen, Vorstellung, dass man über diesen Weg wirklich Mittel sondern nur im Rahmen der Verhältnismäßigkeit. Hier- für den Haushalt gewinnt, um Investitionen tätigen zu für ist entsprechend dem Urteil des Bundesverfassungs- können. gerichtes die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der Be- triebe entscheidend. Frau Behm, ich glaube, wir sind uns einig, worüber wir sprechen: Vielleicht können wir erreichen, 10 bis Aber: Unser Gesetz schafft entgegen den Behauptun- 20 Prozent des Betrages zu bekommen, der als Altschul- gen keine zusätzliche Subventionswirkung. Im Gegen- denlast noch im Raum steht. Man muss sich einmal auf teil: Es führt zu zusätzlichen Einnahmen für den Erb- der Zunge zergehen lassen, worum es hier im Moment lastentilgungsfonds in Höhe von 200 bis 250 Millionen geht: Es geht um einen Milliardenerlass. Ich meine, dass Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2003 5691

Hans-Michael Goldmann (A) man sich angesichts dessen die größtmögliche Mühe ge- mit den LPG, den landwirtschaftlichen Produktionsge- (C) ben muss. nossenschaften. Weil wir uns diese größtmögliche Mühe geben wol- Der Kern des Problems ist immer derselbe: Das len, werden wir in der kommenden Woche eine frak- Steuer- und Kreditwesen der DDR war mit dem Recht tionsinterne Anhörung machen. Ich stimme ausdrücklich der Bundesrepublik nicht kompatibel und soll trotzdem dem Anliegen der CDU/CSU-Fraktion, das Herr Dr. Jahr passfähig gedeutet werden. Das musste zu Verwerfungen zum Ausdruck gebracht hat, zu: Eine Anhörung im Aus- und zu Gerichtsverfahren führen – bis heute. schuss wäre gut. Allerdings sollten wir alle mit der fes- ten Absicht in diese Anhörung hineingehen, zu einer ge- Heute verhandeln wir ein Gesetz, mit dem das Alt- meinsamen Lösung zu kommen. schuldenproblem ostdeutscher Agrarbetriebe endgültig und zukunftsträchtig gelöst werden soll. Das ist überfäl- Frau Behm, es hilft nichts, zu sagen, dass FDP und lig. Die PDS bringt seit über 13 Jahren konstruktive Vor- CDU/CSU damals etwas falsch gemacht hätten. Ich bin schläge ein und ringt auf Landes- und Bundesebene um mir nicht sicher, ob Ihre Ausführungen, es sei zu Über- Lösungen. Gerade deshalb ist es enttäuschend, dass der kompensationen gekommen und habe riesige Subventio- vorliegende Entwurf zwar vorgibt, abschließend und zu- nen für große Betriebe gegeben, ganz zutreffend sind. kunftsfähig zu sein, es in Wahrheit aber nicht ist. Ich habe 5 000 bis 6 000 Hektar große Betrieb besucht, die 70 bis 80 Menschen in einer Region beschäftigten, in Es gibt eine Bauernweisheit: Man kann eine Kuh der die Arbeitslosenquote bei 30 bis 35 Prozent lag. nicht schlachten und zugleich melken. Genau das ver- Wenn man diesen Betrieben nicht geholfen hätte, sähe sucht die Bundesregierung aber mit Teilen dieses Ge- die Situation heute noch schlechter aus. setzentwurfes. Sie will möglichst hohe Einnahmen für den Erblastentilgungsfonds erzielen und schröpft dabei (Cornelia Behm [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- zugleich die Wirtschaftskraft der betroffenen Betriebe NEN]: Das ist eine andere Frage!) über Gebühr. Der Vermögens- und Kreditverlust vieler Agrarunternehmen wäre so groß, dass einige Betroffene Der Entwurf des Finanzministeriums ist außerordent- von einem enteignungsähnlichen Eingriff reden. Die Ge- lich kompliziert und steuersystematisch äußerst zweifel- samtrechnung, die hier aufgemacht wird, ginge oben- haft. Geplante Rückzahlungen der Schulden als Be- drein – wie so oft – vollends schief; denn den erhofften triebsausgaben führen dazu, dass ertragsstarke Betriebe Mehreinnahmen des Bundes stünde ein erheblicher Aus- in höchster Steuerprogression nach Steuern netto nur die fall an Gewerbe-, Körperschaft- und Einkommensteuer Hälfte dessen zahlen, was ertragsschwache Betriebe zu gegenüber. Das ginge zulasten der Kommunen, der Ge- zahlen haben. Das erscheint mir nicht sinnvoll. meinden und natürlich auch der neuen Länder. Es muss (D) (B) Die Erhöhung der Abführung auf der Basis von doch selbst der Westmehrheit unseres Hauses einsichtig 65 Prozent des Jahresgewinns bei verbreiterter Bemes- sein, dass man nicht einerseits heute Vormittag die Lage sungsgrundlage führt ohne Zweifel zu erheblichen im Osten beklagen kann, wenn man zugleich, wie mit Steuervermeidungsreaktionen. Das können die Gro- diesem Gesetzentwurf, die Eigeneinnahmen der neuen ßen recht gut; denn das machen sie jetzt schon. Ihre Ge- Bundesländer gefährdet. Das aber droht, wenn der vor- winne lassen sie bekanntlich nicht im landwirtschaftli- liegende Gesetzentwurf eins zu eins umgesetzt würde. chen Betrieb, sondern in den vor- und nachgelagerten Sie wollen bis zu 65 Prozent möglicher Gewinne einkas- Handels- und Dienstleistungsunternehmen anfallen und sieren. Das ist für einige Betriebe ruinös. rechnen sie dann aufeinander an. Frau Behm, vor dem Das Bundesverfassungsgericht hat mit seinem Ur- Hintergrund dessen, was im Raum steht, ist es bezeich- teil von 1997 das übrigens nicht gemeint. Im Gegenteil: nend, dass die Erwartungen des Gesetzgebers an dieses Es hat gefordert, den so genannten Altschuldnern eine Gesetz außerordentlich gering sind. reale Chance zu eröffnen, im Wettbewerb der bundes- Lassen Sie uns gemeinsam an die Arbeit gehen. Wir deutschen und der europäischen Agrarwirtschaft beste- sind dazu gerne bereit. Wir wollen hoffen, dass wir es hen zu können. am Ende dieses Prozesses mit einem Gesetz zu tun ha- Deshalb werbe ich für einen PDS-Vorschlag, der ben, das dazu beiträgt, ein Stück mehr agrarischen Frie- keineswegs neu ist. Ein Großteil der so genannten Alt- den in den betroffenen Regionen zu schaffen. schulden war schon durch den Einigungsvertrag als ent- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) schuldungsfähig anerkannt worden. Sie wurden nicht entschuldet, weil damals angeblich die Mittel dafür fehl- ten. Das war aus PDS-Sicht zwar purer Unsinn, war aber Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: so. Das Wort hat jetzt die Kollegin Petra Pau. Derweil haben die nicht entschuldeten Altbetriebe eifrig Zinsen geheckt. Sie machen inzwischen über Petra Pau (fraktionslos): 40 Prozent der Gesamtlast aus. Es entspricht zwar der Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bankenlogik, dass hierauf Zinsen erhoben werden, ent- Die Altschuldenproblematik ist seit 1990 eine vielfache. behrt aber jeder politischen Vernunft. Deshalb appelliere Wir kennen sie von den Wohnungsgesellschaften der ich namens der PDS im Bundestag, die Altlastenfrage DDR, die privatisiert wurden. Wir kennen sie auch aus vernünftig zu entsorgen, nicht auf Kosten der betroffe- der Landwirtschaft, insbesondere im Zusammenhang nen Betriebe, der Kommunen und der neuen Länder. Ich 5692 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2003

Petra Pau (A) habe die Hoffnung, dass die Anhörung wie auch die par- oder geradezurücken, was aus Sicht von so manchem (C) lamentarische Beratung im besten Sinne des Wortes zu Verband schon immer falsch gelaufen ist. einer Qualifizierung des Gesetzentwurfes führen. (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Sehr Danke schön. richtig!) Die Geschichte ist einfach nicht zurückzudrehen. Des- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: halb müssen wir erstens Sachlichkeit walten lassen, Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Waltraud Wolff. zweitens mit Bedacht Einzelfallbetrachtungen durchfüh- ren und drittens genau die Schnittstelle finden, an der die Waltraud Wolff (Wolmirstedt) (SPD): Rückzahlung für die betroffenen Betriebe noch möglich ist, ohne dass sie in den Ruin getrieben werden. Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolle- ginnen und Kollegen! Seit ich 1998 im Bundestag mit Ich möchte hier auch noch einmal daran erinnern, der Altschuldenproblematik konfrontiert wurde, war für dass sich Bundeskanzler Gerhard Schröder auf der agrar- mich der Auftrag des Bundesverfassungsgerichtes maß- politischen Konferenz der SPD-Bundestagsfraktion im geblich, eine vertretbare Lösung für den Bund und die vergangenen Februar zu Recht zu einer einvernehmli- mit Altschulden belasteten Betriebe zu erreichen. chen, abschließenden und schnellen Lösung gestellt hat. Die SPD-Bundestagsfraktion hat eine Arbeitsgruppe ein- Ein Wort zum Beitrag des Redners von der CDU/ gerichtet und wir haben beschlossen – damit befinden CSU: Eigentlich hat es die Debatte nicht verdient, dass wir uns im Konsens mit Ihnen; ich konnte es nur nicht wir das Für und Wider aufrechnen und fragen, wer was eher sagen –, eine Anhörung zu dem Thema der land- initiiert hat bzw. hätte initiieren müssen. Da das Bundes- wirtschaftlichen Altschulden zu initiieren. Danach wird verfassungsgericht festgelegt hat, dass nach zehn Jahren die Meinungsbildung in den Fraktionen zum Abschluss überprüft werden soll, ob die Möglichkeit besteht, dass kommen. die Betriebe ihre Altschulden bis 2010 zurückzahlen können, hätte meiner Meinung nach von der Regierung Meine Schlussbemerkung: Ich habe eben den Kennt- schon damals eine größere Initiative gestartet werden niserwerb von 13 Jahren angesprochen. Ebenso wichtig müssen. ist es, die allgemeine wirtschaftliche Lage zu betrachten. Einen solchen konjunkturellen Einbruch konnten wir uns Zum Hintergrund, wie diese Schulden entstanden nicht vorstellen. Auch die Landwirtschaft ist davon be- sind, will ich nichts mehr sagen; dazu haben sich schon troffen. Wir sollten auch noch etwas anderes in unsere mehrere Kollegen geäußert. Vergessen werden darf aber Überlegungen einbeziehen: Die letzten Jahre waren für nicht: Es ging und es geht noch heute um Sicherung von (B) die Landwirtschaft in Deutschland kein Zuckerschle- (D) Arbeitsplätzen im ländlichen Raum. Mit der Wende cken. und dem Aus der kollektiven Verstaatlichung begann für volkseigene Betriebe und damit auch für die ehemaligen (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Warum Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der LPGen die Zeit der kürzt ihr denn dann beim Agrardiesel und bei Umstrukturierung. In allen Bereichen, in denen die bei- der Krankenversicherung? Dann tut das doch den Rechtssysteme zusammengeführt wurden, kam es nicht! – Weitere Zurufe von der CDU/CSU unweigerlich zu Konflikten. Die Klärung der Altschul- und der FDP) denfrage in der Landwirtschaft der ehemaligen DDR Ich sage nur: BSE, Nitrofen, Acrylamid – alles schlägt stand daher, wie zum Beispiel die in der Wohnungswirt- auf die Landwirtschaft durch. Zusätzlich haben das schaft, von Anfang an unter einem schlechten Stern. Hochwasser an der Elbe – nicht zu vergessen auch das Auch heute noch werden die Debatten über die Altschul- Hochwasser an der Oder – und die Dürre in 2003 ihre den hitzig und emotional geführt. Deshalb ist es ganz be- Spuren in den neuen Bundesländern hinterlassen. sonders wichtig, dass der Gesetzgeber in der letzten Phase der Regelung mit Fakten zur Versachlichung bei- (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Und ihr habt trägt. unheimlich „schnell“ reagiert!) Das Bundesverfassungsgericht hat dem Gesetzgeber Dennoch verbinde ich mit der Einbringung dieses Ge- eine Beobachtungs- und Nachbesserungspflicht auf- setzes erstens die Hoffnung, dass das letzte ungelöste erlegt. Das Ziel war, dass die Betriebe bei ordnungsge- Kapitel in der ostdeutschen Landwirtschaft zu schließen mäßer Wirtschaftsführung die Schulden bis 2010 tilgen ist, zweitens die Hoffnung, dass die Unternehmen zur können. Somit wird klar, dass eine verträgliche Lösung Rückzahlung motiviert werden und drittens die Auffor- angestrebt war, die den Fortbestand der Unternehmen derung an die Bundesregierung, die notwendige Rechts- nicht gefährdet. verordnung in das Gesetz einzubeziehen oder zeitgleich zu erlassen, um nicht weitere Verzögerungen und Unsi- 13 Jahre nach der deutschen Einheit sieht vieles an- cherheiten aufkommen zu lassen. ders aus, als unsere Vorstellungen damals überhaupt zu- ließen. Wir müssen die Probleme aus heutiger Sicht von (Beifall bei Abgeordneten der SPD) allen Seiten beleuchten. Es kann meiner Meinung nach nicht darum gehen, irgendwelche alten Rechnungen zu Im Interesse des Bundes müssen realistische Bewer- begleichen tungsmaßstäbe angelegt werden. Deshalb ergibt sich zu Beginn der Beratung aus meiner Sicht die Frage, mit der (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Richtig!) ich jetzt schließe: Wird durch die Erhöhung des Abfüh- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2003 5693

Waltraud Wolff (Wolmirstedt) (A) rungssatzes von 20 auf 65 Prozent die Messlatte auf die Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst (C) richtige Höhe gelegt? die Staatsministerin Kerstin Müller für die Bundesregie- rung. Schönen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Kerstin Müller, Staatsministerin im Auswärtigen DIE GRÜNEN sowie des Abg. Hans-Michael Amt: Goldmann [FDP]) Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Bevor ich zum Stand der Verhandlungen bei den Vereinten Na- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: tionen über ein internationales Klonverbot komme, Ich danke auch und schließe damit die Aussprache. möchte ich eines festhalten: Es war die deutsche Bun- desregierung, die das internationale Klonverbot vor zwei Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent- Jahren mit der deutsch-französischen Initiative auf die wurfs auf Drucksache 15/1662 an die in der Tagesord- Agenda der Generalversammlung der Vereinten Natio- nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es nen gesetzt hat. Dadurch haben wir in vielen Ländern andere Vorschläge? – Das scheint nicht der Fall zu sein. nationale Diskussionen angestoßen. Man muss sehen: Dann ist die Überweisung so beschlossen. Heute gibt es viele nationale Gesetze, durch die das re- Ich rufe die Tagesordnungspunkte 12 a und 12 b auf: produktive Klonen verboten wird. a) Beratung des Antrags der Abgeordneten (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Dr. Maria Böhmer, Wolfgang Bosbach, und bei der SPD) Dr. Wolfgang Schäuble, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Nun hat uns der Bundestag in seinem Beschluss vom 20. Februar dieses Jahres drei Aufträge für die Verhand- Verbot des Klonens mit menschlichen lungen in den Vereinten Nationen erteilt. Da der Vorwurf Embryonen weltweit durchsetzen der Missachtung dieses Beschlusses laut wurde, bitte ich – Drucksache 15/301 – Sie darum, den Wortlaut dieses Beschlusses – ich habe ihn noch einmal mitgebracht –, der vor dem Hintergrund Überweisungsvorschlag: der Mehrheitsverhältnisse und der internationalen De- Auswärtiger Ausschuss (f) Rechtsausschuss batte gefasst wurde, zu beachten. Ich jedenfalls nehme Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend die drei Aufträge dieses Beschlusses sehr ernst. Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe Erstens. Wir sollen uns für ein möglichst umfassendes Ausschuss für Bildung, Forschung und Klonverbot einsetzen. Zweitens. Wir sollen versuchen, (B) (D) Technikfolgenabschätzung dass dies von möglichst vielen Staaten unterstützt wird. Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Drittens. Wir sollen die Konvention im Rahmen der b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- deutsch-französischen Initiative weiterentwickeln. richts des Ausschusses für Bildung, Forschung Wir haben alles unternommen, diesen Bundestagsbe- und Technikfolgenabschätzung (17. Ausschuss) schluss konsequent umzusetzen. Deshalb kann ich nicht – zu dem Antrag der Abgeordneten Hubert nachvollziehen, dass man uns Missachtung vorwirft. Wir Hüppe, Christa Nickels, René Röspel und wei- haben zunächst in enger Abstimmung mit Frankreich die terer Abgeordneter Initiative aktiv in Richtung eines umfassenden Klonver- bots von Menschen weiterentwickelt. Wir treten jetzt für Forschungsförderung der Europäischen eine Konvention ein, die alle Formen des Klonens ein- Union unter Respektierung ethischer und schließt. Dies unterscheidet sie von der ersten deutsch- verfassungsmäßiger Prinzipien der Mit- französischen Initiative, die vorsah, in zwei Stufen vor- gliedstaaten zugehen. – zu dem Antrag der Abgeordneten Ulrike Flach, Wir haben uns von Anfang an – das werden wir auch Cornelia Pieper, (Hom- weiter tun – für eine möglichst umfassende und verbind- burg) und weiterer Abgeordneter liche Konvention eingesetzt. Das ist sehr wichtig; denn Kein Ausstieg aus der gemeinsamen Verant- das geht meines Erachtens in der Diskussion, die in den wortung für die europäische Stammzellfor- letzten Wochen öffentlich geführt wurde, verloren: Völ- schung kerrecht basiert auf Konsens. Nur so kann es wirklich wirksam werden. Daher haben wir alles versucht und – Drucksachen 15/1310, 15/1346, 15/1725 – werden bis zum Schluss versuchen, möglichst viele Berichterstattung: Staaten für ein internationales Klonverbot oder zumin- Abgeordnete René Röspel dest für die Auftragserteilung zu einer entsprechenden Katherina Reiche Konvention gewinnen. Hans-Josef Fell Wir haben seit dem letzten Jahr im Vorfeld der Ver- Ulrike Flach handlungen mit allen wichtigen Staaten Gespräche ge- Nach interfraktioneller Vereinbarung ist für die Aus- führt, insbesondere mit den USA und den Europäern. sprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Widerspruch Erst am Tag des Beginns der Arbeitsgruppe des sechsten gibt es nicht. Dann verfahren wir auch so. Ausschusses haben wir gemeinsam mit Frankreich 5694 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2003

Staatsministerin Kerstin Müller (A) hierzu ein so genanntes Non-Paper verteilt, das im Zum Schluss kann ich Ihnen aktuell berichten, dass (C) Übrigen nie als Antrag gedacht war. Ziel dieses Non-Pa- sich ein Konsens zurzeit allenfalls für eine prozedurale pers – das möchte ich hier klarstellen – war es, die unter- Lösung abzeichnet, nämlich die Mandatsverhandlungen schiedlichen Vorstellungen einzelner Mitglieder der Ver- nicht abzubrechen, sondern zu verschieben. Das ist nicht einten Nationen zum jetzigen Zeitpunkt, zu dem es noch unsere Präferenz. Wir wollen ein möglichst umfassendes um die Mandatserteilung und nicht – wie ich es heute in Klonverbot möglichst bald erreichen. Aber dies ist im- einer Pressemitteilung von Ihnen, Frau Böhmer, gelesen mer noch besser als eine zahnlose Konvention, der sich habe – um den Text der Konvention selbst geht, zu über- entscheidende Staaten nicht anschließen. brücken und so die Zustimmung der Mehrheit, wenn nicht sogar aller VN-Mitglieder für die Mandatserteilung Ich bin davon überzeugt, dass, wenn es überhaupt zu zu bekommen. einer internationalen Konvention kommt, nur auf dieser Linie der Beschluss des Bundestages tatsächlich in all Ich sage noch einmal sehr deutlich: Uns geht es nicht seinen Aspekten umgesetzt werden kann. Das ist unsere darum, Scheinerfolge zu erzielen, sondern wir wollen Absicht und darum bemühen wir uns. konkrete und wirksame Ergebnisse. Eine Konvention, (Hubert Hüppe [CDU/CSU]: Davon merkt die von den wichtigsten Klonforschungsstaaten nicht un- man aber nichts!) terstützt wird, ist zahnlos und nicht effektiv. Das wäre wie der Abschluss eines Atomwaffensperrvertrages ohne Vielen Dank. die Nuklearstaaten. Das bringt uns international nicht weiter. Das wäre rein symbolische Politik. Deshalb ha- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ben wir uns für den Weg entschieden, der inhaltlich auf der deutschen Rechtslage beruht. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Die Verhandlungen in der Arbeitsgruppe sind bis- Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Maria Böhmer. her ergebnislos verlaufen. Am 21. Oktober werden die (Beifall bei der CDU/CSU) Gespräche fortgesetzt. Wir befinden uns noch nicht in den konkreten Konventionsverhandlungen. Das heißt, Dr. Maria Böhmer (CDU/CSU): die Generalversammlung stimmt nicht über ein Verbot verschiedener Formen des Klonens ab, sondern formu- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! liert erst einmal einen Auftrag. Dabei muss es uns darum Wir treffen uns jetzt zum zweiten Mal in diesem Jahr, gehen, möglichst alle Staaten in die weitere Arbeit ein- um darüber zu beraten, wie wir ein internationales und zubinden. Denn es geht um eine Frage, die das grundle- generelles Klonverbot, Frau Müller, erreichen können. Ich bin sehr froh, dass Sie uns in allen Einzelheiten dar- (B) gende Verständnis unseres Menschseins betrifft. Wir (D) dürfen zum jetzigen Zeitpunkt nicht zulassen, dass sich gelegt haben, wie Sie die Lage sehen, aber ich sage insbesondere die Klonforschungsstaaten aus dem Pro- Ihnen auch: Wir hatten die Erwartung, dass wir zum heu- zess ausklinken. tigen Zeitpunkt ein anderes Ergebnis vonseiten der Bun- desregierung erfahren würden, nämlich ein Ergebnis, das Sie wissen, dass zwei Mandatsentwürfe vorliegen. dem Antrag, den wir im Februar verabschiedet haben, Der eine Entwurf ist von Costa Rica. In der Substanz tatsächlich entspricht. entspricht er unserer Überzeugung, aber mit dem Vorge- hen können wir uns nicht einverstanden erklären; denn (Beifall bei der CDU/CSU) die meisten biotechnologisch wichtigen Staaten werden Uns allen hier ist bekannt, dass die Lage schwierig ist. diese Verhandlungen ablehnen. Der zweite von Belgien Wir haben deshalb damals sehr mit uns gerungen, als wir eingebrachte Entwurf ist für viele Unterstützer des den gemeinsamen Antrag erarbeitet haben, den wir dann Costa-Rica-Entwurfs nicht akzeptabel, insbesondere hier im Deutschen Bundestag mit großer Mehrheit ver- nicht für die USA und auch nicht für uns, weil es dort im abschiedet haben. Ich habe diesen Antrag mitgebracht Kern um das reproduktive Klonen geht. und will noch einmal genauso wie Sie die Punkte durch- Diese beiden konkurrierenden Entwürfe bestätigen gehen; denn wir interpretieren einige Dinge offensicht- unsere Befürchtungen, dass es möglicherweise auf eine lich unterschiedlich. Kampfabstimmung hinauslaufen wird. Eine solche In dem Antrag steht, möglichst viele Staaten sollen Kampfabstimmung würde in eine Sackgasse führen und für eine solche Konvention gewonnen werden. Wir ha- im Übrigen einen negativen Präzedenzfall mit mögli- ben das sehr wohl in dem Bewusstsein formuliert, dass cherweise gravierenden Folgen für die Arbeit des Aus- man nicht jeden Staat dieser Welt hinter eine solche schusses und der Vereinten Nationen insgesamt bedeu- Konvention bringen kann. Denn Sie sagen zu Recht, ten. Ich bitte also darum, sich gut zu überlegen, ob es dass es Staaten gibt, in denen Klonen stattfindet, zum klug ist, sich an Kampfabstimmungen zu beteiligen. Beispiel in Großbritannien, in Schweden, in Israel, in (Beifall der Abg. Ulrike Flach [FDP]) Singapur und nach wie vor in China. Wenn man glaubt, dass ein Ergebnis erst erzielt werden kann, wenn diese Gerade ein von möglichst vielen Staaten getragenes, Staaten hinter eine Konvention gebracht sind, dann läuft möglichst umfassendes Klonverbot ist der Auftrag des man Gefahr, ein inhaltloses Scheinergebnis zu erzielen. Bundestages. Wir wollen eine Spaltung der Staatenge- Eine solche Konvention wird nämlich wirklich ein zahn- meinschaft in dieser zentralen bioethischen Frage ver- loser Tiger sein und das Papier nicht wert sein, auf dem meiden. Deshalb haben wir diesen Weg gewählt. sie geschrieben ist. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2003 5695

Dr. Maria Böhmer (A) (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. gelungen zugrunde liegen und es auf Konsens basiert. (C) Christa Nickels [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Aber wenn Sie den Atomwaffensperrvertrag anführen, NEN]) muss ich Ihnen entgegenhalten, dass er ein anschauli- ches Beispiel dafür ist, wie man schrittweise vorankom- Weiterhin haben wir im Antrag sehr um die Begriff- men kann – und zwar in einem anderen Sinne, als Sie es lichkeit des Klonens gerungen; das war wahrlich nicht meinen. Am Anfang unterzeichneten 43 Staaten dieses einfach. Wir haben niedergelegt, dass es eine Teilidenti- Vertragswerk. Das war der erste Schritt. tät beim Klonen gibt. Wer also darauf zielt, das repro- duktive Klonen weltweit wirksam zu verbieten – ich (Kerstin Müller, Staatsministerin: Bei der Rati- glaube, da gibt es keinen Dissens; es dürfte kaum einen fizierung!) Staat in dieser Welt geben, der dem nicht beipflichtet –, Aber es wurde stufenweise vorgegangen. Das Endergeb- der muss auch das Forschungsklonen oder das so ge- nis ist, dass es heute 178 Signatarstaaten gibt. nannte therapeutische Klonen verbieten, denn beide For- men sind in ihrem Verfahren identisch bis zur Erzeugung Es ist also eine Entwicklung möglich, wenn ein klares des Embryos. Das ist der entscheidende Punkt. In beiden und eindeutiges Signal gesetzt wird. Deshalb fordere ich Fällen entsteht ein Embryo, sodass diejenigen, die die Sie auf – ich bitte Sie geradezu –, ein solches Signal zu Techniken im Bereich des Forschungsklonens oder des senden, indem Sie sich hinter den Vorschlag von Costa so genannten therapeutischen Klonens – ich halte den Rica stellen. Mit der Einbringung eines entsprechenden Begriff nach wie vor für völlig irreführend – verfeinern, Antrags in die Vereinten Nationen würde die gleiche Ab- nicht ausschließen können, dass diese von denjenigen, sicht wie mit dem Beschluss des Deutschen Bundestages die fatalerweise das reproduktive Klonen anstreben, ge- verwirklicht, nämlich ein Verbot des reproduktiven wie nutzt werden. Wer deshalb reproduktives Klonen wirk- des therapeutischen Klonens. Es ist mir schier ein Rätsel, sam verbieten will, muss auch Forschungsklonen verbie- warum man einem solchen Beschluss nicht folgen will. ten. Ausschließlich das kann der Weg sein. Sie haben immer noch die Möglichkeit, dort einen (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- identischen Antrag einzubringen, wenn Sie das für bes- neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – ser halten – ich würde das sehr begrüßen –, sodass eine Dr. Wolfgang Wodarg [SPD]: Das wollen wir klare Linie verfolgt wird. Ich stelle aber auch fest, dass doch alle!) die von Belgien vorgelegte Opting-out-Regelung nicht der richtige Weg sein kann. Ich bin sehr froh, dass wir in diesem Punkt im Bun- destag immer wieder diesen Konsens haben; das möchte Deswegen fordere ich Sie auf: Folgen Sie nicht dem ich auch heute betonen. Ich nehme Sie beim Wort, dass Weg, den Belgien aufzeigt! Denn dieser Weg stellt eine (B) Sie hinter einem solchen Konsens stehen. Das will ich Scheinlösung dar. Folgen Sie vielmehr dem Weg, den (D) gar nicht bestreiten. Trotzdem müssen wir uns darüber der Deutsche Bundestag in großer Mehrheit aufgezeigt streiten, welchen Weg Sie jetzt beschritten haben. Nach- hat! Lassen Sie uns zu einem weltweiten generellen dem der Wechsel vollzogen worden ist und man nicht Klonverbot kommen und lassen Sie dies nicht nachein- mehr hintereinander, sondern zeitgleich verhandelt, stellt ander, sondern in einem Schritt geschehen! sich die Frage, ob das so genannte zweistufige Verfahren im Ergebnis tatsächlich, wie Sie es uns in Aussicht stel- Herzlichen Dank. len, oder nur scheinbar aufgehoben wird. Denn in Ihrem (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Nonpaper, das durch die Welt geisterte, wurde eine klare neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Position zum reproduktiven Klonen – nämlich ein Verbot – formuliert, aber zugleich haben Sie – auch in Interviews, Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: zum Beispiel in der „Frankfurter Rundschau“ – wiederholt festgestellt, dass beim therapeutischen Klonen drei Optio- Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Wolfgang nen vorgesehen sind, und zwar Verbot, Moratorium oder Wodarg. nationalstaatliche Regelungen. Dr. Wolfgang Wodarg (SPD): ( [CDU/CSU]: Was? Aha!) Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolleginnen und Kol- Damit wird es sozusagen in das Belieben des jeweiligen legen! In der kommenden Woche – das haben wir bereits Staates gestellt, wie mit Forschungsklonen und thera- gehört – gehen die Klonverhandlungen in New York in peutischem Klonen umgegangen wird. ihre bisher wichtigste Runde. Denn in dieser Woche wird (Ulrike Flach [FDP]: Das ist der einzige Weg!) sich entscheiden, ob es einen Auftrag geben wird, auf UN-Ebene eine internationale Konvention gegen das Das ist der Stein des Anstoßes. An dieser Stelle kommen Klonen von Menschen zu erstellen. wir nämlich nicht weiter. Wir sind dadurch auf die Situa- tion im Dezember bzw. im Februar zurückgeworfen. Der Deutsche Bundestag hat zu dieser Frage schon am 20. Februar einen Beschluss gefasst, der mit breiter Weil Sie ja hinter der Beschlusslage des Bundes- Mehrheit – und zwar mit den Stimmen der SPD, der tages stehen, fordere ich Sie mit allem Nachdruck auf, Grünen und der CDU/CSU – verabschiedet wurde. Ich darauf hinzuwirken, dass die Bundesregierung auch ge- finde es daher mehr als bedauerlich, liebe Kolleginnen nau diese Beschlusslage umsetzt. Ich verstehe, wenn Sie und Kollegen von der CDU/CSU, dass Sie jetzt aus tak- darauf hinweisen, dass dem Völkerrecht bestimmte Re- tischen Gründen einen alten Antrag aus der Schublade 5696 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2003

Dr. Wolfgang Wodarg (A) hervorgekramt haben und auf die Tagesordnung haben Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: (C) setzen lassen. Wir werden diesen Antrag deshalb ableh- Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des nen. Abgeordneten Lammert? Der Bundestag hat bereits klar und eindeutig eine Po- sition bezogen, die nun bei den Verhandlungen in Dr. Wolfgang Wodarg (SPD): New York umgesetzt werden muss. Dass die Umsetzung Ja, gern. des Bundestagsbeschlusses schwierig werden würde, hat wohl keiner von uns jemals ernsthaft bezweifelt. Der Dr. Norbert Lammert (CDU/CSU): Widerstand einiger Länder gegen ein umfassendes Klon- verbot – gleichgültig, zu welchem Zweck dieses Klonen Herr Kollege Wodarg, haben Sie persönlich den Ein- erfolgen soll – ist in der Tat massiv. Es kommt deshalb druck, dass die Position der Bundesregierung in den lau- darauf an, dass unsere Diplomaten einen ausreichenden fenden internationalen Verhandlungen so glasklar ist wie taktischen Spielraum haben, um das, was beschlossen die Beschlusslage des Bundestages, die Sie gerade worden ist, auch umzusetzen. freundlicherweise noch einmal in Erinnerung gerufen haben? Es muss bei dieser Gelegenheit aber auch klar gesagt (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Na klar!) werden, dass es hinsichtlich des Zieles der diplomati- schen Bemühungen keinen Spielraum gibt. Hier lässt der Beschluss des Bundestages an Deutlichkeit nichts zu Dr. Wolfgang Wodarg (SPD): wünschen übrig. Weil es in letzter Zeit – das war auch Herr Lammert, Sie, der Sie auch internationale Erfah- heute der Fall – Irritationen in diesem Punkt gegeben rungen haben, wissen sehr genau, dass wir alle Möglich- hat, möchte ich die entscheidende Stelle wörtlich zitie- keiten nutzen müssen, um möglichst viele Staaten auf ren, und zwar mit einer Betonung, die deutlich macht, unsere Seite zu ziehen. worauf es hier ankommt: (Thomas Rachel [CDU/CSU]: Ja oder Nein?) III. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesre- Dass das schon jetzt sehr viel Zeit gekostet hat, dass sich gierung in Fortführung seines Beschlusses vom Juli in der Zwischenzeit die Forschung weiterentwickelt hat 2002 auf, und dass es weitere Argumente für unsere Haltung gibt, dass die Zeit also für uns arbeitet, weiß auch die Bundes- – eine VN-Konvention und weitere internationale regierung. Deshalb ist es klug, wenn sie ihre Möglich- Konventionen anzustreben, die sowohl das re- keiten nutzt. (B) produktive wie das so genannte therapeutische (D) Klonen verbieten und darauf zielen, möglichst (Dr. Norbert Lammert [CDU/CSU]: Ich habe viele Staaten für solche Konventionen zu gewin- nicht gefragt, was die Bundesregierung weiß, nen. sondern danach, mit welchem Ziel sie verhan- delt!) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) – Ich habe gesagt, dass die Bundesregierung klug han- delt. Dieser Satz wird von einigen so interpretiert, dass beim (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten so genannten therapeutischen Klonen Abstriche gemacht des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) werden können, um das Ziel zu erreichen, möglichst viele Staaten zu gewinnen. Man braucht allerdings keine Die Bundesregierung kann aus ethischen und verfas- große Meisterschaft im Auslegen von Texten zu besit- sungsrechtlichen Gründen, wie ich bereits sagte, gar kein zen, um zu erkennen, dass diese Interpretation – logi- anderes Ziel als das eines umfassenden Verbots aller scherweise – nicht dem Wortlaut des Beschlusses ent- Formen des Klonens verfolgen. Die Abgrenzung des spricht. reproduktiven Klonens gegenüber dem so genannten therapeutischen Klonen ist bereits ideologisch höchst (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und aufgeladen. Was geschieht denn beim so genannten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) therapeutischen Klonen? Da wird ein Embryo, ein Mensch in der frühesten Phase seiner Existenz, geschaf- Das Ziel, das die Bundesregierung anzustreben aufge- fen, um ihn zu Forschungszwecken sofort wieder zu tö- fordert ist, ist eine Konvention, die das reproduktive ten. Wird dabei etwa kein Mensch „reproduziert“? Wer Klonen und das Klonen zu Forschungszwecken verbie- darauf mit Nein antwortet, wer sagt, dass Reproduktion tet. Für eine solche Konvention – nicht für irgendeine erst gegeben ist, wenn sich der menschliche Embryo zu andere – sollen möglichst viele Staaten gewonnen wer- einem Fötus weiterentwickelt oder geborenen wurde, der den. Daran kann keine noch so kreative Auslegung et- behauptet damit letztlich, dass ein menschlicher Embryo was ändern. gar kein Mensch ist. Genau diese Behauptung ist aber mit dem Menschenwürdekonzept unserer Verfassung Die Bundesrepublik Deutschland kann aus ethischen unvereinbar. und auch aus verfassungsrechtlichen Gründen gar nichts anderes anstreben als ein umfassendes Verbot aller Der gegenwärtig auf UN-Ebene kursierende bel- Formen des Klonens. gisch-chinesische Entwurf, der lediglich ein Verbot des Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2003 5697

Dr. Wolfgang Wodarg (A) so genannten reproduktiven Klonens vorsieht, der aber Das moralisch strengste Land würde das Tempo bestim- (C) nationale Regelungen für das Klonen zu anderen Zwe- men. So kann Europa – das sage ich Ihnen als Vorsit- cken erlauben möchte, ist daher meiner Meinung nach zende des Forschungsausschusses ganz bestimmt – nicht für die Bundesrepublik Deutschland weder akzeptabel bis zum Jahre 2010 zum dynamischsten Forschungsraum noch ist er mit dem Beschluss des Bundestages vom der Welt werden. 20. Februar dieses Jahres vereinbar. Eines darf deshalb nicht passieren: Keinesfalls darf das therapeutische Klo- (Beifall bei der FDP) nen innerhalb einer UN-Konvention durch die ausdrück- Das kann Europa übrigens schon gar nicht, wenn die liche Zulassung nationaler Regelungen auch noch legiti- EU-Länder zukünftig – wie Herr Röspel uns am Mitt- miert werden. woch vorschlug – im Voraus darauf prüfen sollen, wo (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des denn ethische Bedenken auftreten könnten. Das wäre das BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Ende einer jeden schnellen Entwicklung und das Ende eines dynamischen Forschungsstandorts Europa, von Mit einer einfachen Opt-out-Regelung könnten mei- dem wir ja alle träumen. Was sind dann all die Sonntags- ner Einschätzung nach auch diejenigen Staaten leben, reden über eine reformierte EU mit Mehrheitsentschei- die bereits signalisiert haben, nur einem umfassenden dungen und Abbau von Blockaden wert? Man kann nicht Klonverbot zuzustimmen. So könnten wir diese Staaten auf der einen Seite für Mehrheitsentscheidungen im Rat gewinnen; denn mit einer solchen Regelung würde klar- plädieren und auf der anderen Seite für ethische Veto- gestellt, dass sich diejenigen Staaten, die sich einem ge- rechte einzelner Länder. nerellen Klonverbot nicht anschließen wollen, außerhalb des Willens der Weltgemeinschaft stellen. Dieses Ziel Eine Vielzahl der EU-Länder erlaubt die Forschung – das ist mir wichtig – sollten wir anstreben. mit embryonalen Stammzellen. Wir halten deshalb an der gemeinsamen Verantwortung für die europäische Ich bedanke mich. Stammzellforschung fest. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der FDP)

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Ulrike Flach. Frau Kollegin Flach, gestatten Sie eine Zwischen- frage der Kollegin Dominke? Ulrike Flach (FDP): Ulrike Flach (FDP): (B) Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die vor- (D) liegenden Anträge haben eines gemeinsam: Es geht da- Ja, natürlich. rum, ob wir unsere bundesrepublikanischen ethisch-mo- ralischen Maßstäbe absolut setzen oder ob wir zu Vera Dominke (CDU/CSU): Kompromissen fähig sind, Verehrte Frau Kollegin Flach, wir stimmen doch weit- (Dr. Maria Böhmer [CDU/CSU]: Menschen- gehend in der Meinung überein, dass es hier um die würde ist unteilbar!) Frage geht, ob ein Embryo Menschenwürde besitzt. Sind um europäisch und international weiterzukommen. Des- Sie der Ansicht, dass Menschenwürde relativ sein kann, wegen möchte ich auch zuerst etwas zu den anderen An- also nicht nur absolut Geltung besitzt, und an Staatsgren- trägen sagen, die hier heute zur Debatte stehen. zen Halt machen kann? Wenn der Deutsche Bundestag beschließt, die EU dürfe keine Fördermittel für Forschung an embryona- Ulrike Flach (FDP): len Stammzellen vergeben, weil diese Forschung in Liebe Frau Dominke, wir befinden uns hier im euro- Deutschland unzulässig sei, dann heißt das vor allem päischen Raum. Wir haben es mit unterschiedlichen ethi- eines: Andere Länder werden in Zukunft ihre ethischen schen Auffassungen zu tun. Allein neun Länder erlauben Maßstäbe natürlich ebenso absolut setzen, wie wir das genau das, was wir in Deutschland nicht erlauben. Wir heute tun. Wer wollte ihnen dieses Recht nehmen? Dann können es mit unserer nationalen Rechtsprechung, mit werden wir erleben, dass ethisch-moralische Auffassun- unserer nationalen Gesetzgebung natürlich so halten, gen zum Tierschutz, zur Sterbehilfe oder zu Schwanger- wie wir wollen; daran hindert uns keiner. Wenn in ande- schaftsabbrüchen zukünftig gemeinsame europäische ren EU-Mitgliedstaaten Forschung in bestimmten Berei- Forschung verhindern. chen betrieben wird, Frau Dominke, muss diese nicht (Hubert Hüppe [CDU/CSU]: Aber das finan- auch hier in Deutschland betrieben werden. Das ist nicht ziert doch keiner!) die Frage. Es geht vielmehr darum, ob wir in einem Europa mit in Zukunft 25 Staaten noch eine gemeinsame – Lieber Herr Hüppe, es gibt kein deutsches Geld in Forschungspolitik ermöglichen wollen. einem EU-Topf mehr; lassen Sie sich vom Kollegen Hintze aufklären. – Das führte zu einer ernsten Bedro- (Beifall bei der FDP) hung des Forschungsraums einer erweiterten EU mit Lassen Sie mich zum Abschluss noch etwas zu dem 25 Staaten. Antrag der CDU/CSU zum Thema Klonen sagen. (Beifall bei der FDP) Hier gilt genau wie in dem Bereich, den ich eben 5698 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2003

Ulrike Flach (A) angesprochen habe, dass Sie Maßstäbe setzen, die Sie in- Richtung vor – aus. Dieser Antrag plädiert also für voll- (C) ternational nicht erfüllen können. ständige Offenheit. Das ist ein Problem. Dadurch ist der Antrag Belgiens und anderer Staaten in keiner Weise zu- (Thomas Rachel [CDU/CSU]: Sie versuchen stimmungsfähig. Das muss man ganz klar sagen. es ja noch nicht einmal!) Ich finde, dass Frau Müller das eben sehr realistisch dar- (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- gestellt hat. Der Forschungsausschuss war ja in New SES 90/DIE GRÜNEN, der SPD und der York und hat sich das erläutern lassen. Sie werden mit CDU/CSU) Ihrer Maxime, höchste Ansprüche zu stellen, auf der Im Raum steht die Drohung, dass sich einige Staaten Welt nichts, aber auch gar nichts erreichen. Sie werden an Verhandlungen auf der Basis des jeweils anderen An- erst recht nicht das erreichen, was Sie erreichen wollen, trags nicht beteiligen werden. Diese schwierige Situation nämlich das Verbot des Klonens, hinter dem natürlich lässt sich unseres Erachtens nur bewältigen, wenn ein auch wir Liberale stehen. Sie werden aber auf dieser Verhandlungsauftrag erteilt wird, in den beide Anträge Welt nicht zurecht kommen, wenn Sie die Kunst des einbezogen werden, damit auf dieser Grundlage bis 2004 Kompromisses missachten. Die CDU/CSU-Fraktion – es versucht wird, eine möglichst große Schnittmenge zu er- tut mir Leid, liebe Kolleginnen und Kollegen, das sagen reichen. Eine kontroverse Abstimmung zu Beginn des zu müssen – ist gerade dabei, dies zu tun. Verhandlungsprozesses wäre ungewöhnlich und würde (Beifall bei der FDP – René Röspel [SPD]: viele Staaten vom Verhandlungstisch drängen. Scharfe Angriffe!) Unsere Priorität ist also ganz klar: einen Auftrag zu einem Verhandlungsprozess zu erteilen, an dem sich sehr Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: viele, möglichst alle Staaten beteiligen können. Wir for- Das Wort hat der Abgeordnete Reinhard Loske. dern die Bundesregierung für den Fall, dass es doch zu einer Kampfabstimmung kommt – wir fänden das Dr. Reinhard Loske (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- schlecht –, auf, dass sie dem Antrag Belgiens und ande- NEN): rer Staaten – jedenfalls nicht in der jetzigen Form – nicht zustimmt; denn er spricht sich unter anderem für natio- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und liebe Kolle- nale Regelungen ohne irgendeine Form der Qualifizie- gen! Frau Flach, es handelt sich hier nicht um eine bio- rung aus. Das würde – ich sagte es bereits – vollständige politische Debatte nach dem Motto „Am deutschen We- Offenheit bedeuten. sen soll die Welt genesen“, sondern um die Unteilbarkeit der Menschenrechte. Ich glaube, das ist ein wichtiger Der Antrag Costa Ricas und anderer Staaten wäre (B) Unterschied. – das ist gar keine Frage; darüber müssen wir nicht lange (D) reden – vom Inhalt her zustimmungsfähig. Was er diplo- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, matisch bedeutet, wird zu beurteilen sein. Wir beobach- bei der SPD und der CDU/CSU) ten diesen Prozess. Die Bundesregierung wird ihre Posi- Mir stehen nur wenige Minuten zur Verfügung. So tion – da habe ich Vertrauen – eindeutig auf der lassen Sie mich Folgendes sagen: Am 20. Februar 2003 Grundlage des Bundestagsbeschlusses einnehmen. haben wir erstens den Wechsel von einem zweistufigen Verfahren zu einem einstufigen Verfahren beschlossen. Zum Schluss möchte ich auf das 6. EU-Forschungs- Wir waren nämlich der Meinung, dass ein zweistufiges rahmenprogramm zu sprechen kommen. Dieses Verfahren diplomatisch nicht zum Erfolg geführt und im Thema hätte wahrlich eine vertiefte Beratung verdient. Prinzip unter der Hand eine Legitimation des therapeuti- Man muss ganz klar sagen: Die Vorschläge von EU- schen Klonens zum Ergebnis gehabt hätte. Zweitens ha- Kommissar Busquin sind für uns vollkommen unakzep- ben wir uns für ein umfassendes Verbot aller Formen des tabel. Klonens entsprechend der deutschen Rechtslage einge- (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- setzt. Drittens sollten für diesen Ansatz möglichst viele SES 90/DIE GRÜNEN, der SPD und der Staaten gewonnen werden. CDU/CSU) Positiv ist, dass wir jetzt bei einem einstufigen Ver- Frau Böhmer, es war für mich wirklich sehr interes- fahren sind. Es wird über das Klonen an sich geredet. sant, als auf unserer Veranstaltung Professor Schöler von Man verfährt nicht nach dem Motto: „Erst einmal das re- der Pennsylvania State University – es handelt sich um produktive Klonen behandeln und später – am Sankt- einen Wissenschaftler, der auf diesem Feld arbeitet – von Nimmerleins-Tag – das therapeutische Klonen; vielmehr sich aus sagte, eine Stichtagsregelung, also die Be- werden beide Formen des Klonens zusammen behandelt. schränkung auf ein Dutzend vorhandener Stammzellli- Die Situation ist dadurch schwierig geworden, dass nien und damit keine weitere Öffnung, sei auch wissen- zwei verschiedene Anträge vorliegen: Der Antrag von schaftspolitisch vernünftig, denn wenn in Tokio, in Costa Rica und anderen Staaten spricht sich für einen to- München, in New York oder wo auch immer nur an den talen Bann aus. Der Antrag von Belgien und anderen vorhandenen Linien geforscht wird, wären die wissen- Staaten fordert dagegen das Verbot des reproduktiven schaftlichen Ergebnisse vergleichbar. Das heißt, wir Klonens. Was das therapeutische Klonen angeht, spricht müssen in dieser Angelegenheit keine Schleusen öffnen. er sich entweder für einen Bann oder für ein Moratorium Wir setzen uns deshalb für eine Stichtagsregelung im oder für nationale Regelungen – er gibt dabei keine Hinblick auf die Forschung an embryonalen Stammzel- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2003 5699

Dr. Reinhard Loske (A) len – nicht an Embryonen – in der Europäischen Union die wir aus ethischen Gründen, wegen unserer Verfas- (C) ein. sung und der Rechtslage bei uns nicht mitgehen können. Das gibt Anlass zur Besorgnis. Aber wir suchen den Di- Danke schön. alog mit diesen Partnerstaaten. Wir wissen, dass wir die nationale Gesetzgebung und Praxis in diesen Partner- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: staaten von hier aus nicht direkt beeinflussen können. Es Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Hubert Hüppe. wäre aber von noch ganz anderer Qualität, wenn wir mit deutschen Steuergeldern mittelbar die verbrauchende Hubert Hüppe (CDU/CSU): Embryonenforschung in diesen Ländern unterstützten. Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Aus der (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der Mitte dieses Hauses haben wir fraktionsübergreifend un- SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- seren Antrag zum 6. EU-Forschungsrahmenprogramm NEN) eingebracht. Damit wollen wir noch einmal verdeutli- Wir wollen mit unserem fraktionsübergreifenden An- chen, dass der Deutsche Bundestag solche Forschungs- trag einen Beitrag dazu leisten, dass nach Ablauf des vorhaben ablehnt, die in Deutschland sogar mit Frei- Moratoriums eine Regelung getroffen wird, die mit un- heitsstrafe – Frau Flach, das will ich hier noch einmal serer Rechtslage und unseren Interessen vereinbar ist. deutlich machen – geahndet werden können. Ich weise ausdrücklich darauf hin, Frau Flach, dass un- (Ulrike Flach [FDP]: Es hindert Sie ja keiner ser Antrag das Prinzip der Mehrheitsentscheidung bei dran! forschungspolitischen Entscheidungen der EU nicht in- frage stellt. Wir wollen der Bundesregierung heute bei dem Be- streben den Rücken stärken, europäische Partner für eine (Ulrike Flach [FDP]: Natürlich tut er das!) Sperrminorität zu finden, damit nicht mit europäischen Steuergeldern menschliche Embryonen zu Forschungs- – Nein, das tut er nicht. Es geht uns auch nicht um allge- zwecken getötet werden. meine Forschungsvorhaben, sondern nur um den sensib- len Bereich der Biomedizin. (Dr. Wolfgang Wodarg [SPD]: Den Rücken stärken, das solltet ihr häufiger machen!) (Ulrike Flach [FDP]: Das ist doch der Anfang vom Ende!) – Nicht immer gibt man uns so viel Grund dazu. Das steht in unserem Antrag. Lesen Sie ihn sich durch! Ein großer finanzieller Anteil des europäischen Bei- tragsaufkommens wird von Deutschland erbracht. In Weil wir diese Argumentation schon kannten, haben (B) (D) dem sensiblen Bereich der Bioethik stellen wir innerhalb einige der Initiatoren im Ausschuss ja auch noch einen Deutschlands höchste Anforderungen im Hinblick auf Änderungsantrag eingebracht, der genau das klarstellt. die Einhaltung der Menschenwürde. Deshalb wäre es Sie sollten nicht versuchen, etwas anderes hineinzuinter- für die Bürgerinnen und Bürger in Deutschland kaum pretieren. verständlich, wenn wir eine EU-Förderung der verbrau- Der Antrag vonseiten der FDP ist für mich sehr chenden Embryonenforschung mit deutschen Steuergel- schwer nachvollziehbar. Er benachteiligt den For- dern unwidersprochen hinnehmen würden. schungsstandort Deutschland; das muss man einmal so (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- deutlich sagen. neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE (Ulrike Flach [FDP]: Warum das denn?) GRÜNEN) Die Mittel nämlich, die für diese Forschung ausgegeben Im Übrigen bekommen wir auch oft genug zu hören, werden, stehen deutschen Forschern nicht zur Verfü- dass es dem europäischen Gedanken schadet, wenn man gung, weil hier aufgrund unserer Verfassung und unseres nicht auf die Menschenwürde, so wie wir sie verstehen, Strafrechts solche Forschungsvorhaben nicht durchge- Rücksicht nimmt. führt werden dürfen. Das betrifft auch den Bereich der Wir hätten es auch begrüßt – das darf ich an dieser Bio- und Gentechnologie. Stelle sagen –, wenn die deutschen EU-Kommissare, (Ulrike Flach [FDP]: Da sehen Sie doch, wie Frau Schreyer und Herr Verheugen, dem Vorhaben der Sie uns wettbewerbsmäßig schaden!) EU-Kommission nicht zugestimmt hätten. – Nein! – Deswegen bitte ich Sie, meine Damen und (Dr. Maria Böhmer [CDU/CSU]: So ist es! – Herren, unserem Antrag zuzustimmen und so ein deutli- Thomas Rachel [CDU/CSU]: Wohl wahr!) ches Signal zu setzen. Wir hätten es begrüßt, wenn Frau Schreyer und Herr (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem Verheugen gezeigt hätten, dass sie sich dem Menschen- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) würdeverständnis des Grundgesetzes und dem Geist un- serer Gesetze verpflichtet fühlen. Es ist schon häufiger über die internationale Konven- tion zum Verbot des Klonens gesprochen worden. Es (Beifall bei der CDU/CSU) wurde auch deutlich gesagt, dass der Beschluss, den wir Wir wissen, dass einige Partnerstaaten in der EU bei im Februar gefasst haben, unmissverständlich ist. Umso der verbrauchenden Embryonenforschung Wege gehen, unverständlicher ist für uns, wie verhandelt worden ist. 5700 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2003

Hubert Hüppe (A) Aus meiner Sicht wurde das Verfolgen unserer gemein- René Röspel (SPD): (C) samen Ziele nicht so deutlich, wie Sie, Frau Müller, es Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und eben dargestellt haben. Wenn jedes Klonen menschlicher Herren! Vor etwa zwei Jahren haben wir in der Bundes- Embryonen die Menschenwürde verletzt, dann kann und republik mit viel Ernst eine sehr breite und tief gehende darf es keine Konvention geben, die das Klonen zu gesellschaftliche Diskussion über die Fragen von Bio- Fortpflanzungszwecken verbietet, aber das Klonen zu ethik und Gentechnologie geführt. Eine der zentralen einem anderen Zweck einer wie auch immer gearteten Fragen, die immer wieder gestellt wurden, lautete: Darf nationalen Regelung anheim gibt. Wenn es um die Men- man mit Embryonen forschen? Darf man Embryonen zu schenwürde auf der einen Seite und um einen Verstoß Forschungszwecken zerstören? gegen die Menschenwürde auf der anderen Seite geht, dann kann es keinen Konsens geben. Diese gesellschaftliche Diskussion ist in die Debatte des Deutschen Bundestages am 30. Januar 2002 einge- (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. gangen. Der Deutsche Bundestag hat mit großer Mehr- Christa Nickels [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- heit beschlossen, das Embryonenschutzgesetz von 1990 NEN]) zu bestätigen: In Deutschland soll kein Embryo zu For- schungszwecken zerstört werden. Nach dem, was Sie als Schritt drei angekündigt ha- ben, betrachten Sie schon eine nationale Regelung als (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Erfolg. Was bedeutet das? Wie soll eine solche nationale Im Rahmen dieser Debatte ist es aber auch zu einem Regelung aussehen? Würde schon eine zahlenmäßige Kompromiss gekommen, nämlich zu dem Stammzellge- Begrenzung oder eine Meldepflicht ausreichen, um dem setz: Unter ganz bestimmten, engen Bedingungen wol- Gebot einer solchen Konvention Genüge zu tun? len wir Stammzelllinien, die bereits in der Welt exis- tieren, den deutschen Forschern zur Verfügung stellen. Meine Damen und Herren, in dem Beschluss steht, – Das widersprach aber nicht dem gefassten Grundsatz. dass „möglichst viele Staaten“ ein Klonverbot unterstüt- zen sollen. Aber es steht auch genau darin, wie diese Im selben Jahr wurde aber das 6. EU-Forschungs- Konvention aussehen soll: Sie soll jeden Zweck des Klo- rahmenprogramm verabschiedet, in dem europäische nens verbieten; jede Erzeugung eines menschlichen Forschung gebündelt, geregelt und organisiert werden Klons soll verboten werden. Da darf es aus meiner Sicht soll. Das ist gut so und das ist auch sinnvoll. Aber es gibt keine Kompromisse geben. eben ein Problem: In diesem Rahmenprogramm soll auch die Forschung an und mit Embryonen gefördert Es wird behauptet, wenn diese Konvention Geltung werden. Das hieße konkret: Es dürfte mit europäischen (B) bekäme, hätte sie keine Konsequenzen. Immerhin unter- Geldern gefördert und erforscht werden, was in Deutsch- (D) stützen jetzt 53 Länder den Entwurf Costa Ricas. Eine land verboten ist. echte Antiklonkonvention würde maßgebliche Absatz- Die Bundesregierung hat deshalb den Bundestagsbe- märkte für Produkte aus geklonten Embryonen versper- schluss vom 30. Januar 2002 umgesetzt und sich erfolg- ren. reich für ein europäisches Moratorium in diesem Be- (Vorsitz: Vizepräsident Dr. Hermann Otto reich eingesetzt, Solms) (Beifall bei der SPD) Mögliche Investoren würden sich mit ihrem Kapital ei- das am Ende des Jahres abläuft. Mit unserem Gruppen- nem anderen Bereich der Biotechnologie zuwenden. antrag, dessen Unterstützer aus allen Fraktionen außer Junge Wissenschaftler würden nicht eine perspektivlose der FDP kommen, fordern wir die Europäische Kommis- Richtung einschlagen, die nicht nur in Deutschland, son- sion auf, davon Abstand zu nehmen, die Forschung an dern auch in wichtigen Hochtechnologieländern wie den Embryonen finanziell zu fördern. USA illegal ist. Nun wird immer wieder behauptet – auch Frau Flach Deshalb darf ich Sie noch einmal auffordern: Unter- hat das heute wieder getan –, wir wollten den anderen unsere Ethik aufzwingen. Das ist nicht der Fall. stützen Sie den Antrag von Costa Rica oder machen Sie zumindest deutlich, dass Sie, wenn es zu einer Abstim- (Ulrike Flach [FDP]: Was denn sonst?) mung kommt, diesem Antrag zustimmen, der letztend- lich unserem nationalen Recht entsprechen würde! Das ist schlicht und einfach falsch. Wenn Großbritannien weiter an Embryonen forschen will, dann kann und soll Vielen Dank. es das tun. Wir wollen lediglich, dass mit deutschen und europäischen Mitteln nicht gefördert wird, was wir als (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Ausfluss einer langen Debatte in Deutschland verboten der SPD sowie beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- und nicht zugelassen haben. NEN) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der Vizepräsident Dr. : CDU/CSU) Das Wort hat jetzt der Kollege René Röspel von der Weiter wird behauptet – das haben wir auch im For- SPD-Fraktion. schungsausschuss erleben können –: Wenn wir das nicht Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2003 5701

René Röspel (A) fördern, fällt Europa in der Forschung gegenüber den aus der gemeinsamen Verantwortung für die europäische (C) USA zurück. Da muss man sich fragen: Geht es denn um Stammzellforschung“. Wer stimmt für diese Beschluss- gewaltige Teilbeträge dieser 17,5 Milliarden Euro, die empfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – das Forschungsprogramm zur Verfügung stellen soll? Die Beschlussempfehlung ist mit dem gleichen Stim- Laufen da viele Forschungsprojekte, die nicht gefördert menverhältnis wie zuvor angenommen. werden können? Ich rufe jetzt Tagesordnungspunkt 14 auf: Dem ist nicht so. Seit dem ersten Aufruf zum 6. EU- Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat einge- Forschungsrahmenprogramm sind drei Anträge auf För- brachten Entwurfs eines Gesetzes über eine einma- derung von Forschung an embryonalen Stammzellen ge- lige Entschädigung an die Heimkehrer aus dem Bei- stellt worden. Alle drei Anträge sind aus wissenschaftli- trittsgebiet (Heimkehrerentschädigungsgesetz) chen Gründen abschlägig beschieden worden. Das heißt, es gibt nicht einmal einen Antrag auf Förderung eines – Drucksache 15/407 – solchen Projekts. Selbst wenn es kein Moratorium gäbe, (Erste Beratung 28. Sitzung) würde der Mittelabfluss 0 Euro betragen; letztlich ist dies eine Diskussion über 0 Euro. Allein aus diesem a) Beschlussempfehlung und Bericht des Innenaus- Grund ist noch weniger verständlich, dass die EU-Kom- schusses (4. Ausschuss) mission hier einen Konflikt generiert, der nicht notwen- dig ist, der nicht wünschenswert ist und der nicht einmal – Drucksache 15/1625 – mit Nachfrage belegt werden kann. Berichterstattung: Abgeordnete Gerold Reichenbach (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Hartmut Büttner (Schönebeck) Aus diesem Grund möchte ich Sie ganz herzlich bit- Silke Stokar von Neuforn ten, nicht nur unserem Gruppenantrag, sondern auch Dr. Max Stadler dem mit einer Dreiviertelmehrheit gefassten Beschluss b) Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss) des Bundestagsausschusses für Forschung, Bildung und gemäß § 96 der Geschäftsordnung Technikfolgenabschätzung zu folgen und die embryo- nale Stammzellenforschung auf europäischer Ebene – Drucksache 15/1626 – nicht finanziell fördern zu lassen. Berichterstattung: Vielen Dank. Abgeordnete Steffen Kampeter Klaus Hagemann (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE (B) GRÜNEN und der CDU/CSU) (D)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre Ich schließe die Aussprache. keinen Widerspruch; dann ist so beschlossen. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Ich eröffne die Aussprache. Das Wort als erster Red- Drucksache 15/301 an die in der Tagesordnung aufge- ner hat der Parlamentarische Staatssekretär Fritz Rudolf führten Ausschüsse vorgeschlagen. Abweichend von der Körper. Tagesordnung soll die Vorlage federführend im Auswär- tigen Ausschuss beraten werden. Sind Sie damit einver- standen? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so Fritz Rudolf Körper, Parl. Staatssekretär beim Bun- beschlossen. desminister des Innern: Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Be- Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus- zeichnung des Gesetzentwurfs des Bundesrats über eine schusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenab- einmalige Entschädigung an die Heimkehrer aus dem schätzung auf Drucksache 15/1725. Der Ausschuss emp- Beitrittsgebiet trägt sozusagen den Irrtum auf der Stirn. fiehlt unter Nr. 1, den Antrag der Abgeordneten Hubert Denn das, was der Gesetzentwurf angeblich für die Hüppe, Christa Nickels, René Röspel und weiterer Ab- Heimkehrer im Beitrittsgebiet nachholen will, war keine geordneter auf Drucksache 15/1310 mit dem Titel „For- Entschädigung, sondern eine Eingliederungshilfe. schungsförderung der Europäischen Union unter Re- spektierung ethischer und verfassungsmäßiger (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Prinzipien der Mitgliedstaaten“ in der Ausschussfassung BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh- Diese wurde bereits 1992 bei den Heimkehrern im Bei- lung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die trittsgebiet mit Rücksicht auf die längst vollzogene Ein- Beschlussempfehlung ist damit mit den Stimmen der gliederung der Betroffenen nicht mehr für erforderlich Koalitionsfraktionen und der CDU/CSU gegen die Stim- gehalten. men der FDP angenommen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Unter Nr. 2 empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Abgeordneten Ulrike Flach, Cornelia Der gesamtdeutsche Gesetzgeber hat vor rund zehn Pieper, Christoph Hartmann und weiterer Abgeordneter Jahren im Rahmen des Kriegsfolgenbereinigungsgeset- auf Drucksache 15/1346 mit dem Titel „Kein Ausstieg zes eine sachlich richtige Entscheidung getroffen. Er hat 5702 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2003

Parl. Staatssekretär Fritz Rudolf Körper (A) das mit Maßgaben auf das Beitrittsgebiet übergeleitete rechts hervorgerufen. Diese Spaltung der betroffenen (C) Kriegsgefangenenentschädigungsgesetz mit Wirkung Gruppen ist nicht wieder gutzumachen. vom 1. Januar 1993 aufgehoben, weil er zu Recht der Auffassung war, dass durch den Beitritt als solchen Auch aufgrund der letztlich nicht kalkulierbaren Kos- keine Eingliederungssituation für ehemalige Kriegsge- ten hält die Bundesregierung eine neue Entschädigungs- fangene entstanden war, der durch die Leistungen nach regelung für nicht vertretbar. Schon die Zahl der unmit- dem Kriegsgefangenenentschädigungsgesetz hätte be- telbar vom Gesetzentwurf Begünstigten lässt sich nur gegnet werden müssen. schwer schätzen und ist daher nicht zuverlässig. Solche Schätzungen liegen für die Geltungskriegsgefangenen Das vom Bundesrat behauptete Gerechtigkeitspro- nicht einmal vor. Im Übrigen wären die durch diesen blem, das unter dem Gesichtspunkt der Vollendung der Präzedenzfall entstandenen Folgekosten zur Entschädi- inneren Einheit Deutschlands ausgeräumt werden gung von Zwangsarbeitern haushaltspolitisch nicht zu müsste, existiert nicht. verantworten. Schon 1966 hat der damalige Bundes- kanzler in seiner Regierungserklärung festgestellt: (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Die Gesetzgebung über die Abwicklung von Kriegs- und Nachkriegsfolgen sollte abgeschlossen Eine Benachteiligung der Heimkehrer im Beitrittsgebiet werden. Die Finanzlage des Bundes beweist, dass hat im Vergleich zu den in den damaligen Geltungsbe- wichtige Aufgaben der Zukunftsvorsorge sträflich reich des Gesetzes zurückgekehrten ehemaligen Kriegs- vernachlässigt werden, wenn die kommenden Jahre oder Geltungskriegsgefangenen nicht stattgefunden; durch neue Zahlungen für die Vergangenheit belas- denn bei den Heimkehrern im Beitrittsgebiet hat wegen tet würden. Zeitablaufs zum Zeitpunkt des Beitritts eine vergleich- bare Eingliederungssituation nicht mehr vorgelegen. (Dr. Max Stadler [FDP]: Gefährliches Zitat!) Trotz der vielleicht nicht ganz glücklichen Bezeich- – Es sind aber die Worte des Bundeskanzlers Kurt Georg nung Kriegsgefangenenentschädigungsgesetz bleibt fest- Kiesinger. zuhalten, dass die Leistungen nach diesem Gesetz vor- nehmlich Eingliederungszwecken dienten. Wer dies Es gibt folglich keinen sachlichen Grund, nicht an nicht erkennen will, dem sei beispielsweise die Lektüre dem 1969 eingeführten und bewährten Stiftungsmodell der Gesetzesmaterialien zur vierten Novelle des festzuhalten, das Unterstützungsleistungen in Fällen Kriegsgefangenenentschädigungsgesetzes empfohlen. wirtschaftlicher Notlagen erlaubt. Soweit bei der Heim- kehrerstiftung im laufenden Haushaltsjahr Finanzeng- Einen Paradigmenwechsel derart, dass aus Eingliede- pässe auftreten, werden wir diese weitgehend ausräu- (B) rungshilfen nachträglich eine Entschädigung gemacht men. Das haben wir in die Wege geleitet und das wollen (D) würde, hält die Bundesregierung weder für nachvoll- wir auch im Jahr 2004 so handhaben. Nach unserem Da- ziehbar noch für gerechtfertigt. fürhalten ist das der richtige Weg, mit diesem Thema umzugehen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Mit einer neuen Entschädigungsregelung würde ein DIE GRÜNEN) Gleichbehandlungsproblem vielmehr erst entstehen. Das haben offenbar auch die Initiatoren des Gesetzent- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: wurfs erkannt; denn dort wird ausdrücklich die Entschä- Das Wort hat der Kollege Hartmut Büttner von der digung von Zwangsarbeit für Drittstaaten als eines der CDU/CSU-Fraktion. Regelungsziele angegeben. Zwangsarbeit von Deut- schen für Drittstaaten ist indessen stets als allgemeines Kriegsfolgenschicksal bewertet worden, mit dem sich Hartmut Büttner (Schönebeck) (CDU/CSU): die Sozialgesetzgebung befasst hat, vornehmlich im Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Bundesversorgungsgesetz. Diese Diskussion werden wir Herren! Die Entschädigung von Spätheimkehrern, wel- mit Sicherheit bei der Behandlung des Antrages der che auf das Gebiet der früheren DDR entlassen worden CDU/CSU zur Entschädigung deutscher Zwangsarbeiter sind, ist wahrlich kein Ruhmesblatt für den Deutschen fortsetzen. Bundestag. Ich bedaure insbesondere, dass – wie nicht zuletzt die (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) vom Innenausschuss am 26. Juli dieses Jahres durchge- führte öffentliche Sachverständigenanhörung gezeigt hat Wie ich immer wieder betont habe, kann ich auch meine – bei den betroffenen Menschen auf der Grundlage die- eigene Fraktion von diesem Vorwurf nicht ausnehmen. ses Paradigmenwechsels die Vorstellung genährt wor- Allerdings ging auch von allen anderen Fraktionen des den ist, ungerecht behandelt worden zu sein. Deutschen Bundestages niemals eine für die Heimkehrer positive Initiative aus. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Wir alle gemeinsam haben also zu verantworten, dass die betroffenen Menschen bisher im Stich gelassen wur- Zugleich wurden bei ihnen unbegründete Erwartungen den. Aus diesem Grund habe ich bei den Beratungen des hinsichtlich einer Korrektur dieses vermeintlichen Un- Innenausschusses immer wieder angemahnt, die sonst Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2003 5703

Hartmut Büttner (Schönebeck) (A) üblichen parteitaktischen Schuldzuweisungsrituale an Diese Anhörung hat uns in vielen Bereichen neue Er- (C) dieser Stelle zu unterlassen. kenntnisse geliefert, so zur Zahl der Berechtigten. Die Zahlen, die uns vorliegen, sind in einer offiziellen Mit- (Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast [SPD]: Hof- teilung des Präsidenten des Statistischen Bundesamtes fentlich halten Sie sich daran!) enthalten. 1998 ging das Bundesamt von insgesamt Das war leider nicht immer der Fall. 50 000 berechtigten Personen aus. Aufgrund der hohen Sterblichkeitsquote – sie kann den Statistiken des Heim- Wie wir in der sehr beeindruckenden Anhörung fest- kehrerverbandes entnommen werden – leben jetzt nur stellen konnten, ist das die allerletzte Chance für die von noch 24 000 ehemalige Kriegsgefangene und nur noch der Geschichte so hart gebeutelten Menschen, eine Ent- etwa 14 000 so genannte Geltungskriegsgefangene. Da- schädigungsleistung des demokratischen Deutschlands bei handelt es sich um verschleppte Zivilpersonen mit ei- erleben zu können; denn die jüngsten Berechtigten sind nem gleichartigen Schicksal. Aufgrund dieser Zahlen 80 Jahre alt. Für mich war diese Anhörung auch deshalb kann man sagen, dass die Entschädigungszahlung den so aufschlussreich und interessant, weil immerhin mehr Bund jetzt nur noch 22 Millionen Euro kosten würde. Es als 250 von diesen über 80-Jährigen nach Berlin kamen. fällt an dieser Stelle sehr schwer, unter dem Eindruck der Sie wollen eine Entschädigung; sie wollen Gleichbe- immer weiter zurückgehenden Zahlen nicht zynisch zu handlung und sie wollen Gerechtigkeit in diesem werden. Deutschland erfahren. Neue Erkenntnisse gab es in der Anhörung auch (Beifall bei der CDU/CSU) durch einen Beitrag unseres Kollegen und stellvertreten- Ich will zur Verdeutlichung sagen: Bei den Spätheim- den Vorsitzenden der SPD-Bundestagsfraktion Hans- kehrern handelt es sich um Kriegsgefangene, die mehr Joachim Hacker, der darlegte, dass es für die Zwangsde- als zwei Jahre in fremdem Gewahrsam waren. Für portierten aus den früheren deutschen Ostgebieten längst Kriegsgefangene, die in das westliche Deutschland ent- eine Regelung gegeben habe. Die Geltungskriegsgefan- lassen worden sind, gab es in der Tat eine Entschädi- genen wie die besonders bestialisch gequälte Frau gung. Den Kriegsgefangenen, die in das östliche Nowacki hätten einen Anspruch auf Leistungen aus dem Deutschland entlassen worden sind, erging es anders. Fonds der Stiftung für politische Häftlinge. Herr Die Entschädigung im Westen war bei einer Höhe von Hacker erweckte den Eindruck, durch Gesetzesänderun- 12 000 DM gedeckelt. Menschen mit dem gleichen gen und durch eine Aufstockung des Stiftungsbetrages Schicksal, die in die SBZ oder in die spätere DDR ent- hätte es bei etwas mehr Pfiffigkeit der Antragstellerin lassen worden sind, erhielten hingegen außer 50 Ost- längst zu einer Entschädigung kommen können. mark keinerlei weitere Entschädigung. Im Gegenteil: Sie (B) Doch leider weit gefehlt! Welche Enttäuschung, als (D) mussten in ihrem Leben den verbrecherischen Krieg der wir feststellten, dass uns im Wesentlichen finanzielle braunen Diktatur doppelt und dreifach bezahlen. Wir ha- Luftschlösser und Trugbilder als Alternativen vorgegau- ben erschütternde Beispiele und Berichte in der Anhö- kelt worden sind! Denn Realität ist: Derzeit warten mehr rung gehört, welchen Pressionen diese Menschen in der als 800 anerkannte politische DDR-Häftlinge auf Unter- roten Diktatur der DDR ausgesetzt waren. stützung. Wie soll da eine Leistung für eine neue Gruppe (Klaus Brähmig [CDU/CSU]: So ist es!) wie die Geltungskriegsgefangenen zusätzlich zu finan- zieren sein Nun haben wir gehört, dass Vertreter der Regierungs- koalition dem Wunsch nach einer Entschädigung mit (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- dem Argument widersprechen, im Westen habe es sich neten der FDP – Abg. Hans-Joachim Hacker um eine Eingliederungshilfe gehandelt. Aber, lieber [SPD] meldet sich zu einer Zwischenfrage) Herr Körper, der Text des Kriegsgefangenenentschädi- – ich möchte im Gesamtzusammenhang vortragen –, zu- gungsgesetzes von 1954 spricht eine ganz andere Spra- mal die Heimkehrerstiftung mit dem Rücken an der che. Da heißt es in § 3: Für das Festhalten im ausländi- Wand steht und ihre ureigenen Aufgaben überhaupt schen Gewahrsam wird eine Entschädigung gewährt. nicht finanzieren kann, wie in der Anhörung mehrfach (Zuruf von der CDU/CSU: Hört! Hört!) deutlich wurde? Nun sagen Sie: Das ist der Wortlaut des Gesetzes, aber Als dritter Pfeiler Ihrer sehr dünnen Argumentation, vom Charakter her war das Kriegsgefangenenentschädi- lieber Herr Körper, bleibt also nur noch übrig, dass mit gungsgesetz eben nur eine Hilfe zur Eingliederung in die der Entschädigung für die Spätheimkehrer ein erneuter westdeutsche Gesellschaft. Liebe Kolleginnen und Kol- Präzedenzfall geschaffen worden wäre. Aber das ist ein legen, diese Argumentation wird allein durch die puren reines Scheinargument. Andere Gruppen aus den neuen Fakten widerlegt. Ein erstes Gesetz wurde nämlich erst Bundesländern haben sich mit Entschädigungsforderun- neun Jahre nach Kriegsende verabschiedet. Die zahlrei- gen im Rahmen von Kriegsfolgelasten bisher überhaupt chen Neufassungen wurden teilweise erst 20 Jahre nach nicht gemeldet. Kriegsende beschlossen. Zum Zeitpunkt der finanziellen Leistungen an die Betroffenen im Westen war ihre Ein- Meine lieben Kolleginnen und Kollegen von der SPD gliederung im Wesentlichen abgeschlossen. und von den Grünen, Sie haben bereits vor zwei Jahren ein moralisches und politisches Armutszeugnis abgelie- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- fert, indem Sie schon damals einen Vorschlag, der auch neten der FDP) von Abgeordneten der SPD und den Grünen erarbeitet 5704 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2003

Hartmut Büttner (Schönebeck) (A) worden ist, niedergestimmt haben. Heute haben Sie die Ich will dazu sagen: Wir haben ein Problem mit den (C) Chance, diese Fehlentscheidung zu korrigieren und zu- Zwangsverschleppten aus den Ostgebieten – Sie haben mindest eine späte Gerechtigkeit in Deutschland zu es nicht angesprochen –, die jetzt in erhöhter Zahl An- schaffen. träge stellen, wodurch tatsächlich ein Berg von Anträgen aufgelaufen ist. Das hat Herr Körper hier auch einge- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) räumt. Wir arbeiten daran, diesen Berg abzubauen. Ich kritisiere, dass es solch einen Berg gibt. Er muss zügig Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: abgebaut werden. Dafür müssen wir in den nächsten Monaten mehr tun; aber wenn Sie behaupten, dass politi- Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort dem sche Häftlinge, die das Schicksal politischer Verfolgung Kollegen Hans-Joachim Hacker von der SPD-Fraktion. in der DDR erleiden mussten, durch uns keine Unterstüt- zung erhalten, dann ist das schlichtweg falsch. Hans-Joachim Hacker (SPD): (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Lieber Kollege Büttner, ich muss drei Dinge klarstel- DIE GRÜNEN) len: Erstens. In der Anhörung des Innenausschusses habe ich nicht gesagt, Frau Nowacki sei nicht pfiffig ge- wesen. Das hätte sich nicht gehört. Ich habe gesagt, die Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Frau sei nicht richtig beraten worden. Herr Kollege Büttner, ich erteile Ihnen das Wort zur (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Erwiderung. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast [SPD]: Das ist Hartmut Büttner (Schönebeck) (CDU/CSU): ein großer Unterschied!) Lieber Herr Kollege Hacker, in einem Punkt haben Denn wenn sie richtig beraten worden wäre, hätte sie Sie Recht: Sie haben in der Tat nicht Frau Nowacki man- längst einen Antrag bei der Stiftung gestellt. Wenn sie gelnde Pfiffigkeit vorgeworfen. Sie haben aber deutlich den Antrag vor drei Jahren gestellt hätte, wäre sie schon gemacht, dass denjenigen, die sie beraten haben, offen- vor drei bzw. zwei Jahren in den Genuss dessen gekom- sichtlich nicht bekannt war, dass sie über diesen Fonds men, was sie wollte. Sie wollte nämlich eine kleine Feier für politische Häftlinge eine Entschädigung hätte erhal- mit ihrer Familie machen. Das dazu notwendige Geld ten können. Damit haben Sie ganz klar den Eindruck er- hätte sie längst bekommen. Die Leistungen betragen un- weckt, dass die 14 000 Betroffenen, die noch leben, nor- gefähr 2 000 Euro. malerweise schon längst auf der Grundlage Ihrer (B) (D) Gesetzesänderung – wenn sie davon gewusst hätten – Zweitens. Die HHG-Leistungen, die Sie angespro- hätten entschädigt werden können. chen haben – in diesem Zusammenhang kritisieren Sie die Bundesregierung und die Regierungskoalition –, Wir haben in einer offiziellen schriftlichen Stellung- haben Sie im Jahre 1994 im Rahmen der SED-Unrechts- nahme von der Stiftung für politische Häftlinge, die ich bereinigungsregelung auf 300 000 DM pro Jahr festge- Ihnen gerne zeigen kann, den folgenden Hinweis be- legt. Nach Regierungsübernahme hat die rot-grüne Koa- kommen: 800 politische Häftlinge können derzeit nicht lition diesen jährlichen Entschädigungsbetrag von entschädigt werden, weil entsprechende Finanzmittel 300 000 DM auf 1,5 Millionen DM erhöht. nicht vorhanden sind. Wir sollten gemeinsam einen Weg finden, die Stiftung in beiden Bereichen zu verbessern. (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE Wir beteiligen uns gerne an der Arbeit. GRÜNEN]: Auf das Fünffache!) Den betroffenen Spätheimkehrern – das zeigte die Wir haben das Fünffache der Leistungen bereitgestellt, ganze Anhörung – ging es nicht um die Frage der sozia- die Sie vorgesehen haben. Jetzt kreiden Sie uns das an. len Bedürftigkeit; es ging ihnen um Gerechtigkeit. Sol- Drittens. Herr Büttner, Sie sprechen heute wieder da- len diese Summen von 500, 1 000 und 1 500 Euro – je von – auch Ihre Kollegin Voßhoff hat das fälschlicher- nachdem, wie lange die Damen und Herren in fremdem weise im Rechtsausschuss getan –, dass in Bonn Anträge Gewahrsam waren – wirklich zu viel für das demokrati- politischer Häftlinge liegen, die nicht bearbeitet werden. sche Deutschland sein? Wollen Sie wirklich sagen, dass Dies ist schlechtweg falsch. Nach § 18 des Strafrechtli- wir, die deutsche Gesellschaft, diese 22 Millionen Euro chen Rehabilitierungsgesetzes gibt es für politische den Damen und Herren aus dem Osten – wir haben die Häftlinge einen Anspruch auf Unterstützungsleistungen. entsprechenden Entschädigungen im Westen gezahlt – All diese Ansprüche werden jährlich Schritt für Schritt nicht zukommen lassen können? Das finde ich unmög- abgearbeitet. lich! Die Stiftung – ich war dort in der vorigen Woche – hat (Beifall bei der CDU/CSU) mir erklärt: Es gibt beim Strafrechtlichen Rehabilitie- rungsgesetz kein Problem, weil das Justizministerium Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: die Mittel in ausreichender Höhe bereitstellt. Wenn es einmal aufgrund schwankender Antragszahlen Probleme Als nächste Rednerin hat Silke Stokar von Neuforn gibt, wird das BMF in jedem Falle behilflich sein. vom Bündnis 90/Die Grünen das Wort. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2003 5705

(A) Silke Stokar von Neuforn (BÜNDNIS 90/DIE wurden von den Verbänden mit Bussen zur Anhörung (C) GRÜNEN): gefahren – aber den Eindruck gewonnen, dass Sie Par- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich wie- teipolitik auf dem Rücken alter, betroffener Menschen derhole, was ich schon in der letzten Debatte, als es um machen. die Frage der Gerechtigkeit im Zusammenhang mit (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Kriegsheimkehrern ging, gesagt habe, weil sich offen- und bei der SPD – Hartmut Büttner [Schöne- sichtlich die ganze Debatte – nicht zum ersten Mal – beck] [CDU/CSU]: Da sind Sozialdemokraten wiederholt. Es ist auch eine Wiederholung der Debatte, dabei! – Weitere Zurufe von der CDU/CSU) die wir hier in der letzten, der 14. Legislaturperiode ge- führt haben. Diese Parteipolitik auf dem Rücken der Betroffenen setzten Sie hier und heute fort. Wir brauchen nicht in die Gesetzestexte zu schauen, sondern wir müssen uns die Debatten von 1966 – man (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN kann sie in den Archiven nachlesen; sie wurden bereits und bei der SPD – Hartmut Büttner [Schöne- herangezogen und waren schon in der 14. Legislaturperi- beck] [CDU/CSU]: Das ist lachhaft!) ode von Bedeutung – ansehen. Es wird deutlich, es war Es geht um die Emotionalisierung. Es geht um Stim- eine bewusste politische Entscheidung – sie war meiner mungsmache mit Opfergruppen. Ich sage Ihnen, dass ich Meinung nach richtig – und kein Versäumnis von Politi- den Stil dieser Auseinandersetzung, den Stil dieser De- kern, dass – gerade von Vertretern früherer Fraktionen batte in diesem Hause nicht mehr mitmache, der CDU/CSU, von Ihren früheren Innenministern und Bundeskanzlern; es gab bis Ende der 60er-Jahre keine ( [CDU/CSU]: Gehen Sie raus!) anderen – immer wieder gesagt wurde: Für die schreckli- weil ich denke, dass die Opfer eine andere Form der chen Folgen des deutschen Faschismus und für die Würdigung verdienen, nämlich die Form der Würdi- schrecklichen Folgen dieses Krieges kann es überhaupt gung, die Rot-Grün vornimmt. keine gerechte Entschädigung geben. Es gibt so unvor- stellbar viele Opfer, dass es nur nach Opfergruppen ge- Sie hatten in den 16 Jahren Ihrer Regierungszeit die trennte Hilfe geben kann, die in den Einzelfällen unter- Möglichkeit, etwas zu machen. Nach der deutschen Wie- schiedlich ausfällt und auf die Personengruppe bezogen dervereinigung ist. (Norbert Geis [CDU/CSU]: Haben wir viel gemacht!) Der Gerechtigkeitsunterschied liegt nicht in der Frage Entschädigung oder Eingliederungshilfe, sondern darin, war das für Sie kein Thema. Jetzt, wo Sie in der Opposi- (B) dass diejenigen, die in die DDR zurückgekehrt sind, tion sind, machen Sie daraus ein parteipolitisches Thema (D) doppelt bestraft waren: Diejenigen, die aus russischer und tragen es auf dem Rücken der Betroffenen aus. Ich Kriegsgefangenschaft – unter Stalin – in die DDR zu- bitte Sie, das jetzt einzustellen. rückgekehrt sind, mussten ihr Kriegsgefangenenschick- Danke. sal verschweigen. Außerdem erhielten Sie kein Geld. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Während Ihrer gesamten Regierungszeit sind Sie und bei der SPD – Arnold Vaatz [CDU/CSU]: nicht davon abgegangen, zu behaupten, es sei damals Sie müssen nicht das, was Sie sich selber zu- eine bewusste Entscheidung für eine Stiftung gewesen, trauen, anderen zutrauen!) um in Einzelfällen helfen zu können. (Hartmut Büttner [Schönebeck] [CDU/CSU]: Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das war ein Fehler!) Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Max Stadler von Herr Hacker und Herr Körper haben das richtig darge- der FDP-Fraktion. stellt. Was Sie fordern, wird zum Teil erst durch das er- möglicht, was während der rot-grünen Regierungszeit Dr. Max Stadler (FDP): getan wurde: Wir haben den fünffachen Betrag in die Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- Stiftung eingestellt. In Einzelfällen haben wir an Betrof- ren! Bei diesem Gesetzentwurf geht es um nicht mehr fene in Notlagen viel mehr als das gezahlt, was Sie als und nicht weniger als die Beseitigung einer Ungerech- pauschale Entschädigung an alle zahlen wollen, nämlich tigkeit. bis zu 2 000 Euro. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Ich befürchte – das wurde aus den Reihen der CDU/ CSU angekündigt –, dass wir erneut, wie 1966 – sozusa- Es wäre nicht zu spät, wenn man diese Ungerechtigkeit gen in permanenter Wiederholung –, über die einzelnen hier und heute beseitigen würde. Opfergruppen debattieren. Herr Marschewski hat ange- (Arnold Vaatz [CDU/CSU]: Symbole!) kündigt – das klang auch in Äußerungen im Bundesrat und aus den Reihen der CDU/CSU an –, dass erneut über Herr Staatssekretär Körper, aus diesem Grund finde die Stiftung debattiert werden soll. ich Ihren Hinweis auf die Rede des damaligen Bundes- kanzlers Kiesinger aus dem Jahre 1966 wirklich de- In Ihren heutigen Reden klang Betroffenheit an. Ich platziert. Er habe damals, 1966, gesagt, dass die Kriegs- habe bei der Anhörung – die betroffenen Menschen folgenentschädigung allmählich ein Ende haben müsse, 5706 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2003

Dr. Max Stadler (A) dass man nach vorne blicken müsse. Wenn das in unse- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (C) rer heutigen Debatte ein wirkliches Argument wäre Das Wort hat jetzt der Kollege Gerold Reichenbach – ich will keine falschen Parallelen zu anderen Sach- von der SPD-Fraktion. verhalten herstellen –, dann wäre es aber auch nicht richtig, dass noch im Jahre 2000 Lücken bei der Ent- Gerold Reichenbach (SPD): schädigung von NS-Unrecht geschlossen wurden; aber alle vier Fraktionen waren der Meinung, dass das rich- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! tig ist. Herr Kollege Stadler, den Sachverhalt, den Sie am Ende Ihrer Rede angesprochen haben, müssen diejenigen, die (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) dieses Gesetzesvorhaben unterstützen, tatsächlich erklä- ren. Ich wiederhole: Sie wollen eine Gerechtigkeitslü- Ich kann mir nicht vorstellen, dass Sie mit dem Zitat cke, von der Sie meinen, sie neu entdeckt zu haben, aus der Rede von Kiesinger Ihrem Koalitionspartner schließen. Bündnis 90/Die Grünen aus der Seele gesprochen haben, setzt er sich doch dafür ein, die vergessenen Opfer aus (Hartmut Büttner [Schönebeck] [CDU/CSU]: der NS-Zeit auch jetzt noch zu entschädigen. Das Zeitar- Nicht wir haben sie entdeckt, das waren die gument ist das schwächste Argument. Betroffenen!) Das Kriegsfolgenbereinigungsgesetz ist allerdings schon (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) 1992 verabschiedet worden. Sie hatten also acht Jahre Es ist eine Ungerechtigkeit; denn die Frage der finan- Zeit – Ihr erster Antrag stammt aus dem Jahr 2000 –, um ziellen Zuwendung hing von dem Zufall ab, ob ein diese Gerechtigkeitslücke zu entdecken. Kriegsheimkehrer in die damals sowjetisch besetzte (Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast [SPD]: Zone, in die spätere DDR, oder in den Westen zurückge- Richtig!) kehrt ist. Die Betroffenen können es nicht nachvollzie- hen, dass die eine Gruppe eine Entschädigung bekom- Sie haben sich vorhin über die Vorhaltungen von Frau men hat und die andere Gruppe nicht. Wenn von der Kollegin Stokar von Neuforn empört gezeigt. Sie müs- Bundesregierung ausgeführt wird, bei denjenigen, die in sen aber schon erklären, warum der Prozess, zu dieser den Westen gekommen sind, sei es keine Entschädigung, Erkenntnis zu kommen, so lange gedauert hat, bis Sie in sondern eine Eingliederungshilfe gewesen, dann können der Opposition waren. das vielleicht Juristen verstehen, die betroffenen Men- (Erika Lotz [SPD]: Na so was! – Siegfried schen jedoch verstehen dies nicht. Scheffler [SPD]: Sauerei!) (B) (D) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Bis heute schulden Sie eine plausible Erklärung dafür, warum Sie so viele Jahre gebraucht haben, selbst wenn Aus diesem Grund wird die FDP dem Gesetzentwurf zu- Sie sagen, dass Sie das beim Gesetzgebungsverfahren stimmen. Denn es ist darüber hinaus auch nicht der Fall, übersehen haben. Es ist doch nicht so, dass sich die Ver- dass wir als Bundesrepublik Deutschland damit finan- bände in der Zwischenzeit nicht gemeldet hätten! Es ist ziell überfordert wären. doch nicht so, als wäre das damals bei der Gesetzesbera- tung nicht bekannt gewesen! Noch schlimmer wäre, Ich möchte allerdings einen Vorbehalt nennen. Es wenn Sie sagen würden, Sie hätten die Kriegsgefange- hat mich in dem gesamten Gesetzgebungsverfahren ein nen bei den Überlegungen, wie die beiden deutschen einziges ungutes Gefühl beschlichen. Wir kennen die Staaten zusammenwachsen sollen, so viele Jahre lang Haltung der Bundesregierung zu dieser Frage; sie schlicht und einfach vergessen. Das wäre ein Armuts- wurde vom Herrn Staatssekretär soeben wieder darge- zeugnis. stellt. Wir wissen auch, dass die früheren Bundesregie- rungen dieselbe Haltung hatten. Deswegen ist natürlich (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ absehbar, dass es für das berechtigte Anliegen keine DIE GRÜNEN) Mehrheit geben wird. Es tut mir daher Leid, dass in den Ich befürchte aber, dass die Frau Kollegin Recht hat. Menschen Hoffnungen geweckt worden sind, die mit Wenn das der Fall ist, dann muss man an die Verantwor- dem Ergebnis der Abstimmung, die gleich ansteht, ent- tung appellieren und fragen, ob wirklich jedes Thema täuscht werden. dazu geeignet ist, dieses parteipolitisch für sich wenden zu wollen, wenn man in der Opposition ist, (Sebastian Edathy [SPD]: Wer hat denn die Hoffnungen geweckt?) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Das ändert aber nichts daran, dass das Anliegen gerecht- fertigt ist. Deswegen werden wir dem Gesetzentwurf zu- oder ob man im Rahmen der deutschen Wiedervereini- stimmen. gung bei bestimmten Themen nicht Kontinuität bewei- sen muss. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE DIE GRÜNEN) GRÜNEN]: Diese Hoffnung haben aber nicht wir geweckt!) Ich versuche, Ihnen das zu belegen. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2003 5707

(A) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Dies steht schwarz auf weiß als Begründung zu Ihrem (C) Herr Kollege Reichenbach, erlauben Sie eine Zwi- Gesetzentwurf von 1992. Deshalb können Sie sich nicht schenfrage des Kollegen Vaatz? – Bitte schön, Herr hier hinstellen und sagen, wir hätten dies damals nicht Vaatz. gewürdigt. Es sei denn, Sie würden sagen, dass Sie da- mals Begründungen geschrieben haben, deren Inhalt Sie nicht verstanden haben. Das traue ich Ihnen aber nicht Arnold Vaatz (CDU/CSU): zu. Das wäre gegenüber der Gruppe der Betroffenen üb- Herr Kollege Reichenbach, stimmen Sie mir zu, wenn rigens auch zynisch. ich sage, dass es sicherlich eine Reihe von Fehlern gibt, (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ die die von unserer Partei und der FDP geführte Regie- DIE GRÜNEN) rung in den 16 Jahren gemacht hat? Was 1992 galt, das gilt heute wohl erst recht. (Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast [SPD]: Ja! – Horst Kubatschka [SPD]: Dem stimme ich Wir wissen, dass der genannte Verband – Verbände ausdrücklich zu!) haben dabei ihre spezifischen Aufgaben – eine andere Rechtsposition vertritt. Herr Kollege Büttner, die Exper- Es wäre eine lebensferne Vorstellung, zu meinen, dass tenanhörung hat nach unserer Einschätzung Folgendes eine solch lange Regierungszeit fehlerfrei verlaufen gezeigt: Außer den Vertretern des Verbandes haben alle wäre. Experten die Position, die der Staatssekretär hier vorge- Stimmen Sie mir weiter zu, dass Sie mit der Absicht tragen hat, bestätigt, nämlich dass es sich faktisch um angetreten sind, solche Fehler, sofern sie zutage treten, eine Eingliederungshilfe handelt. Sie selber haben dies zu beseitigen? Stimmen Sie mir auch zu, dass es für Sie auch getan. keine Alternative zur Schließung dieser Gerechtigkeits- (Hartmut Büttner [Schönebeck] [CDU/CSU]: lücke geben kann, wenn Sie der Meinung sind, dass es Eben nicht! Überhaupt nicht!) sich um eine Gerechtigkeitslücke handelt, die wir verur- sacht haben, weil wir in diesem Punkt falsch gehandelt Lassen Sie mich jetzt auf das Thema Gerechtigkeit haben? Stimmen Sie mir zu, dass es dann Ihre Aufgabe zu sprechen kommen, zu dem Sie mit Ihrem Gesetz – so ist, diese Gerechtigkeitslücke zu beseitigen, und alles an- sagen Sie – eine Klärung herbeiführen wollen. Das Pro- dere ein Vergehen an den Bedürftigen wäre? blem ist nur – das ist deutlich geworden –, dass wir da- mit nicht das singulär existierende Gerechtigkeitspro- (Beifall bei der CDU/CSU) blem der völlig ungleichen Behandlung der Kriegsfolgen (B) und der Entschädigung in den beiden deutschen Staaten (D) Gerold Reichenbach (SPD): lösen, sondern dass wir damit im Grunde genommen viel Wenn ich richtig mitgezählt habe, waren das gleich mehr neue Probleme schaffen. mehrere Fragen. Ich versuche trotzdem, sie zu beantwor- (Fritz Rudolf Körper, Parl. Staatssekretär: So ten. ist es!) An einem Punkt unterscheiden wir uns fundamental. Ich habe dies im Ausschuss bereits gesagt. Der Bundeskanzler dieser Regierung hat an dieser Stelle gesagt: Wir haben einen Fehler gemacht und wir versu- Moderne Kriege zeichnen sich dadurch aus, dass die chen, diesen Fehler während unserer Regierungsverant- Zahl der betroffenen Zivilisten viel höher ist als die Zahl wortung zu beseitigen. der Betroffenen an der kämpfenden Front. In diesem Sinne war der Zweite Weltkrieg ein erster moderner (Beifall der Abg. Erika Lotz [SPD]) Krieg, da sich diese Zahl im Vergleich zum Ersten Welt- Das hat auf Ihrer Seite zu hämischen Reaktionen ge- krieg in dramatischer Weise umgekehrt hat. Sie müssen führt. Sie entdecken Ihre Fehler bezeichnenderweise erst uns schon die Frage beantworten – auch dies hat die Ex- dann, wenn Sie selber nicht mehr die Verantwortung tra- pertenanhörung eindeutig gezeigt –, warum es bei den gen, die Verantwortung für die Finanzierung, Umsetzung zivilen Opfern dieses Krieges eine völlig unterschiedli- und weitere Gestaltung also andere zu tragen haben. Das che materielle und sonstige Behandlung gegeben hat, je ist ein fundamentaler Unterschied zwischen uns. nachdem, ob sie in der Bundesrepublik Deutschland oder in der ehemaligen DDR gelebt haben. Die Fragen, (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ warum Sie bei diesen Menschen keine Gerechtigkeitslü- DIE GRÜNEN) cke sehen und warum Sie das auf die Kriegsheimkehrer fokussieren, die haben Sie weder in der ersten Lesung Zweiter Punkt. Ich widerspreche Ihnen, dass dies da- noch im Ausschuss noch heute hier beantwortet. mals wirklich ein Fehler im Sinne einer fehlenden Bera- tung und Entscheidung gewesen ist, und ich versuche, (Beifall bei der SPD) das zu belegen. Ich darf zitieren: Wir würden tatsächlich neue Gerechtigkeitslücken Einer uneingeschränkten Übertragung des Kriegs- produzieren. Sie haben angekündigt, dass Sie andere gefangenenentschädigungsgesetzes steht entgegen, Themen, die Sie schon einmal abschließend geregelt ha- dass auch dort inzwischen mehr als 45 Jahre ver- ben, erneut aufgreifen wollen. Ich bin auf die Debatten gangen sind. Die Betroffenen sind eingegliedert. und auch darauf gespannt, ob das, was Sie eben an 5708 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2003

Gerold Reichenbach (A) diesem Pult gesagt haben, zutrifft, dass es nämlich eine (Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast [SPD]: Sehr (C) letzte singuläre Regelung sei. richtig!) (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE Dort, wo es materieller Hilfe bedarf, sind wir bereit, un- GRÜNEN]: An die Ehrenrente wollen die seren Beitrag zu leisten, nämlich bei den Stiftungen. auch noch!) Diese Zusage können Sie entgegennehmen. Ich bin gespannt, ob dies Bestand hat. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Lassen Sie mich noch einmal auf die Gerechtigkeits- lücke zurückkommen. Der Sachverständige Michael Schwartz hat darauf hingewiesen, dass die Anerkennung Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: des Opfers keine materielle Frage ist, sondern dass es ei- Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ner innergesellschaftlichen Diskussion bedarf, die es erteile ich dem Kollegen Klaus Brähmig von der CDU/ den Menschen ermöglicht, die Traumata, die sie damals CSU-Fraktion das Wort. erlitten haben, zu verarbeiten.

(Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast [SPD]: Das ist Klaus Brähmig (CDU/CSU): das Wesentliche!) Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen Auch das hat die Anhörung gezeigt – wir sehen das und Herren! Der deutsche Journalist und Fernsehmode- ebenfalls –: Für viele sind die Erinnerung und die Aufar- rator Robert Lembke hat einmal gesagt: Anerkennung ist beitung dieser Traumata, die für sie 40 Jahre lang nicht eine Pflanze, die vorwiegend auf Gräbern wächst. – Ge- möglich waren, ganz erhebliche persönliche Anliegen. nau diese Aussage wird man wohl in der Zukunft leider auch auf das schwere Schicksal der ostdeutschen (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Kriegsheimkehrer und Zivildeportierten anwenden DIE GRÜNEN) können. Das gilt nicht nur für diese Gruppe, sondern auch für Die rot-grüne Bundesregierung war ab 1998 aus mo- diejenigen, die sich bislang nicht artikuliert haben. Ich ralisch verständlichen Gründen bereit, mehr als erinnere an die vielen Vergewaltigungsopfer, die sich 2,5 Milliarden Euro für die Entschädigung osteuropäi- erst heute trauen, ihre Leiden bekannt zu machen. Viele scher Zwangs- und Sklavenarbeiter aus dem Bundes- wurden durch Bomben traumatisiert. Erst jetzt werden haushalt zu zahlen. Ostdeutschen Kriegsheimkehrern solche Themen in der gesellschaftlichen Diskussion an- und Zivildeportierten hingegen wird von der gleichen (B) gesprochen. Bundesregierung aus ideologischen Gründen eine sym- (D) Eine Vielzahl von Zivilisten war betroffen. Sie aber bolische Entschädigung verweigert. reduzieren diesen gesamten Aspekt der gesellschaftli- (Beifall bei der CDU/CSU – Hans-Joachim chen Aufarbeitung über Opfer und Täter. Ich spreche Hacker [SPD]: Das stimmt doch gar nicht, von gemischten Biographien, die es in vielen Ländern, Herr Brähmig! Sie bekommen doch eine Ent- nicht nur in Deutschland gegeben hat, verursacht durch schädigung! – Silke Stokar von Neuforn Krieg und Diktatur. [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wird hier (Arnold Vaatz [CDU/CSU]: Nicht nur Ost- jetzt wieder aufgerechnet?) deutsche, sondern auch Westdeutsche!) Für die Entschädigung dieser Gruppe müssten nur – Das gilt natürlich nicht nur für die Heimkehrer, son- etwa 22 Millionen Euro aufgewendet werden. Bei der dern für alle. Sie bestätigen meine Argumentation. Es Entschädigung osteuropäischer Zwangsarbeiter wurde geht um verlorene Jahre und um ertragenes Leid wäh- aufgrund der Altersstruktur der Betroffenen immer mit rend der Gefangenschaft. Es geht auch um Demütigun- dem Gebot der Eile argumentiert. Heute wird bei der gen und Totschweigen in der DDR. Entschädigung unserer ostdeutschen Landsleute von der gleichen Regierung die Lösung der Problematik durch den Tod der Betroffenen anscheinend billigend in Kauf Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: genommen. Herr Kollege Reichenbach, Ihre Redezeit ist abgelau- fen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast [SPD]: Das ist eine Frechheit! Wollen Sie diese parteipoliti- Gerold Reichenbach (SPD): sche Polemik sein lassen! – Hans-Peter Ich komme zum Schluss. Kemper [SPD]: Unerhört! Unmöglich!) Die Frage ist: Ist eine Entschädigung zwangsläufig War die Verschleppung und Zwangsarbeit von deut- mit einer materiellen Leistung verbunden? Wir sind der schen Zivilisten, also Frauen und Jugendlichen, in den Meinung, dass eine gesellschaftliche Anerkennung not- osteuropäischen Staaten durch das Völkerrecht legiti- wendig ist. Wir bestreiten Ihre Position, dass eine Ent- miert? Sind nicht über 1 Million deutsche Soldaten in schädigung nur in Form einer materiellen Leistung ge- den stalinistischen Arbeitslagern der sowjetischen Hemi- schehen kann. sphäre an Hunger, Seuche und Kälte gestorben? Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2003 5709

(A) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: die Heimkehrerstiftung bzw. die Stiftung für ehemalige (C) Herr Kollege Brähmig, erlauben Sie eine Zwischen- politische Häftlinge bereits eine ausreichende und ge- frage des Kollegen Hacker? rechte Lösung geschaffen, wurde bei der Expertenanhö- rung als Scheinlösung enttarnt. Klaus Brähmig (CDU/CSU): (Sebastian Edathy [SPD]: Von wem denn? Bei Ich möchte meine Rede im Ganzen vortragen. – Wa- welcher Anhörung waren Sie denn? – Dr. Uwe ren es nicht die ostdeutschen Heimkehrer und Zivil- Küster [SPD]: Haben Sie den Verlauf nicht deportierten, die im Gegensatz zu ihren westdeutschen mehr ganz präsent?) Leidensgenossen nach ihrer Rückkehr keinerlei Entschä- Die Sachverständigen stellten übereinstimmend fest, digung bekamen und zugleich von der SED-Diktatur dass beide Stiftungen schon heute nicht mehr über aus- pauschal als Kriegsverbrecher stigmatisiert wurden? Da- reichende Mittel verfügen, um die notwendige Unter- her frage ich die Abgeordneten der Regierungskoalition stützungsleistung an Betroffene zu gewähren. Wir haben an dieser Stelle: Warum verweigern Sie den ostdeut- das vorhin auch hier von den Kollegen gehört. schen Kriegsheimkehrern und Zivildeportierten eine symbolische Anerkennung ihres Leides? (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU – Hans-Joachim An der finanziell desaströsen Lage des Bundes muss Hacker [SPD]: Sie reden schon wieder von Zi- dieser Gesetzentwurf jedenfalls nicht scheitern. Die vildeportierten!) Bundesregierung wird im nächsten Jahr beispielsweise 88 Millionen Euro für Eigenwerbung ausgeben. Das sind Die öffentliche Anhörung des Innenausschusses im 10 Millionen Euro mehr als im Jahr 2003. Juni dieses Jahres hat eindrucksvoll dokumentiert, dass die ostdeutschen Heimkehrer und Geltungskriegsgefan- (Zuruf von der CDU/CSU: Das haben sie auch genen die Gesetzesinitiative der Freistaaten Thüringen nötig!) und Sachsen für eine einmalige Entschädigung begrü- ßen. Circa 250 Betroffene im Alter von über 80 Jahren Dies entspricht einem Anstieg von 11,4 Prozent. Mein haben sich damals mit Bussen auf den Weg nach Berlin Vorschlag lautet daher: Verbessern Sie doch einfach die gemacht und ihren Kampfeswillen für eine Anerkennung Regierungsleistung um 100 Prozent. Dann brauchen Sie ihres Schicksals verdeutlicht. Dazu sage ich noch: Da- deutlich weniger Eigenwerbung und wir haben genug Fi- runter waren eine ganze Reihe von Sozialdemokraten. nanzmittel, um diesen Gesetzentwurf Wirklichkeit wer- den zu lassen. Tiefe Enttäuschung zeigte sich bei den angereisten (B) Betroffenen allerdings angesichts der Haltung der rot- (Beifall bei der CDU/CSU – Sebastian Edathy (D) grünen Bundesregierung und der Abgeordneten der Koa- [SPD]: Es ist nicht angemessen, wie Sie damit lition. umgehen! – Dr. Uwe Küster [SPD]: Es wird immer schlimmer!) (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Diese Enttäuschung haben Sie Standhaft verweigern Sie von den Regierungsparteien doch herbeigeführt!) den ostdeutschen Betroffenen, die für Gesamtdeutschland als lebende Reparationszahlung die Schuld der Nazibar- Dies verwundert nicht; denn bis 1998 haben sich auch barei gesühnt haben, eine symbolische Anerkennung. Vertreter von SPD und Bündnis 90/Die Grünen im parla- Und standhaft hält die CDU/CSU-Bundestagsfraktion an mentarischen Beirat des Verbandes der Heimkehrer, der Forderung nach einer einmaligen Entschädigung fest. Kriegsgefangenen und Vermisstenangehörigen für eine interfraktionelle Gesetzesinitiative ausgesprochen. (Hans-Peter Kemper [SPD]: So sind sie – standhaft!) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Die einzige Hoffnung für unsere ostdeutschen Lands- Herr Hacker, das wissen Sie ganz genau und viel besser leute bleibt also ein Regierungswechsel. als ich. Ich habe damit keinen Wahlkampf bis 1998 ge- macht. (Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast [SPD]: Wo war denn die Standhaftigkeit in den früheren Jah- (Hans-Joachim Hacker [SPD]: Ich auch nicht!) ren?) – Na ja, wir lesen die Protokolle mal nach. – Noch vor Dann wird es an uns sein, an der FDP und der CDU/ den Wahlen im Jahr 1998 sind SPD-Ministerpräsidenten, CSU, politische Glaubwürdigkeit zu beweisen und den SPD-Minister und verschiedene Bundestagsabgeordnete letzten überlebenden Betroffenen die Anerkennung nicht durch die Veranstaltungen der Heimkehrerverbände ge- erst im Grab auszusprechen. zogen und haben sich vehement für eine Entschädigung der ostdeutschen Heimkehrer eingesetzt. (Sebastian Edathy [SPD]: Sie instrumentalisie- ren die Befindlichkeit von Menschen! Das ist (Hans-Joachim Hacker [SPD]: Nennen Sie das Problem!) doch mal ein Beispiel!) Danke schön. Auch die Auffassung der rot-grünen Bundesregierung, man habe mit einer Aufstockung der Stiftungsmittel für (Beifall bei der CDU/CSU) 5710 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2003

(A) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Bauschaffenden zu wecken und so die Akzeptanz und (C) Ich schließe die Aussprache. den Anspruch einer der Qualität verpflichteten Baupoli- tik zu verbessern. Bevor wir zur Abstimmung kommen, darf ich Ihnen mitteilen, dass ich die Rede der Kollegin Petra Pau zu Fachlich geht es um die Unterstützung struktureller Protokoll nehme.1) Anpassungsprozesse, beispielsweise im Zusammenhang mit Berufsbildern, bei der Qualifizierung, dem Verdeut- Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzent- lichen neuer Tätigkeitsfelder, der Verbesserung der Ex- wurf des Bundesrats auf Drucksache 15/407 über eine portchancen für Bau- und Planungsleistungen und durch einmalige Entschädigung an die Heimkehrer aus dem Kooperationsmodelle. Beitrittsgebiet. Der Innenausschuss empfiehlt auf Drucksache 15/1625, den Gesetzentwurf abzulehnen. Baukultur wird dabei nicht ästhetisch oder nur als Ar- Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen chitektur verstanden. Im Blick sind alle baulichen Anla- wollen, um das Handzeichen. – Gegenstimmen? – Ent- gen, ihre städtebaulichen Bezüge und auch die Planungs- haltungen? – Dann ist der Gesetzentwurf in zweiter Be- kultur und die Ingenieurleistungen. Dieses Verständnis ratung abgelehnt. Damit entfällt die dritte Beratung. ist Konsens unter allen Beteiligten. Ich rufe Tagesordnungspunkt 15 auf: Baukultur ist somit auch ein Motor für die Planungs- Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- und Bauwirtschaft. Sie müssen bedenken, meine sehr richts des Ausschusses für Verkehr, Bau- und verehrten Kolleginnen und Kollegen: Fast 10 Prozent Wohnungswesen (14. Ausschuss) zu dem Antrag des Bruttoinlandsprodukts – das sind 55 Prozent aller In- der Abgeordneten Petra Weis, Eckhardt Barthel vestitionen in Deutschland – werden in der Baubranche (Berlin), Sören Bartol, weiterer Abgeordneter verdient. Dies macht deutlich, wie wichtig ein innovati- und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordne- ves und wettbewerbsfähiges Planungs- und Bauwesen ten Franziska Eichstädt-Bohlig, Volker Beck für Deutschland ist. (Köln), , weiterer Abgeordne- Baukultur ist aber noch viel mehr. Die Bürger haben ter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE Anspruch auf Städte mit Gesicht, auf den Schutz des GRÜNEN kulturellen Erbes und auf einen verantwortungsvollen Die Qualitätsoffensive für gutes Planen und Umgang mit der Natur. Es geht auch um Identität, Unter- Bauen voranbringen scheidbares und Authentisches. Es geht um Kommuni- kation, Lebensqualität, um das Wohl- und Verbunden- – Drucksachen 15/1092, 15/1683 – fühlen. Schließlich geht es um die Zivilgesellschaft, um (D) (B) Berichterstattung: das Bewusstmachen, Mitmachen und Einmischen. Abgeordnete Renate Blank Baukultur ist Gebautes, sind U-Bahneingänge, Bahn- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die höfe, Brücken, Lärmschutzwände, Parkhäuser und Ge- Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre werbegebiete. Baukultur sind aber auch Garten-, Grün- keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. und Freizeitanlagen. Die gesamte bebaute Umwelt un- terliegt diesen Kriterien. Deshalb finden oder vermissen Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red- wir Baukultur im Alltag tagtäglich. ner dem Parlamentarischen Staatssekretär Achim Großmann das Wort. Bundespräsident Rau hat auf dem Baukonvent in Bonn festgestellt: Wenn einem Musik nicht gefällt, kann Achim Großmann, Parl. Staatssekretär beim Bun- man sie abschalten. Wenn einem ein Buch nicht gefällt, desminister für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen: kann man es zuklappen und beiseite legen. Gebautes Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle- hingegen muss man zur Kenntnis nehmen, es sei denn, gen! Erstmalig liegt dem Deutschen Bundestag nun ein man geht mit geschlossenen Augen durch die Stadt. Des- Bericht zur Lage der Baukultur in Deutschland vor. halb beeinflusst es die Bürgerinnen und Bürger viel Die Bundesregierung hat diesen öffentlichen Dialog mehr als andere Kulturgüter. Der heute zur Abstimmung über die Bedeutung von Architektur und Baukultur in stehende Antrag „Die Qualitätsoffensive für gutes Pla- unserem Lande angestoßen. Sie griff damit auch Erwar- nen und Bauen voranbringen“ unterstreicht dies. tungen des Deutschen Bundestages und breiter gesell- Die Beratungen in den Fachausschüssen haben über schaftlicher Gruppen auf. Als wir gestartet sind, konnten alle Fraktionen hinweg die breite und einmütige Zustim- wir kaum ahnen, wie viel Erfolg wir mit dieser Initiative mung dafür deutlich gemacht, die Qualitätsoffensive haben würden. fortzuführen. Die damit ausgedrückte Anerkennung des Die Initiative für Architektur und Baukultur wird von Stellenwerts guter Architektur und von Ingenieurbauten den Ländern, den Kommunen, den planenden Berufen für die Wirtschaft und die Gesellschaft in unserem Land sowie der Bau- und Wohnungswirtschaft mitgetragen. Es ist ein wichtiges Zeichen für die Bürgerinnen und Bürger geht darum, in der Öffentlichkeit Aufmerksamkeit für und insbesondere auch für die Bauherren. die Bau- und Planungsqualität und die Leistungen von Für die Bundesregierung kann ich versichern, dass sie die im Antrag im Einzelnen angesprochenen Punkte auf- 1) Anlage 3 greifen und wieder zum Stand der Umsetzung berichten Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2003 5711

Parl. Staatssekretär Achim Großmann (A) wird. Das gilt ausdrücklich auch als Bekenntnis zu der gutes Planen und Bauen eignen sich zwar für leiden- (C) besonderen Verantwortung des Bundes als Bauherr. schaftliche Diskussionen, nicht aber für einen politi- schen Streit. Es ist gut, dass es noch Themen gibt, die im Das Konzept einer Stiftung Baukultur wird im vor- Parlament gemeinsam, sachlich und engagiert behandelt liegenden Antrag klar unterstützt. Der baldige Aufbau werden können. einer Bundesstiftung Baukultur ist das zentrale Ziel zur Stärkung der Baukultur. Mit dem Gründerkreis und dem (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der anschließenden Konvent der Baukultur im April in Bonn SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- haben wir den ersten Schritt getan. NEN) Wir haben inzwischen das Präsidium des Baukon- Architektur ist nach Vitruv, einem Architekten und vents gewählt. Sie müssen sich das folgendermaßen vor- Schriftsteller im antiken Rom, die Mutter aller Künste stellen: 490 Mitglieder des Baukonvents sollten an der und zugleich die öffentlichste. Das stimmt auch heute Abstimmung teilnehmen und 490 standen zur Wahl. Das noch; denn der Architektur kommt in unserer Gesell- ist wohl ein einmaliges Verfahren. Jeder durfte wählen schaft eine entscheidende Rolle zu. Jeder, der qualitäts- und gewählt werden. Die Wahlbeteiligung für das Präsi- voll baut, trägt einen kleinen Teil zum großen Mosaik- dium des Baukonvents lag bei fast 82 Prozent. Ich bau Kultur bei. Architektur entwickelt visionäre Kräfte glaube, dieses herausragende Ergebnis zeigt, dass wir und steht in der Verantwortung, zukunftsweisend zu auf dem richtigen Weg sind, die Stiftung als bundesweite agieren und Geschichte aktiv zu beeinflussen. Innova- Kommunikationsplattform zu institutionalisieren. tion bedeutet deshalb nicht einfach ein Mehr an Technik, sondern auch ein Mehr an kritischer Reflexion und eine Dazu soll die Stiftung außergewöhnliche innovative Zunahme an nachhaltigen und experimentellen Konzep- Planungs- und Bauaufgaben voranbringen und der For- ten. Architektur als Quelle der Innovation spiegelt in ih- schung Impulse geben. Sie soll herausragende baukultu- rer umfassenden Qualität Aspekte des gesellschaftlichen relle Leistungen einer Stadt oder Region durch Wettbe- Wandels wider oder nimmt sie sogar vorweg. Sie hat werbe herausstellen und an kontroversen Baubeispielen sich mit neuen Materialien, neuen Technologien und Qualitätsmaßstäbe konkret machen, sprich: auch über neuen Produktionsmethoden auseinander zu setzen. Ihr negative Bauten reden. Sie soll den nationalen Erfah- kreativer Gebrauch lässt eine neue zeitgenössische Äs- rungsaustausch voranbringen, sich am internationalen thetik entstehen. Wettbewerb beteiligen und durch Herausstellen guter Beispiele Interesse wecken und Marktchancen verbes- Bauen und Kultur ist eine Begriffskombination, von sern. Schließlich wollen wir die Entwicklung der Bau- der in den Medien nur wenig zu lesen, zu hören und zu kultur in Deutschland weiterverfolgen und darüber be- sehen ist. Wenn vom Bauen die Rede ist, dann stehen (B) richten. Die Stiftung soll also als Dialogplattform die meist andere Themen im Vordergrund, zum Beispiel die (D) Instrumente flankieren, die der Bund als Rahmen für Dauerkrise der Bauwirtschaft, illegale Beschäftigung am baukulturelles Handeln den Gemeinden zur Verfügung Bau, öffentliche Projekte, die mehr kosten, als ursprüng- stellt, wie insbesondere das städtebauliche Planungs- lich geplant, Nutzen und Kosten von Autobahntrassen recht und Finanzhilfen im Rahmen der Städtebauförde- und Umgehungsstraßen. Von Baukultur ist nur ganz sel- rung, zum Beispiel des Programms „Soziale Stadt“ oder ten die Rede. Für mich ist Baukultur unteilbar. Sie be- von Stadtumbauprogrammen. schränkt sich nicht auf die Architektur, sondern umfasst Wir haben zusammen mit dem Förderverein eine In- gleichermaßen auch Ingenieurbauleistungen, Stadt- und formations- und Mobilisierungskampagne zur Klärung Dorfentwicklung, Landschaftsarchitektur und Kunst im auf den Weg gebracht. Wenn auch Private ein materielles öffentlichen Raum. Interesse an einer Stiftung Baukultur zeigen, sind wir be- Baukultur muss im ständigen Dialog zwischen Fach- reit, im Jahr 2005 die Stiftung zu errichten. Ich glaube, leuten und Bürgern, mit Fachbehörden, Bauverwaltun- sie wird uns allen den Rücken stärken. Der Deutsche gen, Handwerkern und Bauherren verankert und weiter- Bundestag kann heute ein Zeichen in die richtige Rich- entwickelt werden. Dabei kommt es darauf an, die tung setzen. öffentlichen Räume so zu gestalten, dass wir uns in ih- Vielen Dank. nen wohl fühlen. Daher ist gute Gestaltung ein Grundbe- dürfnis. Um dies zu befriedigen, müssen alle Beteiligten (Beifall bei der SPD) im ständigen Dialog gemeinsame Werte formulieren. Wenn die Baukultur wieder stärker in das Bewusstsein Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: der Bauherren rückt, steigert das auch die Nachfrage nach qualitativ hochwertigen Architekten- und Inge- Das Wort hat die Kollegin Renate Blank von der nieurleistungen. Es geht dabei nicht um Vorgaben oder CDU/CSU-Fraktion. starre Richtlinien. Baukultur ist der Prozess der Herstel- (Beifall bei der CDU/CSU) lung. Für die Stadt ist der öffentliche Raum ein wesentli- Renate Blank (CDU/CSU): ches stadtbildendes Element, auf dessen Gestaltung, Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir disku- Nutzung und Vernetzung Gewicht gelegt werden muss. tieren heute im Plenum über einen Bereich, der unter den Das ist auch eine Herausforderung für Planer und Bau- Begriffen „Architektur“ und „Baukultur“ zu finden ist. schaffende, Qualität mit tragbaren Kosten zu verknüp- Architektur, Baukultur und eine Qualitätsoffensive für fen. Baukultur ist eine Angelegenheit, die alle Ebenen 5712 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2003

Renate Blank (A) angeht. Wir gewinnen die Zukunft aber nur dann, wenn auch ein großer Teil des bayerischen Straßennetzes be- (C) jede Ebene dort aktiv ist, wo sie die besten Handlungs- treut. möglichkeiten hat. Ich möchte hervorheben, dass die in Forderung 1 Ih- Baukultur manifestiert sich vor allem in der Pla- res Antrags als „Dritte“ angesprochene Gruppe, also Ar- nungs- und Verfahrenskultur. Sie wird durch den Willen chitekten, Ingenieure oder Unternehmen der Bau- und zur Qualität, durch qualitätsstützende Verfahren sowie Wohnungswirtschaft, sozusagen als Produzenten von eine hohe Integrations- und Kommunikationsleistung Baukultur fungieren und damit eine sehr wichtige Auf- bestimmt. Hochwertiges Planen und Bauen ist zudem gabe wahrnehmen. Die öffentliche Hand kann allerdings ein wichtiger Standort- und Wirtschaftsfaktor. Wir müs- nur die Rahmenbedingungen vorgeben. sen aber auch die Wertschätzung, den Schutz und die Pflege des architektonischen Erbes und der gewachsenen Zu Ihrer Forderung 7 möchte ich ausdrücklich beto- Kulturlandschaft als Verpflichtung für die Gestaltung der nen, dass baukulturelle Aspekte und Gestaltungsfragen Zukunft begreifen nach dem Motto: Die Tradition pfle- nicht extra eingeräumt werden dürfen; denn sie sollten gen und den Fortschritt planen! von Anfang an bei allen Planungs- und Bauprozessen als selbstverständliche Qualitätsanforderung bestehen. Meine Damen und Herren, Gebäude prägen nicht nur Hohe baukulturelle Qualität muss bereits in der Sied- Stadtviertel und Städte, sie prägen auch unsere Gesell- lungs- und Entwicklungsplanung vorhanden sein, damit schaft. Das kann Konsequenzen haben, die weit reichen. sie in den nachfolgenden Planungsphasen erweitert und So weit wie Hans Magnus Enzensberger, der einmal konkretisiert werden kann. Sie manifestiert sich letzt- sagte: „Jeder Städtebewohner weiß, dass die Architektur, endlich in der gelungenen Umsetzung von Bauvorhaben. im Gegensatz zur Poesie, eine terroristische Kunst ist“, Zu Ihrer Forderung 8 ist aus meiner Sicht zu unterstrei- möchte ich allerdings nicht gehen. Damit jedoch Belie- chen, dass in den Diskussionen um Bewertungen zur Bau- bigkeit und Stillosigkeit nicht zu einem prägenden Mus- kultur die Stadtplanung und Stadtquartierplanung eine ter werden, brauchen wir Menschen, die die Fähigkeiten starke Berücksichtigung finden muss. Mindestens und die persönliche Autorität haben, Orientierungs- ebenso stark wie die Ästhetik einzelner Gebäude prägen punkte für gutes Bauen zu setzen und Qualitätsmerk- die funktionale Zuordnung von Nutzungen und ihre Aus- male zu definieren, hinter die niemand zurückfallen formungen im Grund- und Aufriss unserer Städte und sollte. Darin sehe ich auch die Hauptaufgabe der Initia- Dörfer das Meinungsbild über städtebauliche Qualität tive Baukultur; denn wenn man heute die Menschen auf und Baukultur. Anders ausgedrückt: Ein funktionieren- der Straße fragen würde, was sie von moderner Archi- der Stadtorganismus mit nachvollziehbaren und räum- tektur halten, dann würde die Mehrheit vermutlich kein lich überzeugend umgesetzten Strukturen wird immer besonders freundliches Urteil fällen. Aber jede Zeit hat (B) robust genug sein, auch durchschnittliche oder im Ein- (D) ihre Bausünden. Ich denke hier insbesondere an die zelfall auch schlechte Einzelgebäude zu ertragen, ohne Bausünden der Nachkriegszeit, nämlich die Trabanten- dass dadurch insgesamt der Eindruck schlechter Qualität städte mit ihren heute seelenlosen Wohnquartieren. vorherrscht. Wer als Architekt und als Baumeister sein Handwerk Weiterhin wird in diesem Punkt die humane Qualität professionell versteht, der steht immer auch in einer von Baukultur erwähnt – ein Anliegen, das insbesondere gesellschaftlichen Verantwortung. Noch so gelungene für den Wohnungsbau von zentraler Bedeutung ist. Die Baukunst ist nicht zweckfrei. Sie ist kein Kunstersatz Schaffung von Wohnqualität in Funktion und Gestaltung und keine Ersatzkunst, sondern ist von dem Zweck be- ist dabei nicht nur eine baukulturelle Aufgabe, sondern stimmt, dass Menschen in Wohnungen und Häusern auch eine soziale Verpflichtung für den Staat, von deren möglichst gut leben und dass sie in Büros und Fabrikhal- Erfüllung die Zukunft unserer Städte und die Stabilität len möglichst zufrieden und erfolgreich arbeiten können. unserer Gesellschaft nicht nur indirekt abhängen. Ein Haus, in dem sich Menschen nicht wohl fühlen, ist ein schlechtes Haus, mag es ästhetisch noch so ein- Auch Infrastrukturen wie Straßen und Brücken sind drucksvoll sein – Baukultur und gutes Bauen ist es dann ein wesentlicher Teil der gebauten Umwelt, die durch nicht. ihre exponierte Lage oft dominieren und damit einen wichtigen Teil der Baukultur unseres Landes darstellen. Meine Damen und Herren, Ihrem Antrag „Die Quali- Für den öffentlichen Bauherrn, also für den Staat, die tätsoffensive für gutes Planen und Bauen voranbringen“ Städte und die Gemeinden, die für Planung, Bau und Un- stimmen wir zu und unterstützen ihn grundsätzlich in terhaltung der Straßen zuständig sind, ergibt sich daraus seiner Zielrichtung. Einige Anmerkungen: Die Auffor- eine große Verantwortung, sowohl in technischer und derung an die Bundesregierung, vielfache Aktivitäten gestalterischer als auch in sozialer und gesellschaftlicher zugunsten qualitätsvollen Planens und Bauens aufzuneh- Hinsicht. men, bestätigt diejenigen Bundesländer und Kommunen, die auf diesem Gebiet seit langem traditionell erfolgreich In Ihrem Antrag sprechen Sie sich auch für die ver- handeln. Als Beispiel nenne ich Bayern, das mit Unter- stärkte Durchführung von Architekten- und Ingenieur- stützung seiner obersten Baubehörde immerhin seit 1830 wettbewerben bei bedeutenden Baumaßnahmen des die Baukultur entscheidend beeinflusst. Innovativ und Bundes aus. Ich gehe davon aus, dass Sie mit mir der vorbildhaft werden staatliche Hochbauten wie Universi- Meinung sind, dass wir gerade jungen Leuten die Mög- täten und Museen, zuletzt die Pinakothek der Moderne lichkeit geben sollten, sich an Ausschreibungen rege zu in München mit ihrer eindrucksvollen Architektur, aber beteiligen, obwohl sich an den in der letzten Zeit leider Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2003 5713

Renate Blank (A) üblicherweise beschränkten Ausschreibungen nur noch (Beifall im ganzen Hause) (C) große Büros beteiligen konnten. (Albert Deß [CDU/CSU]: Guter Vorschlag!) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat jetzt die Kollegin Ursula Sowa vom Nun möchte ich noch einige Anmerkungen zur ge- Bündnis 90/Die Grünen. planten Stiftung „Baukultur“ machen, die zum Ziel hat, der Baukultur in Deutschland mehr Aufmerksamkeit zu verschaffen und die Marktchancen der deutschen Ar- Ursula Sowa (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): chitekten und Ingenieure zu verbessern. Auch sollen Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und durch die Arbeit dieser Stiftung die Qualität, die Nach- Kollegen! Ich möchte Ihnen drei Gründe nennen, warum haltigkeit und die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des wir vom Bündnis 90/Die Grünen der Beschlussempfeh- Architektur- und Ingenieurwesens herausgestellt wer- lung zu dem Antrag „Die Qualitätsoffensive für gutes den. Planen und Bauen voranbringen“ ganz besonders gerne zustimmen. Der 1. Konvent der Baukultur ist im April dieses Jahres unter dem Motto „Auf dem Weg zur Stiftung“ zu- Erstens. Wir alle wissen, dass Deutschland nach wie vor sammengetreten. Es wurde über die Perspektiven von – leider – europäischer Spitzenreiter im Flächenverbrauch Planung und Architektur in Deutschland beraten und de- ist. 130 Hektar werden am Tag verbaut, davon 30 Hektar ren Bedeutung als wichtiger Standortfaktor hervorgeho- allein in Bayern, liebe Frau Blank. ben. In den Medien wurde dieser Konvent allerdings kri- tisch beleuchtet. Für uns stellen sich zur geplanten (Albert Deß [CDU/CSU]: Bayern ist sehr groß! Bundesstiftung insbesondere noch die Fragen nach der Da ziehen so viele Niedersachsen hin!) Finanzierung. Soll sie durch eine private Beteiligung – Ja. – Spätestens seit der Enquete-Kommission „Nach- und durch einen einmaligen oder durch einen jährlichen haltige Entwicklung“ ist bekannt, dass der Flächenver- Bundeszuschuss erfolgen? Sollen sich die Bundesländer brauch aus ökologischen Gründen drastisch gesenkt wer- oder die Kommunen ideell und finanziell beteiligen? den muss. Sogar in Bayern geht der Flächenverbrauch Welche Personen vertreten die Stiftung? Über diese Fra- zurück, aber nicht aus wirklicher Einsicht in die Proble- gen wird in der Zukunft noch zu reden sein. matik, sondern weil der demographische Wandel da be- reits greift. Angepeilt wird – da beziehe ich mich noch Wir stehen positiv zu dieser Stiftung, die viele Partner einmal auf die Enquete-Kommission –, dass deutsch- braucht, damit Baukunst und Baukultur stärker in das landweit nur noch 30 Hektar am Tag verbraucht werden. Bewusstsein der Gesellschaft rücken und sich zu einer Dies führt selbstverständlich dazu, dass in der Zukunft gesamtgesellschaftlichen Aufgabe entwickeln können. (B) das Bauen – dabei ist natürlich an Straßen, Brücken, (D) Wir hoffen auch, dass die Diskussion über Baukultur den Häuser oder auch Schlösser zu denken; die Diskussion internationalen Stellenwert der deutschen Architekten, hatten wir gestern im Kulturausschuss – sozusagen im- Ingenieure und Planer hebt und die Leistungen dieser mer kostbarer wird. Angesichts dessen kann meiner Partner auch zu einem wichtigen Exportartikel machen Meinung nach eine Offensive für Qualität nur hilfreich werden. sein. Architektur hat Außenwirkung. Bereits in den Schu- Ein zweiter Grund dafür, dass wir diese Offensive len sollte angefangen werden, über gutes Planen und sehr unterstützen, liegt darin, dass sie ein außerordent- Bauen zu sprechen. Bayern hat dieses Thema bereits seit lich geeignetes Instrument ist – meine Vorrednerin und einigen Jahren in den Unterricht aufgenommen. Nachah- mein Vorredner haben darauf hingewiesen –, um in un- mung in anderen Bundesländern wird empfohlen. serem manchmal sehr unzufriedenen und sehr zerrisse- Bauen ist nicht nur eine Angelegenheit von Bauher- nen Land eine Debatte über unsere Grundwerte – das ist ren und Architekten. Immer sitzt ein öffentliches Inte- nicht zu hoch gegriffen – zu entfachen. Dazu gehören resse mit am Tisch. Das unterscheidet die Kunst des durchaus die Debatte über die sozialen Brennpunkte in Bauens wesentlich von der reinen Kunst, bei der Künst- unseren Städten – als Stichwort möchte ich Hoyerswerda ler und Kunstwerk zunächst einmal für sich stehen. Bau- nennen –, aber auch die Debatten über Geschichtlichkeit. kultur bewegt sich immer im Spannungsfeld zwischen Dazu möchte ich anführen, weil es gerade so aktuell ist, individueller Nützlichkeit und sozialer Brauchbarkeit. dass 20 Millionen Euro ausgegeben werden sollen, um Baukultur ist keine Nebensache und schon gar nicht ge- den asbestsanierten Palast der Republik abzureißen, und fällige Verpackung. 590 Millionen Euro Bundesmittel für den Wiederaufbau des Schlosses bereitgestellt werden sollen. Diese Debat- Ich komme zum Schluss. Baukultur bildet sich auf der ten sind alt. Ich könnte mir vorstellen, dass sie mithilfe Grundlage von Haltungen und Einstellungen. Baukultur des Baukonvents wieder Aktualität bekommen. Viel- braucht Qualitätsmaßstäbe; darum ist Baukultur keine leicht werden auch Debatten über Regionalität, Identität Aufgabe, die sich allein an den Gesetzgeber delegieren und Ökologie auf einer ganz anderen Plattform entste- lässt. Baukultur ist auf Persönlichkeiten mit Autorität hen. und unabhängigem Urteil angewiesen, die sich in öffent- lichem Interesse um das mühsame Formulieren von Als dritten Grund möchte ich am Schluss anführen: Maßstäben bemühen. In diesem Sinne sind Architektur Wir finden die Idee einer Bundesstiftung „Baukultur“ und Baukultur eine Daueraufgabe, der wir uns gemein- außerordentlich tragfähig, zumal es um ein überschau- sam stellen sollten. bares Volumen geht. 10 Millionen Euro sind angepeilt. 5714 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2003

Ursula Sowa (A) Davon soll der Bund die Hälfte aufbringen und die ande- Diese Grundforderung unserer Partei nach Vereinfa- (C) ren 5 Millionen Euro sollen hauptsächlich von Architek- chung des Baurechts habe ich in dem Gesetzentwurf zur ten, Ingenieuren und Unternehmen aus der Bau- und Änderung des Baugesetzbuches, den das Kabinett ges- Wohnungswirtschaft kommen. Ich hoffe – ich bin sehr tern verabschiedet hat, nicht wiedergefunden. Aber da optimistisch –, dass diese 5 Millionen Euro eingehen. haben wir noch Zeit; wir werden darüber diskutieren. Ich Derzeit gibt es eine 100-Euro-Kampagne, die in allen bin sicher, dass es von unserer Seite konkrete Vorschläge Bereichen der Bauwirtschaft läuft: Jeder Interessierte geben wird. möge 100 Euro spenden. In diesen Tagen und in den nächsten Wochen werden etwa 150 000 Architekten und Die Regelungen des Denkmalschutzes dürfen nicht Ingenieure angesprochen bzw. angeschrieben. Wenn je- baubehindernd, sondern sollten bauintegrierend wirken. der Dritte diese Spendensumme aufbringt, dann steht der Auch hier ist in manchen Bereichen ein Umdenken er- Stiftung nichts im Wege. Ich bin dabei und spende sehr forderlich. Viele haben erkannt, dass das Bauen im Au- gerne 100 Euro. Ich freue mich auf den Moment, in dem ßenbereich zu einer Abkehr der Menschen von den wir – vielleicht schon im nächsten Jahr – die Bundesstif- Stadtzentren führt. Da sind wir uns alle einig. Angesichts tung gemeinsam aus der Taufe heben. der zunehmenden Entvölkerung mancher Stadtkerne muss im Innenstadtbereich und damit auch im Denkmal- Vielen Dank. schutz vieles getan werden. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Denkmäler aus der Vorkriegszeit, aber auch aus der und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der Zeit danach, die in hoher Zahl in unseren Städten stehen, CDU/CSU) müssen nutzbar gemacht werden. Auch ein Denkmal hat ein Anrecht darauf, zu leben oder zumindest perspekti- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: visch betrachtet zu werden. Deshalb wäre es wünsches- Das Wort hat der Kollege Joachim Günther von der wert, dass sich die Diskussion in der weiteren Entwick- FDP-Fraktion. lung um einen Konsens zum Denkmalschutz bemüht, damit ein Denkmal nicht baubehindernd in einer Stadt stehen bleibt, sondern integriert werden kann. Joachim Günther (Plauen) (FDP): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Das Bauen im Bestand, das Erhalten und Erweitern Herren! Unsere Kollegin Renate Blank hat dank der ihr von Baudenkmälern ist eine große Aufgabe der nächsten zur Verfügung stehenden Redezeit dieses Thema heute Jahrzehnte für unsere Architekten. Wir als FDP unter- so umfassend dargestellt, dass man genau überlegen stützen deshalb den vorliegenden Antrag und hoffen, muss, was zu einem Thema, über das parteiübergreifend dass es zu einer sinnvollen und ausreichenden Diskus- (B) (D) Konsens herrscht, noch gesagt werden kann. Einige sion in der neuen Stiftung kommt. Worte möchte ich schon noch sagen. Herzlichen Dank. In den letzten Jahren hat in diesem Bereich ein Um- (Beifall im ganzen Hause) denkprozess stattgefunden und das ist auch gut so. Die Auseinandersetzung mit der bebauten Umwelt stößt auf Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: wachsendes Interesse, nicht nur in Fachkreisen, wie das früher der Fall war, sondern auch in breiten Kreisen der Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt Bevölkerung. Baukultur ist nicht nur eine ästhetische hat die Kollegin Petra Weis von der SPD-Fraktion das Angelegenheit – Staatssekretär Großmann hat es darge- Wort. legt –; Baukultur ist eine Integration von vielen Aspek- ten des Ingenieur- und Architekturwesens, der Land- Petra Weis (SPD): schafts- und Freiflächenplanung, des Städtebaus, des Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- Denkmalschutzes und der Kunst am Bau. Baukultur be- ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist ein biss- zieht sich eben nicht nur auf das Gebäude, sondern auf chen schade, dass wir unser Thema Baukultur zu einer den gesamten Bereich der Umwelt. Tageszeit diskutieren, die weder das kollektive Interesse Der vorliegende Antrag ist eine positive, aber – diesen unseres Hohen Hauses noch das der breiten Öffentlich- kleinen Wermutstropfen möchte ich doch erwähnen – keit zu wecken geeignet ist. Damit will ich nicht die nicht umfassende Qualitätsoffensive für gutes Planen und Teilnahme unserer Gäste zu dieser Uhrzeit klein reden; Bauen. In dem Gesamtkontext fehlt die Forderung nach ganz im Gegenteil freue ich mich sehr, dass sie dieser der Vereinfachung der Bauvorschriften. Eine Stiftung Debatte folgen. „Baukultur“ darf sich nicht auf die Formulierung erhabe- Wir diskutieren heute über einen relativ neuen politi- ner Ziele und Idealvorstellungen beschränken, sondern schen Gegenstand. Wir reden darüber, wie konstruktive sollte auch konkrete Vorschläge dazu entwickeln, wie und zukunftsweisende Problemlösungen aussehen kön- qualitätsvolles Bauen umgesetzt werden kann. Vielfach nen, bei denen es gelingt, trotz unterschiedlicher Interes- sind es ja unsere starren Vorschriften in der Bauordnung, sen- und Bedürfnislagen der Beteiligten eine ganz we- die die Kreativität der Ingenieure und Architekten ein- sentliche Gemeinsamkeit herauszuarbeiten. Lassen Sie schränken und manchmal gesichtslose Bauten entstehen es mich so formulieren: Baukultur zielt auf das Bedürf- lassen. nis – ich würde sogar so weit gehen, zu sagen: Grundbe- (Renate Blank [CDU/CSU]: Das ist richtig!) dürfnis – eines jeden Menschen, in einer schönen, gut Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2003 5715

Petra Weis (A) gebauten Umgebung zu wohnen, zu arbeiten und zu le- Dabei ist uns die Vorbildfunktion des Bundes – wie (C) ben. aller anderen staatlichen Ebenen – besonders wichtig. Denn das öffentliche Bauen setzt nach wie vor Maßstäbe Auch wenn wir für uns nicht in Anspruch nehmen für private Nachahmungseffekte. Dieser Gedanke gibt können, die Baukultur erfunden zu haben, so haben wir mir die Gelegenheit, auf die zahlreichen Initiativen in doch die Rolle der politischen Promotoren im Rahmen den Bundesländern hinzuweisen. Frau Blank hat über der Initiative Architektur und Baukultur zu spielen, die Bayern gesprochen. Frau Blank, ich muss an dieser sich fast in Windeseile ausgebreitet und eine Dynamik Stelle auch über die nordrhein-westfälischen Initiativen entwickelt hat, die sicherlich viele von uns überrascht sprechen. Das sehen Sie mir nach. hat. Dieses ausgesprochen positive Zwischenergebnis hat (Renate Blank [CDU/CSU]: Nichts dagegen!) sicherlich viele Ursachen. Eine wesentliche scheint mir Ich will auch die Kommunen einbeziehen, die sich nicht zu sein, dass die umfassenden Herausforderungen – ich zuletzt angesichts der Stadtflucht wieder stärker zu einer will nicht gleich von Krise sprechen –, denen sich öf- ganzheitlichen Entwicklung von Quartieren entschließen fentliche und private Bauherren, Ingenieure, Architekten und dabei der Baukultur – allen Zwängen durch die Vor- und Planer, aber auch die Bauwirtschaft ausgesetzt se- gaben mancher Investoren zum Trotz – einen höheren hen, von den Beteiligten als Chance begriffen werden Rang einräumen. Das sind für die Kommunen oftmals können, verstärkt und zielorientiert nach Reformstrate- ein Spagat und eine Gratwanderung zugleich, wie ich gien zu suchen und diese dann auch zu finden. aus meiner eigenen kommunalpolitischen Erfahrung Diese positive Einschätzung resultiert sicherlich auch weiß. daraus, dass wir und auch viele andere erkannt haben, Wir haben allen guten Grund, die Bundesregierung dass Baukultur eben kein Luxus für Zeiten gut gefüllter aufzufordern, die Arbeit an diesem Thema fortzusetzen, Kassen und boomender Konjunktur oder andere Schön- und zwar immer im engen Kontakt zu den übrigen Ver- wetterperioden ist. Baukultur ist eine Querschnittsauf- antwortlichen auf allen Ebenen, aber vor allen Dingen in gabe, die die unterschiedlichsten Themenfelder umfasst. engem Kontakt zum Parlament, damit wir wiederum Das beginnt bei der Stadtentwicklung, geht über den eine Grundlage haben, um über die weiteren Entwick- Städte- und Wohnungsbau und hört bei der Sozial-, Bil- lungsziele und Entwicklungsschritte der Kampagne und dungs- und Kulturpolitik sicherlich nicht auf. der Initiative beraten und entscheiden zu können. Wir reden bei der Baukultur immer über mehrere Op- tionen: über den Neubau ebenso wie über den Erhalt Ich freue mich darüber und ich bedanke mich ganz ausdrücklich dafür, dass wir auch bei der Opposition Zu- (B) durch Modernisierung, aber auch über den Abriss, wir (D) reden über die Anforderungen des Denkmalschutzes und stimmung für diesen Ansatz erhalten haben. Frau Blank, damit über unser eigenes Verhältnis zur Vergangenheit. sehen Sie es mir nach: Ich habe heute Abend nicht so Bei alledem stehen wir in Konkurrenz zum Zeitgeist und viel Zeit, um auf jede Ihrer Anmerkungen eingehen zu zu den Anforderungen des Wettbewerbs- und Konkur- können. Aber Sie haben vollkommen Recht: Wir können renzdrucks. im weiteren Verlauf der Debatte sicherlich noch die De- tails klären, darüber diskutieren und Kontroversen aus- Denn natürlich geht es bei der Baukultur – Staatsse- tauschen. kretär Großmann hat darauf hingewiesen – im nationalen wie im internationalen Rahmen auch um handfeste öko- Lassen Sie mich zusammenfassen: Mit der Initiative nomische Interessen. Wir wollen und müssen die Chan- „Architektur und Baukultur“, mit dem Statusbericht der cen unserer Planer, Architekten und Ingenieure auf den Bundesregierung, mit den Vorbereitungen zum Aufbau Märkten europa- und weltweit verbessern. Dazu dient der Stiftung und nicht zuletzt mit unserem Antrag ist in die angestoßene Qualitätsoffensive, die nicht auf die erstaunlich kurzer Zeit ein Prozess verstetigt worden, Fachkreise der verschiedenen Disziplinen beschränkt ist, der bundesweite Ausstrahlung gefunden hat und nach sondern letztendlich ganz große Teile der Bevölkerung unserer festen Überzeugung sicherlich einen nachhalti- betrifft. Dieses Zusammentreffen von Profis und Laien gen Bewusstseinswandel nach sich ziehen wird: für un- – ich drücke das einmal so aus – über die Zukunft der sere gebaute Umwelt, für gutes Bauen und Planen, für Baukultur wird hoffentlich in einem spannenden und liebens- und lebenswerte Quartiere und Städte, für eine auch zivilgesellschaftlichen Prozess einmünden. neue Urbanität in Zeiten des Wandels, dessen hohes Tempo manche im Augenblick noch überfordert, und Mit unserem Antrag ermutigen wir die Bundesregie- damit eben auch für den sozialen Zusammenhalt unse- rung, sich dafür einzusetzen, dass die Stiftung „Baukul- rer Gesellschaft. Dieser Aspekt ist mir besonders wich- tur“ schon bald konkrete Formen annehmen kann und tig. dass das Konzept dieser Stiftung ein ganz breites Spek- trum an Aufgabenfeldern einbezieht, das von der Siche- Ich denke, dass es auch an uns liegt, diese Entwick- rung der Bauqualität und der Verfahrenskultur über die lung nachhaltig zu begleiten und zu befördern und damit bildungspolitischen Aspekte der Wissensvermittlung in der Städtebau- und Wohnungspolitik am Beispiel des Fragen der Baukultur gerade auch bei jungen Menschen Themas Baukultur einen ganz wichtigen Baustein dauer- bis hin zur Stärkung der Verantwortung der Bauherren haft hinzuzufügen, der unser Politikfeld – wie ich hoffe – – der öffentlichen wie auch der privaten Bauherren – ganz nebenbei wieder ein Stückchen weiter ins Zentrum reicht. der innenpolitischen Debatten rückt. Das jedenfalls sind 5716 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2003

Petra Weis (A) meine Hoffnung und meine Erwartung. Ich hoffe, es sind Wenn Sie einverstanden sind, sollen alle Reden zu 20(C).30-20.40.doc auch die Ihrigen. Protokoll gegeben werden. Es handelt sich um die Reden der Kollegen Dr. Uwe Küster von der SPD und Eckart Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. von Klaeden von der CDU/CSU, um die Rede der Kolle- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ gin Silke Stokar von Neuforn vom BÜNDNIS 90/DIE DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der GRÜNEN sowie um die Rede des Kollegen Rainer CDU/CSU und der FDP) Funke von der FDP.1) Interfraktionell wird Überweisung der Gesetzent- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: würfe auf den Drucksachen 15/751, 15/753 und 15/1687 Ich schließe die Aussprache. an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es anderweitige Vorschläge? – Das Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus- ist nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so be- schusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen auf schlossen. Drucksache 15/1683 zu dem Antrag der Fraktionen der Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf: SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen mit dem Titel „Die Qualitätsoffensive für gutes Planen und Bauen vo- Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- ranbringen“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände- Drucksache 15/1092 anzunehmen. Wer stimmt für diese rung des Gesetzes über die Errichtung einer Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Ent- Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernäh- haltungen? – Die Beschlussempfehlung ist damit ein- rung stimmig angenommen. – Drucksache 15/1663 – Ich rufe die Tagesordnungspunkte 16 a und 16 b so- Überweisungsvorschlag: wie Zusatzpunkt 4 auf: Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft 16 a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Jörg van Essen, Daniel Bahr (Münster), Rainer Für diesen Tagesordnungspunkt ist eine halbe Stunde Brüderle, weiteren Abgeordneten und der Frak- vorgesehen. Es wollen aber alle Abgeordneten bis auf tion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Ge- einen ihre Reden zu Protokoll geben, und zwar die Kol- setzes zur Änderung des Grundgesetzes legen Matthias Weisheit von der SPD-Fraktion, Albert (Art. 48 Abs. 3) Deß von der CDU/CSU-Fraktion, Friedrich Ostendorff vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und für die Bundes- (B) – Drucksache 15/751 – regierung Dr. Gerald Thalheim.2) Der Kollege Hans- (D) Überweisungsvorschlag: Michael Goldmann möchte Ihnen das, was er zu sagen Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und hat, persönlich sagen. Dafür bekommt er allerdings nicht Geschäftsordnung (f) die Redezeit der anderen hinzu, sondern er muss sich auf Innenausschuss drei Minuten beschränken. Rechtsausschuss Finanzausschuss Hans-Michael Goldmann (FDP): b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Jörg van Essen, Daniel Bahr (Münster), Rainer Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sie, Brüderle, weiteren Abgeordneten und der Frak- auch der eine oder andere Zuhörer, werden sich sicher tion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Vier- fragen: Warum macht der eigentlich so einen Willi um undzwanzigsten Gesetzes zur Änderung des seine drei Minuten? Es ist doch schon spät. – Genau das Abgeordnetengesetzes ist der Grund. Der Tagesordnungspunkt ist nämlich extra für einen so späten Zeitpunkt angesetzt worden, weil – Drucksache 15/753 – man wieder einmal etwas verschleiern, wieder einmal Überweisungsvorschlag: eine Tatsache verdrehen will. Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung (f) Ich will Ihnen das an einem Beispiel aufzeigen: Da Innenausschuss wird mal eben ein kleines Gesetz geändert. Eigentlich Rechtsausschuss klingt es ganz harmlos. Plötzlich soll – man muss genau Finanzausschuss hinhören – aus „Vorschlagsrecht“ „Anhörung“ werden. ZP 4 Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD Alle, die keine Ahnung haben, meinen, das sei fast das und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN einge- Gleiche. Aber das ist nicht der Fall. „Vorschlagsrecht“ brachten Entwurfs eines Vierundzwanzigsten bedeutet, dass eine wissenschaftliche Einrichtung das Gesetzes zur Änderung des Abgeordnetenge- Recht hat, jemanden vorzuschlagen, der fachlich geeig- setzes net ist. „Anhörung“ heißt, ein anderer schlägt vor und dann ist die Einrichtung lediglich anzuhören. Jeder, der – Drucksache 15/1687 – Kommunalpolitik macht, kennt den Unterschied zwi- Überweisungsvorschlag: schen „Benehmen herstellen“ und „Einvernehmen her- Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung (f) 1) Innenausschuss Anlage 4 Rechtsausschuss 2) Anlage 5 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2003 5717

Hans-Michael Goldmann (A) stellen“. Ich kann Ihnen sagen: Wenn Sie das Recht ha- grün umzupolen, macht bei Ihnen im Moment leider (C) ben, Benehmen herzustellen, dann können Sie gleich zu Schule. Hause bleiben. (Heiterkeit beim BÜNDNIS 90/DIE (Renate Blank [CDU/CSU]: Richtig!) GRÜNEN – Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich glaube, Jetzt wollen wir uns doch einmal anschauen, was in Sie überschätzen uns, Herr Kollege!) dem vorliegenden Gesetz geschieht. Dieser Vorgang hat bei den Grünen leider – das muss ich scharf kritisieren; – Ali Schmidt, ihr seid nicht bereit, euch mit anderen das hätte ich den Grünen nicht zugetraut – seit geraumer fachlichen Positionen auseinander zu setzen. Zeit Methode. Da schlagen Ihnen Wissenschaftler einer Die Forschungsanstalt in Braunschweig hat aufgrund Forschungsanstalt in Braunschweig zwei qualifizierte der Qualität ihrer Arbeit einen guten internationalen Ruf. Leute vor. Es wurde getagt, Professoren und alle mögli- Alle wesentlichen Institutionen und Gesellschaftsgrup- chen fähigen Leute waren anwesend. Aber Frau Künast pen unseres Landes sind in ein entsprechendes Gremium zieht nicht die von dem Haus Vorgeschlagenen heran, eingebunden. Mir kann daher keiner erzählen, dass die sondern drückt jemanden durch, der der ideologischen Entscheidung, die jetzt getroffen werden soll, etwas mit Linie der Grünen eher entspricht. Fachlichkeit zu tun hat. Hier geht es einzig und allein (Albert Deß [CDU/CSU]: Da werden die Ge- darum, Parteipolitik zu betreiben. sinnungsgenossen versorgt!) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Das hat Ärger gegeben. der CDU/CSU – Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist eine (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) böse Unterstellung!) Ich habe die Pressemitteilungen dabei. Dort steht – ich Dieses Verhalten ist sogar der Grünen unwürdig. Ich kann Ihnen das gerne zeigen –: „Empörung in der Wis- bin von einer Veranstaltung für behinderte Menschen, senschaft“. Das können Sie auch in anderen Fachveröf- die ich Ihnen sehr empfehlen kann, hierher gekommen, fentlichungen lesen. weil ich meine, dass wir den Finger in die Wunde legen müssen. Wir sind nicht bereit, Ihr Verhalten hinzuneh- Was machen Sie jetzt bei der BLE? Ein solches Ri- men. Wir lassen nicht zu, dass Sie jede Fachlichkeit au- siko wollen Sie nicht mehr eingehen. Im Frühjahr kom- ßer Acht lassen. Es gibt Menschen, die wissen, dass so- menden Jahres scheidet der Präsident der BLE aus. wohl die ökologische Landwirtschaft als auch die Sein Nachfolger soll ein Grüner werden. Weil das über konventionelle Landwirtschaft wertvoll sind. Um dies (B) den normalen Verfahrensweg nicht zu erreichen ist, än- zum Ausdruck zu bringen, habe ich mir die Mühe ge- (D) dern Sie klammheimlich zu später Stunde dieses Gesetz. macht, hierher zu kommen. (Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Ich bedanke mich dafür, dass wenigstens einige Kol- Oh!) legen hier geblieben sind. Wenn nicht schon andere Tagesordnungspunkte zu Pro- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) tokoll gegeben worden wären, wäre dieser Tagesord- nungspunkt gegen 22 Uhr dran gewesen und kein Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Mensch hätte irgendetwas davon mitbekommen. Ich schließe die Aussprache. (Zuruf von der CDU/CSU: Unglaublich!) Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent- Ich verstehe auch Folgendes nicht; das muss ich eben- wurfs auf Drucksache 15/1663 an den Ausschuss für falls sagen, lieber Kollege Albert Deß: Wir haben uns Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft vor- sehr lange darüber unterhalten, wie wir mit diesem geschlagen. Gibt es anderweitige Vorschläge? – Das ist Punkt umgehen. Deshalb finde ich es witzig, dass gerade nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. du, der du genau zu diesem Gesetz eine Anhörung im Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 b auf: Ausschuss gefordert hast – dann muss es offensichtlich um etwas ganz Wesentliches gehen –, und die Kollegen Beratung des Antrags der Abgeordneten Helge heute Abend nicht bereit sind, ein halbes Stündchen für Braun, Katherina Reiche, Thomas Rachel, weite- so etwas Wesentliches aufzubringen. rer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU (Albert Deß [CDU/CSU]: Das ist alles im Pro- Klinische Prüfung in Deutschland entbürokra- tokoll nachzulesen!) tisieren – Das hat damit nichts zu tun. Wenn wir unsere Aufgabe – Drucksache 15/1345 – als Opposition ernst nehmen, dann müssen wir uns auch Überweisungsvorschlag: noch zu später Stunde hellwach um solche Dinge küm- Ausschuss für Bildung, Forschung und mern. Technikfolgenabschätzung (f) Rechtsausschuss Ich muss ganz ehrlich sagen, dass ich dieses Verhalten Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend von Herrn Berninger und Frau Künast nicht gewohnt Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung bin. Aber das Vorgehen, das ganze Haus systematisch Ausschuss für Angelegenheiten der Europäischen Union 5718 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2003

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms (A) Auch hier war für die Aussprache eine halbe Stunde führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- (C) vorgesehen. Aber die Reden der Kollegen Dr. Carola verstanden? – Auch das ist der Fall. Dann ist die Über- Reimann von der SPD-Fraktion, Helge Braun von der weisung so beschlossen. CDU/CSU-Fraktion, Hans-Josef Fell von der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und Cornelia Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tages- Pieper von der FDP-Fraktion sollen zu Protokoll gege- ordnung. ben werden.1) – Sie sind offenkundig damit einverstan- Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun- den. destages auf morgen, Freitag, den 17. Oktober 2003, Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf 9 Uhr, ein. Drucksache 15/1345 an die in der Tagesordnung aufge- Die Sitzung ist geschlossen.

1) Anlage 6 (Schluss: 20.37 Uhr)

(B) (D) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2003 5719

(A) Anlagen zum Stenografischen Bericht (C) Anlage 1

Liste der entschuldigten Abgeordneten Anlage 3 Zu Protokoll gegebene Rede entschuldigt bis zur Beratung über den Entwurf eines Gesetzes Abgeordnete(r) einschließlich über eine einmalige Entschädigung an die Heim- kehrer aus dem Beitrittsgebiet (Heimkehrerent- Fischer (Frankfurt), BÜNDNIS 90/ 16.10.2003 schädigungsgesetz) (Tagesordnungspunkt 14) Joseph DIE GRÜNEN Petra Pau (fraktionslos): Herr Präsident! Liebe Kol- Haack (Extertal), Karl SPD 16.10.2003 Hermann leginnen und Kollegen! Ich habe in der 14. Wahlperiode des Deutschen Bundestages, als wir uns hier im Plenum Hartnagel, Anke SPD 16.10.2003 erstmals mit diesem Thema befassten, namens meiner damaligen Fraktion Unterstützung für das Anliegen die- Dr. Hoyer, Werner FDP 16.10.2003 ses Gesetzentwurfes signalisiert. Das meinte und meine ich nach wie vor sehr ernst. Lensing, Werner CDU/CSU 16.10.2003 Die PDS im Bundestag war damals bereit – zumindest wenn es um die Abstimmung über diesen Gesetzestext Nitzsche, Henry CDU/CSU 16.10.2003 ging – darüber hinwegzusehen, dass in der Begründung, Schmidt (Fürth), CDU/CSU 16.10.2003 welche ja keine Auswirkungen auf Zahlungen hat, Dinge Christian gleichgesetzt werden, die nicht gleichzusetzen sind. Ich denke, es sollte Schluss damit sein, die Zwangsarbeiterin- Schröder, Gerhard SPD 16.10.2003 nen und Zwangsarbeiter, die bis heute erst geringe Zah- lungen an Entschädigung gesehen haben, mit denjenigen Stübgen, Michael CDU/CSU 16.10.2003 gleichzusetzen, um die es in diesem Gesetzentwurf geht. So weit, so gut.

Anlage 2 Nun aber zu dem Gesetzentwurf des Bundesrates. In ihm ist immer noch § 2 Abs. 2 des damaligen CDU-An- (B) (D) Antwort trages enthalten. Bereits in der 14. Wahlperiode habe ich immer gedacht, dass dies entweder zu heilen sei oder des Parl. Staatssekretärs Hans Georg Wagner auf die aber dass sich hier etwas eingeschlichen hat, was den Frage der Abgeordneten Dr. Gesine Lötzsch (fraktions- Gesetzentwurf ad absurdum führen sollte. Ich lese Ihnen los) (Drucksache 15/1676, Frage 2, 65. Sitzung): den Satz, um den es hier geht, noch einmal vor: Welche Möglichkeiten sieht die Bundesregierung, das Ge- nossenschaftsrecht dahin gehend zu verbessern, dass bei einer Die einmalige Entschädigung erhalten solche Insolvenz – wie bei der Konsumgenossenschaft Berlin – die Heimkehrer nicht, die vor oder nach dem Ende des Einlagen der Genossenschafter – ähnlich wie beim Einlagen- Zweiten Weltkrieges einem totalitären System er- sicherungsfonds der Banken – zumindest teilweise gesichert heblich Vorschub geleistet oder durch ihr Verhalten werden können? gegen die Grundsätze der Menschlichkeit oder der Im Insolvenzfall einer Genossenschaft stellen die Ge- Rechtsstaatlichkeit verstoßen haben. schäftsguthaben der Genossen, die aus den eingezahlten Meinen Sie denn ernsthaft, dass der 2. Weltkrieg kein Einlagen gebildet werden, die Haftungsmasse für den Angriffs- und Vernichtungskrieg war und dass diejeni- Gläubiger dar. Die Genossen sind gleichsam die Eigen- gen welche freiwillig oder gezwungen als Soldaten der tümer des Schuldners, sie befinden sich damit in der Wehrmacht in diesen Krieg gezogen sind, damit nicht an Schuldnerrolle. Das wird vor allem dann deutlich, wenn Verletzungen der Menschlichkeit und Rechtsstaatlichkeit das Statut der Genossenschaft für den Insolvenzfall eine beteiligt waren? Nachschusspflicht vorsieht. Mit diesem Absatz führen Sie dies doch selbst ad ab- Im Gegensatz hierzu sind die Kunden einer Bank, die surdum. Da hilft auch nicht das Argument, dass in allen bei dieser Giroguthaben, Termin- und Spargelder unter- Leistungsgesetzen in Bezug auf die ehemalige DDR ein halten, Insolvenzgläubiger. Der Einlagensicherungs- solcher Absatz geschrieben steht. Ich denke, er sollte aus fonds schützt bei Zahlungsunfähigkeit eines privaten diesem Gesetzentwurf herausgenommen werden, da man Kreditinstituts die Kunden als Gläubiger der Bank vor soziale Leistungen nicht mit dem Strafrecht verbinden dem Verlust ihrer Spareinlagen. kann. Aus genossenschaftsrechtlicher Sicht gibt der er- Es ist schade, dass Sie die Chance bis heute nicht ge- wähnte Insolvenzfall jedoch Anlass zu Überlegungen, ob nutzt haben, diesen Absatz herauszunehmen. Hätten Sie die Genossen bei Eintritt in eine Genossenschaft auf die diesen Schritt getan, dann wäre auch die PDS im Bun- Folgen einer Insolvenz, z. B. eine etwaige Nachschuss- destag bereit gewesen, der Entschädigung für Heimkeh- pflicht, besonders hingewiesen werden sollten. rer zuzustimmen. 5720 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2003

(A) Anlage 4 destages einen zusätzlichen Sparbeitrag. Abgeordnete (C) des Bundestages werden mit dieser Neuregelung des Ab- Zu Protokoll gegebene Reden geordnetengesetzes behandelt wie jeder andere Bürger zur Beratung: auch: nicht besser, aber auch nicht schlechter. – Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Dennoch war in der Zeitung mit den großen Buchsta- Grundgesetzes (Art. 48 Abs. 3) ben, „Bild“-Zeitung, 11. Oktober 2003, vor einigen Ta- gen ein aus meiner Sicht unqualifiziertes Zitat des Präsi- – Entwurf eines Vierundzwanzigsten Gesetzes denten des Bundes der Steuerzahler, Karl-Heinz Däke, zur Änderung des Abgeordnetengesetzes zu lesen. Herr Däke erklärte dort zu der geplanten Geset- zesänderung kurzerhand – ich zitiere –: „Die Politik ver- (Tagesordnungspunkt 16 a und b, Zusatztages- kauft die Bürger mal wieder für dumm.“ Dazu kann ich ordnungspunkt 4) nur an die Meinungsträger in unserem Lande appellie- ren, dass sie in ihren öffentlichen Äußerungen sachlich Dr. Uwe Küster (SPD): Ich möchte zunächst näher über die Abgeordneten des Deutschen Bundestages auf den Gesetzentwurf der Koalitionsfraktionen zur Än- äußern. Nach meiner festen Überzeugung obliegt allen derung des Abgeordnetengesetzes eingehen. Das Abge- Meinungsträgern eine hohe Verantwortung dafür, dass ordnetengesetz sieht für Abgeordnete des Bundestages über das Parlament sachgerecht und fair berichtet wird. eigentlich kein Sterbegeld vor. Hinterbliebene von ver- Jede andere Verhaltensweise untergräbt die Würde des storbenen Abgeordneten steht vielmehr nach § 24 des Parlaments, das Ansehen des Bundestages und das sei- Abgeordnetengesetzes ein so genanntes Überbrückungs- ner Abgeordneten in der Öffentlichkeit. Durch Äußerun- geld zu. gen, wie der von Herrn Dr. Däke, wird letztlich der par- lamentarischen Demokratie in Deutschland Schaden Das Überbrückungsgeld hat den Zweck, als fürsorge- zugefügt. Damit schließe ich sachlich vorgetragene Kri- ähnliche Leistung den Hinterbliebenen von Abgeordne- tik gegenüber Bundestagsabgeordneten selbstverständ- ten nach dem Todesfall finanziell den Übergang und die lich nicht aus. Umstellung auf die neuen Lebensverhältnisse zu erleich- tern. Das Überbrückungsgeld ist vergleichbar mit ähnli- Ich kann damit nahtlos zum zweiten Punkt meiner chen Leistungen aufgrund gesetzlicher oder tarifvertrag- Rede überleiten. Die FDP-Fraktion möchte mit ihren Ge- licher Regelungen. Ich nenne hier nur die Regelungen im setzesanträgen erreichen, dass künftig eine beim Bun- Rentenrecht, § 67 SGB VI, Regelungen im Beamtenver- despräsidenten einzusetzende Sachverständigenkommis- sorgungsgesetz, § 18 BeamtVG, und tarifvertragliche sion zur Ermittlung und Festsetzung der angemessenen Regelungen, wie zum Beispiel in § 41 BAT. Abgeordnetenentschädigung geschaffen wird. Hierzu (B) schlägt die FDP-Fraktion eine Änderung des Art. 48 des (D) Das Überbrückungsgeld dient aber auch der Abde- Grundgesetzes und eine Änderung des Abgeordnetenge- ckung von Bestattungskosten. Insoweit entspricht es dem setzes vor. Der Vorschlag der FDP-Fraktion ist in der Sa- bisherigen Sterbegeld in der gesetzlichen Krankenversi- che nicht neu. Ich glaube, sie hat Ähnliches bereits in der cherung und einer ähnlichen Regelung für Beihilfeemp- letzten Wahlperiode gefordert. Auch das Anliegen, das fänger. Mit dem Gesetzentwurf der Koalitionsfraktionen dahinter steht, ist bekannt. Es soll der immer wieder er- wird der Bestattungskostenanteil im Überbrückungsgeld hobene Vorwurf der „Selbstbedienung“ durch die Bun- gestrichen. Die Abgeordneten des Bundestages werden destagsabgeordneten entkräftet werden. Ziel ist auch die damit den Mitgliedern der gesetzlichen Krankenversi- damit verbundene öffentliche Kritik zu vermeiden. cherung und den Beihilfeempfängern gleichgestellt. Der Ungeachtet der beachtenswerten Zielsetzung der Ge- Gesetzentwurf setzt die Streichung des Bestattungskos- setzesentwürfe der FDP-Fraktion meine ich, dass wir an tenanteils im Überbrückungsgeld dadurch um, dass der dem Modell der gesetzlichen Regelung der Abgeordne- Bestattungskostenanteil im Überbrückungsgeld gestri- tenentschädigung festhalten sollten. Dieses entspricht chen wird. Der Auszahlungsbetrag des Überbrückungs- der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. geldes wird um 1 050 Euro vermindert. Dieses entspricht aber auch meiner politischen Überzeu- Dieser Betrag entspricht dem Zuschuss zu den Bestat- gung. Die Abgeordnetenentschädigung für Mitglieder tungskosten in der gesetzlichen Krankenversicherung, des Deutschen Bundestages ist stets auch eine politische §§ 58, 59 Sozialgesetzbuch V, bevor er in zwei Schritten Frage. Und politische Fragen sollte der Bundestag als erst halbiert und jetzt vollständig abgeschafft wurde. Gesetzgeber entscheiden. Wir sollten dies nicht externen Sachverständigen überlassen. Nur anmerken möchte ich an dieser Stelle, dass auch Bundestagsabgeordnete schon heute unmittelbar von der Ich bin der festen Überzeugung, dass es Aufgabe des Streichung des Sterbegeldes in der gesetzlichen Kran- Bundestages als Gesetzgeber ist, über die Bezüge der Ab- geordneten zu entscheiden. Nur dann besteht eine hinrei- kenversicherung bzw. in den Beihilfevorschriften betrof- chende Legitimation von Entscheidungen über die Be- fen sind. Abgeordnete des Bundestages sind nämlich züge von Abgeordneten. Den populistischen Vorwurf der vielfach Mitglieder der gesetzlichen Krankenversiche- „Selbstbedienung“ müssen die Abgeordneten ertragen. rung oder beihilfeberechtigt. Die Kürzung des Sterbegel- des gilt schon deshalb in vielen Fällen automatisch für Sie können und sollten ihn aber auch entkräften. Ich Bundestagsabgeordnete. Mit dem vorgelegten Gesetz- meine, sagen zu können, dass der Bundestag immer ver- entwurf zur Kürzung des Überbrückungsgeldes um antwortlich mit der Festsetzung der Abgeordnetenent- 1 050 Euro leisten die Mitglieder des Deutschen Bun- schädigung umgegangen ist. Es gab in Abhängigkeit von Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2003 5721

(A) der ökonomischen Situation in Deutschland in den ver- In der vorletzten Wahlperiode haben wir einvernehm- (C) gangenen Jahren viele Nullrunden. Anhebungen der Ab- lich in das Abgeordnetengesetz geschrieben, dass sich geordnetenentschädigung fielen stets moderat aus und die Abgeordnetenentschädigung an den Jahresbezügen orientierten sich an der allgemeinen Entwicklung der eines Richters bei einem obersten Bundesgericht oder ei- Löhne und Gehälter. Dieses wird im Übrigen auch wie- nes kommunalen Wahlbeamten auf Zeit – also an R 6 der im Jahre 2004 so sein. bzw. B 6 – orientieren soll. Ich denke, dass dieser Maß- stab die Frage der Angemessenheit sachlich beantwortet. Es bleibt dabei, dass die eigentlich fällige Anhebung der Abgeordnetenentschädigung zum l. Januar 2004 Mit Blick auf die Rechtsprechung des Bundesverfas- nicht vorgenommen wird. Ich glaube hierzu besteht in sungsgerichts handelt es sich allerdings um eine poli- diesem Hause eine große Übereinstimmung. In der Ein- tisch gesetzte Größe. Aufgrund mehrerer Nullrunden der setzung einer unabhängigen Kommission zur Diätenfest- vergangenen Jahre bleiben die Diäten hinter diesem setzung beim Bundespräsidenten sehe ich keinen Vorteil. Maßstab mit nahezu 900 Euro zurück. Zunächst ist es schon bemerkenswert, dass ausgerechnet Gleichzeitig haben wir seinerzeit auch in das Abge- die FDP-Bundestagsfraktion dies vorschlägt. Aus dieser ordnetengesetz aufgenommen, über die Anpassung der Ecke des Hauses kommt häufig Kritik, wenn neue Kom- Abgeordnetenentschädigung innerhalb des ersten hal- missionen eingesetzt werden. ben Jahres nach der konstituierenden Sitzung zu ent- Die Kommission soll nach den Vorstellungen der scheiden. Den nach dem Verfahren vorgesehenen Vor- FDP-Fraktion offenbar konkrete Vorschläge zur Diäten- schlag hat der Bundestagspräsident nicht gemacht. Doch höhe erarbeiten und festlegen. Der Bundespräsident hat kein Vorschlag ist wohl auch ein Vorschlag. diese unabhängige Kommission zu berufen. Der Gesetz- Ich kann den Präsidenten angesichts der katastropha- geber selbst soll – wenn ich den Gesetzentwurf der FDP- len gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Situation, in Fraktion richtig verstanden habe – keinen Einfluss mehr die uns die rot-grüne Bundesregierung geführt hat, ver- auf die Diätenhöhe haben. Wir werden uns in den zu- stehen. Rekordarbeitslosigkeit und historische Höhen ständigen Ausschüssen damit noch intensiv auseinander der Neuverschuldung geben wahrlich keinen Grund für zu setzen haben. Diätendebatten. Insbesondere ist es ausgeschlossen, die eigenen Diäten zu erhöhen, wenn man Kürzungen vor- Ich bin aber auch der Meinung, dass der Deutsche nimmt, deren Notwendigkeit man vor der Wahl noch Bundestag das Recht, die Diäten für seine Mitglieder ausdrücklich ausgeschlossen hatte. Insofern bin ich mit festzusetzen, nicht aufgeben sollte. Nur dieses ermög- dem Bundestagspräsidenten einer Meinung. licht ein transparentes und öffentliches Verfahren in die- (B) ser Frage. Nun will uns die FDP einen Weg aus unserem immer (D) wiederkehrenden Dilemma zeigen. Sie hat ihre Vor- Die Mitglieder des Deutschen Bundestages können schläge aus der vergangenen Wahlperiode, die seinerzeit stolz darauf sein, dass über ihre Einkünfte in einem öf- abgelehnt bzw. nicht zu Ende beraten wurde, erneut auf fentlichen Verfahren entschieden wird. Die parlamentari- den Tisch gelegt. Die FDP schlägt vor, eine unabhängige sche Behandlung der Festsetzung der Abgeordnetenent- Sachverständigenkommission durch den Bundespräsi- schädigung ermöglicht es jedermann, die Entscheidung denten zu berufen, die jährlich die Höhe der Diäten fest- über die Höhe der Abgeordnetenentschädigung nachzu- setzen soll. Hierfür sollen sowohl das Abgeordnetenge- vollziehen. Dieses ist sonst in kaum einem anderen Be- setz als auch Art. 48 Abs. 3 des Grundgesetzes geändert rufszweig der Fall. Gerade beim Thema Abgeordneten- werden. Außerdem soll die Kommission bis zum entschädigung sollte sich der Deutsche Bundestag nicht 1. April 2004 die rechtliche Angemessenheit der Alters- verstecken. Alle Parlamentarier sollten offensiv vertre- versorgung der Abgeordneten überprüfen und einen Vor- ten, dass sie ihre Entschädigung zu Recht bekommen: schlag unterbreiten, „wie das bestehende Altersversor- Alle Parlamentarier nehmen mit ihrem Mandat eine er- gungsrecht insbesondere unter dem Gesichtspunkt einer hebliche Arbeitslast und Verantwortung auf sich. Es ist stärkeren Eigenverantwortung der Mitglieder des Bun- notwendig, den Bundestagsabgeordneten eine angemes- destages geändert werden kann.“ sene Entschädigung zu zahlen. Nur dann können wir auch weiterhin qualifizierte Menschen gewinnen, die be- Auf der Grundlage des geltenden Verfassungsrechts reit sind, ein Abgeordnetenmandat zu übernehmen. begegnet eine unabhängige Kommission beim Bundes- präsidenten mit eigener Entscheidungsbefugnis verfas- sungsrechtlichen Bedenken. Unter Berücksichtigung der Eckhart von Klaeden (CDU/CSU): Wir Abgeord- Grundsätze, die das Bundesverfassungsgericht 1975 im nete werden immer wieder dafür kritisiert, dass wir „Diäten-Urteil“ dargelegt hat, wird vielfach ein umfas- selbst über die Höhe unserer Einkünfte bestimmen. Der sender Parlamentsvorbehalt angenommen. Vorwurf der Selbstbedienung der Abgeordneten wird da- bei regelmäßig in der Öffentlichkeit erhoben. Nun heißt Ob bei Änderung des Art. 48 Abs. 3 des Grundgeset- es in Art. 48 Abs. 3 Satz 1 des Grundgesetzes: „Die Ab- zes wie die FDP vorschlägt – die Übertragung möglich geordneten haben Anspruch auf eine angemessene, ihre ist, wird in Fachkreisen unterschiedlich beurteilt. Als Unabhängigkeit sichernde Entschädigung.“ Seit seinem Maßstab wird hier von vielen die Untastbarkeitsgarantie Bestehen beschäftigt den Bundestag und auch die inte- aus Art. 79 Abs. 3 des Grundgesetzes wegen Berührung ressierte Öffentlichkeit vor allem die Frage: Was ist an- des Rechtsstaats- und Demokratieprinzips nach Art. 20 gemessen? Abs. 2 des Grundgesetzes herangezogen. 5722 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2003

(A) Auch stellt sich die Frage, ob es sinnvoll ist, neben dern der gesetzlichen Krankenversicherung zugemutet (C) Bundestag, Bundesrat, der Bundesversammlung, dem haben. Das ist kein falscher Populismus, sondern eine Bundespräsident, Bundeskanzler, der Bundesregierung Geste der Ehrlichkeit. Ich bin mir sicher, dass diese Bot- und dem Bundesverfassungsgericht mit dieser Kommis- schaft in der Öffentlichkeit auch verstanden wird. sion möglicherweise ein weiteres Verfassungsorgan zu schaffen, dessen einzige Aufgabe es ist, die Höhe der An die Adresse der Öffentlichkeit sei aber auch ge- Abgeordnetenentschädigung festzusetzen. Unabhängig sagt, dass die Gelder für Abgeordnete nur ein Bruchteil davon wird zudem zu erörtern sein, ob die von der FDP dessen sind, was beispielsweise Manager aus der Wirt- angestrebte Übertragung der Entscheidungsbefugnis ihr schaft im Falle ihres Ausscheidens erhalten. Der Fall der Ziel einer politischen Entlastung der Abgeordneten auch Führung von Mannesmann ist allgemein bekannt. erreicht. Glücklicherweise wird dieser Fall vor Gericht ausgetra- gen. Ich frage mich aber auch, was zum Beispiel der ge- Aber trotz all dieser Bedenken habe ich Verständnis schasste Chef von Toll Collect dafür bekommt, dass er und Sympathie für den Vorschlag der FDP, die Entschei- die LKW-Maut auf Grundeis gesetzt hat. Es wird nicht dung über die Diätenhöhe aus dem Parlament heraus zu nur mich, sondern auch die Öffentlichkeit interessieren, verlagern und so den Vorwurf der Selbstbedienung zu ob der Bund auf seinem Schaden sitzen bleibt, während vermeiden. es sich die Verantwortlichen durch dicke Abfindungen gut gehen lassen. Angesichts der verfassungsrechtlichen und verfas- sungspolitischen Fragen, die hier zu klären sind, bin ich Aus der Sicht der Öffentlichkeit geht es aber nicht al- gespannt auf die anstehenden Diskussionen in den Aus- lein um Geld. Die Diskussion ist immer auch ein Spiegel schüssen. Die Union wird das Verfahren konstruktiv, über die Zufriedenheit – oder Unzufriedenheit – mit der verantwortungsbewusst und mit dem erforderlichen Au- Politik insgesamt. Mit einer Diätendebatte allein kom- genmaß begleiten. men wir dabei nicht aus. Wir Abgeordnete haben in den vergangenen Jahren zahlreiche Nullrunden gehabt, ohne Das gilt im Übrigen selbstverständlich auch für den dass dies von der Öffentlichkeit überhaupt zur Kenntnis Vorschlag der SPD, dass Überbrückungsgeld für Hinter- genommen wurde. Die obersten Richter als Bezugsper- bliebene eines Abgeordneten um den „Bestattungskos- sonen für unser Einkommen sind längst enteilt. tenanteil“ zu kürzen. Hierbei handelt es sich nicht – wie in der Berichterstattung in Unkenntnis des Sozialrechts Wir dürfen uns – parteiübergreifend – nicht der Illu- immer wieder behauptet wurde – um das Nachvollziehen sion hingeben, mit finanziellen Zugeständnissen allein der Streichung des Sterbegeldes aus der gesetzlichen die Kritik an uns und unserer Arbeit abwehren zu kön- (B) Krankenversicherung. Abgeordnete sind nämlich wie je- nen. Wir sollten auch mit mehr Selbstbewusstsein unsere (D) der andere Bürger derselben Gehaltsklasse auch entwe- Arbeit öffentlich darstellen, statt immer wieder vor fal- der freiwillig in der gesetzlichen Krankenversicherung schen Populisten in die Knie zu gehen. Bei manchen oder privat versichert. Für Abgeordnete gibt es also kein Kritikern spielt wohl auch eine tief verwurzelte Abnei- Sonderrecht. Trotzdem ist es ein richtiges Signal, den gung gegen Streit und öffentliche Debatte eine Rolle. fiktiven Teil der Beerdigungskosten aus dem Überbrü- Mit Demutsgesten gegenüber dieser vordemokratischen ckungsgeld zu streichen. Persönlich kann ich mir vor- Harmoniesehnsucht nach der allwissenden starken Füh- stellen, noch weiter zu gehen und das Überbrückungs- rung kommen wir ganz gewiss nicht weiter. geld komplett ersatzlos zu streichen. Ich halte es für Als Gesetzgeber werden wir aus dem Dilemma, in öf- zumutbar, dass Abgeordnete für diesen Fall eine private fentlicher Debatte immer wieder selbst über unsere Be- Versicherung abschließen. züge entscheiden zu müssen, nicht herauskommen. Da hilft uns auch keine Kommission. Das Bundesverfas- Silke Stokar von Neuforn (BÜNDNIS 90/DIE sungsgericht hat in seinem grundlegenden Diätenurteil GRÜNEN): Debatten über die Bezahlung der Mitglieder aus dem Jahre 1975 dem Bundestag selbst die Verant- des Bundestages ziehen sich durch die gesamte Ge- wortung für die Einkommen zurückgegeben. Es ist kei- schichte der Bundesrepublik. Debatten über die Entloh- neswegs neu, wenn die FDP jetzt versucht, das Parla- nung der Politikerinnen und Politiker haben aber immer ment seiner Verantwortung für die Festlegung der zwei Gesichter. Es geht zum einen um Geld. In Zeiten Gehälter zu entledigen. Die Idee ist reichlich alt, fast knapper öffentlicher Kassen, stagnierender Realeinkom- sterbegeldfähig. men und leider notwendiger Streichungen im sozialen Bereich stellen – sich – die Bürger an uns immer wieder Der Vorschlag der FDP auf Drucksache 15/753 ist nur die Gerechtigkeitsfrage. Dem müssen wir uns selbst und vordergründig charmant, in Wirklichkeit aber eine ganz persönlich stellen. Kommissionen helfen uns da Flucht aus der politischen Verantwortung. Nein, meine nicht weiter. Die Politik muss auch bei sich selbst Ab- Damen und Herren, das verfassungsrechtliche Demokra- striche machen. Will sie glaubwürdig von anderen Ver- tiegebot versperrt uns das Schlupfloch einer Kommis- zicht abverlangen, kann sie sich selbst keine Schonung sion, die anstelle des Parlaments entscheidet. Mich er- auferlegen. staunt auch, dass ausgerechnet die FDP eine neue Bürokratie schaffen will. Es ist doch die FDP, die immer Wir haben hier in dem Gesetzentwurf der Koalition gegen die Einrichtung von Kommissionen polemisiert. zur Streichung des Sterbegeldes für Abgeordnete uns Nun fordert sie selber eine – ohne freilich deren Kosten selbst genau das zugemutet, was wir auch den Mitglie- zu beziffern. Auf dem Vorblatt des Entwurfes heißt es le- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2003 5723

(A) diglich: „Kosten für die Arbeit der Kommission“. Wer Bundestages bestehenden materiellen Regelungen und (C) hätte das gedacht? Aber was kostet dieser neue Apparat, zuletzt 1992 die unabhängige Kommission zur Überprü- Herr van Essen? fung des Abgeordnetenrechts. Abschließend noch eine Anmerkung zu Ihrem Ände- Wir fordern mit unseren Initiativen nicht nur punktu- rungsvorschlag des Abgeordnetengesetzes. Die vom elle Änderungen am bestehenden System, sondern eine Bundespräsidenten ernannte Kommission soll einen Vor- radikale Strukturreform. Das Festhalten an der geltenden schlag zur Altersentschädigung machen. Es erstaunt Rechtslage würde dazu beitragen, das Ansehen des schon, dass Sie Ihren alten Vorschlag für eine völlige Deutschen Bundestages bei den Bürgerinnen und Bürger Privatisierung der Altersversorgung hier nicht mehr an- weiter zu beeinträchtigen und das Vertrauen in das Parla- führen. Sie drücken sich um eine klare inhaltliche Aus- ment und seine Tätigkeit zu schwächen. Das Vertrauen sage und verweisen auf das Verfahren. Offenbar haben der Bevölkerung in die Entscheidungen der Politik zählt Sie gemerkt, dass die völlige Privatisierung der Alters- aber zu den wesentlichen Voraussetzungen für das Funk- vorsorge nur durch eine massive Erhöhung der Diäten zu tionieren der parlamentarischen Demokratie. finanzieren wäre. Das der Öffentlichkeit zu sagen, trauen sie sich natürlich nicht. Deshalb bleibt es bei der wolki- Unsere Gesetzentwürfe sehen eine Ergänzung in gen Formulierung einer „stärkeren Eigenverantwor- Art. 48 Abs. 3 Grundgesetz vor, um die rechtliche tung“. Das hört sich gut an, ist aber bei genauerem Hin- Grundlage für die Einsetzung einer unabhängigen vom sehen nichts als ein sprachlicher Schleiertanz. Bundespräsidenten zu berufenen Sachverständigenkom- mission zu schaffen sowie ergänzend dazu, eine Ände- rung des Abgeordnetengesetzes. Rainer Funke (FDP): Wer die Zeitungen der letzten Tage aufschlägt, sieht, dass das Thema Diäten wieder in Der Einwand, wir würden mit diesen Plänen gegen aller Munde ist. Diesmal trifft es in erster Linie die Ab- das Demokratieprinzip verstoßen, gehen ins Leere. Die geordneten des Europäischen Parlaments. Wir sehen aber Verlagerung von Entscheidungen aus dem Parlament auch an den zahlreichen Zuschriften und E-Mails, die heraus, sei es auf das Bundesverfassungsgericht oder die wir tagtäglich in unsere Büros bekommen, dass das Bundesbank, ist der Verfassung nicht fremd. Ein Verstoß Thema Abgeordnetenentschädigung nach wie vor von gegen das Demokratieprinzip liegt auch deshalb nicht hoher Brisanz für die Bürgerinnen und Bürger ist. Insbe- vor, weil die Kompetenz zur Festsetzung der Abgeord- sondere vor dem Hintergrund der aktuellen Diskussio- netenentschädigung durch eine souveräne Entscheidung nen über die Reform unseres Sozialstaates und die damit des Gesetzgebers in einem Einzelfall und in eigener Sa- verbundenen Kürzungen von Sozialleistungen wird ver- che auf die Kommission übertragen wird. Nur die Ent- stärkt öffentlich über die Diäten der Abgeordneten dis- (B) scheidung über die Anpassung der Leistungen wird vom (D) kutiert. Es gibt regelmäßig Vorbehalte in der Bevölke- Parlament auf die Kommission verlagert. Dem Parla- rung bei der Diskussion über eine angemessene ment verbleibt weiterhin die Kompetenz, Grundentschei- Anhebung der Entschädigung der Abgeordneten. Da dungen durch entsprechende Vorgaben im Abgeordne- eine solche Diskussion grundsätzlich von kritischen Be- tengesetz selbst zu schaffen. Im Abgeordnetengesetz trachtungen der Boulevardpresse begleitet wird, eignet müssen die materiellen Vorgaben getroffen werden, wel- sich das Thema kaum für parteipolitische Profilierungen. che Bestandteile aufgrund der verfassungsrechtlichen Regelmäßig wird gegen uns der Vorwurf der Selbstbe- Stellung des Abgeordneten zwingend zur Abgeordneten- dienung erhoben, denn kein anderer Berufsstand kann entschädigung gehören. Diese Rechtsauffassung ist über den Umfang und die Struktur seiner Bezüge selbst durch ein Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes entscheiden. Dabei wird jedoch übersehen, dass dies bestätigt worden. nicht dem Willen der Abgeordneten entspricht, sondern verfassungsrechtlich vorgegeben ist. Es führt kein Weg Ganz besonders wichtig ist uns, dass die Kommission daran vorbei: Wir müssen uns dieser Diskussion stellen. ebenfalls Vorschläge zur Altersversorgung macht. Die Wir müssen endlich den Mut haben zu einer grundlegen- FDP ist der Überzeugung, dass es ganz allein Sache des den Strukturreform der Abgeordnetenentschädigung. Abgeordneten ist, Vorsorge für den Fall der Arbeitsunfä- higkeit und des Alters zu treffen. Ein privatwirtschaftli- Wie Sie wissen, hat die FDP-Bundestagsfraktion be- ches Versicherungsmodell, das den Abgeordneten größt- reits in der vergangenen Wahlperiode Gesetzentwürfe in mögliche Entscheidungsfreiheit belässt, sich im Rahmen den Bundestag eingebracht, in denen die Einsetzung ei- der gesetzlichen Möglichkeiten auch in solchen Alters- ner unabhängigen Kommission gefordert wird, die eine vorsorgesystemen abzusichern, denen sie aufgrund vo- grundsätzliche Neuorientierung der Abgeordnetenent- rausgegangener beruflicher Tätigkeit bereits angehören, schädigung verbindlich festlegt. Diese Kommission soll würde dem verfassungsrechtlichen Status der Mitglieder ebenfalls Entscheidungen treffen für alle damit verbun- des Bundestages besser entsprechen. Das Europaparla- denen Folgeregelungen, wie zum Beispiel das Überbrü- ment hat dies für seine Mitglieder beispielhaft geregelt. ckungsgeld, das Sterbegeld und die Altersvorsorge von Abgeordneten. Die Idee einer unabhängigen Kommis- Die FDP hofft sehr, dass es dieses mal gelingen wird, sion ist nicht neu. Der Deutsche Bundestag berief bereits gemeinsam zu Entscheidungen zu gelangen, die die Be- 1974 zur Frage der Besteuerung der Diäten einen Beirat zeichnung Reform wirklich verdienen. Wir können die- für Entschädigungsfragen, 1990 ein Gremium unabhän- ser Frage nicht länger aus dem Weg gehen. Der Bürger giger Persönlichkeiten zur Beratung der Bundestagsprä- verlangt von uns, dass wir endlich handeln. Diesen Auf- sidentin bei der Überprüfung der für die Mitglieder des trag sollten wir ernst nehmen. 5724 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2003

(A) Anlage 5 Dennoch bleibt die Beteiligung und Mitwirkung des (C) Verwaltungsrats der BLE bei Personalvorschlägen ja ge- Zu Protokoll gegebene Reden wahrt: Die Anhörung des Verwaltungsrats im Verfahren zur Beratung über den Entwurf eines Gesetzes ist der Ernennung zeitlich vorgeschaltet, sodass er mit zur Änderung des Gesetzes über die Errichtung seiner Stellungnahme noch auf den Ernennungsvor- einer Bundesanstalt für Landwirtschaft und Er- schlag der Bundesregierung an den Bundespräsidenten nährung (Tagesordnungspunkt 18) Einfluss nehmen kann. Das Anhörungsrecht beschränkt sich also nicht auf die bloße Kenntnisnahme der von der Bundesregierung vorgeschlagenen Personalentschei- Matthias Weisheit (SPD): Mit dem vorliegenden dung, sondern es beinhaltet die Möglichkeit, Anregun- Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Änderung des gen, Empfehlungen und Vorschläge hinsichtlich anderer Gesetzes über die Errichtung einer Bundesanstalt für für die Ernennung in Betracht kommender Personen zu Landwirtschaft und Ernährung soll das Vorschlagsrecht machen. des Verwaltungsrats der Bundesanstalt für Landwirt- schaft und Ernährung, BLE, bei der Ernennung des Prä- Ich halte diese von der Bundesregierung vorgeschla- sidenten und des Vizepräsidenten in ein Anhörungsrecht gene Änderung des Gesetzes über die Errichtung einer geändert werden. Das Vorschlagsrecht soll künftig bei Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung für der Bundesregierung liegen. sachgerecht und ich bitte Sie, dem Gesetzentwurf zuzu- stimmen. Das bisherige Vorschlagsrecht des Verwaltungsrats der Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung für Präsident und Vizepräsident war schlicht dem Verfahren Albert Deß (CDU/CSU): Der vorliegende Gesetzent- einer der beiden Vorläuferanstalten der BLE angelehnt wurf ist ein weiterer Beleg für das Auseinanderfallen worden: Die BLE ist 1995 aus der Zusammenlegung der von Reden und Handeln dieser Bundesregierung. Bundesanstalt für landwirtschaftliche Marktordnung, Im Koalitionsvertrag und in Sonntagsreden von Rot- BALM, und des Bundesamtes für Ernährung und Forst- Grün werden hehre Ziele wie Bürgernähe, Bürgerbeteili- wirtschaft, BEF, entstanden. Während die BALM durch gung und Mitbestimmung beweihräuchert, in der Wirk- einen Vorstand geführt wurde und die Mitglieder dieses lichkeit aber das Gegenteil praktiziert, wie dieser Ge- Vorstandes auf Vorschlag des Verwaltungsrates der setzentwurf zur Änderung des Gesetzes über die BALM bestellt wurden, gab es beim BEF keine ver- Errichtung einer Bundesanstalt für Landwirtschaft und gleichbare Regelung. Beim BLE aber haben der Präsi- Ernährung – BLE – beweist. dent und sein Stellvertreter Leitungsfunktion und wer- den vom Bundespräsidenten ernannt. Mit der Streichung des Vorschlagsrechtes des Verwal- (B) tungsrates der BLE für die Ernennung des Präsidenten (D) Vor dem Hintergrund, dass ein solches Vorschlags- und des Vizepräsidenten der Anstalt wird aus rein recht bei Anstalten des öffentlichen Rechts, die weder machtpolitischen und ideologischen Gründen ein be- körperschaftlich erfasst sind noch Selbstverwaltungs- währtes Modell der institutionellen Zusammenarbeit von rechte haben, weder rechtlich notwendig noch allgemein Verwaltung, Wirtschaft und Gesellschaft beseitigt. üblich ist, ist dieses bisherige Verfahren außergewöhn- lich. Bei vergleichbaren Anstalten liegt das Vorschlags- Das bisherige Mitbestimmungsrecht des 28-köpfigen recht für die Leitung üblicherweise bei der Bundesregie- Verwaltungsrates bei der Besetzung der BLE-Spitzenpo- rung. sitionen bietet die Gewähr für ein vertrauensvolles und effizientes Zusammenwirken der Anstalt mit den wirt- Auch ist dieses bisherige Verfahren nicht mehr schaftlichen und gesellschaftlichen Gruppierungen und zweckgemäß, denn im Laufe der Zeit sind dem BLE im- den Bundesländern. Es ist zugleich Ausdruck der Prinzi- mer mehr behördliche Funktionen zugekommen. Bei- pien der Bürgernähe, Bürgerbeteiligung und Subsidiari- spiele sind im vor Gesetzentwurf aufgeführt: das Rind- tät, weil den Betroffenen eine Mitzuständigkeit bei der fleischetikettierungsgesetz von 1998, das Öko- Besetzung von zwei Leitungspositionen eingeräumt Kennzeichnungsgesetz von 2001, das Öko-Landbauge- wird. setz von 2002, das Agrarabsatzförderungsdurchfüh- rungsgesetz von 2002. Für den behördlichen Charakter Der Verwaltungsrat, der sich aus Vertretern der Land- spricht auch, dass die BLE sowohl der Rechts- als auch und Ernährungswirtschaft, der Verbraucher und der Bun- der Fachaufsicht des BMVEL und seinen Weisungen un- desländer zusammensetzt, leistet mit seinen Personalvor- terliegt. schlägen einen wertvollen Dienst: Der gesammelte Sachverstand dieses Gremiums ist Garant dafür, dass bei Bei den der BLE übertragenen Aufgaben handelt es Nachfolgebesetzung der Spitzenpositionen Persönlich- sich überwiegend um Pflichtaufgaben, die nach rechtlich keiten gefunden werden, die den Anforderungen einer verbindlichen Vorgaben ohne Gestaltungsspielräume für effizienten und bürgernahen Verwaltung genügen. Dies die BLE und ihren Präsidenten durch diese zu erledigen hat der Verwaltungsrat in der Vergangenheit mit seinen sind. Personalvorschlägen eindrucksvoll bewiesen. Das Vorschlagsrecht für den Behördenleiter dem Ver- Sowohl in der BALM, der ehemaligen Bundesanstalt waltungsrat – einem Gremium, das zu drei Vierteln aus für landwirtschaftliche Marktordnung, als auch in der Vertretern von Verbänden besteht – zu überlassen, ist BLE, die 1995 aus der Fusion von BALM und dem Bun- nicht sachgerecht. desamt für Ernährung und Forstwirtschaft entstanden ist, Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2003 5725

(A) haben die im bisherigen kooperativen Besetzungsverfah- lediglich als bedingt geeignet eingestuft und deshalb (C) ren gewonnenen Persönlichkeiten das Vertrauen beider vom Kollegium der FAL nicht auf die Vorschlagsliste Seiten gerechtfertigt, nämlich des vorschlagenden Ver- gesetzt worden war. waltungsrates und des letztentscheidenden Bundesminis- In den Reihen der Kommission spricht man deshalb teriums. mit Recht von einem „unerhörten Affront“ durch das Es ist ja nicht so, dass das Bundesministerium bei der BMVEL. Ein solches Vorgehen hat es bei einem wissen- bisherigen Regelung keine sachgerechte Personalpolitik schaftlichen Berufungsverfahren bisher noch nicht gege- an der Spitze der BLE betreiben könnte. Das jetzt fein ben. Während bei der FAL die Berufungsordnung kalt- austarierte Zusammenspiel zwischen Bundesministe- schnäuzig gebrochen und das Vorschlagsrecht der rium und Verwaltungsrat stellt sicher, dass es zu sach- Berufungskommission mit Füßen getreten wird, geht und fachgerechten Leitungsbesetzungen kommt. Den Rot-Grün bei der BLE sozusagen „eleganter“ vor. Vorsitz im Vorschlagsgremium Verwaltungsrat hat kraft Auch ist der Zeitpunkt der Gesetzesänderung auffal- Gesetzes der Vertreter des Bundesministeriums. Auf- lend und schlau gewählt: Rechtzeitig vor dem altersbe- grund dieser Funktion kann der Verwaltungsratsvorsit- dingten Ausscheiden des bisherigen Präsidenten der zende auf einen Personalvorschlag hinwirken, der eine BLE im Jahr 2004 soll mit einem gesetzlichen Feder- Zustimmung des Bundesministeriums erwarten lässt. strich das bewährte, aber als lästig empfundene Mitbe- Sollte aber jemals der Fall eintreten, dass der Verwal- stimmungsrecht des Verwaltungsrates beseitigt werden. tungsrat den Weg einer vertrauensvollen Zusammenar- Damit hätte Ministerin Künast auch hier den „Frau-im- beit verläßt und auf Konfrontationskurs geht, so kann Haus-bin-ich-Standpunkt“ durchgesetzt. Dabei hätte das Bundesministerium den Besetzungsvorschlag zu- Frau Künast wahrscheinlich genug Hausaufgaben zu rückweisen. In diesem Fall wird der Verwaltungsrat ei- machen, anstatt eine überflüssige und sachwidrige Ände- nen neuen Vorschlag machen müssen und das solange, rung des BLE-Gesetzes durchzudrücken. bis dem Bundesministerium ein akzeptabler Personal- Wie wäre es denn, wenn Frau Künast endlich den über- vorschlag präsentiert wird. fälligen Gesetzentwurf zur Umsetzung der EU-Freiset- Diese maßvolle Mitbestimmung politisch, wirtschaft- zungsrichtlinie für gentechnisch veränderte Organismen lich und gesellschaftlich betroffener Organisationen und vorlegen würde? Die EU-Umsetzungsfrist ist bereits Ende Institutionen scheint aber der rot-grünen Bundesregie- Oktober 2002 abgelaufen. Die Nichtumsetzung dieser rung ein Dorn im Auge zu sein. Die Begründung für die EU-Richtlinie ist rechtswidrig. Abschaffung dieses Mitwirkungsrechtes ist mehr als fa- Ich fordere also Frau Künast auf, sich hier endlich denscheinig. Der angeblich überwiegend behördliche rechtmäßig zu verhalten und die EU-Pflichten zu erfül- (B) Charakter der BLE kann nicht als Rechtfertigung für (D) len, statt ihre Beamten mit dem unsinnigen BLE-Ände- diese provokative Änderung im institutionellen Gefüge rungsgesetz zu beschäftigen. der BLE angeführt werden. Die vom Verwaltungsrat nicht beeinflußbare Besetzung der fast 1 000 übrigen Aber auch im Gentechnikrecht fiel Rot-Grün nichts Stellen bietet ausreichend Raum für eine eigenständige anderes ein, als im Juli 2003 durch Zuständigkeitsverla- Personalführung durch die Anstalt und das Bundes- gerungen per Gesetz sachgerechte Lösungen zu verhin- ministerium. dern. Danach soll nicht mehr das Umweltbundesamt für die Prüfung im Rahmen von Genehmigungsverfahren Anstatt auf die Land- und Ernährungswirtschaft zuzu- über die Freisetzungen und das In-Verkehr-Bringen gen- gehen, gibt Frau Künast mit diesem BLE-Änderungsge- technisch veränderter Organismen zuständig sein, son- setz ein weiteres Beispiel für ihren Konfrontationskurs. dern das Frau Künast unterstehende Bundesamt für Na- Nach verbalen Rundumschlägen, Diffamierungen und turschutz. Der Bundesrat hat hier zu Recht den Kampfbegriffen wie „Agrarfabriken“, „industrialisierte Vermittlungsausschuss angerufen, um diese Zuständig- Landwirtschaft“, „Massentierhaltung“, „Klasse statt keitsveränderung zu verhindern, die nur die Gentechnik Masse“, „Agrarwende“ usw. setzt Frau Künast den rot- behindern soll. grünen „Marsch durch die Institutionen“ fort, wie ihn die Bewegung der 68er, aus deren Dunstkreis die Grünen Auch beim vorliegenden Gesetzentwurf zur Ände- sich im wesentlichen immer noch speisen, auf ihre Fahne rung des BLE-Gesetzes hat der Bundesrat die destruk- geschrieben hat. Auf diese Weise hofft Frau Künast, an tive Absicht der rot-grünen Bundesregierung erkannt die Spitze von wichtigen Institutionen Personen platzie- und zu Recht die geplante gesetzliche Streichung des ren zu können, die mehr durch ideologische Gesinnung Vorschlagsrechtes des BLE-Verwaltungsrates abgelehnt, als durch Sach- und Fachkompetenz aufgefallen sind. und das nicht nur mit der Bundesratsmehrheit der unionsgeführten Länder, sondern auch mit Zustimmung Jüngstes Beispiel sind die Machenschaften des BMVEL von SPD-geführten Ländern. bei der Besetzung der Leitungsposition des neuen Insti- tutes für ländliche Räume der Bundesforschungsanstalt Es ist auch kein länderfreundliches Verhalten und wi- für Landwirtschaft – FAL – in Braunschweig. Wie sich derspricht den Prinzipien eines kooperativen Föderalis- aus Presseberichten ergibt, will sich das BMVEL bei der mus, wenn die rot-grüne Bundesregierung dem Verwal- Besetzung der Institutsleitung über die geltenden Regeln tungsrat, dem auch Vertreter von vier Bundesländern hinwegsetzen und eine Kandidatin berufen, die von der angehören, ein echtes Mitwirkungsrecht bei der Beset- eigens gebildeten und mit hochrangigen, zum Teil exter- zung der BLE Spitzenpositionen nehmen will. Der Bun- nen Wissenschaftlern besetzten Vorschlagskommission desrat spricht sich deshalb dafür aus, hier das bewährte 5726 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2003

(A) Kooperationsverfahren beizubehalten, und hält das im Die Fischereischutzboote und die Fischereiforschungs- (C) Regierungsentwurf vorgesehene Anhörungsrecht für un- schiffe des Bundes werden durch die BLE bereedert. zureichend. Man weiß ja, wie Frau Künast unliebsame Stellungnahmen von Verbänden und Organisationen bei- Die BLE kontrolliert die Verwendung nachwachsen- seite wischt. der Rohstoffe, die auf Stilllegungsflächen angebaut wer- den. Weitere Zuständigkeiten bestehen für die Zulassung Die überzeugende Argumentation des Bundesrates von Rindfleisch-Etikettierungssystemen und Kontroll- lässt erwarten, dass er im zweiten Durchgang des Gesetz- firmen sowie für deren Überwachung. Darüber hinaus entwurfes Einspruch einlegen wird, und hoffentlich sogar erfüllt die BLE weitere übertragene Verwaltungsaufga- mit Zweidrittelmehrheit, der Rot-Grün dann im Bundes- ben des Bundes, beispielsweise das Bundesprogramm tag wohl keine Zweidrittelmehrheit zur Zurückweisung Ökolandbau, die Projektträgerschaft Agrarforschung und des Einspruchs entgegensetzen kann. -entwicklung sowie die Erstellung des Statistischen Mo- natsberichts des BMVEL. Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir müssen alles tun, um aus oberen Facheinrichtungen des Bundes Bei Erfüllung all dieser Aufgaben ist die BLE auf eine wie der BLE die Gefahr einer ideologiegeneigten Beset- vertrauensvolle Zusammenarbeit mit den betroffenen zung von Spitzenpositionen auszuschließen und die Zu- Wirtschaftskreisen und den Bundesländern angewiesen. sammenarbeit mit allen Betroffenen zu fördern. Denn Dieses Vertrauenskapital darf nicht durch das vorge- die BLE hat vielfältige Fachaufgaben, die nicht mit der schlagene Willkür-Gesetz zerstört werden. von Frau Künast gewünschten Gesinnung, sondern al- lein mit Sachverstand und Kompetenz zu bewältigen Die BLE braucht deshalb auch weiterhin eine Lei- sind. tung, die in dem bewährten Besetzungsverfahren be- nannt wird. Deswegen muss das Vorschlagsrecht des Die BLE fungiert auch unter den neuen Rahmenbe- BLE Verwaltungsrates beibehalten werden. dingungen der EU-Agrarreform vom Juni 2003 weiter- hin als Marktordnungsstelle für die in der Europäischen Die Bundesregierung wäre gut beraten, diesen über- Union bestehenden gemeinsamen Marktordnungen für flüssigen und sachwidrigen Gesetzentwurf zurückzuzie- Getreide, Reis, Trockenfutter, Zucker, Obst und Gemüse, hen, der für die im BLE-Verwaltungsrat vertretenen Or- verarbeitetes Obst und Gemüse, lebende Pflanzen und ganisationen der Land- und Ernährungswirtschaft sowie Waren des Blumenhandels, Saatgut, Flachs und Hanf, die Verbraucher und die Bundesländer ein Affront dar- Hopfen, Wein, Weinalkohol, Rind-, Schweine- und stellt. Er gehört zu den zahlreichen falschen Weichen- Schaffleisch, Milch und Milcherzeugnisse, Fischereier- stellungen im Agrarbereich, die von einer künftigen zeugnisse sowie für Fette. Als Marktverwaltungsstelle unionsgeführten Bundesregierung, sollte der Entwurf je (B) ist sie insbesondere bei der Intervention von Waren, bei Gesetz werden, sofort wieder rückgängig gemacht wer- (D) der privaten Lagerhaltung und bei Beihilfemaßnahmen den. tätig. Friedrich Ostendorff (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Zur Finanzierung der gemeinsamen Agrarpolitik NEN): Diese späte Debatte verdanken wir einem seltsa- nimmt die BLE Kassenkredite auf, auch soweit sie für men Relikt in der Agrarverwaltung, mit dem wir nun die Durchführung der Maßnahmen selbst nicht zuständig Schluss machen wollen. Es geht um das Verfahren, nach ist, wie zum Beispiel die Auszahlung der EU-Direktzah- dem die Präsidentin oder der Präsident der Bundesanstalt lungen durch die Bundesländer. für Landwirtschaft und Ernährung – kurz BLE – ernannt Aufgrund des Ernährungssicherstellungsgesetzes und wird. des Ernährungsvorsorgegesetzes wird die BLE bei der Bisher liegt das Vorschlagsrecht für den Präsidenten- zentralen Planung und Feststellung von Erzeugung, Be- posten beim Verwaltungsrat dieser Bundesanstalt. Dieser ständen und Verbrauch tätig. Im Rahmen einer allgemei- Verwaltungsrat setzt sich überwiegend aus Vertretern nen Vorratshaltung sowie der zivilen Notfallreserve wer- einflussreicher, um nicht zu sagen: mächtiger Agrar- und den Vorräte an Ernährungsgütern und Futtermitteln Handelsverbände zusammen. Nach altem Recht darf die beschafft, verwaltet und verwertet. Bundesministerin also nicht selbst Vorschläge unterbrei- Als Genehmigungsstelle für den grenzüberschreiten- ten, sondern hat höchstens das Recht, einem Vorschlag den Waren- und Dienstleistungsverkehr mit Erzeugnis- nicht zuzustimmen. In Selbstverwaltungsorganen, die sen der Ernährungs-, Land- und Forstwirtschaft erteilt gleichzeitig Anstalten des öffentlichen Rechts sind, ist die BLE Einfuhr- und Ausfuhrlizenzen sowie -genehmi- ein solches Verfahren dennoch üblich und sinnvoll. gungen. Die BLE überwacht Embargomaßnahmen und In diesem Falle liegen die Dinge aber anders: Die die Einhaltung von Kontingentregelungen. Die BLE er- BLE ist kein Selbstverwaltungsorgan, sondern eine Bun- hebt Beiträge nach dem Absatzförderungsfonds der desanstalt, die ganz überwiegend behördliche Funktio- Land- und Ernährungswirtschaft sowie Abgaben nach nen ausübt. Sie ist zum Beispiel im Rahmen der EU- dem Holzabsatzfondsgesetz. Darüber hinaus wird der Marktordnungen für den öffentlichen Aufkauf und die Klärschlamm-Entschädigungsfonds verwaltet. Lagerhaltung von Getreide und Rindfleisch in Deutsch- Sie überwacht die Seefischerei außerhalb der Küsten- land zuständig. Sie erteilt Firmen auch die Ein- und Aus- gewässer und die Einhaltung der von ihr verwalteten fuhrlizenzen für den grenzüberschreitenden Handel mit Fischfangquoten; nach § 3 des Seefischereigesetzes er- Erzeugnissen der Land- und Ernährungswirtschaft. Da- teilt sie Fangerlaubnisse an die deutsche Fischereiflotte. neben ist sie auch zuständig für die Abwicklung des Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2003 5727

(A) Bundesprogramms Ökologischer Landbau, dessen Um- eine bestimmte Richtung geführt haben, möglicherweise (C) setzung durch die BLE seit langem als sehr schwerfällig Einfluss abgeben müssen oder nicht. in der Kritik steht. Es ist leicht zu erkennen, dass die Er- Ich möchte noch weiter gehen. Es ist nicht nur das ur- nährungswirtschaft ein Interesse daran hat, wer bei der eigene Recht einer Ministerin, bei der Besetzung leiten- BLE die Fäden in der Hand hat. der Posten in den ihr untergeordneten Organen ein ge- Das alles sind aber behördliche Aufgaben, die nach wichtiges Wörtchen mitzureden. Es ist meines Erachtens rechtlich verbindlichen Vorgaben und ohne Gestaltungs- sogar ihre Pflicht. Denn wer, wenn nicht die vom Parla- spielraum für die BLE und ihren Präsidenten zu erledi- ment beauftragte Fachministerin, sollte das im Grundge- gen sind. Das alte Vorschlagsverfahren passt also über- setz verankerte Demokratieprinzip sicherstellen? haupt nicht mehr zu dem Charakter der Funktionen, die Ich will das einmal übersetzen: dieser Bundesanstalt übertragen worden sind. Wenn ich auf meinem Hof eine Betriebsleiterin ein- Deshalb soll das alte Vorschlagsrecht mit dem vorlie- stellen würde, die mir gegenüber verantwortlich ist für genden Gesetzentwurf in ein Anhörungsrecht umgewan- alles, was meinen Hof betrifft, und diese Betriebsleiterin delt werden. Danach erhält die für diese Bundesanstalt würde bei einer Neueinstellung erst ein Gremium fragen, zuständige Bundesministerin für Verbraucherschutz, Er- was nicht sie, sondern die Nachbarschaft zusammen- nährung und Landwirtschaft das Vorschlagsrecht und die stellte, dann wäre unser Verhältnis mächtig gestört. Entscheidungskompetenz. Die bisher so einflussreichen Verbände müssen dann nur noch angehört werden. Deshalb werden wir die genannten Trampelpfade, um in Bilde zu bleiben, entsiegeln und mit Toren absperren. Um es klar zu sagen: Der Verwaltungsrat wird nicht, wie von einigen Verbänden behauptet, abgeschafft oder Skandalös wird diese Angelegenheit dadurch, dass in seinen sonstigen Mitwirkungsrechten begrenzt. Bei ei- Mitarbeiter der FAL meinen, eine Verbindung zwischen nigen Stellungnahmen wird der Eindruck erweckt, als dem derzeitigen Zwist und den „leidvollen Erfahrungen hänge von dem Verfahren zur Ernennung des Präsiden- im Dritten Reich und in der DDR“ ziehen zu müssen. ten ab, ob die BLE die „vorgeschriebenen Verfahren für Das ist endgültig nicht nur eine unverschämte Verleum- den Agrarhandel effizient abwickeln“ könne. Bei sol- dung und Beleidigung, sondern – wie so oft bei solchen chen Argumenten muss man ja stutzig werden und nach Anleihen an die Geschichte – eine unannehmbare Be- den eigentlichen Gründen fragen. schönigung unserer Vergangenheit. Damit, werte Kolle- gen von der Opposition, disqualifizieren sich diese Her- Das Gleiche trifft auf eine andere Debatte zu, die uns ren von der FAL endgültig, und man sollte sich besser gestern im Agrarausschuss beschäftigte. Da ging es um nicht mehr so oft auf sie berufen. (B) die Berufung einer Leiterin des Instituts für ländliche (D) Räume bei der Bundesforschungsanstalt für Landwirt- Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie uns sach- schaft, kurz FAL. Da hatte ein Professoren-Gremium, lich bleiben und in diesem Sinne dem Gesetzentwurf zu- das weitgehend von der Bundesanstalt selbst zusammen- stimmen! gestellt wird, eine Vorschlagsliste erstellt. Das zustän- dige Landwirtschaftsministerium hatte aber auch eine ei- Dr. Gerald Thalheim, Parl. Staatssekretär bei der gene Rangliste aufgestellt und – verständlicherweise – Bundesministerin für Verbraucherschutz, Ernährung im Sinne dieser Rangfolge entschieden. Auch diese und Landwirtschaft: Der Verwaltungsrat der BLE – der rechtlich unselbstständige – Bundesanstalt ist dem Ver- aus 28 Mitgliedern besteht – ist neben dem Präsidenten braucherministerium unterstellt. Es handelt sich hierbei Organ dieser Anstalt. Die Einrichtung eines Verwal- nicht um eine unabhängige Forschungseinrichtung oder tungsrates war Voraussetzung dafür, dass Vertreter der eine Universität, sondern um die eigene Ressortfor- Wirtschaft und der Verbraucher beratend bei der BLE schung des Ministeriums. Das ist ein Unterschied. Den- mitwirken können. noch wird dieser Berufung von Mitarbeitern der Bundes- anstalt bis hinauf in die Spitze sogar „grundsätzliche Die Leitung der BLE liegt beim Präsidenten sowie ei- Bedeutung für das Verhältnis von Politik und Wissen- nem Vizepräsidenten, die als Beamte vom Bundespräsi- schaft“ beigemessen. Und die CDU hat nichts Besseres denten ernannt werden. In Anlehnung an das Verfahren zu tun, als sich vor den Karren dieser „alteingesessenen der Bestellung des Vorstandes der BALM wurde auch Herren“ spannen zu lassen und den Streit nach Berlin zu für das Verfahren der Ernennung der von Präsident und ziehen. Vielleicht liegt es aber auch an den gut ausgebau- Vizepräsident der BLE dem Verwaltungsrat ein Vor- ten Trampelpfaden zwischen CDU/CSU, BLE und FAL, schlagsrecht gegenüber dem Bundesministerium zuge- von denen für gewöhnlich gut unterrichtete Kreise zu be- standen. richten wissen. Inzwischen erscheint diese Regelung nicht mehr sach- In Wahrheit, scheint mir, treibt die Kritiker in beiden gerecht. Die BLE ist eine Behörde, die weder körper- Fällen vor allem eins um: Die Angst, die Ministerin schaftlich verfasst ist noch Selbstverwaltungsrechte hat. könnte ihr Recht in Anspruch nehmen, nicht nur in der Daher ist das derzeitige Vorschlagsrecht des Verwal- Agrarpolitik erfolgreich für eine Neuorientierung zu sor- tungsrates weder rechtlich notwendig, noch entspricht es der üblichen organisationsrechtlichen Praxis. gen, sondern auch in den ihr unterstellten Bundesbehör- den. Das ist der Knackpunkt. Es geht darum, ob die Bei vergleichbaren Anstalten des öffentlichen Rechts Kräfte, die bisher seit Jahrzehnten die Agrarpolitik, die ist das Vorschlagsrecht für die Bestellung der Anstaltslei- Beratung, die Ausbildung und auch die Forschung in tung im Allgemeinen der Bundesregierung vorbehalten, 5728 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2003

(A) während dem Verwaltungsrat ein Anhörungsrecht einge- Um diese Ziele zu erreichen, sind unter anderem in- (C) räumt wird. Die Aufgaben, die der BLE zur Erledigung tensive medizinische Forschungstätigkeiten notwendig. übertragen sind, sind ganz überwiegend Pflichtaufgaben, Die Bundesregierung setzt sich dementsprechend stark die nach rechtlich verbindlichen Vorgaben ohne Gestal- für die Forschung und Entwicklung neuer Heilmethoden tungsspielräume durchzuführen sind. Dies gilt auch für ein. Mit der anstehenden Novellierung des Arzneimittel- die Aufgaben, die von der BLE nach EG-Agrarmarktord- gesetzes, AMG, soll die EU-Richtlinie zur Good Clinical nungsrecht zur Regulierung der Märkte und Stützung der Practice umgesetzt werden. Einkommen in der Landwirtschaft durchgeführt werden. Diese Aufgaben verlieren infolge der Agrarreformen im Der Nachweis von Unbedenklichkeit und Wirksam- Übrigen zunehmend an Bedeutung. Seit ihrer Errichtung keit eines Arzneimittels, welches für den Menschen ent- wurden der BLE vermehrt hoheitliche Aufgaben mit rein wickelt wurde, kann letztlich nur in einem Humanexpe- behördlichem Charakter neu übertragen. Beispielhaft riment erbracht werden. Klinische Prüfungen sind also nenne ich hier die Zuweisung neuer Aufgaben durch das unumgänglich, wenn es gilt, neue Medikamente und Rindfleischetikettierungsgesetz aus dem Jahr 1998 und Therapien zu entwickeln. durch das Öko-Landbaugesetz aus dem Jahr 2002. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU, Darüber hinaus kann der BLE aufgrund des geltenden sie begründen die geringe Anzahl klinischer Studien in Gesetzes vom Bundesministerium für Verbraucher- Deutschland ausschließlich mit den schlechten Rahmen- schutz, Ernährung und Landwirtschaft die Erledigung bedingungen und den bürokratischen Hemmnissen für von Verwaltungsaufgaben des Bundes, für die keine an- die Forschung. Aus diesen Gründen habe Deutschland dere Zuständigkeit gesetzlich festgelegt ist, übertragen seine führende Position als Forschungsstandort für phar- werden. Von dieser Möglichkeit ist in jüngerer Zeit in er- mazeutische Produkte eingebüßt. Das sind nicht die heblichem Umfange Gebrauch gemacht worden. wirklichen Gründe. Diese Entwicklung ist unter anderem auch darauf zurückzuführen, dass viele forschende Her- All dies zeigt, dass es aufgrund des überwiegend be- steller über Jahre ihre Forschungs- und Entwicklungsab- hördlichen Charakters der Aufgaben, die die BLE wahr- teilungen ins Ausland verlagert haben. In einigen Fällen, zunehmen hat, nicht mehr sachgerecht ist, das Vor- wie in Großbritannien, fließen dafür erhebliche staatli- schlagsrecht für die Person des Behördenleiters dem che Gelder. Ob diese Finanzierungsform in Zeiten der Verwaltungsrat, also einem Gremium, das zu drei Vier- notwendigen Subventionskürzungen wirklich wün- teln aus Vertretern der Verbände besteht, zu überlassen. schenswert ist, will ich an dieser Stelle dahingestellt sein Die Bundesregierung legt Wert auf den Rat, den Wirt- lassen. schaft und Verbraucher durch ihre Mitarbeit im Verwal- Zu diesem Zweck hat das Bundesgesundheitsministe- (B) tungsrat der BLE geben können, und zwar auch bei der rium eine Taskforce gegründet. Sie soll konkrete Vor- (D) Ernennung des Präsidenten und Vizepräsidenten dieser schläge zur Verbesserung der Standortbedingungen für Behörde. Daher soll das bisherige Vorschlagsrecht nicht die deutsche pharmazeutische Industrie erarbeiten und ersatzlos entfallen. An seine Stelle soll ein Recht des Möglichkeiten für die Umsetzung solcher Vorschläge Verwaltungsrates auf Anhörung treten, die im Verfahren diskutieren. Weitere Ziele sind die Verbesserung der der Ernennung zeitlich vorgeschaltet ist. Daher kann der Rahmenbedingungen für die pharmazeutische For- Verwaltungsrat weiterhin mit seiner Stellungnahme auf schung in Deutschland und die Effektivierung der Zulas- den Ernennungsvorschlag an den Bundespräsidenten, sungsverfahren. über den die Bundesregierung nach ihrer Geschäftsord- nung Beschluss zu fassen hat, Einfluss nehmen. Um klinische Forschung weiter zu fördern, müssen natürlich bürokratische Hemmnisse beseitigt werden. Es Aus den geschilderten Gründen bitte ich Sie, dieser muss allerdings gesichert sein, dass es dadurch keinen Änderung im weiteren Gesetzgebungsverfahren zuzu- Abbau des Sicherheitsniveaus für die Menschen gibt. stimmen. Es ist erklärtes Ziel unserer Gesundheitspolitik, effizi- ente Forschung und Entwicklung mit einem Maximum Anlage 6 an Patientensicherheit zu verbinden. Deshalb ist es nicht hilfreich, wenn Sie pauschal einen Bürokratieabbau for- Zu Protokoll gegebene Reden dern. Dies ist zwar öffentlichkeitswirksam, hilft aber zur Beratung über den Antrag: Klinische Prü- keineswegs, das Vertrauen der freiwilligen Versuchsteil- fung in Deutschland entbürokratisieren (Tages- nehmer in die klinische Forschung zu erhöhen. Denn nur ordnungspunkt 7 b) eine engmaschige medizinische und behördliche Über- wachung garantiert die Sicherheit der Teilnehmer und die Qualität der Prüfergebnisse. Dr. Carola Reimann (SPD): Eines unserer wert- vollsten Lebensgüter ist die Gesundheit. Ziel unserer Aus diesem Grund sehen wir die Umsetzung der EU- Gesundheitspolitik ist es, die Gesundheit der Menschen Richtlinie nicht ausschließlich unter zeitlichen Gesichts- zu erhalten, zu fördern und im Krankheitsfall wieder punkten, sondern orientieren uns vor allem an den Aspek- herzustellen. Ein bezahlbares und zugleich qualitativ ten der Patienten- und Arzneimittelsicherheit. Natürlich hochwertiges Gesundheitssystem heute und in Zukunft spielen die Rahmenbedingungen wie Zulassungsverfahren zu erhalten, ist eines der vorrangigsten Ziele unserer ebenfalls eine Rolle, wenn wir optimale Forschungsbe- Politik. dingungen herstellen wollen. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2003 5729

(A) Wer die klinische Forschung fördern will, muss hier Verbesserung der Arzneimittelsicherheit in der Kinder- (C) aktiv werden. Momentan muss sich der Prüfarzt vor dem heilkunde angemahnt. Zugleich wurde festgestellt, dass Beginn einer klinischen Studie durch eine Ethikkommis- auf dem Gebiet der Kinderarzneimittel ein erheblicher sion über die mit dem Vorhaben verbundenen berufsethi- Nachholbedarf besteht. schen und berufsrechtlichen Fragen beraten lassen. Er darf erst dann beginnen, wenn die Ethikkommission sein Klinische Studien zu Therapiezwecken sind nur an er- Vorhaben zustimmend bewertet hat. Dies bedeutet mo- krankten Kindern zulässig. Es existiert nur eine geringe mentan die Zustimmung von bis zu 16 Ethikkommissio- Bereitschaft der Eltern, ihre Einwilligung zur Teilnahme nen! ihres kranken Kindes an klinischen Studien zu erteilen. Sie befürchten, dass ihre Kinder als Versuchskaninchen Dass diese Verfahrenweise nicht zur Beschleunigung der Hersteller fungieren. Diese nachvollziehbaren Hal- des Verfahrens beiträgt, liegt auf der Hand. Deshalb sieht tungen der Eltern erschweren die angestrebten Verbesse- der neue AMG-Entwurf gemäß der EU-Richtlinie die rungen in der Kinderheilkunde mittels sachgerechter kli- Einführung eines klaren Genehmigungsverfahrens vor. nischer Studien sehr. An dieser Stelle ist eine staatliche Die Forderung der Union, eine bundesweite Ethik- Aufklärungsarbeit vonnöten! Diese Funktion soll unter kommission einzurichten, führt jedoch zu verfassungs- anderem der zukünftigen Kontaktstelle zufallen. Diese rechtlichen Problemen. Denkbar wäre es, dass die je- steht den Probanden oder seinem gesetzlichen Vertreter weils zuerst angesprochene Ethikkommission auch über mit Informationen zur Seite. das gesamte Verfahren entscheidet. Doch auch dazu be- Nun fordert die Union in ihrem Antrag, bei der Ein- darf es womöglich eines Staatsvertrages zwischen den fuhr von klinischen Prüfpräparaten aus Drittländern die einzelnen Bundesländern. im AMG geforderte Zertifizierung und deren nochma- Ein weiterer Punkt berührt das Antragsverfahren beim lige Analyse fallen zu lassen, weil diese den bürokrati- Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte, schen Aufwand erhöhe. Unter den Aspekten des Konsu- BfArM. Hier treten Verzögerungen ein, weil die einge- mentenschutzes, der an erster Stelle steht, ist diese reichten Unterlagen nicht vollständig sind. Hier können Forderung nicht nachvollziehbar, zumal der AMG-Ent- erhebliche Beschleunigungseffekte beim Genehmi- wurf dafür lediglich eine Einfuhrerlaubnis, wie für an- gungsverfahren zum Beispiel durch Verfahrensregelun- dere Arzneimittel auch, voraussetzt. gen zur Einreichung von elektronischen Unterlagen er- Liebe Kollegen und Kolleginnen von der Union, Ihre zielt werden. Forderungen sind auch widersprüchlich! Sie fordern ei- Nur eines darf bei dieser Debatte nicht zu kurz kom- nerseits schnellstmögliche Umsetzung in nationales men: die Sicherheit der Versuchsteilnehmer; denn selbst Recht, gleichzeitig aber die Beibehaltung des Notifizie- (B) (D) die ansonsten gern als Beispiel für kurze Bearbeitungs- rungsverfahrens. Das aber steht im Widerspruch zu den fristen gepriesene Food and Drug Association, FDA, Vorgaben der EU-Richtlinie in Art. 5. Sie müssen sich verfolgt mittlerweile wesentlich stärker den Sicherheits- schon für eine Variante entscheiden. und nicht den Zeitaspekt. Zudem suggerieren Sie in Ihren Forderungen Reform- Liebe Kolleginnen und Kollegen der CDU/CSU, ent- bedarf an Stellen, an denen es gar keinen gibt. So fordern gegen ihrer Verlautbarung, die klinische Forschung ent- sie, Ethikkommissionen müssten generell englischspra- bürokratisieren zu wollen, setzen Sie sich für die Schaf- chige Unterlagen akzeptieren. Dazu bedarf es jedoch fung einer zusätzlichen Leitethikkommission ein. Sie keines Gesetzes und keiner Verordnung, denn es ist begründen dies mit der besonderen Schutzbedürftigkeit schon jetzt den Kommissionen unbenommen, sich mit von bestimmten Bevölkerungsgruppen, wie nicht einwil- dem Antragseinreicher auf die Einreichung englisch- ligungsfähige Personen und Kinder. Eine solche Leit- sprachiger Dokumente zu einigen. ethikkommission stößt dabei auf dieselben verfassungs- Ich möchte noch ein letztes Beispiel anführen, wel- rechtlichen Probleme wie Ihr Vorschlag zur Einsetzung ches den zweifelhaften Aussagegehalt des vorliegenden einer bundesweiten Ethikkommission. Deshalb halte ich Antrags unterstreicht: Die sehr allgemeine Aussage des eine Kommission am BfArM, die sich insbesondere um CDU/CSU-Antrags bezüglich einer Förderung der For- die Arzneimittelsicherheit für Kinder und Jugendliche schung und Entwicklung von Arzneimitteln in Deutsch- kümmert, für den praktikableren Weg. land zeigt doch nur allzu deutlich, dass Sie sich nicht mit Sie übersehen mit ihrem Antrag konsequent alle Akti- der tatsächlichen gegenwärtigen Situation auseinander vitäten in diesem Bereich. Die Enquete-Kommission gesetzt haben. Seit 1996 hat das BMBF beispielsweise Ethik und Recht der modernen Medizin des Deutschen die acht Interdisziplinären Zentren für Klinische For- Bundestages hat sich bereits genau diesem Thema inten- schung, IZKF, mit rund 160 Millionen DM gefördert. siv zuwendet und erst vor wenigen Wochen eine Anhö- Diese acht Zentren leisten auf hohem Niveau einen rung zur komplexen Problematik der Forschung an entscheidenden Beitrag für eine nachhaltige Stärkung nichteinwilligungsfähigen Personen durchgeführt. Für und Verbesserung der klinischen Forschung in Deutsch- die klinische Forschung an Kindern wie auch an Er- land. Ziel der IZKF ist die Optimierung des internen wachsenen existieren bereits jetzt strenge Sicherheitsbe- Forschungsmanagements, die Intensivierung der fach- stimmungen. übergreifenden klinischen Forschung, die Qualitätsver- In einem interfraktionellen Antrag aus der 14. Legis- besserung und die gezielte Unterstützung des Nach- laturperiode hat der Deutsche Bundestag eine deutliche wuchses. Die IZKF schaffen damit nicht zuletzt eine 5730 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2003

(A) Grundlage für die Umsetzung der Innovationen aus der der gesetzlichen Krankenversicherung. Forschung und (C) klinischen Forschung in marktfähige und für den einzel- Zulassungsverfahren stehen in einem derartigen interna- nen Patienten sinnvolle Produkte. Zudem wurden im tionalem Wettbewerb, dass Unternehmen dort forschen Rahmen des Gesundheitsforschungsprogramms Koordi- und das Zulassungsverfahren betreiben, wo die günsti- nierungszentren für klinische Studien (KKS) an medizi- gen Rahmenbedingungen bestehen. nischen Fakultäten geschaffen. Dieses Service- und Be- treuungsangebot für die Durchführung klinischer Wie schlecht jedoch die Rahmenbedingungen in Studien soll hier klinische Forschung unterstützen. Deutschland für klinische Prüfungen sind, zeigt sich in den zahlreichen Investitionen von Unternehmen im Ihr Antrag, die klinische Prüfung in Deutschland zu Ausland und in deren verstärkter Zusammenarbeit mit entbürokratisieren, ist insgesamt nicht stimmig. Ein Teil ausländischen Zulassungsbehörden sowie der geringen Ihrer Forderungen widerspricht sich oder läuft sogar der Zahl von klinischen Prüfungen in Deutschland im Ver- EU-Richtlinie zuwider und hält einer näheren Überprü- gleich zu Schweden, Großbritannien oder den Nieder- fung nicht stand. Ihr Antrag ignoriert souverän bisher landen. Die Zulassungsverfahren für neue Arzneimittel gültige Verfahrensweisen und verbreitet Allgemein- und verbesserte Wirkstoffe sind in Deutschland zu kom- plätze. Deshalb werden wir diesen Antrag ablehnen. pliziert, zu langwierig, zu unsicher. Wie unsicher die Rahmenbedingungen in Deutschland sind, zeigt die feh- Helge Braun (CDU/CSU): Deutschland wurde frü- lende Umsetzung der EU-Richtlinie zur Harmonisie- her die Apotheke der Welt genannt. Hier wurden welt- rung der klinischen Prüfung. Diese hätte bis spätestens weit die meisten Arzneimittel entwickelt. 1. Mai dieses Jahres umgesetzt werden müssen. Bis heute hat die Bundesregierung nicht einmal einen Ent- Dies gilt heute leider nicht mehr. Deutschland ist im wurf in den Bundestag eingebracht. Hier fehlt den For- internationalen Vergleich als Forschungs- und Entwick- schern und Unternehmen jede Planungssicherheit. Ges- lungsstandort für Arzneimittel weit abgeschlagen. Be- tern hat die Bundesregierung bekannt gegeben, dass das trachten wir die 30 umsatzstärksten globalen Pharma- Kabinett die 12. Novelle des Arzneimittelgesetzes be- unternehmen, so forschen diese an 130 Standorten schlossen habe. Die Vorbereitung dieses Entwurfs hat weltweit. Von diesen 130 Forschungsstandorten liegen drei Jahre in Anspruch genommen. jedoch nur noch zehn in Deutschland aber 52 in den USA, 21 Japan und 16 in Großbritannien. Dies ist die Wir haben bereits heute hier im Plenum über die Not- Folge von schlechten Rahmenbedingungen für die For- wendigkeit von Bürokratieabbau debattiert. Bürokratie scher und Entwickler in Deutschland, aber auch für die wird immer dann zur Last, wenn es zu viele Beteiligte internationalen Unternehmen, die sich ihre Standorte für gibt und zu viel Zeit für Entscheidungen verstreicht. Bei- des trifft für das Verfahren der klinischen Prüfung zu und (B) Entwicklung und Zulassung von neuen Wirkstoffen und (D) Arzneimitteln aussuchen. wird auch nach dem vom Kabinett beschlossenen Ge- setzentwurf nicht verbessert. Wir alle sind jedoch auf die Entwicklung neuer Medi- kamente angewiesen. Nicht zuletzt durch neue Arznei- Das Verfahren für klinische Prüfungen ist in Deutsch- mittel ist die durchschnittliche Lebenserwartung in land zu kompliziert und es wird wohl auch nach dem Deutschland in den letzten 25 Jahren um rund 10 Prozent Entwurf, den das Kabinett gestern beschlossen hat, zu gestiegen. Doch nicht nur die Lebensdauer, sondern auch kompliziert bleiben. Bei multizentrischen Studien, also die Lebensqualität hat sich gerade bei älteren Menschen der Durchführung einer klinischen Prüfung in mehreren aufgrund moderner Arzneimittel wesentlich verbessert. Kliniken oder Instituten, sind nach derzeitiger Rechts- Auch für die derzeit finanziell überlasteten Sozialversi- lage für dieselbe Studie und Untersuchung mehrere cherungen sind die Rahmenbedingungen für die pharma- Ethikkommissionen zu befragen. In Deutschland gibt es zeutische Forschung von großer Bedeutung. In der For- allein 52 öffentlich-rechtliche Ethikkommissionen! Jede schung entwickelte Wirkstoffverbesserungen sparen ist anders besetzt, jede hat unterschiedliche Antragfor- beträchtliche Kosten im Gesundheitswesen. Im Arznei- mulare, jede verlangt andere Antragserfordernisse, jede verordnungsreport 2002 ist zu lesen, dass Arzneimittel entscheidet nach unterschiedlichen Kriterien. Ist das for- mit verbesserten pharmakologischen Qualitäten bereits schungsfreundlich? Hier hätte die Bundesregierung be- bekannter Wirkprinzipien im Durchschnitt 39 Prozent reits seit dem Erlass der EU-Richtlinie im Jahr 2000 den weniger kosten als Arzneimittel mit einem neuartigen Standort Deutschland stärken können. Die Umsetzung Wirkstoff. Auch belegt eine Studie aus den USA, dass der Richtlinie hätte bereits seit nunmehr drei Jahren zu neue Arzneimittel sektorübergreifend die Behandlungs- einer Harmonisierung, Vereinfachung und zu mehr kosten senken. Durch neue Arzneimittel sinkt der finan- Rechtssicherheit bei der klinischen Forschung und bei zielle Aufwand für Krankenhausaufenthalte und sonstige der Beteiligung von Ethik-Kommissionen führen kön- ambulante Behandlungen. nen. Denn in der Richtlinie wird eindeutig verlangt, dass künftig nur noch eine Ethikkommission pro Mitglied- So kann ich als Arzt Ihnen das Beispiel nennen, dass staat bei multizentrischen Studien zustimmen muss. Da- durch den Einsatz von 1 Euro in ein Medikament mit ei- mit Sie mich richtig verstehen: Ich sehe Ethikkommis- nem cholesterinsenkenden Wirkstoff aus der Gruppe der sionen als notwendigen Schutz zur Wahrung der so genannten Statine 3,50 Euro an Krankenhauskosten Gesundheit und Rechte der Patienten und Probanden. gespart werden. Die Weiterentwicklung von bekannten Aber wir sollten die Ethikkommissionen so einsetzen, Wirkstoffen und die Entwicklung neuer Arzneimittel dass deren Votum kein bürokratisches Hindernis, sondern liegt also im allgemeinen Interesse der Beitragszahler ein Standortvorteil bedeutet. Daher sollten überflüssige Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2003 5731

(A) Mehrfachprüfungen derselben Studie durch verschie- und Entwicklung von Medizin und Biotechnologie lie- (C) dene Kommissionen abgeschafft werden. gen in Deutschland hinter denen der Niederlande. In vielen Punkten hätte eine zügige Umsetzung der Speziell für die klinische Prüfung weist der britische Richtlinie Rechtssicherheit und vor allem Wettbewerbs- Bericht für Deutschland folgenden Nachholbedarf auf: vorteile gebracht. Für die Sicherung und den Ausbau des Großbritannien und selbst die Niederlande waren häufi- Forschungs- und Entwicklungsstandorts Deutschland ist ger als Deutschland Referenzmitgliedstaat im gegensei- es von entscheidender Bedeutung, die flexiblen Bereiche tigen Anerkennungsverfahren von Arzneimitteln. Die der EU-Richtlinie derart in nationales Recht umzusetzen, meisten der Top 75 Arzneimittel weltweit wurden nicht dass die Umsetzung einen Standortvorteil innerhalb Eu- von deutschen Unternehmen entwickelt, sondern von ropas bedeutet. Eine solche standortfreundliche Umset- amerikanischen, britischen und japanischen Firmen. zung der Richtlinie hinsichtlich der Bearbeitungszeiten für Genehmigungen möglich. Die EU-Richtlinie enthält All dies zeigt deutlich, wie enorm der Nachholbedarf für zahlreiche Genehmigungen und Zustimmungsvorbe- Deutschlands im internationalen Wettbewerb bei der Kli- halte maximale Fristen. Den nationalen Gesetzgebern ist nischen Forschung ist. Wenn die Bundesregierung nicht es bei der Umsetzung überlassen, kürzere Fristen festzu- umgehend ein Konzept zur deutlichen Verbesserung des schreiben. In dem mir vorliegenden Referentenentwurf Standorts Deutschland in der pharmazeutischen For- der 12. AMG-Novelle, mit der die EU-Richtlinie umge- schung vorlegt, wird die Bundesrepublik forschungspo- setzt werden soll, finde ich aber mit nur einer einzigen litisch zum Schlaflabor der EU. Ausnahme nur die Festschreibung der maximalen Fris- Der hier debattierte Antrag der CDU/CSU-Fraktion ten. Wenn die Bundesregierung wirklich Deutschland ist nach dem gestrigen Kabinettsbeschluss zur AMG- wettbewerbsfähig machen möchte, dann müssen bei der Novelle besonders aktuell. Von den 17 Forderungen, die Umsetzung einer Richtlinie Standortvorteile gegenüber der Antrag enthält, erfüllt der mir vorliegende Referen- unseren europäischen Wettstreitern geschaffen werden. tenentwurf explizit nur eine einzige: dass künftig nur Dies wurde durch die Bundesregierung klar versäumt. eine Ethikkommission einer klinischen Prüfung zustim- Die Bundesregierung sollte sich ein Beispiel an der men muss. Sollte die AMG-Novelle tatsächlich so umge- Politik Großbritanniens nehmen. Großbritannien ist ge- setzt werden, wie vom Kabinett gestern beschlossen, wiss kein großer Absatzmarkt für Arzneimittel. Dennoch wird Deutschland auch künftig im internationalen Wett- werden dort deutlich mehr Arzneimittel entwickelt als in bewerb als Standort für Forschung und Entwicklung Deutschland, weil die Rahmenbedingungen für For- pharmazeutischer Produkte benachteiligt bleiben: Die schung und Entwicklung überaus attraktiv sind. Das Ethikkommissionen nach Landesrecht sind ein weiterer heißt, forschende Pharmaunternehmen führen ihre Ent- Aufbau von bürokratischen Hindernissen. Gestaltungs- (B) (D) wicklungen, Studien und Zulassungsverfahren nicht räume und flexible Vorgaben der Richtlinie werden nicht zwangsläufig dort, wo der beste Absatzmarkt ist. Der zum Vorteil der Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands um- Standort für Entwicklung ist also unabhängig vom Ort gesetzt. Dies zeigt sich insbesondere bei der Festschrei- des Absatzes der Entwicklungen. bung der maximalen Fristen. Es wird nicht die Bildung je einer Leitethikkommission speziell für Kinder und Der Erfolg Großbritanniens beruht auf Analysen der speziell für nicht einwilligungsfähige Erwachsene ge- „Pharmeceutical Industry Competitiveness Task Force“ setzlich verankert. Stattdessen wird auch dies wieder den (PICTF). Diese Einrichtung hat bislang 49 Indikatoren Ländern überlassen bleiben, wodurch in den 16 Bundes- der Wettbewerbsfähigkeit der pharmazeutischen Indus- ländern jeweils zwei weitere Ethikkommissionen gebil- trie Großbritanniens im Vergleich zu den zwölf stärksten det werden müssen. Damit ist abzusehen, dass die Zahl Ländern bewertet. Dabei arbeiten die Arzneimittelher- der öffentlich-rechtlichen Ethikkommissionen von der- steller gemeinsam mit der britischen Regierung in dieser zeit 52 sogar noch auf 84 steigen wird. Diese Zahl wird Analyse zusammen, um in Großbritannien innovations- vermutlich noch deutlich höher ausfallen mit der Ein- freundliche Rahmenbedingungen zu schaffen. richtung von speziellen Kommissionen für klinische Während in Großbritannien die Regierung mit den Prüfungen von Arzneimitteln für Gentherarpie, mit so- Pharmaunternehmen gemeinsam arbeitet, wird in matischer Zelltherapie und anderen speziellen Arznei- Deutschland die pharmazeutische Industrie durch staatli- mitteln. Hier wäre es sinnvoll gewesen, bundesweit zu- che Vorgaben belastet. Jüngstes Beispiel ist der von der ständige Ethikkommissionen einzurichten und der SPD initiierte 16-prozentige Zwangsrabatt auf festbe- Diversifizierung durch landesweite Ethikkommissionen tragsfreie Arzneimittel und die Einführung von Festbe- Einhalt zu gebieten. Die Bedingung eines GMP-Zertifi- trägen für patentgeschützte Medikamente. Damit wird in kates einer deutschen Behörde zum Import klinischer Deutschland die Forschung nach neuen Wirkstoffen wei- Prüfpräparate im AMG ist bürokratie- und zeitaufwen- ter gebremst und die notwendige Refinanzierung der dig. Diese Anforderung stellt die EU-Richtlinie nicht. Entwicklung eines Arzneimittels zum Unsicherheitsfak- Damit geht deutsches Recht über EU-Recht sogar hi- tor für forschende Arzneimittelhersteller. naus. Dies ist ein weiterer klarer Wettbewerbsnachteil, der von der Bundesregierung nicht beseitigt wird. Die von der britischen Task Force ermittelten Wettbe- werbsindikatoren sagen auch ganz klar, wie viel schlech- Ich fordere daher die Bundesregierung auf, endlich ter die Rahmenbedingungen in Deutschland sind: In Un- ein innovationsfreundliches Klima in Deutschland zu ternehmensteuern ist Deutschland auf dem vierten Platz. schaffen, damit wir wieder die Apotheke der Welt wer- Die Ausgaben für öffentliche Investitionen in Forschung den können. Die Bundesregierung muss endlich auf den 5732 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2003

(A) internationalen Wettbewerb um Standorte der Pharma- Ich frage mich nur, weshalb die Union dazu einen (C) Forschung reagieren. Denn schon Johann Wolfgang von eigenen Antrag bemüht. Das Kabinett hat gestern zur Goethe erkannte: „Wissenschaft und Kunst gehören der Richtlinienumsetzung den Entwurf eines Zwölften Ge- Welt an und vor ihnen verschwinden die Grenzen der setzes zur Änderung des Arzneimittelgesetzes (AMG) Nationalität.“ beschlossen. In diesem Gesetzesentwurf findet sie vieles wieder, was auch im Antrag der Union enthalten ist. So zum Beispiel die Vereinfachung des Verfahrens bei den Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die Ethikkommissionen oder auch die Verkürzung der Ge- klinische Prüfung von Arzneimitteln liegt im Span- nehmigungsfristen. nungsfeld von Patientenschutz und langfristig therapeu- tisch nutzbaren Forschungsinteressen. Aus ethischer Per- Darüber hinaus soll die Novelle aber auch einen Bei- spektive müssen die Studien so ausgestaltet werden, dass trag zur Arzneimittelsicherheit für Kinder leisten. Heute die Arzneimittelsicherheit und die Gesundheit der Pro- ist die Hälfte der bei Kindern angewendeten Arzneimit- banden ebenso gewährleistet sind wie ethische Aspekte tel ohne eine arzneimittelrechtliche Zulassung für die des Patientenschutzes. Aus wirtschaftspolitischer Per- spezifische Anwendung bei Kindern. Für etliche Krank- spektive haben Prüfungs- und Genehmigungsverfahren heiten, von denen Kinder betroffen sind, gibt es über- eminente Bedeutung für die Wettbewerbsfähigkeit der haupt keine eigenen Arzneimittel. Wir werden jetzt im heimischen Arzneimittelindustrie und sollten deshalb parlamentarischen Gesetzgebungsverfahren zu prüfen haben, inwieweit das Gesetz künftig erlauben soll, unter möglichst straff und unbürokratisch erfolgen. Diese bei- bestimmten Rahmenbedingungen auch klinische Studien den Ansprüche sollten so weit wie möglich verbunden unter Beteiligung von Kindern durchzuführen. werden. Doch im Zweifelsfall hat selbstverständlich der Grundsatz „Sicherheit vor Schnelligkeit“ zu gelten. Ein Augenmerk werden wir auch darauf haben müs- sen, dass künftig auch Frauen in ausreichender Zahl an Es gilt aber auch: Hohe qualitative Anforderungen klinischen Studien beteiligt werden. Arzneimittel wirken stehen in keinem natürlichen Gegensatz zu industriepoli- häufig auf Frauen und Männer sehr unterschiedlich. In tischen Zielen. Dass Deutschland seinen Status als den klinischen Studien sind aber Frauen meistens deut- „Apotheke der Welt“ verloren hat und hinsichtlich seiner lich unterrepräsentiert. Das werden wir ändern müssen. Innovationskraft im Arzneimittelbereich gegenüber an- Auch hier können wir etwas aus dem Ausland lernen: In deren EU-Ländern ins Hintertreffen geraten ist, ist nicht den USA und Schweden ist die gleichrangige Teilnahme zuletzt Konsequenz unzureichender qualitativer Anfor- von Frauen an klinischen Arzneimittelstudien per Gesetz derungen an die hiesige Arzneimittelindustrie. Bemer- vorgegeben. kenswert ist, dass die im Unions-Antrag als Forschungs- (B) Überhaupt nicht einsichtig, weil durch nichts belegt, (D) standorte hervorgehobenen Länder Dänemark, Schweden ist die These der CDU, die Ethikkommissionen seien und die Niederlande durchweg über Arzneimittel-Positiv- schuld, dass es in Deutschland nicht genügend For- listen verfügen. Arzneimittelunternehmen haben in schungsstandorte gibt. Und das, wo gerade der CDU die diesen Ländern einen starken Anreiz, ihre Forschungsan- Bioethik – siehe Klondebatte – so wichtig ist und sie strengungen auf tatsächliche Innovationen zu konzen- eine ethische Prüfung bei klinischen Forschungsprojek- trieren. Die deutsche Arzneimittelindustrie hat sich da- ten schon allein aus diesem Grund fordern müsste! gegen zu lange auf dem sanften Ruhekissen eines Ethikkommissionen sind – das ist ja wohl unbestritten – nationalen Arzneimittelmarkts ausgeruht, auf dem fast in diesem Bereich unumgänglich. Dennoch gibt es auch jedes Produkt zulasten der GKV abgesetzt werden kann. aus unserer Sicht Verbesserungsbedarf bei dem Einsatz Entwickelt wurden in den letzten Jahren vor allem Ana- und der Arbeitsweise der Ethikkommissionen in diesem logpräparate ohne medizinisch-therapeutischen Zusatz- Bereich: Zurzeit handelt es sich in der Regel um Kolle- nutzen gegenüber bereits existierenden Produkten. Es gialberatungsgremien der akademischen Selbstverwal- steht zu hoffen, dass mit der im Gesundheitskonsens be- tung. Das entspricht nicht der wachsenden faktischen schlossenen Ausweitung der Festbetragsregelung auf die und rechtlichen Bedeutung von Ethikkommissionen, wie Analogpräparate gegenläufige Anreize gesetzt werden. sie in der EU-Richtlinie 2001/20/EG vorgesehen sind. Auf das gesundheits- wie industriepolitisch gleicherma- Die medizinischen Mitglieder der universitären Ethik- ßen gebotene Instrument einer Positivliste wird Deutsch- kommissionen stehen unter erheblichem Loyalitätsdruck land aber auch weiterhin verzichten müssen. Da hat die gegenüber ihren Kollegen. Weder sind die personellen Kapazitäten vorhanden noch fachkundiges Personal in Union in den Verhandlungen zum Gesundheitskonsens den Geschäftsstellen. Deshalb plädieren wir für eine ganze Arbeit geleistet. Weiterentwicklung der Ethikkommissionen zu professio- Recht hat die Union aber damit, dass die europäische nellen behördlichen Überwachungseinrichtungen mit Richtlinie zur Arzneimittelforschung umgesetzt werden hauptberuflich tätigen Mitarbeitern und Durchsetzungs- muss. Die pharmazeutische Industrie ist heute internatio- und Kontrollbefugnissen unter Einbeziehung von Patien- tenvertretern. nal organisiert. Sicherheitsanforderungen und Genehmi- gungsverfahren müssen deshalb in enger internationaler Ich möchte nur noch auf eine Forderung eingehen: Sie Abstimmung und Zusammenarbeit erfolgen. Es ist des- fordern, Leitethikkommissionen für die klinischen Prü- halb zu begrüßen, dass die EU eigens eine Richtlinie ent- fungen bei nicht einwilligungsfähigen Erwachsenen ein- wickelt hat, mit der die Anforderungen an die klinische zurichten. Diese Forschung ist ethisch nicht verantwort- Prüfung in Europa harmonisiert werden. lich und medizinisch nicht notwendig. Dies ist bisher Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 66. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 16. Oktober 2003 5733

(A) auch Konsens im Bundestag. Die Bioethik-Konvention Alle Konzepte, ob sie die Namen von Hartz, (C) des Europarates ist unter anderem eben aus diesem Kirchhoff oder Herzog tragen, verfehlen ihre Wirkung, Grund vom Bundestag nicht ratifiziert worden. Von die- wenn die Akteure am Wissenschafts- und Wirtschafts- sem Konsens sollte auch nicht versteckt unter dem Titel standort Deutschland ständig zur Ader gelassen werden. „Entbürokratisierung der Forschung“ abgewichen wer- In diesem Zusammenhang trifft der leider inflationär den. verwendete Begriff „nachhaltig“ des Pudels Kern. Nach- haltig wird der Pharmaindustrie die wirtschaftliche Mit der Rolle und Struktur von Ethikkommissionen Grundlage durch die Schaffung von Wettbewerbsnach- beschäftigen wir uns ausführlich in der Enquete-Kom- teilen, durch leichtfertiges Umsetzen von EG-Richtli- mission „Ethik und Recht der modernen Medizin“. Die nien, durch die Aufweichung der gewerblichen Schutz- Ergebnisse werden wir in das Gesetzgebungsverfahren rechte und das Fehlen einer nationalen Biotechstrategie einfließen lassen. Auch Ihre Forderung nach einer Leit- schleichend entzogen. Bereits heute liegt Deutschland ethikkommission für die klinische Prüfung bei Minder- bei der Arzneimittelproduktion weltweit nur noch an jährigen ist vor diesem Hintergrund zu sehen. Eine Be- fünfter Position. Dazu kommen noch die Folgen für die fürchtung ist, dass die Forschung an Kindern, bei der ja Patienten, die bei Arzneimittelentwicklungen im Aus- auch vom Prinzip des informed consent abgewichen land erst viel später Zugang zu neuen innovativen Medi- werden muss, als Einfallstor für die Forschung an Nicht- kamenten haben. einwilligungsfähigen allgemein wirken könnte. Wir wol- len deshalb in Ruhe die Fachanhörung der Enquete zu Wir brauchen einen klaren Kurs für diesen Höchst- diesem Thema auswerten und erst danach entscheiden, technologiebereich! Das bedeutet für mich zugleich auch wie hier weiter verfahren werden soll. eine Liberalisierung der Forschung durch mehr Selbst- ständigkeit für Universitäten und Forschungseinrichtun- gen und eine Stärkung der Wissenschaft durch neue Sys- Cornelia Pieper (FDP): Schleichend zwar, aber teme der öffentlichen Forschungsförderung, eine doch stetig verliert Deutschland im globalen Wettbewerb gezielte Förderung der Spitzenforschung und eine kom- der Forschungsstandorte an Attraktivität. Statistiken und petitive Vergabe von Fördermitteln, so wie es derzeit Berichte zeigen, dass wir zwar immer noch erste Plätze Großbritannien bereits erfolgreich macht. Ich denke da belegen, der Platz eins jedoch bleibt uns oft versagt. Die an eine Verbesserung des Technologietransfers, die Ein- weltweit 30 größten Pharmafirmen unterhalten in führung einer Forschungsprämie, eine bessere rechtliche Deutschland nur zehn FuE-Standorte. In Europa ist Absicherung von Drittmitteln und die Stärkung der na- Deutschland hinter Großbritannien und Frankreich auf turwissenschaftlichen Ausbildung der jungen Genera- den dritten Platz bei den Ausgaben für Forschung und tion. (B) Entwicklung zurückgefallen. (D) Die Europäische Kommission fordert in ihrem Strate- Die CDU/CSU-Fraktion sagt uns mit ihrem Antrag gieplan die Mitgliedstaaten auf, durch die Einführung „Klinische Prüfung in Deutschland entbürokratisieren“ von nationalen Anreizen die industriellen Forschungs- völlig zu Recht: Achtung! Hier wird wieder einmal ein ausgaben zu steigern. Der BDI hat völlig Recht, wenn er Forschungsbereich unnötig drangsaliert. Es geht um die statt steuerlicher Abschreibungen eine Forschungsprä- Forschung eines Wirtschaftszweiges, der das Markenzei- mie fordert. Das bedeutet, die Drittmittel der Industrie chen „Made in “ prägte wie kaum ein anderer. mit einem prozentualen öffentlichen Zuschlag zu „prä- Während man sich im Kanzleramt derzeit Gedanken mieren“. Dies würde ohne großen bürokratischen Auf- darüber macht, wie Marketingagenturen eben dieses wand den Technologietransfer begünstigen, Drittmittel Markenzeichen weltweit wieder aufpolieren sollen, se- mobilisieren, den Wettbewerb zwischen universitären hen sich jene, die den Ruf überhaupt erst begründeten, und außeruniversitären Forschungseinrichtungen ver- häufig an die Wand gedrängt. Heute geht es um die stärken und den Unternehmen Freiheit bei der Partner- Pharmabranche, deren Sorgen, Ängste und Nöte wir alle und Themenwahl lassen. kennen. Wir müssen handeln; denn einer Verlagerung Vergessen wir doch eines nicht: Die Arzneimittelfor- der Forschung folgt in aller Regel später die Produktion schung und -entwicklung hat in Deutschland eine lange im Ausland. In Deutschland sind derzeit lediglich etwa und erfolgreiche Tradition. Die deutschen Arzneimittel- 14 200 Mitarbeiter der Mitgliedsunternehmen des Ver- hersteller gehören zu den weltweit ältesten pharmazeuti- bandes forschender Arzneimittelhersteller (VfA) in den schen Unternehmen. Sie begründeten den Ruf Deutsch- Bereichen Forschung und Entwicklung tätig. Damit liegt lands als Apotheke der Welt und besetzten über viele Deutschland deutlich hinter den USA (56 800), Japan Jahre die Plätze eins und zwei auf der Weltrangliste der (29 000), Großbritannien (21 000) und Frankreich Arzneimittelhersteller. (18 200) zurück. Dieser Trend setzt sich fort. Die Bran- che investiert immer stärker im Ausland und fährt damit Ich kann Sie nur auffordern: Stimmen Sie dem Antrag ihre FuE-Aufwendungen zurück. der CDU/CSU zu!

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