Plenarprotokoll 14/85 (neu)

Deutscher

Stenographischer Bericht

85. Sitzung

Berlin, Freitag, den 28. Januar 2000

I n h a l t :

Eintritt des Abgeordneten Heinz Wiese (Ehingen) CDU/CSU ...... 7835 A in den Deutschen Bundestag ...... 7831 A Ekin Deligöz BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ... 7837 A Wahl des Abgeordneten als Cornelia Pieper F.D.P...... 7839 A stellvertretendes Mitglied in den Stiftungsrat der Stiftung zur Aufarbeitung der SED- Maritta Böttcher PDS ...... 7840 D Diktatur ...... 7831 A SPD ...... 7842 A CDU/CSU ...... 7843 D Tagesordnungspunkt 10: Dr.-Ing. Rainer Jork CDU/CSU ...... 7844 D a) Beschlussempfehlung und Bericht des CDU/CSU ...... 7846 C Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Tagesordnungspunkt 11: – zu der Unterrichtung durch die Bun- desregierung Antrag der Abgeordneten Maria Eichhorn, Klaus Holetschek, weiterer Abgeordneter – Berufsbildungsbericht 1999 und der Fraktion CDU/CSU: Endbericht – zu dem Entschließungsantrag der der Enquete-Kommission „So genannte Abgeordneten Cornelia Pieper, Ulrike Sekten und Psychogruppen“ Flach, weiterer Abgeordneter und der (Drucksache 14/2361) ...... 7848 B Fraktion F.D.P. zu der Unterrichtung in Verbindung mit durch die Bundesregierung – Berufsbildungsbericht 1999 Zusatztagesordnungspunkt 11: (Drucksachen 14/1056, 14/1225, 14/1934 (neu)) ...... 7831 B Antrag der Fraktionen SPD und BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN: Fortführung der b) Beschlussempfehlung und Bericht des Beratungen zum Endbericht der Enque- Ausschusses für Bildung, Forschung und te-Kommission „Sog. Sekten und Psy- Technikfolgenabschätzung zu dem Antrag chogruppen“ (Drucksache 14/2568) ...... 7848 C der Abgeordneten Jürgen W. Möllemann, Rainer Brüderle, weiterer Abgeordneter Klaus Holetschek CDU/CSU ...... 7848 D und der Fraktion F.D.P.: 9-Punkte- Dr. Hans Peter Bartels SPD ...... 7851 A Konzept zur Schaffung von zusätzlichen Ausbildungsplätzen Birgit Homburger F.D.P...... 7852 C (Drucksachen 14/335, 14/1294) ...... 7831 C Dr. Angelika Köster-Loßack BÜNDNIS 90/ , Bundesministerin BMBF 7831 D DIE GRÜNEN ...... 7854 A II Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Januar 2000

Ulla Jelpke PDS ...... 7855 C Tagesordnungspunkt 14: Renate Rennebach SPD ...... 7856 B Beschlussempfehlung und Bericht des Fi- nanzausschusses zu dem Antrag der Ab- CDU/CSU ...... 7857 C geordneten Dr. Uwe-Jens Rössel, Heide- marie Ehlert, weiterer Abgeordneter und der Fraktion PDS: Einstieg in eine umfas- Tagesordnungspunkt 12: sende Reform der Finanzierung der Große Anfrage der Abgeordneten Ulrich Städte, Gemeinden und Landkreise (Re- Heinrich, Jürgen Koppelin, weiterer Ab- form der Kommunalfinanzierung) geordneter und der Fraktion F.D.P.: Re- (Drucksachen 14/1302, 14/2556) ...... 7883 D form der landwirtschaftlichen Sozial- Dr. Uwe-Jens Rössel PDS ...... 7884 A versicherungsträger (Drucksachen 14/1557, 14/1759) ...... 7858 D Bernd Scheelen SPD ...... 7885 A Dr. Ilja Seifert PDS ...... 7886 A Jürgen Koppelin F.D.P...... 7859 A Dr. Uwe-Jens Rössel PDS ...... 7886 D Dr. Gerald Thalheim, Parl. Staatssekretär BML...... 7860 C Jochen-Konrad Fromme CDU/CSU ...... 7888 A Jürgen Koppelin F.D.P...... 7861 C Dr. Uwe-Jens Rössel PDS ...... 7889 B Siegfried Hornung CDU/CSU ...... 7862 B Christine Scheel BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN ...... 7890 C BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN .. 7863 D Gerhard Schüßler F.D.P...... 7891 C Kersten Naumann PDS ...... 7865 B Christel Deichmann SPD ...... 7866 A Albert Deß CDU/CSU ...... 7867 A Zusatztagesordnungspunkt 12: Waltraud Wolff (Zielitz) SPD ...... 7868 D Aktuelle Stunde betr. Die Ergebnisse des Russland-Besuches des deutschen Au- ßenministers Joseph Fischer am 20. Ja- nuar 2000 und die Haltung der Bundes- Tagesordnungspunkt 13: regierung zum Tschetschenienkrieg ...... 7892 B Erste Beratung des von den Abgeordneten Hanna Wolf (München), Lilo Friedrich Wolfgang Gehrcke PDS ...... 7892 B (Mettmann), weiteren Abgeordneten und der Fraktion SPD sowie der Abgeordneten Kurt Palis SPD ...... 7893 C Irmingard Schewe-Gerigk, Marieluise Dr. CDU/CSU ...... 7894 D Beck (Bremen), weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE Dr. Helmut Lippelt BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines NEN ...... 7895 D Gesetzes zur Änderung des Ausländer- Ulrich Irmer F.D.P...... 7896 D gesetzes (Drucksache 14/2368) ...... 7870 D SPD ...... 7897 C Hanna Wolf (München) SPD ...... 7871 A Dr. Karl A. Lamers (Heidelberg) CDU/CSU .. 7898 B CDU/CSU ...... 7872 C Rita Grießhaber BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN ...... 7899 C Irmingard Schewe-Gerigk BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ...... 7874 B Carsten Hübner PDS ...... 7900 B Dr. F.D.P...... 7876 A Joseph Fischer, Bundesminister AA ...... 7901 D Irmingard Schewe-Gerigk BÜNDNIS 90/ Christian Schmidt (Fürth) CDU/CSU ...... 7904 A DIE GRÜNEN ...... 7877 B SPD ...... 7905 A PDS ...... 7877 D Nächste Sitzung ...... 7906 A Lilo Friedrich (Mettmann) SPD ...... 7878 D Dr. Hans-Peter Uhl CDU/CSU ...... 7880 A Anlage 1 Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast, Parl. Staats- sekretärin BMI...... 7882 C Liste der entschuldigten Abgeordneten ...... 7907 A Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Januar 2000 III

Anlage 2 des deutschen Außenministers Joseph Fischer am 20. Januar 2000 und die Haltung der Bun- Nachträglich zu Protokoll gegebene Rede zur desregierung zum Tschetschenienkrieg (Zu- Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur satztagesordnungpunkt 12) Änderung und Ergänzung des Strafverfahrens- rechts (84. Sitzung, Zusatztagsordnungs- (Wiesloch) SPD ...... 7909 D punkt 10) Jörg van Essen F.D.P...... 7908 B Anlage 4 Anlage 3 Amtliche Mitteilungen ...... 7910 C Zu Protokoll gegebene Rede zur Aktuellen Stunde: Die Ergebnisse des Russland-Besuchs

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Januar 2000 7831

85. Sitzung

Berlin, Freitag, den 28. Januar 2000

Beginn: 9.00 Uhr

Berichterstattung: Präsident : Die Sitzung ist er- Abgeordnete Willi Brase öffnet. Dr.-Ing. Rainer Jork Zunächst einige Mitteilungen: Der ehemalige Kollege Antje Hermenau hat am 25. Januar 2000 auf seine Mit- Cornelia Pieper gliedschaft im Deutschen Bundestag verzichtet. Als sein Angela Marquardt Nachfolger hat der Abgeordnete Helmut Heiderich, der von 1996 bis 1998 bereits Mitglied des Hauses war, am b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- richts des Ausschusses für Bildung, Forschung 26. Januar 2000 die Mitgliedschaft im Deutschen Bun- und Technikfolgenabschätzung (19. Ausschuss) destag erworben. zu dem Antrag der Abgeordneten Jürgen W. Aus dem Stiftungsrat der Stiftung zur Aufarbeitung Möllemann, Hildebrecht Braun (Augsburg), Rai- der SED-Diktatur scheidet der Kollege Hans-Christian ner Brüderle, weiterer Abgeordneter und der (B) Ströbele als stellvertretendes Mitglied aus. Die Fraktion Fraktion der F.D.P. (D) Bündnis 90/Die Grünen schlägt als Nachfolger den Kol- 9-Punkte-Konzept zur Schaffung von zusätzli- legen Werner Schulz vor. Sind Sie damit einverstan- chen Ausbildungsplätzen den? – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist der Kol- lege Schulz als stellvertretendes Mitglied in den Stif- – Drucksachen 14/335, 14/1294 – tungsrat gewählt. Berichterstattung: Abgeordnete Willi Brase Interfraktionell ist vereinbart worden, dass der Ent- Heinz Wiese (Ehingen) wurf der Bundesregierung zur Änderung des Arzneimit- Antje Hermenau telgesetzes auf Drucksachen 14/2292 und 14/2355 nach- Jürgen W. Möllemann träglich dem Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Maritta Böttcher Länder zur Mitberatung überwiesen werden soll. Sind Sie auch damit einverstanden? – Ich höre keinen Wider- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die spruch. Dann ist es so beschlossen. Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 10 a und 10 b auf. Ich eröffne die Aussprache und erteile der Bundesmi- a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- nisterin Edelgard Bulmahn das Wort. richts des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung (19. Ausschuss) – zu der Unterrichtung durch die Bundesregie- Edelgard Bulmahn, Bundesministerin für Bildung rung und Forschung: Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Berufsbildungsbericht 1999 sehr geehrten Herren und Damen! Junge Erwachsene stehen heute vor einer Zukunft, die ständig im Wandel – zu dem Entschließungsantrag der Abgeord- begriffen ist. Sie müssen nicht nur einen rasanten tech- neten Cornelia Pieper, Ulrike Flach, Horst nologischen Wandel bewältigen, sondern sie sollen ihn Friedrich (Bayreuth), weiterer Abgeordneter auch gestalten können. Sie werden in einer Welt leben, und der Fraktion der F.D.P. zu der Unterrich- in der sie mit Menschen in vielen anderen Ländern ko- tung durch die Bundesregierung operieren müssen, und sie werden auch selbst mit einer Berufsbildungsbericht 1999 sehr hohen Wahrscheinlichkeit einen Teil ihres Berufs- – Drucksache 14/1056, 141225, 14/1934 (neu) – lebens in einem anderen Land verbringen. 7832 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Januar 2000

Bundesministerin Edelgard Bulmahn (A) (C) Sie werden Bildung nicht auf einen bestimmten Le- Unser selbst gestecktes Ziel, mit dem Programm bensabschnitt beschränken können, sondern sie werden 100 000 Jugendliche zu erreichen – das hatten wir uns in ihrem Leben immer weiter dazulernen müssen. Auf vorgenommen –, haben wir damit weit übertroffen. Un- diese Veränderungen müssen wir sie vorbereiten, damit sere Jugendlichen – das zeigt mir der Erfolg dieses Pro- sie die Voraussetzungen dafür haben, ihr Leben selbst in gramms ganz klar – wollen arbeiten. Sie wollen sich die Hand zu nehmen und selbst zu gestalten. qualifizieren. Wir müssen ihnen die Chance dazu geben. Dieser Verantwortung stellen wir uns. Entscheidend für die Bewältigung der Zukunft sind eine hohe Qualität der beruflichen Aus- und Weiterbil- Das zweite Bein, auf das wir unsere Ausbildungs- dung und ein möglichst breiter Zugang dazu, denn Bil- und Berufsbildungspolitik stellen, ist die parlamentari- dung entscheidet über Berufs- und Lebenschancen, über sche Arbeit, aber vor allen Dingen auch das „Bündnis die Chancen jedes Einzelnen, sich in unserer Gesell- für Arbeit“. In dem „Bündnis für Arbeit“ haben wir schaft einzubringen, teilzuhaben, mitzuwirken. Zugleich gemeinsam mit den Sozialpartnern Vereinbarungen ge- ist eine gute Ausbildung die wichtigste Voraussetzung troffen. Jeder, der auch nur einen blassen Schimmer von für die Wettbewerbsfähigkeit unserer Wirtschaft und Berufsbildungspolitik hat, weiß, dass wir gerade in der für die Wiedergewinnung eines hohen Beschäftigungs- Berufsbildungspolitik nur dann wirklich tragfähige Ver- niveaus. änderungen, die den Jugendlichen und den Betrieben nützen, erreichen können, wenn wir mit den Gewerk- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ schaften, mit den Arbeitgeberverbänden und mit den DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der Unternehmen zusammenarbeiten; denn die Berufsbil- F.D.P.) dungspolitik lebt davon, dass man sich über Ziele, Inhal- Meine Damen und Herren, die Berufsbildungspolitik te und Instrumente verständigt. ist deshalb nicht die typische Ressortpolitik, sondern Be- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ rufsbildungspolitik ist Politik an der Schnittstelle von DIE GRÜNEN) Bildungspolitik, von Wirtschaftspolitik, von Sozial- und Arbeitsmarktpolitik. Deshalb hat sie für die Bundesre- Deshalb ist dies das wichtige zweite Standbein, das mit- gierung eine herausragende Bedeutung. tel- und langfristig die Voraussetzungen dafür schafft, dass wir auf Dauer die Probleme, die in der beruflichen (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Bildung vorhanden waren, lösen. DIE GRÜNEN) (Hans-Michael Goldmann [F.D.P.]: Frau Meine Damen und Herren, die Bundesregierung hat Bulmahn, das muss das erste sein!) unmittelbar nach ihrer Amtsübernahme das Sofortpro- (B) gramm zum Abbau der Jugendarbeitslosigkeit und „Ausbildung für alle“ ist das Leitziel unserer Be- (D) Qualifizierung von 100 000 Jugendlichen gestartet. rufsbildungspolitik. Das Bundeskabinett hat deshalb im Juni letzten Jahres beschlossen, das Sofortprogramm bis (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das war zum Ende des Jahres 2000 zu verlängern. Wir haben sehr gut!) hierfür erneut 2 Milliarden DM zur Verfügung gestellt. Das war deshalb notwendig, weil wir über Jahre hinweg, Das ist richtig, weil junge Menschen einen Anspruch auf seit Anfang der 90er-Jahre, eine immer größere Zahl von Ausbildung haben. Jugendlichen hatten, die keinen Ausbildungsplatz fan- den, die in Warteschleifen abgedrängt wurden und die (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS) perspektivlos wurden. Sie haben das Recht, uns in die Pflicht zu nehmen. Diese Deshalb war es richtig und notwendig, dass diese Bun- desregierung mit dem Zögern, dem Hinhalten und dem Bundesregierung will sich und wird sich dieser Pflicht nicht entziehen. Jeder junge Mensch, der kann und will, Abwarten Schluss gemacht hat und den Jugendlichen ein wird ausgebildet. Das ist die Kernaussage des Ausbil- konkretes Angebot gemacht hat. dungskonsenses, den Bundesregierung, Vertreter der (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Wirtschaftsverbände und der Gewerkschaften im DIE GRÜNEN – Hans-Michael Goldmann „Bündnis für Arbeit, Ausbildung und Wettbewerbsfä- [F.D.P.]: Das ist Salbe!) higkeit“ geschlossen haben. – Lieber Herr Kollege, wenn Sie das als „Salbe“ be- Anders als Sie, meine Damen und Herren von der zeichnen, dann kann ich Ihnen nur sagen, dass Sie von Opposition, haben wir nicht nur an die Sozialpartner ap- der Lebensrealität keine Ahnung haben. pelliert; vielmehr haben wir mit ihnen konkrete Maß- nahmen vereinbart, um unser Ziel zu erreichen. Das ha- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ ben wir mit Erfolg getan, wie das Beispiel der informa- DIE GRÜNEN) tionstechnischen Berufe sehr deutlich zeigt. In den in- Rund 165 000 Jugendliche haben durch die Maßnah- formationstechnischen Berufen herrscht ein Mangel von men des Programms wieder den Einstieg in Ausbildung über 80 000 Fachkräften. Diesen Fachkräftemängel ha- und Beruf gefunden. Genau dieses Ziel haben wir ver- ben Sie von der Opposition durch Ihre jahrelange Untä- folgt. tigkeit zu verantworten. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) DIE GRÜNEN) Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Januar 2000 7833

Bundesministerin Edelgard Bulmahn (A) (C) Die im Bündnis vereinbarte und von allen Beteiligten (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ getragene Offensive, diesen Fachkräftemangel zu be- DIE GRÜNEN) heben, hat bereits jetzt die Erwartungen, die wir mit der Vereinbarung verbunden hatten, übertroffen. Statt 2002, Wir haben mit unseren Vereinbarungen im „Bündnis für Arbeit“, aber auch mit dem Sofortprogramm den wie wir das miteinander vereinbart haben, werden wir richtigen Weg eingeschlagen und wir haben damit Er- bereits in diesem Jahr die vereinbarten 40 000 neuen Ausbildungsplätze in diesem Bereich schaffen. folg gehabt. Mit einer gemeinsamen Kraftanstrengung von Bundesregierung und Wirtschaft sind bis zum (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ 30. September 1999 bundesweit rund 631 000 neue DIE GRÜNEN – Hans-Michael Goldmann Ausbildungsverträge abgeschlossen worden. Das sind [F.D.P.]: Nicht Sie, sondern die Betriebe!) rund 18 500 mehr als im Jahr zuvor. Die Situation hat sich also erheblich verbessert. Wir haben diese Vereinbarung zusammen mit den Sozi- alpartnern getroffen. Das habe ich vorhin gesagt, lieber Ich füge aber hinzu: Sie ist noch nicht zufrieden stel- Herr Kollege. Wir haben einen anderen Weg als Sie ein- lend. Vor allem in den neuen Ländern ist die Lücke zwi- geschlagen. Wir haben uns mit den Vertretern der Un- schen angebotenen und nachgefragten Ausbildungsplät- ternehmerverbände, der Unternehmen selbst und der zen noch zu groß. Das Angebot an betrieblichen Ausbil- Gewerkschaften zusammengesetzt, um konkrete Verein- dungsplätzen ist besonders in den neuen Bundesländern barungen zu treffen. Gerade der Erfolg im Bereich der zu gering. Deshalb sind auch in den kommenden Jahren informationstechnischen Berufe, nämlich schon in die- ergänzende, öffentlich finanzierte Ausbildungsplatz- sem Jahr das Ziel zu erreichen, dessen Erfüllung wir erst programme erforderlich. für das Jahr 2000 angestrebt hatten, zeigt doch, dass dies Ein Weiteres will ich an dieser Stelle deutlich sagen: der richtige Weg und die richtige Vorgehensweise ist. Wir müssen, meine Herren und Damen, dahin kommen, die Förderung von Ausbildungsplätzen mit öffentlichen (Beifall bei der SPD) Mitteln nicht zu einem Dauerzustand werden zu lassen. Dies wird den Jugendlichen helfen, weil sie dadurch ei- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ ne zukunftsträchtige Ausbildung erhalten. Dies hilft DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der auch der Wirtschaft, weil sie dadurch in Zukunft ihren F.D.P. und der PDS) Fachkräftemangel schnell und zügig beheben kann. Deshalb bin ich sehr froh, dass wir auch im Bündnis mit Wir haben im Bündnis mit den Sozialpartnern wei- den Sozialpartnern vereinbart haben, dass wir die so ge- terhin die Modernisierung der Ausbildungsberufe ver- nannten Kopfprämien in den neuen Bundesländern ab- einbart. Damit sorgen wir dafür, dass Ausbildung für die (B) bauen, weil sie leider zu einem Zustand der Dauerfinan- (D) Betriebe wieder lohnender – eine lohnende Investition in zierung geführt haben und führen werden. Daher war es den Erhalt und in die Verbesserung ihrer Wettbewerbs- richtig, dass wir diese Vereinbarung getroffen haben. fähigkeit – wird. Wir sorgen gleichzeitig dafür, dass die Jugendlichen eine Ausbildung erhalten, die tatsächlich (Thomas Rachel [CDU/CSU]: Ich denke, es up to date ist. geht um Jugendliche und nicht um Köpfe!) Wir haben gemeinsam mit den Sozialpartnern be- Die Verschiebung der Ausbildungslasten von der schlossen, bestehende Ausbildungsberufe zu moderni- Wirtschaft auf die öffentliche Hand ist weder akzeptabel sieren und neue Ausbildungsberufe zu entwickeln. Das noch auf Dauer finanzierbar. Das Wichtigste ist: Wenn gilt besonders für innovative und wachsende Beschäfti- wir die von uns im „Bündnis für Arbeit“ eingeleitete gungsfelder im Dienstleistungssektor, weil wir in diesem Umorientierung nicht vornehmen würden, dann würde Bereich in den 90er-Jahren eine viel zu langsame, eine das auf Dauer das duale System in seinen Grundstruktu- viel zu zögerliche Entwicklung hatten. ren gefährden. Das wollen wir nicht. Wir haben weiterhin vereinbart – das ist mir wich- Die Betriebe, meine Herren und Damen, profitieren tig –, dass wir die Möglichkeiten für neue Berufe auch am meisten davon, wenn sie Jugendliche selbst ausbil- mit weniger komplexen Anforderungen voll ausschöp- den; denn sie erhalten gut qualifizierte Fachkräfte, deren fen, weil Jugendliche mit schlechteren Startchancen, mit Potenziale und Fähigkeiten sie kennen. Die Ausbildung schlechteren schulischen Voraussetzungen besondere im eigenen Betrieb liegt deshalb im unmittelbaren Inter- Schwierigkeiten haben, einen Ausbildungsplatz zu er- esse der Unternehmen selbst. halten. Wir wollen auch diesen Jugendlichen einen Ein- Das deutsche Berufsbildungssystem lebt vom Enga- stieg in einen Beruf mit Entwicklungschancen ermögli- gement der kleinen und der großen Betriebe. Dieses En- chen. gagement werden wir nachhaltig unterstützen und stär- ken. Darauf haben wir uns im Bündnis verständigt. Kern Meine Herren und Damen, der Abbau der Jugendar- der Vereinbarung, die wir gemeinsam mit den Ländern beitslosigkeit und die Schaffung von mehr Ausbil- und den Sozialpartnern umsetzen werden, ist eine Ver- dungsplätzen sind das oberste Ziel der Bundesregie- rung. Wir wollen erreichen, dass sich wieder mehr Be- stärkung der regionalen Aktivitäten zur Verschaffung von betrieblichen Ausbildungsplätzen. triebe und neue Branchen an der dualen Berufsausbil- dung beteiligen, weil sie nur so auf Dauer zukunftsfähig Die Erfahrungen aus dem letzten Jahr haben uns ge- bleiben wird. zeigt, dass die individuelle Ansprache vor Ort gemein- 7834 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Januar 2000

Bundesministerin Edelgard Bulmahn (A) (C) sam mit den Vereinbarungen, die wir im Bündnis getrof- Meine Herren und Damen, die Berufsausbildung hat fen haben, der richtige Weg ist, um die Ausbildungs- für die Bundesregierung herausragende politische Be- probleme zu überwinden. Wir brauchen nämlich deutung, weil über die Berufs- und Lebenschancen jun- selbsttragende Strukturen in der Region, die uns helfen, ger Menschen entschieden wird. Alle Betriebe und Ver- die Ziele des Ausbildungskonsenses umzusetzen. waltungen sind aufgefordert, ihr Ausbildungsengage- ment zu verstärken. Eine duale Ausbildung ist immer Dass dies der richtige Weg ist, zeigen die Erfolge der noch die beste Garantie – das zeigen alle Statistiken, alle Nachvermittlungsaktion im letzten Jahr. Ende Sep- Kenntnisse, die wir haben, sehr deutlich –, um später ei- tember 1999 waren noch 29 000 Jugendliche unvermit- nen Arbeitplatz zu finden, aber auch um ihn zu behalten. telt. Ende Dezember konnte diese Zahl um 16 200 auf Deshalb müssen Staat und Wirtschaft gemeinsam dafür 12 800 gesenkt werden. Diesen 12 800 Jugendlichen sorgen, dass das duale System auf Dauer leistungsfähig standen noch 7 400 nicht besetzte Ausbildungsplätze bleibt. gegenüber. Das heißt, die regionale Umsetzung der Nachvermittlungsaktion, die wir im „Bündnis für Ar- Wir stehen dabei vor zwei Aufgaben: Zum einen beit“ vereinbart haben, ist genau der richtige Weg und müssen wir den akuten Bedarf an Ausbildungsplätzen zeigt Erfolg. decken. Zum anderen müssen wir gleichzeitig das duale Alle Jugendlichen, die trotz verstärkter Vermittlungs- System modernisieren. Das, meine Herren und Damen, gelingt uns nur, wenn wir eine dauerhafte Verständigung bemühungen auch im Dezember noch keinen Ausbil- zwischen Arbeitgebern, Gewerkschaften und Politik er- dungsplatz gefunden haben, bekommen entweder mit den bislang noch unbesetzten betrieblichen Ausbil- reichen, so wie wir das im Bündnis gemacht haben. Das ist die wichtigste Voraussetzung dafür, dass das duale dungsplätzen oder mit dem verlängerten Sofortpro- System auch künftig – in Deutschland und weltweit – gramm eine weitere Chance, sodass wir unser Ziel, dass alle Jugendlichen, die können und wollen, auch einen ein Erfolgsmodell ist. Wir haben im „Bündnis für Ar- beit“ die Basis dafür gelegt. Wir werden uns gemeinsam Ausbildungsplatz erhalten, erreichen können. mit Unternehmen und Gewerkschaften um die weitere Meine Damen und Herren, ich habe vorhin schon Umsetzung unserer Vereinbarungen kümmern. darauf hingewiesen: Wir müssen auch den leistungs- schwächeren Jugendlichen mit schlechteren Startchan- Liebe Kollegen und Kolleginnen, die vereinbarten cen die Chancen für eine berufliche Qualifizierung ge- und getroffenen Maßnahmen der rot-grünen Bundesre- ben. Sie haben zurzeit besonders große Schwierigkeiten. gierung und die konstruktive Haltung aller Beteiligten Deshalb haben wir im Bündnis vereinbart, dass wir die im Bündnis – ich will die konstruktive Beteiligung von berufliche Benachteiligtenförderung weiterentwickeln. Wirtschaftsverbänden, Unternehmen und Gewerkschaf- ten ausdrücklich hervorheben; sie machen wirklich mit (B) Wir gehen dabei auch neue Wege, und zwar gemein- und wollen das auch künftig tun und kümmern sich (D) sam mit den Sozialpartnern und den Ländern, die im selbst sehr engagiert um die Umsetzung der Vereinba- Bündnis mitwirken. Wir gehen neue Wege in Form einer rung – haben gute Wirkung gezeigt. stärkeren Partnerschaft zwischen Schule und Betrieb, damit wir eine bessere Verknüpfung von Theorie und (Zuruf von der CDU/CSU: Nichts Neues!) Praxis nicht erst in der beruflichen Bildung erreichen, – Lieber Kollege, es ist falsch, wenn Sie sagen, das sei sondern bereits in der Schule. nichts Neues. Es hat in den vergangenen Jahren nicht ein (Hans-Michael Goldmann [F.D.P.]: Was ma- einziges Mal die Fortschritte in der beruflichen Bildung chen Sie denn dann?) gegeben, die im letzten Jahr zu verzeichnen gewesen sind. Ich bin davon überzeugt, dass das ein wichtiger Weg ist. Die Länder Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ zum Beispiel haben damit schon begonnen. DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Das wird gerade von den Sozialpartnern ausdrücklich DIE GRÜNEN – Hans-Michael Goldmann hervorgehoben, und zwar sowohl von den Wirtschafts- [F.D.P.]: Ich meine Sie! Was machen Sie denn verbänden als auch von den Gewerkschaften. da?) (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Mit – Sie wissen, lieber Kollege, dass ich zum Beispiel im dem Vergangenheitsminister Rüttgers konnte Bündnis genau diese Vorschläge mit erarbeitet habe, man in der Hinsicht nichts anfangen!) (Hans-Michael Goldmann [F.D.P.]: Welche Wir werden weiter darauf aufbauen. Wir werden uns denn? – Thomas Rachel [CDU/CSU]: Einmal für die Zukunft der jungen Menschen auch künftig en- konkret!) gagieren und den gemeinsam eingeschlagenen Weg wei- dass aber die Länder für die Umsetzung in den Schulen tergehen. Wir werden dabei Erfolg haben – im Interesse zuständig sind. Den föderalen Charakter unseres Landes der Jugendlichen und im Interesse unseres Landes. werden auch Sie nicht außer Kraft setzen. Vielen Dank. (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Herr Goldmann, Schweigen ist Gold, Reden ist (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Blech, jedenfalls bei Ihnen!) DIE GRÜNEN) Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Januar 2000 7835

(A) (C) Präsident Wolfgang Thierse: Ich erteile das Wort Ausbildungsplätze weist in diese Richtung. Wir unter- dem Kollegen Heinz Wiese, CDU/CSU-Fraktion. stützen durchaus das Bestreben, bewährte Maßnahmen fortzusetzen.

Heinz Wiese (Ehingen) (CDU/CSU): Herr Präsi- (Beifall bei der F.D.P.) dent! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Be- Dazu gehören regionale Ausbilderkonferenzen und seitigung der Jugendarbeitslosigkeit ist zurzeit die größ- Ausbildungsbörsen genauso wie, vor allem in den neuen te gesellschaftspolitische Herausforderung, größer noch Bundesländern, der Einsatz von Lehrstellenentwicklern. als die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit insgesamt. Ausbildungsverbünde sollten allerdings noch intensi- (Hans-Werner Bertl [SPD]: Hätten Sie das ver gefördert werden. einmal vor ein paar Jahren gesagt!) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Bildung, Ausbildung und Qualifizierung junger Men- Dann erhalten auch kleine und mittlere Betriebe, die aus schen sind und bleiben dabei die beste Investition in die finanziellen, organisatorischen oder personellen Grün- Zukunft. Das von der rot-grünen Bundesregierung auf- den keine eigenen Ausbildungsplätze anbieten können, gelegte Sofortprogramm zum Abbau der Jugendar- die Chance, im Rahmen des dualen Systems auszubil- beitslosigkeit habe ich hier im Plenum und in den Aus- den. schussberatungen vor allem als Einstiegsprogramm und hinsichtlich seiner Sogwirkung und Brückenfunktion für (Hans-Werner Bertl [SPD]: Herr Kollege, ma- benachteiligte Jugendliche gewürdigt. chen wir doch! Jeder kann, der will!) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Meine Damen und Herren, entscheidend für die Chancen auf dem Ausbildungsmarkt ist eine solide Mittlerweile hat jedoch die Jahresbilanz dieses Pro- Grundbildung. Dazu brauchen wir eine qualitäts- gramms einige Mängel und Defizite aufgedeckt. bewusste Weiterentwicklung unserer Schulen, in denen Kinder und Jugendliche mit ihren verschiedenen Bega- (Thomas Rachel [CDU/CSU]: Wohl wahr!) bungen und Interessen wieder ernst genommen werden. Sie müssen gefördert, aber auch angemessen gefordert Ich will nur zwei Punkte herausgreifen: Erstens. Wenn werden. man das Programm daran misst, inwieweit es als Brücke in den ersten Arbeitsmarkt tauglich ist, muss man leider (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – feststellen, dass nur 14 Prozent der Auszubildenden im Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Zum dualen System untergebracht werden konnten. Beispiel in Bayern und in Baden-Württem- (B) berg!) (D) (Thomas Rachel [CDU/CSU]: Hört! Hört!) Diese Erkenntnis sollte sich in allen Bundesländern Das ist entschieden zu wenig. durchsetzen. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – (Zurufe von der CDU/CSU: Jawohl!) Werner Lensing [CDU/CSU]: Traurige Wahr- heit!) Gerade in Baden-Württemberg und Bayern haben Quali- tätssicherung und Professionalisierung der Schulbildung Zweitens. Eine weitere Schwachstelle macht uns schon längst Priorität. hellhörig: Per Weisung und ohne die Öffentlichkeit da- rüber zu informieren, ist im Juli letzten Jahres die Betei- (Brigitte Wimmer [Karlsruhe] [SPD]: Da feh- ligung der Bundeswehr am Sofortprogramm außer Kraft len ganz viele Berufsschulen!) gesetzt worden. Auch in der Bildungspolitik muss es zu einem offen- (Thomas Rachel [CDU/CSU]: Was ist das siven Wettbewerbsföderalismus kommen. Dieser denn?) fruchtbare Wettstreit zwischen den Bundesländern kann entscheidend dazu beitragen, das Süd-Nord-Gefälle in Mit einem Federstrich sind dadurch circa 5000 Stel- Deutschland abzubauen. len für Wehrdienstleistende ohne Anschlussbeschäfti- gung weggefallen. Notwendig ist aber auch eine bessere und kontinuier- (Thomas Rachel [CDU/CSU]: Das ist ja eine liche Zusammenarbeit aller Einrichtungen des Bil- Sauerei!) dungswesens. Lebenslanges Lernen sowie Fremdspra- chen- und Medienkompetenz müssen durch eine bessere Dies ist für mich eine skandalöse Entscheidung. Verzahnung von Erst- und Weiterbildungswegen gezielt gefördert werden. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Uns helfen auf Dauer keine milliardenschweren Werner Lensing [CDU/CSU]: Nur so kann es Hilfsprogramme mit Strohfeuereffekten. Was wir brau- gehen!) chen, sind Strukturen, die langfristig halten und rea- listische Zukunftsperspektiven eröffnen. Auch das Frau Ministerin Bulmahn hat soeben davon gespro- 9-Punkte-Konzept der F.D.P. zur Schaffung zusätzlicher chen, die berufliche Bildung sei in besonders hohem 7836 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Januar 2000

Heinz Wiese (Ehingen) (A) (C) Maße den Innovationsprozessen der Wirtschaft und da- Mit ihren Steuerbeschlüssen benachteiligt die rot- mit enormen Veränderungen unterworfen. Ich meine, grüne Koalition jedoch den Mittelstand über Gebühr, neue Berufsbilder besonders im Dienstleistungs- und Multimediabereich müssen zügiger geschaffen werden. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Es muss uns gelingen, möglichst allen Jugendlichen Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Unsinn! über die eigene Berufstätigkeit eine gesellschaftliche Völliger Unsinn!) und kulturelle Teilhabe zu ermöglichen. obwohl sie wissen müsste, dass gerade der Mittelstand Ein besonderes Augenmerk sollten wir dabei auf die über 60 Prozent aller Ausbildungsplätze in Deutschland 10 bis 15 Prozent aller Lehrstellenbewerber richten, die anbietet. aufgrund sozialer und kognitiver Defizite nicht ausbil- (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Deswe- dungsreif sind. Für diese Zielgruppe gilt es, bereits in gen fördern wir den Mittelstand!) der Hauptschule den Praxisbezug zu verbessern und die praktischen Leistungen höher zu bewerten, beispielswei- Auch Kleinbetriebe – vor allem das Handwerk – neh- se in Form von Projektprüfungen. men circa 20 Prozent aller Auszubildenden auf. Dafür verdienen sie Lob und Anerkennung, statt laufend Für die eher praktisch begabten Jugendlichen brau- Knüppel zwischen die Beine geschmissen zu bekom- chen wir darüber hinaus neue Berufsbilder mit theorie- men. gemindertem Anforderungsprofil. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Lachen bei der SPD) Auch mit Teilqualifikationen, modularen Elementen oder Stufenausbildungen kann ihnen geholfen werden. Die größte Keule in diesem Bereich ist die so genann- Beispielsweise geht hier das Satellitenmodell des DIHT te Ökosteuer. neue Wege zu einer modernen Beruflichkeit. (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Die An dieser Stelle, meine Damen und Herren, appellie- muss ja für alles herhalten!) re ich ausdrücklich an die Gewerkschaften: Hören Sie Diese Geldbeschaffungsmaßnahme ist ein reiner Etiket- endlich auf, diese Ausbildungsprofile aus ideologischen tenschwindel, ein Abkassiermodell mit grünem Mäntel- Gründen zu bekämpfen! chen. Sie bringt keinen Gewinn für die Umwelt, statt- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) dessen Mehrkosten für die Betriebe: allein im Handwerk bisher 280 Millionen DM. Dies ist sozial ungerecht und Außerdem sollten die Beteiligten beim „Bündnis für Ar- politisch verantwortungslos. (B) beit“ die bereits angesprochenen beschlossenen Leitli- (D) nien zur beruflichen Benachteiligtenförderung zügig (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) umsetzen. Auch das so genannte Steuerentlastungsgesetz erweist Zu begrüßen sind neue Projekte wie der verstärkte sich für den Mittelstand als ein Steuerbelastungsgesetz. Einsatz von Jugendberufshelfern in Baden-Württemberg Dies ist kein Beitrag für mehr Wachstum und Beschäfti- oder die Einrichtung von Praxisklassen in Bayern. Ver- gung. Im Gegenteil, das ist eine Politik, die Arbeits- und gleichbar mit dem erfolgreichen Modell „New Deal“ in Ausbildungsplätze verhindert statt schafft. England kümmern sich immer mehr Jugendberufshelfer gezielt um die Jugendlichen in den Berufsvorbereitungs- Meine Damen und Herren, gestatten Sie mir ab- jahren, besprechen mit ihnen die individuellen Lebens- schließend eine Bemerkung zum F.D.P.-Antrag. Er ent- entwürfe und versuchen, sie zu einer adäquaten Berufs- hält einige gute Ansätze zur Verbesserung der Zukunfts- wahl und Ausbildung zu motivieren. Ohne solche Hilfen chancen unserer jungen Generation. Die CDU/CSU droht gerade diesen benachteiligten Jugendlichen gesell- stimmt dem F.D.P.-Konzept zu. Es ist kein politischer schaftliche Randständigkeit oder sogar Ausgrenzung. Weitwurf, aber ein Schritt in die richtige Richtung. Das können und dürfen wir nicht hinnehmen. Politik mit Augenmaß bewegt sich stets zwischen (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Bewahren und Erneuern. Deshalb sollte vieles, was sich bewährt hat, weitergeführt werden. Darüber hinaus gilt Meine Damen und Herren, bei der Schaffung von es aber, für die Auszubildenden neue Wege zu gehen. Ausbildungsplätzen kommt es aber entscheidend auf die Politische Innovation ist gefragt. Unsere Jugend braucht wirtschafts- und steuerpolitischen Rahmenbedingungen Perspektiven, sie ist unsere Zukunft. Geben wir dieser an. Zukunft eine Chance. (Hans-Werner Bertl [SPD]: Die sind optimal!) Vielen Dank. Wir brauchen eine große Steuerreform. Daneben müssen wir dringend zu einer soliden, wachstumsorientierten (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Wirtschaftspolitik zurückfinden. (Hans-Werner Bertl [SPD]: Haben wir schon!) Präsident Wolfgang Thierse: Ich erteile der Kolle- Sie bringt neue Impulse für den Ausbildungsmarkt. gin Ekin Deligöz, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Januar 2000 7837

Präsident Wolfgang Thierse (A) (C) ( [F.D.P.]: Ich bin extra Ihretwe- Sorge muss uns an dieser Stelle auch der Rückgang gen gekommen!) vor allem in den industriellen Ausbildungsberufen im Osten machen. Deshalb appellieren wir an dieser Stelle vor allem an die Wirtschaftsverbände, ihre Zusagen be- Ekin Deligöz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das züglich der Ausbildungssituation einzuhalten und bei ih- freut mich besonders, Herr Niebel. Ich habe Sie seit ges- ren Mitgliedern eine größere Verbindlichkeit herzustel- tern Abend schon vermisst. len. Guten Morgen, Herr Präsident! Liebe Kolleginnen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und Kollegen! Die Auseinandersetzung über einen Be- und bei der SPD) rufsbildungsbericht ist immer auch eine Diskussion über Zahlen. 1998 – das ist der Zeitraum, den der vorliegende Ich bin überzeugt, dass es den Unternehmen in Zu- Berufsbildungsbericht erfasst – hat sich der Lehrstel- kunft leichter fallen wird, die notwendige Motivation bei lenmarkt im Vergleich zum Jahr 1997 etwas entspannt. ihren Mitgliedern zu erreichen, um den grundgesetzlich Kamen 1997 auf 100 Bewerber und Bewerberinnen gebotenen Beitrag aufzubringen; denn wir stehen heute noch 96,6 Stellen, waren es 1998 bereits 98,1. 1999 – vor dem größten Wirtschaftsaufschwung seit dem Ver- unter rot-grüner Verantwortung – lag das Verhältnis von einigungsboom, der damals zum Teil künstlich erzeugt offenen Ausbildungsplätzen zu Bewerberinnen und Be- wurde. werbern bereits bei über eins zu eins, im Westen sogar Darüber hinaus ist sich die rot-grüne Koalition be- bei 116 zu 100. Die Jugendarbeitslosigkeit sank deutlich wusst, dass sie auch, vor allem was die Ausbildungssitu- um 18 Prozent. ation betrifft, an den Rahmenbedingungen arbeiten (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN muss. und bei der SPD – Zuruf von der SPD: Da (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- schauen Sie, Herr Wiese!) ten der CDU/CSU) Angesichts dieser Zahlen hätten Sie wahrscheinlich in Aber das meiste von dem, was Sie von der F.D.P. und der letzten Legislaturperiode vor Begeisterung erst ein- von der Union fordern, ist längst ein Bestandteil unseres mal Luftsprünge gemacht. Deshalb können wir sagen, derzeitigen Maßnahmenkatalogs. dass wir es geschafft haben, innerhalb eines Jahres die Jugenderwerbslosigkeit deutlich zu senken. Dem können (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sogar Sie sich nicht verschließen. und bei der SPD) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Sie haben es verpasst, in den vergangenen 16 Jahren (B) und bei der SPD – Zuruf von der SPD: Bravo! die richtigen Weichenstellungen vorzunehmen. (D) Recht hat sie!) (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Sie ha- Das JUMP-Programm hat bereits im Frühjahr 1999 ben uns viel Schrott hinterlassen!) 25 000 Jugendliche von der Straße geholt, die als so ge- nannte Altnachfragerinnen und Altnachfrager ohne Per- Wir dagegen haben uns vorgenommen, konkret zu han- spektive waren. Das ist die Leistung, die wir gleich zu deln und konstruktiv zu agieren. Beginn erbracht haben. Aber das war nur der erste (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- Schritt zur Lösung dieses Problems und noch immer gibt SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD) es Jugendliche, die in den vergangenen Jahren unvermit- telt blieben und einen Job suchen. Aber neben all diesen quantitativen Aspekten muss es uns auch um die Qualität gehen. Das JUMP-Programm – Zu Wahrheit und Klarheit gehört es auch, an dieser Stelle zu sagen, dass diese Entspannung auf dem Aus- das sagen Sie – mag auch Schwächen haben, aber dies liegt auch in der Natur der Sache, nämlich in der des So- bildungsmarkt in der Tat in erster Linie dem JUMP- fortprogramms. Wir möchten aus diesem Sofortpro- Programm der Bundesregierung zu verdanken ist. gramm konstruktive Schlussfolgerungen ziehen; denn (Beifall der Abgeordneten Antje Hermenau JUMP hatte – das wurde bereits angesprochen – nicht [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) unerhebliche Mitnahmeeffekte bei der Wirtschaft und es orientiert sich nach wie vor an den traditionellen Be- Die Zusagen der Wirtschaft wurden leider an dieser rufsbildern. Bei jungen Männern ist immer noch der Stelle wiederum nicht eingehalten – nicht 1998, als Alt- Beruf des Kfz-Mechanikers auf Rang Nummer eins und bundeskanzler Kohl mit dem – dann unerfüllten Wahl- bei jungen Frauen ist noch immer der Beruf der Friseuse versprechen, jedem Jugendlichen einen Ausbildungs- auf einem absoluten Spitzenplatz. platz anzubieten, in den Wahlkampf zog, und auch nicht, als die Wirtschaft im Rahmen des „Bündnisses für Ar- Deshalb hat die Koalition beschlossen, speziell gegen beit“ 6 000 Stellen für den demographischen Zusatzbe- den Fachkräftemangel im Bereich der Informationstech- darf versprochen hat und darüber hinaus noch 10 000 nologien vorzugehen. Hier werden in den kommenden zusätzliche Stellen zusagte. Wenn wir den Effekt des drei Jahren 26 000 neue Ausbildungsplätze geschaffen. JUMP-Programms von den erreichten Zahlen abziehen, müssen wir leider feststellen, dass wir, wenn wir über Aber das ist nicht alles. Wir sind auch schon dabei, einen Erfolg reden wollen, tatsächlich nur von einem Er- neue Berufsbilder zu erarbeiten und auf den Weg zu folg des JUMP-Programms reden können. bringen. 7838 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Januar 2000

Ekin Deligöz (A) (C) Ein weiteres Problem ist die Zielgruppengenauig- Ekin Deligöz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Nein, keit. JUMP war niemals nur als ein Programm für be- er kann sich ja nachher noch einmal melden. nachteiligte Jugendliche gedacht, sondern wurde allge- (Lachen bei der CDU/CSU – Antje Hermenau mein zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit in Deutsch- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Der spricht land eingebracht. Daher müssen wir auch Programme doch sowieso!) weiterentwickeln, die gerade die benachteiligen Jugend- lichen ansprechen, weil wir wissen, dass 50 Prozent der Das duale Ausbildungssystem hat sich trotz erkenn- arbeitslosen Jugendlichen in den alten und über 20 Pro- barer Schwächen vor allem in Westdeutschland bewährt. zent der arbeitslosen Jugendlichen in den neuen Bundes- Die Koalition hat zahlreiche Modernisierungsvorschläge ländern keinen qualifizierten Abschluss haben. gemacht und Anforderungen erarbeitet, die gerade in diesem Haus Anklang finden. Deshalb liegt einer der wichtigsten Schlüssel zur Lö- sung dieses Problems im allgemeinbildenden Schulsys- (Dirk Niebel [F.D.P.]: Jetzt war ich die ganze tem. Da gibt es beispielsweise die Problemgruppe der so Zeit still und die Rede ist doch nicht besser genannten nicht beschulbaren Jugendlichen. In eini- geworden! – Gegenruf der Abg. Ute Kumpf gen Bundesländern laufen diesbezüglich Experimente, [SPD]: Niebel, Nebel, Flegel! – Weiterer Zu- die zeigen sollen, wie durch ganz speziell zugeschnitte- ruf der SPD: Seien Sie nicht so nebulös!) ne Schulen und Unterrichtsmodelle erreicht werden Die vom DGB-Vorsitzenden Schulte geforderte Aus- kann, dass auch diese Jugendlichen einen qualifizierten bildungsoffensive und seine zugleich verkündete Bereit- Abschluss schaffen. In diesem Bereich muss der Infor- schaft, offen und mit flexiblen Instrumenten auf die im- mations- und der Erfahrungsaustausch erheblich intensi- mer differenziertere Ausbildungssituation einzugehen, viert werden, wenn wir vermeiden wollen, dass hier eine begrüßen wir ausdrücklich. Ebenso im Grundsatz zu be- Gruppe von dauerhaft Ausgegrenzten heranwächst. grüßen sind die Arbeitgeberforderungen nach einer fle- Ähnliches gibt es auch in einer weiteren statistisch er- xiblen und einer offenen Gestaltung der Weiterbildung. fassten Problemgruppe, nämlich der Gruppe der auslän- Es zeigt sich hier wie auch in vielen anderen Fragen, dischen Jugendlichen und hier vor allen Dingen der dass die Konsensstrategie der Bundesregierung im männlichen Jugendlichen. Eines ist empirisch erwiesen: Rahmen des „Bündnisses für Arbeit“ Sinn macht und an Überall dort, wo auf die spezifischen Probleme der jun- vielen Stellen auch Früchte trägt. gen Migrantinnen und Migranten eingegangen wird, Konsensuale Schritte sind aber notwendig, um noch überall dort, wo sie Kurse für die deutsche Sprache be- unerschlossene Ausbildungsreserven zu mobilisieren. suchen können und wo sie schulisch und sozial gefördert Nur etwa 10 Prozent der ausländischen Betriebe bilden werden, entschärft sich das Problem der mangelnden aus. Das liegt sicherlich nicht an der mangelnden Bereit- (B) Qualifikation und der mangelnden Berufschancen ganz schaft, sondern oft auch an der mangelnden Unterstüt- (D) erheblich. Die Bundesregierung nimmt hier ihre Verant- zung und an bürokratischen Hemmnissen sowie an der wortung nicht nur im Rahmen von Sonderprogrammen Frage der Ausbildungsberechtigung. Hier können vor al- und Modellprogrammen wahr. Weitere Schritte sind lem die Industrie und die Handelskammern etwas unter- aber – vor allem auf Landesebene und auf Kommunal- nehmen, um zur Verbesserung der Situation beizutragen. ebene – an dieser Stelle mehr als dringend notwendig. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Von besonderer Bedeutung ist auch die Vermittlung und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der von Schlüsselqualifikationen für die Arbeitswelt des F.D.P.) 21. Jahrhunderts. Dazu gehören Teamfähigkeit, Kom- munikationsfähigkeit und die Fähigkeit zu kreativen Die öffentliche Hand sollte die Ausbildungsbereit- Problemlösungen und zum lebenslangen Lernen. All schaft der Betriebe dadurch fördern, dass sie bei der dies muss bereits im Schulsystem entwickelt werden. Vergabe von öffentlichen Aufträgen vor allem die Be- triebe bevorzugt, die ausbilden. Dies kommt nach der In Bayern läuft gegenwärtig ein viel versprechendes heutigen Situation vor allem den kleineren und mittleren Volksbegehren von Lehrerverbänden, von Schülerinnen Betrieben zugute. und Schülern sowie von den Eltern, das den Titel „Das bessere Schulkonzept“ trägt. Leider verkennt gerade die Abschließend möchte ich festhalten: Wir haben si- cherlich nicht für alles eine Patentlösung. Aber wir sind CSU mit ihrer fundamentalistischen Ablehnung dieser auf einem sehr guten Wege. Wir können zu Recht als Konzepte die Zeichen der Zeit, gerade was diese Schlüs- selqualifikationen betrifft. rot-grüne Koalition darauf hinweisen, dass wir nicht nur über alles reden, sondern dass wir zu Taten schreiten (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und dass wir bereits einige wichtige Schritte gegangen und bei der SPD – Zuruf von der SPD: So ist sind. es mal wieder!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Werner Siemann Schulpolitik mag in erster Linie Ländersache sein. Aber auch Sie, Herr Kollege, werden mir zustimmen, dass [CDU/CSU]: Das glauben Sie! – Zuruf von der F.D.P.: Das glauben Sie doch selber Schulpolitik letztlich uns alle angeht. nicht!)

Präsident Wolfgang Thierse: Kollegin Deligöz, Präsident Wolfgang Thierse: Ich erteile das Wort gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Jork? der Kollegin Cornelia Pieper, F.D.P.-Fraktion. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Januar 2000 7839

(A) (C) Cornelia Pieper (F.D.P.): Herr Präsident! Meine nung nicht oft genug aussprechen: Mittelstandsfeindli- Damen und Herren! Die Schaffung von Ausbildungs- che Gesetze vernichten Ausbildungs- und Arbeitsplätze plätzen für junge Frauen und Männer ist nicht nur die in diesem Land. beste Zukunftsinvestition, die wir tätigen können, son- dern – da es die Option auf einen zukünftigen Arbeits- (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- platz einschließt – auch die beste Sozialpolitik, die man ten der CDU/CSU) für junge Menschen in diesem Land betreiben kann. Ich sage auch: Ausbildungsbereitschaft der Wirt- schaft und der Betriebe darf nicht nur immer eingefor- (Beifall bei der F.D.P. – Zurufe von der SPD: dert, sie muss auch belohnt werden. Ausbildungsbetrie- Richtig! – Hätten Sie das mal in den letzten be dürfen durch Übernahmeverpflichtungen im Rahmen Jahren gemacht! – Späte Einsicht, Frau Pie- von Tarifverträgen nicht abgeschreckt werden. per!) (Beifall bei der F.D.P.) Daran muss sich auch die Politik der rot-grünen Bun- desregierung messen lassen. Ich sage auch ganz deut- Ich sage ganz deutlich: Es müssen verstärkt Regelun- lich, dass wir Liberale es für völlig falsch halten, gerade gen geschaffen werden, die eine moderate Ausbil- die Ausbildungsplatzpolitik, die berufliche Bildung zum dungsvergütung ermöglichen. Tarifpolitische Entschei- politischen Schlachtfeld zu machen. dungen konterkarieren zurzeit die Schaffung von be- trieblichen Ausbildungsplätzen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Zurufe von der SPD: Olle Kamellen! – Ich Trotzdem müssen Sie natürlich auch die Kritik der habe es doch geahnt, die Ausbildungsvergü- Opposition an Ihren Programmen ertragen. Ich gebe zu, tungen sind zu hoch! – Die Prügelstrafe ein- der uns seit geraumer Zeit vorliegende Berufsbildungs- führen!) bericht ist nicht der geeignete Maßstab für eine Be- Nehmen Sie doch das Beispiel des Einzelhandels: wertung der Leistungen dieser Bundesregierung. Er be- schreibt nämlich den Zustand vom September 1998, Dort bekommt eine junge Frau im ersten Lehrjahr – das hat ja auch Allgemeinverbindlichkeit für alle Einzelhan- also das Ergebnis der Regierungsarbeit der christlich- delsfirmen – 940 DM. Wie viele Ausbildungsplätze hät- liberalen Koalition. ten wir geschaffen, gerade im Osten Deutschlands, wenn (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- wir daraus zwei oder drei Ausbildungsplätze machen ten der CDU/CSU) könnten, gerade im Handel. Da würden wir ein großes Stück vorankommen. Der Bericht macht deutlich, dass die alte Bundesre- (B) gierung bei der Schaffung von Ausbildungsplätzen eini- (Widerspruch bei der SPD – Ute Kumpf (D) ge richtige Weichenstellungen vorgenommen hat. [SPD]: Frau Pieper, Sie haben doch nicht alle Zugleich zeigt er, wie wichtig es ist, Signale zur Schaf- Tassen im Schrank!) fung zielgenauer Rahmenbedingungen für eine Stärkung Die Quintessenz bleibt: Die beste Ausbildungsplatz- der Wirtschaft zu geben, insbesondere für die kleinen politik für junge Menschen ist eine erfolgreiche Mit- und mittleren Betriebe, um damit die Ausbildungsbereit- telstandspolitik – dafür leistet diese Bundesregierung schaft der Betriebe und Einrichtungen zu stärken. Die nicht viel –, denn nur betriebliche Ausbildungsplätze er- Tarifvertragsparteien, Bund und Länder sind hier glei- öffnen Optionen auf einen zukunftsorientierten Arbeits- chermaßen gefordert. Für mich bedeutet das, gerade platz für junge Frauen und Männer. Dieser Akzent fehlt kleine und mittlere Unternehmen, das Handwerk zu in Ihrem Sonderprogramm. stärken. (Beifall bei der F.D.P.) (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- ten der CDU/CSU) Heute schon ist deutlich zu erkennen, worauf Rot- Grün setzt. Die Mittelstandspolitik der Regierung ist mit Das betriebliche Ausbildungsangebot muss ausge- ihrer falsch verstandenen Steuerentlastung großer Kapi- weitet werden. Ausbildungsplatzentwickler haben dabei talgesellschaften und mit ihrer Ökosteuer arbeits- und natürlich eine Schlüsselposition. Wir meinen aber auch, ausbildungsplatzfeindlich. Existenzgründern muss der Zugang zur Ausbildung er- leichtert werden. Dafür fehlen die richtigen Ansätze in (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- Ihrem Programm. Der einzig richtige Weg zur Siche- ten der CDU/CSU – Hans-Werner Bertl rung einer ausreichenden Zahl von Ausbildungsplätzen, [SPD]: Das glaubt Ihnen kein Mensch, Frau meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, Pieper!) ist nach wie vor die Stärkung des dualen Systems, wobei – Doch, ich komme gleich zu konkreten Beispielen. der Ausbildungsbetrieb im Zentrum stehen muss. Der Berufsbildungsbericht zeigt uns Wege auf, die (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- aber in keines der Programme der jetzigen Bundesre- ten der CDU/CSU) gierung aufgenommen wurden. Auch das im vergange- Industrie und mittelständische Wirtschaft werden die nen Herbst beschlossene Sofortprogramm zum Abbau Ausbildung ihres Nachwuchses jedoch immer an ihrem der Jugendarbeitslosigkeit, das mit großem Kraftauf- wirklichen Bedarf orientieren. Daher kann ich die War- wand von den Arbeitsämtern umgesetzt wurde, 7840 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Januar 2000

Cornelia Pieper (A) (C) (Ute Kumpf [SPD]: Ist doch gut so!) Ich denke, bei diesen Betrieben sind die wichtigen An- satzpunkte für eine erfolgreiche Ausbildungsplatzpolitik ist letztlich ein Tropfen auf den heißen Stein. Ich sage es zu setzen. noch einmal: Das kann das Grundproblem insgesamt nicht lösen. Trotz der Neuauflage des Programms in die- Bei der Berufsausbildung müssen neue Wege be- sem Jahr sind wir von unserem Ziel, nämlich der dauer- schritten werden. Die F.D.P. setzt sich schon lange für haften und ausreichenden Bereitstellung von be- eine Modernisierung der beruflichen Ausbildung nach trieblichen Ausbildungs- und Arbeitsplätzen, noch im- dem Muster eines Baukastensystems ein: Es soll mit Ba- mer weit entfernt. sisberufen angefangen und dann in Form von Qualifi- zierungs- und Aufbaubausteinen weitergeführt wer- (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Spre- den. So haben wir leistungsstarke und leistungsschwa- chen Sie doch einmal über Ihre Versäumnis- che junge Menschen gleichermaßen im Auge. se!) Es ist eine breite Diskussion im Gange. Ich gebe zu: Solange der Mut zu echten Reformen nicht aufge- Die Frau Bundesbildungsministerin hat, was die berufli- bracht wird – das muss eine gemeinsame Kraftanstren- che Bildung anbelangt, auch zum Thema Modernisie- gung in diesem Parlament sein – und immer weitere mit- rung und Flexibilisierung wichtige Akzente aufgezeigt, telstandsfeindliche und ausbildungsplatzvernichtende die wir teilen und die wir wollen. Wenn Sie, Frau Minis- Gesetze verabschiedet werden, sehe ich zu einer Fort- terin, Punkte, die der Entschließungsantrag der F.D.P. führung derartiger Sofortprogramme keine Alternative. enthält, umzusetzen beabsichtigen bzw. zum Teil schon Es ist zwar richtig, wenn immer wieder gesagt wird, je- umgesetzt haben, dann, denke ich, sollten Sie und die der junge Mensch, der in irgendeine Form der Beschäf- Regierungskoalition gezielt und bewusst dem Ent- tigung gebracht werde, sei weg von der Straße. Noch so schließungsantrag der F.D.P.-Fraktion zustimmen. Dafür schöne außerbetriebliche Ausbildungs- und Beschäfti- möchte ich noch einmal werben. gungsprogramme können aber den Betrieb nicht erset- zen. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das geht (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU – ja leider nicht, weil der größte Teil doch Un- Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das se- sinn ist!) hen wir auch so! – Weiterer Zuruf von der SPD: Da haben Sie Recht, Frau Pieper! Ein- deutig richtig!) Präsident Wolfgang Thierse: Ich erteile das Wort der Kollegin Maritta Böttcher, PDS-Fraktion. Das sehen wir am deutlichsten im Osten, wo auf abseh- (B) bare Zeit keine Umkehrung des Verhältnisses von aus- (D) bildenden zu nicht ausbildenden Betrieben von 29 Pro- Maritta Böttcher (PDS): Herr Präsident! Sehr geehr- zent zu 71 Prozent zu erwarten ist. te Damen und Herren! Wieder einmal geht es um einen Ich möchte Ihnen vortragen, was der interessante Berufsbildungsbericht, dessen Inhalt, so scheint es, inso- Konjunkturbericht der IHK Halle/Dessau – immerhin fern überholt ist, als die Datenlage zwei Jahre alt ist und eine wachsende Wirtschaftsregion im Osten – enthält. inzwischen Ergebnisse des JUMP-Programms und der Die Verfasser sehen mit Besorgnis die Entwicklung der Bündnisgespräche vorliegen. Diese Ergebnisse will ich – kleinen und mittelständischen Betriebe in dieser Region. das sage ich zu Beginn ausdrücklich – weder kleinreden Es wird bemerkt, dass es kaum noch Investitionen gibt noch gering schätzen: Tatsächlich ist vielen Jugendli- und dass die Unternehmenslücke größer wird; allein im chen durch den Kraftakt der Bundesregierung wenigs- Jahre 1999 wurden 2 000 Gewerbeanmeldungen weni- tens vorübergehend geholfen worden. ger verzeichnet. Während es im Westen durchschnittlich Aber gehen wir die im Bericht aufgelisteten Schwer- 45 Unternehmen je Tausend Einwohner gibt, sind es im punkte im Einzelnen durch, so zeigt sich seine Aktualität Osten nur 33. Überwiegend herrscht eine schlechte Ge- auch trotz der von der Regierungskoalition ergriffenen winnsituation bei den kleinen und mittleren Betrieben neuen Maßnahmen. Richtig ist wohl, dass die Lehrstel- vor: lenbilanz zum Stichtag 30. September ein Plus von (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Deswe- 3 Prozent bei den neu abgeschlossenen Ausbildungs- gen sind Sie für die Senkung der Spitzensteu- verträgen gebracht hat. Werden jedoch die vom Staat ersätze oder wie?) voll finanzierten Plätze herausgerechnet, ergibt sich ein weiterer deutlicher Rückgang beim Angebot der Betrie- Von rund 34 000 Personengesellschaften ohne Eintrag be. Da stellt sich die Frage, was das Sofortprogramm ins Handelsregister arbeiten drei Viertel praktisch ohne und die Bündnisgespräche tatsächlich zur deutlichen Gewinn. Wie wollen Sie, meine Damen und Herren von Ausweitung des betrieblichen Ausbildungsangebots bei- der Regierungskoalition, diese Betriebe mit Ihrer Steu- getragen haben. Oder gilt dieses Ziel nicht mehr? erpolitik eigentlich erreichen? Im Dezember war von etwa 10 000 Plätzen weniger (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- bei Betrieben und Verwaltungen die Rede. Versprochen ten der CDU/CSU – Hans-Werner Bertl wurden im Bündnis zusätzlich 16 000 Stellen, und zwar [SPD]: Aufgabe der Steuerpolitik ist es, die „aus eigener Kraft“. Das Angebot sank vor allem im Betriebe in die Gewinnmarge zu führen? Das Handwerk, bei Ländern und Kommunen und in der ist was ganz Neues!) Großindustrie. Ist dies nun ein Effekt, der trotz oder so- Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Januar 2000 7841

Maritta Böttcher (A) (C) gar dank des Sofortprogramms zustande gekommen ist? rung. Es ist allerdings eine Umlage, die nicht von der Vielleicht gibt es darauf in der Begleitforschung eine Wirtschaft getragen wird. Antwort. Schließlich sei mir noch eine Bemerkung zur Chan- Festgehalten werden muss: Die Wirtschaft hat bisher cengleichheit gestattet. Für den Bereich der beruflichen ihre Lehrstellenzusage nicht erfüllt. Bildung würde das im Klartext bedeuten: Jeder Jugend- liche hat das Recht auf ein gleichwertiges, qualitativ Ein zweiter Schwerpunkt des Berichts, der nichts an hochwertiges und auswahlfähiges Ausbildungsangebot. Aktualität eingebüßt hat, ist die weitere Talfahrt bei den Dass wir davon meilenweit entfernt sind, weiß jeder, der Lehrstellen in Ostdeutschland. Das ist hier schon an- einmal versucht hat, sich vor Ort in dem ganzen För- geklungen. Auch dort ging das betriebliche Lehrstellen- derwirrwarr der verschiedenen Programme zurechtzu- angebot wiederum zurück. Die neuen Bundesländer finden. Da die Programme und Förderrichtlinien ständig bleiben Spitzenreiter in den Bilanzen der Arbeitsämter. verändert werden, kommt es dazu, dass in einer Klasse Im letzten Jahr kamen auf jeweils 100 Stellen zum Bei- auf vier bis fünf verschiedenen Wegen geförderte Schü- spiel 142 Bewerbungen in Mecklenburg-Vorpommern lerinnen und Schüler mit unterschiedlichen Rechten, und 182 Bewerbungen in Sachsen vor. Bezügen und Perspektiven nebeneinander sitzen. Es Als Fazit bleibt demnach die Einschätzung im Min- kann also weder von Gleichwertigkeit dieser Ausbildun- derheitenvotum der Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh- gen untereinander und erst recht nicht im Vergleich zur mer zum vorliegenden Bericht aktuell: Auch in diesem betrieblichen Ausbildung die Rede sein – ganz zu Jahr hat die Politik der Freiwilligkeit und der Anreize schweigen von etwaiger Chancengleichheit nach abge- versagt. schlossener Ausbildung auf dem Arbeitsmarkt. Vom Arbeitsamt finanzierte Schmalspurausbildungen und (Beifall der Abg. Dr. Barbara Höll [PDS]) ABM-Projekte zur Pflege von Grünanlagen sind, so wichtig sie sind, mit Sicherheit keine Antwort auf die Das, was an Verbesserungen und Erfolgen gemeldet Herausforderungen an die Bildung für das 21. Jahrhun- wird, geht zuerst und vor allem – das ist heute schon dert, wie sie jetzt von den großen Parteien in Grundsatz- deutlich geworden – auf das Konto des Sofortpro- gramms. Das entspricht nicht dem Geist und den Zielen papieren neu entdeckt werden. des Ausbildungskonsenses. Nach wie vor gilt: Mehr Ein Gutachten, das kürzlich in Sachsen zur Situation Ausbildungs- und Arbeitsplätze werden nicht durch So- und Perspektiven der beruflichen Erstausbildung erstellt fortprogramme geschaffen, sondern durch die richtige wurde, kommt zu der Schlussfolgerung, dass die bil- Ausgestaltung der wirtschaftlichen Rahmenbedingun- dungspolitischen Antworten auf die Dienstleistungs- gen. und Wissensgesellschaft außerhalb des Fachhochschul- (B) und Hochschulbereichs noch nicht gefunden sind, und (D) (Beifall bei Abgeordneten der PDS, der warnt vor der Auffassung, dass irgendeine Berufsausbil- CDU/CSU und der F.D.P. – Zuruf von der dung besser sei als keine. Die GEW fordert, dass die F.D.P.: Das ist richtig!) staatlichen Milliarden besser für systematisch aufeinan- Der Kanzler hat das auf dem Bildungskongress der der abgestimmte Ausbildungsangebote eingesetzt wer- SPD in dieser Woche bestätigt. Ich kann ihm dabei nur den müssen, und fordert die Politiker auf, ihre Steu- zustimmen. Die Verschiebung der Ausbildungslasten erungsfunktion stärker wahrzunehmen. Das ist alles auf die öffentliche Hand ist weder akzeptabel noch auf richtig und unterstützenswert. Es bleibt nur die Frage: Dauer finanzierbar und gefährdet das duale System. Warum müssen es staatliche Milliarden sein? Auch in der Wissens- und Dienstleistungsgesellschaft gibt es (Beifall bei der PDS – Zuruf von der SPD: Da große Bereiche, die von gut ausgebildeten Menschen hat sie Recht!) profitieren und die sich durchaus an den Ausbildungs- kosten beteiligen können. – Das hat ja Ihr Kanzler gesagt. Da muss ich ja Recht haben. Damit wären wir wieder bei der Verantwortung der (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das hat Politik, zum Beispiel für die Einführung einer gesetz- die Ministerin eben auch noch einmal betont!) lichen Umlagefinanzierung. Vielleicht kommen wir ja doch in diesem Haus noch einmal ernsthaft auf dieses – Ja, Frau Bulmahn auch. Selbstverständlich. Thema zurück. (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Alles Vielen Dank. richtig! Genau!) (Beifall bei der PDS) Ich kann auch noch ein paar andere Namen nennen, aber wir sind hier nicht bei einer Veranstaltung, auf der eine Laudatio auf einzelne Menschen gehalten wird. Präsident Wolfgang Thierse: Ich erteile das Wort dem Kollegen Willi Brase, SPD-Fraktion. Auch wenn sich die SPD nach dem Regierungswech- sel von dem vorher favorisierten Modell der Umlagefi- nanzierung verabschiedet hat, weil der Kanzler – so Willi Brase (SPD): Herr Präsident! Meine Damen wörtlich – nicht gegen die Wirtschaft arbeitet, fragt man und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die sich, was JUMP anderes ist als eine Umlagefinanzie- Schaffung und Sicherung von ausreichend quali- 7842 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Januar 2000

Willi Brase (A) (C) fizierenden Ausbildungsplätzen ist Maßgabe und erste Westfalen entwickelt haben. Das ist gut und richtig so Priorität für die rot-grüne Regierung in der Bundesrepu- und da brauchen wir keinen Vergangenheitsminister, blik. Dabei müssen wir natürlich bedenken und berück- sondern wir schauen nach vorne. sichtigen, dass sich die Situation in den Regionen und (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Ländern sehr unterschiedlich darstellt. DIE GRÜNEN) Es ist eben schon angesprochen worden: Die Zahl der Bewerber von Sachsen bis zum Saarland auf je 100 bei Die Wirtschaft hat im „Bündnis für Arbeit“ zugesagt, den Arbeitsämtern gemeldete Ausbildungsstellen ist in aus demographischen Gründen 6 000 zusätzliche Aus- höchstem Maße differenziert zu betrachten. Sind es im bildungsplätze anzubieten. Darüber hinaus will sie wei- Saarland nur 99, so sind es in Sachsen 182. Das bedeutet tere 10 000 Ausbildungsplätze anbieten. Nach den bis- doch offensichtlich – zumindest belegen das die Zahlen her vorliegenden Zahlen müssen wir aber auch hier und von September 1998 bis Oktober 1999 –, dass wir mit heute deutlich feststellen: Diese Zusage konnte von der unterschiedlichen Instrumenten an dieses Problem he- Wirtschaft bisher nicht in vollem Umfang erfüllt wer- rangehen müssen. den. Deshalb war es richtig und notwendig – das haben viele Vorrednerinnen und Vorredner dankenswerterwei- Ich will Ihnen ein Zweites sagen, das von entschei- se bestätigt –, dass das Sofortprogramm zumindest in dender Bedeutung ist. Schauen Sie sich einmal an, wo- Teilbereichen Abhilfe geschaffen hat. Das heißt, die Po- hin die jungen Leute gehen und was die häufigsten litik hat ein Stück weit, hier mit über 2 Milliarden DM, Lehr- und Ausbildungsberufe sind. Wir stellen fest, etwas getan, um die Ausbildungssituation und die Zu- dass bei den jungen Frauen Bürokauffrau, Arzthelferin, kunftschancen für junge Leute zu verbessern. Einzelhandelskauffrau und Zahnarzthelferin die Berufe sind, die sie überwiegend wählen. Man muss natürlich Frau Pieper ist leider nicht mehr da. Sie hat darauf überlegen, ob das in der Zukunft so bleiben kann, ob hingewiesen, dass die F.D.P. mit ihren Anträgen, die wir dort tatsächlich die Perspektive liegt. Bei den jungen heute hier diskutieren, Dinge vorschlägt, die notwendig Männern sind es die Berufe Kfz-Mechaniker, Elektro- und wichtig seien. installateur, Maler, Lackierer und Tischler. Auch da (Dirk Niebel [F.D.P.]: Das ist wohl wahr!) müssen wir überlegen, ob wir diese Orientierung in der Berufsbildungspolitik beibehalten können. Ich möchte nur darauf hinweisen, Herr Niebel: Die Fra- ge der Übernahme ist nach wie vor eine zentrale Frage, Warum sage ich das? Wir haben oft davon gespro- weil junge Leute nach der Ausbildung praktische Erfah- chen, dass in den USA ein sehr gutes Wirtschaftswachs- rung brauchen. Wenn die Tarifpartner, wie in der Me- tum erreicht worden ist. Wenn man sich überlegt, tall- und Elektroindustrie, ihre Übernahmetarifverträ- dass der Präsident Anfang der 90er-Jahre eine ge für ein Jahr fortschreiben, dann leisten sie einen her- (B) (D) IT-Offensive ins Leben gerufen und vor allen Dingen vorragenden Dienst, indem sie verhindern, dass die jun- den Zugang zum Internet ermöglicht und forciert hat, gen Leute auf der Straße landen. dann kann ich Ihnen nur sagen: Die Versäumnisse in der Bundesrepublik sind Ihre Versäumnisse aus der letzten (Beifall bei der SPD) Legislaturperiode und nicht die der rot-grünen Regie- Nun zu den regionalen Ausbildungsplatzkonfe- rung! renzen. Ich lade Sie sehr herzlich ein: Kommen Sie in (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ meine Heimat, wo liebe und nette Leute leben und arbei- DIE GRÜNEN – Zuruf von der CDU/CSU) ten. Ich zeige Ihnen, wie wir diese Fragen seit fünf, sechs Jahren intensiv thematisieren, wie wir die Schwie- – Ob das etwas Neues ist oder nicht, es ist eine Tatsache. rigkeiten von lernschwachen Jugendlichen einbeziehen, Nehmen Sie das bitte zur Kenntnis. wie wir es schaffen, in kleinen Betrieben, in mittleren Betrieben und in Industriebetrieben gemeinsam immer (Ute Kumpf [SPD]: Schlafmützen waren das!) wieder genügend Ausbildungsplätze zur Verfügung zu Im „Bündnis für Arbeit, Ausbildung und Wettbe- stellen. werbsfähigkeit“ ist beschlossen worden: Jeder, der Dafür brauchen wir das, was im Antrag zu regionalen kann und will, bekommt einen Ausbildungsplatz ange- Ausbildungskonferenzen steht, nicht. Das ist „Stand der boten. Diese Kernaussage vom Juli 1999 belegt erstmals Technik“. Das ist schon fast Normalität. in der Geschichte der Bundesrepublik, dass junge Men- schen mehr als einen moralischen Anspruch darauf ha- Bei der Umsetzung des Konsenses beim Bündnis für ben, dass die Gesellschaft dafür sorgt, dass sie auch in Arbeit, Ausbildung und Wettbewerbsfähigkeit wird ge- der Zukunft eine Perspektive bekommen. rade beim Instrument der regionalen Ausbildungsplatz- konferenzen, wo es noch nicht angewandt wurde, der (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Ekin Nachholbedarf sichtbar, und man kommt dort zu verbes- Deligöz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) serten und veränderten Zahlen. Wir sind sehr gespannt, zu welcher Einschätzung wir im März dieses Jahres Ich bin ein bisschen stolz darauf, dass wir diesen An- kommen werden und was durch die Nachbesserungsak- satz, nämlich alle Beteiligten, von den zuständigen Stel- tion an zusätzlichen Ausbildungsplätzen realisiert und len bis hin zu den Unternehmensverbänden unter Einbe- mobilisiert werden kann. ziehung der Gewerkschaften und der Politik, in die Ver- antwortung einzubinden, in meiner Heimat, im Sieger- Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und land und Sauerland, und darüber hinaus in Nordrhein- Kollegen, ich will etwas zur Mittelstandspolitik sagen, Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Januar 2000 7843

Willi Brase (A) (C) weil wir seit Jahren hören, unsere Politik sei angeblich – Das ist wunderschön. so mittelstandsfeindlich. Die F.D.P. fordert immer Mit- telstandsfreundlichkeit. Die Unternehmensteuerbelas- Ein weiterer Punkt ist: Wir müssen uns Gedanken tung in der Bundesrepublik Deutschland lag 1998 bei machen über die Qualifizierung und Weiterqualifizie- 56 Prozent, 1999 schon bei 51,8 Prozent, und am 1. Ja- rung junger Erwachsener, die eben nicht die Chance hat- nuar 2001 wird sie bei knapp 38 Prozent liegen. Eine ten, in Erstausbildung zu kommen. Auch dort hat – bessere unternehmensorientierte Steuerpolitik gibt es schauen Sie sich das genau an – das Bündnis für Arbeit nicht. Der Weg, den wir mit unserer großen Unterneh- entscheidende Punkte aufgeführt. mensteuerreform gehen werden, ist genau der richtige. Die strukturelle Weiterentwicklung ist angesprochen (Beifall bei der SPD – Dr. Karlheinz Guttma- worden. Wir plädieren für eine Beibehaltung des Be- cher [F.D.P.]: Das ist doch nur die halbe rufskonzepts. Das hat sich in der Vergangenheit bewährt Wahrheit!) und wird sich auch in der Zukunft bewähren. Wir wen- den uns dagegen, dass über Modularisierung auf schlei- Lassen Sie mich noch etwas zur Ökosteuer und zur chendem Wege alte Stufenausbildungsgänge wieder Mineralölsteuer sagen, weil das auch ein beliebtes Ar- eingeführt werden. Sie helfen den jungen Leuten in der gument ist. Tat nicht weiter. (Dr. [F.D.P.]: Nun mal (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Dr. los!) Karlheinz Guttmacher [F.D.P.]: Das ist auch Nehmen Sie zur Kenntnis, dass der Ölpreis pro Barrel in nicht beabsichtigt! – Zuruf von der CDU/CSU: Dollar in den letzten Monaten massiv angestiegen ist. Wovon redet er?) Nehmen Sie aber auch zur Kenntnis, dass die Stromkun- – Doch, diese Diskussion findet durchaus im Handwerk den insgesamt vom liberalisierten Strommarkt profitiert und auch im Bereich von mittelständischen Unterneh- haben und dass dabei, so schreibt es die „Süddeutsche men statt. Wir haben sie aufgenommen. Zeitung“, die Frage der Ökosteuer überhaupt keine Rolle gespielt hat und auch nicht ins Gewicht gefallen ist. Ich will ganz deutlich sagen, worum es geht, Frau Aigner. Es geht darum, dass wir nicht zulassen, dass (Thomas Rachel [CDU/CSU]: Erzählen Sie über Modulausbildung oder Satellitenausbildung, wie es das mal einem Sozialhilfeempfänger!) der DIHT vorgeschlagen hat, möglicherweise die Stu- Wir haben immer wieder gesagt, ob Sie es hören wol- fenausbildung wieder eingeführt wird. Dagegen wehren len oder nicht: Wir müssen die Arbeitskosten entlasten wir uns. und müssen alle Teile dieser Gesellschaft an der Finan- (B) zierung der sozialen Sicherungssysteme beteiligen. Das (D) Präsident Wolfgang Thierse: Kollege Brase, ges- haben wir getan und wir werden diesen Weg konsequent tatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Aigner? fortsetzen. (Beifall bei der SPD) Meine Damen und Herren, ich will auf einige Punkte Willi Brase (SPD): Ja, gerne. eingehen, die nach meiner Auffassung sehr wichtig sind. Frau Bundesministerin Bulmahn hat das auch sehr deut- Ilse Aigner (CDU/CSU): Herr Kollege, ich wollte lich dargestellt. Wir brauchen Aktivitäten für lern- schwache Jugendliche. Die inhaltliche und organisato- vorhin die Ministerin nicht unterbrechen, aber dieser Punkt hätte mich schon da interessiert. Sie hat gesagt, rische Verknüpfung von berufsvorbereitenden Bil- sie bräuchte für praktisch begabte Jugendliche theorie- dungsmaßnahmen und anschließender Berufsausbildung ist wichtig, damit wir unproduktive Warteschleifensitua- geminderte Berufe, wenn ich sie richtig verstanden ha- be. Sie haben das jetzt wieder anders dargestellt. Ich tionen vermeiden. weiß nicht genau, was Sie eigentlich wollen. Wie wollen Sie alle wissen, dass die jungen Menschen, wenn sie Sie Jugendlichen, die mehr praktisch orientiert sind, hel- nur in Warteschleifen verwahrt werden, Zukunftsper- fen, einen Beruf zu finden? Gehen Sie eventuell den spektiven verlieren und auch den Glauben verlieren, Weg, auch theoriegeminderte Berufe anzubieten, viel- dass wir richtig in ihrem Sinne handeln. leicht auch in einer Modulausbildung, oder wie wollen Sie es konkret machen? (Beifall des Abg. Dr.-Ing. Rainer Jork [CDU/CSU]) Willi Brase (SPD): Frau Aigner, ich kann Ihnen das Deshalb ist es richtig, was Frau Bulmahn gesagt hat, dass die erworbenen ausbildungsrelevanten Qualifikati- sehr genau sagen. onen in den vorbereitenden Maßnahmen bescheinigt (Werner Lensing [CDU/CSU]: Da sind wir werden sollen und dass sie möglicherweise auch zu ei- aber gespannt!) ner Verkürzung der anschließenden Berufsausbildung führen können. Wir sollten über diesen Punkt intensiv – Das können Sie auch sein, Herr Lensing. Das mache und sachlich nachdenken. ich doch gern. (Dr. Karlheinz Guttmacher [F.D.P.]: Da sind Junge Leute, die als lernschwach definiert werden, wir uns einig!) die möglicherweise Schwierigkeiten mit der Theorie ha- 7844 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Januar 2000

Willi Brase (A) (C) ben, kommen aus unterschiedlichen sozialen und wirt- von der Koalition und der Bundesregierung Zug um Zug schaftlichen Verhältnissen. Wir haben gesagt: Es kann verbessert worden. Die Wirtschaft muss ihr Ausbil- nicht sein, dass wir diesen jungen Leuten nur eine dungsplatzangebot in den nächsten Monaten deutlich Kurzausbildung oder Kurzqualifikation oder eine zwei- verbessern. jährige Ausbildung anbieten, obwohl der Anteil der ein- Die jungen Leute müssen wegkommen von den fachen Arbeitsplätze in dieser Republik ständig ab- nimmt. Wir erwarten und müssen zur Kenntnis nehmen, Schwerpunktausbildungsberufen, die ich eingangs ge- schildert habe. Es muss mehr in die Breite gehen, und es dass der Anteil der einfach ausgerichteten Arbeitsplätze muss vor allen Dingen in die neuen Bereiche Dienstleis- in den nächsten zehn Jahren noch einmal dramatisch sinken wird. tungen, IT-Branche, Logistik, Verkehr und andere ge- hen. Das halten wir für richtig. Wenn junge Leute mit der Theorie mehr Probleme Der letzte entscheidende Punkt ist: Die Kooperation haben als andere – also lernschwach sind –, dann ist es in den Regionen ist zu verbessern. Ausbildungskonfe- doch pädagogisch sinnvoll, ihnen mehr Zeit zum Lernen renzen sind ein Beispiel dafür. Die Nachvermittlungsak- einzuräumen und einen vernünftigen Ausbildungsplatz tionen zeigen, dass wir hier vorankommen. Nehmen Sie anzubieten. Ich halte es für falsch, zu sagen, junge Leu- eines zur Kenntnis: Das Problem der Berufsschulstun- te, die lernschwach sind, sollen Teilqualifizierungen den regelt man am besten vor Ort, weil dort die Fach- machen. Diese werden nicht in vollem Umfang auf eine frauen und Fachmänner sitzen. drei- oder dreieinhalbjährige Ausbildung angerechnet. Anschließend müssen sie sich weiter qualifizieren, um Wir stimmen den F.D.P.-Anträgen nicht zu. irgendwann die Chance zu erhalten, einen vernünftigen (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Arbeitsplatz zu ergreifen. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Ja, die Wir schlagen vor, den Berufsbildungsbericht zur Kennt- sind immer stigmatisiert!) nis zu nehmen. Ich glaube, dass man hier differenzierter herangehen Danke schön. muss. Ich kann Ihnen aus meiner Praxis sagen, dass wir versucht haben, über die vernünftige Verzahnung von (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Berufungsvorbereitung und Berufsbegleitung bei den DIE GRÜNEN) drei- und dreieinhalbjährigen vollqualifizierenden Aus- bildungen weiterzukommen, und zwar an den Branchen, Präsident Wolfgang Thierse: Ich erteile das Wort die es in unserer Region gibt, orientiert. Dort hat es sehr dem Kollegen Rainer Jork, CDU/CSU-Fraktion. (B) gute Übernahmequoten, die zwischen 70 und 80 Prozent (D) lagen, gegeben. Dr.-Ing. Rainer Jork (CDU/CSU): Herr Präsident! Ich will noch etwas zur Modularisierung sagen. Wir Meine Damen und Herren! In meinem Diskussionsbei- wollen kein Satellitenausbildungsprogramm nach Modu- trag zum Berufsbildungsbericht möchte ich mich auf len machen, bei dem man nach anderthalb oder zwei zwei Schwerpunkte konzentrieren, denn das scheint mir Jahren eine Qualifizierung machen kann und ausschei- erforderlich. Erstens beschäftigt mich vor allem die Si- det, wenn man nicht weitermacht. Dann hat man nach tuation in den neuen Bundesländern. Nicht umsonst unserer Auffassung nur eine teilqualifizierte Ausbil- steht schon auf Seite 1 des Berufsbildungsberichts Fol- dung. Wir sind der Auffassung, dass eine vollständig gendes: qualifizierte Ausbildung, für die man eine gewisse Zeit braucht, notwendig ist. Diese wollen wir umsetzen, und Allerdings stand einem deutlichen Zuwachs dafür gibt das Bündnispapier einiges her. – an Ausbildungsplätzen (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des in den alten Ländern ein Rückgang in den neuen BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Wilhelm Ländern gegenüber. Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Genau, Geduld mit den jungen Leuten!) Frau Ministerin Bulmahn, es nützt nichts, wenn man Durchschnittsangaben macht und mit Statistik Kosmetik Das sehe ich nicht im Widerspruch zu dem, was Frau betreibt. Es nützt auch nichts, wenn wir nur vom Abbau Bulmahn dargestellt hat. von Kopfprämien sprechen. Hier geht es wirklich um die jungen Menschen, die sich in den neuen Bundesländern Lassen Sie mich zum Schluss kommen. in einer speziellen Situation befinden. (Beifall des Abg. Werner Lensing Zweitens möchte ich auf die notwendige Modernisie- [CDU/CSU]) rung eingehen, schließlich geht es um zukunftsfähige – Sie können gern klatschen. Verbesserungen der beruflichen Bildung. Daraus erge- ben sich für mich dann einige Forderungen: Fazit: Das Wirtschaftswachstum wird optimistisch eingeschätzt. Mittlerweile wirft man unserem Bundesfi- Ich komme zunächst zu der Situation in den neuen nanzminister vor, er würde das Wachstum mit 2,5 Pro- Bundesländern. Mir liegt ein Bericht der Industrie- und zent zu niedrig ansetzen. Die Rahmenbedingungen sind Handelskammer in Dresden vor. Darin gibt es vier we- Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Januar 2000 7845

Dr.-Ing. Rainer Jork (A) (C) sentliche Kernaussagen, die ich auszugsweise zitieren Ausbildungsplatz voraussichtlich nur wenigen möchte: möglich sein. Vor allem in den neuen Bundeslän- dern herrscht ein hohes Maß an betrieblichem Aus- Erstens. bildungsplatzmangel, auch für Jugendliche mit gu- In Sachsen wie auch in den anderen neuen Bundes- ten Schulabschlüssen. ländern ist für den Zeitraum von 1994 - 1998 für Lassen Sie mich etwas zu dem Sofortprogramm in die duale Berufsausbildung ein Rückgang von Höhe von 2 Milliarden DM sagen. 81,5 % auf 78 % festzustellen ... (Werner Lensing [CDU/CSU]: Jetzt kommt Zweitens. Bei Befragungen von circa 2 000 nicht es!) ausbildenden Unternehmen liegen die Gründe dafür zu- Wir sind uns darin einig, dass es insgesamt eine positive meist in der wirtschaftlichen Situation. Resonanz gibt. Es ist etwas getan worden. Aber die Ju- (Thomas Rachel [CDU/CSU]: So ist es!) gendarbeitslosigkeit in den neuen Bundesländern ist mit 15,7 Prozent – daran gibt es nichts zu schönen – be- Drittens. sonders hoch. Natürlich ist die Arbeitslosenquote wegen Allein mit der Konzentration der Mittel zur Scha- der Herausnahme arbeitsloser und schwer erreichbarer densreparatur – wie im Jugendsofortprogramm – Jugendlicher kurzfristig zurückgegangen. Kurzfristige kann der Entwicklung nicht Rechnung getragen Effekte durch Praktika und Qualifikations-ABM sind werden. aber schnell verpufft. Das Programm erzeugt kaum Dauereffekte. Ich muss es klar sagen: Es ist ein teures Viertens. Bei vielen Unternehmen stehen unmittelba- Reparaturprogramm. re Überlebensfragen und keine längerfristigen Strategie- überlegungen im Vordergrund. Das eigentliche Ziel „stabile Ausbildungsplätze durch Aus- und Fortbildung“ wurde nicht erreicht. Daraus ergibt sich meines Erachtens die erste Forde- rung an die Bundesregierung: Machen Sie eine mit- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) telstandsfreundliche Steuer- und Finanzpolitik! Ich sage es noch einmal deutlich: Dies ist ein teures Strohfeuer. Probleme werden dadurch nicht gelöst. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Willi Brase [SPD]: Machen wir doch! – Wil- (Willi Brase [SPD]: Über 100 000 Jugendli- helm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Wir machen che!) eine weitaus bessere, als das zu Ihren Regie- rungszeiten geschehen ist!) Ich komme zur zweiten Forderung an die Bundesre- (B) gierung: Sagen Sie ehrlich, was an diesem Programm er- (D) Das ist eine wesentliche Voraussetzung für die duale folgreich war und was nicht, und täuschen Sie keinen Berufsbildung. Durchbruch vor! In der Auswertung des Sofortprogramms ist in der (Beifall bei der CDU/CSU) Zeitschrift „Berufsbildung in Wissenschaft und Pra- Nahezu 80 % aller betrieblichen Ausbildungsplätze xis“ – und zwar in Heft 6/99 – zu lesen: werden von kleineren und mittleren Unternehmen In den neuen Ländern haben fast drei Viertel der bereitgestellt. Teilnehmer an Trainingsprogrammen eine außerbe- (Thomas Rachel [CDU/CSU]: So ist es!) triebliche Ausbildung aufgenommen. So steht es in Ihrem Jahreswirtschaftsbericht 2000. Die Sie wissen, was das bedeutet. – Weiter heißt es: Lehrstellenlücke in den neuen Bundesländern ist zual- lererst der äußerst schwierigen, komplizierten Situation Tendenziell weisen Teilnehmer in den neuen Län- in Handwerk, Handel, Gewerbe und Industrie geschul- dern ein höheres Bildungsniveau auf. det. (Thomas Rachel [CDU/CSU]: Aha!) (Dr. Karlheinz Guttmacher [F.D.P.]: Das ist das Problem!) Ich bitte, das zur Kenntnis zu nehmen: „ein höheres Bil- dungsniveau“. Hier sind Ressourcen vorhanden. Diese Damit komme ich zu meiner dritten Forderung: Ma- sind nicht mit dem Durchschnitt in Deutschland gleich- chen Sie endlich wahr, was erst gestern Ihre Justizminis- zusetzen. terin beim Bundesverband mittelständische Wirtschaft hier in Berlin versprach! Bringen Sie ein brauchbares Unter den Schlussfolgerungen, die teilweise sehr eu- Gesetz zur Verbesserung der Zahlungsbedingungen phorisch sind – das bezieht sich natürlich auf die Durch- auf den Weg! Darauf warten wir schon lange. Ich betone schnittsangaben –, steht: aber: Es muss brauchbar sein. Die Integration in eine betriebliche Ausbildung war (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – schwierig ... Lachen bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Weiter heißt es: – Da Sie so lachen, möchte ich Sie darauf hinweisen, Allerdings wird der Wechsel der Jugendlichen nach dass Sachsen ein sehr brauchbares Konzept vorgelegt dem ersten Ausbildungsjahr auf einen betrieblichen hat. Sie können es sich ansehen. 7846 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Januar 2000

Dr.-Ing. Rainer Jork (A) (C) (Ute Kumpf [SPD]: 16 Jahre haben Sie Zeit (Ute Kumpf [SPD]: Ja, zum Beispiel Hand- gehabt! – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] werk für Frauen!) [SPD]: Wie lange haben Sie regiert? 16 Jahre Kohl-Regierung!) Ich hörte das gut heraus. Ausbildungsweg- und zuständigkeitsübergreifende – Sind Sie für die Zukunft oder für die Vergangenheit? Maßnahmen sind gefragt. Übrigens sehe ich in dem Be- Denken Sie einmal darüber nach! schluss des Bündnisses durchaus eine Annäherung an Ich komme zur vierten Forderung. Berücksichtigen die Fragen unter Punkt 2, wo Wahlpflichtbausteine und Sie in angemessenem Umfang die ostdeutsche Infra- Zusatzqualifikationen angeführt werden. strukturförderung. (Beifall bei der CDU/CSU) Präsident Wolfgang Thierse: Kollege Jork, gestat- ten Sie eine Zwischenfrage Ihres Kollegen Rachel? Das hängt erheblich mit Arbeitsplätzen und Lehrstellen zusammen. (Zurufe von der SPD: Nein!) Eigentlich wollte ich mich mit dem Folgenden an Herrn Staatsminister Schwanitz wenden. Wo ist er denn Dr.-Ing. Rainer Jork (CDU/CSU): Ja, bitte. eigentlich? Wir sprechen ja jetzt über ein Problem, das insbesondere die neuen Bundesländer betrifft. Thomas Rachel (CDU/CSU): Herr Kollege Jork, (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Wo ist Sie haben die Modernisierung der Berufsausbildung an- denn die Führungsriege Ihrer Fraktion? Kein gesprochen. Ich möchte Sie deshalb gerne Folgendes einziger stellvertretender Vorsitzender ist da!) fragen: – Ich kann Herrn Schwanitz eigentlich nur meine fünfte Sehen Sie einen Zusammenhang zwischen der Be- Forderung offenbaren, Herr Schmidt. Sehen Sie sich die rufsausbildungspolitik und der Wirtschaftspolitik in ver- Situation dort an; sehen Sie nicht zu und weg. Nehmen schiedenen Bundesländern und den konkreten Auswir- Sie die bestehende Situation ernst, beantworten Sie die kungen in Bezug auf die Arbeitslosigkeit? Frage, was Chefsache ist und Priorität hat. Schicken Sie (Lachen bei der SPD) die Lehrstellenbewerber nicht in die bekannte BAföG- Falle, gekennzeichnet durch Ankündigen, Verzögern Gibt es also einen Zusammenhang zwischen den Reali- und Zurücknehmen. täten und der Berufsausbildungspolitik der verschiede- nen Bundesländer? (B) (Zuruf von der CDU/CSU: Jawohl!) (D)

Übrigens: Auch im Beschluss der Arbeitsgruppe Aus- Dr.-Ing. Rainer Jork (CDU/CSU): Herr Kollege Ra- und Weiterbildung des Bündnisses für Arbeit, Ausbil- chel, ich danke für die Frage. dung und Wettbewerbsfähigkeit vom 22. Oktober 1999 kamen die speziellen Bedingungen in den neuen Bun- (Lachen bei der SPD) desländern praktisch nicht vor. Wo war denn da Herr Ich bin mir sicher, dass sich einige Kollegen von der Schwanitz? SPD deshalb darüber freuen, weil sie gestern bei dem (Zuruf von der CDU/CSU: Ja, wo ist er denn?) bereits zitierten Treffen des Bundesverbandes der mit- telständischen Wirtschaft einige Fragen und Aufgaben Ich frage mich, wozu wir diesen Minister haben. Ich bin ins Stammbuch geschrieben bekamen und jetzt die Ge- enttäuscht, möglicherweise sind es auch andere. legenheit besteht, eine Wiederholungsstunde zu nehmen. (Ute Kumpf [SPD]: Fragen Sie mal Herrn Es ging dort unter anderem um den Holzmann-Effekt Hundt!) und die Frage, welche Möglichkeiten die mittelständi- – Lenken Sie nicht ab. sche Wirtschaft sieht, die Lehrstellensituation zu verbes- sern. Der Zusammenhang ist völlig unstrittig. Dazu ist (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das ist auch ein Heft verteilt worden. Einige der Kollegen ha- doch eine lächerliche Nummer, die Sie hier ben es eingesteckt. Ich denke, Sie können da nachlesen. abziehen!) Es ist – deshalb versuche ich in meiner Rede darauf Denken Sie einmal daran, wofür Sie Ihre Leute haben. einzugehen – unverzichtbar, dass dann, wenn wir die duale Berufsausbildung mit dem wesentlichen Teil be- (Lachen bei der SPD) triebliche Ausbildung wollen, die Wirtschaft auch dazu in die Lage versetzt wird. Das gilt für Deutschland ins- Damit komme ich zu meinem zweiten Punkt, zur gesamt, das gilt aber ganz besonders angesichts der kri- Modernisierung der Berufsbildung. Es hat keinen tischen Situation in den neuen Bundesländern eben auch Sinn, zu fragen, ob Ausbildung im Betrieb und in unter- dort. nehmerischer Verantwortung Zukunft hat, sondern al- lenfalls, wie wir diese Ausbildung in Zukunft gestalten. Ich hoffe, dass die von mir zuerst genannten Forde- Da gilt es auch unangenehme Themen anzugehen, Herr rungen, die ja in diese Richtung zielen, auch ankommen, Brase. also nicht nur zum Schmunzeln anregen, sondern viel- Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Januar 2000 7847

Dr.-Ing. Rainer Jork (A) (C) leicht auch im Nachgang von Herrn Schwanitz gelesen dung faire Chancen im Vergleich zu Abiturienten? Ist es werden, sofern er da überhaupt einen Durchgriff hat. wirklich die Aufgabe der Wirtschaft, all jenen eine Leh- re zu finanzieren, die später ein Studium aufnehmen und (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) dann im öffentlichen Dienst arbeiten? Kann das Studium Ich komme noch einmal zu dem Punkt, den Herr Bra- vielerorts nicht so gestaltet werden, dass dank eines ho- se gegenüber der Ministerin bereits ansprach. Sie haben hen Praxisanteils eine vorherige Lehre überflüssig wird? aus dem Begriff Modul eine Art Schlagwort im Sinne (Ute Kumpf [SPD]: Wir haben doch freie Be- des Zuschlagens gemacht. Ich erinnere an eine frühere rufswahl!) Rede im Bundestag, in der ich versucht habe, das zu de- finieren. Denken Sie bitte einmal daran, dass in Ihren War nicht das Modell „Berufsausbildung mit Abitur“ Leitlinien, in allen Stellungnahmen und Ausarbeitungen für jene recht sinnvoll, die ihren Wunschberuf bereits die Begriffe Wahlpflichtbaustein, Zusatzqualifikation – mit einiger Sicherheit benennen konnten? ich denke an den Bericht eben –, Kernqualifikation, Sa- tellitenmodell, Flexibilisierung, aber auch Modulari- (Beifall der Abg. Dr. Barbara Höll [PDS]) sierung und Ergänzungsmodule vorkommen. Ich bin der Meinung, über manche dieser Fragen sollte Ich glaube, wir sollten uns etwas mehr damit beschäf- man nachdenken. tigen, was wir eigentlich wollen und was hinter diesen Begriffen steckt, Ich schaue auf die Uhr und möchte zum Ende meiner Rede kommen. (Zuruf von der SPD: Das ist wahr!) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) dies aber nicht ideologisch missbrauchen. Sinn der Leit- linien und Begriffe ist es doch, die duale Berufsbildung – Ich hoffe, dass Sie nicht nur die Stelle, an der Sie ge- flexibler und moderner zu gestalten und Chancengerech- rade Beifall geklatscht haben, mitbekommen haben, tigkeit für die Bewerber zu erreichen. Die Beruflichkeit sondern auch inhaltlich etwas verstanden haben. Ich der dualen Berufsbildung darf nicht infrage gestellt wer- freue mich auf die zukünftigen Diskussionen. den. Wir wollen keine Schmalspurfacharbeiter. Ich bin (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) auch gegen diesen schlimmen Begriff „kleiner Gesel- lenbrief“. Wollen wir etwa auch „kleine Juristen“, „klei- Ich fasse zusammen: Die anerkannt schwierige Situa- ne Ärzte“ oder „kleine Ingenieure“? Dieser Begriff ist tion in der Wirtschaft und im Bereich der Lehrstellen eine Beleidigung für die Facharbeiter. bedarf der Konzentration der Kräfte und bedarf der (B) Schwerpunktsetzung durch entsprechende Maßnahmen. (D) Im Berufsbildungsbericht, in dem auch die Ergebnis- Das 2-Milliarden-Programm muss sich mehr an der se des „Bündnisses für Arbeit“ zusammengefasst sind, Nachhaltigkeit orientieren und muss deutlich verbessert steht auch: werden. Strohfeuer genügen nicht, wenn man zukunfts- Der Anteil an Arbeitsplätzen mit eher einfachen fähig sein will. Es kommt heute darauf an – das betrifft Tätigkeitsprofilen nimmt weiter deutlich ... ab. Für uns alle; ich denke an die Parteiprogramme, die auf Par- Geringqualifizierte werden die Beschäftigungs- teitagen zur Diskussion stehen –, Bildungswege und chancen weiter zurückgehen. -abläufe so zu gestalten, dass unsere Kinder und Enkel im Jahr 2020 für ihren Eintritt in das Berufsleben gerüs- Die Bündnispartner haben tet sind. ... gebeten, Empfehlungen für die Bescheinigung (Zuruf von der SPD: Richtig! Das machen wir der in einer Berufsvorbereitung, in einer nicht be- gemeinsam!) endeten Ausbildung oder in berufsbegleitender Ich danke. Nachqualifizierung erworbenen Qualifikationen zu erarbeiten. Diese Empfehlungen sollten Grundlage (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) für die Bescheinigung ausbildungsbezogener Quali- fizierungsbausteine sein. Herr Brase, das ist genau das, was ich unter einem Mo- Präsident Wolfgang Thierse: Ich schließe die Aus- dul verstehe. Das haben Sie im „Bündnis für Arbeit“ sprache. und mit dem Beschluss abgesegnet. Sie sollten sich die Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus- eigenen Unterlagen einmal anschauen. schusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenab- Noch eine Bemerkung zur Gerechtigkeit und zur schätzung zum Berufsbildungsbericht 1999 der Bundes- Fairness bezüglich so genannter Doppelqualifikatio- regierung. Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 Buch- nen – das beziehe ich ausdrücklich auf die Situation in stabe a seiner Beschlussempfehlung, den Berufsbil- den neuen Bundesländern –: Wenn heute etwa zwei dungsbericht 1999 auf Drucksache 14/1056 zur Kennt- Drittel aller Schulabgänger eine Lehrstelle nachfragen nis zu nehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh- und wenn davon die Hälfte letztlich doch ein Studium lung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? aufnimmt, dann drängen sich zum Beispiel folgende Fragen auf: Haben denn Real- und Mittelschüler, die ei- (Zuruf von der SPD: Die CDU/CSU hat ihn nen Facharbeiterberuf anstreben, in der Berufsausbil- nicht einmal zur Kenntnis genommen!) 7848 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Januar 2000

Präsident Wolfgang Thierse (A) (C) – Es ist schwierig, das Abstimmungsergebnis festzu- Überweisungsvorschlag: stellen. Die CDU/CSU-Fraktion scheint irgendwie mei- Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f) Innenausschuss nungslos zu sein. Rechtsausschuss Finanzausschuss (Dr. [CDU/CSU]: Das glau- Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ben nur Sie, Herr Präsident! Aber da täuschen Verteidigungsausschuss Sie sich wie in anderen Punkten!) Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe – Aber Sie haben keinerlei Reaktion gezeigt. – Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenab- schätzung (Zuruf von der CDU/CSU: Stimmt überhaupt Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union nicht! Sie haben nur nicht geschaut!) ZP 11 Beratung des Antrags der Fraktion SPD und Im Unterschied zu Herrn Ramsauer wird mir von ande- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ren zugerufen, dass sie zustimmen. Fortführung der Beratungen zum Endbericht (Zuruf von der CDU/CSU: Über eine Kennt- der Enquete-Kommission „So genannte Sek- nisnahme brauchen wir doch nicht abzustim- ten und Psychogruppen“ men!) – Drucksache 14/2568 – Sie haben leider keinen Arm gehoben. Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f) (Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Machen Sie Innenausschuss es noch einmal!) Rechtsausschuss Finanzausschuss Damit ist dieser Teil der Beschlussempfehlung ange- Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Verteidigungsausschuss nommen. Ausschuss für Gesundheit Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 Buchstabe b Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenab- seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 14/1934 schätzung (neu) die Annahme einer Entschließung. Wer stimmt für Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union diese Beschlussempfehlung? – Gegenprobe! – Stimm- enthaltungen? – Diese Beschlussempfehlung ist mit den Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Stimmen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen bei Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich hö- Stimmenthaltung von PDS und Gegenstimmen der re keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. CDU/CSU sowie der F.D.P. angenommen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege (B) (D) Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 2 seiner Be- Klaus Holetschek, CDU/CSU-Fraktion. schlussempfehlung auf Drucksache 14/1934 (neu), den Entschließungsantrag der Fraktion der F.D.P. zum Be- rufsbildungsbericht 1999 auf Drucksache 14/1225 abzu- Klaus Holetschek (CDU/CSU): Herr Präsident! lehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir debattieren Gegenprobe! – Stimmenthaltungen? – Diese Beschluss- heute Morgen über ein Thema, um das es in den letzten empfehlung ist mit den Stimmen von SPD und Bünd- eineinhalb Jahren relativ ruhig geworden ist, zumindest nis 90/Die Grünen bei Stimmenthaltung der PDS gegen was die parlamentarische Beratung angeht. Wir debattie- die Stimmen von CDU/CSU und F.D.P. angenommen. ren über das Schicksal des Abschlussberichtes der En- quete-Kommission vom Mai 1998. Beschlussempfehlung des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung zu dem An- Der Deutsche Bundestag hatte bekanntlich aufgrund trag der Fraktion der F.D.P. mit dem Titel „9-Punkte- zahlreicher Petitionen im Mai 1996 beschlossen, eine Konzept zur Schaffung von zusätzlichen Ausbildungs- Enquete-Kommission ins Leben zu rufen, weil er den plätzen“, Drucksache 14/1294. Der Ausschuss emp- Anliegen nicht Rechnung tragen konnte. Dieser Bericht fiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/335 abzulehnen. wurde im Frühsommer 1998 vorgelegt. Man kann zu Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegen- Berichten von Enquete-Kommissionen stehen wie man probe! – Stimmenthaltungen? – Mit dem gleichen will – man kann Kritik üben, man kann zustimmen –: Es Stimmverhalten wie zuvor ist diese Beschlussempfeh- ist ein sehr umfassender Bericht, der deutlich gemacht lung angenommen. hat, dass sich alle, die dieser Kommission angehörten, des Themas sehr ernsthaft und auch wissenschaftlich un- Damit kommen wir zu Tagesordnungspunkt 11 sowie termauert angenommen haben. zu Zusatzpunkt 11: (Renate Rennebach [SPD]: Vielen Dank!) 11. Beratung des Antrags der Abgeordneten Maria Eichhorn, Klaus Holetschek, , – Sehr gerne, Frau Rennebach. Das kann ich Ihnen bes- weiterer Abgeordneter und der Fraktion der tätigen. Aber nachher komme ich zu einem Punkt, bei CDU/CSU) dem ich etwas über die Behandlung durch SPD und Endbericht der Enquete-Kommission „So ge- Grüne traurig bin. nannte Sekten und Psychogruppen“ (Kurt J. Rossmanith [CDU/CSU]: Da kann – Drucksache 14/2361 – man nur traurig sein!) Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Januar 2000 7849

Klaus Holetschek (A) (C) Es gibt eine Fülle von Handlungsempfehlungen, die Der 242. Sitzung des 13. Deutschen Bundestages dieser Bericht enthält. Ich wünsche mir, dass wir diese vom 19. Juni 1998 wurde der Abschlussbericht Handlungsempfehlungen jetzt umsetzen. Gerade in der vorgelegt und beraten. letzten Woche hatten wir im Petitionsausschuss wieder (Walter Hirche [F.D.P.]: Dem kann man auch eine Petition, die sich damit beschäftigt, wann diese zustimmen!) Handlungsempfehlungen endlich umgesetzt werden. Es kommen zahlreiche Anfragen, in denen festgestellt wird: Das ist Punkt 1 Ihres Antrages, unter dem Obertitel Na gut, jetzt liegt dieser Bericht der Enquete-Kom- „Der Bundestag wolle beschließen“. mission vor; sperren wir ihn jetzt im Aktenschrank ein oder ziehen wir die notwendigen Schlüsse aus diesem (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Bericht der Enquete-Kommission? – Das wäre die Auf- Kurt J. Rossmanith [CDU/CSU]: Ein sehr be- gabe der rot-grünen Bundesregierung! deutender Vorschlag!) Ich habe schon viel erlebt, zum Beispiel bei der Ge- Wir wollen mit unserem Antrag das Thema auf die politische Agenda zurückholen. Wir wollen, dass sich sundheitsreform, bis hin zu der „maoistischen Kranken- hausfinanzierung“. Aber das finde ich wirklich gut. Das das Parlament mit dem Thema wieder auseinander setzt ist ein Schlag ins Gesicht all derer, die sich ernsthaft mit und dass nach Absichtserklärungen endlich Taten fol- gen. Ich will im Einzelnen nicht auf die Problematik des der Thematik auseinander setzen. Ich weiß nicht, wer den Antrag geschrieben hat. Aber ich bin Berichts der Enquete-Kommission eingehen. Er bewegt sich in einem Spannungsfeld, das aus der Abwägung (Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Fassungs- verschiedener Grundrechte besteht. los!) Letztlich hat dieser Bericht festgestellt, dass der Staat wirklich fassungslos. – Ja, das ist richtig. durchaus Fürsorgepflichten in diesem Bereich hat. Ich Der Antrag ist nur eine Viertelseite lang. Vielleicht denke besonders an die Schwächsten in unserer Gesell- haben Sie diesen Punkt auch bloß eingefügt, damit die schaft. Ich habe vor kurzem gehört, dass 100 000 bis Seite ein bisschen voller aussieht; ich weiß es nicht. 200 000 Kinder – Personen unter 18 Jahren – in so ge- nannten Sekten und Psychogruppen aufwachsen. Diese Punkt 2 lässt sich mit den Worten umschreiben, die Kinder können sich dagegen natürlich kaum wehren. der Präsident eines bayerischen Fußballvereins oft ge- Gerade für diese Schwächsten in unserer Gesellschaft – braucht: „Schau’mer mal!“ – Etwas anderes steht nicht aber natürlich auch für andere – müssen wir etwas tun drin. Es steht drin, dass wieder einmal geprüft und erör- und ein Zeichen setzen. tert werden muss. Meine Damen und Herren, diesen An- trag hätten Sie sich sparen können. (B) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. so- (D) wie bei Abgeordneten der SPD) (Renate Rennebach [SPD]: Herr Holetschek, Sie hängen zu lange an den Überschriften!) Was tut die rot-grüne Bundesregierung? Bis jetzt ha- ben Sie auf diesem Feld nicht viel getan. Sie haben eine – Nein, ich hänge nicht zu lange an den Überschriften, Kleine Anfrage der PDS zu diesem Thema beantwor- Frau Rennebach. Angesichts dessen, was Sie dem Ho- tet – meiner Meinung nach nicht sehr aussagekräftig. hen Hause als Antrag auf den Tisch gelegt haben, müs- sen Sie sich gefallen lassen, dass ich pointiert herausstel- (Zuruf von der CDU/CSU: So wie alles!) le, mit was wir uns hier befassen müssen. Es muss eine Prüfung stattfinden. Es bleibt abzuwarten, (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) welche Fragen noch zu klären sind. Ich habe vorhin ausdrücklich erwähnt, Frau Kollegin Vor drei Tagen habe ich Ihren Antrag bekommen. Rennebach, dass, wie ich überall gehört habe – ich war Wenn wir erreicht haben, dass Sie jetzt initiativ werden, leider nicht in der Enquete-Kommission –, Ihr Einsatz meine Damen und Herren, dann freut mich das. Ich bin für das Thema vorbildlich war. Umso mehr tut es mir Jurist, ich lese die Anträge zweimal. Ich habe diesen An- Leid, dass Sie heute einen solchen Antrag vorlegen müs- trag dreimal gelesen; denn ich habe ihn nicht verstanden. sen. Ich lese ihn Ihnen jetzt vor; vielleicht verstehen Sie ihn. (Zuruf von der CDU/CSU: Eine Zumutung! – Renate Rennebach [SPD]: Ich muss mit Ihrem Im Antrag von SPD und Bündnis 90/Die Grünen Mitleid leben!) heißt es: Die Handlungsempfehlungen der Enquete-Kom- Der Bundestag wolle beschließen: mission haben verschiedene Bereiche angestoßen. Sie 1. Der 13. Deutsche Bundestag hat am 9. Mai 1996 haben zum Beispiel aufgezeigt, dass es erhebliche For- die Einsetzung der Enquete-Kommission „Sog. schungsdefizite gibt – Forschungsdefizite, die daraus Sekten und Psychogruppen“ beschlossen. entstanden sind, dass sich die Enquete-Kommission nicht mit einem Schwarz-Weiß-Buch beschäftigt hat, Das ist der erste Satz, den der Bundestag jetzt be- sondern einzelne Konfliktfelder aufgezeigt hat, die es schließen soll. weiter zu erforschen gilt. (Walter Hirche [F.D.P.]: Dem kann man zu- Ich meine, wir sollten die Forschungsförderung hier- stimmen!) für konzentriert verbessern. Sie sprechen in der Antwort 7850 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Januar 2000

Klaus Holetschek (A) (C) auf die Anfrage der PDS von einem Modellprojekt, von sondern dass er überprüft worden ist. Er müsste jetzt in der Weiterqualifizierung bestimmter Mitarbeiter in den den Bundestag neu eingebracht werden. Beratungsstellen. Auch das ist alles sehr vage. Auch da- zu müssen Sie uns einmal Auskunft geben und die Fak- Damit möchte ich – um es auf den Punkt zu bringen – sagen: Es ist ein Verbraucherschutzgesetz vorgelegt ten auf den Tisch legen. worden, das Transparenz bringen und das gerade ein (Kurt J. Rossmanith [CDU/CSU]: Ach, PDS, Vorgehen gegen unseriöse Anbieter in diesem Bereich kannst vergessen!) ermöglichen sollte. Diesen Schritt sollten wir weiterver- folgen. Wir müssen dem Verbraucher in dieser Richtung Dasselbe gilt für den Themenbereich „Information etwas an die Hand geben. und Beratung“. Es gibt hier einen Bedarf. Das Thema ist nach wie vor virulent. Wir müssen etwas tun. Wir dürfen Wir haben am Montag dieser Woche im Rahmen der das Thema nicht von der Tagesordnung absetzen, dürfen Hanns-Seidel-Stiftung in München ein Expertenge- den Bericht der Enquete-Kommission nicht in die spräch durchgeführt, anlässlich dessen wir uns mit dem Schublade legen. Wir müssen den Handlungsempfeh- Thema beschäftigt haben, was glaubhafte Lebensbewäl- lungen nachkommen. tigungshilfe ist. Da kamen zum Beispiel Vorschläge da- hin gehend, dass von Sachverständigen aus dem Pä- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) dagogik- und Psychologiebereich Positivkriterien entwi- ckelt werden sollen, die Eingang in ethische Leitlinien Ich will auf einen Punkt eingehen, der mir besonders wichtig erscheint. Wir haben einen boomenden Psy- finden sollen, und dass Anbieter von gewerblichen Le- bensbewältigungshilfen an eine öffentlich kontrollierba- chomarkt; das ist uns allen bekannt. Der Esoterikbe- re Organisation, wie beispielsweise die jetzt vermehrt reich macht 18 Milliarden DM Umsatz im Jahr. Persön- lichkeitstrainings schießen wie Pilze aus dem Boden. entstehenden Psychotherapeutenkammern, gebunden werden sollen, damit sich der Verbraucher beschweren Wir haben hier schon ein Problem: Es gibt seriöse An- kann bzw. eine entsprechende Anlaufstelle hat. All das bieter, aber es gibt auch sehr viele unseriöse Anbieter, die mit unterschiedlichsten Verfahren, mit einer Mi- müssen wir weiterverfolgen. Deswegen bitte ich Sie, dieses Thema wieder ernsthaft auf die Agenda zu setzen. schung aus therapeutischen Anleitungen und laienthera- peutischen Ansätzen auf die Leute zugehen. Diese Mi- Ich möchte in diesem Zusammenhang die SPD- schung macht es für die Verbraucher kaum noch sicht- Kollegin Schröter aus der Debatte vom 19. Juni 1998 zi- bar: Wer steht dahinter? Wer bietet mir diese Leistung tieren: an? Ist er qualifiziert? Was für Kosten und was für ein Nutzen entstehen? Meine dringende Bitte und Aufforderung an den nächsten Bundestag ist es, die Gesetzesinitiative (B) Es gab 1997 einen Bundesratsentwurf für ein Gesetz unmittelbar wieder aufzugreifen und das Gesetz zur (D) zur gewerblichen Lebensbewältigungshilfe. gewerblichen Lebensbewältigungshilfe schnellst- möglich zu verabschieden. (Renate Rennebach [SPD]: Initiiert von der SPD!) Ich gehe davon aus, dass Sie auch heute zu diesem Wort stehen und einen entsprechenden Gesetzentwurf – Das mag sein. Ich will das nicht abstreiten. Umso noch einbringen werden. schlimmer ist es, mit was für einem Antrag wir uns heu- te beschäftigen müssen. Ich kann es nur noch einmal sa- Die Grünen haben natürlich in dem vorliegenden Be- gen. Aus der Kiste kommen Sie nicht mehr heraus, Frau richt der Enquete-Kommission – im Wege eines Son- Rennebach; er liegt vor. dervotums – eine ganz andere Meinung vertreten. Das wundert mich angesichts der weltanschaulichen Gesin- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) nung der Grünen nicht besonders. Ich denke, Sie werden heute noch darauf eingehen. Dieses Gesetz sollte ein Verbraucherschutzgesetz sein. Es sollte dazu führen, dass den Personen, die sich Ich bitte Sie noch einmal, im Sinne der Opfergruppen in Konfliktsituationen befinden und schnell irgendwo und der Betroffenen sowie im Sinne der Mitglieder der Hilfe finden wollen, Rahmenbedingungen an die Hand Enquete-Kommission – Sie kennen die entsprechenden gegeben werden, um abschätzen zu können, was seriös Schreiben an den Präsidenten des Bundestags und an die und was unseriös ist. Es sollten rechtliche Regelungen Fraktionsvorsitzenden, in denen danach gefragt wird, für einen schnelleren Ausstieg geschaffen werden. Ich was jetzt passiert – diesen Bericht weiterzubearbeiten. gebe zu, der Gesetzentwurf muss in einzelnen Punkten Es wäre ein Schlag ins Gesicht, wenn wir dies nicht tun rechtlich vielleicht noch weiterentwickelt werden. Aber würden. Wir könnten uns weitere Einsetzungen von En- es war ein Verbraucherschutzgesetz im besten Sinne ge- quete-Kommissionen sparen – wir haben kürzlich neue gen Scharlatane auf dem Psychomarkt. eingesetzt –, wenn wir aus den Ergebnissen früherer En- quete-Kommissionen keine Schlüsse ziehen. (Renate Rennebach [SPD]: Aber abgelehnt von der vorhergehenden Koalition!) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) – Frau Rennebach, Sie wissen doch, dass wir den Ge- Das sind wir dem Bürger bzw. dem Steuerzahler schul- setzentwurf nicht abgelehnt haben, dig. Denn die Erstellung dieses Berichtes der Enquete- Kommission hat 1,6 Millionen DM verschlungen. Aus (Renate Rennebach [SPD]: Natürlich!) diesen Berichten müssen wir Konsequenzen ziehen. Ich Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Januar 2000 7851

Klaus Holetschek (A) (C) bitte Sie: Lassen Sie uns dieses Thema weiterhin sach- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ lich und auch parteiübergreifend behandeln. DIE GRÜNEN) Herzlichen Dank. In der Sache aber sind wir, so glaube ich, nicht so (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) weit auseinander. Das haben sowohl die diversen Be- schlüsse der Ministerpräsidentenkonferenz zum Thema Scientology-Organisation gezeigt als auch der Ab- Präsident Wolfgang Thierse: Ich erteile das Wort schlussbericht der Enquete-Kommission. dem Kollegen Hans Peter Bartels, SPD-Fraktion. Wir müssen und werden jetzt überlegen, welche Handlungsempfehlungen wir wie umsetzen können. So Dr. Hans Peter Bartels (SPD): Herr Präsident! Sehr steht es in unserem Antrag. Die kabarettreife Verlesung geehrte Damen und Herren! Lieber Kollege Holetschek, dieses Antrags sei Ihnen gestattet; aber natürlich werden mit Ihrem Antrag weisen Sie auf ein Politikdefizit hin, wir gemeinsam darüber beraten und vermutlich auch in das es tatsächlich gibt. Aber dieses Defizit gibt es nicht dem übereinstimmen, was wir dann tun werden. Im Üb- erst ab dem Zeitpunkt, seitdem die neue Bundesregie- rigen glaube ich nicht, dass all das, was Sie in Ihrem An- rung im Amt ist. Dieses Defizit besteht vielmehr, weil in trag geschrieben haben, in Ihrer eigenen Fraktion mehr- den Jahren vor Amtsantritt der jetzigen Bundesregie- heitsfähig wäre. rung, in den zwar nicht 16, aber zehn Jahren, seitdem über dieses Thema diskutiert wird, der größte Bremser (Beifall der Abg. Renate Rennebach [SPD] – auf diesem Gebiet der Sektenpolitik nicht die sozial- Maria Eichhorn [CDU/CSU]: Warum vermu- demokratische Fraktion, sondern die christlich-liberale ten Sie das?) Bundesregierung gewesen ist. – Diskutieren Sie dann einmal mit Ihren Rechtspoliti- (Beifall bei der SPD) kern die Frage, ob sich juristische Personen – nicht na- türliche, sondern juristische Personen; so steht es bei Ih- Ich habe damals als Sektenbeauftragter der schles- nen – strafbar machen können sollen. So etwas schreibt wig-holsteinischen Landesregierung meine Erfahrungen sich leicht in solche Anträge hinein. Es wäre vielleicht mit dieser Politik des hinhaltenden Desinteresses ge- im Zusammenhang mit ganz anderen Fragestellungen macht. Die Länder hätten sich zum Beispiel eine offen- ein interessantes Thema; mein Thema ist es aber nicht. sive, aktive Aufklärungs- und Informationspolitik sei- tens des Bundes gewünscht. Kapazitäten – auch fachlich Ich möchte Ihnen sagen, welche meine Prioritäten hervorragend qualifizierte – sind dafür im Bundesver- sind, wenn wir an die Umsetzung herangehen: waltungsamt vorhanden. Der Bund hat daraus wenig, zu (B) wenig gemacht. Deshalb ist es richtig, darüber nachzu- Erstens. Mir ist die Stärkung der Information und (D) denken, wie man das ändern kann. Das tun wir. Aufklärung wichtig. Dabei könnte das Sektenreferat im Bundesverwaltungsamt eine wichtige Rolle überneh- Nebenbei bemerkt: Die Bestellung eines Bundesbe- men. Aufklärung, gemeinsam von Bund, Ländern und auftragten für Sekten – Besoldungsgruppe B 6 – durch freien Trägern geleistet, ist das A und O in einer freien die damalige Ministerin Nolte war wirklich ein schlech- pluralistischen Gesellschaft. ter Witz. Vielleicht ist es noch nicht einmal jedem be- kannt geworden, dass es eine solche Institution für eini- Zweitens brauchen wir endlich das Verbraucher- ge Monate gab. Jetzt gibt es sie nicht mehr. Öffentlich schutzgesetz für den Sekten-, Esoterik- und grauen Psy- ist dieser Bundesbeauftragte meines Wissens niemals in chomarkt. Erscheinung getreten. Lassen Sie mich einige Bemerkungen zum Gegen- Desinteresse der alten Regierung bestand auch bei standsbereich unserer Diskussion machen. Sie haben es folgendem Thema – Sie haben es angesprochen, wenn richtigerweise auf den Bereich Esoterik erweitert, in auch mit einem anderen Zungenschlag –: Alle Länder dem es auch Phänome gibt, die wir regeln müssen. Zu- hatten sich 1997 auf den Entwurf eines Gesetzes zur Re- nächst möchte ich aber auf den Sektenbegriff eingehen. gelung des Verbraucherschutzes auf dem Markt der ge- Was sind eigentlich Sekten? Auf dem Endbericht der werblichen Lebensbewältigungshilfe geeinigt. Er wur- Enquete-Kommission findet man das Wort gar nicht de einstimmig im Bundesrat beschlossen, und zwar von mehr. Keine Gruppe nennt sich selbst so; die Gruppen Schleswig-Holstein und Hamburg bis Sachsen und Bay- nennen sich Zentrum, Bewegung, Kirche, Bund, Orden, ern. Die alte Bundesregierung aber war skeptisch. Dies Verein – was immer sie wollen. „Sekte“ ist ein Begriff, ist in der Stellungnahme der Bundesregierung zu diesem der von außen an bestimmte Gruppen herangetragen Gesetzentwurf nachzulesen. Im Bundestag, wo Sie, wo wird. Besser gesagt, es werden zwei Sektenbegriffe damals CDU/CSU und F.D.P., die Mehrheit hatten, zog verwendet, die in der Vergangenheit auch für Verwir- sich die Sache so lange hin, bis die Legislaturperiode rung gesorgt haben. Vielleicht kann ich ein bisschen zur abgelaufen und der Gesetzentwurf der Diskontinuität Klarheit beitragen. anheim gefallen war. (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Hört! Der eine, der klassische Sektenbegriff ist der theolo- Hört!) gische. Er bezeichnet eine Abspaltung von der christli- chen Kirche, eine häretische Gemeinschaft, die auf eige- Jetzt machen Sie dicke Backen und fordern genau dieses nen Offenbarungs- und Wahrheitsquellen beruht, also Gesetz. Herzlichen Glückwunsch! neben der Bibel und der christlichen Überlieferung ein 7852 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Januar 2000

Dr. Hans Peter Bartels (A) (C) eigenes Buch – beispielsweise das Buch Mormon – oder Nicht von allen Sekten gehen konkret Gefahren aus. einen eigenen Propheten hat. Solche Gruppen sind zum In Deutschland können von etwa 40 bis 50 Gruppen Ge- Beispiel die Quäker, die in unserem Sinne überhaupt fahren ausgehen, von denen Länder und Bund wissen nicht problematisch sind; einer von ihnen ist der Frie- und vor denen Sie warnen oder warnen können. densnobelpreisträger von 1949. Darum geht es uns nicht, Was für Gefahren können von diesen Gruppen aus- wenn wir von Sekten sprechen. gehen? Es müssen Gefahren für Grundrechtsgüter Wir verwenden den neueren kulturellen, umgangs- sein, wenn der Staat das Recht haben soll zu warnen. sprachlichen Sektenbegriff, unter dem im Übrigen jeder Diese Grundrechtsgüter sind Leben und Gesundheit, das versteht, was auch wir darunter verstehen. Das ist physisch und psysisch, das Eigentum, Ehe und Familie, aber nicht die christliche, kirchliche Definition. Dieser um einige zu nennen. Wenn diese gefährdet sind, dann kulturelle Sektenbegriff bezieht sich auf die konfronta- darf und dann muss der Staat handeln im Sinne von tive Stellung der Gruppe im Verhältnis zur Gesellschaft. warnen, also nicht in dem Sinne, die Gefahr durch Ver- Aus dieser Perspektive sind Merkmale einer Sekte die bot auszuschließen, sondern im Sinne von warnen. Tatsachen, dass die Gruppe sich von ihrer Umgebung Wenn es um Straftaten geht, muss er mit all dem ein- abkapselt, dass die Mitglieder der Gruppe von ihrem so- schreiten, was ihm zur Verfügung steht. zialen Umfeld isoliert werden und dass das Heilsver- Es geht also nicht darum, ob eine Ideologie seltsam sprechen der Gruppe mit einem Absolutheitsanspruch ist oder ob eine Religion sonderbar ist, sondern es geht verbunden wird. Nicht das Heilsversprechen ist das Problem – das beinhalten jeder Glaube und auch manche darum, den Einzelnen stark zu machen gegen radikal vereinnahmende Kollektive. Es geht also – das ist die Ideologie –, sondern der Absolutheitsanspruch. Elitebe- Hauptaufgabe des Staates in diesem Bereich – um Auf- wusstsein, Machtanspruch, Gruppendruck, Bewusst- seinskontrolle, Verschwörungsdenken, Verfolgungs- klärung und Verbraucherschutz. Lassen Sie uns daran gemeinsam arbeiten! wahn, Psychoterror gegen Abtrünnige und Kritiker sind weitere Merkmale einer Sekte, wie wir sie verstehen. Schönen Dank. Das hat nicht mit Religion und Weltanschauung zu tun, sondern damit, wie eine Gruppe von Menschen sich ge- (Beifall bei der SPD) genüber ihren Mitgliedern und gegenüber anderen ver- hält. Präsident Wolfgang Thierse: Ich erteile der Kolle- Man sollte also nicht versuchen, im Sinne von gin Birgit Homburger, F.D.P.–Fraktion, das Wort. Sprachpolitik einen neuen Sektenbegriff zu etablieren. Das bringt wenig. Wenn also auf dem Abschlussbericht Birgit Homburger (F.D.P.): Herr Präsident! Liebe (B) der Enquete-Kommission „Neue religiöse und ideologi- (D) Kolleginnen und Kollegen! Bevor ich zur Diskussion sche Gemeinschaften und Psychogruppen“ steht, dann der vorliegenden Anträge komme, möchte ich noch ein ist das, mit Verlaub, Tüdelkram. paar grundsätzliche Bemerkungen machen zu den Er- (Beifall bei der SPD) gebnissen der Enquete-Kommission, weil ich es für wichtig halte, nochmals festzuhalten, dass wir strikt un- Die Motive, sich in solchen Gruppen zu organisie- terscheiden müssen zwischen neuen religiösen und welt- ren – ich meine jetzt die Motive, die die Menschen anschaulichen Gruppierungen und dem Psycho- und selbst haben und die die Gruppen offiziell nennen –, Esoterikmarkt. Das ist hier schon gesagt worden, aber sind auch nicht allein religiös. Es ist ein Bündel von Mo- das wurde in der Arbeit – nicht von uns, sondern von tiven, in dem einzelne klar abgegrenzte Motive vorzu- außerhalb – oft in einen Topf geschmissen und hat das finden sind. Es gibt therapeutische Motive. Das hat mit eine oder andere auch schwierig gemacht. Insofern, den- Religion nichts zu tun. Ich denke etwa an den Bruno- ke ich, sollte man das noch einmal festhalten. Gröning-Freundeskreis, eine Heilungsbewegung, an VPM oder an Metharia, eine UFO-Sekte, die heilt. Dann In einer zunehmend säkularisierten Welt ist es auch gibt es politische Motive; hier sind die EAP und die so, dass die Vielzahl dieser Gruppierungen und die im- Scientology-Organisation zu nennen. Letztere ist aus mer größer werdende Vielfalt dieser religiösen und meiner Sicht eine politisch und nicht religiös motivierte weltanschaulichen Gemeinschaften schwer überschaubar Organisation. Sie ist auch nicht wirtschaftlich motiviert; ist. Trotzdem hat die Enquete-Kommission festgestellt, das Geld dient der Machtausweitung. Es gibt aber auch zu Recht, wie ich finde, dass sie keine grundsätzliche wirtschaftliche und religiöse Gründe. Gefahr für Staat und Gesellschaft in Deutschland sind. Ein Beispiel dafür mag die Maharishi-Bewegung Vielmehr muss unsere Gesellschaft daran arbeiten – des Gurus Maharishi Mahesh Yogi sein, die alle und das ist für uns eines der wesentlichen Ergebnisse –, vier Bereiche abdeckt: die Maharishi-Ayurveda-Ge- sich mit dieser religiösen Vielfalt zu arrangieren, Tole- sundheitszentren für den Bereich Therapie, die Naturge- ranz und gegenseitigen Respekt im Zusammenleben zu setz-Partei für den Bereich Politik, die Samhita GmbH lernen und zu praktizieren. So ist die Enquete- und die TM-Center fürs Ökonomische und der Guru Kommission auch zu dem Ergebnis gekommen, dass die Maharishi selbst für das Religiöse. Es ist also ein Bündel vorhandenen gesetzlichen Vorschriften in aller Regel von Motiven. Die Religion kann eines sein. Unser Sek- ausreichend sind, um vorkommende Konflikte im sozia- tenbegriff bezieht sich nicht auf das Religiöse. len Nahbereich zu regeln. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Januar 2000 7853

Birgit Homburger (A) (C) Deswegen will ich noch einmal festhalten, dass wir Sie haben die Umsetzung der gesetzgeberischen Liberalen uns letztlich auch durchgesetzt haben mit der Empfehlung der Enquete-Kommission schlichtweg ver- Haltung, dass unsere Verfassung bezüglich der Art. 4 schlafen. Ihr Antrag, der die Feststellung enthält, dass und 140 des Grundgesetzes, die die Religionsfreiheit aufgeworfene Fragen weiter zu beraten und gesetzgebe- gewährleisten, aber auch die Stellung der Kirchen in un- rische Empfehlungen des Berichtes sowie andere Maß- serem Staat beschreiben, weder ergänzt noch geändert nahmen zu prüfen seien, klingt diesbezüglich ziemlich werden sollen. Das halte ich für eine wichtige Feststel- unwillig und ratlos. lung. Zu Ihrem Vorwurf, wir hätten in der letzen Legisla- (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- turperiode den Bundesratsentwurf nicht mehr auf die ten der CDU/CSU) Tagesordnung gesetzt und er sei damit der Diskontinui- tät anheim gefallen, sage ich Ihnen Folgendes: Ich habe An dieser Stelle möchte ich die Gelegenheit nutzen, mich kundig gemacht und in der Geschäftsordnung all den Kolleginnen und Kollegen, die in der letzten Le- nachgelesen. In einer bestimmten Frist nach Druckle- gislaturperiode als Mitglieder in dieser Enquete- gung eines Entwurfes gibt es ein Aufsetzungsrecht. Sie Kommission gearbeitet haben, ganz herzlich zu danken. hätten also die Beratung im Plenum durchsetzen können, Ganz besonders danken möchte ich im Namen meiner wenn Sie gewollt hätten. Fraktion auch noch einmal dem Kollegen Roland Kohn, der für uns mitgearbeitet hat und leider nicht (Widerspruch des Abg. Wilhelm Schmidt mehr dem Deutschen Bundestag angehört, [Salzgitter] [SPD] – Walter Hirche [F.D.P.]: Sie wollten nicht!) (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P., der SPD, der CDU/CSU und des BÜNDNIS- Ich sage noch einmal: Nicht die alte Regierung oder SES 90/DIE GRÜNEN) die alte Koalition haben gebremst. Der Endbericht der Enquete-Kommission wurde nämlich erst am Ende der weshalb ich heute für unsere Fraktion zu diesem Thema Legislaturperiode, im Juni 1998, beraten. Erst danach spreche. konnten die Empfehlungen umgesetzt und die gesetzge- berischen Maßnahmen eingeleitet werden. Sie sind seit Die Unterscheidung, von der ich gerade gesprochen anderthalb Jahren dafür zuständig. Dies müssen Sie sich habe, hat auch deswegen Bedeutung – das ist die zweite anhören, auch wenn es Ihnen nicht passt. grundsätzliche Bemerkung, die ich machen will, weil sie mir persönlich auch wichtig ist –, weil es meines Erach- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) tens Organisationen gibt, die Religionsfreiheit für sich in Ich möchte noch abschließend die Bemerkung ma- Anspruch nehmen, diese aber nicht für sich in Anspruch (B) nehmen können. chen, dass wir vonseiten der F.D.P. zwei Punkte für we- (D) sentlich halten. Der erste wesentliche Punkt ist die Ein- Dazu gehört aus meiner Sicht auch die Scientology- richtung einer Stiftung, die unabhängig und staatsfern Organisation, bei der es sich nicht um eine religiöse organisiert werden soll und deren Zweck die Informati- Vereinigung handelt. Im Gegenteil, es gibt in diesem on und die Beratung über die Organisationen auf dem Fall Hinweise auf politisch bestimmte ziel- und zweck- Psycho- und Esoterikmarkt sein soll. Der zweite we- gerichtete Verhaltensweisen, die mit der freiheitlich- sentliche Punkt ist das Gesetz über Verträge auf dem demokratischen Grundordnung in keiner Weise verein- Gebiet der gewerblichen Lebensbewältigungshilfe, das bar sind. Deshalb ist aus unserer Sicht eine Beobachtung nicht regulieren soll, sondern das Rahmenbedingungen durch den Verfassungsschutz weiterhin gerechtfertigt zur Transparenz auf dem Markt im Sinne des Verbrau- und erforderlich. cherschutzes setzen soll. Aber nun zu den vorliegenden Anträgen. Da möchte Ich möchte in diesem Zusammenhang einen Vor- ich anfangen mit dem Antrag der Koalition, den ich vor schlag machen. Die Enquete-Kommission hat die Bun- dem Hintergrund der Aktivitäten der SPD in der letzten desregierung aufgefordert, nach zwei Jahren einen ersten Legislaturperiode mit großer Verwunderung zur Kennt- Bericht vorzulegen. Wir erwarten diesen Bericht im nis genommen habe. Der Kollege von der CDU/CSU hat Sommer, weil wir davon ausgehen, dass sich die Regie- das gerade ähnlich ausgedrückt. rung an die Aufforderung der Enquete-Kommission hält. Wir schlagen deshalb vor, direkt nach der Sommerpause Solange Sie, meine Damen und Herren von der SPD, fraktionsübergreifend – ich kann nämlich nicht erken- noch in der Opposition waren, haben Sie Aktivitäten an- nen, wo wir inhaltlich noch weit auseinander liegen, gemahnt und vehement Maßnahmen gefordert. Das ging nachdem wir in der Enquete-Kommission darüber ge- so weit, dass Sie ein Sondervotum abgegeben haben, in sprochen haben – Initiativen auf der Basis des Berichtes dem Sie die Prüfung einer Änderung des Grundgesetzes der Bundesregierung zu ergreifen. im Hinblick auf den Status von Religionsgemeinschaf- ten vorgeschlagen haben. Seit Sie nun an der Regierung Vielen Dank. sind, hört und sieht man von alledem nichts mehr. Vor (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) diesem Hintergrund nimmt sich Ihr gerade einmal zwei nichts sagende Absätze umfassender Antrag doch ausge- sprochen mickrig aus. Präsident Wolfgang Thierse: Ich erteile das Wort der Kollegin Angelika Köster-Loßack, Bündnis 90/Die (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Grünen. 7854 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Januar 2000

(A) (C) Dr. Angelika Köster-Loßack (BÜNDNIS 90/DIE sich allerdings um einen Sonderfall. Deren Auseinander- GRÜNEN): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und setzung mit dem deutschen Staat und einzelnen Reprä- Kollegen! Wir diskutieren heute ein Thema, das in der sentantinnen und Repräsentanten hat eine Form erreicht, letzten Legislaturperiode zu ziemlichen Auseinanderset- vor allem auch im internationalen Maßstab, die nicht zungen nicht nur in der Enquete-Kommission, sondern mehr zu tolerieren war. Die propagandistische Aussage auch in der Öffentlichkeit geführt hat. Dennoch haben der Scientology-Organisation, sie werde in Deutschland wir gemeinsam gute Arbeit geleistet und einen seriösen verfolgt wie die Juden im NS-Staat, war unübertroffen Abschlussbericht vorgelegt. perfide und stellte eine unerträgliche Verharmlosung der Verfolgung der Juden im NS-Deutschland und des Völ- Der Bundestag – dieser Punkt ist schon von anderen kermordes dar. Kollegen erwähnt worden – reagierte mit der Einsetzung dieser Enquete-Kommission auf sehr viele Petitionen, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, die beim Petitionsausschuss eingereicht wurden. Außer- bei der SPD, der F.D.P. und der PDS) dem gab es insbesondere in der Medienöffentlichkeit ei- Deswegen ist eine öffentliche politische Auseinander- ne eskalierende Auseinandersetzung um die Scientolo- setzung auch mit dieser Organisation unbedingt notwen- gy-Organisation. Unsicherheit und Unwissenheit haben das Klima geprägt. Umso wichtiger war es dann, in die- dig. ser Situation etwas mehr Licht ins Dunkel zu bringen. Was den Verfassungsschutz angeht, möchte ich noch einmal darauf hinweisen, dass der letzte nordrhein- Insgesamt hat aber der Abschlussbericht der Enquete- westfälische Verfassungsschutzbericht ganz deutlich Kommission nicht nur Informationen geliefert, sondern gemacht hat, dass eine Beobachtung dennoch nicht an- auch dazu beigetragen – so sage ich aus meiner Erfah- gemessen ist. Wir müssen andere Formen der Auseinan- rung in den Monaten danach –, dass die Auseinanderset- dersetzung finden. zung in rationalere Bahnen gelenkt werden konnte. Ins- besondere den Punkt, der sich mit dem Sektenbegriff (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der beschäftigt, halte ich im Großen und Ganzen nicht für PDS) „Tüdelkram“. Die Vereinbarung von unserer Seite, in Wir haben uns in unserem Minderheitenvotum gegen der öffentlichen Debatte den Sektenbegriff nicht mehr eine Vielzahl von Handlungsempfehlungen ausgespro- zu benutzen, halte ich für einen guten Beschluss. Diese chen, hauptsächlich aus drei Gründen: Auffassung habe ich auf vielen Veranstaltungen in der Zeit nach dem Abschlussbericht vertreten, in der ich von Erstens sahen wir die Masse an gesetzgeberischen Kirchengemeinden eingeladen worden bin, und dafür und gesetzesverschärfenden Empfehlungen vom Ergeb- auch viel Verständnis gefunden. nis der Untersuchung der Enquete-Kommission nicht (B) gedeckt. Man kann nicht einerseits feststellen, dass kei- (D) Wir haben festgestellt, dass es in einzelnen Fällen in ne allgemeinen Gefahren bestehen, und andererseits den von uns untersuchten Gruppen zu psychischen und massive Gesetzesverschärfungen propagieren. teilweise auch zu physischen Verletzungen von Men- schen kommt. Aus unserer Sicht ist es wichtig, dass die- Zweitens. Wir haben verfassungsrechtliche Probleme se Menschen kompetente Hilfe erhalten, und zwar nicht gesehen, etwa bei der geplanten Finanzierung von priva- nur von der Familie und von Freunden, sondern auch ten Beratungsstellen oder bei der Anwendung des Ver- von fachlich gut ausgestatteten staatlichen Beratungs- einsrechts auf religiöse Minderheiten. Es darf keine stellen, für die wir uns eingesetzt haben. Insbesondere Sondergesetze gegen religiöse Minderheiten geben, haben wir uns für die Stärkung der Ausbildung derer, wenn gleichzeitig, wofür ja vieles spricht, die traditio- die in diesen Beratungsstellen mitarbeiten, eingesetzt. nellen Kirchen nach wie vor die grundgesetzlich garan- tierte Sonderstellung behalten sollen. Hier muss Gleich- Der Staat hat auch die Pflicht, über problematische behandlung herrschen. Gruppen oder dort ausgeübte Praktiken aufzuklären. Al- lerdings muss strikt weltanschauliche Neutralität ge- (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- wahrt werden. Der säkulare Rechtsstaat darf sich nicht SES 90/DIE GRÜNEN – Dr. Hans Peter Bar- offensiv in den Weltanschauungskampf einmischen. tels [SPD]: Das hat doch nichts miteinander zu tun!) Das Ergebnis der Tätigkeit der Enquete-Kommission hat aber auch eindeutig gezeigt, dass es die immer wie- Drittens konnten wir uns bei der Ablehnung verschie- der behauptete Gefährdung von Staat, Wirtschaft und dener Vorschläge, beispielsweise der staatlichen Finan- Gesellschaft durch die so genannten Sekten und Psycho- zierung privater Beratungsstellen oder des Entwurfs ei- gruppen nicht gibt. Das ist eines der zentralen Ergebnis- nes Lebensbewältigungshilfegesetzes, sogar auf die Stel- se, das ich hier wiederholen möchte, weil ich glaube, lungnahmen seitens der betroffenen Ministerien stützen. dass diese Ergebnisse der Untersuchung in der Öffent- So hat das Justizministerium bei der Bundesratsinitiative lichkeit immer noch nicht wahrgenommen wurden, die zum Lebensbewältigungshilfegesetz eindeutig dafür uns dazu geführt haben, das so zu definieren. plädiert, diesen Entwurf nicht zu verabschieden. Deshalb haben wir uns als Grüne innerhalb der En- In diesem Zusammenhang finde ich es besonders quete-Kommission immer gegen das Tätigwerden des seltsam, dass ausgerechnet die damals regierende Union Verfassungsschutzes ausgesprochen, auch gegen die in ihrem Antrag lapidar die zügige Umsetzung der Rege- Scientology-Organisation. Bei Scientology handelt es lung zur gewerblichen Lebensbewältigungshilfe fordert. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Januar 2000 7855

Dr. Angelika Köster-Loßack (A) (C) Im Gegenteil, es ist dringend geboten, die von der Ich danke Ihnen. Enquete-Kommission vorgeschlagenen Handlungsemp- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN fehlungen noch einmal sorgfältig zu prüfen, bevor man endgültig gesetzgeberische Schritte einleitet. Es ist sowie bei Abgeordneten der SPD) wichtig, zu überprüfen, ob durch Gesetze auch tatsäch- lich diejenigen erreicht werden, die erreicht werden sol- Vizepräsidentin : Das Wort hat jetzt len. Und es ist wichtig, zu überprüfen, ob durch Rege- die Kollegin Ulla Jelpke, PDS-Fraktion. lungen nicht gegen die verfassungsmäßige Neutrali- tätspflicht des Staates verstoßen wird. Klar ist: Wenn in so genannten Sekten und Psychogruppen Gesetze ge- Ulla Jelpke (PDS): Frau Präsidentin! Meine Damen brochen werden – wie wir es auch definiert haben –, und Herren! Als ehemaliges Mitglied der Enquete- müssen die Täter bestraft werden, genauso wie bei Ver- Kommission weiß ich, wie viele Menschen die Arbeit stößen in anderen Zusammenhängen. dort verfolgt haben. Insbesondere die Opfer dieser Gruppen, ihre Angehörigen und Freunde haben zu Recht Auf der anderen Seite haben wir aber als Politikerin- erwartet, dass nun etwas geschieht, um ihnen zu helfen. nen und Politiker auch die Aufgabe, dafür zu sorgen, Es ist ärgerlich, dass seit eineinhalb Jahren keine dass die Anhänger oder Mitglieder kleiner Religionsge- meinschaften das gleiche Recht haben, ihren Glauben Konsequenzen gezogen wurden. Das ist eine berechtigte Kritik. Das einzige, was die Bundesregierung bisher an- auszuüben, wie die Anhänger der Großkirchen. Wir gekündigt hat, ist ein Modellversuch, der am 1. Juli be- müssen uns dafür einsetzen, dass gesellschaftliche Aus- grenzungen, welcher Art auch immer, auf welcher Ebe- ginnen soll; darauf komme ich später noch zu sprechen. Dass sonst nichts geschehen ist, kann meines Erachtens ne auch immer, unterbleiben. nicht am fehlenden Geld liegen; denn es war genug Geld ( V o r s i t z : Vizepräsidentin Anke Fuchs) da, um diverse Verfassungsschutzämter mit der Beo- bachtung von Scientology zu beauftragen. Wir waren – Noch eine abschließende Bemerkung – sie geht an die meine Kollegin hat das eben schon erklärt – und werden F.D.P. –: Unerträglich finde ich in diesem Zusammen- auch weiter dagegen sein, zumal bis heute keine konkre- hang den berüchtigten Plakatentwurf der nordrhein- teren Erkenntnisse zur Verfassungsfeindlichkeit auf dem westfälischen F.D.P. Nicht nur, dass ich es bisher für Tisch liegen. unvorstellbar hielt, dass eine demokratische Partei heute noch mit dem Bild von Adolf Hitler wirbt. Das ist gera- Viele Betroffene haben sich in den vergangenen Mo- de auch wegen steigender Akzeptanz rechtsgewirkter naten an Abgeordnete des Bundestages gewandt und ha- Denk- und Verhaltensmuster unfassbar. ben meiner Meinung nach so die Debatte heute erzwun- (B) gen. Die PDS hat daraufhin eine Kleine Anfrage einge- (D) Man muss nur einmal nach Österreich schauen, was dort bracht und – sie wurde schon erwähnt – die Bundesre- unter Umständen verborgen ist. Die Gleichstellung von gierung gefragt, wie die Forderungen der Enquete- Hitler und Bhagwan auf einem Plakat, wodurch eine Kommission umgesetzt werden. Die Antwort der Bun- Verbindung zwischen ihnen hergestellt wird, ist nicht desregierung und der Antrag der CDU/CSU-Fraktion nur eine Verharmlosung des Massenmörders Hitler, es sind in folgendem Punkt deckungsgleich: Beide wol- ist auch eine Beleidigung aller Anhänger des alternati- len – darüber muss man hier diskutieren – den privaten ven Glaubens der Osho-Bewegung. An die Adresse von Initiativen offenbar nicht helfen und ihnen nicht ihre Herrn Möllemann: Ich hoffe, dass die Vernunft der Unterstützung geben. Wählerinnen und Wähler dieser aus reiner Profilierungs- sucht geborenen Ungeheuerlichkeit keinen Erfolg be- Die Bundesregierung hat im letzten Oktober weiter scheinigt. geantwortet, sie berate noch über gesetzgeberische Ini- tiativen. Nun hat die Enquete-Kommission in der Tat ein Wir sind gerade angesichts dessen, was wir gehört großes Paket vorgeschlagen, das geprüft werden muss. und worüber wir uns auseinander gesetzt haben, dazu Aber der vorliegende Antrag der Regierungsparteien ist aufgerufen, dazu beizutragen, dass in unserer Gesell- mehr als dürftig; er ist heute mehrfach kritisiert worden. schaft die Menschen unterschiedlicher Herkunft, unter- Sollen wir in dieser Legislaturperiode im Ernst weiterhin schiedlichen Geschlechts und unterschiedlichen Glau- nur prüfen? Das kann doch nicht das Ergebnis der lang- bens nicht nur friedlich nebeneinander leben können, jährigen Arbeit einer Enquete-Kommission sein. So sondern dass sie auch gegenseitigen Respekt füreinander können Sie mit den Betroffenen nicht umgehen. Sie ha- aufbringen. ben in der letzten Legislaturperiode mit dieser Enquete- Kommission zu Recht Hoffnungen und Erwartungen Natürlich müssen wir uns für alle einsetzen, die Opfer geweckt. Was hier vorgelegt wird, geht aber nicht weit psychischer und physischer Gewalt geworden sind. Wir genug. müssen uns außerdem dafür einsetzen – das ist mir das Allerwichtigste –, dass insbesondere die wissenschaftli- Ich will es ganz deutlich sagen: Es geht mir nicht um che Forschung in diesem Bereich, die akademische Leh- schärfere Strafgesetze gegen die so genannten Psycho- re und die schulische Bildung ausgebaut werden. Dazu gruppen und Sekten. Auch wenn viele dieser Gruppen bedarf es keiner besonderen gesetzlichen Initiativen, antidemokratische, rassistische, antisemitische Tenden- sondern der Bereitstellung zusätzlicher Mittel. In diesem zen aufweisen, ist ein weiterer Ausbau des Überwa- Sinne plädiere ich in dieser Frage weiterhin für eine ra- chungsstaates nicht die richtige Antwort. Solchen Ten- tionale und nüchterne Debatte. denzen muss durch konsequente Aufklärungsarbeit ent- 7856 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Januar 2000

Ulla Jelpke (A) (C) gegengewirkt werden. Worauf es mir ankommt, ist vor Umso mehr ist es für mich ein großer Schritt, dass wir allem eine finanzielle Besserstellung und eine gesetzli- nun mit den Beratungen beginnen. che Förderung der Opfer dieser Gruppen und insbeson- dere ihrer Selbsthilfeorganisationen, über die wir hier Bevor ich näher auf den Antrag der CDU/CSU- Fraktion eingehe, möchte ich mich an dieser Stelle zu- heute diskutieren. Ich hoffe, dass wir in den Beratungen nächst einmal bei den Sachverständigen der Enquete- der Ausschüsse einige Schritte weiterkommen. Kommission für ihre Kompetenz und ihr Engagement, Die Bundesregierung hat uns, wie ich bereits erwähn- mit dem sie die Enquete-Kommission getragen haben, in te, gesagt, dass sie einen Modellversuch plant – ich zi- aller Form bedanken. Ich möchte Ihnen vor allem dan- tiere – ken, weil Sie geduldig, entschieden und ganz ohne Zweifel zu Recht die Fortsetzung der politischen De- zur Qualifizierung von Fachpersonal zum Themen- batte eingefordert haben. Es ist schließlich auch eine bereich so genannter Sekten und Psychogruppen in Frage, wie wir mit den Ergebnissen und der geleisteten den etablierten Beratungsinstitutionen. Arbeit umgehen. Meines Erachtens – ich denke, Sie Das Projekt ist im Prinzip in Ordnung, aber es darf sich werden sich dieser Auffassung anschließen können – nicht nur an die „etablierten Beratungsinstitutionen“ al- finden die Ergebnisse der Enquete-Kommission ihre lein richten. Ich möchte daran erinnern, dass auch Ver- notwendige Anerkennung erst, wenn wir die Handlungs- treter der großen Kirchen immer wieder gefordert haben, empfehlungen aufgreifen und uns in den Gremien mit dass private Initiativen unterstützt werden müssen. den inhaltlichen Fragestellungen auseinander setzen. Diese parlamentarische Arbeit soll mit dem heutigen Ich halte das für einen Ansatz, der nicht umfangreich Tag beginnen. Ich bin darüber froh, denn es ist längst genug ist. Nach dem Verfassungsschutz zu rufen und für überfällig. die Opfer nichts zu tun, ihre privaten Initiativen, die sich nicht den beiden großen Kirchen unterordnen, sogar Ich möchte mich ebenso bei den vielen engagierten weiterhin an den Rand zu drängen bzw. dort allein zu Bürgerinnen und Bürgern, bei Betroffenen und Hilfesu- lassen, kann nicht richtig sein. Auch in dieser Frage darf chenden, die mir in den vergangenen Monaten geschrie- am Ende nicht mehr Staatskontrolle stehen. Auch hier ben haben, bedanken. geht es um die Förderung von Bürgerrechten und Bür- Die zahlreichen Anfragen, auch an den Petitionsaus- gerinitiativen. schuss, machen mir eines sehr deutlich: Das gesamte Danke. Problemfeld der neuen religiösen und ideologischen Gemeinschaften ist ein politisches Thema und muss (Beifall bei der PDS) Eingang in die parlamentarischen Beratungen finden. (B) Wir tragen damit auch der gesellschaftlichen Bedeutung (D) der Thematik Rechnung. Ich erinnere an die drängende Vizepräsidentin Anke Fuchs: Jetzt hat die Kolle- Frage von vielen Bürgerinnen und Bürgern: Was macht gin Renate Rennebach, SPD-Fraktion, das Wort. eigentlich die Politik, um uns vor so genannten Sekten und Psychogruppen zu schützen? Die Antwort auf diese Frage lieferte die Enquete-Kommission. Wir haben zwei Renate Rennebach (SPD): Sehr verehrte Frau Prä- Jahre intensiv gearbeitet und verfügen mit dem Endbe- sidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich werde im richt über eine hervorragende Handlungsgrundlage für Gegensatz zu meinem Ruf und entgegen dem, was wir die parlamentarische Entscheidungsfindung. in den zwei Jahren Enquete-Kommission gestritten ha- ben, eine sehr ruhige Rede halten. Denn das Thema soll- Angesichts der vorliegenden Sondervoten im Ab- te im Sinne der Opfer und Betroffenen geführt werden schlussbericht möchte ich jedoch, ohne den bevorste- und nicht durch Streit gekrönt sein. Ich sage Ihnen ehr- henden Beratungen vorgreifen zu wollen, an alle Frakti- lich: Ich bin froh, dass wir heute – zwar erst nach einem onen appellieren: Führen wir die Diskussion vorbehalt- Jahr, aber immerhin – über dieses Thema reden. los und ohne jedes Tabu. – Nun dürfen Sie klatschen. Wir diskutieren heute – ich muss sagen: endlich – (Beifall bei der SPD) über die Fortführung der Ergebnisse der Enquete- – Sie von der anderen Seite auch! Kommission „Sogenannte Sekten und Psychogruppen“ aus der vergangenen Wahlperiode. Genau genommen ist (Birgit Homburger [F.D.P.]: Wir klatschen dies lediglich die logische Konsequenz, denn der Ab- nicht auf Anweisung! – Zuruf von der schlussbericht der Enquete-Kommission weist eine Rei- CDU/CSU: Wir sind doch nicht im Zirkus!) he von Empfehlungen an den 14. Deutschen Bundestag – Ich hätte mich schon gefreut, wenn mir die Opposition auf, die weiterführende parlamentarische Beratungen er- darin zugestimmt hätte, dass wir das vorbehaltlos und fordern. Die Fortführung der Beratungen zum Endbe- ohne jedes Tabu machen. Denn nur dann gelangen wir richt wäre eigentlich nicht mehr als ein formaler Akt, zu einer vorurteilsfreien Bewertung der Ergebnisse und hätten wir es nicht mit einer Materie zu tun, die in den letztlich zu Entscheidungen, die der vielschichtigen Pro- letzten Jahren vielfältige Emotionen ausgelöst hat – auch blematik gerecht werden. in der Enquete-Kommission. Ich bin allerdings über- zeugt, dass wir heute den nötigen Abstand besitzen – ich Uns liegt ein Antrag der Union vor, die Handlungs- hoffe es jedenfalls –, um die Ergebnisse der Enquete- empfehlungen zügig umzusetzen. Gestatten Sie mir dazu Kommission mit der gebotenen Sachlichkeit zu beraten. eine kurze Anmerkung. Ich denke, wir sind uns einig, Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Januar 2000 7857

Renate Rennebach (A) (C) dass Handlungsbedarf besteht. Ihre Forderung an die strittigen Fragen zu tragfähigen Kompromissen kommen Bundesregierung, umgehend Gesetzentwürfe vorzule- werden. Denn das ist schließlich die Aufgabe von Poli- gen, erscheint mir allerdings irreführend. Wenn Sie tik. Es ist die Aufgabe des Parlaments. schon Forderungen aufstellen, sollten Sie genauer hinse- Ein Satz zum Schluss an alle Fraktionen. Niemand in hen. Die Handlungsempfehlungen der Enquete-Kom- diesem Hause will jemandem etwas verbieten, was für mission beziehen sich im Wesentlichen auf neu zu schaffende Rechtsvorschriften und Erweiterungen des ihn gut ist. Wer sich quälen lassen möchte, kann dies nach unserem Willen und der politischen Gestaltung bestehenden Rechts. Sie richten sich damit ausdrücklich weiterhin tun. Aber ich möchte die Menschen schützen, an den Gesetzgeber und nicht nur an die Bundesregie- rung. die Hilfe erwarten und nur Kram bekommen. Kram gibt es bei diesem Thema eine Menge. Um auf unseren Antrag zu kommen: Im Gegensatz zu Vielen Dank. Ihnen, die Sie an Überschriften von Programmen gehan- gen haben, die mit dem Inhalt des Programms überhaupt (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ nicht übereinstimmen, sind uns die Überschriften erst DIE GRÜNEN) einmal egal. Wir wollen für Inhalte kämpfen und für In- halte eintreten. Vizepräsidentin Anke Fuchs: Nun hat der Kollege Unser Antrag, der Antrag der Koalition, sieht vor, Ronald Pofalla, CDU/CSU-Fraktion, das Wort. den Endbericht mit den darin enthaltenen Fragestellun- gen parlamentarisch zu beraten und gesetzgeberische Initiativen zu prüfen. Das ist die Aufgabe des 14. Deut- Ronald Pofalla (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Lie- schen Bundestags und dieser Aufgabe sollten wir nach- be Kolleginnen und Kollegen! Ich will als ehemaliger kommen. Selbst wenn die Bundesregierung eigene Ini- Obmann der CDU/CSU-Bundestagsfraktion in der En- tiativen prüft – wie Sie wissen, tut sie das –, sollten wir quete-Kommission, die über zwei Jahre lang getagt hat, die Diskussion des Endberichts im Bundestag ziel- meinen Eindruck ganz offen vortragen, den ich ange- gerichtet vertiefen. Angesichts der zahlreichen offenen sichts des Antrages der rot-grünen Koalition habe. Es ist Fragen halte ich eine breite Debatte für unbedingt erfor- eine intellektuelle Zumutung, derlich. Ich kann daher die Opposition nur ermuntern, (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – unserem Antrag zuzustimmen und den Endbericht an die Dr. Uwe Küster [SPD]: Was Sie hier bieten, Ausschüsse zu überweisen. Herr Pofalla!) Lassen Sie mich noch etwas zu den Handlungsemp- dem Deutschen Bundestag einen solchen Antrag vorzu- (B) fehlungen sagen. Ich möchte sie nicht der Reihe nach legen, nachdem Wissenschaftler und Kolleginnen und (D) aufführen, sondern vielmehr auf einen zentralen Aspekt Kollegen zwei Jahre lang einen Text ausgearbeitet ha- eingehen, den eigentlich alle Rednerinnen und Redner ben, der auf hohem wissenschaftlichen Niveau ist. Ihn bisher erwähnt haben. Besonders am Herzen liegt mir auf diese Weise zu reduzieren macht deutlich, dass Sie und uns der Verbraucherschutz am Psychomarkt. in der rot-grünen Koalition absolut handlungsunfähig Vielleicht kennen Sie schon meinen bildhaften Spruch, sind, die richtigen Konsequenzen aus diesem Bericht zu aber plausibler lässt es sich kaum erklären: Sie können ziehen. in Deutschland keinen Liter Milch kaufen, ohne dass draufsteht, was drin ist. Aber es gibt Seminare, die die (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Uwe Küster Psyche des Menschen elementar verändern, ohne dass [SPD]: Sie sind auch nur Kofferträger, oder die Anbieter sagen müssen, welche Ausbildung sie ha- wie? – Renate Rennebach [SPD]: Haben wir ben, welche Methoden sie anwenden, welches Ziel ein Ihnen nicht die Verharmlosung zu verdan- Seminar hat und wie viele Seminare ich brauche, um das ken?) Ziel erreichen zu können. Auch die Fragen der tatsächli- – Jetzt komme ich zu Ihnen, Herr Kollege Geschäftsfüh- chen Kosten, des Rücktrittsrechts oder der Regressmög- rer. lichkeiten sind ungeklärt. Die Ziffern 1 und 2 des Antrages von SPD und Sie wissen, ich rede von der gesetzlichen Regelung Bündnis 90/Die Grünen werden dem Deutschen Bun- der gewerblichen – „gewerblich“ ist das wichtige Wort destag ernsthaft vorgelegt als Antrag dieser beiden Frak- in diesem Zusammenhang – Lebensbewältigungshilfe. tionen. Hier besteht nach Auffassung der SPD-Fraktion Rege- lungsbedarf, und zwar nicht, weil wir staatliche Kontrol- (Renate Rennebach [SPD]: Das haben wir le brauchen, sondern damit der boomende Psychomarkt doch schon gehört!) – hier geht es wie in jedem anderen Gewerbe um finan- – Ich wiederhole es nur, weil es unglaubhaft ist, hier zielle Interessen – endlich transparenter wird. nach Überparteilichkeit und Sachlichkeit zu rufen, aber (Beifall des Abg. Dr. Uwe Küster [SPD]) einen solchen Antrag überhaupt vorzulegen. – Danke, Herr Geschäftsführer. – Der Verbraucher- Ich lese Ziffer 1 vor: schutz muss auch auf dem Psychomarkt gelten. Der 13. Deutsche Bundestag hat am 9. Mai 1996 Ich erwarte spannende Verhandlungen, die wir behut- die Einsetzung der Enquete-Kommission „Sog. sam führen sollten. Ich bin voller Zuversicht, dass wir in Sekten und Psychogruppen“ beschlossen. 7858 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Januar 2000

Ronald Pofalla (A) (C) Das ist ein unglaublicher Beitrag der Koalitionsfraktio- gierung hat in den letzten 16 Monaten nichts getan, um nen zur Debatte über dieses Thema. auch nur einen einzigen Gesetzentwurf vorzulegen, der die Möglichkeit eröffnet, eine solche Bundesstiftung zu Satz zwei lautet: schaffen. In der 242. Sitzung des 13. Deutschen Bundestages Frau Rennebach, wenn Sie sich schon nicht mit den vom 19. Juni 1998 wurde der Abschlussbericht Grünen einigen können, dann wäre ich Ihnen dankbar – vorgelegt und beraten. ich biete da ausdrücklich unsere Unterstützung an –, (Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Das ist eine wenn Sie wenigstens einen Antrag der SPD- Enthüllung!) Bundestagsfraktion einbringen würden. Ich sichere Ih- nen zu, dass die CDU/CSU diesen Antrag, wenn er auf Wenn das der Erkenntnisgehalt der beiden Koalitions- den Empfehlungen der Enquete-Kommission basiert, fraktionen ist, dann wundere ich mich über überhaupt unterstützen wird. nichts mehr. (Renate Rennebach [SPD]: Wunderbar!) (Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Das ist Ex- hibitionismus! – Renate Rennebach [SPD]: Dann könnten wir erreichen, dass wir eine Bundesstif- Warten Sie doch mal ab!) tung einsetzen können, die im Ergebnis dazu führt, dass die Selbsthilfeorganisationen und die Betroffenenorga- Um es deutlich zu sagen: Es gibt zwei Kernbereiche, nisationen endlich die Möglichkeit erhalten, inhaltlich die in dieser Enquete-Kommission, von Sondervoten der und finanziell unterstützt zu werden. Grünen einmal abgesehen, völlig unstrittig waren. Es war zwischen CDU/CSU, F.D.P., SPD und in diesem (Renate Rennebach [SPD]: Gehe ich recht in Fall, wenn ich mich richtig erinnere, auch der PDS völ- der Annahme, dass Sie noch keine Koalitions- lig unstrittig, dass wir eine Regelung zur gewerblichen erfahrung haben?) Lebensbewältigungshilfe benötigen. Es war aber auch Ich will meine Ausführungen mit dem Hinweis unstrittig, dass der damals von Hamburg vorgelegte Ge- schließen, dass wir Ihren Antrag den Betroffeneninitiati- setzentwurf nicht ausreichend war, weil er im Hinblick ven und den Selbsthilfeorganisationen zusenden werden, auf den Gesetzeszweck und das Gesetzesziel zu unbe- damit sie sich ein qualifiziertes Bild davon machen kön- stimmt war und dadurch Berufsgruppen in die Kontrolle nen, wie Sie die Ergebnisse dieser Kommission verstan- einbezogen würden, die nicht einbezogen werden soll- den haben. Ich bleibe dabei: Ihr Antrag ist eine intellek- ten. tuelle Zumutung. Wenn Sie jetzt Handlungsbedarf sehen, dann fordern Herzlichen Dank. (B) Sie doch Ihre Bundesregierung auf, einen überarbeiteten (D) Gesetzentwurf vorzulegen. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Renate Rennebach [SPD]: Aber die Gesetze macht doch das Parlament!) Vizepräsidentin Anke Fuchs: Ich schließe die Sie werden es deshalb nicht hinbekommen, weil die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vor- Grünen – damit bin ich bei einem Ihrer Probleme – so- lage auf Drucksache 14/2361 an die in der Tagesord- gar bezweifeln – Frau Dr. Köster-Loßack hat es gerade nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Vor- deutlich dargestellt –, dass es die Notwendigkeit gibt, lage auf Drucksache 14/2568 soll an dieselben Aus- hier gesetzgeberisch zu handeln. Das Problem liegt aus- schüsse überwiesen werden. Sind Sie damit einverstan- schließlich in der Koalition. den? – Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Ich rufe Tagesordnungspunkt 12 auf: Ich will Ihnen einen zweiten Punkt nennen: Trotz der rechtlichen Probleme, die wir analysiert haben und die Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten wir gesehen haben, haben wir die Einrichtung einer Ulrich Heinrich, Jürgen Koppelin, Marita Sehn, Bundesstiftung für richtig gehalten. Das rechtliche weiterer Abgeordneter und der Fraktion der Problem, vor dem man bei der Errichtung einer Bundes- F.D.P. stiftung steht, liegt auf der einen Seite darin, den Betrof- Reform der landwirtschaftlichen Sozialver- fenen, den Hilfsorganisationen ein quasi stiftungsrecht- sicherungsträger liches Hilfsangebot geben zu wollen, auf der anderen Seite darin, dass man damit in gewisse Kollisionen mit – Drucksachen 14/1557, 14/1759 – dem staatlichen Neutralitätsgebot kommt. Es liegen zwei Entschließungsanträge vor. Wir haben uns stundenlang über mehrere Sitzungen Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die hinweg über die Frage unterhalten, wie wir dieses Prob- Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen, wobei lem lösen können. Wenn Sie einen Blick in den Ab- die F.D.P. sieben Minuten erhalten soll. – Ich höre kei- schlussbericht werfen, dann sehen Sie, dass wir ganz nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. konkrete Gesetzesänderungen empfohlen haben, die uns aus diesem Zielkonflikt herausbringen. Dieser Zielkon- Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem flikt kann juristisch gelöst werden. Aber die Bundesre- Kollegen Jürgen Koppelin. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Januar 2000 7859

(A) (C) Jürgen Koppelin (F.D.P.): Frau Präsidentin! Liebe auf jährlich 100 Millionen DM bezifferte Einsparpoten- Kolleginnen und Kollegen! Die F.D.P.-Fraktion fordert zial wurde bisher noch nicht einmal durch betriebswirt- schon seit vielen Jahren eine Neuordnung der landwirt- schaftliche Untersuchungen belegt. schaftlichen Sozialversicherung. Die bestehende Auftei- (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: So ist das!) lung auf drei Spitzenverbände und je 20 Träger für Un- fallversicherung, Altersversicherung und Kranken- und Eine Bundesanstalt ist versichertenfern und kann re- Pflegeversicherung muss reformiert werden. Da- gionale Besonderheiten – darauf werde ich gleich noch rüber sind wir uns, glaube ich, alle einig. zu sprechen kommen – nicht berücksichtigen. Ein bun- deseinheitlicher Beitragsmaßstab bei der landwirtschaft- In diesem Punkt ist dem Bundesrechnungshof, der ei- nen Bericht vorgelegt hat, uneingeschränkt zuzustim- lichen Berufsgenossenschaft und den landwirtschaftli- chen Krankenkassen wird den unterschiedlichen land- men. Verwaltungs- und Verfahrenskosten von weit über wirtschaftlichen Betriebsstrukturen in keiner Weise ge- 600 Millionen DM im Jahr erfordern nicht nur in Zeiten leerer Kassen sparsame und effiziente Verwaltungen. recht und belastet im Übrigen die zukunftsträchtigen Be- triebe überproportional. Außerdem müssen wir wegen des anhaltenden Struk- turwandels in der Landwirtschaft, der zu immer mehr Demgegenüber favorisieren alle LSV-Träger und ihre Leistungsempfängern und immer weniger Beitragszah- Verbände sowie die Bundesländer, der Deutsche Bau- lern führt, die Verwaltungsstrukturen in der Sozialversi- ernverband, die Gewerkschaften und wohl auch – wenn cherung zwingend erneuern. Allerdings – das will ich ich das noch einmal erwähnen darf – der Bundesland- deutlich machen – lehnt die F.D.P. eine zentralistische wirtschaftsminister ein regionales Modell mit sieben bis Bundesversicherungsanstalt für Landwirtschaft strikt neun Trägern. Die ins Feld geführten Vorteile bei die- ab. sem Modell sind: Durch die bereits vorhandenen Stand- (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- orte fallen keine Anfangsinvestitionen an. Regionale Träger sichern ein hohes Maß an Versichertennähe und ten der CDU/CSU) können Besonderheiten in den Regionen berücksichti- Wir wollen keinen Zentralismus. Regionale Besonder- gen. Für mich als Schleswig-Holsteiner ist das ein ganz heiten müssen, so meinen wir, auch zukünftig Berück- entscheidender Punkt. Es kann doch wohl nicht sein, sichtigung finden. dass Betriebe mit einer ausgeprägten Vollerwerbs- struktur, wie sie gerade in Schleswig-Holstein existie- Die Koalitionsfraktionen SPD und Grüne favorisieren ren, durch einen Zusammenschluss mit ungleichen Part- eine Bundesversicherungsanstalt, die zentralistisch ist. nern unnötig belastet werden. Dazu haben sie einen entsprechenden Entschließungsan- trag vorgelegt. Dieser Vorschlag der Regierungsfraktio- (Beifall bei der F.D.P. sowie des Abg. (B) nen wird nicht einmal vom zuständigen Landwirt- Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]) (D) schaftsminister – soweit ich das richtig mitbekommen Fusionen, die derartige Beitragsverwerfungen zwangs- habe – unterstützt. Karl-Heinz Funke, den ich hier heute leider vermisse läufig nach sich ziehen würden (Zuruf des Abg. Wilhelm Schmidt [Salzgitter] (Birgit Homburger [F.D.P.]: Mal wieder!) [SPD]) – mal wieder –, hat gesagt: Mit mir ist das nicht zu ma- chen. – dazu sage ich gleich noch etwas –, sind nun wirklich nicht der geeignete Weg in Richtung einer wettbewerbs- Kollegin Homburger, vielleicht reist er gerade durch fähigen Landwirtschaft. das Land und erklärt, wie schädlich die Ökosteuer für Herr Kollege Schmidt, Sie haben gerade einen Zuruf die Landwirte sei und dass er sich dafür einsetzt, dass sie gemacht. Über Niedersachsen können wir uns gesondert abgeschafft wird. unterhalten. Dort gibt es bereits Bestrebungen, dies nicht (Birgit Homburger [F.D.P.]: Das kann er mit zentral zu machen, sondern verschiedene Einrichtungen uns machen!) dafür zu schaffen, was ich übrigens sehr begrüße. Das sage ich gerade als Haushälter; denn wir haben immer Das kennen wir ja, und hier redet er ganz anders. einen entsprechenden Druck ausgeübt. Wir begrüßen, dass Herr Funke sagt: Mit mir ist das Vorrangiges Ziel muss aus Sicht der F.D.P. eine wei- nicht zu machen. Schauen wir aber einmal, was Herr tere stärkere Reduzierung von Gebietskörperschaften Funke will. sein, sodass jedes vorgelegte Modell nach diesem Krite- (Beifall bei der F.D.P.) rium zu hinterfragen und abschließend zu beurteilen ist. In der Stellungnahme zu unserer Großen Anfrage hätte Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD und er sich allerdings klarer äußern müssen, Herr Staatsse- den Grünen – ich spreche vor allem die Kollegen aus kretär. Denn das, was darin steht, ist nur Lyrik und Norddeutschland an –, auf der Vorderseite Ihres Antrags nichts anderes. Er bringt nichts Konkretes. steht im unteren Teil: Ich will Ihnen nur einige Aspekte nennen, die gegen ... dass die Träger der landwirtschaftlichen Sozial- das zentralistische SPD- und Grünen-Modell sprechen. versicherung aus eigener Kraft nicht imstande sind, Eine Bundesanstalt bedarf bei ihrer Einrichtung hoher die ... Mängel der derzeitigen Strukturen zu behe- Anfangsinvestitionen. Das vom Bundesrechnungshof ben. 7860 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Januar 2000

Jürgen Koppelin (A) (C) Dies kann man so nicht stehen lassen. Gehen Sie doch setze mich dafür ein, dass die Ökosteuer abgeschafft einmal in meine Heimat, nach Kiel oder nach Hamburg wird oder dass es zumindest Verbesserungen gibt. und machen Sie sich einmal kundig! Dort können die Sozialversicherungsträger aus eigener Kraft ihren Auf- (Heinrich-Wilhelm Ronsöhr [CDU/CSU]: Das ist die Ein-Mann-Bewegung gegen die Öko- gaben nachkommen. In den süddeutschen Regionen ist steuer!) das ein Problem; aber darüber werden wir noch geson- dert reden müssen. Es zeugt also entweder von Ignoranz Ich könnte auch noch etwas zu der Diesel-Geschichte oder Unwissenheit, wenn Sie solche Aussagen in Ihr Pa- sagen. Das Problem des Kollegen Funke ist doch, dass pier aufnehmen. Ich fordere Sie auf, Ihr Augenmerk auf er bei all dem, was von der Koalition kommt, ganz still die eigenständigen LSV-Träger, wie es sie zum Beispiel ist, aber dies draußen im Lande kritisiert und meint, da- in Hamburg oder Schleswig-Holstein gibt, zu legen. mit Stimmen für die Koalition gewinnen zu können. Das Hier sind längst die notwendigen Reformen und Anpas- hat Methode. sungen vorgenommen worden. Meine Bitte ist: Versuchen Sie, aus Ihrer Isolation he- Als Affront gerade gegen Schleswig-Holstein und rauszukommen! Wenden Sie sich von Ihrem zentralis- Hamburg muss ich es werten, wenn Sie in Ihrem Antrag tischen Modell einer Bundesanstalt ab und schlagen Sie auch noch von der Ineffizienz dieser Sozial- den Weg der Vernunft ein! Dann wären wir alle ein versicherungsträger sprechen. Stück weiter und den Landwirten wäre geholfen. (Zuruf von der CDU/CSU: Ineffizient ist diese Ich bedanke mich. Bundesregierung!) (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- Die haben ihre Hausaufgaben gemacht; das muss man ten der CDU/CSU) anerkennen. Wenn aber alle Sozialversicherungsträger, die süddeutschen und die norddeutschen, zusammenge- legt würden, könnte es zu einer Ungleichheit kommen. Vizepräsidentin Anke Fuchs: Jetzt hat der Herr Die norddeutschen Landwirte müssten dann wahrschein- Parlamentarische Staatssekretär, Dr. Gerald Thalheim, lich höhere Beiträge zahlen. Ich denke, es ist wichtig, das Wort. dass wir die regionalen Belange berücksichtigen. Inso- fern ist es nicht in Ordnung, wenn Sie eine zentrale Stel- Dr. Gerald Thalheim, Parl. Staatssekretär beim le fordern. Bundesminister für Ernährung, Landwirtschaft und (Beifall bei der F.D.P.) Forsten: Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ver- ehrte Frau Präsidentin! Mit der Großen Anfrage proble- (B) Es sei noch einmal gesagt, dass es zweifellos eine matisiert die F.D.P. auf der einen Seite die Auswirkun- (D) Änderung der Struktur bei den landwirtschaftlichen gen des Steuerentlastungsgesetzes, des Sanierungs- Sozialversicherungsträgern geben muss, die neben der konzepts. Aber auf der anderen Seite werden die Struk- Kostenreduzierung und Effizienzsteigerung auch eine turen des Systems der landwirtschaftlichen Sozialversi- Stärkung des Bundeseinflusses beinhalten muss. Darin cherung zum Gegenstand der Nachfrage gemacht. Zuge- sind wir uns einig; denn wenn der Bund rund geben: Beides hat mit Geld zu tun. Wenn man aber zu 7,8 Milliarden zahlt – dies hat das Ministerium noch sachgerechten Entscheidungen kommen will, muss man einmal in seiner Antwort angeführt –, muss er natürlich beide Bereiche getrennt betrachten. auch mehr Einflussmöglichkeiten haben. Das streiten wir nicht ab. Herr Kollege Koppelin, ich stimme mit Ihnen über- ein, dass die Strukturreform der landwirtschaftlichen Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD und Sozialversicherung längst überfällig ist. Das ist keine den Grünen, abschließend appelliere ich an Ihre Ver- neue Erkenntnis. Insofern macht die F.D.P. mit der Gro- nunft: Nutzen Sie die heutige Debatte, um aus Ihrer Iso- ßen Anfrage die eigenen Versäumnisse der Vergangen- lation herauszukommen! heit zum Gegenstand der Nachfrage. (Lachen bei Abgeordneten der SPD) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Nicht nur wir und der Landwirtschaftsminister sind der DIE GRÜNEN – Zurufe von der F.D.P.: Na, Auffassung – – na!) (Dr. Uwe Küster [SPD]: Mit der Ansicht Richtig ist, Herr Kollege Koppelin, dass ein Missver- stehen Sie aber allein!) hältnis zwischen den Einflussmöglichkeiten des Bundes und der Tatsache, dass der Bund Geld zur Verfügung – Entschuldigen Sie, wir sind doch in bester Gesellschaft stellt, besteht. Richtig ist auch, dass wir nach wie vor ei- mit dem Kollegen Funke. Es ist aber ähnlich wie bei der nen enormen Strukturwandel haben und dass Verwal- Ökosteuer; das habe ich erwähnt: Wenn wir hier über tungsvereinfachungen natürlich möglich sind. die Belastung für die Landwirte durch die Ökosteuer diskutieren, sitzt der Herr Landwirtschaftsminister ganz still da oder formuliert einige nette Sätze und scherzt – Vizepräsidentin Anke Fuchs: Herr Staatssekretär, das kommt auch gut an –, aber draußen im Lande zieht gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen er von Bauernverband zu Bauernverband und sagt: Ich Koppelin? Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Januar 2000 7861

(A) (C) Dr. Gerald Thalheim, Parl. Staatssekretär beim Das heißt, selbst Sie haben sehr viel Zeit bis zum En- Bundesminister für Ernährung, Landwirtschaft und de der Legislaturperiode, aber Sie sprechen in Ihrer Forsten: Aber gerne. Antwort nur davon, dass Sie hoffen, das durchzube- kommen. Uns werfen Sie vor, dass wir das in eineinhalb Jahren nicht gepackt haben. Sie haben ja immer noch Vizepräsidentin Anke Fuchs: Bitte sehr. über zwei Jahre Zeit und sprechen trotzdem davon zu hoffen. Jürgen Koppelin (F.D.P.): Herr Staatssekretär, da Sie von unseren angeblichen Versäumnissen sprechen, Dr. Gerald Thalheim, Parl. Staatssekretär beim frage ich Sie: Haben Sie die letzten Haushaltsberatungen Bundesminister für Ernährung, Landwirtschaft und der alten Koalition in Erinnerung, als sowohl der Kol- Forsten: Herr Kollege Koppelin, wenn ich von Hoffnung lege Freiherr von Hammerstein als auch ich gesagt ha- spreche, dann aus dem einfachen Grunde, dass der Bund ben, dass es auf diesem Gebiet Veränderungen geben hier nicht allein entscheiden kann muss, und auch, dass wir die Initiative über den Haus- haltsausschuss ergriffen haben? Der Bericht des Rech- (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Gott sei nungshofes kommt ja nicht aus heiterem Himmel, son- Dank!) dern kommt aufgrund unserer Initiativen. Das ist ja die Grundlage dafür, dass wir überhaupt über dieses Thema und wir an diesem Punkt auf die Mitwirkung der Länder debattieren. Ich denke, Sie waren auch mit im Boot. Wir angewiesen sind. alle, die wir hier im Hause sind, haben das bei Haus- Ich wiederhole meine Antwort von vorhin, dass in der haltsberatungen immer gesagt. Das Beispiel war Nie- Vergangenheit diejenigen Länder, in denen die F.D.P. an dersachsen – dazu kam vorhin ein Zuruf –, weil es da zu der Regierung beteiligt war, sich nicht gerade als Vorrei- viele dieser Versicherungsträger gab und die Kosten zu ter geriert haben. hoch waren. Wir haben das Problem also angepackt. Oder würden Sie bestreiten, dass wir es – gerade in der (Jürgen Koppelin [F.D.P.]: Rheinland-Pfalz letzten Legislaturperiode – gemeinsam diskutiert haben? war doch immer gut!)

Dr. Gerald Thalheim, Parl. Staatssekretär beim Vizepräsidentin Anke Fuchs: Nun, liebe Kollegin- Bundesminister für Ernährung, Landwirtschaft und nen und Kollegen, wollen wir den Redner fortfahren las- Forsten: Herr Kollege Koppelin, es ist richtig, dass wir sen. Ich lasse keine Zwischenfragen mehr zu. Herr das Ganze diskutiert haben. Aber nach den eineinhalb Staatssekretär hat das Wort. (B) Jahren, die die neue Regierung im Amt ist, messen Sie (D) uns ganz bewusst an dem, was wir erreicht haben, und nicht an dem, was wir fordern. Insofern ist es folgerich- Dr. Gerald Thalheim, Parl. Staatssekretär beim tig, auch Sie daran, was Sie in den Jahren Ihrer Regie- Bundesminister für Ernährung, Landwirtschaft und rungsbeteiligung erreicht haben, zu messen, nicht aber Forsten: Meine Damen und Herren, ich möchte an dieser daran, was Sie in den letzten Jahren im Haushaltsaus- Stelle auf den Kern kommen, ob wir die Frage nach der schuss gefordert haben. Existenz einer eigenständigen landwirtschaftlichen Ver- sicherung mit der Frage nach den Strukturen verbinden Es waren am Ende gerade die Landesregierungen, an können. Die Antwort hierauf ist ein klares Nein. Die denen die F.D.P. in der jeweiligen Koalition beteiligt Bundesregierung bekennt sich nach wie vor zu einer ei- war, die hier Strukturreformen verhindert haben. Herr genständigen landwirtschaftlichen Sozialversicherung. Kollege Koppelin, das ist einfach die Beschreibung der Wahrheit. Es ist aber auch richtig: Das System ist nicht allein von einer immer geringeren Zahl von in der Landwirt- schaft Tätigen zu finanzieren. Trotz der Rückführung Vizepräsidentin Anke Fuchs: Nun möchte Herr der Bundeszuschüsse bleibt die finanzielle Unterstüt- Kollege Koppelin noch eine Frage stellen. zung des Bundes erheblich. Dazu gibt es keine Alterna- tive. Dr. Gerald Thalheim, Parl. Staatssekretär beim (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Doch, Bundesminister für Ernährung, Landwirtschaft und doch!) Forsten: Aber gerne. Es sind immerhin noch 7,3 Milliarden DM, die in die- sem Jahr dafür zur Verfügung gestellt werden. Eine Ab- Vizepräsidentin Anke Fuchs: Bitte sehr. schaffung des Sondersystems kommt also nicht in Be- tracht. Wir sind nach wie vor auf die Solidarität der Steuerzahler an dieser Stelle angewiesen. Jürgen Koppelin (F.D.P.): Herr Staatssekretär, wie schwer das Geschäft ist, das wir betreiben, nämlich Poli- Dieses eigenständige System der landwirtschaftli- tik zu machen, etwas umzusetzen, sieht man doch auch chen Sozialversicherung ist kein Privileg für die Land- an Ihrer Antwort, wenn Sie sagen, Sie würden hoffen, wirtschaft. Der Strukturwandel – Herr Koppelin, an die- dass in dieser Legislaturperiode eine Reform stattfinden sem Punkt stimmen wir sicher überein – wird auch in kann. anderen Bereichen der Wirtschaft flankiert, am Ende 7862 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Januar 2000

Parl. Staatssekretär Dr. Gerald Thalheim (A) (C) durch öffentliche Gelder, konkret durch Steu- (Albert Deß [CDU/CSU]: Mit Zustimmung erzahlungen. der SPD!) Allerdings: Angesichts der Haushaltssituation des Die ehemalige Opposition hatte darüber hinaus sogar Bundes und der überfälligen Strukturreform muss man die Fortführung des FELEG oder einer entsprechenden schon die Frage stellen, wie die Strukturen in der Zu- Vorruhestandsregelung gefordert, was durchaus zu un- kunft aussehen können. Hier gibt es den entscheidenden terstützen war. Heute hört man davon nichts mehr, ob- Dissens. Wir sind nach wie vor der Meinung, dass wir wohl die EU entsprechende Ansätze bieten würde und an einem zentralen System festhalten sollten, solange die Sozialpolitik der einzige Bereich ist, der nicht von wir nicht davon überzeugt sind, dass andere Strukturen, der EU reglementiert wird. Auch die Agrarsozialpolitik zum Beispiel ein System mit mehreren Trägern, wie Sie ist neben den Maßnahmen zur Abfederung der Struktur- es vorgeschlagen haben, besser sind. Im Dialog mit den veränderungen ein hervorragendes Instrument, um ein – Ländern soll um die beste Lösung gerungen werden. so die entsprechenden Landwirtschaftsgesetze – ange- Selbstverständlich wissen wir, dass wir das im Konsens messenes Einkommen für die Landwirte gegenüber ver- erreichen müssen. Aber wie gesagt: Nach wie vor steht gleichbaren Berufs- und Erwerbsgruppen zu erreichen. die Frage im Mittelpunkt, auf welche Lösung wir uns am besten einigen können. Ich möchte deshalb von die- Die rot-grüne Bundesregierung greift nun durch Kürzungen massiv in die agrarsoziale Sicherheit ein. ser Stelle aus den Appell an die Länder richten, kon- Kleine und mittlere Betriebe werden durch die Kürzung struktiv mit dem Bund zusammenzuarbeiten, damit wir die Strukturen effizienter machen können. Effizientere von Beitragszuschüssen und durch den Griff in die Krankenkassen der Bauern überproportional belastet. Strukturen in diesem Bereich sind auch ein entscheiden- der Beitrag, um das System zukunftsfest zu machen. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Auch die Bäuerinnenrente, die mit Ihrer Zustimmung DIE GRÜNEN) eingeführt worden ist, ist in Gefahr. Die rot-grüne Bun- desregierung missbraucht die landwirtschaftlichen Sozi- Ich denke, über diesen Punkt besteht wieder Einigkeit. Uns allen fällt die Aufgabe zu, auf die Landesregierun- alversicherungen zur Sanierung des von ihr verschulde- ten Bundeshaushaltes. gen einzuwirken, um entsprechende Lösungen zu erzie- len. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Der Bundesregierung wird im Einvernehmen mit den Widerspruch bei der SPD – Dr. Uwe Küster [SPD]: Sie sollten etwas enger bei der Wahr- Koalitionsfraktionen die Aufgabe zufallen, die öffentli- heit bleiben!) chen Gelder – ich formuliere es einmal so – auf den (B) Kernbereich der landwirtschaftlichen Betriebe zu kon- Das ist wohl das traurigste Kapitel dieser rot-grünen Re- (D) zentrieren. Wenn das gelänge, dann wäre das ein wichti- gierung. Rot-Grün hat sich von der Landwirtschaft ab- ger Beitrag, um dieses System – ich möchte das Wort gesetzt. Die Landwirtschaft stellt für diese Regierung noch einmal gebrauchen – zukunftsfest zu machen. einen Steinbruch dar, den man nach Bedarf ausplündern darf. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Ausplündern DIE GRÜNEN) und ausbeuten! – Dr. Uwe Küster [SPD]: Sie haben einen totalen Erinnerungsverlust!) Vizepräsidentin Anke Fuchs: Nun hat das Wort Eine Politik für die deutsche Landwirtschaft findet der Kollege Siegfried Hornung, CDU/CSU-Fraktion. nicht mehr statt. Agenda 2000, Steuergesetze – teilweise mit „öko“ verbrämt – und besonders die rot-grüne Ag- Siegfried Hornung (CDU/CSU): Frau Präsidentin! rarsozialpolitik belasten die Landwirtschaft bis zum Un- Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Die Antwort erträglichen. Gehen Sie nach draußen! Dann spüren Sie der Bundesregierung auf die Große Anfrage ist – wenn dies wie wir! man es genau betrachtet – vage und enthält zentralisti- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) sche Töne. In Wirklichkeit bezieht sich die Antwort mehr auf einen Nebenschauplatz. Mit ihr soll von den Die Regierung selbst nennt in ihrer Antwort die Steu- tatsächlichen Problemen abgelenkt werden. erreform eine Nettobelastung für die Landwirtschaft. So werden heute Bauern mit anderen Mitteln von ihren Hö- Die Agrar- und Sozialpolitik der CDU/CSU war fen vertrieben. und ist für die Landwirtschaft zuverlässig. Mit ihr be- kennt sich die CDU/CSU nachdrücklich zu ihrer Ver- (Widerspruch bei der SPD – Jürgen Koppelin antwortung für die Menschen im ländlichen Raum. Die [F.D.P.]: So ist das!) Agrarsozialreform 1995 hat unseren Landwirten ein Stück soziale Zukunft und unseren Bäuerinnen erstmals Die Schröder-Regierung kürzt bereits im Jahr 2000 eine eigenständige soziale Absicherung gegeben, um bei der Alterssicherung der Landwirte – ohne Wider- damit einerseits den Strukturwandel zu meistern und an- spruch des Bundeslandwirtschaftsministers – um dererseits die Einkommen in der Landwirtschaft zu stär- 292 Millionen DM. In den folgenden Jahren, bis zum ken. Jahr 2003, werden die Kürzungen auf 360 Millio- Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Januar 2000 7863

Siegfried Hornung (A) (C) nen DM jährlich ansteigen. Das heißt, mindestens zwei und vor dem Beschluss des Rechnungsprüfungsaus- Drittel der heutigen Mittel werden gestrichen. schusses entsprechende Verträge über einheitliche künf- tige Entwicklungen und Anwendungen der Datenverar- Die bereits vorhin vorgetragene Aussage, dass etwa beitung abgeschlossen. Auch die Anzahl der bisher 20 80 Prozent des Agrarhaushaltes der Agrarsozialpolitik LSV-Träger soll – so die beschlossene Zielvorstellung – zuzuordnen sind, stimmt zwar; sie ist aber nicht der auf sieben bis acht reduziert werden, wobei die eigen- Landwirtschaft anzulasten. Vielmehr handelt es sich um ständige Versicherung des Gartenbaus erhalten bleiben eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, da immer mehr soll. Bauern in andere Sozialsysteme einzahlen. Dafür dürfen die Bauern nicht bestraft werden. Inzwischen gibt es eine ganze Reihe von Verhand- lungen zwischen den LSV-Trägern betreffs Fusionen. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Nach § 118 SGB VII ist dies in Hessen bereits vollzo- Im Gegenteil, trotz der im Haushalt genannten Mittel gen. In Bayern wurden entsprechende Verträge – die sind die bäuerlichen Familien nach wie vor in der ge- Anzahl der LSV-Träger wurde von fünf auf zwei verrin- setzlichen Alterssicherung nur teilweise – bei der Un- gert – abgeschlossen. In Baden-Württemberg wurde das fallversicherung nur im unteren Bereich – abgesichert. Notwendige in dieser Woche von beiden Vorständen be- Das gilt auch – Sie wissen das – für die 1995 im Kon- schlossen, sodass zum 1. Januar 2001 eine einzige lan- sens eingeführte Bäuerinnenrente. desweite LSV besteht. Das Wort „sozial“ muss nach diesen beschlossenen Eine Bundeszentrale ist somit überholt und hätte Kürzungen den Koalitionskollegen, liebe Frau Deich- nach den vorliegenden Gutachten keine bessere Effi- mann, und der Bundesregierung geradezu im Hals ste- zienz. Im Gegenteil, eine große Zahl von SPD-regierten cken bleiben oder die Schamröte ins Gesicht treiben. Ländern stimmt einer Zentralisierung nicht zu, was auch auf der Bund-Länder-Besprechung in dieser Woche, am (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – 25. Januar, bestätigt wurde. Gegen eine Zentralisierung Jürgen Koppelin [F.D.P.]: Die haben ja keine hat sich auch der Bundeslandwirtschaftsminister ausge- Schamröte! – Dr. Uwe Küster [SPD]: Diese sprochen. In „Agra-Europe“ vom 4. Oktober sagte er – maßlosen Übertreibungen!) ich zitiere –: „Mit mir ist das nicht zu machen.“ Ich kann Für die Alterssicherung der Landwirte bedeutete das, ihn nur unterstützen. dass der Beitrag der Versicherten mit Höchstzuschuss Zahlreiche Entschließungen und Argumente belegen, ursprünglich um 160 Prozent erhöht werden sollte. dass mit dem eingeschlagenen Weg der Selbstverwal- Durch politischen Druck von verschiedenen Gruppen tung den veränderten Bedingungen in der Landwirt- und von uns wurde diese Erhöhung auf „nur“ (B) schaft am ehesten und besten entsprochen wird. Ich (D) 110 Prozent festgelegt. Für ein Ehepaar bedeutet die verweise auf das Positionspapier der LSV-Träger. Beitragserhöhung eine Kostensteigerung von 1 728 DM. 90 000 Bauern und Bäuerinnen erhalten keinen Zu- Der verstärkte Einfluss des Bundes wird von den schuss mehr. Ländern durchaus gesehen, sodass Gesprächsbereit- schaft besteht, über den § 80 ALG hinaus sachgerechte In der Unfallversicherung wird der bisherige Zu- Lösungen zu finden. schuss zur Abmilderung der Rentenbeiträge der aktiven landwirtschaftlichen Betriebe – schlimmerweise von uns Besonderen Wert lege ich als Landwirt darauf, dass allen als „alte Last“ bezeichnet; manchmal sind wir so es der vorgesehene Rahmenvertrag der LSV-Träger mit schnodderig – um 115 Millionen DM gekürzt. Darüber Dritten auch künftig ermöglicht, dass bei den Landes- hinaus nimmt die Bundesregierung aus der landwirt- bauernverbänden vor Ort eine praxisnahe und be- schaftlichen Krankenkasse – sprich: von Beiträgen der troffenengerechte Beratung durch die Beratungsstellen Bauern – ungeniert zusätzliche 250 Millionen DM. durchgeführt wird. (Heinrich-Wilhelm Ronsöhr [CDU/CSU]: Recht herzlichen Dank. Raubzug! – Jürgen Koppelin [F.D.P.]: Hört! (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Hört!)

Durch die strukturellen Veränderungen in der Land- Vizepräsidentin Anke Fuchs: Jetzt hat das Wort wirtschaft und durch die Verringerung der Zahl der Be- die Kollegin Steffi Lemke, Bündnis 90/Die Grünen. triebe stellt sich selbstverständlich auch die Frage nach der Struktur der landwirtschaftlichen Versicherungs- träger. Diese Situation hat sich angesichts dieser soeben Steffi Lemke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sehr genannten tief greifenden Einschnitte in die soziale Si- geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kolle- cherung der Landwirtschaft erheblich verschärft. Jedoch gen! Die Große Anfrage der F.D.P. greift die Situation – das ist wohl nicht mehr im Bewusstsein aller – sind der landwirtschaftlichen Sozialversicherung auf. Ich bereits seit einigen Jahren innerhalb des bäuerlichen Be- denke, wir alle hier im Hause wissen, dass das Verhält- rufsstandes und der Sozialversicherungsträger konkrete nis von Leistungsempfängern und Beitragszahlern ins- Schritte diskutiert und eingeleitet worden. besondere in der landwirtschaftlichen Alterssicherung in den vergangenen Jahren immer ungünstiger geworden Durch ein neutrales Gutachten haben die Bundesver- ist und dass sich dieser Prozess noch fortsetzen wird. bände schon vor dem Bericht des Bundesrechnungshofs Wenn man sich nur einmal die mittlere Prognose in dem 7864 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Januar 2000

Steffi Lemke (A) (C) 1997 erstmals vorgelegten Lagebericht über die Alters- Man kann unterschiedlicher Auffassung darüber sein, sicherung der Landwirte anschaut, dann stellt man fest, ob tatsächlich Einsparungen in Höhe von – wie vom dass selbst bei der mittleren Variante für den Zeitraum Bundesrechnungshof prognostiziert – 100 Millionen DM von 1996 bis 2007 von einem Rückgang der Versicher- zu erbringen sind. Aber niemand in diesem Hause zieht ten um 37 Prozent auszugehen ist. Das hat natürlich gra- wohl ernsthaft in Zweifel, dass eine durchgreifende Or- vierende Auswirkungen auf die Finanzierungsstruktur ganisationsreform unausweichlich ist. der landwirtschaftlichen Sozialversicherung. Der Bund sieht sich deshalb in der Pflicht, hierfür weiterhin sehr (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN hohe Zuschüsse zu leisten. und bei der SPD) Wir bekennen uns ausdrücklich zur Eigenständigkeit Im Koalitionsvertrag haben Bündnis 90/Die Grünen des agrarsozialen Sicherungssystems; dies wird in keiner und SPD die Neugestaltung der Organisation der agrar- Weise in Frage gestellt. Klar ist auch, dass die Alterssi- sozialen Sicherung vereinbart. Zur Vorbereitung eines cherung der Landwirte weiterhin vorrangig durch Bun- entsprechenden Gesetzentwurfs werden momentan in- deszuschüsse finanziert werden muss; denn dazu gibt es tensive Gespräche mit den Sozialversicherungsträgern keine Alternative. und den Gewerkschaften, aber auch mit den Bundeslän- dern geführt. Basis dieser Beratungen sind verschiedene Ich will auch nicht bestreiten, dass durch die 1995 Organisationsmodelle, die von den zuständigen Bundes- vollzogene Agrarreform etliche Defizite in der landwirt- ressorts entwickelt wurden. Die Diskussion über das schaftlichen Sozialversicherung beseitigt worden sind. dann tatsächlich in einem Gesetzentwurf darzulegende Sowohl die Einführung der Defizitdeckung als auch die Modell ist noch nicht abgeschlossen. gezieltere Verwendung der Bundesmittel für Landwirte mit niedrigen und sehr niedrigen Einkommen haben zur Es ist nach Ansicht meiner Fraktion nicht ausrei- Stabilisierung der Systeme beigetragen. Die Schaffung chend, wenn, wie gelegentlich und heute wieder von der der eigenständigen Bäuerinnenrente und die Bindung CDU/CSU vorgeschlagen, nur einige der derzeitigen der Beitrags- und Leistungsentwicklung an die gesetzli- Träger fusionieren, im Übrigen aber alles beim Alten che Rentenversicherung waren zwei wesentliche Ver- bleibt. Die Hauptziele einer Organisationsreform sind besserungen in den sozialen Leistungen für Landwirte. nach Ansicht meiner Fraktion erstens die Stärkung des Bundeseinflusses, zweitens die Verringerung der jeweils (Beifall der Abg. Marita Sehn [F.D.P.]) 20 Versicherungsträger, drittens das Schaffen der Vor- Aber ein damals bereits bekanntes Problem, nämlich aussetzungen für eine sparsame Haushalts- und Wirt- Mängel in der Organisationsstruktur, wurde nicht ange- schaftsführung und viertens der Abbau ungerecht- gangen. Die Reform von 1995 war eine reine Sachre- fertigter Unterschiede in der Rechtsanwendung. Dabei (B) form. Erst mit dem Bericht des Bundesrechnungshofs muss aus unserer Sicht die Orientierung an den Interes- (D) zur Neugestaltung der Organisationsstruktur in der sen der Versicherten gewahrt und müssen auch die Inte- landwirtschaftlichen Sozialversicherung kam Leben in ressen der Beschäftigten berücksichtigt werden. Deshalb die Debatte, führen wir momentan sehr intensive Gespräche. (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Längst vor- Was heute seitens der CDU/CSU vorgetragen wurde, her!) wird aus meiner Sicht absolut nicht ausreichend sein. Sie sollten die Diskussion, die in den vergangenen Jahren obwohl die Probleme schon länger bekannt waren. über eine solche Organisationsstrukturreform stattge- Wenn die CDU/CSU meint, dass der Vorschlag des funden hat, eigentlich besser in Erinnerung haben. End- Bundesrechnungshofs entsprechend der altbekannten effekt war bisher in der Regel, dass die Bemühungen im Zentralismuskritik der CDU/CSU zu kritisieren ist, dann Sande verlaufen sind und wir nach wie vor eine ineffi- müsste sie das einmal mit dem Bundesrechnungshof ziente Struktur vorfinden. Sie können das kritisieren. ausdiskutieren. Aber die Vorschläge, die bisher auf dem Tisch liegen, (Heinrich-Wilhelm Ronsöhr [CDU/CSU]: Und sind nach unserer Ansicht nicht ausreichend. Sie mit dem Landwirtschaftsminister! Er hat sich nämlich eindeutig gegen zentralistische (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Lösungen ausgesprochen!) sowie bei Abgeordneten der SPD) Meiner Ansicht nach sind dort sehr wohl diskussi- Wir drängen deshalb darauf, dass die Länder mit zur onswürdige Vorschläge unterbreitet worden. Wir wollen Verantwortung gezogen werden, sich der Diskussion eine Diskussion darüber führen. Ich denke, dass sich die nicht verweigern und bereit sind, mit uns über weitge- CDU/CSU der Diskussion in den Ausschussberatungen hendere Vorschläge als die, die bisher seitens der Länder nicht verweigern wird. gemacht worden sind, zu diskutieren. Der Bund steht aufgrund des Prinzips der Defizitdeckung in der Ver- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN antwortung. Er trägt bereits heute mit 57 Prozent der und bei der SPD) Gesamtkosten der agrarsozialen Sicherung den größten Bei jährlichen Verwaltungskosten in Höhe von 600 Anteil an der Finanzierung dieser Systeme. Ich denke, Millionen DM – diese Zahl sollten Sie sich noch einmal dass daraus die sehr wohl zu rechtfertigende Haltung auf der Zunge zergehen lassen – ist die Forderung nach abzuleiten ist, dass der Bund nicht nur als Zahlmeister in Ausschöpfung sämtlicher Einsparungspotenziale ja wohl der Pflicht steht, sondern auch selber Verantwortung bei berechtigt. der sparsamen Mittelverwendung übernehmen kann. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Januar 2000 7865

Steffi Lemke (A) (C) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Kürzungen vornehmen. Ähnlich ist die Situation bei der und bei der SPD) Krankenversicherung. Die Reform der landwirtschaftlichen Sozialversiche- Minister Funke hat auf der Grünen Woche erneut da- rung ist kein Selbstzweck. Wir wollen das eigenständige von gesprochen, dass Hofaufgaben in Höhe von jähr- System aufrechterhalten, weil nur so den Besonderheiten lich 4 Prozent eine „ganz normale Sache“ seien. Nun in der Landwirtschaft Rechnung getragen werden kann. lässt sich ja darüber streiten, was eine ganz normale Sa- Aber eine nur halbherzige Reform wird unweigerlich ei- che ist. Für die Bundesregierung ist die „ganz normale ne Gefährdung des eigenständigen Systems nach sich Sache“ jedenfalls nicht Anlass, eine soziale Absicherung ziehen. zu garantieren, sondern Objekt der Begierde des Sparfe- tischismus. (Christel Deichmann [SPD]: Ganz genau!) Dass die Kürzungen im Haushalt 2000 keine Aus- Die für mich zentrale Frage lautet deshalb: Wie errei- nahme darstellen werden, ergibt sich zum Beispiel aus chen wir auch zukünftig eine größtmögliche soziale Ab- der Antwort der Bundesregierung, in der sie die Konso- sicherung für die Betroffenen bei geringstmöglichem lidierung des Bundeshaushaltes für unausweichlich er- Aufwand an Bürokratie und kalkulierbarer Kostenent- klärt. wicklung? Diese Frage wird für meine Fraktion die Richtschnur für die weiteren Gespräche sein. (Christel Deichmann [SPD]: Ja, und?) Was uns in dem Entschließungsantrag der PDS Bei dieser Konsolidierung setzt sie jedoch nicht auf Fes- vorgeschlagen wird, ist für mich im Hinblick auf die tigung im Sinne des Wortes, sondern auf Kürzungen des Debatte wenig hilfreich. Angesichts dessen, dass Sie die Gesamthaushaltes. Bundesregierung auffordern, ihren Standpunkt zu korri- Mit den hochtrabend als „Zukunftsprogramm 2000“ gieren, was die Agenda 2000 sowie die Steuer- und Haushaltspolitik anbetrifft, möchte ich Sie darauf hin- bezeichneten Maßnahmen gehen die Einkommen der landwirtschaftlichen Haupterwerbsbetriebe selbst nach weisen, dass wir uns im Jahre 10 nach der deutschen Auskunft der Regierung um rund 6 Prozent zurück. Un- Einheit befinden und ich mich mit Aufforderungen wie solchen, irgendwelche Standpunkte zu korrigieren, in ter diesen Bedingungen ist die Feststellung in der Regie- rungsantwort „Eine dramatische Beschleunigung des die Vergangenheit zurückversetzt fühle. Strukturwandels erwartet die Bundesregierung nicht“ Ich möchte Sie außerdem fragen, ob Sie wissen, was entweder Wunschdenken oder Ignoranz gegenüber der Ihre Partei momentan in Sachsen-Anhalt tut, wo mit Un- Wirklichkeit. terstützung der PDS massive Einschnitte in die Kinder- Der Strukturwandel wird nicht nur an den Hofaufga- (B) betreuung vorgenommen werden und wo seitens der (D) PDS ein Volksbegehren ignoriert worden ist. Ich denke, ben deutlich. Er spiegelt sich auch in den sinkenden Einkommen der Bauern und der zunehmenden Unge- dass die PDS aufhören sollte, sich zum Rächer der Ent- wissheit über ihre Zukunft wider. Wenn trotz der hohen erbten aufzuspielen und sich vernünftigen Diskussionen über die Zukunft der sozialen Sicherungssysteme nicht Arbeitslosigkeit 70 Prozent der Familienbetriebe keinen Hofnachfolger haben, dann ist doch etwas faul im Staate länger verweigern sollte. und auch in der Politik. Die neuesten Zahlen zeigen, (Widerspruch bei der PDS) dass 53 Prozent der Betriebe ihr Eigenkapital aufzehren und nur ein Drittel der Betriebe in ausreichendem Maße Sie werden sich aus dieser Diskussion weder auf Bun- Eigenkapital bilden kann. des- noch auf Landesebene heraushalten können. Mit ei- nem solchen Antrag, wie Sie ihn heute vorgelegt haben, Unsere Alternativen zur Korrektur dieser Politik ha- beteiligen Sie sich an dieser Diskussion in keiner Weise. ben wir unter anderem in unserem Entschließungsantrag dargelegt. Ich möchte Ihnen jedoch abschließend an ei- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN nem weiteren Beispiel die Konsequenzen der Sparpolitik und bei der SPD) der Regierung demonstrieren; Kollege Hornung brachte vorhin schon ein Beispiel. Vizepräsidentin Anke Fuchs: Jetzt hat das Wort In dieser Woche hat uns ein Bauer aus Niedersach- die Kollegin Kersten Naumann, PDS-Fraktion. sen seinen Beitragsbescheid von der landwirtschaftli- chen Alterskasse zugeschickt. Im Ergebnis der Erhö- hung des Regelsatzes und der Absenkung der Einkom- Kersten Naumann (PDS): Frau Präsidentin! Meine mensobergrenze für den Zuschuss erhöht sich der mo- Damen und Herren! Um fast 500 Millionen DM hat die natliche Beitrag für die Familie um 200 DM bzw. um Bundesregierung im Haushalt 2000 die Mittel für die landwirtschaftliche Sozialpolitik gekürzt. Weitere Ein- 62,5 Prozent. Damit beträgt die zusätzliche Belastung für diese Familie 2 400 DM im Jahr. Das sind für eine schnitte sind geplant. Noch im Finanzplan 1999 ging die bäuerliche Familie wahrlich keine Peanuts. Bundesregierung von einem wachsenden Finanzbedarf zum Beispiel für die Alterssicherung der Landwirte aus, Die eine Seite der Medaille ist also, die soziale Abfe- wobei man für das Jahr 2002 von 4,7 Milliarden DM derung des Agrarstrukturwandels zu garantieren. Die ausgegangen ist. Im Finanzplan 2000 sieht die Bundes- zweite Seite gilt der Umstrukturierung der landwirt- regierung jedoch einen Wert vor, der um 524 Millionen schaftlichen Sozialversicherungsträger. Sie muss auf die DM darunter liegt. Bis zum Jahre 2002 will sie weitere weitestgehende Erhaltung der Arbeitsplätze sowie auf 7866 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Januar 2000

Kersten Naumann (A) (C) die bestehenden Arbeits- und insbesondere Tarifbedin- Berufsgenossenschaften gefordert. Ich sage das nur zur gungen für die Beschäftigten gerichtet sein. Bei einem Erinnerung; aber Sie wissen das sicherlich selbst. 1997 unvermeidlichen Abbau von Arbeitsplätzen sind durch habe ich in Braunschweig gesagt: Sozialpläne die Interessen der Ausscheidenden zu be- Der Strukturwandel und der Rückgang der Versi- rücksichtigen. Die soziale Grundsicherung ist für die chertenzahlen gehen weiter – der Handlungsdruck PDS dabei Mindestmaßstab. Außerdem sind die Initiati- ven der Gewerkschaften und Betriebsräte zur aktiven in Richtung Organisationsreform steigt unaufhör- lich, und wenn das System nicht überstrapaziert Mitgestaltung an der Umstrukturierung der landwirt- und damit gefährdet werden soll ..., Handeln Sie schaftlichen Sozialversicherungsträger maximal zu nut- zen. selbst, bevor die Politik handelt! (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Liebe Kolleginnen und Kollegen der Koalition, Ihre Bitten – ich sage bewusst Bitten; Sie haben keine Forde- Dabei muss darauf geachtet werden, dass das be- rungen aufgestellt – an die Bundesregierung sind uns währte Konzept der landwirtschaftlichen Sozialver- einfach zu biegsam. Das geht frei nach dem Motto: Eine sicherung („Alles aus einer Hand!“) in der Fläche weiche Formulierung lässt mehr Freiräume zur Nichter- erhalten bleibt. Wo bisherige Parallelarbeit über- füllung. flüssig wird, kann und muss zum Teil die Betreu- ung der Versicherten ausgebaut werden, anderen- (Christel Deichmann [SPD]: Das ist eine Un- falls müssen in jedem Fall sozialverträgliche Lö- terstellung!) sungen gefunden werden. Aus diesem Grund wird die PDS-Fraktion dem An- trag der Koalition nicht zustimmen. Ich denke, das gilt heute noch genauso wie 1997. (Beifall bei der PDS – Zuruf von der SPD: Allerdings ist mit großem Bedauern festzustellen: Die Schade eigentlich! Wirklich schade!) Systeme, der Berufsstand selber haben nicht gehandelt. Das, was wir gegenwärtig erleben, ist auch erst das Er- gebnis der Diskussionen, die wir im letzten Jahr voran- Vizepräsidentin Anke Fuchs: Nun erteile ich der getrieben haben. Kollegin Christel Deichmann, SPD-Fraktion, das Wort. (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Das ist doch nicht wahr!) Christel Deichmann (SPD): Frau Präsidentin! Mei- ne sehr verehrten Damen und Herren! Herr Koppelin, – Herr Hornung, Sie wissen das genauso gut wie ich. Das ist alles wahr. Das ist leider – so muss ich sagen – ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass wir (B) (D) hier ein bisschen Wahlkampfgetümmel aus Schleswig- bittere Wahrheit. Holstein haben. (Heinrich-Wilhelm Ronsöhr [CDU/CSU]: Aber die Wahrheit bei Ihnen ist viel grausa- (Beifall bei der SPD) mer! Die Wahrheit über die rot-grüne Agrar- Wir hatten das vor vier Jahren fast punktgenau auch vor politik ist viel bitterer!) den Landtagswahlen in Schleswig-Holstein. Damals wa- – Nein, nein! ren Sie Experte in Sachen Milch. Jetzt sind Sie Experte in Sachen Bäuerinnenrenten. Das ist sehr bemerkens- Fakt ist: Wir müssen zu signifikanten Veränderungen wert. bezüglich der Organisation kommen, damit wir auch in (Heiterkeit bei der SPD) der Zukunft das gewährleisten können, was unabdingbar erforderlich ist, nämlich die Eigenständigkeit des Sys- Ich bin inzwischen ebenfalls in Schleswig-Holstein gewesen – das sage ich auch in Richtung der tems. Agrarsozialpolitik ist auch Agrarstrukturpolitik. Die Veränderungen, die vor uns stehen – das haben alle CDU/CSU – und habe mit Bauernverbandskreisvorsit- in ihren Beiträgen bestätigt –, müssen entsprechend be- zenden gesprochen. Sie haben mir gesagt: Machen Sie weiter, Sie sind auf dem richtigen Weg. gleitet werden. Sicherlich ist der schwierigste Part hierbei die Dis- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ kussion mit den Ländern. Die Länder haben aber auf DIE GRÜNEN) der Agrarministerkonferenz im September letzten Jahres Das waren weiß Gott keine rot-grünen Koalitionäre. in Freiburg – das ist in einer Protokollnotiz des Landes Sachsen enthalten – gesagt, der Bund solle neben fünf (Heinrich-Wilhelm Ronsöhr [CDU/CSU]: vorgelegten Lösungsmodellen weitere Optionen für die Sind Sie bereit, uns die Namen zu nennen? Neugestaltung der LSV prüfen. Die Länder verschließen Das würde mich mal interessieren! – Lachen sich also auch nicht der Diskussion, sondern sagen: Hier bei der SPD) muss unbedingt etwas passieren mit den Zielen best- – Darüber können wir uns noch unterhalten. mögliche Entlastung der Beitragszahler, Schaffung von schlanken Verwaltungsstrukturen, Kostendämpfung, 1997 war der Bauerntag in Braunschweig. An dem einheitlichere Satzungen und Beitragssätze – das wollen haben Sie leider nicht teilgenommen; Herr Hammerstein sogar die Länder –, gleichmäßigere Lastenverteilung, ist da gewesen. Er widmet sich jetzt nicht mehr diesem Ausgleich von Strukturveränderungen durch größeren Thema, hat aber zwischenzeitlich die Abschaffung der Finanzverbund. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Januar 2000 7867

Christel Deichmann (A) (C) Ich fordere Sie auf: Helfen Sie mit, hier eine Zu- (Beifall bei der CDU/CSU) kunftslösung zu finden! Wir sollten nicht suchen, was alles nicht geht, sondern sollten uns dort verständigen, Das Gegenteil ist der Fall: Wo die Bundesregierung wo Gemeinsamkeiten sind, und von diesem Punkt aus die Verantwortung trägt, nämlich in der Agrarsozialpoli- die Lösung erarbeiten. Dies muss kurzfristig, noch in tik, findet eine Kahlschlagspolitik statt. In diesem Be- dieser Legislaturperiode geschehen, damit bei den näch- reich werden die Bäuerinnen und Bauern belastet. Die- sten Sozialwahlen im Jahre 2005 wirklich mit dem Neu- ser Punkt muss hier deutlich angesprochen werden. einstieg begonnen werden kann. (Heinrich-Wilhelm Ronsöhr [CDU/CSU]: Das Vielen Dank. ist der eigentliche Skandal! – Gegenruf des Abg. Dr. Uwe Küster [SPD]: Sie sind der (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Skandal! Der Kofferträger von Kohl!) DIE GRÜNEN) Rot-grüne Agrarpolitik belastet unsere Bäuerinnen und Bauern und den bäuerlichen Berufsstand insgesamt Vizepräsidentin Anke Fuchs: Jetzt hat der Kollege Albert Deß, CDU/CSU-Fraktion, das Wort. in einem unerträglichen Ausmaß. Diese Politik wird da- zu führen, dass der Strukturwandel in der Landwirt- schaft so beschleunigt wird, wie wir es uns heute wahr- Albert Deß (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Liebe scheinlich noch gar nicht vorstellen können. Kolleginnen und Kollegen! Wenn wir heute über die Re- form der landwirtschaftlichen Sozialversicherungsträger Ich habe die entsprechenden Zahlen herausgesucht. In den 16 Jahren der Regierungsverantwortung von diskutieren, so ist das keine neue Diskussion. Ich bin CDU/CSU und F.D.P. betrug der Strukturwandel im jetzt seit fast zehn Jahren im Deutschen Bundestag, und wir haben über dieses Thema schon sehr oft diskutiert. Durchschnitt 2,41 Prozent pro Jahr. An dieser Zahl wird sich die neue Bundesregierung messen lassen müssen. Es gibt verschiedene Alternativen. Der Bundesrech- Ich gehe davon aus, dass wir in absehbarer Zeit Zahlen nungshof schlägt immer wieder vor, dass innerhalb eines erreichen, die einen Strukturwandel von über 5 Prozent Übergangszeitraumes eine zentralistische Einrichtung belegen. Es wird ein Höfesterben stattfinden, wie es in geschaffen werden sollte. Die Bundesregierung hat diese der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland noch Forderung anscheinend übernommen. Ich bin strikt da- nie der Fall war. gegen. Die CDU/CSU-Fraktion ist dagegen, dass hier eine bundesweite Einrichtung geschaffen wird. Die (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Bundesländer sind in ihrer großen Mehrheit ebenfalls Die Sparbeschlüsse der rot-grünen Bundesregierung (B) dagegen. Ich warne auch davor, zu glauben, dass mit der zum 1. Januar 2000 belasten unsere bäuerlichen Famili- (D) zentralistischen Einrichtung die Verwaltungskosten ge- en. Vor allem die einkommensschwächsten Familien – senkt werden können. Kollege Siegfried Hornung hat diesen Punkt schon an- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) gesprochen – werden belastet. Angesichts der Tatsache, dass gerade die Bäuerinnen und Bauern, die das nied- Wir haben in Bayern die Erfahrung mit der Reform rigste Einkommen haben, mit bis zu über 100 Prozent der AOKs. Mir ist bekannt, dass die Verwaltungskosten mehr belastet werden, frage ich mich schon, wo das so- bei der AOK Bayern, nachdem sie zentralistisch verwal- ziale Gewissen der Sozialdemokraten geblieben ist. Ich tet wird, nicht gesunken sind. Eher ist das Gegenteil der würde mich freuen, wenn das soziale Gewissen der SPD Fall. Ich weiß aus der Gemeindegebietsreform, dass die hier mehr zum Vorschein käme. Verwaltungskosten in den größeren Einheiten meistens höher geworden sind, als es vorher bei den kleineren der (Beifall bei der CDU/CSU) Fall war. Was mich in der ganzen Diskussion um Subventionen Meine sehr verehrten Damen und Herren, es wird vor in der Landwirtschaft und im Agrarsozialbereich beson- Ort auch bereits gehandelt. Es ist nicht so, dass das erst ders ärgert, ist die Tatsache, dass die Landwirtschaft mit auf Druck der heutigen Diskussion geschieht. Der Kol- durchschnittlich über zwei Kindern pro Familie einen lege Siegfried Hornung hat es angesprochen. In Bayern, Beitrag zum Generationenvertrag in unserem Land wo schon bisher nicht die kleinsten Sozialversicherungs- leistet, der weit über dem Durchschnitt unserer Bevölke- träger waren, werden aus fünf Einheiten zwei Verwal- rung liegt. Wenn ein eigenständiges Sozialversiche- tungseinheiten. Der Bayerische Bauernverband unter- rungssystem, das auch die nachgeborenen Kinder in der stützt in Eigenverantwortung vor Ort die Bestrebungen, Landwirtschaft einschließt, möglich wäre, dann wäre in in Bayern zwei größere Verwaltungseinheiten zu schaf- diesem Bereich der Generationenvertrag finanzierbar. fen. Das ist unserem Land aber leider nicht möglich. Die Bundesregierung liegt falsch, wenn sie glaubt, Ich bin überzeugt, dass die bäuerlichen Familien mit dass sie nur über zentralistische Einrichtungen ihren ihren Kindern, die in ihrem späteren Berufsleben Beiträ- Einfluss geltend machen kann. Die Bundesregierung ge in andere Sozialversicherungssysteme zahlen, in die- kann dies auch ohne sie tun. Man täuscht doch die Men- sem ganzen System Nettozahler sind. Deshalb sollten schen, indem man sie glauben macht, dass dieser Ein- wir uns abgewöhnen, von einer „alten Last“ zu spre- fluss irgendeine positive Auswirkung auf unsere Bäue- chen. Wir alle haben dieses Wort leichtfertig ausgespro- rinnen und Bauern hätte. chen. Unsere Landwirte sind ein positiver Faktor in un- 7868 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Januar 2000

Albert Deß (A) (C) serem Land und keine „alte Last“. Dies möchte ich hier (Dr. Uwe Küster [SPD]: Sehr richtig! Zu- zum Ausdruck bringen. kunftsfähigkeit organisieren wir doch!) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Genau das Gegenteil praktizieren Sie heute. Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Eine Aussage in der Koalitionsvereinbarung lautet: NEN]: Der Begriff wurde von Ihnen geschaf- fen!) Die neue Bundesregierung wird die ländlichen Räume stärken und die Landwirtschaft auf der Lieber Staatssekretär Gerald Thalheim, du hast früher Grundlage einer reformierten EU-Agrarpolitik si- öfter eine Vorruhestandsregelung gefordert. Jetzt wäre chern. der Zeitpunkt für eine solche Regelung, weil die Land- wirtschaft weit mehr als andere Berufsgruppen durch die (Dr. Uwe Küster [SPD]: Genau das machen Ökosteuer belastet wird. Die Einnahmen aus der Öko- wir! Gut, dass Sie das auch sagen!) steuer könnten sinnvoll in die Landwirtschaft wieder zu- Auch diese Aussage, meine lieben Kolleginnen und Kol- rückfließen, indem man eine Vorruhestandsregelung legen, ist doch in Anbetracht der Beschlüsse, die Sie ge- schafft, die sozialverträglich den Landwirten den Aus- fasst haben, eine Verhöhnung des bäuerlichen Berufs- stieg ermöglicht, zumal diese rot-grüne Agrarpolitik vie- standes. le Bauern zum Ausstieg zwingt. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Dann kommt der Bundeslandwirtschaftsminister. Er Es bleibt das Geheimnis dieser rot-grünen Bundesre- hat im „top-agrar“-Interview im November 1998 gesagt: gierung, wie die deutschen Landwirte schlagkräftiger Steuerliche Mehrbelastungen sind für die Landwirt- und wettbewerbsfähiger werden können, wenn auf nati- schaft in der jetzigen Situation nicht verkraftbar, onaler Ebene im europäischen Vergleich eine glatte Wettbewerbsverzerrung erfolgt. und dies will die SPD auch nicht. Ja, hat sich gegenüber vorigem Jahr die Situation in der (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Landwirtschaft heuer verbessert, dass man sie heuer be- Minister Funke müsste einmal erklären – er sollte nicht lasten kann? Hier werden doch Versprechungen gebro- immer durch Abwesenheit glänzen –, wie die deutschen chen. Bauern wettbewerbsfähiger werden können. Mit dieser Bei einer weiteren Aussage – damit, Frau Präsidentin, rot-grünen Agrarpolitik werden sie es auf jeden Fall komme ich zum Schluss – ist das Gleiche der Fall. Der nicht. Bundeslandwirtschaftsminister hat im gleichen Inter- (B) (Christel Deichmann [SPD]: Warten Sie es view gesagt: „Ich kann die Landwirte beruhigen: Die (D) mal ab!) Gasölbeihilfe bleibt.“ Ja, wo ist er denn, der Bundes- landwirtschaftsminister, wo bleibt denn die Gasölbeihil- Auch ein weiterer Punkt ärgert mich. Der Bundes- fe? kanzler hat die Holzmann-Fastpleite sehr medienwirk- sam verkauft. Ich bin aber überzeugt, dass diese rot- Meine sehr verehrten Damen und Herren, die grüne Agrarpolitik in der deutschen Landwirtschaft weit CDU/CSU-Fraktion wird zu den Themen, die die Land- mehr Arbeitsplätze gefährdet, als bei Holzmann über- wirtschaft betreffen, nicht schweigen. haupt vorhanden sind. (Dr. Uwe Küster [SPD]: Sie schweigen zu den (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) schwarzen Kassen!) Aber leider kann man diese Arbeitsplätze in der Land- Wir werden die Interessen der Bauern hier immer wie- wirtschaft nicht medienwirksam verkaufen. Hier liegt der einklagen. Wir werden nicht zulassen, dass die deut- das große Problem. Zu dieser rot-grünen Arbeitsplatz- sche Landwirtschaft von dieser rot-grünen Bundesregie- vernichtung schweigt der Bundeskanzler, schweigt der rung geopfert wird. Bundeslandwirtschaftsminister. Hier ist Schweigen im Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Walde. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Dr. Uwe Küster [SPD]: Mit der Wahrheit ha- ben Sie es sowieso noch nie so genau genom- men!) Vizepräsidentin Anke Fuchs: Jetzt erteile ich das Wort der Kollegin Waltraud Wolff, SPD-Fraktion. Meine sehr verehrten Damen und Herren, beide werden ihrer Verantwortung der deutschen Landwirtschaft ge- genüber nicht gerecht. Waltraud Wolff (Zielitz) (SPD): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe Ich darf, wenn es mir die Zeit erlaubt, noch einige mich sehr gefreut, als letzte Rednerin zu diesem Thema Punkte aus SPD-Aussagen zitieren, die alle nicht ein- zu sprechen, weil ich eigentlich gern weiter ausholen gehalten worden sind. Die SPD hat in ihr Bundestags- wollte. Aber ich muss Ihnen sagen: Ich habe nicht das wahlprogramm hineingeschrieben: „Wir wollen eine Gefühl, dass dieses existenzielle Thema dazu geeignet Agrarpolitik, die das Überleben der bäuerlich struktu- ist, hier einen Schlagabtausch zu führen. Ich habe auch rierten Landwirtschaft ermöglicht.“ heute schon so viele Halbwahrheiten gehört, dass es mir Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Januar 2000 7869

Waltraud Wolff (Zielitz) (A) (C) den Magen umdrehen könnte. Denn wenn man in inter- (Albert Deß [CDU/CSU]: 1998 waren es 1,7 nen Gesprächen auch mit Kollegen der Opposition Prozent!) spricht, meinen sie schon, dass wir auf dem richtigen Weg sind. und wollen bei den Kosten für die agrarsoziale Siche- rung den Steuerzahlern gegenüber Verantwortung zei- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ gen. Das möchte ich ganz deutlich herausstellen. DIE GRÜNEN – Albert Deß [CDU/CSU]: Meinen Sie die PDS-Opposition? Uns können (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Sie nicht meinen!) Eine moderne Landwirtschaft braucht ein modernes Ich werde Ihnen heute zeigen, dass unser Modell nicht mehr vage ist. Ich werde Ihnen zeigen, dass wir Versicherungssystem. Seit Jahren sind sich Bund, Län- der und auch Versicherungsträger darüber einig, dass ei- vorhandene Strukturen nutzen und regionale Betreuung ne Neugestaltung erfolgen muss. Sie ist unumgänglich. gewährleisten werden. Herr Koppelin, hören Sie heute gut zu! Sie werden sehen, dass wir auch die regionale Die vorgelegten Konzepte – davon gab es schon mehre- re – sind allerdings halbherzig. Man muss feststellen: Betreuung gewährleisten. Wenn kein Druck vom Bund kommt, dann ist die frei- Wir werden uns, Herr Hornung und Herr Deß, ganz willige Bewegung gleich null. Auch das möchte ich einfach an einem modernen Versicherungssystem in ei- deutlich machen. ner modernen Landwirtschaft messen lassen. (Albert Deß [CDU/CSU]: Es gab vorher schon (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Bewegung! – Siegfried Hornung [CDU/CSU]: DIE GRÜNEN – Albert Deß [CDU/CSU]: Längst vorher!) Das müsst ihr ein bisschen genauer definie- – Längst vorher, Herr Hornung. ren!) Es hat sich etwas getan auf der Landesebene. Das ist Auf die Frage der F.D.P., ob das agrarsoziale Siche- rungssystem gefährdet sei, kann ich nur antworten: Ja, hier mehrfach angesprochen worden. Ich meine auch, nämlich dann, wenn alles beim Alten bleibt. dass die Bemühungen in den Ländern auf Druck des Bundes sehr forciert wurden. Allerdings reichen diese (Albert Deß [CDU/CSU]: Dann ist es nicht ge- Bestrebungen noch lange nicht aus. Ich betone zu Be- fährdet!) ginn ganz deutlich, dass die tief greifende Reform, die wir vor uns haben, eine breite Zustimmung braucht und Es gibt Gemeinden, in denen heute auf einen Jungbauern dass alle Beteiligten aufeinander zugehen müssen. circa 18 Altenteiler kommen. Wer soll das noch bezah- len? Wer will denn da noch Verantwortung tragen? (B) In den letzten Jahren mussten wir einen signifikanten (D) Rückgang der Versichertenzahlen in der Landwirt- (Albert Deß [CDU/CSU]: Dafür haben wir die schaft feststellen. Zum Beispiel ist von 1996 auf 1997 Defizithaftung beschlossen!) die Zahl der Versicherten der landwirtschaftlichen Al- Die Notwendigkeit für die Neuorganisation liegt klar terskasse bundesweit von 511 000 auf 475 000 zurück- auf der Hand: Es sind die unwirtschaftlichen Strukturen, gegangen. Mittlere Prognosen für 1997 bis 2007 weisen die die Defizitdeckung durch die Bundesmittel infrage eine weitere Verringerung um 189 000 aus. stellen. Der Bund ist mit 68 Prozent der Kosten dabei. (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Das ist die Hier muss eingegriffen werden. Aber das ist der Knack- Agenda 2000!) punkt der ganzen Geschichte: Wir haben aus Bundes- sicht nicht die richtigen Eingriffsmöglichkeiten. Deshalb Wir wollen uns darüber im Klaren sein, dass wir von ist es erforderlich, den Bund zukünftig direkt an der dann noch 322 000 Versicherten sprechen. Dieser Rück- Rechtsaufsicht zu beteiligen und effiziente Strukturen zu gang korreliert mit dem Rückgang der Zahl der land- schaffen. wirtschaftlichen Betriebe. Das ist vorhin auch schon einmal angesprochen worden. In den alten Bundeslän- Einvernehmliche Beschlüsse des Haushaltsausschus- dern ging die Anzahl der Hofstellen von 1991 bis 1999 ses und des Rechnungsprüfungsausschusses vom Okto- von knapp 632 000 auf ungefähr 432 000 zurück. Das ber des letzten Jahres haben gezeigt, dass nicht nur die bedeutet – das muss man sich einmal vor Augen füh- Bundesregierung allein, sondern auch Sie, die Kollegin- ren – eine Aufgabe von 31 Prozent der Höfe. Es wird nen und Kollegen der Opposition, den Handlungsbedarf immer gesagt, die neue Bundesregierung grabe der gesehen haben. Beide Ausschüsse haben einvernehmlich Landwirtschaft das Wasser ab. Von 1991 bis 1998 wa- das Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung ren aber nicht wir verantwortlich und trotzdem gab es beauftragt, bis Ende 2000 einen möglichst mit den Län- ein Höfesterben. dern abgestimmten Gesetzentwurf einzubringen. Außer- dem ist die Bundesregierung beauftragt worden, bis En- (Albert Deß [CDU/CSU]: 2,41 Prozent im de März dieses Jahres einen Sachstandsbericht vorzule- Schnitt! – Dr. Uwe Küster [SPD]: Leichte Er- gen. innerungsverluste!) Im Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Wir wollen die Eigenständigkeit der landwirtschaft- Forsten ist der Entschließungsantrag zum Bedauern der lichen Sozialversicherung erhalten. Wir wollen bei den SPD allerdings ohne die CDU/CSU eingebracht worden. Beiträgen den Versicherten Rechnung tragen An dieser Stelle kommen mir die Opposition und alle 7870 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Januar 2000

Waltraud Wolff (Zielitz) (A) (C) Kritiker eines Bundesmodells so vor wir ein Assistenz- Eine solche Reform kann selbstverständlich nur stu- arzt während der Visite: Er steht am Bett des Kranken, fenweise erfolgen. Das ist ganz klar. Das kann man nicht erkennt, dass Hilfe geboten ist, möchte dem Patienten übers Knie brechen. Sie muss mit der Errichtung einer selber nicht noch zusätzlich Schmerzen zufügen und Kopfstelle für den neuen Bundesträger beginnen. Die- hofft, dass andere die lebensrettenden Maßnahmen ein- ser ist dann für den Aufbau der Struktur verantwortlich. leiten. – So können und dürfen Sie sich nicht verhalten. Schrittweise geben dann die noch bestehenden landwirt- schaftlichen Sozialversicherungsträger die künftig vom (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Bundesträger wahrzunehmenden Aufgaben an diesen ab. DIE GRÜNEN – Jürgen Koppelin [F.D.P.]: Durch die Zusammenlegung der Verwaltung und durch Ihr gebt immer die falsche Diagnose! – Sieg- die Personalfluktuation werden dann die sechs bis acht fried Hornung [CDU/CSU]: Aber der Arzt Bezirksverwaltungen gebildet. Dies wird nicht übers muss den Patienten nicht umbringen!) Knie gebrochen, sondern in einem Zeitrahmen bis 2005 Zur Realisierung des Gesetzesvorhabens: Wir wollen geschehen – eine Chance, die wir nicht vergeben sollten. noch in dieser Legislaturperiode die Neuorganisation (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ verwirklichen, in diesem Jahr die Reform beschließen DIE GRÜNEN) und vor der nächsten Sozialwahl die Umsetzung vollzo- gen haben. Meine Damen und Herren, wir stehen gemeinsam vor der Frage der Neuorganisation der landwirtschaftlichen (Jürgen Koppelin [F.D.P.]: Kurpfuscher!) Sozialversicherung. Wir wissen, sie ist notwendig, und – Ich werde noch genauer. Sie werden noch zuhören wir haben die Verantwortung dafür. müssen. – Bund und Länder haben in dieser Frage unter- Wenn ein Arzt einem Schwerkranken immer nur die schiedliche Interessen; das ist ganz logisch. Aber es gilt, an dieser Stelle einen gemeinsamen Weg zu finden. Hand tätschelt und sagt: „Na ja, es wird schon besser“, obwohl er weiß, dass es auf diesem Weg nur bergab Knapp zusammengefasst fordert der Bundesrech- geht, würden wir ihn alle als unredlich bezeichnen. Aber nungshof die Verschlankung der Strukturen, die Verbes- Arzt und Patient hätten eine gemeinsame Chance, wenn serung der Wirtschaftlichkeit und die Stärkung des Bun- sie einen Behandlungsplan aufstellen würden. Wir sind deseinflusses. Die Länder sind darauf aber nicht einge- zwar keine Ärzte, wir sind in der Politik, aber wir haben gangen. Bei zehn bis zwölf Trägern kann von Ver- aus diesem Grund die politische Verantwortung, für eine schlankung keine Rede sein. zukunftsorientierte Neuorganisation der landwirtschaft- lichen Sozialversicherung zu sorgen. Wir haben einen Vorschlag vorgelegt, der zwischen dem des Bundesrechnungshofs und dem der Länder Ich lade Sie dazu ein, bei diesem Modernisierungs- (B) steht: Ein bundesweit arbeitender Träger im Gartenbau prozess mitzumachen und im Interesse von Bund und (D) ist schon vorhanden. Wir wollen einen weiteren Träger Ländern, von Steuerzahlern und von Versicherten ge- mit vier rechtlich selbstständigen Selbstverwaltungskör- meinsam einen Konsens zu finden. Bewegen Sie sich, perschaften für die Land- und Forstwirtschaft errichten, meine Damen und Herren von der Opposition, und nämlich der Berufsgenossenschaft, der Krankenkasse, stimmen Sie unserem Entschließungsantrag zu! der Pflegekasse und der Alterskasse. Vielen Dank. (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Das wollen (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ wir nicht!) DIE GRÜNEN) Damit wird das Nebeneinander von bundes- und lande- sunmittelbaren Trägern aufgelöst und es wird die inner- landwirtschaftliche Solidarität verbessert. Die regionalen Vizepräsidentin Anke Fuchs: Ich schließe die Aussprache. Belastungsunterschiede können aufgehoben werden. Der Bund erhält endlich – den Zuschüssen für die Defizitde- Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie- ckung entsprechend – die notwendige Steuerungsfunkti- ßungsantrag der Fraktionen der SPD und des Bündnisses on. Die Rechtsaufsicht, die Genehmigung der Haus- 90/Die Grünen auf Drucksache 14/2572. Wer stimmt für haltspläne und die Wirtschaftlichkeit der Verwaltung diesen Entschließungsantrag? – Wer stimmt dagegen? – werden deutlich verbessert. Trotzdem ist eine gewisse Wer enthält sich? – Gegen die Stimmen von PDS, regionale Eigenständigkeit gewährleistet. CDU/CSU und F.D.P. ist der Entschließungsantrag an- genommen. (Zuruf von der CDU/CSU: Alles Wunschvor- stellungen!) Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie- ßungsantrag der Fraktion der PDS auf Drucksache – Es sind keine Wunschvorstellungen – Servicezentren 14/2574. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? – vor Ort, mobile Betreuungsdienste oder Versichertenäl- Gegenprobe! – Enthaltungen? – Dieser Antrag ist gegen teste können die persönliche Kontaktpflege übernehmen. die Stimmen der PDS abgelehnt. Mit dem regionalen Unterbau, den wir geplant haben, ist auch ein erheblicher Teil der Arbeitsplätze gesichert. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf: Notwendige Einsparungen, die auch bei anderen Model- Erste Beratung des von den Abgeordneten Hanna len erfolgt wären, werden selbstverständlich sozialver- Wolf (München), Lilo Friedrich (Mettmann), Dr. träglich ausgestaltet. Cornelie Sonntag-Wolgast, weiteren Abgeordne- Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Januar 2000 7871

Vizepräsidentin Anke Fuchs (A) (C) ten und der Fraktion der SPD sowie der Abge- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ ordneten Irmingard Schewe-Gerigk, Marieluise DIE GRÜNEN) Beck (Bremen), (Augsburg), weite- Die besten Gesetze können einen Missbrauch nicht ren Abgeordneten und der Fraktion BÜND- völlig ausschließen. Wir messen aber die Qualität von NIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs Gesetzen daran, ob sie diejenigen tatsächlich schützen, eines Gesetzes zur Änderung des Ausländerge- die sie zu schützen vorgeben. Das ist in der bestehenden setzes Version des § 19 des Ausländergesetzes nicht der Fall. – Drucksache 14/2368 – Überweisungsvorschlag: Der Verband binationaler Familien und Partnerschaf- Innenausschuss (f) ten hat zusammen mit der Frauenhaus-Koordinie- Rechtssausschuss rungsstelle die Auswirkungen des seit 1997 bestehenden Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Gesetzes untersucht. Die Ergebnisse sind nach wie vor Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die erschreckend. Ein großer Fehler bisher ist, dass auf Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre keinen dem Wege ergänzender oder fehlender Verwaltungsvor- Widerspruch. Dann ist es so beschlossen. schriften eine ungleiche Behandlung in den einzelnen Bundesländern herrscht. Minister Beckstein in Bayern Ich eröffne die Aussprache und erteile der Kollegin hat eine gänzlich andere Vorstellung von „außer- Hanna Wolf, SPD-Fraktion, das Wort. gewöhnlicher Härte“ als zum Beispiel die Landesregie- rung in Nordrhein-Westfalen. Unterschiedliche Landes- Hanna Wolf (München) (SPD): Frau Präsidentin! vorgaben und unterschiedliche örtliche Behördenpraxis Sehr verehrte Damen und Herren! Heute setzen die Re- werden für die betroffenen Frauen zum Roulette. gierungsfraktionen wieder einen weiteren wichtigen Punkt ihrer Koalitionsvereinbarung um. Es ist der Ge- Deshalb haben wir in unserem Gesetzentwurf den setzentwurf zur Änderung des § 19 des Ausländergeset- Begriff der „außergewöhnlichen Härte“ durch den Beg- zes. Dieser Entwurf ist auf Initiative der Frauen in bei- riff der „besonderen Härte“ ersetzt und diesen klar de- den Fraktionen entstanden. Deshalb möchte ich beson- finiert. Gleichzeitig haben wir dafür gesorgt, dass dieses ders die Frauen der Opposition herzlich einladen, die- Gesetz nicht mehr zustimmungspflichtig ist. Wir wollen sem Gesetzentwurf ebenfalls zuzustimmen. Ich setze gleiche Lebensverhältnisse in ganz Deutschland, auch darauf, dass dies auch viele Männer tun. für Ausländerinnen. Denn ich denke, wir waren uns in diesem Parlament (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ immer einig: Wenn es um Menschenrechte, um Frauen- DIE GRÜNEN sowie der Abg. Ulla Jelpke rechte geht, sollten wir diese alle gemeinsam stärken [PDS]) (B) (D) oder fordern. Die „besondere Härte“ ist sowohl an Umstände ge- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ knüpft, die es dem Ehegatten, in der Regel der Ehefrau, DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der unmöglich machen, die Ehe fortzusetzen. „Besondere PDS) Härte“ kann aber auch im Herkunftsland begründet sein, wenn die Rückkehr für die geschiedene Frau schwer- In diesem Gesetzentwurf geht es um das eigenständi- wiegendere Folgen hat als für andere Ausländer, die ge Aufenthaltsrecht von ausländischen Ehegatten. Es Deutschland nach einer kurzen Aufenthaltszeit verlassen geht um die klare Regelung von Härtefällen, das heißt, müssen. Wenn eine „besondere Härte“ festgestellt ist, es geht in fast allen Fällen um die Menschenrechte von entfällt jegliche Frist und das eigenständige Aufenthalts- ausländischen Ehefrauen und es geht auch um Kinder- recht wird ausgesprochen. rechte. In diesem Parlament habe ich schon mehrfach den Der Gesetzentwurf ist ebenfalls in dem weiteren Zu- Fall der Kurdin Tülay Oguz aus Kempten in Bayern an- sammenhang unserer Bemühungen zu sehen, häusliche gesprochen. Sie wurde von ihrem Ehemann jahrelang Gewalt einzudämmen. Dazu wird diese Bundesregie- schwer misshandelt und teilweise von der Familie des rung weitere Gesetzentwürfe vorlegen. Mannes wie eine Sklavin gehalten. Sie ließ sich darauf- Die heutigen Oppositionsfraktionen CDU/CSU und hin scheiden. Zu den Misshandlungen wurde sowohl F.D.P. werden sagen: Wir haben § 19 des Ausländerge- erstinstanzlich wie auch auf eine Petition im Bayeri- setzes doch erst 1997 und davor 1990 geändert. – Das ist schen hin festgestellt – jetzt hören Sie zu! –, wahr. Ebenso wahr ist aber auch, dass es jedes Mal dass sie weder zu Siechtum noch zu bleibenden körper- Stückwerk geblieben ist. Sie haben unsere Fallbeispiele lichen Schäden geführt hätten. Also liege eine „außer- damals in den Beratungen nie ernst genommen. Sie ha- gewöhnliche Härte“ nicht vor. Wie zynisch können Ur- ben immer wieder den Missbrauch des Gesetzes an die teile sein! Psychische Gewalt wurde überhaupt nicht be- Wand gemalt. Ganz besonders hart zeigten sich der da- rücksichtigt, auch nicht das Kindeswohl. Frau Oguz hat malige Innenminister Kanther zwei Kinder, die in Deutschland geboren wurden. (Heiterkeit bei der SPD) Nach viereinhalb Jahren Rechtsstreit ist die Stadt Kempten diese Woche einer Entscheidung des zuständi- und mit ihm Hand in Hand sein bayerischer Kollege gen bayerischen Verwaltungsgerichts zuvorgekommen. Beckstein. Wenn man jetzt einen Blick nach Hessen Sie hat Frau Oguz endlich eine Aufenthaltsbefugnis er- wirft, merkt man, welche ganz anderen Dimensionen teilt. Das war für die Kommune eine reine Ermessens- sich hinter dem Begriff „Missbrauch“ verbergen. frage. 7872 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Januar 2000

Hanna Wolf (München) (A) (C) Für Frau Oguz freut mich das außerordentlich. Sie Der Law-and-Order-Minister Kanther hat da die Reihen können aber davon ausgehen, dass dieser Abschluss oh- fest zusammengehalten. ne die Solidarität der Menschen in Kempten, ohne den politischen Druck der SPD-Frauen und Grünen-Frauen Ich appelliere an Sie alle: Stimmen Sie unserem Ge- setz zu, das die Opfer schützt. Dieses Gesetz ist ein kla- und ohne den Druck der Medienberichterstattung nicht res Zeichen für die Menschenrechte von Frauen. möglich gewesen wäre. Ein klares Gesetz dagegen hätte Frau Oguz diese Tortur (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS) erspart. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Anke Fuchs: Manchmal dauert manches sehr lange, wie wir jetzt merken. Vielen Dank, Damit komme ich zu der zweiten Neuerung unseres Frau Kollegin. Gesetzentwurfs: Die Mindestdauer des ehelichen Auf- enthalts in Deutschland soll von vier auf zwei Jahre ge- Jetzt hat die Kollegin Ilse Falk, CDU/CSU-Fraktion, senkt werden. Danach tritt das eigenständige Ehegatten- das Wort. aufenthaltsrecht in Kraft. Damit soll verhindert werden, dass vier Jahre lang Druck vom Partner ausgeübt werden Ilse Falk (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Liebe Kol- kann. Missbrauch und Erpressung dürfen nicht mehr leginnen und Kollegen! Ich freue mich, dass wir als möglich sein. Frauenpolitikerinnen zu diesem Thema Stellung nehmen Ausländerbehörden haben in zum Teil schändlicher können, obwohl es federführend im Innenausschuss an- Weise das Spiel des willkürlichen Ehemanns unterstützt. gesiedelt ist. Es ist so wichtig – das haben Sie gerade Sie haben Aufenthaltserlaubnisse rückwirkend einge- dargestellt, Frau Wolf –, dass es von Frauen mit beson- schränkt oder aufgehoben, wenn der Ehemann einseitig derer Sorgfalt beachtet wird. die Lebensgemeinschaft für nicht mehr existent erklärt Ebenso können Sie sich natürlich auch vorstellen, hatte. dass wir nicht in allem zum selben Ergebnis kommen Meine sehr verehrten Damen und Herren, Sie können wie Sie, sich gar nicht vorstellen, wie viele miese Tricks jemand (Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ anwenden kann, um seiner ausländischen Frau das Le- DIE GRÜNEN]: Schade eigentlich!) ben schwer zu machen und sie loszuwerden: rassisti- sches Verhalten, Freiheitsberaubung, Verbot der Ar- denn es gibt natürlich auch andere Beispiele, als Sie sie genannt haben. Ich denke, mein Kollege wird gleich (B) beitsaufnahme, verdientes Geld abgeben lassen, kein (D) Haushaltsgeld geben usw. So manche dieser Ehemänner noch darauf eingehen. glaubten, ein „Rückgaberecht“ oder ein „Umtausch- (Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ recht“ an ihrer Ehefrau durchsetzen zu können. Dem DIE GRÜNEN]: Die Missbrauchsfälle!) wollen wir endlich einen Riegel vorschieben. Wir haben zu diesem Thema viel Erfahrung aus der (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ letzten Legislaturperiode. Da haben wir heftig über die- DIE GRÜNEN sowie der Abg. Ulla Jelpke ses Thema gestritten und haben uns auch erst im Ver- [PDS]) mittlungsausschuss auf einen Kompromiss geeinigt. Ich Die dritte wichtige Neuerung betrifft das Kindes- finde nach wie vor, dass der Kompromiss, den wir da- wohl. Es kam in diesem Zusammenhang bisher kaum mals gefunden haben, sich durchaus sehen lassen konnte vor. Aber das Kinder- und Jugendhilfegesetz und das und sehen lassen kann, denn wir haben mit dem Gesetz neue Kindschaftsrecht verlangen, dass Kinder als Indi- deutlich gemacht, dass wir ausländische Frauen, die in viduen mit eigenen Rechten behandelt werden. Wir ihrer Ehe psychischer und physischer Gewalt ausgesetzt können nicht zulassen, dass das Kind keine Chance auf sind, nicht schutzlos den Ehemännern ausliefern. Kontakt mit der Mutter mehr hat, weil sie das Land ver- Wir haben auch gemeinsam dafür gesorgt, dass Män- lassen muss, das Kind keinen Kontakt zum Vater mehr ner, die ihre ausländischen Frauen misshandeln, diese hat, weil es mit der Mutter das Land verlassen muss, und nicht länger mit dem Ausländerrecht erpressen kön- das Kind aus seiner gewohnten Umgebung gerissen nen. Bei unzumutbaren Härten können solche Frau- wird, auch wenn es erst mit in die Ehe gekommen ist. en seit In-Kraft-Treten des Gesetzes ein eigenstän- Auch das kann eine besondere Härte sein. diges Aufenthaltsrecht auch ohne Fristeinhaltung er- Ich habe nur einige Fälle genannt, aber jedes Frauen- langen. haus und jede Beratungsstelle könnten Hunderte nennen. Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kol- Bei unserem Kompromiss im Jahre 1997 sind wir da- von ausgegangen, dass die Formulierung „außergewöhn- legen, Sie haben von solchen Fällen auch immer wieder liche Härte“ zusammen mit den in der Begründung an- in den Zeitungen gelesen. Niemand von uns kann sagen, dass man es nicht gewusst hat. gegebenen Fallbeispielen zu einer verbesserten Handha- bung führen würde. Wir haben damals allerdings auch In der letzten Legislaturperiode war es nicht möglich, miteinander verabredet, dass wir sehr sorgfältig be- endlich ein wirkungsvolles Gesetz zum Schutz der bei obachten wollen, wie die Rechtsprechung damit umgeht, uns lebenden ausländischen Ehefrauen durchzusetzen. und das kritisch begleiten wollen. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Januar 2000 7873

Ilse Falk (A) (C) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir wissen inzwi- Es ist doch so, dass in der Scheinehe in der Regel die schen aus Einzelfallschilderungen, dass die Interpretati- Ehefrau diejenige ist, die mit der Eheschließung einen on dieses Begriffs durchaus sehr unterschiedlich aus- ganz bestimmten Zweck erfüllen muss. Es geht nicht fällt; das haben auch Sie ausgeführt. Es kann passieren, immer nur darum, sie in unser Land zu bringen, sondern dass die Ergebnisse je nach Bundesland einander dia- damit sind auch Bedingungen verbunden. Dabei geht es metral gegenüberstehen, das heißt, dass betroffene Frau- im schlimmsten Fall um Menschenhandel mit dem Ziel en in vergleichbaren Ausgangssituationen je nach Bun- der Zwangsprostitution bis zur Verheiratung über Hei- desland entweder schnell abgeschoben werden oder ratsmärkte mit garantierten Rückgaberechten. sehr kurzfristig ein eigenständiges Aufenthaltsrecht er- langen. (Hanna Wolf [München] [SPD]: Das wollen wir gerade ändern!) Daher finde ich es gut, wenn wir heute und in den folgenden Ausschussberatungen kritisch mit der Wirk- Da mag es im letzteren Fall möglicherweise noch nicht samkeit der damals gefundenen Gesetzesformulierung einmal um Gewalt gehen, aber immer doch um men- umgehen, um gegebenenfalls Änderungen herbeizufüh- schenverachtende Ausbeutung. Darüber sind wir uns ren. Dabei wird über die Heranziehung der Fallbeispiele doch einig. aus der Begründung und auch darüber zu reden sein, wie Ich habe die große Befürchtung, dass Sie durch Ihren damit in der Praxis umgegangen wird, und zwar sowohl Gesetzentwurf das Problem von Scheinehen verschär- hinsichtlich der Gewalt in der Ehe als auch der Berück- fen. Bei einer Frist von generell nur zwei Jahren für die sichtigung gewachsener Bindungen, insbesondere in Be- Erlangung eines eigenständigen Aufenthaltsrechts wür- zug auf die Kinder. den Partner derartiger Scheinverbindungen kaum noch Hemmnisse sehen, ihre Verbindung über diesen relativ Auch über eine Klarstellung der Kannbestimmung zum Sozialhilfebezug sollte in diesen Beratungen unbe- kurzen Zeitraum förmlich aufrecht zu erhalten. Seitens der Ehemänner könnte dies mit Gewalt oder Gewaltan- dingt geredet werden. Ich könnte mich zum Beispiel drohung durchgesetzt werden, während die Frauen, die sehr gut damit einverstanden erklären, dass nur bewuss- ter Sozialhilfemissbrauch, wie Arbeitsverweigerung, meistens der deutschen Sprache nicht mächtig sind, in- nerhalb einer so kurzen Zeit wohl kaum den Mut finden, nicht jedoch der Sozialhilfebezug als solcher zur Aus- sich den Behörden oder amtlichen Stellen zu offenbaren. weisung führen kann. Damit würden zum Beispiel die Frauen nicht unter das Abschiebegebot fallen, die in Dass auch Sie die Möglichkeit des Missbrauchs se- Frauenhäusern aufgenommen werden und deswegen hen, wird dadurch deutlich, dass Sie zum Beispiel nicht nach dem Bundessozialhilfegesetz Sozialhilfe beziehen. generell auf eine Bestandzeit der Ehe in Deutschland Auch Mütter, die kleine Kinder oder behinderte und (B) verzichten. Es wird auch daran deutlich, dass Sie an der (D) pflegebedürftige Kinder betreuen und daher nicht arbei- Kannbestimmung festhalten, die Aufenthaltsgenehmi- ten können, würden dann nicht abgeschoben werden gung versagen zu können, wenn die betreffende Person können. Sozialhilfe bezieht. Hier müssen wir allerdings die Grenzen sehr sorgfäl- Allerdings werden selbst diese Minimalforderungen tig ziehen und – darauf will ich an dieser Stelle hinwei- Makulatur und dienen eher als Placebo; denn nach Ih- sen, obwohl das anders zu regeln wäre – kritisch prüfen, rem Gesetzentwurf soll es für die Erteilung einer eigen- ob nicht der aufenthaltsrechtliche Status dazu führt, dass ständigen Aufenthaltsgenehmigung auch genügen, wenn Frauen Arbeit nicht aufnehmen können; denn viele wür- „dem Ehegatten im Herkunftsland etwa aufgrund gesell- den sehr gern arbeiten, es wird ihnen jedoch durch den schaftlicher Diskriminierungen die Führung eines eigen- Status verwehrt. ständigen Lebens nicht möglich wäre“. Aber trotz dieser berechtigten Anliegen gilt: Mit dem Das geht entschieden zu weit. Denn – das wissen wir jetzt vorliegenden Gesetzentwurf schießen Sie weit über aus den Erfahrungen mit der Befassung von Frauen in das Ziel hinaus und verlieren etwas das Augenmaß. Da- anderen Ländern –: In welchen Ländern ist den Frauen bei will ich gern davon ausgehen, dass Sie nur das Beste überhaupt eine vergleichbare Lebensführung wie bei uns für die betroffenen Frauen wollen, doch möglicherweise möglich? Diese Klausel würde faktisch zum Verzicht erreichen Sie damit genau das Gegenteil. jeglicher Ehebestandszeit und damit zur Erteilung eigen- ständiger Aufenthaltsgenehmigungen für alle Antrag- So richtig es ist, dass eine ausländische Frau, die sich stellerinnen führen. Das wäre also eine Einwanderungs- von ihrem Ehemann trennen will, nicht mangels eines politik mit anderen Mitteln. Dann müsste man es aber eigenständigen Aufenthaltsrechts erpressbar gehalten auch so benennen. und zur Fortsetzung einer unerträglichen Ehe gezwun- gen werden darf, so wichtig ist es aber auf der anderen So viel zu den Fristen. Weitaus problematischer er- Seite, der Zunahme von Scheinehen – wir kommen scheint mir der Umgang mit der Härtefallregelung. nicht umhin, uns immer wieder mit dem Thema Schein- Hier ist auf zwei Aspekte der Regelung zu achten: Zum ehe zu befassen – als billiger Eintrittskarte zum Aufent- einen geht es um die Zumutbarkeit der Verpflichtung haltsrecht wirkungsvoll entgegenzutreten. zur Rückkehr in das Heimatland, zum anderen aber – das liegt uns allen sicher besonders am Herzen – um die (Dr. Angelica Schwall-Düren [SPD]: Das ist Würdigung der Gründe, die die Gewährung eines eigen- ein Totschlagargument!) ständigen Aufenthaltrechts bei uns nahe legen. 7874 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Januar 2000

Ilse Falk (A) (C) In der Praxis werden von den Gerichten häufig nur Seit nahezu zehn Jahren fordern die Grünen gemein- die Abschiebungshindernisse im Herkunftsland beurteilt, sam mit Initiativen diese Änderungen im Ausländer- während die Gründe für die Scheidung oft nicht ausrei- recht, um die unmenschliche Abschiebepraxis endlich zu chend Berücksichtigung finden. Aus meiner Sicht gibt beenden. Den Gesetzentwurf der Grünen, den wir in der es zwei Alternativen, die mehr Rechtssicherheit geben letzten Legislaturperiode vorgelegt haben und der ein könnten: Entweder wir übernehmen die Fallbeispiele der sofortiges eigenständiges Aufenthaltsrecht vorsah, haben Begründung des geltenden Rechts in den Gesetzestext Sie vonseiten der CDU/CSU und F.D.P. damals abge- oder aber wir prüfen, ob nicht grundsätzlich in den Fäl- lehnt. len, in denen ein Ehepartner eine kriminelle Handlung gegen den anderen begeht, der andere automatisch ein Nach geltendem Recht haben ausländische Ehefrauen eigenes Aufenthaltsrecht zuerkannt bekommt. in den ersten vier Ehejahren in Deutschland kein eige- nes, sondern ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht. Die Die letzte Lösung hätte meines Erachtens den Char- Folgen wurden von Frau Wolf schon genannt: Bei me, dass es zu einer wesentlich sorgfältigeren Einzel- Scheidung oder Trennung während dieser Zeit werden fallbetrachtung käme. Das heißt: Vor einer möglichen die Frauen in ihr Heimatland ausgewiesen. Zudem Abschiebung müssten vom Gericht auch die Gründe für ist § 19 in der Hand des Ehemannes zu einem Machtmit- die Scheidung beurteilt werden. Handelt es sich um tel geworden; denn wenn er seine Frau geprügelt oder strafbare Handlungen, die entweder bereits zur Ehe- vergewaltigt hat und sie deshalb ins Frauenhaus geflo- schließung oder aber schließlich zur Trennung geführt hen ist, brauchte er bisher lediglich zur Ausländerbehör- haben, sollte automatisch ein eigenständiges Aufent- de zu gehen und die eheliche Lebensgemeinschaft für haltsrecht zuerkannt werden. Damit könnte man errei- beendet zu erklären. chen, dass nicht die Ehefrau den Beweis der außeror- dentlichen Härte zu erbringen hätte, sondern sich diese Alles Weitere hat bisher der Staat für ihn erledigt. Er aus der Beurteilung der Tat des Ehemannes ergeben hat die Frau ausgewiesen, obwohl häufig Ausgrenzun- würde. Das könnte nicht nur die Frauen ermutigen, sich gen, Diskriminierungen, manchmal sogar lebensbe- zu offenbaren, sondern würde zugleich der Justiz helfen, drohende Handlungen im Heimatland zu ertragen waren. strafbare Handlungen aufzuspüren. Doch damit nicht genug. Der Ehemann kann sich so- Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie sehen, dass gar seiner Unterhaltsverpflichtung entziehen. Ich nenne auch unserer Fraktion klar ist, dass es an der einen oder dieses Täterschutz statt Opferschutz. anderen Stelle Klärungsbedarf gibt und wir gemeinsam nach Lösungswegen suchen sollten. Dies erfordert Be- Daneben – auch darauf wurde schon hingewiesen – ist der § 19 für Heiratshändler ein willkommenes In- sonnenheit und, so denke ich, viel Einfühlungsvermö- strument, um besonders osteuropäische Frauen als Ware (B) gen, was in der Ausländerpolitik grundsätzlich in hohem (D) Maße der Fall ist. So weit reichende Änderungen aller- zu handeln. Ich sehe die Anzeigen, die folgendermaßen lauten: „100 Russinnen, lieb, anschmiegsam, fleißig, dings, wie Sie sie vorschlagen, mit denen Sie, wie wir aber keine eigenen Ansprüche“. Mir liegen Unterlagen fürchten, dem Missbrauch Tor und Tür öffneten, können wir sicher nicht mittragen. vor, wonach viele sogar sehr offensiv mit dem deutschen Recht werben. Sie sagen nämlich: Bei kostenlosem Um- (Beifall bei der CDU/CSU) tausch von ausländischen Ehefrauen hilft der Staat. Bei Nichtgefallen Ware zurück. Die männlichen Kunden können sich darauf verlassen, dass der Staat ihre Arbeit Vizepräsidentin Anke Fuchs: Jetzt hat die Kolle- innerhalb der Vierjahresfrist erledigt. gin Schewe-Gerigk, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort. Diesen unerträglichen Zustand wollte eigentlich schon die alte Regierung beenden, hat es allerdings 1997 Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/DIE auch mit dem Vermittlungsausschussergebnis nicht ge- GRÜNEN): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und schafft. Kollegen! Auf dem langen Weg, Frauenrechte als Men- schenrechte zu achten, gehen wir heute einen großen (Dr. Max Stadler [F.D.P.]: Wer war denn da Schritt voran. Wir wollen den § 19 des Ausländergeset- im Vermittlungsausschuss?) zes ändern, der in der Vergangenheit – Frau Falk, ich Sie hatten damals gesagt, zur Vermeidung einer au- bin nicht Ihrer Meinung, dass die alte Regelung gereicht ßergewöhnlichen Härte soll es ein sofortiges eigenstän- hat – unendliches Leid über Migrantinnen gebracht hat. diges Aufenthaltsrecht geben. Die Erfahrung zeigt aber, (Beifall der Abg. Hanna Wolf [München] dass diese außergewöhnliche Härte in den wenigsten [SPD]) Fällen angewandt wurde. Sie war im Gesetz nicht klar definiert. Das, was der Vermittlungsausschuss in seiner Ausländische Frauen werden nicht länger vor der Alter- Begründung wollte, ist in vielen Bundesländern so nicht native stehen, entweder vier Jahre lang Misshandlungen angewandt worden. Die Misshandlung durch den Ehe- durch ihren Ehemann ertragen oder Deutschland verlas- mann hat in vielen Fällen kein Abschiebungshindernis sen zu müssen. Endlich schützt der Staat die Opfer und dargestellt. nicht länger die Täter. Hinzu kommen musste vielmehr, dass beim Verlas- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, sen des Landes der Frau ungleich größere Schwierigkei- bei der SPD und der PDS) ten auferlegt worden wären als jeder anderen Auslände- Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Januar 2000 7875

Irmingard Schewe-Gerigk (A) (C) rin oder jedem anderen Ausländer, die Deutschland ver- aufgelöst gewesen wäre. Insofern haben wir hier einen lassen. direkten Zusammenhang zwischen dem Ausländerrecht und dem § 177. Bundesländer wie Nordrhein-Westfalen haben bereits seit 1998 auf dem Erlasswege die Möglichkeit geschaf- Die Würde des Menschen, das Recht auf körperliche fen, dass die Trennung vom Ehemann wegen psychi- Unversehrtheit, die Gleichheit vor dem Gesetz und das scher und physischer Gewalt nicht zur Ausweisung Selbstbestimmungsrecht sind grundrechtliche Werte, die führt. nicht nur für Deutsche gelten, sondern auch für auslän- dische Männer und Frauen. Ganz anders Bayern: Bayern errichtet die Hürden so hoch, dass das Gesetz faktisch überhaupt nicht greifen Nun zum Gesetzentwurf. Er sieht vor, die für das ei- kann. Konkret heißt das: Um nicht ausgewiesen zu wer- genständige Aufenthaltsrecht erforderliche Ehe- den, muss die ausländische Ehefrau sich fast zu Tode bestandspflicht von vier auf zwei Jahre zu reduzieren. quälen lassen. In Bayern muss ihr eine schwere Kör- Er benennt weiterhin Kriterien, nach denen Frauen im perverletzung zugefügt werden, und Sie wissen, wie Falle einer besonderen Härte ein sofortiges eigenständi- dies im Strafgesetz definiert ist. Schwere Körperverlet- ges Aufenthaltsrecht bekommen. Frau Falk, Sie haben zung bedeutet den Verlust eines lebenswichtigen Glie- gesagt, man müsse dies ins Gesetz schreiben. Es gibt des oder des Sehvermögens, die Betroffene müsste ge- Verwaltungsrichtlinien, in denen sehr genau geregelt ist, lähmt oder geisteskrank sein. wie der entsprechende Einzelfall zu handhaben ist. Na- türlich müssen Richterinnen und Richter entscheiden, ob Diese Kriterien haben doch die vielen Frauen nicht eine besondere Härte vorliegt. Es wird nicht ausreichen, erfüllen können. Das bedeutet, dass dieses Gesetz für sie dass die Frau sagt: Es ist eine besondere Härte für mich. faktisch keine Wirkung hatte. – Natürlich wird das einem Prüfverfahren unterzogen. Ich kann Ihre Bedenken nicht teilen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Endlich wird auch das Kindeswohl berücksichtigt. Das ist eine wichtige Sache, die wir im Rahmen der Diese unmenschliche Handhabungen des Ausländer- UN-Kinderrechtskonvention unbedingt umsetzen müs- gesetzes wollen wir jetzt beenden. Den Fall Tülay O. hat sen. Kollegin Wolf hier schon dargestellt. Ich will das nicht wiederholen. Hier ist es so gewesen, dass das Verwal- Der vorliegende Gesetzentwurf ist nicht nur für uns tungsgericht Augsburg und auch der bayerische Petiti- rot-grüne Parlamentarierinnen und Parlamentarier wich- onsausschuss gesagt haben, es liege hier keine außerge- tig, sondern auch ein großer Erfolg für unseren Rechts- wöhnliche Härte vor. Diese unzumutbaren Situationen staat. (B) (D) haben jetzt ein Ende. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der Ich bin froh darüber, dass wir endlich eine bundes- PDS) einheitliche verbindliche Regelung schaffen können. Verfahren nach § 19 werden somit nicht länger ein Rou- Wie groß die Erleichterung bei den betroffenen Frauen, lettespiel für die Betroffenen sein. Die auslän-dischen bei den Anwaltsbüros und Beratungsstellen ist, zeigen Ehefrauen müssen vor der Willkür des Ehe-mannes und zahlreiche Briefe und Telefonate, die ich in den letzten auch der Behörden geschützt werden, wie dies seit Jah- Wochen erhalten habe. Dieser Gesetzentwurf ist ein ren von Migrantinnenverbänden gefordert wird. wichtiger Reformschritt. Das Ziel der Bündnisgrünen ist es, grundsätzlich ein vom Ehemann unabhängiges Auf- An dieser Stelle möchte ich mich noch einmal ganz enthaltsrecht zu schaffen. Aber Reformen müssen behut- herzlich auch bei den Mitarbeiterinnen in den Frauen- sam angegangen werden. Dies hat uns die Vergangen- häusern bedanken, die trotz der prekären rechtlichen Si- heit gelehrt. tuation immer Hilfe angeboten haben. Das war keine Selbstverständlichkeit, und sie waren manchmal sehr Im Zusammenhang mit der Diskussion über men- nahe am Rande des Gesetzes. schenwürdige Regelungen des § 19 des Ausländergeset- zes haben besonders Sie, meine Herren von der (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN CDU/CSU, und auch Frau Falk in der letzten Zeit häufig und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der Panik gemacht, indem Sie behauptet haben, die Zahl der PDS) Scheinehen steige. Diese Vermutung ist einfach ins Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich in Blaue hinein gesprochen und entbehrt jeglicher Daten- diesem Zusammenhang noch auf einen anderen Aspekt grundlage. Ich habe mich auf dieses Argument vorberei- eingehen. Wir haben vor zwei Jahren eine Reform des tet: Ich habe mir Zahlenmaterial vom Statistischen Bun- Sexualstrafrechts umgesetzt, nämlich die Vergewalti- desamt geben lassen und habe geprüft, ob binationale gung in der Ehe strafbar gemacht. Von dieser Reform Ehen oder Ehen von Migrantinnen und Migranten häufi- hatten die ausländischen Frauen bisher überhaupt keinen ger geschieden werden als deutsche. Dem ist nicht so. Gebrauch machen können, denn hätten sie ihren Ehe- Insofern können Ihre Bedenken beiseite geschoben wer- mann wegen der Vergewaltigung angezeigt und er wäre den. Es gibt also keinen guten sachlichen Grund, eine inhaftiert worden, hätten sie umgehend das Land verlas- Reform des § 19 des Ausländergesetzes abzulehnen. sen müssen, zum einen wegen des Bezugs der Sozialhil- Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition fe, zum anderen, weil die eheliche Lebensgemeinschaft und vor allem von der F.D.P., Sie wissen um die schwie- 7876 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Januar 2000

Irmingard Schewe-Gerigk (A) (C) rige Situation von ausländischen Frauen. Wir haben in Bundesländern existiert. Dies kann vom Bundesgesetz- der Vergangenheit häufiger darüber diskutiert. Sie wis- geber auf längere Sicht nicht akzeptiert werden. sen auch, dass wir aufgrund der bestehenden Probleme (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- neue Regelungen benötigen. Ich bitte Sie deshalb: ten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE Schließen Sie sich unserem Gesetzentwurf an, damit wir GRÜNEN) endlich gemeinsam diesen wichtigen frauenpolitischen Schritt in der Geschichte des Ausländerrechts tun kön- Entscheidend für eine engherzige oder großzügige nen. Auslegung durch die Ausländerbehörden ist natürlich das Meinungsklima, das in den jeweiligen Bundeslän- Vielen Dank. dern durch die politische Führung geschaffen wird. Da- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, her ist es kein Zufall – Herr Uhl, ich muss das leider aus bei der SPD und der PDS) der mir vorliegenden Statistik so feststellen –, dass in Bayern Frauen kaum eine Chance auf Anerkennung als Härtefall im Sinne von § 19 des Ausländergesetzes ha- Vizepräsidentin Anke Fuchs: Jetzt hat das Wort ben. der Kollege Dr. Max Stadler, F.D.P.-Fraktion. Es liegt also in der politischen Verantwortung der CSU, wenn Ausländerbehörden den Sinn für nahe lie- Dr. Max Stadler (F.D.P.): Frau Präsidentin! Meine gende, geradezu gebotene humanitäre Lösungen wie im sehr geehrten Damen und Herren! Eine vernünftige Re- Fall Oguz verloren haben. Wer seine politische Führung gelung des § 19 des Ausländergesetzes muss mehrere so wahrnimmt, der muss sich nicht wundern, dass die Kriterien erfüllen: Es muss das berechtigte individuelle Diskussion über eine Neufassung des § 19 nie ver- Interesse auf ein eigenständiges Aufenthaltsrecht nach stummt ist. Aufhebung der Ehe berücksichtigt werden. Es muss eine humanitäre Lösung von schweren Einzelschicksalen (Beifall bei der F.D.P., der SPD und dem möglich sein. Aber es müssen auch Vorkehrungen gegen BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Missbrauch getroffen werden. Diese Kriterien hat frei- Deswegen teilt die F.D.P.-Fraktion das Anliegen, die lich die alte Fassung des § 19 des Ausländergesetzes in derzeit bestehenden Auslegungsprobleme zu beseitigen keiner Weise befriedigend erfüllt. und für eine bundeseinheitliche Verwaltungspraxis den Grundstock zu legen. (Beifall bei der F.D.P., der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Gleichwohl, vor allem meine verehrten Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, wird es in den Aus- Daher hat die damalige Ausländerbeauftragte Corne- (B) schussberatungen notwendig sein, sich mit dem, was Sie (D) lia Schmalz-Jacobsen bei der Änderung des Ausländer- uns hier vorgelegt haben, in sehr differenzierter Weise gesetzes in der letzten Legislaturperiode auch die Initia- zu befassen; denn trotz mancher Verbesserungen setzt tive zur Neufassung des § 19 ergriffen. Leider geriet die die Neuregelung zum Teil an der falschen Stelle an. Neuregelung in die Mühlsteine des Vermittlungsverfah- rens. Selten traf das Sprichwort – wenn ich das einmal Erstens. Die Vierjahresfrist für das eigenständige so flapsig formulieren darf – „Viele Köche verderben Aufenthaltsrecht soll in den Regelfällen auf zwei Jahre den Brei“ genauer zu als bei der Neuregelung des § 19. herabgesetzt werden. Für die F.D.P.-Fraktion muss ich Das, was im Vermittlungsausschuss vereinbart worden Ihnen ganz ehrlich sagen, dass wir dem sehr skeptisch ist, verdiente in keiner Weise den Namen Reform. Es gegenüberstehen; denn man darf die Augen vor der war schlicht und einfach eine Verschlimmbesserung. Möglichkeit des Missbrauchs nicht völlig verschließen. Daher ist es nicht verwunderlich, dass auch nach dieser (Beifall bei der F.D.P. sowie des Abg. so genannten Reform von 1997 der Ruf nach einem neu- Dr. Hans-Peter Uhl [CDU/CSU]) en Tätigwerden des Gesetzgebers nicht verstummt ist. Je weiter Sie die Regelfrist herabsetzen, umso größer ist Anlässe zur Kritik gab immer wieder die Praxis in die praktische Gefahr des Missbrauchs. Darüber muss den Ausländerbehörden. Fälle wie der schon erwähnte man jedenfalls im Ausschuss noch einmal sehr gründlich Fall der Türkin Tülay Oguz, in dem das Ausländeramt diskutieren. der Stadt Kempten meinte, es läge, trotz fürchterlicher Misshandlungen, kein Härtefall vor, lösten bundesweit Zweitens. Wir begrüßen aber, dass Sie durch Ihre Kopfschütteln aus. Nachdem Frau Oguz aufgrund eines Neuregelung versuchen, die bisherigen Auslegungs- jahrelangen Rechtsstreits doch ein Aufenthaltsrecht er- schwierigkeiten bei der Härtefallklausel zu beseitigen. halten hat, hat Ihre grüne Landtagskollegin aus Bayern, Ich halte es insbesondere für einen Fortschritt, dass nun Elisabeth Köhler, nun festgestellt, dass man im Rahmen eindeutig festgestellt wird, dass auch auf Umstände der bestehenden Gesetze durchaus politische Hand- während der Dauer der Ehe in Deutschland bei der Beur- lungsoptionen habe. teilung zurückzugreifen ist. Dass es auf diese Umstände nicht entscheidend angekommen war, konnte niemand Diese Feststellung könnte zu dem Schluss verleiten, verstehen, etwa auch bei dem heute mehrfach zitierten dass eine Neuregelung des § 19 vielleicht doch nicht so Fall aus Kempten. In diesem Punkt haben Sie unsere dringlich ist. Ich schließe mich dem nicht an; denn eine Unterstützung. Über die Einzelheiten dessen, was Sie Auswertung der Praxis ergibt zunächst einmal, dass eine sehr detailliert vorgeschlagen haben, werden wir im völlig unterschiedliche Handhabung in den einzelnen Ausschuss reden. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Januar 2000 7877

Dr. Max Stadler (A) (C) Dritter und letzter Punkt. Im damaligen Vermitt- entwurfs – das ist das Entscheidende – nicht wieder fin- lungsverfahren 1997 wurde als Verschärfung erst im det. Vermittlungsausschuss eingeführt, dass selbst eine Frau, bei der eine besondere oder außergewöhnliche Härte Deswegen bleibe ich dabei: Ich verstehe nicht, dass diese Klausel in dem Text Ihres Gesetzentwurfs unver- festgestellt wurde, wegen Sozialhilfebedürftigkeit aus- ändert geblieben ist und Sie lediglich in der Begründung gewiesen werden kann. Auf den tatsächlichen Bezug von Sozialhilfe kommt es nach dieser Regelung übrigens für ein, zwei Anwendungsfälle Ihre Absicht darlegen, was die künftige Anwendung angeht. überhaupt nicht an. (V o r s i t z: Vizepräsident Dr. Hermann Otto Graf Lambsdorff hat in einer persönlichen Erklärung zur Abstimmung am 26. Juni 1997 diese Verschärfung Solms) wie folgt kommentiert – ich zitiere ihn wörtlich –: Im Übrigen möchte ich daran erinnern, dass Herta Däubler-Gmelin in einer persönlichen Erklärung bei der Ich bin kein Befürworter exzessiver Zuteilung von Sozialhilfe. Abstimmung über das Vermittlungsergebnis 1997 gera- de wegen der Sozialhilfeklausel mit Nein votiert hat. – So kennen wir alle Graf Lambsdorff. – Wie kann die neue Justizministerin Herta Däubler- Gmelin denn dann heute einen Gesetzentwurf unter- (Heiterkeit im ganzen Hause) schreiben, in dem genau die Sozialhilfeklausel unverän- Aber diese Regelung ist kleinlich und sie ist dert geblieben ist, die Bayern seinerzeit durchgesetzt menschlich schäbig. Deshalb lehne ich sie ab. hat? (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) ten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Meine Damen und Herren, Sie sehen, wir haben uns sehr intensiv mit Ihren Vorschlägen befasst. Das, was Graf Lambsdorff ausgeführt hat, hilft auch noch heute. (Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Sehr schön!) Trotz einiger wirklich zutreffender Verbesserungen, die Vizepräsidentin Anke Fuchs: Das provoziert nun Sie vorschlagen, wird es uns in den Ausschussberatun- eine Zwischenfrage der Kollegin Schewe-Gerigk. Möch- gen nicht erspart bleiben, die Einzelheiten Ihres Ent- ten Sie sie zulassen? wurfs sehr sorgfältig und kritisch zu durchleuchten. (Beifall bei der F.D.P., der SPD und dem (B) (D) Dr. Max Stadler (F.D.P.): Ja. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsidentin Anke Fuchs: Bitte sehr. Vizepräsident Dr. : Als nächste Rednerin hat das Wort die Kollegin Ulla Jelpke von der PDS-Fraktion. Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Kollege, haben Sie in der Begründung zur Kenntnis genommen, dass der Sozialhilfebezug Ulla Jelpke (PDS): Herr Präsident! Meine Damen nicht generell das Kriterium ist, sondern nur dann, wenn und Herren! Der heute vorliegende Gesetzentwurf – da- zum Beispiel eine annehmbare Arbeit abgelehnt wird ran besteht meiner Meinung nach kein Zweifel – war und deshalb auf Sozialhilfe zurückgegriffen wird? Wenn längst überfällig und findet unsere volle Unterstützung. die Sozialhilfe zum Beispiel deshalb gezahlt werden Ein eigenständiges Aufenthaltsrecht für Frauen wird muss, weil die Mutter wegen der Betreuung ihrer Kinder von vielen Frauen- und Migrantinnenorganisationen seit nicht erwerbstätig sein kann, soll dieses Kriterium über- langem gefordert. haupt nicht angewandt werden. Haben Sie das zur Kenntnis genommen? Frau Falk und Herr Stadler, es bleibt beschämend für die alte Regierung, dass sie Tausende von Migrantinnen so lange in dieser unerträglichen Not gelassen hat und Dr. Max Stadler (F.D.P.): Frau Kollegin, das habe die Probleme viele Jahre ignoriert hat. Man darf nicht ich nicht nur zur Kenntnis genommen, sondern ich habe vergessen, dass dies heute nicht die erste Debatte ist. Ich es mir im Rahmen der Vorbereitung – wie Sie sehen – kann mich gar nicht mehr genau daran erinnern, wie oft auch noch gelb angestrichen. wir dieses Thema und auch die einzelnen Fälle hier im Parlament zur Sprache gebracht haben. Dabei sind uns Ich habe allerdings, nachdem ich die Begründung ge- die vielen Fälle von misshandelten Frauen alle bekannt. lesen hatte, noch einmal sehr sorgfältig den von Ihnen Eine Tageszeitung titelte 1998: „Vom Mann misshan- vorgelegten Gesetzestext studiert. Ich muss Ihnen sagen, delt – von den Behörden verlassen“. dass die Begründung nicht mit dem konform geht, was Sie als Gesetzestext vorschlagen. Ich erkenne Ihre Ab- Frau Wolf und andere Kolleginnen haben schon Fälle sicht an, dass Sie das Sozialhilfekriterium – wenn ich es aus Bayern vorgetragen. Herr Stadler hat selbst gesagt, so sagen darf – entschärfen wollen. Aber ich verstehe dass es wohl kaum eine Frau gibt, die die Kriterien der nicht, warum sich das in der Textfassung des Gesetz- Härtefallregelung erfüllt. Ich meine, dass diese Urteile 7878 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Januar 2000

Ulla Jelpke (A) (C) nicht nur kaltschnäuzig, sondern auch menschenverach- Völlig unbegründet ist auch, wieso eigentlich eine tend sind. Auch wenn der Missbrauch von einigen Par- zweijährige Ehe im Inland nachgewiesen werden muss. teien immer wieder in den Vordergrund gestellt wird, Es gibt mehr als genug Fälle, bei denen zum Beispiel meine ich, dass Menschenrechte Vorrang vor Kontrollen eine Ehe im Ausland schon lange bestand und ein Jahr und Hürden haben müssen. Sie verhindern, dass Frauen nach Einreise der Ehefrau in die Bundesrepublik in hier wirklich menschenwürdig behandelt werden. die Brüche ging. Warum sollen diese Frauen auch gemäß dem jetzigen Gesetzentwurf gezwungen wer- (Beifall bei der PDS und dem BÜNDNIS 90/ den, ihre Ehe ein weiteres Jahr zu verlängern? Ich kann, DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der ehrlich gesagt, keinen vernünftigen Grund dafür erken- SPD) nen. Ich möchte daran erinnern, dass es allein in Berlin – dies macht deutlich, dass es sich nicht um Einzelfälle Ich erinnere auch daran, dass der Innenminister von Nordrhein-Westfalen bereits 1998 einen Erlass heraus- handelt – im vergangenen Jahr rund 145 000 Migrantin- gegeben hat, wonach eine psychische und physische nen ohne deutschen Pass gab. Wie viele von ihnen von häuslicher Gewalt betroffen waren, ist statistisch zwar Misshandlung, die Betreuung eines behinderten Kin- des oder eine im Fall der Abschiebung drohende nicht genau erhoben. Aber wir wissen, dass die Zu- schwerwiegende gesellschaftliche Diskriminierung im fluchtseinrichtungen wie Frauenhäuser und andere Stel- len zu etwa 50 bis 65 Prozent von Migrantinnen genutzt Heimatland unter den Begriff der „außergewöhnlichen Härte“ fallen und somit ein sofortiges eigenständiges werden. Ich denke, das spricht eine deutliche Sprache. Aufenthaltsrecht begründen. Schon damals hieß es – Zi- Das geltende Ausländerrecht zwang bisher alle tat: – „Eine bundeseinheitliche Praxis wäre für Migrantinnen ohne deutschen Pass in eine extreme alle Betroffenen wünschenswert.“ – Was hindert Sie ei- Abhängigkeit von ihrem Ehemann und leistete so gentlich daran, nun endlich bundesweit ein sofortiges ehelichen Misshandlungen direkt Vorschub. Selbst die eigenständiges Aufenthaltsrecht für Frauen zu beschlie- Bundesvorsitzende der Deutschen Katholischen Jugend ßen? hat deshalb schon vor mehr als einem Jahr von der Auch die Regelung, dass der Sozialhilfebezug nur Bundesregierung gefordert, für Frauen endlich ein dann kein Versagungsgrund ist, wenn die Sozialhilfe eigenständiges Aufenthaltsrecht zu schaffen. wegen der Betreuung minderjähriger Kinder gezahlt Wir haben bei den Beratungen über die Reform des wird – dies wurde hier schon angesprochen –, geht uns Staatsbürgerschaftsrechts einen Antrag zum eigenstän- nicht weit genug. digen Aufenthaltsrecht für Frauen eingebracht, der leider abgelehnt worden ist. Sie werden verstehen, dass ich das (B) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Frau (D) hier noch einmal anmerke. Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss. Wie gesagt, es liegt ein Gesetzentwurf vor, mit dem endlich versucht wird, die in der Tat empörende Recht- Ulla Jelpke (PDS): Ich komme gleich zum Schluss. losigkeit der Migrantinnen zu korrigieren und aufzuhe- – Wir sind der Meinung, dass soziale Not kein Grund ben. Die PDS wird diesen Gesetzentwurf auf jeden Fall sein darf, den betroffenen Frauen ein eigenständiges unterstützen. Er bedeutet für viele Frauen eine wichtige Aufenthaltsrecht zu verwehren. Wie gesagt – ich habe es Verbesserung sowie einen großen Schritt zu mehr schon angekündigt –, wir werden über diese Punkte na- Rechtssicherheit und hoffentlich zu einer bundeseinheit- türlich noch streiten. Das ändert aber nichts daran, dass lichen Praxis. Ehrlich gesagt denke ich aber, dass noch wir den vorliegenden Gesetzentwurf begrüßen und uns ein bisschen nachgebessert werden müsste. freuen, dass es endlich für die Migrantinnen in diesem Die Änderung, dass künftig nicht mehr eine „außer- Land eine Erleichterung gibt. gewöhnliche Härte“, sondern nur eine „besondere Här- Danke. te“ vorliegen muss, um eine Fortführung der Ehe unzu- mutbar zu machen und ein eigenständiges Aufenthalts- (Beifall bei der PDS, der SPD und dem recht zu begründen, wird von uns begrüßt und unter- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) stützt. Der Begriff der „außergewöhnlichen Härte“ war und ist so eng gefasst, dass er in der Vergangenheit in einigen Bundesländern – außer in Fällen von schwerster Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Als Körperverletzung – nie zur Anwendung kam. nächste Rednerin hat das Wort die Kollegin Lilo Fried- rich von der SPD-Fraktion. Trotzdem muss ich ein wenig Wasser in den Wein gießen: Ein sofortiges, uneingeschränktes eigenständiges Aufenthaltsrecht für Ehefrauen ist leider auch mit dem Lilo Friedrich (Mettmann) (SPD): Herr Präsident! heutigen Regierungsentwurf noch nicht erreicht. Die Meine Damen und Herren! Der vorliegende Gesetzent- Kollegin der Grünen hat in diesem Zusammenhang be- wurf ist nach der Reform des Staatsangehörigkeitsrech- reits einiges zur Vergangenheit gesagt. Im Gegensatz zu tes ein weiterer bedeutender Schritt hin zu einer men- Frau Falk bin ich der Meinung, dass wir in diesem Punkt schenwürdigeren Gesellschaft, insbesondere für hier le- einen Schritt weiter hätten gehen sollen. bende Migrantinnen. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Januar 2000 7879

Lilo Friedrich (Mettmann) (A) (C) Nach der bisherigen Gesetzeslage haben ausländische Entscheidungen durch Ausländerbehörden und Verwal- Ehefrauen und Ehemänner in den ersten vier Ehejahren tungsgerichte wird es durch unsere Reform dann nicht in Deutschland kein eigenes, sondern ein vom Ehepart- mehr geben. ner abgeleitetes Aufenthaltsrecht, mit der Folge, dass Nunmehr wird klargestellt, dass ein eigenständiges während dieser Zeit die Frauen im Fall einer Trennung Aufenthaltsrecht bereits dann zu erteilen ist, wenn der oder Scheidung in ihr Heimatland ausgewiesen werden. Häufig bedeutet dies, dass ausländische Ehefrauen aus Ehegatte durch die Rückkehr in das Herkunftsland un- gleich härter getroffen wird als andere Ausländer, die Angst vor der Ausweisung über keine Handhabe gegen- nach kurzen Aufenthaltszeiten Deutschland verlassen über ihren gewalttätigen Ehemännern verfügen. müssen. Darüber hinaus darf es kein Kriterium mehr Die Diskussion über eine Reform des eigenständigen sein, dass die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis Al- Ehegattenaufenthaltrechtes wird seit langem geführt und leinerziehenden versagt wird, weil sie wegen der Be- Änderungen werden von Frauenorganisationen, Kirchen treuungsbedürftigkeit minderjähriger Kinder auf den und Verbänden gefordert. Doch bisher haben alle Ver- Bezug von Sozialhilfe angewiesen sind. suche – wie zuletzt der der ehemaligen Bundesregierung In welchen Fällen eine besondere Härte gegeben ist, im Jahre 1997 –, diese unerträgliche Situation zu been- den, zu keinem zufrieden stellenden Ergebnis geführt. wird in dem von uns vorgelegten Gesetzentwurf präzise ausgeführt. Eine besondere Härte liegt erstens dann vor, Wir, die Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die wenn der Ehegatte die eheliche Lebensgemeinschaft Grünen, haben deshalb bereits im Koalitionsvertrag ver- aufgelöst hat und in Zusammenhang mit der Rückkehr- einbart, die im ausländerrechtlichen Vermittlungsverfah- verpflichtung eine erhebliche Beeinträchtigung seiner ren nur unzureichend umgesetzte Reform des eigen- schutzwürdigen Belange droht. Dies ist zum Beispiel der ständigen Ehegattenaufenthaltsrechts zu Ende zu füh- Fall durch gesellschaftliche Diskriminierungen im Her- ren. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf zur Änderung kunftsland, die eine eigenständige Lebensführung nicht des Ausländergesetzes werden wir diese angekündigte ermöglichen, durch eine drohende Zwangsabtreibung, Reform nun endlich auf den Weg bringen können. durch Nichtbeachtung des Kindeswohls, für dessen Er- halt ein weiterer Aufenthalt in Deutschland erforderlich (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ ist, oder wenn die Gefahr besteht, dass durch den Auf- DIE GRÜNEN) enthalt im Ausland der Kontakt zum Kind willkürlich untersagt wird. Zielsetzung ist, die Voraussetzungen zur Erlangung eines eigenständigen Aufenthaltsrechts für ausländische Zweitens liegt eine besondere Härte vor, wenn be- Ehegatten zu erweitern und zu erleichtern, dies insbe- sondere Umstände während der Ehe in Deutschland es (B) sondere mit dem Ziel, unzumutbare Verhältnisse wäh- dem Ehegatten unzumutbar machen, zur Erlangung ei- (D) rend der Ehe in Deutschland zu berücksichtigen. Hierzu nes eigenständigen Aufenthaltsrechts an der ehelichen wollen wir § 19 des Ausländergesetzes wie folgt än- Lebensgemeinschaft festzuhalten. Solche Umstände sind dern: zum Beispiel physische oder psychische Misshandlung oder sexueller Missbrauch oder Misshandlung des Kin- Erstens. Die erforderliche Ehebestandszeit wird von vier auf zwei Jahre verkürzt. Denn wir halten als gene- des. relle Grenze für die Erlangung eines eigenständigen Die dritte entscheidende Änderung des § 19 des Aus- Aufenthaltsrechts bereits einen Zeitraum von zwei Jah- ländergesetzes besteht darin, dass künftig auch das Kin- ren für angemessen, in denen die eheliche Gemeinschaft deswohl als schutzwürdig berücksichtigt wird und eine in Deutschland geführt wurde. Erteilung des eigenständigen Aufenthaltsrechts rechtfer- tigen soll. Dies entspricht auch internationalen Standards Zweitens. Künftig sollen Umstände während der Ehe, die ein Festhalten an der ehelichen Lebensgemeinschaft wie der UN-Kinderrechtskonvention. unzumutbar machen, Berücksichtigung finden, wenn sie Besonders wichtig erscheint mir bei unserer Reform, eine besondere Härte darstellen. dass die Gründe für die Anerkennung von Härtefällen In der Vergangenheit hat die Regelung des eigenstän- nun bundeseinheitlich in den Ländern geregelt werden. Bisher ist dies in den Bundesländern sehr unterschied- digen Aufenthaltsrechtes für Ehegatten nach Beendi- lich gehandhabt worden, sodass es keine einheitliche gung der ehelichen Lebensgemeinschaften immer wie- der zu Diskussionen geführt. Deshalb wurde § 19 des Rechtslage für die Frauen gab. Ausländergesetzes bereits in der letzten Legislaturperio- Der vorliegende Gesetzentwurf ist im Bundesrat nicht de geändert. Der damals gewählte Begriff der „außer- zustimmungspflichtig. Aber er bindet die Länder bei gewöhnlichen Härte“ hat in der Praxis jedoch zu zahl- seiner Umsetzung eng an die Vorgaben des Bundesge- reichen Auslegungsproblemen und Unzulänglichkeiten setzgebers. geführt. Der Kampf gegen häusliche Gewalt kann nicht an der Auch in der Rechtsprechung ist es umstritten geblie- eigenen Haustür Halt machen. Wenn wir die Vorgaben ben, ob eine Härte im Sinne der Vorschrift auch allein unseres Grundgesetzes, nämlich die Würde des Men- darin gesehen werden kann, dass der Ehegatte die eheli- schen und das Recht auf körperliche Unversehrtheit zu che Lebensgemeinschaft wegen erheblicher Verletzung wahren, ernst nehmen, dann müssen wir diese Werte von Rechtsgütern aufgelöst hat. Diese Auslegungs- auch den hier lebenden ausländischen Frauen garantie- schwierigkeiten und damit einhergehende willkürliche ren. 7880 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Januar 2000

Lilo Friedrich (Mettmann) (A) (C) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie der Abg. Ulla Jelpke DIE GRÜNEN]: Das ist wohl kein Unter- [PDS]) schied! – Wolfgang Gehrcke [PDS]: Lassen Sie sich gern zwei Jahre weiter schlagen?) Deshalb ist es mir als Innen- und Menschenrechtspo- litikerin wichtig, dass keine Frau ein Martyrium durch- Ihre Vorschläge sind keine Lösung, sondern nach wie leiden muss, um in Deutschland bleiben zu können. vor Willkür. Frauenrechte sind Menschenrechte. Ich bin der Meinung, dass ein Mensch, der aus sei- Ich danke Ihnen. nem Heimatland nach Deutschland kommt und zwei Jahre hier gelebt hat, sich noch gar nicht so sehr integ- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ riert haben kann und sich von seinem Heimatland noch DIE GRÜNEN sowie der Abg. Ulla Jelpke gar nicht so weit entfernt haben kann, dass eine Rück- [PDS]) kehr in dieses Heimatland eine unzumutbare, außerge- wöhnliche Härte darstellen muss. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das (Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ Wort hat jetzt der Kollege Dr. Hans-Peter Uhl von der DIE GRÜNEN]: Nein, aber die Trennung CDU/CSU-Fraktion. hier!) Deswegen kommt es darauf an, diese Fälle einzeln zu Dr. Hans-Peter Uhl (CDU/CSU): Herr Präsident! klären. Es darf nicht pauschal und durch Automatismus Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Der § 19 im Wege der Zweijahresfristenregelung zu einem eigen- des Ausländergesetzes regelt in der Tat einen schwieri- ständigen Aufenthaltsrecht kommen. gen Lebenssachverhalt. Es gibt den Nachzug von Frauen und Männern nach Deutschland. Es gibt Gewaltbereit- Wenn Sie die Frist auf zwei Jahre verkürzen, lösen schaft bei den Nachziehenden und bei den hier in Sie damit eine Fülle von Missbrauchsmöglichkeiten aus. Deutschland Lebenden. In all diesen Fällen kann es zu Wir wissen aufgrund der Erfahrung – ich jedenfalls weiß Scheidungen oder Trennungen kommen. Wir müssen es aus meiner Erfahrung; ich hatte unter anderem elf dann klären, wer ein eigenständiges Aufenthaltsrecht Jahre die Ausländerbehörde in München zu leiten –, bekommt und wer nicht. (Hanna Wolf [München] [SPD]: Zu lange!) Im geltenden Recht gibt es eine Kombination zwi- schen einer Fristenregelung, bei der die Mindestzeit vier dass es eine Vielzahl von Scheinehen gibt, die durch Ih- Jahre beträgt, und einer Härtefallregelung. Eine außer- re Vorgehensweise noch viel mehr werden würden. (B) (D) gewöhnliche Härte muss vorliegen; dann wird ein eigen- Denn es wäre einfach, solche Scheinehen einzugehen. ständiges Aufenthaltsrecht gewährt. Dem Grunde nach Menschenhandel würde erleichtert werden. ist dies vernünftig geregelt, weil man die Vielgestaltig- (Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ keit der Lebenssachverhalte auf diese Weise am besten DIE GRÜNEN]: Die Statistik gibt das, was erfassen kann. Sie sagen, aber nicht her!) Das Ziel ist – wenn Sie so wollen – ein zweifaches: – Frau Kollegin, in München gab es den Fall eines alba- nischen Drogendealers, Erstens. Es geht um das Ziel der Integration der hier lebenden Ausländer. Wenn sie vier Jahre hier waren, (Zuruf von der SPD: Oh, jetzt kommen die haben sie sich erfahrungsgemäß integriert und sollen bei Beispiele!) einem Scheitern der Ehen nicht ausgewiesen werden. der natürlich hätte ausreisen müssen, es sei denn, er wä- Zweitens. Es geht um das Ziel, den Nichteinwan- re deutsch verheiratet worden. Daraufhin hat er sich eine derungsgrundsatz aufrechtzuerhalten. Wir sind kein deutsche Drogenabhängige zur Frau genommen. Diese Einwanderungsland und man sollte nicht im großen Stil musste natürlich, weil sie von ihm abhängig war, alles, auf dem Wege der Deutschverheiratung – sei sie was er sagte, zugeben und bestätigen. Das heißt: Auf- missbräuchlich oder nicht – eine Einwanderung ermög- grund dieser Eheschließung konnte der Betreffende in lichen. Deutschland bleiben. Wollen Sie so etwas wirklich för- Lassen Sie mich nun zu Ihren Vorschlägen zur Ände- dern? Halten Sie es mit Ihren Vorstellungen von Frauen- rung des Ausländergesetzes kommen. Sie sagen, eine rechten für vereinbar, wenn Sie so etwas fördern? Fristverkürzung von vier auf zwei Jahre sei eine besse- (Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ re Lösung. Ihre Begründung lautet, dies sei angemessen. DIE GRÜNEN]: Das ist doch nicht der Kern Mehr ist Ihnen dazu nicht eingefallen. Ich habe gesucht, des Problems! – Zuruf von der SPD: Dann ha- ob noch weitere Begründungen geliefert werden, aber ben Sie die Intention nicht verstanden! Es geht dies war nicht der Fall. Nun kann man sagen: Eine Frist- um Schutz vor Kriminalität!) verkürzung auf zwei Jahre löst das Problem der Härte- fälle. Innerhalb von vier Jahren müsste die Frau zu viel Wir hatten viele Fälle von Nigerianern, die in ertragen. Aber ob sie zwei oder vier Jahre geschlagen Deutschland Asylverfahren betrieben haben – teilweise wird und ein Martyrium durchleidet: Wo ist hier Ihre mehrere unter Alias-Personalien – und deren Asylantrag Lösung? abgelehnt wurde. Durch die Heirat mit einer Deutschen Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Januar 2000 7881

Dr. Hans-Peter Uhl (A) (C) haben sie aber das Aufenthaltsrecht erhalten. Das wollen (Hanna Wolf [München] [SPD]: Das ist jetzt Sie alles fördern. Warum eigentlich? von Ihnen erfunden? Man nimmt an?) (Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ Der Türke reist nach Deutschland und beide leben zu- DIE GRÜNEN]: Sie stellen immer die Männer sammen in Deutschland. in den Mittelpunkt! Es geht um Frauen!) Er stört sich aber an dem westlich geprägten Lebens- Es gibt auch die Fälle von Schleusern, die Frauen aus wandel seiner jungen Ehefrau. Sie, emanzipiert, wie sie Osteuropa nach Deutschland als Tänzerinnen und als Prostituierte – zu welchen Zwecken auch immer – ein- nun mal ist, verhöhnt ihn wegen seiner rückständigen Lebensauffassung. Das ist ganz normal, es treffen zwei schleusen. Diese Fälle müssten Ihnen doch bekannt sein. Welten aufeinander. Er empfindet ihr Verhalten natür- Es müsste doch auch Ihre Absicht sein, dieses zu ver- hindern; es müsste doch auch Ihr gesetzgeberisches Ziel lich als eine Belästigung – Sie würden darin eine schwe- re psychische Misshandlung durch diese emanzipierte sein, das nicht zu befördern oder zu erleichtern. Ehefrau sehen –, die er nicht hinnimmt. Ihm ist das Wei- (Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ terführen der Ehe nicht zumutbar. Daher verlässt er die DIE GRÜNEN]: Wir haben einen Menschen- eheliche Wohnung. handelsparagraphen im Strafgesetzbuch!) (Hanna Wolf [München] [SPD]: Sie haben Mit dieser Änderung erleichtern Sie jedenfalls diesen sich doch nicht verändert! Sie bleiben immer Typen das Geschäft. da stehen, wo Sie immer waren! Meine Güte! Man muss sich verändern können!) (Zuruf von der PDS: Echt zynisch!) Schauen Sie sich den Fall in Kempten einmal genau Der alte Gesetzestext regelt Härtefälle in der Weise, an! Kurde heiratet Kurdin in Deutschland. Sie will und dass er vorschreibt, dass im Falle des Scheiterns der Ehe kann mit ihm nicht mehr zusammenleben. Die Ehe ist zunächst einmal der Härtefall im Heimatland gegeben ein Martyrium für sie. sein muss. Das heißt, die Rückkehr in das Heimatland muss unzumutbar sein. Diese Regelung ist logisch und (Hanna Wolf [München] [SPD]: Warum, müs- auch in Ordnung. sen Sie einmal fragen!) Aber das geltende Recht ermöglicht auch – das ist be- Er zieht aus der gemeinsamen Wohnung aus. Er kommt reits vom Kollegen Stadler gesagt worden; es wurde sei- aber zurück und vergewaltigt sie. Daraufhin reicht sie nerzeit im Vermittlungsausschuss so festgelegt – die Be- die Scheidung ein. Aber in der Zwischenzeit bekommt rücksichtigung eines Härtefalls im Inland, also in sie noch ein Kind von ihm. Die Behörde glaubt ihr nicht. Deutschland. Das heißt, wenn die Fortsetzung der Ehe (B) Das war ein schwerer Fehler und eine unsensible Ent- (D) unzumutbar ist, dann kann die betreffende Person, Mann scheidung der Behörde in Kempten. Aber dafür gibt es oder Frau, hier bleiben. ja Gott sei Dank Gerichte, die solche Entscheidungen Zugegeben: Der Gesetzeswortlaut könnte verbessert korrigieren und in diesem Fall korrigiert haben. werden. Ich gehe aber im Gegensatz zu Ihnen, Frau Friedrich, davon aus, dass es sich um ein zustim- (Hanna Wolf [München] [SPD]: Der Staats- mungspflichtiges Gesetz handelt, das im Vermittlungs- sekretär hat genauso argumentiert!) ausschuss landen wird, und dass man da so etwas redak- An diesem Beispiel kann man aber auch einen ande- tionell nachbessern kann. ren Punkt erkennen: Wir müssen Frauen, die hier leben, vor solchen gewalttätigen Männern schützen, die nach (Lilo Friedrich [Mettmann] [SPD]: Da muss Deutschland ziehen und die sich niemals in unserem ich Sie leider enttäuschen, Herr Uhl!) Land integrieren können. Es gibt keine Notwendigkeit für Ihre Forderungen, die lediglich zu einer Verschlechterung und nicht zu einer (Hanna Wolf [München] [SPD]: Herr Beck- stein will sie doch ausweisen!) Verbesserung führen würden. Frau Kollegin Wolf, ich möchte Sie einmal mit fol- Den Kolleginnen und Kollegen – von den Grünen, von gendem Fall konfrontieren. der PDS, von wo immer –, die diese Änderung wollen, sage ich: Sie meinen es gut; Sie wollen diesen Frauen (Hanna Wolf [München] [SPD]: Gehen Sie helfen. Aber in Wahrheit helfen Sie je nachdem, wie der doch einmal von den vorhandenen Fällen aus! Fall liegt, auch den männlichen Peinigern. Lassen Sie Das reicht doch!) mich zum Schluss noch ein paar ganz konkrete Fälle vortragen. Frau Kollegin Wolf, es gibt eben nicht nur – Ich rede nur aus Erfahrung. Ich werde gleich noch den einen Fall, den Sie – warum auch immer – im Auge plastische Beispiele aus dem täglichen Leben bringen. – haben, nämlich den Fall einer nachziehenden Auslände- Eine junge, in Deutschland aufgewachsene und lebende rin, die von brutaler deutscher Männerhand gepeinigt Türkin – von ihnen gibt es ja sehr viele – hat unsere wird. Diesen Fall gibt es zwar; aber es gibt auch ganz Wertvorstellung verinnerlicht. Sie wird von ihrer Fami- andere Fälle. lie mit einem streng religiösen osttürkischen Mann vom Lande zwangsverheiratet; diesen Fall gab es auch in (Dr. [PDS]: Wo die Frauen die meiner Behörde. deutschen Männer peinigen!) 7882 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Januar 2000

Dr. Hans-Peter Uhl (A) (C) Beispiel: Der Ägypter Ahmed kommt nach München (Hanna Wolf [München] [SPD]: Wir haben ja als Mathematikstudent. Das Studium nimmt er aber nie jetzt noch ein anderes Gesetz!) auf. Er weiß, er muss eines Tages ausreisen. Das will er aber nicht. Also sagt er seiner Vermieterin – er ist 25, sie Das, meine Damen und Herren, lehnen wir aus guten ist 63 –: Ich heirate dich; als Gegenleistung darf ich in Gründen ab: weil wir Frauen schützen wollen. Deutschland bleiben. Er verspricht auch, die Vermiete- (Beifall bei der CDU/CSU – Zurufe von der rin zu pflegen, für sie zu sorgen; denn sie ist schwer SPD: Wer kann da noch klatschen? – Aus körperbehindert. Kurze Zeit nach der Eheschließung – Bayern! – Frau Falk! – Gegenruf der Abg. Ilse ich berichte aus den Akten in München – pflegt er sie Falk [CDU/CSU]: Das gibt es doch! – Gegen- nicht, sondern schlägt er sie, von Woche zu Woche ruf von der SPD: Ja, natürlich gibt es das! Es mehr. Er raubt ihr den Pass, er raubt ihr das Geld, den geht doch um den Schutz vor Kriminellen!) Schmuck und alles, schließt sie in der Wohnung ein, so- dass sie nicht mehr herauskommt. Nur einem glückli- chen Umstand war es zu verdanken, dass sie ins Frauen- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Als letz- haus flüchten konnte. te Rednerin in dieser Aussprache hat das Wort die Par- lamentarische Staatssekretärin Frau Sonntag-Wolgast. Wollen Sie diesem Typen durch Ihre zweijährige Fristenregelung helfen? Er kann nach zwei Jahren hier bleiben, weil er ein eigenständiges Aufenthaltsrecht hat, Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast, Parl. Staatssekretä- und kann weiter diese Frau peinigen. rin beim Bundesminister des Innern: Herr Präsident! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Ich war eigent- (Hanna Wolf [München] [SPD]: Der macht lich schon ganz hoffnungsvoll bei einigen Beiträgen sich doch strafbar! – Dr. Ruth Fuchs [PDS]: aus der Opposition, zum Beispiel bei der differenzier- Der wird verurteilt! Der hat eine strafbare ten Auseinandersetzung von Frau Falk mit unserem Handlung begangen! Darüber gibt es Ge- Gesetzentwurf oder auch bei den Argumenten des Kol- richtsurteile! Die heben das wieder auf!) legen Stadler. Ich dachte also, wir seien auf gutem We- Das wollen Sie nicht, aber Sie bewirken es, ohne es ge. Nur leider haben Sie, Herr Kollege Uhl, uns auf den zu wollen. Boden der nicht so erfreulichen Tatsachen zurückge- führt. Herr Präsident, lassen Sie mich noch einen zweiten und dritten Fall kurz vortragen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)

(B) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Ihre Re- Herr Uhl, was mir auffiel: Sie haben viele Mühe und (D) dezeit verlängert sich nicht automatisch. Sie ist abgelau- viel Argumentationsverrenkungen aufgewandt, um die fen. Argumente, die für das Gesetz und für die Änderung sprechen, genau in das Gegenteil zu verkehren und Fälle (Zuruf von der SPD: Jetzt ist aber genug!) vorzuführen, die Sie als Beweis anführen, die aber in keiner Weise der Realität entsprechen, die wir besser re- geln wollen. Dr. Hans-Peter Uhl (CDU/CSU): Dann gestatten Sie mir bitte, dass ich ganz kurz nur noch einen Fall vortra- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ ge. Es geht um einen Nigerianer, der seine Aufenthalts- DIE GRÜNEN – Dr. Hans-Peter Uhl erlaubnis dadurch erlangt hat, dass er eine deutsche Tou- [CDU/CSU]: Das sind Fälle aus München!) ristin in Lagos geheiratet hat. Er ist dann mit ihr nach Deutschland eingereist und hat, weil er früher Asylbe- Herr Uhl, gerade weil es Schicksale gibt wie das der 30-jährigen Kurdin Tülay Oguz – es ist heute mehrfach werber in Deutschland gewesen ist, sofort wieder Kon- zitiert worden –, müssen wir etwas tun. Ich finde: Was takt zu seiner nigerianischen Freundin aufgenommen, die als Asylbewerberin noch hier war. Seine deutsche jetzt geschieht, ist längst überfällig gewesen. Man erlebt manchmal Momente im Parlament, wo man richtig auf- Frau hat er gezwungen zu gestatten, dass seine nigeria- atmet und sagt: Na endlich! nische Freundin in die eheliche Wohnung mit einzieht. Das hat sie freilich abgelehnt. Daraufhin hat er sie so Es ist wirklich ein guter Tag. Wenn Sie einmal auf sehr geschlagen, dass sie die Polizei rufen musste. Sie den Antrag schauen, stellen Sie fest, dass zunächst alle reichte die Scheidung ein. Parlamentarierinnen, die dies unterstützen, genannt wer- den und dann die Männer folgen. Das kommt nicht alle (Dr. Uwe Küster [SPD]: Die Zeit ist nun wirk- Tage vor. Das ist auch ein Zeichen dafür, dass sich lich abgelaufen! Nun ist aber genug!) Frauen um dieses Thema, das tatsächlich in erster Linie Da aber die Dreijahresfrist für ein eigenständiges Frauen betrifft, kümmern, tätig werden und gemeinsam Aufenthaltsrecht noch nicht abgelaufen war – das galt Druck ausüben. Wir haben wirklich lange um diese Re- damals –, hat er natürlich sofort eine neue deutsche Frau form des § 19 des Ausländergesetzes gerungen, um aus- geheiratet und er lebt nach wie vor in Deutschland. Das ländischen Ehegatten und vor allem Ehegatinnen deut- ist das Produkt Ihres Gesetzesvorschlags mit der Fristen- lich früher als bisher das eigenständige Aufenthalts- regelung von zwei Jahren. recht zu geben und um Härtefälle wirklich so zu regeln, Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Januar 2000 7883

Parl. Staatssekretärin Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast (A) (C) dass es dem humanitären Anspruch des Staates gerecht sich auf den Begriff der so genannten außergewöhnli- wird. chen Härte. Darunter versteht man in erster Linie das, was einem Ehepartner in der Heimat droht, wenn er (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ mangels eigener Aufenthaltsberechtigung Deutschland DIE GRÜNEN) verlassen muss. Der Gesetzentwurf, den wir heute bera- Schon vor Jahren ist die Forderung nach einem eigen- ten, spricht von „besonderer Härte“ und will eben auch ständigen Aufenthaltsstatus nicht erst nach vier, sondern die Fälle umfassen, bei denen das weitere Festhalten an schon nach zwei Jahren ehelicher Gemeinschaft und einer tief zerrütteten Ehe in Deutschland unzumutbar nach einer großzügigeren Handhabung im Härtefall er- geworden ist und auch die seelische und körperliche Ge- hoben worden, und zwar nicht nur von uns, den Parla- sundheit von Kindern gefährdet ist. mentarierinnen und Parlamentariern, sondern auch von vielen Frauenverbänden, Menschenrechtsorganisationen Sie beschwören die „Einladung zur Zwangsprostituti- und Vertretern aus Kirchen und Gewerkschaften. Das, on“. Genau das müssen Frauen eher dann erleiden, wenn was heute eingebracht wird, zeigt Augenmaß und stützt sie kein eigenständiges Aufenthaltsrecht haben, wenn sie sich auf einen breiten Konsens in der Gesellschaft. Des- sich nicht wehren können, wenn sie solchen schikanösen wegen hoffe ich auf zügige Beratungen und auf baldige Behandlungen ausgesetzt werden. Gerade dagegen wird Verabschiedung des Gesetzentwurfes. Außerdem, liebe das Gesetz einen Damm errichten. Kollegen und vor allem liebe Kolleginnen, hoffe ich (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ noch immer auf Zuspruch über die Grenzen zwischen DIE GRÜNEN) Regierung und Opposition hinweg. Den haben diese Ini- tiative und diejenigen, die es betrifft, wahrlich verdient. Wir helfen den Opfern dieser Verhältnisse und befreien sie von dem Druck, sich misshandeln und ausbeuten zu (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ lassen, weil sie außerhalb einer schrecklich zerstörten DIE GRÜNEN) Gemeinschaft keine Existenzmöglichkeit für sich sehen. Das, meine Kolleginnen und Kollegen, ist ein Beitrag Herr Kollege Uhl, Sie glaubten, dieses Gesetz sei zu- stimmungspflichtig. Diesen Punkt haben wir in unserem zur Stärkung der Menschenwürde und zum Ab- bau von Gewalt im intimsten Bereich des Zusammen- Hause gründlich prüfen lassen. Wir können tatsächlich lebens. zu einer schnellen und zügigen Verabschiedung kom- men, ungebrochen durch irgendwelche Kompromisse, Die Gesetzesänderung dient aber auch dem Frieden in die wir sonst machen müssten. Ich finde, dass der An- unserer Gesellschaft und der Integration von Zuwande- satz nicht über das Ziel hinausschießt; er ist vielmehr rern; denn ein eigenständiges Aufenthaltsrecht stärkt abgewogen und angemessen. diejenigen, die sich in dieser Gesellschaft wohl fühlen (B) wollen, die sich hier eingliedern wollen. Genau das, was (D) (Beifall bei der SPD – Dr. Hans-Peter Uhl Sie als Gefahr an die Wand malen, sehe ich nicht. Ich [CDU/CSU]: Das bayerische Innenminis- terium kommt zum gegenteiligen Ergebnis!) sehe eher, dass das Gesetz in einer ganz anderen Weise und in einer ganz anderen Richtung hilft. Einige Bemerkungen dazu, dass die Frist zur Erlan- gung des eigenständigen Aufenthaltsrechts halbiert wer- Das Fazit: Nach dem neuen Staatsangehörigkeitsge- den soll. Viele, die sich in der Lebenswirklichkeit aus- setz, nach der Einigung mit den Ländern über eine Alt- kennen, sagen, dass man einer Halbierung zustimmen fallregelung für langjährig hier lebende Familien ist dies kann. Ganz auf eine solche Frist verzichten wollten und die dritte Innovation, die diese Koalition in der Auslän- können wir nicht, denn ein gewisses Maß an Integration derpolitik auf den Weg bringt. Man könnte so schön of- sollen die Betroffenen – da haben Sie Recht – im Regel- fiziell sagen: Die Bundesregierung begrüßt das. Ich gehe fall erlangt haben; außerdem wollen wir Scheinehen ein wenig weiter. Ich sage: Ich bin froh und erleichtert, vermeiden. Aber ich möchte den Unkenrufern im Lager dass wir diesen Reformschritt endlich tun. der Gegner dieses Gesetzentwurfs, die jetzt massenhaf- Danke schön. ten Missbrauch unseres Aufenthaltsrechts via Eheschlie- ßung wittern, entgegenhalten: Erstens sind die zwei Jah- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ re der richtige Zeitraum, um solche Risiken einzu- DIE GRÜNEN) dämmen. Zweitens lehnt diese Bundesregierung eine Migrationspolitik, die ausschließlich von Misstrauen ge- genüber Ausländern geprägt wird, ab. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Ich schließe die Aussprache. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetz- entwurfes auf Drucksache 14/2368 an die in der Tages- Meine zweite Bemerkung betrifft die Härtefälle. ordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt Hierunter fallen diejenigen, die nach kurzer Zeit von ih- es dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der ren Ehepartnerinnen oder Ehepartnern unerträglich schi- Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. kaniert und gequält werden. Solche Fälle dulden keine Wartefrist – weder vier noch drei, noch zwei Jahre. Die Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf: Verbesserung, die 1997 im Zuge der Veränderungen des Ausländergesetzes erreicht worden ist, bleibt, Frau Kol- Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- legin Falk, unzulänglich. Diese Verbesserung beschränkt richts des Finanzausschusses (7. Ausschuss) zu 7884 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Januar 2000

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms (A) (C) dem Antrag der Abgeordneten Dr. Uwe-Jens Mit der Unternehmensteuerreform, die vorgesehen Rössel, Heidemarie Ehlert, Dr. Barbara Höll, wird, geht die Bundesregierung einen ähnlichen Weg. weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS Durch die eingeräumte Möglichkeit der Verrechnung Einstieg in eine umfassende Reform der Fi- des Gewerbesteueraufkommens mit der Einkommens- nanzierung der Städte, Gemeinden und Land- teuerschuld werden die Kommunen, sollte dieser Ge- kreise (Reform der Kommunalfinanzierung) setzentwurf im Bundestag verabschiedet werden, vom Jahre 2001 bis zum Jahre 2004 mit Belastungen in Höhe – Drucksachen 14/1302, 14/2556 – von 4,5 Milliarden DM betroffen. Das sind die neuesten Berichterstattung: Schätzungen des Deutschen Städte- und Gemeindebun- Abgeordnete Bernd Scheelen des – eine unverantwortliche Situation. Jochen-Konrad Fromme Heidemarie Ehlert (Beifall bei der PDS) Zugleich soll die Gewerbesteuerumlage als Ausgleich – Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die diese Umlage ist an Bund und Länder zu zahlen; von Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die diesem Aufkommen haben die Gemeinden nichts – nach PDS eine Redezeit von 5 Minuten erhalten soll. Gibt es dem Willen der Bundesregierung von derzeit 20 Prozent dagegen Widerspruch? – Das ist nicht der Fall. Dann ist auf 26 Prozent im Jahr 2001 gesteigert werden. Das be- es so beschlossen. deutet, dass die Kommunen 4,1 Milliarden DM, die ih- Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat der nen zurzeit noch zur Lösung ihrer eigenen Aufgaben zur Kollege Dr. Uwe-Jens Rössel von der PDS-Fraktion das Verfügung stehen, nicht mehr haben würden. Wort. All das zeigt, die rot-grüne Bundesregierung hat ihre Koalitionsvereinbarung offenbar ad acta gelegt und so- Dr. Uwe-Jens Rössel (PDS): Herr Präsident! Liebe gar einen gegenteiligen Weg eingeschlagen. Das ist Kolleginnen und Kollegen! Der Bund und auch die Län- nicht zu verantworten. der haben die finanziellen Grundlagen kommunaler (Beifall bei der PDS) Selbstverwaltung ausgezehrt. Die kommunalen Inves- titionen entwickeln sich rückläufig. Die Möglichkeiten, Dem steht gegenüber, dass die PDS-Bundes- Zuschüsse an soziale, soziokulturelle und ökologische tagsfraktion ein alternatives Angebot für den Einstieg in Vereine bei der Erfüllung der so genannten freiwilligen eine kommunale Finanzreform gemacht hat. Dieser Ein- Aufgaben zu geben, sind spürbar eingeschränkt. Der stieg beinhaltet insbesondere folgende Grundsätze: Wir Bund und auch die Länder tragen damit dazu bei, dass sind erstens dafür, dass auf Bundesebene endlich das so (B) die demokratischen Grundlagen dieses Staates zumin- genannte Konnexitätsprinzip eingeführt wird. Es be- (D) dest geschwächt werden. Das ist nicht hinnehmbar. sagt, dass der Bund und auch die Länder bei der Verla- gerung von Aufgaben an die Städte und Gemeinden (Beifall bei Abgeordneten der PDS) auch dafür zu sorgen haben, dass die finanziellen Mög- lichkeiten gleichermaßen übertragen werden. Die Bundesregierung hat in ihrer Koalitionsvereinba- rung zugesagt, die Finanzkraft der Kommunen zu stär- (Beifall bei Abgeordneten der PDS) ken und der kommunalen Selbstverwaltung neuen An- Dieser Grundsatz wird vehement belastet und verletzt. schub zu geben. Wer betrachtet, was seit dieser Zeit pas- So werden etwa 25 Prozent der Sozialhilfekosten der siert ist, muss maßlos enttäuscht sein. Die Einsetzung Gemeinden alleine dafür genutzt, die finanziellen Folgen einer internen Regierungskommission mag unterstüt- der Langzeitarbeitslosigkeit zu bezahlen, eine Aufgabe, zenswert sein, reicht aber nicht aus. Nehmen wir die die ganz und gar nichts mit der Verantwortung der Fakten, wie der Bund speziell die kommunale Finanz- Kommunen und ihrer Daseinsvorsorge zu tun hat. ausstattung beeinträchtigt: Zweitens verlangen wir, dass die Gemeinden stabile, Die Sanierung des Bundeshaushaltes – dies liegt sichere, eigenverantwortliche Planungsgrundlagen für nur wenige Wochen zurück – wird vorwiegend zu Las- ihr kommunales Handeln erhalten. Als einen ersten ten der sozial Schwachen, aber auch der Länder und Schritt schlagen wir vor, den Anteil der Städte und Ge- Kommunen vollzogen. Der Bund hat versucht, etwa meinden an der Lohn- und Einkommensteuer von der- 3 Milliarden DM der Einsparungen zu Lasten der Län- zeitig 15 Prozent auf 16 Prozent zu erhöhen. Das ist ge- der bzw. der Kommunen zu verlagern. Die Abschaffung rade einmal der Ausgleich für Fehlentwicklungen der der originären Arbeitslosenhilfe, ein sozialpolitisch ver- vergangenen Jahre. werflicher Akt, hat die finanziellen Grundlagen der Drittens. Besonders belastet und betroffen sind auf- Kommunen allein mit nahezu 1 Milliarde DM ohne ent- grund der eigenen Steuerschwäche die ostdeutschen sprechenden Ausgleich belastet. Die auswuchernden So- Gemeinden. Daher fordern wir die Wiederauflage einer zialhilfeetats sind dadurch weiter angestiegen und ha- kommunalen Investitionspauschale des Bundes, was ben die Möglichkeiten, Probleme im Interesse der Bür- durchaus verfassungsrechtlich möglich ist und wie wir gerinnen und Bürger zu lösen, erheblich geschmälert. es im Grundsatz 1991 und 1993 bereits hatten. Dadurch Darüber hinaus wurde der Unterhaltsvorschuss des Bun- könnten die Gemeinden in Abhängigkeit von ihrer Ein- des weggekippt und auf die Finanzgrundlagen der wohnerinnen- und Einwohnerzahl über stabile Möglich- Kommunen verlagert. Auch das ist nicht hinnehmbar. keiten verfügen, die rückläufige Investitionstätigkeit zu Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Januar 2000 7885

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms (A) (C) stoppen, die die Arbeitslosenzahlen so besonders drama- (Dr. Ruth Fuchs [PDS]: Oh! Das ist aber tisch nach oben getrieben hat. schwach!) (Beifall bei der PDS) Die Sozialdemokratische Partei ist mit ihren Land- tagsfraktionen und mit ihrer Bundestagsfraktion sehr Wir verlangen, dass auch ökologische Momente bei stark in den Kommunen verwurzelt. Wir sind die Kom- der Erhebung der Grundsteuer berücksichtigt werden. munalpartei schlechthin, und das seit über 100 Jahren. Hier gibt es Chancen, die es zu nutzen gilt. (Beifall bei der SPD – Dr. Uwe Küster [SPD]: Ich bitte Sie, im Interesse der Städte, Gemeinden und Und das wollen wir auch so bleiben lassen!) Landkreise, ihrer Einwohnerinnen und Einwohner so- wie des sozialen Milieus in den Städten und Gemein- – Das wird auch so bleiben, Herr Kollege, völlig richtig. den: Stimmen Sie dem Antrag der PDS für eine Re- form der Kommunalfinanzen zu und lehnen Sie den (Zuruf von der CDU/CSU: Das hat man in Beschlussantrag des federführenden Finanzausschusses Nordrhein-Westfalen gesehen!) ab. Deshalb, Herr Kollege Dr. Rössel, bedarf es Ihres Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit. Antrages zu den Kommunalfinanzen nicht. Denn die Koalitionsfraktionen – Sie haben das in Ihrem Antrag ja (Beifall bei der PDS) aus der Koalitionsvereinbarung abgeschrieben – haben vereinbart, die Finanzkraft der Gemeinden zu stärken Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Als (Dr. Ilja Seifert [PDS]: Macht es doch end- nächster Redner hat der Kollege Bernd Scheelen von der lich!) SPD-Fraktion das Wort. und das Gemeindefinanzsystem einer umfassenden Prü- fung zu unterziehen. Deshalb ist Ihr Antrag heute über- Bernd Scheelen (SPD): Herr Präsident! Meine Da- flüssig und wir werden ihn ablehnen. men und Herren! Man muss den Zuhörern auf den Rän- gen, aber auch den Menschen draußen zu dieser Debat- (Dr. Uwe-Jens Rössel [PDS]: Das ist bedauer- te sagen, dass am 13. Februar in Halle Oberbürger- lich!) meisterwahl ist und der Kollege Rössel dort Kandidat Außerdem, Herr Kollege, ist Ihr Antrag vom Inhalt ist. her so gestrickt, dass er sowieso abzulehnen ist. Sie wol- (Beifall bei der PDS – Wolfgang Gehrcke len den Kommunen, wenn man alles zusammenrechnet, was Sie in Ihrem Antrag aufführen, zusätzlich (B) [PDS]: Danke für die Propaganda!) (D) 36 Milliarden DM zukommen lassen. Ich glaube, dass es damit zusammenhängt, dass die PDS dieses Thema rechtzeitig entdeckt hat, um es heute hier (Dr. Uwe-Jens Rössel [PDS]: 50 Milliar- zu behandeln. den DM wurden ihnen genommen! – Dr. Uwe Küster [SPD]: Die PDS will wieder einmal (Dr. Ruth Fuchs [PDS]: Schauen Sie einmal in Steuern erhöhen!) die Unterlagen, wie oft wir das eingereicht ha- ben!) Sie wollen das erreichen, indem der Bund 8 Milliar- den DM aus der Sozialhilfe übernimmt, indem den Ost- Herr Kollege Dr. Rössel, wir kennen uns ja ganz gut. Trotzdem meine ich, Sie müssten nicht Oberbürgermeis- kommunen vom Bund eine Investitionspauschale von 3 Milliarden DM zur Verfügung gestellt wird und indem ter in Halle werden. Ich bin dafür, dass Ingrid Häußler Bund und Länder zusammen auf 14 Milliarden DM aus Oberbürgermeisterin in Halle wird. der Einkommensteuer zugunsten der Kommunen ver- (Beifall bei der SPD – Dr. Ruth Fuchs [PDS]: zichten. Das macht zusammen schon 25 Milliarden DM, Das ist aber Ihr Problem! Das ist nicht unser von denen Sie aber nicht sagen – das ist jetzt mein Vor- Problem! Unser Problem ist er!) wurf –, wie sie finanziert werden sollen. – Dass er für Sie ein Problem ist, kann ich mir vorstel- Dafür gibt es ja nur zwei Möglichkeiten: Die Bundes- len. regierung könnte ein Sparpaket II auflegen. Wenn ich (Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD) mich allerdings an das Lamento erinnere, das Sie beim Sparpaket I, beim Konsolidierungsprogramm, ange- Politik erfährt der Bürger, wenn er nicht gerade Be- stimmt haben, scheint das auszuscheiden. Es bleibt also sucher in diesem Hause ist, am unmittelbarsten in seiner nur eine Steuererhöhung übrig. Sie sagen aber nicht, Kommune, in seiner Stadt, in seiner Gemeinde, in sei- welche Steuern Sie erhöhen wollen, denn Ihre Wunder- nem Landkreis, sei es zum Beispiel durch die Erhöhung waffe Vermögensteuer wollen Sie ja zusätzlich mit der Müllgebühren, für die die Gemeinde die Verantwor- 5 Milliarden DM an die Kommunen durchreichen, wie tung trägt, sei es durch die Unterrichtsversorgung in den auch weitere 6 Milliarden DM aus der Ausweitung des Schulen für die Kinder, für die das Land verantwortlich Kreises der Gewerbesteuerpflichtigen. zeichnet, oder sei es durch die Verbesserung der Rah- menbedingungen im Sportverein der Gemeinde, für die Also was bleibt übrig, um 25 Milliarden DM einzu- der Bund gesorgt hat, indem er zum Beispiel die fahren? Man muss die Mehrwertsteuer um zwei Pro- Übungsleiterpauschale um 50 Prozent heraufgesetzt hat. zentpunkte anheben. Man sollte also den Menschen in 7886 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Januar 2000

Bernd Scheelen (A) (C) Halle auch einmal deutlich machen, was hinter Ihren (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Vorschlägen an Konsequenzen steht. Diese Sparpolitik ist bei Ihnen, bei der versammelten Opposition von PDS bis CSU, auf vehemente Ableh- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Herr nung gestoßen. Aber dieses Zukunftsprogramm 2000 hat Kollege Scheelen, erlauben Sie eine Zwischenfrage des erst die Spielräume eröffnet, um Bürger und Unterneh- Kollegen Dr. Seifert? men weiter von Steuern zu entlasten und gleichzeitig die Neuverschuldung herunterzufahren. Bernd Scheelen (SPD): Bitte schön. (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Dr. Uwe Küster [SPD]: Richtig!) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Herr Der Staat, meine Damen und Herren, muss lernen, Seifert. wieder mit dem Geld auszukommen, das die Bürger ihm geben. Diese Erkenntnis hat es in den 16 Jahren Regie- rungszeit von nicht gegeben. Im Gegenteil: Dr. Ilja Seifert (PDS): Lieber Herr Kollege, Sie wer- Die Staatsverschuldung wurde in Schwindel erregende fen uns gerade vor, dass wir keine Finanzierungsvor- Höhen getrieben. 1,5 Billionen DM liegen als Schulden- schläge für das Geld machen, das der Bund an die berg vor und sind abzuarbeiten. Sie bedingen eine jährli- Kommunen weiterreichen soll. Wollen Sie nicht zumin- che Zinsbelastung des Bundes von 82 Milliarden DM – dest einräumen, dass es unmittelbar zur Konsumption eine Summe, die sich der Normalbürger nicht vorstellen beiträgt, wenn wir Geld in diesen Bereichen in die kann. Kommunen geben, das heißt, das Geld unmittelbar wie- der in den Kreislauf geht, sodass ein sich selbst tragen- Man kann es sich vielleicht so verdeutlichen: Bei 82 der Effekt zu erwarten ist, den Sie überhaupt nicht in Millionen Bürgern entfallen etwa 1 000 DM auf den Rechnung gestellt haben? Kopf jedes einzelnen Mitbürgers. Jeder, von den Neuge- borenen im Kreißsaal bis zu den Menschen auf dem (Beifall des Abg. Dr. Uwe-Jens Rössel [PDS]) Sterbebett, müsste also zu Beginn jedes Jahres erst ein- mal 1 000 DM auf den Tisch legen. Jeder muss 1 000 DM auf den Tisch legen, ohne damit Anspruch auf staat- Bernd Scheelen (SPD): Wenn ich das richtig ver- liche Leistungen zu haben. Das ist die Voraussetzung standen habe, meinen Sie, dass, wenn man 36 Milliarden DM an die Kommunen gibt und sie nicht ge- dafür, dass der Staat überhaupt anfangen kann, etwas zu tun. genfinanziert, das durch einen selbsttragenden Auf- (B) schwung quasi wieder eingespielt wird. Dieses Argu- (D) ment habe ich bei Ihnen nicht gehört, als es darum ging, Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Herr die Unternehmensteuerreform und die Einkommensteu- Kollege Scheelen, erlauben Sie eine Zwischenfrage des erreform zu gestalten. Da sagen wir: Bestimmte Sum- Kollegen Dr. Rössel? men muss man als Staat für verzichtbar erklären, um so etwas zu machen. Dabei haben Sie immer vehement da- gegen argumentiert. Insofern verstricken Sie sich auch Bernd Scheelen (SPD): Sehr gerne. hier wieder in Widersprüche. Was Sie betreiben, ist rei- ner Populismus. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Herr (Beifall bei der SPD) Rössel. Meine Damen und Herren, wir brauchen im Moment keine Steuererhöhungen. Was wir brauchen, sind Steu- Dr. Uwe-Jens Rössel (PDS): Lieber Kollege ersenkungen, und das am Beginn eines Konjunkturauf- Scheelen, Sie haben festgestellt, dass die Bundesregie- schwungs. Die Bundesregierung ist dabei auf sehr gutem rung das Steuerentlastungsgesetz um ein Jahr auf das Weg. Jahr 2001 vorziehen wird. Können Sie bestätigen, dass sich dadurch negative finanzielle Auswirkungen auf die Die zweite Stufe der Einkommensteuerreform ist ge- Kommunen in einem Umfang von 3,5 bis 3,8 Milliarden rade zum 1. Januar dieses Jahres in Kraft getreten. Sie DM jährlich ergeben, da die Kommunen mit 15 Prozent bringt der durchschnittlichen Arbeitnehmerfamilie, ver- an der Lohn- und Einkommensteuer beteiligt sind? glichen mit dem Jahr 1998, dem letzten Jahr der Kohl- Wenn ja, wie wollen Sie diese Verluste für die Kommu- Regierung, einen Zuwachs von über 2 000 DM im Jahr. nen ausgleichen? Durch das Vorziehen der dritten Stufe der Steuerreform auf den 1. Januar 2001 wird die Entlastung auf über (Zustimmung bei der PDS) 3 000 DM weiter ansteigen. Das, meine Damen und Herren, ist die größte Steuerreform, die es in der Ge- schichte der Bundesrepublik jemals gegeben hat. Das ist Bernd Scheelen (SPD): Herr Kollege Dr. Rössel, erst durch konsequente Sparpolitik möglich geworden, eines ist klar: Wenn man Steuersenkungen im Einkom- und zwar durch die konsequente Sparpolitik dieser Bun- mensteuerbereich betreibt, dann sind die prozentualen desregierung und insbesondere von Finanzminister Hans Anteile der Ausfälle, die auf die verschiedenen staatli- Eichel. chen Ebenen entfallen, auch von diesen staatlichen Ebe- Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Januar 2000 7887

Bernd Scheelen (A) (C) nen zu tragen. Die Gemeinden sind mit 15 Prozent an Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Herr der Einkommensteuer beteiligt. Kollege Scheelen, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Ehlert? Jetzt komme ich auf Ihr Argument von eben zurück, das zeigt, wie populistisch Sie argumentieren. Sie haben gesagt, man müsse eine Nettoentlastung vornehmen, Bernd Scheelen (SPD): Ich bin schon von meinen damit es einen selbsttragenden Aufschwung gibt, der die Kollegen darauf hingewiesen worden, dass wir ein we- Steuereinnahmen wieder sprudeln lässt. Genau das ist nig auf die Zeit achten müssen. Ich weiß, dass die Fra- hier unser Ansatz: Wir wollen die Einkommen- und Un- gen nicht auf meine Redezeit angerechnet werden, aber ternehmensteuern senken, um den Menschen mehr Geld sie verlängern die gesamte Dauer der Debatte. Deshalb in die Hand zu geben, damit die Konjunktur weiter an bitte ich Sie, Frau Kollegin Ehlert, um Verständnis, dass Fahrt gewinnen kann und sich der Aufschwung dadurch ich jetzt keine Frage mehr zulassen möchte. stabilisiert. (Dr. Uwe-Jens Rössel [PDS]: Bedauerlich!) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) – Wir unterhalten uns hinterher. Genau das ist die Politik, die wir betreiben. Wenn Sie Die rückläufigen Ausgaben der Sozialhilfe in mehre- sie unterstützen, ist es umso besser. ren Kommunen – wir eruieren gerade, wie viele es ge- Meine Damen und Herren, die 82 Milliarden DM – nau sind – hängen unter anderem mit Anstrengungen zu- an dieser Stelle wurde ich durch die Zwischenfrage un- sammen, die die Bundesregierung zum Beispiel mit dem terbrochen – bedeuten pro Sekunde 2 400 DM Zinsen, Programm zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosig- die der Staat auf den Tisch legen muss. Während meiner keit, das Arbeitsminister Riester aufgelegt hat, unter- zehnminütigen Redezeit sind das, sollte ich sie ausnut- nommen hat. Dieses 2 Milliarden DM teure, überaus er- zen, etwa 2 Millionen DM, die der Staat aufbringen folgreiche Sofortprogramm hat dazu geführt, dass muss. Der Staat aber sind die Bürgerinnen und Bürger, 200 000 Jugendliche von der Straße geholt werden die durch ihre Arbeit und ihre Leistungen an den Staat konnten. Das ist eine großartige Leistung, die sich im diese Schulden abtragen müssen. Deswegen war es überproportionalen Rückgang der Arbeitslosenquote bei dringend an der Zeit, eine Trendwende einzuleiten. Die- den Jugendlichen manifestiert. se ist mit dem Zukunftsprogramm gelungen. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Die ökologisch-soziale Steuerreform belastet die des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Kommunen unter dem Strich nicht, auch wenn in der Öffentlichkeit Gegenteiliges behauptet wird. Die mode- Wir werden Jahr für Jahr die Neuverschuldung re- (B) rate Erhöhung der Kosten – wir haben uns für die Hal- (D) duzieren und im Jahr 2006 zum ersten Mal seit Jahr- zehnten einen ausgeglichen Haushalt vorlegen. Erst bierung der Sätze ausgesprochen und sie beschlossen – bei Strom und Diesel beim öffentlichen Personennah- dann können wir daran gehen, den Schuldenberg abzu- verkehr wird durch die Entlastungen bei der Rentenver- bauen und die Belastungen der Zukunft zu reduzieren. sicherung kompensiert. Weitere Maßnahmen dieses Ge- Das Zukunftsprogramm, Herr Dr. Rössel, belastet die setzes entlasten die Betreiber des öffentlichen Personen- Kommunen unterm Strich eben nicht; insofern sind Ihre nahverkehrs – das sind in der Regel die Stadtwerke – Rechnungen falsch. Die Gemeinden profitieren in vielen auch auf anderen Gebieten. Bereichen. Einige will ich Ihnen nennen: Sie profitieren Berlin – das habe ich heute Morgen im Radio ge- zum Beispiel von der Begrenzung des Anstiegs der Re- hört – hat die Konsequenz daraus gezogen, die Preise in gelsätze in der Sozialhilfe, von der Begrenzung des Zu- diesem Jahr nicht zu erhöhen. Dazu kann ich nur sagen: wachses der Pensionen und der Beamtengehälter, von Gut so, das ist die richtige Entscheidung. der Senkung des Rentenversicherungsbeitrags, den auch die Kommunen als Arbeitgeber zu zahlen haben – ihn Fazit: Die Städte, Gemeinden und Kreise sind bei haben wir jetzt schon um einen Prozentpunkt gesenkt, dieser Bundesregierung in den besten Händen. und weitere Senkungen sind im Rahmen der ökologisch- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten sozialen Steuerreform vorgesehen –, und von Maßnah- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – men im steuerlichen Bereich, beispielsweise von der Abschaffung des Vorkostenabzugs bei den eigenheimzu- Dr. Uwe-Jens Rössel [PDS]: Die sehen das nicht so!) lagebegünstigten Wohnungen und von der Senkung der Höchstsätze für die Eigenheimzulage. Daraus – das wis- Wir werden die Gemeindefinanzen reformieren – das ist sen auch Sie – finanzieren wir eine Erhöhung des in der Koalitionsvereinbarung festgelegt –, und dazu Wohngeldes, und das entlastet wiederum die Kommu- sind bei Bund und Ländern Arbeitsgruppen eingerichtet, nen bei der Sozialhilfe, die sie zu zahlen haben. deren Ergebnisse allerdings – hier bitte ich um ein wenig Herr Kollege Rössel, ich muss Ihnen noch einmal wi- Geduld – abzuwarten sind. Es macht keinen Sinn, die Diskussionen in den Arbeitsgruppen durch öffentliche dersprechen: Die Ausgaben für die Sozialhilfe sind in Debatten zu begleiten. Dabei kommt in der Regel nichts vielen Kommunen rückläufig, Gott sei Dank. herum. (Dr. Uwe-Jens Rössel [PDS]: Eindeutig nicht!) Den Gemeinden kann am besten durch eine Politik – Doch, das ist in vielen Kommunen der Fall. für mehr Wachstum und Beschäftigung geholfen 7888 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Januar 2000

Bernd Scheelen (A) (C) werden. Mehr Arbeitsplätze bedeuten weniger Ausgaben Noch im Frühjahr letzten Jahres haben Sie 4 800 DM bei der Sozialhilfe. Wirtschaftsaufschwung bedeutet versprochen, mit 3 600 DM haben Sie dieses Verspre- sprudelnde kommunale Finanzquellen. chen jetzt „eingelöst“. Eine Gemeindefinanzreform muss sich allerdings Meine Damen und Herren, die kommunalen Spitzen- auch an dem Ziel orientieren, die Einnahmen der Kom- verbände haben in der Winterumfrage festgestellt, dass munen zu verstetigen. Auch muss ein Bindeglied zwi- den Kommunen im nächsten Jahr wieder ein Defizit von schen Wirtschaft und Kommunen erhalten bleiben, wie 2,6 Milliarden DM ins Haus steht. Nach wie vor müssen es im Moment und seit Jahren die Gewerbesteuer dar- viele Städte laufende Ausgaben dauerhaft durch Kredite stellt; das wird auch in Zukunft so sein müssen. Zudem finanzieren, weil ihre Verwaltungshaushalte hohe Defi- müssen wir die Finanzkraft der strukturschwachen zite ausweisen – Originalton Hajo Hoffmann, Städte- Kommunen stärken. tagspräsident und bekanntermaßen Ihr Parteifreund, also ein unverdächtiger Kronzeuge. Wer allerdings glaubt, dafür müsse man Steuern er- höhen, der irrt; denn der Staat – ich wiederhole mich – (Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- muss mit dem Geld auskommen, das ihm die Bürger ge- NEN]: Weil die Landesregierungen teilweise ben. Das gilt nicht nur für den Bund, sondern auch für die Mittel nicht überweisen!) Länder und Gemeinden. Der Streit wird darüber zu füh- Wie es wirklich um die Kommunen aussieht, macht ren sein, wer mit welchen Finanzmitteln auf welcher insbesondere das Beispiel Niedersachsen, in dem dieser Ebene welche Aufgaben zu erfüllen hat. Dazu erarbeiten Bundeskanzler besondere Verantwortung trug, deutlich. die Bund-Länder-Arbeitsgruppen Vorschläge. Ich bin Die Kommunen haben einen Kassenkredit von 2,5 Mil- dafür, dass wir diese diskutieren, wenn sie auf dem liarden DM aufgehäuft. Das heißt: In dieser Höhe haben Tisch liegen, aber nicht heute. sie laufende Ausgaben durch Kredite finanziert, was ei- Vielen Dank. gentlich verboten ist. Das kennzeichnet die Situation. Folge ist ein Rückgang der kommunalen Investitionen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Wenn die Kraft für Ausgaben nicht vorhanden ist, hat DIE GRÜNEN) dies natürlich erhebliche Auswirkungen auf den volks- wirtschaftlichen Kreislauf. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Als Das Finanzsystem zwingt Kommunen, denen auf- nächster Redner hat der Kollege Jochen-Konrad From- grund bundespolitischer Entscheidungen Einnah- me von der CDU/CSU-Fraktion das Wort. men fehlen oder Ausgaben aufgebürdet werden, sich an die jeweilige Landesregierung zu wenden. (B) Die Bundesregierung macht es sich allerdings zu (D) Jochen-Konrad Fromme (CDU/CSU): Herr Präsi- leicht, wenn sie die Finanznöte der Städte und Ge- dent! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Scheelen, meinden mit dem Hinweis auf die Finanzverant- damit es keine Legenden gibt, eines vorab: Von den wortung der Länder abtun. Für einen Teil der 1,5 Billionen DM Schulden musste nahezu die Hälf- Kommunalhaushalte, vor allem für die Jugend- und te aufgewendet werden, um die Folgen von 40 Jahren Sozialhilfe, ist das Ausgabevolumen bundesrecht- Sozialismus zu beseitigen. Diesem Programm haben lich vorgegeben. Zu Recht fordern die kommunalen Sie im Bundesrat uneingeschränkt zugestimmt, so- Spitzenverbände für solche Fälle, dass der Bund dass Sie mit die Verantwortung dafür tragen. Das kön- nach dem Prinzip der Konnexität zwischen Aufga- nen Sie nicht einfach den anderen in die Schuhe schie- benübertragung und Finanzverantwortung die ben. kommunalen Zweckausgaben trägt, soweit die kommunalen Verwaltungen kein nennenswertes (Zuruf von der SPD: Das war doch nur eine Ausführungsermessen haben. Mehr noch: Das Feststellung, dass es sie gibt!) durch die Finanzkrise angespannte Verhältnis zwi- Sie sagen – und das ist richtig –, dass wir keine Steu- schen den Kommunen und den Ländern kann nur ererhöhung gebrauchen können. Aber Sie tun et- durch eine Gemeindefinanzreform verbessert wer- was anderes: Über die AfA-Tabellen erhöhen Sie die den, die das Verhältnis von Aufgaben und Finanz- Steuern klammheimlich in Milliardenhöhe; über die ausstattung wieder in Übereinstimmung bringt.

Ökosteuer beschaffen Sie sich neue Steuermittel. Es Das ist ein Originalzitat von Gerhard Schröder, als er sind keine Steuersenkungen, sondern Steuererhöhun- noch Ministerpräsident war und noch nicht hier in Berlin gen. Regierungsverantwortung hatte. (Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Zuruf von der PDS: Völlig richtig!) NEN]: Was hat denn die CDU/CSU im Steu- erkonzept stehen?) Die Frage der Gemeindefinanzreform lässt sich in meinen Augen nicht isoliert betrachten. Sie gehört in Wie gut die Kommunen bei ihnen aufgehoben sind, den Zusammenhang mit der Reform des Föderalismus. erkennt man auch an Ihren Versprechungen zur Übungs- Deswegen müssen wir uns mit diesen Fragen viel grund- leiterpauschale. sätzlicher beschäftigen. (Dr. Uwe Küster [SPD]: Schauen Sie mal in Deswegen, meine Damen und Herren von der PDS, Ihr Konzept!) greift Ihr Antrag auch viel zu kurz. Seine Umsetzung Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Januar 2000 7889

Jochen-Konrad Fromme (A) (C) würde zwar Geld für die Kommunen bedeuten – das wä- rung angesprochen. Dazu möchte ich Ihnen eine Frage re auch wünschenswert –, aber er verändert die Struktu- stellen. ren nicht, und deshalb ist er abzulehnen. Würden Sie dafür plädieren, den Landkreisen eine ei- Wer ein föderales System will, der muss auch eine gene Steuerhoheit zuzuerkennen? Sollten sie eigene föderale Finanzverfassung haben. Das heißt, Verant- Steuern erheben können? – Dazu möchte ich gern Ihre wortung für Einnahmen und Ausgaben auf jeder Ebene Position erfahren. des Staates wahrzunehmen. Nur dann, wenn es diese wirkliche Verantwortung in einer Hand gibt, können wir auch dazu kommen, dass vernünftig gewirtschaftet wird Jochen-Konrad Fromme (CDU/CSU): Ich bin und die Kommunen für das Ergebnis ihres Handelns schon dafür, dass eine finanzielle Achse zwischen den verantwortlich gemacht werden können. Davon sind wir Bürgern und den Landkreisen geschaffen wird. Ob das meilenweit entfernt, und die Verantwortung dafür liegt im Wege der Erhebung von Steuern passieren muss oder bei Bund und Ländern. ob man das anders regeln kann, muss man im Laufe der Diskussion sehen. Dazu gibt es sehr unterschiedliche Veränderungen sind nicht nur deshalb notwendig, Vorstellungen. Auf jeden Fall muss es nicht eine neue weil Art. 28 GG Rechnung getragen werden muss, son- Steuer geben. dern weil wir davon überzeugt sind, dass kommunale Selbstverwaltung und damit dezentrale Entscheidungs- Wenn ich von Strukturveränderungen rede, beziehe findung, aber auch dezentrale Kreativität und Wettbe- ich mich auf die Frage der qualitativen Verbesserungen werb unter den Kommunen nötig sind. Was für die Län- der Kommunalfinanzen. Zu der Frage des Volumens der gilt, das gilt natürlich auch für die Kommunen. komme ich an anderer Stelle. Die kommunale Finanzausstattung ist in mehrfacher Viertens. Trotz Ausweitung der Aufgaben ist der An- Hinsicht strukturell mangelhaft. teil der Kommunen an den Steuereinnahmen gesunken. Hatten die Kommunen 1991 noch 12,8 Prozent des Erstens. Originäre Aufgaben müssen mit originären Steueraufkommens, so erhielten sie 1999 nur noch 12,3 Einnahmen finanziert werden. Der hohe Anteil von Zu- Prozent. Das wird nach der Finanzplanung im nächsten weisungen und Umlagen an den kommunalen Einnah- Jahr ähnlich sein – trotz erheblich gestiegener Aufwen- men zeigt, dass dieses nicht gewährleistet ist. dungen im Bereich der Jugendhilfe, trotz erheblich ge- Zweitens. Der Zusammenhang zwischen Ausgaben stiegener Aufwendungen im Bereich der Sozialhilfe. und staatlichen Aufgaben muss merklich sein. Wenn Fazit: Qualität und Quantität der kommunalen Fi- der Bürger nicht spürt, dass eine neue Forderung auch nanzausstattung stimmen nicht mehr. Deswegen brau- (B) Geld kostet, dann wird er mehr fordern, als eigentlich zu chen wir eine Gemeindefinanzreform im Rahmen einer (D) bezahlen ist. Wenn diese Merklichkeit nicht wieder her- Föderalismusreform. gestellt wird, werden wir die Vollkaskomentalität nicht beseitigen können. Das ist ein struktureller Mangel, und (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) deswegen müssen wir dies ändern. Das gilt insbesondere für die sehr ausgabenträchtige Ebene der Landkreise, die Die neue Regierung hat versprochen, dass es nicht zu in Bezug auf die Finanzen im Augenblick überhaupt Lastenverschiebungen kommt. Im Koalitionsvertrag ist keine Achse zu ihren Bürgern haben. Man kann unge- – das wurde hier bereits gesagt – das Konnexitätsprinzip straft neue Turnhallen, neue Schulen und Ähnliches for- verankert. Das bedeutet, dass eben Aufgaben und Aus- dern. Das müssen wir ändern. gaben miteinander in Beziehung stehen sollen. Drittens. Diese finanzielle Verbindung muss aber Meine Damen und Herren, Anspruch und Wirklich- nicht nur zwischen der Bürgerschaft und dem Staat be- keit liegen bei Ihnen – wie zum Beispiel auch bei der stehen, sondern sie muss auch zwischen der Wirtschaft steuerlichen Behandlung der Übungsleiterpauschale – und dem Staat bestehen, damit man aufeinander Rück- weit auseinander. sicht nimmt, damit man auf die gegenseitigen Interessen Die jetzige Bundesregierung hat mit dem Sparpaket eingeht. Deshalb muss auch im Rahmen der Unterneh- schwer in die kommunalen Haushalte eingegriffen. Das mensteuerreform über diese Fragen neu nachgedacht war zum großen Teil kein Sparpaket, sondern ein Ver- werden. Wir haben deshalb in unserem Konzept vorge- schiebebahnhof. Allein mit der Neuregelung der originä- sehen, dass uns zunächst einmal ein Gutachter beraten ren Arbeitslosenhilfe, die hier genannt wurde, hat man soll. nach den Aussagen des Städte- und Gemeindebundes circa 2,5 Milliarden DM mal eben zulasten der kommu- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Herr nalen Kassen verschoben. Kollege Fromme, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Ein zweiter schwerer Sündenfall dieser Regierung of- Kollegen Dr. Rössel? fenbart sich in der Finanzierung des Familienaus- gleichs. Jochen-Konrad Fromme (CDU/CSU): Aber bitte. Die A-Länder haben 1996 eine Sonderregelung durchgesetzt, nach der außerhalb der üblichen De- Dr. Uwe-Jens Rössel (PDS): Lieber Kollege ckungsquotenberechnung die Finanzierung des Famili- Fromme, Sie haben das Problem der Landkreisfinanzie- enlastenausgleichs im Verhältnis 74 zu 26 festgeschrie- 7890 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Januar 2000

Jochen-Konrad Fromme (A) (C) ben wurde. Manche von Ihnen wollen das nicht mehr Sie merken: Es gibt strukturelle Mängel in Ihrer Steu- wahrhaben. Zwei von den damaligen Hauptmatadoren, erpolitik en masse. Die Kommunen sind bei Ihnen nicht Herrn Voscherau und Herrn Lafontaine, haben Sie un- gut aufgehoben, wie Sie das versprochen haben. Ganz terwegs verloren. Aber der heutige Bundeskanzler und im Gegenteil: Still und heimlich werden den Kommunen der heutige Finanzminister Eichel haben als Minister- überall neue Daumenschrauben angelegt. Sie werden präsidenten daran mitgewirkt. In den Unterlagen zum neu belastet und können ihre Aufgaben nicht mehr erfül- Gesetzgebungsverfahren war ausdrücklich von einem len. Mit dieser Koalition sind die Kommunen wahrlich Sonderlastenausgleich die Rede. Es sollte nicht, wie Sie nicht gut bedient. Aber das ändert nichts daran, dass die es heute glauben zu machen versuchen, im Rahmen des Union den Antrag der PDS ablehnt; denn dieser Antrag üblichen Berechnungsverfahrens geregelt werden. So sieht keine strukturellen Veränderungen vor. Aber eine ändert sich mit der Position auch die Einstellung. Gemeindefinanzreform muss strukturelle Veränderun- gen umfassen. Nur, aus kommunaler Sicht kann man Ihnen das nicht durchgehen lassen; denn das bedeutet, dass im Laufe der Danke schön. Jahre den Kommunen 6 Milliarden DM vorenthalten worden sind. Das Vorenthalten von 6 Milliarden DM (Beifall bei der CDU/CSU) bedeutet, dass die Kommunen ihrem Auftrag nicht mehr in vollem Umfang nachkommen können. Das bedeutet, Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Als dass die Ausgaben für das kulturelle Leben gekürzt wer- nächste Rednerin hat das Wort die Kollegin Christine den müssen. Wenn Sie einmal offenen Auges durch die Scheel vom Bündnis 90/Die Grünen. Städte und Gemeinden fahren, dann werden Sie sehen, dass im Augenblick die Unterhaltung der Straßen und der Hochbauten sträflich vernachlässigt wird. Wir wer- Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): den bitter erfahren, dass in Zukunft eine Bauhypothek Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Mit der Be- nach der anderen aufgenommen wird. Jeder Einfamili- schreibung irgendwelcher Horrorszenarien bezüglich der enhausbesitzer weiß, dass eine unterlassene Unterhal- finanziellen Entwicklung in den Kommunen wird keiner tungsmaßnahme am Ende sehr viel teurer wird. Kommune geholfen. Wir müssen stattdessen die födera- len Finanzen grundsätzlich und umfassend neu ordnen. Es droht neues Ungemach. Wenn der von Ihnen neu Um dies zu erreichen, haben wir aufgrund des Urteils ins Amt berufene Kartellamtspräsident den Querverbund des Bundesverfassungsgerichts vom 11. November letz- über den Weg des Wettbewerbrechts aus den Angeln ten Jahres den Auftrag erteilt, dass der Finanzausgleich heben will – hier geht es um ein Finanzvolumen von insgesamt auf eine neue Grundlage zu stellen ist. Die 10 Milliarden bis 20 Milliarden DM, mit dem im Au- Arbeiten an diesem Gesetz werden forciert fortgeführt. genblick die Kommunen zum Beispiel den ÖPNV sowie (B) Die Kommunen werden selbstverständlich – das ist für (D) kulturelle und sportliche Einrichtungen finanzieren –, die Regierung eine klare Sache – an diesen Arbeiten be- dann müssen Sie für eine Ersatzfinanzierung sorgen. teiligt. Das heißt, man versucht, die vorhandenen Prob- Das Ganze setzt eine Abwärtsspirale in unserer leme aufzudröseln. Volkswirtschaft in Gang: Es fehlen Aufträge. Das Feh- len von Aufträgen bedeutet weniger Arbeit. Dies bedeu- Da hilft ein solcher Antrag wenig. Wir wissen alle, dass die derzeitige Vermischung von Kompetenzen zwi- tet wiederum einen Mehrbedarf für die Arbeitslosenun- schen Bund, Ländern und Kommunen und auch die terstützung. Dies bedeutet weniger Steuereinnahmen. Deswegen muss hier Grundlegendes geschehen. staatlichen Finanzströme innerhalb des föderalen Auf- baus immer unübersichtlicher geworden sind. Aber das Wichtigste – das kann auch schnell erledigt werden – ist eine gute Wirtschaftspolitik für mehr Arbeit (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- und Beschäftigung. Eine solche Politik kann im Rahmen SES 90/DIE GRÜNEN) des vorhandenen Systems – ohne Korrekturen – für Das hat nicht die neue Regierung zu verantworten; mehr Geld in den kommunalen Kassen sorgen. In dem, vielmehr ist dies die Entwicklung der letzten Jahrzehnte. was wir für richtig halten, unterscheiden wir uns sehr Wir wissen alle, dass das von Mischfinanzierungen ge- deutlich von Ihnen. prägte Bild oftmals auch für die finanzielle Verantwor- Ich möchte jetzt nicht im Einzelnen die Fragen der tung der einzelnen Ebenen und für den effizienten Um- Unternehmensteuerreform aufribbeln. Aber ich möch- gang mit Geldern nicht gerade förderlich ist. te einen Punkt herausgreifen, nämlich die Anrech- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN nung der Gewerbesteuer auf die Einkommensteuer. sowie bei Abgeordneten der SPD) Sie wollen das auf der Basis des doppelten Messbetrages machen. Das ist eine Einladung zur Anhebung der Das ist ein Grundproblem, das gelöst werden muss. Gewerbesteuer; denn jede Gemeinde, deren Hebesatz zurzeit unter 400 Punkten liegt, kann die Gewerbesteu- Herr Fromme, Sie haben angesprochen, dass Kom- er auf 400 Punkte anheben, ohne dass es den Steuer- munen auf bestimmten Maßnahmen sitzen bleiben. Das pflichtigen selber trifft; denn dieser bekommt es liegt – man muss sagen: leider – oft auch daran, dass vom Finanzamt wieder. Ich möchte einmal den Stadt- vonseiten der Länder Komplementärmittel eingestellt kämmerer sehen, der angesichts der Notlage, in die Sie werden sollen – die Aufträge waren genehmigt, die ihn durch Ihre Politik gebracht haben, dies nicht tun Kommunen haben Vorfinanzierungen geleistet –, diese wird. sich dann aber aus der Finanzierungsverantwortung zum Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Januar 2000 7891

Christine Scheel (A) (C) gegebenen Zeitpunkt erst einmal zurückgezogen haben. das wir seit über einem Jahr verwirklichen, ist natürlich Dementsprechend müssen die Kommunen mit einer ho- auch Politik im Interesse der Kommunen. hen Zinslast vorfinanzieren. Wir kennen das vor allem aus Bayern. Wir setzen unsere Haushaltskonsolidierung fort. Wir setzen ganz eindeutig auf eine wachstumsorientierte (Jochen-Konrad Fromme [CDU/CSU]: Ganz Steuerpolitik. Wir lenken den Fokus auf mehr Investiti- besonders aus Niedersachen!) onen und Beschäftigung. Dies wird den Kommunen nüt- zen. Es bringt mehr Arbeitsplätze und baut die Sozialhil- Nicht ohne Not erzielt der bayerische Landeshaushalt fe ab. Das – nicht irgendwelche populistischen Forde- zwar in der Öffentlichkeit eine gute Wirkung; aber da- rungen – ist der richtige Weg. hinter steckt auch, dass man viele Gelder noch nicht durchgereicht hat. Danke schön. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) und bei der SPD) In der neuen Finanzverfassung muss glasklar definiert werden, welche Ebene für welche Aufgabe zuständig ist. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Als Demzufolge muss die finanzpolitische Kompetenz ver- nächster Redner hat der Kollege Gerhard Schüßler von teilt werden. Mehr finanzielle Autonomie bedeutet ein der F.D.P.-Fraktion das Wort. stärkeres Interesse an Steuereinnahmen und auch mehr Wettbewerb zwischen den Standorten. Das sollte man Gerhard Schüßler (F.D.P.): Herr Präsident! Meine nicht unterschätzen. Damen und Herren! Kollege Rössel, Ihr Antrag ist PDS- typisch: Er zeigt Probleme auf, ohne in irgendeiner Wei- Herr Rössel, Sie haben die Zahlen angesprochen. Niemand bestreitet, dass die Kommunen in den neuen se Lösungsansätze zu bieten, allenfalls solche, die nicht realisierbar sind. Bundesländern über einen sehr engen finanziellen Spiel- raum verfügen. Die Landesrechnungshöfe haben Bei- (Zuruf des Abg. Bernd Scheelen [SPD]) spiele für Ausgaben geliefert, über deren Sinn man strei- ten kann. Darüber sind wir uns in diesem Hause einig. – Herr Kollege Scheelen, wir können hier in einer hal- Auf der anderen Seite muss man die Gesamtverantwor- ben Stunde keine kommunalpolitische Generaldebatte tung des Bundes für die Entwicklung des Ganzen sehen. führen. Wir sind Bundespolitiker. Ich verstehe gut, dass Sie, (Zuruf von der SPD: Gott sei Dank!) weil Sie in Halle Wahlkampf machen, versuchen, (B) Wenn wir eine solche führten, dann müsste man auf vie- (D) Kommunalpolitik in die Debatte einzubringen und dem- les von dem eingehen, was Sie gesagt haben. Dann wür- entsprechend hier den Kommunalpolitiker mimen. Wir de von Ihrem Anspruch, die Kommunalpartei in tragen eine Gesamtverantwortung, und zwar für alle Deutschland zu sein, nicht allzu viel übrig bleiben. Länder und alle Kommunen. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Wenn wir uns die Zahlen für 1999 anschauen, dann wird deutlich, dass der Bund und die Länder Defizite Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir brau- ausweisen, während die Kommunen mit einem Finanzie- chen eine radikale Selbstverantwortung der Kommu- rungsüberschuss von insgesamt 2,5 Milliarden DM we- nen. Das setzt aber voraus – Frau Scheel hat schon dar- sentlich günstiger dastehen. Zur Erinnerung: 1997 hatten auf hingewiesen –, auch die Verteilung von Steuerquel- die Kommunen noch ein Defizit von 5,9 Milliarden DM. len in einer Weise zu verändern, dass der erhöhten Das Gesamtdefizit ist zurückgegangen, weil die Kom- Selbstverantwortung der Kommunen Rechnung getragen munen ihrer Verantwortung, ihre Haushalte zu konsoli- wird. Das wird aber nie Erfolg haben, wenn bei der Ver- dieren, Rechnung getragen haben. teilung der Staatsaufgaben auf Bund, Länder und Ge- meinden alles so bleibt wie bisher. Ich möchte noch eine Prognose für das Jahr 2000 ab- Es gibt einen unauflösbaren Zusammenhang, der da geben. In den Zahlen des BMF wird davon ausgegan- lautet: Reform der Finanzverfassung. Inzwischen hat gen, dass die Kommunen als einzige föderale Ebene mehr Einnahmen als Ausgaben haben werden. Die Rede auch das Bundesverfassungsgericht festgestellt, dass die Reform der Finanzverfassung unabweisbar ist. Nur in ist von 1,5 Milliarden DM. diesem Zusammenhang kann es die von niemandem (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN mehr bestrittene Gemeindefinanzreform geben. Wer sowie bei Abgeordneten der SPD) diese Voraussetzung nicht sieht, läuft mit allen Gedan- ken, Ideen und Anträgen schlicht und einfach ins Leere. Wenn man das Zukunftsprogramm 2000 anschaut, Das Herumdoktern an Symptomen führt keinen Schritt dann erkennt man, dass es Ihrerseits der Ehrlichkeit hal- weiter. Das gilt auch für den uns heute vorliegenden An- ber angebracht wäre, diejenigen Teile, die sich von die- trag der PDS, der zwar – das räume ich ein – manche sem Reformpaket positiv auf die Kommunen auswir- Reformnotwendigkeiten als Problem richtig beschreibt, ken – beispielsweise die Begrenzung des Rentenanstiegs aber keine realistischen Lösungen aufzeigt. oder die Eigenheimzulage –, anzuerkennen, statt es mit keiner Silbe zu erwähnen. Wir müssen den Bogen etwas Im Übrigen enthält der Antrag auch Horrorszenarien, weiter schlagen: Das gesamte Zukunftsprogramm 2000, die dem richtigen Gedanken von mehr Selbstverantwor- 7892 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Januar 2000

Gerhard Schüßler (A) (C) tung fundamental widersprechen. Darauf habe ich schon Wort dem Kollegen Wolfgang Gehrcke von der PDS- bei der Einbringung des Antrags in diesem Hause hin- Fraktion. gewiesen. (Uwe-Jens Rössel [PDS]: Zum Beispiel?) Wolfgang Gehrcke (PDS): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir wollen mit dieser Aktu- – Ich nenne als Beispiel nur die Revitalisierung der Ge- ellen Stunde dem Bundestag die Gelegenheit geben, werbesteuer. Alles andere will ich heute nicht wiederho- über den Krieg in Tschetschenien zu diskutieren. Uns len. schien, dass die von Außenminister Fischer in Moskau Mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom geführten Gespräche dazu der richtige Anlass seien. Ich 11. November des vergangenen Jahres rückt der Finanz- hätte mir allerdings gewünscht, dass der Bundestag un- ausgleich, der Teil unserer föderativen Ordnung ist – das ter Anwesenheit von noch mehr Abgeordneten zu einem ist den meisten nicht mehr bewusst – in das Zentrum des früheren Termin darüber diskutiert hätte. Mein Dank an öffentlichen Interesses. alle Kolleginnen und Kollegen, die zu dieser Stunde an dieser Debatte teilnehmen. Im letzten Jahrzehnt hat der Umfang der Umvertei- lung von Steuereinnahmen zwischen den Gebietskörper- Aus meiner Sicht ist die an der Reise des Außenmi- schaften ganz erheblich zugenommen, und das ganz ge- nisters nach Moskau geübte Kritik unangemessen. Kei- wiss nicht zum Vorteil der Kommunen. Daran haben al- ner konnte erwarten, dass substanzielle Ergebnisse er- lerdings auch die Länder ein erhebliches Maß an Mit- zielt werden. Ich halte es für notwendig, dass gerade in schuld. Krisenzeiten der Dialog nicht abreißt, man auf Dialog setzt und daran arbeitet. Die Gründe dafür liegen nicht allein in den Folgen der deutschen Einheit. Nein, die Gründe liegen darin, (Beifall bei der PDS sowie der Abg. Claudia dass es keinen angemessenen Finanzausgleich mehr Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- gibt. Eine weit gehende Nivellierung ist zum Prinzip NEN]) geworden. Die damit verbundenen großen Probleme – in Sonderheit für die Gemeinden – sind Anlass, nicht nur Das war übrigens schon zu Zeiten der alten Regierung den Finanzausgleich, sondern die Gestaltung unserer fö- so, wenn man zum Beispiel an den Krieg in Afghanistan derativen Ordnung insgesamt zu überdenken. denkt. Wir müssen die Fehlentwicklungen, deren Vorhan- Aus meiner Sicht ist eine Doppelstrategie der deut- densein im Grundsatz von niemandem bestritten wird, schen Politik notwendig. Diese sollte aus einer strikten stoppen und Prinzipien wie Eigenverantwortlichkeit, Ablehnung des Krieges und dem gleichzeitigen Behar- (B) Subsidiarität und Solidarität in ihrem Verhältnis zuein- ren auf Sicherheit für Russland bestehen. Es kann keinen (D) ander neu ordnen. Das ist unsere primäre Aufgabe. Der Zweifel geben: Der Krieg Russlands in Tschetschenien PDS-Antrag wird dieser Aufgabe in keiner Weise ge- ist nicht akzeptabel – weder moralisch noch politisch, recht. Darum wird die F.D.P.-Fraktion ihm auch nicht noch völkerrechtlich. zustimmen. (Beifall bei der PDS) (Beifall bei der F.D.P.) Auch wenn dies in Moskau anders gesehen wird: Es handelt sich um einen Krieg. Terroristen bekämpft man Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Ich nicht mit Panzern, Artillerie, Flugzeugen und einer gan- schließe die Aussprache. Wir kommen zur Beschluss- zen Armee. Das Völkerrecht spricht in diesem Falle von empfehlung des Finanzausschusses zu dem Antrag der angemessenen Mitteln. Die hier eingesetzten Mittel sind Fraktion der PDS zu einer Reform der Kommunalfinan- nicht angemessen. zierung, Drucksache 14/2556. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/1302 abzulehnen. Wer Für mich steht auch fest, dass die Ursachen dieses stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegenstim- Krieges nicht nur in Tschetschenien selbst, sondern auch men? – Enthaltungen? – Dann ist die Beschlussempfeh- in der russischen Innenpolitik zu suchen sind. Ich glau- lung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der be, dass der Aufstieg des amtierenden Ministerpräsiden- CDU/CSU und der F.D.P. gegen die Stimmen der PDS ten in gewisser Weise damit verbunden ist. Mich be- angenommen. sorgt, dass man heute mit Kriegen und nicht mit Frieden Wahlen gewinnen kann. Das möchte ich gerne geändert Ich rufe auf den Zusatzpunkt 12: haben. Aktuelle Stunde (Beifall bei der PDS) auf Verlangen der Fraktion der PDS Mich besorgt, dass ich keine politische Konzeption Russlands, wie es aus diesem Krieg herauskommt, er- Die Ergebnisse des Russland-Besuches des kennen kann. Eine solche politische Konzeption muss deutschen Außenministers Joseph Fischer am eingefordert werden. Wir als Deutscher Bundestag soll- 20. Januar 2000 und die Haltung der Bundes- ten an unsere Kolleginnen und Kollegen in der russi- regierung zum Tschetschenienkrieg schen Duma appellieren, den Krieg in Tschetschenien zu Ich eröffne die Aussprache. Als Antragstellerin hat beenden. Seitens der Duma sollte deutlich gemacht wer- die PDS Anspruch auf die erste Rede. Ich erteile das den, dass Russland Frieden auch in Tschetschenien will. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Januar 2000 7893

Wolfgang Gehrcke (A) (C) Wir sollten an sie appellieren, dass die Bereitschaft in- zu werben. Ebenso klar, wie wir Russland kritisieren, ternationaler Organisationen hier zu vermitteln, ange- muss unsere Ablehnung des tschetschenischen Terro- nommen wird. Wir sollten an sie appellieren, den dorti- rismus ausfallen. gen Flüchtlingen endlich zu helfen. Ich glaube, wir ha- Die russische Regierung muss den ersten Schritt tun. ben ein Recht, in diesem Sinne an unsere russischen Sie muss eine friedliche Lösung wollen. Hilfreich wäre Kolleginnen und Kollegen zu appellieren. es, wenn sie die internationale Öffentlichkeit einbezöge (Beifall bei der PDS sowie der Abg. Claudia und dafür die Voraussetzungen schaffte. Notwendig ist, Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- dass die internationale Öffentlichkeit – die NGOs, Re- NEN]) gierungen, Parteien und internationale Organisationen – über den Kaukasus und das Kaspische Meer spricht, die Zur Wahrheit gehört aber auch, dass im Kaukasus die Lage analysiert und die Interessenkonstellationen be- Interessen verschiedener Kräfte, die Interessen Russ- nennt. Kenntnis, Aufgeschlossenheit und Vorschläge der lands, Europas, der USA und anderer Staaten – übrigens internationalen Öffentlichkeit würden es den Konflikt- auch die der NATO – aufeinander stoßen und dass man parteien in der Region erleichtern, einen Dialog aufzu- mit solchen Interessen sensibel umgehen muss. Zur nehmen. Ich erwarte, dass die deutsche Politik dazu ei- Wahrheit gehört auch, darauf hinzuweisen, dass viele nen Beitrag leistet. Es geht um Sicherheit für Russland Äußerungen – aus meiner Sicht zu Recht – Unruhe in und Friede in Tschetschenien. Moskau auslösen. (Beifall bei der PDS) Auf eine dieser Äußerungen möchte ich kurz einge- hen: Für die USA gebe es eigentlich nur eine Region, für die es sich wirklich zu kämpfen lohne, schrieb im Som- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Als mer 1998 der damalige Stellvertretende Direktor im Bü- nächster Redner hat der Kollege Kurt Palis von der ro des Staatssekretärs im US-Verteidigungsministerium, SPD-Fraktion das Wort. David Tucker. Dieses Gebiet sei „das Gebiet vom Persi- schen Golf nördlich bis zum Kaspischen Meer und öst- lich bis nach Zentralasien“. Er klärt seine Leser auf, wa- Kurt Palis (SPD): Herr Präsident! Liebe Kollegin- rum man für dieses Gebiet kämpfen sollte: Diese Region nen, liebe Kollegen! Was als kurzfristige Operation zur berge rund 75 Prozent der weltweiten Öl- und Bestrafung und Eliminierung einiger weniger Terror- 33 Prozent der Erdgasreserven. banden ausgegeben wurde, ist zu dem geworden, was Ich kann das Gefühl Russlands, eingekreist zu wer- nicht wenige Beobachter von vornherein vorausgesehen den, verstehen; es ist nicht von der Hand zu weisen. Ich haben: zum zweiten Tschetschenienkrieg Russlands, (B) nenne in diesem Zusammenhang die Osterweiterung der der inzwischen in den fünften Monat geht. Ein erfolgrei- (D) NATO, die Beitrittswünsche der baltischen Staaten und ches Ende der Kämpfe ist entgegen wiederholter russi- Georgiens, das Angebot Aserbaidschans, NATO- scher Ankündigung nicht abzusehen. Die tschetscheni- Kontingente auf seinem Territorium zu stationieren, die sche Hauptstadt Grosny erlebt, obwohl bereits in Trüm- neuen Trassen für Erdölpipelines unter Umgehung der mern liegend, pausenlos Luft- und Artillerieangriffe, da- billigeren russischen Transportwege und die Debatte, die zu einen Häuserkampf Mann gegen Mann. darüber geführt wird, ob diese Pipelines militärisch Wie viele Zivilpersonen ihr Leben lassen mussten, ist durch die Türkei geschützt werden sollen. Ich habe das nicht bekannt; viele müssen aber noch in den Kellern Gefühl, dass der Krieg in Tschetschenien ohne den von Grosny um ihres fürchten. Russland meldet offiziell Krieg im Kosovo nicht möglich gewesen wäre. Der circa 600 tote Soldaten und 1 500 Verwundete. Die Krieg im Kosovo hat die Sitten verwildern lassen. Moskauer Presse misstraut den Angaben und schätzt (Beifall bei der PDS) die Verluste auf mindestens 1 300 Tote und circa 5 000 Verwundete. Das „Komitee der Soldatenmütter“ Ich empfinde die Situation so: Zwei Züge rasen auf- in Moskau geht mit seinen Schätzungen darüber hinaus einander zu, und zwar von der einen Seite die neue NA- und spricht von 3 000 Toten und 6 000 Verwundeten. TO-Konzeption, der Krieg im Kosovo, die ausbleibende Hinsichtlich der Rebellenverluste schwanken die Anga- Ratifizierung des Atomteststoppabkommens und die ben zwischen mehreren Hundert und einigen Tausend. Debatten über die Aufkündigung des ABM-Vertrages sowie von der russischen Seite der Krieg in Tschetsche- Meine Fraktion unterstützt die Bundesregierung in ih- nien, eine neue Sicherheitsdoktrin, die Senkung der rem Bemühen, mäßigend auf die russische Politik ein- Schwelle für Atomwaffeneinsätze und die gerade heute zuwirken erschienene Meldung, die Rüstungsausgaben für das Jahr 2000 um 50 Prozent zu erhöhen. (Beifall des Abg. Gert Weisskirchen [Wies- loch] [SPD]) Die Wege aus dem Krieg heraus müssen auf der Grundlage einer solchen Doppelstrategie gefunden wer- und für eine Beendigung der Kampfhandlungen zu wer- den. Russland muss die Sicherheit haben, dass Deutsch- ben. land für seine territoriale Integrität in Wort und Tat ein- (Beifall bei der SPD) tritt. Wir sollten unsere guten Beziehungen zu Georgien und Aserbaidschan nutzen, um auch dort für gute Nach- Bombardierungen und groß angelegte militärische Bo- barschaft und die Sicherheit der Grenzen von Russland denoperationen sind keine geeigneten Mittel der Terro- 7894 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Januar 2000

Kurt Palis (A) (C) rismusbekämpfung. Die zivilen Opfer und die Zerstö- Ich habe vor wenigen Minuten einer Tickermeldung rung von Dörfern und Städten wiegen am Ende schwerer von Interfax von heute entnehmen können, dass Russ- als die dadurch erreichte Schwächung von Terroristen. land die humanitären Hilfsaktionen im Nordkaukasus unterstützen wolle – so der amtierende Präsident Putin Auch wenn wir nachvollziehen können, dass man gegenüber dem UN-Generalsekretär Kofi Annan. Es nach den verheerenden Bombenanschlägen auf russische bleibt jedoch das wichtigste Ziel, die russische Seite und Wohnhäuser die Schuldigen zur Verantwortung ziehen die tschetschenischen Kämpfer zu einer Deeskalation will, appellieren wir auch von dieser Stelle aus an die und Einstellung der Kämpfe zu bewegen. russische Seite, die Verhältnismäßigkeit der Mittel zu beachten und die vielen unschuldigen Menschen nicht (Dr. Ilja Seifert [PDS]: Richtig!) zu übersehen, die ihr Leben, ihre Gesundheit und ihr

Hab und Gut verlieren. Die gegenwärtige militärische Eskalation birgt die (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Gefahr in sich, sich in einen anhaltenden Guerillakrieg DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr. Ilja Seifert zu verzetteln und die gesamte Kaukasusregion zu desta- [PDS]) biliseren. Eine dauerhafte Lösung der Probleme in dieser Die Erwartung jedoch, der deutsche Außenminister Region kann nur politisch herbeigeführt werden. werde mit seinem Appell zur Beendigung der Kampf- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ handlungen in Moskau auf offene Ohren treffen, wäre DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der auf jeden Fall unrealistisch gewesen. Soweit ich sehe – PDS) Herr Kollege Gehrcke hat das eben noch einmal bestä- tigt –, ist sie auch nicht geäußert worden. Selbst die PDS Dies Ihren Gesprächspartnern in Moskau in eindringli- als die diese Aktuelle Stunde beantragende Fraktion cher Weise vorgetragen zu haben, entsprach vollständig muss eigentlich mit dem Ergebnis des Gesprächs von der Erwartung meiner Fraktion. Dafür, Herr Minister Fi- Minister Fischer mit Wladimir Putin und Außenminister scher, danken wir Ihnen. Iwanow zufrieden sein. Zum Beleg zitiere ich den ADN- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Bericht von Mittwoch, dem 26. Januar 2000, über die DIE GRÜNEN) Demonstration der PDS vor der russischen Botschaft, wo es heißt: Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Herr Eine Isolierung oder gar ein Embargo hielt Gysi für Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss. gefährlich, da diese Maßnahmen mit Sicherheit zu einer Verhärtung der Situation führen würden. (B) (D) Auch wolle man den europäischen Frieden mit sol- Kurt Palis (SPD): Ich komme zum Schluss. chen Forderungen nicht aufs Spiel setzen. Wir sind der Ansicht, dass der Dialog mit Moskau Das klingt richtig staatsmännisch. nicht abgebrochen werden darf. Nur durch weitere Ge- (Wolfgang Gehrcke [PDS]: Das sind wir doch spräche und Anmahnungen kann die russische Regie- rung zu einer friedlichen Lösung in Tschetschenien ge- auch!) drängt werden. Wie aber sollen die europäischen Institutionen und die Bundesregierung bei all dem auch noch „wirksame- Abschließend möchte ich darauf hinweisen, dass die- ren Druck auf die russische Staatsführung ausüben“, ser Ministerbesuch weitere Ergebnisse hatte, die für die wie ADN Sie weiter zitiert, Herr Gysi? Dies ist, wie Entwicklung der Beziehung zwischen Deutschland und mir scheint, eine hohle Forderung. Sollten sich jedoch der NATO einerseits und Russland andererseits von Ihre Pläne bezüglich der Reise nach Moskau realisie- großer Bedeutung sind: Wenn es alsbald gelingt, die in- ren lassen, dann können Sie ja zeigen, wie dies funktio- stitutionellen Beziehungen im NATO-Russland-Rat niert. wieder zu beleben, so ist dies ebenso begrüßenswert wie die Festigung und der Ausbau der bilateralen Beziehun- Meine Damen und Herren, die SPD-Fraktion begrüßt gen zwischen unseren Ländern. Wir werden uns jeder- die Ankündigung der OSZE, in Tschetschenien ein Büro zeit dafür einsetzen. Doch zunächst müssen die Waffen zu eröffnen und vor Ort humanitäre Hilfe leisten zu wol- in Tschetschenien schweigen. len. Die humanitäre Notlage, insbesondere das Heer der circa 200 000 Flüchtlinge in Inguschetien, erfordert so- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ fortiges Handeln. Die internationalen Hilfsorganisatio- DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der nen sollen und wollen schnell und wirksam helfen. CDU/CSU, der FDP und der PDS) Wenn die russische Regierung in Zusammenarbeit mit den örtlichen Behörden dafür die Voraussetzungen Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Als schafft, werden wir darin auch einen wichtigen Teiler- nächster Redner hat das Wort der Kollege Andreas folg des Moskaubesuchs unseres Außenministers erken- Schockenhoff von der CDU/CSU-Fraktion. nen können.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Dr. Andreas Schockenhoff (CDU/CSU): Herr Prä- DIE GRÜNEN) sident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vielleicht hät- Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Januar 2000 7895

Dr. Andreas Schockenhoff (A) (C) ten wir diese Aktuelle Stunde auf Antrag der PDS ja gar die Zustimmung in der Bevölkerung geben, die er heute nicht gebraucht, wenn Vertreter der PDS vor zwei Tagen genießt. Deswegen müssen wir aufpassen, dass die Ap- im Auswärtigen Ausschuss anwesend gewesen wären, pelle, die gut gemeint und die auch richtig sind, in dieser als wir zu diesem Thema gesprochen haben. Situation nicht zu einer Demonstration der Hilflosigkeit des Westens werden. Der Krieg hat innenpolitische Mo- (Wolfgang Gehrcke [PDS]: Da haben wir tive. Deswegen zeigt die Reaktion Russlands, dass es demonstriert!) sich nicht für unsere Haltung in dieser Frage interessiert. – Herr Gehrcke, ich komme gleich darauf zu sprechen. Sie haben sich in aller Form und korrekt entschuldigt. (Kurt J. Rossmanith [CDU/CSU]: Leider Sie waren bei der Demonstration vor der russischen Bot- wahr!) schaft hier in Berlin. Die Entwicklungen im Kaukasus stehen viel stärker (Dr. Helmut Lippelt [BÜNDNIS 90/DIE als beim ersten Tschetschenienkrieg im Kontext wach- GRÜNEN]: Druck ausüben!) sender geostrategischer Gegensätze zwischen Russland und anderen Regionalmächten wie etwa der Türkei. Mich hat ein Anflug von Ironie überkommen, dass Aber in zunehmender Weise haben auch die Vereinigten die Nachfolger der SED, die früher die Völkerfreund- Staaten von Amerika den Kaukasus und Zentralasien schaft mit dem sozialistischen Brudervolk demonstriert explizit zu einer strategischen Interessenzone erklärt. haben, auf der Straße Unter den Linden gegen den Krieg in Tschetschenien demonstrieren. Der Frankfurter Spon- (Wolfgang Gehrcke [PDS]: Eben!) ti und Friedensaktionist Joseph Fischer sitzt in feinem Demgegenüber ist die öffentliche Reaktion der Verei- Tuch im Deutschen Bundestag und erklärt, warum wir nigten Staaten jetzt auffallend zurückhaltend. Wir Euro- gegenüber den Kriegsherren im Kreml Zurückhaltung päer stehen erst am Anfang, eine gemeinsame Strategie walten lassen müssen. Herr Außenminister, das war gegenüber Russland zu entwickeln, die wir dringend schon eine ironische Situation. brauchen. Im Moment besteht Einigkeit noch nicht in Ich hätte gern Gedanken gelesen. Mich würde inte- hinreichendem Maße. Aber wir sind diejenigen, die Ak- ressieren – Sie brauchen es nicht hier vor dem Hohen tivitäten entfalten und die sich zum Musterschüler ent- Hause sagen, aber vielleicht sagen Sie es mir einmal un- wickeln, indem wir nach Moskau fahren, um Appelle zu ter vier Augen; Sie haben ja die Seiten gewechselt –: überbringen. Der Verdacht kann ja nicht von der Hand gewiesen werden, dass die Aktionen auch bei uns (Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ manchmal eher aus innenpolitischen oder auch aus par- DIE GRÜNEN – Rita Grießhaber [BÜND- teiinternen Motiven erfolgen. NIS 90/DIE GRÜNEN]: Herr Schockenhoff (B) (D) hätte so gerne einen Privattermin!) – Dr. Uwe Wir begrüßen, dass sich Europa seit dem ersten Küster [SPD]: Nehmen Sie mal Herrn Kohl in Tschetschenienkrieg intensiver in der Region enga- den Beichtstuhl!) giert. Das beste Beispiel ist die Aufnahme Georgiens in den Europarat im vergangenen Jahr. Wir begrüßen den Wenn Sie vorübergehend für ein paar Stunden Ihre Versuch, mit Russland gemeinsam Maßnahmen zur Be- Kleider umtauschen könnten, hätten Sie dann nicht Lust, friedung des Kaukasus vorzuschlagen. Wir glauben aber wieder einmal in einer solchen Situation an einer fetzi- nicht, dass dies mit einem Russland möglich ist, das ei- gen Demonstration teilzunehmen? nen Krieg zu Wahlkampfzwecken führt. Wir sind von dem Ergebnis Ihres Besuches in Mos- Wir wollen Russland nicht isolieren; Russland isoliert kau nicht enttäuscht, weil ein anderes Ergebnis realisti- sich selbst, solange es die Spielregeln, die nach unserem scherweise nicht zu erwarten war. Wir werfen Ihnen demokratischen Verständnis selbstverständlich sind, nicht vor, Herr Außenminister, dass Sie mit leeren Hän- nicht einhält. Deswegen ist die Frage, ob im Moment öf- den zurückgekommen sind. Aber die Frage muss schon fentliche Zurückhaltung gegenüber Russland nicht an- erlaubt sein, ob es sinnvoll war, sich für das Spiel her- gebrachter wäre. zugeben, das im Kreml derzeit gespielt wird. Vielen Dank. Der Krieg in Tschetschenien ist eine Machtdemonst- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) ration, die sich in erster Linie an die eigene Bevölkerung und an das nahe Ausland richtet. Putin hat kein Interesse an einer politischen Lösung; er hat – zumindest bis zu Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Als den Wahlen – ein Interesse am Krieg. Die innenpoliti- nächster Redner hat der Kollege Helmut Lippelt vom sche Wirksamkeit dieses Mittels ist ja leider bei den Bündnis 90/Die Grünen das Wort. Duma-Wahlen im Dezember bestätigt worden. Für Putin ist dieser Vernichtungskrieg ein Mittel, den Großmacht- Dr. Helmut Lippelt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): anspruch Russlands zu untermauern und der eigenen Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle- Bevölkerung zu suggerieren, dass Russland dadurch ein stärkeres nationales Selbstbewusstsein wiedererlangen gen! Herr Gehrcke, nachdem wir uns alle darin einig sind, dass die Reise des Außenministers nach Russland könne. der Schwierigkeit der Situation angemessen war und Wir haben es doch mit Krieg als Strategie zur Macht- deshalb nicht zu beanstanden ist, möchte ich einen Punkt erhaltung zu tun. Nur militärische Erfolge konnten Putin ansprechen, der auch von Ihnen schon angesprochen 7896 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Januar 2000

Dr. Helmut Lippelt (A) (C) wurde und über den wir schon lange gemeinsam nach- Dann spricht Kowaljow über Maschadow. Das ist denken. Es geht um den Zusammenhang zwischen dem sehr wichtig, weil Maschadow immer wieder von Mos- Kosovo- und dem Tschetschenienkrieg. kau beiseite geschoben und immer wieder diskreditiert wird, indem er mit unmöglichen Forderungen, etwa Bas- Ich glaube, dass man die Situation ein wenig anders sajew mal soeben auszuliefern, überzogen wird. Statt- als Sie interpretieren muss. Wer die Daten und Fakten dessen baut man hier einen Kriminellen als Quisling auf. genau verfolgt, der weiß, dass seit April 1998 der Auf- Kowaljow sagt über Maschadow – über den er gewiss bau der russischen Truppen in Südrussland Richtung viel weiß; denn er hat mit ihm damals beim ersten Kaukasus stattgefunden hat. Diese Tatsache muss man Tschetschenienkrieg im Keller des Regierungsgebäu- im Kopf haben. des im Grosny gesessen –, er hätte nach dem Frieden Man muss aber auch im Kopf haben, dass es eine von 1996, wäre er damals geachtet worden, nur zu gern seltsame Änderung der Kriegsziele unter dem jetzt am- einen Rechtsstaat in Tschetschenien aufgebaut. tierenden Präsidenten Putin gab. Zunächst Containment, dann Revision des Friedens von 1996, also des von (Christian Schmidt [Fürth] [CDU/CSU]: Von Russland als Schandfrieden empfundenen Friedens. Ich Russland geachtet worden!) glaube, dass dies schon sehr viel früher der geheime – Von Russland. Grund war. Deshalb ist dies alles so kompliziert. Und es wird – nun in Richtung von Herrn Schockenhoff – noch Er habe extremistischen Kräften nachgegeben; denn komplizierter, wenn man sieht, dass die Reise des Au- er wollte keinen Bürgerkrieg in Tschetschenien selbst. ßenministers auch deshalb unter besonderen Bedingun- Dafür habe er jetzt teuer bezahlen müssen. „Aber wir, gen stattfand, weil die Provokationen, die den Tsche- die Russen“, so Kowaljow, „haben ihm nicht geholfen. tschenen – zum Teil zu Recht, zum anderen Teil zwei- Maschadow hatte nur 30 Prozent der Bevölkerung hinter felhafterweise – zugeschrieben wurden, die russische sich, die extremistischen Kommandeure 70.“ Stimmung so beeinflussten, dass das Reden zur Ver- Damit beschreibt er die Tragödie eines Mannes, die nunft so schwierig ist. Eine der Provokationen war der Einfall nach Dagestan; Wahnsinn des Herrn Bassajew. man, glaube ich, für die weiteren Gespräche mit Moskau im Hinterkopf haben muss, um nicht zu schnell der Das andere waren die zusammenfallenden Häuser, über Moskauer oder der Iwanowschen Rede zu folgen: „Wir die ja viele verschieden denken. brauchen Verhandlungspartner.“ Wenn man dann nach Wir müssen das wissen, wenn wir jetzt über Tsche- dem Grund der Diskreditierung fragt, heißt es: Mascha- tschenien sprechen. Wir haben im Auswärtigen Aus- dow hat ja nichts hinter sich. – Das Problem geht tiefer. schuss jetzt nach langem Zögern, weil wir erst auch die Ich glaube, das ist ein Mann, der eine große persönliche (B) andere Seite hören wollten, einen Antrag verabschiedet. Tragik durchlebt. (D) Die Debatte, die wir heute führen, ist der Einstieg in ei- (Christian Schmidt [Fürth] [CDU/CSU]: Er er- ne Debatte, die weitergehen wird. innert ein wenig an Rugova!) Im Europarat ist, wie ich finde, etwas ganz Hervorra- – Ein wenig. Aber interessanterweise kommt Rugova gendes geschehen. Ein sehr weit gehender Antrag, den wieder. Das ist das Überraschende. russischen Delegierten ihre Rechte zu nehmen, wurde mit ganz knapper Mehrheit abgelehnt und dann wurde Damit in die nächste Woche, wo die Diskussion fort- mit den russischen Delegierten eine politische Resoluti- geführt wird! on, die auf sofortigen Waffenstillstand drängt, verab- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN schiedet. Hier zeigt sich die Möglichkeit eines Verhal- und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der tens, das wir auch in Betracht ziehen müssen. F.D.P.) Im Europarat sitzt der von uns allen hoch geschätzte Herr Kowaljow. Weil ich seine intern gegebenen Wer- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Als tungen so aufregend fand, dass ich sie mitgeschrieben nächster Redner hat das Wort der Kollege Ulrich Irmer habe, möchte ich einen entscheidenden Punkt seiner von der F.D.P.-Fraktion. Wertung vortragen als Einstieg in die Diskussionen, die wir in den nächsten Wochen im Zusammenhang mit der Verabschiedung des Antrages weiterführen werden. Ulrich Irmer (F.D.P.): Vielen Dank, Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir kritisieren den Bun- Kowaljow sagt, er habe für die Aufnahme Russlands desaußenminister nicht dafür, dass er nach Moskau ge- in den Europarat gekämpft. Er habe auch immer gesagt, der Europarat nehme damit eine große Last auf sich, reist ist und dort versucht hat, auszuloten, um welche Persönlichkeit es sich bei dem neuen amtierenden russi- denn Russland sei noch keine Demokratie in unserem schen Präsidenten handelt. Wir halten es für ganz selbst- Sinne. Ein Ausschluss der russischen Delegation sei be- rechtigt, wäre aber völlig wirkungslos. Wichtiger sei es, verständlich, dass Kontakte mit denen sich an der Macht befindenden Menschen gesucht, geknüpft und gepflegt eine ständige Beobachtermission mit weit reichenden werden. Vollmachten zu verlangen, auf sofortige Friedensge- spräche zu drängen – was ja auch die russischen Dele- Was wir kritisieren, Herr Bundesaußenminister, ist gierten getan haben – und dafür die Vermittlerdienste die Diskrepanz, die sich hier zwischen großen Worten des Europarats anzubieten. und sehr verhaltenem Tun wieder aufgetan hat. Der Gip- Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Januar 2000 7897

Ulrich Irmer (A) (C) fel von Helsinki hat sehr starke Vokabeln gefunden, um Das ist zwar ein zynisches Argument, aber nicht ganz die Situation in Tschetschenien zu beurteilen und zu von der Hand zu weisen. verurteilen. Sie haben jetzt nach Ihrem Besuch in Mos- kau öffentlich erklärt, dass gar nicht erwogen wird, ir- Es mehren sich bedauerlicherweise die Opfer beim russischen Militär; mehr und mehr Tote und Verletzte gendwelche Sanktionen gegen Russland zu verhängen, sind zu beklagen. Wie lange in der öffentlichen Meinung um auf das Kriegsgeschehen Einfluss zu nehmen. Ich weiß – das habe ich Ihnen im Auswärtigen Ausschuss in Russland der Krieg angesichts dieser zunehmenden Zahl von Opfern noch bejubelt wird und innenpolitisch vorgestern bestätigt –, dass Sanktionen immer eine zugunsten der Regierenden als Instrument eingesetzt schwierige Sache sind, weil man nicht wissen kann, ob sie, wenn sie verhängt werden, das Ziel, das man damit werden kann, das bleibt abzuwarten. Vielleicht wäre Pu- tin gut beraten, auch aus innenpolitischen Rücksichten anstrebt, tatsächlich erreichen oder ob das Ganze nicht den Krieg rechtzeitig zu beenden. ins Leere läuft. Aber von vornherein zu erklären, es würden keinerlei Sanktionen auch nur in Erwägung ge- Wir wissen, wie wichtig Russland für uns ist. Ohne zogen, gibt der Seite, die man beeinflussen will, die Russland wird es keine gesamteuropäische Sicherheits- Möglichkeit, eine „carte blanche“ zu haben. Sie haben architektur geben können. Wir müssen Russland als doch öffentlich erklärt, dass an Sanktionen nicht gedacht Partner behandeln. Insofern, Herr Fischer, war das jetzt ist. bei weitem keine Fundamentalkritik. Wir müssen uns aber doch gemeinsam überlegen, wie wir mit den In- Ich halte es deswegen für wesentlich wirkungsvoller, was die Delegation des Europarates in Moskau erwirkt strumenten, die wir haben, also OSZE und Europarat, den Druck auf Russland verstärken können, um zu ei- hat. Unter Leitung des Präsidenten Lord Russel Johnston nem Ende des Schlachtens und des Mordens zu kom- ist eine Delegation der Parlamentarischen Versammlung in Moskau bei Herrn Putin gewesen, hat dort ganz deut- men. lich gesagt, was die Staatengemeinschaft und insbeson- Ich bedanke mich. dere der Europarat von dem Krieg in Tschetschenien halten und hat Putin daran erinnert, dass seitens Russ- (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- lands bei der Aufnahme in den Europarat Verpflichtun- ten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/ gen übernommen worden seien. DIE GRÜNEN) Auch Kowaljow hat es damals für richtig gehalten, dass Russland aufgenommen wurde. Jetzt stellt sich her- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Als aus, dass die Drohung, die Mitgliedschaft Russlands un- nächster Redner hat das Wort der Kollege Rudolf Bindig ter Umständen zu suspendieren oder einzuschränken und von der SPD-Fraktion. (B) die Mandate der russischen Kollegen nicht zu bestäti- (D) gen, offensichtlich ein wirkungsvolleres Mittel ist als al- les andere sonst. Die Russen haben nämlich eine Hei- Rudolf Bindig (SPD): Herr Präsident! Verehrte Kol- denangst davor, dass ihr Status im Europarat in irgend- leginnen und Kollegen! Es ist Krieg in Tschetschenien. einer Weise verändert werden könnte. Deshalb Auch heute wird gekämpft, auch heute wird geschossen, haben sie reagiert. Sie haben Lord Russel Johnston zu- auch heute wird bombardiert. Davon sind betroffen die gestanden, dass eine permanente Beobachtermission des Zivilbevölkerung, die -in Grosny ist, aber auch die in- Europarates installiert wird. Man muss jetzt natür- tern vertriebenen Flüchtlinge, die südlich von Grosny in lich noch ausloten, wo sie aus Sicherheitsgründen etab- den Bergen eingeschlossen sind, die keine Unterstützung liert werden kann. Aber dies ist zumindest ein Zuge- und keine humanitäre Hilfe erhalten. Es gibt die vielen ständnis. Flüchtlinge in Inguschetien. Es gibt auch die 140 000 Soldaten der Russischen Föderation, von denen keiner Die Parlamentarische Versammlung hat mit großer den Krieg wollen kann, ihn aber durchzuführen hat. Es Mehrheit gesagt, sie werde weiter ihren Finger in der gibt auf der anderen Seite auch die tschetschenischen Wunde lassen, sie werde weiter Sanktionsmaßnahmen Kämpfer, die sich – aus welchen Motiven auch immer – gegen Russland erwägen. Das ist eine dringend notwen- dort engagieren. Deshalb müssen alle Überlegungen dige Maßnahme, die zeigt, dass die Wirkung erzielt darauf gerichtet werden, dort die Kriegshandlungen zu werden kann, dass die Russen weiterhin wissen, dass ihr beenden und in Verhandlungen überzuleiten, um nach Verhalten nicht akzeptabel ist. Wegen zu suchen, wie humanitäre Hilfe geleistet wer- den kann. (Beifall des Abg. Kurt J. Rossmanith [CDU/CSU]) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der Ich möchte noch folgende kurze Bemerkung machen. PDS) Herr Putin könnte sich mit der nach wie vor gezeigten Härte in diesem Krieg verrechnen. Man könnte etwas Für eine sofortige humanitäre Hilfe und für Prozesse zynisch sagen, die Tatsache, dass man diesen Krieg so zur Überleitung in Verhandlungen muss alles eingesetzt führt, wie er geführt wird, um innenpolitisch die Zu- werden, alle internationalen Gremien, die es gibt: Das ist stimmung bei Duma-Wahlen zu erzielen, beweist schon, die OSZE, das sind die G-7-Gespräche, das sind bilate- dass Russland auf dem Wege zur Demokratie weiter rale Gespräche, das ist der Europarat. Ich finde, dass es fortgeschritten ist, als das manche für möglich halten. ganz wirkungsvolle Ansätze gibt, mit einem breiten 7898 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Januar 2000

Rudolf Bindig (A) (C) Spektrum von Maßnahmen zu wirken. Der Außenminis- manitäre Hilfe geleistet wird und Verhandlungsprozesse ter ist dort gewesen und hat dort gesprochen. in Gang kommen.

Als Teilnehmer einer Delegation des Europarates hat- Diese Strategie, mit einer Fülle von Maßnahmen ver- te ich die Möglichkeit, mich erst in Dagestan, dann in schiedener Gremien und auch bilateral zu versuchen, Tschetschenien und dann in Inguschetien zu informieren weiter Einfluss zu nehmen, scheint mir hier ein richtiger und mit den Verantwortlichen im Kreml darüber zu re- Ansatzpunkt zu sein. Andere Gremien und auch die den und Argumente vorzutragen, dass es unmöglich ist, Bundesregierung werden weiter daran arbeiten. Wir hof- dort den Konflikt mit Gewalt zu lösen. Alle Erfahrun- fen, dass wir die Russen doch noch irgendwie beeinflus- gen, auch mit internationalem Terrorismus, zeigen, dass sen und überzeugen können. Es wird schwer sein. Einige man sich irgendwann an den Verhandlungstisch setzen sagen, sie wollten das aus innenpolitischen Gründen muss, wenn man tragfähige Ergebnisse erzielen will, um durchziehen, so brutal und hart das auch sei. später nicht wieder einen Partisanenkrieg oder einzelne (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Terrorakte im Lande zu haben. DIE GRÜNEN sowie des Abg. Ulrich Irmer [F.D.P.]) Wir haben darüber gestern den ganzen Tag im Euro- parat diskutiert. Hier wurde gesagt: Die Russen haben eine Heidenangst. Das haben sie wahrlich nicht in dieser Vizepräsidentin Dr. : Das Wort hat Frage. Aber sie nehmen das Problem doch ernst, wenn jetzt Dr. . sie sehen, wie die internationale Völkergemeinschaft und andere Staaten Europas darauf reagieren. Dr. Karl A. Lamers (Heidelberg) (CDU/CSU): Frau (V o r s i t z : Vizepräsidentin Dr. Antje Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist Vollmer) schon recht pikant, dass ausgerechnet die PDS diese Ak- tuelle Stunde zum Thema Tschetschenien beantragt hat, Herr Iwanow hat sich gestern im Europarat fünf geht es doch nicht zuletzt um Menschenrechte. Bei die- Stunden lang die Reden von Parlamentariern aus 41 sem Thema kann natürlich gerade die PDS ungewöhn- Ländern angehört. Diese wurden dort im Vier-Minuten- lich glaubwürdig auftreten, quasi als Experten, Rhythmus gehalten. Praktisch alle, die dort geredet ha- ben – ob das die Delegierten aus Großbritannien, aus (Beifall des Abg. Wolfgang Gehrcke [PDS]) Frankreich, aus Italien, aus Deutschland, aus Moldawien waren; auch einige russische Redner haben sich ent- nachdem Ihre Vorgänger der SED über 40 Jahre die sprechend geäußert –, haben gesagt: So kann der Kon- Menschenrechte mit Füßen getreten haben. (B) flikt in Tschetschenien nicht ausgetragen werden. Das (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Ruth Fuchs (D) ist kein Kampf gegen angebliche Terroristen, sondern es [PDS]: Wir werfen euch auch nicht immer vor, ist ein Krieg, der auch aus anderen Motiven geführt was Hitler gemacht hat! Hören Sie endlich auf wird. damit! Unverschämt!) Wir haben Herrn Iwanow vorgetragen, dass die Rus- Jeden Abend sehen wir die schrecklichen Bilder aus sische Föderation mit ihren Maßnahmen die Europäi- Grosny von diesem furchtbaren Krieg, der so viel Leid sche Menschenrechtskonvention, das Recht auf Leben, über die Menschen in Tschetschenien und viele Russen den Schutz vor unwürdiger Behandlung oder Strafe, das gebracht hat und bringt. Wir alle sind uns sicher einig: Recht auf Sicherheit verletzt. Die Vorgehensweise dort Dieser Krieg darf nicht militärisch entschieden werden. verletzt ebenfalls das Genfer Abkommen zum Schutz Was wir brauchen, ist eine politische Lösung. Das müs- von Zivilpersonen in Kriegszeiten. Wir haben ihm sogar sen auch die Russen endlich begreifen. vorgehalten, dass die Vorgehensweise nicht im Einklang steht mit der Gesetzeslage in der Russischen Föderation. Herr Außenminister Fischer hat nach seiner Rückkehr Dort gibt es ein Gesetz zum Kampf gegen die aus Moskau mit Stolz berichtet, dass sich Präsident Pu- organisierte Kriminalität. Auf dieser Basis wird das tin statt der geplanten einen Stunde ganze eindreiviertel gemacht. Das rechtfertigt aber nicht solche großen Stunden Zeit für ihn genommen habe. Ich verstehe, das Militärinterventionen. Es ist kein Notstand ausgerufen schmeichelt der Eitelkeit. worden – bewusst nicht –, weil man willkürlich handeln will. Man will dort ohne irgendeine Rechtsgrundlage, (Zuruf von der SPD: Ach Gott! Das muss ja nicht sein!) ohne irgendwelche Regeln vorgehen. Herr Iwanow hat sich dies – Gott sei Dank – fünf Aber für mich ist weniger die Quantität, die Länge des Stunden anhören müssen. Dann hat die Versammlung in Gesprächs von Bedeutung als vielmehr der innere Ge- halt des Gesprächs. Ruhe und Besonnenheit Beschlüsse gefasst, um einer- seits festzustellen, dass dort schwere Menschenrechts- (Beifall des Abg. Kurt J. Rossmanith verletzungen stattfinden, und um diese andererseits mit [CDU/CSU]) harten Worten zu verurteilen, einen sofortigen Waffen- stillstand zu verlangen und operative Schritte vorzu- Sie sprechen von einem tief greifenden, sehr offenen schlagen, wie man unter Beteiligung des Europarates Gespräch. Mich interessiert: Was haben Sie konkret er- und der anderen Gremien versuchen kann, Einfluss zu reicht? Was konnten Sie von unserer, der deutschen, der nehmen, damit zumindest – das ist ja auch etwas – hu- europäischen, Position umsetzen? Sie haben erklärt, die Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Januar 2000 7899

Dr. Karl A. Lamers (Heidelberg) (A) (C) Verständigung sei gut gewesen – in deutscher Sprache. ter Haltung“, gar von „Anbiederung“. Das sind starke Ich frage Sie: Haben Sie sich auch gut verstanden? Hat Worte, verglichen mit dem, was Sie heute an Verständ- Herr Putin gespürt, um was es geht, nämlich dass kein nis für die Besorgnisse der Russen im Nordkaukasus äu- Land, auch nicht Russland, das Recht hat, das Völker- ßern. recht zu verletzen und gegen Menschenrechte sowie ge- Ich heiße nicht Fischer, und deswegen möchte ich gen europäische Vereinbarungen und Verhaltensmaßre- geln zu verstoßen? All dies geschieht doch in diesem mit meinerseits nicht diese harten Worte wiederholen und auch keine Vergleiche zu damals anstellen. Nur eins unglaublicher Brutalität geführten Krieg Russlands ge- möchte ich feststellen: Die Zeiten haben sich geändert. gen das tschetschenische Volk. Vielleicht haben Sie auch dazugelernt, geläutert durch Wir müssen doch die Dinge beim Namen nennen. das Amt, das Sie heute bekleiden. Russland greift massiv zivile Ortschaften an. Russland Ich will nur sagen: Uns allen wird in diesen Wochen macht ein ganzes Volk zu Geiseln seiner Machtpolitik. klar, wie schwer es ist, Russland tatsächlich in unsere Russland ist verantwortlich für den massenhaften Tod Werteordnung einzubinden und es tatsächlich zu beein- von Zivilisten und für die Vertreibung von Hunderttau- flussen. Dazu bedarf es Mut. senden von Menschen. Das widerspricht dem Völker- recht. Das alles kann doch nicht mit einer „antiterroristi- Es ist richtig: Putin, der Interimspräsident, schlägt ei- schen Operation“ gerechtfertigt werden! Nein, das ver- ne neue Linie ein. Ich frage mich: Stehen die Zeichen letzt insbesondere den OSZE-Verhaltenskodex von auf Demokratie und Frieden oder gibt es einen Rückfall 1994, nach dem kein Staat, auch nicht bei einem Einsatz in alte, überholte Strukturen und Denkmuster? Was wir im Innern seines Landes, unverhältnismäßige Gewalt jetzt brauchen, ist Realismus, keine Verniedlichung, ist anwenden darf. die Bereitschaft, sich dem Neuen zu öffnen, aber auch Wachsamkeit. Russland will sich aus dem Kaukasus nicht verdrän- gen lassen. Rechtfertigt das diesen Krieg? Der amtieren- Ich danke Ihnen. de Präsident Putin verspricht sich Vorteile für seine Wahl. Rechtfertigt das diesen Krieg? Viele wollen dem (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) neuen Mann auf der diplomatischen Bühne eine Chance geben. Ist das, Herr Außenminister, der Grund für die Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat neue Milde des westlichen Protests? Nützen wir ihm, jetzt die Abgeordnete Rita Grießhaber. nützen wir irgendjemandem damit? Müssen wir nicht erkennen, dass das, was wir sagen, fordern und erklären, in Moskau zwar freundlich zur Kenntnis genommen Rita Grießhaber (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (B) (D) wird, aber doch letztlich keinerlei erkennbare Reaktio- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Reise nen und Konsequenzen in der russischen Politik nach des Außenministers war richtig und notwendig. Kollege sich zieht? Schockenhoff ist jetzt nicht mehr da; er hat gefragt, ob es sinnvoll war, sich für das Spiel des Kremls her- Der Außenminister ist so richtig Realpolitiker gewor- zugeben. Dazu kann man auch umgekehrt sagen: Was den und betont immer wieder – sicherlich nicht zu Un- recht –, dass unsere Möglichkeiten, mit Sanktionen auf hätten Sie hier für einen Terz aufgeführt, wenn Außen- minister Fischer nicht gefahren wäre! Russland einzuwirken, in Wirklichkeit sehr bescheiden sind. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der SPD) Herr Fischer ist ein richtiger Diplomat, ganz staatsmän- nisch. Das passt zum Amt. Aber ich frage mich: Passt es Dann hätten Sie gesagt: Er versucht nicht einmal, igend- auch zur Person? etwas zu erreichen. Sie hätten versucht, ihn zu geißeln und uns hier Unterlassungssünden vorzuwerfen. Nun ist Ich habe nachgelesen, was Sie, Herr Außenminister, er gefahren und da sagen Sie, man gebe sich für ein im Jahre 1996, am 28. Februar, bei einer Tschetsche- Spiel des Kremls her. nien-Debatte im Deutschen Bundestag zu Bundeskanz- ler Kohl nach seiner Rückkehr aus Moskau gesagt ha- (Ulrich Irmer [F.D.P.]: Immer macht man alles ben. falsch!) (Kurt J. Rossmanith [CDU/CSU]: Hört, hört!) Meine Damen und Herren, enttäuschend ist, dass Russland die Beschlüsse des OSZE-Gipfels in Istanbul Es ging auch um Tschetschenien, aber es gab einen gro- nicht eingehalten hat, und nicht einmal den russischen ßen Unterschied: Sie waren noch nicht Außenminister. Zusagen, wenigstens Sicherheitsgarantien und Erleichte- Sie sind überhaupt, wie ich meine, kaum wie- rungen für Hilfsmaßnahmen, für humanitäre Maßnah- derzuerkennen, in jeder Hinsicht. men zu gewähren, sind Taten gefolgt. Hier müssen wir und auch die Bundesregierung unermüdlich nachhaken, Herr Fischer war zwar schon damals nicht mehr der um wenigstens ein Minimum an Verbesserung der Situa- große Moralisierer, der er vorher gewesen ist, aber allen tion der Flüchtlinge herbeizuführen. Ernstes haben Sie damals dem Bundeskanzler vorgewor- fen, er habe das Einklagen der Menschenrechte und ei- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ner demokratischen Entwicklung seiner Realpolitik ge- und bei der SPD sowie des Abg. Ulrich Irmer opfert. Das war Ihr Vorwurf! Sie sprachen von „geduck- [F.D.P.]) 7900 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Januar 2000

Rita Grießhaber (A) (C) Wir sind hier aber auch noch in einer anderen Weise Die Forderungen der Parlamentarischen Versamm- gefordert: Wenn die wenigen Flüchtlinge, die überhaupt lung des Europarats sollten so schnell wie irgend mög- nach Deutschland kommen, hier nach Asyl fragen, lich umgesetzt werden: Waffenstillstand, Verhandlun- stimme ich Pro Asyl zu, die Bleiberecht und Schutz in gen, Bewegungsfreiheit für die Flüchtlinge und – dafür Deutschland für sie fordern. möchte ich noch einmal ganz dringend appellieren – Zugangsmöglichkeiten und verbindliche Schutzzusagen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN für humanitäre Hilfsmaßnahmen. sowie bei Abgeordneten der SPD und der PDS) Vielen Dank. Es ist für mich unfassbar, dass es jetzt noch einen Rich- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der PDS sowie bei Abgeord- ter in Deutschland gibt, der nach Grosny abschieben neten der CDU/CSU und der F.D.P.) lässt. Deswegen bin ich auch sehr froh, Herr Außenmi- nister, dass wir endlich die Nachricht haben, dass die Bundesanstalt für die Anerkennung ausländischer Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat Flüchtlinge ab sofort die Entscheidung über Asylanträge jetzt der Abgeordnete Carsten Hübner. russischer Staatsbürger ausgesetzt hat. Was die Situation in Russland und Tschetschenien Carsten Hübner (PDS): Sehr geehrte Frau Präsiden- angeht, sind wir uns hier sicher alle einig: Es leidet zual- tin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte in lererst die Zivilbevölkerung in Tschetschenien. Russland Stichpunkten mit dem beginnen, was aus Sicht der PDS- schickt seine jungen Männer in den Tod und letztendlich Fraktion im Bereich der Menschenrechte und in der leidet die russische Gesellschaft als Ganzes unter diesem Flüchtlingsfrage getan werden kann und verstärkt getan Verstoß gegen Normen und Grundsätze, die die Grund- werden muss, um den Opfern dieses Krieges zu helfen lage für Menschenrechte, Sicherheit und internationale und um diejenigen Kräfte in Russland zu stärken, die Zusammenarbeit bilden. diesen Krieg entschieden ablehnen. Russland versucht, seine Herrschaft über Tschetsche- Erstens. Russischen und tschetschenischen Deserteu- nien mit unverantwortbaren Mitteln aufrecht zu erhalten. ren muss in Deutschland ohne Wenn und Aber Schutz Aber es kann diesen Krieg auf lange Sicht nicht gewin- gewährt werden. Ihre Weigerung zu töten ist ein wesent- nen. Im Gegenteil: Dieser Krieg destabilisiert die Regi- liches Moment bei der Schwächung der militärischen on und es ist an der Zeit, dass Russland sich vom Traum Logik in diesem Konflikt. der alten Großmachtpolitik verabschiedet und die Leh- (Beifall bei der PDS) (B) ren aus Afghanistan zieht, statt das Desaster weiter vo- (D) ranzutreiben. Zweitens. Pazifistische Organisationen und Kriegs- gegner, etwa das Komitee der russischen Soldatenmüt- Aber so bitter es ist, Herr Kollege Irmer: Wir haben ter, müssen massiv politisch und finanziell unterstützt keinen wesentlichen Einfluss auf diese Politik. Leere werden. Das gilt nicht zuletzt mit Blick auf die Präsi- Drohungen bewirken nichts und rein verbale Zusagen dentschaftswahlen. helfen nicht weiter. Russland ist ein anderer Partner auf dem internationalen Parkett als Ex-Jugoslawien. Es hat (Beifall bei der PDS) seine Rolle noch nicht gefunden. Drittens. Die Bundesrepublik muss sofort einen Ab- Was kann unsere Konsequenz daraus sein? Ich glau- schiebestopp – ich habe gehört, er sei jetzt ausgesetzt – be, sie heißt, den Dialog nicht abbrechen, aber mit den für tschetschenische Flüchtlinge erlassen und einen ak- Verantwortlichen immer Klartext reden. Sie bedeutet tuellen Lagebericht vorlegen. Dieser fehlt nämlich noch auch, die Kräfte der Zivilgesellschaft wahrnehmen und immer. Es ist bedenklich – übrigens in jeder Hinsicht –, stärken. Für uns heißt sie, nicht schweigen, nicht nach- dass das Auswärtige Amt den letzten Bericht 1998 vor- lassen und nicht resignieren, sondern unsere Forderun- gelegt hat und es heute offenbar noch Entscheider und gen an Russland bei jeder Gelegenheit vorbringen. Richter gibt, die aufgrund dieses Lageberichts ihre Ent- scheidungen fällen. Es drängt sich schlicht der Eindruck Unsere Forderung ist bekannt, wir alle haben sie er- auf, so manche Amtsstube befindet sich entweder im Tal hoben: die Einhaltung internationaler humanitärer Völ- der Ahnungslosen oder – wie so häufig – es dominieren kerrechtsbestimmungen. Es geht nicht an, dass man ein die Asylpraxis auch hier wieder einmal innenpolitische ganzes Volk zur Geisel erklärt. Es geht nicht an, dass Vorgaben und nicht etwa die jeweilige Menschenrechts- man die Männer im Alter von 10 bis 60 Jahren – das lage. muss man sich einmal vorstellen – zum Freiwild erklärt, und es geht nicht an, dass man Krankenhäuser beschießt Viertens. Die Unterstützung für die Kaukasusrepubli- und humanitäre Hilfe nicht zulässt. ken Inguschetien und Dagestan muss verstärkt werden. Allein Inguschetien hat derzeit etwa 180 000 Flüchtlinge Das Angebot der OSZE, eine Vermittlerrolle zu über- aus Tschetschenien aufgenommen, und das bei einer ei- nehmen, steht, und Russland sollte endlich darauf einge- genen Bevölkerungsgröße von etwa 300 000 Menschen. hen. Das muss man sich vorstellen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Rund 80 Prozent der Flüchtlinge sind in Privathaus- und bei der SPD) halten untergekommen, die restlichen 20 Prozent leben Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Januar 2000 7901

Carsten Hübner (A) (C) unter äußerst problematischen Bedingungen. Laut Moskau liegt, kann man nicht umhin, auch dem Westen UNHCR droht derzeit eine Tuberkuloseepidemie. Ge- eine nicht unerhebliche Verantwortung für diese Ent- genüber Jürgen Bartel, Mitarbeiter der Hilfsorganisation wicklung zuzuschreiben. Dazu gehört nicht zuletzt eine Care Deutschland, formulierte der inguschetische Minis- Menschenrechtspolitik der gespaltenen Zunge. ter für Gesundheitswesen dementsprechend eindringlich: Wenn die ausländische Hilfe ausbleibt, sieht es sehr Heiko Kauffmann, der Sprecher von Pro Asyl – er ist schlecht aus. eben hier zitiert worden –, hat gestern noch auf etwas anderes hingewiesen. Er hat mit Blick auf den Krieg im Inguschetien wendet derzeit – nach eigenen Anga- Kosovo gesagt, Deutschland und die NATO-Staaten hät- ben – täglich 250 000 US-Dollar zur Unterbringung der ten sich im vergangenen Jahr nicht gescheut, einen Flüchtlinge auf. Diese Zahl muss man ins Verhältnis zur Krieg gegen Serbien zu führen mit der Begründung, Größe des Landes setzen. Menschenrechtsverletzungen verhindern zu wollen. Jetzt reiche die Empörung des Bundesaußenministers nicht Fünftens. Gegenüber Russland müssen umgehend – einmal zu einem entschiedenen Protest gegenüber der erste Anzeichen dafür gibt es – bessere Arbeitsbedin- russischen Regierung aus. O-Ton Kauffmann: gungen für diejenigen Hilfsorganisationen mit Nach- druck eingefordert werden, die die Flüchtlinge unterstüt- Hier muss man den Eindruck gewinnen, dass Men- zen. Formelle wie informelle Kontakte müssen dafür in- schenrechte instrumentalisiert, nach zweierlei Maß tensiver genutzt werden. Dies funktioniere auch schon gemessen werden. jetzt bei entsprechendem Engagement, wie mir ein Spre- cher von Care Deutschland erst gestern versicherte. Der- Dem ist zuzustimmen, meine Damen und Herren, zeit sind, jedenfalls nach meinen Informationen, ledig- womit ich keineswegs dafür plädieren will, gegenüber lich UNHCR und Care kontinuierlich und Cap Anamur Russland ähnlich verhängnisvoll zu agieren wie gegen- sporadisch vor Ort. über Serbien, also mit völkerrechtswidriger Gewaltan- wendung, der Zerstörung ziviler Infrastruktur und Sank- Sechstens. Die Bundesrepublik und die EU müssen tionen, die allein der Zivilbevölkerung massive Opfer ihren Druck auf beide Kriegsparteien dahin gehend ver- abverlangen. Das wäre eine untaugliche Logik. stärken, dass es zu einem Waffenstillstand, zumindest aber zu einer Feuerpause kommt, die es Hilfsorganisati- Woran ich aber erinnern möchte, ist die gerade an onen ermöglicht, der in Grosny eingeschlossenen Zivil- diesem Ort von der Bundesregierung vorgetragene mo- bevölkerung wirksam zu helfen, besser noch: sie aus der ralische Entrüstung, sind die präsentierten Bilder von Stadt zu bringen, wenn es die einzige Lösung ist. Allen Vertreibung und Mord, ist der Ruf nach entschiedenen Berichten nach leben noch zwischen 10 000 und 30 000 Reaktionen auf die massiven Menschenrechtsverletzun- (B) Menschen in der völlig zerstörten Stadt; ihre gen im Kosovo. Das ist erst wenige Monate her. Und (D) Lebensbedingungen sind grauenhaft. Hier muss eine obwohl sich die humanitäre Situation in Tschetschenien Lösung gefunden werden, die über Appelle hinausgeht. – ich komme gleich zum Schluss – derzeit wohl kaum von der im Kosovo unterscheidet – das haben wir alle Siebtens. OSZE und EU müssen stärken darauf drän- gen, so schnell wie möglich ein Büro in Tschetschenien konstatiert –, herrscht nun vergleichsweise Funkstille oder Pragmatismus, wie man will. zu eröffnen, um von dort aus sowohl im Menschen- rechtsbereich als auch in der Frage einer zivilen Kon- Ich möchte, weil ich meine Rede etwas zu lang kon- fliktbewältigung aktiv werden zu können. Konkrete zipiert habe, nur noch ein Zitat bringen, weil es mehr- Vermittlungsarbeit vor Ort ist nicht selten wir- fach Appelle an die russische Regierung gegeben hat, kungsvoller als internationale Diplomatie, zumal als die was die Verhältnismäßigkeit der Mittel anbetrifft. Um bisher betriebene. deutlich zu machen, dass die russische Regierung dies in einer ganz bestimmten Art und Weise wertet, möchte ich So weit die konkreten Forderungen. Erlauben Sie mir zitieren, was Edward N. Luttwak, der strategische Bera- aber noch einige grundsätzliche Bemerkungen. ter der US-Regierung, am 25. Januar in der „FAZ“ ge- Was sich derzeit in Tschetschenien, aber auch in schrieben hat: Russland abspielt, ist eine politische Katastrophe – eine Die russische Taktik ist nicht zimperlich und miss- politische Katastrophe, die darauf verweist, wie gefähr- achtet die Sicherheit der Zivilisten, die sich noch in det zurzeit der Demokratisierungsprozess in Russland Grosny aufhalten, vollkommen. ... Aber westliche ist, wie stark sich dort soziale und ökonomische Verwer- Armeen würden keine andere Taktik verwenden, fungen, der Zusammenbruch selbst rudimentärer sozia- weil sie hohe Verlustzahlen mindestens ebenso sehr ler Sicherungssysteme und die seitens des Westens of- scheuen wie die Russen. fensiv betriebene Verdrängung Russlands von der Büh- ne der international respektierten Akteure instrumentali- Ich danke Ihnen. sieren lassen, um nationalistischen und chauvinistischen Kräften den Boden zu bereiten, um ein politisch völlig (Beifall bei der PDS – Gert Weisskirchen konzept- und hilfsloses, dafür aber umso brutaleres Um- [Wiesloch] [SPD]: Und was heißt das sich-Schlagen zu legitimieren. jetzt?) Aber auch wenn klar ist, dass die unmittelbare Ver- antwortung für das Morden, der Schlüssel für das Ende Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Ich glaube in des Krieges, für eine politische Lösung des Konflikts in der Tat, Herr Kollege Hübner, dass das Text für mindes- 7902 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Januar 2000

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer (A) (C) tens zehn Minuten war. Man kann nicht schneller spre- müssen, sondern man muss die konkrete, spezifische Si- chen, als Sie es an diesem Pult getan haben. – So viel für tuation, die zu dieser humanitären und politischen Ka- das nächste Mal. tastrophe geführt hat, analysieren und daraus die not- wendigen Konsequenzen ziehen. Jetzt hat der Herr Bundesminister das Wort. Der Vertrag von 1996, der damals unter Lebed aus- gehandelt wurde, war so schlecht nicht. Das große Prob- lem, das wir heute haben, ist, dass wir es aufgrund des- Joseph Fischer, Bundesminister des Auswärtigen: sen, dass dieser Vertrag nie mit Leben erfüllt wurde – Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wenn man Kollege Lippelt hat die tragische Rolle des Präsidenten der Debatte gefolgt ist – für jemanden, der an den De- Maschadow angesprochen –, heute mit einem Dilemma batten des Auswärtigen Ausschusses über Tschet- zu tun haben, das wir in Afghanistan in der Tat auf schenien teilgenommen hat, ist dies nicht verwunder- furchtbare Art und Weise zum ersten Mal erleben muss- lich – und parteipolitische Vorwürfe außer Acht lässt, ten: entweder Interventionskrieg von außen, die russi- dann wird man feststellen, dass es in der Substanz ei- sche, die damals sowjetische Intervention von außen, gentlich über alle Fraktionen hinweg Übereinstimmung oder – im Falle des Abzugs – aufgrund des nicht statt- gibt. Das gilt auch für die PDS-Fraktion. findenden politischen Friedensprozesses die Talibanisie- Herr Kollege Hübner, was Sie in der Sache vorgetra- rung, das heißt die Fortsetzung des Krieges gegen die gen haben, das ist im Wesentlichen das, was die Grund- Zivilbevölkerung von innen heraus. Das ist die verfluch- lage unserer Forderungen gegenüber Russland etwa im te Situation, in der wir heute stecken, weil die Zeit seit humanitären Bereich von Anfang an ausgemacht hat, 1996 nicht für eine politische Lösung genutzt wurde. aber über die Schwierigkeiten auf russischem Territori- Ich sage Ihnen, Herr Kollege Hübner: Die Situation um haben Sie nichts gesagt, und das ist der entscheiden- in Tschetschenien macht gerade den Unterschied zu de Punkt. dem, was im Kosovo geschehen ist und warum dort ein- (Beifall des Abg. Gert Weisskirchen gegriffen werden musste, klar. Sonst hätten wir eine Si- [Wiesloch] [SPD]) tuation der permanenten Destabilisierung aufgrund der Gewaltpolitik Milosevics gehabt. Heute ist die Perspek- Die Bundesregierung kann sich eben nicht nur mit For- tive des Balkans bei allen Schwierigkeiten, bei allen derungen begnügen. Menschenrechtsverletzungen, bei allen großen Proble- Ich finde es schon putzig: Da wird mir auf der einen men, die die nicht gelöste albanische Frage und das Seite vorgeworfen, nicht entschieden genug aufzutreten, Fortbestehen der Diktatur Milosevics mit sich bringt, klar, nämlich eine Europäisierung. Der Anfang, der jetzt (B) und in der russischen Öffentlichkeit wird von Journalis- (D) ten die Feststellung getroffen, ich sei der härteste Kriti- in Kroatien gemacht wird, sich vom Nationalismus zu ker Europas am Tschetschenienkrieg, und die Frage ge- lösen, stimmt mich sehr hoffnungsvoll. Ich bin mir si- stellt, was ich zu folgenden Punkten sage. Es gibt hier cher, dass wir etwa in Verbindung mit der Stärkung der eine völlig unterschiedliche Perspektive. demokratischen serbischen Opposition und der Demo- kratie in Montenegro, verbunden mit einer massiven Ich denke, wir sollten die Dinge einen Augenblick so Hilfe, aber auch mit dem Verlangen, mit einer Politik analysieren, dass die Handlungsalternativen, die wir ha- der Flüchtlingsrückkehr in der Krajina Ernst zu machen, ben, tatsächlich klar werden. Nur aufgrund des Ver- in der Tat eine neue Dynamik demokratischer Verände- säumnisses, vorhandene Handlungsalternativen nicht rungen in Belgrad erreichen können – und das ist der genutzt zu haben, für deren Einsatz vieles spricht, würde entscheidende Punkt – eingerahmt in den Stabilitätspakt. meines Erachtens ein Vorwurf politisch zu erheben sein. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Wir haben es in Tschetschenien mit einer politischen und bei der SPD) und humanitären Katastrophe zu tun, ohne jeden Zwei- fel. Sosehr wir das Recht Russlands betonen, ja sogar Ich wäre heilfroh, wenn wir im Kaukasus nur einen seine Pflicht, seine Grenzen zu verteidigen, weil nie- Schimmer einer solchen politischen Lösung hätten. Ich mand ein Interesse an einem sich vielleicht auch nur par- wäre heilfroh, aber es ist nichts zu sehen. tiell auflösenden Russland haben kann, sosehr betonen Deswegen, meine Damen und Herren, meine ich, wir wir aber auch, dass der Kampf gegen Terrorismus, den dürfen nicht müde werden, uns in klarer und eindeutiger wir bejahen, mit verhältnismäßigen, rechtsstaatlichen Sprache zu artikulieren. Dabei bin ich für jede Unter- Mitteln geführt werden muss. Der Krieg gegen ein gan- stützung dankbar. Es gibt zwischen der Bundesregie- zes Volk ist kein verhältnismäßiges Mittel im Kampf rung, dem Deutschen Bundestag und den politischen gegen Terrorismus. Parteien verteilte unterschiedliche Rollen; das ist über- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN haupt keine Frage. Der Bundestag kann da eindeutig und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der weiter gehen. F.D.P.) Ich sage das, weil Sie es mit Hinweis auf meine da- Für uns steht das Recht der Selbstverteidigung Russ- malige Position angesprochen haben. Sie hätten meine lands gegen Terrorismus mit verhältnismäßigen Mitteln, Ausführungen insgesamt zitieren müssen. Ich war da- für uns steht die territoriale Integrität Russlands nicht in- mals aus den selben Gründen wie heute gegen Wirt- frage. Insofern wird man hier nicht darüber diskutieren schaftssanktionen, gegen die politische Isolierung. Al- Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Januar 2000 7903

Bundesminister Joseph Fischer (A) (C) lerdings habe ich damals die klare Sprache vermisst. wicklung in Russland führen. Das ist ebenfalls unsere Daran lassen wir es heute nicht mangeln. große Sorge. Der entscheidende Punkt ist: Die Bundesregierung Die Forderung nach dem Schweigen der Waffen und kann sich natürlich nicht darauf zurückziehen, Dinge nach einer politischen Lösung muss im Zentrum stehen. anzuprangern, sondern zu Recht verlangen Sie von uns, Die Bemühungen um eine humanitäre Lösung zu ver- dass wir die Handlungsoptionen ausloten. Ich denke, da stärken ist auch ein entscheidender Punkt. Wir verbin- muss man klar sehen, dass wir mit dem Beschluss von den mit dem Besuch von Kofi Annan am heutigen Tag Helsinki durchaus etwas erreicht haben, nämlich das Ul- die Hoffnung, dass nicht nur der UNHCR, sondern auch timatum wegzubekommen. Das war damals der ent- andere internationale Hilfsorganisationen endlich voran- scheidende Punkt. kommen und Bedingungen sowohl für ihre Mitarbeite- rinnen und Mitarbeiter als auch für die materielle Hilfe Wenn wir eine realistische Analyse durchführen, vereinbaren können, wie sie in solchen Krisensitu- müssen wir erkennen, dass unsere Kraft zwar ausreicht, um das russische Vorgehen zu zügeln, aber nicht aus- ationen in der Tat üblich und für eine effektive Unter- stützung notwendig sind. Der entscheidende Punkt ist al- reicht, um es wirklich zu stoppen. Das ist die Realität. lerdings die Unterstützung durch die Innenpolitik Russ- Unter allen öffentlichen Diskussionsbeiträgen und Kommentaren, die ich gelesen habe, ist mir kein Vor- lands. Machen wir uns nichts vor: Solange es dort eine massive Mehrheit gibt, die die bisherige Politik Russ- schlag aufgefallen, den wir bisher noch nicht bedacht lands unterstützt, so lange sind unsere Mittel begrenzt. hätten. Ich habe auch im Rahmen der internationalen Diskussion kein neuen Vorschlag gefunden. Herr Kollege Irmer, ich habe doch nicht Sanktionen Damit komme ich zu der meines Erachtens entschei- ausgeschlossen. Ich bin lediglich dafür, dass Sanktionen denden Frage, nämlich ob wir am Ende unserer Analyse sehr sorgfältig darauf geprüft werden, ob sie taugen oder nicht zu Mitteln greifen, die das Gegenteil von dem be- nicht. Ich war für die Verhängung von Sanktionen gegen wirken, was wir erreichen wollen. die Bundesrepublik Jugoslawien. Der Visa-Bann ist ein hervorragendes Instrument gegen die Nomenklatura. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Das Einfrieren ihrer Konten ist ein hervorragendes In- und bei der SPD) strument, das ich sogar noch verschärfen möchte. Aber mittlerweile sind nach meiner Meinung das Ölembargo, Das hat überhaupt nichts mit Appeasement, Anpassung das aus militärischen Gründen ausgesprochen wurde, oder Verneigung vor irgendwelchen Kriegsherren zu und das Flugverbot kontraproduktive Sanktionen, die tun. Das wissen Sie. deswegen aufgehoben werden müssen. Ich appelliere – (Kurt J. Rossmanith [CDU/CSU]: Es ist inte- darüber müssen wir uns im Klaren sein; ich bin für (B) (D) ressant, dass Sie in der Zwischenzeit zu die- Wahrhaftigkeit –, nicht Sanktionen zu verhängen, die in sem Ergebnis kommen!) Wirklichkeit noch nicht einmal an der Oberfläche krat- zen, geschweige denn die russische Führung zu einer – Es ist überhaupt nicht interessant, dass ich in der anderen Politik als bisher zwingen. Wenn man Sanktio- „Zwischenzeit“ zu diesem Ergebnis komme. Entschei- nen erfolgreich durchsetzen möchte, dann muss man In- dend ist, dass wir nicht das Gegenteil von dem, was wir strumente einsetzen – ihre politische Wirkung sollte man wollen, erreichen. vorher durchdeklinieren –, wie zum Beispiel das drasti- Man muss erkennen, dass die Situation in Russland sche Herunterfahren der Wirtschaftsbeziehungen zwi- gespalten ist. Wir haben ein substanzielles Interesse an schen der Europäischen Union und Russland. Dies wür- der territorialen Integrität Russlands. Wir haben auch ein de auf eine Isolierung Russlands hinauslaufen. Davor Interesse daran, dass demokratische, marktwirtschaftli- kann ich nur warnen; denn so lange sich Russland nicht che und rechtsstaatliche Reformen in Russland voran- in einer strategischen Konfrontation mit Europa und kommen. Wir haben ein großes Interesse daran, dass die dem Westen befindet, so lange dürfen wir auch nicht Wahlen zur Duma fair verlaufen und dass es einen kon- strategische Containment-Mittel einsetzen, es sei denn, stitutionellen Machttransfer auf der Präsidentenebene wir wollten eine neue Isolierung herbeiführen. Dies hiel- gibt. Das wären wichtige Entwicklungen; denn wir kön- te ich für eine katastrophal falsche Politik. nen ein in sich instabiles Russland angesichts seiner Be- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN deutung für die Sicherheit und den Frieden in Europa und bei der SPD) und in der Welt nicht zulassen. Aber auf dieser Grund- lage kritisieren wir auch das Vorgehen Russlands in Unsere Politik sollte sich an drei Elementen orientie- Tschetschenien und die humanitäre und politische Ka- ren: tastrophe, die der dortige Krieg verursacht hat; denn es besteht in der Tat die Gefahr, dass Russland das Gegen- Punkt eins. Wir sollten Russland klarmachen, so wie teil von dem erreicht, was es will: Mit der Parole „Ver- es alle Rednerinnen und Redner gefordert haben, dass nichtung der Terroristen“ wird die Grundlage für eine seine Vorgehensweise nicht akzeptabel ist, dass sie sich massenhafte Unterstützung der Terroristen geschaffen. mit den internationalen Vereinbarungen, die Russland Dies kann wiederum zur Talibanisierung der Region, zur auf europäischer, aber auch auf globaler Ebene einge- Destabilisierung anderer Regionen außerhalb Russlands gangen ist, genau so wenig verträgt wie mit den langfris- und auch zur Destabilisierung der demokratischen Ent- tigen russischen Interessen. 7904 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Januar 2000

Bundesminister Joseph Fischer (A) (C) Punkt zwei. Wir sollten auf Verbesserung der huma- – Das ist natürlich der Punkt. Wenn man sich um das nitären Hilfe insistieren, damit die humanitäre Katastro- Thema nicht so kümmert, dann kann man auch nicht re- phe abgewandt werden kann. Neben dem Beenden des agieren. Krieges ist das der andere wesentliche Punkt. Allein aus Kontakten nach Moskau wird noch kein Punkt drei. Wir sollten allerdings darauf verzichten, Sommer in Tschetschenien werden. Die Frage ist: Was dass Russland in die Isolation abgleitet; denn wir wür- können wir über das hinaus, was wir allseits beklagt ha- den damit mehr verlieren als gewinnen. ben, anbieten? Das, was der Europarat gesagt hat – Kol- lege Bindig musste schon weg –, kann ich nur als positiv (Beifall des Abg. Dr. Ilja Seifert [PDS]) empfinden. Es ist zu bedauern, dass diese Stellungnah- Wenn das als Grundlage der gemeinsamen Politik in me nicht noch einen Schritt weiter gegangen ist. Kollege diesem Hause anerkannt wird, dann werden wir nach der Lippelt, ich muss zugestehen: Ich habe vor vier oder Präsidentenwahl mit einer Politik der strategischen Ge- fünf Jahren, als wir mit Kowaljow über die Mitglied- duld und der Prinzipienfestigkeit eine neue Chance ha- schaft im Europarat geredet haben, eigentlich die Positi- ben. Darin besteht die Möglichkeit, einen Neuanfang zu on eingenommen, dass man die Russen lieber draußen versuchen. Ob er gelingt, weiß ich nicht. Wenn er nicht lassen solle. Wir haben auf seinen Rat hin – dies war in gelingt, wird man meines Erachtens die Diskussion da- der damaligen Moskauer Opposition übrigens keine ein- nach erneut, und zwar in eine andere Richtung geleitet, hellige Meinung; es gab auch da unterschiedliche Mei- zu führen haben. nungen – gesagt: Gut, wir wollen euch aufnehmen, um stärker einwirken zu können. Ich konstatiere, dass das Vielen Dank. sicherlich der richtige Weg ist. Die fünf Stunden Iwa- now haben das gezeigt. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Herr Außenminister, in der gegenwärtigen Debatte fehlt mir über die drei Punkte hinaus die Behandlung der Frage, was wir außer einer Kriegscontainmentpolitik, Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat außer einer appellativen Politik machen. Was sind die jetzt der Abgeordnete Christian Schmidt. Ursachen des Konfliktes? Die Lage im ethnischen Be- reich ist verworren. Die Lage im wirtschaftlichen Be- reich ist schwierig. Es geht um die strategische Position Christian Schmidt (Fürth) (CDU/CSU): Frau Präsi- dieser Region, Stichwort „Ölversorgung“. Es gibt viel- dentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In der Diskussion über den Krieg ist viel über die unmögliche fältige Interessen vielfältiger Staaten an dieser Region. (B) Art und Weise der Terrorismusbekämpfung gesagt wor- In der Debatte gestern haben Sie eine Regierungser- (D) den. Um diese Terrorismusbekämpfung zu begründen klärung abgegeben, in der Sie sich zugute gehalten ha- und um den Terrorismus zu beenden, führt man einen ben, dass Sie eine Initiative für Südosteuropa gestartet Krieg nach zaristischer und stalinistischer Art. Darauf haben. Wir haben das sachlich abgehandelt, kritisiert will ich gar nicht weiter eingehen. und in wesentlichen Punkten haben wir Unterstützung Ich will zu der Frage zurückkommen, wie es in Mos- zugesagt. kau war. Ich bin überzeugt, dass Sie, Herr Außenminis- An Ihrer Stelle würde ich einen vierten Punkt zu dem, ter, die Dinge angemessen vorgetragen haben. Es hat was wir tun müssen, hinzufügen. Wir sollten den Russen uns allerdings etwas überrascht, dass bei Ihrem Lande- nach dem 26. März oder hoffentlich etwas vorher eine anflug zur Realpolitik die Landeklappen ziemlich weit weitere Chance geben. Ich bin nicht so ganz sicher, ob ausgefahren waren und die Landung sehr sanft war. Putins Kalkül aufgeht. Sie hatten schon angesprochen: (Beifall bei der CDU/CSU) Was ist denn, wenn der Terrorismus in die Städte Russ- lands zurückkehrt? Hören Sie sich Luschkow an, der Wenn Sie selbst meinen, Sie müssten diese Form der heute ganz anders argumentiert, als er es getan hat, als er Realpolitik aus Gründen der Abwägung vertreten, dann direkt unter dem Eindruck des damaligen Attentats kann ich mir vorstellen, dass der Bundeskanzler seine stand. Luschkow sagt heute: Wir hätten diesen Krieg Kontakte nach Moskau nutzt. Ich greife damit übrigens nicht anfangen sollen. Da hat er wohl Recht. ein Wort auf, Herr Außenminister, das der Oppositions- politiker Fischer in einer Debatte, die wir an anderem Wir müssen über die Energieversorgung und die Ort, aber im gleichen Saale durchaus kontroverse Interessenlage diskutieren. Damit verbunden ist, von einer ganz anderen Warte aus, die (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE Frage einer gewissen religiösen Fundamentalisierung. GRÜNEN]: Den gab es da noch gar nicht, den Sie haben das Stichwort „Taliban“ genannt. Ich denke Saal!) an die Verknüpfung von Religion und Ölinteressen. Ich erinnere an die Wahabiten und all das andere, was damit vor vier oder fünf Jahren über die Frage „Wie verhält verbunden ist. man sich denn?“ geführt haben, benutzt hat. Der dama- lige Bundeskanzler hat sich an den damaligen russischen Sollten wir nicht überlegen, eine Zentralasienkonfe- Präsidenten gewandt. renz durchzuführen, die, gerade was diese Fragestellun- gen angeht, Russland eine Möglichkeit gibt, seine (Ulrich Irmer [F.D.P.]: Der jetzige Kanzler hat durchaus berechtigten Interessen nicht in zaristischer ja keine Kontakte nach Moskau!) Form – was die Russen immer wieder in Tschetschenien Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Januar 2000 7905

Christian Schmidt (Fürth) (A) (C) gemacht haben, sie notfalls eben zu kujonieren – durch- im Klaren – nur dann, wenn wir eine gemeinsame Posi- zusetzen, sondern auch unter Einbeziehung anderer Inte- tion nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa ressen: georgischen, armenischen, aserbaidschanischen, haben, kann das irgendeine Auswirkung auf eine Macht türkischen, europäischen und amerikanischen Interes- wie die der russischen Föderation haben. sen? Wir müssen auch aufpassen, dass wir ehrlich mit den (Gernot Erler SPD: Iranische!) berechtigten Forderungen an die russische Führung um- Wir lassen die USA in dieser Frage von europäischer gehen. Ich stimme all denen zu, die hier gesagt haben, Seite aus relativ alleine laufen. Wieso formulieren wir im Zentrum müsse dabei die Art der Kampfführung ste- Europäer unsere Sicherheits- und Rohstoffinteressen in hen. Unterschiedslose Bombardierung von Dörfern und dieser Region nicht? Das muss nicht in aggressiver Städten ist kein Kampf gegen Terrorismus. Form geschehen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Bundesminister Joseph Fischer: Das ist ge- DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr. Ilja Seifert fährlich!) [PDS]) – Das ist gefährlich. Aber es ist noch gefährlicher, Dinge Insofern kann das nur den Protest der Weltöffentlichkeit laufen zu lassen, ohne zu erkennen, wo die wahren Ur- hervorrufen. sachen des Konfliktes liegen. Ich möchte eines – das gehört zur Ehrlichkeit – dazu- (Dr. Helmut Lippelt [BÜNDNIS 90/DIE sagen: Dieser Appell geht auch an die tschetschenischen GRÜNEN]: Das ist ja fast schon dialektischer Kämpfer. Es gibt einen Bericht von Human Rights Materialismus, was Sie da anführen!) Watch, aus dem hervorgeht, dass die tschetschenischen Einheiten gegen den Willen der Dorfältesten Dörfer als Aus diesem Grunde würde ich den vierten Punkt ger- Schutz für ihre Operation nehmen, dass sie sogar Leute, ne anfügen und sagen: Wir müssen überlegen, wie wir in die dagegen protestieren, misshandeln. Das ist natürlich dieser Region – nicht nur in Tschetschenien, sondern auch eine Provokation, was die Angriffe auf diese Dör- auch in Dagestan, Tatarstan, in all den Gebieten bis hin fer angeht. Dieser Appell muss also auch in diese Rich- in die anderen Länder der GUS – eine vernünftige Mög- tung gehen. lichkeit des Interessenausgleichs schaffen können. Lei- tungen um Russland herum zu bauen und Russland aus- (Dr. Ilja Seifert [PDS]: Völlig richtig!) schalten zu wollen, das wird auf Dauer keinen Frieden in dieser Region bringen. Bei der politischen Lösung, liebe Kolleginnen und Kollegen, die wir immer wieder fordern, sind wir uns (B) (Beifall bei der CDU/CSU) über die Schwierigkeiten von Verhandlungsgesprächen (D) im Klaren. Es muss eigentlich auch weitergehen. In der Tat, nach dem Vertrag von Chasaviot ist eines nicht pas- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat siert, nämlich irgendeine Perspektive für die lange schon jetzt der Abgeordnete Gernot Erler. in der Krise lebende tschetschenische Bevölkerung auf- zubauen. Das war in dem Vertrag versprochen worden, Gernot Erler (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kolle- ist aber nicht passiert. Das hat den enormen Exodus der ginnen und Kollegen! Als Erstes möchte ich das aufgrei- Bevölkerung aus Tschetschenien fortgesetzt, der 1991 fen, was der Kollege Kurt Palis gesagt hat. Die Russ- begonnen hat. landpolitik des Außenministers findet die volle Unter- stützung der SPD-Fraktion. Das gilt auch für seine Reise 1991 lebten in Tschetschenien 1 Million Menschen, und nach Moskau. zwar 750 000 Tschetschenen, 230 000 Russen und noch einige andere. Schon bis 1994, bis zu dem Zeitpunkt, als Herr Kollege Schmidt, was Ihre Appelle angeht, so ist der erste Tschetschenienkrieg begann, sind wegen der es für Sie vielleicht interessant zu wissen, dass es vor krisenhaften Entwicklung 250 000 Menschen weggezo- der Reise von Herrn Fischer ein Gespräch zwischen dem gen und bis 1996 weitere 100 000. Zu Beginn des jetzi- Bundeskanzler und Putin gegeben hat, übrigens, soweit gen Krieges waren noch ganze 650 000 Menschen in ich unterrichtet bin, auch ein Gespräch zwischen Ihrem Tschetschenien, und zwar als Residenten – so hören ehemaligen Ehrenvorsitzenden, dem ehemaligen Bun- wir – nur noch 350 000; die anderen haben bereits in deskanzler Helmut Kohl, und Jelzin. Nachbarrepubliken gearbeitet und zum Teil dort auch Wenn man in Russland etwas erreichen will, wenn gelebt. man Kontakt mit Putin haben will, dann muss man nach Das zeigt die ganze Tragödie, die sich dort abgespielt Moskau fahren. Sie kennen die russische Verfassung. hat. Das zeigt übrigens auch, welches Risiko Russland Putin hat als Ministerpräsident und als amtierender Prä- eingeht, wenn es keine dauerhafte politische Lösung sident gerade eine Doppelrolle inne. Er darf das Land sucht. Denn es gibt in der russischen Diaspora 500 000 nicht verlassen. Tschetschenen, davon 250 000 in Moskau. Das sind im Es gibt hier eine Menge Gemeinsamkeiten. Es ist gut, Grunde genommen sehr viele potenzielle Kämpfer, dass das zum Ausdruck gebracht worden ist. Man muss wenn es keine dauerhafte Lösung gibt. Es ist immer aufpassen, dass wir uns hier nicht eine provinzielle Dis- wieder lohnend, das der russischen Führung klarzuma- kussion leisten; denn – darüber sind wir uns doch wohl chen. 7906 Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 85. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Januar 2000

Gernot Erler (A) (C) Herr Kollege Schmidt, Sie haben von einer Zentral- Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. asienkonferenz gesprochen. Es stimmt, der Tschetsche- nienkrieg ist kein lokales Ereignis. Tschetschenien ist (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ eingebettet in eine Krisenregion, die von Transkaukasien DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr. Werner bis nach Transkaspien reicht. Was wir dort brauchen, ist Hoyer [F.D.P.]) etwas Ähnliches wie auf dem Balkan, nämlich ein regi- onales Konzept, das von Machtspielen bzw. von einer Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Der Kollege Neuauflage des „great game“ des 19. Jahrhunderts und Gert Weisskirchen hat darum gebeten, seine Rede zu von einer Fortsetzung des Kalten Krieges mit anderen Protokoll geben zu dürfen*). Diesem stimmen wir alle, Mitteln wegführt. so glaube ich, gerne zu. Dazu müssen wir einen konzeptionellen Beitrag leis- Damit ist die Aktuelle Stunde beendet und wir sind ten. Mit unseren amerikanischen Freunden sollten wir damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung. einen Dialog führen, was die Art ihrer Interessenver- tretung angeht. Denn wenn wir die Einbettung der Lö- Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun- destages auf Mittwoch, 16. Februar 2000, 13 Uhr, ein. sung dieses Konflikts in ein Konzept regionaler Sicher- heit nicht erreichen, dann wird es morgen andere tsche- Die Sitzung ist geschlossen. tschenisch aussehende Schauplätze in dieser Region ge- ben. (Schluss der Sitzung: 15.38 Uhr) Das waren zum Schluss dieser Debatte ein paar nach- ______*) denkliche Bemerkungen. Anlage 3

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Januar 2000 7907

(A) (C) Anlagen zum Stenographischen Bericht

Anlage 1 entschuldigt bis Abgeordnete(r) einschließlich Liste der entschuldigten Abgeordneten Dr. Kinkel, Klaus F.D.P. 28.01.2000

Dr. Kohl, Helmut CDU/CSU 28.01.2000 entschuldigt bis Abgeordnete(r) einschließlich Lamers, Karl CDU/CSU 28.01.2000 Leidinger, Robert SPD 28.01.2000 Adam, Ulrich CDU/CSU 28.01.2000 * Lietz, Ursula CDU/CSU 28.01.2000 Beck (Köln), Volker BÜNDNIS 90/ 28.01.2000 DIE GRÜNEN Lippmann, Heidi PDS 28.01.2000 Behrendt, Wolfgang SPD 28.01.2000 * Dr. Lippold (Offenbach) CDU/CSU 28.01.2000 Klaus W. Bernhardt, Otto CDU/CSU 28.01.2000 Lörcher, Christa SPD 28.01.2000 * Bläss, Petra PDS 28.01.2000 Maaß (Wilhelmshaven), CDU/CSU 28.01.2000 Bühler (Bruchsal), Klaus CDU/CSU 28.01.2000 * Erich Carstensen (Nordstrand), CDU/CSU 28.01.2000 SPD 28.01.2000 Peter H. Mark, Lothar Fischer (Berlin), Andrea BÜNDNIS 90/ 28.01.2000 Dr. Mayer (Siegertsbrunn) CDU/CSU 28.01.2000 DIE GRÜNEN Martin Fischer (Homburg), SPD 28.01.2000 Michels, Meinolf CDU/CSU 28.01.2000 * Lothar Möllemann, Jürgen W. F.D.P. 28.01.2000 Fischer (Karlsruhe-Land), CDU/CSU 28.01.2000 Neuhäuser, Rosel PDS 28.01.2000 Axel Neumann (Gotha), SPD 28.01.2000 * Fograscher, Gabriele SPD 28.01.2000 Gerhard (B) (D) Formanski, Norbert SPD 28.01.2000 Ostrowski, Christine PDS 28.01.2000 Frick, Gisela F.D.P. 28.01.2000 Poß, Joachim SPD 28.01.2000 Friedrich (Altenburg), SPD 28.01.2000 Peter Dr. Protzner, Bernd R. CDU/CSU 28.01.2000 Gebhardt, Fred PDS 28.01.2000 Repnik, Hans-Peter CDU/CSU 28.01.2000 Dr. Geißler, Heiner CDU/CSU 28.01.2000 Dr. Riesenhuber, CDU/CSU 28.01.2000 Heinz Dr. Gerhardt, Wolfgang F.D.P. 28.01.2000 Rübenkönig, Gerhard SPD 28.01.2000 Göring-Eckardt, Katrin BÜNDNIS 90/ 28.01.2000 DIE GRÜNEN Rühe, Volker CDU/CSU 28.01.2000 Gröhe, Hermann CDU/CSU 28.01.2000 Dr. Rüttgers, Jürgen CDU/CSU 28.01.2000 Günther (Duisburg), CDU/CSU 28.01.2000 Schaich-Walch, Gudrun SPD 28.01.2000 Horst Scherhag, Karl-Heinz CDU/CSU 28.01.2000 Haack (Extertal), SPD 28.01.2000 Schlee, Dietmar CDU/CSU 28.01.2000 Karl-Hermann Schmidt (Eisleben), SPD 28.01.2000 Hanewinckel, Christel SPD 28.01.2000 Silvia Hauser (Bonn), Norbert CDU/CSU 28.01.2000 Schmitz (Baesweiler), CDU/CSU 28.01.2000 Hofbauer, Klaus CDU/CSU 28.01.2000 Hans Peter Hollerith, Josef CDU/CSU 28.01.2000 von Schmude, Michael CDU/CSU 28.01.2000 * Dr. Hornhues, Karl-Heinz CDU/CSU 28.01.2000 * Schur, Gustav-Adolf PDS 28.01.2000 Jaffke, Susanne CDU/CSU 28.01.2000 Dr. Schwarz-Schilling, CDU/CSU 28.01.2000 Jünger, Sabine PDS 28.01.2000 Christian Kalb, Bartholomäus CDU/CSU 28.01.2000 Siebert, Bernd CDU/CSU 28.01.2000 *

7908 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Januar 2000

(A) (C) Die alte Koalition hat mit dem so genannten Frank- entschuldigt bis Abgeordnete(r) furter Flughafenkompromiss eine gute Vorarbeit geleis- einschließlich tet. Auf diesem baut die heutige Regierung auf und fin- Simm, Erika SPD 28.01.2000 det deswegen auch in den Bereichen, in denen sie unsere Vorschläge übernimmt, unsere Unterstützung. Dr. Spielmann, Margrit SPD 28.01.2000 An dieser Stelle möchte ich ausdrücklich anmerken, Spranger, Carl-Dieter CDU/CSU 28.01.2000 dass sich die bayerische Landesregierung, wenn sie nun Dr. Frhr. von Stetten, CDU/CSU 28.01.2000 sieht, welche Beschlussfassung heute durch die Mehr- Wolfgang heit gefasst worden ist, dringend fragen sollte, ob ihr Verhalten, das letztlich Mitte 1999 zum Scheitern des Dr. Tiemann, Susanne CDU/CSU 28.01.2000 Strafverfahrensänderungsgesetzes geführt hat, vernünf- Veit, Rüdiger SPD 28.01.2000 tig, sinnvoll und effektiv war. Es wäre besser gewesen, sie hätte den Spatzen in die Hand genommen, als sich Dr. Volmer, Ludger BÜNDNIS 90/ 28.01.2000 nun möglicherweise mit der Taube auf dem Dach zu be- DIE GRÜNEN gnügen. Dr. Waigel, Theodor CDU/CSU 28.01.2000 Der Grund unserer Ablehnung ist, wie bereits ausge- Dr. Wend, Rainer SPD 28.01.2000 führt, dass die Bundesregierung die ursprünglich verein- Wieczorek-Zeul, SPD 28.01.2000 barte Linie, die zwischen Bund und Ländern, und zwar Heidemarie sowohl von CDU- als auch von SPD-geführten Ländern vereinbart worden war, nicht eingehalten worden ist. Wiefelspütz, Dieter SPD 28.01.2000 Die von Rot-Grün im Rechtsausschuss vorgelegten Willner, Gert CDU/CSU 28.01.2000 Änderungsanträge tragen deutlich grüne Handschrift. Es Dr. Wodarg, Wolfgang SPD 28.01.2000 * ist auch zu vermuten, dass es sich bei dem, was an Än- derungsanträgen bis heute zur Verabschiedung vorliegt, Wohlleben, Verena SPD 28.01.2000 letztlich um ein Gegengeschäft zu Gesetzesvorhaben Zapf, Uta SPD 28.01.2000 handelt, die entweder schon verabschiedet worden sind oder in Zukunft noch kommen werden. Jedenfalls ist es Zierer, Benno CDU/CSU 28.01.2000 * für mich nicht nachvollziehbar, wie sich die SPD auf ______diese Linie hat begeben können. (B) * für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versamm- Die Änderungsanträge haben die Gewichte im Be- (D) lung des Europarates reich des Strafverfahrensänderungsgesetzes erkennbar zum Nachteil einer effektiven Strafverfolgung und damit sehr häufig auch zum Nachteil der Opfer verschoben. Die in § 131 StPO des Entwurfes vorgesehene Allkom- Anlage 2 petenz der Hilfsbeamten für die Veranlassung der Öf- fentlichkeitsfahndung zum Zwecke der Festnahme, die Nachträglich zu Protokoll gegebene Rede nun auf die Fälle beschränkt werden soll, in denen der zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Festgenommene entweicht oder sich sonst der Bewa- Änderung und Ergänzung des Strafverfahrens- chung entzieht, ist hierfür ein Beispiel. Insbesondere der rechts (84. Sitzung, Zusatztagesordnungs- Ausschluss der Inanspruchnahme des Fernsehens in Eil- punkt 10) fällen durch die Polizei ist abzulehnen. Man stelle sich nur einmal den Fall vor, dass ein Sexualstraftäter flüch- tet. Mit jeder Minute, die verstreicht, ohne dass im Fern- Jörg von Essen (F.D.P.): „Was lange währt, wird sehen ein entsprechendes Bild von ihm veröffentlicht endlich gut“, so könnte man die heutige Beschlussfas- wird, besteht Gefahr, dass man seiner nicht habhaft sung zum Strafverfahrensänderungsgesetz übertiteln. wird, oder aber, dass man bei entsprechender Fernseh- Zwar steht noch die Entscheidung des Bundesrates zum ausstrahlung seiner hätte habhaft werden können. Wenn Strafverfahrensänderungsgesetz 1999 aus, jedoch wird in diesen Fällen auch nur ein weiteres Sexualverbrechen in weiten Teilen auch, wie die Abstimmung im Rechts- durch diesen Täter begangen wird, dann möchte ich se- ausschuss gezeigt hat, mit Zustimmung der F.D.P end- hen, wie die Verantwortlichen dann darauf hinweisen lich eine verfassungsrechtliche Vorgabe umgesetzt, die wollen, dass man ja erst einmal einen Staatsanwalt habe uns im Rechtsausschuss lange und häufig beschäftigt anrufen müssen, der diese Fernsehfahndung verlangt. hat. Wir übersehen nicht, dass eine Fernsehfahndung ein er- Aus Gründen, die ich Ihnen nachher noch im Einzel- heblicher Eingriff in das Recht auf informationelle nen darlegen werde, kann die F.D.P. dem Entwurf den- Selbstbestimmung ist. Ich erinnere mich aber genau, noch nicht zustimmen. Der Gesetzentwurf bewegt sich dass die SPD immer wieder verlangt hat, dass den so in dem sensiblen Dreieck zwischen effektiver Strafver- genannten Hilfsbeamten, also der Polizei, mehr Kompe- folgung, Schutz des Rechtes auf informationelle Selbst- tenzen und mehr Verantwortung übergeben werden soll- bestimmung und dem Opferschutz. te. In diesem Punkte scheut man sich nun. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Januar 2000 7909

(A) (C) Schließlich sind mir keine Fälle bekannt, in denen ei- dass die Zuständigkeitsverteilung des § 163 f StPO in ih- ne Fernsehfahndung bisher dazu geführt hat, dass es zu rer ursprünglichen Fassung das wesentliche Zugeständ- einer „Ächtung“ eines Verdächtigen oder Straftäters ge- nis der Länder gegenüber der Bundesregierung war. Sie kommen ist. Wir können und müssen hier den Verant- war der Ausgleich für andere Regelungen, die mit wortlichen mehr Vertrauen entgegenbringen. Eines darf Mehrbelastungen der Justiz einhergehen. Auch hier pro- ich aber auch von hier aus noch sagen: Wenn sich im voziert die Regierungskoalition unnötig das Risiko einer Rahmen der Vorbereitung der Ausstrahlung die Mög- Anrufung des Vermittlungsausschusses durch die Län- lichkeit ergibt, den Staatsanwalt einzubeziehen, so muss der. dies geschehen. Schließlich möchte ich noch auf die Frage der Ge- Die beabsichtigte Beschränkung der Öffentlichkeits- währung von Akteneinsicht an Privatpersonen hinwei- fahndung nach Zeugen gemäß § 131 a StPO wird von sen. Trotz der nicht gerade kurzen Diskussion im uns ebenfalls abgelehnt. Mit § 131 a Abs. 4 werden die Rechtsausschuss zu diesem Thema muss ich weiterhin berechtigten Interessen der Zeugen hinreichend ge- festhalten, dass die Unterscheidung der beiden Begriffe schützt. Übrigens ist auch zu bedenken, dass die Nach- rechtliches Interesse an der Gewährung der Einsicht ei- forschung nach einem Zeugen nicht nur im Hinblick auf nerseits und berechtigtes Interesse an der Einsicht ande- belastende, sondern gerade auch durch die Staatsanwalt- rerseits äußerst diffizil ist. Besonders interessant ist die schaft im Hinblick auf entlastende Momente erfolgen Tatsache, dass der Begriff des rechtlichen Interesses, muss. Die Fahndung nach dem klassischem Hauptentlas- wenn man einmal in den „Schönfelder“ schaut, zwar an tungszeugen darf nach unserer Ansicht nicht so vorge- 24 Stellen auftaucht , jedoch letztlich im Zivil- und Zi- nommen werden, wie es nun der Änderungsvorschlag vilprozessrecht angesiedelt ist. der Regierungskoalition vorsieht. Ähnlich verhält sich die Frage der Veröffentlichung von Lichtbildern zur Der Begriff des berechtigten Interesses hingegen ist, Identitätsfeststellung von Zeugen. wie ja auch die Beschlussempfehlung richtig erläutert, in der StPO in § 406 e vorhanden. Ich erachte es als ein Bei dem in § 131 c StPO vorgesehenen richterlichen hohes Risiko, auch gegenüber der Rechtsprechung, hier Bestätigungsverfahren prophezeie ich Ihnen schon heute mit der Einführung eines neuen Begriffes in die StPO eine erhebliche Mehrbelastung für die Gerichte. Im Üb- für alle am Strafverfahren Beteiligten Schwierigkeiten rigen ist dies einer der Gründe, die mich ahnen lassen, zu provozieren, ohne dass dazu Anlass besteht. dass der Bundesrat von einer Anrufung des Vermitt- lungsausschusses nicht weit entfernt ist. Schließlich ist auch nicht davon auszugehen, dass der Begriff des berechtigten Interesses in § 115 Abs. 3 Was die Versagung der Akteneinsicht nach § 147 der Strafvollzugsgesetz oder aber in § 80 des Jugendge- (B) Strafprozessordnung anbetrifft, so frage ich mich, ob richtsgesetzes identisch ist mit der Regelung des § 406 e (D) über die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts StPO. hinaus noch eine verstärkte Akteneinsicht notwendig ist. In diesem Zusammenhang darf ich auch darauf hinwei- Abschließend darf ich daher festhalten, dass ich auf sen, dass viele Kollegen in letzter Zeit Briefe bekom- der einen Seite froh darüber bin, dass endlich eine ver- men, in denen sich Bürger darüber beschweren, dass fassungsgerichtliche Vorgabe erfüllt wird, dass ich aber Straftäter Einsicht in die Akten bekommen – ein im Üb- auf der anderen Seite aufgrund der vielen, letzlich zum rigen der Verteidigung selbstverständlich zustehendes Nachteil einer effektiven Strafverfolgung eingeführten Recht –, in denen aber die Adressen der Zeugen aufge- Regelungen meiner Fraktion empfehlen musste, den Ge- führt sind. Sicher, das Akteneinsichtsrecht ist ein für ein setzentwurf abzulehnen. rechtsstaatliches Strafverfahren unabdingbares Recht. Die Frage des Umfanges und die Frage des Zeitpunktes sind jedoch nach meiner Ansicht bisher durch Gesetz und Rechtsprechung in befriedigendem Maße gelöst. Anlage 3 Einen weiteren Konflikt sehe ich bei der Regelung Zu Protokoll gegebene Rede des § 163 f. Die Verpflichtung, die Anordnung der län- gerfristigen Observation innerhalb von 24 Stunden zur Aktuellen Stunde: Die Ergebnisse des Russ- durch die Staatsanwaltschaft bestätigen zu lassen, hat land-Besuchs des deutschen Außenministers auf den ersten Blick einiges für sich. Sie bedeutet im Er- Joseph Fischer am 20. Januar 2000 und die gebnis, dass eine Observation eines Beschuldigten an Haltung der Bundesregierung zum Tschetsche- mehr als zwei Tagen es notwendig macht, dass die nienkrieg (Zusatztagesordnungspunkt 12) Staatsanwaltschaft in das Verfahren mit einbezogen wird. Das betrifft aber letztlich fast jede Observation. Gert Weisskirchen (Wiesloch) (SPD): Niemand Nicht umsonst hat der Bundesrat in seiner Stellung- zweifelt an unserem festen Willen, die russische Regie- nahme verlangt, dass eine Verlängerung der Anord- rung davon zu überzeugen: Der Krieg in Tschetschenien nungskompetenz auf sieben Tage erfolgen sollte. Per- muss beendet werden. Hält Moskau fest an der militäri- sönlich halte ich diese Zeit für etwas zu lang, sie zeigt schen Logik, wird es sich immer tiefer verstricken. Mili- jedoch genau das Gefüge, in dem sich die Koalition mit tärisch kann der Konflikt nicht gelöst werden. Selbst ihren Vorstellungen einer 24-Stunden-Frist bewegt. Ich wenn die 93 000 russischen Soldaten über die 11 000 darf bei dieser Gelegenheit auch noch daran erinnern, tschetschenischen Rebellen siegen, Russland wäre dann 7910 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Januar 2000

(A) (C) in höchster Gefahr, das Vertrauen der tschetschenischen Russlands spiegeln sich wider in den Eruptionen der Bevölkerung vollends zu verlieren. Gewalt in Grosny. Aus dieser Gefahr kann sich Russland nur selbst be- Herr Außenminister, die SPD-Bundestagsfraktion freien. Gerade wir, die wir mithelfen wollen, dass Russ- dankt Ihnen dafür, dass Sie dem amtierenden Präsiden- land eine neue Chance bekommt, gerade wir, die wir die ten immer wieder deutlich machen: Wir wollen Russ- strategische Partnerschaft zwischen der EU und Russ- land in Europa, ein Russland, das seine Konflikte mit zi- land erarbeitet haben, müssen versuchen, dem amtieren- vilen Mitteln löst, damit alle Regionen Russlands in ei- den Präsidenten Putin deutlich zu machen, was wir er- nem Europa leben können in Frieden mit allen anderen warten: Wir wollen, dass Russland seinen Platz in der Regionen unseres schwierigen Kontinents. Familie der europäischen Demokratien findet. Russland gefährdet diese Chance selbst, wenn es nicht loslässt von seiner Obsession, aus dem Süden des Kaukasus werde Anlage 4 Russlands Integrität überrannt. Russland hat das Recht, sich gegen Terrorismus und Amtliche Mitteilungen organisierte Kriminalität zu wehren. Daran zweifelt Die Fraktion der F.D.P. hat mit Schreiben vom 24. niemand. Unsere Kritik setzt allerdings an den Mitteln Januar 2000 ihren Antrag „Missbilligung des Verhal- an, die Russland einsetzt in diesem Kampf. Das hat die tens des Bundesfinanzministers OSZE festgehalten, das hat die Parlamentarische Ver- und Stopp der Steuergesetze und des 630-Mark- sammlung des Europarates gestern festgehalten und das Gesetzes im Bundesrat“ – Drucksache 14/549 – zu- schreiben die russischen Gesetze vor. Außenminister rückgezogen. Joschka Fischer hat all dies dem amtierenden russischen Präsidenten deutlich gemacht. Naiv wäre es zu glauben, Die Vorsitzenden der folgenden Ausschüsse haben die Reise eines deutschen Außenministers würde den mitgeteilt, dass der Ausschuss gemäß § 80 Abs. 3 Satz 2 russischen Präsidenten zwingen, unmittelbar militärische der Geschäftsordnung von einer Berichterstattung zu der Operationen fallen zu lassen. Aber beeindrucken wird es nachstehenden Vorlage absieht: Moskau, wie klar und unmissverständlich die Außenwelt Auswärtiger Ausschuss den Tschetschenienkrieg beurteilt. Jede Reise und je- des persönliche Gespräch kann dazu beitragen, die – Unterrichtung durch die Bundesregierung Selbstisolierung Russlands zu durchbrechen. Und in der Bericht der Bundesregierung über die Tätigkeit des Tat: erste, wenn auch erst zaghafte Zeichen der Koope- Europarats für die Zeit vom 1. Januar bis 30. Juni rationsbereitschaft sind zu erkennen: 1998 (B) – Drucksachen 14/1130, 14/1187 Nr. 1.5 – (D) – Am 9. Januar schreibt Vladimir Putin an die EU: „Russland ist bereit, humanitäre Hilfe von internatio- – Unterrichtung durch die Bundesregierung nalen Organisationen anzunehmen, zum Beispiel von Bericht der Bundesregierung über den Stand der den VN, dem IRK und der EU“; Unterzeichnung und Ratifizierung europäischer Ab- kommen und Konventionen durch die Bundesrepu- – am 11. Januar entscheidet die zentrale russische blik Deutschland Wahlkommission, dass eine Wahlkommission in – Drucksachen 14/740, 14/1012 Nr. 3 – Tschetschenien eingerichtet werden soll, zuständig für die Präsidentschaftswahlen und für die nachzuho- Haushaltsausschuss lenden Wahlen zur Staats-Duma; – Unterrichtung durch die Bundesregierung – „Russland“, schreibt Präsident Putin an BK Gerhard Haushaltsführung 1999 Schröder, „ist bereit, eine strategische Partnerschaft Überplanmäßige Ausgabe bei Kapitel 12 26 Titel mit der EU zu entwickeln, und möchte, dass die EU 732 01 – Baumaßnahmen zur Unterbringung der die Probleme versteht, mit denen Russland es zu tun Bundesregierung außerhalb des Parlamentsviertels hat.“ in Berlin – in Höhe in 105 Mio. DM und bei Kapitel 12 26 Titel 526 45 – Planungskosten für Baumaß- Diese Zeichen sind zögerlich, gewiss. Sie reichen nahmen außerhalb des Parlamentsviertels in Berlin – nicht aus. Und doch: Sie signalisieren etwas. Sie deuten in Höhe von 15 Mio. DM hin auf die wachsende Erkenntnis, dass Russland uns – Drucksache 14/1809 – braucht, wie wir Russland brauchen, wenn es eine fried- – Unterrichtung durch die Bundesregierung liche, gemeinsame Zukunft für Europa geben soll. Des- Haushaltsführung 1999 halb erwägt der russische Präsident, einer dauerhaften Präsenz des Europarates vor Ort zuzustimmen. Deshalb Überplanmäßige Ausgabe bei Kapitel 11 13 Titel erwarten wir von ihm, dass er eine Mission der OSZE in 656 26 – Beteiligung des Bundes in der knappschaft- lichen Rentenversicherung – der Region befürwortet. – Drucksachen 14/2208, 14/2296 Nr. 2 – Boris Jelzin hatte im ersten Tschetschenien rieg, k – Unterrichtung durch die Bundesregierung prophetisch fast, beschrieben, was sich zwanghaft in diesem Krieg wiederholt: „In den jüngsten Ereignissen Haushaltsführung 1999 in Tschetschenien spiegelten sich alle Probleme des heu- Überplanmäßige Ausgabe im Einzelplan 23; Kapitel tigen Russlands wider.“ Ja, alle Probleme des heutigen 23 02 Titel 836 02 – Beteiligung der Bundesrepublik Deutscher Bundestag - 14. Wahlperiode - 85. Sitzung. Berlin, Freitag, den 28. Januar 2000 7911

(A) Deutschland an Einrichtungen der Weltbankgrup- Auswärtiger Ausschuss (C) pe – Drucksache 14/2009 Nr. 1.2 – Drucksachen 14/2216, 14/2296 Nr. 3 – Drucksache 14/2104 Nr. 2.1

Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenab- Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen schätzung Drucksache 14/2104 Nr. 2.24 – Unterrichtung durch die Bundesregierung Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher- heit Erster Bericht zur Umweltbildung Drucksache 14/1936 Nr. 1.22 – Drucksachen 13/8878, 14/272 Nr. 180 – Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe Die Vorsitzenden der folgenden Ausschüsse haben Drucksache 14/1778 Nr. 1.2 mitgeteilt, dass der Ausschuss die nachstehenden EU- Drucksache 14/1936 Nr. 1.11 Vorlagen bzw. Unterrichtungen durch das Europäische Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenab- Parlament zur Kenntnis genommen oder von einer Bera- schätzung tung abgesehen hat: Drucksache 14/2009 Nr. 2.4

Druck: MuK. Medien- und Kommunikations GmbH, Berlin Vertrieb: Bundesanzeiger Verlagsgesellschaft mbH, Postfach 13 20, 53003 Bonn, Telefon: 02 28/3 82 08 40, Telefax: 02 28/3 82 08 44 ISSN 0720-7980