Plenarprotokoll 16/163

Deutscher

Stenografischer Bericht

163. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008

Inhalt:

Glückwünsche zum Geburtstag der Abgeord- Tagesordnungspunkt 4: neten Irmingard Schewe-Gerigk und Willy Wimmer (Neuss) ...... 17119 A a) Unterrichtung durch die Bundesregierung: Bundesbericht Forschung und Innova- Begrüßung der neuen Abgeordneten Manuel tion 2008 Sarrazin und ...... 17119 B (Drucksache 16/9260) ...... 17136 D Erweiterung und Abwicklung der Tagesord- b) Unterrichtung durch die Bundesregierung: nung ...... 17119 B Gutachten zu Forschung, Innovation und technologischer Leistungsfähigkeit Absetzung der Tagesordnungspunkte 10 b, 24 b 2008 und 34 ...... 17120 D (Drucksache 16/8600) ...... 17137 A Nachträgliche Ausschussüberweisungen . . . . 17121 A Dr. , Bundesministerin BMBF ...... 17137 A

Tagesordnungspunkt 3: (FDP) ...... 17138 C Vereinbarte Debatte: 60 Jahre Israel René Röspel (SPD) ...... 17140 A Dr. Peter Struck (SPD) ...... 17121 B Dr. (DIE LINKE) ...... 17141 C Dr. (FDP) ...... 17122 C Priska Hinz (Herborn) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 17143 B (CDU/CSU) ...... 17124 A (CDU/CSU) ...... 17145 B (DIE LINKE) ...... 17125 C (SPD) ...... 17146 C (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 17127 B (FDP) ...... 17148 D Dr. Frank-Walter Steinmeier, Dr. (CDU/CSU) ...... 17149 D Bundesminister AA ...... 17128 B Klaus Hagemann (SPD) ...... 17151 C (FDP) ...... 17129 D Dr. (CDU/CSU) ...... 17131 A Tagesordnungspunkt 35: Kerstin Müller (Köln) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 17132 C a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Jörn Wunderlich, , Dr. Martina (SPD) ...... 17133 D Bunge, weiteren Abgeordneten und der Fraktion DIE LINKE eingebrachten Ent- (CDU/CSU) ...... 17134 D wurfs eines Zweiten Gesetzes zur Ände- (Wiesloch) rung des Unterhaltsvorschussgesetzes (SPD) ...... 17136 A (Drucksache 16/7889) ...... 17153 B II Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008 b) Erste Beratung des von der Bundesregie- desrepublik Deutschland und der Re- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- gierung der Sozialistischen Republik zes zu dem Abkommen vom 7. Dezem- Vietnam über die Zusammenarbeit bei ber 2004 zwischen der Regierung der der Bekämpfung von schwerwiegenden Bundesrepublik Deutschland und dem Straftaten und der Organisierten Kri- Schweizerischen Bundesrat zum Ver- minalität trag vom 23. November 1964 über die (Drucksache 16/9277) ...... 17154 A Einbeziehung der Gemeinde Büsingen i) Antrag des Bundesministeriums der am Hochrhein in das schweizerische Finanzen: Entlastung der Bundesregie- Zollgebiet über die Erhebung und die rung für das Haushaltsjahr 2007 – Vor- Ausrichtung eines Anteils der von der lage der Haushalts- und Vermögensrech- Schweiz in ihrem Staatsgebiet und im nung des Bundes (Jahresrechnung 2007) – Gebiet der Gemeinde Büsingen am (Drucksache 16/8834) ...... 17154 A Hochrhein erhobenen leistungsabhängi- gen Schwerverkehrsabgabe (LSVA-Ab- j) Antrag der Abgeordneten kommen Büsingen) (Hamm), Dr. Heinz Riesenhuber, (Drucksache 16/9041) ...... 17153 C Dr. Michael Fuchs, weiterer Abgeordne- ter und der Fraktion der CDU/CSU sowie c) Erste Beratung des von der Bundesregie- der Abgeordneten , Dr. Rainer rung eingebrachten Entwurfs eines Zwei- Wend, , weiterer Abgeordne- ten Gesetzes zur Änderung des Güter- ter und der Fraktion der SPD: Das neue kraftverkehrsgesetzes und anderer Zentrale Innovationsprogramm Mittel- Gesetze stand ZIM optimal ausgestalten und (Drucksache 16/9236) ...... 17153 C konsolidierungskonform finanzieren d) Erste Beratung des von der Bundesregie- (Drucksache 16/8905) ...... 17154 B rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- k) Antrag des Präsidenten des Bundesrech- zes zur verbesserten Einbeziehung der nungshofes: Rechnung des Bundesrech- selbstgenutzten Wohnimmobilie in die nungshofes für das Haushaltsjahr 2007 geförderte Altersvorsorge (Eigenheim- – Einzelplan 20 – rentengesetz – EigRentG) (Drucksache 16/9046) ...... 17154 B (Drucksache 16/9274) ...... 17153 C l) Unterrichtung durch die Bundesregierung: e) Erste Beratung des von den Fraktionen Erster Erfahrungsbericht der Bundes- CDU/CSU, SPD, FDP und BÜNDNIS 90/ regierung gemäß § 24 des Soldatinnen- DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs und Soldatengleichstellungsgesetzes eines … Gesetzes zur Änderung des Eu- (Berichtszeitraum 1. Januar 2005 bis ropaabgeordnetengesetzes und eines … 31. Dezember 2006) Gesetzes zur Änderung des Abgeordne- (Drucksache 16/7920) ...... 17154 C tengesetzes (Drucksache 16/9300) ...... 17153 D f) Erste Beratung des von der Bundesregie- Zusatztagesordnungspunkt 2: rung eingebrachten Entwurfs eines Ach- a) Antrag der Abgeordneten Ina Lenke, ten Gesetzes zur Änderung des Gemein- , Miriam Gruß, weiterer definanzreformgesetzes Abgeordneter und der Fraktion der FDP: (Drucksachen 16/9275, 16/9288) ...... 17153 D Faire Chancen für private und privat- g) Erste Beratung des von der Bundesregie- gewerbliche Anbieter bei der Kinderbe- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- treuung – Ohne weiteres Zögern Ent- zes zu dem Abkommen vom 8. Novem- wurf des Kinderförderungsgesetzes ber 2007 zwischen der Bundesrepublik vorlegen Deutschland und dem Königreich (Drucksache 16/8406) ...... 17154 C Saudi-Arabien zur Vermeidung der b) Antrag der Abgeordneten Hüseyin-Kenan Doppelbesteuerung auf dem Gebiet der Aydin, Heike Hänsel, , weite- Steuern vom Einkommen und vom Ver- rer Abgeordneter und der Fraktion DIE mögen von Luftfahrtunternehmen und LINKE: Hermes-Bürgschaft für das der Steuern von den Vergütungen ihrer Ilisu-Staudammprojekt zurückziehen Arbeitnehmer (Drucksache 16/9308) ...... 17154 C (Drucksache 16/9276) ...... 17154 A c) Antrag der Abgeordneten Dr. Hermann h) Erste Beratung des von der Bundesregie- Otto Solms, Carl-Ludwig Thiele, Frank rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- Schäffler, weiterer Abgeordneter und der zes zu dem Abkommen vom 31. August Fraktion der FDP: Mehr Netto für alle 2006 zwischen der Regierung der Bun- (Drucksache 16/9310) ...... 17154 D Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008 III d) Antrag der Abgeordneten Bettina Zusatztagesordnungspunkt 3: Herlitzius, Britta Haßelmann, Markus Kurth, weiterer Abgeordneter und der Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Unterschied- Barrierefreiheit und demografischer liche Meinungen in der Bundesregierung Wandel – Auf die Herausforderungen zum Energie- und Klimapaket für den Tourismus reagieren Renate Künast (BÜNDNIS 90/ (Drucksache 16/9315) ...... 17154 D DIE GRÜNEN) ...... 17159 A e) Unterrichtung durch die Bundesregierung: Dr. (CDU/CSU) ...... 17160 C Bericht über die Auswirkungen von Ra- battvereinbarungen für Arzneimittel, (FDP) ...... 17161 C insbesondere auf die Wirksamkeit der Festbetragsregelung (SPD) ...... 17162 D (Drucksache 16/9284) ...... 17155 A Hans-Kurt Hill (DIE LINKE) ...... 17164 A (CDU/CSU) ...... 17164 D Tagesordnungspunkt 36: Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/ a) Beschlussempfehlung und Bericht des Äl- DIE GRÜNEN) ...... 17165 D testenrats Michael Müller, Parl. Staatssekretär – zu dem Antrag der Fraktionen der BMU ...... 17167 B CDU/CSU und der SPD: Chancen der Charta der Vielfalt nutzen Dagmar Wöhrl, Parl. Staatssekretärin BMWi ...... 17169 A – zu dem Entschließungsantrag der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Reinhard Schultz (Everswinkel) (SPD) . . . . . 17170 B NEN zu der Beratung der Großen An- frage der Abgeordneten Franz Obermeier (CDU/CSU) ...... 17171 C (Köln), Irmingard Schewe-Gerigk, (SPD) ...... 17172 B (Bremen), weiterer Abgeordneter und der Fraktion Volkmar Uwe Vogel (CDU/CSU) ...... 17173 C BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Euro- päisches Jahr der Chancengleichheit für alle Tagesordnungspunkt 6: (Drucksachen 16/8502, 16/7537, 16/9219) 17155 B Antrag der Abgeordneten Hartfrid Wolff b)–i) (Rems-Murr), Dr. Heinrich L. Kolb, Patrick Beschlussempfehlungen des Petitionsaus- Meinhardt, weiterer Abgeordneter und der schusses: Sammelübersichten 407, 408, Fraktion der FDP: Zuwanderung durch ein 409, 410, 411, 412, 413 und 414 zu Pe- Punktesystem steuern – Fachkräftemangel titionen wirksam bekämpfen (Drucksachen 16/9081, 16/9082, 16/9083, (Drucksache 16/8492) ...... 17174 D 16/9084, 16/9085, 16/9086, 16/9087, 16/9088) ...... 17155 C Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP) ...... 17175 A (CDU/CSU) ...... 17176 C Tagesordnungspunkt 5: Dr. Michael Bürsch (SPD) ...... 17177 C Wahl der Mitglieder des Rundfunkrates und Sevim Dağdelen (DIE LINKE) ...... 17178 A des Verwaltungsrates der Deutschen Welle gemäß §§ 31 und 36 des Deutsche-Welle-Ge- Sevim Dağdelen (DIE LINKE) ...... 17180 A setzes (DWG) Dr. Michael Bürsch (SPD) ...... 17181 D (Drucksachen 16/9350, 16/9351) ...... 17156 B Reinhard Grindel (CDU/CSU) ...... 17182 D Hans-Joachim Otto (Frankfurt) (FDP) ...... 17156 B Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 17184 D Dr. Günter Krings (CDU/CSU) ...... 17157 C (Altötting) (CDU/CSU) . . . . 17186 C Wahl ...... 17158 C Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP) ...... 17187 B Ergebnis ...... 17163 D (SPD) ...... 17189 A IV Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008

Tagesordnungspunkt 7: (SPD) ...... 17207 A a) Erste Beratung des von den Fraktionen der Dr. Karl-Theodor Freiherr CDU/CSU und der SPD eingebrachten zu Guttenberg (CDU/CSU) ...... 17208 A Entwurfs eines Gesetzes zur Förderung von Kindern unter drei Jahren in Ta- geseinrichtungen und in der Kinderta- Tagesordnungspunkt 9: gespflege (Kinderförderungsgesetz – KiföG) Antrag der Abgeordneten Dr. Barbara Höll, (Drucksache 16/9299) ...... 17190 A Werner Dreibus, Ulla Lötzer, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion DIE LINKE: Ent- b) Antrag der Abgeordneten Diana Golze, fernungspauschale sofort vollständig aner- Klaus Ernst, Dr. , weiterer kennen – Verfassungsmäßigkeit und Abgeordneter und der Fraktion DIE Steuergerechtigkeit herstellen LINKE: Öffentliche Kinderbetreuung (Drucksache 16/9167) ...... 17209 A ausbauen – Kommerzialisierung der Kinder- und Jugendhilfe vermeiden (DIE LINKE) ...... 17209 B (Drucksache 16/9305) ...... 17190 B (FDP) ...... 17210 C Dr. Hermann Kues, Parl. Staatssekretär (CDU/CSU) ...... 17210 D BMFSFJ ...... 17190 B Dr. Barbara Höll (DIE LINKE) ...... 17212 C Ina Lenke (FDP) ...... 17191 C Olav Gutting (CDU/CSU) ...... 17212 D (CDU/CSU) . . . . . 17192 D Dr. (FDP) ...... 17213 A (SPD) ...... 17193 B Dr. (BÜNDNIS 90/ Jörn Wunderlich (DIE LINKE) ...... 17194 C DIE GRÜNEN) ...... 17214 B Ekin Deligöz (BÜNDNIS 90/ (SPD) ...... 17215 A DIE GRÜNEN) ...... 17195 D Frank Spieth (DIE LINKE) ...... 17215 D Ingrid Fischbach (CDU/CSU) ...... 17197 A Frank Schäffler (FDP) ...... 17216 D Jörn Wunderlich (DIE LINKE) ...... 17198 A (Weiden) Marlene Rupprecht (Tuchenbach) (CDU/CSU) ...... 17217 B (SPD) ...... 17199 B Florian Pronold (SPD) ...... 17217 C Christine Scheel (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 17217 D Tagesordnungspunkt 8: Dr. Barbara Höll (DIE LINKE) ...... 17218 C Antrag der Bundesregierung: Fortsetzung Gabriele Frechen (SPD) ...... der deutschen Beteiligung an der interna- 17219 A tionalen Sicherheitspräsenz im Kosovo auf der Grundlage der Resolution 1244 (1999) des Sicherheitsrates der Vereinten Natio- Tagesordnungspunkt 10: nen vom 10. Juni 1999 und des Militärisch- a) – Zweite und dritte Beratung des von Technischen Abkommens zwischen der in- den Fraktionen der CDU/CSU und der ternationalen Sicherheitspräsenz (KFOR) SPD eingebrachten Entwurfs eines und den Regierungen der Bundesrepublik Gesetzes über die Anpassung von Jugoslawien (jetzt: Republik Serbien) und Dienst- und Versorgungsbezügen im der Republik Serbien vom 9. Juni 1999 Bund 2008/2009 (Bundesbesol- (Drucksache 16/9287) ...... 17200 D dungs- und -versorgungsanpas- Dr. Frank-Walter Steinmeier, sungsgesetz 2008/2009 – BBVAnpG Bundesminister AA ...... 17201 A 2008/2009) (Drucksachen 16/9059, 16/9341) . . . . 17220 C Dr. Rainer Stinner (FDP) ...... 17202 C – Zweite und dritte Beratung des vom Dr. , Bundesminister Bundesrat eingebrachten Entwurfs ei- BMVg ...... 17203 C nes Gesetzes zur Änderung des Bun- Monika Knoche (DIE LINKE) ...... 17204 C desbesoldungsgesetzes (Drucksachen 16/1033, 16/9341) . . . . 17220 C Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/ – Bericht des Haushaltsausschusses ge- DIE GRÜNEN) ...... 17205 C mäß § 96 der Geschäftsordnung Gert Winkelmeier (fraktionslos) ...... 17206 B (Drucksache 16/9347) ...... 17220 C Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008 V c) Bericht des Innenausschusses gemäß § 62 b) Antrag der Abgeordneten Heinz-Peter Abs. 2 der Geschäftsordnung zu dem von Haustein, Dr. Heinrich L. Kolb, Jens der Bundesregierung eingebrachten Ent- Ackermann, weiterer Abgeordneter und wurf eines Dritten Gesetzes zur Ände- der Fraktion der FDP: Mehr Wettbewerb rung des Bundesministergesetzes und Kapitaldeckung in der Unfallversi- (Drucksachen 16/5052, 16/9342) ...... 17220 D cherung (Drucksache 16/6645) ...... 17232 D Ralf Göbel (CDU/CSU) ...... 17220 D

Ernst Burgbacher (FDP) ...... 17222 B in Verbindung mit Siegmund Ehrmann (SPD) ...... 17223 B (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 17224 C Zusatztagesordnungspunkt 5: Antrag der Abgeordneten Markus Kurth, , , weiterer Ab- Tagesordnungspunkt 11: geordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN: Die gesetzliche Unfallver- Antrag der Abgeordneten Brigitte Pothmer, sicherung fit für die Dienstleistungsgesell- Dr. Thea Dückert, Kerstin Andreae, weiterer schaft machen Abgeordneter und der Fraktion BÜND- (Drucksache 16/9312) ...... 17233 A NIS 90/DIE GRÜNEN: Rechte der Beschäf- tigten von Discountern verbessern Klaus Brandner, Parl. Staatssekretär (Drucksache 16/9101) ...... 17225 C BMAS ...... 17233 A Heinz-Peter Haustein (FDP) ...... 17234 B in Verbindung mit Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU) ...... 17235 B Zusatztagesordnungspunkt 4: Gerald Weiß (Groß-Gerau) (CDU/CSU) ...... 17236 A Antrag der Abgeordneten Silke Stokar von Neuforn, Kerstin Andreae, Volker Beck Volker Schneider (Saarbrücken) (Köln), weiterer Abgeordneter und der Frak- (DIE LINKE) ...... 17237 B tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Persön- lichkeitsrechte abhängig Beschäftigter si- Markus Kurth (BÜNDNIS 90/ chern – Datenschutz am Arbeitsplatz DIE GRÜNEN) ...... 17238 C stärken Wolfgang Grotthaus (SPD) ...... 17239 C (Drucksache 16/9311) ...... 17225 D (CDU/CSU) ...... 17241 A Silke Stokar von Neuforn (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 17226 A Volker Schneider (Saarbrücken) (DIE LINKE) ...... 17242 A (CDU/CSU) ...... 17226 D Silke Stokar von Neuforn (BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN) ...... 17228 C Tagesordnungspunkt 13: Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/ a) Antrag der Abgeordneten Michael Kauch, DIE GRÜNEN) ...... 17228 D Horst Meierhofer, , Dr. Heinrich L. Kolb (FDP) ...... 17229 A weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Umweltschutz in Afrika – Ge- (SPD) ...... 17230 B meinsame Verantwortung für die Erde Sabine Zimmermann (DIE LINKE) ...... 17231 D übernehmen (Drucksache 16/5132) ...... 17242 D b) Antrag der Abgeordneten Ute Koczy, Tagesordnungspunkt 12: Thilo Hoppe, Kerstin Müller (Köln), wei- terer Abgeordneter und der Fraktion a) Erste Beratung des von der Bundes- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Afrika regierung eingebrachten Entwurfs eines beim Schutz der Umwelt, des Klimas Gesetzes zur Modernisierung der und der Anpassung an den Klimawan- gesetzlichen Unfallversicherung (Unfallver- del unterstützen sicherungsmodernisierungsgesetz – (Drucksache 16/9313) ...... 17243 A UVMG) (Drucksache 16/9154) ...... 17232 D Michael Kauch (FDP) ...... 17243 A VI Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008

Andreas Jung (Konstanz) Tagesordnungspunkt 17: (CDU/CSU) ...... 17244 B Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- Hüseyin-Kenan Aydin (DIE LINKE) ...... 17246 A schusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz zu dem Antrag der Abge- (SPD) ...... 17247 A ordneten Renate Künast, Ulrike Höfken, Ute Koczy (BÜNDNIS 90/ , weiterer Abgeordneter und DIE GRÜNEN) ...... 17247 D der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Gesundheitscheck der europäischen Agrar- Gabriele Groneberg (SPD) ...... 17248 D politik – Mit Klimabonus zu Klimaschutz, guter Ernährung und nachhaltiger Ent- wicklung Tagesordnungspunkt 14: (Drucksachen 16/7709, 16/8534) ...... 17250 D Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Bildung, Forschung und Tech- Tagesordnungspunkt 18: nikfolgenabschätzung Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der – zu dem Antrag der Abgeordneten Uwe SPD: Zukunft des Branntweinmonopols Schummer, Ilse Aigner, , nach 2010 weiterer Abgeordneter und der Fraktion (Drucksache 16/9304) ...... 17251 A der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Dr. , Ulla Burchardt, , weiterer Abgeord- neter und der Fraktion der SPD: Rahmen- Tagesordnungspunkt 19: bedingungen für Lebenslanges Lernen Antrag der Abgeordneten Patrick Döring, verbessern – Weiterbildung und Quali- Mechthild Dyckmans, Michael Kauch, weite- fizierung ausbauen und stärken rer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: – zu dem Antrag der Abgeordneten Kornelia Mietrechtsänderungen zur Erleichterung Möller, Volker Schneider (Saarbrücken), klima- und umweltfreundlicher Sanierun- Dr. Barbara Höll, weiterer Abgeordneter gen und der Fraktion DIE LINKE: Der beruf- (Drucksache 16/7175) ...... 17251 B lichen Weiterbildung den notwendigen (CDU/CSU) ...... 17251 C Stellenwert einräumen Dirk Manzewski (SPD) ...... 17253 A (Drucksachen 16/8380, 16/7527, 16/9298) . . 17249 D Mechthild Dyckmans (FDP) ...... 17254 A (DIE LINKE) ...... 17255 A Tagesordnungspunkt 15: Peter Hettlich (BÜNDNIS 90/ Antrag der Abgeordneten Dr. Gesine Lötzsch, DIE GRÜNEN) ...... 17255 D Dr. Barbara Höll, Dr. , weite- rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Kostenpflichtige Service-Telefon- Tagesordnungspunkt 20: nummer der Arbeitsagentur in eine gebüh- renfreie Rufnummer umwandeln a) Unterrichtung durch die deutsche Delega- (Drucksache 16/9097) ...... 17250 B tion in der Euromediterranen Parlamenta- rischen Versammlung: Zweite Plenarta- gung am 26. und 27. März 2006 in Brüssel (Belgien) Tagesordnungspunkt 16: (Drucksache 16/9207) ...... 17256 D Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- b) Unterrichtung durch die deutsche Delega- schusses für Wirtschaft und Technologie zu tion in der Euromediterranen Parlamenta- der Unterrichtung durch die Bundesregierung: rischen Versammlung: Dritte Plenarta- Mitteilung der Kommission an den Rat, gung vom 16. bis 18. März 2007 in Tunis das Europäische Parlament, den Europäi- (Drucksache 16/8490) ...... 17256 D schen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Eine eu- c) Unterrichtung durch die deutsche Delega- ropäische Initiative zur Entwicklung von tion in der Euromediterranen Parlamenta- Kleinstkrediten für mehr Wachstum und rischen Versammlung: Vierte Plenarta- Beschäftigung gung am 26. und 27. März 2008 in KOM (2007) 708 endg.; Ratsdok. 10215/07 Vouliagmeni (Athen), Griechenland (Drucksachen 16/7817 Nr. A.5, 16/8613) . . . 17250 C (Drucksache 16/9183) ...... 17257 A Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008 VII

Tagesordnungspunkt 21: Tagesordnungspunkt 25: Antrag der Abgeordneten , Zweite und dritte Beratung des von den Wolfgang Nešković, Sevim Dağdelen, weite- Fraktionen der CDU/CSU und der SPD einge- rer Abgeordneter und der Fraktion DIE brachten Entwurfs eines Gesetzes zur LINKE: 15 Jahre nach Änderung des Änderung des Heimkehrerstiftungsaufhe- Grundrechts auf Asyl – Für einen rechts- bungsgesetzes staatlichen Umgang mit Schutzsuchenden (Drucksachen 16/9058, 16/9318) ...... 17269 A in Deutschland und in der Europäischen – Bericht des Haushaltsausschusses gemäß Union § 96 der Geschäftsordnung (Drucksache 16/8838) ...... 17257 B (Drucksache 16/9348) ...... 17269 A Reinhard Grindel (CDU/CSU) ...... 17257 B Günter Baumann (CDU/CSU) ...... 17269 B Rüdiger Veit (SPD) ...... 17258 C Maik Reichel (SPD) ...... 17270 A Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP) ...... 17259 D Dr. (FDP) ...... 17270 C Ulla Jelpke (DIE LINKE) ...... 17260 A Petra Pau (DIE LINKE) ...... 17270 D Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/ Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 17261 A DIE GRÜNEN) ...... 17271 A Dr. , Parl. Staats- sekretär BMI ...... 17271 C Tagesordnungspunkt 22: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Tagesordnungspunkt 26: Änderung des Erb- und Verjährungsrechts a) Erste Beratung des von der Bundesregie- (Drucksache 16/8954) ...... 17262 D rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- Dirk Manzewski (SPD) ...... 17263 A zes zur Änderung haftungsrechtlicher Vorschriften des Atomgesetzes und zur Änderung sonstiger Rechtsvorschriften (Drucksache 16/9077) ...... 17272 B Tagesordnungspunkt 23: b) Erste Beratung des von der Bundesregie- Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- schusses für Wirtschaft und Technologie zu zes zu den Protokollen vom 12. Februar dem Antrag der Abgeordneten Dr. Thea 2004 zur Änderung des Übereinkom- Dückert, , Fritz Kuhn, weiterer mens vom 29. Juli 1960 über die Haf- Abgeordneter und der Fraktion BÜND- tung gegenüber Dritten auf dem Gebiet NIS 90/DIE GRÜNEN: Keine Toleranz ge- der Kernenergie in der Fassung des Zu- genüber Korruption satzprotokolls vom 28. Januar 1964 und (Drucksachen 16/4459, 16/7731) ...... 17264 A des Protokolls vom 16. November 1982 und zur Änderung des Zusatzüberein- Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU) ...... 17264 B kommens vom 31. Januar 1963 zum Pa- riser Übereinkommen vom 29. Juli 1960 (SPD) ...... 17265 B über die Haftung gegenüber Dritten auf Paul K. Friedhoff (FDP) ...... 17266 D dem Gebiet der Kernenergie in der Fas- sung des Zusatzprotokolls vom 28. Ja- Ulla Lötzer (DIE LINKE) ...... 17267 B nuar 1964 und des Protokolls vom 16. November 1982 (Gesetz zu den Pari- Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/ ser Atomhaftungs-Protokollen 2004) DIE GRÜNEN) ...... 17268 A (Drucksache 16/9078) ...... 17272 C Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU) ...... 17272 C

Tagesordnungspunkt 24: Christoph Pries (SPD) ...... 17273 C a) Erste Beratung des von der Bundesregie- Angelika Brunkhorst (FDP) ...... 17274 C rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- Hans-Kurt Hill (DIE LINKE) ...... 17275 B zes zur Neuregelung des Schornsteinfe- gerwesens Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/ (Drucksache 16/9237) ...... 17268 D DIE GRÜNEN) ...... 17275 D VIII Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008

Tagesordnungspunkt 27: zertifikaten (inkl. 5862/08 ADD 1 bis 5862/08 ADD 3) Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- KOM (2008)16 endg.; Ratsdok. 5862/08 schusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit (Drucksachen 16/8075, 16/8455 Nr. A.16, und Entwicklung zu dem Antrag der Abge- 16/9334) ...... ordneten Sibylle Pfeiffer, Dr. Christian Ruck, 17282 C Dr. , weiterer Abgeordneter und (Konstanz) der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abge- (CDU/CSU) ...... 17283 A ordneten Dr. , Dr. , , weiterer Abgeordne- Frank Schwabe (SPD) ...... 17283 C ter und der Fraktion der SPD: Deutschlands Gabriele Groneberg (SPD) ...... 17284 D globale Verantwortung für die Bekämp- fung vernachlässigter Krankheiten – Inno- Michael Kauch (FDP) ...... 17285 B vation fördern und Zugang zu Medika- menten für alle sichern Eva Bulling-Schröter (Drucksachen 16/8884, 16/9320) ...... 17276 C (DIE LINKE) ...... 17285 D Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/ in Verbindung mit DIE GRÜNEN) ...... 17287 A

Nächste Sitzung ...... 17287 D Zusatztagesordnungspunkt 6: Antrag der Abgeordneten Dr. , Hellmut Königshaus, Cornelia Pieper, weite- Anlage 1 rer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Tropische Armutskrankheiten stärker in Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . 17289 A der deutschen Entwicklungszusammenar- beit berücksichtigen – Forschungsanstren- gungen ausweiten Anlage 2 (Drucksache 16/9309) ...... 17276 C Namensverzeichnis der Mitglieder des Deut- Sibylle Pfeiffer (CDU/CSU) ...... 17276 D schen Bundestages, die an der Wahl der Mit- Dr. Wolfgang Wodarg (SPD) ...... 17278 A glieder des Rundfunkrates der Deutschen Welle gemäß § 31 des Deutsche-Welle-Geset- Dr. Karl Addicks (FDP) ...... 17279 D zes (DWG) teilgenommen haben (Tagesord- nungspunkt 5) ...... 17290 A Monika Knoche (DIE LINKE) ...... 17280 D Ute Koczy (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 17281 C Anlage 3 Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung: Tagesordnungspunkt 28: – Entwurf eines Gesetzes über die Anpas- sung von Dienst- und Versorgungsbezü- Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- gen im Bund 2008/2009 (Bundesbesol- schusses für Umwelt, Naturschutz und Reak- dungs- und -versorgungsanpassungsgesetz torsicherheit 2008/2009 – BBVAnpG 2008/2009) – zu dem Antrag der Abgeordneten Michael Kauch, Gudrun Kopp, Angelika – Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Brunkhorst, weiterer Abgeordneter und Bundesbesoldungsgesetzes der Fraktion der FDP: Vorschlag der EU- – Entwurf eines Dritten Gesetzes zur Ände- Kommission für den Emissionshandel rung des Bundesministergesetzes nach 2012 überarbeiten – Klima schüt- zen, Stromverbraucher entlasten, Wett- (Tagesordnungspunkt 10 a und c) bewerb stärken Petra Pau (DIE LINKE) ...... 17292 A – zu der Unterrichtung durch die Bundesre- gierung: Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Anlage 4 Rates zur Änderung der Richtlinie 2003/87/EG zwecks Verbesserung und Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung Ausweitung des EU-Systems für den der Beschlussempfehlung und des Berichts zu Handel mit Treibhausgasemissions- den Anträgen: Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008 IX

– Rahmenbedingungen für Lebenslanges Anlage 7 Lernen verbessern – Weiterbildung und Qualifizierung ausbauen und stärken Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts zu – Der beruflichen Weiterbildung den not- dem Antrag: Gesundheitscheck der europäi- wendigen Stellenwert einräumen schen Agrarpolitik – Mit Klimabonus zu Kli- maschutz, guter Ernährung und nachhaltiger (Tagesordnungspunkt 14) Entwicklung (Tagesordnungspunkt 17) (CDU/CSU) ...... 17292 C (CDU/CSU) ...... 17307 C Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD) ...... 17293 C Waltraud Wolff (Wolmirstedt) (SPD) ...... 17308 D Patrick Meinhardt (FDP) ...... 17295 D Hans-Michael Goldmann (FDP) ...... 17309 D Volker Schneider (Saarbrücken) Dr. (DIE LINKE) ...... 17310 C (DIE LINKE) ...... 17296 D Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/ Priska Hinz (Herborn) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 17311 C DIE GRÜNEN) ...... 17297 C

Anlage 8 Anlage 5 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Zukunft des Branntweinmono- Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung pols nach 2010 (Tagesordnungspunkt 18) des Antrags: Kostenpflichtige Service-Tele- fonnummer der Arbeitsagentur in eine gebüh- Norbert Schindler (CDU/CSU) ...... 17312 C renfreie Rufnummer umwandeln (Tagesord- nungspunkt 15) Lydia Westrich (SPD) ...... 17313 C Reinhard Schultz (Everswinkel) (SPD) . . . . . 17314 C Stefan Müller (Erlangen) (CDU/CSU) ...... 17298 B Dr. Volker Wissing (FDP) ...... 17316 A (SPD) ...... 17299 C Dr. Barbara Höll (DIE LINKE) ...... 17316 D Jörg Rohde (FDP) ...... 17300 C Cornelia Behm (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 17317 C Dr. Gesine Lötzsch (DIE LINKE) ...... 17301 B

Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 17302 A Anlage 9 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Unterrichtungen: Anlage 6 – Zweite Plenartagung am 26. und 27. März Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung 2006 in Brüssel (Belgien) der Beschlussempfehlung und des Berichts: Mitteilung der Kommission an den Rat, das – Dritte Plenartagung vom 16. bis 18. März Europäische Parlament, den Europäischen 2007 in Tunis Wirtschafts- und Sozialausschuss und den – Vierte Plenartagung am 26. und 27. März Ausschuss der Regionen: Eine europäische 2008 in Vouliagmeni (Athen), Griechen- Initiative zur Entwicklung von Kleinstkredi- land ten für mehr Wachstum und Beschäftigung (Tagesordnungspunkt 16) (Tagesordnungspunkt 20 a bis c) Thomas Dörflinger (CDU/CSU) ...... (CDU/CSU) ...... 17302 D 17318 B Hans Raidel (CDU/CSU) ...... 17319 A Doris Barnett (SPD) ...... 17304 B Axel Schäfer (Bochum) (SPD) ...... 17319 D Paul K. Friedhoff (FDP) ...... 17305 D Dr. Karl Addicks (FDP) ...... 17320 B Sabine Zimmermann (DIE LINKE) ...... 17306 B (DIE LINKE) ...... 17321 A Kerstin Andreae (BÜNDNIS 90/ Rainder Steenblock (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 17307 A DIE GRÜNEN) ...... 17322 A X Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008

Anlage 10 Anlage 11 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Entwurfs eines Gesetzes zur Neuregelung des Erb- und Verjährungsrechts (Tagesord- des Schornsteinfegerwesens (Tagesordnungs- nungspunkt 22) punkt 24) (CDU/CSU) ...... 17323 A Lena Strothmann (CDU/CSU) ...... 17328 C Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) ...... 17324 A Andrea Wicklein (SPD) ...... 17329 B

Wolfgang Nešković (DIE LINKE) ...... 17325 C Paul K. Friedhoff (FDP) ...... 17330 A Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 17326 A Sabine Zimmermann (DIE LINKE) ...... 17330 D Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär Kerstin Andreae (BÜNDNIS 90/ BMJ ...... 17326 D DIE GRÜNEN) ...... 17331 C

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008 17119

(A) (C) Redetext

163. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008

Beginn: 9.00 Uhr

Präsident Dr. : a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ina Die Sitzung ist eröffnet. Lenke, Sibylle Laurischk, Miriam Gruß, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich begrüße Sie alle herzlich. Faire Chancen für private und privat-gewerb- liche Anbieter bei der Kinderbetreuung – Bevor wir in die heutige Tagesordnung eintreten, Ohne weiteres Zögern Entwurf des Kinderför- habe ich einige Mitteilungen zu machen: derungsgesetzes vorlegen Ich beginne mit Geburtstagsglückwünschen. Die Kol- – Drucksache 16/8406 – legin Irmingard Schewe-Gerigk hat am 15. Mai ihren Überweisungsvorschlag: 60. Geburtstag gefeiert und der Kollege Willy Wimmer Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f) am 18. Mai seinen 65. Im Namen des ganzen Hauses Innenausschuss gratuliere ich beiden herzlich und wünsche alles Gute. Ausschuss für Arbeit und Soziales (B) (D) (Beifall) b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Hüseyin-Kenan Aydin, Heike Hänsel, Karin In der vorletzten Woche haben die Kollegin Anja Binder, weiterer Abgeordneter und der Fraktion Hajduk und der Kollege Bernward Müller auf ihre DIE LINKE Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag verzichtet, nachdem sie Mitglied des Senats in Hamburg bzw. der Hermes-Bürgschaft für das Ilisu-Staudamm- Landesregierung in Thüringen geworden sind. Als projekt zurückziehen Nachfolger begrüße ich sehr herzlich den Kollegen – Drucksache 16/9308 – für die Fraktion Bündnis 90/Die Grü- Überweisungsvorschlag: nen und den Kollegen Christian Hirte in der CDU/ Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und CSU-Fraktion. Herzlich willkommen und gute Zusam- Entwicklung (f) menarbeit! Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (Beifall) Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Es gibt eine interfraktionelle Vereinbarung, nach der die verbundene Tagesordnung um die in der Zusatz- c) Beratung des Antrags der Abgeordneten punktliste aufgeführten Punkte zu erweitern ist: Dr. , Carl-Ludwig Thiele, Frank Schäffler, weiterer Abgeordneter und der ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen Fraktion der FDP der CDU/CSU und der SPD: Mehr Netto für alle Berichte aus den Unterlagen der Bundesbeauf- – Drucksache 16/9310 – tragten für die Stasi-Unterlagen, , über vertrauliche Gespräche, die Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss (f) 1979/80 als DDR-Rechtsanwalt Ausschuss für Wirtschaft und Technologie mit Mandanten geführt hat Haushaltsausschuss (siehe 162. Sitzung) d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Bettina ZP 2 Weitere Überweisungen im vereinfachten Ver- Herlitzius, Britta Haßelmann, Markus Kurth, fahren weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- (Ergänzung zu TOP 35) NIS 90/DIE GRÜNEN 17120 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008

Präsident Dr. Norbert Lammert (A) Barrierefreiheit und demografischer Wandel – ZP 7Beratung des Antrags der Abgeordneten (C) Auf die Herausforderungen für den Touris- Dr. , Dorothée Menzner, mus reagieren Dr. Gesine Lötzsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE – Drucksache 16/9315 – Überweisungsvorschlag: Zukunft der Bahn für die Menschen sichern – Ausschuss für Tourismus (f) Bahnprivatisierung stoppen Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie – Drucksache 16/9306 – Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ZP 8 Weitere Wahlen zu Gremien Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Bildung, Forschung und a) Wahlvorschläge der Fraktionen CDU/CSU, SPD, Technikfolgenabschätzung FDP, DIE LINKE und BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN e) Unterrichtung durch die Bundesregierung Wahl von Mitgliedern in den Stiftungsrat der Bericht über die Auswirkungen von Rabatt- „Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Dikta- vereinbarungen für Arzneimittel, insbeson- tur“ dere auf die Wirksamkeit der Festbetragsrege- lung – Drucksache 16/9352 – – Drucksache 16/9284 – b) Wahlvorschlag der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE Überweisungsvorschlag: GRÜNEN Ausschuss für Gesundheit Wahl eines Mitglieds des Gremiums gemäß § 3 ZP 3 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion des Bundesschuldenwesengesetzes BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: – Drucksache 16/9353 – Unterschiedliche Meinungen in der Bundes- regierung zum Energie- und Klimapaket c) Wahlvorschlag der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Silke Stokar von Neuforn, Kerstin Andreae, Volker Wahl eines vom Deutschen Bundestag zu ent- Beck (Köln), weiterer Abgeordneter und der sendenden Mitglieds der gemeinsamen Kom- Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN mission zur Modernisierung der Bund-Länder Finanzbeziehungen (D) (B) Persönlichkeitsrechte abhängig Beschäftigter sichern – Datenschutz am Arbeitsplatz stärken – Drucksache 16/9354 – – Drucksache 16/9311 – d) Wahlvorschlag der Fraktion der CDU/CSU Überweisungsvorschlag: Wahl eines Mitglieds des Verwaltungsrates der Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) Deutschen Nationalbibliothek gemäß § 6 Innenausschuss (f) Rechtsausschuss Abs. 1 Nummer 1 des Gesetzes über die Deut- Ausschuss für Wirtschaft und Technologie sche Nationalbibliothek Federführung strittig – Drucksache 16/9355 – ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Markus Kurth, Kerstin Andreae, Birgitt Bender, weiterer e) Wahlvorschlag der Fraktion der CDU/CSU Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ Wahl eines Mitglieds des Verwaltungsrates der DIE GRÜNEN Filmförderungsanstalt gemäß § 6 des Filmför- Die gesetzliche Unfallversicherung fit für die derungsgesetzes (FFG) Dienstleistungsgesellschaft machen – Drucksache 16/9356 – – Drucksache 16/9312 – f) Wahlvorschlag der Fraktion der CDU/CSU Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) Wahl eines Mitglieds des Stiftungsrates der Ausschuss für Wirtschaft und Technologie „Deutschen Stiftung Friedensforschung (DSF)“ Ausschuss für Gesundheit – Drucksache 16/9357 – ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Karl Addicks, Hellmut Königshaus, Cornelia Pieper, Dabei soll von der Frist für den Beginn der Beratun- weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP gen – soweit erforderlich – abgewichen werden. Tropische Armutskrankheiten stärker in der Die Tagesordnungspunkte 10 b, 24 b und 34 müssen deutschen Entwicklungszusammenarbeit be- abgesetzt werden. rücksichtigen – Forschungsanstrengungen aus- weiten Schließlich mache ich noch auf zwei nachträgliche Ausschussüberweisungen im Anhang zur Zusatzpunkt- – Drucksache 16/9309 – liste aufmerksam: Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008 17121

Präsident Dr. Norbert Lammert (A) Der in der 145. Sitzung des Deutschen Bundestages päischen Juden während der Nazizeit haben die Deut- (C) überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätz- schen unendliche Schuld auf sich geladen – eine Schuld, lich dem Ausschuss für Wirtschaft und Technologie die niemals vergeht. Für viele Millionen Juden in Europa (9. Ausschuss) zur Mitberatung überwiesen werden. kam die Gründung des Staates Israel zu spät. Für viele der Überlebenden aber war der neue Staat ein Signal der Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Hoffnung und des Aufbruchs, ein Ort der Zuflucht. gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände- rung des Lebensmittel- und Futtermittelge- Die Erinnerungsberichte von Zeitzeugen bleiben auch setzbuches sowie anderer Vorschriften heute noch bewegend. Sie führen vor Augen, mit welch hoffnungsvoller Erwartung Juden in aller Welt an den – Drucksache 16/8100 – Radioempfängern mitgefiebert haben, als die Vereinten Überwiesen: Nationen im November 1947 über den Teilungsplan ent- Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz (f) schieden haben – jenen Plan, der den Weg für die Grün- Rechtsausschuss dung des Staates Israel frei gemacht hat. Wer die Me- Ausschuss für Wirtschaft und Technologie moiren der Staatsgründer liest, der kann verstehen, wie Ausschuss für Arbeit und Soziales groß die Freude und die Erleichterung darüber waren, Ausschuss für Gesundheit dass sich der Traum Theodor Herzls mit der Gründung Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit des Staates Israel im Mai 1948 erfüllt hat. Man spürt bis Der in der 160. Sitzung des Deutschen Bundestages heute den Stolz der israelischen Juden auf ihren Staat überwiesene nachfolgende Antrag soll zusätzlich dem und die Entschlossenheit, ihn nach innen zu stärken und Ausschuss für Arbeit und Soziales (11. Ausschuss) zur nach außen gegen seine Feinde zu verteidigen. Was in Mitberatung überwiesen werden. den Jahrzehnten nach der Staatsgründung geschaffen wurde, zeugt von diesem Stolz und dieser Entschlossen- Beratung des Antrags der Abgeordneten Winfried heit. Israel ist heute eine vitale Demokratie und ein blü- Nachtwei, , Markus Kurth, wei- hendes Land voller Dynamik und Innovationskraft. terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN Meine Damen und Herren, Israel konnte auf seinem Weg immer auf die feste Unterstützung Deutschlands Oslo-Prozess zum Erfolg führen – Jegliche rechnen. Die Verbrechen der Nazis haben eine immer- Streumunition ächten währende Verantwortung der Deutschen für den jüdi- – Drucksachen 16/8909 – schen Staat begründet. Diese Verantwortung war und ist überwiesen: Teil deutscher Staatsräson. Auswärtiger Ausschuss (f) (B) Ausschuss für Arbeit und Soziales (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP (D) Verteidigungsausschuss und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Wir können feststellen, dass in dieser Frage bei den Entwicklung Volksparteien, aber auch aufseiten der FDP und der Grü- nen große Einigkeit herrscht. Sind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? – Das sieht so aus. Dann ist das so beschlossen. Für uns als Deutsche war deshalb das Jahr 2005, als wir den 40. Jahrestag der Aufnahme diplomatischer Ich rufe unseren Tagesordnungspunkt 3 auf: Beziehungen zwischen Deutschland und Israel feiern Vereinbarte Debatte konnten, vielleicht sogar ein noch bedeutenderes Datum als das diesjährige Gründungsjubiläum. Dass das Volk 60 Jahre Israel der Opfer gerade einmal 20 Jahre nach dem Holocaust Die Fraktionen haben sich darauf verständigt, für die diesen Schritt auf das Volk der Täter zugegangen ist, war Debatte eineinhalb Stunden vorzusehen. – Ich höre kei- eine beispiellose Geste, für die wir als Deutsche zutiefst nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. dankbar sein müssen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächst (Beifall im ganzen Hause) der Kollege Peter Struck für die SPD-Fraktion. Unsere Beziehungen haben sich seit damals Schritt für (Beifall bei der SPD) Schritt weiterentwickelt und vertieft: Wir sind enge Wirtschaftspartner, wir kooperieren in Wissenschaft und Forschung, es gibt einen regen kulturellen Austausch. Dr. Peter Struck (SPD): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Dennoch, so alltäglich der Umgang miteinander über Kolleginnen und Kollegen! Vor 60 Jahren hat sich die die Jahrzehnte glücklicherweise geworden ist, wird un- Sehnsucht von Millionen von Juden in aller Welt erfüllt – ser Verhältnis zu Israel niemals normal im üblichen die Sehnsucht nach einer Heimstatt, die der jüdischen Wortsinne sein. Die Vergangenheit wird nicht vergehen. Leidensgeschichte von Ausgrenzung und Vertreibung, Um es mit einem Zitat Johannes Raus aus seiner Rede Flucht und Exil ein Ende setzen würde. vor der Knesset im Jahre 2000 zu sagen: Diese Leidensgeschichte hat in den Jahren 1933 und Das Verhältnis zwischen unseren Ländern wird für folgende ihren schrecklichen Höhepunkt gefunden. Mit immer ein besonderes sein. Im Wissen um das Ge- der systematischen Verfolgung und Ermordung der euro- schehene halten wir die Erinnerung wach. Mit den 17122 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008

Dr. Peter Struck (A) Lehren aus der Vergangenheit gestalten wir ge- Wir als Deutsche sollten uns angesichts unserer Ge- (C) meinsame Zukunft. Das ist deutsch-israelische Nor- schichte mit allzu wohlfeilen Vorschlägen zurückhalten. malität. Aber wir sollten helfen, wo wir können und wo wir ge- fragt sind, um zu einer Friedenslösung beizutragen. Meine Damen und Herren, diese Rede von Bundespräsi- dent Johannes Rau vor der Knesset im Jahr 2000 war Den Frieden im Nahen Osten, zweifellos ein historisches Ereignis. Das erste Mal war ein Deutscher eingeladen, um vor dem Parlament des is- so hat es Johannes Rau vor der Knesset formuliert, raelischen Volkes in der Sprache der Täter um Verge- können nur die Beteiligten selber schließen. Aber bung zu bitten. Johannes Rau hat mit seiner Rede dem bei der Gestaltung des Friedens kann und will auch deutsch-israelischen Verhältnis einen großen, einen blei- Europa Ihnen helfen. benden Dienst erwiesen. Zu diesem Versprechen stehen wir uneingeschränkt. Auch Sie, Frau Bundeskanzlerin, die Sie vor wenigen Wochen die Ehre hatten, als erste Kanzlerin vor der (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der Knesset zu reden, und Sie, Herr Außenminister, haben es FDP sowie bei Abgeordneten der LINKEN geschafft, unsere beiden Völker noch ein Stück näher zu- und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) sammenrücken zu lassen. Die regelmäßigen Regie- Ich möchte zum Abschluss für meine Fraktion an die rungskonsultationen, die Sie mit unseren israelischen israelischen Freunde gewandt hinzufügen: Seien Sie ver- Freunden vereinbart haben, markieren einen weiteren sichert, dass wir, wie schon in der Vergangenheit, auch Meilenstein in unseren Beziehungen zu Israel. in Zukunft an Ihrer Seite stehen. (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie FDP) bei Abgeordneten der LINKEN und des 60 Jahre Israel sind zweifellos eine Erfolgsgeschichte – BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) eine Erfolgsgeschichte allerdings, die mit einem schwe- ren Makel behaftet bleibt. Auch 60 Jahre nach seiner Präsident Dr. Norbert Lammert: Gründung kann sich Israel seiner Existenz nicht sicher Das Wort erhält nun der Kollege Dr. Guido sein. Beinahe täglich drohen die extremistischen Feinde, Westerwelle, FDP-Fraktion. den jüdischen Staat zu vernichten. Wir dürfen das nicht widerspruchslos hinnehmen. Das Existenzrecht Israels steht für uns außerhalb jeder Diskussion. Dr. Guido Westerwelle (FDP): Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- (B) (Beifall im ganzen Hause) ren! 60 Jahre Israel, das ist ein Grund zur Freude und (D) Dieses Recht darf von niemandem infrage gestellt wer- zum Feiern, in Israel und besonders auch bei uns in den, weder vom Iran noch von anderen radikalen Kräf- Deutschland. Wir feiern dieses Jubiläum nicht nur hier ten in der Region. Wir werden dem entschieden entge- im Deutschen Bundestag mit dieser Debatte, sondern gentreten. auch in vielen Veranstaltungen in unserer Republik mit unseren israelischen Freunden, denen wir von Herzen zu (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie ihrem Staatsjubiläum gratulieren. Ohne dem Herrn Bun- bei Abgeordneten der FDP und des BÜND- destagspräsidenten vorgreifen zu wollen, erlaube ich NISSES 90/DIE GRÜNEN) mir, den Herrn Gesandten Mor stellvertretend von die- Es ist das legitime Recht Israels, sich gegen solche Be- ser Stelle aus herzlich zu begrüßen und Ihnen zu gratu- drohungen zu wehren und zu verteidigen. lieren. Aber eines ist auch klar: Die Situation, wie sie ist, (Beifall) kann letztlich in niemandes Interesse liegen: nicht im In- Meine Damen und Herren, wir alle spüren das: teresse Israels, das sich fortwährender Bedrohung ausge- 60 Jahre Israel, das ist für uns Deutsche kein Jubiläum setzt sieht und für die Gewährleistung seiner Sicherheit wie jedes andere. Aber es ist eine schöne Gelegenheit, enorme Anstrengungen unternehmen muss, und schon einen Augenblick innezuhalten und sich klarzumachen, gar nicht im Interesse der Palästinenser, deren Sehnsucht dass, wie es der Kollege Struck zu Recht formuliert hat, nach Frieden, Wohlstand und einem eigenen Staat bis das deutsch-israelische Verhältnis, die guten freund- heute unerfüllt geblieben ist. Alle Akteure in der Region schaftlichen Beziehungen Teil der Staatsräson dieser Re- sind deshalb aufgerufen, die hoffnungsvollen Zeichen, publik sind. Bei allem, was wir an kontroversen Debat- die wir im Augenblick sehen – im Libanon, im israe- ten in diesem Hohen Hause führen und was die lisch-syrischen Verhältnis und auch in Gaza –, zu erken- Bürgerinnen und Bürger an den Fernsehschirmen in den nen und die sich bietende Chance auf echte Fortschritte Abendnachrichten und am nächsten Tag in den Zeitun- in Richtung Frieden zu nutzen. Das erfordert von allen gen beschäftigt, ist es vielleicht ein gutes Zeichen, dass Seiten viel Mut und Entschlossenheit. Denn es gilt, auch sie auch einmal erkennen, dass uns, wenn es um die gro- die jeweils eigene Bevölkerung von unpopulären Ent- ßen Linien geht, in diesem Hohen Hause weit mehr ver- scheidungen zu überzeugen. Aber nur wenn die politi- bindet, als uns trennt. schen Führungen in der Region selbst den Willen und die Kraft aufbringen, wird es einen dauerhaften Frieden (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der geben können. SPD) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008 17123

Dr. Guido Westerwelle (A) Ich denke, es ist auch an uns, die Aufbauleistung der israelischen Städten, Hochschulkooperationen, ein sehr (C) Politikergenerationen, die vor uns Verantwortung getra- reger Jugendaustausch und jedes Jahr viele Tausend Be- gen haben, zu würdigen. Denn dass uns heute eine von sucher sind – mit Verlaub gesagt – mehr wert als das, politischer Gemeinsamkeit, Offenheit und Intensität ge- was Regierungen richtigerweise leisten oder auch leisten prägte Freundschaft geschenkt wird, ist etwas, worauf können. Die Freundschaft der Völker ist es, die uns vor 60 Jahren niemand ernsthaft hätte hoffen können. heute trägt, und nicht nur eine Freundschaft von Regie- Wenn man sich vorstellt, welche Leistung hier von der rungen. ersten Politikergeneration nach der Schoah erbracht wurde, dann wirken unsere Debatten – so leidenschaft- Die Tatsache, dass in Deutschland die jüdische Kul- lich und voller Überzeugung wir sie auf allen Seiten tur wieder einen festen Platz hat und eine unschätzbare auch führen – im Vergleich dazu gelegentlich klein. Wir Bereicherung darstellt, ist der beste Ausdruck für diese wollen festhalten, dass das deutsch-israelische Verhält- tiefe Verbundenheit, die uns heute trägt. Was wir anläss- nis, die deutsch-israelische Freundschaft, die guten ge- lich der Staatsgründung Israels vor 60 Jahren an Veran- meinsamen Beziehungen immer in guten Händen gewe- staltungen quer durch ganz Deutschland erleben, ist ein sen sind, bei allen Bundesregierungen seit Gründung der beeindruckendes Beispiel für diese enge gesellschaftli- Bundesrepublik Deutschland. Das gilt von Konrad che Verbundenheit. Herr Mor, genau darauf kommt es Adenauer über Theodor Heuss, und Walter natürlich auch an. Scheel bis zur heutigen Regierung Merkel/Steinmeier, (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten und es tut auch einer Opposition keinen Abbruch, wenn der CDU/CSU und der SPD) das hier ausdrücklich anerkannt wird. Ich möchte mit einer kurzen persönlichen Betrach- (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der tung schließen. Wie viele von Ihnen – ich vermute, fast SPD) alle – habe auch ich bereits als junger Mensch – ich war Die Aussöhnungsleistung, die von der Kriegs- und damals Mitte zwanzig – Israel bereisen dürfen. Wir wa- Nachkriegsgeneration in Israel und Deutschland erbracht ren damals sehr beeindruckt von den vielen historischen wurde, ist das große Geschenk an die Generation von Stätten der Altstadt Jerusalems und von anderen Orten in heute. Man muss sich bewusst machen, in welcher Zeit Israel sowie von der Freundlichkeit und Herzlichkeit der und nach welcher Menschheitskatastrophe, von deut- Menschen und natürlich von vielem anderen mehr. schen Händen bewirkt, diese Aussöhnung begonnen Am besten erinnere ich mich persönlich an den Mo- wurde. ment, als ich auf den Golan-Höhen stand und – im über- Was Deutschland und Israel heute verbindet, ist aber tragenen Sinne – das ganze Land so überblicken konnte, (B) nicht nur das Wunder der Aussöhnung, sondern die echte dass ich das Gefühl hatte, alles wäre zum Greifen nahe. (D) Partnerschaft zwischen zwei Demokratien, die uns von Denn Israel ist ja viel kleiner, als es uns abends in der Tag zu Tag trägt. Wir schätzen Israel als Partner, der die Tagesschau auf den Landkarten erscheint. Ich spreche gleichen Traditionen und Werte in sich trägt und der die jetzt nicht über die völkerrechtliche Problematik der Go- einzige wirklich voll ausgeprägte Demokratie in der ge- lan-Höhen, was mich als Studenten vielleicht theore- samten Region ist. Was unsere Freundschaft mit Israel tisch, aber weniger praktisch beschäftigt hat. Ich spreche ausmacht, ist eben nicht nur die Verantwortung, die uns einfach nur von diesem Gefühl, das ich auf den Golan- unsere Geschichte mitgibt, sondern auch die Wertege- Höhen empfand. Wenn man dort steht, dann versteht meinschaft unter Demokraten. man auch die Verletzlichkeit dieses Staates. Vielen jungen Menschen, die heute zur Schule gehen, (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten muss man nachdrücklich sagen: Es geht nicht nur um der CDU/CSU und der SPD) eure persönliche Verantwortung, der ihr euch aufgrund der Geschichte nicht entziehen könnt. Es geht auch um Das ist es, was das Leben der Menschen in Israel prägt: unser eigenes und um das europäische Interesse. Es ist die Verletzlichkeit. Wenn man diese Verletzlichkeit und nicht nur unsere moralische Verantwortung, die uns zu das Gefühl für die Verletzlichkeit kennt und wenn man guten deutsch-israelischen Beziehungen veranlasst. Es lernt, dafür sensibel zu sein, dann ist eine wichtige ist auch unser eigenes Interesse, weil Israel die einzige Grundlage für gute Beziehungen geschaffen. Demokratie der gesamten Region ist. Es gibt eine Werte- Uns ist bewusst: Wir haben – so hat es Herr Kollege gemeinschaft unter Demokraten. Struck schon gesagt, und ich bin sicher, auch Sie, Herr (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der Kollege Kauder, und andere Redner nach mir werden SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNIS- dies betonen – eine gemeinsame Verantwortung für die SES 90/DIE GRÜNEN) Existenz Israels. Unser gemeinsames Ziel liegt darin, eine politisch solide abgesicherte Basis für Frieden und Die Freundschaft zwischen Deutschland und Israel Sicherheit der Menschen in Israel zu schaffen. Daran wird nicht allein durch Regierungen, Parlamente und wollen wir mitwirken. Wir wollen natürlich aber auch kleine Zirkel stabil, so wichtig deren Wirken ist. Die nicht vergessen: Dauerhaften Frieden wird es in dieser heutige Freundschaft zwischen Deutschland und Israel Region nur geben, wenn die einen das Existenzrecht geht tief in die Gesellschaften hinein. Das ist der erfreu- Israels und die anderen das Selbstbestimmungsrecht der lichste und wichtigste Punkt, den man heute sagen kann. Palästinenser wirklich anerkennen und sich auch so ver- Mehr als 100 Partnerschaften zwischen deutschen und halten. 17124 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008

Dr. Guido Westerwelle (A) Die Aussöhnungsleistung nach Ende des Zweiten nem historischen Auftritt vor der Knesset gesprochen (C) Weltkrieges war eine große humane Anstrengung. Es ist hat. Herzlichen Dank dafür, was in dieser Rede gesagt an uns, dies fortzuführen. Es ist an uns, sich dieser Ver- worden ist und was uns alle, die Welt und Israel, beein- antwortung für die Zukunft bewusst zu sein. Ich habe gar druckt hat! keinen Zweifel daran, dass sich die große Mehrheit un- seres Volkes und selbstverständlich auch die große (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der Mehrheit der politischen Entscheidungsträger dieser FDP) Verantwortung für die Geschichte, für die Gegenwart Uns verbindet mit Israel nicht nur die Geschichte. Wir und für die Zukunft in vollem Umfange bewusst sind. vertreten auch dieselben Werte. Israel – dies ist bereits Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. gesagt worden – ist die einzige Demokratie im Nahen Osten. Israel ist eine Demokratie, in der Pressefreiheit (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der gewährleistet wird. Gerade im Nahen Osten ist von be- SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN sonderer Bedeutung: Israel gewährleistet Religionsfrei- und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) heit. Deshalb: Wer sich zum Existenzrecht Israels be- kennt, bekennt sich auch zur christlich-jüdischen Präsident Dr. Norbert Lammert: Tradition, zu der Israel gehört, und zu den gemeinsamen Nächster Redner ist Volker Kauder für die CDU/ Werten, die Demokratien verbinden. CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie (Beifall bei der CDU/CSU) bei Abgeordneten der FDP) Die Menschen in dieser Demokratie – das kann sich Volker Kauder (CDU/CSU): keiner von uns vorstellen – konnten in den vergangenen Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und 60 Jahren keinen einzigen Tag wirklich in Frieden leben. Herren! Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion gratuliert Is- Ständig wurden die Demokratie, der Frieden und die rael, seinen Bürgerinnen und Bürgern und Ihnen, Herr Freiheit bekämpft. Jeden Tag mit Gewalt, mit Selbst- Gesandter Mor, der Sie heute den Staat Israel vertreten, mordattentaten rechnen zu müssen – das ist Alltag in recht herzlich zum 60-jährigen Jubiläum. Wir gratulieren Israel. Deswegen ist völlig klar, dass es im Nahen Osten als Freunde. Es ist ein schönes Symbol der Freundschaft, nur dann Frieden geben kann, wenn das Existenzrecht dass heute nicht nur der Vertreter Israels auf der Tribüne Israels anerkannt wird, das für uns zur Staatsräson der Platz genommen hat, sondern auch der Präsident der Bundesrepublik Deutschland gehört. Deutsch-Israelischen Gesellschaft, unser früherer Kol- (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der (B) lege . Dieses schöne Symbol zeigt, wie FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNIS- (D) wir in den Jahren zusammengewachsen sind und dass SES 90/DIE GRÜNEN) wir gemeinsame Interessen und Ziele vertreten. Nicht Israel gefährdet den Frieden im Nahen Osten, Wenn wir heute wie selbstverständlich sagen, dass sondern die Staaten, die das Existenzrecht Israels nicht Deutschland und Israel eine tiefe Freundschaft verbin- anerkennen; die allermeisten davon grenzen übrigens an det, so war dies beim Start gar nicht selbstverständlich. Israel. Nicht Israel gefährdet den Frieden im Nahen Der brutale Naziterror und die Schoah standen trennend Osten, sondern ein Land wie der Iran, der atomar aufrüs- zwischen uns. Da bedurfte es schon zweier mutiger und tet, dessen Staatschef den unglaublichen Satz sagte, dass besonnener Männer wie Konrad Adenauer und David Israel von der Landkarte getilgt werden müsse. Mit sol- Ben-Gurion, um hier einen neuen Schritt zu machen, ei- chen Reden, mit solchen Vorstellungen wird es im Na- nen neuen Weg zu wagen. Für beide war es nicht ein- hen Osten auf gar keinen Fall Frieden geben. Auch die- fach. Konrad Adenauer war es ein Herzensanliegen, die jenigen gefährden den Frieden, die glauben, ihre Versöhnung zu erreichen. Er wusste ganz genau, dass Vorstellungen mit Selbstmordattentaten in die Tat umset- Voraussetzung dafür war, dass die Schuld für das bedin- zen zu können. Wir wissen aus leidvollen Erfahrungen, gungslos anerkannt wurde, was den Juden in Europa im die wir in der Geschichte und der Gegenwart gesammelt Dritten Reich im Namen der Deutschen zugestoßen ist. haben, dass mit Gewalt kein Frieden erreicht werden Voraussetzung dafür war auch, dass wir über die kon- kann, sondern nur im politischen Dialog. Wir wissen, krete geschichtliche Zeit hinaus dauerhaft Verantwor- dass jeder auf Maximalforderungen verzichten und man tung dafür übernommen haben, dass so etwas nie wieder aufeinander zugehen muss. Diesen Weg des Dialogs passiert. Es war David Ben-Gurion, der die ausge- werden Deutschland und Europa mit ganzer Kraft be- streckte Hand entgegengenommen hat und in seinem gleiten. Land dafür werben musste, dass wir nur so eine gemein- same Zukunft haben. (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Wie lang der Weg dann noch war, wissen wir. Es hat bis 1965 gedauert, bis wir diplomatische Beziehungen Neben dem Existenzrecht Israels sehen wir aber auch aufnehmen konnten. Die Regierungen in Deutschland die Wünsche der Palästinenser. Israel hat sich darüber und die demokratischen Parteien haben diesen Weg im- gefreut, endlich in einem eigenen Staat die Zukunft ge- mer konsequent begleitet – mit dem bisher vorläufigen stalten zu können. So wie wir diesen Wunsch anerkannt Höhepunkt, dass mit ein deutscher Re- haben, erkennen wir natürlich auch den Wunsch der Pa- gierungschef in einer beeindruckenden Rede und in ei- lästinenser an, in einem eigenen Staat die Zukunft zu ge- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008 17125

Volker Kauder (A) stalten. Den Menschen in Palästina muss man aber sa- beim hundertjährigen Jubiläum feststellen können: Israel (C) gen: Lassen Sie sich nicht von Terroristen, von lebt in Frieden und Freiheit mit seinen Nachbarn. Das, Radikalen, von Extremisten vertreten, sondern setzen was wir in Europa erreicht haben, wünschen wir Ihnen Sie darauf, dass man im Gespräch zueinanderkommt. von Herzen. Herzlichen Glückwunsch zum 60-jährigen Niemand hat es treffender und pointierter formuliert als Jubiläum! der Historiker Arno Lustiger: (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP Wenn die Araber die Waffen endlich niederlegen, und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie wird es keinen Krieg mehr geben. Aber wenn Israel bei Abgeordneten der LINKEN) die Waffen niederlegt, wird es kein Israel mehr ge- ben. Präsident Dr. Norbert Lammert: Das ist die Situation im Nahen Osten. Das Wort erhält jetzt die Kollegin Petra Pau, Fraktion Die Linke. Der Nahostkonflikt darf nicht die Sicht auf das ver- stellen, was in Israel in 60 Jahren geleistet wurde: Israel (Beifall bei der LINKEN) hat die Wüste zum Blühen gebracht; Israel ist ein Land mit moderner Technologie; Israel ist ein Land von Wis- senschaft und Forschung; Israel ist ein Land mit einer Petra Pau (DIE LINKE): hohen Kultur – ich nenne nur Kunst, Literatur und Mu- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir sik. reden über einen Jahrestag, der alles andere als alltäglich ist. 60 Jahre Israel sind etwas Besonderes, weil es eine Es ist eine der beglückenden Erfahrungen der Nach- einmalig schlimme Vorgeschichte gibt: den Holocaust. kriegsgeneration in Deutschland, dass nach Naziterror 60 Jahre Israel sind nicht alltäglich, weil nie absehbar und Schoah in Deutschland und vor allem in Berlin, Herr war, ob Israel 60 Jahre alt wird. 60 Jahre Israel beant- Gesandter Mor, wieder pulsierendes, aktives jüdisches worten nicht die Frage, was künftig sein wird. Leben entstanden ist. Vor reichlich einem Jahr sprach hier Imre Kertész. Er (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der las aus seinem Buch Kaddisch für ein nicht geborenes FDP sowie bei Abgeordneten der LINKEN Kind. Er versuchte, uns nahezubringen, dass der Holo- und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) caust nicht nur ein Völkermord an 6 Millionen Jüdinnen Bei allen Problemen, die die jüdischen Gemeinden ha- und Juden war, nein, er hat auch tiefe Furchen in das Le- ben, sehen wir mit großer Freude die Kraft, die darin ben der Überlebenden und in das der jüdischen Nachfah- (B) steckt. Wir unterstützen jüdisches Leben in Deutsch- ren gebrannt. In einem Interview hat Imre Kertész es so (D) land und Berlin. Das können wir beispielsweise dadurch formuliert: tun, dass wir an den Jüdischen Kulturtagen, die einmal Vor Auschwitz war Auschwitz unvorstellbar, heute im Jahr in Berlin stattfinden, teilnehmen. Hier wird uns ist es das nicht mehr. Da Auschwitz in Wirklichkeit die ganze Fülle dessen präsentiert, was wir während des passierte, ist es in unsere Fantasie eingedrungen, Naziterrors vernichtet haben. wurde ein fester Bestandteil von uns. Was wir uns Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir sehen vorstellen können, weil es in Wirklichkeit passiert mit Zuversicht die zarten, leichten Versuche, sich auf- ist, das kann wieder passieren. einander zuzubewegen, zum Beispiel jetzt in inoffiziel- len Kontakten mit Syrien. Ich habe gestern mit großer Auschwitz ist tief in unsere Fantasie eingedrungen. Freude gelesen, dass es mit der Hisbollah im Libanon Schon dieser Satz mag beschreiben, warum Israel für Jü- erste Gespräche darüber gibt, Gefangene auszutauschen. dinnen und Juden in aller Welt heute nicht nur aus reli- Ich war im vorvergangenen Jahr in Israel und habe dort giösen Gründen heilig ist. Der Staat Israel ist für sie eine mit den Ehefrauen der Männer gesprochen, die im Liba- Überlebensversicherung. So begründet allein schon das non gefangen gehalten werden. Ich kann mir vorstellen, Menschenrecht auf Leben das Existenzrecht des Staa- welche Freude bei diesen jungen Frauen entstehen wird, tes Israel. wenn sie erfahren, dass ihre Männer zurückkehren. Dies (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- ist noch lange nicht die Lösung des Problems. Aber wir neten der CDU/CSU, der SPD und des BÜND- wissen aus der Erfahrung im Nahostkonflikt, dass wir NISSES 90/DIE GRÜNEN) aus diesen kleinen Bewegungen heraus Zuversicht schöpfen können, dass sich etwas in die richtige Rich- Oder anders gesagt: Wer das Existenzrecht Israels in- tung bewegt. frage stellt, rüttelt am Lebensrecht von Jüdinnen und Ju- den. Das ist letztlich die logische Konsequenz gerade Wir werden immer an der Seite Israels stehen. Israel aus der deutschen Geschichte. Deshalb sollte es im kann sich auf unsere tiefe Freundschaft verlassen. Wir Deutschen Bundestag fraktionsübergreifend keinen wollen, dass diese Demokratie im Nahen Osten anste- Zweifel geben: 60 Jahre Israel, das ist auch für uns ein ckend wirkt. Wir wollen auch, dass die Menschen im wichtiges Jubiläum. Schalom! Nahen Osten mit der Perspektive auf Frieden leben kön- nen – die Menschen in Israel und die Palästinenser. Den (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- Beitrag, den wir leisten können, werden wir leisten. Es neten der CDU/CSU, der SPD, der FDP und ist noch ein weiter Weg. Ich hoffe, Herr Mor, dass wir des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) 17126 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008

Petra Pau (A) Schalom bedeutet unter anderem Sicherheit und Frie- sung für alle nur dann, wenn sie vor dem Völkerrecht (C) den. Der Gruß Schalom hat übrigens eine Entsprechung Bestand hat. im Arabischen: Salam. Aber Schalom und Salam kom- Die tiefste rechtliche Konsequenz aus der mörderi- men nicht zusammen. Auch das gehört zur Geschichte schen Praxis des NS-Regimes wurde in Art. 1 des von 60 Jahren Israel. Grundgesetzes verankert: Die Würde des Menschen, al- Das Hochgefühl der Gründung Israels vor 60 Jahren ler Menschen, ist unantastbar. Das heißt für mich aber barg von Anfang an einen Konflikt, der noch immer un- auch: Sogenannte nationale Befreiungsbewegungen, die gelöst ist. Im Kalten Krieg wurde er oft zu einem „pro Attentate verüben und dabei Unschuldige morden, sind Israel“ kontra „pro Palästina“ versimpelt. Der Konflikt keine Menschenrechtsbewegungen. wurde, wie viele andere auch, zum Stellvertreterkrieg (Beifall im ganzen Hause) zwischen den Weltblöcken West und Ost. Heute ist klar: Das war keine Lösung. Letztlich wurden die Spannun- Es wäre aber unredlich, Millionen Palästinenser – Frau- gen, die im Nahen Osten ohnehin existierten, dadurch en, Männer, Kinder und Greise – dafür kollektiv zu be- sogar noch verschärft. strafen. Die Geburt Israels vor 60 Jahren war ein histori- sches Ereignis. Aber sie war, wie der israelische Journa- Hinzu kommt: Es ist keine Lösung in Sicht. Ich list Igal Avidan schreibt, ein „Kaiserschnitt“, ein denke, auch deshalb sollte keiner von uns beanspruchen, Kaiserschnitt, der heute noch blutet. So mischt sich Jubi- wir hätten die Lösung in der Tasche. Das wäre vermes- läumsfreude mit anhaltender Sorge. sen, und das wäre unangemessen gegenüber Jüdinnen und Juden, aber auch gegenüber Palästinenserinnen und Ich bin vor Wochen gebeten worden, ein Grußwort Palästinensern, zumal die Gegenüberstellung „Hier die „60 Jahre Israel“ zu schreiben. Dazu war ich gerne be- Juden, da die Palästinenser“ im wahren Leben so auch reit, zumal ich erst kurz vorher in Israel war. Dort hatte nicht stimmt. ich in Jerusalem an einer internationalen Konferenz ge- gen Antisemitismus teilgenommen. Natürlich kam ich Wer in Israel genau hinhört, wird kritische Debatten mit Eindrücken zurück, die so vielfältig und wider- erleben, die hierzulande fälschlicherweise als unkorrekt sprüchlich wie Israel selbst sind. gelten. Wer nachdenklichen Palästinensern zuhört, wird Umso länger dachte ich dann über mein Grußwort Debatten erleben, die vom Wunsch nach dem überfälli- nach. Ich entschied mich schließlich für eine Anleihe gen Frieden zwischen Israel und Palästina beseelt sind. beim Friedenslied von Bertolt Brecht: Beide beziehen sich aufeinander, weil sie miteinander nach einer Lösung suchen. Friede in unserem Hause! Friede im Hause nebenan! (B) (D) (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Hans Friede dem friedlichen Nachbarn, Eichel [SPD]) Daß jedes gedeihen kann. So wünsche ich mir zum Beispiel von den deutschen Einen Vers aus dem Friedenslied habe ich allerdings Medien, dass sie die Initiativen, die Schalom und Salam bewusst weggelassen: wirklich zusammenführen wollen, viel mehr unterstüt- zen; auch das gehört für mich zur historischen Verant- Friede in unserem Lande! wortung Deutschlands. Es gibt solche Initiativen in Is- Friede in unserer Stadt! rael, in Palästina und auch hierzulande. Daß sie den gut behause, Der sie gebauet hat! Gleichwohl sind 60 Jahre Israel auch 60 Jahre Nah- Ich habe ihn bewusst ausgelassen, weil ich die Sied- ostkonflikt. Er harrt einer Lösung, für die unmittelbar lungspolitik in diesem Grußwort nicht gutheißen wollte; Betroffenen in Israel und Palästina, aber auch darüber denn auch sie ist ein Grund dafür, dass, um im Bild zu hinaus. Denn der Nahostkonflikt birgt Sprengstoff für bleiben, der Kaiserschnitt noch immer blutet. die Welt insgesamt. Hier stellt sich natürlich die grund- sätzliche Frage: Welche Position der Vernunft kommt (Beifall bei der LINKEN) dabei Deutschland zu? Ich finde, es darf keinerlei Zwei- Nun spreche ich hier auch als Innenpolitikerin der fel am Existenzrecht Israels geben. Es darf aber auch Fraktion Die Linke. Meine Pro-Themen sind Bürger- keinen Zweifel am Recht der Palästinenser geben, in rechte und Demokratie, meine Anti-Themen sind Würde zu leben. Wir haben eine Doppelverantwortung: Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus. Wir stehen gegenüber Jüdinnen und Juden in tiefer Deshalb sage ich auch: Man kann nicht 60 Jahre Israel Schuld. Genau deshalb darf es aber nicht so sein, dass würdigen und zugleich den Antisemitismus hierzulande die Palästinenser unter der historischen Schuld Deutsch- ausblenden. lands leiden. (Beifall bei der LINKEN, der FDP und dem (Beifall bei der LINKEN) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab- geordneten der SPD) Wer 60 Jahre Israel begrüßt – ich tue das ausdrück- lich –, muss zugleich das Schicksal der Palästinenser im Es ist richtig: Es gibt wieder jüdisches Leben. Das ist Blick haben. Denn so unklar die Zukunft im Nahen ein historisch unverdientes Geschenk der Jüdinnen und Osten ist, so klar ist: Frieden wird es nur miteinander Juden an Deutschland und eine Bereicherung unserer und nie gegeneinander geben. Letztlich trägt eine Lö- Vielfalt und Kultur. Das jüdische Leben hierzulande ist Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008 17127

Petra Pau (A) aber alles andere als normal. Noch immer müssen Syna- den Holocaust und die Bewältigung dieser deutschen (C) gogen und jüdische Schulen sowie Kindergärten beson- Vergangenheit niemals aufgegeben werden. Das bleibt ders geschützt werden. Im statistischen Schnitt wird in auch unsere Aufgabe für die Zukunft. Zweitens muss die der Bundesrepublik Woche für Woche ein jüdischer Bekämpfung des Antisemitismus und der Ausländer- Friedhof geschändet. Soziologische Untersuchungen be- feindlichkeit in Deutschland für uns höchste Priorität ha- legen: Mehr als ein Drittel der Deutschen ist latent anti- ben. Ohne diese Überzeugung machen alle Bekenntnisse semitisch eingestellt – im Westen der Republik übrigens wenig Sinn. mehr als im Osten. Das ist der aktuelle Befund. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Antisemitismus aber ist keine politische Kritik. Anti- sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der semitismus ist eine menschenverachtende Ideologie. SPD und der FDP) (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- Drittens müssen wir die Intensivierung der Beziehungen neten der CDU/CSU, der SPD, der FDP und zu Israel, die wohl niemals normal sein werden, fortset- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) zen. Ich glaube, dass auch bei den Fraktionen und der Regierung der Wille dazu vorhanden ist. Sie grassiert noch immer oder schon wieder inmitten der Gesellschaft: an Stammtischen, in Chefetagen, im All- Wir müssen Israel auch konkret sowohl vor der pro- tag. pagandistischen Ächtung, wie sie von der derzeitigen Regierung im Iran ausgeht, als auch vor einer mögli- Umso wichtiger finde ich es, dass sich nunmehr über chen militärischen Bedrohung schützen. die heutige Debatte hinaus im Bundestag Kolleginnen und Kollegen aus allen Fraktionen zusammengefunden (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- haben und zusammenfinden, um sich diesen gesell- SES 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU und schaftlichen Problemen fern aller Parteirituale ernsthaf- der SPD) ter als bisher zuzuwenden. Ich persönlich werde meinen Beitrag dazu leisten – als Lehre aus der Geschichte und Die vergangenen Montag von der IAEA vorgelegten aus Sorge um die Zukunft. Berichte geben Anlass zur ernsten Sorge, was in Teheran geplant wird und geschieht. Wir sind der Überzeugung, (Beifall bei der LINKEN, der SPD, der FDP dass man nur durch eine kluge Verbindung von Sanktio- und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie nen und politischen Gesprächen die Situation im Sinne bei Abgeordneten der CDU/CSU) einer friedlichen Klärung lösen kann. Man muss konse- quent klarmachen, dass eine atomare Bedrohung Israels Präsident Dr. Norbert Lammert: für uns nicht akzeptabel ist. (B) (D) Das Wort erhält nun der Kollege Fritz Kuhn, Fraktion (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Bündnis 90/Die Grünen. und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ich möchte auf den aktuellen Friedensprozess im Na- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! hen Osten eingehen. Eine genaue Betrachtung zeigt, dass Meine Fraktion und meine Partei haben den Israelis aus die Erfolge des Annapolis-Prozesses sehr stark gefähr- vollem Herzen und tiefer Überzeugung zum 60. Jahres- det sind. Ich halte es auch in einer Debatte wie dieser für tag ihrer Staatsgründung gratuliert. notwendig, an die Palästinenser – jedenfalls an diejeni- Wir teilen die immer wieder auch hier geäußerte Auf- gen, die glauben, dass Gewalt eine Lösung sein kann – fassung und Überzeugung, dass das Existenzrecht die klare Botschaft zu richten, dass sie durch Terror und Israels zur Staatsräson der Bundesrepublik Deutschland Gewalt niemals Frieden und Wohlstand für ihre Bevöl- gehört. Dies gilt für alle Parteien. Frau Pau, ich wünsche kerung erlangen können. Ihnen ganz aufrichtig, dass die Position, die Sie hier mit (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ihrer Rede vertreten haben, auch in Ihrer Partei eine ein- sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und deutige Mehrheit findet. der SPD) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Das sage ich als jemand, der tief davon überzeugt ist, bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Ab- dass die Palästinenser ein Selbstbestimmungsrecht und geordneten der FDP – Dr. Dagmar Enkelmann ein Recht darauf haben, einen eigenen Staat im Rahmen [DIE LINKE]: Davon können Sie ausgehen!) einer Zweistaatenlösung zu gestalten, die uns als einzige Ich finde, wir müssen uns aber auch konkret mit den mögliche Lösung für die Region erscheint. Konsequenzen der Aussage befassen, dass das Existenz- recht Israels politische Priorität in der Staatsräson Auch Israel – ich betrachte das nicht als einen Rat- Deutschlands hat. Denn es geht nicht nur um das Exis- schlag von außen, Frau Bundeskanzlerin – muss die tenzrecht Israels, sondern auch um seine Existenz. Sechs Friedenswilligen, Gewaltfreien und Gewaltablehnenden Kriege und zwei Intifadas in diesen 60 Jahren zeugen im Palästinenserlager mehr stärken, als dies seit Anna- von einer tragischen und blutigen Geschichte. polis geschehen ist. Wer glaubt, den Präsidenten Abu Masen zu stärken, indem er nach der Annapolis-Kon- Welche Konsequenzen muss dies alles für uns und die ferenz neue Siedlungen in Jerusalem baut und von der praktische Politik haben? Erstens darf die Erinnerung an Politik der zunehmenden Sicherheitskontrollen und 17128 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008

Fritz Kuhn (A) Checkpoints nicht abrückt, der täuscht sich möglicher- Amtskollegen im gemeinsamen Gedenken in Jad (C) weise und stärkt eher die Gegner. Auch dies möchte ich Waschem. Ich habe hier bekannt: Das war einer der be- als Grüner in dieser Debatte festhalten. wegendsten Momente in meinem politischen Leben. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Zwischen diesem Sperrvermerk, von dem ich gespro- sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und chen habe, und den deutsch-israelischen Regierungskon- der FDP) sultationen vor zweieinhalb Monaten liegen 60 Jahre; 60 Jahre der Arbeit der Repräsentanten israelischer und Dass der Verteidigungsminister Israels, Ehud Barak, deutscher Politik, aber auch 60 Jahre der Arbeit von Bür- nach Ihrem Besuch gesagt hat, es würden keine Check- gerinnen und Bürgern. Wissenschaftler und Gewerk- points geräumt, ist kein ermutigendes Zeichen. schafter waren es, die die ersten Kontakte auf der zivil- Ich möchte noch einen dritten Punkt ansprechen. Wer gesellschaftlichen Ebene zwischen Deutschland und Israel helfen will – dies gilt insbesondere für alle Euro- Israel geknüpft haben. Heute, 43 Jahre nach der Auf- päer –, der muss alles tun, um die Zahl der Feinde Israels nahme diplomatischer Beziehungen, sind unsere Be- zu reduzieren. Deswegen begrüßen wir auch die türki- ziehungen zu Israel so vielfältig und inhaltsreich wie mit schen Vermittlungsversuche, um zwischen Syrien und kaum einem anderen Land dieser Welt. Israel zählt Israel zu einem Frieden zu kommen. Es war richtig, dass Deutschland inzwischen zu seinen engsten Verbündeten der Bundesaußenminister diese Politik einer möglichen und Freunden, eine Entwicklung, die uns ganz sicher mit Öffnung gegenüber Syrien oder wenigstens des Eruie- Dankbarkeit erfüllen muss. rens dieser Öffnung im vergangenen Jahr aktiv angegan- (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP gen ist. und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN bei Abgeordneten der LINKEN) sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN- Dennoch – darauf haben viele hingewiesen – müssen KEN) wir wohl akzeptieren, wenn Amos Oz schreibt: Wir haben auch Hoffnungen, dass es wenigstens zu Keine Normalisierung. Normale Beziehungen zwi- indirekten Verhandlungen mit Hamas kommen kann, schen Deutschland und Israel sind nicht möglich zum Beispiel durch die ägyptische Vermittlung, was ei- und nicht angemessen. nen konkreten Waffenstillstand zwischen den Menschen im Gazastreifen und Israel angeht; denn ein Waffenstill- Die Schoah, der millionenfache Mord, das unermess- stand ist auch ein Baustein auf dem schwierigen Weg zu liche Leid, das Deutsche über Deutsche und andere einem Frieden zweier Staaten nach der Konferenz von Europäer jüdischen Glaubens gebracht haben, ist Teil (B) Annapolis. unserer Geschichte. Die tägliche Erinnerung und die täg- (D) liche Auseinandersetzung mit der Schoah, mit Rassis- Politik besteht darin – so schwierig das im Detail sein mus, ja auch mit Antisemitismus bei uns ist deshalb Teil kann –, aus Feinden Gesprächspartner zu machen. Ich unserer Gegenwart und wird und muss Teil unserer Zu- wünsche mir, dass die Europäische Union diesen Prozess kunft bleiben. Darum werden eben unsere Beziehungen des Friedens nach Annapolis mit allem, was ihr zur Ver- zu Israel für immer besondere Beziehungen sein. fügung steht, stärkt. Darin sehe jedenfalls ich die Auf- gabe der deutschen Politik, wenn sie ihre Verantwortung Was bedeutet das aber heute, 60 Jahre nach der Grün- aus unserer Geschichte wirklich ernst nimmt. dung Israels? Für mich ergeben sich daraus drei Kern- aufgaben für deutsche Außenpolitik: Die erste Auf- Vielen Dank. gabe – das haben alle gesagt – ist das Eintreten für die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Existenz und für die Sicherheit des Staates Israel. Das sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der muss eine Konstante deutscher Außenpolitik bleiben. SPD und der FDP) Dazu gehört in der Tat auch, dem Gerede des iranischen Staatspräsidenten immer wieder entgegenzutreten. Seine Leugnung des Holocaust ist ebenso unerträglich wie das Präsident Dr. Norbert Lammert: Infragestellen des Existenzrechts Israels. Dazu muss es Ich erteile nun das Wort dem Bundesminister des klare Botschaften geben. Auswärtigen, Frank-Walter Steinmeier. (Beifall im ganzen Hause) (Beifall bei der SPD) Meine Damen und Herren, zum Beistand für Israel gehört nach meiner Überzeugung aber auch noch etwas Dr. Frank-Walter Steinmeier, Bundesminister des Auswärtigen: anderes. Ich zitiere noch einmal Amos Oz: Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Was Israel am allermeisten brauchen wird, ist eine Herren! Vor 60 Jahren hielten die Bürger des gerade neu emotionale Versicherung. Denn wir fühlen uns als gegründeten Staates Israel ihre ersten Reisepässe in der Geächtete, verflucht und gehasst. Ein solcher Rück- Hand. Diese Reisepässe hatten eine Besonderheit. Sie halt würde keinen Pfennig kosten, nur Empathie. trugen den Vermerk: Dieser Reisepass gilt in allen Län- Dazu muss man nicht mit der israelischen Politik dern mit Ausnahme Deutschlands. – Das war vor 60 Jah- einverstanden sein. Aber ein europäisches Mitge- ren. Vor zweieinhalb Monaten standen wir, neun Mit- fühl für die heute schwierige Lage Israels könnte glieder des Bundeskabinetts, mit unseren israelischen den Moderaten und Tauben hier helfen. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008 17129

Bundesminister Dr. Frank-Walter Steinmeier (A) Bei diesen Worten von Amos Oz dachte ich persönlich konkreten Maßnahmen zu arbeiten und die Menschen in (C) an die manchmal etwas wohlfeile Art, in der wir aus un- der Region spüren zu lassen, dass sich der Weg zum serem europäischen Ohrensessel mit klugen Kommenta- Frieden lohnt. Das tun wir durch viele Maßnahmen, die ren über den Nahostfriedensprozess urteilen und unseren ich nicht alle aufzählen will. Dazu zählt die große inter- Frust über ausbleibende Fortschritte mit schlauen Rat- nationale Konferenz für Sicherheit in Palästina, die am schlägen an die Adresse Israels garnieren. Man muss in 24. Juni hier in Berlin stattfinden wird. Auf dieser Kon- der Tat nicht mit jedem Vorschlag der israelischen Poli- ferenz wollen wir die Voraussetzungen dafür schaffen, tik einverstanden sein, und dort, wo es Dissens gibt, dass die internationale Staatengemeinschaft ihren Bei- muss man auch offen darüber sprechen. Aber meine Er- trag dazu leistet, dass Palästina die Verantwortung für fahrung ist eben auch, dass ein kritisches Wort umso seine Sicherheit selbst übernehmen kann. Warum sage leichter oder vielleicht auch nur dann akzeptiert wird, ich das? Ich sage das, weil wir uns bei all dem von der wenn es von einem Freund kommt, der wirklich Ver- Erkenntnis leiten lassen, dass mehr Sicherheit in Paläs- ständnis und Empathie für die Zwangslage – viele haben tina letztlich auch mehr Sicherheit für Israel bedeutet. zu Recht von einer Bedrohungslage gesprochen – des (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ anderen hat und zeigt. CSU, der FDP, der LINKEN und des BÜND- (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP NISSES 90/DIE GRÜNEN) und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie Herr Gesandter, ich freue mich, dass das auch die israeli- bei Abgeordneten der LINKEN) sche Regierung so sieht, dass die Reaktion der israeli- Den zweiten Auftrag für die deutsche Außenpolitik schen Seite auf die Einberufung dieser Konferenz positiv war. sehe ich darin, dass wir unsere bilateralen Beziehungen noch dichter gestalten und zukunftsorientierter aus- Ich werde am Samstag zu meiner inzwischen achten bauen. In den Regierungskonsultationen vor zweieinhalb Reise in den Nahen Osten aufbrechen, nach Beirut, Jeru- Monaten haben wir ein neues Kapitel aufgeschlagen. salem und Ramallah. Der – ich will es so sagen – nahöst- Neue Felder der Zusammenarbeit sind verabredet wor- liche Himmel hat sich leicht aufgehellt. Ich freue mich den und werden bearbeitet werden. Vor allen Dingen darüber, dass die Krise im Libanon durch Vermittlung wird das deutsch-israelische Zukunftsforum in diesem der Arabischen Liga beigelegt werden konnte. Die Wahl Jahr in Gang kommen. Es wird einer jungen Generation des neuen libanesischen Staatspräsidenten schafft viel- Perspektiven bei der Zusammenarbeit in Wirtschaft, leicht jetzt die Voraussetzungen dafür, dass der Wieder- Kultur und Wissenschaft bieten. aufbau funktionierender staatlicher Institutionen im Li- banon vorangeht. Ich freue mich auch darüber, dass Die dritte wichtige Aufgabe, die aus der Besonderheit indirekte Gespräche zwischen Israel und Syrien stattfin- (B) der Beziehungen zwischen Deutschland und Israel er- den. Der türkische Außenminister wird uns, wenn er (D) wächst, ist unser Engagement für Frieden im Nahen morgen in Berlin sein wird, sicherlich über den Stand Osten. Die Verantwortung für die Vergangenheit – das dieser Gespräche informieren. Das folgt der Überzeu- habe ich heute Morgen ebenfalls aus vielen Reden he- gung, dass es umfassende und nachhaltige Friedenslö- rausgehört – ist in der Tat eine Triebfeder für dieses sungen im Nahen Osten ohne die Einbeziehung schwie- Engagement Deutschlands im Nahen Osten und muss es riger Partner, insbesondere ohne die Einbeziehung auch bleiben. Wir wissen, dass die Umsetzung der Zwei- Syriens, wahrscheinlich nicht geben wird. Ich habe die staatenlösung allen Partnern schwierige Kompromisse Signale aus der Region immer so verstanden, dass man abverlangen wird. Wir wissen auch – zumindest sollten mit beiden Seiten Vertrauensbildung betreiben muss. wir es wissen –, dass wir die dazu erforderliche Ent- schlossenheit und Weitsicht von Europa aus nicht erset- Wir wünschen Israel und seinen Menschen zum zen können. Aber wir können bei der Arbeit an den 60. Jahrestag der Staatsgründung vor allem eines: Frie- Rahmenbedingungen helfen. Dies haben wir durch Wie- den, einen Frieden, den die Menschen verdienen; einen derbelebung des Nahostquartettes, durch Werbung dafür, Frieden, der unseren Beitrag verlangt. Aus der Verant- dass die arabischen Staaten einbezogen werden, sowie wortung für die Vergangenheit erwächst Verpflichtung dadurch getan, dass wir im vergangenen Jahr eine EU- für die Zukunft. Aktionsstrategie für den Nahen Osten auf den Weg ge- Herzlichen Dank. bracht haben, die die von mir angesprochenen Rahmen- bedingungen verbessert. (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten bei Abgeordneten der LINKEN) der CDU/CSU) Diese klassische Diplomatie gehört dazu, wird aber Präsident Dr. Norbert Lammert: aus meiner Sicht der Situation im Nahen Osten alles in Der Kollege Dirk Niebel ist der nächste Redner für allem noch nicht gerecht. Wer in Ramallah, in Jericho, in die FDP-Fraktion. Jerusalem und in Tel Aviv mit den Menschen spricht, wird auf zwei Dinge stoßen: Sowohl die Friedenssehn- Dirk Niebel (FDP): sucht als auch die Ernüchterung über die in Jahrzehnten Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und fehlgeschlagenen Versuche einer Lösung sind inzwi- Herren! Wenn Freunde Geburtstag feiern, insbesondere schen überall spürbar. Dies bedeutet aus meiner Sicht, wenn sie einen runden Geburtstag feiern, ist das für den dass wir uns noch stärker gehalten fühlen müssen, an Jubilar meistens schwieriger als für die Gäste. 17130 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008

Dirk Niebel (A) Dass das bei Staaten anders ist als bei Menschen, (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (C) kann damit zusammenhängen, dass man bei Staaten den der CDU/CSU, der SPD und des BÜNDNIS- Alterungsprozess nicht so unmittelbar wie bei Menschen SES 90/DIE GRÜNEN) erkennt und dass die Alterung bei Staaten eher die Chance bedeutet, dass ein längerer Zeitraum für Ich möchte Ihnen kurz von einer guten Freundin er- Entwicklungsprozesse zur Verfügung stand. Wer sich die zählen: Margot Kupferberg, die im Jahre 2006 im Alter Entwicklung ansieht, die Israel in 60 Jahren durchlaufen von 94 Jahren im Kibbuz Kfar Giladi nahe der libanesi- hat, wird feststellen, dass Israel – bei allen politisch schen Grenze gestorben ist. Sie wurde 1912 in Deutsch- schwierigen Rahmenbedingungen – eine Erfolgsge- land geboren. Ich habe sie 1982 während des ersten schichte ist: Beginnend bei der Urbarmachung des Lan- Libanon-Krieges kennengelernt. Sie hat mir ein Stück des – durch die Entwässerung der Sümpfe und die Be- der Geschichte ihres Lebens erzählt. Ich glaube, ich be- wässerung der Wüsten – schon vor der Staatsgründung, urteile es richtig, wenn ich sage, dass sie eine glückliche hat sich Israel über einen Agrarstaat mit umfangreicher, Frau war. Aber sie hat ein Leben in ständiger Angst ge- vielfältiger, qualitativ hochwertiger Produktion zu einem führt, von der Flucht vor den Nazis nach Südamerika bis Hightechstandort entwickelt, der insbesondere im Be- hin zum Nachhausekommen nach der Staatsgründung reich von Zukunftstechnologien wie der Biotechnologie Israels nach dem Unabhängigkeitskrieg, der von weite- führend ist, einem Bereich, in dem wir in Mitteleuropa ren fünf Kriegen und zwei Aufständen gefolgt wurde. teilweise nicht mehr die Lehrenden sind, sondern zu Ler- Alle ihre Kinder und Enkel dienten in der Armee. Einer nenden geworden sind. Israel hat eine große Integra- ihrer Söhne hatte als Egged-Busfahrer über lange Zeit ei- tionskraft: Menschen, die aus mehr als 100 verschiede- nen der gefährlichsten Arbeitsplätze in Israel. Obwohl nen Staaten gekommen sind, sind – bei allem, was an diese Frau in ständiger Angst gelebt hat, hat sie als poli- Fehlern passiert ist und an Problemen bestanden hat – so tischer Mensch in tiefster Überzeugung für die demokra- integriert worden, dass sich eine Gesamtgesellschaft ent- tischen Gepflogenheiten in Israel eingestanden. Wenn wickelt hat. Das alles geschah in einem wirklich alles ich sehe, wie wir uns im letzten Jahr an den sogenannten andere als freundlich gesinnten Umfeld und unter Wah- deutschen Herbst vor 30 Jahren erinnert haben, dann rung der Möglichkeiten, die eine echte Demokratie hat. muss ich feststellen, dass eine Gesellschaft, die bereit ist, Das verdient unsere Anerkennung. unter dem Druck der Terrorgefahr Bürger- und Frei- heitsrechte aufzugeben, und zwar eine Gesellschaft, in (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der der Terror im Wesentlichen auf bestimmte Gruppen der CDU/CSU und des Abg. Gert und führende Persönlichkeiten und nicht auf jeden Ein- Weisskirchen [Wiesloch] [SPD]) zelnen bei den Verrichtungen des täglichen Lebens zielte, von einer Gesellschaft, in der jeder Einzelne bei Die guten Beziehungen Deutschlands zu Israel wur- (B) den Verrichtungen des täglichen Lebens bedroht ist, ler- (D) den von vielen Rednern bereits angesprochen. Guido nen kann, wie man trotz Gefahr und Angst demokrati- Westerwelle hat auf die vielfältigen Städtepartnerschaf- sche Gepflogenheiten aufrechterhalten sowie Lebens- ten, den Jugendaustausch und andere Möglichkeiten kul- qualität und Lebensfreude haben kann. Das kann man in tureller Vielfalt im Austausch zwischen unseren beiden Israel lernen. Man muss ganz deutlich sagen, dass dieje- Ländern hingewiesen. Ich möchte mir erlauben, in dieser nigen, die der ständigen Bedrohung ausgesetzt sind, ihre vereinbarten Debatte darauf hinzuweisen: Es gibt auch Werte und Überzeugungen trotz der Bedrohung nicht gute Kontakte zwischen den Parlamenten, zwischen dem vergessen haben. Dafür leben sie in Zukunft hoffentlich Deutschen Bundestag und der Knesset. Diese Kontakte, in Frieden in einem jüdischen Staat mit sicheren Gren- die weit unterhalb dessen stattfinden, was, in Fernseh- zen und frei von Angst vor Terror. sendungen und Nachrichtenmagazinen sichtbar, auf di- plomatischer Ebene passiert, wirken meinungsbildend (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten bei denjenigen, die später die Entscheidungen in den der CDU/CSU, der SPD und der LINKEN) Parlamenten auf beiden Seiten mitzutragen haben. Herr Präsident, obwohl ich die Redezeit schon über- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten schritten habe, sei mir ein letzter Satz erlaubt. Unter der CDU/CSU, der SPD und des BÜNDNIS- Freunden kann man offen reden. Deswegen sage ich aus- SES 90/DIE GRÜNEN) drücklich: Der Teilungsbeschluss der Vereinten Natio- nen sieht eigentlich eine Zweistaatenlösung vor, über Als ich 1998 stellvertretender Vorsitzender der die wir noch heute diskutieren. Welche Verschwendung Deutsch-Israelischen Parlamentariergruppe wurde, habe von Leben und Ressourcen in diesen 60 Jahren! Es ist an ich – zusammen mit meinen Kolleginnen und Kollegen der Zeit, auf den in der Roadmap aufgezeigten Weg zu- aus den anderen Fraktionen – begonnen, mich zu bemü- rückzukommen. Das gilt für alle Beteiligten; denn nur so hen, dass das Internationale Parlamentarische Paten- wird man für die in dieser Region lebenden Menschen schafts-Programm, IPP, auf Israel und Deutschland aus- auf Dauer vernünftige und friedliche Rahmenbedingun- geweitet wird. Das hing lange von der Frage ab, ob die gen schaffen können. Knesset in der Lage ist, die notwendigen Mittel zur Ver- fügung zu stellen, deren es bedurfte. Ich kann Ihnen mit- Vielen herzlichen Dank. teilen, dass im nächsten Jahr die ersten deutsch-israeli- schen Stipendiatenaustausche stattfinden, sodass wir (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der auch auf dieser Ebene die parlamentarischen Kontakte SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN ausweiten werden. Das wird zum Verständnis der jeweils und des Abg. Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE anderen Seite beitragen. GRÜNEN]) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008 17131

(A) Präsident Dr. Norbert Lammert: Dauer Frieden wächst, das bleibt unsere ganz große und (C) Ich erteile das Wort nun dem Kollegen Dr. Peter auch meine persönliche Hoffnung. Ramsauer, CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Beifall bei der CDU/CSU) neten der SPD und der FDP) Hier sind Gräben zu überwinden und Brücken zu bauen, Dr. Peter Ramsauer (CDU/CSU): hier ist langfristig wieder eine Mauer zu überwinden. Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es ist deshalb unser herausragendes Ziel, mit unserer 60 Jahre Staat Israel – das ist für uns ein froher Anlass, Außenpolitik dazu beizutragen, gemeinsam mit den zu dem wir gern und von Herzen gratulieren und den wir Europäern, aber auch ganz bewusst als Deutsche. Israel gerne in voller Freude feiern. Hinter diesen 60 Jahren und seine Zukunft können uns Deutschen nämlich nicht stehen eine ebenso großartige wie beispiellose Aufbau- gleichgültig sein. Wir stellen uns der Geschichte und un- leistung und eine beeindruckende Geschichte, eine, so serer Verantwortung. Dies ist in den Reden dieser Debatte kann man, glaube ich, sagen, beeindruckende Ge- immer wieder in hervorragender Weise herausgestellt schichte auch der Selbstbehauptung. Die Erfolgsge- worden. Dabei geht es gerade um unsere Verantwortung, schichte dieses Staates ist einzigartig. Bei meinen inzwi- die uns aus Vergangenem zuwächst. schen vielen Besuchen in Israel war ich immer wieder Wir sind zwar nicht in der Position – wir können es tief beeindruckt: Wüsten sind fruchtbar gemacht wor- wohl auch nicht sein und wollen es auch nicht –, einen den, die Metropolen dieses Landes zeugen von Vitalität, Frieden zu diktieren. Wir Europäer können unser Aller- von Kraft. Man erlebt die volle Bandbreite der Dienst- bestes tun, um zu vermitteln. Wir haben als Deutsche leistungen, Forschung und Entwicklung haben höchstes und Europäer auch ein eigenes Interesse daran, Frieden Niveau, und der westliche Lebensstil, den man dort vor- in dieser Region zu fördern. Sicherheit und Freiheit der findet, lässt zunächst einmal die Probleme der Region in Israelis und Sicherheit und Freiheit für die Menschen in Vergessenheit geraten. der nahöstlichen Region sind zwei Seiten ein und dersel- ben Medaille. Israel ist die einzig funktionierende Demokratie in dieser Region. Israel ist ein Beispiel für Zusammenhalt (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der und Zuversicht, und Israel ist ein großartiges Beispiel FDP) auch für Integrationskraft. Israel wird nur dann eine Zukunft haben, wenn es ein (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Auskommen mit den Palästinensern findet. Ich glaube, (B) neten der SPD und der FDP) die Reden aus allen Fraktionen haben gezeigt, wie sehr (D) wir in diesem Punkt übereinstimmen. Damit Radikalität Seit Beginn der jüdischen Wiederbesiedlung im und Gewalt ihr Ende finden, müssen beide Seiten aus ih- 19. Jahrhundert haben Menschen aus den verschiedens- rer jeweiligen Sicht wohl schmerzhafte Zugeständnisse ten Regionen der Welt gelernt, miteinander zu leben, zu- machen. Klar ist: Am Existenzrecht Israels kann und letzt im Zusammenhang mit der Aufnahme einer großen darf es keinerlei Zweifel geben. Nur der Anerkennung Zahl von Juden beispielsweise aus der Sowjetunion und des Existenzrechts Israels können Gespräche über einen aus Russland. Vor 60 Jahren haben die Israelis ihre Frieden in der Region folgen. Selbstbestimmung durchgesetzt, mit Unterstützung der Großmächte und natürlich der großen Mehrheit der Völ- Eine bessere Zukunft durch gemeinsame Sicherheit, kergemeinschaft. Sie bauten und – ich sage das ganz be- das ist meine Botschaft, wenn ich in die Länder dieser wusst auch im Präsens – bauen Israel auf, sie machen Region reise, wie zuletzt in den Libanon oder in der ver- den Traum ihrer Väter und Großväter wahr. Die Wahr- gangenen Woche in den Iran. Ich glaube, das ist aktiver heit ist: Sie taten das immer mit ausgestreckter Hand Einsatz für die Interessen Israels. Auch Sie, Herr Bun- auch gegenüber der arabischen Bevölkerung innerhalb desaußenminister Steinmeier, haben angekündigt, in al- Israels und gegenüber ihren arabischen Nachbarn. Über- lernächster Zukunft wieder eine solche Reise zu machen. lebende des Holocaust, Einwanderer aus aller Welt, Diese Interessen des Friedens sind auch zutiefst unsere gläubige Juden und überzeugten Zionisten – sie alle hat- eigenen Interessen. In all diesen Ländern trifft man Per- ten die Vision von einem Land, in dem sie und andere sönlichkeiten, die sich ehrlich um Frieden bemühen. frei und sicher leben können, ohne Angst vor Benachtei- Noch sind die Widerstände aber – leider Gottes – stärker. ligung und ohne Angst vor Ausgrenzung. Die Hisbollah hat den Süden des Libanon – man Mit Anwar al-Sadat und Menachim Begin, mit muss das nüchtern so feststellen – fest im Griff. Trotz Yitzhak Rabin und Jassir Arafat hat sich Hoffnung auf der Erleichterung – unser aller Erleichterung – über das Frieden verbunden. Diese Hoffnung auf Frieden hat Abkommen von Doha, das zur Wahl von Präsident sich leider bis heute nicht oder nicht voll erfüllt. Vom Suleiman geführt hat, bleibt ein ganz bitterer Nachge- Frieden werden aber alle profitieren, Israelis wie Araber, schmack. Der neue Schlüssel der Machtverteilung im Juden, Muslime und Christen gleichermaßen. Dennoch: Libanon wurde von der Hisbollah mehr oder weniger mit Zu viele haben heute den Glauben daran verloren. Die ihrer Waffengewalt durchgesetzt. Dieses Gewaltpoten- Situation im Gazastreifen und im besetzten Westjordan- zial verfügt über modernste Telekommunikation und land hat viele verbittert. Dass im Schatten der Mauer, die stellt mit seiner Waffengewalt eine beängstigende wach- zwischen Israel und Palästina errichtet worden ist, auf sende Bedrohung für Israel dar. 17132 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008

Dr. Peter Ramsauer (A) Die Selbstpreisung der Hisbollah als Befreierin über- Präsident Dr. Norbert Lammert: (C) zeugt natürlich nicht. Ein paar Almwiesen bei Sheba sol- Kerstin Müller ist die nächste Rednerin für die Frak- len sozusagen das Trugbild von angeblicher israelischer tion Bündnis 90/Die Grünen. Besatzung Libanons stützen. Es geht um ein Stück Land, dessen völkerrechtliche Zugehörigkeit noch nicht einmal Kerstin Müller (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- zweifelsfrei feststeht. NEN): Sehr bewusst habe ich im Libanon mit Vertretern der Herr Präsident! Meine Damen und Herren! 60 Jahre Hisbollah gesprochen und nicht lockergelassen, um he- Israel, das ist vor allem aus deutscher Sicht ein besonde- rauszufinden, was mit den seit 2006 entführten israeli- res Jubiläum, denn – viele von Ihnen haben es heute be- schen Soldaten passiert ist. Wir müssen alle miteinander reits gesagt – es ist nicht selbstverständlich, dass Zeichen setzen, dass ihr Schicksal uns nicht gleichgültig 63 Jahre nach dem Kriegsende, den nationalsozialisti- ist. Volker Kauder hat bereits von unserem Gespräch er- schen Verbrechen und der Schoah heute enge und ver- zählt, das wir mit den Familien dieser beiden entführten trauensvolle Beziehungen zwischen Deutschland und Soldaten bei einem Besuch geführt haben. Israel bestehen. Mit der Unterstützung der Hisbollah und der Hamas Seit der Wiederaufnahme der diplomatischen Bezie- isoliert sich der Iran in der Völkergemeinschaft. Unser hungen entwickelte sich zwischen der Bundesrepublik Appell an den Iran muss unmissverständlich sein. Das und Israel ein immer enger werdender, sehr guter Dialog habe ich auch bei all meinen Gesprächen im Iran, unter auf politischer, kultureller und persönlicher Ebene sowie anderem mit Außenminister Mottaki oder dem früheren ein intensiver und sehr konkreter Austausch, den Sie mit Präsidenten Chatami, immer wieder klar und unmissver- Programmen, die bei den Regierungsverhandlungen be- ständlich gesagt: Der Iran hat alles zu unterlassen, was schlossen wurden, fortsetzen. Im Hinblick auf die Er- die Sicherheit Israels gefährdet, und alles zu tun, was zur gebnisse von Umfragen anlässlich des 60-jährigen Jubi- Sicherheit Israels beiträgt. läums Israels ist dieser Austausch – vor allem unter (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie Jugendlichen – für die Zukunft unserer Beziehungen be- bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE sonders wichtig. GRÜNEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Dazu gehört auch, von der Unterstützung von Hamas bei der SPD und bei Abgeordneten der CDU/ und Hisbollah definitiv abzulassen. CSU sowie der Abg. Dr. Guido Westerwelle [FDP] und [DIE LINKE]) Die Sorgen über das iranische Nuklearprogramm sind Denn – Herr Westerwelle, Sie haben es am Anfang (B) ebenso unsere Sorgen, wie sie die Sorgen Israels sind. (D) Der jüngste Bericht der Wiener Agentur IAEO ist leider Ihrer Rede angesprochen – das, was in diesem Hause kritischer ausgefallen, als wir es erwartet hatten. Konsens ist und von allen betont wurde, dass wir Deut- schen aufgrund unserer Geschichte eine bleibende und Die Gespräche unter türkischer Vermittlung zwischen besondere Verantwortung für die Existenz und die Si- Syrien und Israel, die offensichtlich weit gediehen sind, cherheit Israels haben, sieht eine Mehrheit der Deut- sind ein wirklich neues und gutes Zeichen der Hoffnung. schen – nämlich 53 Prozent bis 63 Prozent – laut aktuel- Wenn diesbezüglich etwas in Bewegung geriete, wäre ler Untersuchungen inzwischen anders. Diese Mehrheit dies ein großer Fortschritt für die Region. sieht diese besondere Verantwortung Deutschlands für 1957 trafen sich der damalige Generalsekretär des den Staat Israel nicht mehr. Wir alle müssen gemeinsam israelischen Verteidigungsministeriums und der dama- daran arbeiten, dass sich dieser Eindruck nicht verfestigt. lige deutsche Verteidigungsminister heimlich bei Mün- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN chen. Es ging um die deutsche Unterstützung für Israel und bei der SPD) in einer ausgesprochen schwierigen und bedrohlichen Situation. Der damalige israelische Beamte ist heute Ich habe im Dialog mit Jugendlichen im Rahmen des Friedensnobelpreisträger und Präsident des Staates Is- Johannes-Rau-Stipendienprogramms erlebt, wie das rael. Schimon Peres erinnert sich; er schreibt: Wir kamen konkret geschehen kann. Dieses Programm ist eine sehr an, und wir fanden einen Mann mit einem sehr durchset- gute Sache. Ganz konkretes Erleben kann die Bilder in zungsstarken Geist und mit Überzeugung. Einen Mann, den Köpfen auf beiden Seiten verändern. Jugendliche der den Mut hatte, Israel tatkräftig zu helfen, als es Hilfe aus Israel, die zwei Wochen in Deutschland waren, sa- dringend brauchte. gen danach, dass sie ein ganz anderes Bild von den Dem Erbe von Franz Josef Strauß fühlt sich meine Deutschen gewonnen haben und dieses mit nach Hause Partei auch diesbezüglich aufs Engste verpflichtet. nehmen. So verändern sich auch Bilder von Deutschen, wenn sie in Israel sind und da ganz konkret erleben, wie (Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Ja, wir auch!) sehr die Schoah, der Holocaust, immer noch das israeli- sche Leben prägt und daher nach wie vor Grundlage der In uns hat Israel einen treuen – wenn es sein muss, bis- Beziehungen zwischen Israelis und Deutschen ist. weilen auch kritischen – Freund. Darauf ist Verlass. Daher will ich das heute, an diesem Tag, an dieser Vielen herzlichen Dank. Stelle noch einmal als dringliche Bitte äußern: Wir müs- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- sen auf allen Ebenen noch viel mehr Möglichkeiten für neten der SPD) einen solch intensiven Jugendaustausch schaffen. – Ich Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008 17133

Kerstin Müller (Köln) (A) denke, ich habe dafür die Unterstützung aller hier im Natürlich erwartet niemand von der Frau Bundes- (C) Hause. kanzlerin, dass sie in einer einmaligen Rede vor der Knesset, zumal zum 60. Geburtstag, die Agenda der (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Roadmap erklärt. Aber sich bei einem solchen Anlass so und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der fast ganz aus dem Friedensprozess herauszuhalten, das, CDU/CSU, der FDP und der LINKEN) meine ich, beschreibt den Beitrag und die Rolle, die 60 Jahre Israel, das ist die Geschichte eines eigenen Deutschland und die Europäische Union zu einem Frie- Staates, der für seine Bürgerinnen und Bürger, für viele den leisten können und sollten, völlig unzureichend. Jüdinnen und Juden in der ganzen Welt vor allem mit Deutschland und die EU könnten eine viel größere Rolle Blick auf die leidvolle Vergangenheit nicht selbstver- in der Vermittlung spielen. Diese Rolle müssen wir in ständlich ist; denn „60 Jahre Israel“ bedeutet leider auch der Zukunft dringend besser ausfüllen. heute noch die Suche nach Sicherheit, nach Normalität (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und nach einem friedlichen Leben ohne ständige Bedro- sowie bei Abgeordneten der LINKEN) hung. Ich habe selbst erlebt, wie existenziell diese Frage der Präsident Dr. Norbert Lammert: Sicherheit für die Menschen in Israel ist. Am Abend des Frau Kollegin. 1. Juni 2001, als einer der schrecklichsten Anschläge in Tel Aviv verübt wurde, nämlich auf eine Diskothek, das Kerstin Müller (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- „Dolphinarium“, bin ich gemeinsam mit NEN): dort angekommen. Wir haben dieses furchtbare Blutbad Ich komme zum Schluss. erlebt, bei dem 21 junge unschuldige Israelis im Alter von 14 bis 32 Jahren starben und über 100 verletzt wur- Wir sollten die Israeli ebenso wie die Palästinenser den. Es war ein Desaster. Es war absolut entsetzlich. Ich mit der Lösung des Konflikts ausdrücklich nicht allein- sage sehr deutlich: Jede demokratisch gewählte Regie- lassen. Entscheidende Voraussetzungen für die dauer- rung dieser Welt muss und wird alles versuchen, ihre Be- hafte Sicherheit Israels sind eine Akzeptanz durch die völkerung vor einem solchen Terror zu schützen. Nachbarn und die Verwirklichung einer Zweistaatenlö- sung. Gerade aus dieser Erkenntnis heraus wünschen wir Deshalb gilt: Solange Staaten wie Iran und Syrien das Israel zum 60. Geburtstag nichts sehnlicher, als gemein- Existenzrecht Israels nicht anerkennen, solange radikal- sam mit seinen Nachbarn den notwendigen Mut zum islamistische Palästinensergruppen wie die Hamas Isra- Frieden zu finden. els Zivilbevölkerung mit Anschlägen terrorisieren, so (B) lange wird diese Sicherheitsfrage für jede israelische Re- Vielen Dank. (D) gierung, ob links oder konservativ, zu Recht die Kern- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN frage in allen Friedensverhandlungen bleiben; da braucht und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der man sich keine Illusionen zu machen. CDU/CSU, der FDP und der LINKEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Ab- Präsident Dr. Norbert Lammert: geordneten der FDP und der LINKEN) Das Wort erhält nun der Kollege Thomas Oppermann, SPD-Fraktion. Spätestens seit ich den Terror in dieser Nacht konkret erlebt habe, treibt mich, wie viele hier auch, um, wie Thomas Oppermann (SPD): denn die Sicherheit Israels am besten erreicht werden kann. Die Mehrheit der Israelis weiß sehr wohl, dass Herr Präsident! Meine verehrten Kollegen und Kolle- langfristig nur eine friedliche Zweistaatenlösung, und ginnen! Ich freue mich, dass 60 Jahre nach der Grün- zwar entlang den 67er-Grenzen, mit allen Kompromis- dung des israelischen Staates die Aussichten für Frieden sen, etwa in der Siedlungsfrage, und nicht eine militäri- im Nahen Osten wieder etwas günstiger geworden sind. sche Lösung wirklich mehr Sicherheit bringen wird. Ge- Ich glaube, nichts ist Israel so sehr zu wünschen wie ein rade von uns wird wegen unserer besonderen dauerhafter friedlicher Ausgleich mit seinen Nachbarn Verantwortung zu Recht erwartet, dass wir auch die kri- und das Ende der Bedrohungen durch Raketenangriffe tischen Punkte des Nahost-Friedensprozesses anspre- und terroristische Selbstmordattentäter. chen, und zwar in beide Richtungen. Beilin, der Vorsit- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten zende der israelischen Meretz-Yachad-Partei und der CDU/CSU und der FDP) Hauptinitiator der Genfer Initiative, hat es so formuliert: Ein wirklicher Freund mischt sich in den Friedenspro- Die Sicherheit und Zukunft Israels ist Teil unserer zess ein. Das erwarten wir. politischen Identität; meine Vorredner haben das im Ein- zelnen dargelegt. Wir Deutschen haben ein besonderes Was sind die kritischen Punkte? Eine Zweistaatenlö- Verhältnis zu Israel, das sich aus unserer historischen sung und damit mehr Sicherheit für die Israelis wird es Verantwortung für den Holocaust ergibt. Aber Deutsch- nicht geben ohne Rückzug aus dem größten Teil der land und Israel verbindet nicht nur die Vergangenheit, Siedlungen, ohne einen Kompromiss in der Jerusalem- uns verbinden auch gemeinsame Wertvorstellungen. Frage und ohne Zugeständnisse in der Palästinenser-, in Unsere Staaten fußen auf dem gleichen Verständnis von der Flüchtlingsfrage. Freiheit, Recht und Demokratie. In einem Land, das in 17134 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008

Thomas Oppermann (A) seiner 60-jährigen Geschichte fast immer um seine Exis- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (C) tenz kämpfen musste und immer von Krieg und Terror der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE bedroht war, einen funktionierenden Rechtsstaat und GRÜNEN) eine freiheitliche Gesellschaft durchzuhalten, das, finde Es gibt viele Möglichkeiten, die guten Beziehungen ich, ist eine ganz besondere Leistung. Ich bin mir nicht zwischen Deutschland und Israel auszubauen. Die Kon- sicher, ob wir Deutschen das schaffen würden. takte zwischen den Regierungen und Institutionen sind (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten eng, vertrauensvoll und verlässlich. Wenn uns aber über der CDU/CSU) eine Umfrage der Forschungsgruppe Wahlen – Frau Müller hatte das schon erwähnt – zur Kenntnis gebracht Das sollten besonders jene bedenken, die in Deutsch- wird, dass 53 Prozent der Deutschen gegenüber Israel land unter linken Vorzeichen antizionistische Kritik an keine besondere historische Verantwortung mehr sehen Israel üben. Ich finde es bemerkenswert, dass Sie, Frau und diese Haltung bei den Jüngeren sogar noch stärker Pau, und auch Sie, Herr Gysi, sich mit dem Antizionis- ausgeprägt ist, dann müssen wir etwas tun. Die Freund- mus in Ihren Reihen kritisch auseinandersetzen wollen. schaft zwischen den Staaten muss immer auch durch Aber völlig inakzeptabel ist es, wenn Ihr außenpoliti- eine Freundschaft zwischen den Menschen untermauert scher Sprecher Verständnis für Raketenangriffe der werden. Hamas auf Israel äußert. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie der CDU/CSU und der LINKEN) bei Abgeordneten der FDP und des BÜND- NISSES 90/DIE GRÜNEN) Wir können den Jugendaustausch noch besser fördern oder Organisationen wie Aktion Sühnezeichen Friedens- Eine besondere Verantwortung für Israel wahrzuneh- dienste unterstützen, über die bisher schon 1 500 Men- men, heißt für mich auch, dass wir uns mit antisemiti- schen einen mehrmonatigen sozialen Friedensdienst in schen Tendenzen, in welcher Form auch immer sie Israel absolviert haben. Wir können auch kleine Initiati- erscheinen, auseinandersetzen und diesen unmissver- ven unterstützen wie das Willy-Brandt-Zentrum in Jeru- ständlich entgegentreten. Ich glaube, dass heute die salem, wo junge Deutsche, Israelis und Palästinenser große Mehrheit der Deutschen durch die kritische Auf- darüber debattieren, wie Frieden erreicht werden kann. arbeitung der nationalsozialistischen Judenverfolgung Solche zivilgesellschaftlichen Initiativen können helfen, gegen Antisemitismus immunisiert ist. Wenn aber eine den Frieden im Nahen Osten zu fördern und unsere neonazistische Partei wie die NPD ganz offen und un- Freundschaft mit Israel zu festigen; denn Freundschaft verblümt antisemitische Propaganda betreibt und dafür erwächst aus Verständnis, Verständnis aus Dialog und (B) auch noch auf staatliche Parteienfinanzierung zurück- Dialog aus Begegnung. Bauen wir also die Brücke für (D) greifen kann, stößt das nicht nur in Israel zu Recht auf die deutsch-israelische Freundschaft auch in die nächste Empörung. Generation! (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem Vielen Dank. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie geordneten der CDU/CSU) bei Abgeordneten der FDP, der LINKEN und In meiner Fraktion sind es vor allem die jüngeren Ab- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) geordneten, die sich auch jenseits der Außenpolitik für Israel interessieren, für ein modernes, kulturell faszinie- Präsident Dr. Norbert Lammert: rendes Land, das voller kreativer Impulse steckt. Das Wort erhält nun der Kollege Eckart von Klaeden, 65 Prozent der hochmotivierten jungen Menschen stu- CDU/CSU-Fraktion. dieren an den ausgezeichneten Universitäten und Tech- nischen Hochschulen des Landes. In Deutschland haben Eckart von Klaeden (CDU/CSU): wir große Mühe, einen Anteil von 40 Prozent zu errei- Herr Präsident! Meine Damen und Herren Kollegen! chen. Israel ist das Land mit der höchsten Ingenieurs- Die Diskussion über ein Land ist immer auch eine Dis- dichte auf der ganzen Welt. Es stellt sagenhafte kussion über unsere Beziehung zu diesem Land und da- 4,5 Prozent seines Bruttoinlandsproduktes für Forschung mit auch eine Diskussion über uns selbst. Das gilt in kei- und Entwicklung bereit. Während wir uns Mühe geben, nem Fall so sehr wie bei Israel, weil seine Existenz uns 3 Prozent zu erreichen, hat sich Israel für die nächsten auf Dauer an die deutsche Schuld für den Holocaust er- Jahre schon 10 Prozent als Zielmarke gesetzt. Die Folge innern wird. Deswegen haben diejenigen ein besonderes ist: Israel gehört zu den innovativsten Technologiestand- Problem mit der Existenz Israels, die mit dieser Schuld orten der Welt. Es gibt 3 000 Hightechunternehmen. Je- nicht umzugehen wissen oder nicht mit ihr umgehen des Jahr schaffen es 200 neue Start-ups in den Markt. wollen. Das gilt zunächst für die Antisemiten von rechts, Das ist eine inspirierende wirtschaftliche Dynamik, von auf die die Kollegin Pau und der Kollege Kuhn schon der sich auch viele deutsche Wissenschaftler und Unter- hingewiesen haben. Es gilt aber auch für die Antisemiten nehmer begeistern lassen. Nicht umsonst ist die von links, von denen der Kollege Oppermann gerade ge- deutsch-israelische Wissenschaftskooperation eine sprochen hat, die Antizionismus, Antisemitismus und der intensivsten zwischen den beiden Ländern. Es ver- Antiamerikanismus miteinander verbinden. Weiterhin bindet uns also nicht nur die Vergangenheit; es verbindet gilt es für einen leider auch in unserem Land zunehmen- uns auch die gemeinsame Gestaltung der Zukunft. den islamistisch motivierten Antisemitismus. Diese Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008 17135

Eckart von Klaeden (A) Antisemitismen verbinden sich miteinander und neh- Ich nenne ein weiteres Beispiel. So richtig es ist, die (C) men aufeinander Bezug, wenn zum Beispiel der irani- israelische Siedlungspolitik und den Verlauf des Grenz- sche Präsident Ahmadinedschad das Existenzrecht Isra- zauns zu kritisieren, so falsch und antisemitisch ist es, els und den Holocaust leugnet, eine Terrororganisation diesen Sicherheitszaun, wie man es häufig hört, mit der wie die Hamas unterstützt und wenn gleichzeitig der ter- Berliner Mauer gleichzusetzen. An der Berliner Mauer roristische Charakter der Hamas verniedlicht oder ge- wurden friedliche Bürger, die ihr Land verlassen woll- leugnet wird. ten, ermordet; am Sicherheitszaun aber werden Selbst- mordattentäter daran gehindert, nach Israel zu gelangen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Gert Weisskirchen [Wiesloch] [SPD]) (Beifall bei der CDU/CSU) In dieser Diskussion wird – ich glaube, das ist einer Richard Herzinger hat in der Welt am Sonntag vom der Gründe für die Ergebnisse der Umfrage, die Sie, 4. Mai dieses Jahres zu Recht folgende Fragen gestellt: Herr Oppermann, gerade zitiert haben – häufig persönli- Wäre man gegenüber dem Existenzrecht des jüdi- che Schuld mit politischer Verantwortung aus der Ge- schen Staates etwa weniger entschieden, hätte es schichte verwechselt. Das gilt insbesondere für die jun- den Holocaust nicht gegeben? Solidarisiert man gen Menschen. Viele verstehen, wenn sie nach einer sich mit Israel etwa nur aus schlechtem historischen besonderen politischen Verantwortung gefragt werden, Gewissen, nicht aber, weil das heutige Israel an sich das als Frage nach ihrer persönlichen Schuld und vernei- unbedingt verteidigungswert ist? nen es deshalb. Aber es gibt auch das Phänomen, dass Antisemiten und Extremisten diese Verwechslung oder Damit bringt er zu Recht zum Ausdruck, dass unsere So- dieses Missverständnis bewusst instrumentalisieren, um lidarität mit Israel auch und vor allem eine Frage unserer es als Einfallstor für antisemitische und antiisraelische Selbstachtung als Demokraten ist. Aufgrund dieser Soli- Argumentation in der Mitte unserer Gesellschaft zu nut- darität müssen wir den Worten auch Taten folgen lassen. zen. Dafür will ich ein paar Beispiele nennen. Israel ist ein Land mit einer außerordentlich schwieri- Das geläufigste „Argument“ ist, man dürfe Israel gen Nachbarschaft; darauf haben andere Redner schon nicht kritisieren. Das ist barer Unsinn; denn kein Land hingewiesen. Unmittelbar nach seiner Gründung ist es wird in unserem Land so sehr kritisiert wie Israel. Die von seinen arabischen Nachbarn mit dem Ziel angegrif- Beispiele sind hier schon genannt worden. fen worden, es zu vernichten. Wenn wir uns die Frie- densverträge anschauen, die Israel geschlossen hat, so Ein weiteres „Argument“ ist, die Existenz Israels an können wir den bemerkenswerten Umstand feststellen, sich sei Ursache für das palästinensische Leid. Da fand dass Israel nur mit solchen Nachbarn Friedensverträge ich, Frau Kollegin Pau, Ihre sonst gerade vor dem Hin- hat, die selber über ein Gewaltmonopol – oder jedenfalls (B) tergrund der Geschichte Ihrer Partei bemerkenswerte über ein einigermaßen ausgebildetes Gewaltmonopol – (D) Rede etwas verkorkst. Denn von der Gründung Israels verfügen wie Jordanien und Ägypten. Es gibt aber keine als einem immer noch blutenden „Kaiserschnitt“ zu Friedensverträge mit Staaten, in denen das Gewaltmono- sprechen, halte ich für ein falsches Bild pol nicht geregelt ist, wie zum Beispiel in den palästi- nensischen Territorien oder im Libanon. (Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Das war ein Zitat, Herr Kollege!) Es ist eine Politik Arafats gewesen, dieses Gewaltmo- nopol zu verhindern. Nach dem Motto „divide et im- – ich weiß –, auch wenn dieses Zitat von einem Israeli pera“ hat er die Milizen seines eigenen palästinensischen stammt. Von dieser Argumentation ist es nur ein kleiner Volkes gegeneinander ausspielen können. Gerade des- Schritt zu dem „Argument“ – ich sage nicht, dass Sie es wegen ist die Initiative der Bundesregierung – jetzt sich zu eigen gemacht haben –, das der iranische Präsi- komme ich zu den Taten –, sich um den Aufbau der pa- dent Ahmadinedschad immer wieder anführt, nämlich lästinensischen Polizei zu bemühen und dafür zu sorgen, dass die Gründung des Staates Israel die Folge deutscher dass es zu der Ausbildung eines Gewaltmonopols auch Schuld und des Holocaust sei und der Staat Israel deswe- in den palästinensischen Territorien kommen kann, so gen nach Europa verlegt werden müsse. wichtig für die Friedensfähigkeit der palästinensischen (Bodo Ramelow [DIE LINKE]: Genau das hat Seite. Nur so kann ein verlässlicher Frieden erreicht wer- sie nicht gesagt! – Dr. [FDP]: den. Na!) Ich glaube, wir haben noch einen langen Weg zum Das ist gerade falsch. Die Gründung des Staates Israel Frieden vor uns. Gerade vor dem Hintergrund unseres und seine moralische Legitimation als jüdischer Staat Engagements im Rahmen des UNIFIL-Mandates ist sind in dem Holocaust begründet. Aber das Existenz- Europa heute im Nahen Osten mehr gefragt als je zuvor. recht Israels ist nicht allein durch die deutschen Verbre- Das begründet für uns neben der historischen auch eine chen begründet. besondere neue deutsche Verantwortung. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie Ein anderes „Argument“, das immer vorgebracht bei Abgeordneten der FDP und des BÜND- wird, ist, die Juden behandelten die Palästinenser wie die NISSES 90/DIE GRÜNEN) Nazis die Juden. Es wird auch von einem Vernichtungs- krieg der Israelis gegen die Palästinenser gesprochen. Wer so argumentiert, versucht, dem israelischen Staat Präsident Dr. Norbert Lammert: seine moralische Legitimationsgrundlage zu entziehen, Zum Schluss dieser Debatte erhält der Kollege Gert und stellt damit das Existenzrecht Israels infrage. Weisskirchen für die SPD-Fraktion das Wort. 17136 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008

(A) Gert Weisskirchen (Wiesloch) (SPD): che Entwicklung des Nationalstaats hin zum Nationalis- (C) Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der mus gefunden wurde. Ich bin heute dankbar dafür – wir jüdische Staat Israel, so sagt Claude Lanzmann, ist der alle sind es –, dass die Vereinten Nationen dies zuvor be- Unmöglichkeit abgetrotzt worden. Tel Aviv, der Früh- schlossen hatten. Wir sind glücklich darüber, dass es den lingshügel, wird im nächsten Jahr 100 Jahre alt. Das jüdischen Staat Israel gibt. Er ist nämlich am Ende, wenn heißt, die Geschichte Israels beginnt nicht erst mit der es nicht anders geht, die einzige Zuflucht für diejenigen, Unabhängigkeitserklärung; sie ist 2000 Jahre alt. die in der Diaspora sind. Weil Auschwitz immer möglich sein kann – dies ist vorhin gesagt worden –, brauchen Tel Aviv, so lautet, ins Hebräische übersetzt, der Titel alle Juden dieser Erde die Chance, in den jüdischen Staat des utopischen Romans von Theodor Herzl, dem er im Israel zu gehen, wenn es denn lebensnotwendig ist. Das Deutschen den Titel „Altneuland“ gab. Herzl führte ist die Existenzberechtigung dieses Staates. Ende des 19. Jahrhunderts in seinem Konzept die natio- nalen Gründungsideen Europas auf. Was war damals, (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Ende des 19. Jahrhunderts, in Europa die Sorge? Der der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE wachsende Antisemitismus – wie manchmal auch heute GRÜNEN) wieder. Dies scheint also leider so etwas wie ein fester Wir sind dafür, dass wir das Existenzrecht Israels Bestandteil der europäischen Staaten zu sein – und nicht schützen, stärken und zur Staatsräson erklären, nicht, nur der europäischen. Im Zeitalter des Nationalstaates, weil es sich bei Israel um irgendeinen Nationalstaat han- sagte Theodor Herzl, sei es nötig, eine zionistische Ant- delt, sondern weil Juden eine Überlebensversicherung wort auf die damalige Frage zu geben. Die Antwort hieß: brauchen, wenn sie bedroht werden, wenn der Antisemi- den Weg zum jüdischen Staat zu öffnen. tismus – wo auch immer – explodiert. Sie brauchen die- Das war übrigens, wenn man noch einmal auf das sen Staat. Deshalb ist es Staatsräson der Bundesrepublik 19. Jahrhundert zurückblickt, eine Antwort auf die miss- Deutschland, mit dafür zu sorgen, dass dieser Staat le- lungenen Versuche nach der Aufklärung, die jüdische bensfähig ist, dass er Kraft hat, dass er die Fähigkeit be- Emanzipation mit der Demokratie und der Modernisie- sitzt, sich zu wehren, und in der Lage ist, sich mit den rung zu verknüpfen. Dieser Versuch war leider am Ende Ländern dieser Erde zu verbinden, die mit Israel gemein- des 19. Jahrhunderts nicht gelungen. Danach konnte der sam dafür kämpfen, dass die Mittelmeerregion – man Nationalismus übrigens bis in die Mitte des letzten Jahr- sagt Mare Nostrum und meint das Meer, das uns verbin- hunderts – historisch gesehen hat das leider so lange ge- det – durch eine Sicherheitspartnerschaft verbunden dauert – gegenüber der Emanzipation und dem Gedan- wird. ken der Aufklärung triumphieren. Wir stehen also vor einem Versuch in Israel, europäisches Denken in einer Präsident Dr. Norbert Lammert: (B) Region zu realisieren, was deshalb hochgradig gefährdet Herr Kollege Weisskirchen, bitte. (D) ist, weil diese Region selbst frei ist von den Gedanken der Aufklärung und der Emanzipation. Gert Weisskirchen (Wiesloch) (SPD): Juden waren es zuerst im 19. Jahrhundert, die dieses Die Europäische Union hat eine ganze Menge Instru- Beben gespürt haben, das schließlich zum Holocaust ge- mente zur Verfügung. Es wäre unsere Aufgabe, mitzu- führt hat. Sie haben gespürt, dass der Boden unter ihnen helfen – auch das sollte zur Staatsräson gehören –, dass wankt. Die Angst der sich ethnisch säubernden, reini- die Europäische Union ein Angebot an Israel erarbeitet, genden Nationalstaaten ist ganz schnell bei der jüdischen infolge dessen Israel irgendwann die Chance hat, selbst- Minderheit deutlich geworden. Sie haben viel früher als ständiger Bestandteil des gemeinsamen Raumes Europa alle anderen gespürt, dass da etwas heranrückt: der Ge- zu sein. Ich finde, das wäre eine gute Aufgabe für die danke, der aus der Aufklärung kommt, der dann in den Zukunft. sich reinigenden Nationalstaat führt und der dann die jü- dische Minderheit auszuschließen begann, aus der natio- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie nalen Gemeinschaft ausstieß. bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Ich will heute daran erinnern, dass es im Reichstag so- zialdemokratische Abgeordnete jüdischer Geburt und Glaubenszugehörigkeit gab, die bis zum Schluss dagegen Präsident Dr. Norbert Lammert: angekämpft haben, dass der Versuch der Reinigung des Ich schließe die Aussprache. Nationalstaates von Minderheiten, der dann nachher er- Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 4 a und 4 b kennbar in die Nazidiktatur führte, stattfand. Ich erinnere auf: an Rudolf Hilferding, der bei Karl Kautsky mitgearbeitet hat. Ich erinnere an Ludwig Marum aus Karlsruhe, der lei- a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre- der in einem der frühen Konzentrationslager erdrosselt gierung worden ist. Ich erinnere an einen Berliner Abgeordneten, an Kurt Löwenstein, der die Kinderrepublik unterstützt Bundesbericht Forschung und Innovation 2008 hat. Er war ein großer Bildungspolitiker in der Stadt Ber- – Drucksache 16/9260 – lin. Sie alle haben deutlich gemacht: Sie wollten diesen Überweisungsvorschlag: Versuch mit der Kraft ihrer eigenen Persönlichkeit verhin- Ausschuss für Bildung, Forschung und dern. Es ist ihnen nicht gelungen – leider. Technikfolgenabschätzung (f) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Die Unabhängigkeit Israels im Mai 1948 war, wie ich Verteidigungsausschuss finde, die einzige richtige Antwort, die auf diese gefährli- Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008 17137

Präsident Dr. Norbert Lammert (A) Ausschuss für Gesundheit mit dem Ziel der Stärkung der Innovationskraft auf dem (C) Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Gebiet Technologieentwicklung beizutragen. Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Kultur und Medien (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre- Die Ausgaben im Bereich Forschung und Entwick- gierung lung sind von 2005 bis 2008 um 2,1 Milliarden Euro ge- Gutachten zu Forschung, Innovation und stiegen. Das ist immerhin ein Aufwuchs um 24 Prozent. technologischer Leistungsfähigkeit 2008 Wir investieren seitens des Bundes mittlerweile über 11 Milliarden Euro. Das ist ein wichtiges Signal für die – Drucksache 16/8600 – anderen Partner. Ich nenne namentlich die Länder und Überweisungsvorschlag: die Unternehmen. Klar ist: Das 3-Prozent-Ziel wird Ausschuss für Bildung, Forschung und nicht allein durch Investitionen des Bundes erreicht. Wir Technikfolgenabschätzung (f) Sportausschuss brauchen entsprechende Entwicklungen in allen 16 Län- Ausschuss für Wirtschaft und Technologie dern und in den Unternehmen in Deutschland. Wir stre- Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ben seitens des Bundes für 2008 einen Anteil von Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit 2,7 Prozent am BIP an. Unser Beitrag zur Erreichung Ausschuss für Kultur und Medien unseres Ziels stimmt. Im Haushalt 2009 streben wir eine Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für weitere Stufe an. Sie wissen, dass die Haushaltsverhand- diese Aussprache 75 Minuten vorgesehen. – Ich höre lungen gerade laufen. keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Deutschland bewegt sich damit in der Spitzengruppe Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der in Europa. Es wird darauf geschaut, wie der Weg Bundesministerin Dr. Annette Schavan. Deutschlands als starker Partner in der Europäischen Union aussieht, die ihrerseits viel tun muss, um im in- Dr. Annette Schavan, Bundesministerin für Bil- ternationalen Wettbewerb um Wachstum, Beschäfti- dung und Forschung: gung und Innovationen zu bestehen. Wer die Entwick- Sehr verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und lungen in Indien, China und Japan kennt, der weiß, dass Kollegen! Meine Damen und Herren! Die Hightech- es in Europa insgesamt mehr Leidenschaft mit Blick auf Strategie der Bundesregierung – das ist eine der zentra- Innovationen im Bereich Forschung und Entwicklung len Aussagen des Bundesberichtes Forschung und Inno- geben muss. Wir haben ein gutes 7. Forschungsrahmen- vation 2008 – besitzt eine hohe Mobilisierungswirkung. programm. Wer sich aber die Subventionen der Europäi- Ich stelle diese Bemerkung bewusst an den Anfang mei- schen Union ansieht, kommt nicht auf die Idee, dass aus- (B) (D) ner Berichterstattung, weil uns die Frage, ob dieses Kon- reichend Innovationsleidenschaft in Europa vorhanden zept, das wir miteinander entwickeln, geeignet ist, um ist. Investitionen in dem Bereich Forschung und Entwick- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie lung zu mobilisieren und das Innovationsklima in der Abg. Ulrike Flach [FDP]) Deutschland zu verbessern, sowohl im Ausschuss als auch im Plenum beschäftigt hat. Die Aussage, dass sich Wir haben bereits eine gute Wegstrecke zurückgelegt das Innovationsklima deutlich verbessert hat, gehört mit Blick auf Investitionen und die konzeptionelle Kraft, ebenfalls zu den zentralen Aussagen des Berichts. Das die damit verbunden ist, und auch hinsichtlich der Fach- wird auch bei Unternehmensumfragen deutlich. kräfte sowie der jungen Wissenschaftlerinnen und Wis- senschaftler der nächsten Generation. Jetzt besteht un- Wir haben einen Zuwachs an hochqualifizierten Ar- sere Aufgabe darin, dafür Sorge zu tragen, dass das beitsplätzen im Bereich Forschung und Entwicklung. Erreichte nicht Episode bleibt, sondern Verstetigung er- Die Unternehmen haben ihren Anteil an Investitionen im fährt. Die Haushaltsverhandlungen 2009 sind hierfür ein Bereich Forschung und Entwicklung erhöht; für den Praxistest; das gilt aber auch für andere Themen und Zeitraum zwischen 2005 und 2008 verzeichnen wir ei- Weichenstellungen, an denen wir gemeinsam arbeiten. nen deutlichen Zuwachs des Bundesanteils. Wir halten am 3-Prozent-Ziel fest. Wir sind davon überzeugt, dass Ich will über die Prioritäten sprechen. Wer sich die das eine zentrale Quelle für mehr Wachstum und Be- Frage stellt, welches in der nächsten Dekade internatio- schäftigung ist. nal die zentralen Stichworte im Bereich Forschung sein werden, der kommt zuallererst auf die beiden großen (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Stichworte Energie und Gesundheit. Beide Regierungsfraktionen sind fest davon über- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und zeugt – das gilt seit Abschluss des Koalitionsvertrages –, der SPD) dass diese Entwicklung als Teil der Lissabon-Strategie in vielerlei Hinsicht zu Verbesserungen im Wissen- Auf diesen Gebieten werden wir an einer internationalen schaftssystem führen wird. Sie wird zu neuen Allianzen Forschungsagenda arbeiten; viele Wissenschaftszweige, und Kooperationen zwischen Wissenschaft und Wirt- Fakultäten und ganz unterschiedliche technologische schaft führen. Das gilt nicht zuletzt mit Blick auf die Entwicklungen im Bereich Energie und Gesundheit sind Weiterentwicklung der Internationalisierung; denn die davon betroffen. Wir sind gerade dabei – Stichwort De- Hightech-Strategie ist als Teil einer europäischen Strate- menzzentrum –, strukturelle Weiterentwicklungen in der gie geeignet, zu noch mehr internationaler Kooperation Gesundheitsforschung voranzubringen. Deshalb ist es 17138 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008

Bundesministerin Dr. Annette Schavan (A) richtig, dass wir, was die Themen Klima- und Ressour- Wegstrecke hinter uns gebracht. Jetzt geht es darum, (C) censchutz und Energie angeht, einen Aufwuchs der Mit- eine Verstetigung zu erreichen und das Potenzial, das tel in Höhe von 23 Prozent und, was den Bereich Ge- entstanden ist, weiter auszubauen. sundheit und Medizintechnik anbetrifft, einen Aufwuchs in Höhe von 15 Prozent haben. Das sind unsere Flagg- Sie wissen, welche die weiteren Schritte sind; sie alle schiffe. Übrigens gibt es in beiden Bereichen – ich nenne sind schon angesprochen worden. Es geht um die Fra- nur das DKFZ in Heidelberg – neu entstehende interes- gen: Wie können wir das Steuersystem als Teil des Inno- sante Kooperationen auf europäischer Ebene und inter- vationssystems weiterentwickeln? Wie setzen wir An- national. reize für kleine und mittlere Unternehmen, in Forschung und Entwicklung zu investieren? Das Jahr 2008, meine Ich nenne als weiteres Beispiel, weil es hier einen be- Damen und Herren, wird das Jahr sein, in dem wir die sonders interessanten Beschäftigungszuwachs gibt, die Weichen für die nächsten Jahre stellen müssen. optischen Technologien. Auch hier erweist sich Deutschland immer mehr als ein interessanter internatio- Vielen Dank. naler Partner. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Wenn wir eine gute Weiterentwicklung wollen, müs- sen wir uns jetzt vor allem um die kleinen und mittel- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: ständischen Unternehmen kümmern. Wir alle kennen die Die Kollegin Cornelia Pieper hat jetzt das Wort für besondere Situation, es gibt ein großes Innovations- die FDP-Fraktion. potenzial. 65 Prozent dieser Unternehmen gelten als (Beifall bei der FDP) mögliche Innovationsträger. Deshalb ist es wichtig, dass wir auch hier umgestellt haben. Wir haben die Mittel für diesen Bereich um 20 Prozent auf rund 750 Millionen Cornelia Pieper (FDP): Euro erhöht, und es wird weitere Steigerungen geben. Frau Präsidentin! Frau Ministerin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es liegt in unserer Hand, ob Deutschland Mindestens so wichtig wie die Erhöhung der Mittel als führender Forschungs- und Industriestandort auch ist das Beratungswesen, die zentrale, ressortübergrei- künftig als Schrittmacher in Forschung, Entwicklung fende Beratungsstelle für alle Fragen zur Forschungs- und Innovation auftritt, und es ist noch nicht zu spät, die und Innovationsförderung des Bundes. Denn kleine und Weichen hin zu einem effizienten Forschungs- und Inno- mittelständische Unternehmen haben keine eigenen Ab- vationssystem zu stellen. teilungen, die sich mit allen Forschungsprogrammen be- schäftigen können. Deshalb wird es wichtig sein, über (Jörg Tauss [SPD]: Die Weichen sind längst (B) alle beteiligten Häuser den Zugang für kleine und mitt- gestellt! – René Röspel [SPD]: Genau! Ihr (D) lere Unternehmen kontinuierlich zu verbessern. Wir stellt die Harten, wir stellen die Weichen!) brauchen offene Programme. Deutschland liegt bei den Ausgaben für Forschung Wir müssen uns auf die Entwicklungsideen der Unter- und Entwicklung mit rund 59 Milliarden Euro im nehmen einstellen und dürfen nicht schon vorab festle- OECD-Vergleich auf Platz drei, hinter den USA und Ja- gen, was überhaupt gefördert werden kann. pan und deutlich vor Frankreich, Großbritannien und Schweden. Aber weltweit – Frau Ministerin hat das zu (Beifall des Abg. Ernst Hinsken [CDU/CSU] Recht gesagt – ist eine Aufholjagd ungeheuren Ausma- und der Abg. Ulrike Flach [FDP]) ßes eingeleitet, angetrieben von China und Indien. Die Ideen vor Ort müssen zum Tragen kommen. Nur Indien gehört heute zu den Top Ten der Weltrangliste. dann können wir die Innovationskraft der KMU stärken. China hat uns als Exportweltmeister längst überholt. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Beide Länder haben ein mehr als 10-prozentiges Wirt- neten der SPD und der Abg. Ulrike Flach schaftswachstum. Schwellenländer wie Indien und [FDP]) China, aber auch die Schwellenländer in Südamerika ho- len in einem rasanten Tempo nach, was sie bei For- – Ich freue mich, dass das Frau Flach außerordentlich schung und Entwicklung in den letzten Jahren versäumt gut gefällt. haben. Ein „Weiter so“, meine Damen und Herren, darf (Heiterkeit bei Abgeordneten der FDP) es auch nach den Empfehlungen der unabhängigen Ex- pertenkommission „Forschung und Innovation“ nicht Ich habe dieses Beispiel genannt, hätte aber auch geben. Deswegen meinen auch wir, die Liberalen: Die viele andere Beispiele anführen können. Denn uns allen Bundesregierung muss bei diesem Thema ein viel höhe- ist völlig klar: Es geht nicht nur um Geld, sondern es res Tempo als bisher vorlegen. geht auch um die Weiterentwicklung von Strukturen und Konzepten. Die Hightech-Strategie ist der Inbegriff des- (Beifall bei der FDP) sen, was wir im Hinblick auf neue Innovationsallianzen In dem Sachverständigengutachten steht diesbezüg- und im Hinblick auf das Wissenschaftssystem erreichen lich folgender Schluss: Die internationalen Herausforde- wollen. Ich verweise an dieser Stelle nur auf das KIT; rungen an unser gesamtes Wissenschaftssystem sind in auch hier geht es weiter. den alten Strukturen staatlicher Aufsicht und Detailsteu- Wir haben zwischen 2005 und 2007 in struktureller, erung so nicht mehr zu bewältigen. – Das heißt, wenn konzeptioneller und finanzieller Hinsicht eine wichtige wir im Wettbewerb um die besten Köpfe wirklich als at- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008 17139

Cornelia Pieper (A) traktiver Wissenschaftsstandort bestehen wollen, dann genehmigungen für Hochqualifizierte aus dem Ausland (C) brauchen wir nicht nur mehr Investitionen in Bildung und ihre Familien gehören ebenfalls dazu. und Forschung. (Beifall bei der FDP) Es geht nicht allein um Geld. Zuallererst geht es nach unserer Auffassung auch um mehr Freiheit für die Hier fordere ich die Bundesregierung auf, endlich zu Hochschulen und Forschungseinrichtungen selbst. handeln und nicht nur zu reden. (Beifall bei der FDP sowie der Abg. Priska Meine Damen und Herren, die Große Koalition steht Hinz [Herborn] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- sich offensichtlich selbst auf den Füßen und ist auf der NEN]) Schlussetappe der Wahlperiode auch in forschungspoliti- scher Sicht einfach handlungsunfähig. Dazu kann ich nur sagen: Frau Ministerin, in diesem Punkt hat uns die Bundesregierung gerade in dieser bzw. (Beifall bei Abgeordneten der FDP) in der letzten Woche eine Bauchlandung par excellence vorgemacht. Die Zahlen des Stifterverbandes für die Deutsche Wis- senschaft haben uns vor Augen geführt: Wenn wir im in- (Beifall der Abg. Ulrike Flach [FDP] und ternationalen Wettbewerb bestehen wollen, müssen wir Priska Hinz [Herborn] [BÜNDNIS 90/DIE die Forschungsinvestitionen von Bund und Ländern stei- GRÜNEN]) gern und vor allen Dingen auch mehr Anreizsysteme für die Wirtschaft schaffen, die ja zwei Drittel des dreipro- Sie haben ein Wissenschaftsfreiheitsgesetz angekündigt zentigen Anteils am Bruttoinlandsprodukt für die For- und sind durch Ihren Koalitionspartner – Ihre Kollegen schungsausgaben erbringen soll. aus der SPD –, der, wie wir wissen, noch nie viel von Freiräumen für die Wissenschaftseinrichtungen gehal- (Jörg Tauss [SPD]: Gewinne sind offenbar ein ten hat, blockiert worden. guter Anreiz!) (Beifall bei der FDP sowie der Abg. Priska Meine Damen und Herren von der Regierungskoali- Hinz [Herborn] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- tion, Ihr bürokratisches System für die Forschungsprä- NEN] – Jörg Tauss [SPD]: Na, na, na! Un- mie glaublich! Jetzt rege ich mich fast auf!) (Ulrike Flach [FDP]: Ist ein Flop!) Die SPD setzt auf Regulierungswut, die der Wissen- schaft und der Wirtschaft nur schaden kann. Das ist mit hat letztendlich dazu geführt, dass bisher nur 20 Prozent der Haushaltsmittel abgerufen wurden. Wir haben darauf (B) uns nicht zu machen. (D) gedrängt, dass Sie keine bürokratischen Hürden mit (Beifall bei der FDP) Ober- und Untergrenzen aufstellen, sondern dass Sie Statt eines Gesetzes wollen Sie nun Verwaltungsvor- diese Forschungsprämie freigeben und ein unbürokrati- schriften vorlegen und in fünf Jahren noch einmal da- sches Antragsverfahren einführen. Auch damit haben rüber nachdenken, ob es nicht doch ein Wissenschafts- Sie aus meiner Sicht eine Bauchlandung erlitten. freiheitsgesetz geben kann. Ich finde das Ganze nur (Beifall bei der FDP) lächerlich. Frau Ministerin, nehmen Sie sich ein Beispiel an Nordrhein-Westfalen, Ich fordere Sie auf, auch hier zu handeln, und will noch einmal daran erinnern: Es ist nicht alles Gold, was (Jörg Tauss [SPD]: Um Gottes Willen!) glänzt. Fakt ist auch: Seit 2000 ist die Wachstumsrate wo der Innovationsminister ein Hochschulfreiheitsgesetz der FuE-Intensität in Deutschland und Europa rückläu- eingebracht hat. Das ist der richtige Weg. Das bedeutet fig. Wir müssen hier mehr tun. Ich ermahne uns ernst- Tempo. haft, auch über eine steuerliche Förderung der For- schung nachzudenken, wie das die meisten OECD- (Beifall bei der FDP – Christel Humme [SPD]: Staaten tun. Wir brauchen mehr Anreize für die Wirt- Das ist Rückschritt!) schaft, mehr in Forschung und Entwicklung zu investie- Wir brauchen ein positives Forschungsklima und ren. müssen von den ideologischen Debatten wegkommen. Ich kann uns und besonders der Bundesregierung nur Deswegen haben wir als FDP-Bundestagsfraktion be- raten: Nur wer wagt, gewinnt. Handeln Sie! Deutschland reits im Januar hier einen Antrag vorgelegt, mit dem wir muss Spitze in der Forschung bleiben. Sie auffordern, ein Wissenschaftsfreiheitsgesetz einzu- bringen. Wir brauchen mehr Freiheit für die Forschungs- Vielen Dank. einrichtungen. Wir wollen Globalhaushalte eingeführt sehen. Wir wollen die Abkehr von der kameralistischen (Beifall bei der FDP) Haushaltsführung. Der Vergaberahmen, durch den die Leistungsbezüge in der Professorenbesoldung gedeckelt Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: werden, muss fallen. Die Alterssysteme der Forschungs- Jetzt hat der Kollege René Röspel für die SPD-Frak- einrichtungen in Deutschland müssen finanziell attrakti- tion das Wort. ver gestaltet werden. Ich glaube auch, die Altersgrenze muss fallen. Unbürokratische Aufenthalts- bzw. Arbeits- (Beifall bei der SPD) 17140 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008

(A) René Röspel (SPD): haben, ausmacht. Deswegen ist es sehr gut, dass die (C) Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Bundesregierung und die Große Koalition schon vor ei- Herren! Nach zehn Jahren sozialdemokratischer For- nigen Jahren begonnen haben, in die Spitzentechnologie schungspolitik in Verantwortung und – wie jetzt – Mit- zu investieren und damit diese neuen Pferde zu satteln. verantwortung steht Deutschland gut da. Frau Pieper, Sie Das ist mit der Hightech-Strategie und den dabei vorgese- haben in Ihrem Schlusssatz ja gesagt, dass sich Deutsch- henen Innovationsallianzen in den Bereichen Gesundheit, land bei der Forschung tatsächlich an der Spitze bewegt. Mobilität, Luft- und Raumfahrt und der Entwicklung neuer Elektromobile und Brennstoffzellen gelungen. Ich (Cornelia Pieper [FDP]: Richtig! – Ulrike Flach will das nicht näher ausführen, weil Frau Ministerin [FDP]: Aber wer weiß, wie lange noch!) Schavan bereits sehr ausführlich und gut darauf einge- Das ist zwar kein wörtliches Zitat aus dem Gutachten zu gangen ist. Mit der Zielsetzung, die Entwicklung neuer Forschung, Innovation und technologischer Leistungsfä- Energiespeicher, Leuchtdioden, Beleuchtungssysteme, higkeit, aber es ist eine gute Quintessenz. Elektronik und Fotovoltaik anzuregen und zu fördern, haben wir den ersten Schritt gemacht. Eine Bemerkung zu Ihren Ausführungen, Frau Pieper, sei mir erlaubt. Im Gutachten wird auch festgestellt – ich zitiere –: (Cornelia Pieper [FDP]: Jede!) Die Mobilisierung innovativer Kräfte in Deutsch- Es ist sicherlich Recht und Aufgabe der Opposition, Kri- land scheint … zu gelingen. tik zu üben und miesepetrig zu sein, aber dazu gehört (Beifall bei der SPD) manchmal auch, ehrlich in die Vergangenheit zurückzu- blicken. Im Gutachten wird festgestellt, dass Deutsch- Das ist die erste Prognose. Das heißt, wir haben recht land sich bis Mitte der 80er-Jahre in Forschung und mit der Hightech-Strategie und dem, was wir machen. Entwicklung eine Spitzenposition unter den Industrie- Allerdings – es geht nicht nur um Selbstlob, sondern ländern erarbeitet hatte, diese Dynamik zu Beginn der auch um Selbstkritik – gibt es Bereiche, in denen wir 90er-Jahre aber jäh abbrach und erst Ende der 90er-Jahre stärker investieren müssen. Dazu gehören die Bereiche erneut einsetzte. Umwelt, Klima und Nachhaltigkeit. Darin sind wir be- (Beifall bei der SPD) reits stark. Wir sind Weltmarktführer im Technologie- und Patentbereich bei Solar- und Windenergie. Aber es Man kann das so übersetzen, dass Sie als FDP nur gibt noch viel mehr Potenzial, das gehoben und geför- einmal an einer erfolgreichen Forschungspolitik beteiligt dert werden muss. Deswegen müssen wir an dieser waren. Das war zu Zeiten der sozialliberalen Koalition. Stelle nachlegen. Das ist gar keine Frage. (B) Aber auch da wurden alle Forschungsminister von der (D) SPD gestellt. Die Dynamik, die Sie in Ihrer Koalitions- Das Gutachten regt auch an – auch damit müssen wir zeit im Bund abgewürgt haben, wie es im Gutachten uns befassen –, dass Forschung und Investitionsförde- festgestellt wird, haben wir erst unter Rot-Grün wieder rung des Bundes generell verstärkt auf Spitzentechnolo- aufgenommen und setzen sie jetzt mit Frau Schavan und gien auszurichten sei. Wir müssen den Blick darauf rich- Finanzminister Steinbrück mit einem guten Etat fort. ten, inwieweit das bisher erfolgt. (Beifall bei der SPD – Zuruf von der FDP: Das Das Gutachten weist auch darauf hin, dass der größte war ein wertvoller Hinweis!) Beschäftigungszuwachs in den letzten Jahren im Bereich – Lesen Sie das Gutachten! Das stammt nicht von mir, der wissensintensiven Dienstleistungen erfolgt ist. Das sondern von der unabhängigen Kommission. spiegelt den Strukturwandel zur Dienstleistungsgesell- schaft wider, den wir vollziehen. Deshalb war es gut Deutschland ist immer noch Exportweltmeister. – darauf wird Kollege Hagemann als Haushaltspolitiker 2005 hat Deutschland forschungs- und entwicklungsin- vielleicht eingehen –, dass die SPD in den Haushaltsbe- tensive Waren im Wert von 430 Milliarden Euro expor- ratungen Bereiche wie Arbeit, Kompetenzentwicklung tiert. Deutschland war damit vor Japan und den USA und innovative Dienstleistungen gegen die Kürzungs- weltweit führender Technologieexporteur. Den Großteil vorschläge der anderen Fraktionen verteidigt hat. der exportierten Waren machten allerdings die soge- nannten hochwertigen Technologiegüter aus. Automo- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) bilbau, Maschinenbau, Chemie und Pharmazie sind, wie Deutschland ist ein guter Forschungsstandort. Auf wir wissen, seit Jahren Deutschlands Zugpferde im Ex- Seite 24 des Gutachtens ist zu lesen: port, in der Wissenschaft und in der Technologie. Zug- pferde muss man pflegen. Aber man muss auch bereit Deutschland ist nach den Vereinigten Staaten welt- sein und die Weitsicht haben, umzusatteln. Wenn die weit der größte Forschungsstandort für ausländi- Zugpferde irgendwann nicht mehr funktionieren oder zu sche Unternehmen. alt sind, dann muss man gute neue Pferde im Stall haben, Entgegen den Unkenrufen – beispielsweise seit Jah- auf die man umsatteln kann. Das ist die Spitzentechnolo- ren der FDP –, dass wir mit Abwanderung rechnen müs- gie. sen, ist das also nicht der Fall. Wir sind der zweitstärkste An dieser Stelle gibt das Gutachten in der Tat kritisch Forschungsstandort für ausländische Unternehmen. Sie zu bedenken, dass die Spitzentechnologie nur ein Vier- kommen nach Deutschland. Allerdings steht in dem Gut- tel der technologieintensiven Güter, die wir exportiert achten auch: Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008 17141

René Röspel (A) Verlagerungen deutscher FuE-Standorte sind der- ich als Vater von Kindern in der Schule und im Kinder- (C) zeit noch selten, dürften mittelfristig aber zuneh- garten. men. Wir als SPD wollen – da machen wir die Unter- Jetzt kommt der wichtige Satz: schiede deutlich – eine gute und kostenfreie Bildung für alle, keine Kindergartengebühren und keine Studienge- Dabei spielt weniger der Lohnunterschied als viel- bühren. Wir kämpfen für das BAföG. Wir wollen, dass mehr die Verfügbarkeit von Fachkräften eine Rolle. jeder Jugendliche in dieser Gesellschaft eine Chance be- kommt, einen Berufsabschluss zu machen. Wenn er Es ist die dringende Warnung dieses Gutachtens, dass diese erste Chance nicht nutzt, dann soll er um seiner der Fachkräftemangel in Deutschland, der nicht nur selbst willen eine zweite und eine dritte bekommen, weil sichtbar, sondern inzwischen in den Unternehmen auch er es wert ist und weil wir Technologieführer bleiben greifbar geworden ist, das Innovationssystem belastet. wollen. Wir brauchen nicht nur viel mehr gut ausgebildete Aus- zubildende im dualen System, sondern mindestens jedes (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Jahr 50 000 zusätzliche Akademiker in Deutschland. der CDU/CSU) Das müssen wir schaffen, zum Beispiel über die Stei- gerung der Erwerbsquote von Frauen oder eben über Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: eine erhöhte Zahl von Jugendlichen in Ausbildung. Die Die Kollegin Dr. Petra Sitte spricht jetzt für die Frak- Große Koalition reagiert bereits auf diesen Bedarf. tion Die Linke. Heute Nachmittag werden wir das Kinderförderungsge- (Beifall bei der LINKEN) setz in erster Lesung beraten. Das Bundesforschungs- ministerium und die Große Koalition wollen mithilfe des Dr. Petra Sitte (DIE LINKE): Hochschulpaktes 2007 bis 2010 jedes Jahr 90 000 zu- sätzliche Studienanfänger gewinnen. Wir wollen Auf- Danke schön. – Frau Präsidentin! Meine Damen und stiegsstipendien für beruflich qualifizierte Menschen Herren! Die Zukunft beginnt heute, das sollte doch wohl vergeben. Wir wollen, dass der Hochschulzugang für die Kernbotschaft eines Bundesforschungsberichtes sein. qualifizierte Berufsabgänger leichter wird; denn der Es geht letztlich um nichts Geringeres als darum, Strate- Meister ist genauso gut qualifiziert wie ein Abiturient gien für die Sicherung des Wohlstandes einer Gesell- und sollte studieren können. Wir wollen endlich die schaft zu entwickeln, in der es gerechter und ökologi- mangelhafte Weiterbildungsquote in Deutschland ver- scher zugeht und in der Kultur und Ethik auch als zivili- bessern. Wir müssen es erreichen, dass Unternehmen satorische Gewinne begriffen werden. (B) und Arbeitnehmer mehr Weiterbildung machen. Wir le- Immerhin könnten Forschung und Innovation wesent- (D) gen ein Professorinnenprogramm auf und noch vieles liche Potenziale für gerechtere Lebenschancen von andere. Menschen unabhängig von ihrer sozialen Herkunft frei- setzen, wenn, ja wenn Politik ihre Ziele tatsächlich an Der dringende Appell dieses Gutachtens zum Thema diesem „langfristigen Nutzen für Bürgerinnen und Bür- Fachkräftemangel ist weniger an den Bund, sondern in ger“ ausrichten würde. Genau so wurde es in dem von erster Linie an die Länder gerichtet. Ich fordere die Län- Herrn Röspel bereits zitierten Gutachten der Experten- der auf, gemeinsam mit dem Bund und den Kommunen kommission „Forschung und Innovation“ im Februar diesem gesellschaftlichen Skandal entgegenzutreten, 2008 auf den Punkt gebracht. Dazu kann ich nur sagen: dass jedes Jahr 80 000 junge Menschen ohne Schulab- So sieht es auch die Linke. schluss in die Gesellschaft entlassen werden, (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der SPD) Die Bundesregierung allerdings bezeichnet Innova- dass 15 Prozent der 20- bis 29-Jährigen in unserem Land tionspolitik als „zentrales Element ihrer Wachstumspoli- keinen Berufsabschluss haben, dass wir mit 15 Millio- tik“. Liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist ein Schritt nen Menschen mit Migrationshintergrund ein großes zurück. Dies sage ich insbesondere an die Adresse der Potenzial im Wesentlichen brachliegen lassen, das ge- SPD: Sie haben im Jahre 2000 zusammen mit den Grü- sellschaftlich und ökonomisch für unser Land so wichtig nen eine nationale Nachhaltigkeitsstrategie aufgelegt. ist. Das alles ist ein Skandal für ein Land, das sich „so- Die strategische Ausrichtung sollte darauf hinauslaufen, zial“ nennt. Das kann zur Katastrophe für ein Land wer- die Bedürfnisse der heutigen Generation zu befriedigen, den, das Technologieführer bleiben will. ohne die Bedürfnisse künftiger Generationen zu gefähr- den. Einen solchen solidarischen Ansatz unterstützt auch Meinen letzten Bereich möchte ich damit abschlie- die Linke. ßen, dass die Forderung des Gutachtens, das Bildungs- system zu verändern, unterschiedliche politische Ant- Dem Bericht hingegen kann man entnehmen: Im worten in unserem Land findet. In meinem Heimatland Zweifel geht Wachstum vor Nachhaltigkeit. So ist der Nordrhein-Westfalen, in dem CDU und FDP in der Re- Bundesforschungsbericht zunächst nichts als eine inte- gierung sind, wird die Forderung nach Veränderung des ressante Sammlung von Zahlen und Fakten. Allerdings Bildungssystems mit höheren Kindergartengebühren, werden an keiner Stelle die Folgen der Unterordnung stärkerer Aufteilung nach sozialer Herkunft und der Ein- von Forschung und Entwicklung unter die Interessen führung von Studiengebühren beantwortet. Das erlebe von Wirtschaft und dort wiederum insbesondere unter 17142 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008

Dr. Petra Sitte (A) die Interessen von Großunternehmen reflektiert. Damit Wir brauchen ein homogenes System – wohlgemerkt: (C) liefern wir uns auch in diesem Bereich nahezu unge- ein homogenes und kein gleichmachendes System – über schützt global vernetzten Finanzmärkten mit ihren Spe- alle Bundesländer hinweg, dessen Bildungsangebote kulationspotenzialen und den Konzernen als Global konsequent im frühkindlichen Bereich beginnen und Playern aus. über die gesamte Berufszeit durch Weiterbildung erhal- ten bleiben. Dafür nimmt die Bundesregierung zwar (Beifall bei der LINKEN) Geld in die Hand, aber aus unserer Sicht viel zu wenig. Die Bundesregierung konzentriert die Förderung auf (Beifall bei der LINKEN) Branchen wie Automobil- und Pharmaindustrie, Energie sowie Luft- und Raumfahrt. Gerade diese Branchen aber Deshalb fragen wir Sie: Wann eigentlich wollen Sie werden von einigen wenigen international agierenden die gravierenden Ungleichgewichte zwischen öffentli- Unternehmen bestimmt. Damit stellt sich zwangsläufig cher Bildungsfinanzierung einerseits und Technologie- die Frage: Sind die Schwerpunkte der Innovations- förderung andererseits nachhaltig korrigieren? Diese politik richtig und im richtigen Verhältnis zueinander Defizite schränken letztlich – das hat sich bereits gezeigt – gesetzt, wenn wir Sozial- und Beschäftigungssysteme, die Chancen für den wissenschaftlichen Nachwuchs an aber eben auch die Umwelt nachhaltig konditionieren den Hochschulen ein. Dort nehmen nämlich befristete wollen? Die Linke sagt: Dazu bedarf es einer weiteren und ungesicherte Beschäftigungen zu. Das wäre mit dem und neuen gesellschaftlichen Diskussion. Wissenschaftsfreiheitsgesetz, Frau Pieper, noch viel schlimmer gekommen. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN – Cornelia Pieper Dies beginnt für uns damit, dass die Entscheidungs- [FDP]: Wieso denn das?) räume öffentlicher Kontrolle wieder zurückgeholt wer- den müssen. Warum ist es mir so wichtig, das hier zu Dies wirkt sich auch besonders negativ auf Frauen in der sagen? Weil inzwischen die Lobbyisten großer Unter- Wissenschaft aus. nehmen und ihrer Verbände in Gremien der Bundes- Hinzu kommt verschärfend – das muss man hier un- regierung die öffentliche Forschungsförderung nachhal- bedingt sagen –, dass das Hochschulsystem in Gänze un- tig beeinflussen, beispielsweise in der Forschungsunion terfinanziert ist und bleibt. Dieses Austrocknen von oder den sogenannten Innovationskreisen. Was dort Quellen muss aufhören. stattfindet, ist äußerst grenzwertig: Sie helfen nicht nur beim Schreiben von Gesetzen – das haben wir nun auch Damit leider nicht genug: An Weiterbildungsmaß- schon in anderen Bereichen erfahren –, nein, sie sitzen nahmen – dies wurde schon gesagt – nehmen in (B) eigentlich direkt an der Quelle und nehmen lange vor der Deutschland nur 12 Prozent der Arbeitnehmerinnen und (D) Erarbeitung von Gesetzen Einfluss auf die strategische Arbeitnehmer teil. Bei den Trägern qualifizierter Weiter- Ausrichtung von Förderprogrammen der Bundesregie- bildungsangebote findet seit Jahren ein massenhaftes rung. Inzwischen gibt es zwar erfreuliche Bemühungen Absterben statt. Der Preis dafür sind Niedriglöhne in um kleine und mittelständische Unternehmen; aber die diesem Bereich und Tausende arbeitslose Weiterbilder. größten Beträge fließen nach wie vor an die Großen der Was hört man allerorten? Fachkräftemangel! Schon so bereits zitierten Branchen: Diese wären allemal selbst oft haben wir hier über Fachkräftemangel diskutiert. Was stark genug, die Forschungsrisiken aus eigener Kraft zu bitte ist das für eine Innovationspolitik, die intellektuelle schultern. Potenziale in solch einem Umfang ungenutzt lässt? Die Linke sagt: Da muss man endlich umsteuern! (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN) Es gibt Länder, in denen genau diese Philosophie vertre- ten wird, beispielsweise die Schweiz. Schließlich und endlich wirkt diese Innovations- politik auch innerhalb des Forschungssystems selektiv. Durch dieses Herangehen bleiben grundsätzliche Pro- So war die Grundlagenforschung Deutschlands inter- bleme in Inhalten und Strukturen der Förderpolitik unge- national hoch angesehen. Jetzt mehren sich warnende löst. Unsere beiden Grundkritiken bestehen erstens in Stimmen, dass die Grundlagenforschung durch Überbe- der Selektivität unseres Bildungs-, aber auch des For- tonung der Anwendungsorientierung bei der For- schungssystems und zweitens in der mangelnden Nach- schungsförderung wegzubrechen beginnt. Zugleich ver- haltigkeit von Forschung und Wirtschaft in Deutschland. tiefen sich die Abhängigkeiten der Hochschulen von Geldgebern aus der Wirtschaft. Ich kann nur sagen: Die Zur ersten Grundkritik: Schülerinnen und Schüler un- Freiheit von Forschung und Lehre – wie sie das Grund- terliegen einem Ausleseprozess, der viel stärker an ihre gesetz versteht – ist auf eine völlig andere Art, als wir soziale Herkunft als an ihre Fähigkeiten anknüpft. Sie das bisher kannten, bedroht. Wir warnen vor der Aus- wissen, dass das zu irreversiblen Folgen für ganze Le- höhlung dieses Grundrechts. bensläufe führt, insbesondere bei Kindern und Jugendli- chen, die in irgendeiner Form behindert sind. Auch die (Beifall bei der LINKEN) jüngste Qualifizierungsoffensive doktert letztlich nur an Symptomen herum. Dabei wäre es notwendig, ursäch- Die zweite Grundkritik der Linken bezieht sich auf lich anzusetzen. die mangelnde Nachhaltigkeit deutscher Innovationspo- litik. Der jüngste Forschrittsbericht zur Nationalen (Beifall bei der LINKEN) Nachhaltigkeitsstrategie zeigt: Die Milliardenmittel für Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008 17143

Dr. Petra Sitte (A) Innovation steigern das Wirtschaftswachstum, aber auf richtungen wie Kindergarten und Schule haben dafür ei- (C) Kosten einer nachhaltigen sozialen und ökologischen nen zentralen Stellenwert. Ohne gute Bildung gibt es Entwicklung. Beispielsweise werden wieder verstärkt keine gute Forschung und keine Qualifizierung von die Nuklearforschung oder die höchst fragwürdige Ein- Nachwuchs. Eben weil wir schon einen Fachkräfteman- lagerung von CO2 unter der Erde gefördert. Das hat mit gel haben, wird die Bildung zur Schlüsselfrage, um For- Ökologie überhaupt nichts zu tun; denn die Ergebnisse schung und Innovation in Deutschland zu sichern. sind völlig offen und kommen letztlich nur den Ener- giemonopolisten zugute. Schauen wir uns einmal an, was die Expertenkommis- sion „Forschung und Innovation“ dazu schreibt. Sie be- (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) schreibt in dem Bericht Bildungsstagnation und geringe Auch die Automobilindustrie baut ihre Marktstellung Weiterbildung als Gefahren für den Innovationsstandort mit öffentlichen Geldern aus. Angesichts dessen, dass Deutschland. Sie macht die Problematik einer sehr frü- diese Gelder bei hochklassigen Pkws, die, wie wir wis- hen Trennung im deutschen Schulsystem deutlich. Sie sen, Spritfresser sind, ankommen, frage ich mich: Was ist kritisiert, dass im Übergangssystem keine voll qualifi- das für eine Innovationspolitik? Zugleich fehlen uns inno- zierenden Abschlüsse erlangt werden und dass die Stu- vative Wege zu besserem öffentlichen Personenverkehr. dierendenquote zu gering ist. Diese Kritik war auch schon im letzten Bericht nachzulesen und wurde in der Meine Damen und Herren, unbestritten sind kleine Debatte im letzten Jahr angesprochen. Leider hat die und mittelständische Unternehmen entscheidende Im- Koalition wenig getan, um gerade diese drängenden Pro- pulsgeber für neue, innovative Projekte. Aber deren An- bleme zu lösen. Die notwendige Strukturreform in der teil an Forschung und Entwicklung ist, wie Gutachten Ausbildung findet nicht statt. In der Weiterbildung gibt gezeigt haben, rückläufig. Das ist insbesondere für Ost- es nach drei Jahren endlich ein schriftliches Konzept. deutschland fatal. Leider Gottes sind viel weniger neue Der Hochschulpakt ist unterfinanziert. Der Bildungsgip- Arbeitsplätze entstanden, als notwendig sind und ur- fel, der im kommenden Herbst stattfinden soll, droht an sprünglich erwartet wurden. Das soll nicht heißen, dass den Einsprüchen der Kultusminister und der Minister- diese Förderung falsch ist. Wir brauchen allerdings ost- präsidenten der Union erneut zu scheitern und zu einer spezifische Programme. Diese werden im Bildungs- und Maus zu werden. Forschungsbereich zumeist – na, immerhin – second- hand aufgelegt, und zwar genau dann, wenn wir prak- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) tisch vorgeführt bekommen haben, dass die ostdeutschen Bildung muss von gesamtstaatlicher Verantwortung Länder bei wettbewerblich angelegter Forschungsförde- getragen werden. Sonst werden wir den Anschluss in der rung wie etwa der Nominierung von Eliteuniversitäten Qualifizierung einer bedarfsgerechten Zahl an Fachkräf- (B) fast chancenlos geblieben sind, ja bleiben mussten. ten und unsere Wettbewerbsfähigkeit verlieren. Frau (D) (Jörg Tauss [SPD]: Denken Sie mal an Inno- Schavan, wir erwarten von Ihnen, dass Sie sich endlich Regio!) für diese Themen einsetzen und sich durchsetzen. So ist der Abstand zwischen Ost und West nicht nur im (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Sozialen, sondern auch im Bereich der Wissenschaft wieder gewachsen. Leider haben Sie in der letzten Woche einmal mehr Ihren Ruf als Ministerin der großen Worte und der klei- Wir wollen das nicht hinnehmen. nen Taten gefestigt. In Meseberg haben Sie vollmundig (Beifall bei der LINKEN) ein Wissenschaftsfreiheitsgesetz angekündigt. Was ma- chen Sie jetzt, da der nächste Sommer naht? Es wird still Die Linke findet: Innovation boomt nicht nur, wenn der und leise beerdigt, wie der Presse zu entnehmen ist. Markt Hurra schreit. Mindestens genauso innovativ ist es doch, wenn Forschung und Entwicklung soziale und (Volker Schneider [Saarbrücken] [DIE LINKE]: ökologische Impulse setzen. Das stünde im Übrigen Vielleicht ist das auch besser so!) auch einer Forschungsministerin, die sich selbst als Wieder einmal wurde aus einem großen Ballon die Luft wertkonservativ versteht, gut zu Gesicht. herausgelassen. Jetzt wollen Sie kleine Schritte auf dem Ich danke. Verwaltungsweg gehen. Aber wir wissen, was von sol- chen Versprechungen Ihrerseits zu halten ist. (Beifall bei der LINKEN) Sie haben auch eine Änderung des Vergaberechts Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: versprochen und gesagt, dass die Bagatellgrenze für For- Priska Hinz hat jetzt das Wort für Bündnis 90/Die schungseinrichtungen bei der freihändigen Vergabe von Grünen. 8 000 auf 30 000 Euro anzuheben sei. Nun hat Herr Glos einen Gesetzentwurf zum Vergaberecht vorgelegt. Aber nichts lässt sich von dem finden, was Sie angekündigt Priska Hinz (Herborn) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- haben. Sie hätten unsere Unterstützung gehabt. So lösen NEN): Sie Ihre Versprechen ein! Ich befürchte, dass die For- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle- schungseinrichtungen noch lange darauf warten können, gen! Die Grünen sind der Meinung, dass gute Bildung, dass sich endlich etwas ändert. die Förderung von Neugier und Wissensdurst die Vor- aussetzungen für Forschung und Innovation sind. Ein- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) 17144 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008

Priska Hinz (Herborn) (A) Diese Regierung ist einst mit dem Motto „Sanieren, sich für Verbesserungen einzusetzen; sonst haben Sie Ihr (C) Reformieren, Investieren“ angetreten. Ziel verfehlt, strukturell etwas zu verändern. (Jörg Tauss [SPD]: Ja, das ist gut, oder?) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Das Motto der Regierung heute lautet aber: Ankündigen, Auch die Forschungsprämie ist ein Flop. Aufschieben, Beerdigen. (Cornelia Pieper [FDP]: Richtig!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Jörg Tauss [SPD]: Falsch!) Bisher wurden gerade einmal 20 Prozent der Mittel ab- gerufen. Da muss man sich als verantwortliche Ministe- Das gilt auch beim Klimaschutz. Hier versagt die Bun- rin doch fragen lassen, ob das Instrument richtig konzi- desregierung auf der ganzen Linie. Schon jetzt ist klar: piert ist. Eigentlich müssten Sie sagen, was Sie da Die Bundesregierung wird mit den geplanten Maßnah- verändern wollen. men ihre Klimaschutzziele meilenweit verfehlen. An- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN statt sich endlich auf konkrete Schritte zu einigen, strei- und bei der FDP) tet die Regierung wochenlang vor sich hin. Angesichts dessen muss sich eine Forschungsministerin doch fragen Aber man hört nichts von Ihnen. Einen Sprecher Ihres lassen, was die Aufwüchse im Forschungsbereich dann Ministeriums lassen Sie verlautbaren, dass es die Zeit eigentlich wert sind. Manche Neuerungen brauchen schon richten werde. Von viel Tatkraft ist da nichts zu doch den Anreiz durch staatliche Programme, um die merken. Marktschwelle zu nehmen. Ihr Credo in der Hightech- Ich möchte nun auf ein wichtiges Forschungsfeld zu Strategie war, die gesamte Wertschöpfungskette in den sprechen kommen. Bei der Nanoforschung stehen Ent- Blick zu nehmen. Aber beim Klimaschutz gilt das an- scheidungen von wegweisender Bedeutung für diese scheinend nicht. Innovation fördern sieht anders aus, Schlüsseltechnologie an. Wir Grünen haben von Anfang Frau Schavan. an die Nanotechnologie gefördert. Aber wir sind der (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Meinung, dass die Chancen und die Risiken stärker als bislang erforscht werden müssen. Deutschland ist auf Beim Erreichen des 3-Prozent-Ziels für Investitionen dem Feld zwar ganz gut aufgestellt, aber wir können nur in Forschung und Entwicklung gibt es Fortschritte; das dauerhaft mit einem Wettbewerbsvorteil rechnen, wenn gestehen wir zu. Das ist gut. Aber die gegenwärtigen Er- die Produkte und Produktionsprozesse mit Nanotechno- folge sind auf konjunkturellem Sand gebaut. Das sagt logie nicht nur gut, sondern auch wirklich sicher sind. selbst die von Ihnen eingesetzte Expertenkommission Deshalb brauchen wir Leitbilder für den Umgang mit (B) „Forschung und Innovation“. Sie schreibt, „dass ein Teil Nanomaterialien, und die heißen Nachhaltigkeit und Si- (D) der Zunahme der deutschen F-und-E-Aufwendungen im cherheit. Jahr 2006 nur konjunktureller und nicht struktureller Na- tur ist“. Vor diesem Hintergrund ist die entscheidende Bisher hat die Bundesregierung nicht den Eindruck Frage: Was ändert sich strukturell? Wie sieht hier die gemacht, als sei ihr dieses Thema besonders wichtig. Bilanz der Bundesregierung aus? Die Unternehmensteu- Den Bericht, den wir als Opposition Ihnen mühsam ab- erreform ist ein Desaster für innovative Unternehmen. ringen mussten, der inzwischen schon wochenlang – um Der beschleunigte Wegfall von Verlustvorträgen, mehr nicht zu sagen: monatelang – im Ausschuss liegt, der Bürokratie und steuerliche Belastungen von Forschung spricht eine deutliche Sprache. und Entwicklung schwächen den Innovationsstandort (Ute Kumpf [SPD]: Was? – Jörg Tauss [SPD]: Deutschland. Das ist das Gegenteil dessen, was wir brau- Er steht auf der Tagesordnung! Nächstes Ob- chen. leutegespräch!) Stichwort „Wagniskapital“. Hier sind Sie halbherzig – Sie brauchen gar nicht so verwundert mit dem Kopf zu und zu kurz gesprungen. Ihr Gesetz sollte die Finanzie- schütteln. Herr Tauss, wir mussten einen Antrag stellen, rung von Unternehmen mit Wagniskapital verbessern. damit die Bundesregierung einem Beschluss des Bun- Was sagt Ihre Kommission dazu? destages nachkommt, zwei Jahre nach einem festgeleg- Das Gesetz geht zwar in die richtige Richtung, ist ten Datum endlich einen Bericht vorzulegen. Da können aber derart restriktiv, dass es nur einen Bruchteil Sie doch nicht so tun, als sei es ein selbstverständlicher des Marktes erfasst. Vorgang, dass die Bundesregierung zum Handeln getra- gen werden muss. Das ist maximal ein Ungenügend. Herr Riesenhuber, ei- gentlich müssten Sie bei einer solchen Bemerkung in (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN diesem Bericht aufschreien. und bei der FDP – Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist skan- (Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Tut er aber dalös!) nicht!) Auch zum Verhaltenskodex der EU-Kommission für Wir Grünen fordern, innovative kleine bis mittelgroße verantwortungsvolle Forschung im Bereich der Nano- Unternehmen, die zunächst mindestens 30 Prozent ihrer wissenschaften vom Februar 2008 gibt es bislang noch Umsätze in Forschung und Entwicklung investieren, und keine Reaktionen der Bundesregierung. Der Wettbe- ihre Wagniskapitalgeber steuerlich zu fördern. Wir for- werbsrat tagt Ende dieser Woche. In der Vorausschau hat dern Sie, Frau Bundesministerin, hier nachdrücklich auf, die Bundesministerin uns mitgeteilt, es gebe überhaupt Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008 17145

Priska Hinz (Herborn) (A) keine Vorlage für einen EU-Verhaltenskodex. Frau Deshalb schlage ich vor, dass wir schwerpunktmäßig (C) Schavan, Sie werden sich zu den EU-Forderungen nach dieses Thema, nämlich die Forschung, fokussieren. Nachhaltigkeit, Vorsorge und Verantwortlichkeit äußern müssen. Sie werden Farbe bekennen müssen, wie ernst Ein wichtiges Thema ist – es ist hier immer wieder Sie es damit meinen, wenn Sie sagen, dass wir diese Pro- angesprochen worden – das sogenannte 3-Prozent-Ziel. dukte wirklich wollen. Diese erhalten nämlich nur dann Unseren Zuhörerinnen und Zuhörern, die vielleicht gar wirklich Akzeptanz in der Bevölkerung, wenn man die nicht wissen, was das 3-Prozent-Ziel eigentlich ist und Risikoforschung vorantreibt und all diese Produkte stan- warum wir es brauchen, möchte ich zur Erläuterung kurz dardisiert. sagen: Es geht darum, dass ein fortschrittlicher Staat 3 Prozent seines Bruttoinlandsproduktes in Forschung (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) und Entwicklung investieren sollte, und dies nicht ein- Ich komme zum Schluss. Die Empfehlung der Kom- fach aus Jux und Tollerei, sondern weil es einen direkten mission ist sehr interessant. So soll die strategische Aus- Zusammenhang zwischen Wirtschaftswachstum und richtung auf nachhaltiges Wirtschaften und der Ausbau vorgelagerter Forschungsförderung gibt. Übrigens wird wissensintensiver Dienstleistungen umgesetzt werden. in diesem Bundesforschungsbericht an einer Abbildung Das ist ganz in grünem Sinne. Wir haben für die ganze eindeutig unter Beweis gestellt, dass hohe Forschungs- Bandbreite schon Vorschläge gemacht. Wir sind der förderung hohes Wirtschaftswachstum nach sich zieht. Meinung, dass eine Regierung sich keine Blöße gibt, Zur Frage der Finanzen. Sehr geehrter Herr Röspel, wenn sie gute Vorschläge der Opposition umsetzt. Da ich würde es so nicht sagen, aber aufgrund dessen, dass bauen wir auf Sie. Sie immer wieder betonen, alles habe etwas mit der SPD Danke schön. zu tun, muss ich es doch etwas auf die Union fokussie- ren: Von 2002 bis 2005 haben die Ausgaben für For- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) schung und Entwicklung bei ungefähr 9 Milliarden Euro stagniert. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Ilse Aigner spricht jetzt für die Fraktion der CDU/ (Klaus Hagemann [SPD]: In der Wirtschaft!) CSU. – Nein, im Bundesetat. – 2008 werden über 11 Milliar- (Beifall bei der CDU/CSU) den Euro in Forschung und Entwicklung investiert – das ist nachgewiesen; das steht sogar im Bundesforschungs- bericht –; diese Zahl wird hoffentlich noch gesteigert. Es Ilse Aigner (CDU/CSU): handelt sich also um eine Zunahme von fast 25 Prozent. Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und (B) (D) Kollegen! Nachdem das Wissenschaftsfreiheitsgesetz (Volker Schneider [Saarbrücken] [DIE hier mehrfach angesprochen worden ist, möchte ich dazu LINKE]: Wie war das denn in der 90er-Jah- schon zwei Takte sagen. Sehr geehrte Frau Hinz, wie ren?) beim Hochschulpakt haben wir nicht nur etwas angekün- digt, sondern wir werden auch etwas umsetzen: Im Liebe Damen und Herren, egal aus welcher Fraktion, je- Sommer dieses Jahres werden die zuständigen Minister der Forschungspolitiker in diesem Hause müsste über ei- eine untergesetzliche Lösung vorlegen. Meine sehr ge- nen solchen Zuwachs in Forschung und Entwicklung ju- ehrten Damen und Herren, ich würde sagen: Es ist ei- beln. gentlich egal, auf welchem Wege man etwas zustande (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) bringt; Hauptsache, es bewegt sich etwas. Sehr geehrter Herr Staatssekretär der Finanzen – viel- (Beifall des Abg. Jörg Tauss [SPD]) leicht leiten Sie es an unseren Bundesminister der Finan- Dass gerade die FDP, die immer für Entbürokratisie- zen weiter –, wir würden es natürlich gerne sehen, wenn rung steht, ein Gesetz fordert, finde ich etwas verwun- es zu einer Verstetigung käme. Die Ministerin hat dem- derlich. entsprechend angemeldet, weiterhin den Weg der Erfül- lung des 3-Prozent-Ziels zu beschreiten; wir unterstützen (Cornelia Pieper [FDP]: Wir fordern ein Gesetz sie darin. Ich glaube, wir sollten uns sehr stark an unse- zum Bürokratieabbau, Frau Kollegin!) ren Koalitionsvertrag halten und uns auch in Zukunft da- Ich glaube, man kann auch einen anderen Weg als den ran orientieren, damit wir dieses Ziel 2010 erreichen der Verabschiedung eines Gesetzes beschreiten. Das Er- werden. gebnis ist das Entscheidende. Etwas, wodurch dieses Er- Wird das Geld effizient eingesetzt? Ich sage, ja. Das gebnis erreicht wird, werden wir dementsprechend vor- ist nicht nur meine Auffassung. Ich zitiere aus dem Bun- legen. desforschungsbericht: (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Zudem geben die befragten Unternehmen an, ihre Wir beraten heute den Bundesforschungsbericht und FuE-Aufwendungen ebenfalls, und zwar um durch- nicht den Bundesbildungsbericht und auch nicht den schnittlich 7 Prozent, steigern zu wollen. Die Mobi- Bundesweiterbildungsbericht. lisierung innovativer Kräfte in Deutschland scheint demnach zu gelingen. (Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Das steht aber da drin!) Das heißt, die Hightech-Strategie zeigt Wirkung. 17146 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008

Ilse Aigner (A) Ein wichtiges Instrument der Forschungsförderung ist Falls dies noch nicht geschehen sein sollte, haben wir in (C) die Projektförderung. Weit über 98 Prozent der Mittel den Ausschussberatungen ausführlich Gelegenheit und für die Projektförderung sind abgeflossen. Man sollte Zeit, uns über jede der 600 Seiten zu unterhalten. wegen eines kleinen Teils wie der Forschungsprämie – sie ist ein neues Instrument; dahin fließen unter 1 Pro- Letztlich geht es darum, welche Schwerpunkte wir zent der Mittel für die Projektförderung – nicht den Er- zum Beispiel in den Haushaltsberatungen für unser Land folg der Hightech-Strategie infrage stellen. setzen wollen. Im Vergleich zu den Investitionen in For- schung und Entwicklung geben wir siebenmal so viel für (Beifall bei der CDU/CSU) die Finanzierung der Rente, viermal so viel für die Fi- Wir sollten das nicht kleinreden lassen. nanzierung des Arbeitsmarktes und nach wie vor fast viermal so viel für Zinsen aus. Ich glaube, dass es den Ich hatte letzte Woche das Vergnügen, mehrere Fir- Schweiß der Edlen dieses Hauses wert ist, sich weiterhin men in meinem Wahlkreis besuchen zu dürfen, die Pro- dafür einzusetzen, dass wir noch mehr in Forschung und jektförderung des Forschungsministeriums erhalten. Ein Entwicklung und damit in unsere Zukunft investieren. Unternehmen davon beschäftigt sich mit der Fernerkun- Dafür will ich heute werben. dung von Binnengewässern. Es wirkt mit an einem mul- tidisziplinären Verbund zur nachhaltigen Entwicklung Herzlichen Dank! des Mekongdeltas. Jetzt fragen Sie: Was hat das mit uns (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) zu tun? Ich sage das nur deshalb, weil aus dieser Projekt- förderung eine neue Geschäftsidee entstanden ist. Mit dieser neuen Geschäftsidee werden in Deutschland zu- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: sätzliche Wertschöpfung und neue Arbeitsplätze gene- Die Kollegin Ulla Burchardt spricht jetzt für die SPD- riert. Das ist es doch eigentlich, was wir wollen. Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU) Ulla Burchardt (SPD): Ein wichtiges Ziel ist die Mobilisierung von FuE-In- Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und vestitionen in der Wirtschaft; denn diese muss zwei Drit- Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst ein- tel des 3-Prozent-Zieles schultern. Es geht aber nicht um mal möchte ich feststellen, dass wir 2006 eine gute Ent- die Zahl allein, sondern auch um internationale Konkur- scheidung damit getroffen haben, das bis dahin geltende renzfähigkeit, Wachstum und Arbeitsplätze. Deshalb Berichtssystem durch die beiden jetzt vorliegenden Be- müssen wir zusammen mit der Wirtschaft und in die richte zu ersetzen. Insbesondere das Gutachten macht Wirtschaft investieren. Ein entsprechendes Instrument deutlich, dass Innovation ein sehr komplexes Geschehen (B) sind die sogenannten Innovationsallianzen. Der Einsatz ist, an dem viele beteiligt sind, nicht nur die Ressorts (D) von 500 Millionen Euro Steuergeldern hat auf der Wirt- Bildung und Forschung sowie Wirtschaft. Deswegen ist schaftsseite zu Investitionen in Forschung und Entwick- es gut, dass dieses Gutachten eine sehr breite und diffe- lung in Höhe von 2,6 Milliarden Euro geführt. Auf jeden renzierte Analyse enthält und die Handlungsempfehlun- Euro, den wir aus Steuergeldern investiert haben, hat die gen, liebe Kollegin Aigner, sich nicht nur an den Bund, Wirtschaft über 5 Euro draufgelegt. Wenn das keine He- aber auch nicht nur an die Forschungspolitik richten; belwirkung ist, dann weiß ich es auch nicht! darauf gehe ich gleich noch weiter ein. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Frau Ministerin hat es mir dankenswerterweise abge- neten der SPD) nommen, die Positivbilanz aufzuführen. Ich kann jedes Wir werden noch weitere Instrumente prüfen, zum Wort, das Sie dazu gesagt haben, nur unterstreichen. Beispiel die steuerliche Förderung von FuE. Diesbe- Gleichwohl hat Kollege Röspel recht, wenn er sagt, dass züglich gibt es vielleicht sogar innerhalb unserer eigenen das Gute nicht erst 2005 begonnen hat. Ihre Behauptung Fraktion noch Diskussionsbedarf; das will ich gar nicht ist zwar menschlich gesehen naheliegend, faktisch hat leugnen. Aber wir werden dieses Thema weiterverfol- aber die rot-grüne Koalition – und zwar nicht nur die gen, weil die steuerliche Förderung ein Instrument sein Grünen in der Koalition, Kollegin Hinz – 1998 begon- könnte, das eine zusätzliche Hebelwirkung bei der Pro- nen, entscheidende Weichenstellungen vorzunehmen, jektförderung auslöst. Das werden wir in den nächsten die heute ihre Wirksamkeit entfalten und durch die Wochen und Monaten noch diskutieren. Hightech-Strategie weitergeführt werden. Ich nenne nur Das Gutachten lobt besonders, dass wir in wichtige den Pakt für Forschung und Innovation, die Exzellenz- Felder, die die Ministerin schon angesprochen hat, wie initiative und die Clusterförderung. All das zusammen die Umweltforschung, die Energieforschung und die me- zeigt jetzt Wirkung. Diesbezüglich sollte man bei der dizinische Forschung investieren. Aber es zeigt auch die historischen Wahrheit bleiben. komplette Breite und ist ein hervorragendes Nachschla- (Beifall bei der SPD) gewerk von über 600 Seiten Länge zu allem, was sich in Forschung, Entwicklung und Innovation in der Bundes- Das Gleiche gilt für die von Frau Aigner angespro- republik Deutschland tut. Ich bin mir sicher, dass jedes chene Stagnation bis 2005. Frau Kollegin Aigner, Sie Mitglied dieses Hohen Hauses alle 600 Seiten genau ge- wissen doch genau, welche automatische Antwort Ihre lesen, wahrscheinlich sogar schon auswendig gelernt Aussage provoziert: hat. (Ilse Aigner [CDU/CSU]: Ich habe nur auf (Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Jawohl!) Herrn Röspel geantwortet!) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008 17147

Ulla Burchardt (A) Wenn die Union in den Ländern nicht so lange blockiert bemerkenswert. Ich bedanke mich ausdrücklich dafür (C) hätte, hätten wir den riesigen Investitionsschub in FuE und bitte darum, diesen Dank weiterzugeben. – Unmiss- schon viel früher haben können. verständlich ist die Kritik in Richtung Wirtschaft, was die Aus- und Weiterbildung angeht. Es wird deutlich ge- (Beifall bei der SPD) sagt: Der Fachkräftemangel, über den jetzt überall ge- Wir freuen uns aber, dass Sie jetzt endlich auf unseren klagt wird – er wird immer drastischer; das Faktum ist Zug aufgesprungen sind. richtig –, ist durch die Wirtschaft selbst verantwortet, weil in der Vergangenheit zu wenig Ausbildungsplätze Ich teile auch völlig die Einschätzung im Bericht des zur Verfügung gestellt worden sind und zu wenig für die BMBF, dass Politik, Hochschul- und Forschungsinstitu- Weiterbildung getan worden ist. tionen sowie Unternehmen sich mit dem Erreichten nicht zufriedengeben können; völlig klar. Aber ein bisschen (Beifall des Abg. René Röspel [SPD]) stolz darf man schon darauf sein, auch wenn es wirklich noch viel zu tun gibt. Von daher ist es konsequent, wenn die Gutachter da- rauf hinweisen, dass die Unternehmen an dieser Stelle Ich will auf drei Punkte eingehen: und die Tarifvertragsparteien, wenn es um Weiterbil- Der erste Punkt, Kollegin Aigner, ist das Bildungs- dungstarifverträge geht, eine Bringschuld haben. Wir ha- system. Natürlich liegt uns hier kein Bildungsbericht ben das Thema „Weiterbildung und lebenslanges Ler- vor; aber es ist doch sehr deutlich, was die Gutachter nen“ heute Abend noch einmal auf der Tagesordnung. schreiben, nämlich dass das Fundament für das Innova- Deshalb will ich nicht im Detail darauf eingehen und nur tionsgeschehen in Deutschland das Bildungssystem ist. so viel sagen: Wir haben mit dem Koalitionspartner Dieses System hat gewaltige Risse. Es ist nicht leis- kleine Schritte in die richtige Richtung auf den Weg ge- tungsfähig genug. Wenn wir an dieser Stelle nicht mäch- bracht – auch das ist durch das Gutachten bestätigt wor- tig vorankommen, dann nützen uns alle Ausgaben für den –; wir Sozialdemokraten sind aber bei weitem nicht F und E nichts, weil die Fachkräfte fehlen. zufrieden mit der Geschwindigkeit und dem Maß der Schritte, die im Bereich Weiterbildung/lebenslanges Ler- (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Ulrike nen auf den Weg gebracht worden sind. Da müssen das Flach [FDP]) Tempo und die Entschlossenheit noch deutlich erhöht Die Zielvorgabe der Gutachter ist unmissverständlich: werden. Wenn wir das Gutachten ernst nehmen, dann „Den Anteil der Bildungsarmen drastisch senken und sollten wir uns in der nächsten Zeit schleunigst zusam- den Anteil der Bildungsreichen in beträchtlichem Um- mensetzen, um zu klären: Was können wir außer fang erhöhen“, sagen die Gutachter, die vom BMBF ein- Meister-BAföG, Bildungsprämie und Qualifizierungs- (B) gesetzt worden sind. gipfel in dieser Legislaturperiode an großem Wurf noch (D) auf die Reihe bekommen? Wir haben in der frühkindlichen Bildung mit dem 4-Mil- liarden-Programm und dem Rechtsanspruch auf Betreu- Für uns Sozialdemokraten ist eines völlig klar: Wir ung für unter Dreijährige jetzt gemeinsam eine Menge wollen nicht Bestenauslese und Bestenförderung, son- auf den Weg gebracht. dern wir wollen verlässliche Rahmenbedingungen, so- dass jeder in diesem Land das Beste aus sich machen Bemerkenswert ist, dass es wieder einmal in einem kann. Gutachten zur Innovation und technologischen Leis- tungsfähigkeit heißt: Das dreigliederige Schulsystem mit (Beifall bei der SPD) seiner starken Selektion ist wirklich kontraproduktiv, wenn es darum geht, alle Potenziale auszuschöpfen. Dazu gehören Rechtsansprüche. An dieser Stelle soll ganz deutlich gesagt werden: Der erste Schritt dazu ist (Beifall bei der SPD und der LINKEN) der Rechtsanspruch auf eine zweite und dritte Chance. Wir unterstützen ausdrücklich das Vorhaben des Bundes- Da wird eine Ideologie zum Rieseninnovationshemmnis. arbeitsministers, den Rechtsanspruch auf einen grundle- An dieser Stelle muss man sich doch irgendwann bewe- genden Schulabschluss einzuführen; das ist überfällig. gen. Herr Kollege Schummer, mehr wissenschaftliche Empfehlungen kann man überhaupt nicht präsentieren. (Cornelia Pieper [FDP]: Aber ein bisschen Schauen Sie doch einmal in das Gutachten hinein, das Leistung gehört auch dazu!) Sie und Ihre Kollegen mit auf den Weg gebracht haben! Jeder, der dies kritisiert, muss sich darüber im Klaren Deswegen sehen wir Sozialdemokraten uns in der sein, dass er im Glashaus sitzt. Einschätzung bestätigt, dass „eine Schule für alle“ not- wendiger Bestandteil von Innovationspolitik ist und dass Was das Thema Hochschule angeht, noch ein Wort. es höchste Zeit für ein zweites Ganztagsschulprogramm Wir haben mit dem Gutachten gute Unterlagen bekom- wird. Auch dies ist nun wissenschaftlich wirklich sauber men. Es lohnt sich an dieser Stelle auch der Blick in die noch einmal unterfüttert worden. Basisstudie. Darin wird sehr deutlich gesagt, was die Gründe dafür sind, dass die Zahl der Studierenden im- (Beifall bei der SPD) mer noch stagniert. Die Hemmschwellen sind unter an- Was die Aus- und Weiterbildung betrifft, ist die Deut- derem flächendeckend lokale NCs, die Unüberschaubar- lichkeit in dem Gutachten schon bemerkenswert. – Eine keit der Studienangebote und -zugänge sowie finanzielle so deutliche Sprache in einem Gutachten ist überhaupt Hürden, das heißt auch Studiengebühren. 17148 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008

Ulla Burchardt (A) Von daher haben wir zur Verbesserung der Bedingun- Abschließend möchte ich noch auf einen Hinweis (C) gen für den Innovationsstandort in der nächsten Zeit, eingehen, den die Gutachter sehr deutlich bezüglich der wenn es um den Hochschulpakt II, die weitere Debatte Frage geben, wo es denn Innovationshemmnisse und über die Hochschulzulassung und die Frage der Finan- -bremsen geben könnte. Sie sagen denjenigen, die For- zierung von Hochschulen geht, mehr zu tun als das, was schungs- und Innovationspolitik machen: Achtet doch möglicherweise bis jetzt angedacht ist. Wir sagen: Der bitte darauf, Hochschulpakt II muss ein Pakt für gute Lehre werden und gut finanziert werden, damit 200 000 zusätzliche dass die derzeit dominanten Akteure in Wirtschaft, Studienplätze dabei herauskommen. Wissenschaft und öffentlicher Verwaltung nicht im- mer hohes Interesse daran haben, gesellschaftlich Wir brauchen bundeseinheitliche Zugangsregeln für nutzbringende Innovationspfade zu unterstützen. die Hochschulen, und statt Studiengebühren macht die Innovationen können immerhin angestammte Posi- Neuordnung der Hochschulfinanzierung nach dem tionen von Macht, Einfluss oder Profit im Sinne der Zöllner-Modell „Geld folgt Studierenden“ Sinn. Das al- „schöpferischen Zerstörung“ bedrohen. les sind Beispiele für eine mit Vernunft betriebene Inno- vationspolitik. Das ist, wie ich finde, ein wichtiger Hinweis. Zu dem Thema Finanzierung von Innovationen ei- Vor diesem Hintergrund müsste man sich auch einmal nige wenige Anmerkungen: Was der Forschungsbericht die Besetzung von Räten anschauen, beispielsweise die barmherzig zudeckt, sprechen die Gutachter aus: In der Besetzung des Rates für Wachstum und Innovation, und Vergangenheit gab es deutlich zu geringe FuE-Aufwen- einmal hinterfragen, ob es denn richtig ist, dass daran dungen vonseiten der Wirtschaft. Deutlich fällt auch die nur das Forschungs- und das Wirtschaftsministerium be- Kritik an den Banken aus: Sie stellen viel zu wenig Risi- teiligt sind, oder ob es im Sinne einer ganzheitlichen In- kokapital für junge Unternehmer bereit. Sie sind damit novationsförderung nicht besser wäre, wenn beispiels- für die zu geringe Gründungsdynamik verantwortlich. weise auch das Umwelt- und das Arbeitsministerium Dabei scheuen doch die Banken ansonsten auf den inter- daran beteiligt würden. nationalen Kapitalmärkten kein Risiko. Dieses Gebaren ist also schon etwas merkwürdig. Ich kann nur unter- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: streichen, dass an dieser Stelle wirklich deutlich mehr Frau Kollegin! Druck gemacht werden muss. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Ulla Burchardt (SPD): der LINKEN) Wenn man dann noch sieht, dass die Vertreter der gro- (B) Zum Thema steuerliche Forschungsförderung sa- ßen Konzerne dort immer noch deutlich besseren Zu- (D) gen wir: Klar, das sollte man prüfen; das ist keine Frage. gang finden und damit eher direkt Einfluss nehmen kön- Es gibt Länder, in denen es sie gibt, und Länder, in de- nen als die Vertreter von kleinen und mittleren nen es sie nicht gibt. Nur, ein Vorgehen nach dem Gieß- Unternehmen, ergibt sich ein weiterer Hinweis für die kannenprinzip war noch nie erfolgreich. Insofern muss Beratungen darüber, was man tun kann, um die kleinen man bei diesem Punkt etwas genauer hinschauen. und mittleren Unternehmen besser zu fördern. Bezüglich der Frage, wie Ideen schneller in Produkte Danke. und Dienstleistungen umgesetzt werden können, haben (Beifall bei der SPD) wir innerhalb der Koalition ein Programm zur Validie- rungsforschung angeregt und erfolgreich durchgesetzt. Wir werden sicherlich bei der Debatte über den nächsten Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Bericht sehen, dass das ein guter Ansatzpunkt ist. Uwe Barth spricht jetzt für die FDP-Fraktion. Im Bereich Investitionen in Innovationen ist die Bun- (Beifall bei der FDP) desseite im Forschungsbereich gut aufgestellt. Das ist überhaupt keine Frage. Es stimmt aber auch, wie die Uwe Barth (FDP): Gutachter allen ins Stammbuch schreiben: Es fehlen In- Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol- vestitionen ins Bildungssystem. Deswegen ist der aktu- legen! Deutschland als Forschungsstandort an der Welt- elle Wettlauf um Steuersenkungen absolut kontrapro- spitze zu etablieren, dieses Ziel eint uns alle hier im duktiv. Hohen Hause. Wenn es uns allerdings nicht gelingt, eine (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten entsprechende Anzahl Forschungsstandorte in den des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) neuen Ländern zu etablieren, die diesem Anspruch ebenfalls gerecht werden, wird Deutschland dieses Ziel Die Debatte, die darüber geführt wird, ist ja nun wirklich insgesamt nicht erreichen können. eine Innovationshinderungsdebatte. Wir freuen uns aus- drücklich über die Unterstützung von Frau Schavan für (Beifall bei der FDP) unsere Position, dass Bildungsinvestitionen Vorr ang Dessen sind sich die Bundesregierung und offenbar auch vor Steuersenkungen haben müssen. Ich gehe einmal da- die Koalitionsfraktionen bewusst; denn schon im Koali- von aus, dass sich auch alle anderen Kollegen von der tionsvertrag ist das Ziel formuliert, eine Großfor- Union dieser Position anschließen werden. schungseinrichtung in den neuen Ländern anzusiedeln. (Beifall bei der SPD) Leider warten wir darauf bisher vergebens. Die größte Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008 17149

Uwe Barth (A) Chance, Frau Ministerin, wurde bei der Neutronen-Spal- tungsfähigsten, leistungsstärksten Institute, Universitä- (C) lationsquelle vertan. Die Beteiligung am europäischen ten und industriellen Forschungszentren aufzubauen, ist Fusionsprojekt bei Greifswald und das Biomassefor- in Jena in den vergangenen Jahren bereits beispielhaft schungszentrum in Leipzig können beide dem Anspruch gelungen. Mit der Universität, der Fachhochschule, dem einer Großforschungseinrichtung nicht gerecht werden. interdisziplinären Campus am Beutenberg und einer ganzen Reihe höchstkarätiger forschender Unternehmen Der „Bundesbericht Forschung und Innovation 2008“ hat sich Jena nicht nur zu einem Vorzeigestandort in den sagt viel über die hervorragende Arbeit der Forscher und neuen Ländern entwickelt, sondern ist als Wissen- Wissenschaftler an den Standorten in den neuen Ländern schafts- und Forschungsstandort auch international ein aus. Ich sage ausdrücklich nicht: der ostdeutschen For- Begriff. scher; denn es handelt sich hier in aller Regel um inter- national zusammengesetzte und international agierende Darüber hinaus – das ist das Besondere an dieser Be- Forscherteams. Der Bericht weist aber auch auf grundle- werbung – ist Jena mit seinen historisch gewachsenen gende strukturelle Probleme hin. Für die, die ihn nicht Verbindungen nach Ost und West fast natürlicher Kris- auswendig gelernt haben wie die Kollegin Aigner, zitiere tallisationspunkt für genau die Aufgabe, die das EIT hat, ich aus dem Bericht. Es heißt: nämlich künftig Motor und Vermittler in der europäi- schen Forschungspolitik zu sein. Hinsichtlich des in Bund/Land-finanzierten For- schungseinrichtungen tätigen Personals besteht zum Bundesdurchschnitt ein deutlicher Rückstand. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Entscheidende Ursache hierfür ist, dass Thüringen Herr Kollege! über keine Großforschungseinrichtung verfügt. Uwe Barth (FDP): Das ist ein Zitat aus dem Teil des Berichts für Thürin- Deshalb – lassen Sie mich das zum Abschluss noch gen. Weiter heißt es: sagen, sehr verehrte Frau Präsidentin – wären mit einer Thüringen konnte im Jahr 2006 seinen Spitzenplatz Entscheidung für Jena mehrere Zeichen verbunden: zum innerhalb der neuen Länder mit 27 Patenten je einen Anerkennung der Aufbauleistung gerade im Be- 100 000 Einwohnern … behaupten, erreichte aber reich Wissenschaft, Forschung und Bildung und zum an- nicht den Durchschnitt der alten Länder (58). deren ein Signal an die Beitrittsländer der EU, dass der Aufbau gelingen kann. Ich hoffe deshalb, dass sich die Thüringen und Sachsen zählen hinsichtlich der Bundesregierung auch heute Abend in Brüssel mit all ih- FuE-Beschäftigten, so heißt es abschließend, ren Mitteln für Jena als Standort in den neuen Ländern zu den potenzialstärksten neuen Bundesländern. einsetzt. Ich bin sicher, dass dadurch der Forschungs- (B) (D) Dennoch wird das Niveau der alten Länder bei Wei- standort Deutschland insgesamt, auch in Karlsruhe, eine tem noch nicht erreicht. erhebliche Stärkung im internationalen Spiel der For- schungsstandorte erfährt. Das zeigt, dass es zwar ein Potenzial gibt, dass aber das Problem besteht, dass die Chancen zur Nutzung die- Herzlichen Dank. ses Potenzials seitens des Bundes bisher verspielt oder (Beifall bei der FDP) einfach nicht ergriffen wurden. (Beifall bei der FDP) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Viele Möglichkeiten hierzu wird es in den nächsten Jah- Nur wegen Jena habe ich Sie noch weitersprechen ren, insbesondere auf europäischer Ebene – hier spielt lassen. forschungspolitisch nun einmal die große Musik –, auch Der Kollege Dr. Heinz Riesenhuber hat das Wort für nicht mehr geben. die Fraktion der CDU/CSU. In diesen Tagen gibt es nun diese große Chance. Die (Beifall bei der CDU/CSU) Bundesregierung hat die Bewerbung von Jena um den Sitz des Europäischen Technologieinstitutes unter- Dr. Heinz Riesenhuber (CDU/CSU): stützt. Das freut mich ausdrücklich. Ich habe das Ihnen, Hochverehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolle- Frau Ministerin, gegenüber auch zum Ausdruck ge- gen! Frau Burchardt hat zu Recht das interessante Gut- bracht. Es ist klar, dass es hier um mehr als nur um einen achten der EFI, der Expertenkommission für Forschung Verwaltungssitz geht. Jena ist nicht nur Sitz einer inter- und Innovation, herausgestellt. An einigen Stellen kann national anerkannten Universität, die übrigens dieses man sich noch gewisse Verbesserungen vorstellen. Die Jahr 450 Jahre alt wird, einer Fachhochschule, Standort Gliederung könnte ein bisschen straffer und das Inhalts- von Hightechindustrie und Sitz von weltweit agierenden verzeichnis instruktiver sein. Der Aufbau könnte schlüs- forschenden Unternehmen. In Jena gibt es 30 For- siger und die Überschneidungen geringer sein. schungseinrichtungen, darunter drei Max-Planck-Insti- tute, zwei Leibniz-Institute und ein Fraunhofer-Institut. (Ulla Burchardt [SPD]: Und Lesbarer!) Gerade die Aufgabe des Europäischen Technologie- Dies alles ist richtig. Wenn das realisiert würde, bekä- instituts, die Zusammenarbeit von Forschung und Wirt- men wir eine Qualität, die vergleichbar wäre mit dem schaft und damit auch Innovation und Spitzenforschung Gutachten des Sachverständigenrats des Wirtschafts- zu fördern, Cluster herauszubilden, Netzwerke der leis- ministers. Das wäre eine schöne Sache. 17150 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008

Dr. Heinz Riesenhuber (A) Interessant ist aber, wo die Experten die Schwer- schaft seit Jahren ein zentraler Bestandteil unserer For- (C) punkte setzen. Sie suchen in den Programmen nicht da- schungspolitik ist. nach, an welchen einzelnen Stellen es noch Optimie- Zur Spitzenforschung gehören auch die wissensinten- rungspotenzial gibt, sondern sie schauen, wie man die siven Dienstleistungen. Die EFI schreibt, dass 30 Pro- strukturellen Schwerpunkte anders setzen kann. zent der Wertschöpfung in Deutschland auf wissens- Ich will jetzt nicht über Fragen philosophieren, die intensiven Dienstleistungen und nur 14 Prozent auf wir alle kennen. Dazu gehört die Frage, wo wir stark Waren, die aufgrund der Forschung produziert wurden, sind, also im Bereich der Automobilindustrie, der Medi- beruhen. Das heißt, hier liegt ein enormes Potenzial. Das zintechnik, der Chemie und des Maschinenbaus. Ich will wissen wir seit 22 Jahren. Aber dieses Potenzial zu nut- nicht darüber sprechen, wie stark unsere Infrastruktur zen ist sehr schwierig in Bezug auf die Abgrenzung zwi- insgesamt ist. Dazu gehören der Arbeitsfrieden, die Ver- schen Wirtschaft und Wissenschaft und die Zielgenauig- kehrsinfrastruktur und die Infrastruktur im Bereich der keit der aufgelegten Programme. Kommunikationstechnik. Ich will auch nicht über unsere Die Programme, die die Forschungsministerin hier Position, was die Anzahl der Patentanmeldungen angeht, initiiert, einschließlich der neuen Validierungspro- und über die Hightech-Strategie im Einzelnen sprechen, gramme, sind außerordentlich interessant. die von Frau Schavan angelegt wurde. Denn im Grunde ist der Kern der Botschaft auf wenige Punkte zusammen- (Beifall der Abg. Ilse Aigner [CDU/CSU]) zufassen. Diese Botschaft lautet, man solle sozusagen Die Frage ist, ob davon auch die Innovationsstrategien von oben an das Problem herangehen. kleiner und mittlerer Unternehmen profitieren. Ich Frau Schavan hat entschieden gefordert – das ist der nenne in diesem Zusammenhang die neue Form des erste Punkt –, dafür zu sorgen, dass genügend Geld für ZIM-Programms, worüber wir in Kürze wohl diskutie- die Forschung ausgegeben wird. Die Kollegin Ilse ren werden. Die Aufwendungen des Mittelstands für In- Aigner hat dargestellt, dass der Bund hier wirklich auf novationen stagnieren zum Teil schon seit mehreren Jah- ren, ungefähr seit dem Jahr 2000. Dass wir in den letzten Linie ist. Wir müssen es schaffen, die Länder mitzuneh- Jahren, seit 2005, die Mittel jährlich um rund 10 Prozent men, die bis jetzt unterschiedlich auf entsprechende For- gesteigert haben, ist eine großartige Sache. Wir hoffen, derungen reagieren. „Allianz Bayern Innovativ: Netz- es zündet. Aber genügt dies schon? werke für Bayern“; das Programm „LOEWE“ in Hessen und der Innovationspreis in Nordrhein-Westfalen sind So können Sie es auch bei den Gründungen sagen. prächtige Sachen. Wir müssen aber dafür sorgen, dass es Mit den Programmen – EXIST, ProBio, dem EIF-ERP- auf breiter Front vorangeht. Programm, dem Programm des Hightech-Gründerfonds (B) usw. – tut der Staat viel. Aber bringt dies die Sache end- (D) Die letzten Zahlen stammen aus dem Jahr 2005. Viel- gültig voran? Das heißt, wohin Sie schauen, haben wir leicht sind die Länder besser, als wir glauben. Wir erfah- das, was wir in einem klassischen Modell tun können, in ren im Juni die neuen Zahlen und müssen dann dafür vorzüglicher Weise vorangebracht. sorgen, dass die Länder mitziehen. Denn nur mit ihnen gemeinsam können wir die Wirtschaft zu der Anstren- Aber dann spricht der Expertenrat davon: Wir müssen gung veranlassen, die wir brauchen. Dementsprechend bei den Steuern ansetzen. Frau Hinz, Sie haben zu Recht müssen wir handeln. darauf hingewiesen: Wir sind noch nicht uneinge- schränkt glücklich mit dem MoRak, was das Wagnis- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- kapital betrifft. Wir haben durchaus noch Entwicklungs- neten der SPD) potenzial. Darüber verhandeln wir ja auch. Wir haben uns übrigens vorgenommen, das Ganze in zwei Jahren Die EFI setzt in ihrer Weisheit einige Schwerpunkte. zu evaluieren; vielleicht muss der Sprung sehr viel grö- Da ist zunächst einmal die Spitzenforschung. Das alte ßer sein. Paradigma der deutschen Forschungspolitik war, dass wir Meister der Systeme, aber selten in der Spitze sind. Ein anderer Punkt aber ist, die Gesamtstrategie darzu- Das reicht aber in dieser kompetitiven Welt nicht mehr stellen. aus. Wenn China fünfmal so viele Ingenieure bei ver- (Zuruf der Abg. Ulrike Flach [FDP]) gleichbarer Qualifikation als wir ausbildet, dann müssen wir wesentlich besser sein, um auf den Weltmärkten an- – Wir verhandeln, liebe Frau Flach. Sie sollten ebenso gesichts unserer hohen Löhne bestehen zu können. nachdrücklich verhandeln. Der Parlamentarische Staats- sekretär des Finanzministeriums lächelt freundlich; das Die Frage lautet: Wo setzen wir an? Eine Antwort ist: ist ein gutes Zeichen für die Zukunft Deutschlands. Da- Bei der Spitzenforschung. Es sollen 3 Prozent pro Jahr rauf wollen wir weiter bauen. mehr für die Deutsche Forschungsgemeinschaft und für die Max-Planck-Gesellschaft ausgegeben werden. Es (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und gibt außerdem die Exzellenzinitiative und den Spitzen- der SPD) cluster-Wettbewerb. Das sind zwar schöne Dinge. Aber Genauso ist in weitgehendem Konsens und offen die die Frage ist, wie wir neue Produkte und neue Ideen aus Fragestellung zu diskutieren: Wollen wir nicht eine stär- der Grundlagenforschung auf den Markt bekommen. kere Forschungsförderung über die Steuern hinbe- Diese Frage ist nicht simpel zu beantworten, und wir ha- kommen? ben noch keine Antwort darauf, obwohl das Paradigma der Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft und Wirt- (Beifall bei der FDP) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008 17151

Dr. Heinz Riesenhuber (A) Wie legen wir dies an? Wie können wir dies gezielt er- Lassen Sie uns die Fröhlichkeit in der ganzen Breite die- (C) reichen? Wenn wir beides zusammennehmen – die steu- ses prachtvollen Parlaments in die Forschung bringen! erliche Förderung des Wagniskapitals in der vernünftigen Dann haben wir den Geist im Land, der die Zukunft für Konzeption, die wir haben, und die steuerliche Förderung alle erobert. der mittelständischen Forschung über Tax Credits –, (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der (Ulrike Flach [FDP]: Aber es wird Zeit!) FDP sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) dann haben wir eine Strategie, die durchschlagen kann. Sie wird Produkte, die im Rahmen von Spitzenforschung entstehen, schneller auf den Markt bringen. Das ist eine Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Lösung dieses Problems. Sie wird die kleinen und mitt- Das war jetzt kurz vor rhythmischem Applaus für leren Unternehmen ohne Bürokratie zu größeren For- Nietzsche. Wer hätte das gedacht. schungsanstrengungen führen. Sie wird die wissen- Ich gebe jetzt dem Kollegen Klaus Hagemann das schaftsbasierten Dienstleistungen so angehen, dass wir Wort für die SPD-Fraktion. damit eine schnelle Umsetzung neuen Wissens in neue Arbeitsplätze erzielen. Wenn wir an die steuerlichen (Beifall bei der SPD) Maßnahmen im Wagniskapitalbereich bis hin zum Be- reich der Gründungsförderung und im Bereich der For- Klaus Hagemann (SPD): schungsförderung insbesondere mittelständischer Unter- Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und nehmen breit und unbürokratisch herangehen, dann Herren! Ich kann leider wegen einer kleinen schmerzhaf- haben wir eine neue Lage. ten Stelle am Fuß meine Rede nicht so tänzelnd vortra- gen, wie wir das eben erlebt haben. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (Heiterkeit bei der SPD – Jürgen Koppelin Sehr geehrter Herr Kollege, – [FDP]: Schade!)

Dr. Heinz Riesenhuber (CDU/CSU): – Das ist schade, lieber Kollege Jürgen Koppelin. Gnädige Frau! Ich bin auch nicht ganz einverstanden mit dem tollen Gemälde, das Kollege Riesenhuber in Bezug auf die Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: steuerliche Regulierung der Forschungsausgaben ge- – Ihre Redezeit ist jetzt mehr als überschritten. zeichnet hat. (B) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (D) Dr. Heinz Riesenhuber (CDU/CSU): Ich habe hier noch vier – – Frau Flach, jetzt rufe ich Sie als Zeugin auf: Auf unserer Reise nach Kanada und in die Vereinigten Staaten im vergangenen Jahr haben wir natürlich auch Negatives Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: gehört. Da ist ein Minus davor. (Ulrike Flach [FDP]: Aber auch viel (Heiterkeit im ganzen Hause) Positives!)

Dr. Heinz Riesenhuber (CDU/CSU): Dort hat man dieses Instrument schon und ist eben nicht Ich achte die Autorität der Präsidentin. so außerordentlich begeistert, wie es Herr Riesenhuber dargestellt hat. Liebe Kollegen, es kommt also in der Sache auf Fol- gendes an: In dem Bericht, der uns vorgelegt worden ist, ist einer der wichtigsten Sätze: Deutschland ist ein attraktiver und (Heiterkeit im ganzen Hause) begehrter Forschungsstandort. Lassen Sie uns dem, was wir hier so prächtig entwickelt (Beifall bei Abgeordneten der SPD) haben, eine neue Dimension der Forschungsstrategie hinzufügen, indem wir die Steuern nutzen, um die For- Das ist sicherlich richtig. schung zu steuern, sodass jeder mit fröhlichem Unter- Entgegen der Schwarzmalerei der Oppositionspar- nehmungsgeist in die Wirklichkeit aufbricht. teien bestätigt der Forschungsbericht – das möchte ich (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) unterstreichen –, dass in den letzten zehn Jahren viel Gu- tes geleistet worden ist. Es geht dabei nicht nur um die Jahre 2005 bis 2007, sondern auch um die Jahre davor. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: 2008 werden 10,5 bis 11 Milliarden Euro Bundesmittel Aufbruch ist ein gutes Stichwort, Herr Riesenhuber. für den Bereich Forschung zur Verfügung stehen. Ich be- tone, dass es sich dabei um Bundesmittel handelt. Mehr Dr. Heinz Riesenhuber (CDU/CSU): als zwei Drittel, nämlich 68 Prozent der gesamten For- Nietzsche hat einmal gesagt: Fröhlicher müssten die schungsmittel, werden durch den Bund gestemmt. Das Christen sein, damit ich an ihren Gott glaube. sollten wir uns noch einmal in Erinnerung rufen. (Heiterkeit im ganzen Hause) (Beifall bei der SPD) 17152 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008

Klaus Hagemann (A) Kollegin Aigner, ich spreche von den staatlichen Mit- Betriebe besuche, höre ich immer wieder, dass das (C) teln. Die Länder profitieren sehr stark von den For- Wagniskapital fehlt oder die Kreditinstitute nur unter schungseinrichtungen, hauptsächlich von den Instituten schwierigen Bedingungen Kredite bereitstellen. Unsere der Helmholtz-Gemeinschaft. Diese Einrichtungen sor- staatlichen Instrumente, zum Beispiel unsere Förderpro- gen nämlich dafür, dass im Umfeld noch mehr For- gramme, müssen darauf abgeklopft werden. Aber auch schungsinstitutionen entstehen. Bei uns in Rheinhessen die Zusammenarbeit mit der Kreditanstalt für Wieder- sagt man: Wo Tauben sind, fliegen weitere Tauben hin. aufbau, der KfW, sei in diesem Zusammenhang genannt. Das gilt beispielsweise für die süddeutschen Länder, die Lassen Sie mich ein Beispiel in Erinnerung rufen: den von den Entscheidungen und Geldern des Bundes sehr berühmten MP3-Player. Ich sehe auf der Besuchertri- stark profitieren. Das sollen sie ruhig, aber wir müssen büne viele Jugendliche. Bestimmt haben fast alle von ih- auch an die anderen Regionen denken, die unterschied- nen einen MP3-Player. Das ist eine deutsche Entwick- lich stark profitieren. lung, eine Entwicklung der Fraunhofer-Gesellschaft. Die (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Kapitalseite wurde damals gebeten, die Finanzierung der FDP) vorzunehmen, um in die Produktion einsteigen zu kön- nen. Die deutsche Seite war aber nicht bereit, dieses Wir wissen, wie wichtig erfolgreiche Forschungs- Wagnis einzugehen. Was haben die Entwickler und die ergebnisse von heute für neue, innovative Produkte und Forscher getan? Sie sind in die USA gegangen und ha- Dienstleistungen und damit für die Arbeitsplätze von ben das Produkt dort in Serie gehen lassen. Jetzt verkau- morgen sind. In diesem Zusammenhang spielt natürlich fen sie es, und es ist ein Verkaufsschlager. Die Arbeits- auch Regionalpolitik eine Rolle. Dynamik gibt es überall plätze sind in den USA geschaffen worden. So kann es dort in der Wirtschaft, wo geforscht wird. Deswegen nicht gehen. wollen wir die Forschung in den Mittelpunkt stellen. (Beifall bei der SPD) Um erfolgreich forschen zu können, braucht man gute und gut ausgebildete Forscher; das wird uns immer wie- Das ist nicht das einzige Beispiel in diesem Zusam- der deutlich gemacht. Deshalb ist es sinnvoll, den Hoch- menhang. Wir wissen, dass es beim Faxgerät in den 80er- schulpakt, den wir beschlossen haben, weiterzuführen, Jahren ähnlich gelaufen ist. Es war eine deutsche Ent- die Exzellenzinitiative zu evaluieren und weiterzufüh- wicklung, die nachher in Japan weitergeführt worden ist. ren, Mittel für den Hochschulbau zur Verfügung zu stel- Wer am letzten Forschungsfrühstück der Helmholtz- len und das BAföG, die Stipendien sowie das Meister- Gemeinschaft vor 14 Tagen teilgenommen hat, der konnte BAföG voranzubringen. Ich bin insbesondere unserem ähnliche Signale hören. Es gibt ausgereifte Techniken für Finanzminister dankbar dafür, dass er entsprechende Ini- den Verbund von Wind-, Solar- und Biogasanlagen bei der (B) tiativen unterstützt hat. Diejenigen, die jetzt am lautesten alternativen Energieerzeugung. Professor Dinjus hat dar- (D) über Fachkräftemangel klagen, sind diejenigen, die die auf hingewiesen; der Vizepräsident der Helmholtz-Ge- wenigsten Ausbildungsplätze und zu wenig Ingenieur- meinschaft ebenso. Es kommen immer wieder Klagen, stellen zur Verfügung gestellt haben. dass die deutsche Wirtschaft nicht bereit ist, das zu finan- (Beifall bei der SPD) zieren und zu unterstützen. Man muss darauf achten, dass hier andere Wege eingeschlagen werden. Wir sind mit unserer Forschungspolitik auf einem gu- ten Weg. Wir dürfen uns auf den Lorbeeren aber nicht (Beifall bei der SPD) ausruhen – das ist sehr wichtig –; Denn – auch das war beim Forschungsfrühstück deutlich (Beifall des Abg. René Röspel [SPD]) zu hören – die Angebote aus dem Ausland, beispiels- weise aus Frankreich, diese ausgereifte Technik zu über- denn Stillstand wäre Rückschritt, darauf ist der Fokus zu nehmen, sind vorhanden. Hier muss im deutschen Inte- richten. resse entsprechend gehandelt werden. Andere Länder – sie sind heute schon genannt worden – (Beifall bei Abgeordneten der SPD) schlafen nicht, sondern wirken. Ich möchte ein Beispiel aus der Türkei nennen. Ich war in der vorigen Woche in Lassen Sie mich zum Schluss noch ein Thema anspre- Istanbul. Es wurde ein Gesetz beschlossen, dass in den chen – meine Redezeit geht langsam zu Ende –: Wir fi- nächsten Jahren in der Türkei 39 neue Universitäten ge- nanzieren mit Forschungsgeldern die Zukunft. Aber wir gründet werden sollen. Wir sind gefordert, entsprechend haben mit Forschungsgeldern auch sehr viel Vergange- voranzugehen. nes zu finanzieren, nämlich die Beseitigung des atoma- ren Abfalls der Forschungsreaktoren, beispielsweise in Es wurde bereits von Schwachstellen im System ge- Karlsruhe. Man hatte damit gerechnet, die Beseitigung sprochen. In diesem Zusammenhang ist die Umsetzung dieser 60 Kubikmeter Atommüll mit 1 Milliarde Euro fi- der Forschungsergebnisse in Produkte und Dienstleis- nanzieren zu können. Zwischenzeitlich stellte man fest, tungen anzusprechen. Meine Kollegin Ulla Burchardt dass man jetzt schon 2,17 Milliarden Euro zur Beseiti- hat darauf hingewiesen, dass in dem Bericht deutlich gung dieser 60 Kubikmeter Atommüll benötigt. Das ist hervorgehoben wird, dass mehr Wagniskapital für In- nicht Zukunftsunterstützung, sondern Vergangenheitsbe- novationen mobilisiert werden muss, um Leitmärkte ent- wältigung. Natürlich muss der Dreck weg; das ist klar. wickeln zu können. Es müssen Regelungen für eine wirksame und international wettbewerbsfähige Förde- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der rung von Wagniskapital gefunden werden. Die Kapital- LINKEN – Abg. Jörg Tauss [SPD] meldet sich seite darf nicht zu restriktiv behandelt werden. Wenn ich zu einer Zwischenfrage) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008 17153

(A) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- (C) Herr Kollege. gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab- kommen vom 7. Dezember 2004 zwischen der Klaus Hagemann (SPD): Regierung der Bundesrepublik Deutschland Aber die Kosten laufen uns davon. und dem Schweizerischen Bundesrat zum Ver- trag vom 23. November 1964 über die Einbe- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: ziehung der Gemeinde Büsingen am Hoch- Herr Kollege. rhein in das schweizerische Zollgebiet über die Erhebung und die Ausrichtung eines Anteils Klaus Hagemann (SPD): der von der Schweiz in ihrem Staatsgebiet und Mein letzter Satz – ich folge hier meinem Vorredner –: im Gebiet der Gemeinde Büsingen am Hoch- Die öffentliche Hand braucht ausreichend Steuereinnah- rhein erhobenen leistungsabhängigen Schwer- men. verkehrsabgabe (LSVA-Abkommen Büsingen) – Drucksache 16/9041 – Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Ich musste die Zwischenfrage von Herrn Tauss ab- Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss (f) weisen, weil er sich nach Ablauf Ihrer Redezeit dazu ge- Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung meldet hat. Aber Ihr letzter Satz soll Ihnen gewährt sein. c) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Klaus Hagemann (SPD): gebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Mein letzter Gedanke. Kollegin Aigner hat darauf Änderung des Güterkraftverkehrsgesetzes hingewiesen, dass wir noch viel Geld benötigen, um die und anderer Gesetze Forschung zu finanzieren. Dafür muss der Staat natür- – Drucksache 16/9236 – lich auch die entsprechenden Einnahmen haben. Überweisungsvorschlag: (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f) Innenausschuss Deswegen muss beispielsweise die CSU noch einmal darüber nachdenken, ob ihr Steuerkonzept auf Pump ge- d) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- eignet ist, um Zukunftsinvestitionen durch den Staat för- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur verbes- dern – serten Einbeziehung der selbstgenutzten Wohnimmobilie in die geförderte Altersvor- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: sorge (Eigenheimrentengesetz – EigRentG) (B) (D) Herr Kollege. – Drucksache 16/9274 – Überweisungsvorschlag: Klaus Hagemann (SPD): Finanzausschuss (f) – und unterstützen zu können. Die Süddeutsche Zei- Auswärtiger Ausschuss tung hat gestern unter der Überschrift „Ein Lob der Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und SPD“ formuliert: „Ihr Finanzkonzept ist seriöser als das Verbraucherschutz der CSU“. Recht hat sie. Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Vielen Dank, meine Damen und Herren. Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (Beifall bei der SPD) Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO e) Erste Beratung des von den Fraktionen CDU/ Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: CSU, SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Damit schließe ich die Aussprache. NEN eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des Europaabgeordnetengeset- Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 16/9260 und 16/8600 an die in der Ta- zes und eines … Gesetzes zur Änderung des gesordnung vorgesehenen Ausschüsse vorgeschlagen. – Abgeordnetengesetzes Ich sehe, damit sind Sie einverstanden. Dann sind die – Drucksache 16/9300 – Überweisungen so beschlossen. Überweisungsvorschlag: Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 35 a bis 35 l Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung (f) sowie die Zusatzpunkte 2 a bis 2 e auf: Innenausschuss 35 a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Jörn Rechtsausschuss Wunderlich, Klaus Ernst, Dr. Martina Bunge, Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union weiteren Abgeordneten und der Fraktion DIE f) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- LINKE eingebrachten Entwurfs eines Zweiten gebrachten Entwurfs eines Achten Gesetzes zur Gesetzes zur Änderung des Unterhaltsvor- Änderung des Gemeindefinanzreformgesetzes schussgesetzes – Drucksachen 16/9275, 16/9288 – – Drucksache 16/7889 – Überweisungsvorschlag: Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss (f) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f) Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Rechtsausschuss Haushaltsausschuss 17154 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt (A) g) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- l) Beratung der Unterrichtung durch die Bundes- (C) gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab- regierung kommen vom 8. November 2007 zwischen der Erster Erfahrungsbericht der Bundesregie- Bundesrepublik Deutschland und dem König- rung gemäß § 24 des Soldatinnen- und Solda- reich Saudi-Arabien zur Vermeidung der Dop- tengleichstellungsgesetzes (Berichtszeitraum pelbesteuerung auf dem Gebiet der Steuern 1. Januar 2005 bis 31. Dezember 2006) vom Einkommen und vom Vermögen von Luftfahrtunternehmen und der Steuern von – Drucksache 16/7920 – den Vergütungen ihrer Arbeitnehmer Überweisungsvorschlag: Verteidigungsausschuss (f) – Drucksache 16/9276 – Innenausschuss Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss Finanzausschuss (f) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ZP 2 a)Beratung des Antrags der Abgeordneten Ina h) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Lenke, Sibylle Laurischk, Miriam Gruß, weiterer gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab- Abgeordneter und der Fraktion der FDP kommen vom 31. August 2006 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland Faire Chancen für private und privat-gewerb- und der Regierung der Sozialistischen Repu- liche Anbieter bei der Kinderbetreuung – blik Vietnam über die Zusammenarbeit bei Ohne weiteres Zögern Entwurf des Kinderför- der Bekämpfung von schwerwiegenden Straf- derungsgesetzes vorlegen taten und der Organisierten Kriminalität – Drucksache 16/8406 – – Drucksache 16/9277 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f) Überweisungsvorschlag: Innenausschuss Innenausschuss (f) Ausschuss für Arbeit und Soziales Rechtsausschuss b) Beratung des Antrags der Abgeordneten i) Beratung des Antrags des Bundesministeriums Hüseyin-Kenan Aydin, Heike Hänsel, Karin der Finanzen Binder, weiterer Abgeordneter und der Fraktion Entlastung der Bundesregierung für das DIE LINKE Haushaltsjahr 2007 Hermesbürgschaft für das Ilisu-Staudamm- (B) – Vorlage der Haushalts- und Vermögensrech- projekt zurückziehen (D) nung des Bundes (Jahresrechnung 2007) – – Drucksache 16/9308 – – Drucksache 16/8834 – Überweisungsvorschlag: Überweisungsvorschlag: Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Haushaltsausschuss Entwicklung (f) Auswärtiger Ausschuss j) Beratung des Antrags der Abgeordneten Laurenz Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Meyer (Hamm), Dr. Heinz Riesenhuber, Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Dr. Michael Fuchs, weiterer Abgeordneter und Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeord- c) Beratung des Antrags der Abgeordneten neten Ute Berg, Dr. , Doris Barnett, Dr. Hermann Otto Solms, Carl-Ludwig Thiele, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Frank Schäffler, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Das neue Zentrale Innovationsprogramm Mit- telstand ZIM optimal ausgestalten und konso- Mehr Netto für alle lidierungskonform finanzieren – Drucksache 16/9310 – – Drucksache 16/8905 – Überweisungsvorschlag: Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss (f) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Haushaltsausschuss Ausschuss für Bildung, Forschung und d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Bettina Technikfolgenabschätzung Haushaltsausschuss Herlitzius, Britta Haßelmann, Markus Kurth, weiterer Abgeordneter und der Fraktion k) Beratung des Antrags des Präsidenten des Bun- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN desrechnungshofes Barrierefreiheit und demografischer Wandel – Rechnung des Bundesrechnungshofes für das Auf die Herausforderungen für den Touris- Haushaltsjahr 2007 mus reagieren – Einzelplan 20 – – Drucksache 16/9315 – – Drucksache 16/9046 – Überweisungsvorschlag: Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Tourismus (f) Haushaltsausschuss Rechtsausschuss Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008 17155

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt (A) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie CDU/CSU SPD, der Linken und FDP gegen die Stim- (C) Ausschuss für Arbeit und Soziales men von Bündnis 90/Die Grünen. Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Bildung, Forschung und Unter Nr. 2 empfiehlt der Ältestenrat, den Entschlie- Technikfolgenabschätzung ßungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/7537 zu der Großen Anfrage mit dem Ti- e) Unterrichtung durch die Bundesregierung tel „Europäisches Jahr der Chancengleichheit für alle“ Bericht über die Auswirkungen von Rabatt- für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschluss- vereinbarungen für Arzneimittel, insbeson- empfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Damit dere auf die Wirksamkeit der Festbetragsrege- ist die Beschlussempfehlung mit den Stimmen der Koali- lung tion und der FDP gegen die Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion Die Linke angenom- – Drucksache 16/9284 – men. Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Pe- titionsausschusses. Es handelt sich hierbei um Überweisungen im ver- einfachten Verfahren ohne Debatte. Tagesordnungspunkt 36 b: Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu ausschusses (2. Ausschuss) überweisen. Sammelübersicht 407 zu Petitionen Die Vorlage auf Drucksache 16/9308 – Zusatz- – Drucksache 16/9081 – punkt 2 b – soll abweichend von dem in der Tagesord- nung aufgeführten Ausschuss federführend im Aus- Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- schuss für Wirtschaft und Technologie beraten werden. – tungen? – Die Sammelübersicht 407 ist einstimmig an- Damit sind Sie einverstanden. Dann ist das so beschlos- genommen. sen. Tagesordnungspunkt 36 c: Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 36 a bis 36 i auf. Es handelt sich um die Beschlussfassung zu Vorla- Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- gen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist. ausschusses (2. Ausschuss) (B) Tagesordnungspunkt 36 a: Sammelübersicht 408 zu Petitionen (D) Beratung der Beschlussempfehlung und des – Drucksache 16/9082 – Berichts des Ältestenrats Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- – zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU tungen? – Die Sammelübersicht 408 ist ebenfalls ein- und der SPD stimmig angenommen. Chancen der Charta der Vielfalt nutzen Tagesordnungspunkt 36 d: – zu dem Entschließungsantrag der Fraktion Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zu der Beratung ausschusses (2. Ausschuss) der Großen Anfrage der Abgeordneten Volker Beck (Köln), Irmingard Schewe-Gerigk, Sammelübersicht 409 zu Petitionen Marieluise Beck (Bremen), weiterer Abgeord- – Drucksache 16/9083 – neter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- tungen? – Die Sammelübersicht ist bei Zustimmung des Europäisches Jahr der Chancengleichheit Hauses mit Ausnahme des Bündnisses 90/Die Grünen, für alle das dagegen gestimmt hat, angenommen. – Drucksachen 16/8502, 16/7537, 16/9219 – Tagesordnungspunkt 36 e: Berichterstattung: Abgeordneter Dr. Norbert Lammert Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- ausschusses (2. Ausschuss) Der Ältestenrat empfiehlt unter Nr. 1 seiner Be- schlussempfehlung, in Kenntnis seines Beschlusses vom Sammelübersicht 410 zu Petitionen 8. Mai 2008 den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU – Drucksache 16/9084 – und SPD auf Drucksache 16/8502 mit dem Titel „Chan- cen der Charta der Vielfalt nutzen“ für erledigt zu erklä- Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- ren. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – tungen? – Die Sammelübersicht ist bei Zustimmung des Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Damit ist die Be- Hauses mit Ausnahme der Fraktion Die Linke, die dage- schlussempfehlung angenommen mit den Stimmen von gen gestimmt hat, angenommen. 17156 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt (A) Tagesordnungspunkt 36 f: Oppositionsfraktionen nicht nur im Parlament und in sei- (C) nen Ausschüssen, sondern auch in den mit Parlamentari- Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- ern zu besetzenden externen Gremien ist ein konstituti- ausschusses (2. Ausschuss) ves Element jeder Demokratie. Sammelübersicht 411 zu Petitionen (Beifall bei der FDP, der LINKEN und dem – Drucksache 16/9085 – BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- Der Grundsatz, dass die Mehrheit im Parlament nicht al- tungen? – Die Sammelübersicht ist mit den Stimmen des les darf, dass sie auch nicht alle Positionen besetzen darf, Hauses mit Ausnahme der FDP, die dagegen gestimmt darf nicht zur Disposition stehen; vielmehr kommt ihm hat, ebenfalls angenommen. durchaus Verfassungsrang zu. Tagesordnungspunkt 36 g: (Beifall bei der FDP, der LINKEN und dem Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ausschusses (2. Ausschuss) Gegen dieses demokratische Grundprinzip verstößt die Sammelübersicht 412 zu Petitionen Große Koalition ständig, zwar, wie ich fairerweise zuge- ben muss, nicht in allen Fällen, aber immer wieder. Es – Drucksache 16/9086 – gibt sicherlich eine dreistellige Anzahl von Gremien in- Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- nerhalb und außerhalb des Parlaments, in die nur Mit- tungen? – Die Sammelübersicht ist mit den Stimmen von glieder der Koalitionsfraktionen entsendet werden. Koalition und FDP bei Gegenstimmen des Bündnisses 90/ Das Fass zum Überlaufen brachte jetzt die Nachbeset- Die Grünen und der Linken angenommen. zung der Gremien der Deutschen Welle. Es handelt sich Tagesordnungspunkt 36 h: hierbei nicht um eine Klitsche, sondern um den deut- schen Auslandssender, dem nach § 4 des Deutsche- Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- Welle-Gesetzes folgende hehre Ziele zukommen – ich ausschusses (2. Ausschuss) darf zitieren –: Sammelübersicht 413 zu Petitionen Die Angebote der Deutschen Welle sollen Deutsch- – Drucksache 16/9087 – land als europäisch gewachsene Kulturnation und freiheitlich verfassten demokratischen Rechtsstaat Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- verständlich machen. Sie sollen deutschen und an- tungen? – Die Sammelübersicht ist bei Zustimmung von (B) deren Sichtweisen zu wesentlichen Themen vor al- (D) Koalition und Bündnis 90/Die Grünen und Gegenstim- lem der Politik, Kultur und Wirtschaft sowohl in men der FDP und der Linken angenommen. Europa wie in anderen Kontinenten ein Forum ge- Tagesordnungspunkt 36 i: ben mit dem Ziel, das Verständnis und den Aus- tausch der Kulturen und Völker zu fördern. Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- ausschusses (2. Ausschuss) Der Rundfunkrat vertritt nach § 32 des Deutsche-Welle- Sammelübersicht 414 zu Petitionen Gesetzes „die Interessen der Allgemeinheit“ innerhalb der Gremien der Deutschen Welle. – Drucksache 16/9088 – (Jörg Tauss [SPD]: Machen wir doch!) Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- tungen? – Die Sammelübersicht ist bei Zustimmung der Liebe Kolleginnen und Kollegen der Koalitionsfrak- Koalition und Gegenstimmen der Oppositionsfraktionen tionen, Hand aufs Herz: Meinen Sie wirklich, Sie könn- angenommen. ten die parlamentarische Opposition hier vollständig au- ßen vor lassen? Jetzt rufe ich Tagesordnungspunkt 5 auf: (Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Wahl der Mitglieder des Rundfunkrates und des NEN]: Ja, so sind sie!) Verwaltungsrates der Deutschen Welle gemäß §§ 31 und 36 des Deutsche-Welle-Gesetzes Platz gäbe es in den Gremien der Deutschen Welle ge- (DWG) nug. Die Gremien sind durchaus politiknah zusammen- – Drucksachen 16/9350, 16/9351 – gesetzt. Ich erteile zunächst dem Kollegen Hans-Joachim (Unruhe) Otto, der für die Oppositionsfraktionen spricht, das Wort. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (Beifall bei der FDP) Herr Kollege Otto, einen ganz kleinen Augenblick. Ich sehe, dass eine ganze Reihe von Abgeordneten Hans-Joachim Otto (Frankfurt) (FDP): hier vorne zuhören möchte, das aber nicht kann, weil es Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ein Mindestmaß an insbesondere hinten im Saal besonders laut ist. Ich ver- Mitwirkungs-, Informations- und Kontrollrechten der suche es jetzt einmal mit der Glocke und fände es gut, Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008 17157

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt (A) wenn wir den zwei Rednern in dieser Debatte zuhören (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – (C) könnten. Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Dass Sie sich nicht schämen, Herr Hans-Joachim Otto (Frankfurt) (FDP): Krings! Was bekommen Sie denn zur Beloh- Ich darf zu Ihrer Information aufzählen: Drei Mitglie- nung dafür, dass Sie hier diese Rede halten?) der und drei stellvertretende Mitglieder des Rundfunkra- tes stellt die Bundesregierung, zwei Mitglieder und zwei Dr. Günter Krings (CDU/CSU): stellvertretende Mitglieder des Rundfunkrates stellt der Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Bundesrat und zwei Mitglieder und zwei stellvertretende Herren Kollegen! Der Kollege Otto hat eben für die Op- Mitglieder des Rundfunkrates stellt der Bundestag. In positionsfraktionen begründet, wie er sich in dieser Ab- den Verwaltungsrat wird ein Mitglied durch den Bundes- stimmung verhalten wird. Ich werde das als Mitglied ei- rat, ein Mitglied durch den Bundestag und ein stellver- ner der beiden Koalitionsfraktionen ebenfalls tun. tretendes Mitglied durch die Bundesregierung entsendet. Es wundert mich allerdings, dass Sie versuchen, einen Das macht zusammen 17 – in Worten: siebzehn – Ver- Vorgang zu skandalisieren, bei dem es darum geht, dass treter der Politik in den Gremien der Deutschen Welle. ein CDU/CSU-Vertreter durch einen neuen CDU/CSU- Sie wollen alle Sitze durch Unions- und SPD-Mitglieder Vertreter und ein SPD-Vertreter durch einen neuen SPD- besetzen. Das Ganze sollte dann auch noch heimlich, Vertreter im Rundfunkrat ersetzt werden. still und leise hier durchgewunken werden. 17 Vertreter! (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und (Beifall bei der FDP, der LINKEN und dem der SPD – Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Jörg Tauss GRÜNEN: Ist das ein Erbhof?) [SPD]: Habt ihr falsch verhandelt!) Allerdings sind wir uns – das ist mir wichtig – in der Es gab im Vorfeld durchaus Gespräche mit der Koali- Maßstäblichkeit der Entscheidung einig. Es geht um das tion, ob sie nicht wenigstens einen Stellvertretersitz der Interesse der Allgemeinheit, wie es auch im Deutsche- Opposition überlassen könnte. Selbst dieser überaus be- Welle-Gesetz zum Ausdruck kommt. scheidene Wunsch wurde von den Fraktionsführungen abgelehnt. (Lachen bei der FDP – Priska Hinz [Herborn] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Kann das nur (Jürgen Koppelin [FDP]: Arroganz der von der SPD und der CDU/CSU vertreten wer- Macht!) den? Das ist ja peinlich!) Liebe Kolleginnen und Kollegen, damit hier über- (B) Gerade dieses Interesse der Allgemeinheit fordert uns als (D) haupt nicht der Eindruck entstehen kann, uns Freien De- gute Demokraten dazu auf, die Fraktionen in diesem mokraten ginge es hier nicht um die Sache, sondern um Hause nach ihrer Stärke zu berücksichtigen. Pöstchen, haben wir von vornherein nicht ein Mitglied der FDP-Fraktion, sondern eine Kollegin aus einer ande- (Widerspruch beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- ren Fraktion vorgeschlagen, von deren fachlichen und NEN) auch menschlichen Qualifikationen wir total überzeugt Das Mehrheitsprinzip ist das Prinzip der demokratischen sind. Repräsentation. Das zeigt ein Blick in Art. 20 des (Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/ Grundgesetzes jedem, der bereit ist, das Grundgesetz zu DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der lesen. LINKEN) In der letzten Bundestagswahl haben sich über Es gibt keinen vernünftigen Grund dagegen. Dr. Uschi 70 Prozent der Wählerinnen und Wähler in diesem Eid wäre für den Rundfunkrat der Deutschen Welle eine Lande für die CDU/CSU oder die SPD ausgesprochen, große Bereicherung. ob Ihnen das gefällt oder nicht. (Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/ (Zuruf von der FDP: Es gefällt uns nicht! – DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der Priska Hinz [Herborn] [BÜNDNIS 90/DIE LINKEN) GRÜNEN]: Heißt das 100 Prozent der Sitze?) Ich werbe daher gleichermaßen aus fachlichen, mensch- Das heißt, jede der Regierungsfraktionen ist für sich ge- lichen und demokratischen Gründen um Ihre Stimme für nommen stärker als alle drei Oppositionsfraktionen zu- Dr. Uschi Eid und bitte Sie um Ihre Unterstützung. sammen. Vielen Dank. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD) (Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der Das kann man aus Ihrer Sicht bedauern. Aber die Ge- LINKEN) setze der Mathematik lassen sich nicht nach dem Gusto der Opposition außer Kraft setzen. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Deswegen folgen auch alle unsere Personalentschei- Der Kollege Dr. Günter Krings hat jetzt für die Koali- dungen im Deutschen Bundestag den Stärkeverhältnis- tionsfraktionen das Wort. sen der Fraktionen, von der Sitzverteilung in den 17158 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008

Dr. Günter Krings (A) Ausschüssen über die Aufteilung der Ausschussvorsit- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (C) zenden bis hin zur Besetzung externer Gremien. Ent- Mir obliegt es jetzt, das Wahlverfahren zu erläutern. scheidend ist das Stärkeverhältnis der Fraktionen. Wir kommen zunächst zur Wahl der ordentlichen Mit- glieder des Rundfunkrates der Deutschen Welle. Dazu Der Bundestag entscheidet heute über zwei ordentli- liegen Ihnen ein Wahlvorschlag der Fraktionen der che Mitglieder des Rundfunkrates. Wenn Sie, Herr Kol- CDU/CSU und der SPD auf Drucksache 16/9350 sowie lege Otto, versuchen, eine Aufrechnung mit den von der ein weiterer Wahlvorschlag der Fraktionen der FDP und Bundesregierung entsandten Mitgliedern vorzunehmen, Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/9351 vor. dann entspricht das nach meinem Geschmack einem sehr schwierigen parlamentarischen Verständnis. Wer den Ich gebe zunächst einige Hinweise. Es ist vereinbart, Bundestag sozusagen zur Kompensation einer Entschei- dass die Wahl der ordentlichen Mitglieder des Rund- dung der Bundesregierung heranziehen will, hat anschei- funkrates mittels Stimmkarte und Wahlausweis erfolgen nend eine Auffassung vom Bundestag als einem bloßen soll. Die Wahlen der stellvertretenden Mitglieder des Anhängsel der Bundesregierung. Das ist ausdrücklich Rundfunkrates sowie des Mitgliedes und des stellvertre- nicht meine Auffassung. Das entspricht nicht der Würde tenden Mitgliedes des Verwaltungsrates der Deutschen unseres Hauses. Welle erfolgen im Anschluss mittels Handzeichen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Die Stimmkarten für die Wahl wurden verteilt. Sollte der SPD) noch jemand keine haben, so sind sie bei den Plenaras- sistenten und -assistentinnen erhältlich. Außerdem benö- Es ist zu simpel, unseren Bundestag in Regierungsab- tigen Sie Ihren Wahlausweis, den Sie, soweit noch nicht geordnete und Oppositionsabgeordnete aufzuspalten. geschehen, bitte Ihrem Stimmkartenfach draußen ent- Auch in einer Regierungskoalition behalten die Fraktio- nehmen. Bitte achten Sie unbedingt darauf, dass der nen ihre Eigenständigkeit. Es wundert mich gerade in Wahlausweis der Ihrige ist und sich dadurch auszeichnet, dieser Woche ein bisschen, dass Ihnen das nicht aufge- dass darauf Ihr Name steht. fallen zu sein scheint. Die Wahlen finden offen statt. Sie können die Stimm- Die Arbeit des Deutschen Bundestages basiert insbe- karten also auch an Ihrem Platz ankreuzen. Sie haben für sondere auf zwei Grundsätzen. Der erste Grundsatz ist diese Wahl zwei Stimmen. Das heißt, dass Stimmkarten, die Gleichheit aller Abgeordneten. Der zweite Grundsatz die mehr als zwei Kreuze, andere Zusätze wie Zeichnun- ist das Recht der Abgeordneten, sich zu Fraktionen zu- gen oder Ähnliches enthalten, ungültig sind. Gewählt als sammenzuschließen und in Fraktionen zusammenzuar- ordentliche Mitglieder des Rundfunkrates sind die bei- beiten. Beide Grundsätze würden eklatant missachtet, den Abgeordneten, die die meisten Stimmen erhalten ha- (B) wenn man es einer der beiden Regierungsfraktionen mit ben. (D) weit über 200 Mitgliedern des Bundestages versagen würde, ein Mitglied in den Rundfunkrat zu entsenden, Bevor die Stimmkarte in eine der Wahlurnen gewor- während eine Oppositionsfraktion mit nur 51 Mitgliedern fen wird, übergeben Sie bitte Ihren Wahlausweis der ein Mitglied entsenden dürfte. Schriftführerin oder dem Schriftführer an den Wahlur- nen. Der Nachweis der Teilnahme an der Wahl kann nur (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und durch die Abgabe des Wahlausweises erbracht werden. der SPD) Die Schriftführerinnen und Schriftführer bitte ich, ihrer- seits darauf zu achten, dass vor der Stimmabgabe der In unserer parlamentarischen Demokratie besitzt eine Wahlausweis tatsächlich übergeben wird. Oppositionsfraktion keinen höheren Vertretungsan- spruch als eine Regierungsfraktion. Es gibt keine Frak- Jetzt bitte ich die Schriftführerinnen und Schriftfüh- tionen erster und zweiter Klasse, genauso wenig wie es rer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. – Haben jetzt in diesem Hause Abgeordnete erster und zweiter Klasse alle Schriftführerinnen und Schriftführer die Plätze ein- gibt. genommen? – Das scheint der Fall zu sein. Dann eröffne ich die Wahl. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD) Haben alle Mitglieder des Hauses ihre Stimme abge- geben? Ich soll ausdrücklich fragen, ob das auch die Aus diesem Grunde ist das Interesse der Allgemein- Schriftführerinnen und Schriftführer getan haben. – Das heit dem Deutsche-Welle-Gesetz gemäß der gültige scheint der Fall zu sein. Ich schließe die Wahl, bedanke Maßstab. Dieses Interesse der Allgemeinheit wird in der mich herzlich und bitte die Schriftführerinnen und Demokratie aber nicht nach dem Geschmack Einzelner Schriftführer, mit der Auszählung der Stimmen zu be- – auch nicht einzelner Oppositionspolitiker – definiert; ginnen. Das Ergebnis der Wahl wird Ihnen später be- es definiert sich in der Demokratie vielmehr nach dem kanntgegeben.1) Willen der Wählermehrheit. Dieser Mehrheitswille sollte sich in unserer Wahl zum Rundfunkrat der Deutschen Wir kommen nun zur Wahl der stellvertretenden Mit- Welle heute auch widerspiegeln. glieder des Rundfunkrates gemäß § 31 des Deutsche- Welle-Gesetzes. Hierzu liegt ein Wahlvorschlag der Frak- Vielen Dank. tionen von CDU/CSU und SPD auf Drucksache 16/9350 (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD) 1) Ergebnis Seite 17163 D Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008 17159

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt (A) vor. Wer stimmt für diesen Wahlvorschlag? – Wer Meine Damen und Herren, es wird in diesem Land (C) stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Damit ist der Wahl- viel über Klima- und Energiepolitik geredet, und man vorschlag einstimmig angenommen. versucht, sich zum Weltklimaretter aufzubauen. Auch „frau“ versucht dies, nämlich Frau Merkel. Am Ende Wir kommen nun zur Wahl des Mitglieds und des aber muss man sagen: Angesichts dessen, was Sie als stellvertretenden Mitglieds des Verwaltungsrates gemäß Große Koalition, als schwarz-rote Koalition, im Augen- § 36 des Deutsche-Welle-Gesetzes. Hierzu liegt eben- blick vorlegen, sind Sie kein Weltklimaretter; vielmehr falls ein Wahlvorschlag der Fraktionen von CDU/CSU ist das Vorgehen von Schwarz-Rot eine Katastrophe für und SPD auf Drucksache 16/9350 vor. Wer stimmt für den internationalen Klimaschutz. diesen Wahlvorschlag? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- tungen? – Auch dieser Wahlvorschlag ist einstimmig an- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN genommen. und bei der FDP sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Nun rufe ich den Zusatzpunkt 3 auf: Dies gilt auch und gerade für diejenigen, die schon Aktuelle Stunde heute unter dem Klimawandel leiden und Opfer dieses auf Verlangen der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE Klimawandels sind. Denken wir an die Küstenstaaten, an GRÜNEN die Entwicklungsländer und an die Inseln dieser Welt, Unterschiedliche Meinungen in der Bundes- auf denen den Menschen das Wasser im wahrsten Sinne regierung zum Energie- und Klimapaket des Wortes bis zum Halse steigt. Wie soll eigentlich Ende nächsten Jahres in Kopenhagen „Kioto PLUS“ Ich eröffne die Aussprache und erteile der Kollegin funktionieren, wenn unser Land an dieser Stelle allen Renate Künast, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, das Entwicklungs- und Schwellenländern und vornan den Wort. USA signalisiert, dass Deutschland gar nicht willens ist, Klima- und Energiepolitik zu machen? Das ist ein De- Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): saster, und das liegt in Ihrer Verantwortung! Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Warum (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) müssen wir heute über das Thema Klima- und Energie- politik in Deutschland reden? Ich sage es ganz klar: Man muss das nun damit verbinden, dass dies auch wahrscheinlich, weil die Klima- und Energiepolitik der eine Bankrotterklärung dieser Regierung insgesamt ist, Bundesregierung ungefähr so ist wie die derzeitige Re- die versucht hat, das Thema Klima- und Energiepolitik präsentanz der Mitglieder der Bundesregierung auf der zu einem der Herzstücke ihrer Arbeit zu machen. Auch (B) Regierungsbank. Das halte ich für ein Stück aus dem an dieser Stelle sind Sie am Ende. (D) Tollhaus. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Frau Merkel müsste einmal erklären, wie es weitergehen bei der FDP und der LINKEN – Ulrich Kelber soll. Es ist ja schön, dass sie gestern – nach Jahren des [SPD]: Die SPD-Mitglieder sind doch da!) Gedrängtwerdens – endlich Geld für den Waldschutz zur – Der eine oder andere; aber Staatssekretäre sind nicht Verfügung gestellt hat. Es geht aber auch darum, dass die Mitglieder der Regierung. Hin und wieder würde ich Bundeskanzlerin ihre Richtlinienkompetenz nicht frei- auch aus anderen Ressorts gern Regierungsmitglieder willig der deutschen Energie- oder Automobillobby sehen. Das drückt aus, was Sie von der Regierung – – überträgt; denn genau das hat sie getan. (Ulrich Kelber [SPD]: Der Umweltminister ist (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) auf der Konferenz in Bonn!) Faktisch haben wir seit Heiligendamm Stillstand; – Nicht alle sind da, Herr Kelber, nun mal langsam! Heiligendamm war geradezu die Hoch-Zeit der Willens- erklärungen. In Kürze findet der nächste G-8-Gipfel (Ulrich Kelber [SPD]: Aber der Minister ist in statt, diesmal in Japan. Neue Ziele wurden vereinbart. Bonn!) Doch wieder ist von einer Reduktion der CO2-Emissio- – Ist ja gut, Sie dürfen hier ja gleich reden. nen um 50 Prozent bis 2050 die Rede. Wir Grünen sagen Ihnen: Wir dürfen nicht ausschließlich über Fernziele re- Man sieht hier, wie das Interesse oder Desinteresse an den, wir müssen heute damit beginnen, die Realität zu der Klima- und Energiepolitik ist, die nicht allein Auf- verändern! Die Messlatte 2008 heißt: die CO2-Emissio- gabe des Bundesumweltministers, der gerade in Bonn nen bis 2020 um 40 Prozent reduzieren. Die gegenwär- verhandelt, sondern eine Querschnittsaufgabe ist, die tige Bundesregierung ist von diesem Ziel nicht nur weit, alle Ressorts betrifft, auch das Wirtschaftsressort. Wo sondern von Tag zu Tag weiter entfernt, sie geht in die sind dessen Vertreter eigentlich, wenn sie nicht gerade falsche Richtung. blockieren? (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der FDP und der LINKEN – Jürgen Man darf sich nicht auf den Schoß der Automobilkon- Koppelin [FDP]: Die treten gerade zurück!) zerne setzen! Streichen Sie endlich das Steuerprivileg für Dienstwagen! Durch dieses Privileg wird mittler- – Ja, ein Rücktritt wäre hilfreich. weile jeder zweite in Deutschland neu zugelassene 17160 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008

Renate Künast (A) Spritschlucker steuerlich subventioniert. Weg mit die- Die Quote der erneuerbaren Energien muss rapide (C) sem Steuerprivileg! steigen. Verlassen Sie den Schoß der Lobbyisten, den Schoß der Vorstände der Energiekonzerne, der Mineral- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ölkonzerne, der Autokonzerne! Sorgen Sie dafür, dass sowie bei Abgeordneten der SPD) sich dieses Land bewegt! Was wir nicht brauchen kön- Beenden Sie in Brüssel Ihre Blockade wirksamer CO2- nen, ist, dass bis Herbst 2009 nichts passiert. Das ist un- Grenzwerte für Autos! Die Verbraucherinnen und Ver- ökologisch und unsozial. braucher haben ein Recht darauf, dass die Politik nach- hilft, dass endlich verbrauchsärmere Fahrzeuge, Fahr- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zeuge mit anderer Technologie gebaut werden, damit und bei der LINKEN) man nicht länger an der Tankstelle eine Herzattacke be- kommt, wenn die Mineralölkonzerne wieder ihre Kar- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: telle wirken lassen. Die Kollegin Dr. Maria Flachsbarth hat jetzt das Wort (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) für die CDU/CSU-Fraktion. Man kann es auch anders sagen: Es ist in sozialer Hin- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) sicht ein Skandal, dass diese Regierung selbst angesichts eines Ölpreises von mittlerweile 135 Dollar nicht dafür Dr. Maria Flachsbarth (CDU/CSU): sorgt, dass man sparsamere Autos kaufen kann. Das ist im Hinblick auf die soziale Frage ein Skandal; denn ins- Liebe Frau Künast, ich kenne aus der Vergangenheit besondere die, die auf dem Land leben, sind auf das eine Landwirtschaftsministerin, die von Ölscheichs der Auto angewiesen, um zur Arbeit zu kommen. Zukunft gesprochen hat und heute nicht mehr gerne da- ran erinnert wird. Lassen Sie uns wieder in der Gegen- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN wart ankommen und schauen, welche Politik tatsächlich und bei der LINKEN) gemacht wird. Sie gefährden mit Ihrer Politik die Arbeitsplätze der Die schwarz-rote Koalition hat die Energie- und Kli- Zukunft. Die Arbeitsplätze werden am Ende nicht mit maschutzpolitik ganz oben auf die politische Agenda ge- den Porsches erhalten, sondern dadurch, dass man mit si- setzt und im letzten Jahr die G-8-Präsidentschaft und die cheren, gut funktionierenden, modernen, ökologischen EU-Ratspräsidentschaft dazu genutzt, unter Federführung Autos Mobilität ermöglicht. Wenn Ihre Politik fortge- unserer Bundeskanzlerin international sehr ambitionierte setzt wird, werden uns die Inder und die Chinesen in Sa- Klimaschutzziele zu etablieren. Mit dem integrierten En- chen Auto überholen. (B) ergie- und Klimaprogramm setzen Bundesregierung, (D) (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- Bundestag und Bundesrat diese Ziele nun in nationale SES 90/DIE GRÜNEN und der LINKEN – Politik um. Wir haben im Dezember letzten Jahres ein Zuruf von der CDU/CSU: Fiat Punto! – Franz erstes Paket vorgelegt, das sich jetzt in den regulären Obermeier [CDU/CSU]: Mit japanischen parlamentarischen Beratungen befindet. Diverse Anhö- Hybridautos werden unsere Arbeitsplätze rungen haben stattgefunden. Ein zweites Gesetzespaket nicht gesichert!) wird im Juni folgen. Es gibt kein vergleichbares Indus- trieland mit einem ähnlichen ambitionierten und konkret – Schön, dass auch Sie schon vom Hybridfahrzeug ge- ausgestalteten Programm. hört haben. Das Hybridfahrzeug ist eine gute Sache. Das hat mittlerweile auch VW erkannt: VW überlegt jetzt, (Beifall bei der CDU/CSU) wie man ein Auto baut, das erst im sechsten Gang auf Spritbetrieb umschaltet und die ersten fünf Gänge mit Energie- und Klimapolitik können jedoch nicht unab- Hybridantrieb fährt. Das Auto gibt es aber noch nicht. hängig voneinander diskutiert werden. Die Beachtung VW ist spät dran, sodass andere möglicherweise früher des Zieldreiecks Versorgungssicherheit, Wirtschaftlich- mit so etwas auf dem Markt sein werden. Das kostet Kli- keit und Umweltverträglichkeit ist entscheidend für eine maschutz und das kostet Arbeitsplätze. konsistente Politik. Wir dürfen nicht das Umfeld aus dem Auge verlieren, innerhalb dessen Politik agiert. Die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Franz Union nimmt deshalb die Sorgen und Nöte der Men- Obermeier [CDU/CSU]: Ahnungslos!) schen sehr ernst, die sie sich wegen der derzeit extrem steigenden Energiepreise machen, die wiederum aus ei- Das Gleiche gilt für die Heizkosten: Es ist ein Fehler, nem unguten Mix aus erhöhter Nachfrage, begrenztem bei der energetischen Sanierung Altbauten außen vor zu Angebot und Finanzspekulationen entstehen. Wir müs- lassen. Sie lassen die Mieter im Stich! Es ist ein Fehler, sen leider davon ausgehen, dass die Energiepreise in dass Sie nicht für Wettbewerb auf dem Strom- und Gas- nächster Zukunft nicht nachhaltig sinken werden. Bürger markt sorgen. Und hören Sie auf, die Erfolgsgeschichte und Industrie sind die Leidtragenden. Das Statistische des grünen EEG an dieser Stelle zu gefährden! Sorgen Bundesamt hat mitgeteilt, dass die Inflation in Deutsch- Sie dafür, dass die Investitionseinbrüche in diesem Be- land im Mai voraussichtlich wieder in die Nähe des Jah- reich, zum Beispiel bei der Windenergie, nicht zuneh- reshochs von 3 Prozent steigen wird. Ganz konkret: Die men! Sie müssen diese Bereiche weiterentwickeln! hohen Ölpreise von über 135 Dollar pro Barrel haben (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ dazu geführt, dass an den Tankstellen 1,50 Euro pro Li- DIE GRÜNEN und der LINKEN) ter verlangt wird. Heizöl verteuerte sich von April bis Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008 17161

Dr. Maria Flachsbarth (A) Mai um 13 Prozent und im Vergleich zum letzten Jahr men im Inland. Die 70 Milliarden Euro, die wir jedes (C) sogar um 65 Prozent. Jahr für Öl-, Gas- und Kohleimporte ausgeben, sind al- lerdings weg. Angesichts dessen sind der effiziente Einsatz und der intelligente Ersatz von fossilen Brennstoffen durch rege- Alles in allem: Die Bundesrepublik stellt mit dem nerative Energien bei ohne Zweifel zunächst einmal an- IKEP die zentralen energie- und klimapolitischen Wei- fallenden zusätzlichen Investitionskosten auch ein chenstellungen für die Zukunft. Wir, die CDU/CSU- Schritt, sich von den steigenden Energiekosten abzukop- Fraktion, werden alles daran setzen, die Vorhaben auf peln, und natürlich eine Frage der Generationengerech- Basis der ehrgeizigen Klimaschutzziele und des Drei- tigkeit, der Nachhaltigkeit und des Klimaschutzes. klangs von Umweltschutz, Wirtschaftlichkeit und Ver- sorgungssicherheit sehr erfolgreich zu gestalten. (Beifall bei der CDU/CSU) Herzlichen Dank. Deshalb ist von großer Bedeutung, dass der Bundestag in der nächsten Woche über den Entwurf eines neuen Er- (Beifall bei der CDU/CSU) neuerbare-Energien-Wärmegesetzes abschließend berät. Dieses Gesetz schreibt den Einsatz erneuerbarer Ener- Vizepräsidentin : gien in Neubauten – gegebenenfalls in Kombination mit besserer Dämmung sowie Nutzung von Ab- und Fern- Nächster Redner ist der Kollege Michael Kauch, für wärme – vor und gibt wesentliche Anreize, Gebäude die FDP-Fraktion. energetisch zu optimieren. Frau Künast, für Neu- und Bestandsgebäude gibt es das Marktanreizprogramm und Michael Kauch (FDP): das CO2-Gebäudesanierungsprogramm. Im Rahmen des Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Was wir MAP sind im ersten Quartal dieses Jahres bereits fast derzeit erleben, auch in der Umweltpolitik, ist der An- 30 000 Anträge mit einem Fördervolumen von 26 Millio- fang vom Ende der Großen Koalition. Wie zwei Boxer, nen Euro gestellt worden. Das CO2-Gebäudesanierungs- die des Kämpfens müde sind, schleppen Sie sich durch programm führte im ersten Quartal dieses Jahres bereits den Ring und hoffen, dass bald Schluss mit der ungelieb- zu Kreditzusagen in Höhe von 1,4 Milliarden Euro. Das ten Schicksalsgemeinschaft ist. sind 44 Prozent mehr als im letzten Jahr. Das entspricht einem Investitionsvolumen von 2,9 Milliarden Euro. (Beifall bei der FDP – [CDU/ Das ist gut für das Klima, den Geldbeutel der Menschen CSU]: Haben Sie noch ein Jahr Geduld! – und – auch das sollten wir nicht ganz vergessen – das Ulrich Kelber [SPD]: Das hofft die FDP seit örtliche Handwerk. Dass nichts getan wird, ist schlicht 10 Jahren!) (B) (D) und ergreifend falsch. Diese Bundesregierung beweist derzeit, dass sie hand- (Beifall bei der CDU/CSU) lungsunfähig ist, wenn sie nicht einmal mehr unmissver- ständliche Vereinbarungen des Koalitionsvertrages wie Bei der Stromerzeugung aus regenerativen Energien die Umstellung der Kfz-Steuer umzusetzen vermag. Die sind wir auf einem guten Weg. Das Erneuerbare-Ener- Klimapolitik ist nur ein Beispiel für das Scheitern der gien-Wärmegesetz wird planmäßig novelliert und steht, Großen Koalition, aber ein politisch sehr bedeutsames. wie gesagt, vor der abschließenden Beratung in der Die Klimapolitik der Bundesregierung fällt langsam zu- nächsten Woche. Dabei ist das meiste von dem, was die sammen wie ein Kartenhaus im Wind. Nach der Rück- Medien tagein, tagaus an Wasserstandsmeldungen be- nahme eines Teils Ihrer verfehlten Biokraftstoffpolitik richten, Spekulation. Verhandelt wird in den Verhand- wissen Sie nicht wirklich, wie es weiter vorangehen soll. lungen. Abschließende Ergebnisse liegen immer erst Bei der Frage der CO2-abhängigen Kfz-Steuer eröffnen nach den Verhandlungen vor. Auch hier müssen wir mit Sie ein weiteres Kapitel der Uneinigkeit. Augenmaß Klimaschutz, Versorgungssicherheit und Wirtschaftlichkeit im Gleichgewicht halten. Wir werden (Beifall bei der FDP) das auch tun. Der Anteil des EEG am Strompreis – viel Aber das Chaos geht noch weiter. Sie haben keine diskutiert im Moment – beträgt 3 bis 4 Prozent. Ein klare Vorstellung – das war auch in der letzten Sitzung durchschnittlicher Haushalt mit vier Personen und mit des Umweltausschusses deutlich –, wie Sie denn beim 3 500 Kilowattstunden Jahresverbrauch zahlt dafür im Emissionshandel nach 2012 mit den energieintensiven Jahr 25 Euro. Das ist zwar ein stolzer, aber, umgelegt auf Branchen umgehen sollen. Fassungslos steht man im Zu- vier Personen für ein Jahr, vielleicht doch ein angemes- sammenhang mit der EEG-Novelle vor der Solarenergie- sener Preis. förderung. Da will das Umweltministerium im nächsten Der Staat hat jedoch über Mehrwertsteuer, Konzes- Jahr eine Degression von 9 Prozent, einige SPD-Abge- sionsabgabe und Ökosteuer unbestritten einen Anteil ordnete finden das zu viel, die Union fordert jetzt, wie von 40 Prozent an den Strompreisen. Dies müssen wir man in der Zeitung lesen konnte, 20 Prozent, und zwi- gemeinsam mit den Haushalts- und Finanzpolitikern an- schenzeitlich hat man auch schon einmal 25 Prozent ge- gehen. Außerdem bleibt von den 3,3 Milliarden Euro hört. Differenzkosten 2006 für erneuerbare Energien vom An- (Ulrich Kelber [SPD]: 30 Prozent waren das!) lagenbau bis zur Energieerzeugung ein Großteil der Wertschöpfung in Deutschland, mit positiven Auswir- Das geht frei nach dem Motto: Wer bietet mehr, wer kungen auf Wirtschaft, Arbeitsplätze und Steuereinnah- bietet weniger? – Wie schlampig ist eigentlich die 17162 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008

Michael Kauch (A) Datenbasis in der Bundesregierung vorbereitet, wenn dass die Vorschläge zerredet werden. Seitens des Wirt- (C) Ihre Vorstellungen derart weit auseinandergehen? schaftsministeriums wird ständig gestänkert; es gibt keine konstruktiven Vorschläge. Herr Glos ist heute (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Hans-Josef nicht einmal hier, um seine immer wieder gegen das Fell [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Umweltministerium gerichteten Vorschläge zu begrün- Auch beim Erneuerbare-Wärme-Gesetz, das Frau den. Es fehlt an ordnungspolitischer Orientierung in die- Flachsbarth gerade sehr gelobt hat, muss man sich die sem Wirtschaftsministerium. Die Anwesenheit der Frage stellen, ob Sie die Ziele, die Sie einmal ausgege- Staatssekretäre reicht an dieser Stelle eben nicht aus. ben haben, erreichen oder überhaupt noch verfolgen. Sie (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Ulrich sind beim Erneuerbare-Wärme-Gesetz einmal mit dem Kelber [SPD] und der Abg. Renate Künast Anspruch angetreten, die erneuerbare Wärme zu fördern, [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) ohne Haushaltsmittel einzusetzen. Haushaltsneutralität war Ihr Anliegen. Es gab zum Beispiel von der SPD- Wenn die Kanzlerin dieses Chaos der Minister so wei- Fraktion Vorschläge, wie man das hätte machen können. ter zulässt, dann wird dieses Führungsproblem auch ein Im Ergebnis haben Sie sich auf nichts geeinigt. Führungsproblem der Bundeskanzlerin. In diesem Sinne war es durchaus notwendig, dass wir hier über die Unei- (Beifall bei der FDP – Marie-Luise Dött [CDU/ nigkeit der Bundesregierung sprechen; denn sie gefähr- CSU]: Das wissen Sie doch gar nicht!) det die nationalen Interessen dieses Landes. Dazu gehört Dadurch, dass Sie das Erneuerbare-Wärme-Gesetz auf der Klimaschutz in einem globalen Vertragswerk. Das Neubauten beschränken, werden Sie den wesentlichen können wir nur erreichen, wenn wir hier klare Botschaf- Teil der Gebäude nicht erfassen. Um das auszugleichen, ten in die Welt senden und kein Chaos anrichten. wird das Marktanreizprogramm nicht auslaufen, sondern (Beifall bei der FDP) die Subventionen werden nach dem Motto „Viel hilft viel“ verdoppelt, weil Ihnen nichts einfällt. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: (Beifall bei der FDP) Das Wort hat nun der Kollege Ulrich Kelber für die Schauen wir uns an, wie es denn mit der Technologie- SPD-Fraktion. offenheit dieses Gesetzes aussieht. Das ist ein Solarther- (Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie des mie-Förderprogramm, und zwar deshalb, weil Sie das Abg. Josef Göppel [CDU/CSU]) Biogas diskriminieren, weil Sie das Biogas auf wenige Anwendungen einschränken, anstatt eine Wettbewerbs- Ulrich Kelber (SPD): (B) gleichheit der Technologien zu ermöglichen. Ein anderes Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und (D) Beispiel für Ihre fehlende Technologieoffenheit ist die Herren! Wir wissen, dass Deutschland bis 2020 den Aus- Erleichterung des Zwanganschlusses an Fernwärme stoß von Treibhausgasen um 40 Prozent gegenüber 1990 nach dem Motto: Die Leute sollen ihre Gasheizung he- senken will. Wir haben in den letzten Wochen erfahren rausreißen, damit sie zwangsweise an Fernwärmenetze müssen, dass sich der Ölpreis in einem gewissen Zeit- angeschlossen werden können. – Das ist im Entwurf der raum verdoppelt hat. Darauf kann Deutschland eigent- Bundesregierung enthalten. Man kann nur hoffen, dass lich nur eine Antwort geben, nämlich den Ölverbrauch das noch herausfliegt, aber ich habe da wenig Hoffnung. zu halbieren, durch mehr Effizienz und durch den Aus- (Beifall bei der FDP – Ulrich Kelber [SPD]: Da bau von erneuerbaren Energien, und das mit einer Tech- sind wir schon bei einer handvoll Lügen!) nologie, die nicht nur den Ölverbrauch halbiert, sondern auch den Gas- und Stromverbrauch sowie den Verbrauch Es bleibt abzuwarten, ob die Bundesregierung dieses von Kohle reduziert. Chaos beendet und wenigstens den Rest ihres Klimapro- gramms noch vor der Sommerpause beschließt. Eine solche integrierte Strategie ist die richtige Ant- wort, weil sie gut für den Klimaschutz und gut für den Auf der politischen Bühne der Welt gibt die Kanzlerin Geldbeutel ist. Denn wenn man weniger Energie ver- gerne die große Klimaretterin. braucht, schlagen selbst steigende Weltmarktpreise auf (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist sie!) die Rechnung nicht so durch. Außerdem ist diese Strate- gie gut für Jobs. Bereits jetzt haben wir 250 000 Arbeits- Aber man muss dazu ein bisschen mehr machen, als nur plätze im Bereich der erneuerbaren Energien. Bis 2020 das Scheckbuch zücken. wird ihre Anzahl auf eine halbe Million anwachsen. Das (Beifall bei der FDP) ist der Dreh- und Angelpunkt: Wir müssen heute in die niedrigen Energierechnungen von morgen, in die Versor- Man muss auch ein Konzept haben, wie man es für an- gungssicherheit und in den Klimaschutz investieren. dere Staaten attraktiv macht, die Vorreiterrolle Deutsch- lands zu sehen und uns in ein neues Klimaabkommen zu Dazu gehört, dass die verschiedenen Maßnahmen für folgen. diese Investitionen – etwa das Wärmedämmungspro- gramm oder das Marktanreizprogramm – noch einmal Wenn Sie derart uneins sind, wie Sie es hier zeigen, angepasst werden müssen, um vor allem denen zu hel- dann senden Sie kein Signal in die Welt. Bei der Kanzle- fen, die nicht selber über ausreichend Geld verfügen, um rin muss man sich schon fragen, wo sie Führungsstärke in weniger Energieverbrauch zu investieren. Wir dürfen zeigt. Sie lässt zu, dass die Minister sich streiten und die Menschen mit einem hohen Energieverbrauch bei Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008 17163

Ulrich Kelber (A) steigenden Energiepreisen nicht im Stich lassen. Wir Fragen Sie einmal einen Menschen, der sein Haus (C) können nicht die Weltmarktpreise beeinflussen; aber wir nach dem Passivhausstandard gebaut hat, nach seinen können jedem helfen, jedem Privathaushalt und jedem Heizungskosten. Er wird Ihnen antworten, dass er Hei- Unternehmen, den Energieverbrauch zu senken und da- zungskosten von 100 Euro pro Jahr hat – pro Jahr, nicht mit die Energierechnungen bezahlbar zu halten. pro Monat! Diese Technologie brauchen die Haushalte. Das Gleiche müssen wir bei den Autos und Elektrogerä- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten ten erreichen. der CDU/CSU) (Beifall bei der SPD) Dazu gehören nicht nur Förderprogramme, sondern natürlich auch beherzte Vorschriften für einen niedrigen Das effizienteste Gerät muss der Standard werden. Es Verbrauch, die für einen längeren Zeitraum gelten. Wir darf kein Gerät mehr verkauft werden, das nicht mindes- dürfen nicht nur sagen, wie es im nächsten Jahr aussehen tens so effizient ist wie das beste fünf Jahre zuvor. soll. Es bedarf einer breitestmöglichen Mehrheit, damit niemand das Gefühl hat, nach der nächsten Wahl, wenn (Zuruf von der CDU/CSU: Wenn die Leute es hier womöglich irgendeine andere Konstellation die dann noch kaufen können!) Mehrheit hat, komme es wieder zu anderen Beschlüssen Das ist der beste Weg in diesem Bereich. darüber, wie diese Vorschriften 2012, 2015 oder 2020 aussehen. Es muss klar sein, wie viel ein neugebautes Zuletzt möchte ich noch etwas zu der Debatte über Haus oder ein Automobil dann noch verbrauchen darf die Fotovoltaik sagen. Es ist kein Wunder, dass die gro- oder wie die Vorschriften für Elektrogeräte aussehen. Es ßen Energiekonzerne 2004 alle erneuerbaren Energien geht darum, eines zu erreichen: einen Wettlauf der Inge- angegriffen haben, 2008 aber nicht mehr. Denn sie haben nieure und Architekten zugunsten des Geldbeutels der gemerkt, dass sie mit Biomasse, Wind, Wasser und Geo- Verbraucherinnen und Verbraucher und nicht nur um das thermie verdienen können. Nur die Fotovoltaik wird ei- bestaussehende Produkt. Es muss mehr Energieeffizienz nes Tages die Versicherung des kleinen Mannes gegen in das System gebracht werden. steigende Stromtarife sein. Ich habe mich bei der Kritik des Kollegen Kauch am Die Welt hat gegen die Fotovoltaik geschrieben und Wirtschaftsminister gerade in der Tat zu einem Klat- eine Grafik veröffentlicht, der man allerdings entnehmen schen hinreißen lassen; auch das muss man ansprechen. konnte, dass in Deutschland der Strom aus einer Foto- voltaikanlage bereits im Jahre 2014 günstiger als der (Michael Brand [CDU/CSU]: Das spricht Strom aus der Steckdose sein wird. Dann werden die nicht für Sie!) Leute Fotovoltaikanlagen auch ohne Förderung bauen, (B) Ich erwarte von einem Wirtschaftsminister, dass er dafür um endlich unabhängig von den Preissteigerungen von (D) wirbt, dass im Land Investitionen vorgenommen wer- Eon, RWE und Co. zu werden. Ich freue mich auf diesen den, und nicht, dass er den Leuten einredet, dass Investi- Tag. tionen in weniger Energieverbrauch Kosten sind, die sie Vielen Dank! möglichst vermeiden sollten. Das ist das, was Herr Glos mit seinem Gerede in den letzten Monaten leider erreicht (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten hat: Bei modernen Heizungen herrscht Kaufzurückhal- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) tung. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Bevor wir die Aktuelle Stunde fortsetzen, komme ich zurück zu dem Tagesordnungspunkt 5 und gebe das von Weniger Leute investieren in Wärmedämmung, weil den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Er- man ihnen einredet, das seien Kosten, die sie vermeiden gebnis der Wahl der Mitglieder des Rundfunkrats der sollten. Der Wirtschaftsminister muss durch das Land Deutschen Welle bekannt, Drucksache 16/9350. reisen und sagen: Wir haben die besten Förderpro- gramme Europas. Kauft! Investiert! Verbraucht weniger Abgegebene Stimmkarten 482. Davon waren gültig 479. Energie! Das ist der beste Schutz. – Es wäre gut, wenn Für Wolfgang Börnsen haben gestimmt 360 Abgeord- das nicht nur der Umweltminister täte, sondern auch der nete. Für Fritz Rudolf Körper haben 321 Kollegen ge- Wirtschaftsminister. stimmt, für Dr. Uschi Eid 138. Damit stelle ich fest, dass die Abgeordneten Wolfgang Börnsen und Fritz Rudolf (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Körper als Mitglieder des Rundfunkrats der Deutschen Es gibt noch weitere Stellen, an denen wir arbeiten Welle gewählt sind.1) können. Nachdem wir uns darauf geeinigt haben, wie die (Beifall bei der CDU/CSU) Energieeinsparverordnung für neue Gebäude ab 2009 verschärft wird – es wird ein im Vergleich zu bisher Wir setzen die Aktuelle Stunde fort. Ich erteile dem 30 Prozent niedrigerer Energieverbrauch vorgeschrie- Kollegen Hans-Kurt Hill für die Fraktion Die Linke das ben –, müssen wir jetzt relativ schnell sagen, was wir ab Wort. 2012 wollen. Wir müssen noch einmal um 30 Prozent herunter. Bis 2020 muss der Passivhausstandard in (Beifall bei der LINKEN) Deutschland der Standard für neue Gebäude werden. Die entsprechende Technologie gibt es. 1) Namensverzeichnis der Teilnehmer an der Wahl siehe Anlage 2 17164 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008

(A) Hans-Kurt Hill (DIE LINKE): Damit sind wir beim Stichwort „Emissionshandel“. (C) Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn die Bundesregierung weiter tatenlos zusieht, wer- „Wir halten unser Versprechen“ – so lautet der Titel des den die zusätzlichen Kohleblöcke nicht nur zu steigen- Energie- und Klimapakets der Bundesregierung. dem CO2-Ausstoß führen, Aber die Wahrheit sieht anders aus: Die Bundesregie- (Zuruf von der CDU/CSU: Wo steht das?) rung steht beim Klimaschutz mit beiden Füßen auf der sondern auch die neu geplanten Stromnetze besetzen, die Bremse, Herr Kelber. Die versprochene Umsetzung des eigentlich für den Strom aus Windenergie vorgesehen Energie- und Klimapakets wird teilweise vertagt, und sind. die erklärten Ziele zur Senkung des Klimagasausstoßes werden nur zur Hälfte erfüllt, wenn überhaupt. Die größte Nullnummer aber ist wohl das Erneuer- bare-Energien-Wärmegesetz. Es soll nur für Neubauten (Beifall bei der LINKEN – Ulrich Kelber gelten – meines Erachtens ist das Schwachsinn –, also [SPD]: Das wissen Sie vor den Verhandlun- lediglich für 1 Prozent der Gebäude, und zusätzlich sieht gen! Das ist interessant!) man noch eine zu geringe CO2-Einsparung vor. Wenn Uneinigkeit einigt diese Regierungskoalition, liebe Ge- das Gesetz aber keine Wirkung entfaltet, so frage ich Sie nossen. allen Ernstes, was soll das dann? Wozu ist das Gesetz dann gut? (Franz Obermeier [CDU/CSU]: Soweit sind wir noch nicht!) Diese Erkenntnis ist der Bundesregierung wohl auch im Verkehrsbereich gekommen. Ihre Biospritstrategie – Liebe Kolleginnen und Kollegen, nach der Debatte ist, wie angekündigt, gescheitert, und Wirtschaftsminis- von gestern verzeihen Sie mir das bestimmt. ter Glos lehnt die versprochene CO2-bezogene Kfz- Steuer für Neuwagen schlicht ab. Erstens. Herr Glos will keine erneuerbaren Energien im Altbau, aber marode Atomblöcke statt effizienter Unterm Strich sieht das so aus: Statt der versproche- Kraft-Wärme-Kopplung. nen Senkung des Ausstoßes von Klimagasen um 36 Prozent bis zum Jahr 2020 werden nur 25 Prozent er- Zweitens. Herr Gabriel lässt die Solarbranche hängen, reicht. Da schon 18 Prozent insbesondere durch den will aber neue Kohlekraftwerke. Nachwendeeffekt erreicht sind, reden wir über 7 Prozent Drittens. Der Umweltminister sagt Ja zu Agrosprit, in zwölf Jahren – 7 Prozent in zwölf Jahren! der Raubbau und Vertreibung in den Ländern des Südens Das schafft die Bundesregierung in der Tat, ohne et- bewirkt und eine schlechte CO2-Bilanz hat. was zu tun. Man muss es ganz klar sagen: Mit dem Titel (B) (D) Viertens. Der Wirtschaftsminister wiederum sackt bei Ihres Papiers hat das nichts mehr zu tun; denn im Klima- klimafreundlicher Verkehrspolitik ein. schutz hat die Bundesregierung ihre Versprechen gebro- chen. Die Folge ist, dass die Gesetzentwürfe dieser Regie- rung auf ein Minimum zusammengekürzt werden, das (Beifall bei der LINKEN) nahe Null liegt. Doch gehen wir der Sache einmal ge- Sie hat sich selbst blockiert und streitet lieber über Kan- nauer nach. didatinnen und Kandidaten für das Amt des Bundesprä- Kraft-Wärme-Kopplung: Der Fördertopf für die Zu- sidenten. kunftskraftwerke hat einen festen Deckel und ist so Wir, die Linke, fordern Sie auf, sich endlich zu bewe- klein, dass der versprochene Zuwachs bis 2020 nur zur gen und Ihre Versprechen zu halten. Stimmen Sie bei Hälfte erreicht werden kann. den jetzt anstehenden Beschlüssen zum Integrierten Strom aus erneuerbaren Energien: Das Potenzial von Klima- und Energieprogramm unseren Anträgen zu! Strom aus Wind, Sonne und Biomasse wird von der Produzieren Sie nicht nur heiße Luft! Denn wenn man es Bundesregierung ignoriert, Herr Kelber. Was Sie eben richtig macht, liebe Kolleginnen und Kollegen, zahlt gesagt haben, stimmt nämlich bei Weitem nicht. sich Klimaschutz für die Bürgerinnen, für die Bürger, aber auch für die Umwelt aus. Obwohl die Prognosen für das Wachstum der erneuer- Vielen Dank. baren Energien immer wieder übertroffen werden, ist die Zielsetzung im EEG zu niedrig. Nicht ein Viertel, son- (Beifall bei der LINKEN) dern ein Drittel Strom aus erneuerbaren Energien ist bis 2020 machbar. Das geht allerdings nur – da gebe ich Ih- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: nen vollkommen recht –, wenn die Bundesregierung den Nächste Rednerin ist die Kollegin Patricia Lips für Kuschelkurs mit den Energiekonzernen endlich aufgibt. die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der CDU/CSU) Es ist bezeichnend, dass der Solarstrom abgewürgt werden soll, obwohl Zehntausende sichere Arbeitsplätze Patricia Lips (CDU/CSU): in Handwerk und Industrie geschaffen wurden und der Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und solare Beitrag zum Klimaschutz wirksamer und kosten- Herren! Klimaschutz ist gut, wichtig und vor allen Din- günstiger ist als der Emissionshandel. gen in unserer Bevölkerung akzeptiert. Am Ende ist ent- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008 17165

Patricia Lips (A) scheidend: Diese Akzeptanz, das „Ich will mitmachen“, Botschaft erfährt – gestatten Sie mir, dass ich das etwas (C) dürfen wir nicht verspielen, indem wir Entscheidungen lapidar ausdrücke –: Du bist mit deinem fünf Jahre alten treffen, mit welchen es nicht mehr gelingt, die Menschen Wagen ziemlich sicher von einer höheren Belastung be- auf unserem Weg auch weiterhin mitzunehmen. troffen, es sei denn, du kaufst dir einen sparsamen neue- ren. Wir hoffen, du hast das Geld dafür. Du bist nicht die (Beifall bei der CDU/CSU) Ausnahme, sondern die Regel. – All das in Zeiten stark Klimaschutz gibt es nicht umsonst. Das ist uns allen steigender Energiepreise! Hier wird Politik auf einmal bewusst, auch den Menschen draußen. Maßnahmen wer- sehr real, meine sehr geehrten Damen und Herren, und den in den Augen der meisten Menschen aber immer nur es ist an uns, dies zu berücksichtigen. Eine Partei wie die da Akzeptanz finden, wo sie vernünftig sind und/oder Grünen, deren Ziel einmal ein Benzinpreis von 5 DM bezahlbar bleiben. war – vielleicht auch noch ist; man weiß es ja nicht so genau –, mag es freuen. Deshalb gilt: Angesichts der aktuellen Vorgänge auf den Rohstoffmärkten mit den bekannten Auswirkungen Vielleicht erinnern Sie, Frau Künast, sich bei Ihrer im Energiebereich muss natürlich verstärkt die Frage er- lautstarken Kritik an der Regierung auch daran, dass Sie laubt sein, ob wirklich jede Technik, sei es Wind, Was- bis vor kurzem selbst noch am Kabinettstisch saßen. ser, Sonne, Biomasse, Biogas – es gibt schon eine ganze Menge in diesem Land –, an jedem Ort effektiv genutzt (Zuruf der Abg. Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/ werden kann, ob wir inzwischen nicht auch hin und wie- DIE GRÜNEN]) der dazu neigen, eine kleine Monstranz vor uns herzutra- Der Kollege im Umweltbereich hieß Trittin. Mit wel- gen. chem persönlichen Ergebnis angesichts dessen, was Sie Frau Künast, Sie haben das Beispiel Wind gebracht. nicht alles in diesem Bereich hätten machen können? Ich möchte das ganz kurz daran festmachen. Ich vertrete (Beifall bei der CDU/CSU) einen Wahlkreis, der in Teilen stark landwirtschaftlich geprägt ist. Dort nutzen wir Holz als nachwachsenden Wir müssen uns aber darüber hinaus auch fragen: Was Rohstoff, Biomasse, Biogas. All das erfährt eine hohe wollen wir denn am Ende mit welcher Lenkungsmaß- Akzeptanz und Unterstützung über Parteigrenzen hin- nahme erreichen? Ist das Ziel realistisch? Vor allem weg. Aber wenn Sie den Bürgern begreiflich machen müssen wir uns fragen: Wen treffen wir damit? Bleiben wollen, dass es auch notwendig ist, Windkraftanlagen wir einmal beim Beispiel Kfz: Wir leben hier in mit einer Höhe von 180 Metern aufzustellen, weil über- Deutschland, und die meisten Menschen haben das Ge- haupt erst in der Höhe die Windhöffigkeit gegeben ist, fühl bzw. sind davon überzeugt, dass sie etwas davon haben Sie ein Problem. Es wird dann schwer, die Men- verstehen. Das tun sie mit Sicherheit auch. Es muss also (B) (D) schen in der Region mitzunehmen. erlaubt sein, noch einmal nachzudenken und Alternati- ven zu prüfen, die den Altbestand von Fahrzeugen, ob Ein anderes Beispiel. Mein Bundesland verliert aus privat oder geschäftlich genutzt, weniger stark belasten. unterschiedlichen Gründen – das ist in ganz Deutschland so – bereits heute rund 6 Hektar Ackerland pro Tag – Was nützt es, Kolleginnen und Kollegen, wenn fol- Fläche, die für den Anbau von Pflanzen für die Lebens- gende Situation eintritt: Klimaschutz findet statt und kei- mittelproduktion verloren geht. Zu dem bereits vorhan- ner geht hin, weil er es entweder nicht mehr versteht, als denen Anbau nachwachsender Rohstoffe – das wollen ungerecht empfindet oder nicht bezahlen kann. Es liegt wir ja auch – kommen nun neu Anträge auf Genehmi- auch in unserer Verantwortung, das zur Beratung anste- gung von Fotovoltaikanlagen auf solchen Böden hinzu. hende Klimaschutzpaket so zu gestalten, dass es nicht Meine sehr geehrten Damen und Herren, nicht, dass wir nur hier im Hause eine Mehrheit erhält, sondern auch uns falsch verstehen: Solarenergie wird, wie anderes draußen bei den Menschen die erforderliche Akzeptanz. auch, von vielen Menschen in diesem Land aus Über- (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- zeugung angewendet. Das ist politisch so gewollt; sie si- NEN]: Die sind doch eh schon weiter!) chert Arbeitsplätze und soll natürlich auch weiterhin Förderung erfahren. Niemand will irgendetwas „abwür- Wir haben seit der letzten Bundestagswahl bereits gen“. Aber: Dieses Beispiel mag auch dazu dienen, ein- vieles erreicht. Auf diesem Weg gehen wir weiter. mal innezuhalten und darüber nachzudenken, ob wir noch Grenzen sehen – und wenn ja, wo – und ob sich Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. nicht gutgemeinter Klimaschutz manchmal ins Gegenteil (Beifall bei der CDU/CSU) verkehrt. (Beifall bei der CDU/CSU – Ulrich Kelber Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: [SPD]: Die zweite FDP-Sprecherin!) Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun die Wenn Sie heute auf die Straße gehen und Menschen Kollegin Bärbel Höhn das Wort. fragen: Finden Sie es gut, wenn sich die Kfz-Steuer künftig nach dem Schadstoffausstoß berechnet?, dann ist Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): klar, dass diese Frage gerade in dieser Formulierung na- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! türlich das tief in uns allen verwurzelte Gefühl nach Ge- Im letzten Herbst hat sich die Kanzlerin vor der General- rechtigkeit bedient. Dieses Gefühl ändert sich jedoch bei versammlung der UN in New York zum Klimawandel Ihrem Gegenüber in aller Regel, wenn er oder sie die geäußert und dabei gesagt, dieser sei die „zentrale 17166 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008

Bärbel Höhn (A) Herausforderung für die Menschheit“. Sie hat warnend Staatssekretärin gestern gebeten: Nennen Sie mir nur (C) hinzugefügt: eine Maßnahme, die Sie umgesetzt haben, um CO2 im Verkehrsbereich zu reduzieren! Keine Antwort, Achsel- Nicht zu handeln, das würde immense Kosten und zucken. Nichts haben Sie im Verkehrsbereich hinbekom- weltweit neue Konflikte verursachen. men und fast gar nichts im Wärmebereich. So funktio- Recht hat sie. Aber wenn man so redet, muss man auch niert das nicht. konkret handeln. Schauen wir uns drittens einmal den Strombereich an. Was ist aber das, was Sie hier hauptsächlich tun? Sie Der Minister sagt ja immer, alle Ausfälle sollen durch streiten sich über die Kfz-Steuer. Sie bekommen noch den Strombereich kompensiert werden. Sie sind gerade nicht einmal eine popelige Veränderung bei der Kfz- dabei, die Photovoltaik im Strombereich kaputtzuma- Steuer hin. chen, meine Damen und Herren von der CDU/CSU. Es gibt genug CDU-Parteifreunde in Ostdeutschland, die (Franz Obermeier [CDU/CSU]: Wie kommen Sie dafür kritisieren, weil Sie damit gerade die Arbeits- Sie denn darauf? – Weiterer Zuruf von der plätze in den neuen Ländern aufs Spiel setzen. Lassen CDU/CSU: Wir diskutieren!) Sie die Hände davon, und machen Sie die Fotovoltaik Das passt nicht mit dem zusammen, was die Bundes- nicht kaputt! kanzlerin in New York gesagt hat. Wir sehen hier einen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) tiefen Abgrund zwischen Taten und Worten. Die Resultate sieht man. Tatsächlich ist es so, dass in (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) der Bundesrepublik Deutschland in 2006 mehr CO2 aus- Nun kann man sich ja über die Gestaltung der Kfz- gestoßen wurde als im Jahr zuvor. Sie haben nicht ein Steuer streiten. So etwas ist durchaus auch ab und zu in Weniger, sondern ein Mehr an CO2 bewirkt. einer Koalition üblich. Aber die Frage ist doch nicht al- Diese Aufzählung – Wärmebereich, Verkehrsbereich lein, ob Sie eine Neuregelung bei der Kfz-Steuer hinbe- und Strombereich – ist eine Liste des Versagens der kommen, sondern es geht heute um die viel grundsätzli- schwarz-roten Bundesregierung. chere Frage, ob Sie in der Koalition überhaupt noch etwas hinbekommen, was dem Klimaschutz dient. Das (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ist doch Ihr Problem. Wenn man sich das Klimapaket einmal genau an- (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- schaut, stellt man fest, dass es wie ein Schweizer Käse SES 90/DIE GRÜNEN – Franz Obermeier ist. Der Schweizer Käse ist dagegen allerdings ganz gut; (B) [CDU/CSU]: Mehr, als Sie meinen! – Weiterer er hat nämlich mehr Käse als Löcher. Ihr Klimapaket hat (D) Zuruf von der CDU/CSU: Viel mehr als in sie- mehr Löcher, und der Rest ist dann auch noch Käse. Das ben Jahren Rot-Grün!) ist das Problem. Schauen wir uns einmal die drei entscheidenden Be- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – reiche an: Franz Obermeier [CDU/CSU]: Genauso wie Ihre Rede!) Erstens Wärme: Was bleibt im Gebäudebereich an Maßnahmen zur Minderung des CO2-Ausstoßes übrig, Den Grund dafür hat Herr Ramsauer beschrieben. Er wenn die erneuerbare Wärmeenergie in Altbauten gestri- hat nämlich gesagt: Das ist nicht mehr Frost in der chen wird und nur noch bei Neubauten zum Einsatz Koalition, sondern das Klima ist schon klirrend. – Man kommen soll, wie Sie es jetzt verkündet haben? Sie wis- könnte sagen: Weil Sie gemeinsam keine Maßnahme ge- sen, wie wenig Neubauten wir im Verhältnis zu den Alt- gen die Klimaerwärmung mehr hinbekommen, haben bauten haben. Was bleibt übrig, wenn die Vorgaben zu Sie sich auf die Eiszeit am Kabinettstisch geeinigt. Das Energiestandards für Ein- und Zweifamilienhäuser ge- ist aber keine gute Klimapolitik. strichen werden? Was bleibt übrig, wenn das verbesserte Mietrecht – Herr Kelber, weil Sie von sozialen Proble- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) men gesprochen haben; die Mieter müssen auch Rechte Handeln ist dringend geboten. Eben hat Herr Kelber bekommen, das durchzusetzen – gestrichen wird? zu Recht darauf hingewiesen, dass der Ölpreis steigt. (Marie-Luise Dött [CDU/CSU]: Sie wissen doch Was sollen wir den Menschen bieten? Was sind Ihre gar nicht, was wir streichen, Frau Höhn!) Konzepte? Frau Lips, da muss ich ganz ehrlich sagen: Sie treten hier auf, als ob Maßnahmen für den Klima- Ich habe gestern die Staatssekretärin gefragt, wie das, schutz letzten Endes immer eine Belastung sind. Ich was Sie streichen, kompensiert werden soll und wie sage Ihnen: Bei dem steigenden Ölpreis und dem stei- hoch die Streichungen bezüglich CO2-Minderung zu be- genden Energiepreis sind Effizienzmaßnahmen, Maß- werten sind – keine Antwort. nahmen für erneuerbare Energien eine Befreiung vom Öl und deshalb keine Belastung, sondern etwas Gutes. Wir Was haben Sie denn zweitens im Verkehrsbereich ge- müssen durchsetzen, dass das funktioniert. macht? Das Thema Beimischung ist gefloppt. Das Thema Kfz-Steuer wurde eben schon angesprochen. Die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Sache mit den effizienteren Autos funktioniert nicht. sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN- Das Tempolimit bekommen Sie nicht hin. Ich habe die KEN) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008 17167

Bärbel Höhn (A) Schauen Sie sich doch einmal an, wie der Ölpreis ex- – Das gilt auch für Sie, Frau Künast. Man könnte auch (C) plodiert. Haben Sie nicht im Kopf, dass am Anfang des über die Geschichte der Grünen, was den Klimaschutz Jahres 1 Barrel noch 100 Dollar gekostet hat und jetzt angeht, sprechen. bereits bei 135 Dollar liegt? Die Schere geht hier weiter auseinander. Wir müssen das Öl verlassen, ehe es uns (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: verlässt. Sonst werden viele Leute es sich nicht mehr Aber nicht als Regierungsmitglied!) leisten können. Aber ich glaube nicht, dass uns das wirklich weiter- Deshalb ist eine Politik auf EU-Ebene, den Bau effi- bringt. Jürgen Trittin – und niemand anderes – hat bei- zienterer Autos zu blockieren, wie die CDU es getan hat, spielsweise in der letzten Legislaturperiode das Minus- eine Politik gegen die Menschen in Deutschland. Denn 25-Prozent-Ziel aufgegeben. die Menschen in Deutschland haben ein Interesse an ef- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – fizienten Autos. Deshalb hätten Sie diese Blockade auf Franz Obermeier [CDU/CSU]: So war es! – EU-Ebene nicht machen dürfen. Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Ich erwarte klare Worte von der Kanzlerin zum Kli- NEN]: Am Rednerpult spricht die beleidigte maschutz. Sie soll nicht „basta“ sagen; wir wissen ja, Leberwurst!) dass das nicht immer gut funktioniert. Aber sie kann klare Worte zum Klimaschutz abstrakt sagen. Sie sagt Wir dürfen auch nicht die Anpassung an aktuelle klare Worte zu einzelnen Projekten. Zum Beispiel sagt Zwänge im Auge behalten. Denn wir haben es hier mit sie Nein zum Tempolimit und Ja zu Kohlekraftwerken. einem Thema zu tun, bei dem die traditionellen Formen Sie sagt Nein zu effizienteren Autos auf EU-Ebene. Ich unserer politischen Auseinandersetzung an Grenzen sto- meine, sie sollte nicht nur Nein sagen zu Projekten, die ßen. Wir brauchen eine andere Form von Verantwortung, gegen den Klimaschutz sind, sondern sie sollte auch Ja Gestaltungsfähigkeit und vor allem eine andere Form sagen zu Projekten, die für den Klimaschutz sind. Das von Gerechtigkeitsverständnis, weil wir es mit zwei wäre eine gute Sache. Punkten zu tun haben, die in unseren politischen Ent- scheidungen bisher keine zentrale Rolle mehr spielen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Erster Punkt. Der Klimawandel ist sozusagen ein tag- Meine Damen und Herren, ich komme zum Ende. täglicher Angriff auf die Zukunft. Die Auswirkungen Kanzlerin Merkel hat – ich zitiere sie noch einmal – in dieses Angriffs werden wir erst später spüren. Das heißt, Bezug auf den Klimawandel gesagt: nirgendwo sonst ist das Thema Vorsorge so weitreichend gefasst wie an dieser Stelle. … wir können dem nicht tatenlos zusehen, zumal (B) (D) wir … wissen, welche … Kosten sich aus dem Zweiter Punkt. Im Gegensatz zu anderen Themen ha- Nichthandeln ergeben. Deshalb ist es Zeit, zu han- ben wir es mit Endlichkeit und Grenzen zu tun. Unser al- deln, und deshalb muss gehandelt werden. ter Ansatz, alles über mehr Wachstum nach dem Motto Deshalb sage ich: Handeln Sie endlich! Ihr Klima- „schneller und mehr“ zu lösen, funktioniert nicht. Wir schutzpaket kommt mir vor wie ein Eisberg bei der Kli- haben es mit einer anderen Form der Herausforderung zu maerwärmung. Jedes Mal, wenn man hinsieht, hat er tun. Ich habe oft den Eindruck – Entschuldigung, wenn mehr Löcher. Das ist nicht gut. Ändern Sie Ihre Politik, ich das sage –, dass unsere politische Auseinanderset- handeln Sie, tun Sie etwas für den Klimaschutz! zung in einem eklatanten Widerspruch zu dieser Heraus- forderung steht. Um es auf den Punkt zu bringen: Das ist Danke. verantwortungslos. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ich will es an einem Beispiel klarmachen: In den letz- ten 650 000 Jahren lag der höchste Wert der Kohlen- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: dioxidkonzentration in der Atmosphäre bei etwa Für die Bundesregierung spricht nun der Parlamenta- 300 Teilen CO2 auf 1 Million Luftteile. Jetzt beträgt die- rische Staatssekretär Michael Müller. ser Wert 384. Das bedeutet, eine Erwärmung um etwa 1,5 Grad ist nicht mehr zu verhindern. Derzeit steigt die Konzentration um 2 ppm pro Jahr. Vor zehn Jahren be- Michael Müller, Parl. Staatssekretär beim Bundes- trug diese Steigerung noch 1,2 ppm. Wenn die Entwick- minister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher- lung ohne eine zusätzliche Steigerung, was eher unwahr- heit: scheinlich ist, so weitergeht, dann liegen wir in Meine Damen und Herren! Es gibt bestimmte The- 30 Jahren bei einem Wert von 450 ppm. Das entspricht men, bei denen die üblichen Formeln, die in der Politik einer Erwärmung um 2 Grad. Ist uns eigentlich klar, was eingerissen sind, nicht passen. das für eine Herausforderung ist? (Marie-Luise Dött [CDU/CSU]: Richtig!) Ich möchte das an einem Beispiel verdeutlichen. In Die ständige Steigerung der rhetorischen Dosis des Po- Afrika sind etwa 250 Millionen Menschen schwer oder pulismus ist da nicht angebracht. dauerhaft unterernährt. Eine Erwärmung der Atmo- sphäre um 2 Grad bedeutet für Afrika eine Halbierung (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- der Ernteerträge. Was ist das für eine Herausforderung NEN]: Jetzt kommt die Ausnahme!) für die Menschheit! Ich frage mich, wie man angesichts 17168 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008

Parl. Staatssekretär Michael Müller (A) dieser Herausforderung so kleinkariert debattieren kann. Das ist erstens das gesamte Rohstoffthema. Es ist alar- (C) Ich habe da ein anderes Verständnis von Politik. mierend, was da abläuft. Wir hatten im Jahre 2000 pro Barrel Rohöl einen Preis von 18 US-Dollar und heute ei- (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Josef nen Preis von 137 US-Dollar. Die Auseinandersetzung Göppel [CDU/CSU]) geht aber noch viel tiefer – dies ist gewissermaßen die Im Deutschen Bundestag gibt es zwischen allen Par- zweite Zuspitzung –: Was wir im Augenblick erleben, teien den Grundkonsens, das Thema Klimaschutz voran- ist, dass die Spekulationen, die in den letzten Jahren im zutreiben. Es ist gar keine Frage, dass es Unterschiede in Immobiliensektor stattgefunden haben, auf Nahrungs- der Radikalität unserer Forderungen gibt. Es gab übri- mittel, Energie und Rohstoffe übergehen. Das ist eine gens auch einmal einen Grundkonsens in der Atomfrage. gefährliche Entwicklung. Ich erinnere mich, dass wir im Deutschen Bundestag ei- nen Beschluss gefasst hatten, in dem die Feststellung Darauf gibt es zwei Reaktionsweisen: Reaktionsweise enthalten war, dass die Atomkraft unsere Probleme nicht eins ist, defensiv zu sein und zu sehen, wie man diese lösen wird. Auch das gehört zur historischen Wahrheit. nächste Phase übersteht, indem man durch alle mögli- chen kurzfristigen Maßnahmen Ausgleich schafft, was (Beifall des Abg. Dr. [SPD]) ich für eine Illusion halte. Die Reaktionsweise zwei ist, dass wir das Tempo der ökologischen Modernisierung Das hat sich nun alles verschoben. umso mehr vorantreiben. Ich plädiere sehr für das Im Jahr 2007 haben wir eine Reduktion der Treib- Zweite. Es gibt dazu keine Alternative. hausgase gegenüber dem Jahr 1990 um 20,4 Prozent er- Allerdings ist das Bewusstsein in der Gesellschaft reicht. Nach dem Kioto-Vertrag müssen wir bis zum bisher noch nicht so weit. Eher herrscht im Augenblick Jahre 2012 21 Prozent erreichen. Ich will durchaus zu- massive Angst. Überall fragen uns die Leute: Was soll geben, dass es mehr sein könnte. Aber das Ergebnis von ich machen, entweder vernünftig wohnen oder das Auto 20,4 Prozent liegt weit über dem Ergebnis fast aller an- behalten? Wir müssen jetzt eine offensive Strategie in deren Länder. Auch das muss man feststellen. Man darf Richtung Effizienz entwickeln, und zwar so, dass wir also nicht so tun, als hätten wir nichts erreicht. alle Menschen und nicht nur einen Teil der Gesellschaft Jetzt müssen wir allerdings das Tempo erhöhen – das mitnehmen. sehe ich genauso –, wenn wir das Minus-40-Prozent-Ziel erreichen wollen. Dieses Ziel bedeutet in der Konse- (Beifall der Abg. Iris Gleicke [SPD]) quenz: Wir müssen bis zum Jahre 2020 den Stromver- Das wird die erste Herausforderung sein. brauch um etwa 11 Prozent reduzieren; das ist machbar. (B) (D) Wir müssen den Anteil der Kraft-Wärme-Kopplung von Die zweite Herausforderung ist – auch darüber sollte heute etwa 11 Prozent auf 25 Prozent erhöhen. Wir müs- man sich im Klaren sein –: Wir, der Norden, sind nicht sen im Stromsektor den Anteil der regenerativen Ener- mehr allein diejenigen, die die Welt bestimmen. In China gien auf 30 Prozent erhöhen. Das sind ehrgeizige, aber liegen die Emissionen pro Kopf bei 3,66 Tonnen, in machbare Ziele. Lassen Sie uns deshalb über diese drei Amerika bei 19,74 Tonnen. In Amerika liegen sie um Hauptpunkte reden. Es lohnt sich in der Tat, darüber zu das Fünffache höher. Trotz dieses gewaltigen Unter- streiten, ob wir da den richtigen Weg gehen. schiedes wird China in wenigen Jahren der größte Emit- (Beifall bei der CDU/CSU) tent der Welt sein. Unser Maßstab muss ein Minus von 40 Prozent bei (Franz Obermeier [CDU/CSU]: So ist es!) den CO -Emissionen sein. Das Integrierte Klima- und 2 Wir haben ein neues Gerechtigkeitsproblem und ein Energieprogramm trägt einen Teil zu diesen minus 40 Prozent bei, aber eben nicht allein. Dazu gehört ers- Zukunftsproblem, wie wir dies in dieser Form noch nie tens der Emissionshandel. Zweitens müssen wir in Be- hatten. Insofern heißt Klimaschutz nicht – darüber muss zug auf den geplanten Zeitraum sagen: Natürlich müssen sich jeder im Klaren sein –, dass ich einfach an ein paar wir in Zukunft – Klimaschutz hört mit dem IKEP nicht Schrauben drehe. Dies ist eine Auseinandersetzung mit auf – weitere Maßnahmen hinzufügen. Aber der Maß- drei Fragen, die völlig neu sind: mit der Endlichkeit, mit stab sind minus 40 Prozent. Dies zu erreichen, wäre für der Begrenzung in der Belastung der Natur und mit der die Welt ein positives Beispiel dafür, dass man den öko- nachholenden Industrialisierung, aus der eine nachho- logischen Umbau erfolgreich gestalten kann. Deshalb lende Naturzerstörung wird. Dies verlangt von uns ein lassen Sie uns konstruktiv darüber reden, wie wir ihn ganz anderes Bewusstsein. hinbekommen, anstatt uns über taktische Auseinander- In dieser Frage sollen wir uns zerstreiten. Ich würde setzungen zu zerstreiten. für etwas anderes plädieren: dass wir bei allen Unter- (Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie des schieden versuchen, an einer so großen Aufgabe in der Abg. Josef Göppel [CDU/CSU]) Form gemeinsam zu arbeiten, dass sie gelingt. Dann würden wir einen Beitrag zum Frieden, zur Gerechtig- Ich finde – um auch das zu sagen – manches in der keit und zur Freiheit in der Welt leisten. Das wäre das augenblicklichen Diskussion nicht gut. Denn ich be- Beste. fürchte, durch zwei Zuspitzungen stehen die eigentli- chen Bewährungsproben beim Klimaschutz noch bevor: (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008 17169

(A) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: megesetz den Gebäudebestand nicht einbeziehen, Frau (C) Nun spricht für die Bundesregierung die Parlamenta- Höhn, sondern auf Förderung, das heißt, auf Anreize und rische Staatssekretärin Dagmar Wöhrl. nicht auf Zwang setzen. Wir wollen keinen Zwang in diesem Bereich. Auch bei der Öffnung des Messwesens (Beifall bei der CDU/CSU) beim Strom wollen wir keinen Zwang. Hier geht es um die Verbreitung von intelligenten Zählern. Wir wollen, Dagmar Wöhrl, Parl. Staatssekretärin beim Bundes- dass die Verbraucher sich frei entscheiden können. Sie minister für Wirtschaft und Technologie: sollen erkennen, dass ein intelligenter Zähler auch bei Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle- ihnen zu Einsparungen führt, und sie sollen sich freiwil- gen! Lieber Kollege Müller, mit dem IEKP haben wir lig für die Anschaffung eines solchen Zählers entschei- gemeinsame Lösungen gefunden. Ich glaube schon, sa- den. gen zu können: Dies ist das ehrgeizigste Energie- und Klimaprogramm, das je eine Bundesregierung auf den Zum zweiten Teil des Klimapakets: Wir haben insge- Weg gebracht hat. Intensive Beratungen sind vorange- samt sechs Vorhaben, zu denen die Gesetzes- und Ver- gangen, um das klimapolitisch Notwendige so zu gestal- ordnungstexte noch ausstehen. Wir wissen, dass sich die ten, dass es auch energiepolitisch sinnvoll ist. Umsetzung ein wenig verzögern wird. Uns liegt daran, dass die Ziele, die wir alle haben – Klimaschutz und Schauen Sie sich an, vor welchen Herausforderungen Ausbau der erneuerbaren Energien –, effizient und wirt- wir klimaschutzpolitisch bei steigenden Weltenergie- schaftlich erreicht werden. Wir wollen keine Gängelung marktpreisen, steigenden Ölpreisen, steigenden Gasprei- und keine unnötige Kostensteigerung in diesem Bereich. sen stehen. Wir wissen, dass wir uns diesen Herausfor- Insofern geht es auch beim zweiten Teil des Klimapakets derungen stellen müssen. Wir wissen, dass die Energie nicht um das Ob des Klimaschutzes – diesbezüglich be- zukünftig noch weit effizienter eingesetzt werden muss, steht, glaube ich, Konsens im ganzen Haus –, sondern es als dies bis jetzt geschehen ist. Wir wissen, dass wir eine geht um das Wie. breite Palette von Energieträgern nutzen müssen. Wir wissen, dass wir das Energiesparen fördern müssen. Wir In den Ressortgesprächen zum zweiten Teil des Kli- wissen natürlich auch um die Notwendigkeit des Aus- mapakets wurden viele inhaltliche Punkte bereits ge- baus der erneuerbaren Energien, lieber Kollege Göppel. klärt; einige Punkte sind noch offen. Das ist ein zu- kunftsweisendes Vorhaben, mit dem neue Wege Wir wissen aber auch, dass es wichtig für uns ist, die beschritten werden. Manchmal ist es nicht ganz einfach, Energieversorgung wirtschaftlich sinnvoll zu gestalten neue Wege zu beschreiten. Manchmal dauert das ein bis- und sie zukunftssicher zu machen. Das heißt unserer An- schen länger. Wichtig ist, dass wir am Schluss zufrie- sicht nach: Effizienter Klimaschutz ist bezahlbarer Kli- (B) denstellende Lösungen haben. Ich bin mir ganz sicher, (D) maschutz, und er muss mit einer wirtschaftlichen Ent- dass wir unser Ziel erreichen werden. wicklung einhergehen. Nur so können wir dafür sorgen, dass Unternehmen, die Arbeitsplätze schaffen, weiterhin Liebe Frau Kollegin Höhn, Sie haben die Kfz-Steuer wettbewerbsfähig produzieren können. Nur so werden als popeliges Thema bezeichnet. wir erreichen, dass die Energiepreise auch in Zukunft für unsere Verbraucher bezahlbar sind. (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Im Verhältnis zu dem Gesamtbereich ist das (Beifall des Abg. Volkmar Uwe Vogel [CDU/ ein kleines Thema!) CSU]) Wir müssen auf das Kosten-Nutzen-Verhältnis achten Ich weiß nicht recht. Ich finde, das ist kein popeliges und den richtigen Weg einschlagen. Die Verbraucher, die Thema. Wir alle haben ein Interesse daran, emissionsär- Unternehmer, die Autofahrer und die Mieter erwarten mere Neuwagen zu fördern. Das ist überhaupt kein von uns zu Recht, dass wir die Kosten, die mit dem Ziel Thema. Wir müssen uns aber der Tatsache stellen, dass viele Menschen ältere Autos fahren, die einen schad- der CO2-Verminderung verbunden sind, für sie so gering wie möglich halten: Die Verpflichtung zur energetischen stoffreicheren Ausstoß haben. Wir müssen auch an diese Nachrüstung älterer Gebäude – Herr Kelber, Sie haben Menschen denken. Der Vorschlag, der uns bisher vorlag, das vorhin angesprochen – ist für viele Menschen mit hätte zu einer starken Belastung dieser Menschen, die niedrigem Einkommen – gleich, ob das Singles oder zum Teil sozial schwächer sind und sich vielleicht kein Rentner sind – eine starke oder sogar unzumutbare Be- neueres, emissionsärmeres Auto leisten können, geführt. lastung. Dieser Aspekt muss in unsere Überlegungen Damit müssen wir uns auseinandersetzen. Wir wollen einfließen. das Ziel erreichen. Der Finanzminister ist aufgefordert, in diesem Bereich einen neuen Vorschlag auf den Tisch Deswegen ist es auch richtig, dass wir beim Kraft- zu legen. Wärme-Kopplungsgesetz hinsichtlich der Fördersumme eine Obergrenze festgelegt haben. So werden die Ver- Auch mit dem Umweltministerium besteht sicherlich braucher nicht durch noch höhere Stromkosten noch noch Diskussionsbedarf, insbesondere wenn es um die stärker belastet. Deswegen ist es ferner richtig, dass wir Verkabelung der dena-I-Trassen geht. Hinsichtlich des bei der Novelle des Erneuerbare-Energien-Gesetzes auf Netzausbaus sind wir uns einig. Gut, wir haben Diskus- eine stärkere Degression der Einspeisevergütung für sionen darüber, ob wir auch Erdkabel oder HGÜ-Tech- Strom aus Fotovoltaik gesetzt haben. Deswegen ist es nik einsetzen sollen. Aber wir werden auch hier eine Lö- auch richtig, dass wir beim Erneuerbare-Energien-Wär- sung finden. 17170 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008

Parl. Staatssekretärin Dagmar Wöhrl (A) Wir müssen jedoch beachten, dass der Umweltminis- gleichzeitig die Menschen nicht zu überfordern? Das ist (C) ter im Gesetz festschreiben will, dass die Mehrkosten in einem Satz zusammengefasst der Konflikt, um den es der HGÜ-Technik auf die Netzentgelte aufgeschlagen im Augenblick geht. werden, also umlagefähig sind. Das heißt, dass der Ver- Ich glaube, es ehrt uns alle, wenn wir darum ringen, braucher zukünftig die Rechnung dafür zahlt. Wir wis- die Frage der Belastbarkeit der Menschen heute und sen: Die HGÜ-Technik ist teuer. Sie ist noch nicht so er- gleichzeitig das Erreichen unserer Ziele für die Zukunft probt, wie wir es uns vorstellen. Deswegen dürfen wir so sorgfältig wie möglich abzuwägen und nicht mit die Wirtschaftlichkeitsprinzipien hier nicht aus den Au- leichter Hand zu behandeln. Ob wir nun eine oder zwei gen lassen. Wir müssen immer eine Abwägung vorneh- Wochen früher oder später mit dem zweiten IEKP über men. Da sind wir als Gesetzgeber gefordert, auch ange- die Rampe kommen, wird für den weiteren Verlauf der sichts der hohen Strompreise, die wir schon jetzt haben. Weltgeschichte unerheblich sein. Hauptsache wir kom- Das erwarten unsere Bürgerinnen und Bürger. Mehrbe- men damit über die Rampe. Ich bin davon überzeugt, lastungen haben sie schon genug – das wissen wir; da- dass man zum Beispiel heute bei den Verhandlungen rüber brauchen wir nicht zu reden –, etwa durch die über die Weiterentwicklung des EEG zu Ergebnissen Kraft-Wärme-Kopplung, die erneuerbaren Energien und kommen wird. Dass das nicht einfach ist, dass da hart natürlich die Energiepreise an sich. Deswegen müssen gerungen wird und dass oft sehr unterschiedliche Vor- wir darauf achten, dass wir durch unsere Gesetzesvorha- stellungen dabei eine Rolle spielen, ist doch völlig klar. ben nicht dazu beitragen, die Strompreise unnötig nach Trotzdem wird man zu einem Ergebnis kommen. oben zu treiben. Es macht keinen Sinn, einerseits Sozial- Zum Beispiel die Degression bei der Fotovoltaik: Die tarife zu fordern und andererseits durch unsere Gesetze einen sagen, dass es möglicherweise einen Fadenriss für die Kosten weiter nach oben zu treiben. die ganze Branche gibt, wenn man den Degressionspfad (Beifall bei der CDU/CSU) zu steil macht. Andere, sogar Vorstandsprecher von Her- stellern von Fotozellen, Q-CELLS zum Beispiel, sagen: Wichtig für uns ist, immer wieder zu evaluieren: Sind Wir brauchen den Druck der Degression, damit wir eine unsere Klimaschutzziele, die wir erreichen wollen – ich effizientere Produktion bekommen. bin davon überzeugt, dass wir sie erreichen werden –, er- reichbar? Eine Evaluation wird immer notwendig sein, (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) und zwar nicht nur bei unserer Regierung. Viele nachfol- Beide Gesichtspunkte sind wichtig. Die Kunst wird gende Regierungen werden immer wieder evaluieren letztlich darin bestehen, sie zusammenzuführen. müssen, ob diese Ziele erreichbar sind. Das Motto wird lauten: Ständig überprüfen. Verehrte Kollegin Wöhrl, ich glaube allerdings, auch der ständige Hinweis – ceterum censeo –, dass die Lauf- (B) Wir wissen, dass es natürlich auch einfachere und zeiten für Atomkraftwerke verlängert werden müssen, (D) preisgünstigere Lösungen geben würde. Es würde auch hilft nicht weiter. Das würde erst recht zu einem Investi- klimafreundlichere Lösungen geben. Ich hätte es nicht tionsfatalismus führen; denn dann müsste man gar nichts angesprochen, wenn der Kollege es nicht schon ange- tun. sprochen hätte: die Verlängerung der Laufzeit der Kern- (Beifall bei der SPD) kraftwerke. Wir haben hier eine Vereinbarung. Das ist kein Thema; ich muss es trotzdem ansprechen. Wir sind Wenn man die Laufzeiten verlängert, braucht man weder hier leider in einer energiepolitischen Sackgasse gefan- zu sparen noch neue Kohlekraftwerke zu bauen. Dann gen. Ich hoffe, dass irgendwann einmal die Vernunft in müsste man gar nichts tun. Man hätte lediglich die Ver- den Vordergrund tritt und wir versuchen, möglichst längerung des goldenen Endes längst abgeschriebener schnell aus dieser energiepolitischen Sackgasse zu kom- Anlagen erreicht, ohne dass sich dadurch aber die Preise men, damit wir auch in der Zukunft eine verlässliche, be- ändern würden. zahlbare und klimafreundliche Stromversorgung haben. Wie werden die Preise gebildet? Das Kraftwerk, das Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. als Letztes in Betrieb genommen wurde, ist immer das teuerste. Es bestimmt für alle, die eher in Betrieb gingen, (Beifall bei der CDU/CSU) den Preis an der Börse mit. Das hätte zur Folge, dass für die kostengünstige alte Kernkraft dieselben hohen Preise Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: verlangt werden könnten wie für die aus einem Grenz- Nächster Redner ist für die SPD-Fraktion der Kollege kraftwerk. Damit wird man möglicherweise einen Bei- trag zur guten Börsenperformance der Energieversor- Reinhard Schultz. gungsunternehmen leisten, aber nicht zur Preissicherheit (Beifall bei der SPD) und zur Investitionssicherheit – im Gegenteil. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der Reinhard Schultz (Everswinkel) (SPD): LINKEN) Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Insofern gibt es gute ökonomische Gründe, die dafür Wer das Paket von Meseberg beschlossen hat, dem sprechen, von diesem Gedanken Abstand zu nehmen. musste von vornherein klar sein, dass es keine einfache Baustelle wird. Es enthält sehr anspruchsvolle Klima- Zum Thema Kfz-Steuer. Frau Höhn, hier wird deut- schutzziele und eine Vielzahl von Ansätzen, diese Ziele lich, dass wir uns manchmal in einer Zwickmühle befin- umzusetzen. Jetzt geht es sozusagen an die operationale den, aus der wir durch intelligente Lösungen herauskom- Arbeit. Wie schaffen wir es, die Ziele zu erreichen und men müssen. Es gibt mehrere Vorgaben: Im Rahmen der Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008 17171

Reinhard Schultz (Everswinkel)

(A) Kfz-Besteuerung wollen wir CO2-ärmeren Fahrzeugen Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: (C) einen Bonus gewähren. Gleichzeitig wollen wir aber Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun der Kollege nicht, dass die vielen Pendler, die auf ihr Auto angewie- Franz Obermeier das Wort. sen sind und sich kein neues leisten können, neben den derzeit sehr hohen Spritpreisen noch zusätzlich belastet (Beifall bei der CDU/CSU) werden. Außerdem haben wir die Vereinbarung getrof- fen – hier schließt sich der circulus vitiosus –, dass das Franz Obermeier (CDU/CSU): Ganze aufwendungsneutral bzw. kostenneutral sein soll. Frau Präsidentin! Diese Aktuelle Stunde hat, was die Das geht natürlich nicht. Man kann ein Steuersystem Art der Diskussion betrifft, eine sehr positive Wende ge- nicht umstellen, indem man die einen fördert und die an- nommen. Teilweise wurde sie von den Oppositionspoli- deren ausnimmt, nur damit es kostenneutral ist. Ich sage tikern nämlich in einer solchen Unsachlichkeit geführt, für die SPD ausdrücklich: In den weiteren Beratungen die den Problemen, vor denen wir stehen, in keiner müssen wir das Dogma der Aufkommensneutralität Weise angemessen ist. zwingend aufgeben. Sonst werden wir dieses Problem (Michael Kauch [FDP]: Das stimmt doch gar nicht lösen können. Ich rate auch der Bundesregierung nicht!) dringend, in diese Richtung zu denken. Wer behauptet, dass der Bundeswirtschaftsminister die (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) erneuerbaren Energien kaputtmacht, verkennt die Situa- Die Finanzpolitiker der SPD befürworten diesen Weg. tion. Wer behauptet, dass die Fotovoltaik in Deutschland Wir haben gestern gemeinsam mit unseren mitberaten- kaputtgemacht werden soll, hat irgendetwas falsch ver- den Arbeitsgruppen beschlossen, den Weg dafür freizu- standen. Der Anteil der Fotovoltaik muss auf ein niedri- machen. Dann wird es davon abhängen, ob die Länder geres Maß zurückgeführt werden, sodass sie in Deutsch- mitmachen. land nicht zu einer volkswirtschaftlichen Belastung ersten Ranges führt. (Zuruf von der CDU/CSU: So ist das!) Herr Staatssekretär Müller, es ist wahr: Der Anstieg Die Länder waren auch in anderen Fragen durchaus der CO2-Emissionen, der zur Erhöhung der Treibhaus- beweglich. Es geht hierbei um ein großes Ziel. Außer- gaskonzentration führt, beträgt 2 ppm per anno. Ich sage dem handelt es sich lediglich um eine Übergangssitua- bei dieser Betrachtung immer ganz gerne dazu, dass wir tion. Denn selbst das jüngste Altfahrzeug wird irgend- als Bundesrepublik Deutschland an diesem Aufwuchs wann einmal den Weg alles Menschlichen gehen. Dann mit einem Anteil von fünf Hundertstel beteiligt sind. Da- werden wir in einer neuen Normalität ankommen. Ich ran sieht man, dass Deutschland die Welt nicht retten denke, für diese Übergangszeit muss man das in Kauf wird. (B) nehmen. (D) Unser Augenmerk muss über die nationalen Dinge hi- Es gibt noch eine Reihe anderer Baustellen, und die naus auf die Entwicklungen in den Schwellenländern ge- Probleme, die dort bestehen, sind nicht einfach zu lösen. legt werden. Es wird in unserer Diskussion viel zu wenig Natürlich ist der Netzausbau ein sehr wichtiger Aspekt, wenn es darum geht, den Strommarkt zu öffnen, Off- gewürdigt, dass in China wöchentlich zwei Kohlekraft- shore-Technologie anzubinden und auf internationaler werke ans Netz gehen, deren Technologie und damit Ebene mehr Wettbewerb zu ermöglichen. Allerdings Wirkungsgrade nicht vergleichbar sind mit denen, die werden gegen den Bau jeder neuen Trasse Bürgerinitiati- wir hier in Deutschland hätten. ven gegründet; das ist ähnlich wie beim Bau neuer Kraft- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) werke. Herr Staatssekretär, ich habe schon das Gefühl, dass Ich kann alle Politiker, die kluge Ideen verbreiten und wir in diesem Hause nach wie vor einen Grundkonsens schlaue Gesetze machen wollen, nur dazu auffordern, hinsichtlich der Reduzierung der CO2-Emissionen auf dort, wo eine Hochspannungstrasse, ein KWK-Kraft- nationaler Ebene haben. werk oder eine Biogasanlage gebaut werden soll, ihr Kreuz durchzudrücken und dem Widerstand der ver- ( [CDU/CSU]: Selbstver- ängstigten Bevölkerung entgegenzutreten. Wir müssen ständlich!) den Menschen deutlich machen, dass es sich um ein Ge- Bei allen Angriffen seitens der Opposition, die man aus- samtkonzept handelt. Wir können Klimaschutz nicht nur halten muss: Ich halte es für einen guten demokratischen in Oberammergau, in Greven oder in Hamburg betrei- Prozess, dass zwischen den einzelnen Häusern der Bun- ben, sondern wir müssen unsere Ziele insgesamt errei- chen. An einigen Standorten werden zu diesem Zweck desregierung um den richtigen Weg hart gerungen und moderne Kohlekraftwerke gebaut, an anderen Biogasan- manchmal sogar gestritten wird, um dorthin zu kommen, lagen. Was zählt, ist das Gesamtergebnis. wo wir hinwollen. Die Bundeskanzlerin hat sich dafür ausgesprochen, die CO2-Emissionen auf nationaler und (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) europäischer Ebene entsprechend zu reduzieren. Um unsere Ziele zu erreichen, brauchen wir dringend Es ist selbstverständlich, dass unterschiedliche Häu- mehr politischen Mut. ser unterschiedliche Interessen vertreten. Wichtig ist, was herauskommt. Für meine Begriffe kamen die Vor- Vielen Dank. würfe, die hier und heute in dieser Aktuellen Stunde der (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Bundesregierung gemacht wurden, wesentlich zu früh. 17172 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008

Franz Obermeier (A) Sie wissen ja noch gar nicht, was letzten Endes verein- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (C) bart wird. Sie wissen zum Beispiel überhaupt noch nicht, DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der was heute Nachmittag in Bezug auf das Erneuerbare- LINKEN) Energien-Gesetz und dessen Potenziale in der Regie- Auch als Verkehrspolitiker freue ich mich natürlich, rungskoalition vereinbart wird. Wieso machen Sie uns dass wir heute die Gelegenheit haben, über das sehr am- derart erhebliche Vorwürfe? bitionierte Programm der Bundesregierung zum Klima- (Hans-Josef Fell [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- schutz und zum Energiesparen zu sprechen.Dabei geht NEN]: Vorschläge!) es um das Ziel, bis 2020 zusätzlich zu den bereits er- reichten 18 Prozent CO2-Emissionen weitere 22 Prozent Das, was Sie hier vorgetragen haben, war völlig unange- einzusparen. messen. Damit sind Sie weit über das Ziel hinausge- schossen. Ich finde es bemerkenswert, wie hier diskutiert wurde. Herr Hill hat jetzt schon für das Jahr 2020 Bilanz (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: gezogen Ihre eigenen Parteifreunde machen Ihnen doch (Hans-Kurt Hill [DIE LINKE]: Das kann man Vorwürfe!) doch!) Bei der gesamten Debatte haben wir im Übrigen auch und festgestellt, dass wir nur 7 Prozent CO2-Emissionen noch ein paar andere Dinge zu berücksichtigen. Ich lege einsparen werden. Nach Auffassung der Grünen – das allergrößten Wert darauf, dass wir den Klimaschutz in habe ich heute Morgen in der Vorbereitung auf diese De- Verbindung mit dem nationalen Wirtschaftswachstum batte gelesen – ist mit 10 Prozent zu rechnen. Ich finde und der Entwicklung auf dem Arbeitsplatzsektor in der es interessant, was für ein Wettlauf hier stattfindet. Bundesrepublik Deutschland stellen. Das heißt, wir müs- sen uns beim Klimaschutz in der Bundesrepublik Lassen Sie uns bei den anspruchsvollen und ambitio- Deutschland dringendst an den Kosten für die Reduzie- nierten Zielen bleiben! Es geht darum, weniger Energie zu verbrauchen und damit das Klima zu schonen, die rung je Tonne CO2 orientieren. Es gibt noch ein paar an- dere Parameter, die wir berücksichtigen müssen. Ich Wirtschaft zu stärken, nach Möglichkeit zusätzliche An- möchte aber nicht, dass die gute Entwicklung der zu- reize für Investitionen und Kaufentscheidungen zu bie- rückliegenden zweieinhalb Jahre in Bezug auf den Ar- ten und dadurch Arbeitsplätze zu schaffen sowie die beitsplatzaufbau durch die Klimaschutzprogramme ge- Ausgaben für Bürgerinnen und Bürger zu begrenzen. An diesem Programm gibt es aus meiner Sicht nichts, aber hemmt wird, weil wir beim Abbau von CO2-Emissionen nicht den preiswertesten Weg gewählt haben. auch wirklich gar nichts zu kritisieren. (B) (D) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Wahr ist allerdings, dass das Programm auch umge- setzt werden muss. Insofern gilt Bundesumweltminister Das ist für mich eine zentrale Frage. Daran werden wir unsere volle Unterstützung. Ich hoffe, auch arbeiten. dass er diese Unterstützung vom gesamten Haus, aber auch von der gesamten Bundesregierung erhält. Es gibt noch eine ganze Reihe Dinge, die man hierzu sagen könnte. Wichtig ist in dem Zusammenhang, dass (Dr. Michael Bürsch [SPD]: Selbstverständ- wir die Bevölkerung mitnehmen und auf das Rücksicht lich!) nehmen, was unsere Bürgerinnen und Bürger beim tag- – Vielen Dank. – Ebenso gehe ich davon aus, dass auch täglichen Gebrauch von Energie draußen bewegt. Des- dem Bundesminister für Verkehr, Bau und Stadtentwick- wegen bin ich guter Dinge, dass wir das IEKP – Teil II – lung, , unsere Unterstützung gilt; zu einem guten Ende bringen werden. (Iris Gleicke [SPD]: Aber klar!) Herzlichen Dank. denn in den Bereichen Gebäude und Verkehr liegen (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- große Potenziale, die wir nutzen müssen, wissen wir neten der SPD) doch, dass rund 20 Prozent des gesamten CO2-Ausstoßes in Deutschland an Gebäuden verursacht werden. Im Ver- kehr müssen wir den Ausgleich zwischen einem immer Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: größeren Bedürfnis nach Mobilität und der Notwendig- Nächster Redner ist der Kollege Christian Carstensen keit der Energieeinsparung schaffen. für die SPD-Fraktion. Deswegen möchte ich kurz die wichtigsten klimarele- vanten Maßnahmen in diesem Bereich aufführen. Im Christian Carstensen (SPD): Gebäudebereich ist erstens das bereits erwähnte CO2- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Gebäudesanierungsprogramm zu nennen, das eine aus- Obermeier, gleich zu Anfang: Ihre Sorgen in allen Eh- gesprochene Erfolgsgeschichte ist. Durch die geförder- ren, aber wir müssen auch einmal die Erfahrung der letz- ten Maßnahmen können wir den CO2-Ausstoß jährlich ten Jahre nachvollziehen, dass der Umweltschutz ein Ar- um rund 1 Million Tonnen reduzieren. Es ist richtig, die- beitsmarktprogramm ist und dass durch ihn in der ses Programm zu verstetigen und durch den Investitions- Zwischenzeit viele Arbeitsplätze geschaffen wurden. In- pakt zur Sanierung der sozialen Infrastruktur – also von sofern teile ich die Sorge eher nicht. Schulen, Kindertagesstätten und Jugendeinrichtungen – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008 17173

Christian Carstensen (A) zu ergänzen. Dazu sollen insgesamt weitere 600 Millio- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: (C) nen Euro bereitgestellt werden. Dieser Punkt wird in Letzter Redner in dieser Debatte ist nun der Kollege dem von den Grünen selbst in Auftrag gegebenen Kurz- für die CDU/CSU-Fraktion. gutachten nicht erwähnt, und zwar zu Unrecht, wie ich finde, weil das eine wichtige Weiterung darstellt. (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Christian Carstensen [SPD]) Zweitens ist die Energieeinsparverordnung zu nen- nen. Hierbei soll der maximale Energiebedarf bei Neu- Volkmar Uwe Vogel (CDU/CSU): bauten gegenüber der geltenden Regelung kurzfristig um Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! 30 Prozent und mittelfristig sogar um 50 Prozent gesenkt Als Baupolitiker darf ich die Debatte der letzten Stunde werden. Die Anforderungen an die energetische Qualität zusammenfassen. Ich kann es auf den Punkt bringen bei Haussanierungen wollen wir um rund 30 Prozent an- – ich denke, darin sind wir uns einig –: Im Klimabereich heben. hängt alles mit allem zusammen. Es gibt nicht den allein Das Erneuerbare-Energien-Wärmegesetz ist hinrei- selig machenden Königsweg, um die Probleme, vor de- chend angesprochen worden. Die Novellierung der nen wir jetzt und in den nächsten Jahren stehen, zu lö- Heizkostenverordnung, das sogenannte Contracting bei sen. Mietwohnungen und das Programm zur energetischen Klimaschutz ist ein hochkomplexes Thema. Nur Sanierung von Bundesbauten sind weitere Bestandteile, wenn es uns gelingt, die Instrumente sinnvoll miteinan- um die anspruchsvollen Klimaschutzziele ebenso wie der zu verzahnen, dann sind auch Synergien und tatsäch- die Ziele für den Ausbau der erneuerbaren Energien und liche Effizienzverbesserungen möglich. Daher ist es die Steigerung der Energieeffizienz zu erreichen. wichtig, dass wir all die Instrumente, über die wir derzeit Das gilt auch für den Verkehrsbereich. Nicht umsonst beraten, ob es das Erneuerbare-Energien-Wärmegesetz steht das derzeit stattfindende Weltverkehrsforum in ist, ob es die EnEV ist, an der wir zwar nicht direkt be- Leipzig unter dem Motto „Transport und Energie – die teiligt sind, die aber auch eine maßgebliche Rolle spielt, Herausforderung des Klimawandels“. ob es das EEG oder die Kraft-Wärme-Kopplung ist, im Zusammenhang betrachten. Schnellschüsse und Aktio- Wir sind uns dieser Herausforderung bewusst. Des- nismus, wie das auch heute in der Debatte wieder an- wegen stellen wir innerhalb der nächsten zehn Jahre zu- klang, schaden dabei nur, ganz besonders dann, wenn es sammen mit der Industrie 1 Milliarde Euro für die Ent- um eine so komplexe und sehr komplizierte Materie wicklung und Anwendung der Wasserstoff- und geht. Brennstoffzellentechnologie bereit. Wir wollen die Lkw- Maut entsprechend umgestalten, um die Lenkungswir- (Beifall bei der CDU/CSU) (B) (D) kung zu erhöhen. Darüber hinaus wollen wir auch bei Daher – deswegen können wir die Kritik der Grünen den Pkws durch eine neue Kennzeichnung für Anreize nicht teilen – ist es Ausdruck seriöser Politik, wenn wir sorgen. Das müssen wir demnächst auf den Weg brin- hier nichts übers Knie brechen. Es ist allemal besser, gen. sich ein paar Tage Zeit mehr zu nehmen, um über alle Genauso wichtig ist aus meiner Sicht die Umstellung notwendigen, möglichen und mitunter weitreichenden der Kfz-Steuer. Wenn wir uns alle einig sind, dann ge- Konsequenzen zu diskutieren. Wir halten an den ehrgei- lingt es uns vielleicht, auch Herrn Glos und die CSU da- zigen Zielen von Meseberg fest; das ist überhaupt keine von zu überzeugen. Dabei hilft es allerdings wenig, Frage. Dabei muss man bedenken: Wir als ein hochent- wenn die Grünen zwar kritisieren, dass dieses Vorhaben wickeltes Industrieland tragen für unsere Welt eine be- nichts bringen würde, aber darüber, dass es verschoben sondere Verantwortung, eine Verantwortung auch und wird, die gleichen Krokodilstränen vergießen. gerade gegenüber denjenigen, die in Armut leben und die den Klimawandel viel direkter und brutaler spüren (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: als wir hier in Mitteleuropa. Was habt ihr denn bisher gemacht? Was denn? – Hans-Kurt Hill [DIE LINKE]: Lassen wir uns (Beifall des Abg. Frank Schwabe [SPD]) überraschen!) Dieser Verantwortung dürfen wir uns nicht verschlie- Wir können insofern im Bereich Verkehr eine ganze ßen. Gleichzeitig – das ist die andere Seite der Medaille – sind Klimaschutzmaßnahmen auch eine Chance, eine Menge zur Verringerung der CO2-Emissionen beitragen. Wir werden dieses Thema morgen noch einmal ausführ- Chance, die meiner Meinung nach in der Diskussion der lich diskutieren. Dann werde ich zum Beispiel auch zum letzten Stunde zu wenig Beachtung gefunden hat. Sie Bereich Luftverkehr, zu den emissionsabhängigen Lan- sind eine Chance für Innovation, Forschung und neue deentgelten und zur Einbeziehung in den Emissionshan- Entwicklungen. Sie bieten Möglichkeiten für Wirt- del etwas sagen. Sie sehen: Das Ziel, das mit diesem schaftswachstum, für Arbeitsplätze und auch für Stand- Programm ins Auge gefasst wurde, verlieren wir eben ortvorteile in unserem Land. Gerade Deutschland ist hier gut aufgestellt. Wir können die Herausforderungen der nicht aus den Augen. Wir arbeiten daran. Sie alle sind Zukunft für die Möglichkeiten nutzen, die bei uns beste- herzlich eingeladen, daran konstruktiv mitzuarbeiten. hen. So sind wir bei vielen umweltrelevanten Technolo- Vielen Dank. gien Weltmarktführer bzw. in der Spitzengruppe. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten In der politischen Diskussion dürfen wir daher nicht der CDU/CSU) den Fehler machen, uns in endlosen, kleinteiligen 17174 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008

Volkmar Uwe Vogel (A) Debatten um Kennziffern und Einzelmaßnahmen zu ver- Volkmar Uwe Vogel (CDU/CSU): (C) fangen und zu verstricken. Ich bin gleich fertig. (Beifall bei der CDU/CSU) (Heiterkeit bei der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Wir in unserer politischen Verantwortung müssen vor al- lem die Ziele formulieren und dann den Akteuren am Deswegen wollen wir Ziele vorgeben, dem Bürger je- Markt die Spielräume zur Umsetzung geben. Für die doch die größtmögliche Flexibilität bei deren Umset- Union steht fest, dass technische und technologische zung zubilligen. Auf diese Art und Weise gelingt es am Grundprinzipien der Physik Vorrang vor ideologisch ge- besten, Kreativität und Akzeptanz bei Anbietern und prägten Wünschen und Utopien haben müssen. Nachfragern, also in der Wirtschaft und bei den Bauher- ren, zu sichern. Dies wird dazu führen, dass wir unsere (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Ziele mit Anreizen und ohne Zwang erreichen können. Ein verantwortungsbewusster und nachhaltiger Um- (Beifall bei der CDU/CSU) gang mit Energie, zum Beispiel im Gebäudebereich, aber auch im Verkehrsbereich, heißt für uns an erster Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Stelle Verbesserung der Effizienz beim Umgang mit Herr Kollege, jetzt war ich aber sehr großzügig. Energie und an zweiter Stelle Einsatz von erneuerbaren und regenerativen Energien da, wo es irgendwie geht und wirtschaftlich vertretbar ist. Volkmar Uwe Vogel (CDU/CSU): Einen Satz noch, Frau Präsidentin. – Liebe Kollegin- (Beifall bei der CDU/CSU) nen und Kollegen, wie wir wissen, kostet Klimaschutz In diesem Sinne werbe ich zumindest für den Baube- Geld. Aber wir müssen den richtigen Weg verfolgen, um reich für die Fortschreibung der Energieeinsparverord- das Machbare auch wirtschaftlich möglich zu machen. nung. Herr Kelber hat angemahnt, dass wir in unseren Dafür lohnt es sich, ein paar Tage länger darüber nach- zudenken. politischen Entscheidungen den betroffenen Bürgern nachhaltig und langfristig Planungssicherheit geben sol- Vielen Dank. len. Gerade mit der EnEV und deren Fortschreibung zur (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. EnEV 2009, mit der im Kern eine Verschärfung der An- Dr. Michael Bürsch [SPD]) forderungen um 30 Prozent vorgesehen ist, geben wir den Fahrplan vor und können das auch über die nächsten Jahre weiterentwickeln. Damit geben wir den Bauherren Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Damit sind wir am Ende der Aktuellen Stunde. (B) und den Nutzern von Gebäuden die notwendige Pla- (D) nungssicherheit. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf: Die Vorgehensweise der letzten Jahre zeigt auch, dass Beratung des Antrags der Abgeordneten Hartfrid es ganz entscheidend ist, den Bürger durch Information Wolff (Rems-Murr), Dr. Heinrich L. Kolb, und Aufklärung von der Wichtigkeit von Energieein- Patrick Meinhardt, weiterer Abgeordneter und sparmaßnahmen zu überzeugen. Dem einzelnen Bürger der Fraktion der FDP sind leider auch heute noch nicht alle Möglichkeiten zum Energieeinsparen bewusst, und er weiß auch nicht, Zuwanderung durch ein Punktesystem steu- in welcher Art und Weise er tatsächlich von ihnen profi- ern – Fachkräftemangel wirksam bekämpfen tieren kann. Dies zeigt auch der im März veröffentlichte – Drucksache 16/8492 – CO2-Gebäudereport des Bundesbauministeriums. Die Überweisungsvorschlag: Bürger schätzen mehrheitlich immer noch ein, dass die Innenausschuss (f) Einsparpotenziale im Gebäudebereich zu gering und die Auswärtiger Ausschuss Kosten zu hoch seien. Deshalb, meine sehr verehrten Sportausschuss Rechtsausschuss Damen und Herren, muss für uns – auch dies lasse ich Ausschuss für Wirtschaft und Technologie jetzt noch in die Debatte einfließen – so viel Aufklärung Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und und Information der Bürger wie möglich ein Ziel sein. Verbraucherschutz Vorgaben und Vorschriften hingegen brauchen wir nur Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend dort, wo es zwingend nötig ist. Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Allein das Erreichen eines Anteils von jetzt schon Ausschuss für Tourismus 8 Prozent erneuerbarer Energien bei den Gebäuden Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union zeigt, dass wir auf dem richtigen Weg sind, da wir uns Ausschuss für Kultur und Medien als Ziel 14 Prozent gesetzt hatten. Aber auch wir sind der Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Meinung, dass die jeweiligen regionalen, örtlichen und Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich sehe und höre individuellen Gegebenheiten Beachtung finden müssen dazu keinen Widerspruch. Dann werden wir so verfahren. und auch die ganz konkrete Situation des jeweiligen Bauherrn berücksichtigt werden muss. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red- ner dem Kollegen Hartfrid Wolff für die FDP-Fraktion das Wort. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Herr Kollege, denken Sie bitte an die Redezeit. (Beifall bei der FDP) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008 17175

(A) Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP): Dabei hat zum Beispiel auch der saarländische Minister- (C) Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Nach präsident Peter Müller einmal festgestellt: Das Boot wird aktuellen Zahlen des Instituts der deutschen Wirtschaft immer leerer. – Es wird hingenommen, dass sogar die fehlen in Deutschland rund 95 000 Ingenieure. Allein für EU-interne Migration an Deutschland vorbeigeht. Ge- IT-Spezialisten gibt es über 40 000 offene Stellen. Das- rade Fachkräfte aus Polen, seien es nun Pflegekräfte selbe Institut stellt fest, dass der deutschen Volkswirt- oder seien es Ingenieure, wandern lieber nach Großbri- schaft jährlich rund 18 Milliarden Euro oder 0,8 Prozent tannien aus, als in der Nachbarschaft, bei uns, zu arbei- des Bruttoinlandsprodukts durch fehlende Fachkräfte ten. verloren gehen. Wir sind auf die gesteuerte Zuwande- rung von Hochqualifizierten und Fachkräften angewie- (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- sen. Deutschland droht den Wettbewerb um die klügsten NEN]: Hier arbeiten dürfen sie ja nicht!) Köpfe zu verlieren. Es wird Zeit, endlich alten ideologi- – Eben, Herr Kollege. Das muss geändert werden! schen Ballast über Bord zu werfen und sich modernen Konzepten zuzuwenden. (Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Ingenieure können kommen!) (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Dr. Michael Bürsch [SPD]) Nur große Unternehmen haben die Chance, die ex- Es reicht nicht, weltweit mit dem Oktoberfest oder trem hohen Einkommensschwellen für Arbeitnehmer Neuschwanstein auf Werbetour für Fachkräfte zu gehen. aus Drittstaaten und die weiteren Hürden wie die indivi- Wir brauchen ein klares Umdenken bei der Zuwande- duelle Vorrangprüfung zu überspringen. Dabei ist gerade rungssteuerung. Gewerkschaften und Arbeitgeberver- der Mittelstand auf kreative Köpfe und Fachkräfte ange- bände sind sich einig, dass der stärkere Zuzug von Fach- wiesen. kräften nach Deutschland einen Beitrag zur Bekämpfung Ein Gegenmodell zum restriktiven Modell der Bun- der Arbeitslosigkeit bei uns darstellt; denn der Einsatz desregierung legt Ihnen die FDP heute vor: jeder weiteren Fachkraft zieht weitere Arbeitsplätze nach sich. Andere Staaten wie Großbritannien, die USA (Sebastian Edathy [SPD]: Na ja!) und Kanada sind aufgrund ihrer klaren und transparenten Zuwanderungsregelungen Deutschland meilenweit vo- Wir brauchen ein Punktesystem, mit dem die Zuwande- raus. Die Bundesregierung verschläft diese dynamische rung nach klaren Kriterien gesteuert wird und mit dem Entwicklung, zulasten des Wirtschafts- und Forschungs- unsere Interessen und Erwartungen an die Zuwanderer standorts Deutschland. klar definiert werden. Ein Punktesystem ist ein flexibles und modernes System zur Steuerung der Zuwanderung. (B) (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Josef Damit kann der Bedarf an dringend benötigten Arbeits- (D) Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- kräften befriedigt, bei fehlendem Bedarf aber auch eine NEN]) Reduzierung der Zuwanderung verfügt werden. Bei die- Natürlich müssen wir versuchen, durch schnell wirk- sem System spielen vor allem die Ausbildung, die beruf- same Maßnahmen in Bildung, Ausbildung und betrieb- liche Erfahrung, das Alter und die Kenntnisse der deut- liche Weiterbildung den Bedarf mit inländischen schen Sprache eine große Rolle. Es kommt vor allem auf Arbeitnehmern zu decken. Auch müssen endlich die Be- die professionelle Qualifikation und die gesellschaftliche schäftigungsperspektiven von Frauen und älteren Men- Integrationsfähigkeit der Migranten an. schen verbessert werden. Das ist Konsens. Zur Deckung Die FDP schlägt vor, dass diejenigen, die die höchs- des Fachkräftebedarfs scheint dies allerdings nicht aus- ten Hürden des Punktesystems überspringen, freie Ar- zureichen. beitsplatzwahl in Deutschland bekommen sollen. Fach- Meine Damen und Herren, die Arbeitswelt, der Ar- kräfte bzw. qualifizierte Arbeitnehmer, die eine beitsmarkt ist längst global. Produkte werden nicht mehr geringere Punktzahl erreichen, die Hürden des Punkte- an ein und demselben Standort erdacht, entwickelt, pro- systems gleichwohl nehmen, sollen einwandern dürfen, duziert, vertrieben. Deutschland hat die Chance, auch in wenn sie in einer Branche oder einem Bereich, in dem Zukunft Teil dieses Arbeitsprozesses zu sein, und zwar erheblicher Bedarf besteht, ein konkretes Arbeitsplatz- vor allem bei Forschung und Entwicklung. Doch wenn angebot haben. wir nicht aufpassen, kann sich das schnell ändern. Ausländische Hochschulabsolventen aus Drittstaaten Hochqualifizierte Forscher und Entwickler, egal ob sollen nach ihrer Studienzeit und ihrem Abschluss sie in Unternehmen, in Hochschulen oder in Forschungs- schnell und unkompliziert in Deutschland Arbeit aufneh- einrichtungen arbeiten, sind international, leben diese In- men können. Es ist für mich unverständlich, weshalb wir ternationalität. Es muss ihnen deutlich einfacher ge- Menschen, die in Deutschland studiert haben, hier inte- macht werden, sich in Deutschland anzusiedeln. Die griert sind, Menschen, in die wir als Gesellschaft Geld demografische Entwicklung lässt erwarten, dass wir den investiert haben, nach dem Abschluss mitteilen: Bei uns wirtschaftlichen Standard mittelfristig nicht werden hal- arbeiten darfst du nicht, auch wenn wir dich dringend ten können, wenn wir nicht für qualifizierte Zuwande- brauchten. rung offen sind. (Beifall bei der FDP – Reinhard Grindel Das bisherige Ausländerrecht hat die deutliche Bot- [CDU/CSU]: Das stimmt nicht: Ein Jahr lang schaft: Deutschland will eigentlich keine Zuwanderung. haben sie Zeit, Arbeit zu suchen!) 17176 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008

Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (A) Das ist paradox, Herr Kollege. Der Exportweltmeister (Beifall bei der CDU/CSU – Josef Philip (C) Deutschland agiert auf dem internationalen Arbeitsmarkt Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Jetzt wie ein viertklassiger Fußballverein, der das Transfer- aber ans Programm halten!) system noch nicht begriffen hat. (Beifall bei der FDP) Reinhard Grindel (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wie kann es sich ein Exportweltmeister erlauben, bei der Es ist wahr, Herr Kollege Wolff: Wir haben in einigen Zuwanderung provinziell zu agieren? Entscheidend ist: Regionen und Branchen einen Fachkräftemangel zu ver- Wen wollen wir nach Deutschland einladen, wer kann zeichnen. Es ist aber auch wahr, dass wir im Ausländer- unsere Gesellschaft weiterbringen? Unser Punktesystem und Arbeitserlaubnisrecht völlig ausreichende Regelun- ist ein moderner Ansatz für eine vernünftige Steuerung gen haben, die es Unternehmen schon jetzt erlauben, den der Zuwanderung. Fachkräftemangel durch die Anwerbung ausländischer (Beifall bei Abgeordneten der FDP) Arbeitnehmer zu bekämpfen. Das Instrumentarium ist da. Ich zitiere selten aus fremden Parteiprogrammen; (Beifall des Abg. Dr. Hans-Peter Uhl [CDU/ (Sebastian Edathy [SPD]: Das wäre aber CSU]) besser!) Das Instrument eines Punktesystems ist arbeitsmarktpo- aber ich möchte dem Kollegen Reinhard Grindel zuliebe litisch überflüssig und integrationspolitisch sogar ge- aus dem Beschluss des Parteitags der CDU 2006 in fährlich. Deshalb lehnen wir Ihren Antrag ab. zitieren. Auf Seite 87 steht: Ein Blick ins Gesetz erleichtert die Rechtsfindung. Die Zuwanderung von Arbeitskräften muss einfach Nach dem geltenden Aufenthaltsrecht können schon und übersichtlich geregelt werden … heute ausländische Arbeitnehmer eine Arbeitserlaubnis bekommen, wenn dafür ein Bedarf besteht und im Inland Weiter heißt es: Arbeitnehmer nicht zur Verfügung stehen. Die Auswahl der betreffenden Personen erfolgt auf (Dr. Michael Bürsch [SPD]: Warum wird das der Basis eines Punktesystems, das Alter, Schulausbil- nicht genutzt?) dung, Beruf, Sprachkenntnisse, Berufserfahrung … berücksichtigt. Nach der Beschäftigungsverordnung gehören dazu IT- Fachkräfte und Personen mit besonderen Spezialkennt- Bei den Sozialdemokraten liest sich das 2007 so: „Die nissen, die es so unter den heimischen Arbeitslosen nicht SPD steht weiter zu dem von der sogenannten Süssmuth- (B) gibt. (D) Kommission ausgearbeiteten Punktesystem.“ (Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Keine ef- (Dr. Michael Bürsch [SPD]: Stimmt!) fektive Regelung!) Liebe Kolleginnen und Kollegen von CDU/CSU und – Herr Kollege Wolff, das alles ist geltende Rechtslage SPD, Sie haben jetzt in der Regierung die Chance, Ihre ohne Punktesystem. – Zusätzlich kann die Bundesagen- eigenen, offensichtlich sogar einmal übereinstimmenden tur für Arbeit bereits heute den Zugang zum Arbeits- Beschlüsse umzusetzen. markt für einzelne Berufsgruppen und regionale Wirt- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten schaftszweige ohne die sogenannte Vorrangprüfung der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE zulassen, wenn das arbeitsmarkt- und integrationspoli- GRÜNEN – Dr. Michael Bürsch [SPD]: Wür- tisch verantwortbar ist. den wir auch gern machen! Sofort!) Es sind auch im Jahr 2007 – das haben Sie unterschla- Wir brauchen eine Willkommenskultur, die es Hoch- gen – wieder 63 000 ausländische Arbeitskräfte mit Ar- qualifizierten und Fachkräften aus dem Ausland erleich- beitserlaubnissen ausgestattet worden. Sie haben bei uns tert, sich für Deutschland zu entscheiden. Eine moderne gearbeitet. Das ist doch ein Beleg dafür, dass wir längst Zuwanderungssteuerung mit einem Punktesystem stellt einen funktionierenden Rechtsrahmen in unserem Land unsere nationalen Interessen als Wirtschaftsstandort im besitzen. Zeitalter der Globalisierung in den Vordergrund. Ein sol- (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE ches System verdrängt nicht einheimische Arbeitskräfte, GRÜNEN]: Sind da die Saisonarbeiter dabei? – sondern schafft auch für sie neue berufliche Perspekti- Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE ven. Es hilft Deutschland, seine Wettbewerbsfähigkeit GRÜNEN]: Es geht nicht um die Spargelste- zu verbessern. Eine moderne Zuwanderungssteuerung cher!) ist überfällig. – Liebe Frau Kollegin, da Sie genauso wie ich aus Nie- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten dersachsen kommen, müssten Sie wissen, wie viele Sai- der SPD) sonarbeitskräfte im niedersächsischen Spargelgewerbe und anderswo beschäftigt werden. Die 63 000 ausländi- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: schen Arbeitskräfte sind nach § 18 ganz normale Arbeit- Nächster Redner ist der Kollege Reinhard Grindel für nehmer. Die Zahl der gesamten Saisonarbeitskräfte liegt die CDU/CSU-Fraktion. weit über 200 000; das ist eine ganz andere Baustelle. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008 17177

Reinhard Grindel (A) Wenn Sie solche Anträge kommentieren, sollten Sie sich Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die (C) vorher informieren, über welche Arbeitnehmer wir re- reden doch sonst nicht mehr miteinander!) den. Es ist nicht ernsthaft zu bestreiten, dass es angesichts Dr. Michael Bürsch (SPD): von noch immer 3,3 Millionen Arbeitslosen, darunter Herr Kollege Grindel, bevor Sie sich an dem Thema mindestens 150 000 Akademikern, sinnvoll ist, dass Integrationspolitik und dem, was richtig und falsch ist, man, bevor ein Ausländer auf den deutschen Arbeits- abarbeiten, würde mich interessieren, wie Sie zu dem markt kommt, erst einmal schaut, ob nicht unter den hei- Dresdner Programm stehen, das Herr Wolff verdienst- mischen Arbeitslosen ebenso qualifizierte Kräfte existie- vollerweise zitiert hat. Klarer könnte in der Tat die SPD ren, die den Arbeitsplatz genauso gut besetzen könnten. nicht sagen, was ein Punktesystem ist und was dafür spricht. Dann bitte ich, das Ganze, was Sie jetzt vorha- (Beifall bei der CDU/CSU) ben, für falsch zu erklären und auch im Lichte Ihrer Wir dürfen doch nicht übersehen, dass sich unter den Ar- lichtvollen Dresdner Programmsätze zu erläutern. beitslosen viele ausländische Mitbürger befinden. Es ist integrationspolitisch sehr wichtig, dass wir uns nicht mit Reinhard Grindel (CDU/CSU): einer so hohen Zahl von ausländischen Jugendlichen ab- Lieber Kollege Bürsch, bei uns gelten die Grundsatz- finden, die ohne Berufsausbildung auf den Arbeitsmarkt programme und die letzten Wahlprogramme. drängen und dort keine Chance haben. (Lachen des Abg. Sebastian Edathy [SPD] und Herr Kollege Wolff, ich bleibe dabei: Es ist nicht rich- des Abg. Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/ tig, 50-Jährige zum alten Eisen zu werfen, DIE GRÜNEN]) (Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Das tut Was das Dresdner Programm angeht: Es geht um die Aus- doch keiner!) gestaltung des Punktesystems. Ich will Ihnen den ent- Aus- und Fortbildung einzustellen, aber dann junge scheidenden Punkt dabei sagen. Es ist die Frage – darauf Leute für billiges Geld aus dem Ausland zu holen. Das wäre ich jetzt eingegangen –, ob Sie in das Punktesystem hat nichts mit einer verantwortlichen sozialen Markt- auch den Nachweis eines ganz konkreten Arbeitsplatzes wirtschaft zu tun, um das ganz klar zu sagen. aufnehmen. Darauf verzichtet die FDP ausdrücklich in ihrem Antrag. Wie Sie dazu stehen, können Sie noch sa- (Beifall bei der CDU/CSU – Hartfrid Wolff gen; denn das Entscheidende ist, dass es dann, wenn ei- [Rems-Murr] [FDP]: Darum geht es nicht! – nem Arbeitnehmer, der aus dem Ausland zu uns kommt Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE (B) – das werde ich gleich darstellen –, kein konkreter Ar- (D) GRÜNEN]: So ist das in Australien und Ka- beitsplatz in unserem Land gegenübersteht, eine unge- nada!) steuerte Zuwanderung ist, Meine Damen und Herren von der FDP, ich gäbe Ih- (Rüdiger Veit [SPD]: Wozu habt ihr das Punk- nen recht, wenn Sie sagten: Die Vorrangprüfung, die die tesystem beschlossen?) Bundesagentur für Arbeit vorzunehmen hat, dauert oft zu lange. Auch ich finde, dass wir klare Ansprechpartner weil Sie niemals erkennen können, ob dieser ausländi- für die Unternehmer in jeder einzelnen Geschäftsstelle sche Arbeitnehmer überhaupt auf dem Arbeitsmarkt an- der Bundesagentur brauchen und dass diese Experten der kommt oder am Ende nicht doch in den Sozialsystemen BA einen genauen Überblick über den regionalen Ar- landet. Der entscheidende Punkt ist: beitsmarkt haben müssen, um schnell die Vorrangprü- (Dr. Michael Bürsch [SPD]: Warum haben Sie fung vornehmen zu können. Aber da reicht mehr Flexi- denn ein Punktesystem beschlossen?) bilität im Verwaltungsvollzug. Dafür brauchen wir keine neuen Gesetze, zumal – das will ich betonen – das Punk- Gibt es ein konkretes Arbeitsplatzangebot oder nicht? So tesystem integrationspolitisch gefährlich ist, weil es zu ist auch der Dresdner Beschluss zu verstehen. einer ungesteuerten Zuwanderung auf dem Arbeitsmarkt führt. (Beifall bei der CDU/CSU – Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So (Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Warum ist es nicht zu verstehen!) haben Sie es beschlossen?) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Herr Kollege, darf ich Sie noch einmal unterbrechen? – Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Es gibt einen zweiten Wunsch einer Zwischenfrage, die- Kollegen Bürsch? ses Mal von der Kollegin Sevim Dağdelen.

Reinhard Grindel (CDU/CSU): Reinhard Grindel (CDU/CSU): Ja. Bitte. (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben doch genügend Rede- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: zeit! – Gegenruf der Abg. Silke Stokar von Bitte sehr. 17178 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008

(A) Sevim Dağdelen (DIE LINKE): – Wenn Sie von gesteuerter Zuwanderung reden, dann (C) Vielen Dank, Herr Kollege. – Sie haben kurz darge- wollen wir uns einmal anschauen, lieber Herr Kollege legt, dass es nicht angehen kann, dass man junge, fri- Wolff, was Sie sich darunter vorstellen. Sie sagen: Nach- sche, dynamische Fachkräfte aus dem Ausland holt und gewiesen werden müssen Qualifikation, Berufserfah- die inländischen Langzeitarbeitslosen, darunter auch rung, Alter und Sprachkenntnisse; wenn dieser Nach- sehr viele Akademikerinnen und Akademiker, nicht för- weis erbracht ist, erhält man sofort eine Arbeitserlaubnis dern möchte. Ich habe hier eine Pressemitteilung der für zwei Jahre. Bundesregierung vom 8. Mai 2008 mit der Überschrift: (Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Das ist „Böhmer: Potenziale von Zugewanderten besser nut- verkürzt!) zen.“ Es geht vor allen Dingen darum, dass akademische Abschlüsse, die Ausländerinnen und Ausländer im Aus- Wie sieht das wohl in der Praxis aus? Qualifikation und land erworben haben, hier nicht anerkannt werden. Das Berufserfahrung: In jedem Land mit erheblichem Migra- ergab eine Studie aus Osnabrück. Seit Anfang des Jahres tionsdruck bekommt man jedes Examen, jedes Zeugnis liegt ein Antrag meiner Fraktion zu einer Vereinfachung gegen eine entsprechende Geldleistung. der Anerkennungsverfahren vor. Das sind rund eine halbe Million Menschen, darunter Ärztinnen und Ärzte. (Dr. Michael Bürsch [SPD]: Das ist platt!) Wie wollen Sie denn kontrollieren, ob jemand aus der Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Ukraine, aus Ghana oder aus Venezuela tatsächlich einen Frau Kollegin, Sie wollten eine Frage stellen. Abschluss erworben hat bzw. die Berufserfahrung hat, die er vorgibt? Da ist dem Missbrauch Tür und Tor ge- öffnet. Sevim Dağdelen (DIE LINKE): Gut. Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Ich möchte Sie Ich sage Ihnen: Die beste Maßnahme, um Qualifika- bitten, mir darzustellen, was die Bundesregierung bzw. tion festzustellen, ist, dass man den Arbeitgeber fragt, Ihre Regierungsfraktion zu tun gedenkt, damit diese Bil- der einen bestimmten Arbeitnehmer aus dem Ausland dungsabschlüsse anerkannt werden. haben will. Er kann entscheiden, ob er dessen Qualifika- tion braucht. Warum wollen Sie nicht, dass diese Ar- beitsplatzzusage entscheidend ist? Niemand kann besser Reinhard Grindel (CDU/CSU): als ein Arbeitgeber entscheiden, ob er einen bestimmten Das haben wir im Nationalen Integrationsplan alles Ausländer braucht. Wenn er ihn braucht und wenn es auf sauber festgelegt. Das ist eine Sache – das wissen Sie dem deutschen Arbeitsmarkt niemanden gibt, der diesen ganz genau –, bei der wir die Länder brauchen, weil die Arbeitsplatz genauso gut besetzen kann, dann bekommt (D) (B) Anerkennung der Abschlüsse Ländersache ist. Die er diese ausländische Arbeitskraft auch, wie 63 000-mal Länder waren an der Erarbeitung des Nationalen Inte- im Jahr 2007 geschehen, Herr Kollege Wolff. grationsplans beteiligt. Das heißt, es muss hier zu ver- einfachten Lösungen kommen, insbesondere wenn Be- (Beifall bei der CDU/CSU – Hartfrid Wolff [Rems- rufskammern mit beteiligt sind. Ich kann Ihnen sagen, Murr] [FDP]: Viel zu bürokratisch!) dass wir, Vertreter der CDU/CSU-Fraktion, gerade vor Was Sprachkenntnisse angeht, verlangen Sie das wenigen Wochen ein Gespräch mit den Vertretern der Niveau B 1. Das schreiben wir bei den Integrationskur- Ärztekammer in Berlin geführt und überlegt haben, was sen für Neuankömmlinge in Deutschland vor. Sprach- man tun kann, um mit wenigen Hilfestellungen, mit der kenntnisse auf diesem Niveau reichen für weite Teile, einen oder anderen Zusatzqualifikation, etwa Ärzte aus gerade von qualifizierter Beschäftigung – darum geht es Osteuropa, die wir dringend zum Beispiel für die Nach- hier –, wahrlich nicht aus. besetzung von Praxen im ländlichen Raum brauchen, in die Lage zu versetzen, als Ärzte zu arbeiten; denn diese (Rüdiger Veit [SPD]: Die sprechen sowieso brauchen wir, wir brauchen keine Personen, die mit dem alle Englisch!) Taxi durch Berlin fahren; von denen haben wir genug. Genau das ist unsere Politik. Das ist genau ein Argument Ich gehe davon aus – Sie haben es angesprochen –, gegen das Punktesystem, weil diese ausländischen Ar- dass Parallelen zu den Punktesystemen in Kanada und beitskräfte und diese Aussiedler schon im Land sind. Da Australien gezogen werden. Schauen Sie sich das einmal kann ich nur sagen: Lasst uns doch die Schätze, die hier an! Dort ist der Nachweis eines Arbeitsplatzes ein Quali- verborgen sind, für den Arbeitsmarkt heben! fikationselement, mit dem Punkte erworben werden, und zwar meistens genau diejenige Punktzahl, die man (Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Das braucht, um eine sogenannte „pass mark“, also eine Ar- reicht doch nicht!) beitserlaubnis, zu erhalten. Ich frage mich: Warum leh- nen Sie hier das als weiteres Qualifikationsmerkmal ab, Lassen Sie uns diese Menschen qualifizieren und nicht was in Kanada und in Australien gut funktioniert hat? das Problem der Integration durch ungesteuerte Zuwan- Ich kann das nicht nachvollziehen. derung weiter verschärfen! Das ist gerade ein Argument gegen den Antrag der FDP. (Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: So etwas haben wir drin!) (Beifall bei der CDU/CSU – Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Es geht um die gesteu- – Das haben Sie nicht drin. Das ist schlicht und ergrei- erte Zuwanderung! Das ist der Unterschied!) fend die Unwahrheit. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008 17179

Reinhard Grindel (A) (Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Lesen ben. Wir haben – das kann man hier im Plenum des (C) Sie den Antrag!) Deutschen Bundestages ruhig sagen – angeboten, auch bei Berufsanfängern auf die Vorrangprüfung zu verzich- Zur Säule 1 – dort geht es um die hochqualifizierten Ar- ten, wenn – Stichwort: Hochqualifizierte – ein Jahresein- beitskräfte – heißt es in Ihrem Antrag ausdrücklich: Ein kommen von mindestens 60 000 Euro erzielt wird. Wir konkretes Arbeitsplatzangebot ist nicht erforderlich. sind also für eine Absenkung der Einkommensgrenzen (Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Für die Hoch- eingetreten. Liebe Kollegen Veit, Wiefelspütz und qualifizierten, für die Fachkräfte, ja!) Bürsch, Sie waren doch alle dabei, als der damalige Staatssekretär Andres in unsere Koalitionsvereinbarun- Das ist der springende Punkt; darum geht es uns. Das be- gen hineingeplatzt ist – dieses Wort hat in diesem Zu- deutet ungesteuerte Zuwanderung. Diese Menschen sammenhang durchaus seine Berechtigung – und gesagt kommen nach Ihrer Vorstellung auf den Arbeitsmarkt, hat, selbst diese kleine Änderung nicht zuzulassen. ohne dass klar ist, in welchem Unternehmen sie Arbeit finden. Aufgrund meiner Erfahrung in der Ausländerpo- (Dr. Michael Bürsch [SPD]: Andres ist nicht litik in den letzten 15 Jahren sage ich: Das endet mit ei- mehr Staatssekretär!) ner Zuwanderung in die Sozialsysteme und eben nicht mit einer Zuwanderung auf den Arbeitsmarkt. Das wol- – Das ist eine tolle Sache. Herr Andres ist nicht mehr len wir nicht, lieber Kollege Wolff. Staatssekretär. (Beifall bei der CDU/CSU) (Dr. Michael Bürsch [SPD]: Das hat er davon!) Unser geltendes Recht ermöglicht – das muss man den Menschen, die uns hier zuschauen, sagen – eine – Mit Ihrem Zwischenruf behaupten zu wollen, Herr Vielzahl von Zugängen zum Arbeitsmarkt, indem sogar Müntefering und Herr Scholz hätten sich durch eine Per- auf die Vorrangprüfung verzichtet wird. Bei uns gibt es sonalentscheidung inhaltlich korrigiert, ist neben der die Zugangsmöglichkeit für die Höchstqualifizierten, die Spur. – Herr Andres war noch nicht einmal bereit, diese mehr als 85 000 Euro verdienen. Unabhängig von dieser kleine Änderung zuzulassen, und hat gesagt, im Bereich Gehaltsgrenze gibt es bei uns die Zugangsmöglichkeit des Arbeitserlaubnisrechts sei da mit dem Arbeitsminis- für ausländische Wissenschaftler und für Fachkräfte im terium überhaupt nichts zu machen. Die Sozialdemokra- internationalen Personalaustausch. Wir haben – entge- ten sind in der Verantwortung, einmal zu klären, was ihre gen dem, was Sie gesagt haben – den Arbeitsmarkt für Position ist. Das ist eine Übung, die Sie in diesen Wo- Ingenieure aus den neuen EU-Beitrittsländern geöffnet. chen reichlich praktizieren, vielleicht auch einmal im In all diesen Fällen bedarf es keiner Vorrangprüfung. Hinblick auf das Zuwanderungsrecht. (B) (D) Es stimmt auch nicht, was Sie über die Hochschulab- (Beifall bei der CDU/CSU) solventen gesagt haben. Jeder ausländische Student, der Die Abwanderung von deutschen Fachkräften ist ein hier einen Abschluss macht, hat ein ganzes Jahr lang, für weiteres Argument dafür – das wird auch im Antrag der das er eine Aufenthaltserlaubnis bekommt, Zeit, um sich FDP angesprochen –, dass es nicht das Ausländerrecht einen Arbeitsplatz in Deutschland zu suchen. Er kann in ist, das dazu führt, dass wir im Kampf um die klugen dieser Zeit sogar Arbeiten machen, die nicht seiner Qua- Köpfe der Welt nicht besonders erfolgreich sind. lifikation entsprechen, damit er seinen Lebensunterhalt bestreiten kann. Diese Maßnahme ist geeignet, um zu er- (Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Aber reichen, dass diejenigen, die wir ausgebildet haben, auf auch!) dem deutschen Arbeitsmarkt in qualifizierte Positionen kommen. Es liegt zum Beispiel an der Sprache und daran, dass Unternehmen in Deutschland, anders als solche im Aus- ( [CDU/CSU]: Sehr rich- land, lieber Praktika als ordentliche Arbeitsverträge ver- tig!) geben, und es hängt mit der Frage zusammen, wie viel man verdienen kann. Es liegt zudem an den Forschungs- Wir haben mit der Verabschiedung des Zuwanderungs- möglichkeiten und vielen anderen Dingen, die mit dem gesetzes bereits vor über zwei Jahren eine völlig richtige Ausländerrecht und dem Aufenthaltsrecht nichts zu tun Politik betrieben, Herr Kollege. haben. (Beifall bei der CDU/CSU – Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Die Hürden vergessen (Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Jetzt ist Sie!) die Wirtschaft schuld!) Ich stelle bei den Kollegen der Sozialdemokratie eine Angesichts von 3,3 Millionen Arbeitslosen darf der gewisse emotional-fonetische Zurückhaltung fest. Arbeitsmarkt nicht unkontrolliert geöffnet werden. Die bestehenden Vorschriften ermöglichen es den Unterneh- (Rüdiger Veit [SPD]: Es geht auch anders! – men, auf ausländische Fachkräfte zurückzugreifen, wenn Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE der deutsche Arbeitsmarkt nichts hergibt. Ich will noch GRÜNEN]: Nicht provozieren!) einmal betonen – Lieber Herr Bürsch, Sie waren doch dabei, als wir über die Frage der Zuwanderung auf den Arbeitsmarkt im Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Rahmen der Zuwanderungsgesetzgebung diskutiert ha- Herr Kollege, ganz kurz. 17180 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008

(A) Reinhard Grindel (CDU/CSU): Wir akzeptieren keinesfalls, dass Migrantinnen und Mi- (C) – ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin –, dass es granten nach Qualifikation und Arbeitsmarktlage in niemandem hilft, wenn älteren Arbeitnehmern keine „Nützliche“ und „Unnütze“, in „Erwünschte“ und „Un- Chancen mehr gegeben werden und Aus- und Fortbil- erwünschte“ eingeteilt werden. Das Punktesystem, Herr dung nicht mehr erfolgen, dafür aber junge Leute, die Kollege Edathy, zementiert und legitimiert diesen gesell- noch nicht einmal eine konkrete Arbeitsplatzzusage ha- schaftlichen Status quo und damit die soziale Ungleich- ben, aus dem Ausland geholt werden. Das führt zu einer heit; denn Qualifizierung und Ausbildung werden gegen Zuwanderung in die Sozialsysteme, aber hilft den deut- das Recht auf Migration ausgespielt. schen Unternehmen nicht. Dies wollen wir nicht, gerade auch im Interesse der Ausländer, die bei uns in Deutsch- Sie reden von Punkten, meine Damen und Herren. Ich land Ausbildungs- und Arbeitsplätze suchen. rede von Menschenrechten und Humanität. Herzlichen Dank. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der CDU/CSU) Wir lehnen eine Bewegungs- und Einreisefreiheit nur für die Gebildeten und die Reichen ab. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: (Sebastian Edathy [SPD]: Sondern?) Nächste Rednerin ist die Kollegin Sevim Dağdelen für die Fraktion Die Linke. Die FDP gibt mit dem Punktemodell die ihr eigene, nämlich dem Kapital verpflichtete, Antwort auf die wirt- (Beifall bei der LINKEN) schaftlichen, demografischen und sozialen Herausforde- rungen. Dieses Modell folgt auch dem EU-weiten Trend. Sevim Dağdelen (DIE LINKE): Es existieren unterschiedliche Konzepte, am wirtschaft- Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und lichen Nutzen orientierte Modelle – von Frankreich bis Herren! Vor 15 Jahren haben Sie, meine Damen und Italien. Aber ob das Kind nun „Greencard“, „temporäre Herren von SPD, CDU/CSU und FDP, mit Ihrer Asyl- Migration“ oder auch „zirkuläre Migration“, „Bluecard“ rechtsreform das Grundrecht auf Asyl faktisch abge- oder „Punktesystem“ heißt, ist egal. Die Konzepte spre- schafft. chen allesamt die Sprache der nationalen Kosten-Nut- (Sebastian Edathy [SPD]: Das hat mit Arbeits- zen-Kalkulation, und das lehnen wir, wie gesagt, ab. migration auch sehr viel zu tun!) Dass Hochqualifizierte und Qualifizierte weniger – Das hat sehr viel damit zu tun, Herr Edathy. – Seitdem Hürden auf dem Weg zu einem dauerhaften Aufenthalt führen Sie die migrationspolitische Debatte angeregter mit rechtlicher und sozialer Absicherung haben, steht (B) als je zuvor auf der Grundlage der Nützlichkeit der Men- fest. Übel dran sind aber die Menschen, die zur Über- (D) schen, der Gesetzmäßigkeiten kapitalistischer Verwer- brückung von saisonalen Engpässen im Niedriglohnsek- tungslogik. Alles muss sich rechnen. Menschen, gleich- tor eingestellt werden. Das ist nichts Neues. Das ist die gültig ob In- oder Ausländer, werden eingeteilt in zwingende Konsequenz aus der neoliberalen Logik, die Leistungsträger – also nützliches Humankapital – und in Sie heute dartun: Alles für den Wirtschaftsstandort „Unnütze“, die keinen Gewinn bringen. Die FDP zeigt Deutschland, aber bitte nicht auf Kosten unserer nationa- sich mit ihrem aktuellen Antrag zur Steuerung von Zu- len Sicherungssysteme und auch nur, wenn die Anpas- wanderung durch ein Punktesystem als herausragender sung an die deutsche Leitkultur gegeben ist! – Es geht Vertreter dieser menschenverachtenden Logik. um die alte Verbindung zwischen nationalistischem und ökonomischem Kalkül. (Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Oh!) Das heißt nämlich im Klartext, dass Menschen nach be- Ziel des Punktesystems soll die wirksame Bekämp- triebswirtschaftlichen Merkmalen vermessen werden. fung des von der Wirtschaft beklagten Fachkräfteman- Im Jahr 15 nach dem Brandanschlag in Solingen scheint gels sein. Herr Grindel hat mir da vorgegriffen. Der so- es salonfähig und ohne Hemmungen möglich zu sein, genannte Fachkräftemangel ist umstritten. Eine Menschen nach Kosten-Nutzen-Kalkül zu selektieren. Untersuchung des Instituts für Arbeitsmarkt- und Be- Ich bin empört über diese Haltung. Die Linke lehnt sie rufsforschung der Bundesagentur für Arbeit hat 13 500 selbstverständlich ab. Betriebe einbezogen. Die Studie hat ergeben, dass es keinen flächendeckenden Fachkräftemangel gibt. Der (Beifall bei der LINKEN) Wirtschaft – so diese Studie – gehe es offenbar vor allem Die Linke ist für Migration; in unserem Antrag aus um eine schnellere Besetzung offener Stellen und die dem letzten Jahr mit dem Titel „Für Humanität und Verhinderung höherer Lohnzahlung an die inländischen Menschenrechte statt wirtschaftlicher ‚Nützlichkeit’ als Fachkräfte. Es geht also um Lohndumping. Grundprinzipen der Migrationspolitik“ haben wir das Kein Wort hier darüber, dass der beklagte Fachkräfte- auch dargelegt. Wir sind dagegen, dass Menschen durch mangel hausgemacht und auch politisch gewollt ist! Seit ein Punktesystem ein Wert zugemessen wird und abhän- Jahren wird die Wirtschaft dafür belohnt, dass sie die Ju- gig vom erzielten Punktewert ihre jeweiligen Rechte be- gendlichen nicht mehr ausbildet. Kein Wort über die messen werden. massiven Verbote und Einschränkungen für hier lebende (Sebastian Edathy [SPD]: Es geht doch nicht Migrantinnen und Migranten bei der Ausbildung und um Flüchtlinge! Es geht um Arbeitsmigra- auch bei der Erwerbsarbeit! Kein Wort auch über die tion!) halbe Million Akademikerinnen und Akademiker, deren Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008 17181

Sevim DaDaðdelenğdelen (A) Abschlüsse hier nicht anerkannt werden! Tatsache ist, Schaffen Sie die soziale Ungleichheit beim Hoch- (C) dass die FDP den Unternehmen auch weiterhin die ge- schulzugang ab – mit bundesweiten Regelungen zur sellschaftlichen Kosten für die schulische und berufliche Hochschulzulassung können Sie das erreichen –, Ausbildung ersparen möchte. Da passt das Punktesystem (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE gut. GRÜNEN]: Das ist eine Einheitsrede!) Was wir zur Lösung der sozialen Herausforderungen und schaffen Sie vor allen Dingen auch die Studienge- in der Bundesrepublik und auch in Europa stattdessen bühren ab! Bauen Sie die Studienplatzkapazitäten aus, brauchen, sind Mindeststandards – Mindeststandards für und öffnen Sie die Hochschulen auch für nichttraditio- Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, ob sie nun aus nelle Studierende! Herr Röspel – das ist ein Abgeordne- Deutschland, aus Europa oder aus Staaten in anderen ter der SPD – hat bei der Debatte über den Forschungs- Teilen der Welt kommen. bericht heute meines Erachtens zutreffenderweise gesagt: Es kann doch nicht sein, dass ein Meister nicht (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE studieren darf, aber der Abiturient schon. Ich sehe da GRÜNEN]: Das alles kann man zusätzlich keinen Unterschied. Warum sollen Absolventinnen und zum Punktesystem machen!) Absolventen aus dem Bereich der beruflichen Bildung Was wir mit Sicherheit nicht brauchen, ist das Punkte- nicht studieren und sich damit zu hochqualifizierten system. Sozialdumping hat nichts mit Zuwanderung zu Fachkräften weiterbilden können? tun. Das sehen Sie auch an den 1-Euro-Jobs, die es in Tun Sie endlich auch etwas für die Anerkennung im Deutschland flächendeckend gibt. Ausland erworbener Abschlüsse, und setzen Sie sich für die Abschaffung der Arbeits- und Ausbildungsverbote (Beifall bei der LINKEN – Sebastian Edathy für Flüchtlinge ein! [SPD]: Was haben die mit Zuwanderung zu tun?) (Beifall bei der LINKEN) In der EU bzw. in der Bundesrepublik muss endlich Meine Damen und Herren, ich weiß, dass die neolibe- dafür gesorgt werden, dass am gleichen Ort für gleiche rale Einheitsfront von FDP, SPD und Grünen Arbeit auch der gleiche Lohn gezahlt wird. Das fordert (Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU, der auch der DGB. Deshalb: Her mit dem gesetzlichen Min- SPD, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE destlohn! GRÜNEN) (Beifall bei der LINKEN) ein Punktesystem unterstützt. Wenn Sie sich von der FDP aber nicht nur mit den Lippen zu Art. 1 des Grund- (B) Erhöhen Sie die Erwerbsquote von Frauen in diesem gesetzes bekennen wollen, sollten Sie sich gefälligst da- (D) Bereich! für schämen, dass Sie so einen menschenverachtenden Antrag eingebracht haben. (Zurufe von der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) (Beifall bei der LINKEN – Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Na, – Sehen Sie sich die Studie vom IAB an! Wenn Sie das das war toll!) tun, werden Sie feststellen, dass der Fachkräftemangel in einem Mangel an jungen männlichen Ingenieuren be- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: steht. Wir müssen die Erwerbsquote von Frauen in die- Für die SPD-Fraktion hat nun der Kollege sem Bereich steigern; denn die Frauen sind es, die Dr. Michael Bürsch das Wort. arbeitslos sind und nicht in diesen Beschäftigungsbe- reich aufgenommen werden. Dr. Michael Bürsch (SPD): Sorgen Sie endlich für eine Ausbildungsplatzumlage, Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle- damit Jugendliche nicht ohne Berufsausbildung bleiben! gen! Nach diesem erfrischenden Rundumschlag zu Fra- Ich will es nicht akzeptieren, dass circa 15 Prozent der gen, über die wir heute eigentlich nicht reden, komme Jugendlichen in diesem Land keine Berufsausbildung ich zum eigentlichen Thema, haben; anscheinend haben Sie sich damit abgefunden. (Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Sie trennen 80 000 junge Menschen jährlich verlassen die Schule Arbeitsmigration von Flucht! – Gegenruf des ohne Schulabschluss. Ich will mich damit nicht abfin- Abg. Sebastian Edathy [SPD]: Ja, natürlich!) den. Ich möchte eine Reformierung des Schulsystems und der Schulstrukturen. nämlich „Zuwanderung durch ein Punktesystem steu- ern“. (Sebastian Edathy [SPD]: Dann gehen Sie in (Beifall des Abg. Sebastian Edathy [SPD]) den , Frau Kollegin! Dann sind Sie hier falsch!) Ich nutze die Gelegenheit, Frau Kollegin Dağdelen, Herr Kollege Grindel und Herr Kollege Wolff, aufzuklä- Es geht nicht an, immer nur nach jungen, männlichen, ren, worum es überhaupt geht. Es geht nicht um Neolibe- dynamischen, gesunden Ingenieuren im Ausland Aus- ralismus. Es geht auch nicht um Menschenverachtung. schau zu halten! (Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Doch! Genau (Beifall bei der LINKEN) darum geht es!) 17182 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008

Dr. Michael Bürsch (A) Es geht um das, was so vorbildliche Länder wie die ich Ihnen: Die Sozialdemokratische Partei besteht aus (C) USA, Neuseeland und Australien – es gäbe noch viele 500 000 Mitgliedern. ist ein Mitglied, das weitere, die Sie beschimpfen können, Frau Dağdelen – in früherer Zeit an entscheidender Stelle gestanden hat. schon seit vielen Jahren machen. (Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Die sind sich (Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Seit wann doch alle einig bei der Sache!) sind die USA denn hervorragend?) Klaus Brandner, der jetzt hier sitzt, ist anderer Auffas- Ich nutze gerne die Gelegenheit, aufzuklären, was wir sung. Insofern bringt es nichts, wenn wir uns an einer unter einem Punktesystem verstehen und was wir nicht Person abarbeiten. Die SPD ist für eine Öffnung. Wir re- darunter verstehen. Irgendwie erinnert mich diese De- den nun aber nicht über Arbeitskräfte, sondern über die batte an den berühmten Film: „Und täglich grüßt das gesamte, nachhaltige, langfristige Perspektive. Murmeltier“. Wir debattieren über das Thema Punkte- system in regelmäßigen Abständen. Immer wieder stellt (Abg. Reinhard Grindel [CDU/CSU] meldet sich heraus, dass es große Missverständnisse, worüber sich zu einer Zwischenfrage) wir reden, auf jeden Fall aber unterschiedliche Auffas- – Wenn Sie dazu etwas fragen wollen, dann wäre ich be- sungen darüber gibt, worum es geht. reit, die Frage zuzulassen. Es geht nicht, Herr Kollege Grindel, um die Deckung eines kurzfristigen Bedarfs. In Situationen, wo kurzfris- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: tig Arbeitskräftebedarf besteht, kann dieser Bedarf im Herr Grindel, bitte sehr. Rahmen der bestehenden Regelungen und Gesetze ge- deckt werden. Dr. Michael Bürsch (SPD): (Dr. Werner Hoyer [FDP]: Sehr richtig!) Darf ich noch sagen, ob ich die Frage zulasse? Darum geht es bei der sogenannten Punkteregelung also nicht. Es geht vielmehr um eine langfristige Steuerung. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Letztlich geht es um die Frage, in welcher Gesellschaft Sie haben es schon von sich aus gesagt, ohne dass ich wir leben wollen. Wollen wir in einer Gesellschaft leben, Gelegenheit hatte, Sie zu fragen. die wie eine Wagenburg aufgebaut ist, die die Schotten dicht macht und keinen hereinlässt, damit bloß niemand Reinhard Grindel (CDU/CSU): unsere Sozialsysteme ausbeutet? Oder wollen wir in ei- Ich kann nur sagen: Die Wahrheit ist konkret, Ge- ner globalisierten Welt und angesichts unserer export- nosse. (B) orientierten Wirtschaft in einem möglichst breit akzep- (D) tierten Rahmen die Türen öffnen? Dafür, um zu einer (Sebastian Edathy [SPD]: Drohen Sie bitte weltoffenen Gesellschaft zu werden, zu einer Willkom- nicht mit SPD-Beitritt!) mensgesellschaft, wie der Kollege Wolff gesagt hat, ist Können Sie bestätigen, dass wir – und zwar nicht in der diese immer wieder angeführte und missverstandene letzten, sondern in dieser Legislaturperiode – im Rah- Punkteregelung gedacht. men des Zuwanderungsänderungsgesetzes als Union Was wollen nun die Sozialdemokraten? Ich brauche bereit waren, uns mit Ihnen auf eine Änderung zu ver- hier nicht das Rad neu zu erfinden. Das, was wir wollen, ständigen, nämlich hochqualifizierten jugendlichen Be- ist schon von der Vorgängerregierung dieser Großen rufsanfängern ohne Vorrangprüfung den Zugang zum Koalition, nämlich der vorzüglichen rot-grünen Koali- Arbeitsmarkt zu ermöglichen, indem wir die Höchstver- tion, dienstgrenze auf 60 000 Euro senken, und dass nicht ir- gendein Einzelner, sondern die gesamte SPD-Fraktion (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- nicht bereit war, das zu vereinbaren, und dass es auch NEN]: Genau! – Reinhard Grindel [CDU/ ansonsten zu keiner Änderung bei der Frage des Arbeits- CSU]: Warum redet eigentlich keiner aus dem marktzugangs gekommen ist? Wo waren Ihre Vor- Arbeitsbereich?) schläge, beim Zugang zum Arbeitsmarkt auch nur irgend- 2001/2002 entwickelt worden. Unsere gesetzliche Vor- etwas zu ändern? Stimmen Sie mir zu, dass da mit den gabe lautet folgendermaßen: Sozialdemokraten, und zwar wegen des Arbeitsministe- riums, keine Änderung zu machen war? Das Auswahlverfahren erfolgt im wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Interesse der Bundes- Dr. Michael Bürsch (SPD): republik Deutschland und dient der Zuwanderung qualifizierter Erwerbspersonen, von denen ein Bei- Wenn Sie die Frage in dieser Allgemeinheit stellen, trag zur wirtschaftlichen Entwicklung und die Inte- sage ich: Nein. Es gab maßgebliche Sozialdemokraten gration in die Lebensverhältnisse der Bundesrepu- – einige sitzen hier im Raum –, die der gleichen Mei- blik Deutschland zu erwarten sind. nung waren wie Sie und sogar eine weitergehende He- rabsetzung der Höchstverdienstgrenze im Auge hatten, Wenn Sie, Herr Kollege Grindel, auf ein Mitglied ei- nämlich nicht auf 60 000 Euro, sondern vielleicht auf ner früheren Bundesregierung in gehobener Stellung ab- 45 000 Euro. Das war, wie es in der Politik manchmal heben, das eine Verbesserung zum Beispiel beim Zuzug der Fall ist, zu einem bestimmten Zeitpunkt mit einem von Arbeitskräften verhindert haben soll, dann entgegne Akteur am Tisch nicht machbar. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008 17183

Dr. Michael Bürsch (A) (Clemens Binninger [CDU/CSU]: Wer war gungschancen nicht deutlich erhöht. Sie haben sich (C) denn das?) vorhin auf andere Systeme, zum Beispiel aus Kanada, bezogen. Ich habe selber damals ein Gutachten zu Die Zeit ändert sich. Man gewinnt ja auch an Überzeu- 14 Einwanderungsländern in Auftrag gegeben, unter de- gung. Das ist doch unser Geschäft, Herr Grindel. Wir nen auch Kanada war. Sie haben das System falsch ge- müssen für unsere Überzeugungen werben. Wenn wir schildert. Das kanadische Punktesystem, mit dem Fach- bei einem Punkt in der Minderheit sind, dann überzeu- kräfte ausgewählt werden, richtet sich seit 2003 fast gar gen wir die anderen. Jetzt hätten wir dafür, glaube ich, nicht mehr nach dem konkreten Arbeitsmarktbedarf. Das eine Mehrheit, wenn die CDU an dieser Stelle ihr eige- heißt, ein Arbeitsplatzangebot oder eine Ausbildung in nes Dresdner Programm ernst nähme und sagte: Wir einem besonders nachgefragten Beruf können in einem wollen eine langfristige Steuerung der Zuwanderung; Punktesystem zwar bestimmte Bonuspunkte erbringen; (Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Das ist aber das allein sollte, sagen die Kanadier, nie die lang- auch der richtige Weg!) fristige Aufenthaltsperspektive bestimmen. wir wollen nicht nur über den kurzfristigen Arbeitskräf- Kernpunkt einer Zuwanderungssteuerung durch tebedarf reden. Punkteregelung ist – da sehen wir allerdings einen Un- terschied zwischen der SPD und der FDP –, dass wir den Ich komme zurück zu dem eigentlichen Thema. Wir nach den aufgestellten Kriterien sorgfältig ausgewählten reden über die langfristige Steuerung. Ein Instrument zur Einwanderern sofort und ohne Wenn und Aber eine Nie- langfristigen Zuwanderungssteuerung muss, verehrte derlassungserlaubnis geben, also nicht eine Einwande- Kollegin Dağdelen – dies ist ja Ihre erste Legislatur- rung auf Probe. Wenn wir eine offene Gesellschaft sein periode; da kann man noch eine gewisse Lernfähigkeit wollen und gerade hochqualifizierte Fachkräfte zu uns voraussetzen –, holen wollen, dann müssen wir aus vollem Herzen deut- (Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Was Sie nicht lich machen, dass sie und auch ihre Familien bei uns sagen, Herr Kollege!) willkommen sind. Das ist der kleine Unterschied zur FDP. Machen Sie also die Tür nicht nur einen kleinen immer auf die Akzeptanz in der eigenen Bevölkerung Spalt auf – diese Willkommensgeste reicht nicht aus –, Rücksicht nehmen. Sie können doch nicht sagen: Alle Völker dieser Welt, wenn ihr nach Deutschland wollt, (Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Die Tür kommt bitte zu uns! Ob wir 80, 160 oder 240 Millionen ist schon weiter auf!) sind, ist uns egal; wir können auch das tragen. – Die Zu- sondern machen Sie deutlich, dass diese Menschen bei wanderung muss – das ist eine gesellschaftliche Erfah- uns wirklich willkommen sind und auch eine Niederlas- (B) rung, nicht nur in Deutschland – von Akzeptanz getra- sungserlaubnis bekommen. (D) gen sein. Sie können einen solchen Gesellschaftsvertrag nicht überdehnen, sondern müssen darauf achten, dass Das heutige Thema hat auch etwas mit Anerkennung die Zuwanderung bei aller Willkommenskultur noch von zu tun. Bei der Frage, in welcher Gesellschaft wir leben der Allgemeinheit, von den Menschen bei uns, von Ar- wollen, geht es auch um gesellschaftlich-kulturelle beitslosen und anderen, akzeptiert werden kann. Das ist Komponenten der Zuwanderung. Wir haben beim Wer- ein wesentliches Element. ben um die besten Köpfe nur dann eine Chance, wenn die Rahmenbedingungen stimmen und wenn sich Der Kriterienkatalog – man kann es auch so nennen, Deutschland für alle erkennbar als einwanderungs- wenn das Wort „Punkteregelung“ nicht so viel Zustim- freundliches und weltoffenes Land präsentiert. Ich habe mung findet – soll für die Frage „Zuwanderung oder ein paar namhafte Zeugen für diese Auffassung, die nicht“ folgende Kriterien beinhalten – da stehen wir nicht nicht im Verdacht stehen, der SPD anzugehören. Profes- allein, sondern das sind die Erfahrungen aus vielen Län- sor Klaus Zimmermann, Präsident des Deutschen Insti- dern, die wir in diesem Antrag aufgenommen haben –: tuts für Wirtschaftsforschung, hat sich entsprechend ge- Alter, schulische und berufliche Qualifikation, Berufs- äußert. Professor August-Wilhelm Scheer, Präsident des erfahrung, Familienstand, Sprachkenntnisse, Beziehun- Bundesverbandes Informationswirtschaft, Telekommu- gen zur Bundesrepublik Deutschland und Herkunftsland. nikation und neue Medien, ist der Ansicht, dass das Leit- Außerdem müssten bestimmte Mindestbedingungen er- bild für die Zuwanderung nach Deutschland künftig die füllt werden wie gesundheitliche Eignung und die Fähig- dauerhafte Niederlassung und Integration sein muss. Nur keit zur Sicherung des Lebensunterhaltes. Das ist nicht dann lohne sich die Investition in Integration, und nur menschenunwürdig, sondern eine Frage dessen, was un- dann würden die Potenziale des Arbeitsmarktes voll aus- sere Gesellschaft wirklich akzeptieren will und akzeptie- geschöpft. Eine befristete Aufenthaltserlaubnis stellt, ren kann. wie ich bereits geschildert habe, kein ausreichendes Si- gnal dar. Die überparteilich besetzte Süssmuth-Kommission – damit komme ich zu einem Punkt von Ihnen, Herr Bei diesem Thema gibt es einen weiteren Aspekt. Es Grindel – hatte schon 2001 ausdrücklich davon abgera- gibt nämlich auch einen Weg in die andere Richtung: ten, bei der dauerhaften Zuwanderung den aktuellen Be- Gut ausgebildete Deutsche mit Einwanderungsge- darf am Arbeitsmarkt zu berücksichtigen. Die Erfahrun- schichte wollen nicht mehr in unserem Land bleiben und gen in den klassischen Einwanderungsländern haben orientieren sich in Richtung Ausland. Unter der Über- nämlich gezeigt, dass ein Arbeitsplatzangebot zwar den schrift „Jung, gut und unerwünscht“ hat der Spiegel in Start erleichtert, aber die langfristigen Beschäfti- der letzten Woche über hochqualifizierte türkisch- 17184 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008

Dr. Michael Bürsch (A) stämmige Akademiker berichtet, die auswandern, weil In Zukunft – das ist mein Schlusswort – müssen wir (C) sie sich bei uns nicht heimisch und nicht anerkannt füh- aus meiner Sicht viel stärker darauf achten, dass die The- len. In dem Artikel wird auch aus einer wissenschaftli- men Zuwanderung und Integration zusammen betrachtet chen Befragung unter türkischen und türkisch-stämmi- werden und daraus eine Gesamtperspektive wird. Daran gen Akademikern zitiert, von denen knapp drei Viertel in sollte sich unsere Politik ausrichten. Sie sollte längerfris- der Bundesrepublik geboren wurden. Fast 80 Prozent tig denken und dann die Möglichkeiten ausschöpfen, die dieser Befragten bezweifeln danach, dass in Deutschland wir mit einer Zugangsregelung haben. Niemand muss eine glaubwürdige Integrationspolitik betrieben wird. befürchten, dass jedes Jahr Millionen Menschen zu uns Das muss man zur Kenntnis nehmen. Man mag über- kommen. Wer die Regelung in § 20 des Entwurfs eines rascht sein, und manches ist vielleicht erklärbar. Aber Zuwanderungsgesetzes von 2001 richtig gelesen hat, insgesamt gesehen ist diese Entwicklung nicht sehr er- weiß, dass eine Beschränkungsregelung vorgesehen war: freulich. Das Auswahlverfahren wird nur durchgeführt, Allein dieses Beispiel zeigt: Es genügt nicht, über Zu- wenn das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge und die Bundesanstalt für Arbeit nach Beteiligung wanderung nur gelegentlich wegen eines kurz- oder mit- des Zuwanderungsrates … gemeinsam eine Höchst- telfristigen Fachkräftebedarfs zu diskutieren und darauf zahl für die Zuwanderung im Auswahlverfahren die Forderung nach einer Punkteregelung zu gründen. Es festgesetzt haben. genügt generell nicht, Zuwanderung ausschließlich aus der wirtschaftspolitischen Perspektive zu betrachten. Es Das kann auch heißen, dass man für ein Jahr einmal eine kommen – das haben wir in diesem Hause schon häufig Zulassung von null festlegt. Auch das ist möglich. diskutiert – nicht nur Arbeitskräfte oder, wie es vor Dies ist also ein Thema, das gesamtgesellschaftlich zu 50 Jahren hieß, Gastarbeiter zu uns, sondern es kommen betrachten ist. Ich stelle heute fest: Es hat ein wenig mit Menschen mit ihrem eigenen Schicksal und mit ihrem der Ampel zu tun: Rot ist der Meinung, dieser Weg ist eigenen kulturellen Hintergrund zu uns. Wenn wir sie der richtige. hier aufnehmen wollen, müssen wir ihnen signalisieren, dass sie willkommen sind. Zuwanderung und Integration (Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Rosa!) gehören zusammen. Das ist eigentlich eine selbstver- Auch Grün ist dieser Meinung. Wenn auch Gelb dieser ständliche Erkenntnis. Aber wir leben das noch nicht. Meinung ist, dann haben wir an dieser Stelle schon ein- Herr Grindel, die Initiative „Nationaler Integrations- mal in guten Teilen des Hauses eine Übereinkunft. Da plan“ ist sicherlich erfreulich und stellt einen enormen werden wir die CDU/CSU gerne noch mit hineinneh- Fortschritt dar; das wird von uns anerkannt. Auch die men. (B) (D) Tatsache, dass inzwischen 90 Prozent der Anhänger von Danke schön. CDU und CSU Deutschland zu einem Einwanderungs- land erklären, ist erfreulich. Es bleiben zwar noch (Beifall bei der SPD – Stephan Mayer [Alt- ötting] [CDU/CSU]: Es ist aber die falsche 10 Prozent, die anderer Meinung sind. Übereinkunft!) (Rüdiger Veit [SPD]: Wir arbeiten daran!) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Aber das ist immerhin ein Fortschritt. Es hat sich schon Nächster Redner ist der Kollege Josef Philip Winkler etwas bewegt. für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. An dieser Stelle gilt es weiterzuarbeiten. Politik allein kann Integration und Zuwanderung nicht zusammen- Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): bringen. Das ist zum Teil eine gesellschaftliche Auf- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen gabe; auch darauf habe ich an dieser Stelle schon ver- und Kollegen! Ich will eingangs etwas zu Frau Dağdelen schiedentlich hingewiesen. Für mich ist dieses Problem von der Linksfraktion sagen. Die Art und Weise der also nicht allein von Staats wegen zu lösen. Der Natio- Auseinandersetzung in dieser Frage passt mir überhaupt nale Integrationsplan geht zu Recht davon aus, dass die nicht. Bürgergesellschaft gefordert ist. Zuwanderung und Inte- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, gration finden in der Gesellschaft statt, also vor Ort, bei- bei der SPD und der FDP) spielsweise in der Feuerwehr, in den Sportvereinen, in der Polizei und im öffentlichen Dienst. Aber wir müssen Das war völlig unter Niveau. Ich bin gerne bereit, dem es leben. Das ist eine Aufgabe der Bürgergesellschaft. Kollegen Wolff von der FDP und seiner Fraktion alles Der Staat kann ein gedeihliches Zusammenleben der Mögliche regelmäßig und von mir aus auch wöchentlich verschiedenen Bevölkerungsgruppen nicht dekretieren. von diesem Pult vorzuwerfen. Aber ihm, weil er ein Zu- Er kann allenfalls fördern, was er zur Integration für nö- wanderungspunktesystem fordert und dies wie in dem tig hält. Da tun wir sehr viel. Dann muss aber Integration vorliegenden Antrag begründet, vorzuwerfen, er und – das ist, wie ich finde, eine Generationenaufgabe – aus seine Fraktion verhielten sich menschenverachtend, ist unter aller Kanone. Das ist meiner Meinung nach unpar- der Mitte der Gesellschaft wachsen. Insoweit hat die lamentarisch. Bundesregierung auch an anderer Stelle Gutes bewirkt. Die Initiative Zivil-Engagement ist durchaus förderlich (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, und integrationsunterstützend. bei der SPD und der FDP) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008 17185

Josef Philip Winkler (A) Die Einordnung in die neoliberale Einheitsfront ver- Dem muss entgegengewirkt werden. Die geltenden (C) blasst dagegen. Das perlt an mir wirkungslos ab; das rechtlichen Normen helfen offensichtlich nicht; denn muss ich aushalten. sonst gäbe es diese Hilferufe nicht. (Beifall bei Abgeordneten der FDP) (Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Warum denn Jetzt zur Koalition. Das Theater, das Sie hier in regel- nicht?) mäßigen Abständen veranstalten, ist allerdings auch Die helfen nicht – ich sage es Ihnen –, weil auch ausge- nicht erheiternd, jedenfalls nicht für diejenigen, die da- wandert wird. Sie elaborieren über die 60 000 bis 70 000 mit regelmäßig zu tun haben müssen wie wir. Sie sto- Menschen, die einwandern. Bei dieser Sache kommt es cken Ihre Redezeit, die sowieso schon zwei Drittel einer aber auf den Saldo an. In den zurückliegenden Jahren Debatte ausmacht, noch durch wechselseitige Gegenfra- mussten wir immer wieder feststellen, dass der Saldo gen auf vier Fünftel auf und unterhalten sich dann über entweder gleich Null war bzw. ins Negative abzugleiten die Interna Ihrer Verhandlungsrunden und darüber, wel- drohte. Angesichts dessen kann man doch nicht sagen: cher Staatssekretär wegen welcher dummen Bemerkun- gen und wegen welcher Sitzung, in die er hineinplatzte, Die Rechtslage ist völlig in Ordnung; die müssten sich abgesägt wurde oder nicht. Das alles wollen wir gar alle nur ein bisschen schlauer anstellen. nicht wissen. (Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Die Auswan- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN derung liegt doch nicht am Ausländerrecht!) und bei der FDP – Reinhard Grindel [CDU/ Nein, an dieser Stelle muss man nacharbeiten. CSU]: Gehört aber zum Thema!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Schicken Sie uns – Sie werden sich sowieso nicht einig – und bei der FDP) doch in Zukunft einfach direkt die Protokolle Ihrer inter- nen Koalitionsgespräche. Mich würde auch interessieren, was das Wirtschafts- (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- ministerium dazu zu sagen hat und nicht nur die Abschot- NEN]: Videobänder!) tungsfuzzis vom Innenausschuss. Das ist eine Frage, die in den Bereich der Wirtschaftspolitik gehört. Dann können wir uns das hier im Plenum ersparen. (Beifall bei der FDP – Dr. Michael Bürsch (Dr. Michael Bürsch [SPD]: Abgemacht!) [SPD]: Das ist ein unparlamentarischer Aus- Aber jetzt zum Thema Punktesystem. Ich will einmal druck! – Sebastian Edathy [SPD]: Wen meinst den Kollegen Dr. Uhl – er ist gerade verhindert; er war du damit?) eben noch im Haus – zitieren. Wir wissen ja aus der De- (B) batte, dass die Union, zumindest der CDU-Part der – Ich habe überwiegend in Richtung dieser Hälfte des (D) Unionsparteien, ein solches bereits auf einem Bundes- Hauses geschaut. Ich meinte nicht die FDP. Da hier die parteitag beschlossen hatte. Er allerdings – nun von der Frage aufkam, wen ich damit meine, möchte ich Ihnen CSU – hält dieses Punktesystem für „Sozialismus, Plan- diesen Tipp mit auf den Weg geben. wirtschaft“. Wenn man über das Punktesystem debattiert, sollte (Stephan Mayer [Altötting] [CDU/CSU]: Sehr man sich genau informieren. Der Innenausschuss hat richtig!) sich in Kanada und Australien kundig gemacht. Das war sehr interessant. Dort wird zwischen dem Bereich der Wörtliches Zitat: Flüchtlingspolitik – wir sind da für eine humanitäre Poli- Das wäre die „freie Flutung“ des Arbeitsmarktes, tik; das ist heute nicht mein Thema, man muss das völlig eine faktische Aufhebung des Aufnahmestopps von voneinander trennen – und dem Bereich des Arbeits- 1972. marktzugangs und der Zuwanderung in den Arbeits- So hat er sich im August letzten Jahres in der Welt zitie- markt sehr genau unterschieden. Das sind zwei unter- ren lassen. schiedliche Bereiche. Dass die Linksfraktion das lieber durcheinanderwirbeln würde, ist zwar in Ordnung, Dazu muss ich sagen: Das ist genauso sachlich wie das, was wir heute von der Linksfraktion gehört haben. (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Man sollte sich in der Debatte nicht auf dieses Niveau NEN]: Das ist nicht in Ordnung!) herablassen. hier liegt aber etwas anderes auf dem Tisch. In Kanada, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Australien, Neuseeland und in Großbritannien, wo es und bei der FDP) dieses System auch schon einmal gab, ist es nicht so, wie In einigen Studien wird bezweifelt, dass es einen Ar- Herr Grindel gesagt hat. Die Einheimischen werden beitskräftemangel gibt. Eine Vielzahl von Studien und nicht mit 50 Jahren auf das Altenteil geschoben und von vor allem eine Vielzahl der Stimmen aus den Wirt- jungen, dynamischen und erfolgreichen Ausländern ver- schaftsverbänden – heute wieder, also ganz aktuell, aus drängt. Nein, das ist nicht so, es war nicht so, und es dem Bereich der IT-Industrie – belegen aber, dass es ei- würde auch in Deutschland nicht so sein, wenn wir ein nen Fachkräftemangel gibt, und zwar bei den Hochquali- Punktesystem einführen würden. fizierten. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Die können und bei der FDP sowie bei Abgeordneten der kommen!) SPD) 17186 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008

Josef Philip Winkler (A) Zu beachten ist allerdings der sogenannte Braindrain, Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU): (C) das Ausbluten von Entwicklungsländern. Diesen Aspekt Sehr geehrter Herr Präsident! Meine werten Kollegin- könnte man in ein Punktesystem einbauen. Der Vor- nen! Sehr geehrte Kollegen! Es ist doch vollkommen un- schlag der FDP enthält eine entsprechende Regelung streitig, dass wir in manchen Branchen, in manchen zwar nicht, da wir aber vor den Ausschussberatungen Wirtschaftszweigen in Deutschland einen Fachkräfte- stehen, können wir an diesem System weiterarbeiten. mangel haben. Aber – dies gehört zur gesamten Wahr- Natürlich kann man nicht akzeptieren, dass in Großbri- heit – wir haben in Deutschland auch arbeitslose Fach- tannien mehr Ärzte und Krankenschwestern arbeiten, die kräfte. Stand Mai 2008, durch die Bundesagentur für in den Universitäten von Malawi ausgebildet wurden, als Arbeit festgestellt: Es gibt in Deutschland beispielsweise in Malawi selbst, also in Afrika. Das ist inakzeptabel. 22 075 arbeitslose deutsche Ingenieure, 3 925 arbeits- Die Zuwanderungspolitik der Länder, die diese Ärzte lose Chemiker und Physiker und allein 19 018 arbeits- und Krankenschwestern aufgenommen haben, ist nicht lose Techniker. Dieses Problem muss man im Gesamt- korrekt. Man könnte ein Malussystem für die Schwellen- kontext genauso berücksichtigen wie die Notwendigkeit, und Entwicklungsländer einführen, die selbst einen dass wir singulär und selektiv in manchen Branchen, in Mangel an solchen Arbeitskräften haben. Man könnte manchen Wirtschaftszweigen mit Sicherheit einen Fach- Minuspunkte vergeben, sodass Zuwanderung aus diesen kräftemangel haben und in der Zukunft – das möchte ich Ländern faktisch nicht gegeben wäre. durchaus konstatieren – vielleicht einen noch größeren Fachkräftemangel bekommen. (Beifall des Abg. Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – Reinhard Aber – auch dies gehört zur Wahrheit – wir haben im Grindel [CDU/CSU]: Man merkt, wie unbüro- Jahr einen Aderlass von über 100 000 deutschen Fach- kratisch das alles ist!) kräften, die Deutschland verlassen. Man muss aufpassen, dass es nicht zum Braindrain (Reinhard Grindel [CDU/CSU]: So ist es!) kommt, auch wenn ein Braindrain in Ländern wie Indien nicht festgestellt wird. Indien ist aber auch kein klassi- Werter Kollege Wolff, es kann doch wohl nicht mit dem sches Entwicklungsland. deutschen Ausländer- und Zuwanderungsrecht zusam- menhängen, dass deutsche Fachkräfte den Standort Ich komme noch einmal auf den Antrag der FDP zu Deutschland offenbar für nicht mehr attraktiv genug hal- sprechen. Ich bedauere – wir haben darüber an anderer ten und ins Ausland abwandern. Stelle schon einmal diskutiert –, dass der Bundestag und (Beifall bei der CDU/CSU) der Bundesrat entsprechend Ihrem Vorschlag nicht über (B) diese Punkte debattieren sollen. Sie wollen das an ein Die Große Koalition hat in der Vergangenheit einiges (D) unabhängiges, wie auch immer geartetes Gremium abge- Sinnvolles und Sachgerechtes vorangebracht, um unser ben. Dieses Gremium soll entscheiden. Ich finde, diese Zuwanderungsrecht moderner und flexibler zu gestalten. Frage ist politisch so brisant, dass sie in der Politik de- Insbesondere die Bundesregierung hat durch die Be- battiert werden sollte. Über diese Frage sollte, wie es in schlüsse von Meseberg im vergangenen Sommer einiges den alten Systemen, über die wir in diesem Haus schon getan, um ein flexibleres, moderneres System auf die debattiert haben, vorgesehen war, von der Politik ent- Beine zu stellen. schieden werden, und zwar einvernehmlich mit den Län- dern, am besten jährlich. Dafür müssten wir eigentlich So ist es zum Beispiel einem High Potential, einem die Kraft haben. Wenn es nach uns ginge, würde das Hoch- oder Höchstqualifizierten, der in Deutschland Punktesystem unter dieser Maßgabe eingeführt werden mehr als 85 500 Euro pro Jahr verdient und aus einem und nicht die Form haben, die die FDP vorgeschlagen Nicht-EU-Land kommt, möglich, ohne individuelle Vor- hat. rangprüfung einen Arbeitsplatz in Deutschland zu be- kommen und sogar eine Premiumbehandlung angedie- Ich hoffe, dass wir darüber konstruktiv diskutieren hen zu bekommen, also eine Niederlassungserlaubnis können. und eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis ausgestellt zu bekommen. Das heißt, für denjenigen, der mehr als (Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Wir sind 85 500 Euro pro Jahr verdient, gibt es keine individuelle immer konstruktiv!) Vorrangprüfung. Er bekommt eine Niederlassungser- Ich bitte darum, dass sich die Koalitionsfraktionen die- laubnis, das heißt, er kann sich unbefristet, dauerhaft in ses Mal vor der Ausschusssitzung darüber abstimmen, Deutschland zur Arbeitsaufnahme aufhalten. was im Ausschuss besprochen werden soll. Auch für diejenigen, die weniger als 85 500 Euro pro Jahr verdienen, gibt es durchaus Möglichkeiten, zum (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Beispiel auch für EU-Ausländer, die aus den zwölf und bei der FDP) neuen EU-Ländern stammen. Wenn die Arbeitsmarkt- prüfung der Bundesagentur für Arbeit zu dem Ergebnis Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: kommt, dass ganz konkret ein Arbeitskräftebedarf vor- Das Wort hat der Kollege Stephan Mayer von der liegt, werden sie gegenüber Drittstaatlern bevorzugt. Ich CDU/CSU-Fraktion. muss sagen, dass ich die Wirtschaft in der Verpflichtung sehe. Wenn es sich wirklich um Hoch- oder Höchstquali- (Beifall bei der CDU/CSU) fizierte handelt, dann muss natürlich auch ein Gehalt Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008 17187

Stephan Mayer (Altötting) (A) gezahlt werden, das diesem Status entspricht; sprich: Warum das Punktesystem, das Sie mit diesem Antrag (C) mehr als 85 500 Euro. wieder zur Diskussion stellen, so ungeeignet ist, möchte ich Ihnen, sehr geehrter Herr Wolff, sehr gerne darlegen. (Zurufe von der CDU/CSU: Sehr richtig!) Dieses Punktesystem ist vollkommen überaltert, überzo- Leider Gottes wird auch Folgendes in der Praxis zu gen bürokratisch, wenig angewandt: Wenn in bestimmten Wirtschafts- (Sebastian Edathy [SPD]: Was?) zweigen, in bestimmten Berufsgruppen ein Arbeitskräf- tebedarf besteht, gibt es für diejenigen, die weniger kompliziert und vor allem außerordentlich schwerfällig. verdienen, die Möglichkeit, dass ganz sektoral Ausnah- Mich wundert wirklich, dass gerade von einer Partei wie meregelungen vorgenommen werden. Nach § 39 Abs. 2 der FDP, Satz 1 Nr. 2 des Aufenthaltsgesetzes kann die Bundes- agentur für Arbeit oder die entsprechende Regionaldi- (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- rektion, wenn regionalbezogen ein Arbeitskräftebedarf NEN]: Ihr Lieblingskoalitionspartner!) besteht, die Genehmigung erteilen, dass schon unterhalb die sich immer als Vorkämpfer für Verwaltungsvereinfa- der Einkommensschwelle von 85 500 Euro auf die indi- chung und Entbürokratisierung geriert, ein Punktesys- viduelle Vorrangprüfung verzichtet wird und für Nicht- tem favorisiert wird, mit dem genau das Gegenteil des- EU-Ausländer die Einreise nach Deutschland erlaubt sen erreicht wird. und natürlich auch die Arbeitsaufnahme ermöglicht wird. Es müssen verschiedene Kriterien festgelegt werden: (Sabine Leutheusser-Schnarrenberger [FDP]: Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Ja! Das ist gesteuerte Zuwanderung!) Herr Kollege Mayer, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Wolff? Aus welchem Land kommt der Betreffende? Hat er Deutschkenntnisse? Wie ist sein Bildungsstand? Welche Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU): Berufserfahrungen hat er? Wie sind seine Beziehungen Selbstverständlich, sehr gerne. zu Deutschland? (Sebastian Edathy [SPD]: Das ist doch alles Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: super!) Bitte schön, Herr Wolff. Diese Kriterien wollen Sie von Sachverständigen überprüfen und in regelmäßigen Abständen evaluieren (B) Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP): lassen. Außerdem wollen Sie, dass diese Kriterien (D) Herr Kollege Mayer, Sie haben jetzt aufgezählt, was jeweils noch auf die Ebene der einzelnen Länder herun- alles schon hervorragend funktioniert. Mich wundert, tergezoomt werden. Darüber hinaus sind Sie der Auf- weshalb nicht nur hier im Hause, sondern auch von der fassung, dass eine regelmäßige Überprüfung der zur gesamten Wirtschaft, vielen Verbänden und unter ande- Anwendung kommenden Kriterien und der Mindest- rem auch den Gewerkschaften ein Punktesystem gefor- punktwerte, die erreicht werden müssen, stattfinden dert wird, das deutlich unbürokratischer und einfacher sollte. Ich glaube, jedem, der sich diese Litanei bürokra- gestaltet ist. Ich habe den Eindruck – Sie müssen mir sa- tischer Anforderungen vor Augen hält, leuchtet sehr gen, ob das stimmt –, dass Sie behaupten, dass die For- schnell ein, dass dieses System außerordentlich starr, un- derungen, die Sie jetzt darstellen, nicht reichen. Die flexibel, unheimlich kompliziert und deswegen in jeder Stimmung in der Bevölkerung ist eine andere. Oder se- Weise überaltert und anachronistisch ist. hen Sie das anders? (Beifall des Abg. Reinhard Grindel [CDU/ (Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Die wollen CSU]) den Leuten nichts zahlen!) Meine sehr verehrten Damen und Herren, mittler- weile haben wir ein außerordentlich flexibles und mo- Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU): dernes Zuwanderungsrecht. Ich möchte nur daran erin- Werter Herr Kollege Wolff, weshalb die Gewerk- nern, dass die Bundesregierung in Meseberg den schaften oder Wirtschaftsverbände eine bestimmte Posi- Beschluss gefasst hat, dass Ingenieure, auch Nicht-EU- tion haben, dürfen Sie nicht mich fragen, sondern das Ausländer, die in den Bereichen arbeiten, in denen der müssen Sie die jeweiligen Organisationen und Verbände Fachkräftemangel außerordentlich groß ist – in der Elek- fragen. Ich glaube, es gilt, mit einem Vorurteil und einer troindustrie, im Fahrzeugbau und im Maschinenbau –, sich nachhaltig verfestigenden Meinung aufzuräumen, ab dem 1. November vergangenen Jahres eine dauer- nämlich dass wir allein durch eine verstärkte, ungesteu- hafte Aufenthaltserlaubnis in Deutschland bekommen erte und schrankenlose Zuwanderung nach Deutschland können, auch unter Verzicht auf eine individuelle Vor- den durchaus sektoral vorhandenen Fachkräftemangel in rangprüfung. Deutschland beheben könnten. (Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Das will (Sebastian Edathy [SPD]: Ja! Das gilt für die- doch keiner!) jenigen aus den neuen Mitgliedstaaten, Herr Kollege! Und was ist mit denen von außerhalb Das Gegenteil ist der Fall. der EU?) 17188 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008

Stephan Mayer (Altötting) (A) Die Bundesregierung reagiert also auf den sektoral vor- Beruf und Kindererziehung. Dafür hat die Bundesregie- (C) handenen Fachkräftemangel. rung bereits einiges getan. Als Beispiele nenne ich den verstärkten Ausbau der Kindertagesstätten und die Ver- Es gibt einen weiteren Kritikpunkt am FDP-Antrag: besserung der Beschäftigung älterer und erfahrener Sie erwarten, dass Hoch- und Höchstqualifizierte – wenn Fachkräfte. es nach Ihnen ginge, dürften sie sogar ohne konkreten Arbeitsplatznachweis nach Deutschland einreisen – über Ein wesentlicher Punkt ist: Es darf nicht sein, das je- Deutschkenntnisse verfügen, die lediglich dem Niveau mand mit 50 oder 55 Jahren zum alten Eisen gehört und B1 entsprechen. Das ist wirklich zu wenig. Dieses Ni- abgeschoben wird. Gerade angesichts der demografi- veau soll in Deutschkursen schon nach 600 Unterrichts- schen Entwicklung in Deutschland – sie findet allerdings stunden erreicht werden. Dass Deutschkenntnisse auf nicht nur in Deutschland, sondern europaweit statt – diesem Niveau in keiner Weise ausreichend sind, um ei- brauchen wir auch weiterhin das wertvolle Know-how ner Berufstätigkeit nachzugehen, die der eines Hoch- der älteren Bevölkerung und der älteren Arbeitnehmerin- oder Höchstqualifizierten entspricht, nen und Arbeitnehmer. (Reinhard Grindel [CDU/CSU]: So ist es! Sehr (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) richtig!) Ich bin Ihnen dankbar, sehr geehrter Herr Wolff, dass leuchtet meines Erachtens jedem Verständigen ein. Sie auch deutlich gemacht haben, dass wir keine unge- steuerte Zuwanderung in die sozialen Sicherungssys- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – teme wollen. In diesem Zusammenhang ist für mich ein Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE Punkt auch ganz wesentlich: Ich habe zum Ausdruck ge- GRÜNEN]: Vielleicht können die Leute ja bracht, dass die Europäische Union mit ihrer Bluecard- Englisch! – Sabine Leutheusser-Schnarrenberger Richtlinie vom 23. Oktober letzten Jahres durchaus in [FDP]: Ja! Englisch sollte man natürlich auch die richtige Richtung geht, weil dort ganz klar festge- können!) schrieben ist, dass die Nationalstaaten weiterhin selbst Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich möchte entscheiden können, wenn es darum geht, festzulegen, konstatieren, dass im Antrag der FDP gewisse Ansätze wer in den nationalen Arbeitsmarkt einreisen darf und enthalten sind, die in die richtige Richtung gehen. Ich wer nicht. bin Ihnen, Herr Kollege Wolff, beispielsweise dankbar, Ich finde es aber nicht richtig – ich glaube, es gilt, dass Sie in Ihrem Antrag deutlich machen, dass das Heft dies an dieser Stelle auch noch einmal zum Ausdruck zu des Handelns, was die Kompetenz zur Regelung der Zu- bringen –, dass, wenn es nach der Europäischen Union wanderung in den nationalen Arbeitsmarkt betrifft, wei- geht, jemand Hoch- oder Höchstqualifizierter schon (B) terhin in der Hand der Mitgliedsländer der Europäischen (D) dann ist, wenn er lediglich das Dreifache des Mindest- Union bleiben muss. Es darf nicht sein, dass die Euro- lohns des jeweiligen Landes verdient. Das kann nun päische Kommission oder die Europäische Union insge- wirklich nicht sein. Man ist nicht schon dann Hoch- oder samt darüber befindet, nach welchen Kriterien in den Höchstqualifizierter, wenn man das Dreifache des Min- deutschen Arbeitsmarkt eingereist werden darf. destlohns oder des Sozialhilfesatzes verdient. Vielmehr Wir haben zwar eine Europäische Union, aber wir ha- muss, wenn es sich wirklich um einen Hoch- oder ben 27 verschiedene Arbeitsmärkte in der Europäischen Höchstqualifizierten handelt, dann das Einkommen Union mit ganz unterschiedlichen Problemen und ganz weitaus höher liegen. unterschiedlichen Herausforderungen. Deswegen ist es Insoweit, meine sehr verehrten Damen und Herren, richtig, dass der Deutsche Bundestag Wert darauf legt darf ich festhalten: Der Antrag ist vollkommen überaltert und klar zum Ausdruck bringt, dass wir weiterhin als na- und anachronistisch, weil die Problematik, die wir in tionaler Gesetzgeber darüber befinden wollen, nach wel- Deutschland haben, durch das Punktesystem nicht gelöst chen Kriterien und aufgrund welcher Regelungen in den wird. Ich bin der FDP aber dankbar, dass sie dieses deutschen Arbeitsmarkt eingereist werden darf. Thema hier jetzt wieder zur Sprache gebracht und zur Des Weiteren bin ich Ihnen dankbar, dass Sie in Ihrem Diskussion gestellt hat. Wir müssen uns als nationales Antrag zum Ausdruck gebracht haben, dass es wichtig Parlament mit Sicherheit weiterhin und dauerhaft inten- ist, das Thema der Vereinbarkeit von Familie und Ar- siv mit dem wichtigen Thema der Förderung von Hoch- beitstätigkeit stärker in den Fokus der Öffentlichkeit zu und Höchstqualifizierten in Deutschland auseinanderset- rücken. Was mich aber wundert, sehr geehrter Herr Kol- zen. lege Wolff: Von den sieben Forderungen, die Sie als Ich sehe hier – das sage ich zum Abschluss – durch- Schlussfolgerungen in Ihrem Antrag formulieren, betrifft aus auch die Wirtschaft in der Verantwortung. nur eine einzige das Punktesystem, (Reinhard Grindel [CDU/CSU]: So ist es!) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: während die sechs anderen Forderungen ganz andere Kommen Sie bitte zum Schluss. Themen zum Inhalt haben. Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU): (Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Ganz genau!) Herr Präsident, ich komme zum Schluss. – Meine Sie haben durchaus richtige Aspekte aufgegriffen, letzte Bemerkung: Es kann nicht sein, dass die Wirt- beispielsweise die Verbesserung der Vereinbarkeit von schaft hier immer nur danach ruft, dass die Schleusen Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008 17189

Stephan Mayer (Altötting) (A) aufgemacht werden. Ich sehe die Wirtschaft auch ganz Ich glaube aber, dass man zwei Punkte stärker be- (C) klar in der Verantwortung, noch mehr für die Ausbildung rücksichtigen muss: Zum einen muss die Wirtschaft in und Förderung von jungen Hoch- und Höchstqualifizier- der Tat in die Verantwortung genommen werden. Dort, ten zu tun. wo es Defizite im Inland gibt, müssen sie ausgeglichen werden, und sie muss ein Mehr an Ausbildung und Wei- Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. terqualifizierung gewährleisten. Zum anderen muss ge- (Beifall bei der CDU/CSU) prüft werden, in welchen spezifischen Bereichen – das werden in den nächsten Jahren eher die Hoch- als die Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Mittelqualifizierten sein – es einen Bedarf gibt. Das Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat muss dann als Grundlage für entsprechende Zahlen ge- der Kollege Sebastian Edathy von der SPD-Fraktion das nommen werden. Wort. Ich muss auch dazu sagen, dass keine beliebige Zu- (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Reinhard wanderung von Hoch- und Höchstqualifizierten, sondern Grindel [CDU/CSU]: Er teilt jetzt die Mei- eine arbeitsmarktbezogene Zuwanderung ermöglicht nung von Frau Schwan mit!) und reguliert werden sollte. Lieber Kollege Wolff und liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP-Fraktion, Sebastian Edathy (SPD): bei dieser Zuwanderung muss aber zwingend sicherge- Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und stellt werden, dass nicht der Fehler wiederholt wird, der Kollegen! Ich glaube, der Kollege Mayer ist ein sehr lan- in den 60er- und 70er-Jahren des letzten Jahrhunderts ger, wenn vielleicht auch nicht großer Abgeordneter. prägend war, als Arbeitsmigration als Migration auf Zeit Deswegen wäre es ganz hilfreich, das Pult noch ein biss- behandelt und so getan wurde, als ob die Menschen, die chen nach unten zu fahren. zu uns kommen, Gäste sind. (Stephan Mayer [Altötting] [CDU/CSU]: Herr In dem Antrag der FDP steht, dass sie erst einmal so- Edathy, Sie sind ein kleiner Abgeordneter! zusagen ein Bleiberecht auf Probe erhalten; danach wird Klein in jeder Hinsicht!) geschaut, wie sie sich hier zurechtfinden. Ich glaube, das ist der falsche Ansatz. Wer uns gut genug dafür ist, in – Jedenfalls nicht ganz so lang. Deutschland arbeiten zu dürfen, der muss uns auch als Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben in der Nachbar herzlich willkommen sein. Es kann keine Art heutigen Debatte durchaus gemeinsam feststellen kön- Probemitgliedschaft in der deutschen Gesellschaft ge- nen, dass das Thema, das die FDP-Fraktion in ihrem An- ben. (B) trag aufgreift, in der Tat behandlungsbedürftig ist. Der (D) Ansatz der FDP-Fraktion ist vom Grundgedanken her (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ durchaus zu begrüßen. Es soll eine Antwort auf die DIE GRÜNEN) Schwierigkeiten gegeben werden, die wir auf dem deut- Es ist, glaube ich, nicht unbedingt realitätsnah, wenn schen Arbeitsmarkt perspektivisch noch viel stärker als man damit den Gedanken verbindet, dass jeder, der als bisher erleben werden. hoch- oder höchstqualifizierter Arbeitsmigrant oder Ar- Selbst bei mehr Ausbildung im Inland – das müssen beitsmigrantin nach Deutschland kommen kann, dafür wir auch tun – werden wir allein aufgrund der demogra- dankbar sein sollte. Wir haben internationale Arbeits- fischen Entwicklung zukünftig stärker darauf angewie- märkte. Es gibt Länder wie Großbritannien und die sen sein, Zuwanderung auch mit Blick auf die Arbeits- USA, die zu ihrem eigenen wirtschaftlichen Nutzen – das migration zu gestalten. Da ist noch ein Wort an Frau ist auch völlig berechtigt und nachvollziehbar – Men- Dağdelen zu richten: Es macht überhaupt keinen Sinn, schen aus Drittstaaten anwerben, die über eine gute Qua- alles, was Migration betrifft, in einen Kochtopf zu wer- lifikation verfügen. Diese Menschen suchen sich aus, wo fen. Wir müssen schon zwischen der Aufnahme von sie hingehen. Wenn sie die Alternative haben, entweder Flüchtlingen und der Aufnahme von Menschen, die als mit einem unbeschränkten Aufenthaltsrecht nach Lon- Arbeitsmigranten zu uns kommen wollen und auch sol- don zu gehen oder mit einem auf zwei Jahre beschränk- len, unterscheiden. ten Aufenthaltsrecht nach Deutschland zu gehen und hier vielleicht noch wegen eines möglichen Erfordernis- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des ses an Sprachkenntnissen bangen müssen, ob der Ehe- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) partner mitkommen darf, dann sind die deutschen Bedin- Mit diesen Menschen müssen wir auch vernünftig, gungen wenig attraktiv, zeitgemäß und realitätsnah. fair und angemessen umgehen. Ich hoffe, dass wir es wie schon in den letzten Jahren An dem Vorschlag der FDP-Fraktion gefällt mir gut, schaffen, diese Frage stärker zu entideologisieren und an dass gesagt wird: Lasst uns doch ein System entwickeln, den Realitäten und Notwendigkeiten zu orientieren. Ein bei dem man schauen kann, welche Menschen besonders Punkt, der fraktionsübergreifend nicht bestritten werden integrationsfähig sind, welche Menschen eine gute Qua- kann, ist, dass die im Bereich der Arbeitsmigration be- lifikation vorzuweisen haben und welche Menschen sich stehenden Prozesse zu bürokratisch sind. Sie sind auch hier etablieren und auch eigenständig leben können, so- nicht so gestaltet, dass sie eine angemessene Antwort auf dass sie hier in Deutschland zum wirtschaftlichen Ge- die demografischen Veränderungen der nächsten fünf bis winn beitragen. zehn Jahre geben. 17190 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008

Sebastian Edathy (A) Deswegen geht es jetzt nicht darum, etwas übers Knie frei für einen bedarfsgerechten und qualitativ hochwerti- (C) zu brechen; wir sollten uns vielmehr sehr sorgfältig und gen Ausbau der Kindertagesbetreuung in Deutschland. intensiv mit der Thematik beschäftigen. Dass es Ände- Es geht um beides: bedarfsgerecht und qualitativ hoch- rungsbedarf gibt, wird niemand bestreiten können, am wertig. Das gemeinsame Ziel von Bund, Ländern und allerwenigsten die SPD-Fraktion. Kommunen, bis zum Jahr 2013 für jedes dritte Kind un- ter drei einen Betreuungsplatz zu schaffen, rückt damit Vielen Dank. immer näher. (Beifall bei der SPD) Das Gesetz wird unser Land mit Sicherheit spürbar verändern. Eine gute Vereinbarkeit von Familie und Be- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: ruf und Chancengleichheit für Kinder von Anfang an Ich schließe die Aussprache. sind nicht mehr nur Wunsch, sondern werden Wirklich- Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf keit. Drucksache 16/8492 an die in der Tagesordnung aufge- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- neten der SPD) verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ein Blick auf die Situation in vielen westdeutschen Bundesländern zeigt, dass nur jedes zehnte Kind dort ei- Ich rufe die Tagesordnungspunkte 7 a und 7 b auf: nen Betreuungsplatz findet. Das ist sehr weit von dem a) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/ entfernt, was junge Familien brauchen, wollen und mitt- CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs eines lerweile auch einfordern. Die Finanzierung des Ausbaus Gesetzes zur Förderung von Kindern unter steht mit dem Kinderförderungsgesetz auf einer soliden drei Jahren in Tageseinrichtungen und in der Basis. Es ist klar, dass sich der Bund mit 4 Milliarden Kindertagespflege (Kinderförderungsgesetz – Euro und damit zu einem Drittel an den Kosten des Aus- KiföG) baus beteiligt. Das ist ein gewaltiger Aufwand. Die Be- teiligung des Bundes an den Investitionskosten haben – Drucksache 16/9299 – wir durch das Sondervermögen in Höhe von 2,5 Milliar- Überweisungsvorschlag: den Euro bereits im vergangenen Jahr sichergestellt. Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f) Rechtsausschuss Mit dem Kinderförderungsgesetz regeln wir nun die Finanzausschuss Beteiligung des Bundes an den Betriebskosten. Die Länder Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Gesundheit erhalten durch eine Änderung des Finanzausgleichsgeset- (B) Ausschuss für Bildung, Forschung und zes für die Jahre 2009 bis 2013 insgesamt 1,85 Milliarden (D) Technikfolgenabschätzung Euro und anschließend dauerhaft jährlich 770 Millionen Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO Euro als Entlastung für die Finanzierung der Betriebs- b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Diana kosten. Golze, Klaus Ernst, Dr. Martina Bunge, weiterer (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Schon jetzt haben, wie jeder von uns feststellen kann, Öffentliche Kinderbetreuung ausbauen – viele Kommunen mit dem Ausbau begonnen. Wichtig Kommerzialisierung der Kinder- und Jugend- ist: Wir setzen nicht nur allgemein auf den Ausbau, son- hilfe vermeiden dern wir setzen auch auf Qualität. Denn wir wissen: Je – Drucksache 16/9305 – jünger die Kinder sind, desto besser muss die Qualität Überweisungsvorschlag: der Erziehung sein. Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f) Rechtsausschuss Viele Eltern brauchen eine flexible Kinderbetreuung, Finanzausschuss wünschen sich für ihre Kinder aber auch eine familien- Ausschuss für Arbeit und Soziales nahe Atmosphäre. Gerade das ist die Stärke der Kinder- Ausschuss für Gesundheit tagespflege. Deswegen wollen wir 30 Prozent der Plätze Ausschuss für Bildung, Forschung und durch die Tagespflege, also durch Tagesmütter und Technikfolgenabschätzung Tagesväter, abdecken. Das bedeutet für die Kindertages- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die pflege ein deutlich professionelleres Profil und eine Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich leistungsgerechte Vergütung für Tagesmütter und Tages- höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. väter. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red- Unser Ziel – das sage ich noch einmal – sind Betreu- ner dem Parlamentarischen Staatssekretär Dr. Hermann ungsplätze auf höchstem qualitativem Niveau. Kues von der Bundesregierung das Wort. (Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Richtig!) Dr. Hermann Kues, Parl. Staatssekretär bei der Wir haben mit dem Kinderförderungsgesetz im Ver- Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Ju- gleich zum TAG erweiterte, objektiv rechtliche Ver- gend: pflichtungen für die Bereitstellung von Plätzen einge- Herr Präsident! Meine Damen und Herren Kollegen! führt. Wir wollen, dass Kinder gefördert und in ihrer Mit dem Kinderförderungsgesetz machen wir den Weg persönlichen Entwicklung gestärkt werden; denn damit Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008 17191

Parl. Staatssekretär Dr. Hermann Kues (A) schaffen wir den Rahmen für echte Chancengleichheit. Ich danke dem Parlament für die gewährte Unterstüt- (C) Jeder hat Anspruch auf eine faire Chance. zung. (Ingrid Fischbach [CDU/CSU]: Sehr gut!) (Beifall bei der CDU/CSU) Darüber hinaus werden wir verstärkt Plätze für Kin- der schaffen, deren Eltern Arbeit suchen. Das ist gerade Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: für Alleinerziehende wichtig; denn Arbeit ist das beste Das Wort hat die Kollegin Ina Lenke von der FDP- Mittel gegen Kinderarmut. Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie (Beifall bei der FDP) der Abg. Ina Lenke [FDP]) Ina Lenke (FDP): Deswegen stellt das Kinderförderungsgesetz sicher, dass Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kues alle Träger von Einrichtungen, solange sie die fachlichen hat sehr gut vorgetragen, was in der Präambel des Kin- und rechtlichen Voraussetzungen erfüllen, bei der Finan- derförderungsgesetzes steht: zierung gleich behandelt werden. So können wir zum Beispiel das Engagement von Unternehmen, die Be- Eltern und Kinder benötigen aufgrund ihrer unter- triebskitas einrichten, oder anderer privater Anbieter ein- schiedlichen Lebenssituationen und Bedürfnisse beziehen. Betreuungsangebote in großer Vielfalt. … Durch fachlich notwendige und geeignete finanzielle Rah- (Beifall der Abg. Ina Lenke [FDP]) menbedingungen soll die Gewähr dafür gegeben Aber ich will noch einmal ganz deutlich sagen: Nur werden, dass qualifiziertes Personal für diese ver- wenn die fachlichen und rechtlichen Voraussetzungen antwortungsvolle Aufgabe gewonnen werden kann. erfüllt sind, dürfen die Länder privatgewerbliche Anbie- Dabei unterstützen wir die Bundesregierung, Herr Kues. ter gleichstellen. (Beifall bei der FDP sowie der Abg. Christel (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Ina Humme [SPD]) Lenke [FDP]) Das Vorhaben der Familienministerin, Herr Dr. Kues, Das heißt, gleich hohe qualitative Standards für alle. allen Anbietern von Krippenplätzen eine Anschubfinan- zierung zu gewähren und alle gleich zu behandeln, ist Ich sage an dieser Stelle auch: Wir betreten damit nicht durchgesetzt worden. Ich habe heute die Pressemit- kein Neuland. Viele Länder beziehen privatgewerbliche teilung von Herrn Oppermann sehr aufmerksam gelesen: Anbieter bereits jetzt in die Förderung ein. Die Qualität (B) Die SPD hat die Tür zur privatgewerblichen Kinderbe- (D) der Betreuungsangebote, etwa in Bayern oder in Bran- treuung aufgemacht. Wir alle wissen: Betriebliche Kin- denburg, derbetreuung oder Betreuung durch selbstständige Ta- (Ina Lenke [FDP]: Und in Niedersachsen!) gesmütter ist auch ein Stück privatgewerbliche Kinderbetreuung. Wir sollten doch nicht so tun, als ob hat bislang nicht darunter gelitten. wir das in Deutschland nicht hätten. (Ina Lenke [FDP]: Genau!) Ich möchte auf die Linke und die SPD zurückkom- Ganz im Gegenteil: Ich bin fest davon überzeugt, dass men. Sie misstrauen den privatgewerblichen Anbietern. Wettbewerb die Qualität der Betreuung weiter steigen (Christel Humme [SPD]: Quatsch! Unsinn! – lässt. Frank Spieth [DIE LINKE]: Wir wollen kei- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU so- nen Kommerz!) wie der Abg. Ina Lenke [FDP]) Insbesondere Die Linke unterstellt ihnen unlautere Mo- Beim Ausbau der Kindertagesbetreuung ging es uns tive, wie in dem Antrag zu lesen ist. stets um Wahlfreiheit: Wahlfreiheit bei der Wahl der Ein- Ich frage Sie: Wenn sich eine Erzieherin selbstständig richtung, aber auch um Wahlfreiheit der jungen Eltern. macht, weil der Hort, in dem sie beschäftigt war, ge- Deswegen – auch das sage ich an dieser Stelle – wird es schlossen hat – vor einem Jahr wurden in Paderborn Er- ab 2013 nach Ende der Ausbauphase sowohl einen zieherinnen arbeitslos; sieben Erzieherinnen haben sich Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz als auch die daraufhin mit einer privatgewerblichen Krippe selbst- Einführung eines noch zu definierenden Betreuungsgel- ständig gemacht –, warum misstrauen Sie diesen Erzie- des geben. herinnen? Vertrauen Sie ihnen! Natürlich müssen – das (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) hat Herr Dr. Kues auch gesagt; da stimmt die FDP voll zu – die personellen und sonstigen Standards in den Ein- Das Kinderförderungsgesetz ist der letzte Baustein richtungen eingehalten werden, von denen selbstver- für den Ausbau des Betreuungsangebotes. Wir schaffen ständlich nicht der letzte Kleiderhaken erfasst werden damit den Anschluss an die familienpolitisch erfolgrei- darf. Die Einrichtungen müssen gut sein, damit Kinder chen Länder. Das sind meiner Meinung nach historische gut betreut werden. Dann aber, liebe Kolleginnen und Schritte für die frühe Förderung von Kindern. Das sind Kollegen, muss auch Geld fließen. Warum soll eine Ver- historische Schritte für eine bessere Vereinbarkeit von käuferin nicht die Möglichkeit haben, ihr Kind in eine Familie und Beruf. Einrichtung zu geben, die an Samstagen und Sonntagen 17192 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008

Ina Lenke (A) geöffnet hat? Jede Krankenschwester, jede Pflegekraft – Ihren Beifall finde ich jetzt echt witzig; das muss ich, (C) und alle, die nicht nur von Montag bis Freitag Dienst ha- liebe Kolleginnen von der SPD, hier leider sagen. Sie ben, brauchen eine Wochenendbetreuung der Kinder. schreiben das in das KiFöG, und in der Öffentlichkeit sprechen Sie immer davon, dass Sie es nicht wollen. Was In diesem Zusammenhang spreche ich die Wohl- wollen Sie denn? fahrtsverbände an, die uns geschrieben haben, dass die Qualität in der privatgewerblichen Kinderbetreuung (Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/ grottenschlecht sei. Kommen Sie zu mir nach Nieder- DIE GRÜNEN – Johannes Singhammer sachsen; ich fahre Sie nach Bremervörde oder Verden [CDU/CSU]: Wahlfreiheit!) und zeige Ihnen, dass privatgewerbliche Kinderbetreu- Entweder stehen Sie zu dem, was Sie dort hineinge- ung gelegentlich sogar besser ist und die Wohlfahrtsver- schrieben haben, oder Sie setzen Ihre Unterschrift nicht bände sich darum sorgen, diesem Anspruch nicht ge- unter das jetzt vorgesehene KiFöG. Sie sollten nachver- recht werden und im Wettbewerb nicht bestehen zu handeln und dafür sorgen, dass es besser wird. können. Zu dem Betreuungsgeld will ich noch Folgendes sa- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten gen: Herr Singhammer, Sie wissen doch, wenn eine Ehe- der CDU/CSU) frau zu Hause bleibt, ergibt sich aufgrund des Ehegatten- Deshalb unterstützen wir die Bundesregierung in diesem splittings ein Steuervorteil von bis zu 8 000 Euro im Punkt, und ich freue mich, dass nun auch die SPD so Jahr. weit ist. (Christel Humme [SPD]: 9 000!) § 74 a des Gesetzentwurfs besagt, die Träger seien Weil die SPD die Reichensteuer eingeführt hat, ergibt gleich zu behandeln, wenn sie die rechtlichen und fachli- sich ein Steuervorteil von bis zu 15 000 Euro. Die SPD chen Voraussetzungen erfüllen. Ich habe mir einmal die muss den Leuten einmal erklären, wie sie es mit der Rei- Richtlinien der Bundesländer zur Verteilung der Gelder chensteuer und dem Ehegattensplitting hält. angesehen, Herr Dr. Kues. In den Richtlinien der Bun- (Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Dazu desländer findet sich diese Vorschrift nicht wieder. Die muss ich jetzt etwas sagen!) Passagen aus dem Bundesgesetz, die wir durchgesetzt sehen wollen, scheinen in den Ländern ein zahnloser Tiger zu sein. Wenn in Deutschland für 35 von Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: 100 Kindern unter drei Jahren Krippenplätze geschaffen Herr Singhammer, wollen Sie eine Frage stellen? werden sollen, dann gehören die privatgewerblichen An- (Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Ja, (B) bieter dazu. Das sage ich nicht nur, weil ich in der FDP gerne!) (D) bin. Frau Kollegin Lenke, lassen Sie die Frage zu? Meine Damen und Herren, wir wollen auch die allein- erziehende Mutter unterstützen, die auf Dienstreise geht. Ina Lenke (FDP): Die Mutter, die bei einer Krippe anruft und sagt, sie Bei Herrn Singhammer äußerst gern. könne ihr Kind erst eine Stunde später abholen, verdient ebenfalls Unterstützung. In einem solchen Fall sagt die staatliche Krippe: Tut uns leid, Sie müssen Ihr Kind ab- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: holen. Bitte schön, Herr Singhammer. (Ute Kumpf [SPD]: Das ist doch ein Quatsch, Johannes Singhammer (CDU/CSU): Frau Lenke!) Geschätzte Frau Kollegin Lenke, ist Ihnen bekannt, – Jawohl, so ist es. dass das Ehegattensplitting mit der Frage der Kinder nichts zu tun hat, sondern der Rechtsprechung des Bun- (Ute Kumpf [SPD]: Sie sind nicht vor Ort, Sie desverfassungsgerichts zufolge ausschließlich ein Aus- kennen nicht die gut ausgestatteten kommuna- gleich innerhalb der Ehe ist? len Krippen, die es schon gibt!) (Widerspruch bei Abgeordneten der SPD und Diesen Stress wollen wir den berufstätigen Müttern des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Britta und Vätern wirklich nicht aufs Auge drücken. Wir wol- Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: len etwas anderes. Wir brauchen auch keine ideologische Das ist doch das Problem!) Auseinandersetzung. Der Blick in den Alltag von Müt- tern und Vätern reicht wohl uns allen aus, um zu erken- Wäre es nicht ein Zeichen von Liberalität, ein größt- nen, dass wir hier etwas machen müssen. mögliches Maß an Wahlfreiheit zu gewährleisten, wenn man Paaren, Müttern und Vätern die Möglichkeit gibt, (Beifall bei der FDP) die Art der Erziehung zu wählen? Dazu zählt eben auch die Möglichkeit, ein Betreuungsgeld wahrzunehmen. Wir sagen ganz deutlich – dies beziehe ich auch auf Bayern –: Wir lehnen das Betreuungsgeld ab. Ina Lenke (FDP): (Beifall bei der FDP, der SPD und dem Herr Singhammer, die FDP ist immer für Wahlfrei- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) heit. Wie es die Partner untereinander aufteilen, wer ar- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008 17193

Ina Lenke (A) beiten geht und wer zu Hause bleibt – es kann ja auch hätte, ist eingetreten: Deutschland ist Weltmeister der (C) der Mann zu Hause bleiben –, oder ob beide arbeiten Herzen geworden. Wer hätte noch vor ein paar Jahren wollen, etwa weil sie die Hypothek für ein Haus abbe- geglaubt, dass wir in Deutschland im Jahr 2008 den zahlen müssen, bleibt den Partnern überlassen. Rechtsanspruch auf einen Krippenplatz für Kinder ab ei- nem Jahr beschließen werden? Was das Ehegattensplitting angeht, brauchen Sie mir nichts zu erzählen: Ich bin Steuerfachangestellte. Fakt (Beifall der Abg. Christel Humme [SPD]) ist, dass es beim Ehegattensplitting einen Steuervorteil 2006 wurde das Sommermärchen für alle Fußballfans von bis zu 8 000 Euro, wahr, 2008 wird ein Sommermärchen für Familien wahr. (Christel Humme [SPD]: 9 000!) (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Ekin bei der Reichensteuer von bis zu 15 000 Euro gibt. Es ist Deligöz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich eine Unverschämtheit, dass Paare, bei denen einer zu dachte, 2013!) Hause bleibt, vom Staat beim Ehegattensplitting mit bis zu 8 000 Euro, bei der Reichensteuer mit bis zu Wir haben es geschafft: Wir haben den Rechtsanspruch 15 000 Euro belohnt werden. ab eins durchgesetzt. Wir haben dafür gesorgt, dass sich der Bund dauerhaft finanziell an der Kinderbetreuung (Ingrid Fischbach [CDU/CSU]: Dann ändern beteiligt. Die Fußballfans unter uns würden sagen: Das Sie Art. 6 des Grundgesetzes, Frau Lenke! ist ein Hattrick für Familien, drei Tore in einer Halbzeit: Nehmen Sie den Schutz der Ehe! Seien Sie mehr Bildungs- und Teilhabechancen für Kinder, mehr konsequent!) Chancen auf dem Arbeitsmarkt für Mütter und Väter so- wie mehr Unterstützung der Eltern bei der Förderung ih- Dies ist – das will ich deutlich sagen – meine persönli- rer Kinder. Einsatz und Stehvermögen zahlen sich nicht che Ansicht, ich habe dafür noch nicht die Mehrheit der nur im Fußball, sondern auch in der Familienpolitik aus. FDP. Am Wochenende findet unser Bundesparteitag statt, dann werden wir das wieder auf der Tagesordnung Mit dem Tagesbetreuungsausbaugesetz haben wir den haben. Ich werde so lange kämpfen, bis der Alltag von Startschuss für zusätzliche Betreuungsangebote für Kin- Müttern und Vätern endlich berücksichtigt wird. der unter drei Jahren gegeben. Erste Erfolge sind bereits sichtbar: Mehr als 100 000 zusätzliche Betreuungsange- Aber ganz deutlich, Herr Singhammer: Unser Bun- bote für Kinder unter drei wurden bereits geschaffen. destagsvizepräsident beispielsweise ist anderer Meinung Der Ausbau der Kinderbetreuung muss in großen Schrit- als ich; das ist halt so in einer Partei. Ich werde für mein ten vorangehen. 4 Milliarden Euro gibt der Bund für den Anliegen aber weiter kämpfen. Ausbau der Kinderbetreuung in der Ausbauphase. Insge- (B) samt 12 Milliarden Euro werden Bund, Länder und (D) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Kommunen dafür aufwenden. 12 Milliarden Euro! Das Sie wissen, Frau Kollegin Lenke, dass ich mich von ist ein bedeutender Sieg für die Kinder, ihre Eltern und dieser Stelle aus nicht inhaltlich äußern kann. für uns alle. (Heiterkeit) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Ina Lenke (FDP): Dieser Erfolg war nur möglich, weil Bund, Länder und Ich komme zum Schluss. Meine Damen und Herren, Kommunen gut zusammengespielt haben. Alle haben die ich finde, wir alle sollten uns bewegen, wir sollten so große Chance erkannt und sie konsequent genutzt. Dafür schnell wie möglich qualifizierte, gute Kinderbetreuung danke ich allen Beteiligten. auch für unter Dreijährige schaffen. Das gelingt nur, wenn wir private Anbieter einbeziehen. Der Antrag der (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Linken kann nicht ernst genommen werden. In vielen Alle Kinder bekommen von Anfang an bessere Bil- Bundesländern gibt es privatgewerbliche Anbieter, die dungschancen durch das Kinderförderungsgesetz. Kin- nicht unterstützt werden und trotzdem super Arbeit ma- der lernen in Kitas den Umgang mit anderen Kindern. chen. Wenn wir neue Krippenplätze schaffen, sollte gel- Sie bekommen neue Anregungen und erkunden eine ten, was zu § 74 a im KiföG steht: dass wir alle gleich neue Welt. Dort werden alle Kinder mit ihren unter- behandeln. schiedlichen Talenten und unterschiedlichen Persönlich- (Beifall bei der FDP) keiten gefördert: der kleine Junge mit Sprachschwierig- keiten genauso wie das kleine Mädchen, das die tollsten Geschichten erzählt, der Wildfang, der sich nur für Fuß- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: ball interessiert, genauso wie die kleine Zahlenkünstle- Das Wort hat die Kollegin Caren Marks von der SPD- rin, die sich anschickt, ein Mathecrack zu werden, das Fraktion. kleine Mädchen, das häufig die Klamotten der älteren (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Schwester aufträgt, genauso wie das Einzelkind, das ei- gentlich nur in der Kita einen Kumpel zum Spielen hat. All diese Kinder sind die wirklich großen Gewinnerin- Caren Marks (SPD): nen und Gewinner unseres Betreuungsausbaus. Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Was vor der (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Fußballweltmeisterschaft niemand für möglich gehalten der CDU/CSU) 17194 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008

Caren Marks (A) Natürlich gewinnen aber auch die Eltern. Sie müssen Jörn Wunderlich (DIE LINKE): (C) sich am Arbeitsplatz keine Sorgen machen, ob ihre Kin- Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und der gut betreut sind. Die meisten Eltern wollen beides: Kollegen! Ich will mich thematisch auf das Kinderförde- Familie und Beruf, kein Entweder-oder. Erwerbstätigkeit rungsgesetz im Zusammenhang mit unserem Antrag be- von Eltern hilft auch gegen Familienarmut. Das gilt ins- schränken. Den Rest klären wir in der Anhörung, die wir besondere für die immer größer werdende Gruppe der gestern beschlossen haben. Alleinerziehenden in unserem Land. Mit dem Kinderför- derungsgesetz unterstützen wir die Eltern auch bei der (Ute Kumpf [SPD]: Haben Sie auch Frau Erziehung und Förderung ihres Kindes. Mit guten Kin- Müller gefragt? Was sagt denn Frau Müller derbetreuungsangeboten stärken wir Eltern den Rücken. dazu?) Ich bin davon überzeugt, dass letztlich alle, die gesamte Gesellschaft, vom Ausbau der Kinderbetreuung profitie- – Es gibt viele Kritikpunkte. Über das, was davon übrig ren. bleibt, unterhalten wir uns in der zweiten und dritten Le- sung. Jetzt werden sich viele die Frage stellen: Was haben zum Beispiel Rentnerinnen und Rentner vom Ausbau Gesetz zur Förderung von Kindern – wer kann dazu der Kinderbetreuung? Ganz einfach: Der Wohlstand un- schon Nein sagen? serer Gesellschaft und damit auch der Wohlstand von (Zuruf von der CDU/CSU: Die Linke!) Rentnerinnen und Rentnern hängt entscheidend von den Bildungschancen unserer Kinder und der Möglichkeit Man hätte es auch anders nennen können: Gesetz zur ihrer Eltern, erwerbstätig zu sein ab. Das steht und fällt Förderung profitorientierter Kinderbetreuungsunterneh- wiederum mit dem Angebot an frühkindlichen Bildungs- men oder kurz: Profitförderungsgesetz. und Betreuungsangeboten. Fachkräftemangel ist nichts, was in ferner Zukunft auf uns zukommt. Das haben wir (Beifall bei der LINKEN) in der Debatte direkt vor diesem Tagesordnungspunkt Freigabe der Kinderbetreuung, es lebe das Profitinte- gehört. Das Problem ist bereits da. Es betrifft nicht nur resse des Marktes. Ingenieurinnen, sondern auch Erzieher, Lehrerinnen so- wie Altenpfleger. Wenn wir die Wirtschaftskraft (Zuruf von der CDU/CSU: Volkssolidarität!) Deutschlands erhalten wollen, brauchen wir gut ausge- bildete Mütter und Väter. Ihr berufliches Engagement Dazu kann man schon Nein sagen. Kinderbetreuung ist darf nicht am fehlenden Betreuungsplatz für ihre Kinder keine Ware und darf auch keine Ware werden. scheitern. (Beifall bei der LINKEN) (B) Im Übrigen haben wir uns mit der Lissabon-Strategie (D) dazu verpflichtet, die Wettbewerbsfähigkeit der Europäi- Was passiert hier, was ist passiert? Nachdem zunächst schen Union bis 2010 deutlich zu steigern. Dieses Ziel die Gemeinnützigkeit als Voraussetzung für Förderung können wir nur durch eine bessere Vereinbarkeit von Fa- gestrichen werden sollte, brach ein Sturm der Entrüstung milie und Beruf sowie mehr Chancengleichheit in der los. Bildung erreichen. Deutschland in der Mitte Europas hat (Ute Kumpf [SPD]: Jetzt kapiere ich, warum eine ganz besondere Verantwortung. Wir müssen des- Frau Müller dagegen ist!) halb Kinderbetreuung und frühkindliche Bildung konse- quent ausbauen. Aufgrund dessen hat sich die Regierung entschlossen, dieses Vorhaben fallenzulassen. Jetzt aber soll das So- Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten stel- zialgesetzbuch VIII so geändert werden, dass die Länder len uns dieser Verantwortung. Wir bauen die Kinderbe- angehalten werden, alle Träger gleich zu behandeln. Im treuung aus. Dabei dürfen wir die Qualität der Angebote nicht unter den Tisch fallen lassen. Wir warnen vor den Klartext: Der Schwarze Peter soll den Ländern zuge- Risiken und Nebenwirkungen einer Ökonomisierung der schoben werden. Diese sollen zwingend verpflichtet frühkindlichen Bildung. Seit 1998 haben wir mit unseren werden, gewinnorientierte Betreiber gleich zu behan- zahlreichen familienpolitischen Maßnahmen den Ball deln. Das kann doch nicht das Ergebnis dieser geballten für Familien ins Rollen gebracht. Klug von der Ministe- Kritik sein. Die Linke will Kinderbetreuung ausbauen, rin, dass sie den Ball aufgenommen hat! Klasse, dass wir aber nicht den Markt der Kinderbetreuung. dem Ball mit dem Kinderförderungsgesetz noch einmal (Ina Lenke [FDP]: Den gibt es aber doch zusätzlichen Schwung geben! Um es mit den Worten schon längst!) von Herbert Grönemeyer zu sagen: „Zeit, dass sich was dreht.“ Eine Gleichstellung von kommerziellen Trägern mit öffentlichen und frei-gemeinnützigen Trägern bedeutet Herzlichen Dank. die Öffnung des Kinderbetreuungsmarktes nach den Re- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten geln der EU-Dienstleistungsrichtlinie. Die Folgen davon der CDU/CSU) wären verheerend, nämlich ein verschärfter Verdrän- gungswettbewerb und Lohn- und Qualitätswettlauf nach Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: unten. Das Wort hat der Kollege Jörn Wunderlich von der (Beifall bei der LINKEN – Johannes Fraktion Die Linke. Singhammer [CDU/CSU]: das ist mit Be- (Beifall bei der LINKEN) triebskindergärten? – Gegenruf der Abg. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008 17195

Jörn Wunderlich (A) Christel Humme [SPD]: Aber die sind nicht Charme –, dürften die Kommerzunternehmen mit Profit- (C) gewinnorientiert!) streben kein Interesse an einer Kinderbetreuung haben. Mittelfristig führt das zu massiven sozialen Verwerfun- (Ina Lenke [FDP]: Wie viel kostet denn ein gen. Kindergartenplatz?) (Zuruf von der CDU/CSU: Sie wollen einen Ich möchte hier in Deutschland keine Zustände wie in Einheitskindergarten!) Australien. Dort wurde 1991 die Förderung von gemein- Eine kanadische Untersuchung aus dem Jahr 2005 hat nütziger Kinderbetreuung umgestellt. Der private Markt gezeigt, dass gewinnorientierte Einrichtungen die Quali- boomte, und inzwischen stellen private Unternehmen tät ihres Angebots je nach sozioökonomischem Status 70 Prozent aller Angebote und werden mittlerweile an ihrer Klientel variierten. der Börse gehandelt. (Ina Lenke [FDP]: Aber nur wenn es nichts an- (Ina Lenke [FDP]: Sie können doch nicht aus- deres gab!) tralische Verhältnisse vergleichen!) Kinder aus sozial benachteiligten Familien kamen in Wem soll man dann verpflichtet sein? Den Aktionären? Einrichtungen niedriger Qualität, Kinder aus wohlha- Kinderbetreuung darf nicht zum Spekulationsobjekt an benden Familien in qualitativ bessere Einrichtungen. der Börse werden. (Zuruf von der CDU/CSU: Wo leben Sie (Beifall bei der LINKEN) denn?) Insoweit teilen wir, die Linke, die Kritik der Gewerk- Dieser Zusammenhang konnte auch in einer amerikani- schaften und der Sozialverbände: Keine teure Bildung schen Studie aus dem Jahr 2004 nachgewiesen werden. für die Reichen und billige Betreuung für die Armen. (Ina Lenke [FDP]: Bleiben Sie doch mal in (Beifall bei der LINKEN – Ina Lenke [FDP]: Deutschland!) Genauso ist das!) Eine Untersuchung in Australien aus dem Jahr 2006/ – Das ist das, was die FDP gerne hätte. Das ist mir klar. – 2007 hat gezeigt, dass die Arbeitsbedingungen in diesen Die Linke ist den Kindern, Eltern und Erziehern ver- Kinderbetreuungsunternehmen deutlich schlechter sind pflichtet, nicht irgendwelchen Aktionären. Deshalb le- als die in anderen Einrichtungen. Zudem wurden dort gen wir unseren Antrag vor. weniger qualifizierte Mitarbeiter beschäftigt. Das alles (Ina Lenke [FDP]: Ein völlig falscher Ansatz!) ist im Übrigen auf der Internetseite der Bertelsmann- (B) Stiftung nachzulesen. Ich gehe davon aus und befürchte – Frau Lenke, das (D) wird sich bestätigen; das sage ich Ihnen –, dass die An- In England wurde im Rahmen der OECD-Studie hörung zum KiföG, die wir im Ausschuss schon be- „Starting Strong“ festgestellt, schlossen haben, unsere Kritik bestätigt. Ich hoffe aber (Ina Lenke [FDP]: Wir sind aber hier in auch, dass uns allen hier im Hause Kinder doch wichti- Deutschland!) ger als Kommerzinteressen sind und dass der Privatisie- rung der Kinder- und Jugendhilfe – ich glaube, das dass sich kommerzielle Anbieter nicht in einkommens- steckt dahinter – nicht durch dieses Gesetz heimlich Tür schwachen Regionen engagieren, was dort zu Engpässen und Tor geöffnet wird. im Platzangebot führte. So diese Studie aus dem Jahr 2006. Ist das das Ziel der Regierung? Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. Frau Lenke, wir verteufeln nicht die private Kinder- (Beifall bei der LINKEN) betreuung, um Gottes Willen. (Ina Lenke [FDP]: Ach so!) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat die Kollegin Ekin Deligöz vom Die sollen machen; diese Einrichtungen dürfen aber Bündnis 90/Die Grünen. nicht mit öffentlicher und gemeinnütziger Kinderbetreu- ung auf eine Stufe gestellt werden, finanziell gefördert mit Mitteln der Steuerzahler zulasten der öffentlichen Ekin Deligöz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Kinderbetreuung. Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kues, Sie und auch die Familienministerin loben (Beifall bei der LINKEN) sich selbst, Ihr Haus und die Koalition in diesem Punkt Wir wollen eine öffentliche, gut ausgebaute und qualita- dafür, dass Sie dieses Ausbauprojekt innerhalb einer kur- tiv hochwertige Kinderbetreuung mit entsprechend aus- zen Zeit aus dem Boden gestampft haben. Für die Union, gebildeten Erzieherinnen und Erziehern. für Ihre Partei mag das richtig sein. Für den Rest der Ge- sellschaft ist es das aber nicht. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Dafür sind die entsprechenden Geldmittel zu verwenden und nicht dafür, profitorientierte Kindergartenbetreiber Für die meisten Menschen in diesem Land ist das kein finanziell zu hofieren. Da die Linke für die kostenfreie Fortschritt. Sie müssen aufhören, in dieser Debatte Ihr Kinderbetreuung kämpft – das hat ja einen gewissen Haus oder Ihre Fraktion zum Maß aller Dinge zu 17196 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008

Ekin Deligöz (A) machen. Die Gesellschaft ist längst davon überzeugt, rung wäre eine Aufwertung der Erzieherinnenausbildung (C) dass dieser Ausbau überfällig ist. in diesem Land. Da passiert nichts! Es geht dabei um die verbindliche Grundqualifikation von Tagesmüttern. Da (Ina Lenke [FDP]: Ja, aber die Grünen haben passiert nichts! Es geht um verbindliche, einheitliche doch mitregiert!) Grundstandards, an denen sich die Qualität feststellen Ich glaube übrigens, Frau Marks, dass der heutige Tag lässt. Da passiert nichts! kein Feiertag für die Familien ist. Letztendlich wird (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – durch dieses Gesetz die Verankerung auf das Jahr 2013 Ingrid Fischbach [CDU/CSU]: Gehen Sie geschoben. Die CDU mag in der Realität angekommen blind durch dieses Parlament?) sein; das ist das Beste an diesem Gesetz. Das, was kon- kret passieren soll, wird aber verschoben. Ich wünschte In all diesen Fragen, in denen es um Qualität geht, da mir von Ihnen allen ein entschiedeneres, schnelleres und passiert nichts! unmittelbareres Handeln. Jetzt sagen Sie zu mir: Das ist womöglich ein Traum (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) von Bündnis 90/Die Grünen. Ich kann Ihnen sagen: Die- Dann erst könnten wir das heute hier so richtig feiern. sen Traum träumen mit uns etliche Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in diesem Land. Diesen Traum Aber auch die Länder haben sich nicht mit Ruhm be- träumt sogar der Wissenschaftliche Beirat für Familien- kleckert. Als die rot-grüne Regierung mit ihrem Vorhaben fragen beim Familienministerium; denn genau das, was an die Öffentlichkeit getreten ist, waren es die einzelnen bei Ihnen nicht passiert, wird vom Wissenschaftlichen Bundesländer, die die Lebenslüge aufrechterhalten ha- Beirat gefordert. ben, es gebe gar keinen Bedarf; ohne diese Haltung könnten wir heute viel weiter sein. Es waren die Bundes- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – länder und auch die Fraktion der CDU/CSU, die in der [CDU/CSU]: Doch! Da letzten Wahlperiode immer wieder betont haben, wir passiert was! Das wissen Sie nur nicht!) seien dafür gar nicht zuständig, wir könnten das gar Wir werden in der zukünftigen Debatte sehen, wie of- nicht machen und wir könnten auch die Mittel dafür gar fen Sie für Verbesserungen und für Veränderungen im nicht ausgeben. Sie wurden eines Besseres belehrt. Es Verfahren sind. Wir haben auch eine Anhörung dazu be- freut mich, dass das endlich auch bei Ihnen angekom- schlossen. Was aber mindestens kommen müsste, ist ein men ist. Rechtsanspruch auf einen Ganztagsplatz. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – (Ina Lenke [FDP]: Ja!) Katharina Landgraf [CDU/CSU]: Dank Frau (B) (D) von der Leyen! – Johannes Singhammer Wenn wir wirklich die Vereinbarkeit von Beruf und Fa- [CDU/CSU]: Und wegen des Wirtschafts- milie sowie eine gute Förderung wollen, dann ist dieser wachstums!) Rechtsanspruch die notwendige Voraussetzung. Eine Kinderbetreuungseinrichtung, die um 11.30 Uhr schließt, Das Vorhaben der Bundesregierung ist nicht falsch; hilft da nicht weiter. Wenn wir es ernst meinen, dann soll- wir als Grüne unterstützen es. Aber wichtig ist die Quali- ten wir es richtig machen. tät. Da muss ich leider etwas Wasser in den Wein schüt- ten, den Sie uns hier aufgetischt haben. Ja, wir brauchen (Beifall der Abg. Renate Gradistanac [SPD]) eine professionelle Kindertagespflege; das ist sinnvoll. Aber die Sicherungsmaßnahmen, die Sie hier festlegen, Übrigens hat der Wissenschaftliche Beirat für Fami- sind auf einem sehr niedrigen Niveau. Mit der Über- lienfragen beim Familienministerium zum Betreuungs- nahme der anteiligen Kranken- und Pflegeversiche- geld festgestellt: Es ist systematisch verfehlt. rungsbeiträge, die Sie hier feiern, wird doch nur ver- Herr Singhammer, das sollten Sie schon ernst nehmen, sucht, die bevorstehende einheitliche Steuer- und denn – wenn ich das einmal für Sie übersetzen darf – ge- Abgabenpflicht für die Tagesmütter zu kompensieren. meint ist: Das Instrument ist unsinnig und kontraproduk- Damit verändern Sie das Ganze nicht wirklich; vielmehr tiv. Es wird gerade nicht von den Menschen in Anspruch werden die Tagesmütter nach wie vor belastet. genommen, die die Vereinbarkeit von Beruf und Familie Sie sagen: Wir installieren ein Weiterbildungsportal forcieren wollen, für Erzieherinnen. Was machen Sie? Sie schaffen ein In- (Johannes Singhammer [CDU/CSU]: 80 Prozent ternetportal. Das ist weit weg von einer echten Weiterbil- der Eltern wollen das Betreuungsgeld!) dungsmaßnahme. sondern vor allem von den Menschen, die knapp bei (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Kasse sind und für die 150 Euro viel Geld sind – und da Das ist eine größtmögliche Selbsttäuschung. Das ist eine sind durchaus problematische Anreizwirkungen zu be- Platzhalterdebatte; das ist eine Scheindebatte. Mit Wei- fürchten. terbildung und Qualifizierung hat das aber nichts zu tun. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Was Sie aber nicht machen, obwohl wir auf diesem Es hält Frauen von der Erwerbstätigkeit ab, und es hält Gebiet ganz konkrete Impulse brauchen, ist zum Beispiel Kinder von der Kinderförderung fern. eine Verbesserung der Strukturqualität in der Kinderta- gesbetreuung. Da passiert nichts! Eine solche Verbesse- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008 17197

Ekin Deligöz (A) Dieses Instrument ist eindeutig falsch. Das sollten Sie deskanzlerin hinter sich hat, die genau dieses Thema (C) sich wirklich noch einmal überlegen. Wir haben in ganz oben auf ihre Agenda gesetzt hat. Deshalb gibt es Deutschland keine Probleme bei der Unterstützung von jetzt eine andere Ausgangslage, und wir können nach so Frauen, die gerne zu Hause bleiben wollen. Es gibt im kurzer Zeit diesen Erfolg – ich lasse nicht zu, dass dieser Steuerrecht das Ehegattensplitting, und wir haben ent- kleingeredet wird – verbuchen. sprechende Unterstützungen im Sozialversicherungs- (Beifall bei der CDU/CSU) recht verankert. Großen Nachholbedarf gibt es bei der Förderung der Erwerbstätigkeit von Frauen. Dazu gibt es Mit der Vorlage gehen wir zwei Punkte an, die meines von Ihnen keine Antworten. Deshalb fällt es vielen von Erachtens ganz wichtig sind. Zum einen gehen wir im Ihnen so schwer, sich mit bestimmten gesellschaftlichen Bereich der Kinderbetreuung auf ergänzende und alter- Realitäten abzufinden. native Betreuungsangebote ein. Tagesmütter gibt es schon sehr lange; sie wurden immer als elitäres Betreu- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ungssystem angesehen. Jetzt wissen wir, dass familien- nahe Betreuungsangebote gerade für Kinder unter drei Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Jahren unheimlich wichtig sind, damit diese Kinder Bin- Das Wort hat die Kollegin Ingrid Fischbach von der dung erfahren. Deshalb ist es richtig und wichtig, dass CDU/CSU-Fraktion. 30 Prozent der Plätze über Tagespflege abgedeckt wer- den sollen. Aber es ist auch klar – das habe ich an dieser (Beifall bei der CDU/CSU) Stelle vor Jahren schon gesagt –, dass Tagesmütter nicht zum Nulltarif zu haben sind. Das bedeutet, dass wir an- Ingrid Fischbach (CDU/CSU): fangen müssen, die Qualitätsanforderungen an die Ta- Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle- gespflege zu erhöhen, das heißt, die Ausbildung der Ta- gen! Ich bin erstaunt darüber, dass ein Gesetz, das auch gesmütter zu forcieren, aber auch dafür zu sorgen, dass von der Opposition gefeiert wird, gerade von denjenigen sie angemessen entlohnt werden. Denn bei dem Brutto- kritisiert wird, die es – so meine Vorrednerin, Frau stundenlohn, den Tagesmütter derzeit verdienen, können Deligöz – maßgeblich mit auf den Weg gebracht haben. sie die gegenwärtige Abgabenlast nicht tragen. Das ist Kritik am eigenen Programm. Ich glaube zu wis- Deshalb ist es ebenso richtig und wichtig, die Qualität sen, weshalb Sie es kritisiert haben. der Tagespflege nach vorne zu bringen, die Tagesmütter (Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- zu begleiten und ihnen – das ist neu – die Möglichkeit zu NEN]: Kritisiert worden ist das Betreuungs- geben, im Rahmen des Betriebskostenzuschusses zu pro- geld! Sie sollten zuhören, bevor Sie sich aufre- fitieren. Das gab es bisher nicht; Tagesmütter waren bis- gen!) her außen vor. Wenn sie aber als Betreuungsalternative (B) wichtig und richtig sind, dann müssen sie auch die Mög- (D) – Sie waren vorhin nicht da und haben nicht gehört, was lichkeit haben, von der Förderung im Hinblick auf die sie kritisiert hat. Ich habe zugehört. Jetzt hören Sie ein- Betriebskosten zu profitieren. mal zu, dann erfahren Sie, was Ihre Kollegin kritisiert (Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Genau!) hat, verehrte Frau Kollegin! Das ist etwas, das wir auf den Weg gebracht haben, und Sie hat kritisiert, dass wir das zeitlich viel zu lange hi- auch das ist richtig. nausschieben und uns erst 2013 kümmern wollen. Die rot-grüne Vorgängerbundesregierung – Frau Deligöz, (Beifall bei der CDU/CSU – Katharina das waren Sie – hat 2005 beschlossen, 2010 ein Angebot Landgraf [CDU/CSU]: Endlich Klarheit ge- von 17 Prozent auf den Weg zu bringen. schaffen!) (Elisabeth Scharfenberg [BÜNDNIS 90/DIE Ich komme auf die privaten Anbieter zu sprechen. GRÜNEN]: Leider gegen den massiven Wi- Herr Wunderlich, erst habe ich gedacht, dass Sie im fal- derstand der CDU/CSU!) schen Parlament sitzen. Vielleicht sollten Sie einmal nach Australien reisen und den Australiern sagen, was Wir wollen dieses Angebot jetzt auf 35 Prozent mehr als sie alles falsch machen. Hier haben wir eine andere Poli- verdoppeln. Es liegt acht Monate nach dem Krippengipfel tik und eine ganz andere Ausgangslage. – ich kann verstehen, dass Sie das am meisten ärgert – ein Gesetzentwurf auf dem Tisch, der echte Perspektiven für (Ina Lenke [FDP]: Genau! – Johannes Singhammer die Familien und unsere Kinder aufzeigt. Das ist gut und [CDU/CSU]: So ist es!) richtig, und dafür sage ich einen Dank an das Ministe- Das dürfen Sie nicht vergessen. Wir haben schon Quali- rium. tätsstandards. (Beifall bei der CDU/CSU) Wenn wir den Markt für die Privatgewerblichen öff- nen, machen wir nichts Neues, sondern das, was in Frau Kollegin Marks hat recht darin, dass einiges auf vielen Ländern schon auf der Tagesordnung steht. In den Weg gebracht worden ist. Aber es reicht nicht, den Brandenburg, in Bayern, in Mecklenburg-Vorpommern Ball aufzunehmen; das wird auch bei der Europameister- werden Privatgewerbliche bereits unterstützt. schaft nicht reichen. Der Ball muss versenkt werden, da- mit wir gewinnen. Genau das hat die jetzige Familien- Sie haben gesagt, dass wir den Ländern den Schwar- ministerin gemacht, sicherlich auch deshalb – das ist zen Peter zuschieben. Dass diejenigen, die die Betriebs- vielleicht ein kleiner Trost für Sie –, weil sie eine Bun- erlaubnis erteilen, auch darauf achten sollen, dass die 17198 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008

Ingrid Fischbach (A) fachlichen und rechtlichen Voraussetzungen gegeben Es gibt bereits viele solche privaten Organisationen. Ich (C) sind, ist aber richtig. Das können wir von hier aus doch würde mir wünschen, dass auf der Tribüne die eine oder gar nicht. Das müssen die vor Ort machen. andere Tagesmutter wäre, (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Ina Lenke [FDP]: Selbstständige Tages- mutter!) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: die ihre eigene Betreuungsorganisation geschaffen hat; Frau Kollegin Fischbach, erlauben Sie eine Zwi- dann hätte sie das mitbekommen. Das ist eine Ohrfeige schenfrage des Kollegen Wunderlich? für die, die aufgrund der Mangelsituation – das will ich gar nicht unter den Tisch kehren – zum Wohl der Kinder Ingrid Fischbach (CDU/CSU): aktiv geworden sind. Das ist sehr unfair und den Frauen Gern. gegenüber nicht richtig. Wenn Privatgewerbliche Angebote vorhalten, die wir Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: auf anderem Wege nicht schaffen können, dann müssen Herr Wunderlich, bitte. sie auch die Möglichkeit haben, an bestimmten Förder- programmen teilzunehmen. Es liegt an uns – da sind wir Jörn Wunderlich (DIE LINKE): als Parlament gefragt –, Regelungen zu finden mit dem Frau Kollegin Fischbach, Sie kennen die Antwort der Ziel, dass unter staatlicher Förderung keine reine Ge- Bundesregierung auf unsere Kleine Anfrage zur Privati- winnmaximierung betrieben werden kann. sierung in der Kinder- und Jugendhilfe nicht. Wir haben (Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: So sieht es gefragt: aber gegenwärtig aus!) Inwiefern wird die zukünftige Jugendhilfeland- Wir müssen rechtliche und fachliche Grenzen einziehen. schaft von gewerblichen, also Kommerzinteressen Wir müssen die Qualitätsstandards festschreiben. Sie geprägt sein? können in den Beratungen, die jetzt anstehen, dabei mit- Darauf antwortet die Bundesregierung: Da können wir helfen. keine Aussagen treffen; das wissen wir nicht. (Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Deshalb (Katharina Landgraf [CDU/CSU]: Weil das warten wir auf die Anhörung!) die Länder wissen!) Sie sollten das zurücknehmen, was Sie vorhin gesagt haben, weil es denjenigen, die bereits jetzt auf dem Weg (B) Es gibt aber zig Studien dazu, welche Auswirkungen die (D) Privatisierung auf die Jugendhilfe und die Kinderbetreu- sind, wirklich nicht gerecht wird, auch ihrem Ansehen ung hat – ich habe sie nur ansatzweise genannt –; es sind nicht gerecht wird. Denen haben Sie heute eine Ohrfeige zum überwiegenden Teil negative. Verschließt die Bun- gegeben. desregierung die Augen davor? Wollen Sie es auch nicht (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Ina wahrhaben? Lenke [FDP]) (Ina Lenke [FDP]: Das gibt es schon, Herr Es gibt – Herr Wunderlich, vielleicht haben Sie das Wunderlich!) nicht so im Gedächtnis – eine EU-Dienstleistungsrichtli- Ich brauche nicht nach Australien zu gehen. Ich kann nie. Was wir jetzt auf den Weg bringen, müssen wir an mir das in den Niederlanden, in England oder sonst wo das EU-Recht anpassen; sonst kommt Europa und kippt anschauen. Warum verschließen Sie Ihre Augen vor die- das wieder. sen Folgen der Privatisierung und Kommerzialisierung (Marlene Rupprecht [Tuchenbach] [SPD]: der Kinderbetreuung und sagen, das ist alles schon so? Genau!) Wenn sich nichts ändert, frage ich mich natürlich und auch Sie: Warum heißt es in der Antwort dann, wir kön- Diese Dienstleistungsrichtlinie besagt nichts anderes, als nen keine Aussagen treffen, und nicht, es ändert sich dass eine Unterscheidung zwischen privatgewerblichen nichts? und freigemeinnützigen Trägern nicht vorgenommen werden darf, das heißt, hier herrscht Dienstleistungsfrei- heit. Auch die Angebote müssen wir machen. Ingrid Fischbach (CDU/CSU): Sie sagen, alle privaten Anbieter seien auf Kommerz (Marlene Rupprecht [Tuchenbach] [SPD]: und Gewinn aus. Dazu möchte ich festhalten: Solche Nein!) kenne ich gar nicht. Ich weiß nicht, wo die sind; viel- – Sie können gleich etwas anderes sagen, Frau leicht in Berlin. Rupprecht. Was Sie gesagt haben, Herr Wunderlich, hat mich (Marlene Rupprecht [Tuchenbach] [SPD]: Das wirklich geärgert. Das ist eine Ohrfeige für die, die sich wird auch so passieren!) privat auf den Weg gemacht haben, um eine vernünftige Betreuungssituation für die Kinder zu schaffen. – Das werden Sie auch tun. (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Ina (Marlene Rupprecht [Tuchenbach] [SPD]: So Lenke [FDP]) ist das mit der Freiheit!) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008 17199

Ingrid Fischbach (A) Ich werde dann nachfragen, auf welchen Paragrafen Sie (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (C) sich beziehen. Man kann ja nicht den Kommunen sagen: Bis morgen Wir müssen die Gesetze EU-Recht-konform auf den müsst ihr 750 000 Plätze zur Verfügung stellen, aber sich Weg bringen. Das ist ganz wichtig. Wir haben noch die nicht darum kümmern, wie sie das schaffen sollen. Anhörung, um bestimmte Fragen zu klären. Aber von vornherein zu sagen, wir machen es nicht, wir wollen es (Katharina Landgraf [CDU/CSU]: Stimmt!) nicht, halte ich für den falschen Weg. Das darf man nicht tun, wenn man verantwortlich han- (Marlene Rupprecht [Tuchenbach] [SPD]: Das deln will. Man muss dann vielmehr den Verstand ein- ist Ideologie!) schalten – das meinte ich eben mit meiner Bemerkung – und sachlich-fachlich schauen, wie das Ziel, das man – Das ist Ideologie. Wunderbar; da sind wir wieder einer sich gesetzt hat, erreicht werden kann. Ein solches Ver- Meinung. halten erwarte ich von Politikern. Meine Damen und Herren, ich habe gerade schon Uns ging die Entwicklung, wie sie im Pakt festge- deutlich gemacht, dass wir uns jetzt in der Phase der Be- schrieben worden ist, zu langsam. Deshalb geben wir ratungen befinden. Wir als CDU/CSU-Fraktion sind mit jetzt – das gibt ja allen Entwicklungen in unserer Repu- dem, was auf dem Tisch liegt, sehr zufrieden. Wir wer- blik immer etwas Schwung – Geld. Der Bund stellt in den natürlich an der einen oder anderen Stelle noch Er- der Aufbauphase 4 Milliarden Euro zur Verfügung. Viel- gänzungs- oder Änderungswünsche äußern. Das ist in leicht kommt so der Turbo etwas in Schwung. Davon parlamentarischen Beratungen so. Das ist auch richtig sind 2,15 Milliarden Euro zur Finanzierung von Investi- so. Aber das, was auf den Tisch gelegt wurde, stellt tionen und 1,85 Milliarden Euro zur Finanzierung von wirklich einen Meilenstein für unsere Familien dar. Betriebskosten während der Aufbauphase vorgesehen. Ganz besonders stellt der Entwurf aber hinsichtlich sei- Danach werden diese Zuschüsse bei 770 Millionen Euro ner Qualität, auf die wir großen Wert gelegt haben, einen verstetigt. Eine so starke Beteiligung des Bundes an ei- Meilenstein für unsere Kinder dar. In dem Sinne wollen ner Länder- bzw. Kommunalaufgabe hat es bisher in die- wir zum Wohle unserer Kinder arbeiten. Daran dürfen ser Republik noch nicht gegeben. Sie sich beteiligen. Wir wollen durch den Ausbau erreichen, dass Plätze Danke schön. für 35 Prozent der Kinder zur Verfügung stehen, also (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- 750 000. Ich denke, mit diesem Gesetz tragen wir dem neten der SPD) Rechnung, was im Elften Kinder- und Jugendbericht ge- fordert wurde, nämlich ein Aufwachsen in öffentlicher (B) Verantwortung. Früher hat nämlich jeder Berufstätige (D) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: hilflos für sich wurschteln müssen und wurde von einer Das Wort als letzte Rednerin zu diesem Tagesord- Stelle zur anderen geschickt, wenn er diese danach nungspunkt hat die Kollegin Marlene Rupprecht von der fragte, wie er es schaffen soll, dass sein Kind mit ande- SPD-Fraktion. ren Kindern spielen und aufwachsen kann. Jetzt schaffen (Beifall bei Abgeordneten der SPD) wir Strukturen, damit Menschen frei und selbstbestimmt ihr Leben gestalten können. Marlene Rupprecht (Tuchenbach) (SPD): (Beifall bei der SPD – Ina Lenke [FDP]: Echt Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! liberal!) Meine Damen und Herren! Ich höre immer ganz faszi- niert bei Debatten zu, in denen Kinder eine Rolle spie- Strukturen sind also nötig. Für deren Aufbau haben len. Als Kinderbeauftragte meiner Fraktion ist es ja mein wir unter Christine Bergmann Geld zur Verfügung ge- Anliegen, Kinderinteressen wahrzunehmen. Die meisten stellt, die Strukturen wurden unter wei- Kollegen möchten das in diesen Debatten ja auch gerne ter verbessert, und jetzt gehen wir mit Frau von der tun, aber sie glauben, dass sie, wenn über Kinder geredet Leyen noch einen Schritt weiter. Ich bin ihr sehr dankbar wird, den Verstand ausschalten könnten. Die Anliegen dafür – das sage ich ausdrücklich an die Adresse der Mi- und Interessen von Kindern muss man allerdings sowohl nisterin –, dass sie die bisherige Politik fortsetzt. mit dem Kopf als auch mit dem Herzen aufnehmen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten In diesem Sinne möchte ich gerne auf das, was vor- der CDU/CSU) liegt, eingehen. Vor uns liegt jetzt das Kinderförderungs- Sie sagt ja ausdrücklich, dass schon unter Rot-Grün eine gesetz. Das ist super; denn es enthält den verbindlichen gute Politik in diesem Bereich gemacht wurde und diese Rechtsanspruch auf Betreuung ab 2013 für alle Kinder vernünftige Politik nun nicht deshalb beendet wird, weil ab dem ersten Lebensjahr. Jetzt gerade ist gefragt wor- das Parteibuch der Ministerin gewechselt hat. Ich finde, den: Was geschieht in der Zeit bis dahin? Ich antworte dazu kann man einfach nur sagen: Passt! Wir wollen, darauf: Man sollte einmal das Gesetz genau lesen; denn dass jeder, egal woher er kommt und wohin er in auch bis dahin gibt es einen Rechtsanspruch, nämlich ei- Deutschland geht, diese Strukturen vorfindet und benut- nen qualifizierten, also nicht für jedes Kind, sondern ab- zen kann. Ich glaube, damit haben wir sozialdemokrati- hängig von der Umsetzung der Vorgaben. Das haben wir sche, grüne und jetzt auch auch schon beim Tagesbetreuungsausbaugesetz so ge- macht. (Ingrid Fischbach [CDU/CSU]: Schwarze!) 17200 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008

Marlene Rupprecht (Tuchenbach) (A) christdemokratische Familienpolitik fortgeschrieben. unterschiedliche Strukturen haben, hat sie das so gere- (C) Wenn das ein gutes, buntes Bild ergibt, sodass die Leute gelt, dass jeder in seinem Land selber festlegt, wo und sagen, die denken an uns und nicht nur an ihr Parteibuch, wie die Daseinsvorsorge in der Sozialpolitik gestaltet dann ist das richtig. wird. Dabei darf niemand aus der freien Wirtschaft be- nachteiligt werden; das heißt, es muss gerechtfertigt (Ina Lenke [FDP]: Jawohl! Bei uns schon im- werden, was festgelegt wird. mer!) (Ingrid Fischbach [CDU/CSU]: Das werden Ich glaube, dass wir das ohne Bruch fortführen. Herr wir uns angucken! Das sollen sie mal europa- Singhammer, auch Sie bekommen da Ihre Spielwiese, rechtlich festlegen!) auch wenn das 2013 dann überflüssig ist, weil Sie dann rausgewachsen und erwachsen geworden sind. Dann Dies ist festgelegt im EG-Vertrag. Ich beschäftige brauchen Sie das Betreuungsgeld in § 16 nicht mehr; bis mich mit der Thematik schon fast zwei Jahre sehr inten- dahin ist das überflüssig. siv. (Heiterkeit im ganzen Hause) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: – Ja, so ist es. Wir geben ihm die Zeit auf der Spielwiese Frau Kollegin Rupprecht! so lange, bis er verstanden hat, dass die Leute nicht mehr auf der Spielwiese, sondern im realen Leben angekom- Marlene Rupprecht (Tuchenbach) (SPD): men sind. Entschuldigung, Herr Präsident. Ich finde, das Gesetz ist gelungen. Aber bei zwei Ich denke, dass das, was § 74 a regelt – Qualität und Punkten, die hier schon von Vorrednern erwähnt worden Angebot für alle –, eine Schlüsselfrage sein wird. Das sind, hätte ich die Bitte, dass wir noch einmal genauer Thema darf nicht ideologisch geprägt sein, sondern es hinschauen. Das empfehlen auch die Verbände und die geht darum, welches Konzept von Sozialstaatlichkeit in Fachleute aus Wissenschaft und Praxis. Das eine ist § 43 der Bundesrepublik Deutschland gilt und welche Aufga- des Sozialgesetzbuches VIII. Da geht es um Tages- ben öffentlich und welche nichtöffentlich sind. pflege, aber vor allem um Großtagespflege. Wir brau- chen die Tagespflege; wir haben auch die Rahmenbedin- (Ina Lenke [FDP]: Das ist aber nicht die gungen dafür verbessert. Die Frage ist: Wenn wir Frage!) qualitativ hochwertige Betreuung, Bildung und Erzie- Das Aufziehen der Kinder ist eine öffentliche Aufgabe, hung haben wollen, welche Kriterien legen wir dafür an? bei der Qualität für alle gewährleistet werden muss. Nur darum geht es, nicht um Ideologie oder Ähnliches. (B) Auf dem Land, wo es vielleicht nur drei Kinder gibt, (Ina Lenke [FDP]: Das ist nicht die Frage, son- (D) kann keine Einrichtung dafür vorgehalten werden. Da dern wie es organisiert wird!) braucht man eine gute Tagespflege. Aber wenn in Berlin Großtagespflege angeboten wird, muss man schon wis- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: sen, was man braucht. Da kann man, was die Qualität Frau Kollegin Rupprecht, bitte. angeht, nicht ohne Kriterienkatalog vorgehen; denn dann hat man nur noch ein Verwahren, und das haben wir lange genug gehabt. Marlene Rupprecht (Tuchenbach) (SPD): In anderen Staaten hat man Untersuchungen dazu ge- Vielleicht ist auch der EU-Betreuungsschlüssel ein macht; aber das gibt es auch bei uns. Maßstab. Den will ich Ihnen hier jetzt nicht nahebrin- gen; aber die EU hat sich dazu Gedanken gemacht. Wir Ich wünsche, dass wir jetzt konstruktiv in die Bera- brauchen auf jeden Fall konzeptionelle, personelle und tungen gehen und im Sinne der Verantwortung, die wir bauliche Vorgaben und Rahmenbedingungen, egal ob für haben, miteinander eine Lösung finden. gemeinwohlorientierte Anbieter oder für privat-gewerb- Danke schön. liche Anbieter. Sonst gibt es Wettbewerbsverzerrungen, und die halte ich nicht für richtig. Institutionelle Anbie- (Beifall bei der SPD) ter sollten nicht schlechter gestellt werden als die Groß- tagespflege. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Ich schließe die Aussprache. Der zweite Punkt betrifft § 74 a des SGB VIII. Da geht es mir wirklich ums Grundsätzliche. Frau Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf Fischbach hat gesagt, wir müssen EU-Recht umsetzen. den Drucksachen 16/9299 und 16/9305 an die in der Ta- Natürlich; auch ich bin dafür, dass wir das EU-Recht res- gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. pektieren. Wir haben zugestimmt, dass ein vereintes Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann Europa für uns gilt. Aber bei dieser staatlichen, hoheitli- sind die Überweisungen so beschlossen. chen Aufgabe, die Daseinsvorsorge für Menschen im so- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf: zialpolitischen Bereich sicherzustellen, haben wir in der Bundesrepublik entschieden – das ist politisch gewach- Beratung des Antrags der Bundesregierung: sen –, dass das nicht staatliche Organisationen tun; wir Fortsetzung der deutschen Beteiligung an der haben das vergeben. Andere Staaten haben das anders internationalen Sicherheitspräsenz im Kosovo geregelt. Weil die EU aber weiß, dass wir in den Staaten auf der Grundlage der Resolution 1244 (1999) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008 17201

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms (A) des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen militärischen Mitteln in die damaligen mörderischen (C) vom 10. Juni 1999 und des Militärisch-Techni- Auseinandersetzungen auf dem Balkan einzugreifen und schen Abkommens zwischen der internationa- andererseits unsere euro-atlantischen Strukturen für die len Sicherheitspräsenz (KFOR) und den Re- Länder des westlichen Balkans zu öffnen. Das führte zu gierungen der Bundesrepublik Jugoslawien dem heutigen Ergebnis, dass EU- und NATO-Mitglied- (jetzt: Republik Serbien) und der Republik schaften für die Menschen auf dem Balkan zu einer Serbien vom 9. Juni 1999 greifbaren Perspektive geworden sind, einer Perspektive, die, wie ich finde, zugleich Ansporn für die notwendigen – Drucksache 16/9287 – Reformen sein sollte, die in vielen Regionen noch durch- Überweisungsvorschlag: zuführen sind. Auswärtiger Ausschuss (f) Rechtsausschuss Ich schließe ausdrücklich die gegenwärtige Situation Verteidigungsausschuss in Serbien ein. Belgrad hat bei weitem – darüber brau- Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und chen wir nicht zu streiten – noch nicht alle Hürden ge- Entwicklung nommen. Insbesondere ist die Zusammenarbeit mit dem Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO Internationalen Strafgerichtshof noch nicht bestätigt. Es liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion der (Erich G. Fritz [CDU/CSU]: Das ist leider so!) FDP vor. Aber – das ist der Obersatz meiner Betrachtungen – auch Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die die Zukunft Serbiens wird und kann nur in Europa lie- Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. Gibt es gen. Davon bin ich fest überzeugt. Widerspruch? – Das ist nicht der Fall. Dann ist so be- schlossen. (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNIS- Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red- SES 90/DIE GRÜNEN) ner dem Bundesminister Frank-Walter Steinmeier das Wort. Ich hoffe deshalb, dass jetzt nach den Parlamentswah- len – ihr Ausgang war anders, als noch wenige Tage vor den Wahlen vorausgesagt wurde – eine Regierung gebil- Dr. Frank-Walter Steinmeier, Bundesminister des det wird, die sich erstens den Reformen verpflichtet fühlt Auswärtigen: und die zweitens die nächsten Schritte Serbiens in Rich- Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und tung Europa unternimmt. Herren! Wirft man einen Blick auf den westlichen Bal- (B) kan durch die Brille der Mehrzahl der Kommentatoren, Das, was uns alle in Atem gehalten hat, ist allerdings (D) so müsste man in diesen Tagen eigentlich ein durch und die Kosovo-Frage, die Lösung des Statusproblems im durch kritisches Bild erkennen. Ich bitte aber: Seien wir Kosovo – wenn Sie so wollen, die letzte offene Frage ein wenig gerechter und erinnern wir uns an die Situa- aus dem Zerfallsprozess des alten Jugoslawiens. Wir ha- tion kurz vor der Jahrtausendwende. ben in den letzten zehn Jahren – ich selbst erinnere mich daran – in allen erdenklichen internationalen Foren, in In Belgrad regierte Milošević, und drei blutige Kriege den Vereinten Nationen, in der Europäischen Union, in in Kroatien, Bosnien und im Kosovo hatten tiefe Wun- der NATO, über diese Statusfrage diskutiert und beraten. den gerissen. Die Aufgabe, vor der ja nicht nur die Men- Wir haben nach einvernehmlichen Lösungen zwischen schen in der Region, sondern auch die internationale Priština und Belgrad gesucht, weil wir alle der Meinung Staatengemeinschaft standen, schien – wir erinnern uns waren: Eine einvernehmlich gefundene Lösung ist alle- an die Diskussionen bei uns – fast unlösbar zu sein. mal die bessere. Diese Einsicht hat uns dazu geführt, Betrachten wir die Situation aus heutiger Sicht, so dass wir im vergangenen Sommer noch einmal den muss man, ohne sie schönzureden, sagen, dass die grau- Troika-Prozess eingeführt haben, um dort Gespräche samen Konflikte der 90er-Jahre, von denen ich gespro- zwischen Priština und Belgrad zu ermöglichen. Am chen habe, Gott sei Dank der Vergangenheit angehören. Ende haben die Kraft, die Bereitschaft, das Potenzial In den meisten Teilen des ehemaligen Jugoslawiens hat oder was auch immer nicht für eine einvernehmliche Lö- die Demokratie Fuß gefasst. Die Wirtschaft entwickelt sung ausgereicht. Kosovo hat vor drei Monaten seine sich allmählich. Aber vor allen Dingen ist wichtig, dass Unabhängigkeit erklärt, und am Ende – das ist meine die Menschen die Chance bekommen haben, Kraft zur Überzeugung – gab es dazu auch tatsächlich keine Aussöhnung zu finden und Mut für eine gemeinsame glaubhafte Alternative mehr. Jetzt geht es darum – da- Zukunft zu entwickeln. Das ist der Weg der letzten zehn rüber sollten wir uns einig sein –, den Kosovo auf diesem Jahre. Weg von unserer Seite aus nach Kräften zu unterstützen. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP bei Abgeordneten der FDP und des BÜND- und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) NISSES 90/DIE GRÜNEN) Die Anerkennung des Kosovo läuft. 20 der 27 euro- Diese Entwicklungen – wir wissen das aufgrund der päischen Mitgliedstaaten haben ihn anerkannt. Außer- schmerzlichen Entscheidungen, die bei uns getroffen halb der Europäischen Union haben dies 22 weitere werden mussten – haben sich nicht von allein ergeben. Staaten getan. Jetzt kommt Peru als erstes südamerikani- Wir verdanken sie unserer Bereitschaft, einerseits mit sches Land hinzu. Der Kosovo besitzt – lassen Sie mich 17202 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008

Bundesminister Dr. Frank-Walter Steinmeier (A) das sagen – genauso eine europäische Perspektive wie diesen Dank und diese Anerkennung sollten die Solda- (C) all die anderen Staaten auf dem westlichen Balkan. tinnen und Soldaten auch in Zukunft rechnen können. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Herzlichen Dank. der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP GRÜNEN) und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Wenn ich das sage, weiß ich, dass dieser Weg für den Kosovo kein einfacher sein wird. Die Herausforderun- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: gen im Kosovo in wirtschaftlicher und institutioneller Das Wort hat der Kollege Dr. Rainer Stinner von der Hinsicht sind groß. Aber immerhin, die Regierung im FDP-Fraktion. Kosovo hat sich im Zusammenhang mit der Unabhän- (Beifall bei Abgeordneten der FDP) gigkeitserklärung Gott sei Dank unmissverständlich zur Umsetzung des Ahtisaari-Plans bekannt. Sie hat sich vor allen Dingen dazu bekannt, alle Minderheitenrechte, wie Dr. Rainer Stinner (FDP): international verlangt, umzusetzen. Wir von europäi- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! scher Seite wollen – das ist bekannt – mit der Rechts- Wer jemals den ehemaligen kosovarischen Präsidenten staatsmission EULEX unseren Beitrag dazu leisten, dass Rugova zu Hause besucht hat, kam unweigerlich mit dort rechtsstaatliche Institutionen, Polizei und Justiz, zwei Dingen wieder heraus: erstens mit dem quasi hi- aufgebaut werden. Unser Bemühen hält unverändert an, neingeprügelten Grundsatz, dass die Unabhängigkeit des dass wir in den nächsten Tagen und Wochen eine Verein- Kosovo jedes Problem automatisch lösen würde, und barung mit den Vereinten Nationen über die Ablösung zweitens mit einem Stein aus seiner umfänglichen priva- der bisherigen UNMIK-Zuständigkeiten und die Über- ten Steinsammlung, mit der er dokumentieren wollte, führung in EULEX-Zuständigkeiten auf den Weg brin- welche Bodenschätze im Kosovo liegen und wie reich gen und baldmöglichst die Übergabe der Verantwortlich- der Kosovo sein könnte. keit stattfinden kann. Leider haben beide Eindrücke den Realitätstest nicht Seit Beginn der Auseinandersetzungen hat sich die in- bestanden. Erstens wissen wir alle, dass allein die Unab- ternationale Gemeinschaft wirklich bemüht, für Sicher- hängigkeit die Probleme im Kosovo nicht löst; das ist heit im Kosovo zu sorgen. Ich glaube, man darf sagen: eindeutig. Zweitens liegen leider auch die umfangrei- Das ist uns weitgehend gelungen. KFOR insbesondere chen Bodenschätze immer noch tief vergraben in der hat sich in diesen zehn Jahren Anerkennung bei allen Erde des Kosovo, wurden nicht gehoben, obwohl sie Bevölkerungsgruppen im Kosovo erarbeitet. Die Fort- eventuell hätten gehoben werden können. Deshalb muss (B) setzung dieser Arbeit – lassen Sie mich auch das hier man wohl konstatieren: Die Geschichte des Kosovo ist (D) einmal sagen; das sage ich ganz besonders mit Blick auf eine Geschichte der verpassten Chancen. einige Skeptiker, die heute auch noch an das Mikrofon (Michael Brand [CDU/CSU]: Von wem?) treten werden – sollte in erster Linie im Interesse der ser- bischen Bevölkerungsminderheiten im Kosovo sein. Das müssen wir selbstkritisch zugeben. Die UNMIK hat es innerhalb von acht Jahren intensivster Tätigkeit im (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie Kosovo, mit viel Geld und viel Einsatz, nicht geschafft, bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE dieses Land nachhaltig zu stabilisieren und positiv zu GRÜNEN) entwickeln. Wenn man berücksichtigt, dass die Strom- versorgung in Priština noch heute hakt, ein hohes Maß So komme ich zu dem Ergebnis: Die Regierung in an Korruption vorherrscht und die Arbeitslosigkeit in Priština wünscht sich die Fortführung von KFOR. Die diesem Landstrich unermesslich hoch ist, kann man, NATO ist bereit, ihr Engagement fortzusetzen. Wir sind wenn man realistisch ist, nicht von einem Erfolg der uns mit den Partnern darüber einig, dass KFOR im Rah- UNMIK-Mission sprechen. men seines Mandates zukünftig am Aufbau der kosova- rischen Sicherheitsstrukturen mitwirken wird, damit der Noch eine verpasste Chance: Die EU und Deutsch- Kosovo nach und nach in der Lage ist, seine Sicherheits- land haben nach dem positiven Signal, das von dem aufgaben selbstständig zu verantworten. Treffen in Thessaloniki ausging, nicht schnell genug die europäische Karte im Kosovo gespielt. Die Situation war Ich erhoffe mir deshalb eine breite Zustimmung für 2003/2004 anders als heute. Unsere Fraktion hat schon die Verlängerung des KFOR-Mandates im Deutschen im Jahr 2004 einen Antrag in den Bundestag einge- Bundestag. Sie wissen, dass wir mit 2 700 von insgesamt bracht, weil wir die Europäische Union viel stärker in 15 600 Soldaten das größte KFOR-Kontingent stellen. die Lösung des Kosovoproblems einbeziehen wollten. Wenn ich den Blick auf den westlichen Balkan richte Dieser Antrag ist von der damaligen Regierung leider und unser Engagement in Bosnien-Herzegowina mitbe- abgelehnt worden. Auch die Union hat alles andere als rücksichtige, dann leisten deutsche Soldatinnen und Sol- richtig mitgezogen. daten seit mehr als 13 Jahren Dienst auf dem Balkan. Der nächste Fehler bzw. die nächste verpasste Ich glaube, wir dürfen sagen: Deutsche Soldatinnen Chance: die völlig falsche Einschätzung der russischen und Soldaten haben an der Stabilisierung der gesamten Reaktion auf den Ahtisaari-Plan. Uns ist über Monate, Region einen wesentlichen Anteil. Dafür gilt ihnen unser fast über Jahre hinweg vorgegaukelt worden, dass das ir- ganz besonderer Dank und unsere Anerkennung. Auf gendwie klappen würde. Unsere Fragen nach einem Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008 17203

Dr. Rainer Stinner (A) Plan B wurden eher als Belästigung abgetan. Man fragte, Entwicklung dieses Landes weiterarbeiten. – Das sind (C) warum wir immer wieder mit derselben Frage kämen. umfangreiche Hausarbeiten für die Bundesregierung. Heute stehen wir, was die EULEX-Mission angeht, wie Wir können nur hoffen, dass im Kosovo keine weiteren wir wissen, vor einem Scherbenhaufen. Das müssen wir Chancen verpasst werden. so klar konstatieren. Schönen Dank. Entgegen den klaren Regelungen der Resolution 1244 werden im Nordkosovo gegenwärtig Parallelstrukturen (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten aufgebaut. Das betrifft die Eisenbahn, die Grenzposten, der CDU/CSU und der SPD) die nicht von denen besetzt sind, die sie besetzen sollten, und weitere organisatorische Aspekte. Die Nichtpräsenz Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: der EULEX-Vorbereitungsmission ist eine deutliche Do- Ich gebe das Wort dem Bundesverteidigungsminister, kumentation der Unmöglichkeit eines angemessenen Herrn Dr. Franz Josef Jung. Vorgehens. Nach unserer Ansicht ist die EULEX-Mis- sion, die Rechtsstaatsmission, aber von einem unglaubli- Dr. Franz Josef Jung, Bundesminister der Verteidi- chen Wert. Sie muss durchgeführt werden. Wenn die gung: UNO nicht in der Lage ist, die EULEX-Mission durch- Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und zuführen – aus welchem Grund auch immer; Herr Minis- Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am Dienstag ter, eine Diskussion über die Gründe können wir hier dieser Woche hat die Bundesregierung beschlossen, den heute nicht führen –, dann muss die UNMIK die Dinge Einsatz der Soldaten der Bundeswehr im Kosovo um ein selbst in die Hand nehmen, damit die Bedingungen des Jahr zu verlängern. Sie wissen, dass das Mandat grund- Ahtisaari-Plans umgesetzt werden. Das ist das, was wir sätzlich unbefristet ist, dass wir aber die Praxis haben, alle wollen. Die kosovarische Regierung hat sich dazu auf Verlangen des Deutschen Bundestages in einem jähr- bereit erklärt. lichen Rhythmus hier um die Verlängerung nachzusu- Im Kosovo zeigt sich leider ein weiteres Mal das Un- chen. vermögen von NATO und EU, gemeinsam zu arbeiten. Ich denke, dass der Einsatz der Soldatinnen und Sol- In Brüssel ist es noch nicht einmal möglich, dass die daten der Bundeswehr im Rahmen des KFOR-Mandates NATO bzw. die KFOR mit dem EULEX-Team spricht. der NATO weiterhin notwendig ist, um Stabilität und Blockaden sind in der Tat vorhanden. Das ist doch ein friedliche Entwicklung im Kosovo zu gewährleisten. Die Jammer. Natürlich ist die Bundesregierung als größtes Eskalation, die wir an der Grenze nach der Unabhängig- europäisches Land und als wichtiger NATO-Partner auf- keitserklärung erlebt haben, und die Situation im Zusam- gerufen, dieses Trauerspiel zu beenden. (B) menhang mit dem Gerichtsgebäude in Mitrovica haben (D) Die einzige Konstante, der einzige stabile Pfeiler in deutlich gemacht, wie wichtig es ist, dass KFOR weiter- all diesen Bruchstücken, die wir leider erleben müssen, hin seinen stabilisierenden Beitrag im Kosovo leistet. ist in der Tat die KFOR. Das ist völlig unbestritten. Des- KFOR – damit auch der Einsatz unserer Soldatinnen und halb wird es Sie nicht verwundern, wenn wir als FDP- Soldaten – ist der Garant für ein sicheres Umfeld im Ko- Fraktion dem Verlängerungsantrag heute zustimmen. sovo. Darauf kann weiterhin nicht verzichtet werden. Die KFOR-Mission muss verlängert werden. Es ist völ- Wir sind im Rahmen dieses Mandates zurzeit mit lig undenkbar, jetzt die Zustimmung zu verweigern und 2 800 Soldatinnen und Soldaten einer der größten Trup- die KFOR abzuziehen. Das Chaos im Kosovo wäre un- pensteller im Kosovo. Ein sicheres, stabiles Umfeld ist übersehbar. Es wäre völlig unverantwortlich, wenn wir Grundvoraussetzung für einen erfolgreichen zivilen Auf- das heute machen würden. Deshalb, glaube ich, müssen bau des Kosovo. Herr Kollege Stinner, Sie haben diesen alle hier, die das Wohl des Kosovo, das Wohl der Region Punkt kritisch angesprochen. Es ist wahr, dass sich der im Auge haben, der Verlängerung des KFOR-Mandates Aufwuchs von EULEX mit 1 900 Kräften, der ja bis zum heute zustimmen. 15. Juni dieses Jahres vorgesehen war, verzögert. Jetzt (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten sind 300 Kräfte von EULEX im Kosovo. Aber man der CDU/CSU und der SPD) muss fairerweise sagen, dass es hierzu einer Entschei- dung der Vereinten Nationen bedarf. Ich habe gerade Wir haben einen Entschließungsantrag eingebracht. eben auf der Internationalen Luft- und Raumfahrtaus- Dieser Antrag bringt zum Ausdruck, dass die Verlänge- stellung hier in Berlin mit dem NATO-Generalsekretär rung der KFOR-Mission zwar eine notwendige, aber darüber gesprochen, der gestern in New York war, um keine hinreichende Bedingung für eine positive Ent- mit dem Generalsekretär der Vereinten Nationen genau wicklung des Kosovo ist. Deshalb haben wir Folgendes diese Frage abzustimmen. Denn es muss unser Ziel sein, in den Antrag geschrieben: Wir brauchen eine völker- dass es einen unmittelbaren Übergang von UNMIK zu rechtlich eindeutige Legitimation der EULEX-Mission. EULEX gibt. Das heißt im Klartext: Hier darf keine si- Wir müssen sicherstellen, dass der Kosovo in Gesamt- cherheitspolitische Lücke entstehen. Das ist, denke ich, heit regiert werden kann und nicht in Teilbereiche zer- unter dem Aspekt des zivilen Aufbaus des Kosovo und fällt, in denen unterschiedliche Machtstrukturen aufge- unter dem Aspekt einer weiteren stabilen und friedlichen baut sind. Wir brauchen eine ganz klare Definition der Entwicklung in diesem Land notwendig. Aufgaben von und der Abgrenzungen zwischen KFOR, UNMIK und EULEX. Wir müssen auch dafür sorgen, (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und dass NATO und EU eng abgestimmt an der positiven der SPD) 17204 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008

Bundesminister Dr. Franz Josef Jung (A) Ich füge hinzu: Die Grundlage aller Bemühungen war gegenwärtige friedliche und stabile Entwicklung ohne (C) und ist der Ahtisaari-Plan. Wie Sie wissen, hat Herr den Einsatz der NATO nicht eingetreten wäre. Im Inte- Ahtisaari über ein Jahr verhandelt und dann sein Kon- resse von Frieden und Stabilität im Kosovo, aber auch zept auf den Tisch gelegt. Wegen des Widerspruchs im Interesse einer friedlichen und stabilen Entwicklung Russlands in den Vereinten Nationen hat man sich darauf auf dem Balkan bitten wir daher um Ihre Zustimmung verständigt, die Troika einzusetzen. Die Troika, beste- zur Verlängerung des Mandats. Ich werbe für eine mög- hend aus den Vereinigten Staaten von Amerika, Europa lichst breite Unterstützung. Denn unsere Soldatinnen und Russland, sollte beide Seiten zusammenführen. und Soldaten leisten einen wichtigen Beitrag für den Auch dies ist, wie wir wissen, nicht gelungen. Frieden. Deshalb haben sie eine breite Unterstützung des Parlaments verdient. Wir alle, sowohl die NATO-Verteidigungsminister als auch die EU-Verteidigungsminister, haben immer ge- Recht herzlichen Dank. sagt: Grundlage ist der Ahtisaari-Plan. Nachdem das Ko- (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der sovo seine Unabhängigkeit erklärt hat, hatte ich die Ge- FDP) legenheit, dort zu sein. Es ist sehr positiv zu bewerten, dass sowohl der kosovarische Präsident Sejdiu als auch Ministerpräsident Thaçi sehr deutlich gesagt haben, dass Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: für sie weiterhin der Ahtisaari-Plan gilt, dass also die Nächste Rednerin ist die Kollegin Monika Knoche, Ziele des Minderheitenschutzes, der Einhaltung der Fraktion Die Linke. Menschenrechte und der Rückkehr der Flüchtlinge nach (Beifall bei der LINKEN) wie vor gelten. Das ist die richtige Politik, um letztlich zur Befriedung des Kosovo beizutragen. Monika Knoche (DIE LINKE): Ich füge des Weiteren hinzu: Ich halte es für richtig, Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Herren und dass wir Serbien, was Europa bzw. die euroatlantischen Damen! Einer Fortsetzung der deutschen Beteiligung an Strukturen betrifft, eine Perspektive geben. In Bukarest KFOR wird die Linke nicht zustimmen. Mehr noch: Wir haben wir das im Hinblick auf die NATO bereits be- werden vor das Bundesverfassungsgericht gehen. schlossen, sodass es auch hier eine Grundlage für eine Wir bestreiten erstens, dass die Rechtsgrundlage für friedliche Entwicklung gibt. die Präsenz deutscher Truppen, die Resolution 1244 des Eines will ich aber klar sagen: Grundlage des Einsat- UN-Sicherheitsrates, weiterhin Anwendung finden kann. zes unserer Soldatinnen und Soldaten im Kosovo ist wei- Wir widersprechen zweitens der Auffassung, dass die terhin die Resolution 1244 des Sicherheitsrates der Ver- Unabhängigkeitserklärung des Kosovo richtig, unver- (B) einten Nationen. Wir sind uns in der NATO einig, dass meidbar und völkerrechtskonform war. Drittens. Wir (D) wir diesen Einsatz nur auf dieser Basis durchführen. denken, dass die Aufgabenzuschreibung und die Ab- grenzung zwischen KFOR, EULEX und UNMIK nicht Meine sehr verehrten Damen und Herren, wer in der eindeutig sind. Darin sehen wir uns durch die Äußerun- jetzigen Situation den Abzug der Bundeswehr aus dem gen der NATO von heute bestätigt. Eine UN-Mandatie- Kosovo fordert, der handelt aus meiner Sicht verantwor- rung für EULEX ist nicht gesichert. tungslos und gefährdet den Frieden und die Stabilität auf dem Balkan. Es sind also politische, völkerrechtliche und diploma- tische Gründe, weshalb wir dieser gravierenden Fehlent- (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP scheidung in der deutschen Balkanpolitik entgegentre- und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ten. Aus diesem Grunde wollen wir unser Engagement fort- Das Kosovo hat am 17. Februar 2008 seine Unabhän- setzen und bitten Sie hierfür um Ihre Zustimmung. Wir gigkeit erklärt. Damit wurde eine völkerrechtswidrige verfolgen klare Ziele: erstens die Schaffung eines friedli- Abtrennung aus dem Staatsgebiet Serbiens vollzogen. chen und sicheren Umfeldes für die Bewohnerinnen und Eine weitgehende Autonomie Kosovos wäre die zu un- Bewohner des Kosovo, zweitens die Unterstützung der terstützende Alternative gewesen. zivilen Missionen der internationalen Gemeinschaft und drittens den Aufbau selbsttragender Sicherheitsstruktu- (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) ren. Im Übrigen hat auch Altbundeskanzler Gerhard Ich halte es für richtig, dass wir unseren Beitrag zum Schröder vor einigen Wochen bestätigt, dass es falsch Abbau des Kosovo Protection Corps und zum Aufbau war, die Anerkennung zu vollziehen. der Kosovo Security Force leisten. Das heißt im Klar- (Michael Brand [CDU/CSU]: Das Sprachrohr text, dass der Kosovo in die Lage versetzt werden soll, Putins!) selbst für seine Sicherheit zu sorgen. Ich denke, dass man sich bei der Ausbildung der Kosovo Security Force Mit dem Ende der Statusverhandlungen ist auch der auf den Zivilschutz, die Krisenreaktion bzw. die friedli- ursprüngliche Auftrag – darum geht es heute –, den che Entwicklung und auf das konkrete Thema Kampf- Übergangsprozess militärisch abzusichern, entfallen. Für mittelbeseitigung konzentrieren sollte. die neu geschaffene Realität hat die Bundeswehr unserer Auffassung nach kein Mandat mehr. Für das zukünftige Wenn man all dies berücksichtigt, stellt man fest, Aufgabenspektrum liegt keine neue Resolution vor, und welch großer Beitrag bisher geleistet wurde und dass die es wird sie erwartungsgemäß auch nicht geben. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008 17205

Monika Knoche (A) Diese prekäre Lage hat die Bundesregierung entschei- lage in der UN-Resolution 1244; denn durch die Aner- (C) dend mit herbeigeführt, indem sie die Separation des kennung des Kosovos ist der ursprüngliche Mandatsauf- Kosovos forciert hat. Für uns ist entscheidend, dass für trag entfallen. Eine neue UN-Resolution kann und wird die deutsche Militärpräsenz im Kosovo seit Februar es nicht geben. Wenn es nach rechtlichen Prinzipien 2008 kein belastbares Bundestagsmandat mehr besteht. geht, müssen die Truppen mithin abgezogen werden. (Beifall bei der LINKEN) Diese unsere Position werden wir dem Bundesverfas- sungsgericht zur Entscheidung vorlegen. Heute will die Regierung vom Parlament die Zustim- mung für die Stationierung von fast 3 000 deutschen (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Soldaten im Kosovo für eine noch nicht genau be- Winkelmeier [fraktionslos]) stimmte Dauer. Bei der von mir genannten Grundlage kann eine solche Entscheidung im Deutschen Bundestag Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: unseres Erachtens nicht getroffen werden. Ich gebe das Wort dem Kollegen Jürgen Trittin, Zur Lage im Kosovo. Der neue Status brachte keine Bündnis 90/Die Grünen. Stabilität. Im Gegenteil: Nur 41 Staaten haben aner- kannt. Jetzt herrscht Stagnation. Die Völkerrechtswid- Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): rigkeit des Vorgangs hält die meisten der Staaten davon Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wer die ab, anzuerkennen. Der Sonderfall Kosovo könnte anste- Welt nicht als Amtsgericht betrachtet, sondern sich kon- ckend wirken und eben kein Einzelfall bleiben. kret mit der Situation im Kosovo beschäftigt, stellt fest, Auch europapolitisch ist die Unabhängigkeit ver- dass die Lage zurzeit unübersichtlich ist: zwar ruhig, hängnisvoll. Spanien, Großbritannien, Ungarn und Ru- aber nicht stabil. Wer daran interessiert ist, Gewalt und mänien haben gespannte Konfliktlagen. Es ist also kein eine Verschlechterung der Situation zu verhindern und Wunder, dass neben China und Russland sieben europäi- zu vermeiden, dass sich beispielsweise die Vorfälle aus sche Staaten bewusst nicht den Fehler machen, partiell dem Jahr 2004, als Serben Opfer von Attacken gewor- von der europäischen Idee der Integration und Multieth- den sind, wiederholen, der kann zu diesem Zeitpunkt nizität abzurücken. Für Deutschlands Balkanpolitik gibt nicht ernsthaft dafür plädieren, die Bundeswehr abzuzie- es international nur einen sehr schwachen Rückhalt. hen; vielmehr muss er für die Verlängerung des Mandats stimmen. (Michael Brand [CDU/CSU]: China und Russland waren immer schon für Menschenrechte!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und Kosovo ist bei allen Beschreibungen ein Failing State. (B) der SPD) (D) Er kann und will seine Minderheiten nicht selber schüt- zen. Die stabile Multiethnizität einer Gesellschaft kann Wenn man in Priština landet, wird man von einem aber nicht durch das Militär hergestellt werden. Schild mit der Aufschrift „Willkommen im unabhängi- gen Staat Kosovo“ empfangen. Im Pass findet man dann Nach den Kommunalwahlen vor zwei Wochen – ich war als Wahlbeobachterin der OSZE dort – werden sich aber einen Stempel von UNMIK. Die Lage ist also sehr die Doppelstrukturen albanisch-serbisch vertiefen. De widersprüchlich. facto heißt das, dass das Kosovo in einen albanischen Die Unabhängigkeit hat eben nicht alle Probleme ge- und einen serbischen Teil zerfallen ist. Wie es im Antrag löst, wie Sie, Herr Stinner, das geschildert haben und wie der Bundesregierung heißt, wird die KFOR dafür zustän- Herr Rugova immer gehofft hat. Im Gegenteil: Die Si- dig gemacht, zur Sicherheit aller Bewohnerinnen und tuation hat sich nicht geändert. Man könnte gelassen sa- Bewohner – unabhängig von ihrer Volkszugehörigkeit – gen, dass dort, wo Realismus herrscht, auch die Enttäu- friedliche und normale Lebensbedingungen herzustellen. schung weniger Chancen hat. Aber gerade weil die Lage Die Tatsache, dass Kämpfer der nationalistischen unverändert ist, ist es bedauerlich, dass die EULEX- UCK heute in Politik, Militär und Polizei vertreten sind, Mission weiterhin blockiert ist, dass der organisierten und der Umstand, dass Familienclans in den Machtstruk- Kriminalität im Kosovo nur eine schwache Justiz gegen- turen vorherrschen, lässt Rechtsstaatlichkeit und Be- übersteht und dass es Verzögerungen im Aufbau rechts- kämpfung von Korruption und Kriminalität auf abseh- staatlicher Strukturen gibt. Das ist eine schwere Hypo- bare Zeit zur Utopie werden. Wie konnte das Kosovo bei thek. Wer den Einfluss des organisierten Verbrechens diesen Tatsachen als unabhängiger Staat anerkannt wer- beklagt – das ist kein Phänomen, das erst seit der Unab- den? Welch eine Fehlentscheidung! hängigkeit aufgetreten ist; es beschränkt sich auch leider nicht auf den Kosovo, wie ein Blick auf Serbien und an- (Beifall bei der LINKEN) dere Staaten dieser Region zeigt –, der muss alles dafür Welch gravierende Völkerrechtsprobleme haben Sie tun, dass eine Rechtsstaatsmission wie EULEX dort wir- damit heraufbeschworen? Die desolate Bilanz nach acht- ken kann. jähriger internationaler Präsenz ist eine große politische Deswegen sehe ich das eigentliche Problem darin, Last. Wir sind überzeugt: Sie kann nur politisch und Herr Außenminister, dass das, was die EU dort vorge- nicht militärisch abgetragen werden. plant hat, bis heute blockiert ist und wir es mit einer Ich fasse zusammen: Eine Fortführung der deutschen Doppelstruktur von UNMIK und EULEX zu tun haben. Beteiligung an KFOR hat keinerlei Völkerrechtsgrund- Dafür gibt es im Grunde nur zwei Lösungen. Entweder 17206 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008

Jürgen Trittin (A) – darauf sind Sie nicht eingegangen – übernimmt men, die universelle Gültigkeit haben. Wären sie bei den (C) UNMIK die Zivilverwaltung im Norden – das entspricht großen Entscheidungen, etwa bei Entscheidungen über dem, was der serbische Teil des Kosovo will –, oder wir Krieg und Frieden, die Richtschnur, gäbe es weniger finden einen Weg, um EULEX de facto in UNMIK ein- Elend auf der Welt. Verstöße gegen diese Grundsätze zugliedern. Das hätte den Vorteil, dass – anders als die durch die deutsche Politik hatten bis 1990 nur begrenzt Linkspartei – Russland und Serbien UNMIK in vollem negative Auswirkungen, was einfach am begrenzten au- Umfang akzeptieren. Ich glaube, wir müssen uns darum ßenpolitischen Handlungsspielraum lag. Nach Erlan- sehr bemühen; denn anderenfalls droht ein desaströses gung der vollen Souveränität sieht dies inzwischen an- Neben- und Durcheinander der internationalen Organi- ders aus. sationen, die sich dadurch selber blockieren. Hätte sich Rot-Grün 1998/99 an die uralte Regel ge- Entgegen vielen Befürchtungen sind die großen Ge- halten, was immer du tust, handle klug und bedenke das waltausbrüche bisher Gott sei Dank ausgeblieben. Das Ende, müssten wir heute nicht über den Antrag der Bun- ist auch ein Verdienst der deutschen Soldaten im Rah- desregierung zur Verlängerung des Bundeswehreinsatzes men von KFOR. In den serbischen Enklaven ist es ruhig. im Rahmen der Sicherheitstruppe KFOR debattieren. Dort – nicht im Norden des Kosovo – leben übrigens (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) zwei Drittel der Serben. UNMIK hat zu Recht die Ergebnisse der Kommunal- Dann hätte es nämlich den völkerrechtswidrigen Luft- krieg gegen die zivile Infrastruktur Jugoslawiens nicht wahlen vom 11. Mai 2008 im Kosovo nicht anerkannt. gegeben. Die Situation im Norden ist dauerhaft angespannt. Dass KPS und UNMIK-Polizei zwar an den Grenzen präsent (Widerspruch bei der SPD) sind, aber faktisch keine Kontrollen durchführen, und dass Mitarbeiter internationaler Organisationen nur in Das war der Sündenfall aller, die am 13. Oktober 1998 Ausnahmefällen durchkommen, kann meines Erachtens dem Vorratsbeschluss für die NATO zugestimmt haben. nicht auf Dauer akzeptiert werden. Dieser Umstand Dieser Sündenfall gebiert ein um das andere Mal neue zeigt, dass KFOR mindestens so wie bisher gebraucht Rechtsbrüche, weil die Konsequenzen nicht bis zu Ende wird. bedacht worden sind. Dafür gibt es eine eindeutige Rechtsgrundlage: die Die Bundesregierung nennt als Rechtsgrundlage für Resolution 1244 des Sicherheitsrates, deren Gültigkeit den Einsatz unserer Soldaten die Resolution 1244 des Serbien und Russland ausdrücklich anerkennen. Wir alle Sicherheitsrates und das Militärisch-Technische Abkom- möchten nicht, dass KFOR dort auf Dauer präsent ist. men zwischen Serbien und der KFOR vom Juni 1999. Das ist an Dreistigkeit wahrlich kaum mehr zu überbie- (B) Die Verantwortung von KFOR besteht darin, für alle Be- (D) wohner des Kosovo und für die internationalen Helfer ten, und ich sage Ihnen auch, warum: Nach der durch die Sicherheit zu gewährleisten, bis diese dort selbst her- amerikanischen Druck beflügelten Lesart der Bundesre- gestellt werden kann und es eine politische Lösung gibt, gierung gehört das Kosovo nicht mehr zu Serbien. Die die auch von Russland und Serbien akzeptiert wird. Bundesrepublik hat die Unabhängigkeit der serbischen Provinz deswegen als einer der ersten Staaten anerkannt. Liebe Frau Knoche, erst wenn es einen anderen Be- Sowohl der Resolution 1244 als auch dem Militärisch- schluss des Sicherheitsrats gibt, der die Resolution 1244 Technischen Abkommen hat Serbien auch für seine Pro- ersetzt, entfällt die völkerrechtliche Grundlage für die vinz Kosovo zugestimmt, aber doch nicht für einen un- Präsenz von KFOR. abhängigen Staat Kosovo, den die Resolution 1244 zu- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN dem ausdrücklich ausschließt. Auf diese Resolution hat sowie bei Abgeordneten der SPD – Monika sich Serbien verlassen. Knoche [DIE LINKE]: Das sehen wir anders!) Nun wollen Sie sich auf eine Rechtsgrundlage stüt- Nach einem solchen politischen Kompromiss wird mit- zen, die zu einem völlig anderen Zweck geschaffen telfristig hoffentlich auch die Notwendigkeit für einen wurde: zur Sicherung der Übergangsverwaltung unter weiteren Stabilisierungseinsatz durch KFOR entfallen. der Schirmherrschaft der UNO. Das ist doch einfach Bis dahin halten wir diese Präsenz für notwendig und für abenteuerlich und ein Stück aus dem Tollhaus. Im Übri- völkerrechtlich eindeutig legitimiert. Deswegen werden gen frage ich mich, wozu ein angeblich souveräner Staat wir einer Verlängerung dieses Mandats zustimmen. ausländische Truppen benötigt, um seiner ureigensten Aufgabe nachzukommen und seine Staatsbürger zu Vielen Dank. schützen. Aber vielleicht soll dies ja als ein Probelauf für (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, die sogenannte Schutzverantwortung genutzt werden. bei der CDU/CSU und der SPD) 1999 wurde von Deutschland das Recht gebrochen und ein Präzedenzfall geschaffen, was jetzt mit der char- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: tawidrigen Anerkennung des Kosovo und der EULEX- Nächster Redner ist der Kollege Gert Winkelmeier. Mission gegen den Widerstand der UNO wiederholt wird. Das wird sich rächen. Gert Winkelmeier (fraktionslos): 151 Staaten der Welt, unter ihnen fast alle afrikani- Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Es schen, lateinamerikanischen und asiatischen Staaten so- gibt ein paar ethische Grundsätze und Handlungsmaxi- wie Rumänien, Spanien und Griechenland, verweigern Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008 17207

Gert Winkelmeier (A) sich diesem Rechtsbruch. Sie halten sich an die Maxime Optimismus des Ministers, dass diese Probleme in ab- (C) des großen Königsberger Philosophen: sehbarer Zeit gelöst werden, teilen. Wir müssen uns da- für einsetzen, dass diese Probleme gelöst werden. Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Ge- Die Bevölkerung ist beunruhigt, unter anderem weil setz werde. die UNMIK in Kosovo nicht so viel Anerkennung hat. Sein Geburtsland pfeift auf Immanuel Kant. Die EU-Mission wird herbeigesehnt. Es besteht immer das Risiko, dass neue Konflikte ausbrechen. Wir müssen Vielen Dank. uns anstrengen, dass kritische Situationen nicht entste- hen, dass kein Sicherheitsvakuum entsteht. Deshalb ist (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN – Jörg es wichtig, dass wir KFOR ohne Wenn und Aber bestäti- Tauss [SPD]: Kant würde sich missverstanden gen. Ohne KFOR können eine Menge Probleme und fühlen!) Konflikte auftauchen. Ich will ein paar davon benennen:

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Die Regierung des Kosovo hat am Anfang geschla- Für die SPD-Fraktion gebe ich der Kollegin Uta Zapf fen, sie war mit der Gesetzgebung langsam. Sie ist jetzt das Wort. aufgewacht. Es gibt aber Konflikte im Parlament. Haradinaj, der vom Kriegsverbrechertribunal freigespro- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) chen worden ist, ist zurückgekehrt und verfolgt seine ei- genen Interessen, er möchte seinem Erzrivalen, Minis- Uta Zapf (SPD): terpräsident Thaçi, die Hölle heiß machen. Man streitet Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! über Wahltermine, man streitet über die Gesetzgebung, Hätten wir damals, als wir entscheiden mussten, diesen man streitet darüber, welche gesetzlichen Feiertage im- Krieg zu führen, wofür uns Herr Winkelmeier angegrif- plementiert werden sollen. fen hat, das Ende bedenken können, hätten wir trotzdem so entschieden. Die Alternative wäre gewesen, einem Es gibt noch beunruhigendere Probleme. Ich schaue Massenmord zuzusehen. nach Serbien und frage mich, wie sich die politische Landschaft dort entwickeln wird. Zwar hat Präsident (Beifall der Abg. Jörg Tauss [SPD] und Tadić ein veritables Ergebnis erreicht, er kann aber keine Dr. Werner Hoyer [FDP]) Regierung bilden. Die andere Seite, die Radikalen, die Wir wollen lieber dem humanitären Gedanken der Ver- enorm zugelegt haben, kann ebenfalls keine Regierung bilden. In der Mitte steht die ehemalige Milošević-Par- (B) pflichtung zum Schutze der Menschen folgen, einem (D) Gedanken, der sich leider nur langsam durchsetzt, der tei, um die sich beide nun bemühen. Man weiß noch aber, wie ich glaube, bei unseren politischen Entschei- nicht, wie sich diese Partei, die möglicherweise ausein- dungen in der Zukunft noch öfter eine Rolle spielen anderbrechen wird, entscheiden wird. Gleichzeitig droht wird. zum Beispiel der Kosovo-Minister aus Serbien, alle Er- gebnisse der vorhin erwähnten illegalen Kommunalwah- Die Verlängerung des KFOR-Mandates ist notwen- len zu implementieren. Das führt unweigerlich zu Span- dig; das sehen außer der Linken und Herrn Winkelmeier nungen. Deshalb ist UNMIK unbedingt erforderlich. alle so. Niemand kann bezweifeln, dass die Lage im Ko- sovo dies erfordert. Natürlich wissen wir, wie schwierig KFOR wird um einige Aufgaben erweitert. Das es ist, die EULEX-Mission, die nach dem Ahtisaari-Plan wurde gerade vom Verteidigungsminister erwähnt. Es ist vorgesehen ist, zu implementieren. Es ist bedauerlich, sicherlich wichtig, dass eine selbsttragende Sicherheits- dass sich Russland dem im Sicherheitsrat widersetzt. architektur auf Dauer geschaffen wird. Ich glaube, dass Deshalb muss man eine Übergangslösung, wie wir sie dort noch Gefahren bestehen; denn die Kosovaren haben im Augenblick haben, ertragen. andere Vorstellungen von den Aufgaben, die ihnen nun gegeben werden. Sie wollen ein bisschen mehr Militär, Am 15. Juni soll die neue kosovarische Verfassung in als ihnen gewährt wird. Wir wissen zudem, dass die Kraft treten; an ebenjenem Tag wäre die Übergangsfrist UÇK noch immer über gute Waffenreserven in den Kel- zu Ende gegangen, hätte der Übergang von UNMIK auf lern verfügt und dass es illegale Milizen gibt, die noch die EU-Mission abgeschlossen sein sollen. Dann wird zum Problem werden können. die kosovarische Regierung eine souveräne Regierung sein. Diese Regierung hat uns gebeten, die Mission auf- All das zusammengenommen – ich könnte noch viel rechtzuerhalten, um die Entwicklung zu einem sicheren, mehr erwähnen – ist ein Beweis dafür, dass KFOR im souveränen und demokratischen Staat zu unterstützen. Moment das wichtigste Element ist, um dort Stabilität, (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Sicherheit und Schutz der Bevölkerung zu gewähren. Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg Das muss man schlicht und ergreifend trotz aller Pro- [CDU/CSU]) bleme, die es auf internationaler Ebene noch gibt, be- rücksichtigen. Es ist schon erwähnt worden, dass bisher nur 300 der eingeplanten 2 000 Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen vor Ort sind. Es gibt weitere Schwierigkeiten, weil der Pro- Vizepräsidentin Petra Pau: zess bei der UNO stockt. Ich wünschte, ich könnte den Kollegin Zapf, achten Sie bitte auf die Redezeit. 17208 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008

(A) Uta Zapf (SPD): Die junge Unabhängigkeit hat ihre Schwächen, sie hat (C) Ich bin sofort fertig. Das ist der letzte Satz, keine Defizite, sie hat politische Schwächen. Sie hat natürlich Angst. wirtschaftliche Defizite zu bekämpfen, aber diese Unab- hängigkeit hat auch Bewegung in den politischen Pro- Ich bitte Sie deshalb, genauso wie die SPD der Ver- zess gebracht, eine Bewegung, die wir jetzt in einen Auf- längerung des Mandats zuzustimmen. wärtsprozess münden lassen müssen, die wir nicht auf (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) eine schiefe Ebene geraten lassen dürfen, an deren Ende wieder Gewalt und Rassismus stehen könnten. Das gilt es zu vermeiden. Wir sind immer noch in einer instabilen Vizepräsidentin Petra Pau: Übergangsphase, die aber auch gesichert werden muss. Sie verkennen die Situation. Ich habe überhaupt keine Diese Sicherung ist mit dem KFOR-Mandat weiterhin Angst. Letztendlich habe ich hier einen Knopf, um das herzustellen. anders zu beenden. Aber ich hätte es gerne, dass es für alle fair zugeht und wir uns nicht gegenseitig mit der Was den Übergang betrifft, so haben Sie, Herr Kollege Überziehung der Zeit sozusagen nötigen. Trittin, die richtigen Fragen gestellt, auch in unseren Au- gen, was zum Beispiel den Übergang der Verantwortung Das Wort für die Unionsfraktion hat der Kollege von den Vereinten Nationen auf die Europäische Union Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg. anbelangt. Ich glaube, auch hier müssen wir genau ab- wägen, was möglich und machbar ist, und uns immer Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg (CDU/ wieder selbstkritisch die Frage stellen – die Diskussio- CSU): nen, die angestoßen werden, Frau Knoche, sind gar nicht so falsch –, ob uns die Rechtsgrundlagen auf Dauer rei- Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und chen. Ich glaube, die Rechtsgrundlage ist akzeptabel Herren! Wenn man sich die Länge des heute diskutierten – das ist unsere Überzeugung –, aber sie ist immer auch Mandats anschaut, dann stellt man fest, dass KFOR in optimierbar. Was nicht passieren darf, ist, dass wir in das zehnte Jahr geht. Vor zehn Jahren hat ein notwendi- eine Kultivierung einer völkerrechtlichen Debatte bei ger außen- und sicherheitspolitischer Paradigmenwech- dieser Frage hineinkommen, sondern wir müssen zuse- sel stattgefunden. Manch einer von uns hat damals si- hen, dass wir eine Optimierung dieses Zustandes insge- cherlich gedacht, dass das bald vorüber sein wird. Nun samt darstellen können. gibt es die bittere Erkenntnis, dass das Ganze nicht so bald wie erhofft vorüber sein wird. Vor zehn Jahren Bei der Frage, wie es mit Serbien weitergeht – der wurde die wichtige Grundentscheidung getroffen, kein zweiten Frage –, kann man nur sagen: hoffentlich mit (B) weiteres Morden und keinen weiteren Flächenbrand in europäischer Vernunft – das Ergebnis für Tadić steht in (D) dieser Region zuzulassen sowie Grundlagen für Stabili- meinen Augen für diese europäische Vernunft –, hoffent- tät und Sicherheit dort und damit auch für unsere Sicher- lich auch mit einer europäischen Perspektive, nicht nur heit zu schaffen. All das wäre nicht allein durch von unserer Seite – wir erhalten diese aufrecht –, son- haarspalterische, völkerrechtliche Debatten möglich ge- dern auch in den Köpfen der Menschen in Serbien, und wesen. Das hätte mit Sicherheit nicht genügt. hoffentlich mit einer verantwortungsvollen Regierungs- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bildung, die sich nicht das Beispiel Belgrad zum Maß- bei Abgeordneten der FDP) stab nimmt. Es wäre verheerend, wenn die Entscheidung in der Stadt, diese Entscheidung auf kommunaler Ebene, Es gab sicherlich Talsohlen. Aber KFOR hat klare Er- übertragen würde und die Radikalen im Boot säßen bzw. folge zu verzeichnen. Herr Bundesminister, wir haben mit diesen eine Regierung gebildet werden müsste. einmal im Jahr die Möglichkeit, Ihren Soldaten, die dort ihren Dienst tun, zu danken. Wir danken auch den zivi- Bezüglich des Stabilisierungs- und Assoziierungsab- len Helfern vor Ort. Es handelt sich um einen Gesamtan- kommens für Serbien haben wir diskutiert, ob es richtig satz der internationalen Gemeinschaft, der dort zum Tra- oder falsch ist, dieses als Anreiz zu setzen. Nun wurde gen kommt. Das verdient unseren Dank, unseren der Anreiz gesetzt. Wenn man von dem Ergebnis aus- Respekt und unsere Anerkennung. geht, kann man möglicherweise sagen, dass es ein richti- ges Signal war. Wir haben da mit uns gerungen. Wir (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der werden uns aber auch vergewissern müssen, dass die FDP) vereinbarten Bedingungen, Herr Bundesaußenminister, sich in den unterschriebenen Texten tatsächlich wieder- Um den Aufgaben gerecht zu werden, vor denen wir finden. Sie müssen dort stehen. Wir müssen letztlich stehen, müssen wir uns fragen, welcher Zukunft das Ko- auch hier Sicherheit für die zukünftigen Ansätze haben, sovo, Serbien und die gesamte Region entgegengehen. die wir verfolgen. Auch das ist eine Frage, die wiederkehrt, die uns aber immer wieder vor neue Herausforderungen stellt. Das Wenn wir an die Region denken, dann dürfen wir, so- Kosovo hat sich für die Unabhängigkeit entschieden. lange wir über Serbien und über das Kosovo diskutieren, Herr Bundesaußenminister, es war ein schwieriger, aber Bosnien-Herzegowina, Mazedonien und die gesamte Si- ein richtiger Schritt, die Anerkennung auszusprechen. cherheitsarchitektur als solche nicht aus dem Blick ver- Der Verhandlungsprozess als solcher wurde nachhaltig lieren. Das ist unsere Aufgabe. Diese Aufgabe bedarf ausgeschöpft. Von daher sind die Einwürfe, die diesbe- immer einer immanenten Sicherung. Ein Teil dieser Si- züglich kamen, schlechterdings falsch. cherung wird durch KFOR gewährleistet. Vor diesem Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008 17209

Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg (A) Hintergrund stimmt auch die CDU/CSU einer Fortset- lierte Betrachtung der Benzinpreise würde hier also (C) zung zu. Wir werden den gesamten Prozess, so wie er überhaupt nicht weiterhelfen. Letztendlich haben wir angestoßen wurde, weiterhin unterstützen. eine solche Veränderung bei den Energiekosten, dass im- mer mehr Menschen Schwierigkeiten haben, ihre Rech- Vielen Dank. nungen zu begleichen. Deshalb müssen wir in irgend- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie einer Form Abhilfe schaffen. bei Abgeordneten der FDP und des BÜND- (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert NISSES 90/DIE GRÜNEN) Winkelmeier [fraktionslos])

Vizepräsidentin Petra Pau: Wir haben rechtzeitig darauf hingewiesen, dass diese Ich schließe die Aussprache. Entscheidung der Koalition eine falsche Entscheidung war. Wir wurden damals des billigen Populismus bezich- Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf tigt. Mittlerweile sind wir froh darüber, dass die Populis- Drucksache 16/9287 an die in der Tagesordnung aufge- ten Zulauf bekommen haben. führten Ausschüsse vorgeschlagen. Der Entschließungs- antrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/9369 (Otto Fricke [FDP]: Die waren schon immer soll an dieselben Ausschüsse überwiesen werden, jedoch da!) an den Haushaltsausschuss ausschließlich zur Mitbera- Die CSU hat mittlerweile erkannt, dass es doch sinnvoll tung. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. wäre, hier etwas zu tun. Sie hat richtigerweise beschlos- Dann sind die Überweisungen so beschlossen. sen, die Entfernungspauschale vom ersten Kilometer an Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf: wieder einzuführen. Das ist zu begrüßen. Es gibt gar kei- nen Grund, sich darüber irgendwie lustig zu machen. Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Barbara Höll, Werner Dreibus, Ulla Lötzer, (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE Winkelmeier [fraktionslos]) LINKE Wir wollen jetzt natürlich testen, ob die CSU auch Entfernungspauschale sofort vollständig aner- dazu steht. Wir haben schon öfter festgestellt, dass dieje- kennen – Verfassungsmäßigkeit und Steuerge- nigen, die in der Öffentlichkeit Forderungen erhoben ha- rechtigkeit herstellen ben, auf einmal nicht mehr da waren, als wir hier Vor- schläge gemacht haben, diese Forderungen umzusetzen. – Drucksache 16/9167 – Wir wollen hier jetzt die Glaubwürdigkeit der CSU tes- Überweisungsvorschlag: ten. Das ist ein Grund, warum wir diesen Antrag vorge- (B) (D) Finanzausschuss (f) legt haben. Wir wollen, dass dieser Antrag hier tatsäch- Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie lich zur Abstimmung kommt. Außerdem wollen wir – das Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend sage ich ganz klar –, dass er vor der bayerischen Land- Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung tagswahl zur Abstimmung kommt. Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Winkelmeier [fraktionslos]) Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die Fraktion Die Linke fünf Minuten erhalten soll. – Ich Wir wollen nämlich nicht durchgehen lassen, dass mit höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. diesen Versprechungen erst großartig gewedelt wird, be- vor hier dann das Gegenteil beschlossen wird. Ich eröffne die Aussprache. Für die Fraktion Die Linke hat der Kollege Oskar Lafontaine das Wort. ( [CDU/CSU]: Sie wollen doch zumindest die Fachberatung im Aus- (Beifall bei der LINKEN) schuss!) – Ich höre da etwas von Ausschussberatung. Man tut so, Oskar Lafontaine (DIE LINKE): als müsste man das alles sehr tief beraten. Die Bürgerin- Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und nen und Bürger sollen jetzt hören, welch ungeheuren Be- Herren! Die gestiegenen Benzinpreise sind ein Problem ratungsbedarf Sie hierbei haben. Wenn wir Manns oder für viele Bürgerinnen und Bürger unseres Landes. Sie Frau genug dazu wären, Ja oder Nein zur Einführung der sind im Besonderen ein Problem für viele Arbeitnehme- Pendlerpauschale zu sagen, dann könnten wir heute hier rinnen und Arbeitnehmer, die auf ein Auto angewiesen entscheiden. Da ist überhaupt nichts mehr zu beraten. sind, um ihren Arbeitsplatz zu erreichen. Deshalb stellt sich mehr und mehr heraus, dass die Entscheidung im (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Jahr 2007, die Pendlerpauschale deutlich zu reduzieren, Winkelmeier [fraktionslos] – Leo Dautzenberg eine falsche Entscheidung war. [CDU/CSU]: Ja, Sie machen das aus der La- mäng!) (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos]) – Sie können sich noch so erregen; Sie verraten sich ja nur. Nicht allein die gestiegenen Benzinpreise bewegen die Menschen in Deutschland: Auch unsere Strompreise, (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Nein, Sie Gaspreise und Nahrungsmittelpreise steigen. Die iso- verraten sich!) 17210 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008

Oskar Lafontaine (A) Sie werden mit diesem Trick natürlich nicht durchkom- Oskar Lafontaine (DIE LINKE): (C) men. Sie werden sich hier also bekennen müssen. Dazu Gerne. möchten wir Sie auf jeden Fall anhalten. Es geht aber nicht nur um die gestiegenen Benzin- Otto Fricke (FDP): preise. Ich will darauf hinweisen: Es geht auch darum, Herr Kollege Lafontaine, als Haushälter versuche ich dass immer mehr Menschen niedrigere Löhne haben. immer zu verstehen, wo die Reise hingehen und wie viel Wir dürfen bei dieser Entwicklung der Benzinpreise das Ganze kosten wird. Sie haben gerade erklärt, dass es nicht den Rest der gesellschaftlichen Entwicklung aus- die Pauschale auch für diejenigen geben muss, die keine blenden. Deutschland hat mittlerweile den größten Nied- Steuern bezahlen. Ich habe nur nicht ganz verstanden, riglohnsektor aller Industriestaaten. Dies war noch vor was dann für die Rentnerinnen und Rentner gilt, die ja einigen Jahren überhaupt nicht der Fall. Diese Entwick- auch keine Steuern bezahlen. Heißt das, dass die Rentne- lung führt natürlich dazu, dass immer mehr Arbeitneh- rinnen und Rentner nach Ihrem Programm – ich möchte merinnen und Arbeitnehmer Schwierigkeiten haben, ihre es ja nur verstehen – zukünftig auch in den Genuss der Stromrechnung, ihre Gasrechnung und letztendlich die Pendlerpauschale kommen, wenn sie ein Auto haben Fahrt zum Arbeitsplatz zu bezahlen. und darauf angewiesen sind? Diese Entwicklung zeigt auch, dass die Pendlerpau- (Widerspruch bei der LINKEN) schale in sich schon ein Problem darstellt, weil sie denen nicht mehr zugute kommt, die keine Steuern zahlen. Oskar Lafontaine (DIE LINKE): Darauf weist die Fraktion Die Linke immer wieder hin. Sie denken bestimmt, dass Sie uns jetzt fürchterlich Wenn wir also etwas für diejenigen tun wollen, die ein aufs Glatteis führen, Herr Kollege. niedriges Einkommen, einen niedrigen Lohn haben und trotzdem ihre Fahrten zum Arbeitsplatz bezahlen müs- (Otto Fricke [FDP]: Nein, ich bin nur sen, müssen wir darüber nachdenken, ob es nicht sinn- neugierig!) voll ist, die Pendlerpauschale in der Form umzubauen, Das ist auch Ihr gutes Recht. Aber damit haben Sie sich dass sie auch denen zugute kommt, die gar keine Steuern in die Nesseln gesetzt, denn es ist nun einmal so, dass mehr zahlen. Rentnerinnen und Rentner nicht zur Arbeitsstätte fahren. Insofern liegt die Frage völlig neben der Sache. (Beifall bei der LINKEN) (Otto Fricke [FDP]: Also kriegen sie sie Auch für andere Bereiche gilt: Man weist Steuergut- nicht?) schriften aus, um dem einen oder anderen zu helfen. Das (B) führt dazu, dass 30 Prozent der Bevölkerung in Zukunft Sie fragen nach den Kosten. Ich will Ihnen die Ant- (D) ausgeklammert sind. Auch darüber müsste in dieser De- wort gern geben. Natürlich werden Kosten entstehen. batte entschieden werden. Ich kann darauf aus Zeitgrün- Aber wer in diesem Jahr Geld hatte, zum Beispiel den den nicht weiter eingehen. Unternehmen trotz enormer Gewinne 22 Milliarden Euro zu geben, der kann nicht sagen, die Pendlerpau- Wir weisen aber auch darauf hin, dass diese Entschei- schale sei nicht finanzierbar. Das ist total unglaubwür- dung schon verfassungspolitisch äußerst problematisch dig. war. Wer immer wieder mit großem Fleiß darauf dringt, dass Selbstständige oder Unternehmer ihre Kosten abset- (Beifall bei der LINKEN) zen können, der kann hier nicht einfach beschließen, Ein letztes Argument gegen die Pendlerpauschale dass Arbeitnehmer keinerlei Kosten von der Steuer ab- könnte sein – entsprechende Zwischentöne sind hier an- setzen dürfen. Die Lösung, die wir hier vorschlagen, ist geklungen –, dass wir die ökologische Frage damit un- auch deshalb sofort anzustreben, weil das, was Sie be- sachgemäß beantworten würden. Diese Debatte ist schon schlossen haben, nach unserer Überzeugung verfas- sehr alt. Aber der Anreiz zum Energiesparen hat über sungswidrig ist. steigende Strompreise, steigende Gaspreise, deutlich ge- (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert stiegene Benzinpreise und steigende Heizölpreise bereits Winkelmeier [fraktionslos]) ein sehr hohes Ausmaß erreicht. Gleichzeitig wissen viele Menschen nicht mehr, wie sie diese überhaupt noch Ich fasse zusammen: Wir können den Beschluss jetzt bezahlen sollen. Daher tritt jetzt die soziale Frage in den sofort fassen. Der Verdruss, den Sie, meine Damen und Vordergrund, und es ist sofort Abhilfe zu schaffen. Herren von der Großen Koalition, bei den Kommunal- wahlen in Schleswig-Holstein wieder zu spüren bekom- (Beifall bei der LINKEN) men haben, kommt nicht zuletzt daher, dass es in der Öf- fentlichkeit immer wieder große Ankündigungen gibt, Vizepräsidentin Petra Pau: von denen aber dann, wenn hier im Parlament entschie- Für die Unionsfraktion hat der Kollege Olav Gutting den werden muss, auf einmal nichts mehr zu hören ist. das Wort. Das verärgert die Leute. Olav Gutting (CDU/CSU): Vizepräsidentin Petra Pau: Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen! Herr Kollege Lafontaine, lassen Sie eine Zwischen- Meine Herren! Lassen Sie mich zunächst dem Eindruck frage des Kollegen Fricke zu? entgegentreten, dass die Verfassungswidrigkeit der Ab- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008 17211

Olav Gutting (A) schaffung der Pendlerpauschale schon abgemachte Seit der fünften Stufe der Ökosteuer unter Rot-Grün (C) Sache ist. Die Linke fordert in ihrem Antrag, Verfas- 2003 hat sich die Energiesteuer auf Kraftstoffe nicht sungsmäßigkeit herzustellen. Noch hat das Bundesver- mehr erhöht. fassungsgericht aber überhaupt nicht entschieden. Kei- (Frank Schäffler [FDP]: Das ist nur die halbe ner kann heute genau vorhersagen, wie Karlsruhe diesen Wahrheit!) Fall entscheiden wird. Das gilt auch für Die Linke, und das gilt auch für Sie, Herr Lafontaine, es sei denn, dass Die Mineralölsteuer und die Ökosteuer betragen seit Ihr Fraktionskollege Gysi vielleicht auch in Karlsruhe 2003 fix 65,5 Cent je Liter, gespitzelt hat. (Frank Schäffler [FDP]: Aber die Mehrwert- steuer wurde doch erhöht!) Vizepräsidentin Petra Pau: völlig egal, ob die Preise steigen oder fallen. Kollege Gutting, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Höll? (Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Das stimmt!) ( [CDU/CSU]: Er kann ja über- haupt nicht anfangen! Lassen Sie ihn doch erst Bei dem aktuell sinkenden Verbrauch gehen die Einnah- einmal reden!) men aus der Erhebung der Energiesteuer sogar zurück. Richtig ist – das will ich gern zugeben –, dass der Olav Gutting (CDU/CSU): Mehrwertsteueranteil gestiegen ist und dass in diesem Nein, nicht an dieser Stelle. Ich habe gerade erst an- kleinen Mehrwertsteuerbereich gefangen. (Frank Schäffler [FDP]: 19 Prozent!) (Widerspruch bei der LINKEN) tatsächlich Mehreinnahmen beim Fiskus vorhanden sind. Diese haben aber bei Weitem nicht ein Volumen Ich will nur daran erinnern, dass im letzten Jahr einige von 2,5 Milliarden Euro, wie Sie vorhin angeführt ha- deutsche Finanzgerichte die aktuelle Regelung der Pend- ben. Die Kosten für diese Regelung zur Pendlerpau- lerpauschale durchaus als verfassungskonform betrach- schale betragen 2,5 Milliarden Euro. Das ist aber nicht tet haben. Die Große Koalition hat die Abschaffung der das Mehr bei den Mehrwertsteuereinnahmen. Die etwas Pendlerpauschale zum Jahreswechsel 2006/2007 ökono- erhöhten Mehrwertsteuereinnahmen in diesem Bereich misch und finanzpolitisch gut begründet. Auch andere taugen also nicht zur Gegenfinanzierung. Länder wie die USA, Spanien oder Irland verfahren nach (Beifall des Abg. Leo Dautzenberg [CDU/ (B) dem Werkstorprinzip, nach dem die berufliche Sphäre (D) erst am Werkstor beginnt. CSU] – Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das müssen Sie aber der Frau Es gibt viele schwerwiegende – auch umwelt- und Haderthauer sagen!) raumordnungspolitische – Argumente, die für die Beibe- haltung der Abschaffung der Pendlerpauschale sprechen. Warum erzähle ich Ihnen das? Bei allem, was wir for- Dennoch sehe ich diesbezüglich Handlungsbedarf. Seit dern und tun, dürfen wir das Ziel des konsolidierten wir im Jahr 2006 die Abschaffung der Pendlerpauschale Haushalts nicht vergessen. Das Ziel ist der ausgegli- beschlossen haben, haben sich die Benzinpreise von chene Haushalt, und dieses Ziel müssen wir mit der Ent- 1,18 Euro auf über 1,50 Euro pro Liter entwickelt. Der lastung der Pendler in Übereinstimmung bringen. Der Preis für das Barrel Rohöl hat sich fast verdreifacht. Die- eingeschlagene Haushaltskonsolidierungskurs der Gro- ser massive Anstieg der Rohölpreise wurde vor allem ßen Koalition hat dabei absoluten Vorrang vor irgend- durch Spekulationen auf dem Weltmarkt hervorgerufen, welchen populistischen Schnellschüssen. die in dieser Form keiner vorhersehen konnte. (Beifall des Abg. Leo Dautzenberg [CDU/ CSU]) Wir werden wohl auch zukünftig eine Erhöhung der Spritpreise sehen. Im Hinblick darauf, dass China und In Verantwortung vor zukünftigen Generationen müs- Indien immer mehr Energie vom Weltmarkt absaugen, sen die Staatsfinanzen saniert werden. Zurzeit fließt je- die Förderung von Erdöl gleichzeitig aber immer teurer der sechste Steuereuro in den Schuldendienst. Selbst bei wird, kann jeder, der bis drei zählen kann, vorhersagen, einem ausgeglichenen Haushalt – einen solchen wollen dass die Energiepreise auch in Zukunft steigen werden. wir 2011 erreichen – müsste der Bund bei dem jetzigen Zinssatz immer noch über 40 Milliarden Euro allein für Jetzt gibt es einige, die meinen: Wenn der Liter Ben- Zinsen aufbringen. Ein ausgeglichener Haushalt allein zin 1,50 Euro kostet, dann klingelt beim Bundesfinanz- wird deswegen gar nicht ausreichen, um die Staatsfinan- minister die Kasse. zen zu sanieren. (Frank Schäffler [FDP]: So ist es!) (Frank Schäffler [FDP]: Endlich mal sparen!) Richtig ist, dass die Steuerbelastung bei Benzin und Die- Neben einer Schuldenbremse benötigen wir darum sel – Mineralölsteuer, Ökosteuer, Mehrwertsteuer – ganz eine kluge Wachstumspolitik. Jetzt sind wir wieder bei beträchtlich ist. Aber der allseits zu hörende Vorwurf, den Pendlern. Die hohen Energiepreise haben natürlich dass der Bundesfinanzminister der heimliche Profiteur Einfluss auf unser Wachstum. Wenn die Menschen keine der steigenden Spritpreise sei, ist so nicht ganz richtig. Arbeit aufnehmen, weil es sich aufgrund der hohen 17212 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008

Olav Gutting (A) Benzinpreise für sie gar nicht mehr lohnt, zur Arbeit zu (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (C) fahren, dann wird das Auswirkungen auf unser Wirt- neten der SPD und des Abg. Oskar Lafontaine schaftswachstum haben. Die Frage ist daher nicht, ob [DIE LINKE]) wir Pendlerinnen und Pendler entlasten, sondern die Frage ist lediglich, wie und wann. Vizepräsidentin Petra Pau: (Beifall bei der CDU/CSU) Zu einer Kurzintervention hat nun die Kollegin Dr. Barbara Höll das Wort. Man kann es sich natürlich einfach machen, wie es jetzt die Linke tut, und fordern: Her mit der alten Rege- lung! Ich pfeife auf die Schulden. Mögliche Vorgaben Dr. Barbara Höll (DIE LINKE): des Bundesverfassungsgerichts interessieren mich so- Danke, Frau Präsidentin. – Herr Gutting, ich möchte wieso nicht. – Seriöse Politik sieht anders aus. Wer sagt Sie fragen, ob Sie wirklich der Meinung sind, dass sich denn überhaupt, dass das Bundesverfassungsgericht bei das Hohe Haus in seiner Gesamtheit Ihrer abenteuerli- der zu erwartenden Entscheidung die alte Regelung noch chen Politikauffassung anschließen sollte, dass es richtig als verfassungskonform ansieht? ist, Gesetze wie dieses zu verabschieden, bei dem erstens eine ganze Reihe von Sachverständigen im Rahmen der Anhörung des Finanzausschusses darauf hingewiesen Vizepräsidentin Petra Pau: haben, Kollege Gutting, lassen Sie jetzt eine Zwischenfrage der Kollegin Dr. Höll zu? (Zuruf von der FDP: Das waren alle!) dass es nicht verfassungskonform ist, und bei dem zwei- Olav Gutting (CDU/CSU): tens die Situation bestand, dass das Bundesverfassungs- Nein. – Verfassungsrechtliche Sicherheit bei der Re- gericht im Rahmen des Urteils zur doppelten Haushalts- gelung der Pendlerpauschale werden wir erst nach der führung einige Jahren vorher das objektive Nettoprinzip Entscheidung von Karlsruhe haben. Deswegen macht es bestätigt hatte, gemäß dem allen Arbeitnehmerinnen und Sinn, die Entscheidung des Gerichts abzuwarten und erst Arbeitnehmern ermöglicht werden muss, ihre erwerbs- dann die politischen Spielräume innerhalb der rechtli- bedingten Ausgaben steuerlich geltend zu machen. Vor chen Vorgaben zu nutzen. diesem Hintergrund war es schon sehr abenteuerlich, hier das Gesetz zu verabschieden. Noch abenteuerlicher (Beifall bei der CDU/CSU) ist es, jetzt abwarten zu wollen, wie das Bundesverfas- Dieses Abwarten ist auch deshalb vertretbar, weil sungsgericht entscheidet. Wir können uns dieser aben- (B) schon heute die folgende Situation gegeben ist: Jeder teuerlichen Politikauffassung nicht anschließen. Wir (D) Pendler kann sich einen Freibetrag entsprechend der al- stützen uns mit unserem Antrag auf die Meinung vieler ten Regelung auf der Lohnsteuerkarte eintragen lassen. Sachverständiger, wonach der jetzige Zustand nicht ver- Das heißt, den Berufspendlern geht, wenn sie das auf ih- fassungskonform ist. rer Lohnsteuerkarte so eintragen lassen, zurzeit über- (Beifall bei der LINKEN) haupt nichts verloren. Lassen Sie mich zusammenfassen: Die Voraussetzun- Vizepräsidentin Petra Pau: gen, die im Zeitpunkt der Änderung der Pendlerpau- Herr Gutting, Sie haben die Möglichkeit zu einer Er- schale vorlagen, sind nicht mehr die gleichen wie heute. widerung, bitte. Mit dieser Erkenntnis, gemäß den zu erwartenden Vorga- ben des Bundesverfassungsgerichts und auf der Grund- Olav Gutting (CDU/CSU): lage einer seriösen Finanzierung wird sich die Unions- Liebe Kollegin Frau Dr. Höll, ich bewundere Ihren ju- fraktion der Pendlerinnen und Pendler annehmen. Wer in ristischen Scharfsinn, insbesondere, weil Sie, wie ich ge- diesem Land arbeitet, wer morgens aufsteht, wer für sich lesen habe, Philosophie studiert haben. Respekt! und seine Familie schuftet, wer dabei auch noch Flexibi- lität beweist und – nicht immer freiwillig – lange Weg- (Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Danke! Ich strecken zur Arbeit auf sich nimmt, lerne dazu!) (Frank Schäffler [FDP]: Der wird von dieser Lassen Sie mich aber darauf hinweisen, was ich vor- Regierung bestraft!) hin gesagt habe: In diesem und im letzten Jahr haben drei deutsche Finanzgerichte bereits die Verfassungsmä- der kann sich darauf verlassen, dass die Union an seiner ßigkeit dieser Regelung akzeptiert. Seite steht. (Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) NEN]: Der Bundesfinanzhof hat eine andere Ich plädiere deshalb für eine Neuregelung, die den zu er- Auffassung!) wartenden Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts ent- Gedulden Sie sich noch einige Wochen oder Monate! spricht und dabei das Ziel der Haushaltskonsolidierung Dann sind wir alle schlauer. Dann können wir hier gerne nicht über Bord wirft. Erst die Vorgaben aus Karlsruhe noch einmal darüber diskutieren. abwarten, dann die Neuregelung der Pendlerpauschale vornehmen! (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008 17213

(A) Vizepräsidentin Petra Pau: durchschauen. Sie wissen ganz genau, dass die CSU, (C) Der Kollege Dr. Volker Wissing spricht nun für die ebenso wie die CDU, für die Steuererhöhungen, die in FDP-Fraktion. dieser Großen Koalition beschlossen worden sind, steht; denn Sie haben das alles mitgemacht. (Beifall bei der FDP) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Dr. Volker Wissing (FDP): der LINKEN und des Abg. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! [SPD] – Eduard Oswald [CDU/CSU]: Bitte Zunächst einmal ist die Pendlerpauschale nicht abge- gehen Sie vorsichtig mit uns um! Man weiß schafft worden, lieber Kollege Gutting, sondern sie nicht, wann man sich wiedertrifft!) wurde erheblich eingeschränkt. Sie befinden sich auch in guter Gesellschaft. Selbst (Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- die SPD, die Steuererhöhungspartei in Deutschland, NEN]: Steuerrechtlich abgeschafft, steuertech- sagt: Wir wollen die alte Pendlerpauschale wiederhaben. nisch nicht!) (Widerspruch von der SPD – Zuruf der Abg. Ihrer Aussage, die Voraussetzungen haben sich seither Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- wesentlich verändert, stimme ich zu. Es ist nämlich seit- NEN]) her zu einem deutlichen Anstieg der Energiepreise ge- – Ja, Sie sind die Steuererhöhungspartei in Deutschland. kommen. Es ist seither auch zu erheblichen Mehrbelas- So ist das. tungen der Bürgerinnen und Bürger gekommen. (Beifall bei der FDP) (Oskar Lafontaine [DIE LINKE]: Sehr richtig!) Da kommt dann Herr Gabriel als Umweltminister und sagt, die Pendlerpauschale müsse wieder wie früher gel- Gleichzeitig ist seither das Steueraufkommen erheblich ten. Da fragt man sich: Wie kommt man denn auf so eine gestiegen, sodass es ganz richtig ist, dass wir heute ein- Idee? mal darüber reden, wie wir die Bürgerinnen und Bürger in Deutschland wieder entlasten können. (Frank Schäffler [FDP]: Der ist Vielflieger!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Wenn man einer Partei angehört, die die Pendlerpau- und bei der LINKEN sowie des Abg. Gert schale zusammengestrichen hat, die den Arbeitnehme- Winkelmeier [fraktionslos]) rinnen und Arbeitnehmern in die Tasche gegriffen hat, dann ist es doch unredlich, sich draußen hinzustellen und (B) Die Haltung zu dieser Pendler- bzw. Entfernungspau- zu sagen, das habe man nicht gewollt. Wenn Sie ehrlich (D) schale ist ein Paradebeispiel dafür, um einmal zu testen, wären, dann würden Sie hier Initiativen ergreifen, um wer hier wirklich ernsthaft für steuerliche Entlastung der das rückgängig zu machen, was Sie an finanzpolitischen Bürgerinnen und Bürger steht oder wer hier nur Lippen- Sünden beschlossen haben. bekenntnisse vor den Kameras draußen abgibt, in der Bevölkerung immer wieder einen falschen Eindruck er- (Beifall bei der FDP – Jörg Tauss [SPD]: weckt Wenn Sie ehrlich wären, würden Sie es korrekt darstellen!) (Florian Pronold [SPD]: Jetzt bin ich ge- spannt!) Kommen wir zu den Grünen. Das ist ja die Partei der hohen Energiepreise in Deutschland. Frau Höhn sagte, und hier genau das Gegenteil von dem beschließt, was in sie habe den Übeltäter entdeckt: Die Spekulanten seien den Parteiprogrammen steht. es. Über den Daumen gepeilt, so sagte sie, seien 10 bis (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten 20 Cent pro Liter an den Tankstellen auf internationale der LINKEN – Florian Pronold [SPD]: Wie Finanzspekulationen zurückzuführen. war denn die Haltung der FDP zur Pendlerpau- (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Das war aber schale? Sie waren doch immer für die Strei- ein dicker Daumen!) chung der Pendlerpauschale!) Ich möchte jetzt einmal auf die CSU zu sprechen Ich frage Sie: Wer hat denn die Ökosteuer eingeführt und kommen: Diese ist ja in dieser Legislaturperiode vom damit Energie systematisch teurer gemacht in Deutsch- finanzpolitischen Saulus zum Paulus geworden. Die land? Das waren doch Sie! Mehrwertsteuererhöhung haben Sie, liebe Kolleginnen (Beifall bei der FDP) und Kollegen von der CSU, mitbeschlossen, die Kür- zung der Pendlerpauschale haben Sie mitbeschlossen, Die hohen Energiepreise in Deutschland sind Spätfolgen die Kürzung des Sparerfreibetrages haben Sie mitbe- rot-grüner Umwelt- und Finanzpolitik. schlossen, die Abschaffung der Abzugsfähigkeit der (Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Steuerberatungskosten haben Sie mitbeschlossen. Jetzt NEN]: Das ist doch Quatsch! Die sind jahre- aber, wo die Bayern-Wahl näher rückt, erklären Sie uns, lang nicht angestiegen; das wissen Sie doch!) Sie hätten das alles niemals machen wollen und seien immer dagegen gewesen. Für so doof dürfen Sie die Auch das muss man bei diesem Thema hier einmal zur Menschen in Deutschland nicht halten, dass sie das nicht Sprache bringen. 17214 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008

Dr. Volker Wissing (A) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Während Sie in der rot-grünen Regierungszeit eine Steu- (C) der CDU/CSU) ererhöhung nach der anderen beschlossen haben Wenn die Bürger heute bei einem Preis von 1,50 Euro (Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ für einen Liter Benzin 89,4 Cent an Steuern zahlen müs- DIE GRÜNEN]: Ach du liebe Zeit! Glauben sen, dann ist das auch ein Ergebnis von sieben Jahren Sie das selbst?) rot-grüner Finanz- und Steuerpolitik. und nichts vorlegen, was die Mitte in Deutschland steu- (Beifall bei der FDP) erlich entlastet, stehen wir konsequent für das Gegenteil. Wir wollen den Menschen in Deutschland die Möglich- Frau Höhn kritisiert zu Recht die Spekulationen. Aber keit zurückgeben, in Wohlstand zu leben. viel schlimmer sind doch die Preistreiber, die in Ihrer Zeit Regierungsverantwortung hatten und die heute in (Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ der Großen Koalition Regierungsverantwortung haben. DIE GRÜNEN]: Das war aber eine Verlegen- heitsantwort!) (Ute Koczy [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir hätten heute bessere Autos, wenn wir das Wir sind nicht bereit, hinzunehmen, dass die Löhne und gemacht hätten! Dann hätten die Leute weni- Gehälter in Deutschland um 3,5 Prozent sinken, die ger zu bezahlen!) Steuereinnahmen in der gleichen Zeit um 19 Prozent steigen Benzin hat heute einen Literpreis von 1,50 Euro; da- von entfallen 59,6 Prozent auf Steuern. Sie brauchen als (Rainder Steenblock [BÜNDNIS 90/DIE Grüne die Verantwortlichen nicht auf den internationalen GRÜNEN]: Schauen Sie doch mal in Ihr eige- Finanzmärkten zu suchen. Schauen Sie sich die Regie- nes Programm!) rungsbank an, und schauen Sie auch einmal in Ihre eige- und den Menschen, wenn sie Probleme mit den hohen nen Reihen! Sie sind die Vertreter der Partei der hohen Energiepreisen haben, nichts zurückgegeben wird und Energiekosten in Deutschland. sie im Regen stehen gelassen werden. Dazu ist die FDP (Ute Koczy [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: nicht bereit. Lächerlich!) (Beifall bei der FDP – Christine Scheel Wenn Sie für die Finanzinvestoren die Rote Karte ziehen [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Frage ha- wollen, dann ziehen Sie sie auch vor der rot-grünen und ben Sie nicht beantwortet! Das ist doch alles der schwarz-roten Energieverteuerungspolitik. großer Quatsch! – Zuruf des Abg. Jörg Tauss [SPD]) Wir werden Ihnen von der CSU die Möglichkeit ge- (B) (D) ben, hier darüber abzustimmen und klar Farbe zu beken- – Herr Kollege Tauss, Sie sind einer derjenigen, die die nen, ob Sie das Steuerkonzept und die Steuersenkungen, Kürzung der Pendlerpauschale beschlossen haben, und die Sie in Bayern den Menschen versprechen, auch hier einer derjenigen, die die Erhöhung der Mehrwertsteuer im Deutschen Bundestag vertreten. Das ist eine Glaub- um 3 Prozent beschlossen haben, wodurch die Energie- würdigkeitsfrage, und wir werden Ihnen Gelegenheit ge- kosten in Deutschland verteuert wurden. Sie sind einer ben, diese Glaubwürdigkeitsfrage vor den Wählerinnen der Mitverantwortlichen dafür, dass Arbeitnehmerinnen und Wählern rechtzeitig zu beantworten. und Arbeitnehmer sinkende Einkommen in Deutschland haben. Ich glaube, Sie sollten hier weniger lautstark da- Vizepräsidentin Petra Pau: zwischenrufen Kollege Wissing, wenn Sie eine Zwischenfrage ge- (Jörg Tauss [SPD]: Seriös bleiben!) statten, dann können wir das mit der soeben überzoge- nen Redezeit noch vertreten. und sich stattdessen die Frage stellen, was die Bilanz der von Ihnen mitverantworteten Politik in dieser Großen Koalition ist. Dr. Volker Wissing (FDP): Ich lasse die Zwischenfrage gerne zu. Meine Damen und Herren, die Bayern sind nicht auf den Kopf gefallen. Sie werden es Ihnen nicht abnehmen, Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- wenn Sie vor der Bayern-Wahl eine Senkung der Steuern NEN): versprechen und sich hinterher nicht mehr daran erin- Herr Kollege Wissing, ich wollte Sie nur fragen, wie nern lassen. Wir lassen Ihnen das nicht durchgehen. das, was Sie gerade zu den Umweltsteuern vorgetragen haben, zur Programmlage Ihrer Partei und insbesondere Vizepräsidentin Petra Pau: zu dem entsprechenden Beschluss, den Sie zu den Um- Kollege Wissing, Sie müssen jetzt wirklich zum weltsteuern gefasst haben, passt. Schluss kommen.

Dr. Volker Wissing (FDP): Dr. Volker Wissing (FDP): Lieber Kollege Schick, im Gegensatz zu Ihnen vertre- Ich komme zum Ende. ten wir konsequent eine Politik der steuerlichen Entlas- Sie wissen ganz genau, dass alle Sachverständigen in tung der Mitte in Deutschland. der Anhörung gesagt haben, dass die Regelung, die Sie (Beifall bei der FDP) zur Pendlerpauschale beschlossen haben, mit der Verfas- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008 17215

Dr. Volker Wissing (A) sung nicht vereinbar ist. Sie haben sie trotzdem einge- ein schwerer Fehler gewesen, der Kürzung der Pendler- (C) führt. Das wird Ihnen völlig zu Recht auf die Füße fal- pauschale zuzustimmen. Wie gesagt, es wundert mich, len. dass er heute nicht geredet hat. Denn Erwin Huber hat noch vor kurzem im Fernsehen erklärt, dass er nie etwas (Beifall bei der FDP) mit der Kürzung der Pendlerpauschale zu tun hatte. Es besteht in dieser Sache also ein kleiner Widerspruch. Vizepräsidentin Petra Pau: Für die SPD-Fraktion hat nun der Kollege Florian (Frank Schäffler [FDP]: Was ist denn Ihre Pronold das Wort. Auffassung?) (Beifall bei der SPD) Es stellt sich die Frage nach der Historie. Die Historie ist, dass die SPD die Pendlerpauschale ab dem ersten Ki- lometer beibehalten wollte. Florian Pronold (SPD): Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! (Frank Schäffler [FDP]: Wieso haben Sie dann Wenn es jemandem gelingt, Pinocchio und Münchhau- zugestimmt?) sen in den Schatten zu stellen, dann dem Kollegen Die Union hat sich aber in diesem Punkt der Koalitions- Wissing. Diese Ansammlung von Lügen und Falschdar- vereinbarung durchgesetzt. stellungen, die er gerade präsentiert hat, ist in diesem Haus fast schon einmalig. (Zurufe von der FDP: Oh!) (Widerspruch bei der FDP – Wir haben dafür die Steuerfreiheit der Nacht- und Sonn- [FDP]: Das mit der Lüge nehmen Sie zurück! tagsarbeit erhalten können. Aber sofort! Das ist unverschämt!) Wir haben der Union zweimal angeboten – das habe Erste Wahrheit. Die höchste Steuerbelastung in der ich hier schon mehrfach erwähnt –, diese Regelung zu Geschichte der Bundesrepublik Deutschland und die ändern. Dieser Vorstoß ist aber jeweils gescheitert. meisten Steuererhöhungen hat die FDP während ihrer (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Sie müssen Regierungszeit mitzuverantworten. aber eine selektive Wahrnehmung haben!) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Deswegen kommen wir zu dem bedauerlichen Ergebnis, DIE GRÜNEN – Widerspruch bei der FDP – dass man die Entscheidung des Bundesverfassungsge- Otto Fricke [FDP]: Wann war das?) richts abwarten muss. Denn innerhalb der Koalition be- – Das ist so. Man kann dies anhand von Fakten nachwei- kommen wir keine Mehrheit für eine andere Regelung. (B) sen. Ich kann dies anhand von Fakten und von Erklärungen (D) dokumentieren. Zweite Wahrheit. Wer redet denn immer von einem vereinfachten Steuerkonzept und lobt in diesem Zusam- Aus unserer Sicht kommt die Pendlerpauschale den menhang den Kirchhof? Das sind doch Sie. Kirchhof Menschen zugute, die flexibel sind und arbeiten gehen. und die FDP fordern aber die komplette Abschaffung der Pendlerpauschale als unzulässige Steuersubvention. Vizepräsidentin Petra Pau: Wenn Sie sich jetzt hier hinstellen und die Pendlerpau- Kollege Pronold, gestatten Sie eine Zwischenfrage schale verteidigen, dann ist das mehr als eine Lüge. Das des Kollegen Spieth? ist schon eine Frechheit und eine Wählerverdummung. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Florian Pronold (SPD): DIE GRÜNEN – Frank Schäffler [FDP]: Was Ja, immer. sagen Sie denn zur Regelung der Pendlerpau- schale?) Frank Spieth (DIE LINKE): Ich komme zum eigentlichen Thema, nämlich zur Besten Dank, Herr Kollege Pronold. – Ich habe eine Pendlerpauschale. zweigeteilte Frage. Der haushaltspolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, , hat vor (Frank Schäffler [FDP]: Sind Sie dafür oder vier Wochen in der Thüringer Allgemeinen erklärt: dagegen?) Sollte uns das Bundesverfassungsgericht entgegen mei- – Das habe ich schon mehrmals dargestellt. Ich kann Ih- ner Auffassung dazu verurteilen, die Pendlerpauschale nen es gerne noch einmal erklären. wieder ab dem ersten Kilometer zu zahlen, dann werden wir, weil keine Gelder im Steuersäckel vorhanden sind, (Otto Fricke [FDP]: Dann los!) diese Pendlerpauschale für alle halbieren. Der vorliegende Antrag beinhaltet eine Forderung der Herr Finanzminister Steinbrück hat kürzlich erklärt: CSU. Deshalb bin ich überrascht, dass ein Abgeordneter Sollte uns das Bundesverfassungsgericht dazu verurtei- von der CDU dazu gesprochen hat. Ich hätte mich ge- len, ab dem ersten Kilometer zu zahlen, müssen wir freut, wenn der Kollege Rupprecht, der sich am letzten ernsthaft darüber nachdenken, von der Pendlerpauschale Freitag zur Pendlerpauschale geäußert und bei der Gele- ganz Abstand zu nehmen und das sogenannte Werkstor- genheit ein „Mea culpa“ abgegeben hat, zu diesem prinzip einzuführen, das heißt, Kosten nur noch ab Thema gesprochen hätte. Er hat nämlich gesagt, es sei Werkstor zu erstatten. 17216 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008

Frank Spieth (A) Welche dieser beiden Positionen wird denn nun von Pendlerpauschale ab dem ersten Kilometer einführen (C) der SPD-Bundestagsfraktion vertreten? Ich glaube, die werden und wir, weil wir eine seriöse Politik machen, Bürgerinnen und Bürger hätten in diesem Punkt gerne eine Gegenfinanzierung für die Steuerausfälle finden Klarheit. müssen, die dadurch entstehen. (Beifall bei der SPD – Frank Schäffler [FDP]: Florian Pronold (SPD): Und wie hoch wird die sein? – Weiterer Zuruf Zuerst darf ich einmal darauf hinweisen, dass jeder des Abg. Otto Fricke [FDP]) Steuerausfall einer Gegenfinanzierung bedarf. Das ist der Linken vielleicht nicht bewusst. – Es wurde gerade der Zuruf gemacht, wir hätten keine Gegenfinanzierung. Das ist falsch. Die SPD hat es im- (Beifall bei der SPD) mer anders gemacht, als es jetzt andere tun. Wenn ich mir alle Ihre Forderungen anschaue, dann (Frank Schäffler [FDP]: Wie hoch wird die wundert es mich schon, wie man immer davon ausgehen Pendlerpauschale sein?) kann: Man verschenkt etwas und gibt gleichzeitig das, was man verschenkt hat, noch einmal als Staatsausgabe Denn jeder unserer Vorschläge dazu, wie wir zur Ge- aus. Das geht nicht. währung der Pendlerpauschale ab dem ersten Kilometer zurückkommen, war immer – sei es damals in den (Frank Spieth [DIE LINKE]: Können Sie eine Berichterstattergesprächen, sei es in den Debatten im Antwort geben?) Deutschen Bundestag oder sei es im November 2007 im – Natürlich. Aber ich will diesen zentralen Hinweis ge- Koalitionsausschuss – mit einem Gegenfinanzierungs- ben. vorschlag unterlegt. Für uns steht im Mittelpunkt eine solide Finanzpolitik, die den Leuten kein Wolkenku- Wenn das Bundesverfassungsgerichtsurteil vorliegt, ckucksheim verspricht, sondern eine Gegenfinanzierung werden wir zwei Antworten haben, nämlich auf die bei- vorsieht. den von Ihnen gestellten Fragen. Das Erste ist: Wie Sie wissen, muss eine Pauschale mit den realen Kosten zu tun haben. Die Grünen werden nachher vermutlich sa- Vizepräsidentin Petra Pau: gen: Auch wir waren immer für die Pendlerpauschale. – Kollege Pronold, lassen Sie eine Zwischenfrage des Aber hier im Bundestag sind sie auch einmal für eine Kollegen Schäffler zu? Halbierung auf 15 Cent eingetreten. (Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Florian Pronold (SPD): NEN]: Aber ab dem ersten Kilometer und ver- Wenn meine Redezeit dadurch wieder verlängert (D) (B) fassungskonform!) wird, nehme ich das gerne in Kauf. Das ist aus meiner Sicht verfassungsrechtlich schwer haltbar, weil eine solche Pauschale nicht mehr die realen Vizepräsidentin Petra Pau: Kosten abdeckt, die sie abdecken muss, damit sie verfas- Die Zeit wurde schon wieder angehalten, wie Sie se- sungskonform ist. hen. (Frank Schäffler [FDP]: Wird sie jetzt halbiert oder nicht?) Frank Schäffler (FDP): Herr Kollege Pronold, Sie haben gerade erklärt, dass Das ist meine Rechtsauffassung zu dieser Frage. Ich Sie für die Pendlerpauschale ab dem ersten Kilometer gehe davon aus, dass das Bundesverfassungsgericht sind. Wie hoch soll denn dann die Pendlerpauschale auch dazu etwas sagen wird. sein? Die zweite Antwort – dies wurde im BFH-Urteil an- gesprochen – betrifft das Werkstorprinzip. Im Kern Florian Pronold (SPD): haben wir mit der Beschlusslage des Deutschen Bundes- Wir haben damals einen Gegenvorschlag unterbreitet, tages das Werkstorprinzip eingeführt, weil die Pendler- der 25 Cent und nicht 30 Cent ab dem ersten Kilometer pauschale zwar abgeschafft worden ist, aber ab dem vorgesehen hat. Das war der Versuch, über diesen Weg 21. Kilometer de facto gezahlt wird. Der BFH – auch einen Teil der Gegenfinanzierung zustande zu bekom- frühere Rechtsprechungen des Bundesverfassungsge- men. Die Gegenfinanzierung betraf auch noch andere richts – hat in seinem Urteil sehr ausführlich darauf hin- Bereiche. Wir haben aber das, was Ausgangspunkt der gewiesen, dass man das Werkstorprinzip prinzipiell ein- Debatte war, nämlich das absehbare Urteil, zu berück- führen kann, dass es aber zum Nettoprinzip passen und sichtigen, also die realen Kosten der Betroffenen. es im gesamten Steuerrecht entsprechende Konsequen- zen geben muss. (Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Frank Schäffler [FDP]: Wird die Pendlerpau- NEN]: Sie wollten den Arbeitnehmerpausch- schale jetzt halbiert oder nicht? Das war doch betrag senken! Das wäre unmöglich gewesen! – die Frage! – Dr. Volker Wissing [FDP]: Wofür Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Sie wollen an sind Sie denn jetzt?) den Pauschbetrag noch weiter heran!) – Nein. Vielleicht hören Sie einfach zu! Deswegen gehe ich davon aus, dass wir, wenn das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vorliegt, wieder eine (Zuruf des Abg. Frank Schäffler [FDP]) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008 17217

Florian Pronold (A) – Ich meine in diesem Fall nicht Sie, sondern die ande- Die CSU hat diese Position einstimmig formuliert. (C) ren Kolleginnen und Kollegen. Ihre Frage ist beantwor- Ich frage Sie an dieser Stelle, ob Sie in der SPD Ähnli- tet; Sie dürfen sich setzen. ches bewerkstelligen können. Können Sie einen entspre- chenden Parteitags- oder Gremienbeschluss zustande Wir müssen seriös gegenfinanzieren. Sie behaupten bringen? Können Sie den Finanzminister dahin gehend zwar, dass das alles einfach ist. Aber zum Schluss muss überzeugen? Wenn dem so ist, können wir das – davon man das addieren, und dann muss der Haushalt aufge- bin ich überzeugt – zügig gemeinsam beschließen. hen. Das wird nicht der Fall sein, wenn man das so macht, wie das hier gefordert wird. Die Menschen haben (Beifall bei der CDU/CSU) es satt, dass man ihnen etwas verspricht und man davon nachher nichts mehr hört. Deswegen ist die einzige Ant- Vizepräsidentin Petra Pau: wort, die man darauf geben kann, die der SPD: Wir ste- hen zur Haushaltskonsolidierung, sind aber sehr wohl Sie haben die Möglichkeit zur Erwiderung. bereit, zu einer Pendlerpauschale ab dem ersten Kilome- ter zurückzugehen. Wir haben das in diesem Haus immer Florian Pronold (SPD): vertreten; dies stand schon in unserem Wahlprogramm. Herr Kollege Rupprecht, wir haben, wie Sie vielleicht (Dr. Volker Wissing [FDP]: Sie haben doch für wissen – manchmal vergisst man das ja –, eine Koalition die Kürzung gestimmt! Sie haben das hier be- aus drei Parteien. schlossen! – Weitere Zurufe von der FDP) (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Bisher ist alles Wir werden dies im Lichte des Verfassungsgerichtsur- in Ordnung!) teils umsetzen. Nachdem die SPD sowohl im Jahr 2005 – ich kann Herzlichen Dank. Ihnen den Brief an Herrn Ramsauer vorlesen, in dem wir Sie aufgefordert haben, bei der Pendlerpauschale für Än- (Beifall bei der SPD) derungen einzutreten – als auch im November 2007 – Herr Struck hat in einer Sitzung des Koalitionsausschus- Vizepräsidentin Petra Pau: ses gesagt, dass wir bereit sind, die Pendlerpauschale ab Kollege Pronold, diese Debatte wird zweifelsfrei sehr dem ersten Kilometer zu gewähren, und auch Herr emotional geführt. Ich bitte aber darum, dass Tatsachen- Steinbrück hat sich für diesen Vorschlag offen gezeigt – behauptungen, die in Bezug auf Kollegen in den Raum Vorstöße gemacht hat, ist es nun an der CSU, die CDU gestellt werden, zum Beispiel, dass sie gelogen haben, zu überzeugen, damit wir das hinbekommen können. belegt werden oder andere Worte gefunden werden, um Dann werden wir das machen. (B) Empörung auszudrücken. (D) (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Da war schon (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten etwas dran! Das Bohren dicker Bretter!) der LINKEN) Das Wort zu einer Kurzintervention hat der Kollege Vizepräsidentin Petra Pau: Rupprecht. Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun die Kollegin Christine Scheel das Wort. Albert Rupprecht (Weiden) (CDU/CSU): Lieber Kollege Pronold, nachdem ich persönlich und Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): die CSU mehrfach angesprochen wurden, betone ich Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! noch einmal, was ich vor einer Woche hier im Plenum Wir finden es klasse, dass die Koalition ihre internen formuliert habe: Es war ein Fehler, die Pendlerpauschale Verhandlungen mittlerweile im Plenum führt. Man muss derart zu kürzen. sich aber schon fragen, ob es diese Koalition überhaupt Zur Erinnerung an die damalige Situation: ein struk- noch gibt. turelles Defizit im Haushalt in Höhe von 60 Milliarden (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Euro; darüber hinaus 5 Millionen Arbeitslose, was ver- bei der FDP und der LINKEN) heerende Folgen für diesen Haushalt hatte. In dieser Notsituation haben sich die CSU-Parlamentarier auf Ba- Innerhalb der Koalition gibt es mindestens drei verschie- sis einer fachlichen Einschätzung des Bundesfinanzmi- dene Meinungen zum gleichen Thema, nisteriums, nach der die Änderung verfassungskonform ist, dazu durchgerungen, die Entscheidung mitzutragen. (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Das ist wie bei den Grünen!) Die Zeiten haben sich geändert. Beim Bundeshaushalt und in anderen Punkten haben wir wesentliche Verbesse- obwohl man behauptet hat, man sei sich einig. Das kann rungen erreicht. Deswegen haben wir intensiv darüber man aber wirklich nicht feststellen. diskutiert und entschieden, dass wir als Partei für die Was war die Ausgangssituation? Die Linke hat die Rückkehr zur ursprünglichen Pendlerpauschale eintre- Wiedereinführung der Pendlerpauschale beantragt, weil ten: 30 Cent ab dem ersten Kilometer, und zwar nicht, der Parteivorstand der CSU das kürzlich beschlossen wie es die SPD will, auf Kosten des Pauschbetrages. hat. In dem Beschluss heißt es – die Formulierung finden (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) wir auch im Antrag der Linken –: 17218 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008

Christine Scheel (A) Der Systemwechsel bei der Pendler-Pauschale zu Das haben Sie hier nicht beantwortet. Sie haben herum- (C) Beginn des Jahres 2007 hat sich als das Ärgernis schwadroniert, die FDP sei die große Steuersenkungs- für viele Arbeitnehmer herausgestellt. partei. Jetzt weiß man, warum diese Debatte so verläuft, wie sie verläuft: weil im September Landtagswahlen in Bay- Vizepräsidentin Petra Pau: ern stattfinden. Der Volksmund sagt dazu: weil der CSU Kollegin Scheel, lassen Sie eine Zwischenfrage der der Arsch auf Grundeis geht. Kollegin Dr. Höll zu?

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Eduard Oswald [CDU/CSU]: Was sind denn Oh ja. das für Formulierungen? – Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Diese einer Dame unwürdigen Äußerungen müssen Sie rügen, Frau Präsiden- Dr. Barbara Höll (DIE LINKE): tin! Frau Scheel, ich bin entsetzt!) Liebe Kollegin Scheel, da Sie nur vier Minuten Rede- zeit haben, Dazu sagen wir: So kann man keine Politik machen. (Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) NEN]: Ja, das ist schade!) Wir müssen berücksichtigen, mit welch großer Leiden- sich bis jetzt sehr intensiv mit den anderen Parteien aus- schaft sich die Abgeordneten der CDU/CSU und der einandergesetzt haben und ich nicht weiß, ob Sie noch SPD im Finanzausschuss dieses Themas angenommen zur Darstellung Ihrer eigenen Position kommen werden, haben. Zur Haushaltskonsolidierung wollte man einen wollte ich Folgendes fragen: Sie haben, als wir das Beitrag in der Größenordnung von 2,5 Milliarden Euro Thema vor kurzem im Finanzausschuss beraten haben, leisten. Alle haben gesagt: Wir haben jetzt die richtige vehement vertreten, dass Sie schon immer gegen die Ab- Lösung gefunden und keine verfassungsrechtlichen Pro- schaffung der Entfernungspauschale waren. Am glei- bleme. Unsere Juristinnen und Juristen haben das ge- chen Tag erschien ein Artikel in der Financial Times, in prüft. Alle haben gesagt: Wir haben einen guten Konsens dem versucht wurde, die Steuerkonzepte der Parteien ge- gefunden. genüberzustellen. Da wurde Kollege Schick mit der Aussage zitiert, die Grünen seien natürlich für die Ab- Mittlerweile will bei Ihnen niemand mehr etwas von schaffung der Entfernungspauschale. Diesen Punkt dieser Entscheidung wissen. Ich bitte Sie, wenn es so ist, würde ich gerne klargestellt haben, damit man in der po- den Mut zu haben und zu sagen, wie Sie es gemeinsam (B) litischen Debatte weiß, wie die Mehrheitsmeinung Ihrer (D) haben wollen. Bieten Sie den Leuten nicht alles Mögli- Fraktion ist. che an, nicht jeder etwas anderes, je nachdem, wo er ge- rade ist. Jedem wird nach dem Mund geredet. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)

(Frank Spieth [DIE LINKE]: Was wollen denn Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): die Grünen?) Vielen Dank für die Frage. Sie gibt mir die Gelegen- Am Ende sagen die Leute: Wir werden von der Politik heit, ein bisschen länger zu reden. Das finde ich klasse. nicht mehr ernst genommen. Die Politikverdrossenheit (Dr. Volker Wissing [FDP]: Wir auch!) wächst dadurch. Mit diesem Punkt müssen wir uns auch unter demokratischen Gesichtspunkten auseinanderset- Ich möchte auf die Frage hin noch einmal in Erinnerung zen. Man muss sich fragen, was für ein Bild Sie in der rufen, dass die Einführung der Entfernungspauschale in Öffentlichkeit abgeben. Das ist das große Problem. der Form, den Bürgern und Bürgerinnen ab dem ersten Kilometer einen bestimmten Betrag zur Verfügung zu (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN stellen, und zwar unabhängig davon, ob sie mit dem sowie bei Abgeordneten der FDP) Fahrrad, mit der Bahn, mit dem Bus oder mit dem Auto zur Arbeit fahren, damit wir die Verkehrsträger gleich – Jetzt klatscht auch die FDP. Das freut mich. Aber ich behandeln, ein Vorschlag der Grünen gewesen ist. Das muss sagen, Kollege Wissing, war ein Riesenfortschritt zur Vereinfachung. Diesen (Frank Schäffler [FDP]: Er hat eine gute Rede Fortschritt hätten wir gerne weiterentwickelt, und zwar gehalten!) an verschiedenen Punkten, Frau Abgeordnete. hinsichtlich der Umweltpolitik gibt es bei der FDP nur Wir haben die ganz klare Aussage getroffen, dass wir ein ganz tiefes schwarzes Loch. In Ihrem Programm ha- bei der Entfernungspauschale mit dem Betrag herunter- ben Sie geschrieben, dass man in der Energiepolitik Ver- gehen, sie aber aus verfassungsrechtlichen Gründen ab änderungen braucht und ökologische Anreize setzen dem ersten Kilometer für alle gewähren würden. Dazu muss. Das liest man bei Ihnen hie und da. Ich frage Sie: gehört auch, liebe Kollegin, dass wir möchten, dass die Wie sollen diese ökologischen Anreize gesetzt werden? Politik die Rahmenbedingungen so setzt, dass für die Bürger und Bürgerinnen die Möglichkeit besteht, Fahr- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – zeuge zu kaufen, die weniger Sprit verbrauchen. Deswe- Dr. Volker Wissing [FDP]: Wir waren aber im- gen muss die Automobilindustrie in Deutschland in mer gegen Ihre Ökosteuer!) diese Richtung angeschoben werden. Das alles gehört Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008 17219

Christine Scheel (A) zusammen. Die Grünen haben Gesamtkonzepte, und (Dr. Volker Wissing [FDP]: Wovon reden Sie (C) zwar kurz-, mittel- und langfristig. da? Was denn für Zinsen?) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Als Sie abgewählt wurden und wir die Regierung über- Dr. Volker Wissing [FDP]: Sie haben Kon- nommen haben, hatte die Bundesrepublik Deutschland zepte zur Verteuerung der Energiepreise!) nur noch 2 Milliarden Euro Zinsen. So viel zur „erfolg- reichen“ Politik der FDP. Deswegen sind wir von allen Fraktionen im Deutschen Bundestag hinsichtlich der Ökologie und des Ernstneh- (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Thomas mens von Arbeitnehmern und Arbeitnehmerinnen und Oppermann [SPD]: Eine niederschmetternde deren Belastungen am besten aufgestellt. Bilanz! – Frank Schäffler [FDP]: Das ist ja eine geradezu niederschmetternde Bilanz, Frau Danke schön. Kollegin! Das hat jetzt allerdings leider nie- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) mand verstanden!) – Sie zumindest haben es verstanden. Sonst würden Sie Vizepräsidentin Petra Pau: jetzt nicht so von unten erröten und dann von oben wie- Für die SPD-Fraktion hat nun die Kollegin Gabriele der blass werden, Herr Schäffler. Frechen das Wort. (Heiterkeit bei der SPD – Frank Schäffler (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten [FDP]: Ich erröte? Wenn ich erröte, dann pas- der CDU/CSU) siert meist etwas anderes! – Heiterkeit bei der FDP) Gabriele Frechen (SPD): Es tut mir aber gut, zu sehen, wie Sie die Farbe wech- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und seln. Kollegen! Ich kann es fast nicht mehr sehen: schon wie- Zur Entfernungspauschale hat Kollege Pronold genug der Pendlerpauschale. Das erinnert mich an Wilhelm gesagt; das möchte ich nicht noch einmal deutlich ma- Busch und die Witwe Bolte: Wovon man besonders chen. schwärmt, wenn es wieder aufgewärmt. So verhält es sich hier mit der Entfernungspauschale. Frau Scheel hat (Dr. Volker Wissing [FDP]: Oh nein! Bitte uns Gott sei Dank deutlich gemacht – wir haben mit drei nicht! Bitte machen Sie nicht noch einmal et- Parteien in zwei Fraktionen manchmal zwei Meinungen –, was deutlich!) dass die Grünen nur eine Fraktion brauchen, um drei (B) Denn ich sage in jeder meiner Reden, dass wir ursprüng- (D) Meinungen zustande zu kriegen. Oskar Lafontaine lich ein anderes Konzept hatten, uns aber leider nicht bringt jetzt einen völlig neuen Vorschlag ins Spiel. durchsetzen konnten. Herr Gutting hat recht, wenn er (Frank Schäffler [FDP]: Nur die FDP ist sich darauf hinweist, dass wir uns in einer Haushaltssituation einig!) befanden, die uns dazu zwang; das hat auch Herr Rupprecht in seiner Kurzintervention ausgeführt. In Ihrem Antrag steht aber nicht, dass man mit dem Geld, das man aufgrund der Pendlerpauschale bekommt, Wir sind auch heute noch nicht aus dem Gröbsten die Stromrechnung bezahlen soll. raus. Herr Engels, der Präsident des Bundesrechnungs- hofes, hat gesagt, dass im Bundeshaushalt insgesamt (Lachen bei der LINKEN) 22 Milliarden Euro fehlen; Das hat Herr Lafontaine erst jetzt in seinen mündlichen (Frank Schäffler [FDP]: Wir hatten doch keine Ausführungen so vorgetragen. andere Wahl!) Herr Dr. Wissing und die FDP sind übrigens ganz toll. so viel zum Thema Steuermehreinnahmen. Außerdem machte er deutlich: (Beifall bei der FDP – Zurufe von der FDP: Oh ja! – Allerdings! – Endlich nehmen Sie das Bevor diese Lücke geschlossen ist, darf es keine zur Kenntnis! – Siegmund Ehrmann [SPD], Steuerentlastung geben. Alles andere wäre unse- zur FDP gewandt: Zuhören, Leute!) riös. Ich möchte Ihnen eine Grafik zeigen. (Dr. Volker Wissing [FDP]: Aber eine Ausga- benerhöhung darf es geben, ja? – Frank (Die Rednerin hält ein Schriftstück hoch) Schäffler [FDP]: Genau! In diesem Jahr sind Sie können sie wahrscheinlich nicht genau erkennen. es über 4 Prozent!) – Wenn Sie mir eine Zwischenfrage stellen, sage ich (Frank Schäffler [FDP]: Wohl wahr! – Otto dazu etwas. Fricke [FDP]: Sind Sie sicher, dass Sie das richtig herum halten?) (Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU) Damit jeder weiß, was auf diesem Bild zu sehen ist: Als Sie an die Regierung kamen, betrugen die Zinsen der Richtig ist aber auch: Ein ausgeglichener Haushalt ist Bundesrepublik Deutschland 40 Milliarden. kein Wert an sich. Wenn wir die Aussage, dass Kinder 17220 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008

Gabriele Frechen (A) unsere Zukunft sind, ernst meinen, dann müssen wir verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung (C) auch die notwendige Verhandlungsmasse und die erfor- so beschlossen. derlichen Spielräume schaffen, damit sie wirklich unsere Zukunft werden können. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 10 a und 10 c auf: a) – Zweite und dritte Beratung des von den Fraktio- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten nen der CDU/CSU und der SPD eingebrachten der CDU/CSU – Dr. Volker Wissing [FDP]: Entwurfs eines Gesetzes über die Anpassung Ja! Und Ihnen muss man Ihre Spielräume neh- von Dienst- und Versorgungsbezügen im Bund men, damit die Bürger endlich entlastet wer- 2008/2009 (Bundesbesoldungs- und -versor- den können! – Frank Schäffler [FDP]: Wer re- gungsanpassungsgesetz 2008/2009 – BBVAnpG giert uns eigentlich seit zehn Jahren?) 2008/2009) Dazu gehört, nicht ständig neue Schulden zu machen, – Drucksache 16/9059 – die letztlich unsere Kinder bezahlen müssen. – Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat (Dr. Volker Wissing [FDP]: Wer wehrt sich eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur denn gegen ein Neuverschuldungsverbot? Das Änderung des Bundesbesoldungsgesetzes ist doch die SPD!) – Drucksache 16/1033 – Dazu gehört auch Verständnis für die ältere Generation. Beschlussempfehlung und Bericht des Innenaus- (Frank Schäffler [FDP]: Noch einmal: Wer schusses (4. Ausschuss) regiert seit zehn Jahren?) – Drucksache 16/9341 – Dazu gehört Respekt. Dazu gehört aber auch Verständnis für die Generation, die heute in Beschäftigung ist; denn Berichterstattung: auch diese Generation darf man nicht überfordern. Abgeordnete Ralf Göbel Siegmund Ehrmann Das schaffen wir nur gemeinsam. Es ist wichtig, dass Dr. Max Stadler wir einen Konsens aller Generationen finden, Petra Pau (Dr. Volker Wissing [FDP]: Das stimmt! Aber Silke Stokar von Neuforn Sie finden immer nur einen Konsens, der ge- – Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss) gen die Bürger gerichtet ist!) gemäß § 96 der Geschäftsordnung (B) damit wir gemeinsam die richtige Politik machen kön- – Drucksache 16/9347 – (D) nen. Ich kann Ihnen sagen: Die SPD ist auf dem richti- gen Weg. Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Michael Luther (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Lachen bei der Linken) Jürgen Koppelin Was war in dieser Woche in der Frankfurter Rundschau Alexander Bonde zu lesen? c) Beratung des Berichts des Innenausschusses Auch wenn es unpopulär ist: Für die SPD ist ein (4. Ausschuss) gemäß § 62 Abs. 2 der Geschäfts- Lob fällig. Ihr Finanzkonzept ist gar nicht so ordnung zu dem von der Bundesregierung einge- schlecht. brachten Entwurf eines Dritten Gesetzes zur (Otto Fricke [FDP]: Vorsicht, Frau Kollegin! Änderung des Bundesministergesetzes Das riecht!) – Drucksachen 16/5052, 16/9342 – Überzeugend stellt sie klar, was wichtig ist und was Berichterstattung: bloß wünschenswert. Abgeordneter Sebastian Edathy Ich finde es richtig, das Wichtige jetzt zu tun und für das Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Wünschenswerte in Zukunft zu kämpfen. Das ist zu- Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre kunftsfähige Politik. keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege der CDU/CSU – Frank Spieth [DIE LINKE]: Ralf Göbel für die Unionsfraktion. Das machen wir dann 2019!) (Beifall bei der CDU/CSU) Vizepräsidentin Petra Pau: Ralf Göbel (CDU/CSU): Ich schließe die Aussprache. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf In der letzten Sitzungswoche hatten wir bereits das Ver- Drucksache 16/9167 an die in der Tagesordnung aufge- gnügen, uns schon einmal mit diesem Gesetz zu beschäf- führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Sind Sie damit ein- tigen. Allerdings war der Inhalt etwas anders als heute. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008 17221

Ralf Göbel (A) Ich will deshalb nicht mehr sehr viel zu den Detail- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und (C) regelungen des Gesetzes sagen, sondern eingangs nur der SPD – Maik Reichel [SPD]: Es wird schon noch einmal auf den Einsparbeitrag hinweisen, den die noch eine Mehrheit dafür geben!) Beamtinnen und Beamten des Bundes in den vergange- Durch diesen Änderungsantrag werden die Minister nen Jahren geleistet haben. Wir reden immer von vielen und die Parlamentarischen Staatssekretäre ebenfalls von Einsparbeiträgen, den die Rentner und andere Berufs- der Besoldungserhöhung ausgenommen. Diesen Be- gruppen erbringen müssen. Nach einer seriösen Berech- schluss hat das Kabinett selbst mitgefasst. Ich glaube, nung – vorsichtig geschätzt – betrug der Einkommens- der Deutsche Bundestag sollte die Weisheit des Kabi- verlust der Beamtinnen und Beamten des Bundes allein netts in Anspruch nehmen. Dem Wollenden geschieht in in den Jahren 2004 bis 2006 etwa 1,1 Milliarden Euro. diesem Falle kein Unrecht. Das ist ein ganz erheblicher Beitrag, den die Beamtinnen und Beamten zur Sanierung des Bundeshaushaltes ge- Ich will in dieser Debatte aber auch noch kurz zum leistet haben. Deshalb, finde ich, ist es auch an der Zeit Antrag der FDP kommen, die wiederum darauf hinge- gewesen, dass wir uns jetzt mit einer Besoldungserhö- wiesen hat, dass die Diäten zukünftig in einer Kommis- hung, die der entspricht, die auch die Tarifbeschäftigten sion außerhalb des Deutschen Bundestages festgesetzt erhalten, erkenntlich erweisen. werden sollen. Es soll eine unabhängige Sachverständi- genkommission eingerichtet werden. Wir hatten schon (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. einmal eine, wenn ich mich richtig erinnere, nämlich Siegmund Ehrmann [SPD] und der Abg. Silke 1993. Diese hat uns 1995 gesagt, B 6/R 6 sei die richtige Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Besoldungshöhe. Haben wir das umgesetzt? Nein, das NEN]) haben wir nicht. Im November des letzten Jahres haben Es war bei weitem nicht selbstverständlich, dass wir wir es zum ersten Mal nach vielen Jahren gewagt, diesen zeit-, inhalts- und wirkungsgleich übertragen. In der Ver- Schritt zu gehen – auch damals mit viel Begleitmusik. gangenheit wurden für die Beamtinnen und Beamten Im Übrigen gibt es auch verfassungsrechtliche Be- und die Versorgungsempfänger die Tarifergebnisse im- denken gegen diesen Antrag. Das Bundesverfassungsge- mer mit zeitlicher Verschiebung und leichten Modifika- richt hat zu dieser Frage 1975 ein Grundsatzurteil ge- tionen übernommen. Ich sage es auch nicht ohne Stolz, fällt. Damals ging es darum, dass man im saarländischen dass es dem Parlament gelungen ist, die ursprünglich ge- Landtag nicht selber über die Diäten bestimmen wollte, plante Absicht der Bundesregierung doch noch dahin ge- sondern gesagt hat, dass der Präsident des Landtages das hend zu korrigieren, dass die Übertragung zum ersten machen sollte. Er sei die richtige Person. – Das hat das Mal seit sehr vielen Jahren zeit-, inhalts- und wirkungs- Bundesverfassungsgericht abgelehnt. Ich zitiere: gleich erfolgt. (B) In einer parlamentarischen Demokratie lässt es sich (D) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- nicht vermeiden, dass das Parlament in eigener Sa- neten der SPD und der Abg. Silke Stokar von che entscheidet, wenn es um die Festsetzung der Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Höhe und um die nähere Ausgestaltung der mit dem Abgeordnetenstatus verbundenen finanziellen Re- Ich bin auch sehr froh, dass wir gestern im Innenaus- gelungen geht. Gerade in einem solchen Fall ver- schuss bei diesem Thema einen großen Konsens aller langt aber das demokratische und rechtsstaatliche Fraktionen hatten. Prinzip …, dass der gesamte Willensbildungspro- Ich komme jetzt zum Änderungsantrag und will hier zess für den Bürger durchschaubar ist und das Er- auch gar nicht kneifen. Die Große Koalition hat den Än- gebnis vor Augen der Öffentlichkeit beschlossen derungsantrag eingebracht. Mit diesem wird die Ent- wird. Denn dies ist die einzige wirksame Kontrolle. scheidung der Fraktionsspitzen der SPD und der CDU/ So hat das Bundesverfassungsgericht geurteilt. Die- CSU vom 20. Mai dieses Jahres umgesetzt. In dem Än- sem Erfordernis, das das Bundesverfassungsgericht fest- derungsantrag ist nämlich die Streichung des Art. 13 gestellt hat, wird der Antrag der FDP nicht gerecht. vorgesehen. Das heißt für uns, dass die Diätenerhöhung nach dieser Debatte kein Thema mehr sein wird. Ich will Noch etwas ist meines Erachtens übersehen worden: sie aber auch in dieser Debatte nicht zum Thema ma- Selbst wenn die Kommission, die vom Bundespräsiden- chen. Aus meiner Sicht ist zu diesem Thema genug ge- ten einberufen wird, eine Entscheidung trifft, heißt das sagt worden. noch lange nicht, dass diese Entscheidung im Bundesge- setzblatt steht und sich im Bundeshaushalt manifestiert. Auf eines will ich allerdings noch aufmerksam ma- Wer glaubt, mit einer solchen Verlagerung der Entschei- chen, weil wir hier ja auch interessierte Zuhörer haben. dung das Problem zu lösen, dass wir selber zu entschei- Ich habe in dieser Debatte auch erlebt, dass der eine oder den haben, ob wir diese Empfehlung annehmen oder andere Kollege bzw. die eine oder andere Kollegin aus nicht, der irrt. Das Problem bleibt weiter bestehen; denn den Fraktionen, die am heftigsten gegen die Diätenerhö- wir werden Diätenerhöhungen immer im Bundeshaus- hung gewettert haben, klammheimlich zu mir gesagt ha- halt beschließen müssen. ben: Aber Ihr werdet das doch durchbringen. – Auch das Es ist zwar nett gemeint und verkauft sich auch popu- sollte in diesem Hohen Hause einmal erwähnt werden, listisch gut, aber letzten Endes liegt die Entscheidung weil damit die Diskrepanz zwischen dem öffentlichen – zu Recht, wie ich meine – beim Parlament. Schreien und der tatsächlichen Motivation, die oftmals dahintersteht, beschrieben wird. (Beifall bei der CDU/CSU) 17222 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008

Ralf Göbel (A) Laut Tagesordnung haben wir heute über den Stand (Beifall bei der FDP) (C) der Beratungen zum Entwurf eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Bundesministergesetzes zu berichten. Einiges an Ihrem Vorgehen war seltsam. So ist es üb- Dazu werde ich kurz Stellung nehmen. Der Gesetzent- lich, dass Parlamentsangelegenheiten vom Parlament wurf beinhaltet versorgungsrechtliche Regelungen für insgesamt erörtert werden. Sie haben daraus eine ge- die Bundesminister und die Parlamentarischen Staats- heime Kommandosache gemacht. Die Opposition wurde sekretäre. Es besteht Einigkeit darüber, dass auf die der- in keiner Phase in irgendein Gespräch miteinbezogen. zeit amtierenden Minister und Staatssekretäre bzw. die Allein das ist ein Skandal. Versorgungsempfänger, die Versorgungsbezüge aus die- Ich frage die Abgeordneten dieser großen Diätenerhö- sen Ämtern beziehen, die Regelungen angewandt wer- hungskoalition: Wo bleibt Ihr Selbstverständnis als frei den, die das Bundeskabinett selber beschlossen hat. In- gewählte Abgeordnete? Sie lassen sich von Ihren Häupt- soweit gilt ebenfalls: Dem Wollenden geschieht kein lingen etwas überstülpen. Davon haben Sie selbst erst Unrecht. Das Parlament wird das auch umsetzen. aus dem Frühstücksfernsehen erfahren. Dann kassieren Wir – die beiden Fraktionen der Großen Koalition – Sie die geballte Kritik der Öffentlichkeit, bis Sie plötz- haben noch Beratungsbedarf, wer aus der Übergangs- lich wieder aus dem Frühstücksfernsehen erfahren, dass regierung der DDR in den Personenkreis derjenigen ein- das Ganze abgeblasen worden ist. Dadurch, dass Sie das bezogen werden soll, die eine „Ehrenpension“, wie ich mitmachen, schädigen Sie das Parlament. Das hat mit es nennen möchte, erhalten sollen bzw. ob dies nur für unserer Rolle als frei gewählte Abgeordnete weiß Gott die Minister gelten soll oder auch die Staatssekretäre. nichts mehr zu tun. Ich denke, dass wir in dieser Frage Einigkeit erzielen können und in den nächsten Sitzungswochen die zweite (Beifall bei der FDP) und dritte Beratung des Gesetzentwurfs im Plenum des Ein Weiteres. Das Bild, das die Große Koalition in der Deutschen Bundestages durchführen können. Öffentlichkeit abgibt – wir im Parlament wissen das ja Abschließend möchte ich die Gelegenheit nutzen, schon lange –, kann verheerender eigentlich nicht mehr mich bei den Kolleginnen und Kollegen im Innenaus- werden. Dieses Land hat es nicht verdient, diese Koali- schuss zu bedanken, dass wir zu einer einvernehmlichen tion noch weitere 15 oder 16 Monate ertragen zu müs- Entscheidung gekommen sind. Das wird heute hoffent- sen. Machen Sie doch Schluss mit dem Gezerre! Es geht lich auch der Fall sein. Ich möchte mich auch bei denje- nichts mehr in unserem Land; wir brauchen wieder poli- nigen, die im Mittelpunkt dieses Gesetzgebungsverfah- tische Entscheidungen, nicht aber, wie sich auch an die- rens stehen – nämlich bei den Beamtinnen und Beamten sem Punkt wieder gezeigt hat, diese jämmerliche Regie- des Bundes –, für ihre Tätigkeit, die sie täglich verrich- rung. (B) ten, und die hervorragende Arbeit bedanken, die sie Jahr (D) (Beifall bei der FDP – Clemens Binninger für Jahr abliefern. [CDU/CSU]: Jetzt noch zwei Sätze zum (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Thema! Bitte noch zwei Sätze zur Polizei und zu den Beamten!) Vizepräsidentin Petra Pau: – Zunächst gehe ich noch auf etwas anderes ein. Für die FDP-Fraktion spricht nun der Kollege Ernst Burgbacher. (Lachen bei der CDU/CSU und der SPD) (Beifall bei der FDP) Wir haben Ihnen Anträge mit einem anderen Modell vorgelegt. Lieber Kollege Göbel, ich weiß, dass es ver- Ernst Burgbacher (FDP): fassungsrechtliche Bedenken gibt. Deshalb haben wir ei- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! nen Gesetzentwurf zur Änderung des Grundgesetzes und Man muss schon noch einmal das ansprechen, was sich einen Gesetzentwurf zur Einrichtung einer unabhängi- in den letzten drei Wochen ereignet hat. Sie haben gen Kommission beim Bundespräsidenten eingebracht. klammheimlich damals in das Gesetz zur Erhöhung der In diesem Gesetzentwurf – machen Sie sich einmal die Beamtenbesoldung die Erhöhung der Abgeordnetendiä- Mühe, ihn zu lesen! – sind alle Vorbehalte des Bundes- ten hineingemogelt; man kann es nicht anders ausdrü- verfassungsgerichtsurteils von 1975 aufgenommen. Es cken. Dann haben Sie den geballten Zorn der Öffentlich- geht also, und dass es geht, zeigen gerade auch die Stim- keit gespürt und genauso klammheimlich den Rückzug men aus Ihrer Fraktion. Nachdem viele aus Ihrer Frak- angetreten. Der dabei angerichtete Schaden ist immens. tion und auch einige aus der SPD nach diesem Debakel gesagt haben: „Wir brauchen ein anderes System, eine (Beifall bei der FDP sowie der Abg. Irmingard unabhängige Kommission“, sind wir zuversichtlich, jetzt Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- in eine konstruktive Diskussion eintreten zu können. NEN]) Deshalb haben wir heute unseren Antrag nicht zur Ab- Sie haben sich selbst geschadet, wie schon die Wah- stimmung gestellt. Vielmehr wollen wir jetzt für eine len in Schleswig-Holstein gezeigt haben. Sie haben aber breite Mehrheit werben. Liebe Kolleginnen und Kolle- auch dem Ansehen dieses Parlaments und damit dem gen, in unserem eigenen Interesse sowie im Interesse des Ansehen der Demokratie einen Schaden zugefügt, den Ansehens von Parlament und Demokratie brauchen wir man nicht so schnell wiedergutmachen kann. Diesen ein anderes System. Sie sollten sich endlich dafür öff- Vorwurf müssen Sie sich gefallen lassen. nen. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008 17223

Ernst Burgbacher (A) Wir unterstützen das heute zur Abstimmung vorlie- kontroverser Debatte beschlossenen Schritt mitzutra- (C) gende Gesetz. Es war auch ein Stück weit dem Druck gen. Dass wir dieses Ziel aufgegeben haben, ist kein Bei- der FDP und der Gewerkschaften zu verdanken, dass es spiel für mangelndes Selbstbewusstsein von Parlamenta- zu einer Eins-zu-eins-Umsetzung des Tarifabschlusses riern. Wir haben in der Fraktion eine intensive Debatte gekommen ist. Dies war von der Regierung ursprünglich geführt, und wir haben eine Entscheidung getroffen. Ich nicht so geplant; nach ihrer Vorstellung sollten die Be- hätte mir gewünscht, dass wir gemeinsam die Kraft ge- amten erneut ein Sonderopfer leisten. Dies haben wir habt hätten, zu unserer ursprünglichen Entscheidung zu verhindert. Die Beamten haben es verdient, dass der Ta- stehen. Vor Ort konnte man, auch wenn das nicht einfach rifabschluss eins zu eins auf sie übertragen wird. Das ist war, durchaus plausibel machen, in welchem Zusam- auch richtig so. menhang unsere Entscheidung zu sehen ist. (Beifall bei der FDP) Nun, das Ergebnis ist bekannt: Die Koalition hat ge- Wir wollen eines aber nicht: dass in den Verhandlun- meinsam das ursprüngliche Ziel aufgegeben. Der Ihnen gen über einen Tarifabschluss auch die Diäten behandelt vorliegende Änderungsantrag trägt diesem Umstand werden. Ich sage noch einmal, dass ich Herrn Bsirske als Rechnung: Art. 13 des Gesetzentwurfes wird gestrichen. meinen Interessenvertreter ablehne. Das wäre das fal- Ich kann mir nach diesem Vorlauf nicht vorstellen, dass sche System. wir uns in der verbleibenden Zeit unserer Legislatur ein weiteres Mal mit diesem Thema befassen werden; wir (Beifall bei der FDP) haben schließlich andere wichtige Dinge zu bewerkstel- Es wird auch nicht reichen, was wir jetzt bei der Be- ligen. soldung machen, sondern es sind weitere Schritte not- (Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE wendig. Angesagt ist für die Menschen in diesem Land GRÜNEN]: Wir können es vor der Wahl noch – dies gilt insbesondere für die Beamten –: Mehr Netto probieren!) vom Brutto; weniger Steuern. Dafür werden wir kon- krete Vorschläge vorlegen, die wir an diesem Wochen- Es wird daher die Aufgabe des nächsten Bundestages ende konkretisieren werden. Nur dann, wenn wir weiter sein, eine auch von der Öffentlichkeit als tragfähig aner- in diese Richtung gehen, hat dieses Land wieder Zukunft kannte Lösung zu finden. Nach einiger Zeit der Distanz und haben die Bürger in diesem Land wieder neue Chan- sollten wir gemeinsam die Kraft aufbringen, auszuwer- cen. ten, wie dieser Prozess gelaufen ist, um dann gemeinsam Herzlichen Dank. einen öffentlichen Diskurs über die Möglichkeiten der Ausgestaltung der Diäten zu eröffnen und letztendlich (Beifall bei der FDP) (B) Akzeptanz zu organisieren. (D)

Vizepräsidentin Petra Pau: Es geht dabei – das wissen wir alle – nicht nur um die Für die SPD-Fraktion hat nun der Kollege Siegmund Frage einer Kommission, die Empfehlungen zur Höhe Ehrmann das Wort. der Diäten ausspricht. Zentral war auch nicht die Höhe des erwogenen Anpassungsschrittes. Auch das System (Beifall bei der SPD) der Alterssicherung ist ein Thema. Das Gleiche gilt für die steuerfreien Pauschalen. Es gibt Alternativen. Ich Siegmund Ehrmann (SPD): denke, wir sollten ohne Zorn und Eifer nach etwas Dis- Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol- tanz über dieses Thema sprechen, um den Vertrauensver- legen! Die erste Lesung des Gesetzentwurfs vor drei lust zu beheben. Ich denke, wir nehmen wichtige Aufga- Wochen war von zwei zentralen Diskussionssträngen ge- ben für unser Gemeinwesen wahr. Wir sollten besondere prägt. In breitem Einvernehmen und nahezu harmonisch Umsicht walten lassen. verlief die Debatte über die beabsichtigte Übertragung Ich möchte auf einen zweiten Aspekt des Änderungs- des Tarifergebnisses auf den Bereich von Besoldung und antrages eingehen. Die Amtsbezüge der Mitglieder der Versorgung. Zu diesem Thema betone ich vorab: Es ist Bundesregierung knüpfen grundsätzlich an die Bezüge ausgesprochen richtig und gut, dass es uns nach den Jah- der Beamten der Besoldungsgruppe B 11 an und wären ren des Darbens, an die Herr Göbel vorhin auch erinnert bei Besoldungserhöhungen anzupassen. Es gibt nun ei- hat, gelungen ist, korrigierend aufs Regierungshandeln nen Kabinettsbeschluss, dass die Besoldung der Bundes- einzuwirken und zu bewerkstelligen, dass in diesem Ge- minister und Parlamentarischen Staatssekretäre nicht an- setzentwurf die Tarifergebnisse eins zu eins auf die Be- gepasst wird. So etwas haben wir schon mehrfach erlebt. schäftigten im öffentlich-rechtlichen Dienst- und Treue- 1992 bis 1994 haben die Mitglieder der Bundesregierung verhältnis übertragen werden. auf eigene Initiative auf eine Anpassung verzichtet, Der zweite Teil der Debatte hingegen, in dem es um ebenso 2003 und 2004. Das sogenannte Nichtanpas- die Diätenanpassung ging – daran hat Herr Burgbacher sungsgesetz, das dies auch für die jetzige Runde vor- gerade sehr plastisch erinnert –, verlief sehr kontrovers. schreibt, trägt diesem Beschluss der Bundesregierung In der anschließenden öffentlichen Debatte hatten viele Rechnung. Im Ergebnis – auch das muss öffentlich dar- Kollegen in der Tat vor Ort Erklärungsnöte. So haben gelegt werden – führt das dazu, dass sich der Abstand sich manche nicht mehr in der Lage gesehen, den von zwischen den Amtsbezügen der Mitglieder der Bundes- den Koalitionsfraktionen nach – anders, als Herr regierung und denen von Vergleichsbesoldungsgruppen Burgbacher es glauben macht – intensiver und durchaus auf insgesamt 21 Prozent erhöhen wird; so hoch ist der 17224 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008

Siegmund Ehrmann (A) Verzicht auf Anpassung. Das wirkt sich natürlich auch in wortung gegenüber den Beamtinnen und Beamten sowie (C) den Versorgungsmechanismen aus. den Besoldungsempfängern gerecht. Ich kündige von dieser Stelle aus an, dass wir die offene Flanke des Mi- Lassen Sie mich im Zusammenhang mit dem Bundes- nistergesetzes kurzfristig schließen werden. Wenn alles besoldungs- und -versorgungsanpassungsgesetz einen gut geht, werden wir es so synchronisieren können, dass Punkt ansprechen, zu dem ich schon gestern im Innen- wir das gemeinsam mit dem Dienstrechtsneuordnungs- ausschuss etwas gesagt habe. Es geht um ein für viele gesetz verabschieden werden. nicht so wichtiges Detail, das allerdings rechtssystema- tisch nicht unerheblich ist. Es betrifft die Versorgungs- Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. empfänger. Im Gesetzentwurf ist fixiert, dass bei den (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Versorgungsempfängern der sogenannte Riester-Faktor dreimal anzuwenden ist. Unser Petitum ist, ihn nur zwei- mal anzuwenden. Eine zweimalige Anwendung wäre bei Vizepräsidentin Petra Pau: der Struktur des jetzt umgesetzten Tarifergebnisses rich- Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Redeliste weist tig und auch vertretbar, und zwar aus folgenden Grün- aus, dass nun für die Fraktion Die Linke die Abgeord- den: Mit dem Versorgungsänderungsgesetz 2001 haben nete Petra Pau spricht. Da das aus sichtbaren Gründen 1) wir den sogenannten Riester-Faktor, der seinerzeit ein- nicht möglich ist, nehmen wir diese Rede zu Protokoll. geführt wurde, auf die Beamtenversorgung übertragen. (Clemens Binninger [CDU/CSU]: Schade! – Wir haben festgelegt, dass bei Anpassungsschritten der Ralf Göbel [CDU/CSU]: Das hätten wir so Riester-Faktor in acht Schritten umgesetzt wird, um die gerne gehört! – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Versorgungsniveaus abzuflachen und die sozialversiche- Das hätte der Kollege Schneider doch vortra- rungsrechtlichen Entscheidungen vergleichbar auf das gen können! – Gegenruf des Abg. Volker Versorgungsrecht zu übertragen. Schneider [Saarbrücken] [DIE LINKE]: Schade, das kommt zu spät!) Im vorliegenden Gesetzentwurf wird fingiert, dass die Besoldungserhöhung zum 1. Januar 2008 aus zwei Das Wort hat die Kollegin Silke Stokar von Neuforn Schritten besteht, obwohl es nach meiner Überzeugung für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. letztendlich ein Schritt ist, der allerdings aus zwei unter- schiedlichen Strukturelementen besteht. Ich möchte es Silke Stokar von Neuforn (BÜNDNIS 90/DIE nicht beschreien, vermute aber, dass sich diese Regelung GRÜNEN): bei Verwaltungsstreitverfahren unter Umständen als „un- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich kann fallträchtig“ erweist, und zwar insbesondere vor dem mit dem Ergebnis meiner letzten Rede zu diesem Tages- (B) Hintergrund, dass sich das Bundesverfassungsgericht ordnungspunkt zufrieden sein. (D) 2005 damit befasst hat und unsere damaligen im Kontext der Versorgungsempfänger getroffenen Entscheidungen (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Sie haben es ver- als gerade noch vertretbar angesehen hat. An dieser hindert!) Stelle kann ich nur sagen: Vorsicht an der Bahnsteig- Es kommt zwar selten vor, aber diesmal sind Sie den An- kante! Wir haben darüber intensiv verhandelt und konnten regungen aus meiner letzten Rede in allen Punkten ge- uns mit unseren Argumenten – auch in der Koalition – an folgt. Das ist ganz erfreulich. dieser Stelle nicht durchsetzen. Es handelt sich aber nicht um einen ideologischen, sondern eher um einen Wir begrüßen, dass das Tarifergebnis auf die Beam- rechtssystematischen Streit. tinnen und Beamten übertragen wird. In diesem Zusam- menhang möchte ich besonders hervorheben, dass das Zum Ministergesetz wurde schon einiges vorgetra- auf Bundesebene eine Besserstellung der Polizeibeamten gen. Die SPD wird sich den Inhalten des im November sowie der Soldatinnen und Soldaten bedeutet. Wir sind letzten Jahres eingebrachten Gesetzentwurfes in weiten uns im Innenausschuss einig, dass das fair, gerecht und Teilen anschließen. Die Details will ich jetzt nicht in Er- erforderlich ist. innerung rufen. Aber es gibt einen Punkt – den hat Herr Göbel bereits angesprochen –, bei dem in der Tat ein (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN letztendlich noch nicht ausverhandelter Dissens besteht. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und Es geht um die Frage, ob und gegebenenfalls wie die der SPD) Mitglieder des letzten Ministerrates der ehemaligen Sie hatten letztes Mal die Möglichkeit, zwei Redner DDR in die Ministerversorgung einbezogen werden sol- zu stellen. Die Parlamentarischen Geschäftsführer haben len. Es ist absolut anzuerkennen, dass die Persönlichkei- begründet, warum es unbedingt eine Diätenerhöhung ge- ten, die seinerzeit Regierungsverantwortung hatten, in ben muss. Wir alle kennen das Ergebnis dieser Debatte. einer außergewöhnlichen Zeit Unvergleichbares geleis- Die geplante Diätenerhöhung findet nicht statt. Ich finde tet haben. Wie dies nun unter dem Aspekt der Amtsver- es richtig, dass man den Beschluss nach dieser öffentli- sorgung behandelt wird, scheint in der Tat nicht recht chen Auseinandersetzung zurückgenommen hat. Ich und billig zu sein. Ich hoffe, dass wir in nächster Zeit habe im Innenausschuss gesagt, dass mein Mitgefühl eine gute und zufriedenstellende Lösung finden. durchaus den Abgeordneten der SPD gehört, die in der Mit dem vorliegenden Entwurf eines Gesetzes zur einen Woche – wir hatten zwei sitzungsfreie Wochen – Besoldungs- und Versorgungsanpassung werden wir ge- meinsam, insbesondere meine Fraktion, unserer Verant- 1) Anlage 3 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008 17225

Silke Stokar von Neuforn (A) im Wahlkreis erklärt haben, warum die Diätenerhöhung chen. – Gegenprobe! – Wer möchte sich enthalten? – Der (C) gerecht, erforderlich und nötig ist, und in der zweiten Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung einstimmig Woche erklären mussten, warum der Beschluss zurück- angenommen. genommen wurde. Das war keine einfache Situation. Dritte Beratung Etwas überrascht hat mich allerdings die Stellung- nahme von Herrn Ramsauer von der CSU in den Tages- und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem themen. Herr Ramsauer hat gesagt, dass nicht nur Eises- Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – kälte in der Koalition herrsche, sondern klirrende Kälte. Wer stimmt dagegen? – Wer möchte sich enthalten? – Dies sagte er nicht im Zusammenhang mit den großen Der Gesetzentwurf ist damit einstimmig angenommen. ungeklärten Themen der Großen Koalition, sei es nun Wir kommen nun zur Abstimmung über die Be- die Rente, das Klimaschutzprogramm oder die Kinder- schlussempfehlung des Innenausschusses zu dem Ent- betreuung. Nein, Herr Ramsauer kündigte im Zusam- wurf eines Gesetzes des Bundesrates zur Änderung des menhang mit einer nicht erfolgten – aus guten Gründen Bundesbesoldungsgesetzes. Der Innenausschuss emp- nicht erfolgten – Diätenerhöhung an, dass er seine Arbeit fiehlt unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung auf Druck- mehr oder weniger einstellen werde. sache 16/9341, den Gesetzentwurf des Bundesrates auf (Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Drucksache 16/1033 für erledigt zu erklären. Wer stimmt NEN]: Das ist vielleicht auch besser so!) für diese Beschlussempfehlung? – Gegenprobe! – Wer möchte sich enthalten? – Die Beschlussempfehlung ist Ich glaube, es geschieht zum ersten Mal in Deutschland, ebenfalls einstimmig angenommen. dass die Koalitionsfrage wegen einer nicht vorgenom- men Diätenerhöhung gestellt wird. Ich habe das bis Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 sowie den Zu- heute nicht verstanden, aber ich bin sicher, dass Herr satzpunkt 4 auf: Ramsauer das in Bayern wird erklären können. 11 Beratung des Antrags der Abgeordneten Brigitte Wir haben hier heute gefordert, dass das Bundes- Pothmer, Dr. Thea Dückert, Kerstin Andreae, ministergesetz auf die Tagesordnung gesetzt wird. Sie weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- haben jetzt angekündigt, dass es zeitnah zu einer Ent- NIS 90/DIE GRÜNEN scheidung kommen wird. Ich möchte in diesem Zusam- Rechte der Beschäftigten von Discountern ver- menhang darauf hinweisen, dass dieses Ministergesetz bessern seit April 2004 auf Eis liegt – um beim Koalitionsklima zu bleiben – und dass erst unsere Anforderung eines Be- – Drucksache 16/9101 – (B) richts im Plenum zum Stand der Beratung dazu geführt (D) Überweisungsvorschlag: hat, dass Sie überhaupt die Beratung zu diesem Gesetz- Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) entwurf wieder aufgenommen haben. Ich finde es in Rechtsausschuss Ordnung, dass die Minister und Staatssekretäre und da- Ausschuss für Wirtschaft und Technologie mit verbunden auch die Bundeskanzlerin nach einigen Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Tagen der Überlegung erklärt haben, dass auch für sie Verbraucherschutz die vorgesehene Erhöhung der Bezüge nicht infrage ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Silke kommt. Stokar von Neuforn, Kerstin Andreae, Volker Zum Gesamtergebnis kann ich sagen: Hätten Sie es Beck (Köln), weiterer Abgeordneter und der gleich so gemacht, wie ich hier gesagt habe, dann wären Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN uns 14 peinliche Tage für die Politik in Deutschland er- Persönlichkeitsrechte abhängig Beschäftigter spart geblieben. Sie haben die Gelegenheit, es beim sichern – Datenschutz am Arbeitsplatz stärken nächsten Mal anders und besser zu machen. – Drucksache 16/9311 – Danke schön. Überweisungsvorschlag: (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ausschuss für Arbeit und Soziales Innenausschuss Rechtsausschuss Vizepräsidentin Petra Pau: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ich schließe die Aussprache. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Wir kommen zur Abstimmung über den von den Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die Fraktionen der CDU/CSU und SPD eingebrachten Ent- Fraktion Bündnis 90/Die Grünen fünf Minuten erhalten wurf eines Gesetzes über die Anpassung von Dienst- soll. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so be- und Versorgungsbezügen im Bund 2008/2009. Der In- schlossen. nenausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschluss- Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle- empfehlung auf Drucksache 16/9341, den Gesetzent- gin Silke Stokar von Neuforn für die Fraktion Bünd- wurf der Fraktionen der CDU/CSU und SPD auf nis 90/Die Grünen. Drucksache 16/9059 in der Ausschussfassung anzuneh- men. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzei- SES 90/DIE GRÜNEN) 17226 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008

(A) Silke Stokar von Neuforn (BÜNDNIS 90/DIE ehemalige Geheimdienstler, die ein Privatunternehmen, (C) GRÜNEN): eine Wirtschaftsdetektei gründen und heute in der Si- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In den cherheitszentrale der Telekom sitzen, meine Daten auf beiden grünen Anträgen, die ich hier heute einbringe, einem schwarzen Datenmarkt verkaufen und in der Lage geht es um zwei Themen: einmal um die Rechte der Be- sind, zu analysieren, welcher Politiker Kontakt mit wel- schäftigten, insbesondere bei Discountern, also bei Su- chem Journalisten hat und welcher Gewerkschafter Kon- permarktketten, zum anderen um die Notwendigkeit von takt mit Wirtschaftsverbänden oder auch mit Journalis- mehr Arbeitnehmerdatenschutz. ten hat. Ich möchte nicht, dass diese Informationen analysiert und weitergegeben werden. Vorratsdatenspei- Das Schwarz-Buch Lidl, das vielen bekannt sein wird, cherung ist der Beginn von Korruption, von Missbrauch hat in sehr drastischer Weise deutlich gemacht, dass die und von politischer Erpressung. Forderung nach Mindestlöhnen in Deutschland auf jeden Fall richtig ist, dass ihre Umsetzung aber nicht alle Pro- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) bleme im Niedriglohnsektor lösen wird. Wir haben es Ich bin sicher, dass die Telekom-Affäre das Parlament heute im Bereich des Niedriglohnsektors mit Arbeitsbe- weiter beschäftigen wird. Wir stehen am Beginn des dingungen zu tun, die ich nur als frühkapitalistisch be- größten deutschen Datenschutzskandals in der Privat- zeichnen kann. Wir haben es in diesem Bereich mit Ar- wirtschaft. beitsbedingungen zu tun, die einen Angriff auf die Menschenwürde darstellen. Lassen Sie mich zum Schluss noch einen weiteren Aspekt in die Diskussion einführen. Wir brauchen neue Wir sehen eine einzige Möglichkeit, die Rechte der gesetzliche Regelungen nicht nur zum Arbeitnehmerda- Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Niedriglohn- tenschutz, sondern auch zum Informantenschutz. Nur sektor – ich denke nicht nur an Lidl, Aldi, Schlecker und gesetzliche Regelungen zum Informantenschutz können wie sie alle heißen; diese Verhältnisse gibt es auch im sicherstellen, dass solche ungeheuren Skandale in Zu- Gaststättengewerbe und im Baubereich – zu schützen: kunft schneller an die Öffentlichkeit kommen und nicht Wir müssen die Möglichkeit, Betriebsräte zu gründen, so lange vertuscht werden können. erheblich verbessern. In unserem ersten Antrag fordern wir: Auch in Unternehmen mit vielen Filialen muss es (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) wieder möglich sein, Betriebsräte zu gründen; wer die Ich möchte meine Betroffenheit zum Ausdruck brin- Wahl von Betriebsräten behindert, der muss mit Sanktio- gen. Dies sage ich insbesondere mit Blick auf die für nen rechnen. diesen Skandal Verantwortlichen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (B) Vizepräsidentin Petra Pau: (D) Unser zweiter Antrag zum Arbeitnehmerdatenschutz Kollegin Stokar von Neuforn, Sie haben zu Recht bezieht sich ebenfalls auf den Fall Lidl. Ich denke, dass festgestellt, dass wir am Anfang stehen. Aber Sie sind wir hier angesichts der heutigen Tickermeldungen im jetzt eine Minute über Ihrer Redezeit. Zusammenhang mit Verstößen gegen den Datenschutz über einen anderen Skandal reden müssen. Ich habe es bis heute nicht für möglich gehalten, dass wir in der Pri- Silke Stokar von Neuforn (BÜNDNIS 90/DIE vatwirtschaft so einen Super-GAU, so einen Daten- GRÜNEN): schutzskandal erleben, wie ihn die derzeit noch laufende Frau Präsidentin, Sie haben mich in meinem Schluss- Telekom-Affäre offenbart. satz erwischt. – Wir begrüßen die Aufklärung und stellen nicht alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Telekom Ich habe es nicht für möglich gehalten, dass ein Un- unter Verdacht. Wir sagen aber ganz deutlich, dass dieser ternehmen, das den Auftrag hat, den Umgang mit Tele- Skandal aufgearbeitet werden muss. Das muss politische fondaten sicherzustellen, selber in so eklatanter Art und und gesetzliche Folgen sowie Folgen für die Verantwort- Weise gegen das Post- und Fernmeldegeheimnis ver- lichen haben. stößt. Ich habe es auch nicht für möglich gehalten, dass ein großes deutsches DAX-Unternehmen Grundrechte Danke schön. wie das Recht auf Pressefreiheit, Betätigung von Ge- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN werkschaften und informationelle Selbstbestimmung sowie bei Abgeordneten der LINKEN) dermaßen mit den Füßen tritt. Wir wissen seit heute Abend, dass die Telefondaten nicht nur von führenden Mitarbeitern der Telekom, sondern auch von Mitgliedern Vizepräsidentin Petra Pau: des Aufsichtsrats und von Journalisten, über die die Te- Für die Unionsfraktion hat nun der Kollege Paul lekom verfügte, ganz offensichtlich über Jahre hinweg Lehrieder das Wort. gespeichert und analysiert worden sind. (Beifall bei der CDU/CSU) Ich kann in diesem Zusammenhang nur noch einmal deutlich machen, welche Gefahren wir in der Vorratsda- Paul Lehrieder (CDU/CSU): tenspeicherung sehen. Dieser Telekom-Skandal hat deut- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen lich gemacht, dass die Frage, wer, wann, wie lange, von und Kollegen! Frau Kollegin Stokar von Neuforn, Sie welchem Ort und mit wem telefoniert, von einer hohen haben gerade am eigenen Leib in dramatischer Weise be- politischen Brisanz sein kann. Ich möchte nicht, dass merkt, wie es ist, wenn man in seiner Rede überwacht Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008 17227

Paul Lehrieder (A) wird. Die Präsidentin hat Sie darauf hingewiesen, dass Lebensmitteldiscountern wie andere Arbeitnehmer be- (C) Ihre Redezeit um eine Minute überschritten war. Aller- reits jetzt vor einer unzulässigen Durchleuchtung durch dings wissen wir, dass wir bei der Einhaltung unserer den Arbeitgeber zu schützen, auch wenn es in Deutsch- Redezeit vom Präsidium überwacht werden. Das ist der land noch kein einheitliches Arbeitnehmerdatenschutz- Unterschied. gesetz gibt, wie Sie es fordern. Auch die Gründung von Betriebsräten ist durch das Betriebsverfassungsgesetz Wir sind uns sicherlich alle darin einig, dass die Frei- bereits hinreichend abgesichert und wesentlich verein- heit unserer Bürgerinnen und Bürger das ist, was die De- facht worden. mokratie allen anderen Systemen überlegen macht. Es gibt ein bewährtes Instrument, das sie im Alltag schüt- Beim Schutz gegen unrechtmäßige Überwachung zen soll: das Rechtsstaatsprinzip. Hier im Deutschen greifen die Grundsätze des allgemeinen Datenschutzes Bundestag wird darum immer wieder und mit gutem und des Arbeitnehmerdatenschutzes. Im Bundesdaten- Recht darüber gestritten, wie weit wie auch immer gear- schutzgesetz und im Betriebsverfassungsgesetz gibt es tete Überwachungsmaßnahmen gehen dürfen. Sie haben dazu einschlägige Bestimmungen. So belegt das Bun- das neueste Beispiel, das der Deutschen Telekom, bereits desdatenschutzgesetz die unbefugte Erhebung personen- angesprochen. bezogener Daten in § 43 mit Bußgeldern bis zu 250 000 Euro. Das ist keine Lappalie. Was Sie gefordert haben, Umso weniger ist es erträglich, wenn sich Privatun- nämlich dass der Betrag von 25 000 Euro erhöht werden ternehmen ein Recht herausnehmen, das die Institutio- muss, ist bereits im Gesetz geregelt. Ein Blick ins Gesetz nen des demokratischen Rechtsstaats in dieser Form erleichtert das Verständnis des Rechts. Weiter legt § 87 nicht antasten, nämlich das Recht, die Daten von Mitar- Abs. 1 Nr. 6 des Betriebsverfassungsgesetzes fest, dass beitern auf brauchbare Hinweise auf womöglich misslie- der Betriebsrat bei Einführung und Anwendung von biges Verhalten zu durchforsten. Überwachungsmetho- technischen Einrichtungen, die dazu bestimmt sind, das den dieser Art, wie sie bei Lidl und anderen Firmen in Verhalten oder die Leistung der Arbeitnehmer zu über- der letzten Zeit aufgedeckt worden sind, sind unwürdig wachen, mitzubestimmen hat. und mit unserem Rechtsstaat nicht vereinbar. Daran än- dert auch das Argument nichts, man wolle mit Privatde- Die Rechtsprechung zum Schutz des Persönlich- tektiven und Überwachungskameras Ladendiebstähle keitsrechts des Arbeitnehmers hat darüber hinaus Re- aufklären oder Hygienekontrollen durchführen. In engen geln des allgemeinen arbeitsrechtlichen Informations- Grenzen ist das zwar möglich, eine Überwachung ist und Datenschutzes entwickelt. Dies gilt auch für die dann aber mitbestimmungspflichtig. Sie muss vorher Videoüberwachung von Arbeitnehmern. In einem Ur- mitgeteilt werden und gezielt sein, ohne andere Mitar- teil des Bundesarbeitsgerichts vom 14. Dezember 2004 (B) beiter einzuschließen. Außerdem muss ein konkreter zur Videoüberwachung am Arbeitsplatz heißt es zum (D) Anlass vorliegen. Ein Fehlverhalten könnte dann arbeits- Beispiel: rechtlich geahndet werden. Die Videoüberwachung ist der Arbeitgeberin nicht Die aktuellen Fälle von Mitarbeiterüberwachung aber allein auf Grund ihres Hausrechts gestattet … gehen darüber weit hinaus. Sie schränken die Mitarbeiter in ihren Rechten ein und sind und bleiben Rechtsbrüche. Wird die Videoüberwachung im privaten Bereich Deshalb müssen die gesetzlichen Regelungen konse- nicht heimlich, sondern sichtbar durchgeführt, so quent angewandt und die Arbeitnehmer effektiv ge- hat der Besucher grundsätzlich die Möglichkeit, der schützt werden. Überwachung durch Fernbleiben von den über- wachten Räumen zu entgehen … Der Arbeitnehmer (Beifall bei der CDU/CSU) hat diese Möglichkeit nicht … Hinzu kommt, dass auch der Arbeitgeber verpflichtet ist, den Arbeit- In diesem Punkt sind wir uns einig, liebe Kollegen nehmer vertragsgemäß zu beschäftigen. Sein Haus- von den Grünen. recht unterliegt aus diesen Gründen einer Ein- In Ihrem Antrag fordern Sie unter anderem ein Ar- schränkung … beitnehmerdatenschutzgesetz, enge Grenzen für die Da- Die … erheblichen Eingriffe in die Persönlichkeits- tenerhebung und eine Stärkung der Persönlichkeitsrechte rechte der Arbeitnehmer sind nicht durch überwie- abhängig Beschäftigter. Natürlich ist das sehr ehrens- gende schutzwürdige Belange der Arbeitgeberin … wert. Leider schießen Sie aber über das Ziel hinaus. gerechtfertigt. Landauf, landab sind immer wieder Forderungen nach weniger Vorschriften und nach Verwaltungsvereinfa- Im Fall Lidl hat die beim baden-württembergischen chung zu hören. Kommt es aber zu einer größeren Geset- Innenministerium angesiedelte Datenschutzbehörde be- zesübertretung, werden sozusagen als Soforttherapie reits ein Prüfverfahren eingeleitet, um den Sachverhalt neue und mehr Gesetze gefordert. Meister in der Diszi- aufzuklären. Außerdem hat die Aufsichtsbehörde meh- plin „Populismus“ sind hier immer wieder gern meine rere Filialen unangemeldet kontrolliert. Freunde von der Linken. (Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE (Volker Schneider [Saarbrücken] [DIE LINKE]: GRÜNEN]: Na bravo!) Freunde? Das ist aber nett!) Dessen ungeachtet ist zunächst einmal zu klären, was Liebe Kollegen von den Grünen, wir haben ausrei- bei Lidl und anderen Firmen genau geschehen ist, wel- chende gesetzliche Grundlagen, um die Mitarbeiter von che strafrechtlichen Konsequenzen daraus abzuleiten 17228 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008

Paul Lehrieder (A) sind und ob Missstände auch wirklich abgestellt werden. Paul Lehrieder (CDU/CSU): (C) In der Aufarbeitung der Vorkommnisse wird sich zeigen, Ich freue mich darüber. ob die bestehenden Regelungen in den Datenschutzge- setzen und im Strafgesetzbuch ausreichen oder nicht. Silke Stokar von Neuforn (BÜNDNIS 90/DIE Erst dann sollte der Gesetzgeber aktiv werden. GRÜNEN): Eines muss immer wieder betont werden, auch wenn Herr Kollege Lehrieder, ist Ihnen bekannt, in wie vie- sich in letzter Zeit die Fälle von Mitarbeiterüberwachung len Filialen von Lidl – ich spreche jetzt erst einmal nur zu häufen scheinen: von Lidl; wir könnten aber Aldi und andere mit einbezie- hen – es überhaupt einen Betriebsrat gibt? Sie haben (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- eben gesagt, es bestehe kein Handlungsbedarf bezüglich NEN]: Zu häufen scheinen?) einer Vereinfachung der Betriebsratsgründung. In über 99 Prozent der Filialen von Discountern kann es keine Die allermeisten in Deutschland ansässigen Unterneh- Vereinbarung geben, weil die Wahlen von Betriebsräten men haben sich in dieser Hinsicht gegenüber ihren Mit- be- oder verhindert werden. arbeitern nichts zuschulden kommen lassen.

(Beifall des Abg. Gerald Weiß [Groß-Gerau] Paul Lehrieder (CDU/CSU): [CDU/CSU]) Mir ist durchaus bekannt, Frau Stokar von Neuforn, dass nur in einer geringen Anzahl der Filialen von Lidl Sie könnten es sich auch gar nicht leisten. Der Imagever- oder anderen Discountern überhaupt Betriebsräte beste- lust in einem solchen Fall wäre beträchtlich. hen. Aber durch den von Ihnen eingebrachten Antrag Anstelle eines kategorischen Verbotes der techni- wird die Gründung eines Betriebsrates im Verhältnis schen Überwachung von Leistung und Verhalten der Ar- zum Status quo nicht erleichtert. Das heißt, eine Grün- beitnehmer hat der Gesetzgeber Arbeitgebern und Ar- dung wäre auch nach Umsetzung Ihrer Vorschläge nicht beitnehmern darum die Möglichkeit gegeben, über leichter möglich als derzeit. Die von Ihnen angedeutete Betriebsvereinbarungen zwischen der Geschäftsleitung – ich sage das ganz bewusst so – Einschüchterung würde eines Betriebes und dem Betriebsrat dieses Betriebes letztendlich dadurch auch nicht aufhören. transparente, praktikable und für beide Seiten annehm- bare Lösungen auszuhandeln, soweit unabdingbare ge- Vizepräsidentin Petra Pau: setzliche Schutzbestimmungen eingehalten werden. – Gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage der Kolle- Sie kommen in der Begründung Ihres Antrags auch zu gin Pothmer? dieser begrenzten Überwachungsmöglichkeit unter Ein- (D) (B) beziehung des Betriebsrats. Paul Lehrieder (CDU/CSU): Die allermeisten Unternehmen – ich möchte das beto- Gerne. nen, Herr Montag, nachdem Sie vorhin den Zwischenruf gemacht haben – halten die Regeln des Betriebsverfas- Vizepräsidentin Petra Pau: sungsgesetzes ein, auch was die Einrichtung von Be- Bitte, Frau Pothmer. triebsräten angeht. Was das betrifft, ist im Übrigen Ihre Forderung nach einer leichteren Betriebsratsbildung in Unternehmen in vielen Fällen schlicht obsolet. Die Er- Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): fahrung zeigt, dass auch große Unternehmen in ihren Fi- Herr Lehrieder, kann ich Ihrer Antwort entnehmen, lialen mehr als die fünf Arbeitnehmer beschäftigen, die dass Sie einen Vorschlag unterbreiten werden, durch den für die Gründung eines Betriebsrats notwendig sind. die Gründung von Betriebsräten noch deutlicher erleich- tert wird als durch unsere Vorschläge? Betriebliche Mitbestimmung hat sich bewährt. Sie funktioniert in 99 Prozent aller Unternehmen. Paul Lehrieder (CDU/CSU): (Lachen bei der LINKEN) Wenn ich Ihren Vorschlag anschaue, stelle ich fest, dass sich keine Regelungen finden, die die Gründung Nirgendwo sind die Mitwirkungs- und Mitbestimmungs- von Betriebsräten im Verhältnis zum Status quo erleich- rechte der Arbeitnehmer im Unternehmen so weitgehend tern. Sie schreiben: geregelt wie hierzulande. Diese Rechte gilt es zu nutzen. Der Prozess der Einleitung von Betriebsratswahlen (Abg. Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS muss gesetzlich besser geschützt werden. Die ge- 90/DIE GRÜNEN] meldet sich zu einer Zwi- richtliche Bestellung eines Wahlvorstands auf An- schenfrage) trag der im Betrieb vertretenen Gewerkschaft muss für Kleinbetriebe bis 100 Beschäftigte erleichtert – Sie wollen mir eine Zwischenfrage stellen, Frau Kolle- werden. gin? Hier findet sich nichts, was nicht ohnehin schon möglich Vizepräsidentin Petra Pau: wäre. Ich wollte Sie gerade fragen, ob Sie eine Zwischen- (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- frage der Kollegin Silke Stokar von Neuforn zulassen. NEN]: Haben Sie bessere Vorschläge?) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008 17229

Paul Lehrieder (A) Ich kann Ihnen, Frau Pothmer, allerdings sagen, um zusammenarbeiten, ist der Bestand eines Unternehmens (C) Sie zu beruhigen: Es kommt kein eigener Antrag von und seiner Arbeitsplätze gesichert. Ich bin ähnlich wie mir. der Kollege Lehrieder der Meinung, dass ein solcher In- teressenausgleich in den geltenden Vorschriften des Be- Meine Damen und Herren, die beiden vorgelegten triebsverfassungsgesetzes – gerade auch, was das Vor- Anträge, über die wir heute diskutieren, werden wir aus feld einer Betriebsratsgründung angeht – ausreichend gutem Grund ablehnen. Wir werden die Ergebnisse der verankert ist. Auswertung der Vorgänge bei Lidl abwarten, darüber in der gebotenen Sachlichkeit sprechen und daraus die ent- Vor dem Hintergrund, dass Rot-Grün im Jahre 2000 sprechenden Schlüsse ziehen. Falls wir Handlungsbedarf eine größere Reform des Betriebsverfassungsgesetzes sehen, werden wir zu gegebener Zeit hier darüber disku- durchgeführt hat, frage ich mich schon, Frau Stokar von tieren und sodann, Frau Kollegin Pothmer, sofern es er- Neuforn, warum Sie Ihre Forderungen nicht schon da- forderlich ist, eigene Anträge einbringen. mals erhoben oder umgesetzt haben. Das Problem war damals schon bekannt. Herzlichen Dank. Nein, ich glaube, die Vorschläge der Grünen zur Än- (Beifall bei der CDU/CSU – Silke Stokar von derung des Betriebsverfassungsgesetzes, zum Beispiel Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Te- die Entfristung eines befristeten Arbeitsverhältnisses für lekom hat für Sie gar nicht stattgefunden? – die Dauer der Amtszeit eines Betriebsrates, gehen zu Gegenruf des Abg. Paul Lehrieder [CDU/ weit. Sie wirken sich in der Praxis eher kontraproduktiv CSU]: Ich habe es vorhin angesprochen!) aus.

Vizepräsidentin Petra Pau: (Beifall des Abg. Jörg Rohde [FDP]) Für die FDP-Fraktion hat nun der Kollege Sie entsprechen auch nicht dem Gesetzesstand, so zum Dr. Heinrich Kolb das Wort. Beispiel Ihre Forderung unter Ziffer 1 e Ihres Antrags. (Beifall bei der FDP) Die Möglichkeit, auch ohne Vorliegen eines Tarifvertra- ges einen unternehmenseinheitlichen Betriebsrat einzu- richten, gibt es nach § 3 Abs. 3 des Betriebsverfassungs- Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): gesetzes doch längst. Dieser Antrag ist zu sehr vom Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Gedanken des Klassenkampfes geprägt und findet des- In den Anträgen der Grünen werden zwei Komplexe an- halb nicht unsere Zustimmung. gesprochen: das Betriebsverfassungsgesetz und der Schutz der Daten der Arbeitnehmer. Schauen wir uns einmal Ihre Ausführungen zum Da- (B) tenschutz an. Ich darf zunächst daran erinnern, dass der (D) Ich möchte zunächst auf das Thema Betriebsverfas- Deutsche Bundestag die Bundesregierung schon mehr- sungsgesetz eingehen und darauf hinweisen, dass es die fach aufgefordert hat, den Arbeitnehmerdatenschutz zu FDP war, die 1972 gemeinsam mit der SPD die betriebli- stärken, che Mitbestimmung in Deutschland eingeführt hat. (Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE (Beifall bei der FDP – Brigitte Pothmer [BÜND- GRÜNEN]: Genau!) NIS 90/DIE GRÜNEN]: 1972!) und dazu bereits fraktionsübergreifend gemeinsame Ent- Leitbild war dabei die Kooperation von Arbeitnehmern schließungen verabschiedet hat. Es stellt sich angesichts und Arbeitgebern in den Betrieben, das einvernehmliche der jüngsten Fälle schon die Frage, ob die geltenden Miteinander von Unternehmen und Betriebsrat, nicht die rechtlichen Regelungen ausreichen. Konfrontation. Ich erwähne das, weil die Grünen als Re- aktion auf unakzeptable Vorkommnisse – das gebe ich Fakt ist auch, dass die Stärkung des Arbeitnehmerda- hier gerne zu – bei sogenannten Discountern jetzt vor- tenschutzes bereits von der rot-grünen Bundesregierung schlagen, mit einer allgemeingültigen und beileibe nicht für die letzte Wahlperiode angekündigt war. Sie lässt auf Discounter beschränkten Verschärfung der Vor- aber noch immer auf sich warten. Insofern ist es schon schriften des Betriebsverfassungsgesetzes die streitige sonderbar, dass sich nun ausgerechnet die Grünen als Errichtung von Betriebsräten sozusagen zum Modell zu Hüterin von Bürgerrechten und Datenschutz gerieren. erheben und damit das bisherige Regel-/Ausnahmever- Auch hier frage ich: Warum haben Sie nicht gehandelt, hältnis umzukehren. Wenn ich mir so durchlese, was Sie als Sie die Gelegenheit dazu hatten? da so alles in Ihrem Antrag fordern, kann ich nur sagen, (Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE Frau Stokar von Neuforn: Da war wohl Ihre Abteilung GRÜNEN]: Das kann ich sagen: Weil das von „Agitation und Klassenkampf“ am Werke. Ich glaube der SPD blockiert wurde! – Gegenrufe von der aber nicht, dass dieser Denkansatz auf Dauer Erfolg ver- FDP: Oh!) spricht. Damals hat sich Ihre Regierung hinter Überlegungen auf Jeder Unternehmer und auch die Arbeitnehmer in den europäischer Ebene versteckt, die es angeblich abzuwar- Betrieben wissen – wenn sie es noch nicht wissen, müs- ten galt. Danach hat man von dieser Sache nichts mehr sen sie es lernen –: Nur wenn es auf Dauer zu einem In- gehört. teressenausgleich zwischen Arbeitnehmern und Unter- nehmern kommt, wenn Betriebsrat und Unternehmer Ihre Sorge um den Datenschutz und das Recht auf in- zum Wohle des Unternehmens und seiner Arbeitnehmer formationelle Selbstbestimmung der Arbeitnehmerinnen 17230 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008

Dr. Heinrich L. Kolb (A) und der Arbeitnehmer ist aber, gemessen an Ihrem frühe- schirm noch immer von Roheisen und der Über- (C) ren Verhalten, höchst unglaubwürdig. Wir wollen und erfüllung des IX. Dreijahresplans. … Jedes von werden nicht vergessen, dass es die rot-grüne Bundesre- Winston verursachte Geräusch, das über ein ge- gierung war, die die Axt wiederholt an die Bürgerrechte dämpftes Flüstern hinausging, würde registriert gelegt hat. Ich erinnere in diesem Zusammenhang an das werden; außerdem konnte er, solange er in dem von sogenannte Gesetz zur Förderung der Steuerehrlichkeit der Metallplatte kontrollierten Sichtfeld blieb, und das Finanzmarktförderungsgesetz, mit dem das ebenso gut gesehen wie gehört werden. Man konnte Bankgeheimnis quasi abgeschafft wurde. Unter Ihrer Re- natürlich nie wissen, ob man im Augenblick gerade gierungsverantwortung wurde die Erhebung und Spei- beobachtet wurde oder nicht. Wie oft oder nach cherung biometrischer Daten eingeführt. welchem System sich die Gedankenpolizei in jede Privatleitung einschaltete, darüber ließ sich bloß (Zuruf von der FDP: So war es!) spekulieren. Es war sogar denkbar, dass sie ständig Sie, die Grünen, waren es doch, die sogar einen Persil- alle beobachtete. schein zur Aufgabe des Datenschutzes erteilten, bevor Ich glaube, es ist nicht schwierig zu erraten, woraus die Voraussetzungen überhaupt klar geregelt waren. Da- ich zitiert habe. Es ist natürlich das Buch „1984“ von rauf muss man an dieser Stelle hinweisen. George Orwell. Orwells Großer Bruder hat leider viele (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten kleine Geschwister bekommen. Diese heißen beispiels- der CDU/CSU) weise Payback und studiVZ. Zur aktuellen Situation möchte ich Folgendes sagen: Mit beachtlicher Naivität geben leider viele Bürgerin- Die in der letzten Zeit aufgedeckten skandalösen Fälle nen und Bürger freiwillig Daten preis. Nur wenigen ist belegen, wie wichtig effektiver Datenschutz auch im pri- bewusst, was mit ihren Daten letztlich passiert und wie vaten Bereich ist. Die Unternehmen müssen den Schutz diese Daten genutzt werden können. Das Entscheidende der informationellen Selbstbestimmung gegenüber ihren ist aber, dass dieses Handeln immerhin legal ist. Jeder Mitarbeitern wahren. Man gewinnt manchmal den Ein- einzelne Bürger und jede einzelne Bürgerin entscheiden druck, dass Datenschutz ein Bürgerrecht zweiter Klasse darüber, ob und wie viel an Daten sie preisgeben. ist und Missbräuche oft gar nicht mehr als Missbräuche Damit gibt es einen entscheidenden Unterschied zu definiert werden. Hier gilt es, Abstumpfungstendenzen Lidl. Es ist schlichtweg unvorstellbar und skandalös, und der Herabsetzung von Hemmschwellen entgegenzu- was dort passiert ist. Halten wir fest: Der Discounter hat treten. mehr als 500 Filialen von insgesamt circa 2 900 Filialen Wir brauchen dringend eine gesamtgesellschaftliche von Detektiven überwachen lassen. Es ist nach einem (B) Diskussion über den Stellenwert des Datenschutzes. Ge- einheitlichen Muster vorgegangen worden: Montagmor- (D) rade die jüngsten Fälle bei der Telekom zeigen exempla- gens wurden die Kameras installiert, um angeblich La- risch, dass große Datenmengen die Gefahr des Miss- dendiebe aufzuspüren. Es ist aber überwacht worden, brauchs erhöhen. Deshalb bleibt die FDP bei ihrer wann und wie häufig jemand auf Toilette ging. Es ist be- strikten Ablehnung der von der Großen Koalition einge- obachtet worden, wer Tattoos hat und wer nicht. Es ist führten Vorratsspeicherung von Telekommunikationsda- festgehalten worden, wer mit wem liiert ist. Es ist be- ten. obachtet worden, ob Schweißflecken unter den Achseln vorhanden sind oder nicht. Es ist natürlich auch festge- (Beifall bei Abgeordneten der FDP) halten worden, wer sich wie zu beliebigen Themen äu- Wir glauben, dass das Bundesdatenschutzgesetz no- ßert. velliert werden muss. Die schwarz-rote Bundesregierung Man glaubt nicht, dass so etwas im Rechtsstaat muss endlich initiativ werden, auch was die informatio- Deutschland möglich ist. Es ging nicht um den Schutz nelle Selbstbestimmung in Arbeitsverhältnissen angeht. vor Ladendieben. Was dort stattgefunden hat, ist viel- Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. mehr Leistungs- und Verhaltenskontrolle. Ein klein we- nig spielt auch die Idee der Gedankenpolizei mit. Natür- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten lich liegt hier eine Rechtsverletzung vor. Das allgemeine der CDU/CSU) Persönlichkeitsrecht, das durch das Grundgesetz ge- schützt ist, ist selbstverständlich verletzt. Es liegen na- Vizepräsidentin Petra Pau: türlich auch schwerwiegende Verletzungen nach dem Für die SPD-Fraktion hat nun die Kollegin Anette Bundesdatenschutzgesetz vor. Kramme das Wort. Aber Ihr Antrag bezieht sich meines Erachtens viel zu (Beifall bei der SPD) stark auf die Lebensmitteldiscounter, und da besonders auf Lidl. Was wir brauchen, ist eine weitergehende Re- Anette Kramme (SPD): gelung. Denn es gibt auch Fälle bei IKEA. Frontal 21 berichtete, dass dort Arbeitnehmer ohne Zustimmung Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und des Betriebsrates überwacht werden. Es sind illegale Kollegen! Lassen Sie mich einen kurzen Auszug aus ei- Protokolle aufgetaucht, in denen der Gesundheitszustand nem Buch vortragen: von Mitarbeitern festgehalten wird. Bei Burger King Schlimm war bloß die Gedankenpolizei. In Wins- wollten Mitarbeiter erst im April dieses Jahres einen Be- tons Rücken plapperte die Stimme aus dem Tele- triebsrat wählen. Dazu hat es ein Vorbereitungstreffen Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008 17231

Anette Kramme (A) gegeben. Selbstverständlich wurde dieses Treffen ge- vereinfacht werden. Ihr Antrag bleibt an dieser Stelle lei- (C) filmt. Damit war klar, wer die Initiatoren des Gesche- der unkonkret; aber die Stoßrichtung ist erkennbar. hens waren. Die Mitarbeiter wurden identifiziert und Wovon ich persönlich nichts halte, ist eine Verschär- vom Konzern ins Gebet genommen. fung der Strafvorschriften. Ich habe Erfahrungen damit Auch der Konzern Tönnies-Fleisch scheut sich nicht, gemacht. § 119 des Betriebsverfassungsgesetzes kennt auf diese Art und Weise mit seinen Mitarbeitern umzu- von den Richtern fast niemand. Es fehlt ihnen das Pro- gehen. Mit 3 000 Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh- blembewusstsein. Da wird beispielsweise drei Arbeit- mern handelt es sich um den größten Fleischverarbeiter nehmerinnen gekündigt, die in einem Seniorenheim ei- Europas. Es wurde nicht nur die Fabrikation überwacht, nen Betriebsrat gründen wollten. Am nächsten Tag sondern es hat Kameras auch in Umkleidekabinen und in werden neue Arbeitnehmer eingestellt. Die Kündigun- Toiletten gegeben. gen erfolgten betriebsbedingt. Was gibt es an Geldbuße? Da werden zweimal 500 Euro verhängt. Das ist das Ge- Nach all den Vorgängen ist es keine Überraschung schehen. Wir werden mit erhöhten Strafrahmen und ei- mehr, was wir bei der Telekom vorfinden. Dort sind Te- ner Verschärfung der Vorschriften nicht weiterkommen, lefonate von Managern und von Aufsichtsräten über- bevor wir dort nicht sensibilisieren. wacht und ausgewertet worden. Insbesondere die Arbeit- Lassen Sie mich zum Schluss kommen. Ich denke, nehmervertreter im Aufsichtsrat waren betroffen. Der das Grundproblem, das wir haben, liegt nicht in der Ge- Bundesbeauftragte für den Datenschutz, Peter Schaar, setzesanwendung. Wir haben viele gesetzliche Regelun- sagte, das Ganze sei nur die Spitze des Eisbergs, meis- gen, die die Themen aufgreifen und sie partiell lösen. tens finde die Überwachung unsichtbar und ohne Kame- Wir haben vielmehr das Problem, dass Beschäftigte nach ras statt, sodass niemand davon weiß. wie vor existenzielle Ängste haben, wenn es darum geht, Eigentlich müsste man erwarten, dass sich die Spitzen Rechte geltend zu machen. Deshalb geht es darum, dass dieser Konzerne und Unternehmen für das schämen, was wir in dieser Republik weiter dafür kämpfen, dass die dort passiert ist. Aber man stellt nicht fest, dass dem so Arbeitslosigkeit sinkt. Es geht auch immer wieder da- ist. Wir in der Politik können nur erwarten, dass diese rum, zu betonen: Arbeitnehmerrechte sind eine gesell- Unternehmen und Konzerne wieder zurück zu Seriosität schaftliche, eine wertvolle Errungenschaft. Das müssen und Ehrenhaftigkeit finden. Das bezieht sich nicht nur wir gerade als Bundestag immer wieder klar und deut- auf das Recht auf informationelle Selbstbestimmung der lich machen. Arbeitnehmer. Da geht es um weit mehr. In diesem Zu- In diesem Sinne herzlichen Dank. sammenhang kann man auch über die Spitzenverdienste (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (B) der Manager reden. Dies ist ein Antrag, den wir gerade (D) bearbeiten. der CDU/CSU)

(Beifall bei der SPD) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Das Wort hat die Kollegin Sabine Zimmermann, Noch einmal festgehalten: Selbstverständlich, diese Fraktion Die Linke. Vorgehensweisen sind illegal. Es ist richtig, meine Da- men und Herren von den Grünen, dass Sie sagen, dass (Beifall bei der LINKEN) der Betriebsrat ein umfassendes Mitbestimmungsrecht bei der Einführung und Anwendung von technischen Sabine Zimmermann (DIE LINKE): Überwachungseinrichtungen hat. Ohne Weiteres können Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! viele Betriebsräte in diesem Land die Situation entschär- Herr Lehrieder, ich wusste gar nicht, dass wir Freunde in fen. Es stimmt auch, dass es zu wenige Betriebsräte im der CSU haben. Hängt das mit der Bayern-Wahl zusam- Bereich der Discounter, aber auch in anderen Bereichen men? Suchen Sie schon einen Koalitionspartner? gibt. Das haben wir schon bei der Reform des Betriebs- verfassungsgesetzes gesehen. Wir haben das verein- (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN – Paul fachte Wahlverfahren eingeführt; GBR und KBR können Lehrieder [CDU/CSU]: Nein, nein, wahrlich Wahlvorstände einsetzen. Wir haben das Kündigungs- nicht! Gott bewahre, Frau Kollegin schutzgesetz an dieser Stelle ausgedehnt. Auch was wir Zimmermann!) momentan machen, ist richtig, nämlich dass vor dem Wir werden sehen, wie sich alles entwickelt. Hintergrund der Lebensmittelskandale künftig im Futter- mittelgesetz ein Informantenschutz vorgesehen sein soll. Meine Damen und Herren, als Abgeordnete der Lin- ken und Gewerkschafterin gratuliere ich den Beschäftig- Wir wissen, Betriebsräte, Betriebsratswahlen sind ein ten der Lidl-Filiale in Renningen bei Stuttgart; denn ih- hohes Risiko. Fast keine Betriebsratswahl findet mehr nen ist es gelungen, am 2. Mai einen Betriebsrat zu beanstandungslos statt. Dort gibt es Kündigungen, dort gründen, und das gegen alle Widerstände der Geschäfts- gibt es Abmahnungen. Da behalten Arbeitgeber Unterla- führung. Es geht hier um ein im Betriebsverfassungsge- gen ein, die mühselig eingeklagt werden müssen. Firmen setz verbrieftes Recht. Die Politik muss alles unterneh- werden aufgespalten, um Betriebsräte zu verhindern. men, damit dieses Gesetz nicht unterlaufen wird. Wir Wir können uns gut vorstellen, dass wir in diesem Be- sind zugleich solidarisch mit den Beschäftigten im Ein- reich gemeinsam agieren. Wir können uns gut vorstellen, zelhandel, die im Moment für ihre Rechte kämpfen. Ih- dass man sich überlegt, wie Wahlverfahren noch einmal nen gebührt unser Respekt. Sie sind in einem langen und 17232 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008

Sabine Zimmermann (A) schwierigen Tarifkonflikt. Fast 200 000 Verkäuferinnen Die Kolleginnen und Kollegen von Aldi, Lidl und wie (C) und Verkäufer haben bisher über ein Jahr gestreikt, so die Ketten alle heißen, haben unsere volle Unterstüt- viele und so lange wie nie zuvor in der Geschichte der zung. Die Linke wird nicht locker lassen. Bundesrepublik. Ich danke Ihnen. Die Beschäftigten kämpfen für menschenwürdige Ar- (Beifall bei der LINKEN) beitsbedingungen und höhere Löhne in einer Branche, in der 70 Prozent Frauen arbeiten und mehr als die Hälfte aller Arbeitsplätze Teilzeit- und Minijobs sind. 2006 gab Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: es etwa 60 000 Aufstocker im Einzelhandel. Das sind so- Ich schließe die Aussprache. zialversicherungspflichtig Beschäftigte, deren Löhne so Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf niedrig sind, dass sie zusätzlich Hartz IV beziehen. Das Drucksache 16/9101 an die in der Tagesordnung aufge- ist Arbeit, die arm macht. Im Gegensatz dazu gehören führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- die Inhaber der großen Einzelhandelsketten Lidl und verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung Aldi zu den Reichsten in Deutschland. Sie besitzen ein so beschlossen. geschätztes Privatvermögen von 42 Milliarden Euro. Zusatzpunkt 4. Die Vorlage auf Drucksache 16/9311 Dass die Schere zwischen Arm und Reich immer soll ebenfalls an die in der Tagesordnung aufgeführten mehr auseinanderklafft, dass sich die einen auf Kosten Ausschüsse überwiesen werden. Die Federführung ist je- der anderen bereichern, das ist der eigentliche Skandal in doch strittig. Die Fraktionen der CDU/CSU und der SPD Deutschland. wünschen Federführung beim Ausschuss für Arbeit und Soziales. Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen wünscht (Beifall bei der LINKEN – Dr. Heinrich L. Federführung beim Innenausschuss. Kolb [FDP]: Seitdem die SPD regiert, geht das immer weiter auseinander!) Ich lasse zuerst über den Überweisungsvorschlag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, Federführung beim In- – Das kann ich Ihnen bestätigen. nenausschuss, abstimmen. Wer stimmt für diesen Über- weisungsvorschlag? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- Rot-Grün und die Große Koalition unter Frau Merkel tungen? – Der Überweisungsvorschlag ist mit den sind dafür verantwortlich, dass prekäre Beschäftigung Stimmen der Koalition bei Gegenstimmen der Opposi- im Einzelhandel dermaßen auf dem Vormarsch ist. Wo, tion abgelehnt. wenn nicht hier, brauchen die Beschäftigten starke Ge- werkschaften und Betriebsräte? Die Politik sollte Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag der (B) schauen, welchen Beitrag sie dazu leisten kann. Deshalb Fraktionen der CDU/CSU und der SPD, Federführung (D) unterstützen wir den Antrag der Grünen. beim Ausschuss für Arbeit und Soziales, abstimmen. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? – Wer Discounter kommt von „discount“, was so viel heißt stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Überweisungs- wie Rabatt. Man könnte auch sagen: Hauptsache billig, vorschlag ist bei Enthaltung der Fraktion Die Linke mit koste es, was es wolle. Discounter treiben das Preis- und den Stimmen des Hauses im Übrigen angenommen. Lohndumping im Einzelhandel massiv voran. Billig zu- lasten der Beschäftigten. Erst vor vierzehn Tagen stellte Ich rufe die Tagesordnungspunkte 12 a und 12 b so- das Arbeitsgericht Dortmund fest: Der Textildiscounter wie Zusatzpunkt 5 auf: KiK zahlt sittenwidrige Löhne. 5,20 Euro pro Stunde hat 12 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- die Einzelhandelskette einer Minijobberin zugemutet. gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Moder- Das ist die Hälfte vom Tariflohn. Neben Hungerlöhnen nisierung der gesetzlichen Unfallversicherung und unbezahlter Mehrarbeit trifft man bei Discountern (Unfallversicherungsmodernisierungsgesetz – häufig auf Bespitzelung und Überwachung; denn wir UVMG) wissen alle: Verängstigte und eingeschüchterte Mitarbei- ter wehren sich nicht. Ich frage Sie in diesem Hause: – Drucksache 16/9154 – Wer von Ihnen möchte unter diesen Bedingungen arbei- Überweisungsvorschlag: ten? Es geht um menschenwürdige Arbeit. Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) Rechtsausschuss Zu lange hat die Bundesregierung zugeschaut, wie Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Einzelhandelskonzerne mit fragwürdigen, bisweilen kri- b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Heinz- minellen Methoden das Recht der Beschäftigten, Be- Peter Haustein, Dr. Heinrich L. Kolb, Jens triebsräte zu bilden, unterlaufen. Beschäftigte werden Ackermann, weiterer Abgeordneter und der Frak- erpresst, bedroht oder bestochen. Kündigungen, Verset- tion der FDP zungen, sogar der Vorwurf des Diebstahls, all dies ist den Unternehmensleitungen recht, um die Gründung von Mehr Wettbewerb und Kapitaldeckung in der Betriebsräten und deren Arbeit zu verhindern. Als Ge- Unfallversicherung werkschafterin sage ich Ihnen: Wir brauchen Gesetze, – Drucksache 16/6645 – die die Rechte der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer Überweisungsvorschlag: stärken. Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) Rechtsausschuss (Beifall bei der LINKEN) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008 17233

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner (A) ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Markus richtung einer gemeinsamen Spitzenkörperschaft vorge- (C) Kurth, Kerstin Andreae, Birgitt Bender, weiterer sehen. Die bis dahin bestehenden Spitzenverbände, der Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ Hauptverband der gewerblichen Berufsgenossenschaften DIE GRÜNEN und der Bundesverband der Unfallkassen, haben schnell gehandelt und sich zum neuen Spitzenverband Deutsche Die gesetzliche Unfallversicherung fit für die Gesetzliche Unfallversicherung e. V. zusammengeschlos- Dienstleistungsgesellschaft machen sen. Auf Wunsch der Selbstverwaltung wurde hier die – Drucksache 16/9312 – Vereinsform beibehalten. Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) Diskussionen gibt es derzeit noch über die Frage der Rechtsausschuss Beleihung und der Aufsicht. Allerdings – lassen Sie Ausschuss für Wirtschaft und Technologie mich das sagen – war von Anfang an klar: Soweit die Ausschuss für Gesundheit Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung als privat- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die rechtlicher Verein hoheitlich handelt, muss sie beliehen Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich und unter Rechts- und Fachaufsicht gestellt werden. Das höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. ist nach unserer Auffassung aus verfassungsrechtlichen Gründen nicht anders möglich. Ein privatrechtlicher Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Parla- Verein ist sonst nicht hinreichend demokratisch legiti- mentarische Staatssekretär Klaus Brandner. miert. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Nach innen privatrechtlich organisiert und nach außen verbindliche Kompetenzen, das kann ohne Beleihung Klaus Brandner, Parl. Staatssekretär beim Bundes- und Aufsicht nicht erfolgreich gehen. Deswegen möchte minister für Arbeit und Soziales: ich diejenigen, die befürchten, die Fachaufsicht könne zu Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolle- einer zu weit gehenden Einschränkung der Selbstverwal- ginnen und Kollegen! Die gesetzliche Unfallversiche- tung führen, auf Folgendes hinweisen: Die Träger stehen rung ist ein Erfolgsmodell. Wer Erfolgsmodelle behalten im Bereich der Prävention seit jeher unter Fachaufsicht. will, muss sie dem Wandel unterziehen und sie gelegent- Praktiker wissen, wie moderne Fachaufsicht ausgeübt lich anpassen. Genau das wollen wir tun. Denn nur so wird, nämlich im Dialog und partnerschaftlich als Ver- können wir den Bestand einer erfolgreichen Unfallver- trauensaufsicht. Das wird auch bei der Aufsicht über die sicherung auch erfolgreich weiterentwickeln. Diese He- Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung nicht anders rausforderungen hat die Bundesregierung mit dem vor- sein. (B) liegenden Gesetzentwurf angenommen. Lassen Sie mich (D) auf die wichtigsten Punkte aus dem Entwurf eines Geset- Flankierend zu den Fusionen der Träger wird der Las- zes zur Modernisierung der gesetzlichen Unfallversiche- tenausgleich neu geregelt. Grundlage ist wiederum ein rung kurz eingehen. Konzept der Selbstverwaltung. Ziel der Neuregelung ist es, die Auswirkungen des wirtschaftlichen Strukturwan- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das geht ja dels auf die unterschiedlichen Bereiche der gewerbli- schnell!) chen Unfallversicherung auszugleichen. Auf der einen Ein ganz wesentlicher Baustein zur Stabilisierung des Seite stehen hier die Wirtschaftsbereiche mit rückläufi- Systems, Herr Kolb, und zur Erhöhung der Effizienz und gen Beschäftigtenzahlen, die aber unverändert hohe Wirtschaftlichkeit ist die Reduzierung der Trägerzahl. Kosten für Arbeitsunfälle aus der Vergangenheit zu tra- Die kleinteilige Organisationsstruktur in der gesetzli- gen haben. Ein prominentes Beispiel dafür ist die Bau- chen Unfallversicherung ist nicht zukunftsfähig. Wir wirtschaft. Auf der anderen Seite sind immer mehr Men- brauchen starke und leistungsfähige Träger. Da wird schen etwa im Verwaltungsbereich tätig, ohne dass es auch Herr Kolb zustimmen. hier vergleichbar große Altlasten gäbe. Hier ist mehr So- lidarität als in der Vergangenheit gefordert. Alte Lasten (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der werden künftig über alle Berufsgenossenschaften hin- CDU/CSU – Dr. [CDU/ weg geschultert. CSU]: Herr Kolb bettelt um einen Ordnungs- ruf!) (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Die Frage ist nur, wie!) Der Gesetzentwurf sieht deshalb die Reduzierung der Trägerzahl im gewerblichen Bereich von derzeit 23 auf Nichts ist so gut, als dass man es nicht noch verbes- 9 Berufsgenossenschaften vor. Diese Zielvorgabe be- sern könnte. Dieser Satz gilt auch im Hinblick auf das ruht auf einem Fusionskonzept der Selbstverwaltung. deutsche Arbeitsschutzsystem. Denn die Reform folgt von Beginn an dem Grundsatz: Ein weiterer wichtiger Bestandteil dieses Modernisie- Vorrang für die Selbstverwaltung. Wir wissen, dass der rungsgesetzes sind die Regelungen zur gemeinsamen Erfolg von Organisationsreformen nicht zuletzt vom deutschen Arbeitsschutzstrategie. Bund, Länder und Un- Engagement der Beschäftigten entscheidend abhängt. Im fallversicherungsträger verpflichten sich auf ein syste- Gesetzentwurf ist deswegen ausdrücklich angeordnet, matischeres und stärker gemeinsames Vorgehen im Ar- dass Fusionen sozialverträglich zu gestalten sind. beitsschutz auf der Grundlage gemeinsam festgelegter Auch im Bereich des Spitzenverbandes waren und Arbeitsschutzziele. Diese Ziele werden dann in abge- sind Veränderungen nötig. In den Eckpunkten ist die Er- stimmten Programmen umgesetzt. Im Bereich der 17234 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008

Parl. Staatssekretär Klaus Brandner (A) Beratung und Überwachung der Betriebe wird die Zu- blanke Zorn entgegenkommt. Die Unternehmer und die (C) sammenarbeit der Aufsichtsdienste verbessert und ar- Handwerker sehen Rot, wenn sie das Wort „Berufsge- beitsteilig organisiert. Darüber hinaus wird das Vor- nossenschaft“ nur hören. schriften- und Regelwerk durch die Einführung einer (Beifall des Abg. Uwe Barth [FDP] – Dr. Ralf restriktiven Bedarfsprüfung für den Erlass von Unfall- Brauksiepe [CDU/CSU]: Das ist beim Wort verhütungsvorschriften einfacher und transparenter ge- „Finanzamt“ ähnlich!) staltet. Das muss einen Grund haben. Das ist vor allem darin be- Unter dem Strich gilt: Die gemeinsame deutsche Ar- gründet, dass es hierbei um ein Monopol geht und die beitsschutzstrategie richtet den Arbeitsschutz an den He- Unternehmer und Handwerker keine Wahlmöglichkeit rausforderungen der modernen Arbeitswelt neu aus. Sie haben, sondern ihrer Berufsgenossenschaft ausgeliefert fördert ein hohes Arbeitsschutzniveau zum Nutzen der sind. Beschäftigten und der Betriebe, und sie leistet einen Bei- trag zu mehr Effizienz in der Beratung und Überwa- Die Berufsgenossenschaft und die Unfallkasse sind chung der Betriebe. Sie ist damit ein Garant für die Leis- wichtige Bestandteile unserer sozialen Sicherungssys- tungskraft des Systems insgesamt. teme. Meine Damen und Herren, den Wandel erkennen und (Gerald Weiß [Groß-Gerau] [CDU/CSU]: aktiv gestalten, das ist es, was verantwortungsbewusste Eben! Das ist auch richtig!) Politik auszeichnet. Der Entwurf eines Gesetzes zur Mo- Ein Arbeitnehmer, der von einem Gerüst fällt, ist versi- dernisierung der gesetzlichen Unfallversicherung war chert – wer einen solchen Unfall hat, bekommt eine diesem Anspruch immer verpflichtet und wird diesem Rente und eine Reha –, und ein Unternehmer hat damit Anspruch auch gerecht. Er stabilisiert das System auf ein unbegrenztes Haftungsrisiko abgelöst. Wenn bei- Dauer und macht ein Erfolgsmodell zukunftsfähig. Das spielsweise ein Fuhrunternehmer seine Lkw auf die Au- verdient meines Erachtens im Interesse eines erfolgrei- tobahn schickt und einer seiner Fahrer gegen einen Brü- chen Prozesses die Zustimmung aller Mitglieder dieses ckenpfeiler fährt und dadurch eine Brücke Hauses zusammenstürzt, dann ist auch dieser Schaden bis zu ei- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Na ja! Ein biss- ner Höhe von 20 Millionen Euro versichert. chen mehr hätte es schon sein können, Herr (Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Staatssekretär!) NEN]: Ja! Privat wäre das teuer!) – auch die der FDP, Herr Kolb – und die Unterstützung Das ist eine gute Sache. (B) der Beteiligten. (D) Wenn man sich aber das Gesetz ansieht, das die (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der Große Koalition mit einem Dreivierteljahr Verspätung in CDU/CSU) den Bundestag einbringt, stellt man fest, dass sie in den Hauptbestandteil, die 90 Prozent, die den Leistungsteil Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: betreffen, überhaupt nicht eingegriffen hat. Das ist, mit Ich gebe das Wort dem Kollegen Heinz-Peter Verlaub, eine blamable Vorstellung. Haustein, FDP-Fraktion. (Beifall bei der FDP – Dr. Heinrich L. Kolb (Beifall bei der FDP – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Mangelnder Mut!) [FDP]: Genau! Das Nötige dazu wird jetzt der Es geht um immerhin 9,6 Milliarden Euro. Sie haben Kollege Haustein sagen!) in Ihrem Gesetzentwurf aber überhaupt nicht darauf re- agiert, dass auch das System der Sozialversicherung zu- Heinz-Peter Haustein (FDP): kunftsfest gemacht werden muss. Ich weiß, dass die ver- Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten ehrten Freunde von CDU und CSU den Leistungsteil Damen und Herren! Was man hier hört, ist ein ziemlich gern reformiert hätten, starkes Stück. Herr Staatssekretär Brandner spricht von einem „Erfolgsmodell“. Dabei geht es um ein Gesetz, (Beifall des Abg. Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]) das seit 1884 besteht und seitdem kaum verändert weil es notwendig ist, die Unternehmen bei den Lohnne- wurde. benkosten zu entlasten. Die Beiträge zu Berufsgenossen- (Max Straubinger [CDU/CSU]: Na also! Wenn schaften sind nämlich auch Lohnnebenkosten, meine lie- es über 100 Jahre gehalten hat, muss es doch ben Freunde. erfolgreich gewesen sein! – Paul Lehrieder (Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- [CDU/CSU]: Genau! Dann kann es doch nicht NEN]: Das sind Versicherungen wie Haft- schlecht sein!) pflicht auch!) Er sagt, das Gesetz sei erfolgreich und zukunftsfähig und Es ist an dieser Stelle aber nichts passiert. man habe auf den Wandel reagiert. Ich werde Ihnen jetzt ein paar Vorschläge nennen, die Ich fordere Sie auf: Erkundigen Sie sich einmal bei wir in unserem Antrag gemacht haben und die zeigen, Unternehmern, was sie zum Thema Berufsgenossen- was wir verändern müssen, damit die Berufsgenossen- schaften sagen! Sie werden feststellen, dass Ihnen der schaft noch besser wird. Es ist gut, was Herr Breuer mit Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008 17235

Heinz-Peter Haustein (A) seinen Truppen macht. Aber die Berufsgenossenschaft Sprich: Der Zusammenhang ist vollkommen anders, als (C) kann noch besser werden. Sie ihn darstellen. Es geht einmal darum, dass man willkürlich neun Be- Deswegen frage ich Sie, ob Sie diesen Vorwurf, die rufsgenossenschaften festgelegt hat, ohne zum Beispiel Selbstverwaltung sei überredet worden, nicht zurück- zu fragen: Erzielt man damit Synergieeffekte? nehmen wollen und ob Sie nicht richtigerweise sagen wollen, dass die Politik dem Vorschlag der Selbstverwal- (Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Das tung – statt sechs neun Berufsgenossenschaften – gefolgt hat die Selbstverwaltung vorgeschlagen!) ist. Man hat also die Selbstverwaltung dazu überredet, das so zu tun. Heinz-Peter Haustein (FDP): Liebe Kollege Weiß, ich sage immer noch das, was In dem Regierungsentwurf ist auch vorgesehen, dass ich möchte, und nicht das, was Sie mir vorschlagen. Hät- die Betriebsprüfungen der gesetzlichen Unfallkasse auf ten Sie mich ausreden lassen, dann hätte ich Ihnen das den Prüfdienst der Deutschen Rentenversicherung über- auch noch erläutert. gehen. Das bedeutet wieder mehr Bürokratie und Belas- tung der Unternehmen. Das halte ich für überhaupt nicht Ich sage es noch einmal: Fusionen sind doch kein günstig. Man muss die Unternehmen von der Bürokratie Selbstzweck. entlasten und sie nicht belasten. (Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: (Beifall bei der FDP) Nein!) Völlig falsch ist auch die Moratoriumslösung, die ei- Genau das ist hier aber passiert. Man hat auf Teufel nen Eingriff in den Wettbewerb darstellt. Dass privat- komm raus fusioniert, um davon abzulenken, dass man rechtlich organisierte Unternehmen des Staates bei den den Leistungsteil überhaupt nicht angreift. Das ist ja der Unfallversicherungsträgern der öffentlichen Hand versi- Hintergrund. chert sind, ist nicht hinnehmbar; denn es ist ein Eingriff (Beifall bei der FDP – Peter Weiß [Emmendin- in den Wettbewerb. Ebenso falsch ist es, dass die gesetz- gen] [CDU/CSU]: Das war der Vorschlag der liche Unfallversicherung der Rechts- und Fachaufsicht Selbstverwaltung und nicht der Politik! – durch das BMAS unterstellt wird. Das ist doch eine Ver- Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Reines Ablen- sicherung. Der Unternehmer hat die Pflicht, versichert kungsmanöver!) zu sein. Was hat aber der Staat noch darin herumzurüh- ren, Herr Brandner? – Genau, Herr Dr. Kolb. (B) (D) (Beifall bei der FDP) Was die Union und die SPD hier vorgelegt haben, ist wirklich kein Meisterstück. Das zeigt aber, dass bei der jetzigen Konstellation nur der kleinste gemeinsame Nen- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: ner möglich ist. Es kommt also nichts Entscheidendes Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des dabei heraus; denn der Unternehmer fragt vor allem: Kollegen Weiß? Wie werde ich durch dieses Gesetz entlastet? Was bringt es mir? Hier ist eben das Problem, dass es nichts bringt, Heinz-Peter Haustein (FDP): sondern dass die Unternehmen durch mehr Bürokratie belastet werden. Selbstverständlich. Wenn man jetzt schon einmal an die Unfallkasse he- Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU): rangeht, um etwas Richtiges zu tun, dann muss man auch Wettbewerbselemente einführen. Das haben wir mit un- Herr Kollege Haustein, ich habe bislang immer ange- serem Vorschlag getan. nommen, die FDP sei ein Freund von Selbstverwaltung. Ich finde, das, was Sie soeben geäußert haben, ist eine (Beifall bei der FDP) ziemlich bösartige Unterstellung: Die Selbstverwaltung der deutschen Berufsgenossenschaften hätte sich von der Wettbewerb heißt, dass man wählen kann, ob man die Politik – den Koalitionsfraktionen, der Bundesregierung – Arbeitsunfälle bei den Berufsgenossenschaften oder ei- überreden lassen, neun Berufsgenossenschaften vorzu- ner anderen Versicherungsgesellschaft in Deutschland schlagen. versichert. Wettbewerb ist nach unserem Verständnis im- mer besser als ein Monopol. Ich finde das deswegen so ungeheuerlich, weil als po- (Wolfgang Grotthaus [SPD]: Altlasten mit litische Vorgabe ursprünglich sechs Berufsgenossen- übernehmen!) schaften vorgesehen waren. Die Selbstverwaltung hat aus freien Stücken neun Berufsgenossenschaften vorge- Das muss auch gesagt werden: Bei den Berufskrankhei- schlagen, und die Koalitionsfraktionen und die Bundes- ten geht das nicht so schnell. Das müsste mittelfristig ge- regierung haben diesen Vorschlag übernommen. plant werden. Bei den Arbeitsunfällen geht das aber so- fort und gleich, wenn man es nur will. (Uwe Barth [FDP]: Sie haben doch gleich noch Redezeit! Sie wollten doch eine Frage Da es hier auch um viel Geld geht, können wir nicht stellen!) Abstand davon nehmen, das Thema Wegeunfälle 17236 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008

Heinz-Peter Haustein (A) anzusprechen. Noch einmal: Der Unternehmer alleine (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (C) bezahlt den Beitrag zur Unfallkasse. Der Weg zur Arbeit neten der SPD) und zurück stellt aber nicht allein ein Risiko des Unter- Es gibt aber Reformbedarf, wie der Staatssekretär zu nehmens dar, sondern er ist auch Teil des Lebensrisikos. Recht ausgeführt hat. Die Strukturen der Branchenglie- Deshalb sollte man auch beim Thema Wegeunfälle da- derung passen nicht mehr in unsere Zeit. Sie bilden zwar rüber reden, ob das weiter so gehandhabt werden muss ein Stück Wirtschaftsgeschichte ab, aber nicht die zeit- oder ob es dort nicht eine paritätische Lösung geben gemäße Branchenstruktur, wie sie sich in Deutschland kann. entwickelt hat. Deshalb müssen wir jetzt so etwas wie (Beifall bei der FDP) eine große Flurbereinigung durchführen und Strukturen schaffen, die Synergieeffekte ermöglichen und die not- Zusammengefasst: Die von Ihnen vorgeschlagene Re- wendigen Trägereinheiten von gewerblichen Berufsge- form ist wie so oft bei der Großen Koalition keine wirk- nossenschaften und Unfallkassen herausbilden, die zu- liche Reform. Ich weiß aber, dass derzeit nicht mehr kunftsfähig und leistungsfähig sind. möglich ist, lieber Gerald Weiß. Ich hoffe, dass wir rich- tige Reformen durchführen werden, wenn wir eines Ta- Die Politik hat zunächst einige Vorgaben gemacht. ges gemeinsam regieren. Wir haben dann allerdings in die Selbstverwaltung das Vertrauen gesetzt, dass sie selbst diese Flurbereinigung In diesem Sinne ein herzliches Glückauf aus dem angeht. Dieses Vertrauen ist nicht enttäuscht worden. sächsischen Erzgebirge. Die Selbstverwaltung hat ein überzeugendes Konzept entwickelt, wie sie die Zahl der Berufsgenossenschaften (Beifall bei der FDP) – lieber Kollege Haustein, das ist keine Erfindung der Politik, sondern der Selbstverwaltung; sie hat sich auch Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: nicht überreden lassen müssen – von heute 25 auf Das Wort hat der Kollege Gerald Weiß, CDU/CSU- 9 große Einheiten reduzieren kann. Eine verschlankte Or- Fraktion. ganisation ist leistungsfähig und zukunftsfähig. Die Ver- ringerung auf neun zukunftsfähige Träger der gesetzlichen (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Unfallversicherung wollen wir im Gesetz abbilden. neten der SPD) Des Weiteren ging es um die Frage, unter welchem Dach die Unfallversicherung nach der Flurbereinigung Gerald Weiß (Groß-Gerau) (CDU/CSU): zusammengeführt werden soll. In der Politik stand die Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolle- Idee einer öffentlich-rechtlichen Körperschaft im Raum. (B) ginnen und Kollegen! Dem geschätzten Kollegen Die Union war von Anfang an dagegen, weil uns das zu (D) Haustein ist die Reform zu klein, staatsnah war. Wir befürworten das tragende Prinzip „Vorrang für die Selbstverwaltung“. Deshalb sind wir (Heinz-Peter Haustein [FDP]: Genau!) sehr froh, dass die Selbstverwaltung aktiv geworden ist aber ohne Zweifel beginnt mit dem heutigen Tag der und mit den Unfallkassen und gewerblichen Berufsge- Countdown zur umfassendsten Reform der gesetzlichen nossenschaften einen Verein als Dach dieser großen Unfallversicherung seit vielen Jahrzehnten. Die Große neuen deutschen Unfallversicherung gegründet hat, und Koalition ist keine schlechte politische Voraussetzung, zwar staatsfern, selbstbestimmt und selbstverantwort- um eine solche umfassende Reform unserer solidari- lich. Das ist die angemessene Antwort auf die Organisa- schen Unfallversicherung zu organisieren, lieber Kollege tion der neuen gesetzlichen Unfallversicherung in Haustein. Deutschland. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) neten der SPD – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Jetzt stellt sich natürlich im Hinblick auf diesen Ver- Wo fangen Sie denn an, rückwärts zu zählen?) ein die Frage nach dem Freiraum der Selbstverwaltung. Es handelt sich um Reformen im System. Für einen Diesbezüglich, Herr Staatssekretär Brandner, werden wir Systemwechsel gibt es keinen Anlass. Denn das System im weiteren Gesetzgebungsverfahren noch Diskussions- der gesetzlichen Unfallversicherung – mein Vorredner bedarf haben. Es wäre ein Fehler, wenn wir den Verein, hat auf die Historie verwiesen; Bismarck hat es vor den die Selbstverwaltung hervorgebracht hat und nun 124 Jahren in seinen Grundzügen geschaffen – hat sich weiterentwickelt, mit einer zu großen Staatsaufsicht bewährt. In einem sehr langfristigen Trend sinkt die Zahl überzögen und zu sehr an die Kandare des Staates näh- der Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten. men. Das wäre der Abschied vom Vorrang der Selbstver- waltung, der wir Geltung verschaffen wollen. Selbstverwaltung, Prävention, Branchen- und Risiko- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie gliederung, Rehabilitation, Schadensausgleich, Lasten- bei Abgeordneten der FDP, des BÜNDNIS- ausgleich, solidarische Haftung der Unternehmer für- SES 90/DIE GRÜNEN und der LINKEN) einander, Leistungssicherheit der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sind die Grundbausteine für den Er- Die Selbstverwaltung hat auch ein neues Lastenaus- folg dieses Systems. Deshalb gehen wir weiterhin von gleichssystem entwickelt, das Konzept des Überaltlast- diesem System aus und gestalten es, wo nötig, ein Stück ausgleichs, das die Antwort auf die Frage darstellt, was weit neu. Das ist unser Ansatz. Solidarität und was Eigenverantwortung leisten muss. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008 17237

Gerald Weiß (Groß-Gerau) (A) Wer im Arbeitsschutz schlurt, muss mit höheren Beiträ- krankheiten und die Praxis der Begutachtung sind durch- (C) gen dafür bezahlen; das ist kein Fall für die Solidarität. aus eine Überprüfung wert. Wer aber unter einer langfristigen und massiven Struk- turkrise leidet, dem soll die große Gemeinschaft der ge- Mit Recht stellt die Große Koalition inzwischen fest, setzlichen Unfallversicherungen unter der Überschrift dass sich eine derart grundlegende Reform des Leis- „Solidarität“ helfen. Dies ist ebenfalls in Eigenverant- tungsrechts nur im Dialog mit den Sozialpartnern und wortung weit entwickelt worden, und wir schreiben auch keinesfalls gegen die Sozialpartner realisieren lässt. dies in das Gesetz hinein. Wenn aber Staatssekretär Lersch-Mense nun davon spricht, die Bundesregierung müsse bei einem neuen Aber die konkrete Lastenverteilung, bei der es um die Anlauf eine bessere Überzeugungsarbeit leisten, dann Grenzen der Solidarität geht, also darum, Nehmern so hat er offensichtlich noch immer den Schuss nicht ge- weit wie möglich zu helfen, ohne die Geber zu überfor- hört. Glaubt die Bundesregierung, bereits jetzt im Besitz dern, kann nicht Aufgabe der Selbstverwaltung sein. der allein selig machenden Weisheit zu sein? Haben es Diesen Knoten muss die Politik durchschlagen. alle anderen nur noch nicht richtig verstanden? Müssen (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Was haben Sie sie deshalb jetzt nur noch überzeugt werden? Wenn das denn vor?) Ergebnis schon jetzt feststeht, hat das Ganze mit Dialog nichts, aber auch gar nichts zu tun. Wegen der divergierenden Eigeninteressen kann dies weder der Verband noch eine Berufsgenossenschaft leis- Die Linke begrüßt, dass die Große Koalition bei dem ten. Hinsichtlich des Verteilungsschlüssels muss die Po- hier vorliegenden Entwurf einer Organisationsreform litik in Abwägung aller Argumente – täglich werden uns davon ausgeht, dass sich das System der gesetzlichen von allen Seiten neue Argumente geliefert – eine ge- Unfallversicherung grundlegend bewährt hat und erhal- rechte Antwort finden. ten werden muss. Das muss jetzt im parlamentarischen Beratungspro- (Beifall bei der LINKEN) zess abgewogen werden, und dazu wird Rat eingeholt werden müssen. Einige andere Fragen sind auch noch zu Dennoch – dieser Meinung sind auch wir Linke – zwingt klären. Anschließend wird teilweise neu und teilweise der Wandel von der industriellen Produktion zur Dienst- anders entschieden werden. Bei diesem Gesetzgebungs- leistungsgesellschaft zu organisatorischen Veränderun- prozess beschränken wir uns nicht auf eine Endmontage gen. Es gibt Branchen, deren Bedeutung geschwunden angelieferter Fertigteile. Das Parlament ist das eigentli- ist oder die ganz verschwunden sind, und neue Branchen che Entscheidungszentrum, das diese Arbeit jetzt ab- sind entstanden. Das hat Auswirkungen auf die für diese Branchen zuständigen Berufsgenossenschaften; auch (B) schließt. Für die heutige erste Lesung halten wir fest, (D) dass der vorgelegte Regierungsentwurf eine tragfähige ihre Bedeutung verändert sich, auch sie müssen sich ver- Grundlage für diese Reformdiskussion ist. änderten Strukturen der Arbeitswelt anpassen – eine gute Gelegenheit, viele, kleinere Berufsgenossenschaften zu Herzlichen Dank. größeren, leistungsfähigeren Einheiten zusammenzufas- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) sen. Neben dieser grundlegenden Zustimmung zum Re- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: formprozess haben wir Linke eine Reihe von Kritik- Nächster Redner ist der Kollege Volker Schneider, punkten im Detail, von denen ich hier die drei wichtigs- Fraktion Die Linke. ten nennen möchte. (Beifall bei der LINKEN) Erstens. Eine Rechts- und Fachaufsicht des Bundes- ministeriums für Arbeit und Soziales über den Spitzen- Volker Schneider (Saarbrücken) (DIE LINKE): verband Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung lehnt Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! die Linke ab. Mit dem DGB und der Bundesvereinigung Sehr geehrte Damen und Herren auf den Tribünen! Die der deutschen Arbeitgeberverbände – was für eine Ko- beste Nachricht vorweg: Leistungskürzungen in der ge- alition! – teilen wir die Auffassung, dass diese Art des setzlichen Unfallversicherung wird es nicht geben, We- staatlichen Zugriffs das demokratische und sozialstaatli- geunfälle bleiben auch weiterhin geschützt, das Leis- che Prinzip der Selbstverwaltung zerstört. tungsrecht ist nicht mehr Thema des hier vorliegenden Gesetzentwurfs. Der Widerstand von Gewerkschaften, (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- Sozialverbänden und Politikern verschiedener Parteien neten der FDP – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: war also erfolgreich. Als Linke sagen wir im Gegensatz Und mit der FDP!) zur FDP: Das ist auch gut so. – Und mit der FDP; diese Koalition wird immer grö- (Beifall bei der LINKEN) ßer! – Zudem gefährden derartige ministerielle Ein- griffsmöglichkeiten die Praxis einer engen Verzahnung Aufgeschoben ist aber nicht aufgehoben. In der von Beratung, Prävention und Rehabilitation und erset- nächsten Legislaturperiode soll eine solche Reform er- zen sie durch staatliche Fürsorge. Dazu sagen wir als neut angegangen werden. Auch dazu sagen wir als Linke deutlich Nein. Linke: Das ist gut so. Reformbedarf im Leistungsrecht ist durchaus gegeben; die Anerkennung von Berufs- (Beifall bei der LINKEN) 17238 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008

Volker Schneider (Saarbrücken) (A) Nein sagen wir auch zu Kontrollen durch die Hintertür in Volker Schneider (Saarbrücken) (DIE LINKE): (C) Gestalt von Prüfungen durch den Rechnungshof. Herr Letzter Absatz. Staatssekretär Brandner hat eben behauptet, eine solche Regelung der Fach- und Rechtsaufsicht sei aus verfas- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: sungsrechtlicher Sicht unumgänglich; sein Kollege Staats- Nein: nicht letzter Absatz, letzter Satz! sekretär Lersch-Mense spricht sogar von einem verfas- sungsrechtlichen Zwang. Das ist eine erstaunliche Argumentation für eine Bundesregierung, die sonst nicht Volker Schneider (Saarbrücken) (DIE LINKE): gerade dadurch auffällt, dass sie verfassungsrechtliche Letzter Satz; es ist tatsächlich nur einer, Sie dürfen Bedenken sonderlich ernst nimmt. aufpassen. – Bei aller grundsätzlichen Übereinstimmung stelle ich für meine Fraktion fest, dass wir noch Ver- (Beifall des Abg. Hüseyin-Kenan Aydin [DIE handlungsbedarf sehen und hoffen, dass auch dieses Ge- LINKE]) setz den Bundestag nicht so verlässt, wie es eingebracht wurde. Eine Rechtsaufsicht in dem Bereich, in dem die Unfall- versicherung hoheitliche Aufgaben wahrnimmt, ist aus Danke schön. unserer Sicht vollkommen ausreichend. Das sehen nicht (Beifall bei der LINKEN) nur wir so, das sehen neben dem DGB und der BDA auch einige Fachjuristen so. Dabei wäre allerdings noch Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: zu prüfen, ob und inwieweit die Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung tatsächlich hoheitliche Aufgaben Ich gebe das Wort dem Kollegen Markus Kurth, wahrnimmt. Bündnis 90/Die Grünen.

Zweitens. Die Linke begrüßt zwar die Einführung ei- Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): ner nationalen Arbeitsschutzkonferenz und die Ver- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! pflichtung von Bund, Ländern und Unfallversicherungs- Die Große Koalition hat mit dem Gesetzentwurf sowohl trägern, eine gemeinsame Arbeitsschutzstrategie zu bezogen auf die Organisation der Unfallversicherungs- entwickeln, wir fordern aber nachdrücklich eine stärkere träger als auch bezogen auf den Lastenausgleich nur eine Einbindung der Sozialpartner in diesen Prozess. halbe Reform auf den Weg gebracht. (Beifall bei der LINKEN) (Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: Ihr wärt doch froh gewesen, wenn ihr wenigstens halbe Drittens. Die geplante Übernahme der Betriebsprü- (B) Sachen hingekriegt hättet!) (D) fungen für die Unfallversicherung durch die Rentenver- sicherung lehnen wir ab, weil es sich um völlig unter- Mittlerweile sind seit dem Beschluss der Bund-Länder- schiedliche Systeme handelt: Die Rentenversicherung Arbeitsgruppe zwei Jahre vergangen. Das Problem ist, prüft die Daten einzelner Versicherter, während bei der dass Sie den Bereich des Leistungsrechts und den Be- gesetzlichen Unfallversicherung die Unternehmen Bei- reich des Berufskrankheitenrechts auf die lange Bank träge je nach Gefahrenklasse und Höhe der Lohnsumme geschoben haben. Aber das kennen wir schon. an die Berufsgenossenschaft zahlen, unabhängig davon, (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das ist ein wie viele Beschäftigte hinter der Lohnsumme stehen. Sie Armutszeugnis!) behaupten, durch einen Wegfall der Doppelprüfung durch Renten- und Unfallversicherung würden die Un- – Richtig, das ist ein Armutszeugnis. – Auch beim Prä- ternehmen entlastet. Staatssekretär Lersch-Mense hat in ventionsgesetz und beim Mindestlohn haben Sie nur dieser Woche die Kosten für die Umstellung auf 3,4 Mil- halbe Sachen gemacht. Der Gesundheitsfonds ist unfer- lionen Euro und die laufenden Kosten auf 120 000 Euro tig. Sie verschieben das auf die Zeit nach 2009. Dabei beziffert. Ich muss schon sagen: Sie haben eine merk- wäre eine Reform des Leistungsrechts und des Berufs- würdige Auffassung davon, wie man Unternehmen ent- krankheitenrechts tatsächlich notwendig gewesen. lastet. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP) Oder geht es Ihnen etwa gar nicht um eine Entlas- tung? Ist Ihr Hauptinteresse möglicherweise, dass Sie Bevor ich weiter Beifall von der falschen Seite be- auf diesem Weg heute ein Versichertenkataster einrich- komme, Herr Kolb: Eine Reform des Leistungsrechts, ten, mit dem Sie morgen auch die Arbeitnehmer zur Bei- wie sie sich Bündnis 90/Die Grünen vorstellen, wäre tragsleistung heranziehen können? Wir Linke sagen klar sicherlich etwas anderes als das, was Ihnen vorschwebt und deutlich: Die Unfallversicherungsbeiträge werden und Herr Haustein ausgeführt hat. Es ist tatsächlich not- aus gutem Grund von den Arbeitgebern allein gezahlt. wendig, die Strukturprinzipien, nach denen die Berufs- Das soll auch so bleiben. krankheiten ermittelt und bemessen werden, noch ein- mal genau zu überprüfen. Wir haben den Weg von der (Beifall bei der LINKEN) Industriegesellschaft in die Dienstleistungsgesellschaft genommen. Aber noch immer werden Berufskrankhei- ten nach monokausalen Ursachen bemessen. Die mecha- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: nistischen Vorgänge der Industriegesellschaft sind an Herr Kollege Schneider! dieser Stelle noch immer der Maßstab. Wenn ich bei VW Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008 17239

Markus Kurth (A) am Band stehe, ständig eine Tür aus- und einhänge und Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (C) so mein Eckgelenk belaste, dann kann ich natürlich nach Nächster Redner ist der Kollege Wolfgang Grotthaus, 20 Jahren Bandarbeit sagen: Der Eckgelenkverschleiß SPD-Fraktion. ist eine arbeitsbedingte Erkrankung. Dann bekomme ich die entsprechende Entschädigung und Rehabilitation. (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]) Heutzutage sieht die Arbeitswelt aber anders aus. Be- deutsam sind insbesondere die Zunahme der Zahl der psychischen Erkrankungen, die Verdichtung der Arbeits- Wolfgang Grotthaus (SPD): prozesse und der häufige Wechsel der Tätigkeiten. Das Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und heißt, die berufsbedingten Erkrankungen sind vielfälti- Herren! Ich bin dem Kollegen Kurth dankbar, dass er nur ger geworden und müssen in ihrer Vielfalt in der Unfall- den Leistungsteil und den Bereich der Berufskrankheiten versicherung erfasst werden. Im Moment werden nur angesprochen hat; denn diese beiden Teile stehen inner- 8 Prozent aller angezeigten Berufskrankheiten entschä- halb des Gesetzentwurfes überhaupt nicht zur Diskus- digt. Das BKK-Team „Gesundheit“ schätzt die Kosten, sion. Das zeigt aber, dass Sie mit dem Gesetzentwurf aus die durch berufsbedingte Erkrankungen jedes Jahr ent- meiner Sicht äußerst zufrieden sind; denn Ihnen ist stehen, auf 40 Milliarden Euro. Die Kosten sind also da, nichts Kritisches dazu eingefallen. Ansonsten hätten Sie werden aber nicht von den Verursachern, den Unterneh- sich viel intensiver um die Inhalte des Gesetzentwurfs men, sondern von den gesetzlichen Krankenkassen gekümmert. getragen. Sofern sich langwierige Berufskrankheiten entwickeln, die zu Arbeitsunfähigkeit oder Arbeitsplatz- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – verlust führen, zahlen die Jobcenter, die Sozialämter Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- oder die Rentenversicherung. Das heißt, hier muss NEN]: Das wäre ja langweilig!) grundlegend auf die Veränderungen in der Arbeitswelt Zu dem Kollegen Schneider muss ich sagen: Herr Kol- reagiert werden. Die gesetzliche Unfallversicherung ist lege Schneider, toll! Der DGB hat Ihnen genauso wie fit für die Dienstleistungsgesellschaft zu machen. uns Informationsmaterial zugeschickt. Sie haben dieses (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) für Ihre Rede benutzt. Sie haben dann den Zusammen- hang zwischen den Ausführungen des DGB und dem Um Ihnen die Dringlichkeit des Problems zu verdeut- Gesetzentwurf dargestellt und gesagt, dass wir den Leis- lichen, möchte ich ein paar Zahlen nennen, die erst vor tungsteil ausgeklammert haben. Nein, sage ich Ihnen, wenigen Wochen vom Berufsverband Deutscher Psy- diesen Zusammenhang gibt es zwar, aber in der Form, chologinnen und Psychologen auf einer Pressekonferenz dass wir sehr intensiv mit dem DGB und den Einzelge- (B) veröffentlicht wurden. Danach ist der Anteil psychischer werkschaften im Vorfeld zusammengesessen und Lösun- (D) Erkrankungen im Bereich arbeitsbedingte Erkrankungen gen gesucht haben, uns diese Lösungen aber nicht vor von 6,6 Prozent im Jahr 2001 auf 10,5 Prozent im Jahr die Füße gefallen sind. Deshalb haben wir gesagt, dass 2005 angestiegen. Es gibt hier also eine Zunahme, wäh- wir diesen Leistungsteil zu einem späteren Zeitpunkt rend die Zahl der klassischen Arbeitsunfälle zurückgeht, ohne alle Aufgeregtheiten diskutieren wollen. weil sich die Branchen und Tätigkeiten verändern. Noch eine Zahl: Die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Ar- (Beifall der Abg. [SPD]) beitsmedizin, ebenfalls eine seriöse Quelle, schätzt die Kosten des Ausfalls an Bruttowertschöpfung im Bereich Daher werden wir, Herr Kollege Schneider, darauf ach- der psychisch bedingten Erkrankungen auf 7 Milliarden ten, ob Sie dem, was der DGB schreibt und was sich in Euro. Das entspricht immerhin 0,3 Prozent des Bruttoin- großen Passagen in diesem Gesetzentwurf wiederfindet, landsprodukts. Das ist ein erheblicher Anteil. zustimmen werden. Daran machen wir es fest, wenn es nachher zur Abstimmung kommt. Wir haben also die Verpflichtung, uns das Leistungs- recht noch einmal genau anzuschauen. Sie schaffen mit (Beifall bei der SPD) der von Ihnen geplanten Organisationsreform keine Zum Kollegen Weiß kann ich sagen: Ich kann mich den grundlegenden Änderungen. Ich bin froh, dass diese Re- Ausführungen meines Vorredners anschließen. form des Leistungsrechts nicht verabschiedet wurde; das will ich ganz offen sagen. Wir, das Parlament, müssen (Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- erneut in Verhandlungen eintreten und das System NEN]: Dann könnten wir die Debatte abkür- grundsätzlich verändern. zen!) Da ich nicht mehr allzu viel Zeit habe, möchte ich Ich will es Ihnen aber nicht zu leicht machen; denn der mich nur noch zu einem Punkt des vorliegenden Gesetz- Punkt ist: Das zeigt eigentlich, dass wir in der Großen entwurfs äußern. Herr Schneider hat bereits die zusätzli- Koalition in dem Thema sehr eng zusammengearbeitet chen Meldepflichten angesprochen. Der Normenkon- haben und schon sehr weit sind. trollrat hat uns im Ausschuss vorgerechnet, dass diese zu 56 Millionen zusätzliche Kosten bei der Fachaufsicht (Gerald Weiß [Groß-Gerau] [CDU/CSU]: So führen. Zumindest an dieser Stelle besteht Handlungsbe- ist es!) darf und scheint ein erneuter Beratungsprozess geboten zu sein. Es müsste Ihnen eigentlich zu denken geben, dass dieses breite Spektrum der SPD und der CDU/CSU in einem Vielen Dank. Fall, in dem es um Organisationsfragen und zum Teil 17240 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008

Wolfgang Grotthaus (A) ums Eingemachte, um Mitbestimmungsrechte und den, wenn die Gesetzesberatungen in vollem Gange (C) Selbstverwaltungsrechte, geht, einer Meinung ist. sind. Lassen Sie mich, da auch ich nur begrenzte Zeit zur (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Verfügung habe, nun einige Dinge ansprechen. Ich bin Ich möchte noch einige Sätze zur Bergbau-BG sagen. dem Hauptverband der gewerblichen Berufsgenossen- Hier gibt es den Wunsch, die Übernahme der Rehakos- schaften, nachträglich: Deutsche Gesetzliche Unfallver- ten und der Verwaltungskosten mit in den Solidaraus- sicherung, sehr dankbar, dass er die Selbstverwaltung so gleich zu bringen. Wir sagen Ja zu den Rehakosten, wir verstanden hat, wie sie von uns gewünscht ist. Er soll sagen Nein zu den Verwaltungskosten. Dies wäre eine nämlich im Rahmen eines Gesetzgebungsverfahrens Einmaligkeit und würde eine präjudizierende Wirkung Ideen entwickeln, die die Selbstverwaltung tatsächlich in auf die anderen BGen ausüben. Auch sie würden den den Vordergrund stellen und von denen die Politik sagen Antrag stellen, alle Verwaltungskosten einzubringen. kann: Das ist gut, das wollen wir nachvollziehen. – Das Wir fordern die Bergbau-BG auf, die Verwaltungskosten ist zum Beispiel bei der Anzahl der neuen BGen der Fall. zu minimieren. Das gilt aber auch für den Überaltlastausgleich. Da sage ich auch hier, damit Sie wissen, worauf das hinausläuft Wenn im Jahre 2012 die Revisionsklausel für den und damit wir uns demnächst darüber streiten können: Bergbau gezogen wird und wir tatsächlich zu dem Wir werden für eine Verteilung im Verhältnis 70 : 30 Schluss kommen, dass der Steinkohlenbergbau ausläuft, plädieren, wir werden uns aber gleichzeitig, um die fi- dann werden wir uns natürlich auch über die Verwal- nanzielle Belastung nicht zu stark werden zu lassen, für tungskosten unterhalten müssen. Das ist dann naturgege- eine Verlängerung des Zeitraums einsetzen, ben. Daher sehen wir heute nicht die Notwendigkeit, einen Beschluss zu fassen, der im Jahre 2012 wahr- (Beifall bei der SPD) scheinlich eine Selbstverständlichkeit sein wird. sodass wir die zusätzliche Last, die wir den Berufsge- Jetzt komme ich zu dem Punkt, der für Sie vielleicht nossenschaften mit dieser Verteilung auf den Rücken pa- von größter Wichtigkeit ist: zur Fachaufsicht. Dazu sage cken, über eine bestimmte Zeiteinheit verteilen. Wir ge- ich Ihnen: Wir plädieren für eine größtmögliche Staats- hen davon aus, dass diese Zeiteinheit bis zum Jahr 2012 ferne. Wir wissen auch: Da, wo hoheitliche Aufgaben dauern sollte. Dies hängt auch – da sehen Sie Zusam- übertragen werden, hat der Staat ein Zugriffsrecht. Wir menhänge – damit zusammen, dass wir die Arbeitneh- sagen dem Staatssekretär und dem Ministerium: Wir bit- merrechte bei der Zusammenführung von zwei BGen ten darum, dass die hoheitlichen Aufgaben definiert wer- nicht vergessen dürfen. Wenn zwei BGen zusammenge- den. Das, was bisher gelaufen ist, was bisher in Selbst- führt werden, dann gibt es keinen Personalrat und keinen verwaltung gemacht worden ist, kann keine hoheitliche (B) Betriebsrat mehr, weil es keinen abgebenden und keinen (D) Aufgabe sein. aufnehmenden Betrieb gibt. Wir möchten gerne, dass im Gesetz verankert wird, wie das auch beim Knappschafts- (Andrea Nahles [SPD]: Richtig!) gesetz der Fall ist, dass dann, wenn Zusammenschlüsse erfolgen, die Betriebsräte noch bis zum Ende der Wahl- Also müssen wir wissen, welche zusätzlichen Aufgaben periode miteinander und nicht nebeneinander im Inte- auf die Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung zuge- resse der Belegschaft arbeiten. Dies gilt im Übrigen auch kommen sind. für die Gleichstellungsbeauftragte, die noch einen be- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das ist sehr stimmten Zeitraum bis zur Wiederwahl hat. spitzfindig!) Es soll einen Übergang bei der Betriebsprüfung und Wir werden zu prüfen haben, ob es sich tatsächlich um dem Lohnnachweis – da hat aus meiner Sicht der Bun- hoheitliche Aufgaben handelt. Wenn es sich um hoheitli- desrat einen guten Vorschlag gemacht – bis zum Jahr che Aufgaben handelt, dann werden wir darüber zu dis- 2012 geben. Die beiden Parteien, also die Deutsche Ren- kutieren haben, ob es dazu Zielvereinbarungen gibt, die tenversicherung und die Deutsche Gesetzliche Unfall- einzuhalten sind, und ob diese Zielvereinbarungen dann, versicherung, sollten sich einig darüber werden, wie wenn sie nicht eingehalten werden, mit einer Fachauf- diese Übertragung erfolgen soll. Ich kündige aber an: sicht zu versehen sind. Hier sind wir noch ein bisschen Wenn sie sich nicht einig werden, muss der Gesetzgeber im Unklaren. eingreifen. Daher klare Kante: Selbstverwaltung soll als Erstes greifen. Ich sage Ihnen in aller Offenheit aber auch: Staats- ferne und Selbstverwaltung sind auch für uns oberstes Ein weiterer Punkt, der strittig ist, sind die neun Gebot; denn diese Berufsgenossenschaften und dieser BGen. Das soll hier in aller Deutlichkeit gesagt werden; Hauptverband haben 124 Jahre lang vernünftig, im Inte- auch der Kollege Weiß hat dies getan. Es gibt hier sehr resse der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, aber starke Emotionen von einer BG. Ich habe für diese BG auch im Interesse der Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber Verständnis, aber wenn wir hier aufweichen, bedeutet gearbeitet. dies, dass wir bei den jetzigen 23 verbleiben. Daher kön- nen wir nur darum bitten und diese BG auffordern, kon- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten sensuale Gespräche zu führen, damit auch hier ein Zu- der CDU/CSU) sammenschluss mit einer anderen BG stattfindet. Ich kann mir vorstellen, dass sich diese BG intensiver darum Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: kümmern wird und dass hier Lösungen gefunden wer- Herr Kollege Grotthaus! Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008 17241

(A) Wolfgang Grotthaus (SPD): zu nehmen. Ich glaube, dass die Träger der gesetzlichen (C) Ich komme zum Schluss. Unfallversicherung damit ein gutes Beispiel für moderne Selbstverwaltung in unserem Land geben. Ich habe Ihnen als Opposition einiges mit auf den Weg gegeben. Ich hoffe, wir werden uns noch kräftig da- (Beifall bei der CDU/CSU) ran reiben. Ich hoffe, Sie machen konstruktive Vor- schläge. Wir werden im Rahmen der Diskussion noch Vielleicht könnten sich die Bundesländer bei der Ein- Ihre Anträge behandeln. Ich sehe der Diskussion und richtung der Unfallkassen auf 16 Träger eine Scheibe da- den nachfolgenden Gesetzesberatungen mit Freude ent- von abschneiden. gegen. Ich wünsche uns allen dazu ein herzliches Glück- Ich möchte herausstellen, dass mit dieser Reform ein auf! wirksamer Beitrag gegen Schwarzarbeit geleistet werden (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) kann. Diesbezüglich ist die Anregung des Bundesrates hervorzuheben, die in den Diskussionen vielleicht noch zu vertiefen ist. Es gibt vielfältige Klagen darüber – ge- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: rade aus der Unternehmerschaft –, dass manche im Hin- Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Max blick auf die lange gesetzliche Meldefrist von sechs Wo- Straubinger, CDU/CSU-Fraktion. chen nicht sehr zeitnah handeln. Mit dem Gesetz kann (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) die entsprechende Problematik gelöst werden. Ich stehe dem sehr offen gegenüber. Max Straubinger (CDU/CSU): Wir sollten im Gesetzgebungsverfahren auch die Mo- Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! ratoriumslösung noch einmal ansprechen. Mit der heutigen Einbringung des Entwurfs eines Geset- zes zur Modernisierung der gesetzlichen Unfallversiche- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und rung möchte ich dem Kollegen Gerald Weiß ausdrück- der FDP – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ein lich beipflichten: Wir gehen jetzt eine der umfassendsten fairer Wettbewerb erfordert das!) Reformen an, zunächst nur der Organisation. Ich bin Gerade von staatlichen Betrieben, die am privaten Wett- dem Kollegen Grotthaus sehr dankbar, dass er darauf bewerb teilnehmen, muss man erwarten, dass sie zukünf- hingewiesen hat, welches Zukunftspotenzial die Leis- tig ihren Beitrag zu der gesetzlichen Unfallversicherung tungsreform hat. Auch in dieser Koalition muss dieser leisten und damit den Solidaritätsgedanken unterstützen. Gedanke weiterentwickelt werden. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie Wichtig ist außerdem, dass die Organisationen ange- bei Abgeordneten und des Abg. Markus Kurth (B) passt werden und dass damit Wirtschaftlichkeitsstruktu- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) (D) ren geschaffen werden, die geringere Verwaltungskosten mit sich bringen, was für die Betriebe von eminenter Be- Jeder, der am Markt teilnimmt, soll die gleichen Bedin- deutung ist. Vor allen Dingen muss angesichts der gro- gungen haben. Unter diesem Gesichtspunkt sollten wir ßen Beitragssatzspreizung, die wir jetzt haben, die Alt- über die Moratoriumslösung durchaus mit diskutieren. lastenproblematik angegangen werden. Die jetzige Ich finde es bedauerlich, dass die linke Fraktion immer Beitragssatzspreizung von durchaus 7 Prozentpunkten unterstellt, es seien in der Diskussion über die gesetzliche ist manchen Betrieben und manchen Branchen letztend- Unfallversicherung gerade in der Bund-Länder-Arbeits- lich nicht mehr zuzumuten. Auch unter diesem Gesichts- gruppe Verschlechterungen für die Versicherten, die Ar- punkt ist die Modernisierung der gesetzlichen Unfallver- beitnehmerinnen und Arbeitnehmer vorgesehen gewe- sicherung zu verstehen. sen. Bessere Verwaltungsstrukturen sind immer gut. Vor- (Gerald Weiß [Groß-Gerau] [CDU/CSU]: gängerbundesregierungen haben gerade im Bereich der 500 Millionen mehr!) landwirtschaftlichen gesetzlichen Unfallversicherungen eine gute Wegmarke gesetzt. Mittlerweile können wir in Das stimmt in keiner Weise. Wir wollten ein zielge- diesem Bereich feststellen, dass die Verwaltungsstruktu- richtetes und zielgerechtes Leistungsrecht erarbeiten. Ich ren vergrößert, verbessert und vereinheitlicht worden gebe dem Kollegen Grotthaus darin recht, dass wir sind; darüber hinaus wird mit einheitlicheren Datenver- durchaus Diskussionsbedarf haben. Aber die Einteilung arbeitungssystemen gearbeitet. Somit können im Sinne in Erwerbsschaden und Gesundheitsschaden ist durchaus der Versicherten schnelle Lösungen gefunden werden, sehr zielführend gewesen, und darüber ist meines Erach- und zwar vor allen Dingen zu bezahlbaren Preisen. tens auch so zu diskutieren. Deshalb verwahren wir uns gegen den Vorwurf, es seien Leistungskürzungen vorge- Ich möchte den Trägern der gesetzlichen Unfallversi- sehen gewesen. cherung, den Selbstverwaltungen ausdrücklich dafür danken, dass sie bereits während der vorbereitenden Dis- kussionen im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Vorschläge mit erarbeitet haben und sich auf neun zu- Herr Kollege Straubinger, gestatten Sie eine Zwi- künftige Berufsgenossenschaften geeinigt haben. Es ist schenfrage des Kollegen Schneider? gut verstandene Selbstverwaltung, die Hausaufgaben, die zu machen sind, bei allen Schwierigkeiten, die damit Max Straubinger (CDU/CSU): verbunden sind, selbst mit zu gestalten und mit auf sich Ja. 17242 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008

(A) Volker Schneider (Saarbrücken) (DIE LINKE): Herr Kollege Kolb, Sie wissen – davon bin ich über- (C) Bevor wieder gefordert wird, eine Zwischenfrage zu zeugt –, dass der Leistungskatalog der gesetzlichen Un- stellen, möchte ich darauf hinweisen, dass nach unserer fallversicherung – er umfasst Rehamaßnahmen und Prä- Geschäftsordnung auch Zwischenbemerkungen möglich ventionsmaßnahmen – in keiner Weise von einem sind. privaten Versicherer nach mathematischen Grundsätzen kalkuliert werden kann. Von daher verstehe ich nicht, Herr Kollege Straubinger, nur damit es kein Missver- wenn Sie sagen, damit würde ein stärkerer Wettbewerb ständnis gibt: Ich habe eben deutlich darauf hingewie- herbeigeführt und könnten günstigere Beiträge erreicht sen, dass es auf der einen Seite gut ist, dass die Reform werden. Ich bin überzeugt: Wir würden bei einem sol- des Leistungsrechts verschoben wurde – es gab durchaus chen System eine weit größere Spannbreite in den Bei- Elemente, die nicht nur von meiner Fraktion als Kürzun- tragszahlungen haben als jetzt. Manche Gewerke würden gen angesehen wurden –, dass es auf der anderen Seite möglicherweise von keinem Versicherer aufgenommen, aber notwendig und wichtig ist, diese Reform trotzdem weil das zu teuer wäre, noch durchzuführen und dass man sie im Dialog durch- führen sollte. Das ist keine Formulierung von mir, son- (Heinz-Peter Haustein [FDP]: Das stimmt dern diese hat Herr Tiemann selbst benutzt, als er sich nicht! Das ist abgeklärt worden!) von uns im Ausschuss für Arbeit und Soziales verab- schiedet hat. Insofern verstehe ich die Aufgeregtheit in oder aber die Prämie, die der Unternehmer zahlen diesem Zusammenhang nicht. Aber vielleicht können müsste, wäre zu hoch. Sie mir das erläutern. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Max Straubinger (CDU/CSU): Herr Kollege Straubinger. Sie haben in Ihrer Rede angeführt, dass Leistungskür- zungen vorgesehen gewesen seien. Max Straubinger (CDU/CSU): (Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Der Unter diesen Gesichtspunkten sollten wir darüber dis- Verrücktmacher sind Sie, Herr Schneider!) kutieren. Gegen diesen Passus wehre ich mich. Damit sind keine (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Leistungskürzungen verbunden gewesen, Herr Kollege neten der SPD – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Schneider. Das müssen Sie noch einmal lesen!) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Ihnen, Frau Präsidentin, herzlichen Dank für die Ge- (B) neten der SPD) duld und den Kolleginnen und Kollegen Dank für die (D) Aufmerksamkeit. Worüber meines Erachtens durchaus zu diskutieren wäre, auch wenn wir über Leistungsrecht an sich nicht (Beifall bei der CDU/CSU) reden, ist die Abfindung von Kleinrenten und Kleinst- renten, weil die meines Erachtens dazu führt, dass unnö- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: tige Verwaltungsarbeiten über Jahre und Jahrzehnte ent- fallen können. Ein gutes Beispiel dafür, dass auch die Ich schließe die Aussprache. Versicherten in dieser Hinsicht sehr aufgeschlossen sind, Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf ist die Abfindungsaktion der landwirtschaftlichen Be- den Drucksachen 16/9154, 16/6645 und 16/9312 an die in rufsgenossenschaften. Dass diese von den Landwirten der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschla- sehr rege, ja weit stärker in Anspruch genommen wird, gen. Die Vorlage auf Drucksache 16/6645 – Tagesord- als es ursprünglich erwartet worden war – mittlerweile nungspunkt 12 b – soll zusätzlich an den Rechtsausschuss sind fast alle Finanzmittel, die für diese Abfindungsak- überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? – tion bereitgestellt worden sind, ausgegeben –, zeigt sehr Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so be- deutlich, dass dies auch den Versicherten entgegen- schlossen. kommt. Deshalb sollten wir darüber vielleicht noch dis- kutieren. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 13 a und 13 b auf: Etwas verwundert bin ich über den Antrag der FDP. a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Michael Wir haben natürlich noch Gelegenheit, über ihn intensi- Kauch, Horst Meierhofer, Angelika Brunkhorst, ver zu diskutieren. Es wird dargestellt, wie leistungsfä- weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP hig die gesetzliche Unfallversicherung bisher war, dass die Zahl der Unfälle gesunken ist und die Beitragsbelas- Umweltschutz in Afrika – Gemeinsame Ver- tung insgesamt zurückgegangen ist. Angesichts dessen antwortung für die Erde übernehmen verstehe ich nicht, dass jetzt gefordert wird, zukünftig – Drucksache 16/5132 – sollten private Unfallversicherungen tätig werden. Überweisungsvorschlag: (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Dann warten Sie Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f) mal das Urteil des Europäischen Gerichtshofs Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ab! Dann wird das wahrscheinlich etwas klarer Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und werden!) Entwicklung Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008 17243

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner (A) b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ute nen Beitrag dazu leisten, dass eine nachhaltige Wald- (C) Koczy, Thilo Hoppe, Kerstin Müller (Köln), wei- wirtschaft stattfindet, und dafür sorgen, dass dem illega- terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- len Holzeinschlag ein Ende gemacht wird, dessen NIS 90/DIE GRÜNEN Ausmaße in den betroffenen Ländern immer mehr zu- nimmt. Die Voraussetzung dafür ist aber, dass es funktio- Afrika beim Schutz der Umwelt, des Klimas nierende Regierungen in den betroffenen Ländern gibt und der Anpassung an den Klimawandel un- und man die Korruption dort in den Griff bekommt. terstützen Schließlich müssen wir darauf vertrauen können, dass – Drucksache 16/9313 – entsprechende Holzzertifizierungen auch ehrlich durch- Überweisungsvorschlag: geführt werden. Um die entsprechende Kontrolle am Bo- Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und den und durch Satelliten durchführen zu können, brau- Entwicklung (f) chen die dortigen Länder Unterstützung. Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Gleichzeitig müssen Modelle zur Honorierung ver- Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit miedener Abholzung entwickelt werden. Diese Honorie- Ich weise daraufhin, dass der Antrag zu Tagesord- rung muss aber den Menschen vor Ort zugute kommen. nungspunkt 13 b einen geänderten Titel hat. Außerdem müssen ihnen Einkommensalternativen eröff- net werden, wenn sie auf die nichtnachhaltige Nutzung Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die des Waldes verzichten. Es macht überhaupt keinen Sinn, Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die das Geld den Regierungen zu geben. Unser Eindruck ist, Fraktion der FDP sechs Minuten erhalten soll. – Ich höre dass dieser Gedanke bei den Waldschutzprogrammen, keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. die die Bundesregierung derzeit auflegt, leider noch Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege nicht ausreichend berücksichtigt wird. Michael Kauch, FDP-Fraktion. (Beifall bei der FDP) (Beifall bei der FDP) Auch der Ausbau von Schutzgebieten leistet einen wichtigen Beitrag zum Schutz der biologischen Vielfalt. Michael Kauch (FDP): Allerdings wurde bei den Beratungen des Umweltaus- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In Bonn schusses am Dienstag in Bonn deutlich: Es dürfen keine findet zurzeit die Vertragsstaatenkonferenz zur biologi- Naturschutzgebiete errichtet werden, aus denen die schen Vielfalt statt. Ich möchte die Gelegenheit der heu- Menschen ausgesperrt werden. Es darf nicht sein, dass tigen Beratung der Anträge nutzen, den Blick darauf zu Menschen, die über Jahrhunderte im Einklang mit der (B) richten, dass ein Kontinent in ganz besonderem Maße Natur gelebt haben oder gar heute noch als Jäger, Samm- (D) natürliche Ressourcen hat, aber in der Diskussion immer ler oder nomadische Hirten leben, ausgesperrt werden, wieder aus dem Blickfeld gerät. wenn solche Naturschutzgebiete errichtet werden. Das ist leider gerade in Afrika oft genug vorgekommen. Wenn wir über internationale Klimapolitik diskutie- ren, sprechen wir oft über Brasilien. Wir reden oft über (Beifall bei der FDP) Indonesien, wenn es um Landnutzungsänderungen geht. Ich möchte einige Beispiele anführen, die uns in Bonn Wir sprechen aber sehr selten über Afrika. Dieses Thema genannt wurden. Beim Aufbau des Ökotourismus in möchten wir mit unserem Antrag heute in die Aus- Botswana wurden von den Verantwortlichen die indige- schüsse tragen. nen Völker, die Buschleute, nicht einbezogen. Anstatt Drei Dinge sind aus meiner Sicht entscheidend, wenn ihr traditionelles Wissen zu nutzen, wurden sie umgesie- wir über Umweltschutz in Afrika reden. Das Erste ist das delt. Bei Landreformen in Namibia, gefördert durch Thema Biodiversität. Dabei geht es um die Frage: Wel- deutsche Entwicklungsgelder, wurden die Gebiete der chen Beitrag leistet Afrika zum genetischen Potenzial San zugunsten der Landwirtschaft der Mehrheitsbevöl- auf unserem Planeten, und wie können wir es unterstüt- kerung in Mitleidenschaft gezogen. Am Dienstag wurde zen? uns auch vermittelt, welchen Eindruck indigene Völker in Kenia von den Projekten von Nichtregierungsorgani- Zweitens der Einsatz von erneuerbaren Energien: Wie sationen wie dem WWF haben: Die zäunen unseren können wir es schaffen, in den Ländern, in denen die Wald ein, und wir dürfen nicht mehr herein. Sonne viel mehr scheint als bei uns, die erneuerbaren Energien und insbesondere die Solartechnik besser zu Über diese Dinge müssen wir hier ehrlich diskutieren. verankern? Die Errichtung von neuen Schutzgebieten in Afrika ist nicht generell gut für die Natur und die Menschen, die Das Dritte ist: Wie schaffen wir es, dass der Transfer dort leben. von Technologie gerade für den Klimaschutz stärker den afrikanischen Kontinent und eben nicht nur die Schwel- (Beifall bei der FDP) lenländer in Lateinamerika und Asien erreicht? Wir müssen, meine Damen und Herren, auch eine an- Unter dem Gesichtspunkt der Biodiversität befindet dere Wahrheit im Rahmen unserer Außenpolitik ehrlich sich der größte Schatz, den dieser Kontinent hat, im ansprechen, nämlich das Verhalten anderer Staaten in Kongobecken in Form des riesigen Regenwaldes, der Afrika. Wenn chinesische oder malaysische Unterneh- sich dort befindet. Es kommt nun darauf an, dass wir ei- men illegal Holz in Afrika einschlagen und durch die 17244 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008

Michael Kauch (A) Korrumpierung von Behörden das Holz außer Landes Zu den bleibenden Eindrücken gehörte Enttäuschung, (C) schaffen oder wenn die Königsfamilie von Abu Dhabi die es in Afrika nach dieser Konferenz gegeben hat. mit 100 Jeeps in Niger anrückt, alles abschießt, was sich Denn wir wollten nicht nur zum ersten Mal eine Konfe- dort bewegt, und es in Kühlboxen nach Arabien schafft, renz in Afrika durchführen, sondern eine Konferenz für dann ist es Aufgabe der deutschen Außenpolitik, dies an- Afrika. Man war damals enttäuscht und hat darauf hin- zusprechen. Diese Zustände sind nicht hinnehmbarer gewiesen, dass Afrika der Kontinent ist, der am wenigs- Neokolonialismus von Ländern, die früher selbst davon ten zum Wandel des globalen Klimas beiträgt, der aber betroffen waren. am meisten darunter leidet. (Beifall bei der FDP) Wir in Deutschland und den Industriestaaten sind, pro Bezüglich des Einsatzes erneuerbarer Energien in Kopf gesehen, die Hauptverursacher der Treibhausgas- Afrika gibt es ein großes Projekt, für das wir uns als emissionen. Daraus ergibt sich für uns in Deutschland Bundestagsabgeordnete hier stärker einsetzen sollten. Es und in der EU, also in den Industrienationen, die beson- handelt sich um das Desertec-Projekt, die Vision eines dere Verantwortung, uns an der Seite Afrikas für Klima- Stromverbundes zwischen Nordafrika und Europa, wo- schutz, Artenschutz und Umweltschutz einzusetzen. durch der Strom aus solarthermischen Kraftwerken in (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP der Sahara nach Europa gelangen könnte. Das wäre eine und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) gute Möglichkeit, Solarenergie kostengünstig hierzu- lande zugänglich zu machen. Dazu ist Forschung Um Artenschutz geht es bei der UN-Artenschutzkon- notwendig. Dazu ist aber auch die Öffnung der Energie- ferenz, die zur Stunde in Bonn tagt. Es ist zu früh, um märkte notwendig. Solange bestimmte Grenzen zwi- eine Bilanz zu ziehen; die Konferenz ist noch nicht been- schen den europäischen Mitgliedstaaten für Strom eine det. Man kann aber schon jetzt sagen, dass dort wichtige unüberwindbare Mauer darstellen, so lange werden auch Schritte gemacht werden. Es ist schon jetzt gelungen, er- solche Projekte zum Einsatz erneuerbarer Energien in hebliche Fortschritte zu erzielen. Es ist klar geworden, Nordafrika keine Zukunft haben. dass Deutschland, wenn es sich um Artenschutz handelt, (Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/ an der Spitze mit dabei ist. Dazu haben die Bundeskanz- DIE GRÜNEN) lerin und selbstverständlich auch der Umweltminister beigetragen. Hinsichtlich der Kooperation zwischen den Industrie- ländern und den sich entwickelnden Ländern sehen wir, Ich finde es richtig, dass man diese Überlegungen an- dass der beste Mechanismus für Technologietransfer im- stellt. Ich finde es auch richtig, dass man ein weiteres (B) mer noch der Clean-Development-Mechanism des Mal die Frage in den Mittelpunkt der Konferenz gestellt (D) Kioto-Protokolls ist. Leider funktioniert dieser heutzu- hat, wie es gelingen kann, den Regenwald zu erhalten. tage mit den afrikanischen Staaten am wenigsten. Die Dafür gibt es mehrere Gründe. Ein Grund ist, dass die Projekte konzentrieren sich im Wesentlichen auf Asien grüne Lunge Regenwald ein Wert an sich ist. Wer sich und Lateinamerika. Wir müssen Wege finden, die afrika- auf christliche Werte beruft, kann von der Bewahrung nischen Staaten besser in die Projektplanung zu integrie- der Schöpfung sprechen. Darüber hinaus sind die Regen- ren und uns im Rahmen der Verhandlungen auf Bali zu wälder unsere Goldgrube für Artenvielfalt. Außerdem überlegen, wie wir die Anwendung des CDM für afrika- tragen heutzutage die Brandrodung von Regenwäldern nische Staaten erleichtern können. und die Vernichtung von Mooren zu 20 Prozent zum Kli- mawandel bei. Es gibt viel zu tun. Ich freue mich auf eine konstruk- tive Beratung im Umweltausschuss. Daraus ergibt sich unsere besondere Pflicht, Afrika beiseitezustehen. Es geht natürlich um die Frage, wie wir Vielen Dank. dafür finanzielle Ressourcen gewinnen können. Oftmals (Beifall bei der FDP – Michael Brand [CDU/ stehen die Menschen in Afrika nicht vor der Frage, was CSU]: Machen wir doch immer!) in fünf oder zehn Jahren passiert. Sie stellen sich die Frage, wie sie die nächste Woche und den nächsten Mo- nat überleben können. Der Regenwald wird also – neben Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: anderen Gründen – abgeholzt, um zu heizen und zu ko- Für die CDU/CSU-Fraktion gebe ich dem Kollegen chen. Dafür braucht man Holz. Andreas Jung das Wort. Wir müssen uns die Frage stellen: Wie können wir Al- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- ternativen schaffen? Ein starkes Signal war – die Bun- neten der SPD) deskanzlerin hat es angekündigt und mit dem Bun- desumweltminister und dem Bundesfinanzminister Andreas Jung (Konstanz) (CDU/CSU): abgestimmt –, dass die Bundesrepublik Deutschland in Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! den nächsten drei Jahren eine halbe Milliarde Euro für Ich selbst hatte bislang nur einmal die Gelegenheit, nach den Schutz des Regenwaldes zur Verfügung stellen wird. Afrika zu reisen. Das war im letzten Jahr anlässlich der Sie hat ferner angekündigt, in den folgenden Jahren jähr- Klimakonferenz in Nairobi. Dieser eine Besuch hat ge- lich dieselbe Summe zur Verfügung zu stellen. Wir brau- reicht, um sehr tiefgreifende Eindrücke zu hinterlassen. chen dieses Geld. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008 17245

Andreas Jung (Konstanz) (A) (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – biete ausgewiesen wurden, haben uns alle erschüttert. Es (C) Michael Brand [CDU/CSU]: Deutschland bedarf keiner weiteren Erörterung, um sagen zu können, wird Waldmeister!) dass das keine nachhaltige Politik ist und dass es so et- was in Zukunft nicht mehr geben darf. Wir müssen ver- Daran anschließend werden wir über die Frage disku- stärkt überlegen, wie wir nicht nur mit den Regierungen, tieren müssen, wie es gelingen kann, diese Finanzierung sondern auch mit den indigenen Völkern Regenwald- langfristig auf ein tragfähiges Fundament zu stellen. Ich schutz betreiben. meine, dass wir zur Erreichung dieses Ziels den Emis- sionshandel noch viel mehr in den Fokus stellen müssen. (Beifall im ganzen Hause) Dazu gehören die Frage, die die Bundeskanzlerin ange- sprochen hat, nämlich ob es gelingt, einen Teil der Er- Neben dem Regenwaldschutz und dem Walderhalt löse der jetzt beschlossenen Auktionierung für den Re- wird es in Zukunft auch um die Frage gehen – sie wurde genwaldschutz zur Verfügung zu stellen, und die Frage von Michael Kauch ebenfalls angesprochen –, wie wir – über die auf Bali diskutiert wurde –, wie es gelingen Mittel für Anpassungsmaßnahmen gewinnen können. kann, den Walderhalt zu einem Element des internatio- Gerade in Afrika brauchen wir enorme Mittel im Bereich nalen Klimaschutzabkommens zu machen. Wir müssen der Anpassung. Wir müssen klären, wie ein besserer uns in diesem Zusammenhang auch fragen, wie es gelin- Technologietransfer als bisher erreicht werden kann. gen kann, nicht nur staatliche Mittel, sondern auch pri- Auch hierzu wurden auf Bali Beschlüsse gefasst. Das vate Mittel für den Regenwaldschutz und für den Wald- gehört zu den Erfolgen. Dort gab es konkrete Arbeitsauf- erhalt zur Verfügung zu stellen. Die Staaten allein träge, die jetzt in der Umsetzung sind. Wir brauchen werden überfordert sein. Wir brauchen hier den effizien- diese Ergebnisse. Auch für diesen Bereich werden wir testen Weg. die Frage beantworten müssen, wie es uns gelingen kann, private Mittel zu gewinnen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Ich will noch den Aspekt CDM aufgreifen. Wir wol- neten der SPD und der FDP) len, dass CDM mehr genutzt wird, als es heute der Fall Neben der Frage nach den Finanzen steht natürlich ist. Aus Nairobi ist mir das Gespräch mit dem Umwelt- die Frage nach den Instrumenten im Mittelpunkt. Zurzeit minister von Kenia in Erinnerung. Er schrieb der deut- wird über zwei Instrumente in Bonn diskutiert, die si- schen Delegation auf, wie viele CDM-Projekte es welt- cherlich Schritte in die richtige Richtung darstellen. weit gibt – das ist heute eine beachtliche Anzahl –, wie Dazu gehört das Projekt ABS. Dabei geht es um die viele Projekte es in Afrika gibt – es waren damals zehn Frage der gerechten Vorteilsverteilung. Die größte biolo- oder 20 – und wie viele Projekte es im vorletzten Jahr in gische Vielfalt ist zumeist in den Entwicklungsländern Kenia gab: nur ein einziges. Dies zeigt, dass wir da noch (B) anzutreffen. Aber die Profiteure sitzen hier bei uns. Es Handlungsbedarf haben. (D) handelt sich um Institute und Firmen, die von natür- Es stimmt natürlich, dass die Probleme teilweise bei lichen Heilstoffen und von den Anleitungen, die uns die den Ländern selbst liegen, weil es um Planungssicher- Natur für technische Vorgänge gibt, profitieren. Die Bio- heit, um Rechtssicherheit und um Korruption geht. Die technologiebranche greift mehr und mehr auf die natürli- Frage richtet sich an uns, was wir auf Basis von Techno- chen Stoffe zurück. Hier müssen wir einen fairen Lasten- logiepartnerschaften mit einzelnen Ländern in Afrika ausgleich finden. Darum geht es zurzeit in Bonn. In und mittels Schaffung von besseren Rahmenbedingun- diesem Zusammenhang wurden schon richtige Schritte gen tun können, um mehr CDM-Projekte für Afrika zu beschlossen. generieren. Es geht auch um die Frage, wie es gelingt, Staaten, Wir werden einige Fragen grundsätzlich klären müs- die selbst keine finanziellen Mittel zur Verfügung haben, sen. Wir werden die Diskussion, in der es um zusätzliche um Schutzgebiete auszuweisen, dazu zu bringen, solche Projekte geht, zu einem positiven Ende führen müssen, Gebiete zur Verfügung zu stellen. Frau Merkel hat ein um die Voraussetzungen für ein glaubwürdiges Klima- entsprechendes Projekt, über das in Bonn diskutiert schutzinstrument zu schaffen, das dann auch Afrika zu- wird, als Leuchtturmprojekt bezeichnet. Sie will sich gute kommt. über diese Konferenz hinaus dafür einsetzen, dass es eine partnerschaftliche Zusammenarbeit gibt. Die Ent- Das alles zeigt: Es gibt in der Tat viel zu tun. Die wicklungsländer weisen entsprechende Gebiete aus, und Bundesrepublik Deutschland stellt sich ihrer Verantwor- die Industrieländer, aber auch private Institutionen wer- tung zusammen mit den europäischen Partnern in gemein- den als Geldgeber gewonnen. Auch das ist ein zukunfts- samer, aber differenzierter Verantwortung für Afrika. orientierter Ansatz und ein gutes Instrument. Herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP) Es geht selbstverständlich auch um Verfahrensfragen, die schon Michael Kauch angesprochen hat: Wer sind Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: unsere Verhandlungspartner? Wen beziehen wir in all Nächster Redner ist der Kollege Hüseyin Aydin, diese Bemühungen ein? Ich glaube, die Berichte, nach Fraktion Die Linke. denen indigene Völker teilweise aus ihren angestammten Gebieten vertrieben wurden, weil diese als Schutzge- (Beifall bei der LINKEN) 17246 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008

(A) Hüseyin-Kenan Aydin (DIE LINKE): (Michael Brand [CDU/CSU]: Das ist aber eine (C) Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Viele Milchmädchenrechnung!) haben bereits darauf hingewiesen: Der Klimawandel Auch liegt der Anteil der Projekte des Umweltschut- wirkt sich in aller Schärfe in Afrika aus; das konnten wir zes seit Jahren zwischen 15 und 25 Prozent. Wenn man des Öfteren mit unseren eigenen Augen sehen. Die Wüs- kritisiert, dann sollte man konkret werden. Ein Beispiel: ten werden sich um weitere 5 bis 8 Prozent ausdehnen. Jeden Monat landen 400 000 alte Computer aus Europa Angesichts solch alarmierender Meldungen präsentiert und Nordamerika in Lagos an, von denen drei Viertel sich die Bundesregierung gerne als Vorkämpferin für das unter Freisetzung schwerer Umweltgifte verbrannt wer- Weltklima, allerdings nur, wenn sie mit einer breiten Be- den. Dies wäre wirklich ein Feld, auf das sich die deut- richterstattung rechnet wie zum G-8-Gipfeltreffen in sche Entwicklungszusammenarbeit, aber vor allem auch Heiligendamm und zum Weltklimagipfel auf Bali. Auf die FDP konzentrieren könnte. dem Klimagipfel der afrikanischen Staaten aber, der im November 2007 in Tunis tagte, glänzte die Bundesregie- Kommen wir zum Klimaschutz. Auf der letzten Reise rung durch Abwesenheit. Das zeigt, wie ernst die Bun- des Entwicklungsausschusses nach Uganda konnten wir desregierung den Umweltschutz in Afrika nimmt. beobachten, wie die Verteilung von über 250 000 verbes- serten Herden im ganzen Land den Bedarf an Brennholz (Michael Brand [CDU/CSU]: Das ist drastisch verringert hat. Das ist vorbildlich. Doch was bösartig!) kann die Entwicklungszusammenarbeit machen, wenn im Großen alles schiefläuft? Deshalb begrüßt es die Linke, dass sich zumindest der Bundestag heute diesem Thema widmet. Nehmen wir die Weltbank. Heute melden die Agentu- ren, dass bei der Weltbank ein neuer Fonds aufgelegt Der Antrag der Grünen findet unsere Unterstützung, werden soll, um Schwellenländer bei der Reduzierung insbesondere die Kritik am Nuklearexport nach Afrika. des Treibhausgasausstoßes zu unterstützen. Hört sich gut (Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Ute an. Man muss nur wissen, dass die Weltbank ansonsten Koczy [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) immer mehr klimaschädliche Projekte fördert. (Beifall bei der LINKEN) Dabei handelt es sich nicht um eine Energiepartner- schaft, sondern um die Verbreitung der gefährlichsten, Allein im Jahre 2006 hat sie ihre Neuzusagen für Erdöl- teuersten und vor allem giftigsten Technologie, die auf und Erdgasprojekte um 93 Prozent gesteigert. Erneuer- diesem Sektor zu haben ist. Afrika hat Sonne im Über- bare Energien und Energieeffizienz machten dagegen fluss. Warum finanziert Europa nicht mehr Fotovoltaik- nur 5 Prozent des Energieportfolios aus. Nichtregie- (B) anlagen in der Sahara, worauf zu Recht hingewiesen rungsorganisationen fordern ebenso wie die Linke und (D) wurde? Abgeordnete anderer Fraktionen im zuständigen Aus- schuss eine Umkehr dieser Politik. Warum ignoriert die Ich komme nun zum Antrag der FDP. Wie nicht an- Bundesregierung diese Stimmen? Hier besteht Hand- ders zu erwarten, ignorieren die Liberalen die Rolle, die lungsbedarf. die internationalen Konzerne beim Raubbau in Afrika spielen. In ihrem Antrag wird eine einzige Sorte von Un- (Beifall bei der LINKEN) ternehmen kritisiert, nämlich die chinesischen. Das ist aus meiner Sicht pure Heuchelei. Warum? Tatsache ist: Umweltschutz in Afrika kann man nur betreiben, 80 Prozent des zumeist illegal geschlagenen Holzes in wenn konkrete und intensive Initiativen gestartet wer- Westafrika, liebe Kollegen von der FDP, finden ihren den. Absatz vor allem in Europa. Sie werden sich noch an die Giftmülllieferung nach Abidjan an der Elfenbeinküste Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: im Jahre 2006 erinnern. Tausende Afrikaner wurden ver- Herr Kollege, Ihre Redezeit ist abgelaufen. giftet, 15 starben daran. Woher kam das Schiff? Nicht aus China, sondern aus Europa. Wir müssen vor der ei- Hüseyin-Kenan Aydin (DIE LINKE): genen Türe kehren. Frau Präsidentin, ich komme zum letzten Satz meiner (Beifall bei der LINKEN) Rede, wenn Sie ihn mir erlauben. – Wir werden uns im Rahmen der weiteren Ausschussberatungen selbstver- Ich sage: Europäischen Firmen, die mit illegalem Tro- ständlich intensiv mit den Anträgen von der FDP und penholz handeln oder unkontrolliert giftigen Müll in von Bündnis 90/Die Grünen auseinandersetzen. Ich Afrika entladen, muss endlich das Handwerk gelegt wer- hoffe, vor allem für Afrika, dass wir die Einsicht gewin- den, übrigens ebenso wie deren afrikanischen Kompli- nen, dass wir uns noch mehr anstrengen müssen. zen. Doch dazu fällt der FDP nichts ein. Danke schön. Sie fordern nun, dem Wassersektor höhere Prioritäten (Beifall bei der LINKEN) einzuräumen. Aber unsere Anträge sowie die vom Bündnis 90/Die Grünen, über eine Ticketabgabe zusätz- lich Entwicklungshilfemittel zu mobilisieren, haben Sie Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: immer wieder abgelehnt. Damit hätten wir mehr Mittel Für die SPD-Fraktion gebe ich das Wort dem Kolle- auch für diese Bereiche. gen Frank Schwabe. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008 17247

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner (A) (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der Es gibt einige wichtige Instrumente, mit denen man (C) CDU/CSU) etwas gegen die Auswirkungen des Klimawandels in Afrika tun kann. Das Instrument CDM, Clean-Develop- ment-Mechanism, ist schon angesprochen worden. Frank Schwabe (SPD): Wichtig ist allerdings – das möchte ich betonen –, dass Frau Präsidentin! Verehrte Damen und Herren! Das diese Mechanismen auch für eine soziale Nachhaltigkeit Thema Afrika steht nun schon seit längerer Zeit auf der stehen. Das muss in die Prüfung mit einbezogen werden. Tagesordnung. Die deutsche Präsidentschaft hat es zu ei- Wenn wir über die Situation der indigenen Völker reden, nem wichtigen Thema gemacht. Auch die Weltklima- sollten wir uns eigentlich gemeinsam dafür einsetzen, konferenz in Nairobi wurde schon angesprochen. Es ist dass die Kriterien der sozialen Nachhaltigkeit bei CDM gut, dass FDP und Bündnis 90/Die Grünen heute An- eine größere Rolle spielen. träge dazu stellen. Das Thema steht unter anderem des- halb auf der Tagesordnung, weil es – das ist schon deut- Es geht um die Förderung erneuerbarer Energien und lich geworden – auf der Welle der Debatte über den um dezentrale Lösungen. Es geht um die Finanzierung Klimawandel mitsurft. von Anpassungsmaßnahmen, zum Beispiel wenn der Meeresspiegel steigt, und um die Finanzierung des Re- Denn die Auswirkungen des Klimawandels, die durch genwaldschutzes. Darum geht es zurzeit auf der schon die industrialisierten Länder verursacht werden, werden angesprochenen CBD in Bonn. immer sichtbarer. Vor Ort gibt es Auswirkungen dessen, was die industrialisierten Länder in den letzten Jahrzehn- In den beiden Anträgen von der FDP und den Grünen ten und Jahrhunderten gemacht haben. Es geht um die wird zum einen die Herausforderung richtig beschrie- Hinterlassenschaften der Kolonialisierung, die Auswir- ben. Zum anderen werden auch die Maßnahmen, kungen eines ungerechten Weltwirtschaftssystems und glaube ich, durchaus richtig beschrieben. Ein Stück den Raubbau von chinesischen, europäischen und nord- weit fehlen mir jedoch Antworten auf die Fragen, wie amerikanischen Firmen an Rohstoffen und Wäldern. viel dies eigentlich kostet und wie es finanziert werden soll. Auf der CBD gab es in der Tat einen sehr guten Fi- Hinzugekommen ist der Klimawandel, der massive nanzierungsvorschlag von Gabriel und Merkel: Man Auswirkungen für Afrika hat. Die Ursachen sieht man solle einmal schauen, was es im Bereich der Erlöse des in Afrika nicht – sie liegen nämlich woanders –, aber Emissionshandels gibt. Ich kann alle in diesem Hause die Auswirkungen. So gibt es Prognosen, nach denen nur ermuntern, frühzeitig einen Finger auf dieses Geld im ägyptischen Nildelta ein Anstieg des Meeresspie- zu legen. Unter uns sind gerade, glaube ich, wenige Fi- gels um 50 Zentimeter – das ist leider nicht ganz un- nanzpolitiker; aber man kann dies natürlich nachlesen. (B) wahrscheinlich – zu einer Versalzung des Grundwassers Ich appelliere noch einmal, dass dieses Geld hierfür (D) 9 Kilometer landeinwärts führen wird. Andere Progno- eingesetzt wird. Es ist zurzeit noch nicht da; wir haben sen besagen, dass, wenn keine teuren Schutzmaßnahmen nur etwas aus der zweiten Handelsperiode. Aber wir ergriffen werden, bei einem Anstieg des Meeresspiegels werden ab 2013 allein aus dem deutschen Bereich Ein- um „nur“ 50 Zentimeter 67 Prozent der Bevölkerung der nahmen in Höhe von 5 Milliarden Euro aufwärts be- zweitgrößten Stadt Ägyptens, Alexandrias, im Prinzip kommen. Ich denke, es ist wichtig, dass die Fachpoliti- überschwemmt werden und ihre Behausung, ihre Heimat ker für Umwelt und für Entwicklungszusammenarbeit verlieren. Gleichzeitig breiten sich Wüsten in Afrika ra- fraktionsübergreifend darauf achten, dass dieses Geld in sant aus. Herr Staatssekretär Müller hat heute Morgen den Klimaschutz, insbesondere in den internationalen darauf hingewiesen, dass bei einem Anstieg der Tempe- Klimaschutz, investiert wird. ratur um 2 Grad Celsius ungefähr die Hälfte der land- wirtschaftlichen Produktion in Afrika gefährdet ist. Das (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten alles sind Gründe für Kriege und Bürgerkriege. der CDU/CSU) Die Zahlen machen deutlich, wie ungerecht es welt- Daran können wir gemeinsam arbeiten. Das ist eine weit zugeht: Circa 800 Millionen Afrikaner stoßen heute wichtige Herausforderung, der wir uns gemeinsam stel- etwa so viel CO2 aus wie die 80 Millionen Deutschen. len sollten. Deswegen ist es richtig – ich will das an dieser Stelle Vielen Dank. Glück auf! ausdrücklich würdigen –, dass die Kanzlerin gefordert hat, bis zum Jahr 2050 auf der Welt einen gerechten (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten CO2-Verbrauch von etwa 2 Tonnen pro Kopf hinzube- der CDU/CSU) kommen. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Der Klimawandel birgt unglaubliche Risiken, aber auch Chancen. Denn das Thema Entwicklungszusam- Nächste Rednerin ist die Kollegin Ute Koczy, Bünd- menarbeit geht mittlerweile nicht mehr nur die Entwick- nis 90/Die Grünen. lungsländer etwas an, sondern die industrialisierten Länder betreiben Entwicklungszusammenarbeit aus ei- Ute Koczy (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): genem Interesse. Klar ist, wenn die Entwicklungslän- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen der in Afrika und anderswo einen Entwicklungspfad so und Kollegen! Unser heute hier eingebrachter grüner beschreiten, wie wir in Europa es getan haben, dann wird Antrag will Brücken schlagen, und zwar einmal mehr es auch für die industrialisierten Staaten ganz eng. nach Afrika zum Schutz für mehr Klima und mehr 17248 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008

Ute Koczy (A) Umwelt und für die Unterstützung der Anpassung an den Wangari Maathai, war eine große Ermutigung für afrika- (C) Klimawandel. Der Antrag will heute von hier aus natür- nische Umweltaktivistinnen und -aktivisten. lich auch eine Brücke nach Bonn schlagen. Denn dort (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ findet zurzeit die COP 9 statt, und dort geht es darum, DIE GRÜNEN und der LINKEN) den Schutz unserer natürlichen Welt zu vereinbaren. So wie ich es bisher mitbekommen habe, ist dort außer der Im African Climate Appeal kommen afrikanische Stim- Summe konzeptionell und substanziell verdammt wenig men eindringlich und authentisch zu Wort. Es gibt An- – Entschuldigung – zu finden. zeichen, dass in der Afrikanischen Union und in der neuen Partnerschaft für Afrika, NEPAD, dem Schutz der Es geht dabei um den Schutz Afrikas. Die Realität, Umwelt ein höherer Stellenwert eingeräumt wird. Und die wir dort antreffen, haben Sie hier alle schon wunder- doch: Umweltministerien und Umweltminister zählen bar beschrieben. Wir stehen vor der Situation, dass sich auf diesem Kontinent weiterhin zu den schwachen Ak- heute und morgen in Bonn etwas bewegen muss. Denn teuren. Das muss sich ändern. hier werden die Weichen gestellt. Wenn die Weichen jetzt nicht gestellt werden, haben wir für die nächsten Liebe Kolleginnen und Kollegen, es kann nicht hei- Jahre nichts in der Hand, um international am Arten- ßen: entweder Umweltschutz oder Bekämpfung der Ar- schutz arbeiten zu können. mut. Als Entwicklungspolitikerin sage ich: Umwelt- schutz und Armutsbekämpfung gehören unmittelbar (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) zusammen, ganz besonders in Afrika. Das darf uns nicht wundern. Denn 70 Prozent der Bevölkerung Afrikas le- Wir brauchen schleunigst gemeinsames Handeln. Ich ben direkt vom Land und auf dem Land. In unserem An- finde, dass man nicht bis 2009 warten muss, bevor man trag konzentrieren wir uns auf die wesentlichen sechs es im Haushalt vereinbart. Ich freue mich über die Felder. Summe, die von der Kanzlerin zur Verfügung gestellt wird. Meine Redezeit ist knapp. Erlauben Sie mir aber noch einige Anmerkungen zum Klimaschutz. Afrika ist tat- (Dr. Christian Ruck [CDU/CSU]: Das merkt sächlich der Kontinent, der vom Klimawandel am meis- man!) ten betroffen ist. Es ist ein Treppenwitz der Geschichte, Ich freue mich aber nicht darüber, dass das erst 2009 dass der Kontinent, der am wenigsten verantwortlich ist, passiert. Denn das fällt in die nächste Regierungsphase. am meisten betroffen ist. Das muss uns aufrütteln. Denn Ob es dann trägt, wage ich zu bezweifeln. es ist auch so, dass die Fähigkeit dieses Kontinents, aus eigener Kraft eine Veränderung herbeizuführen, nicht in (Dr. Christian Ruck [CDU/CSU]: ausreichendem Maße vorhanden ist. Hier Unterstützung (B) Kleinkariert!) zu leisten, und zwar nicht nur im Mittelmeerraum, in (D) Ägypten und in den Ländern, die eigene Potenziale ha- Ich habe den Eindruck, dass den Ankündigungen, die ben, sondern auch und gerade in Subsahara-Afrika, also wir jetzt immer wieder gehört haben, was kommen soll dort, wo die ärmsten Menschen Afrikas leben, das ist und was man alles erreichen will, nicht viel folgen wird. eine Verantwortung, der wir uns endlich stellen müssen. Wenn ich jetzt zum Beispiel höre, dass im Februar im Vergleich zum letzten Jahr der Ankauf von Geländewa- Danke. gen durch die Bevölkerung um 22 Prozent höher war, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN dann frage ich mich, ob wir hier nicht auf dem falschen und bei der LINKEN) Weg sind. Denn das, was wir hier machen, hat Konse- quenzen in Afrika. Hier ist noch nichts bewegt worden, um Afrika tatsächlich zu unterstützen. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Gabriele Groneberg, SPD-Fraktion. sowie bei Abgeordneten der LINKEN) (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Die Autorinnen und Autoren des Umweltprogramms Dr. Christian Ruck [CDU/CSU] – Dirk der Vereinten Nationen beschreiben im sogenannten Manzewski [SPD]: Gute Frau!) Africa Environment Outlook eine Reihe von gravieren- den und sich verschärfenden Umweltproblemen. Diese Gabriele Groneberg (SPD): haben natürlich etwas mit unserem Leben hier zu tun. Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Liebe Kolleginnen Aber in Afrika gilt: Die Entwaldung durch Abholzung und Kollegen! Es ist in der Tat zu begrüßen, dass wir und Nutzung von Holz zum Kochen und Heizen, das wieder einmal die Gelegenheit haben, uns mit Afrika im Vordringen der Wüste, der Verlust der biologischen Viel- Speziellen und mit dem Klimawandel und seinen Aus- falt, der nicht nachhaltige Umgang mit Wasser sowie die wirkungen auf den afrikanischen Kontinent im Allge- legale und oft auch illegale Art und Weise der Rohstoff- meinen auseinanderzusetzen. gewinnung müssen als Weckruf dienen. Der Weckruf hat schon letztes Jahr stattgefunden; aber er ist 2008 noch Herr Kollege Kauch, Sie haben Vorwürfe geäußert, nicht in konkretes Handeln umgesetzt worden. die ich nicht nachvollziehen kann. Ich war gerade erst mit einer Gruppe des Ausschusses für Entwicklungszu- Ja, es gibt auch positive Entwicklungen; das will ich sammenarbeit im Ostkongo. Dort konnten wir uns vom nicht verschweigen. Die Verleihung des Friedensnobel- genauen Gegenteil dessen überzeugen, was Sie hier vor- preises an die Initiatorin des „Green Belt Movements“, getragen haben. Wir haben uns in einem Gebiet im Ost- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008 17249

Gabriele Groneberg (A) kongo befunden, das von den Kriegswirren und den Un- Kollege Schwabe hat eindringlich erläutert, welche (C) ruhen nach wie vor am schlimmsten betroffen ist. Auswirkungen der Klimawandel in manchen Teilen Afrikas hat. Der kenianische Präsident Kibaki hat es auf ( [FDP]: Wo waren Sie denn den Punkt gebracht, als er sagte: genau?) Wir konnten feststellen, dass ein GTZ-Projekt, das dort Der Klimawandel droht die Bemühungen zur Ar- seit Jahrzehnten durchgeführt wird, von der Bevölke- mutsreduzierung zu vereiteln und macht die Aus- rung so sehr adaptiert worden ist, dass die Menschen ih- sicht, die Millenniumsentwicklungsziele tatsächlich ren Schutzpark während des Krieges verteidigt haben. zu erreichen, ungewisser. Manche Menschen haben, um dieses Projekt zu schüt- Insofern müssen wir ein Interesse daran haben, dass zen, sogar ihr Leben gelassen. Sie haben immer gesagt: Klimaschutz- und Anpassungsmaßnahmen im Zusam- Die Deutschen kommen zurück, und dann helfen sie uns; menhang betrachtet werden. Die Armutsbekämpfungs- denn wir haben auf unseren Park aufgepasst. – Ich finde, strategien müssen im Hinblick auf ihre mögliche Gefähr- das ist vorbildlich. Wir können uns bestimmt noch über dung durch den Klimawandel überprüft werden. Das Einzelfälle unterhalten. Ich finde aber, dass die Men- Thema Klimaschutz ist bereits im Sinne eines Main- schen, die dort unter schwierigen Bedingungen leben streams in die deutsche Entwicklungszusammenarbeit und sich trotz ihrer Armut für dieses Projekt eingesetzt integriert. Das ist wichtig; das machen wir seit Jahren. haben, unseren Respekt verdienen. Armut ist eine der Hauptursachen den Umweltzerstö- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten rung. Das wissen wir natürlich alle. Arme können nur der CDU/CSU – Marina Schuster [FDP]: Von durch Waldrodung und die Ausnutzung von Land für ihr denen hat Kollege Kauch doch gar nicht ge- Überleben sorgen, indem sie zum Beispiel durch Abhol- sprochen!) zen Brennmaterial zum Kochen und Heizen gewinnen. Dem Antrag der Fraktion der Grünen ist anzumerken, Wir müssen die Wechselwirkung zwischen beiden Ele- dass er von der Sorge um den afrikanischen Nachbar- menten im Auge haben. Sie muss auch bei der Zusam- kontinent angesichts des globalen Klimawandels getra- menarbeit in unseren entwicklungspolitischen Projekten gen wird. Allerdings muss ich sagen: Bei genauerer Be- immer berücksichtigt werden. trachtung fällt auf, dass diese Sorge um die Umwelt (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Afrikas offenbar dazu geführt hat, dass dem Antrag eine konkrete Hauptstoßrichtung fehlt. Insofern freue ich mich auf die Diskussionen im Aus- schuss. Ich finde es einfach gut, dass wir wiederholt dar- Liebe Ute Koczy, leider muss ich sagen: Ihr Antrag über reden, weil ich glaube: Wenn es gelingt, die Medien (B) wirkt wie ein Sammelsurium umweltrelevanter Aspekte. dafür zu sensibilisieren und das, was dort passiert, trans- (D) Dadurch verliert er aber seine notwendige Schärfe. parent zu machen, dann können wir alle nur gewinnen. (Ute Koczy [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Vielen Dank. Das Thema Umwelt ist nun einmal ein biss- chen mehr als nur ein Punkt!) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten In Anbetracht dessen zieht auch der Vorwurf nicht, den der CDU/CSU) du gerade an uns gerichtet hast: dass wir in Deutschland nichts unternehmen würden, um den Klimawandel in Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Afrika positiv zu beeinflussen und dem Kontinent zu Ich schließe die Aussprache. helfen. Das stimmt so einfach nicht. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf Ich frage mich zum Beispiel: Wie soll man die neunte den Drucksachen 16/5132 und 16/9313 an die in der Ta- Forderung, die unter dem Aspekt „Afrika im Klimawan- gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. del“ aufgeführt ist, verstehen? Dort wird gefordert, si- Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann cherzustellen, dass die Finanzierung des Klimaschutzes ist die Überweisung so beschlossen. nicht zulasten der Finanzierung anderer Millenniumsent- wicklungsziele erfolgt. Natürlich wird das nicht gesche- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf: hen. Denn Klimaschutz wurde nicht explizit als Millen- Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- niumsentwicklungsziel definiert. Das ist bedauerlich. richts des Ausschusses für Bildung, Forschung Gerade deshalb aber geht die Durchführung von Klima- und Technikfolgenabschätzung (18. Ausschuss) schutzmaßnahmen über die Forderung von Ziel sieben, den Schutz der Umwelt, hinaus. Klimaschutzmaßnah- – zu dem Antrag der Abgeordneten Uwe men dürfen nicht zulasten anderer Entwicklungsziele er- Schummer, Ilse Aigner, Marcus Weinberg, wei- folgen. Denn Klimaschutz ist die Grundvoraussetzung terer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/ dafür, dass wir die anderen Entwicklungsziele überhaupt CSU sowie der Abgeordneten Dr. Ernst Dieter erreichen können. Dieser Zusammenhang ist sehr wich- Rossmann, Ulla Burchardt, Willi Brase, weite- tig. In Ihrem Antrag kommt er aber überhaupt nicht zum rer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Ausdruck. Rahmenbedingungen für Lebenslanges Ler- (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr. Christian nen verbessern – Weiterbildung und Qualifi- Ruck [CDU/CSU]) zierung ausbauen und stärken 17250 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner (A) – zu dem Antrag der Abgeordneten Kornelia Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf (C) Möller, Volker Schneider (Saarbrücken), Drucksache 16/9097 an den Ausschuss für Arbeit und Dr. Barbara Höll, weiterer Abgeordneter und Soziales vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – der Fraktion DIE LINKE Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlos- Der beruflichen Weiterbildung den notwen- sen. digen Stellenwert einräumen Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf: – Drucksachen 16/8380, 16/7527, 16/9298 – Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Berichterstattung: richts des Ausschusses für Wirtschaft und Tech- Abgeordnete Uwe Schummer nologie (9. Ausschuss) zu der Unterrichtung Dr. Ernst Dieter Rossmann durch die Bundesregierung Patrick Meinhardt Mitteilung der Kommission an den Rat, das Volker Schneider (Saarbrücken) Europäische Parlament, den Europäischen Priska Hinz (Herborn) Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu die- Ausschuss der Regionen: sem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. – Ich Eine europäische Initiative zur Entwicklung sehe, Sie sind damit einverstanden. Es handelt sich um von Kleinstkrediten für mehr Wachstum und folgende Kolleginnen und Kollegen: Uwe Schummer, Beschäftigung CDU/CSU, Dr. Ernst Dieter Rossmann, SPD, Patrick KOM (2007) 708 endg.; Ratsdok. 10215/07 Meinhardt, FDP, Volker Schneider, Die Linke, Priska Hinz, Bündnis 90/Die Grünen.1) – Drucksachen 16/7817 Nr. A.5, 16/8613 – Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus- Berichterstattung: schusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenab- Abgeordnete Doris Barnett schätzung auf Drucksache 16/9298 (neu). Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu die- Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Be- sem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. – Ich schlussempfehlung, den Antrag der Fraktionen der sehe, Sie sind damit einverstanden. Es handelt sich um CDU/CSU und der SPD auf Drucksache 16/8380 in der folgende Kolleginnen und Kollegen: Eckhardt Rehberg, Ausschussfassung anzunehmen. Wer stimmt für diese CDU/CSU, Doris Barnett, SPD, Paul K. Friedhoff, FDP, Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Ent- Sabine Zimmermann, Die Linke, Kerstin Andreae, haltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stim- Bündnis 90/Die Grünen.3) men der Koalition bei Gegenstimmen der Opposition an- (B) genommen. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus- (D) schusses für Wirtschaft und Technologie auf Druck- Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt sache 16/8613. Der Ausschuss empfiehlt, in Kenntnis der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion der Unterrichtung eine Entschließung anzunehmen. Wer Die Linke auf Drucksache 16/7527. Wer stimmt für stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist bei Ge- ist mit den Stimmen der Koalition und der FDP bei Ge- genstimmen der Fraktion Die Linke mit den Stimmen genstimmen von Bündnis 90/Die Grünen und Enthal- des restlichen Hauses angenommen. tung der Fraktion Die Linke angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf: Ich rufe Tagesordnungspunkt 17 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Dr. Gesine Lötzsch, Dr. Barbara Höll, Dr. Dietmar richts des Ausschusses für Ernährung, Landwirt- Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion schaft und Verbraucherschutz (10. Ausschuss) zu DIE LINKE dem Antrag der Abgeordneten Renate Künast, Kostenpflichtige Service-Telefonnummer der Ulrike Höfken, Cornelia Behm, weiterer Abge- Arbeitsagentur in eine gebührenfreie Rufnum- ordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE mer umwandeln GRÜNEN – Drucksache 16/9097 – Gesundheitscheck der europäischen Agrar- Überweisungsvorschlag: politik – Mit Klimabonus zu Klimaschutz, gu- Ausschuss für Arbeit und Soziales ter Ernährung und nachhaltiger Entwicklung Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu die- – Drucksachen 16/7709, 16/8534 – sem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. – Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Es handelt sich um Berichterstattung: folgende Kolleginnen und Kollegen: Stefan Müller, Abgeordnete Marlene Mortler CDU/CSU-Fraktion, Katja Mast, SPD-Fraktion, Jörg Waltraud Wolff (Wolmirstedt) Rohde, FDP, Dr. Gesine Lötzsch, Die Linke, Brigitte Hans-Michael Goldmann Pothmer, Bündnis 90/Die Grünen.2) Dr. Kirsten Tackmann Ulrike Höfken

1) Anlage 4 2) Anlage 5 3) Anlage 6 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008 17251

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner (A) Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu CSU, Dirk Manzewski, SPD, Mechthild Dyckmans, (C) diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. – FDP, Heidrun Bluhm, Die Linke, Peter Hettlich, Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Es handelt sich Bündnis 90/Die Grünen. um folgende Kolleginnen und Kollegen: Waltraud Wolff, SPD-Fraktion, Marlene Mortler, CDU/CSU-Frak- Norbert Geis (CDU/CSU): tion, Hans-Michael Goldmann, FDP-Fraktion, Der Klimawandel ist zu einem großen Thema in der Dr. Kirsten Tackmann, Fraktion Die Linke, Ulrike Gesellschaft und in der Politik geworden. Zuweilen kann 1) Höfken, Bündnis 90/Die Grünen. man zwar den Eindruck gewinnen, dass es sich dabei um Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für Er- eine in der Politik übliche Übertreibung handelt, weil das nährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz emp- Thema gerade Konjunktur hat. Auch kann man die Be- fiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Druck- fürchtung hegen, dass im Kielwasser des Klimaschutzes sache 16/8534, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die wirtschaftliche Ziele verfolgt werden, die wenig mit Kli- Grünen auf Drucksache 16/7709 abzulehnen. Wer maschutz zu tun haben, die aber ohne die Diskussion um stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt den Klimaschutz nicht durchzusetzen wären. Auch ist ein dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung gewisser Öko-Nihilismus in dieser Diskussion erkennbar. ist Hauses bei Gegenstimmen der Fraktion Bündnis 90/ Dennoch darf dieses dringlich politische Anliegen nicht bagatellisiert werden. Für die Frau Bundeskanzlerin, die Die Grünen mit den Stimmen des Hauses im Übrigen an- Bundesregierung und die Koalition ist der Klimaschutz genommen. ein zentrales politisches Vorhaben, das Schritt für Schritt Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf: umgesetzt werden soll. Deshalb hat die Bundesregierung rechtzeitig zur 13. Vertragsstaatenkonferenz vom 3. bis Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/ 14. Dezember 2007 auf Bali ein integriertes Energie- und CSU und der SPD Klimaprogramm vorgelegt, dass, so die Bundesregierung, Zukunft des Branntweinmonopols nach 2010 weltweite Maßstäbe setzen soll. Beim Klimaschutz geht es um einen Ausgleich der weltweit steigenden Energienach- – Drucksache 16/9304 – frage und den dadurch mit verursachten Klimawandel. Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu die- Die Eckpunkte dieses „integrierten Energie- und Kli- sem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. – Ich maprogramms“ der Bundesregierung beinhalten zahlrei- sehe, Sie sind damit einverstanden. Es handelt sich um che Umgestaltungen und Erweiterungen von bereits be- folgende Kolleginnen und Kollegen: Norbert Schindler, stehenden Regelungen. Es geht um umfangreiche CDU/CSU, Lydia Westrich und Reinhard Schultz, SPD, Investitionsverpflichtungen. Es geht vor allem auch da- (B) Dr. Volker Wissing, FDP, Dr. Barbara Höll, Die Linke, rum, regenerative Energie in vermehrtem Maße zu nut- (D) Cornelia Behm, Bündnis 90/Die Grünen.2) zen. Deshalb ist ein sogenanntes „Regenerationswärme- gesetz“ vorgesehen mit weiteren, für den Wärmemarkt Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der notwendigen, Maßnahmen. Fraktionen der CDU/CSU und der SPD auf Druck- sache 16/9304. Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer Bei all diesen Vorhaben geht es darum, die Energiever- stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Antrag ist bei sorgung langfristig zu sichern und gleichzeitig den Kli- Enthaltung der FDP-Fraktion mit den Stimmen des Hau- maschutz voranzutreiben. ses im Übrigen angenommen. Der Antrag der FDP erhebt nun den Vorwurf, dass die Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 auf: Bundesregierung bei diesem Vorhaben zu wenig den Wohnbereich berücksichtigt, in welchem ein hoher Ener- Beratung des Antrags der Abgeordneten Patrick gieverbrauch stattfindet und in welchem deshalb auch Döring, Mechthild Dyckmans, Michael Kauch, eine hohe Klimagefährdung entsteht. So wird der Vorwurf weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP gemacht, dass die Bundesregierung es versäumt habe, für die Vermieter hinreichende Anreize zu schaffen, um eine Mietrechtsänderungen zur Erleichterung energetische Sanierung privater Mietshäuser voranzu- klima- und umweltfreundlicher Sanierungen treiben. Insbesondere erhebt der Antrag den Vorwurf, – Drucksache 16/7175 – dass ein Haupthindernis für eine stärkere energetische Sanierung im Gebäudebereich das Mietrecht sei, das von Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss (f) der Bundesregierung aber überhaupt nicht ernsthaft an- Ausschuss für Wirtschaft und Technologie getastet werde. Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz In dem Antrag werden deshalb sechs Punkte ange- Verteidigungsausschuss führt, von deren Umsetzung sich die FDP letztlich eine Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung bessere Energieversorgung und einen besseren Klima- Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit schutz erwartet. Allerdings wird in dem Antrag nicht im- Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die mer sauber zwischen den Fragestellungen unterschieden. Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um fol- Bei genauerer Strukturierung geht es um folgende Pro- gende Kolleginnen und Kollegen: Norbert Geis, CDU/ blemfelder: Erstens. Mieterhöhung nach Sanierungsmaßnahmen, 1) Anlage 7 die eine nachhaltige Einsparung von Energie und Wasser 2) Anlage 8 bewirken (§ 599 BGB). 17252 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008

Norbert Geis (A) Angesichts der stark gestiegenen Energie- und Heiz- überzogen. Aus der Rechtsprechung zu § 559 b BGB er- (C) kosten und der weltweiten Bemühungen um eine Reduzie- geben sich jedenfalls keine Anhaltspunkte für überzogene rung der CO2-Emissionen besteht ein Interesse daran, Anforderungen an die Darlegungslast des Vermieters. den Energieverbrauch in Gebäuden der Privathaushalte Deshalb sieht die Bundesregierung auch derzeit keine (Heizenergie) möglichst zu senken. Für Neubauten wer- Notwendigkeit zur Gesetzesänderung in diesem Bereich den daher zunehmend strengere Vorgaben hinsichtlich (Vergleiche die Antwort der Bundesregierung auf die Wärmedämmung etc. erlassen. Schwieriger als die Schaf- Kleine Anfrage der FDP, Drucksache 16/6730, Fragen fung und Umsetzung energetischer Standards für Neu- 32 bis 34). bauten ist es freilich, eine energetische Sanierung des c. Ziffer 5. des Antrages: alten Wohnbestandes (insbesondere bei älteren Mietge- bäuden) voranzutreiben. Dabei geht es in der Regel um Danach sollen Modernisierungsmieterhöhungen auch moderne Heizanlagen und Wärmedämmungsmaßnah- für Wohnungen mit Staffel- oder Indexmietverträgen zuge- men. Bei solchen Maßnahmen entstehen in der Regel lassen werden. Die Bundesregierung hat in ihrer Antwort ganz erheblich Kosten, die häufig sowohl die Gebäude- auf die Kleine Anfrage der FDP (Drucksache 16/6730, eigentümer als auch die Mieter überfordern dürften. Des- Fragen 32 bis 34) dieses Begehren zurückgewiesen. Ich halb auch hat der Gesetzgeber solche energetischen Sa- schließe mich den Ausführungen der Bundesregierung in- nierungsmaßnahmen für bestehende Wohnräume nicht soweit an und verweise darauf. verpflichtend vorgeschrieben. Vielmehr soll durch finan- zielle Förderung ein Anreiz geschaffen werden, einen Zweitens. Duldung von Baumaßnahmen, die zur ener- Eigentümer zur energetischen Sanierung bestehender getischen Sanierung durchgeführt werden. Gebäude zu bewegen. Dies dürfte sicherlich auch der Nach § 554 Abs. 2 Satz 1 BGB hat der Mieter (abgese- richtige Weg sein. Außerdem wurde im Mietrecht eine Re- hen von besonderen Härtefällen) Baumaßnahmen zu dul- gelung geschaffen, wonach der Eigentümer/Vermieter die den, die zur Einsparung von Energie und Wasser durch- jährliche Miete um 11 Prozent der Sanierungskosten geführt werden. Nicht völlig zweifelsfrei ist, ob hierunter (dauerhaft) erhöhen kann, wenn er bauliche Maßnahmen auch Baumaßnahmen zur Umstellung auf erneuerbare durchgeführt hat, die eine nachhaltige Einsparung von Energien (zum Beispiel Einbau von Sonnenkollektoren Energie oder Wasser bewirken (§ 599 Abs. 1 BGB). oder einer Holzschnitzelheizung) fallen, da insoweit in Immerhin ist zu bedenken, dass solche Mieterhöhun- erster Linie ein Austausch der Energiequelle und nicht gen, die durch Modernisierungsanlagen veranlasst sind, unbedingt eine Verringerung des Energieverbrauches er- den Mieter erheblich belasten können. Entfallen bei einer folgt. größeren Gebäudesanierung etwa 20 000 Euro Kosten Die Bundesregierung geht davon aus, dass auch der (B) auf die Wohnung des Mieters, so gibt dies eine dauerhafte Einbau von Solaranlagen eine Modernisierungsmaß- (D) Erhöhung der jährlichen Miete um 2 200 Euro. Aller- nahme im Sinne des § Abs. 2 Satz 2 BGB darstellt (Ver- dings kann der Mieter infolge der Sanierung Heizkosten gleiche die Antwort der Bundesregierung auf die Kleine einsparen. Anfrage der FDP, Drucksache 16/6730, Fragen 36 und Die Vermieterseite hat wiederholt Kritik geübt, dass 37). Allerdings könnte eine Klarstellung in § 554 Abs. 2 die Anforderungen an die Modernisierungsmieterhöhung Satz 1 BGB dergestalt erfolgen, dass eine Duldungs- (§ 559 BGB) zu hoch seien. pflicht bei „Maßnahmen“ zu Gewährleistung der Nut- zung erneuerbarer Energien ausdrücklich vorgesehen In diesem Zusammenhang sind die Ziffern 1, 4, und 5 wird. Der Bundesrat hat eine dahin gehende Änderung des FDP-Antrages zu sehen: des § 554 Abs. 2 Satz 1 BGB in seiner Stellungnahme zum Entwurf eines Gesetztes zur Förderung Erneuerbarer a. Ziffer 1. des Antrages: Energien im Wärmebereich (EE-WärmeG) vorgeschla- Der Vorschlag geht – soweit ersichtlich – dahin, dass gen (Bundesratsdrucksache 9/08 – Beschluss, Nr. 21). nach einer energetischen Sanierung eine Mieterhöhung Soweit durch eine Modernisierungsmaßnahme/Umbau- möglich sein soll, deren Höhe sich nicht an Kosten der maßnahme der Gebrauch der Mietwohnung (vorüberge- Sanierungsmaßnahme, sondern an der Betriebskostener- hend) aufgehoben oder eingeschränkt wird, soll nach sparnis orientiert. Auf den ersten Blick erscheint dies unserer Auffassung die Regelung des § 536 BGB (Miet- richtig, da der Zusatzbelastung für den Mieter jeweils minderung) greifen. Dies erscheint uns jedenfalls als eine äquivalente Einsparung gegenüberstehen würde. sachgerecht. Fraglich allerdings ist, ob eine derartige Regelung in der Drittens. Umlegung von Betriebskosten: Praxis durchführbar wäre. Der Mieter hätte es in der Hand, die Mieterhöhung „abzuschöpfen“, indem er hohe Die Ziffern 2. und 6. des Antrages betreffen die Frage, Heizkosten produziert. Die Berechnung der Betriebskos- inwieweit der Mieter nach einer Heizungsmodernisie- tenersparnis würde außerdem einen erheblichen Verwal- rung die Betriebskosten der Heizungsanlage noch auf den tungsaufwand erfordern und birgt hohes Streitpotenzial. Mieter umlegen kann. Die Umlegbarkeit von Betriebskos- ten richtet sich grundsätzlich nach der zwischen Vermie- b. Ziffer 4. des Antrages: ter und Mieter getroffenen Vereinbarung. Wurde im Miet- Die Anforderungen an die Darlegung der für die je- vertrag die Umlegung von Betriebskosten nur für eine weilige Wohnung aufgewendeten Sanierungskosten erge- bestimmte Beheizungsart (Vergleiche § 2 Nr. 4 BetrKV) ben sich aus § 559 b BGB und erscheinen angesichts der vereinbart, dürfen grundsätzlich auch nur die bei dieser oft erheblichen Auswirkungen auf die Miethöhe nicht Beheizungsart anfallenden Betriebskosten umgelegt wer-

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008 17253

Norbert Geis (A) den. Tauscht der Vermieter eine alte Heizungsanlage ge- nung der tatsächlichen Betriebskostenersparnis zu kom- (C) gen eine moderne aus, so kann er die Betriebskosten der men. modernen Anlage weiter auf den Mieter umlegen, wenn die im Mietvertrag vorgesehene Beheizungsart (zum Bei- Warum dies dann alles abhängig sein soll von einem spiel, Wärmeversorgung durch den Vermieter, Betrieb ei- Drei-Viertel-Votum der Mieter, erschließt sich mir dabei ner zentralen Heizungsanlage; § 2 Nr. 4 BetrKV) gleich überhaupt nicht. Abgesehen davon, das hierdurch in indi- bleibt. Probleme treten aber dann auf, wenn der Vermie- viduelle Vertragsbeziehungen eingebrochen werden ter im Zuge der Modernisierung die Beheizungsart wech- würde – eigentlich für die FDP doch Teufelszeug –, muss seln will. Dies gilt vor allem dann, wenn der Vermieter man mir einmal erklären, wieso Mieter dem eigentlich zu- nicht mehr selbst für die Wärmeversorgung einsteht, son- stimmen sollten; denn außer Ärger – dazu komme ich dern diese einem Externen übertragen will (Wärmeliefe- gleich – haben sie nach dem Vorschlag der FDP doch rung; „Wärme-Contracting“). Nach der Rechtsprechung nichts davon, da eine etwaige Betriebskostenersparnis ih- ist für die Umstellung auf Wärmelieferung (sofern der nen nicht zugutekommt, sondern durch die entsprechende Mietvertrag hierzu nichts enthält) die Zustimmung des Mieterhöhung aufgefressen wird. Mieters erforderlich, wenn ihm erhöhte oder zusätzliche neue Kosten auferlegt werden sollen. Sofern der Mieter Den Ärger hat der Mieter natürlich durch die Baumaß- nicht zustimmt, kann der Vermieter nur die nach dem nahmen. Zunächst ist hier einmal klarzustellen, dass Mietvertrag zulässigen Wärmekosten umlegen, die dann – anders als behauptet – Modernisierungsmaßnahmen fiktiv zu berechnen sind. Die Bundesregierung hat bereits zur Einsparung von Energie und Wasser und damit zur in ihrer Antwort auf die Kleine Anfrage der FDP (Druck- Verbesserung der Mietsache – es sei denn, sie stellen eine sache 16/6730, Fragen 41, 42) erklärt, dass durch ein nicht zu rechtfertigende Härte für den Mieter dar – schon Gutachten von unabhängiger Stelle geklärt werden soll, heute zu dulden sind. ob im Zusammenhang mit dem sogenannten Wärme-Con- Warum der Mieter hier anders beurteilt werden soll, tracting in der Praxis tatsächlich rechtliche Hindernisse bleibt schleierhaft. Entscheidend für eine Mietminderung bestehen und wie diese gegebenenfalls beseitigt werden ist die nicht unerhebliche Minderung des vertragsgemä- können. Einer weiteren Aufforderung zur Einholung eines ßen Gebrauchs der Mietsache. Ist also die Baumaßnahme Sachverständigengutachtens bedarf es daher nicht. so umfangreich, das zum Beispiel ein Teil der Wohnung gar nicht oder nur eingeschränkt genutzt werden kann, so Dirk Manzewski (SPD): wird nicht der volle Mietzins geschuldet. Dies ist nur ge- Der FDP geht es in ihrem Antrag um Mietrechtsände- rechtfertigt, da der Mieter auch nicht die ihm geschuldete rungen zur Erleichterung klima- und umweltfreundlicher Leistung vertragsgerecht erhält. (B) Sanierungen. Der Titel verspricht einiges, ist dann aller- (D) dings auch schon das Einzige, was an dem Antrag beim Deshalb kann und darf es auch keinen Unterschied Durchlesen erfreut. machen, was letztendlich der Grund hierfür ist. Man kann sich in diesem Zusammenhang nicht des Eindrucks er- Unter dem Deckmantel der Ökologie wird hierin knall- wehren, dass die FDP hier unter dem Deckmantel der hart Klientelpolitik betrieben. Alleine die Behauptung, Ökologie knallharte Klientelpolitik betreiben will – und der „ach so selbstlose Vermieter“ habe nun rein gar nicht mehr. nichts von entsprechenden Maßnahmen und alleine der Mieter würde hiervon profitieren, spottet – wenn das Hierfür spricht auch der Vorschlag zur Vereinfachung Ganze nicht so ernst wäre – jeder Beschreibung und der Umlage von Modernisierungserhöhungen. § 559 BGB zwingt einen gerade dazu, der FDP in diesem Zusammen- gibt ja schon die Möglichkeit, die Kosten einer Moderni- hang noch einmal die Prinzipien der Marktwirtschaft zu sierung auf den Mieter umzulegen. Die Anforderungen erklären. Eine Wohnung, die klima- und umweltfreund- hierfür erscheinen nicht überzogen und zumutbar und ha- lich saniert worden ist und hierdurch erhebliche Energie- ben sich – dies zeigt nun einmal die Praxis – bewährt. kosten spart, wird nicht nur einen höheren Marktwert Warum von der bewährten Praxis abgewichen werden erhalten, sondern natürlich auch zu Mieterhöhungen be- soll, ist deshalb ebenso schleierhaft, wie die Vorstellung, rechtigen. dass man bei der Vielzahl von Modernisierungsmaßnah- Ebenso wenig nachzuvollziehen sind die Vorschläge men Pauschalwerte zulassen sollte, lebensnah ist. Die für eine neue Möglichkeit zur Mieterhöhung im Zuge der FDP muss sich wirklich einmal fragen lassen, was denn Modernisierungsmaßnahmen. Die FDP meint offenbar, so verkehrt daran sein soll, dass die Kosten für eine Mo- dass jede Mieterhöhung gerechtfertigt wäre, solange dernisierung vernünftig darzulegen und dann angemes- diese durch die entsprechenden Betriebskostenerspar- sen zu verteilen sind, zumal ja der Vermieter nach billi- nisse gedeckt sei. Das klingt alles herrlich theoretisch, er- gem Ermessen den Verteilungsschlüssel bestimmen kann. klärt aber noch nicht einmal, was denn hierunter eigent- lich zu verstehen ist. Wenn die FDP abschließend die Umlage der Betriebs- kosten erleichtern möchte, bleibt unklar, was sie damit Betriebskosten in diesem Zusammenhang sind abhän- meint. Ich würde schon einmal vorschlagen, dass man vor gig unter anderem vom Verbraucherverhalten, von der einem solchen Antrag sich zunächst einmal genau damit Preisentwicklung, aber auch vom Klima in der Heiz- beschäftigt, was unter Modernisierung – explizit energe- periode. Ich glaube, es ist deshalb äußerst problematisch, tischen Sanierung – eigentlich zu verstehen und was in- hier insoweit zu einer gerechten Darlegung und Berech- soweit alles bereits umlegbar ist.

Zu Protokoll gegebene Reden 17254 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008

Dirk Manzewski (A) Mir bleibt nur festzuhalten, dass der Antrag der FDP detaillierte Aufschlüsselung der Einspareffekte verlangt. (C) so nie und nimmer unsere Zustimmung finden wird. Ich All dies hat abschreckende Wirkung und trägt mit dazu schlage der FDP vor, beim nächsten ähnlich gelagerten bei, dass Maßnahmen unterbleiben. Antrag im Rahmen der Rechtsfortbildung vielleicht auch einmal mit zu berücksichtigen, welche Rechte im umge- Die Fachwelt spricht in diesem Zusammenhang von kehrten Fall eigentlich der Mieter auf eine energetische dem sogenannten Nutzer-Investor-Dilemma, auch als Ei- Sanierung haben könnte. gentümer-Nutzer-Problematik bezeichnet. Um diesen Zu- stand aufzubrechen, steht der Gesetzgeber in der Pflicht, Ich persönlich gehe davon aus, dass es mit Ihrem Inte- Rahmenbedingungen zu schaffen und positive Anreize zu resse an Mietrechtsänderungen zur Erleichterung klima- setzen. Damit das Mietrecht nicht länger der umwelt- und umweltfreundlicher Sanierung dann schnell vorbei freundlichen Sanierung im Wege steht, schlägt die FDP- sein würde und deutlich wird, wohin Ihr Begehren eigent- Bundestagsfraktion vor, dem Vermieter ein Wahlrecht ein- lich zielt. zuräumen. Der Vermieter soll sich zukünftig entscheiden können zwischen der Modernisierungsmieterhöhung ge- Mechthild Dyckmans (FDP): mäß § 559 Abs. 1 BGB und einer Mieterhöhung im Wege „Koalition verschiebt umstrittenes Klimapaket“ – so einer vertraglichen Vereinbarung, bei der der Vermieter und ähnlich lauteten die Schlagzeilen dieser Woche. Fak- dem Mieter eine Betriebskostenersparnis mindestens in tisch hat die Koalition die Arbeit eingestellt. Was die Re- Höhe der Mieterhöhung garantiert. gierung plant, außer im Amt zu bleiben, weiß in diesen Weiterhin ist im Bürgerlichen Gesetzbuch zu regeln, Tagen offensichtlich niemand. dass Baumaßnahmen, die zur energetischen Sanierung Wo die Regierung ausfällt, kommt es umso mehr auf oder zu anderen Umweltschutzzwecken durchgeführt die Opposition an. Wie man im Bereich klima- und um- werden, vom Mieter zu dulden sind und nicht zur Miet- weltfreundlicher Sanierungsmaßnahmen weiterkommen minderung berechtigen. Auf diese Weise soll verhindert kann, ergibt sich aus dem heute zu beratenden Antrag der werden, dass eine Maßnahme ganz unterbleibt oder aber FDP-Bundestagsfraktion. Die FDP setzt auf positive An- dazu führt, dass der Vermieter während der Bauphase reize zur energetischen Sanierung für private Vermieter. Mietausfälle zwischen 50 und 100 Prozent einkalkulieren Ein Politikangebot, das sich wie das von CDU/CSU und muss. SPD auf Vorschriften, Verbote und Regulierungen be- schränkt, lehnen wir ab. Statt auf Vorschriften und Ver- Weiterhin müssen Modernisierungsmieterhöhungen bote setzen wir auf eine Änderung des Mietrechts. Es ist vereinfacht und die Umlage der Betriebskosten, die in- das Mietrecht, das das Haupthindernis für eine stärkere folge einer energetischen Sanierung entstehen, erleich- (B) energetische Sanierung im Gebäudebereich ist. tert werden. Damit der gesamte Wohnungsbestand erfasst (D) wird, sind Modernisierungsmieterhöhungen auch für Wir alle wissen: Sinnvolle, politisch gewollte Investi- Wohnungen mit Staffel- oder Indexmietverträgen zuzulas- tionen in den Umweltschutz unterbleiben, weil der Ver- sen und die Regelungen für Gewerbemieten und öffent- mieter nach geltendem Recht keinen bzw. kaum Ertrag lich geförderte Wohnungen zu überprüfen. aus seinen Investitionen erzielen kann. Teilweise ist das Recht sogar so restriktiv, dass der Vermieter schon daran Ein weiterer Ausweg aus dem Nutzer-Investor-Di- gehindert ist, die Arbeiten überhaupt durchführen zu kön- lemma besteht im sogenannten Contracting, also in der nen. So verlangt das geltende Recht zwar, dass Moderni- Durchführung energetischer Maßnahmen durch Dritte. sierungsarbeiten durch alle Mieter zu dulden sind, jedoch Hier handelt es sich um einen Bereich, der rechtlich und nur – so jedenfalls die herrschende Meinung – wenn sich tatsächlich sehr stark im Fluss und wegen seiner Dyna- ein Vorteil mit der Maßnahme verbindet. Ist dies nicht der mik äußerst komplex ist. Hier ist die Bundesregierung Fall, etwa weil nur ein energetischer Austausch stattfin- aufgefordert, die hiermit im Zusammenhang stehenden det, zum Beispiel beim Einbau von Solarkollektoren, kann Rechtsfragen unverzüglich durch Einholung eines Sach- ein Mieter der Modernisierung von vornherein mit der verständigengutachtens zu klären. Die erheblichen Po- Begründung widersprechen, dass sich hieraus keine Ein- tenziale, die sich aus dem Contracting ergeben können, sparung ergebe. Hinzu kommt, dass der Vermieter nach dürfen nicht länger brachliegen, weil es in Deutschland erfolgter energetischer Sanierung die Betriebskosten für keinen bzw. nur einen suboptimalen Rechtsrahmen gibt. die neuen Anlagen regelmäßig nicht auf den Mieter um- legen kann, da diese zumeist nicht Bestandteil des Miet- Ich bin der Überzeugung, dass die FDP-Bundestags- vertrags sind. fraktion hier und heute höchst praktikable Vorschläge un- terbreitet hat, die nicht dem aktuellen Koalitionschaos Will der Vermieter eine Mieterhöhung durchsetzen, um zum Opfer fallen dürfen, sondern von der Regierung die Modernisierungskosten zu refinanzieren, sieht er sich schleunigst umgesetzt werden sollten. Ich darf daran er- einem bürokratischen Aufwand ausgesetzt, der vielleicht innern, die Regierung steht spätestens seit der Kabinetts- von einer Behörde mit vielen Beschäftigen verlangt wer- klausur auf Schloss Meseberg im vergangenen Sommer den kann, einen privaten Vermieter aber regelmäßig im Wort. Die Vermieter und Mieter, aber auch die Bau- überfordern wird. So ist zum Beispiel für jede Wohnung wirtschaft warten darauf, dass den Ankündigungen nun- ein separater Antrag zu schreiben. Pauschale Abschläge mehr endlich auch im Bereich des Wohnungsbaus Taten und Quoten sind nicht erlaubt. Arbeiten, die als Instand- folgen, Taten, die nicht nur wirtschaftlich etwas in Gang setzung gelten und dem Vermieter zuzuordnen sind, sind setzen, sondern von denen gerade auch die Umwelt pro- aus der Erhöhung herauszurechnen. Überdies wird eine fitieren wird.

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008 17255

(A) Heidrun Bluhm (DIE LINKE): schafft hierfür ausreichende Grundlagen. Eine Belastung (C) Für die Fraktion Die Linke ist die Verbindung der so- der Mieterhaushalte über die bisherige gesetzliche Rege- zialen Frage mit ökologisch und ökonomisch tragfähigen lung hinaus ist sozial jedoch auf keinen Fall vertretbar. Konzepten von großer Wichtigkeit. Deshalb teilen auch Wir sehen aber noch andere Möglichkeiten, Anreize für wir das Grundanliegen, durch energetische Sanierung die energetische Sanierung der Wohnungsbestände zu und Modernisierung der Gebäudesubstanz in der Bun- schaffen. desrepublik den CO2-Ausstoß zu reduzieren und damit Heiz- und Warmwasserkosten einzusparen. Das CO2-Förderprogramm muss verstetigt und finan- ziell ausgeweitet werden, Selbiges gilt für das Marktan- Die Bundesregierung hat im letzten Sommer Eck- reizprogramm für erneuerbare Energien. Vor allem aber punkte für ein Energie- und Klimaprogramm vorgelegt. müsste in das gegenwärtig in der Koalition verhandelte Das Programm soll dazu beitragen, den Energiever- Erneuerbare-Energien-Wärmegesetz auch der Gebäude- brauch beim Heizen, bei Haushaltsgeräten, Autos und bestand einbezogen werden. Auch hier muss ein Mindest- Unternehmen zu senken. Die Bundesregierung hofft, bis anteil erneuerbarer Energien vorgeschrieben werden, zum Jahr 2020 so 40 Prozent des CO2-Ausstoßes zu ver- wenn eine grundlegende Sanierung oder ein Austausch meiden. Mit den geplanten Maßnahmen wird dies nach der Heizungsanlage erfolgt. Aber da ist die Bundesregie- allen einschlägigen Berechnungen aber nicht erreichbar rung entgegen früherer Entwürfe vor der Immobilienwirt- sein. Wenn man sich die gegenwärtige Zerstrittenheit in schaft eingeknickt. der Koalition insbesondere bei Klimaschutzmaßnahmen im Verkehr ansieht, kann man davon ausgehen, dass wohl Modellprojekte zeigen, dass durch Wärmedämmung, nicht einmal die beschlossenen Eckpunkte umgesetzt wer- neue Fenster oder effiziente Heizungen die Heizkosten den. Von der letztjährigen Klimakanzlerin Merkel bleibt um die Hälfte oder mehr gesenkt werden können. Denk- so kaum mehr als deren vollmundige Ankündigungen üb- bar ist eine Reform der Heizkostenverordnung. So könnte rig. zum Beispiel für Gebäude mit Passivhaus-Standard eine Ausnahme von der Anwendung der Heizkostenverord- Die FDP-Fraktion hat das deutsche Mietrecht als ein nung gemacht werden. Hindernis, wenn nicht gar das größte, bei der klima- und umweltfreundlichen Sanierung des Mietwohnungsbe- Eine Novellierung der Energieeinsparverordnung ist standes in der Bundesrepublik ausgemacht und fordert in dringend erforderlich, in der Koalition aber, nach allem, dem vorliegenden Antrag Mietrechtsänderungen. was man liest, alles andere als unumstritten. Ab dem Jahr 2020 soll die Wärmeversorgung von Neubauten mög- Die FDP kritisiert, ähnlich wie das Institut für Wirt- lichst weitgehend unabhängig von fossilen Energieträ- schaftsforschung, dass Modernisierungen von Mietern gern sein. Im gleichen Zug müsste auch die Einhaltung (B) zwar grundsätzlich geduldet werden müssten, aber nicht, der Energieeinsparverordnung durch die Hauseigentü- (D) wenn damit eine unzumutbare Härte für den Mieter ver- mer durch bessere Kontrollen gewährleistet werden; hier bunden ist, beispielsweise in Form von länger andauern- bestehen bislang noch große Defizite. So schreibt diese den Lärmbelästigungen oder deutlichen Mietsteigerun- vor, dass Hauseigentümer bei bestimmten Sanierungsar- gen aufgrund der Modernisierungsumlagen. Sie beiten auch die Energieeffizienz des Hauses verbessern kritisieren zum Beispiel, dass der Eigentümer nur 11 Pro- müssen. Dies findet jedoch mangels Kontrollen durch die zent der Modernisierungskosten über Mietsteigerungen Bauaufsicht kaum statt. Das liegt daran, dass bisher auf an den Mieter im Jahr weitergeben darf. Probleme gebe das Festschreiben von Sanktionen gegen jene Hauseigen- es darüber hinaus auch bei den Staffel- oder den Index- tümer verzichtet wurde, welche die Einsparvorschriften mieten. Auch hier gebe es kaum Möglichkeiten, die Mo- nicht einhalten. Hier gibt es Verbesserungsbedarf. dernisierungskosten an die Mieter weiterzugeben. Wir setzen weiter auf den am 1. Juli dieses Jahres ein- Wir werden uns den Antrag der FDP sehr genau angu- zuführenden Energiepass. Ich hoffe, dass wir das poli- cken. Eines kann ich schon jetzt versprechen: Einen Fron- tisch durchstehen. talangriff auf elementare Schutzbestimmungen für Miete- rinnen und Mieter wird Die Linke nicht zulassen. Nicht Solange es um Maßnahmen zum Klima- und Umwelt- ohne Grund wohnen gerade im unsanierten oder teilsa- schutz geht, sind wir an der Seite der Damen und Herren nierten Wohnungsbestand aufgrund der preiswerteren von der FDP-Fraktion. Bei Mietrechtsänderungen ist mit Mieten einkommensschwache Bevölkerungsgruppen, die uns nicht zu rechnen. in vielen Fällen noch staatliche Leistungen wie Wohngeld oder KdU erhalten. Ungebremste Modernisierungsumla- Peter Hettlich (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): gen würden vor allem diese Menschen und die staatlichen Die FDP-Fraktion macht es sich in der Frage des Kli- Sicherungssysteme treffen. Mietervertreibung und stär- maschutzes im Gebäudesektor wieder einmal einfach. Sie kere Belastung der öffentlichen Kassen wären die Folgen. stellt zunächst grundsätzlich ordnungsrechtliche Maß- Das heißt nicht, dass wir gegen jegliche Möglichkeiten nahmen, unter anderem im EEW und in der EnEV 2009, der Umlage auf die Mietpreise wären. Selbstverständlich als „unzweckmäßig“ dar und sucht daher ihr Heil im haben auch die Mieterinnen und Mieter ein Interesse an Emissionszertifikatehandel für den Wärmebereich. Dann Energieeffizienzmaßnahmen und an dem Einsatz erneu- beklagt sie, dass es zu wenig positive Anreize – wie ver- erbarer Energien. Sie müssen und dürfen deshalb in ei- hält es sich eigentlich mit dem KfW-CO2-Gebäudesanie- nem vertretbaren Umfang an den dadurch entstehenden rungsprogramm? – und viel zu viele Vorschriften gebe. Kosten beteiligt werden. Das bestehende Mietrecht Das Gedächtnis der FDP scheint sie aber gerade dann im

Zu Protokoll gegebene Reden 17256 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008

Peter Hettlich (A) Stich zu lassen, wenn es um ihre eigenen Aktivitäten im zum Beispiel auch für energetische Modernisierungs- (C) Ordnungsrecht zu gehen scheint. Oder war sie 1977 bei maßnahmen vorstellen. der 1. Wärmeschutzverordnung (WSVO), 1984 bei der Bei Modernisierungsmieterhöhungen für Staffel- oder 2. WSVO oder 1995 bei der 3. und letzten WSVO etwa Indexmietverträgen verstehe ich nicht, warum wir den Ei- nicht an der Regierung beteiligt? Das ist typisch für Sie, gentümern hier aus der Bredouille helfen sollen, denn und es erinnert mich an die aktuelle Debatte um die Mi- schließlich ist es ja deren freie Entscheidung, welche neralölsteuer, von der zwar über 70 Prozent mit auf die Form des Mietvertrages sie wählen. Man dürfte eigent- Kappe der FDP gegangen ist, woran sich bei Ihnen aber lich erwarten, dass bei Staffelmieten die Modernisie- auch niemand mehr erinnern will. rungsmieterhöhungen bereits mit eingepreist sind. Und dann machen Sie als Schuldige natürlich die Mie- Einem Streichen der Nachweispflichten – § 559 b BGB – ter aus, die es den Hauseigentümern vergällen würden, werden wir ebenfalls keine Zustimmung erteilen. Sie stel- ihre Gebäude energetisch zu modernisieren. Da ist es len keine unzumutbare Belastung für die Eigentümer dar, auch keine Überraschung, dass bei der Formulierung Ih- und auch von semiprofessionellen Vermietern darf erwar- res Antrages wohl die Eigentümerschutzgemeinschaft tet werden, dass sie sich mit dieser Materie aus- Haus & Grund den Stift geführt hat, denn viele ihrer be- einandersetzen. kannten Forderungen finden sich im Antrag der FDP wieder. Wir halten übrigens Wärme-Contracting- und Ener- gie-Einspar-Contracting-Modelle für eine interessante Bündnis 90/Die Grünen haben sich bislang bei Forde- Alternative. Auch der Bundesgerichtshof hat sich in sei- rungen nach Mietrechtsänderungen zurückgehalten. Das ner Rechtsprechung in jüngster Zeit nicht mehr als gene- Mietrecht ist kein Steinbruch, in dem beliebig herumge- rell „contracting-feindlich“ dargestellt. Ich verweise in sprengt und -gebaggert werden kann, sondern es stellt diesem Zusammenhang auf das Gutachten des Instituts eine bewährte Austarierung zwischen den Interessen von für Energiewirtschaftsrecht der Universität Jena aus Mietern und Vermietern dar. Dennoch setzen wir uns im 2007, in dem übrigens auch ein Formulierungsvorschlag Rahmen der aktuellen Debatte zum Erneuerbare-Ener- für § 554 BGB für den Einbezug von Wärme-Contracting gien-Wärmegesetz (EEW), aber auch zur Novellierung erarbeitet worden ist. der Energieeinsparverordnung (EnEV2009) mit Proble- men des Mietrechts auseinander, und wir können uns da- Lassen Sie uns also in Ruhe und unaufgeregt über den her auch Änderungen und Klarstellungen im Mietrecht besten Weg bei der Umsetzung der Klimaschutzziele im vorstellen. Gebäudebereich diskutieren. Schnellschüsse helfen uns dabei nicht weiter. Die Frage der Berechtigung von Mietminderungen (B) (D) während Sanierungsmaßnahmen – § 536 BGB – lässt sich Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: aber nicht so beantworten, dass das Recht auf Minderung Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf stark eingeschränkt wird. Das hat ja selbst die FDP in ih- Drucksache 16/7175 an die in der Tagesordnung aufge- ren Forderungsteil nicht übernehmen wollen, obwohl sie führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Sind Sie damit ein- vorher die angeblich überzogenen Mietminderungen bei verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung Modernisierungsmaßnahmen beklagt hat. Eine Abgren- so beschlossen. zung zwischen zu duldenden energetischen Sanierungs- maßnahmen und versäumten Instandhaltungsmaßnah- Ich rufe die Tagesordnungspunkte 20 a bis 20 c auf: men des Eigentümers und damit auch die Frage nach der a) Beratung der Unterrichtung durch die deutsche Berechtigung einer Mietminderung wird sich auch wei- Delegation in der Euromediterranen Parlamenta- terhin nur im Einzelfall und mit entsprechenden Nachwei- rischen Versammlung sen beantworten lassen. Diese Hausarbeit werden wir den Hauseigentümern nicht ersparen können, das gehört Zweite Plenartagung am 26. und 27. März zum Einmaleins einer Vermietertätigkeit dazu. Und ich 2006 in Brüssel (Belgien) kann Sie beruhigen: Wenn Sie eine Sanierung vernünftig – Drucksache 16/9207 – planen und durchführen, haben Sie anschließend für viele Überweisungsvorschlag: Jahre Ruhe im Haus. Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union (f) Auswärtiger Ausschuss Mit einer generellen Duldungspflicht bei energeti- Verteidigungsausschuss schen Modernisierungsmaßnahmen – § 554 BGB – wird Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend unserer Ansicht nach der Ausgleich sozialer und anderer Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Härten aus dem Lot gebracht. Daher können wir uns hier Entwicklung nur dann eine Änderung vorstellen, wenn a) über unmiss- b) Beratung der Unterrichtung durch die deutsche verständliche Definitionen der zu duldenden Maßnahmen Delegation in der Euromediterranen Parlamenta- und b) gleichzeitig auch über die Höhe der Modernisie- rischen Versammlung rungsmieterhöhung – § 559 BGB – gesprochen wird. Eine Änderung des Umschlageschlüssels von bisher 11Prozent Dritte Plenartagung vom 16. bis 18. März 2007 pro Jahr auf zum Beispiel 5 Prozent pro Jahr, wie dies der in Tunis Deutsche Mieterbund im Rahmen der Anhörung für den – Drucksache 16/8490 – Einsatz erneuerbarer Energien – zum Beispiel Solarther- Überweisungsvorschlag: mische Anlagen – vorgeschlagen hat, könnten wir uns Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union (f) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008 17257

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner (A) Auswärtiger Ausschuss und Schießbefehl distanziert hat, hier erdreistet, uns über (C) Verteidigungsausschuss die angebliche Abschaffung des Grundrechts auf Asyl mit Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und einem infamen Antrag belehren zu wollen, ist ein uner- Entwicklung träglicher Vorgang schlechthin. Sie haben weder poli- tisch noch moralisch überhaupt das Recht, uns mit Beleh- c) Beratung der Unterrichtung durch die deutsche rungen über die Rechte von politischen Flüchtlingen zu Delegation in der Euromediterranen Parlamenta- behelligen. Mit der Grundgesetzänderung 1993 ist das rischen Versammlung Grundrecht auf Asyl wieder auf seinen eigentlichen Kern, Vierte Plenartagung am 26. und 27. März 2008 nämlich den Schutz politisch Verfolgter, zurückgeführt in Vouliagmeni (Athen), Griechenland und ist der vieltausendfache Missbrauch dieses Grund- rechts aus wirtschaftlichen Gründen sachgerecht be- – Drucksache 16/9183 – kämpft worden. Überweisungsvorschlag: Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union (f) Wir müssen uns die Situation nochmals vor Augen füh- Auswärtiger Ausschuss Verteidigungsausschuss ren, die damals in Deutschland geherrscht hat. 1992 hat- Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ten wir 432 000 Asylbewerber, schwerpunktmäßig aus Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Rumänien und Bulgarien, die die betroffenen Städte und Entwicklung Gemeinden vor große organisatorische Probleme gestellt Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu die- haben. Zur Unterbringung wurden Schulturnhallen um- sem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. – Ich funktioniert, sodass die Kinder keinen Sportunterricht sehe, Sie sind damit einverstanden. Es handelt sich um mehr hatten, Hotels wurden in großem Stil angemietet, folgende Kolleginnen und Kollegen: Thomas Dörflinger was zu enormen Kostenbelastungen für die betroffenen und Hans Raidel, CDU/CSU, Axel Schäfer, SPD, Kommunen führte. Gleichzeitig waren über 95 Prozent Dr. Karl Addicks, FDP, Alexander Ulrich, Die Linke, der Asylanträge offensichtlich unbegründet, und in den Rainder Steenblock, Bündnis 90/Die Grünen.1) Städten und Gemeinden, die besonders viele Asylbewer- ber hatten, stieg die Kriminalität spürbar an. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 16/9207, 16/8490 und 16/9183 an die Das Resultat war, dass sich auch weltoffene und tole- in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge- rante Menschen von diesem Ansturm überfordert fühlten. schlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Die Aufnahmebereitschaft der Zivilgesellschaft war nicht Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. mehr gegeben. Es waren gerade auch SPD-Bürgermeis- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 auf: ter aus den Kommunen vor Ort, die damals ganz erhebli- (B) chen Druck auf ihre Genossen in Bonn machten, endlich (D) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla einer Grundgesetzänderung zuzustimmen, was dann auch Jelpke, Wolfgang Nešković, Sevim Dağdelen, geschah. Mit der damals gemeinsam vereinbarten Dritt- weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE staatenregelung und der Vorschrift über die sicheren LINKE Herkunftsländer wurde eine sachgerechte Ergänzung des 15 Jahre nach Änderung des Grundrechts auf Asylgrundrechts vorgenommen, die vor allem auch im Asyl – Für einen rechtsstaatlichen Umgang Zusammenwirken mit den Rückübernahmeabkommen mit mit Schutzsuchenden in Deutschland und in einer Reihe von Herkunftsstaaten, wie etwa Rumänien, zu der Europäischen Union einem massiven Rückgang der Asylbewerberzahlen führ- ten. – Drucksache 16/8838 – Überweisungsvorschlag: Das Grundrecht auf Asyl als subjektives Recht eines Innenausschuss (f) jeden einzelnen Flüchtlings wurde erhalten. Von einer Auswärtiger Ausschuss faktischen Abschaffung kann überhaupt nicht die Rede Rechtsausschuss Ausschuss für Arbeit und Soziales sein. Dabei will ich darauf verweisen, dass fast alle an- Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend deren EU-Länder ein Asylrecht als subjektives Grund- Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe recht nicht kennen, sondern es in den allermeisten Staaten Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union als Institutsgarantie und teilweise reines Gnadenrecht Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die ausgestaltet ist. Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um fol- gende Kolleginnen und Kollegen: Reinhard Grindel, Wurde damals, 1993, davon gesprochen, Flüchtlinge CDU/CSU, Rüdiger Veit, SPD, Hartfrid Wolff, FDP, könnten nur noch mit einem Fallschirm über Deutschland Ulla Jelpke, Die Linke, Josef Winkler, Bündnis 90/Die abspringen, um hier Asyl beantragen zu können, so spre- Grünen. chen die Zahlen eine deutlich andere Sprache. Nach wie vor haben wir pro Jahr rund 20 000 Asylbewerber, die al- lerdings durch die zügigeren Verfahren schneller Klarheit Reinhard Grindel (CDU/CSU): bekommen und die Kassen der Länder und Kommunen Eine Vorbemerkung: Dass sich die SED-Nachfolge- nicht mehr so sehr belasten wie früher. Im Übrigen will partei, die sich bis heute nicht von Mauer, Stacheldraht ich darauf verweisen, dass die Zahl der Asylbewerber in diesem Jahr wieder steigt, was vor allem auf Antragstel- 1) Anlage 9 ler aus dem Irak zurückzuführen ist, die auch in aller 17258 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008

Reinhard Grindel (A) Regel einen Aufenthaltstitel erhalten. Das Grundrecht auf aber politischen Gründen ihr Land verlassen wollen. (C) Asyl wirkt also in seiner Kernfunktion. Fluchtursachen müssen aber in erster Linie vor Ort be- kämpft werden. Wir würden damit im Ergebnis auch nur Ich will bei dieser Gelegenheit allerdings betonen, Schlepper- und Schleuserbanden zu den Gewinnern einer dass es integrationspolitisch sicher besser gewesen wäre, solchen EU-Regelung machen. Die Entwicklung in vielen wenn wir viel früher die Kraft zu einer Grundgesetz- anderen europäischen Ländern, wie Dänemark oder Ita- ergänzung gefunden hätten. Der Missbrauch des Asyl- lien, zeigt, dass nur durch einen konsequenten Kampf ge- rechts in den 80er- und frühen 90er-Jahren hat zu einer gen Scheinasylanten und Wirtschaftsflüchtlinge dem völlig ungesteuerten Zuwanderung nach Deutschland ge- menschenverachtenden Schlepper- und Schleuserwesen führt. Die Menschen, die damals zu uns kamen und zu ei- entgegengewirkt werden kann. nem großen Teil aus verschiedenen Gründen bis heute – Asylanerkennung ja oder nein – geblieben sind, wurden Der Antrag der Linken ist weltfremd, nicht europa- nicht so frühzeitig mit Integrationsangeboten konfron- tauglich und vor allem integrationspolitisch gefährlich. tiert, wie das heute der Fall ist. In Wahrheit geht es den Linken darum, das Asylrecht wie- der zum Einfallstor für die von ihnen gewollte unbe- Ich weise ausdrücklich den Vorwurf der Linken zurück, grenzte und ungesteuerte Zuwanderung zu machen. Das die Asylbewerber würden entwürdigend untergebracht aber lehnen wir entschieden ab. und ihre Versorgung sei diskriminierend. In kaum einem anderen europäischen Land erhalten Asylbewerber solch umfassende Sozialleistungen wie in Deutschland. Das hat Rüdiger Veit (SPD): gerade Ende der 80er- und zu Beginn der 90er-Jahre zu 15 Jahre ist es her, dass die Asylrechtsreform beschlos- den Pull-Effekten geführt, die wir an den hohen Zugangs- sen wurde. Die Fraktion Die Linke nimmt das zum Anlass, zahlen ablesen konnten. Die Asylbewerber sind, beraten sich für einen rechtsstaatlichen Umgang mit Schutzsu- durch Schlepper und Schleuser, damals gerade in die Re- chenden in Deutschland und in der Europäischen Union gionen gezogen, wo es keine Naturalleistungen, sondern einzusetzen. In diesem Grundanliegen findet sie meine Bargeld gab. Ich will nur darauf verweisen, dass es für volle Unterstützung. Ich darf an das erinnern, was ich be- viele Frauen und Kinder zu erheblichen Problemen kam, reits vor drei Wochen in diesem Kreis gesagt habe: Ange- weil das Bargeld von den Familienvätern in aller Regel sichts stetig sinkender Asylbewerberzahlen haben wir nahezu vollständig für den Eigenverbrauch genutzt keinerlei Anlass, etwaige hartherzige Abschottungsten- wurde. Die Gemeinschaftsunterkünfte sind alle sehr men- denzen aufrechtzuerhalten. schenwürdig ausgestaltet und machen nicht nur eine gute Gleichwohl gibt der Antrag nicht in allen Punkten die Verpflegung möglich, sondern sorgen auch dafür, dass die Positionen der SPD wieder. Wenn wir über die heutige Si- (B) Asylverfahren zügig durchgeführt werden können. tuation Asylsuchender sprechen, so müssen vorangegan- (D) Ich will hier hervorheben, dass doch die Erfahrung gene Bemühungen ebenso wie die geänderte Situation von vor 15 Jahren zeigt, dass es für ein friedliches Zu- nach dem Richtlinienumsetzungsgesetz nüchtern und sammenleben von Wohnbevölkerung und Asylbewerbern ausgewogen betrachtet werden. Zwar stimme ich dem An- notwendig ist, dass nicht der Eindruck einer Überversor- trag in der Forderung zu, dass 16- bis 17-Jährige im Asyl- gung der Asylbewerber entsteht. verfahren endlich mit anderen Minderjährigen gleichge- stellt werden müssen. Das wird Sie nicht überraschen; Bei den Arbeitsmöglichkeiten für Asylbewerber kommt denn ich wiederhole damit nicht nur meine persönliche es auf eine vernünftige Abwägung an. Einerseits dürfen Meinung, sondern auch die der SPD-Bundestagsfraktion. keine zusätzlichen Pull-Effekte entstehen, andererseits Unter Rot-Grün haben wir ebendiese Forderung in meh- wollen wir auch den Rahmen dafür schaffen, dass die reren Anträgen vorgebracht, sind aber bekanntlich am Asylbewerber selbst etwas zu ihrem Lebensunterhalt bei- Widerstand der Länder gescheitert. tragen und damit die staatlichen Kassen entlasten. Des- halb ist das einjährige Arbeitsverbot ebenso sinnvoll wie Ebenso teile ich die Einschätzung, dass nicht alle EG- die deutlichen Erleichterungen, die wir im Arbeitserlaub- Richtlinien vollständig umgesetzt wurden. In der Tat ist nisrecht für Asylbewerber vorgenommen haben. die genannte Ausgestaltung von § 60 Abs. 7 AufenthG aus gemeinschaftsrechtlicher Perspektive kritikwürdig. Die Das Dublin-Verfahren und die bisher auf EU-Ebene sogenannte verfahrensrechtliche Sperrklausel, wonach verabschiedeten Asylrichtlinien sorgen für einheitlichere Gefahren, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungs- Verfahren, die durch vergleichbarere Sozialstandards be- gruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausge- gleitet werden sollten. Wir brauchen Rechtsgrundlagen, setzt ist, nur bei Duldungen nach § 60 a Abs. 1 Satz 1 wonach sich gerade auch die Transitländer von Asyl- AufenthG zu berücksichtigen, bleibt hinter dem Schutz- suchenden verpflichtet fühlen, dem Missbrauch des Asyl- niveau der Qualifikationsrichtlinie zurück. rechts entgegenzuwirken. Doch wenn schon die Umsetzung der EG-Richtlinien Gleichzeitig will ich mit Blick auf das von Frankreich angesprochen wird, so möchte ich auf ein nach wie vor für deren Präsidentschaft im zweiten Halbjahr 2008 vor- drängendes Problem hinweisen, das im Antrag leider bereitete Asylpaket deutlich betonen, dass wir von einer nicht benannt wird: Auch bei der Richtlinie über Aufnah- Möglichkeit, Asylanträge auch in Drittstaaten stellen zu mebedingungen sollten wir kritisch überprüfen, ob Opfer können, überhaupt nichts halten und dies ablehnen. Die- von Folter und Gewalt die Leistungen erhalten, die ihnen ses würde nur zu einem neuerlichen Ansturm von Men- nach Gemeinschaftsrecht zustehen. Wir sind verpflichtet, schen führen, die aus wirtschaftlichen und sozialen, nicht ihnen die erforderliche Behandlung zu gewähren. Die

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008 17259

Rüdiger Veit (A) geltenden Regeln des Asylbewerberleistungsgesetzes ge- und das, obwohl einige davon durchaus diskussionswür- (C) währleisten das nicht ausreichend. dig sind. Allerdings erwähnt der Antrag nicht, dass wir mit dem Lassen Sie mich drei davon aufgreifen. Erstens hat die Richtlinienumsetzungsgesetz auch Verbesserungen errei- Kommission vorgeschlagen, bei der Asylverfahrensricht- chen konnten. So spricht er zu Recht die Arbeits- und Aus- linie einzelne Verfahrensansätze kritisch zu überprüfen, bildungsverbote für Asylsuchende und Geduldete an. Lei- insbesondere die der sicheren Herkunftsländer, der siche- der aber verschweigt er, dass eben dieser Gruppe durch ren Drittstaaten und der sicheren europäischen Dritt- die Bemühungen der SPD nunmehr nach vier Jahren der staaten. Zweitens regt sie an, in der Richtlinie über Zugang zum Arbeitsmarkt ohne Arbeitsmarktprüfung und Aufnahmebedingungen Asylbewerbern Zugang zum Ar- ohne Beschränkung auf einen bestimmten Arbeitsplatz beitsmarkt zu geben. Ich halte das zumindest dann für be- ermöglicht werden kann. Auch andere Verbesserungen denkenswert, wenn sich das Asylverfahren über einen konnten wir erreichen: Die Einbürgerungsfrist wurde von langen Zeitraum zieht. Drittens und letztens stellt ein Vor- acht bzw. sieben Jahren auf sechs vermindert, sofern ent- schlag zur Qualifikationsrichtlinie eine wirkliche Innova- sprechende Deutschkenntnisse vorliegen. Als Nebenpro- tion dar. Die Kommission möchte den Status von subsi- dukt der – eigentlich nicht erwünschten – Einführung des diär Schutzberechtigten dem der Flüchtlinge im Sinne der Transitgewahrsams wird nunmehr auch ansonsten der Genfer Flüchtlingskonvention angleichen. Lange wurde Verbleib in der Flughafenunterkunft nur noch mit richter- davon ausgegangen, dass subsidiär Schutzberechtigte in licher Anordnung zulässig sein. Und zuletzt konnten wir zeitlicher Hinsicht nicht so lange schutzbedürftig sind wie die gesetzliche Altfallregelung durchsetzen, die mir, wie Konventionsflüchtlinge. Das aber hat sich in der Lebens- Sie alle wissen, stets ein besonderes Anliegen gewesen ist. wirklichkeit als falsch herausgestellt. Sehen wir also den Tatsachen ins Auge, und denken wir offen darüber nach, Zwar bleibt die Altfallregelung in vielen Punkten hin- ob wir Menschen mit gleichem Schutzbedürfnis künftig ter dem zurück, was ich mir gewünscht habe. Doch bitte die gleichen Rechte verleihen möchten. ich Sie, zu berücksichtigen, was der Antrag der Fraktion Die Linke eben gerade nicht berücksichtigt: Das Richtli- Zusammenfassend möchte ich die guten Grundanlie- nienumsetzungsgesetz war das Ergebnis schwieriger Ver- gen des Antrages der Linken nicht kleinreden. Ebenso we- handlungen zwischen Koalitionspartnern, die im Bereich nig aber sollten wir das, was wir in Deutschland mit dem Asyl und Einwanderung sehr unterschiedliche program- Richtlinienumsetzungsgesetz erreicht haben – trotz seines matische Grundsätze haben. Dass die SPD dem Gesetz Kompromisscharakters –, kleinreden. Und zuletzt sollten zugestimmt hat, war Ergebnis eines langen Abwägungs- wir als Europäer nicht nur einzelne Bestandteile der eu- prozesses. Nicht zuletzt um mehreren Zehntausend Gedul- ropäischen Debatte aufgreifen, sondern uns ausführlich (B) deten endlich die Integration zu ermöglichen, haben wir und wohlwollend mit den Vorschlägen aus dem Grünbuch (D) uns mehrheitlich dafür entschieden, dem Kompromiss zu- befassen. Der Antrag der Fraktion Die Linke ist, jeden- zustimmen. falls in dieser Form, abzulehnen. Lassen Sie mich zuletzt die europäische Ebene anspre- chen. Der Antrag verweist in aller Kürze auf zwei ebenso Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP): drängende wie umstrittene Fragen. Zum einen ist dies die Der Antrag der Linken ist eine Zumutung. Er ist, ins- Frage, ob das Zurückweisungsverbot der Genfer Flücht- besondere in der Begründung und auch generell in der lingskonvention auch auf hoher See gilt. Das bejahe ich. Tonlage inakzeptabel und ein einziger Affront gegen den Ich teile insoweit die Einschätzung des Hohen Flücht- demokratischen Rechtsstaat Bundesrepublik Deutsch- lingskommissars der Vereinten Nationen sowie des Deut- land. Schon der Titel unterstellt, die Bundesrepublik sei in schen Instituts für Menschenrechte und mehrerer den vergangenen 15 Jahren nicht rechtsstaatlich mit deutscher NGOs, die dies im vergangenen Jahr mit über- Asylsuchenden umgegangen. In der Begründung behaup- zeugenden Studien belegt haben. Zum anderen ist dies die ten die Linken, „rechte Kräfte“ hätten das deutsche im Antrag angesprochene Frage nach einem Lastentei- Asylrecht erfolgreich bekämpft und vor 15 Jahren die da- lungssystem jenseits der geltenden Dublin-II-Verord- malige Grundgesetzänderung herbeigeführt. Zudem be- nung. Über ein solches Lastenteilungssystem müssen wir hauptet die Linke, die damaligen Bundestagsabgeordne- dringend diskutieren – dies aber nicht allein aus Solida- ten seien eine „unheilige Allianz mit der Gewalt der rität gegenüber schutzsuchenden Flüchtlingen. Nein, als Straße“ eingegangen und hätten das „Anliegen der Ge- Europäer trifft uns auch die Pflicht, uns gegenüber den walttäter“ bei „Übergriffen und Brandanschlägen von anderen Mitgliedstaaten solidarisch zu zeigen. Warum Rechtsextremisten“ „geteilt“. beispielsweise soll ein kleiner Staat wie Malta eine im Verhältnis zur eigenen Größe ungleich höhere Verant- Das ist eine Beleidigung aller damals an dieser parla- wortung tragen müssen als Deutschland? mentarischen Entscheidung mitwirkenden Parteien, also nicht nur der CDU/CSU, sondern auch der FDP und der Doch wenn schon die europäische Ebene angespro- SPD. Diese Ausführungen der Linken haben volksverhet- chen wird, dann möchte ich fragen: Warum so knapp? Im zenden Charakter. Sie gipfeln in der Aussage: Parlament haben wir bislang zu wenig über die Vor- schläge diskutiert, die die Europäische Kommission im Die handelnden Politiker waren es, die mit ihrer In- vergangenen Sommer in ihrem „Grünbuch über das künf- strumentalisierung von Überfremdungsängsten den tige gemeinsame Europäische Asylsystem“ gemacht hat, Hass in der Bevölkerung mit schürten.“

Zu Protokoll gegebene Reden 17260 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008

Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (A) Sie hätten sogar „das Pogrom in Rostock-Lichtenha- rein von Schutz ausgeschlossen. Zugleich wurden die (C) gen“ für ihre Zwecke instrumentalisiert. Rechte der Betroffenen eingeschränkt, sich gerichtlich gegen die Behörden zur Wehr zu setzen. Es mag ja durchaus auch aus liberaler Sicht Verbesse- rungsbedarf in der deutschen Asylpraxis geben. Der be- Beschlossen wurde das Asylbewerberleistungsgesetz, leidigende und den demokratischen Rechtsstaat Bundes- mit dem die Sozialleistungen auf 360 D-Mark abgesenkt republik herabsetzende Antrag der Linken macht eine wurden. Bis heute sind diese Sätze nicht erhöht worden; sachliche Auseinandersetzung mit diesem Thema aller- die Betroffenen kriegen also knapp 184 Euro. Die meisten dings unmöglich. Dazu mögen sich andere Anträge eig- Asylsuchenden erhalten aber Sachleistungen, kriegen nen – dieser sicherlich nicht. Eine Partei, die so etwas als also Essen und Kleidung geliefert und leben in Sammel- Antrag ins Parlament einbringt, sollte nicht als Mehr- unterkünften. Damit werden sie in ihrer Lebensgestaltung heitsbeschafferin für Bundespräsidentenwahlen hofiert, krass eingeschränkt. sondern klar in ihre Schranken gewiesen werden. Sie hat keinerlei moralische Legitimation, sich immer wieder als Beschlossen wurde auch die Residenzpflicht. Asylsu- Anwalt von Grund- und Menschenrechten aufzuspielen. chende dürfen sich nur in den Landkreisen oder Städten bewegen, denen sie „zugeteilt“ worden sind. Ulla Jelpke (DIE LINKE): Zusammengefasst: Schutzsuchende werden in diesem Fast auf den Tag genau vor 15 Jahren, am 26. Mai Land an jeder Form eigenständiger Lebensgestaltung ge- 1993, beschlossen die Fraktionen von Union, SPD und hindert. Gleichzeitig stehen sie unter Arbeitsverbot und FDP im Bundestag, das Grundrecht auf Asyl faktisch ab- sind vollständig der behördlichen Willkür ausgeliefert. zuschaffen. Das war damals der traurige Höhepunkt ei- Die Entwicklung, die vor 15 Jahren in der faktischen Ab- ner Entwicklung, die bereits in den 80er-Jahren begann. schaffung des Asylrechts gipfelte, ist bis heute nicht abge- Sie war gekennzeichnet von rassistischer Hetze aus der schlossen. Immer noch wird jede Änderung des Asyl- und sogenannten Mitte der Gesellschaft und neofaschisti- Flüchtlingsrechts in diesem Hause genutzt, um die Rechte scher Gewalt gleichermaßen. der Betroffenen einzuschränken. Zugespitzt hatte sich die damalige demokratie- und In den letzten Jahren sind die Zahlen von Asylbewer- menschenverachtende Stimmung in den Pogromen von bern und Flüchtlingen in Deutschland massiv gesunken. Hoyerswerda 1991, Rostock-Lichtenhagen und Mölln Lediglich 19 000 Menschen gelang es im vergangenen 1992. Von 1990 bis 1992 verfünffachte sich die Zahl rech- Jahr noch, einen Asylantrag zu stellen. Zum Vergleich: ter Gewalttaten. Ständig gab es Meldungen über An- Gegen 25 000 anerkannte Asylbewerber und Flüchtlinge schläge auf Asylbewerberheime. Drei Tage nach dem Be- wurden im vergangenen Jahr Widerrufsverfahren einge- (B) schluss des Bundestages starben fünf Menschen durch leitet. Damit wird eins deutlich: Die Maxime der Bundes- (D) einen rassistisch motivierten Brandanschlag auf ihr Haus regierung und der EU lautet: Abschottung geht vor Hu- in Solingen. manität. Die Verantwortung für diese Stimmung lag bei einer Die Asyldebatte vor 15 Jahren war ein schwarzer Tag jahrelangen Hetzkampagne von Politik und Medien ge- für das Parlament, aber mehr noch für die schutzsuchen- gen angeblichen „Asylmissbrauch“ und „Sozialschma- den Menschen. Die Substanz eines Grundrechts wurde rotzer“ sowie eine herbeihalluzinierte „Asylantenflut“. am 26. Mai 1993 zerstört. Übrig blieb eine bloße Hülle Führende Politiker schürten die Hetze, sodass gewalttä- wortreicher Paragrafen. Eine solche Politik nimmt die tige Rassisten und Neonazis glauben konnten, die Voll- Menschenrechte und die rechts- und sozialstaatlichen strecker des sogenannten Volkswillens zu sein. Verpflichtungen der Verfassung nur dem Scheine nach ernst. Edmund Stoiber (CSU) hatte als bayerischer Innen- minister bereits 1988 vor einer „durchmischten und Wir fordern daher die Wiederherstellung eines effekti- durchrassten Gesellschaft“ gewarnt. „Kein Volk wird ven Flüchtlingsschutzes. Diese Forderung gilt nicht nur eine Überfremdung ohne Konflikt hinnehmen, es kann sie für Deutschland, sondern auch für die EU. Es muss end- gar nicht hinnehmen“, erklärte der CSU-Abgeordnete lich Schluss damit sein, dass deutsche Innenminister an Norbert Geis während der Asyldebatte im Bundestag. vorderster Front den europäischen Flüchtlingsschutz Auch prominente Sozialdemokraten stimmten in den ras- sturmreif schießen. Stattdessen fordern wir die konse- sistischen Chor ein. „Wir können nicht der Lastesel für quente Umsetzung des Zurückweisungsgebotes der Gen- die Armen der Welt sein“, wetterte der Münchner Ober- fer Flüchtlingskonvention für die Flüchtlinge an den Au- bürgermeister Georg Kronawitter im September 1992. ßengrenzen der EU. Statt bürokratischer Verteilung von „Der Unmut bei den Menschen ist riesig. Glauben Sie Flüchtlingen innerhalb der EU brauchen wir endlich eine denn, dass die ruhig hinnehmen werden, wenn Millionen solidarische europäische Lastenteilung. Ausländer ungeordnet in unser Land fluten?" In Deutschland muss dass menschenunwürdige System Was damals beschlossen wurde, nannte sich „Asyl- der Abschreckung von Flüchtlingen endlich beendet wer- kompromiss“. Das war schon damals eine heuchlerische den. Wir fordern die Abschaffung der Residenzpflicht, des Verschleierung. Denn inhaltlich ging es darum, zuvor un- Asylbewerberleistungsgesetzes und der geltenden Ar- geahnte Diskriminierungen einzuführen. Beschlossen beits- und Ausbildungsverbote für Asylsuchende und Ge- wurde die sogenannte Herkunfts- und Drittstaatenrege- duldete. Die UN-Kinderrechtskonvention muss endlich in lung. Damit wurden viele Asylantragsteller von vornhe- vollem Umfang auch für Flüchtlingskinder gelten. Die

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Ulla Jelpke (A) Behandlung von 16- und 17-Jährigen als Erwachsene im nach vorne“. Und es war Lafontaine, der als dama- (C) Asylverfahren muss endlich beendet werden. liger Ministerpräsident des Saartandes noch lange vor der Einführung eines Asylbewerberleistungsge- Ein weiterer wichtiger Punkt ist die volle Wiederher- setzes die Sozialhilfe für Flüchtlinge nicht mehr stellung des Rechtsschutzes in allen asyl- und aufent- auszahlte, sondern auf Sachleistungen umstellte. haltsrechtlichen Verfahren. Es kann nicht sein, dass man Oskar Lafontaine muss sich die Frage nach seiner einen Menschen abschiebt, der noch ein Verfahren gegen Mitschuld an der heutigen rigiden Ausländerpolitik seine Ablehnung als Asylbewerber betreibt. gefallen lassen. 15 Jahre nach der faktischen Abschaffung des Rechts auf Asyl wird es endlich Zeit, dass die Politik der Abschot- Sie gestehen mir zu, dass dies alles nicht für die Glaub- tung ein Ende hat. Dabei geht es nicht nur um die Verfolg- würdigkeit der Linksfraktion spricht. Art. 16, Abs. 2, Satz ten, die bei uns Schutz suchen. Heribert Prantl hat 1994 2 des Grundgesetzes war die historische Antwort des Par- auf diesen Eingriff ins Grundgesetz zurückgeblickt und lamentarischen Rates 1948/49 auf die Rettung vieler im schon damals festgestellt: „Die Asylpolitik der letzten nationalsozialistischen Deutschland Verfolgter durch zwanzig Jahre ist … das Menetekel für die allgemeine Aufnahme im Ausland. Die Botschaft von Art. 16 GG Politik der inneren Sicherheit in den nächsten zwanzig wurde in den 1980er-Jahren Anlass zum Streit um den Wi- Jahren.“ Die SPD reiche der Union die Hand bei der De- derspruch zwischen Asylrecht und Asylpraxis – das heißt, montage des Rechtsstaates. Diese Vorhersage hat sich zwischen Verfassung und Verfassungswirklichkeit, und mittlerweile leider bestätigt. schließlich um die Änderung des Grundgesetzartikels selbst. Hintergrund waren die Dimensionen des Welt- flüchtlingsproblems am Ende des 20. Jahrhunderts. Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN): Die immer noch häufig verbreitete Meinung, wonach Es ist schon erstaunlich, dass unter dem heute behan- Deutschland das liberalste Zugangsrecht in Europa habe, delten Antrag der Linksfraktion, der an die Asylgrundge- ist spätestens seit dem Asylkompromiss von 1993 über- setzänderung vor 15 Jahren erinnern soll, ausgerechnet holt. Im Gegenteil: Wir halten am restriktivsten Zugangs- der Name Oskar Lafontaine steht. Zur Erinnerung ein Zi- recht fest, ohne uns eine liberale Anerkennungspraxis zu tat von Herbert Leuninger, damaliger Sprecher der leisten. Ziel des Asylverfahrens muss es aber sein, den Flüchtlingsorganisation Pro Asyl und im Begründsteil Schutzbedarf von Asylsuchenden zu ermitteln. Das ge- des vorliegenden Antrags einer der Kronzeugen der genwärtige Asylsystem und seine periodische Reformie- Linksfraktion: rung seit Beginn der 80er-Jahre gehen jedoch davon aus, den vermeintlichen „Asylmißbrauch“ zu bekämpfen. So- (B) Oskar Lafontaine hat als wichtiger Vordenker der (D) SPD entscheidend dazu beigetragen, dass das wohl auf der Seite der materiellen Anerkennungsvoraus- Grundrecht auf Asyl in der Verfassung einge- setzungen als auch bezüglich des Verfahrens sind immer schränkt werden konnte. Lafontaine kündigt im Juli noch eklatante Mängel zu verzeichnen. Resultat sind er- 1990 an, er schließe eine Änderung des Asylrechts hebliche Schutzlücken für Verfolgte und ein eklatanter nicht mehr aus, und bietet im Bundesrat den Uni- Vertrauensverlust in die Fähigkeit des deutschen Asylsys- onsparteien an, eine gemeinsame Position zu erar- tems, Schutzbedürftige zu erkennen und wirksam zu beiten. Lafontaine hat einen entscheidenden Schritt schützen. auf eine große Koalition hin gemacht. Der gewisse In den vergangenen Jahren ist ein undurchsichtiges Schutz, den Flüchtlinge in SPD-geführten Ländern System von Zuständigkeiten für Entscheidungen über den immer noch genossen, ist dabei so gut wie beseitigt Schutz von Einzelnen und Gruppen entstanden. Deutlich worden. Dies ist eine neue Dimension der Entsoli- wird dabei nur eines: Ob Bund oder Land, Exekutive, darisierung. Lafontaine hat es geschafft, dass sich Parlament oder Gerichte, jeder kann rechtlich begründet die Asylinitiativen wie nie zuvor auf die eigene behaupten, er sei für die Entscheidung über das Schutz- schmale Basis zurückgeworfen fühlen. begehren eines Flüchtlings nicht zuständig oder könne Ein weiteres Zitat, von Kollegin Ulla Jelpke – veröf- dies nicht allein entscheiden. Das Bundesamt verweist fentlicht in der Zeitschrift „Ossietzky“, 14/2005 –: auf die Gerichte, das Bundesverwaltungsgericht auf die Politik, die Bundespolitik kann nicht ohne die Länder, die Es war Oskar Lafontaine, der 1989 jene Debatte Länder nicht ohne den Bund und die Zustimmung der an- über angeblichen „Asylmißbrauch“ in Gang setzte, deren Länder. Im Ergebnis überlässt das deutsche Asyl- die 1993 in die faktische Abschaffung des Asylrech- system den Schutz von Flüchtlingen viel zu oft den fehlen- tes mündete: Mit seiner Rhetorik gelang es Oskar den Flugverbindungen nach Kabul oder Mogadischu. Lafontaine, das Asylrecht sturmreif zu schießen. Schrittweise zog Lafontaine die Sozialdemokratie Das Interesse an einer Rückführung der Asylantrag- auf seine Seite, bis sie den Widerstand gegen die steller in ihre Herkunftsländer bzw. in Dublin-II-Staaten CDU/CSU aufgab und in einer faktischen großen überlagert das Prüfungsverfahren bis in die in der Anhö- Koalition der faktischen Abschaffung des Asylrech- rung gestellten Fragen – hier ist vor allem der Reiseweg tes zustimmte. Lafontaine brachte als erster in der interessant; das Verfolgungsschicksal der Antragsteller SPD die sogenannten sicheren Herkunftsstaaten ins ist eher von nachrangiger Bedeutung – hinein. Die per- Spiel. Lafontaine sprach damals von der „Dritt- sönliche Anhörung ist das Herzstück des Asylverfahrens. staatenregelung“ als „von einem wirklichen Schritt Das Bundesamt erweckt hier oft den Eindruck, dass es

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Josef Philip Winkler (A) kein wirkliches Interesse an einer einzelfallbezogenen Flüchtlinge während des Asylverfahrens generell nicht in (C) Entscheidung hat, weil in der Praxis die persönliche An- Haft genommen werden sollen. hörung und die Abfassung des Bescheides häufig von Ebenfalls ein menschenrechtlicher Skandal ist der zwei verschiedenen Mitarbeitern vorgenommen werden. Kompromiss zur „Rückführungs-Richtlinie“, auf den sich Standardisierte Handlungsanleitungen mit Leitsätzen eine EU-Ratsarbeitsgruppe am 22. Mai in Brüssel geei- und Textbausteinen der Amtsleitung führen zu Entschei- nigt hat. In dieser Richtlinie werden die Dauer und die dungen, die oft sehr wenig mit dem individuellen Schick- Bedingungen der Abschiebehaft für die Mitgliedstaaten sal des Asylbewerbers zu tun haben. Die Praxis der in verbindlich geregelt. Nach dem Kompromiss können ab- großer Zahl eingeleiteten Widerrufsverfahren gegen ein- gelehnte Asylbewerber künftig bis zu 18 Monate lang in- mal gewährtes Asyl widerspricht den flüchtlingsrechtli- haftiert werden, wohlgemerkt: ohne Straftäter zu sein. chen Grundsätzen der Genfer Flüchtlingskonvention in Dies ist unverhältnismäßig und inhuman. eklatanter Weise. Die Widerrufspraxis des Bundesamtes blendet die Sicherheitsbedingungen in den jeweiligen Perspektivisch müssen zur Verbesserung eines umfas- Herkunftsländern aus. Riesige Arbeitsbeschaffungspro- senden Flüchtlingsschutzes folgende Maßnahmen ergrif- gramme, die in tausendfachen Widerrufen der Flücht- fen werden: lingseigenschaft münden, sind ein Verstoß gegen die Zwar ist das Interesse der Mitgliedstaaten an Steue- Genfer Flüchtlingskonvention, menschenrechtswidrig, rung der Zuwanderung als solches legitim. Sie haben je- inhuman und schaffen nach dem Auslaufen der ohnehin doch durch geeignete Vorkehrungen Sorge dafür zu tra- engherzigen gesetzlichen Bleiberechtsregelung für die gen, dass durch ihre Maßnahmen nicht Schutzbedürftige bislang Geduldeten die nächsten Geduldeten. Kein ande- gegen ihren Willen unmittelbar oder mittelbar in ihre rer EU-Staat kennt eine vergleichbare Praxis der Mas- Herkunftsländer zurückgeführt werden. senwiderrufe. Im wohlverstandenen Öffentlichen Inte- resse ist es nicht, wenn Zehntausende vom gesicherten Es ist an der Zeit, europäische Aufnahmeprogramme Status in die Duldung gedrängt werden, aber weder unter für Flüchtlinge – Refugee Resettlement Programmes – zu zumutbaren Bedingungen ausreisen können, noch abge- beschließen. schoben werden, weil die Bedingungen in den Herkunfts- Asylsuchenden ist während des Verfahrens grundsätz- staaten dies nicht zulassen. lich die Bewegungsfreiheit auf dem Bundesgebiet zu ge- Auch das im vergangenen Jahr beschlossene Gesetz währen. Der weiteren Aufrechterhaltung aufenthaltsbe- „zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtli- schränkender Maßnahmen gegenüber Asylsuchenden nien der EU“ ist flüchtlingsfeindlich, rückwärtsgewandt mangelt es angesichts der im vergangenen Jahrzehnt und integrationshemmend. drastisch gesunkenen Zahl der Asylsuchenden an einer (B) Legitimation. Sie sind deshalb aufzuheben. (D) Wichtige gemeinschaftsrechtliche Verpflichtungen im Für die asylrechtliche Tatsachenermittlung sind opti- Flüchtlingsrecht wurden gar nicht, nur unvollständig male verfahrensrechtliche Voraussetzungen zu schaffen. oder mangelhaft umgesetzt. Gleichzeitig enthält das Ge- Den vom allgemeinen Verfahrens- und Verwaltungspro- setz Rechtsänderungen, die in keinem Zusammenhang mit zessrecht abweichenden Rechtsschutzverkürzungen dem Europarecht stehen. So wird die Umsetzung für Ver- mangelt es angesichts der im vergangenen Jahrzehnt schärfungen des Asylrechts missbraucht, etwa für die drastisch gesunkenen Zahl der Asylsuchenden an Legiti- Einführung einer „Zurückweisungshaft“. mation. Nach EU-Recht müssten Menschen, die vor „willkür- licher Gewalt“ im Rahmen von bewaffneten Konflikten Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: nach Deutschland geflohen sind, künftig einen Abschie- Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf bungsschutz erhalten. Das Gesetz enthält aber den Drucksache 16/8838 an die in der Tagesordnung aufge- Begriff der „willkürlichen Gewalt“ nicht. Die Schutzbe- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- dürftigen sollen keinen individuellen Schutzanspruch ein- verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung klagen können, sondern sind auf Abschiebungsstopps der so beschlossen. Bundesländer angewiesen. Die Länder drängen jedoch auf Abschiebung – selbst nach Afghanistan und in den Ich rufe den Tagesordnungspunkt 22 auf: Irak. Tausenden Betroffenen droht damit weiterhin die Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Abschiebung in Kriegs- und Krisengebiete. gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände- rung des Erb- und Verjährungsrechts EU-Staaten dürfen künftig Asylsuchende zurückwei- sen, wenn der Verdacht besteht, dass ein anderer EU-Mit- – Drucksache 16/8954 – gliedstaat für das Asylverfahren zuständig sei. Gegen Überweisungsvorschlag: eine solche Zuständigkeitsentscheidung gibt es grund- Rechtsausschuss (f) sätzlich keinen Eilrechtsschutz mehr. Damit können Ab- Finanzausschuss schiebungen in andere EU-Staaten nicht verhindert wer- Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend den, selbst wenn sie inhuman oder rechtswidrig sind, Ausschuss für Gesundheit Asylsuchende sollen so lange in Haft bleiben, bis die Zu- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die ständigkeit geklärt ist. Eine derartige „Zurückweisungs- Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre haft“ verletzt internationale Standards, nach denen keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008 17263

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner (A) Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Derzeit werden Schenkungen, die innerhalb von zehn (C) Dirk Manzewski. Jahren vor dem Erbfall erfolgt sind, zugunsten der Pflichtteilsberechtigten so gewertet, als wären sie quasi (Beifall bei der SPD) nicht erfolgt und der Nachlass und damit das Pflichtteil um sie nicht entsprechend geschmälert worden. Sind seit Dirk Manzewski (SPD): der Schenkung allerdings zehn Jahre verstrichen, bleibt Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe die Schenkung unberücksichtigt. Der Unterschied kann Freunde der Rechtspolitik! Wir debattieren hier heute in damit einen Tag betragen. Die Reform will dieses Alles- erster Lesung über die Reform des Erb- und Verjäh- oder-nichts-Prinzip graduell ändern und die Schenkung rungsrechts. Das Erbrecht, wie wir es kennen, besteht in immer weniger Berücksichtigung finden lassen, je län- seiner Struktur seit über 100 Jahren. Es ist daher völlig ger sie zurückliegt. Das ist gut für die Erben und, wenn richtig und normal, immer wieder einmal zu überprüfen, sie es denn nicht selbst sind, auch für die Beschenkten, inwieweit dieses Erbrecht auf neue gesellschaftliche da es ihnen mehr Planungssicherheit gibt. Wertvorstellungen und geänderte gesellschaftliche Ent- wicklungen noch zeitgemäße Antworten bietet. Um ei- Allerdings werden wir uns fragen müssen, ob dies nes aber gleich klarzustellen: Wir haben ein gutes Erb- auch gut für den Pflichtteilsberechtigten ist und ob die recht, das sich grundsätzlich bewährt hat. Deshalb sollte angedachte Regel auch aus dessen Blickwinkel als ge- man jede beabsichtigte Veränderung im Hinblick auf ih- recht anzusehen ist. Gibt es beispielsweise für den Lieb- ren Sinn und Nutzen genauestens überprüfen. lingssohn und zukünftigen Erben schon zu Lebzeiten im Vorgriff auf das Erbe einen dicken Zuschuss zu dessen (Beifall bei der SPD) Hausbau, dann bin ich mir nicht sicher, ob es gerecht ist, dass diese Schenkung, die durchaus im sechsstelligen In meiner Rede werde ich mich darauf konzentrieren, Bereich liegen kann, schon nach fünf Jahren nur noch einige kritische Fragen für die in den kommenden Wo- mit der Hälfte ihres Wertes für den Nachlass und somit chen folgende Diskussion aufzuwerfen. So sieht der auch für den Pflichtteil Berücksichtigung finden soll. Gesetzentwurf beim Erbausgleich eine bessere Honorie- Hinzu kommt meiner Auffassung nach, dass wir damit rung von Pflegeleistungen vor. Künftig soll jeder gesetz- auch den Schenkungen in Benachteiligungsabsicht Vor- liche Erbe einen Ausgleich für Pflegeleistungen erhal- schub leisten würden; denn bereits ab dem zweiten Jahr ten, und zwar unabhängig davon, ob er für die der Schenkung würde sich der insoweit auf den Nachlass Pflegeleistungen auf ein eigenes berufliches Einkommen anzurechnende Betrag vermindern. verzichtet hat. Eine Schlechterstellung des Pflichtteilsberechtigten (B) (Beifall des Abg. Jörg Tauss [SPD]) (D) sieht im Übrigen offenbar auch die neue Stundungsrege- Das klingt erst einmal gut und auch fair; denn häufig lung des Pflichtteilsanspruchs vor. Natürlich hat die Pra- genug gehen diejenigen, die über Jahre ihre Angehöri- xis ein großes Bedürfnis nach Stundung des Pflichtteils, gen aufopferungsvoll gepflegt haben, mangels entspre- insbesondere dann, wenn der Nachlass im Wesentlichen chender Ausgleichsregelung im Testament leer aus, ob- aus einem Unternehmen oder einem Eigenheim besteht wohl es nicht selten gerade dieser Einsatz ist, der und beides zur Erfüllung des Pflichtteils verkauft bzw. überhaupt erst dafür sorgt, dass noch ein Nachlass zu zerschlagen werden müsste. verteilen ist und das Vermögen nicht bereits zuvor durch die Inanspruchnahme beruflicher Pflegeinstitutionen Warum allerdings die Schwelle für die Härtefälle, in aufgezehrt wurde. denen Stundung zu gewähren ist, weiter gesenkt und die Zumutbarkeit für den Pflichtteilsberechtigten, diese Ich sehe hierbei allerdings ein Problem auf uns zu- Stundung zu dulden, weiter erhöht werden soll, er- kommen, das vor allem etwas damit zu tun hat, dass die schließt sich mir persönlich nicht. In Härtefällen ist Welt leider nicht so theoretisch ist, wie wir es uns viel- schon heute Stundung möglich. Warum die bisher inso- leicht manchmal gerne vorstellen. Erbauseinanderset- weit gewährten Möglichkeiten nicht mehr ausreichend zungen laufen nicht selten alles andere als schiedlich- sein sollen bzw. warum hier nun plötzlich gesetzgeberi- friedlich ab. Ich mag mir deshalb gar nicht vorstellen, scher Handlungsbedarf gesehen wird, ist für mich der- wie sich die Erben künftig im Nachhinein darüber strei- zeit weder ersichtlich, noch ergibt sich hierfür eine nach- ten werden, ob überhaupt, von wem und in welchem vollziehbare Begründung aus dem Gesetzentwurf. Umfang denn nun tatsächlich Pflegeleistungen erbracht Hierüber werden wir reden müssen. worden sind. Anders als bisher fällt ja das wichtige Kri- terium weg, dass die Pflege unter Verzicht auf ein eige- Ansonsten, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist es ein nes berufliches Einkommen erfolgt sein muss. Dies wird gelungener Gesetzentwurf. Mit den von mir aufgeworfe- die Sache verkomplizieren. So schön es für den Erblas- nen Fragen sollten wir uns allerdings intensiv auseinan- ser im Einzelfall auch sein mag, nun zu Lebzeiten mögli- dersetzen. Ich freue mich jedenfalls schon auf die anste- cherweise häufiger Besuch von Verwandten zu erhalten, hende Diskussion. Ich würde mich umso mehr freuen, befürchte ich doch, dass dies zu heftigen Erbauseinan- wenn auch Sie sich konstruktiv beteiligen würden. dersetzungen führen wird. Ich danke Ihnen. Eine Veränderung will der Gesetzentwurf auch beim sogenannten Pflichtteilsergänzungsanspruch einführen. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) 17264 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008

(A) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Schwarze Schafe müssen sich bei uns für ihre Vergehen (C) Die Kollegin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, verantworten. Das größte Problem haben wir also nicht FDP-Fraktion, der Parlamentarische Staatssekretär im Geltungsbereich unserer Gesetze. Problematisch wird Alfred Hartenbach, die Kollegen Wolfgang Nešković, das Thema Korruption erst dann, wenn global operie- Fraktion Die Linke, und Jerzy Montag, Bündnis 90/Die rende Firmen auf korrupte Strukturen im Ausland treffen. Grünen, und die Kollegin Ute Granold, CDU/CSU-Frak- Besonders groß ist das Risiko der Studie von Price-Wa- tion, haben ihre Reden zu Protokoll gegeben.1) terhouse-Coopers zufolge bei Geschäften mit China, Russland, Indien, Brasilien, Mexiko, Indonesien und der Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwur- Türkei. Es ist wichtig, einzusehen, dass wir mit deutschen fes auf Drucksache 16/8954 an die in der Tagesordnung Gesetzen in Kulturkreisen, wo Vorteilsgewährungen zum aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu Abschluss von größeren Geschäften zum Teil sogar er- anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann wartet werden, sicherlich nicht weiterkommen werden. ist die Überweisung so beschlossen. Mit einer Verschärfung der nationalen gesetzlichen Vor- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 23 auf: schriften erreichen wir hier aber nichts als Entmündi- gung und Benachteiligung deutscher Unternehmen im Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- globalen Wettbewerb. Deshalb ist es umso wichtiger, richts des Ausschusses für Wirtschaft und Tech- nicht mehr nur national zu denken, sondern auch global nologie (9. Ausschuss) zu dem Antrag der Abge- für einen Paradigmenwechsel einzutreten. Unser deut- ordneten Dr. Thea Dückert, Jerzy Montag, Fritz sches, nachweislich gut funktionierendes Korruptions- Kuhn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion strafrecht sollte hierfür als Beispiel dienen. Was wir brau- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN chen, ist weltweite Prävention, wie sie bei Banken und Keine Toleranz gegenüber Korruption Finanzdienstleistern wegen der Gefahr von Geldwäsche und Insiderhandel schon lange üblich sind. – Drucksachen 16/4459, 16/7731 – Wo noch zusätzlich etwas getan werden kann, ist auf Berichterstattung: der Unternehmerseite. Aber hier muss der Paradigmen- Abgeordnete Dr. Herbert Schui wechsel auf freiwilligen Verpflichtungen fußen. Entgegen Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die ihrer Einschätzung erkennen Firmen inzwischen sehr Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um die wohl, dass sie das Problem der Korruption nicht länger Reden der folgenden Kolleginnen und Kollegen: ignorieren können. Allein in Geschäften mit den oben ge- Dr. Georg Nüßlein, CDU/CSU, Garrelt Duin, SPD, nannten Ländern beliefen sich die von den Unternehmen Paul K. Friedhoff, FDP, Ulla Lötzer, Die Linke, Dr. Thea gemeldeten Verluste laut Price-Waterhouse-Coopers auf (B) Dückert, Bündnis 90/Die Grünen. je 4,4 Millionen Euro. Wir sprechen von einem Schaden (D) von insgesamt 6 Milliarden Euro für deutsche Firmen. Ein Compliance-Management kostet die Unternehmen ein- Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU): deutig weniger. Viele Firmen haben inzwischen nachge- Eine im Februar veröffentlichte Studie von Price- rechnet. Siemens hat mittlerweile einen Antikorruptionsbe- Waterhouse-Coopers geht von einem durchschnittlichen auftragten mit Vorstandsmandat. Die Deutsche Bahn hat Schaden in den letzten zwei Jahren pro Unternehmen von sich vor einem Jahr mit Wolfgang Schaupensteiner einen 5 016 780 Euro durch Wirtschaftskriminalität aus. Kor- ehemaligen Staatsanwalt mit Schwerpunkt Korruptions- ruption alleine ist verantwortlich für einen Schaden von bekämpfung als Chief Compliance Officer ins Boot ge- 1 693 022 Euro pro Unternehmen weltweit. holt. Zusätzlich werden Mitarbeiter auf heikle Situatio- Alle, Unternehmer, zivilgesellschaftliche Organisatio- nen vorbereitet. Sie brauchen Verhaltensstandards mit nen und Politiker haben erkannt, dass wir dieses Problem klaren Regeln, sodass sie im entscheidenden Fall wissen, nicht ignorieren können, und dies nicht erst seit den Ver- wie sie sich zu verhalten haben. fahren gegen Siemens und VW. Die Bekämpfung von Kor- In Ihrem Antrag fordern Sie die Einrichtung einer Ver- ruption ist sowohl im nationalen als auch im internatio- waltung, die dafür verantwortlich sein soll, ein Korrup- nalen Rahmen ein außerordentlich wichtiges Anliegen. tionsregister zu erstellen. Kann es im Sinne der Politik Entgegen allen Anschuldigungen aus dem Antrag unter- sein, eine neue Behörde zu schaffen, wo wir doch gerade stützt die CDU/CSU-Bundestagsfraktion die Bundesre- auf allen Ebenen versuchen, Bürokratiekosten zu senken? gierung in ihrem Kampf gegen Korruption nachdrück- Unsere Korruptionswerte sind gut, und deutsche Unter- lich. Nur verfolgen wir eine andere Strategie als das nehmen sind bei der Korruptionsbekämpfung mehr als Bündnis 90/Die Grünen. Wir müssen uns verabschieden aktiv. Brauchen wir da noch einen staatlich finanzierten von der ewigen Kleindenkerei bei globalen Problemen. Korruptionspranger? Sind Sie sich überhaupt darüber im Korruption kann ein Staat nicht mit gelungenen Rechts- Klaren, was es für ein Unternehmen heißt, auf Verdacht vorschriften im Alleingang in den Griff bekommen. Wäre an den öffentlichen Pranger gestellt zu werden? Das Mit- dem so, befänden wir uns nicht mehr auf dem besten Weg, telalter haben wir hinter uns gelassen. Für mich ist dieser sondern längst am Ziel. Vorschlag nichts als zusätzliche Bürokratie. Deutschland belegt auf dem Index von Transparency Des Weiteren sind Sie für eine Novelle des Aktiengeset- International mit Platz 16 einen der vordersten Ränge. zes, die einen Wechsel vom Vorstand in den Aufsichtsrat unmöglich macht. Sie unterstellen, dass ein solcher 1) Anlage 10 Wechsel generell die Korruption fördert. Ja, glauben Sie Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008 17265

Dr. Georg Nüßlein (A) denn wirklich, dass die Kontrolle des Vorstandes ohne rar. Dennoch gilt sie für viele als ein weit verbreitetes (C) Unternehmensinsider überhaupt möglich ist? Der Auf- Übel: Nach der jährlich durchgeführten Umfrage der An- sichtsrat besteht aus Vertretern der Anteilseigner und tikorruptionsorganisation Transparency International – als deutscher Sonderfall – in den meisten Unternehmen glauben 69 Prozent der in Deutschland lebenden Men- zusätzlich aus Vertretern der Arbeitnehmer. Es kann doch schen, dass die Korruption in den nächsten Jahren noch nicht sein, dass auf der Arbeitnehmerseite jede Menge zunehmen werde. Sylvia Schenk, Vorsitzende von Trans- unternehmensinterne Vertreter sitzen, die über das ent- parency Deutschland, führt diese Sorge auf die Bericht- sprechende Wissen verfügen, während auf der Arbeitge- erstattung über Skandale bei Großunternehmen wie Sie- berseite keiner die Struktur des Unternehmens kennen mens sowie auf viele Vorfälle auf lokaler Ebene zurück. darf. Das führt bestimmt nicht zu einer Gleichgewichtung Die Menschen sind sensibilisiert und haben gemerkt, in den Unternehmen. Wir brauchen auch auf Arbeitge- dass Korruption auch in Deutschland ein Problem ist. berseite Detailkenntnisse der Branche und der Strukturen Gerade wir als Mitglieder des Deutschen Bundestages des zu kontrollierenden Unternehmens, um gerade auch müssen hier mit gutem Beispiel vorangehen. Für uns Po- bei der Bekämpfung von Korruption Vorteile zu haben. litiker steht viel auf dem Spiel: unsere Vertrauenswürdig- Das sind Realitäten, die wir anerkennen müssen. Mit Filz keit. Wir vertreten die Interessen der Bürgerinnen und und Korruption hat das nichts zu tun. Des Weiteren sollte Bürger. Daher dürfen wir einen Vertrauensverlust der es ausschließlich Sache der Eigentümer des Unterneh- Menschen in die Gestaltungskraft von Politik nicht zulas- mens sein, verantwortungsbewusst zu entscheiden, wer sen. Durch die Offenlegung jeglicher Nebeneinkünfte von das Unternehmen kontrollieren soll. uns Abgeordneten haben wir einen richtigen Schritt ge- Den letzten Punkt Ihres Forderungskatalogs, die Ein- tan, um im Kampf gegen Korruption unsere Glaubwür- richtung von Schwerpunktstaatsanwaltschaften und ent- digkeit zu bewahren. sprechenden zentralen polizeilichen Ermittlungsstellen, Alle reden über Korruption, aber es gibt zu diesem möchte ich als völlig überflüssig bewerten. Sie existieren Übel weder präzises Zahlenmaterial noch eine einheitli- bereits in den meisten Bundesländern. Wo sie nicht exis- che, allseits anerkannte Definition. Strafrechtlich gese- tieren, ist deren Einrichtung im Gange oder zumindest in hen handelt es sich um die Tatbestände Vorteilsnahme, Planung. Bestechlichkeit, Vorteilsgewährung und Bestechung. Das Gestatten Sie mir eine letzte Bemerkung: Die Grünen Strafrecht erfasst aber nur einen Ausschnitt dessen, was hätten in den sieben Jahren, in denen sie an der Regie- landläufig unter Korruption verstanden wird. Weil bei der rung waren, bereits auf die Idee kommen können, das Korruption – anders als bei vielen anderen Delikten – die Korruptionsstrafrecht zu erweitern. Sind sie aber nicht. Täter auf beiden Seiten zu finden sind, werden den Straf- verfolgungsbehörden offensichtlich nur wenige Fälle be- (B) Stattdessen wurden auf internationaler Ebene überenga- (D) gierte Standards beschlossen, die die wenigsten Länder kannt. 2005 wurden in der Polizeilichen Kriminalstatistik tatsächlich umsetzen werden. Jetzt ist die Zeit gekommen, 2 160 Fälle registriert, rein quantitativ betrachtet sind dass wir endlich mit realistischen Ansätzen vorgehen. Ich dies 0,03 Prozent des gesamten polizeilichen Fallaufkom- wehre mich dagegen, bei einem derart sensiblen Thema mens. Das Thema wird seit Anfang der 90er-Jahre unter ausschließlich mit Generalverdächtigungen zu arbeiten. dem Eindruck aufsehenerregender Fälle verstärkt disku- tiert. Wie die Bundesregierung in ihrem Zweiten Perio- Werte Kollegen vom Bündnis 90/Die Grünen: Ihr Ziel dischen Sicherheitsbericht feststellt, ist seitdem die Liste ist ehrenhaft, aber auf diesem naiven Weg nicht zu errei- der Korruptionsfälle in der Politik, im Sport, in Verwal- chen. tung und Wirtschaft deutlich länger geworden. Wenn es in früheren Jahrzehnten weniger dieser spek- Garrelt Duin (SPD): takulären Fälle gegeben hat, dann sollte das nicht zu dem Wie zuletzt sehr öffentlichkeitswirksam bei Siemens falschen Schluss verleiten, die Zeiten seien damals besser werden immer wieder Korruptionsfälle aufgedeckt. Kor- gewesen und es habe weniger Korruption gegeben. Die ruption und allein schon der Korruptionsverdacht ist aktuellen Korruptionsfälle zeigen vor allem eines: Kor- nicht nur für das Unternehmen selbst und damit auch für ruption wird intensiver verfolgt und es wird nicht davor die betroffenen Belegschaften ein großer Vertrauensver- zurückgeschreckt, bei Korruptionsverdacht auch gegen lust in die Unternehmensführung bzw. die jeweiligen Ent- hohe Amtsträger oder Wirtschaftsunternehmen vorzuge- scheidungsträger, sondern auch für Anlegerinnen und hen. Anleger, für die Kundinnen und Kunden. Deutschland zählt nach Angaben von Transparency Konzerne dieser Größenordnung erleiden damit einen International weltweit zu den 20 Ländern mit der gerings- großen Imageschaden und dies formt ein negatives Bild ten Korruption. Dies geht aus dem Korruptionsindex in der Öffentlichkeit. Wir sollten dabei nicht die Zuliefer- 2007 hervor. Deutschland steht in der Liste auf Platz 16. betriebe vergessen, die nach Aufdeckung von spektakulä- Das ist ein wichtiger Punkt, wenn es um die Sicherung des ren Korruptionsfällen oft um ihre Existenz bangen müs- Standortes Deutschland geht, und es zeigt, dass wir auf sen. Bei ihnen entsteht oft der größte Schaden. dem richtigen Weg sind. Aber es sind nicht nur die großen Konzerne, in denen Am Dienstag dieser Woche erschien ein Artikel in der Korruption auftritt – der Giftpfeil der Korruption durch- Berliner Morgenpost, dass die Deutsche Bahn stärker ge- bohrt die gesamt Wirtschaftsbranche. Genaue Zahlen zur gen Bestechung im Konzern vorgehen will und zu diesem Korruption, dem „zweitältesten Gewerbe der Welt“, sind Zweck ihre Antikorruptionsabteilung ausbauen wird.

Zu Protokoll gegebene Reden 17266 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008

Garrelt Duin (A) Dies macht sehr deutlich, dass auch die Unternehmen für diese Anteilseigner, denen das Unternehmen gehört. Dies (C) das Thema Korruption sensibilisiert sind, sie ihr Erschei- ist auch ein Schutz vor Strippenzieherei im Dunklen durch nungsbild in der Öffentlichkeit sehr ernst nehmen und be- Bestechung und Korruption. müht sind, ihre Strukturen transparenter zu gestalten. Die Forderung im Antrag der Fraktion Bündnis 90/ Der Kampf gegen Korruption in Zeiten von Globali- Die Grünen zum arbeitsrechtlichen Schutz von Hinweis- sierung und internationalem Wettbewerb darf nicht an gebern ist problematisch. So könnte unter Umständen der Landesgrenze Halt machen. Hier sind internationale eine Misstrauenskultur in den Unternehmen entstehen. Es Maßnahmen gefordert. Ein wichtiger Baustein für eine dürfen keine Spitzel in den Belegschaften herangezüchtet erfolgreiche Bekämpfung der Korruption ist der Erfah- werden. Der bessere Weg ist, eine transparente und offene rungsaustausch auf nationaler, aber auch auf internatio- Unternehmenskultur mit leistungsbereiten und leistungs- naler Ebene. Transparency International ermittelte, dass gerecht bezahlten Mitarbeitern zu etablieren, in der Kor- weltweit durch Korruption ein jährlicher Schaden von ruption keinen Fuß fassen kann. 400 Milliarden US-Dollar entsteht. Das sind gewaltige Summen, die den eigentlichen Entwicklungsmöglichkei- Wir müssen den Kampf gegen Korruption in alle Ebe- ten der Länder verloren gehen. Hier muss die internatio- nen hineintragen. Besonders wenn es um die Führung nale Zusammenarbeit der Ermittlungsbehörden weiter von Unternehmen und die Unternehmenskultur geht. Es intensiviert werden. ist wichtig, das Bewusstsein für Korruption und Beste- chung zu schärfen und gezielte unternehmensinterne Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen fordert in ihrem Maßnahmen dagegen zu ergreifen. Korruptionsbekämp- Antrag ein Register über korrupte Unternehmen, das ju- fung muss möglichst früh ansetzen. Vorbeugen heißt vor ristische Personen führen soll. Bereits 2002 wurde ein allem, korruptionsanfällige Situationen erst gar nicht Korruptionsregister im Kampf gegen Korruption und entstehen zu lassen. Das Korruptionsrisiko muss deutlich Lohndumping in deutschen Unternehmen eingeführt. Un- verringert werden. Zur Korruptionsbekämpfung gehört ternehmer, die strafrechtlich belangt werden, werden in aber nicht nur Vorbeugung, sondern auch die Strafverfol- dieses Register aufgenommen. Allerdings können hier gung. Ermittlung und Verurteilung von Straftätern gestal- keine juristischen Personen geführt werden. Strafrecht- ten sich hier aber besonders schwierig. Wenn trotz dieser lich in Erscheinung treten können immer nur reale Schwierigkeiten in den letzten Jahren besonders viele Personen. Die Forderung nach einem Register, das juris- Korruptionsfälle ans Licht gekommen sind, dann sind wir tische Personen führt, ist deshalb unsinnig. Die Mit- doch auf einem richtigen Weg. arbeiterinnen und Mitarbeiter, die in einem solchen Un- Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen schlägt in ihrem ternehmen arbeiten, würden mitbestraft werden für Antrag auch die Einführung von Schwerpunktstaatsan- Verfehlungen anderer. (B) waltschaften vor. Es gibt diese bereits in sieben Bundes- (D) Unternehmen dürfen nicht auf Verdacht an den Pran- ländern. Überall dort in Deutschland, wo sich Schwer- ger gestellt werden. Schäden, die durch vorschnelle Ver- punktstaatsanwaltschaften zu Korruption etablierten und dächtigungen entstehen können, müssen gerade im Inte- Kommunen energisch an die Trockenlegung des Schmier- resse derer, die ehrlich am Wettbewerb teilnehmen, ver- geldsumpfes gingen, schnellten die Fallzahlen sprunghaft mieden werden. Außerdem hieße dies ein Mehr an Büro- in die Höhe. Im Kampf gegen Korruption sind Schwer- kratie, und ein aufgebauschter bürokratischer Aufwand punktstaatsanwaltschaften ein guter Weg. Aber er wird ist im Hinblick auf die gewünschte Transparenz kontra- bereits gegangen. produktiv. Freiwillig, wie es die Selbstverpflichtung im Corpo- Paul K. Friedhoff (FDP): rate-Governance-Kodex vorgesehen hat, haben sich viele Es ist in diesem Haus Konsens über alle Fraktionen Unternehmen zunächst nicht dazu durchringen können, hinweg: Wir sind gegen Korruption; wir sind uns einig, die Bezüge ihrer Manager zu veröffentlichen. Deshalb dass alle Anstrengungen unternommen werden müssen, haben wir eingegriffen. Mit den von uns beschlossenen Korruption zu bekämpfen. Gesetzen zur Offenlegung von Managergehältern haben Leider gibt es dennoch Korruption. Weniger bei uns im wir ein Instrument für mehr Transparenz geschaffen. Seit Inland, mehr in sogenannten Entwicklungsländern. Wir dem Geschäftsbericht für das Jahr 2006 müssen börsen- dürfen uns natürlich nicht zurücklehnen und auf „die an- notierte Aktiengesellschaften angeben, welches Vor- deren“ zeigen, sondern müssen mit geeigneten Maßnah- standsmitglied wie viel bekommt. Dabei muss nicht nur men der Korruption beikommen. Die weltweite Verflech- das Grundgehalt offengelegt werden. Auch der erfolgsbe- tung der Wirtschaft legt eine Regelung auf der zogene Anteil der Bezüge, zum Beispiel Aktienoptionen supranationalen Ebene nahe. und vertraglich zugesagte Abfindungen oder Pensionen müssen ausgewiesen sein. Nur die Aktionäre selbst kön- Gesetze, die in anderen Ländern gelten, können wir nen die Vorstände mit einer Dreiviertelmehrheit für fünf von hieraus nur wenig beeinflussen. Wohl können wir mit Jahre von dieser Auskunftspflicht befreien. Aktionäre und gutem Beispiel vorangehen. Dazu müssen wir dafür sor- die interessierte Öffentlichkeit können so feststellen, ob gen, dass die Gesetze, die hier gelten, auch angewendet die Vorstände eines Unternehmens gemäß ihrer Leistung werden. Das Gesetz zur Bekämpfung der Korruption aus bezahlt werden. Das ist das gute Recht der Anteilseigner. dem Jahr 1997 trägt die Handschrift des damaligen libe- Der Schutz der Aktionäre hat in diesem Fall Vorrang vor ralen Justizministers Edzard Schmidt-Jortzig und ist als der Geheimniskrämerei von Managern. Denn es sind Rechtsgrundlage völlig ausreichend.

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Paul K. Friedhoff (A) Um Verstößen gegen das geltende Recht entgegenzu- Schutz von Whistle-Blowern oder Schwerpunkt-Staatsan- (C) wirken, hilft es nicht, Gesetze zu verändern und neue hin- waltschaften in den Bundesländern zur Korruptionsbe- zuzufügen. Der Antrag der Grünen-Fraktion beinhaltet kämpfung. Wir haben selbst bereits einen Entwurf zur Forderungen nach Gesetzesänderungen und nach neuer Novellierung des Aktiengesetzes eingebracht, mit dem Bürokratie. Das von den Grünen geforderte nationale der Wechsel vom Vorstand in den Aufsichtsrat eines Un- Korruptionsregister hätte eine Wirkung wie ein Pranger ternehmens unterbunden werden soll. Dies alles sind und würde dem Problem nicht gerecht, sondern brächte richtige Forderungen, aber sie reichen nicht aus. vor allem einen weiteren Wust von Bürokratie mit sich. Es fehlt die Frage des Lobbyismus, der personellen Firmenvorstände werden zwar nicht an einen solch Verflechtungen zwischen Politik, Ministerien und Kon- fragwürdigen Pranger, aber immerhin unter Generalver- zernen. Wir haben dazu als ersten Schritt einen Antrag dacht gestellt: Im Antrag der Grünen-Fraktion wird ge- eingebracht, der die Bundesregierung auffordert, auf fordert, Vorständen zu verbieten, in den Aufsichtsrat zu Einnahmen aus Sponsoring zu verzichten. Wenn zum Bei- wechseln. Ich hoffe, dass wir dabei bleiben können, dass spiel die EADS regelmäßig Bälle, Empfänge und Essen die Eigentümer eines Betriebs darüber entscheiden, wer für das Verteidigungsministerium, die Bundeswehr und den Aufsichtsrat besetzt, und nicht die Politik! Natürlich ihre Gäste sponsort, dann schafft das Verbindlichkeiten. kann es sinnvoll sein, ein ehemaliges Vorstandsmitglied Insgesamt sind es 55 Millionen Euro, die die Bundes- in den Aufsichtsrat der Firma zu berufen, denn es kennt regierung von August 2003 bis Ende 2004 von großen die Firma, die beaufsichtigt werden soll, besser als jeder Unternehmen für ihre Festivitäten erhalten hat. Wo fängt andere. die Korruption an? Zugegebenermaßen eine Grauzone – Unsere Wirtschaft braucht Spielregeln, Es ist wichtig, aber die gilt es zu beseitigen, wenn man Korruption tat- dass sich alle daran halten. Ein fairer Wettbewerb kann sächlich wirksam bekämpfen will. Da ist es bedauerlich anders nicht funktionieren – das weiß ich als Unterneh- und inkonsequent, dass die Grünen unserem Antrag nicht mer wohl. Deshalb unterstützen wir den Kampf gegen zugestimmt haben. Korruption, den Antrag der Grünen unterstützen wir aber nicht. Wir Liberale wollen geltendes Recht umsetzen, wir Es fehlt die Forderung nach Ratifizierung des UN- wollen aber keine überflüssigen neuen Gesetze und Vor- Übereinkommens gegen Korruption. 108 Staaten haben schriften – vor allem wollen wir keine zusätzliche Büro- diese Konvention bisher ratifiziert, Deutschland nicht. kratie! Knackpunkt hierbei ist, dass die UN-Konvention die Ab- geordnetenbestechung viel weiter fasst als das deutsche Strafrecht, das nur den direkten Stimmenkauf ahndet. Die Ulla Lötzer (DIE LINKE): Konvention verlangt, dass der Amtsträger bzw. Abgeord- (B) Längst ist Korruption nicht mehr nur das Problem von nete „weder mittelbar noch unmittelbar ein ungerechtfer- (D) Entwicklungsländern. Fast täglich können wir in den Ta- tigter Vorteil für diesen selbst oder für eine andere Person geszeitungen über Korruptionsfälle bei deutschen Unter- oder Stelle versprochen, angeboten oder gewährt werden nehmen lesen. Das reicht von der Kölner Müllfirma darf, damit der Amtsträger in Ausübung seiner Dienst- Trienekens über den „Sachsensumpf“ bis hin zu den pflichten eine Handlung vornimmt oder unterlässt“. Was 1,3 Milliarden Euro Schmiergeldzahlungen von Siemens. ist aber, wenn Minister oder Staatssekretäre Entscheidun- Zahlungsempfänger sind korrupte Politiker, Ingenieurbü- gen zugunsten eines Unternehmens fällen und an- ros und andere Auftraggeber. schließend mit Posten in den Unternehmen oder Tochter- Selten kommt so ein Skandal ans Tageslicht. Sofort unternehmen belohnt werden? Ich erinnere hier nur versuchen dann Politik und Management, die Folgen beispielhaft an den Wechsel von Minister Müller zur klein zu reden und alles unter den Teppich zu kehren. RAG AG, von Staatssekretär Tacke zur STEAG oder Groß angelegte Gerichtsverfahren verlaufen meist nach Herrn Wiesheu zur Deutsche Bahn AG. Diese Liste wäre der Regel „Kleine Diebe hängt man, große lässt man lau- lange fortzusetzen. fen.“ Denn um nichts anderes als Diebstahl und Betrug Es fehlt die Forderung nach einer Verschärfung der handelt es sich bei Korruption. Bestohlen werden die Korruptionsbekämpfung im Zusammenhang mit der Ge- Verbraucherinnen und Verbraucher sowie die Steuerzah- währung von Hermeskrediten. Hier hat die Bundesregie- lerinnen und Steuerzahler. Sie müssen später die überdi- rung einen konkreten Hebel zur Korruptionsbekämpfung mensionierten und überteuerten Investitionen einschließ- in der Hand. Sie könnte bei jedem Antrag auf eine Her- lich der Bestechungsgelder über Gebühren oder Steuern meskreditversicherung darauf bestehen, dass die Namen wieder bezahlen. Die Folgen dieser Affären sind jedoch der beteiligten Agenten und Details über die Höhe und nicht nur monetär. Sie erschüttern auch das Vertrauen der den Zweck etwaiger Provisionen bekannt gegeben wer- Bürgerinnen und Bürger in die Demokratie und den den. Bei 26 von 31 Exportkreditagenturen von OECD- Rechtsstaat. Mitgliedsländern ist dies Standard – bei der deutschen Dies vor Augen, bleibt der Grünen-Antrag hinter den nicht. Und die Bundesregierung will diese Standard- Anforderungen für eine wirksame Korruptionsbekämp- abfrage auch künftig nicht einführen, wie sie auf eine fung zurück. Zu stark wird der Schwerpunkt auf die Kor- Anfrage der Linksfraktion zugab. Vom 1. Januar bis ruption bei internationalen Geschäften gelegt. Zu stark 15. August wurden 1 413 Anträge auf Übernahme einer wird auf freiwillige Vereinbarungen mit der Industrie ge- Einzeldeckung gestellt und nur in acht Fällen wurde setzt. Wir teilen die Forderungen der Grünen nach einem überhaupt eine vertiefte Prüfung auf Korruption durch- bundesweiten Register für korrupte Unternehmen, nach geführt. Der Bundesregierung ist die Förderung der

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Ulla Lötzer (A) deutschen Exportwirtschaft eben immer noch wichtiger Solange Mitarbeitern das Gefühl vermittelt wird, mit (C) ist als die Bekämpfung von Kriminalität. Bestechung tue man dem Unternehmen etwas Gutes, wer- den wir bei der Korruptionsbekämpfung nur wenig voran- Korruption ist ein Krebsgeschwür für jede Gesell- kommen. Oftmals werden Mitarbeiter, die Korruptionsfälle schaft, das anstelle von Transparenz und Gleichbehand- publik machen, sogar als Nestbeschmutzer diffamiert. lung nach festen Regeln Bestechungsgelder und Vettern- Dem Ehrlichen drohen Mobbing und Karriereknick. Wir wirtschaft setzt. Ihr muss mit allen Mitteln begegnet müssen diese Mitarbeiter besser schützen. werden. Und deshalb stimmen wir dem Grünen-Antrag zu, auch wenn er wichtige Forderungen nicht berücksich- Nötig ist aber auch mehr Transparenz und Kontrolle in tigt. den Unternehmen. Der Wechsel vom Vorstandsvorsitz auf den Chefposten im Aufsichtsrat muss verboten werden. Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Gleichzeitig sollte niemand mehr als fünf Aufsichtsrats- Korruption ist kein Problem, das andere anderswo ha- mandate gleichzeitig ausüben dürfen. Die Aufsichtsrats- ben. Kriminelle Netzwerke gibt es nicht nur in Neapel, sitzungen dürfen nicht zum Feierabendtreff ehemaliger Korruption ist nicht dubiosen Staatschefs in Dritte-Welt- Führungskräfte werden, sondern müssen die Vorstände Ländern vorbehalten und Schmiergelder werden nicht effektiv kontrollieren. Wir brauchen ein Korruptionsre- nur von schmierigen Waffenlobbyisten gezahlt. Korrup- gister, in dem Unternehmen aufgeführt werden, die sich tion ist längst im Alltag der deutschen Wirtschaft ange- der Korruption schuldig gemacht haben. Dann können kommen. Korruption ist ein ernsthaftes Problem in wir solche Unternehmen von der öffentlichen Auftrags- Deutschland und für Deutschland. vergabe ausschließen. Die Länder müssen Schwerpunkt- staatsanwaltschaften für Korruption und Wirtschafts- Prominente Beispiele gibt es genug: Ich erinnere an kriminalität einrichten. Die Personalausstattung mit den Schmiergeldskandal beim Bau des Münchener Fuß- Spezialisten ist für die sehr komplizierten Wirtschaftsfälle ballstadions, an den VW-Skandal und natürlich – das war derzeit viel zu schwach. klar der Tiefpunkt – an den Korruptions-GAU bei Siemens. Klar ist: Bei der Korruptionsbekämpfung allein auf die Selbstreinigungskräfte der Unternehmen zu setzen, ist Der Siemens-Skandal ist so schrecklich, weil er gerade keine erfolgversprechende Strategie. Auch die Politik deutlich gemacht hat, dass es sich nicht um Verfehlungen muss ihren Beitrag leisten. Die Bundesregierung hat das Einzelner handelt, sondern dass Korruption Teil einer Thema bislang ignoriert. Wir haben unsere Vorschläge Unternehmensstrategie war. Zum Prozessauftakt diese vorgelegt. Jetzt ist es Zeit zu handeln. Woche hat der erste Angeklagte gleich gestanden und die frühere Konzernführung schwer belastet. Dass zwi- (D) (B) schenzeitlich auch der französische Siemens-Konkurrent Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Alstom unter Korruptionsverdacht steht, zeigt, wie nah Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für wir auf einigen Märkten schon vor der Situation stehen, Wirtschaft und Technologie empfiehlt in seiner Beschluss- wo der Ehrliche der Dumme ist. empfehlung auf Drucksache 16/7731, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/4459 Beim Radsport hat sich gezeigt, was passiert, wenn ein abzulehnen. – Wer stimmt für diese Beschlussempfeh- Großteil der Fahrer davon überzeugt ist, dass andere do- lung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die pen und man selbst ohne illegale Nachhilfe keine Chance Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalition zu haben glaubt. Gibt es eine kritische Masse an schwar- bei Gegenstimmen von Bündnis 90/Die Grünen und zen Schafen, bricht ein Damm und illegales Verhalten Fraktion Die Linke und bei Enthaltung der FDP ange- wird zum Massenphänomen. Deshalb legen wir Grüne nommen. unseren Antrag „Keine Toleranz für Korruption“ vor. Ist oder scheint Korruption nämlich erst einmal selbstver- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 24 a auf: ständlich, ist der Kampf verloren. Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Dass dies keine Panikmache ist, zeigt eine Studie von gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neu- Ernst & Young. Die Wirtschaftsprüfer haben bei einer Be- regelung des Schornsteinfegerwesens fragung herausgefunden, dass es in manchen Firmen fast als normal angesehen wird, vor allem in Schwellenlän- – Drucksache 16/9237 – dern Schmiergelder zu zahlen. Das Argument: Die Kon- Überweisungsvorschlag: kurrenz tue dies ja auch. Den Schaden haben die Bürge- Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f) rinnen und Bürger durch überhöhte Preise und schlechte Innenausschuss Qualität. Den Schaden haben aber auch die ehrlichen Rechtsausschuss Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Unternehmer und ihre Beschäftigten. Wir müssen deshalb Verbraucherschutz endlich handeln. Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit In unserem Antrag schlagen wir eine ganze Reihe von Maßnahmen vor: Wir brauchen einen Dialog mit Ge- Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu die- werkschaften, Wirtschaft und Politik; Korruption muss sem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. – Ich Thema des Corporate Governance Kodex werden; wir sehe, Sie sind damit einverstanden. Es handelt sich um brauchen eine Selbstverpflichtung der Wirtschaft und die Reden der folgenden Kolleginnen und Kollegen: eine Unternehmenskultur, die Korruption ächtet. Lena Strothmann, CDU/CSU, Andrea Wicklein, SPD, Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008 17269

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner (A) Paul K. Friedhoff, FDP, Sabine Zimmermann, Die bungsgesetz ist es uns gelungen, dass bereits ab dem (C) Linke, Kerstin Andreae, Bündnis 90/Die Grünen.1) 1. Juli 2008 mit den Entschädigungszahlungen an die etwa 15 000 in die ehemalige DDR entlassenen Kriegs- Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent- und Geltungskriegsgefangenen begonnen werden kann. wurfs auf Drucksache 16/9237 an die in der Tagesord- nung aufgeführten Ausschüsse und zusätzlich an den Bereits am 9. November 2007 hatten wir mit dem Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbrau- 1. Gesetz für eine Entschädigung der Kriegsspätheim- cherschutz vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige kehrer, die in die ehemalige DDR zurückgekehrt sind, Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann ist die Über- eine gestaffelte Einmalentschädigung verabschiedet. Die weisung so beschlossen. Höhe der Entschädigung richtet sich nach dem Entlas- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 25 auf: sungsjahr; sie beträgt 500 Euro bei den Entlassungsjah- ren 1947/48 und 1 000 Euro für die Entlassungsjahr- Zweite und dritte Beratung des von den Fraktio- gänge 1949/50. Heimkehrer ab 1951 erhalten eine nen der CDU/CSU und der SPD eingebrachten Einmalzahlung von 1 500 Euro. Diese Regelungen sollten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des nach der alten Gesetzeslage erst am 1. Januar 2009 in Heimkehrerstiftungsaufhebungsgesetzes Kraft treten. Dieses späte Inkrafttreten war dem Umstand geschuldet, dass zum Zeitpunkt der Diskussion des Geset- – Drucksache 16/9058 – zes im Herbst 2007 kurzfristig eine verwaltungsmäßige – Beschlussempfehlung und Bericht des Innen- Umsetzung nicht in Aussicht stand. Gleichzeitig war die ausschusses (4. Ausschuss) finanzielle Sicherung im Haushaltausschuss für das Haushaltjahr 2008 durch eine Blockadehaltung unseres – Drucksache 16/9318 – Koalitionspartners nicht sichergestellt. Berichterstattung: Doch was nutzt uns der Blick zurück im Zorn. Es wird Abgeordnete Günter Baumann mit dem vorliegenden Änderungsgesetz im Ergebnis et- Gerold Reichenbach was Positives im Sinne der Betroffenen nun endlich er- Dr. Max Stadler reicht – und das ist meiner Ansicht nach das Wichtigste. Das Vorziehen des Inkrafttretenstermins war uns in der Wolfgang Wieland CDU/CSU-Fraktion wegen des hohen Alters der Betrof- – Bericht des Haushaltsausschusses (8. Aus- fenen ein besonders wichtiges Anliegen. Auch unter dem schuss) gemäß § 96 der Geschäftsordnung Blickwinkel der Nichtvererbbarkeit des Anspruchs war für uns der späte Inkrafttretenstermin sehr unbefriedi- (B) – Drucksache 16/9348 – gend. (D) Berichterstattung: Mit der Bereitstellung außerplanmäßiger Mittel im Abgeordnete Steffen Kampeter Haushaltsjahr 2008 von voraussichtlich 15,8 Millionen Carsten Schneider (Erfurt) Euro und im Haushaltsjahr 2009 von rund 1 Million Euro Otto Fricke kann die Entschädigung für die Heimkehrer durch das Dr. Gesine Lötzsch Bundesverwaltungsamt in Bonn auch zügig umgesetzt Alexander Bonde werden. Schon jetzt haben viele Betroffene bereits vorläu- Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die fige Anträge gestellt. Leistungsberechtigt sind ehemalige Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um die Kriegsgefangene und Geltungskriegsgefangene, das Reden der folgenden Kolleginnen und Kollegen: Günter heißt Zivilinternierte und Zivilverschleppte, die im unmit- Baumann, CDU/CSU, Maik Reichel, SPD, Dr. Max telbaren ursächlichen Zusammenhang mit den Kriegs- Stadler, FDP, Petra Pau, Die Linke, Wolfgang Wieland, ereignissen ein den Kriegsgefangenen vergleichbares Bündnis 90/Die Grünen und Parlamentarischer Staats- Schicksal erlitten haben. Der Anspruch auf Einmalent- sekretär Dr. Christoph Bergner. schädigung ist weder vererbbar, da das Gesetz an das Einzelschicksal der Betroffenen anknüpft, noch pfändbar. Günter Baumann (CDU/CSU) Weiterhin wird sie nicht auf einkommensabhängige So- zialleistungen angerechnet. Besonders uns Abgeordnete aus den neuen Bundeslän- dern erreichten in der letzten Zeit Briefe, in denen zum ei- Zum Schluss möchte ich mich recht herzlich bei den nen die beschlossene Entschädigung für Kriegsspätheim- Abgeordneten bedanken, die seit vielen Jahren dieses of- kehrer auf dem Gebiet der ehemaligen DDR begrüßt fene Problem der Kriegsspätheimkehrer nicht aus dem wurde. Zugleich wurde aber scharf und für mich auch be- Auge verloren haben und immer wieder bereit waren, da- rechtigt gegen eine Auszahlung erst ab dem Jahr 2009 für zu kämpfen. Ein ganz besonderer Dank den Betroffe- protestiert. Es war für die Betroffenen nicht nach zu voll- nen, die nach unserem 1. Gesetz sich deutlich zu Wort ziehen, dass erst 17 Jahre nach der politischen Wende meldeten und damit das Vorziehen des Inkrafttretens mit eine symbolische Entschädigung für eine begründete Op- entscheidend erreichten. Die beschlossene Entschädi- fergruppe erfolgen soll. Mit dem nun heute zu beschlie- gung sorgt nun endlich mehr als 60 Jahre nach dem Krieg ßenden Änderungsgesetz zum Heimkehrerstiftungsaufhe- dafür, dass die ostdeutschen Kriegsheimkehrer und Zivil- verschleppten eine symbolische Anerkennung für ihr er- 1) Anlage 11 littenes Schicksal erhalten. 17270 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008

(A) Maik Reichel (SPD): diesen Erfahrungen allein und zum Schweigen verurteilt. (C) Im November des vergangenen Jahres haben wir mit Öffentlich darüber zu sprechen, war tabu; auch im Fami- dem Gesetz zur Aufhebung der Heimkehrerstiftung als lien- und Freundeskreis gelang dies nur eingeschränkt. Art. 3 auch die neue Heimkehrerentschädigung Ost auf Sie galten a priori als schuldig, bezahlten persönlich den den Weg gebracht. Damals haben wir betont, wie erfreu- Preis für die Kriegsverbrechen eines ganzen Systems. So- lich diese neue Entschädigungsregelung ist. Von den bald sie über diese Erfahrungen sprechen wollten, unter- Interessenverbänden der Heimkehrer und Kriegsgefan- lagen sie oft dem Vorwurf einer unbilligen Rechtferti- genen, aber auch einzelnen Betroffenen habe ich – wie gung. Solche Tabuisierungen haben das gesellschaftliche sicher viele andere Kollegen – berührende Briefe erhal- Klima im Osten Deutschlands Jahrzehnte lang gelähmt ten, die Dankbarkeit über diese Geste der Wiedergutma- und auch viele andere Menschen haben dort ähnliche Er- chung und Anerkennung schwerer Schicksale bekunden. fahrungen mit diesem erzwungenen Schweigen über offi- ziell unliebsame Erfahrungen mit der Geschichte ge- Es ist nichts so gut, dass es nicht noch nachgebessert macht. werden kann. In Anbetracht des hohen Alters und der per- sönlichen Umstände der Betroffenen sind noch einmal die Ich freue mich, dass wir diesen Betroffenen über den Möglichkeiten überprüft worden, die Wartezeit zu verkür- Weg der einmaligen materiellen Entschädigung – die zen. Dank der gemeinsamen Anstrengungen und auch schätzungsweise nach momentanen Erkenntnissen über dank der Bemühungen der Finanzpolitiker ist dies nun 20 000 Menschen betrifft – deutlich zeigen können, dass gelungen. Zudem begrüße ich, dass unsere Forderung der die Gesellschaft ihr Schicksal anerkennt und würdigt. Übernahme aller Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der ehemaligen Heimkehrerstiftung in Bonn nun zum 1. Ja- Dr. Max Stadler (FDP): nuar 2008 vom Bundesverwaltungsamt positiv umgesetzt Die FDP hatte seinerzeit die Einmalleistung für wurde. Ich hoffe, dass die Problematik der Nichtanerken- Kriegsgefangene und Geltungskriegsgefangene als Sym- nung der Vorbeschäftigungszeiten aus der Heimkehrer- bol der Anerkennung und als Geste der Wiedergutma- stiftung für diese Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter noch chung gegenüber ostdeutschen Heimkehrern begrüßt. zu deren Gunsten geklärt werden kann. An dieser Stelle Wir waren allerdings nicht damit einverstanden, dass erst möchte ich den ehemaligen Beschäftigten der Heim- ein sehr spätes Inkrafttreten zum 1. Januar 2009 vorgese- kehrerstiftung für ihre jahrelange Arbeit noch einmal hen war. Die FDP-Bundestagsfraktion hatte stattdessen herzlich danken und ihnen in ihrer neuen Verwendung al- eine großzügigere Lösung angeregt. Die noch lebenden les Gute wünschen. ehemaligen Kriegsgefangenen befinden sich nämlich in Danken möchte ich ebenfalls meinen Kollegen Günter einem weit fortgeschrittenen Alter. Ein weiteres Zuwarten (B) Baumann und dem Parlamentarischen Staatssekretär erschien uns daher nicht angebracht. Dies habe ich für (D) Bergner. Die gemeinsame Arbeit an der Gesetzgebung die FDP-Bundestagsfraktion schon in der Plenardebatte zur Heimkehrerentschädigung Ost war ein gutes Beispiel am 8. November 2007 zum Ausdruck gebracht. einer wirklich konstruktiven Zusammenarbeit im Inte- Mit dem jetzigen Gesetzentwurf greifen die Koalitions- resse und zum Nutzen der Betroffenen. Diese erhalten nun fraktionen diesen zentralen Kritikpunkt der FDP-Bun- bereits ab dem 1. Juli 2008 statt ab dem 1. Januar 2009 destagsfraktion auf. eine entsprechende einmalige Entschädigung zwischen 500 und 1 500 Euro. Mit dieser letzten Änderung kann Dieser Meinungsumschwung innerhalb der Regie- nun ein Schlusspunkt gesetzt werden unter die langen Be- rungsfraktionen ist zu begrüßen. Wir unterstützen daher strebungen zu einer eigenständigen Entschädigung für den nunmehrigen Gesetzentwurf der CDU/CSU und der die Kriegsgefangenen, die nach ihrer Gefangenschaft in SPD. Die FDP stimmt daher dem Änderungsgesetz zu. den Osten Deutschlands, die DDR, zurückkehrten. Man kann nicht abstreiten, dass es ein langwieriger Prozess war, geschuldet auch dem diffizilen Gefüge parteipoliti- Petra Pau (DIE LINKE): scher Sichtweisen auf die geschichtliche Zusammen- Mit dem Gesetz zur Aufhebung der Heimkehrerstif- hänge. Die Aufarbeitung der Geschichte ist immer ein tung, deren Zweck in der finanziellen Unterstützung sehr komplexer Prozess. deutscher Kriegsheimkehrer lag, wurde ein Heimkehrer- entschädigungsgesetz beschlossen, mit dem die Befriedi- Die Menschen, um die es hier geht, sind in besonders gung der noch ausstehenden Anträge durch eine zu bean- drastischer Weise betroffen von der deutschen Geschichte tragende einmalige Zahlung erfolgen soll. Der Termin für vor und nach dem Zweiten Weltkrieg und zusätzlich von das Inkrafttreten dieses Gesetzes wurde im Aufhebungs- der deutschen Teilung. Nach den Erschütterungen des gesetz auf den 1. Januar 2009 festgelegt und soll jetzt auf Krieges, an dem sie aktiv beteiligt und in den sie ver- den 1. Juli 2008 vorgezogen werden. Hiermit soll den strickt waren, gerieten sie in eine unbestreitbar harte Ge- sehr betagten Anspruchsberechtigten eine unnötig lange fangenschaft. Schwere physische Arbeit, Hunger und Wartefrist erspart werden. Folge ist ein außerplanmäßi- Kälte überlebten viele von ihnen nicht. Dazu kam die ger Mittelbedarf im Haushalt 2008 von 15,8 Millionen Belastung des Gewissens, die Auseinandersetzung mit Euro, der entsprechend 2009 eingespart wird. möglicher eigener Schuld, mit der Erkenntnis der Verstri- ckungen in ein verbrecherisches System. Diejenigen, die Die Linke hat der Aufhebung der Heimkehrerstiftung nach der Gefangenschaft in die sowjetische Besatzungs- zugestimmt und stimmt deshalb selbstverständlich auch zone bzw. später in die DDR zurückkehrten, waren mit dem Änderungsgesetz zu.

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008 17271

(A) Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Dr. Christoph Bergner, Parlamentarischer Staats- (C) Mit dem heute zu beschließenden Gesetz kommt ein sekretär beim Bundesminister des Innern: Vorhaben zu einem guten Ende, das in seinem Ablauf min- Der Deutsche Bundestag hat im vergangenen Novem- destens unverständlich zu nennen ist. ber in zweiter und dritter Lesung das Heimkehrer- Die Große Koalition hatte ursprünglich vorgeschla- stiftungsaufhebungsgesetz beschlossen. Art. 3 dieses gen, die Heimkehrerstiftung aufzuheben. Die Stiftung half Gesetzes beinhaltet das Gesetz über eine einmalige Ent- Menschen, die nach dem Zweiten Weltkrieg – oft erst nach schädigung an die Heimkehrer aus dem Beitrittsgebiet. Jahren – aus der Kriegsgefangenschaft zurückgekehrt Als Anerkennung ihres Leidens und als Geste der Wieder- waren, mit Einmalzahlungen im Bedarfsfall und vor al- gutmachung sieht das Heimkehrerentschädigungsgesetz lem auch mit Ergänzungsleistungen zur Rente. Das war eine nach Dauer der Kriegsgefangenschaft gestaffelte nötig, weil die Betroffenen durch die Gefangenschaft na- Einmalleistung an Kriegs- und Geltungskriegsgefangene türlich keine Möglichkeit hatten, in Deutschland zu vor. Die in die SBZ bzw. DDR heimgekehrten Kriegs- und arbeiten und damit ein Vermögen aufzubauen und Ren- Geltungskriegsgefangenen erhalten danach endlich eine tenanwartschaften zu erwerben. Die von der Stiftung Un- Leistung, die der in den westlichen Bundesländern ge- terstützten waren also in den allermeisten Fällen sehr währten Kriegsgefangenenentschädigung vergleichbar alte Menschen in schlechter wirtschaftlicher Lage. ist. Darüber dürfen sich die in das Gebiet der SBZ bzw. ehemaligen DDR aus der Kriegsgefangenschaft Heimge- Warum diesen Menschen nun nicht mehr länger gehol- kehrten freuen. Die geschaffene Regelung soll zur Gleich- fen werden sollte, bleibt das Geheimnis der Bundesregie- behandlung mit den in die alten Bundesländer Heimge- rung. Die Leistungen nach dem Stiftungsgesetz hätten bis Ende 2009 noch etwa zehn Millionen Euro Haushaltsmit- kehrten beitragen. tel erfordert. Danach wäre über einen Zeitraum von noch Dabei geht es um unser grundsätzliches Verständnis einmal höchstens zehn Jahren eine weitere, aber kleinere bei der Aufarbeitung der Folgen des Zweiten Weltkrieges Summe erforderlich gewesen. Das ist auch nicht kein und der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft. Für Geld, aber bei so einer Summe muss man schon sagen: die Bundesrepublik Deutschland ging es dabei neben der Ein kleiner, ein kleinster Schritt für den Bundesfinanzmi- Aussöhnung und Wiedergutmachung gegenüber den Op- nister. Aber eben ein großer Einschnitt für den einzelnen fern des nationalsozialistischen Völkermordes und der Leistungsempfänger. Hitler’schen Aggressionskriege immer auch um die Soli- Bis dahin handelte es sich also um ein sinnloses Gesetz darität unter den Deutschen, die von den Folgen des mit einem angemessenen Titel. Krieges oft sehr unterschiedlich betroffen waren. Nach langer Diskussion, heftigem Protest der Betrof- So haben die Spätheimkehrer in Arbeitslagern und an fenen, verschiedener Sozialverbände und der Opposi- anderen Einsatzorten meist schwerste Arbeit unter teil- (B) (D) tionsfraktionen hat die Koalition dann in letzter Minute weise furchtbaren Umständen leisten müssen. Sie haben ihre Pläne geändert. Es bleibt bei den Rentenzusatzleis- damit seinerzeit die Folgen der katastrophalen Politik des tungen, und es wird auch – endlich – eine Leistung für nationalsozialistischen Deutschlands in besonderer diejenigen Spätheimkehrer eingeführt, die in die heutigen Weise tragen und an ihnen leiden müssen. Man kann sa- neuen Bundesländer zurückgekehrt waren. Damit wird, gen: Sie haben oft stellvertretend für andere Lasten der wenn auch in kleinem Umfang, einer oft besonders be- deutschen Geschichte auf sich nehmen müssen und sind dürftigen Gruppe von Menschen nach Jahrzehnten end- im Westen Deutschlands deshalb auch nach dem Kriegs- lich geholfen. gefangenenentschädigungsgesetz entschädigt worden. Diese Änderungen haben wir begrüßt und unterstützt, Die DDR sah keine Verpflichtung für staatliche Soli- denn statt dem Motto „Haushaltskonsolidierung ist an- daritätsleistungen gegenüber Spätheimkehrern. Der gewandte Knauserigkeit“ galt nun wieder das Prinzip SED-Staat ignorierte die individuelle Betroffenheit und Augenmaß. Damit hatten wir nun ein angemessenes Ge- überließ es allein der Zufälligkeit unterschiedlicher setz mit einem sinnlosen Titel, denn aufgehoben wird ja Schicksalswege, wenn es darum ging, Kriegsfolgen zu be- nun nicht mehr. wältigen. Dies muss und soll für die Spätheimkehrer end- Es blieb noch ein Problem, das wir nun heute lösen lich korrigiert werden. Wir beenden also ein ideologisch wollen: Die Entschädigung für die Heimkehrer in die geprägtes Missverständnis der DDR, wenn wir uns für neuen Bundesländer sollte am 1. Januar 2009 beginnen die Heimkehrerentschädigung Ost entscheiden und damit können. Das ist angesichts des Alters der Betroffenen anerkennen, dass diese Kriegsgefangenen mit ihrer lan- reichlich spät. Denn wenn man Menschen, die ja zumeist gen Gefangenschaft eine Leistung stellvertretend für das in den 1910er- und 1920er-Jahren geboren sind, helfen ganze deutsche Volk erbringen mussten. will, dann sollte man nicht bis zu ihrem 99. Geburtstag Dabei ist bis zu dieser Entscheidung bereits viel Zeit warten. vergangen. Es war nun die letzte Gelegenheit, die Heim- Ein sachlicher Grund für diesen Termin war auch kehrerentschädigung zusammen mit der Aufhebung der nicht erkennbar, also hat die Koalition nun die nächste Heimkehrerstiftung zu beschließen. Denn die Vorge- Änderung vorgelegt. Damit wird der Beginn der Entschä- schichte des Heimkehrerentschädigungsgesetzes zeigt, digung auf den 1. Juli dieses Jahres vorgezogen, Anträge dass sonst wohl bis heute keine entsprechende Regelung können schon jetzt formlos gestellt werden. Das ist gut zustande gekommen wäre. Schließlich hatten gleichge- und richtig so, deshalb unterstützen wir dieses Anliegen. richtete Initiativen der CDU/CSU-Fraktion und des Bun- Damit wäre dann auch dieser handwerkliche Fehler aus- desrats in der 14. und 15. Legislaturperiode keinen Er- gebügelt. folg. Aber: Das Heimkehrerentschädigungsgesetz würde

Zu Protokoll gegebene Reden 17272 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008

Dr. Christoph Bergner, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister des Innern (A) nach bisheriger Rechtslage erst am 1. Januar 2009 in b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- (C) Kraft treten. Damit können die Ostheimkehrer nicht zu- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu den Pro- frieden sein. Damit wollten sich auch die Koalitionsfrak- tokollen vom 12. Februar 2004 zur Änderung tionen nicht abfinden. des Übereinkommens vom 29. Juli 1960 über die Haftung gegenüber Dritten auf dem Gebiet Der entsprechende Gesetzesbeschluss Ende letzten der Kernenergie in der Fassung des Zusatz- Jahres war zwar richtig, um eine Entschädigung der Ostheimkehrer auf den Weg zu bringen. Er konnte seiner- protokolls vom 28. Januar 1964 und des Proto- zeit auch nicht günstiger gefasst werden, weil in der kur- kolls vom 16. November 1982 und zur zen, nach den Beratungen Ende des vergangenen Jahres Änderung des Zusatzübereinkommens vom zur Verfügung stehenden Zeit weder die personellen Vo- 31. Januar 1963 zum Pariser Übereinkommen raussetzungen für die Auszahlung der Entschädigung vom 29. Juli 1960 über die Haftung gegenüber durch das Bundesverwaltungsamt zum 1. Januar 2008 Dritten auf dem Gebiet der Kernenergie in der sichergestellt noch die entsprechenden Haushaltsmittel Fassung des Zusatzprotokolls vom 28. Januar bereitgestellt werden konnten. So wenig wie deshalb da- 1964 und des Protokolls vom 16. November mals ein früherer Inkrafttretenstermin festgeschrieben 1982 (Gesetz zu den Pariser Atomhaftungs- werden konnte, so wenig befriedigend war und ist diese Protokollen 2004) Situation für die Ostheimkehrer. Dass ein Heimkehrer fast 60 Jahre nach Ende der Kriegsgefangenschaft noch auf – Drucksache 16/9078 – eine endlich beschlossene symbolische Entschädigung Überweisungsvorschlag: warten soll, war nicht vermittelbar. Angesichts ihres ho- Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f) hen Alters besteht bei dem späten Inkrafttretenstermin zu- Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie dem die Gefahr, dass die Berechtigten die Auszahlung der Entschädigung nicht mehr erleben. Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um die Deshalb haben die Bundesregierung und die Koali- Reden der folgenden Kolleginnen und Kollegen: tionsfraktionen gehandelt: die Bundesregierung, indem sie die verfahrensmäßigen Voraussetzungen für einen Be- Dr. Georg Nüßlein, CDU/CSU, Christoph Pries, SPD, ginn der Auszahlungen zur Mitte dieses Jahres geschaffen Angelika Brunkhorst, FDP, Hans-Kurt Hill, Die Linke, hat, die Koalitionsfraktionen, indem sie mit dem heute ab- Sylvia Kotting-Uhl, Bündnis 90/Die Grünen. schließend beratenen Entwurf eines Änderungsgesetzes eine Vorverlegung des Termins des Inkrafttretens des Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU): Heimkehrerentschädigungsgesetzes auf den 1. Juli 2008 Eine verantwortungsvolle Energiepolitik wird eine der (B) bestimmen. Das ist zu begrüßen. großen politischen Aufgaben in den nächsten Jahren und (D) Jahrzehnten sein. Die heute im Plenum zu behandelnden Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Gesetzesvorlagen, den haftungsrechtlichen Schutz im Be- Wir kommen zur Abstimmung. Der Innenausschuss reich Kernenergie betreffend, sind ein wichtiger Teil einer empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa- verantwortungsbewussten Energiepolitik. che 16/9318, den Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und SPD auf Drucksache 16/9058 anzuneh- Der Aspekt der Haftung ist in der Kette einer verant- men. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zu- wortungsbewussten Energiepolitik ein wichtiges, wenn stimmen wollen, um das Handzeichen. – Gegenstim- auch mehr juristisches und letztes Glied. Ich möchte die men? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist in Gelegenheit nutzen, auch außerhalb des Haftungsrechts zweiter Beratung mit den Stimmen des ganzen Hauses eine verantwortungsbewusste Energie- und Umweltpoli- angenommen. tik abzustecken, um dann auf die Kettenglieder Sicherheit und Haftung zurückzukommen. Dritte Beratung Die Unwägbarkeiten bei der Energielieferung und die und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem rasant gestiegenen Energiepreise sind mir, wie Ihnen, Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – hinlänglich bekannt. Die Notwendigkeit der Klimaschutz- Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent- ziele ist unbestritten. Es stellt sich die Frage: Können wir wurf ist auch in dritter Beratung mit den Stimmen des vor diesem Hintergrund am anvisierten Ausstieg aus der ganzen Hauses angenommen. Kernenergie festhalten, oder brauchen wir Laufzeitver- Ich rufe die Tagesordnungspunkte 26 a und 26 b auf: längerungen, weil wir auf die Kernenergie als Brücken- technologie in einen neuen Energiemix nicht verzichten a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- können? gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände- rung haftungsrechtlicher Vorschriften des Nach jetziger Lage sollen bis spätestens 2023 alle Atomgesetzes und zur Änderung sonstiger 17 Kernkraftwerke vom Netz und 21 000 Megawatt Leis- Rechtsvorschriften tung ersetzt werden. Gleichzeitig müssen die Treibhaus- – Drucksache 16/9077 – gase drastisch reduziert werden, damit der Klimawandel und seine Folgen beherrschbar bleiben. Dabei ist unstrei- Überweisungsvorschlag: tig: Nationale Anstrengungen sind nicht genug. Die Kli- Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f) Rechtsausschuss maschutzziele Europas sind nur ein erster wegweisender Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ansatz: Die Treibhausgasemissionen müssen gesenkt, der Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008 17273

Dr. Georg Nüßlein (A) Anteil der erneuerbaren Energien erhöht und die Ener- rung einer multilateralen Haftungsgrundlage für (C) gieeffizienz gesteigert werden. nukleare Schäden. Wenn wir dabei in Deutschland unser ehrgeiziges Ziel Wichtige bereits bestehende Haftungsgrundsätze im schaffen, bis zum Jahr 2020 rund 30 Prozent unseres Falle eintretender nuklearer Schäden sind dabei beibehal- Strombedarfs aus erneuerbaren Energiequellen zu de- ten worden, so etwa die Gefährdungshaftung des Inhabers cken: Wo kommen die übrigen 70 Prozent her? Wer jetzt einer Kernanlage oder der Grundsatz der Gleichbe- mit dem Argument der Effizienzgewinne kommt, kann handlung aller Geschädigten, unabhängig von Staatsan- nicht Prozentrechnen. Wenn ich von 70 Prozent des gehörigkeit oder Wohnort. Strombedarfs spreche, dann ist der Effizienzgewinn vor- her bereits abgezogen. Die heute in Rede stehende Neuregelung war auch und gerade vor dem Hintergrund notwendig geworden, dass Hier spreche ich auch und speziell den Bereich der in einigen Vertragsstaaten noch immer verhältnismäßig Grundlast an. Die Kernenergie leistet in Deutschland niedrige Haftungshöchstgrenzen bestanden haben. Neue fast die Hälfte der Grundlastversorgung. Entweder: Wir Regelungsinhalte zur Verbesserung der Schadensaus- setzen im Bereich der grundlastfähigen Stromversorgung gleichssituation sind demzufolge unter anderem die Er- fossile Energieträger ein, und das bedeutet einen erheb- höhung der Haftung des Inhabers einer Kernanlage um lichen zusätzlichen CO2-Ausstoß. Oder: Deutsche Strom- ein Mehrfaches auf einen Mindestbetrag von 700 Millio- verbraucher beziehen in absehbarer Zeit teueren Atom- nen Euro, die ausdrückliche Zulassung der unbegrenzten strom aus dem Ausland. Haftung des Inhabers einer Kernanlage, und die Anhebung Vor diesem Hintergrund sage ich: Wir brauchen die der Mindesthaftung im Bereich der Transporte nuklearen Kernenergie als Brückentechnologie auf dem Weg zu ei- Materials. Darüberhinaus wurde etwa der territoriale nem neuen Energiemix; denn es ist die verantwortliche Anwendungsbereich des Übereinkommens erweitert und Aufgabe der Politik, dass wir Wirtschaftlichkeit und eine Regelung zum Staatenklagerecht aufgenommen. Wachstum mit Ressourcenschonung und Klimaschutz ver- Auf dieser Basis konnte das Nuklearhaftungsniveau binden. angehoben und eine international harmonisierte Verbes- An dieser Stelle will ich ankündigungsgemäß überlei- serung des haftungsrechtlichen Schutzes auf dem Gebiet ten zum Thema Sicherheit und Haftung. Die deutschen der Kernenergie erfolgen. Kernkraftwerke zählen weltweit unstreitig zu den Sichers- ten. Alle in Deutschland betriebenen Kernkraftwerke Christoph Pries (SPD): werden stets dem aktuellen Stand der Sicherheit ange- Wir debattieren heute zwei Gesetzentwürfe im Bereich passt. Den gilt es zu exportieren. Das kann aber nur, wer (B) des internationalen Atomhaftungsrechts. Zum einen geht (D) die Technik im eigenen Land einsetzt und an andere ver- es um die Ratifizierung der Protokolle vom 12. Februar kauft. 2004 zur Änderung des Pariser Übereinkommens und des Und: Dieser Hightech-Sicherheitsstandard, den Brüsseler Zusatzübereinkommens zur Haftung gegenüber Deutschland marktbeherrschend und kontinuierlich wei- Dritten auf dem Gebiet der Kernenergie, die sogenannten terentwickelt, der muss beibehalten werden; denn welt- Pariser Atomhaftungsprotokolle. Zum anderen geht es weit wird in mehr als 30 Ländern Kernenergie genutzt, um die Umsetzung der Pariser Atomhaftungsprotokolle in und international ist im Bereich der Kernenergie ein ste- nationales Recht. ter Ausbau zu verzeichnen. Auch vor diesem Hintergrund Beide Gesetzentwürfe dürften auf eine breite Zustim- ist der heute vorgesehene Finalausstieg Deutschlands mung im Deutschen Bundestag stoßen, denn sie enthalten nicht sinnvoll, denn im Bereich der Kernenergie brau- substanzielle Verbesserungen im internationalen Haf- chen wir zwingend über die nationalen Grenzen hinaus tungsrecht im Falle eines nuklearen Schadens. Daran ist den hohen deutschen Sicherheitsanspruch. uns allen gelegen. Neben dieser technologischen Sicherheit steht der haf- Bereits seit Beginn der Nutzung der Atomenergie zur tungsrechtliche Teil der Sicherheit: Das Atomhaftungs- Erzeugung von Elektrizität in den 1950er-Jahren stellte recht ist ein von internationalen Übereinkommen gepräg- sich die Frage nach einem angemessenen Haftungsre- tes Rechtsgebiet. Die alsbald nach Ende des Zweiten gime für nukleare Unfälle. Aufgrund des Ausmaßes und Weltkriegs einsetzende Nutzung der Atomkraft für friedli- des potenziell grenzüberschreitenden Charakters nuklea- che Zwecke, namentlich zur Energieerzeugung, warf un- rer Ereignisse und Schäden war man sich bereits früh mittelbar die Frage nach einem angemessenen Haftungs- darüber im Klaren, dass es der internationalen Koopera- regime für nukleare Unfälle auf. Im Laufe der Jahrzehnte tion auf diesem Gebiet bedürfe. Das auf Europa begrenzte entwickelte sich ein immer effektiveres, an den besonde- Pariser Übereinkommen über die Haftung gegenüber ren Risiken der Atomenergie und den Erfordernissen des Dritten auf dem Gebiet der Kernenergie von 1960, er- Opferschutzes orientiertes Haftungsregime. gänzt durch das Brüsseler Zusatzübereinkommen von Regelungsgegenstand der uns heute vorliegenden Ge- 1963, und das weltweit angelegte Wiener Übereinkom- setzesentwürfe ist es, die Änderungsprotokolle zum Pariser men über die Haftung für nukleare Schäden im Rahmen Übereinkommen und zum Brüsseler Zusatzübereinkommen der Internationalen Atomenergie-Organisation aus dem- zu ratifizieren sowie die entsprechende Umsetzung in na- selben Jahr bilden bis heute die Grundlage des internatio- tionales Recht vorzunehmen. Ziel der Überarbeitung die- nalen Atomhaftungsrechts. Die lange Zeit bestehende und ser internationalen Übereinkommen war die Verbesse- kritisierte wechselseitige Exklusivität des Pariser und

Zu Protokoll gegebene Reden 17274 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008

Christoph Pries (A) Wiener Übereinkommens konnte 1988 durch ein gemein- Insgesamt bleibt festzuhalten: Die Pariser Atomhaf- (C) sames Protokoll überwunden werden. tungsprotokolle stellen eine deutliche Verbesserung im Bereich der internationalen Atomhaftung dar. Die mate- Darüber hinaus wurden die Regelungen der beiden riellen Auswirkungen des Übereinkommens auf Deutsch- Übereinkommen aber in drei Bereichen als unzureichend land bleiben durch die 2002 eingeführten weiter gehen- empfunden: erstens, die zu geringen Haftungssummen den nationalen Haftungsregelungen des Atomgesetzes und deren Begrenzung; zweitens, der unzureichende Op- begrenzt. Dass die Pariser Atomhaftungsprotokolle auch ferschutz aufgrund des beschränkten Anwendungsberei- mehr als vier Jahre nach der Unterzeichnung bisher von ches der Übereinkommen; drittens, der dem modernen keiner der 15 Vertragsparteien ratifiziert wurde, ist aller- Umweltrecht nicht mehr entsprechende enge Schadens- dings bedauerlich. Ich hoffe daher, dass Deutschland wie begriff. bei der Ausgestaltung auch bei der Ratifizierung der Pa- riser Atomhaftungsprotokolle eine Vorreiterrolle über- Vor diesem Hintergrund nahmen Anfang 1998 die da- nimmt. mals 14 Vertragsstaaten des Pariser Übereinkommens im Rahmen einer Arbeitsgruppe die Verhandlungen zur Re- vision des Übereinkommens auf. Dies war auch deshalb Angelika Brunkhorst (FDP): nötig, weil 1997 das Wiener Atomhaftungsübereinkom- Die FDP-Bundestagsfraktion kritisiert die heute de- men grundlegend revidiert worden war. Die jetzt zur Ra- battierten Gesetzentwürfe der Bundesregierung in Teilen, tifizierung und Umsetzung vorliegenden Änderungspro- stimmt ihnen in der Summe aber zu. tokolle zum Pariser Übereinkommen und Brüsseler Die deutliche Erhöhung der Haftungshöchstsummen Zusatzübereinkommen wurden am 12. Februar 2004 in für alle Beteiligten, für die Betreiber kerntechnischer An- Paris unterzeichnet. lagen, die einzelnen Vertragsstaaten sowie für die Ge- Die Pariser Atomhaftungsprotokolle bedeuten: eine meinschaft der Vertragsstaaten, begrüßen wir ausdrück- Verbesserung des Opferschutzes, eine Erhöhung der zur lich. Ebenso begrüßen wir, dass die betroffenen Bürger im Verfügung stehenden Haftungssummen, eine territoriale Fall eines nuklearen Ereignisses umfassender entschä- Ausdehnung der Haftung, eine Erweiterung des Kreises digt werden, insbesondere dann, wenn die fragliche An- lage im benachbarten Ausland liegt. der ersatzfähigen Schäden und eine Wiederherstellung der weitgehenden Parallelität der Bestimmungen des re- Wir schließen uns allerdings der Kritik des Bundes- gionalen Pariser/Brüsseler mit dem globalen Wiener rates an, die die Bundesregierung zurückgewiesen hat. Atomhaftungsabkommen. Der Bundesrat hatte der Bundesregierung empfohlen, Art. 3 und 4 und in der Folge davon Art. 5 Abs. 2 zu strei- (B) Im Detail möchte ich auf drei Punkte eingehen, die aus chen. Damit hat sich der Bundesrat dagegen ausgespro- (D) unserer Sicht besonders erfreulich sind: chen, das Bundesamt für Strahlenschutz in die Lage zu versetzen, künftig auch von Bund, Ländern, Gemeinden Erstens. Der territoriale Anwendungsbereich des und bestimmten juristischen Personen des öffentlichen Übereinkommens wurde deutlich erweitert. Die Neufas- Rechts sowie von gemeinnützigen Forschungseinrichtun- sung trägt den Anliegen der Nichtatomstaaten – zum Bei- gen Gebühren zu erheben. Die Bundesregierung ist dieser spiel Österreich oder die Republik Irland – Rechnung, da Empfehlung bedauerlicherweise nicht gefolgt. das Übereinkommen nun automatisch auch für nukleare Schäden in diesen Ländern gilt. Bisher war die Auswei- Wir reden hier über Einnahmen von etwa 350 000 Euro tung des Übereinkommens auf Nichtvertragsstaaten in pro Jahr. Dieses Geld soll nun also den kerntechnischen das Ermessen der Vertragsparteien gestellt. Die Bundes- Forschungseinrichtungen weggenommen und an das republik Deutschland hat von dieser Möglichkeit bereits Bundesamt für Strahlenschutz überwiesen werden. Un- Gebrauch gemacht und den Geltungsbereich des Über- sere – sowieso schon chronisch unterfinanzierten – For- einkommens entsprechend ausgedehnt. schungseinrichtungen benötigen dieses Geld dringend, um ihre internationalen hohen Standards zu halten. Zweitens. Der Begriff des nuklearen Schadens wurde deutlich erweitert. Durch die Aufnahme der Kosten zur Die Bundesregierung bringt hier in einem Artikelge- Wiederherstellung geschädigter Umwelt wurde eine An- setz, das eigentlich nur der Umsetzung internationaler passung des Pariser Übereinkommens an das moderne Abkommen dient, eine Regelung unter, die die nuklearen Umwelthaftungsrecht vollzogen. Forschungseinrichtungen belastet. Das hat mit dem ei- gentlichen Anlass des Gesetzes nichts zu tun, sondern ist Drittens. Die Haftungssummen wurden deutlich ange- eine reine Schikane, als deren Hintergrundmotiv man ge- hoben und die Haftungshöchst- zu Referenzbeträgen um- trost die allgemeine Feindseeligkeit der Bundesregierung gewandelt. Die Haftungshöchstbeträge von rund 15 Mil- gegenüber der Kernenergie unterstellen darf. Wie ver- lionen Euro nach dem Pariser und 300 Millionen Euro trägt sich dieser Winkelzug eigentlich mit den Beteuerun- nach dem Brüsseler Übereinkommen werden auf gen aus dem für Forschung zuständigen Ministerium? 700 Millionen Euro bzw. 1,5 Milliarden Euro angehoben. Gerade mal ein paar Wochen ist es her, dass der im Dabei handelt es sich nicht mehr um Höchst-, sondern um BMBF zuständige Staatssekretär Meyer-Krahmer sich öf- Mindesthaftungssummen. Das bedeutet: Die im deut- fentlich damit gebrüstet hat, steigende Fördermittel wür- schen Atomgesetz seit 2002 bereits umgesetzte Festset- den dafür sorgen, dass Arbeiten zur Strahlenforschung zung einer unbegrenzten Haftung der Anlagenbetreiber und zur nuklearen Sicherheitsforschung weitergehen und ist somit mit dem Übereinkommen vereinbar. dass die Kompetenz im Bereich nukleare Sicherheit in

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008 17275

Angelika Brunkhorst (A) Deutschland erhalten bleibt. Und nun das. Sie führen die dert keine inhaltlichen Anpassungen des nationalen (C) Menschen hinters Licht und glauben allen Ernstes, die Rechts“. Menschen würden es nicht merken. Die FDP wird zu der- Damit wir uns richtig verstehen: Die Energiebosse ha- artigen Mätzchen jedenfalls nicht schweigen, auch wenn ben für ihre Atomkraftwerke jeweils eine Haftungsbe- dies natürlich nicht Grund genug ist, um so wichtige Ge- grenzung von 2,5 Milliarden Euro. Die Folgekosten eines setze abzulehnen. Ein Verstoß gegen die „gesetzgeberi- Kernschmelzeunfalls werden aber mit 500 Milliarden bis sche Hygiene“ ist es aber dennoch. Es sind Mätzchen, die 5 Billionen Euro angegeben. Ungeheure Summen würden – wie gesagt – absolut nichts mit dem eigentlichen Anlass im Ernstfall auf die Allgemeinheit abgewälzt. Das würde des Gesetzes zu tun haben. auch die deutsche Volkswirtschaft für längere Zeit läh- Deutschland darf seine Führungsrolle in der kerntech- men. nischen Forschung nicht durch bisher unübliche Zusatz- So etwas ist nicht hinnehmbar und verdeckt die tat- belastungen behindern – im Sinne der Sicherheit vorhan- sächlichen Kosten der Atomenergienutzung. Diese rech- dener und künftiger Anlagen, der Nichtverbreitung, der net sich für die Anlagenbetreiber doch nur, weil die enor- Behandlung radioaktiver Abfälle und der Stilllegung aus- men Zusatzkosten und Risiken auf die öffentliche Hand gedienter kerntechnischer Anlagen. Dass die Bundesre- abgewälzt werden. Bezieht man die sozialen, ökologi- gierung mit den hier debattierten Gesetzentwürfen unter schen und gesundheitlichen Risiken in die Stromrechnung anderem auch kerntechnischen Forschungseinrichtun- mit ein, würde Atomstrom je Kilowatt nicht zwei Cent, gen finanziell das Leben schwerer machen will, wundert sondern zwei Euro kosten. allerdings nicht. Es passt vielmehr zum sozialdemokrati- schen Starrsinn und zum Stillschweigen der CDU/CSU Damit ist klar: Atomenergie ist unwirtschaftlich, ge- bezüglich der Kernenergie. Wie erbärmlich, meine Da- fährlich und nicht beherrschbar, ganz abgesehen davon, men und Herren Kollegen von der Union, wie erbärmlich dass die Frage der Endlagerung hochradioaktiver Stoffe und unehrlich! wohl nie abschließend geklärt werden kann. Aus europäischer Sicht verheißt die heutige deutsche Die Linksfraktion fordert die Bundesregierung des- Haltung nichts Gutes. Die „Frankfurter Allgemeine Zei- halb auf, die Haftungsfrage auch in Deutschland mit der tung“ schrieb am 19. Mai 2008: Wie ein Spaltpilz wirkt in vorliegenden Gesetzesvorlage neu zu regeln. Man muss der deutsch-französischen Energiepolitik der von der rot- schließlich auch zur Kenntnis nehmen, dass die Energie- grünen Koalition unter Bundeskanzler Schröder be- konzerne mit jedem der maroden Atomblöcke pro Jahr schlossene „Atomausstieg“ nach. Leider hat sie damit mindestens 300 Millionen Euro Profit machen. Die wah- vollkommen recht. ren Kosten der Atomenergie müssen endlich offengelegt werden. Letztendlich muss die Konsequenz aber lauten: (B) Die FDP-Bundestagsfraktion kritisiert die vorgelegten Raus aus der gefährlichen Atomenergie, so schnell wie (D) Gesetzentwürfe in Teilen, befürwortet aber die Umset- möglich. zung internationaler Abkommen auf nationaler Ebene. Wir stimmen den Gesetzentwürfen der Bundesregierung Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): daher zu. Im Rahmen der internationalen Verhandlungen zur Verbesserung der Haftung bei Atomunfällen ist im Fe- Hans-Kurt Hill (DIE LINKE): bruar 2004 das Pariser Abkommen vereinbart worden. Mit der Vorlage der Bundesregierung sollen die Haf- Heute debattiert der Bundestag die Übernahme dieser tungssummen für Atomtransporte und bestimmte Atom- Regelungen ins deutsche Atomgesetz. Wir Grüne haben anlagen neu festgelegt und EU-weit vereinheitlicht wer- die Nutzung der Atomkraft stets abgelehnt, weil ihre Ge- den. Außerdem kann das Bundesamt für Strahlenschutz fahr für Mensch und Umwelt zu groß ist. Deshalb begrü- zukünftig Kosten für Verwaltungsaufgaben bei den Be- ßen wir im Grundsatz die Präzisierung im Gesetzentwurf, treibern der Atomanlagen in Rechnung stellen. Das ist zu- wonach zukünftig allein die Inhaber von Atomanlagen nächst zu begrüßen, denn es ist nicht gerechtfertigt, dass – das sind die großen Energiekonzerne – für Schäden haf- die Bürgerinnen und Bürger die Kosten der gefährlichen ten müssen. Ausdrücklich ist vorgesehen, dass der Staat Atomenergie durch die Hintertür bezahlen. den betreffenden Konzern dazu heranziehen kann, unbe- grenzt zu haften. Die bisher gültigen, viel zu niedrigen Bei genauerem Hinsehen entpuppt sich der Entwurf Haftungsobergrenzen werden abgeschafft. Eine unbe- aber als Luftnummer. Die Mindesthaftung bei Atomtrans- grenzte Haftung entspricht unserer grünen Überzeugung, porten soll 80 Millionen Euro betragen. Bei einem Unfall dass Betreiber von Atomanlagen bei einem Atomunfall mit abgebranntem Nuklearmaterial wird diese Summe voll in die Verantwortung genommen werden müssen, so nicht einmal im Ansatz reichen. Die Summe müsste um wie sie ja auch die Gewinne aus dem Atomstromverkauf das Einhundertfache erhöht werden, um den Folgen eines voll abschöpfen. Schadensfalls ernsthaft gewachsen zu sein. Angesichts der Verwüstungen, die durch einen größten Gleichzeitig klammert die Änderung des Atomgesetzes anzunehmenden Unfall eines AKW im dichtbesiedelten eine längst überfällige Haftungsreglung für deutsche Deutschland entstehen würden, muss ich allerdings fest- Atomkraftwerke aus. Die Bundesregierung hält es stellen, dass die weiterhin bestehende garantierte De- schlicht nicht für nötig, das Kassemachen der Atomkon- ckungssumme von 2,5 Milliarden Euro dazu in krassem zerne auf Kosten der Bürgerinnen und Bürger zu been- Missverhältnis steht. Im Wirtschaftsleben ist es gängige den. So heißt es im Gesetzentwurf, die Änderung „erfor- Praxis, dass ein Unternehmen eine betriebliche Risiko-

Zu Protokoll gegebene Reden 17276 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008

Sylvia Kotting-Uhl (A) vorsorge zu treffen hat, die sich in der Größenordnung schlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? – Das (C) des tatsächlich möglichen Schadens bewegt. Das gilt bei- ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlos- spielsweise auch beim Bau einer Windkraftanlage. Es ist sen. kaum vermittelbar, dass ausgerechnet die Risikotechno- logie Atomkraft von diesem Prinzip ausgenommen ist. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 27 sowie Zusatz- Die Umweltverbände und die Ärzte gegen den Atomkrieg punkt 6 auf: sprechen an diesem Punkt von einer Subventionierung, 27 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- die die Politik der Atomwirtschaft trotz ihrer exorbitanten richts des Ausschusses für wirtschaftliche Zu- Gewinne gewährt. Der Zusammenhang ist darin begrün- sammenarbeit und Entwicklung (19. Ausschuss) det, dass auch die unzureichende Verpflichtung zur Scha- zu dem Antrag der Abgeordneten Sibylle Pfeiffer, densvorsorge dazu führt, dass sich die Stromproduktions- Dr. Christian Ruck, Dr. Wolf Bauer, weiterer Ab- kosten für die Atomlobby derart günstig darstellen. Das geordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie Prognos-Institut hat ermittelt, dass ein GAU Schäden in der Abgeordneten Dr. Wolfgang Wodarg, Höhe von etwa 5 000 Milliarden Euro verursachen Dr. Sascha Raabe, Gregor Amann, weiterer Ab- würde. Das entspricht dem 20-fachen Wert des Bundes- geordneter und der Fraktion der SPD haushalts und übertrifft die Deckungsvorsorge um den 2 500-fachen Faktor. Angesichts dieser Zahlen wird deut- Deutschlands globale Verantwortung für die lich: Selbst aus rein fiskalischer Betrachtung ist das Ri- Bekämpfung vernachlässigter Krankheiten – siko der Atomkraft zu hoch, von den menschlichen Tragö- Innovation fördern und Zugang zu Medika- dien gar nicht zu reden. menten für alle sichern Erfinder- und Ingenieursgeist hat die Alternativen zur – Drucksachen 16/8884, 16/9320 – Atomstromproduktion längst hervorgebracht. Deutsch- Berichterstattung: land gehört zu den führenden Exporteuren der Technolo- Abgeordnete Sibylle Pfeiffer gien für erneuerbare Energien. Tausende von neuen Ar- Dr. Wolfgang Wodarg beitsplätzen wurden in den vergangenen Jahren Dr. Karl Addicks geschaffen. Trotzdem wollen uns die Energiekonzerne Hüseyin-Kenan Aydin weismachen, dass der Übergang in das postfossile Ener- Ute Koczy giezeitalter nicht ohne die Verlängerungen der Laufzeiten der Atomkraftwerke zu bewerkstelligen sei. Diese Be- ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Karl hauptung ist falsch und lenkt von den eigentlichen Zu- Addicks, Hellmut Königshaus, Cornelia Pieper, kunftsaufgaben ab: Es muss vermehrt darum gehen, dass weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP die Politik die Vorsorge gestaltet, dass die zahlreichen Ri- (B) Tropische Armutskrankheiten stärker in der (D) siken, die die zunehmende Industrialisierung mit sich deutschen Entwicklungszusammenarbeit be- bringt, möglichst minimiert werden. Am Atomausstieg rücksichtigen – Forschungsanstrengungen aus- muss festgehalten werden. weiten Für die Haftungsregelungen im AtG fordern wir eine – Drucksache 16/9309 – deutliche Erhöhung der garantierten Deckungsvorsorge. Die garantierte Deckung im Promillebereich eines mög- Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die lichen Schadens ist nicht hinnehmbar. Tatsächlich müsste Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um die das gesamte Risiko versichert werden. Bekanntermaßen Reden folgender Kolleginnen und Kollegen: Sibylle ist dazu keine Versicherung bereit. In einem Staat, der Pfeiffer, CDU/CSU, Dr. Wolfgang Wodarg, SPD, Vorsorge ernst nimmt, müsste im Prinzip gelten, dass ein Dr. Karl Addicks, FDP, Monika Knoche, Die Linke, und Risiko, das nicht versichert werden kann, gesellschaftlich Ute Koczy, Bündnis 90/Die Grünen. nicht tragfähig ist. Zumindest ist es an der Zeit, die Orga- nisationsstruktur der finanziellen Vorsorge zu verändern. Sibylle Pfeiffer (CDU/CSU): Wir sind der Ansicht, dass diese Geldmittel unter staatli- Als wir diesen Antrag vor vier Wochen debattiert ha- che Kontrolle gestellt werden sollten. Die politisch Ver- ben, geschah dies im Vorfeld der Tagung der „Inter- antwortlichen sind dann in der Pflicht, zu entscheiden, wie mit den Geldern zu verfahren ist. Sinnvoll ist die Ein- governmental Working Group on Public Health, Innova- richtung einer Stiftung oder eines Fonds, die aus den Zin- tion an Intellectual Property“. sen der Einlagen die Entwicklung sicherer, unbedenkli- Die Vollversammlung der Weltgesundheitsorganisa- cher Energieformen fördern. tion hat die Ergebnisse ebendieser Arbeitsgruppe der Vereinten Nationen am letzten Samstag angenommen. Unsere Mindestforderungen sind: deutliche Anhebung Man sieht: Die Koalition hat auf aktuelle Ereignisse der Deckungsvorsorge, staatliche Kontrolle der Vorsor- schnell reagiert – im Gegensatz zur FDP, die erst jetzt mit gegelder und Investition der Zinserträge in unbedenkli- che Zukunftsenergien. ihrem Antrag kommt. Drei der acht Millenniumsziele be- ziehen sich auf die Gesundheit in den Entwicklungslän- dern. Das ist nicht verwunderlich, weil wir wissen, dass Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: zwischen Armut und Krankheit ein unheilvoller Zusam- Interfraktionell wird Überweisung der Gesetzent- menhang besteht. Um die Kindersterblichkeit in den Ent- würfe auf den Drucksachen 16/9077 und 16/9078 an die wicklungsländern zu verringern, um die Gesundheit von in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge- Müttern zu verbessern und um die schlimmsten Infek- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008 17277

Sibylle Pfeiffer (A) tionskrankheiten zu bekämpfen, bedarf es eines vielseiti- wir das machen, was in unseren Möglichkeiten liegt. (C) gen, eines umfassenden und eines nachhaltigen Ansatzes. Auch deshalb haben wir diesen Antrag eingebracht. Dieser nachhaltige Ansatz beinhaltet die Schaffung In unserer ersten Debatte habe ich gesagt, dass ich von von sozialen Sicherungssystemen genauso wie die Ein- einseitigen Schuldzuweisungen nichts halte. Den Schwar- richtung von Gesundheitsdiensten. Natürlich spielt in zen Peter möchte ich nicht allein der Pharmaindustrie zu- diesem Zusammenhang das Thema Medikamente eine schieben. Es ist ja nicht so, dass die Pharmaindustrie die wichtige Rolle. Ohne Medikamente ist die Bekämpfung Hände in den Schoß legt und nichts unternimmt. Auf un- und Vermeidung von Krankheiten nun einmal nicht mög- seren Reisen können wir uns überzeugen, dass die Arznei- lich. Die armen Länder leiden schwer unter den soge- mittelhersteller viele Projekte finanzieren, die segens- nannten vernachlässigten Krankheiten beziehungsweise reich für die Menschen in den Entwicklungsländern sind. unter den armutsbedingten Tropenkrankheiten. Für diese Krankheiten gibt es keine oder nicht ausreichende Medi- Wir wissen, dass Medikamentenforschung teuer ist. Es kamente. Gerade mit diesem Missstand beschäftigt sich ist legitim, dass wirtschaftlich gedacht und gehandelt unser Antrag. Wir zeigen Wege auf, wie dieser Missstand wird. Kosten müssen gedeckt und Mittel für neue For- behoben werden kann. schung verdient werden. Dennoch möchte ich ausdrück- lich betonen, dass die Pharmaindustrie in der Pflicht Warum fehlen für diese Krankheiten Medikamente, steht. Eigentum verpflichtet. Auch geistiges Eigentum Diagnostika und Impfstoffe? Warum ist die Erforschung verpflichtet, erst recht, wenn es sich dabei um das Wissen, dieser Krankheiten vernachlässigt? Was können wir da- wie Krankheiten behandelt werden können, handelt, und gegen tun? Wir müssen feststellen, dass es in diesem Be- erst recht, wenn es sich dabei um Wissen handelt, wie reich ein Ungleichgewicht in der Forschung gibt. Nur Menschenleben gerettet werden können. Die Hersteller 10 Prozent der weltweiten Forschungsgelder im biomedi- von Medikamenten müssen sich die Frage, warum sie die zinischen Bereich werden für die Entwicklung von Medi- Forschung bei den armutsbedingten Tropenkrankheiten kamenten für Krankheiten eingesetzt, unter denen 90 Pro- derart vernachlässigt haben, gefallen lassen. Sie sind zent der Menschen leiden. Und wir ahnen es: Die meisten aufgefordert, einen entscheidenden Beitrag zu leisten, da- Menschen der 90 Prozent leben in den ärmsten Regionen mit dieser Missstand endlich behoben wird. der Welt. Folgender Schluss liegt nahe: Weil es keinen entsprechenden Markt gibt, wird kaum in dem Bereich Wir, die Parlamentarier, wollen unseren Beitrag hierzu der armutsbedingten Tropenkrankheiten geforscht. leisten. In unserem Antrag haben wir Möglichkeiten auf- Nun, es mag keinen Markt geben, aber es gibt sehr gezeigt, wie die Forschung an neuen Medikamenten ge- gen Armutskrankheiten vorangetrieben werden kann. Na- (B) wohl einen Bedarf – und der ist enorm. Bis zu 1 Milliarde (D) Menschen leidet unter den vernachlässigten Krankheiten. türlich spielen dabei die Patentrechte eine Rolle. Wir Von 1974 bis 2004 wurden fast 1 600 neue Wirkstoffe auf wissen: Das ist ein sensibles Thema, weil Patentrechte den Markt gebracht, davon aber nur acht für Malaria und nicht gleich Patentrechte sind. Ein Patent für eine Motor- drei für Tuberkulose. Bei anderen Krankheiten ist die Si- säge ist nun einmal anders zu bewerten als ein Patent für tuation nicht besser. In der Tat können wir von vernach- ein Medikament. Die deutsche Regierung und das deut- lässigten Krankheiten sprechen. Doch wir dürfen nicht sche Parlament haben bewiesen, dass diese Herausforde- vergessen, dass damit auch die kranken Menschen ver- rungen sehr ernst genommen werden. Anlässlich der G-8- nachlässigt werden. Das dürfen wir nicht zulassen. Präsidentschaft fand im Bundestag die internationale G-8-Parlamentarier-Konferenz zum Thema „Gesundheit Es ist nicht hinnehmbar, dass jährlich unzählige Men- in Entwicklungsländern“ statt. Über 100 Parlamentarier schen an Krankheiten sterben, die relativ leicht behandel- haben detaillierten Forderungen an die Regierungen der bar wären. Durch vernachlässigte Krankheiten gehen je- G-8-Staaten formuliert. des Jahr 140 Millionen Lebensjahre in Gesundheit verloren. Zu dem unermesslichen Leid der Menschen Ich habe bereits erwähnt, dass weltweit nur 10 Prozent kommt hinzu, dass diese Jahre der Wirtschaft der Ent- der Forschungsgelder für die Entwicklung von Medika- wicklungsländer fehlen. Dies wiederum macht den Aus- menten für Krankheiten eingesetzt werden, unter denen stieg aus der Armut noch schwieriger. 90 Prozent der Menschen leiden. Dieser Zustand ist un- haltbar. Unser Antrag zeigt Möglichkeiten auf, wie For- Die Analyse der Situation ist eindeutig. Wir müssen schungsanreize für Medikamente gegen vernachlässigte handeln, und zwar schnell. Die Entwicklung von Medika- Krankheiten gegeben werden können. Die Forschung menten ist ein langwieriger Prozess. Es kann fünf bis muss dort Schwerpunkte setzen, wo die Hilfe am nötigsten 20 Jahre dauern, bis ein Medikament entwickelt wird. Ich ist – ohne Rücksicht auf die Kaufkraft der Betroffenen. möchte die Verantwortung Deutschlands in dieser Frage nicht relativieren. Ich denke aber, dass nationale Allein- Daher ist meiner Meinung nach wichtig, dass die Ent- gänge nicht effektiv genug sind. Meiner Meinung nach wicklungskosten von Medikamenten gegen vernachläs- steht die gesamte internationale Gemeinschaft in der sigte Krankheiten vom Produktpreis in armen Ländern Pflicht. Politik, Wirtschaft und Wissenschaft müssen auf abgekoppelt werden können. globaler Ebene zusammenarbeiten, damit die Tropen- krankheiten effektiv bekämpft werden können. Mir ist al- Wir brauchen einen fairen Interessensausgleich zwi- lerdings wichtig, dass sich Deutschland nicht hinter der schen Industrieländern und Entwicklungsländern, auch Anonymität der Globalisierung versteckt, sondern dass im Bereich der Medikamente.

Zu Protokoll gegebene Reden 17278 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008

(A) Dr. Wolfgang Wodarg (SPD): tentstrategien in kürzester Zeit eine der komplexesten (C) Täglich lesen wir über neue Fortschritte in der Medi- Fragestellungen gelöst hat: die Entschlüsselung des zin und über die konstante Steigerung der Lebenserwar- menschlichen Genoms. tung. So ist es nicht überall auf der ganzen Welt. Die im- Die Bundeskanzlerin hat sich für den Schutz von geis- mer größer werdende Kluft zwischen armen und tigem Eigentum stark gemacht. Das ist grundsätzlich eine wohlhabenden Ländern liegt in unzureichenden gesund- richtige Forderung. Doch im Bereich der Lebenswissen- heitlichen Versorgungsstrukturen aber auch in der un- schaften, in der Medizin, sind diese Gesetze des Wissens- gleichmäßigen Verteilung und im nicht bedarfsgerechten marktes tödlich für alle, die aus finanziellen Gründen Zugang zu lebenswichtigen Medikamenten. nicht teilhaben können. Da Armut und Krankheit weitge- Dort, wo jetzt Millionen von Menschen jährlich an hend zusammenfallen entsteht hier aus Patentstrategien übertragbaren Krankheiten sterben, stammen die dürfti- und aus Wissensmonopolisierung im gesundheitlichen gen Therapiemöglichkeiten oft noch aus der Kolonialzeit Bereich ein unerträgliches humanitäres Problem. und wurden seitdem nicht mehr verbessert. Sie sind oft zu Die Pharmaindustrie erpresste die Gesellschaft in der teuer, schwierig zu verabreichen und belastend durch er- Vergangenheit wiederholt mit dem Slogan: „No Patent – hebliche Nebenwirkungen. Bei einigen Medikamenten, No Cure!“ Diese Sicht verdrängt völlig, dass bis vor we- zum Beispiel denen gegen Tuberkulose, gibt es eine wach- nigen Jahrzehnten, in den Zeiten raschen medizinischen sende Zahl von Resistenzen. Die Zahlen sprechen eine Fortschritts, die meisten Wirksubstanzen ohne Patente deutliche Sprache: Lediglich 1,3 Prozent aller seit 1975 erforscht und dem Markt zur Verfügung gestellt wurden. auf den Markt gebrachten Medikamente wurden für die Auch der Generikamarkt ist, wie wir wissen, lukrativ. Es Bekämpfung von tropischen Krankheiten und Tuberku- geht also um die Forschungs- und Entwicklungsfinanzie- lose entwickelt. rung. Dabei wurde weltweit noch nie so viel in Forschung Angesichts der genannten Zusammenhänge fordern und Entwicklung von neuen Medikamenten investiert wie wir eine öffentlich geförderte Forschungsfinanzierung in den letzten zwei Jahrzehnten. Krankheiten wie zumindest für das verwaiste Gebiet der vorherrschenden Dengue-Fieber, Chagas, Bilharziose oder Loa loa sind Erkrankungen in den armen Ländern. Impfstoffe, Medi- aber offenbar so weit außerhalb der Interessen reicher kamente, Präventions- und Versorgungsstrategien müs- Industrienationen, dass sie von den FuE-Bemühungen sen in einer internationalen gemeinsamen Anstrengung der Pharmaindustrien nicht berücksichtigt werden. erforscht und entwickelt werden. Geforscht wird da, wo die schnelle Rendite lockt – und Manche Pharmakonzerne haben das bereits gesehen da spielen die Länder mit endemischen Wurm- oder und gehandelt. Firmen wie Merck oder Sanofi Aventis (B) (D) Durchfallerkrankungen, die zusammen mit anderen Ar- stellen bereits Medikamente im Wert von Millionen von muts- und Infektionskrankheiten Millionen Menschen im Dollar kostenlos zu Verfügung. Diese Spendenpro- Süden das Leben kosten, keine Rolle. Mehr Geld verdie- gramme sind sehr zu begrüßen. nen kann man auf dieser Welt mit Medikamenten gegen Haarausfall, Fettleibigkeit, Impotenz oder andere „Krank- Leider sind sie kurzfristig und lösen das grundsätzli- heiten“ reicher Länder. che Problem nicht. Ein bedürfnisorientiertes System kann nicht allein auf Freiwilligkeit beruhen. Eine nachhaltige Es gibt unterschiedliche Methoden, den Fortschritt in weltweite Versorgung mit lebenswichtigen Medikamenten der Medizin voranzubringen. Das Normale wäre, dass verlangt, dass die Wissenschaft, die Forschung, die Wirt- sich Gesellschaften und betroffene Länder zusammen- schaft und die Politik Verpflichtungen eingehen. schließen, in denen bestimmte Krankheiten einen hohen Schaden anrichten, und Mittel in ihren Forschungshaus- Auch die Weltgesundheitsorganisation hat das Pro- halt einstellen oder, wenn sie arm sind, von anderen Län- blem erkannt. Die spezielle Arbeitsgruppe von WHO- dern erbitten, um hier möglichst schnell gemeinsam eine Mitgliedstaaten, die Intergovernmental Working Group kostengünstige und wirksame Abhilfe zu entwickeln. Lei- on Public Health, Innovation and Intellectual Property der sind nur wenige Entwicklungsländer stabil und stark – IGWG – arbeitet seit etwa zwei Jahren an einem Ak- genug, diesen Weg zu gehen. Die Länder, die Eigeninitia- tionsplan, der alternative Anreize zum Patentsystem vor- tive entwickeln, brauchen unsere Hilfe und Begleitung. schlagen soll. Die Ergebnisse dieser Gruppe wurden letzte Woche während der Weltgesundheitsversammlung Viele Regionen in tropischen Ländern leiden nicht nur in Genf vorgestellt. Der Aktionsplan wurde von der Voll- unter Krankheiten, sondern auch noch unter schwachen versammlung der WHO-Mitgliedstaaten inzwischen an- oder eigennützigen Regierungen. Hier sind es oft interna- genommen. tionale oder ausländische Organisationen, welche versu- chen, die nötigen Gesundheitshilfen zu organisieren und Somit hat jetzt die UN-Organisation das klare Mandat, zu ersetzen. Auch diese sind jedoch nicht in der Lage, sich mit dem aktuellen Patentsystem auseinanderzusetzen Forschung zu betreiben oder gar zu finanzieren. und die beschlossenen Schritte umzusetzen. Der WHO- Beschluss sieht die Förderung von alternativen For- Neues medizinisches Wissen wird am schnellsten in of- schungsanreizen vor, wie wir sie auch in unserem Antrag fenen internationalen Netzwerken entwickelt, denen die fordern. Mit unserer Initiative hier wollten wir genau die- dafür erforderlichen Mittel bereitgestellt werden. Als po- sen Prozess, dessen wichtigen ersten Schritt, der jetzt ge- sitives Beispiel mag hier das Human Genome Project die- rade in Genf abgeschlossen wurde, auch in Deutschland nen, welches ohne Wissensmonopolisierung durch Pa- begleiten.

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008 17279

Dr. Wolfgang Wodarg (A) Der jetzige Beschluss der WHO-Mitgliedstaaten soll trie in Schutz zu nehmen, statt die Dinge beim Namen zu (C) nun möglichst schnell umgesetzt werden. Als Parlamen- nennen. Ihre Forderungen nach einer verstärkten Unter- tarier es ist unsere Aufgabe, das Engagement Deutsch- stützung der Product Development Partnerships – PDP –, lands bei dieser Problematik zu steigern, nach dem einer Strategie zur Bekämpfung der tropischen Armuts- Motto: global denken und lokal handeln. Als reiches In- krankheiten und einer erhöhten Bereitstellung von öffent- dustrieland wollen wir uns nicht vor unserer Verantwor- lichen Finanzmitteln für tropische Krankheiten sind zwar tung drücken. richtig und wir teilen sie. Nur eines passt nicht richtig zu- sammen: Einerseits wünscht sich die FDP eine Erhöhung Deswegen fordern wir im Antrag der Koalition die Fest- der öffentlichen Zuwendungen für diesen Bereich, ande- legung einer politischen Agenda mit Forschungsprioritä- rerseits ist sie aber sprichwörtlich die Partei, die überall ten auf Grundlage der Beschlüsse der IGWG. Die öffent- Steuersenkungen will. liche Forschungsförderung muss massiv zunehmen und aktiv von Deutschland unterstützt werden. Eine nachhal- Ihr Antrag kommt außerdem ein bisschen spät. Die tige Finanzierung ist notwendig. Verhandlungen bei der IGWG sind abgeschlossen, und die WHO hat bereits letzte Woche einen Beschluss bezüg- Nach Angaben von Ärzte ohne Grenzen wurden im lich alternativer Forschungsanreize verabschiedet. In Jahr 2007 in Deutschland insgesamt nur 20,7 Millionen der Koalition haben wir zum Glück diese Problematik Euro für die Forschungsförderung im Bereich der Tuber- rechtzeitig aufgegriffen und für eine größere politische kulose, Malaria und vernachlässigten Krankheiten aus- Aufmerksamkeit in diesem Haus gesorgt. gegeben. Im Vergleich: In Großbritannien soll die Unter- stützung von Forschung und Entwicklung im Bereich der Zurück zu dem Antrag der Koalition. Dort reden wir vernachlässigten Forschungsbereiche – einschließlich von fehlender Forschung und Innovation. Der Zugang zu der vernachlässigten Krankheiten – durch die nationale vorhandenen patentgeschützten Medikamenten muss je- Entwicklungsorganisation DFID eine Milliarde Pfund doch ebenfalls erleichtert werden. Einige Firmen sind – 1,25 Milliarden Euro – für die nächsten fünf Jahre be- hier einsichtiger als andere. Die TRIPS-Abkommen er- tragen. Dort soll für die Förderung von Gesundheit der möglichen es bereits jetzt grundsätzlich, dass arme Län- aktuelle jährliche Betrag von 50 Millionen Pfund ab dem der auch patentgeschütze Medikamente nachproduzie- nächsten Jahr erhöht werden. Die Briten wollen neben ren. Die bisherige Erfahrung zeigt aber, dass dies nur Produktentwicklungspartnerschaften auch Aufkaufsver- mühsam funktioniert. Als Thailand als erstes Land Nut- pflichtungen als Anreiz für die Forschung einsetzen. zung von diesem Recht machte, war die Reaktion der In- Diese dargestellten Summen sind sehr hoch im Vergleich dustrie feindlich aggressiv – man fürchtete dieses mutige zu Deutschlands Aktivitäten. Beispiel. Es darf nicht sein, dass die Wirtschaft und sogar der EU-Kommissar Mandelson den armen Ländern den (B) Unser Antrag fordert weiter eine alternative Preisge- (D) Zugang zu ihren im TRIPS-Abkommen zugesicherten staltung. Einige machen das schon – positive Beispiele Möglichkeiten erschweren oder verweigern. habe ich bereits genannt –, andere sperren sich. Das heißt, man soll den Pharmaunternehmen andere Anreize Weiterhin soll die Produktion von Arzneimitteln durch geben, die sie dazu motivieren, auch für bis jetzt nicht lu- die Entwicklungsländer selbst vermehrt ermöglicht wer- krative Märkte ihr schöpferisches Denken und ihr Know- den. In Ländern wie Indien, das noch vor einigen Jahren how einzusetzen. Hier soll und muss natürlich Geld ver- ein armes Land war, sind Technologie und Wissen hierfür dient werden. Die Frage ist allerdings, welche Anreize zunehmend verfügbar. Das ist jedoch noch längst nicht wir dazu setzen. Viele Möglichkeiten habe ich bereits er- überall möglich. Der Zugang zum klinischen Know-how, wähnt. die Verbesserung der klinischen Kapazitäten, die Verbes- serung des Forschungspotenzials der Entwicklungslän- Öffentlich-private Partnerschaften bieten auch eine besonders erfolgreiche Alternative. Solche Bündnisse der: Das sind Maßnahmen, auf deren Umsetzung Deutschland hinwirken soll. bringen Pharmafirmen, Forschungsinstitute von Univer- sitäten und Nichtregierungsorganisationen zusammen. Wir sprechen über den Standort Deutschland. Die Ini- Die Organisation DNDi – Drugs for Neglected Diseases tiative „Deutschland – Land der Ideen“ preist den Ge- initiative – führte beispielsweise bereits erfolgreich zwei dankenreichtum, die Kreativität und die Schöpferkraft Kombinationspräparate gegen Malaria patientenfreund- unseres Landes an. Aber diese Ideen, dieser Einfalls- lich und preiswert in den Markt ein. Das erste Präparat reichtum beinhalten auch eine tiefe Verantwortung: Wir behandelt Malariafälle in Afrika. Mit dem zweiten lassen dürfen unser Wissen und Können nicht denen vorenthal- sich viele Malariafälle in Lateinamerika und Südostasien ten, die ohne es zugrunde gehen würden. behandeln. Ab nächstes Jahr soll es in Brasilien kostenlos verteilt werden. Es zeigt, dass die Entwicklung neuer Me- Dr. Karl Addicks (FDP): dikamente auch ohne Patentschutz möglich ist. Vor acht Jahren hat sich die internationale Gemein- Ich freue mich, dass die FDP in ihrem Antrag auch schaft mit den acht Millennium Development Goals eine ähnliche Position vertritt, was die Notwendigkeit (MDGs) zu verstärkten Anstrengungen im Bereich der neuer Forschungsanreize für die Pharmaindustrie be- Entwicklungszusammenarbeit bis zum Jahr 2015 ver- trifft. Aber nirgendwo wird das grundsätzliche Problem pflichtet. Drei der acht MDGs haben die Verbesserung erwähnt: die Realwirkung des Patentsystems auf die Ge- der Gesundheit in Entwicklungsländern zum Ziel: Die sundheit von armen Menschen. Offenbar scheint es der Verringerung der Kindersterblichkeit, die Verbesserung FDP in ihrem Antrag wichtiger zu sein, die Pharmaindus- der Gesundheit der Mütter sowie die Bekämpfung von

Zu Protokoll gegebene Reden 17280 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008

Dr. Karl Addicks (A) HIV/Aids, Malaria und von anderen übertragbaren kämpfung von tropischen Armutskrankheiten ist dringend (C) Krankheiten. Nun haben wir noch sieben Jahre, bis wir vonnöten. Aus der Wissenschaft und Wirtschaft wird im- diese Ziele erreicht haben wollen. Halbzeit! Zeit, Bilanz mer wieder auf die ungeklärten Zuständigkeiten bei den zu ziehen. Leider sieht diese Bilanz wenig erfreulich aus. beteiligten Ministerien (BMZ, BMG und BMBF) hinge- Wir haben es heute wieder im Ausschuss gehört, die Er- wiesen. Wir fordern ganz klar die Bundesregierung auf, in reichung der MDGs rückt in immer weitere Ferne, ob nun diesem Bereich ihrer Verantwortung gerecht zu werden. bei HIV/Aids, Malaria oder Tuberkulose. Die meisten Entwicklungsländer machen nicht die gewünschten Fort- Lassen Sie mich noch einen sehr wichtigen Punkt in schritte, einige sogar Rückschritte. Keines der acht diesem Zusammenhang erwähnen: Nicht nur die Geber- MDG-Ziele wird in Subsahara-Afrika erreicht werden. länder sehe ich hier in der Verantwortung, sondern auch Insbesondere im Bereich der Reduzierung der Kinder- die Nehmerländer. So haben die Mehrheit der afrikani- und Müttersterblichkeit wartet noch viel Arbeit auf uns. schen Länder die Abuja-Erklärung von 2001, mindestens 15 Prozent ihrer nationalen Haushalte für den Bereich Das Leben der Kinder ist laut des UNICEF-Berichts Gesundheit auszugeben, immer noch nicht ansatzweise zur Lage der Kinder in der Welt von 2008 am stärksten umgesetzt. Dazu gehört auch, dass die in den letzten Jah- gefährdet, insbesondere in Subsahara-Afrika! Durch- ren stark vernachlässigten eigenen Forschungs- und Ent- schnittlich liegt die Kindersterblichkeit bei 160 Todesfäl- wicklungsanstrengungen wieder ausgebaut werden. len pro 1 000 Lebendgeburten. Jedes sechste Kind stirbt Hinzu kommen die immer noch schwachen und schlecht vor dem Erreichen des fünften Lebensjahrs, viele an tro- ausgebauten Gesundheitssysteme, die einen Zugang für pischen Krankheiten. Allein durch HIV/Aids, Malaria viele Menschen zu vorhandenen Medikamenten unmög- und Tuberkulose und andere tropische Krankheiten ge- lich machen. Korruption ist in diesem Zusammenhang hen jedes Jahr 140 Millionen Lebensjahre in Gesundheit nur ein weiteres Stichwort. verloren. Hinzu kommen Sterbefälle durch vermeidbare und leicht behandelbare Krankheiten wie Durchfall- Tropische Armutskrankheiten führen zu einer Vermin- erkrankungen, hervorgerufen durch schlechte oder nicht derung der Lebenserwartung und treffen gerade die Al- vorhandene sanitäre Einrichtungen. Eine bisher wenig tersgruppen im arbeitsfähigen Alter, die besonders pro- beachtete Todesursache stellen armutsbedingte Tropen- duktiv sind. Die Förderung von Gesundheit ist damit krankheiten wie Flussblindheit, Dengue-Fieber oder nicht nur eine moralische Verpflichtung, sondern auch auch die Schlafkrankheit dar. Wenn auch nicht immer le- ein Beitrag zur wirtschaftlichen Entwicklung dieser Län- bensbedrohlich, sind diese Krankheiten mit viel Leid, Be- der. Die Bundesregierung hat sich zu ihrer internationa- hinderungen und Beeinträchtigungen im Alltag der Be- len Verantwortung bekannt, die Gesundheit in Entwick- troffenen verbunden. Die Zahl der Menschen, die unter lungsländern zu verbessern. Sie sollte es nun endlich in (B) tropischen Krankheiten leiden, ist erschreckend hoch und die Tat umsetzen. (D) vielen nicht bewusst: Eine Milliarde Menschen leidet un- ter tropischen Krankheiten. Für die meisten gibt es bisher Monika Knoche (DIE LINKE): noch keine oder nur unzureichende Therapiemöglichkei- Wie schon zu anderen drängenden Fragen der Ge- ten. sundheitssituation in armen Ländern legen auch heute Derzeit sind die Forschungs- und Entwicklungsan- die Regierungsfraktionen der CDU/CSU und der SPD ei- strengungen für viele dieser Krankheiten noch nicht in nen beachtenswerten Antrag vor. Es geht um das für Mil- dem Maße aufgenommen worden, wie sie vonnöten wä- lionen Menschen dieser Welt so zentrale Problem, dass ren, um eine umfassende Gesundheitsversorgung zu ge- sie keine oder keine adäquate Medizin zur Verfügung ha- währleisten. Gleichwohl sind aber erste Bestrebungen, ben, um selbst leicht behandelbare oder heilbare Krank- auch aus der Wirtschaft, zu erkennen, die Forschung an heiten vermeiden zu können. und die Entwicklung von Medikamenten für Malaria und Es ist richtig, deutlich darauf hinzuweisen, dass eine auch Tropenkrankheiten zu verbessern. Angesichts der Vielzahl der Gründe für die mangelhafte oder nicht exis- gewaltigen Herausforderung im Bereich der Wirkstoff- tente Versorgungslage in den betreffenden Ländern nicht forschung müssen die Privatwirtschaft und die Politik ge- selbstverschuldet ist. Es ist gut, dass deutlich wird, wie meinsam nach neuen Möglichkeiten suchen, um diese wir als reiche und forschungspotente Staaten dazu beitra- Herausforderungen zu bewältigen. Nur wenn alle Part- gen können und müssen, unverzüglich die Barrieren zu ner – Politik, Wirtschaft und Wissenschaft – international beseitigen, die die Ausprägung guter Gesundheitsversor- gemeinsam an dieser Herausforderung arbeiten, wird gungsstrukturen beschränken. Denn wir wissen viel, auch nachhaltig eine Verbesserung der Lage zu erreichen sein. darüber, dass insbesondere der Klimawandel, verursacht Dabei dürfen wir auch neue Modelle der Forschungs- durch die Industrienationen, noch massiv auf die Verbrei- förderung nicht außer Acht lassen: Ein internationaler tung der Neglected Deseases einwirken wird. Forschungsfonds, der öffentliche und private Geldgeber Umso größer ist also unsere Verantwortung dafür, dass mit wissenschaftlicher Expertise vereint, um die For- die am meisten unter dieser Wohlstands- und Wachstums- schung und Entwicklung an tropischen Armutskrankhei- fixierung Leidenden Infrastrukturhilfe und Medikamen- ten zu verbessern, wird derzeit diskutiert. Auch die tenversorgung bekommen, die sie aus eigener Kraft nicht stärkere Nutzung von Public-Private-Partnership-Mo- generieren können. dellen, wie Product Development Partnerships (PDPs), müssen stärker genutzt und gefördert werden. Aber auch Insofern ist die Liste der Vorschläge, die im Antrag ge- eine kohärente Strategie der Bundesregierung bei der Be- macht werden, zwar nicht abschließend. Wenn die Regie-

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008 17281

Monika Knoche (A) rung jedoch die Kraft aufbringt, die vorgeschlagenen ent- gänglichen öffentlichen Gesundheitsversorgung zu ver- (C) wicklungspolitischen Initiativen umzusetzen, könnten wir helfen. dazu nur gratulieren. Ich möchte nicht, dass die Entwicklung und Verfügbar- Doch eines ist auch klar: Solange das Patentrecht die keit neuer Therapien und bezahlbarer Medikamente vom Forschung und die Pharmaproduktion beherrscht, wird Good Will einzelner Wirtschaftsunternehmen abhängig es eine Lösung der Probleme der mangelnden Medika- wird. mentenzugänge und Profitkalkulationen bei der Erfor- schung von neuen Medikamenten, Impfungen und der Dementgegen ist es eine Forderung an die Wirtschaft, Entwicklung von angepassten Behandlungskonzepten die Bereitstellung und Förderung von Gesundheitsver- nicht geben. Auch Diagnostiken werden patentiert, was sorgung in den Ländern, in denen sie sich niederlassen, einen Eingriff in die ärztliche Freiheit darstellt. zu gewährleisten, und eben nicht auf Sonderwirtschafts- zonen zu drängen, in denen sie steuerfrei Geschäfte täti- Das TRIPS-Abkommen ist ein schwerer Sündenfall der gen können. internationalen Politik. Denn neue Medikamente sind oft 20 Jahre für die Patenthalter vor Nachahmung geschützt. Nehmen wir bei der weiteren Behandlung dieses An- Weltweit haben sich die Pharmakonzerne ihre Patente ge- trags also auch wirtschaftsfreiheitsbegrenzende Konzep- sichert. So hat man Indien gegenüber versucht, über den tionen auf; denn das Grundanliegen und die richtige Pro- Weg von Patentanträgen den Export von preiswerten blembeschreibung ermöglichen es allemal, hier im Haus Nachahmerprodukten zu verwehren. Genauso unfassbar Gemeinsames voranzubringen. ist, dass die EU diese Handelspolitik vorantreibt, wie mit Drohungen gegenüber Thailand geschehen. Ute Koczy (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Es ist erfreulich, wie stark in den letzten Wochen und Auch die weltweit grassierende Wettbewerbs- und Monaten die Aufmerksamkeit für die sogenannten ver- Marktideologie bewirkt einen Druck, das Grundnah- nachlässigten Krankheiten zugenommen hat. Das ist zum rungsmittel Wasser zur privatwirtschaftlich gehandelten einen der entschiedenen Lobbyarbeit verschiedener, in Ware zu machen. Es ist nicht vorstellbar, was das für diesem Bereich sehr engagierter Nichtregierungsorgani- Menschen bedeutet, die heute schon keinen Zugang zu sationen zu verdanken. Zum anderen gibt es – und das sauberem Wasser haben – eben eine der größten Ursa- finde ich hocherfreulich – ein fraktionsübergreifendes chen dafür, dass Menschen in anderen Ländern aufgrund Bewusstsein in unserem Ausschuss für dieses Thema. schlechten Wassers an absolut vermeidbaren Krankhei- ten sterben müssen. Ich stelle fest, dass es sehr viele Übereinstimmungen zwischen unserer Position und denen der anderen Frak- Jeglicher Druck vonseiten internationaler Geldgeber (B) tionen im Deutschen Bundestag gibt. Meine Fraktion (D) muss aufhören, Wasserversorgungssysteme und Wasser kann sich in vielen Punkten der beiden Anträge, die hier zu privatisieren. Ich möchte mit meinen Äußerungen auf- zur Abstimmung stehen, wiederfinden. Trotzdem werden zeigen, dass europäische Wirtschaftspolitik und interna- sich Bündnis 90/Die Grünen zu beiden Anträgen enthal- tional völkerrechtlich verbindliche Verträge wie das ten. TRIPS-Abkommen ursächlich dazu beitragen, die Ge- sundheitslage der Menschen in armen Ländern drama- Etwa eine Milliarde Menschen leidet unter tropischen tisch zu verschlechtern. Krankheiten. Krankheiten, die in unseren Breitengraden nicht vorkommen und den wenigstens überhaupt bekannt Auch unseren Krankenkassen und Beitragszahlenden sind. Die Weltgesundheitsorganisation WHO listet insge- im eigenen Land täte es gut, würde das Patentrecht in der samt 14 dieser Krankheiten, wie zum Beispiel Flussblind- heutigen Form überwunden und stattdessen Preise für In- heit oder Schlafkrankheit. Ich möchte betonen, dass es novationen vergeben, die die Forschungsaktivitäten be- außer diesen Seuchen noch zwei weitere Krankheiten lohnen. gibt, die vernachlässigt werden: Malaria und Tuberku- Ich fordere die Koalitionsfraktionen auf, eine inter- lose. Alle diese Krankheiten haben eines gemeinsam: Die ministerielle Arbeitsgruppe einzurichten, um die in dieser Erkrankten sind in der überwältigenden Mehrzahl arme Frage divergierenden Interessen zu überwinden, und ei- Menschen in den Entwicklungsländern Afrikas, Asiens nen qualifizierten Stab aus BMZ, BMBF und BMG zur und Lateinamerikas und verursachen dort immenses Bekämpfung von vernachlässigten Krankheiten – übri- Leid. Trotzdem hat die pharmazeutische Forschung diese gens gibt es diese auch in westlichen Ländern – und Ar- Erkrankungen vernachlässigt. Denn arme Menschen bie- mutskrankheiten zu schaffen. ten keinen lukrativen Markt für teuer erforschte Medika- mente. Zentral ist jedoch: Die Kompetenz und Führungszu- ständigkeit für Gesundheitsprogramme und Prävention Was gilt es aus unserer Sicht zu tun, um diese Situation soll in jedem Staat dieser Erde in der Hand des Staats lie- zu verändern? Wir sagen: Die Forschung muss vorange- gen. Die Idee der Public-Private-Partnerships ist bracht werden durch öffentliche Förderung in den hoch zweifelsohne aus der Not geboren. Mag es auch Spenden- entwickelten und wohlhabenden Industrieländern, die programme aus der Wirtschaft geben, die positiven Ein- sich zu den Entwicklungszielen der UN bekannt haben. fluss auf die Medikamentenversorgung bei Aids, Malaria, Öffentliche Forschungsinstitute, und davon haben wir in Tuberkulose und Tropenkranheiten haben, so ist es aus Deutschland viele renommierte, brauchen die finanzielle unserer Sicht vordringlich, arme Länder durch gezielte Unterstützung und die politische Vorgabe, um zu tropi- Budgethilfe zum Auf- und Ausbau einer allgemein zu- schen Armutskrankheiten zu forschen. Darüber hinaus

Zu Protokoll gegebene Reden 17282 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008

Ute Koczy (A) gilt es, die schon jetzt sehr erfolgreichen Product Deve- CDU/CSU und SPD auf Drucksache 16/8884 anzuneh- (C) lopment Partnerships zu fördern und darüber hinaus in- men. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer novative Forschungsanreize zu setzen. Ich denke da zum stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp- Beispiel an Forschungsprämien. Der Aspekt der öffentli- fehlung ist mit den Stimmen von SPD und CDU/CSU chen Forschung und die sehr zurückhaltende Rolle bei Gegenstimmen der Fraktion der FDP und Enthaltun- Deutschlands dabei kommen leider in dem Antrag der gen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der Frak- Koalitionsfraktionen viel zu kurz. Das ist ein gewichtiger tion Die Linke angenommen. Grund für die Enthaltung der Grünen bei diesem Antrag. Zusatzpunkt 6: Wir kommen zur Abstimmung über den In dem Antrag der FDP-Fraktion wird die Frage des Antrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/9309. Zugangs zu Forschungsergebnissen nicht thematisiert. Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Das ist ein großes Manko. Um das Leid durch die tropi- Enthaltungen? – Der Antrag ist mit den Stimmen der schen Armutskrankheiten ernsthaft zu mindern, muss Fraktion Die Linke, SPD und CDU/CSU bei Enthaltung Forschung und Entwicklung auf der einen Seite und der der Grünen und Gegenstimmen der Fraktion der FDP ab- Zugang zu den Ergebnissen und Produkten auf der ande- gelehnt. ren Seite unbedingt zusammen gedacht werden. Das be- deutet, dass die Ergebnisse öffentlich finanzierter For- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 28 auf: schung direkt und ohne Wenn und Aber frei zugänglich sein müssen, so, wie es die Product Development Part- Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- nership „Drugs on Neglected Diseases initiative“ richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz – DNDi – mit der Entwicklung ihres innovativen Mala- und Reaktorsicherheit (16. Ausschuss) riamedikaments vorgemacht hat. Und bei lebensnotwen- – zu dem Antrag der Abgeordneten Michael digen Medikamenten, die Pharmaunternehmen entwi- Kauch, Gudrun Kopp, Angelika Brunkhorst, ckelt haben und dem Patenschutz unterliegen, müssen die weiterer Abgeordneter und der Fraktion der Möglichkeiten des TRIPS-Abkommens besser greifen. FDP Damit Entwicklungsländer von ihrem Recht Gebrauch Vorschlag der EU-Kommission für den machen können, über Zwangslizenzen verbilligte Medi- Emissionshandel nach 2012 überarbeiten – kamente für ihre Bevölkerung herzustellen oder herstel- Klima schützen, Stromverbraucher entlas- len zu lassen, brauchen sie sowohl technische wie auch ten, Wettbewerb stärken die politische Unterstützung. Beides kann Deutschland leisten und sollte es auch leisten. Da diese für unsere – zu der Unterrichtung durch die Bundesregie- (B) Fraktion wichtigen Punkte fehlen, werden sich Bünd- rung (D) nis 90/Die Grünen bei dem Antrag der FDP Fraktion ent- halten. Vorschlag für eine Richtlinie des Europäi- schen Parlaments und des Rates zur Ände- Die Zeichen stehen gut für eine Wende bei der For- rung der Richtlinie 2003/87/EG zwecks Ver- schung und Entwicklung von Therapien für die tropischen besserung und Ausweitung des EU-Systems Armutskrankheiten. Wir können die vernachlässigten für den Handel mit Treibhausgasemissions- Krankheiten nicht alleine der marktgesteuerten pharma- zertifikaten (inkl. 5862/08 ADD 1 bis 5862/08 zeutischen Forschung überlassen. Das hat auch die ADD 3) Weltgesundheitsorganisation erkannt und 2006 eine Ar- KOM (2008)16 endg.; Ratsdok. 5862/08 beitsgruppe eingerichtet, die die Situation zu den Armuts- krankheiten eruiert und Lösungsvorschläge erarbeitet – Drucksachen 16/8075, 16/8455 Nr. A.16, hat. 16/9334 – Auf der WHO-Generalversammlung in der vergange- Berichterstattung: nen Woche in Genf wurden die Ergebnisse dieser Arbeits- Abgeordnete Andreas Jung (Konstanz) gruppe angenommen. Das ist ein enorm wichtiger Schritt Frank Schwabe für die Bekämpfung der vernachlässigten Krankheiten. Michael Kauch Und es ist ein Signal, dass die Staaten gemeinsam diese Eva Bulling-Schröter wichtige Aufgabe angehen müssen. Jetzt gilt es, die Be- Bärbel Höhn schlüsse aus dem WHO-Prozess politisch auszugestalten und mit Leben zu füllen. Lassen Sie uns daran gemeinsam Zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung liegt arbeiten und die Bundesregierung in die Pflicht nehmen, jeweils ein Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke sich substanziell an neuen innovativen Forschungsinstru- und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor. menten zu beteiligen. Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um die Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Reden folgender Kolleginnen und Kollegen: Andreas Wir kommen zur Abstimmung. Tagesordnungspunkt 27: Jung, CDU/CSU, Frank Schwabe, SPD, Gabriele Der Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Groneberg, SPD, Michael Kauch, FDP, Eva Bulling- Entwicklung empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung Schröter, Die Linke, und Bärbel Höhn, Bündnis 90/ auf Drucksache 16/9320, den Antrag der Fraktionen von Die Grünen. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008 17283

(A) Andreas Jung (Konstanz) (CDU/CSU): schaftlichste Weg zur Erreichung der Klimaschutzziele (C) Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion bekennt sich zu beschritten wird. Um die Voraussetzung für einen Ausbau den Klimazielen, die im Paket, das die Europäische Kom- der Instrumente zu schaffen, sind zeitnah Maßnahmen mission am 23. Januar 2008 vorgestellt hat, enthalten umzusetzen, die sicherstellen, dass alle genehmigten Pro- sind: zur Reduzierung der Treibhausgasemissionen in der jekte den an sie zu stellenden Kriterien, insbesondere der EU bis 2020 um 20 Prozent gegenüber 1990 und um Zusätzlichkeit, gerecht werden. 30 Prozent für den Fall, dass ein wirksames internationa- Schließlich ist die Union der Auffassung, dass die kon- les Klimaschutzabkommen verabschiedet wird. krete Ausgestaltung der ab 2013 anzuwendenden Zutei- Vor diesem Hintergrund ist die Weiterentwicklung des lungsmethoden bereits in der Richtlinie selbst festgelegt europäischen Emissionshandels unerlässlich. Ihm kommt wird. Dies ist anzustreben, da Investitionsentscheidungen eine doppelte Bedeutung zu: Das Erreichen der Klima- langfristig getroffen werden und die erforderliche Pla- ziele sicherzustellen sowie das europäische Emissions- nungssicherheit durch eine Entscheidung erst 2011 be- handelssystem als Vorbild für andere Regionen der Welt einträchtigt würde. zu etablieren. Die Haltung der Unionsfraktion zu den Punkten im Frank Schwabe (SPD): Einzelnen wird im Entschließungsantrag der Koalitions- Die Fakten sind eindeutig. Die globale Temperatur fraktionen, der im Umweltausschuss am 7. Mai 2008 be- steigt, die Weltbevölkerung nimmt zu, Weltwirtschaft und schlossen wurde, deutlich. Industrialisierung erfassen jeden Winkel dieser Erde. Da- mit steigen der weltweite Energiehunger und – inzwi- Wir begrüßen die Einführung europaweit einheitlicher schen auf breiter Front – die Energiepreise. Die Glet- Allokationsmethoden. Dies ist ein Beitrag zur Verhinde- scher schmelzen in nie gekannter Geschwindigkeit, und rung von Wettbewerbsverzerrungen zwischen den Mit- die Wüstenbildung schreitet voran. gliedstaaten der EU. Die einzelnen Regeln stellen sicher, dass nicht mehr jene Staaten, die, wie Deutschland, die Deswegen begrüßen wir den Vorschlag der Europäi- Vorgaben des Emissionshandels konsequent umsetzen, schen Kommission vom 23. Januar, in dem die Kommis- gegenüber anderen benachteiligt werden. sion vorgeschlagen hat, dass die Europäische Union bis 2020 mindestens 20 Prozent der Treibhausgase gegen- Wir fordern die Bundesregierung auf, im Rahmen der über 1990 einsparen wird und 20 Prozent des Endener- Verhandlungen sicherzustellen, dass auch im Rahmen des gieverbrauchs aus erneuerbaren Energien decken wird. Effort-sharings Verzerrungen vermieden werden. Sowohl Bei Abschluss internationaler Klimaschutzvereinbarun- hohe kohlenstoffbasierte Stromerzeugungsanteile der gen wird die EU 30 Prozent Treibhausgase einsparen. Mitgliedstaaten sind daher zu berücksichtigen als auch (B) Des Weiteren begrüßt die SPD die Vorschläge der EU- (D) die bereits erbrachten Vorleistungen. Kommission zur Aufteilung der Verantwortung zur CO2- An der vorgeschlagenen 100-prozentigen Auktionie- Reduktion, die Vorschläge zum Emissionshandel, für den rung in der Stromwirtschaft soll festgehalten werden. Kri- Ausbau der erneuerbaren Energien sowie den Vorschlag tisch steht die Union dagegen einer Auktionierung im Be- zur Speicherung von CO2. Auch die Vorschläge zur Redu- reich des produzierenden Gewerbes gegenüber. Beim zierung des CO2-Ausstoßes sind wegweisend. Ich glaube, Zustandekommen eines internationalen Klimaabkom- es ist notwendig, dass wir bei aller Kritik im Detail beto- mens, das tatsächlich weltweit vergleichbare Rahmenbe- nen, dass die Vorschläge, die die Kommission vorgelegt dingungen für die im Wettbewerb stehenden Unterneh- hat, hervorragend sind. men sicherstellt, würde hierin ein Nachteil für Diese Vorschläge verdienen Deutschlands Unterstüt- europäische Unternehmen zu sehen sein. Konsequenz zung, und diese Unterstützung hat der Umweltausschuss könnte die Abwanderung dieser Unternehmen sein, die des Deutschen Bundestages schon bekundet. Am 7. Mai letztlich dem Klimaschutz nicht dienen, dem Wirtschafts- hat der Umweltausschuss mit seiner Mehrheit den Antrag standort aber schaden würde. von CDU/CSU und SPD angenommen, in dem er begrüßt, Für Veränderungen gegenüber dem Kommissionsvor- dass mit dem vorgelegten Richtlinienentwurf die Schwä- schlag setzen wir uns bei der Verwendung der Auktionie- chen des bestehenden Emissionshandelssystems aufge- rungserlöse ein. Die Mittel müssen in vollem Umfang und griffen und angegangen werden. Besonders möchte ich ohne jegliche Zweckbindung dem Mitgliedstaat zufließen, hervorheben, dass sich die Koalitionsfraktionen darauf in dem sie generiert werden. Ansonsten würde die Auk- geeinigt haben, die CO2-Zertifikate im Energiebereich zu tionierung zu einem Umverteilungsinstrument zulasten 100 Prozent zu versteigern. Dieser Punkt ist äußerst Deutschlands. Wir sind der Auffassung, dass zumindest wichtig, um die Stromwirtschaft in die Verantwortung zu ein erheblicher Anteil dieser Erlöse sodann zur Senkung nehmen. So wird in Zukunft unterbunden, dass die Strom- der Energiekosten einzusetzen ist. Für wichtig halten wir, wirtschaft Zertifikate geschenkt bekommt, diese dann dass jene Zertifikate, die nicht versteigert werden, an- aber in den Strompreis einbezieht und so unverdiente Mil- hand von BAT-Benchmarks verteilt werden. Dies sorgt liardenprofite einstreicht. dafür, dass effiziente Anlagen privilegiert werden und Es ist mutig, dass das elende Gefeilsche um die natio- dass neue Investitionen angestoßen werden. nalen Allokationspläne beendet wird. Es wird jetzt eine Die Union spricht sich für eine stärkere Berücksichti- Einheitlichkeit in Europa geben, durch die Wettbewerbs- gung der flexiblen Instrumente CDM und Jl aus. Die verzerrungen zumindest teilweise vermieden werden. Die Nutzung dieser Instrumente stellt sicher, dass der wirt- Unternehmen bekommen dadurch, dass die 3. Handels-

Zu Protokoll gegebene Reden 17284 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008

Frank Schwabe (A) periode länger dauern wird, Planungssicherheit. Auch ist anliegen der Sozialdemokratie, der sozialen Gerechtig- (C) zu erwähnen, dass in Zukunft weitere Treibhausgase in keit, verbinden. den Emissionshandel einbezogen werden. Endlich wird es einen Verzicht auf 27 verschiedene Obergrenzen für die Wir wissen, dass wir je nach Region ganz unterschied- lich vom Klimawandel betroffen sein werden. Aber wie CO2-Emissionen aus der Stromproduktion in den Mit- gliedstaaten geben und stattdessen die Einführung eines trifft es die Menschen in ihrer jeweiligen Lebenssitua- tion? Wer wird sich wie anpassen müssen? Was muss die einheitlichen Cap für die CO2-Emissionen aus der Strom- produktion für ganz Europa und das Ziel einer 100-pro- Politik tun, um die Auswirkungen abzufedern? Ist es ge- zentigen Auktionierung in der 3. Handelsperiode. recht, dass zukünftige Generationen die Lasten des Kli- mawandels tragen müssen, die von uns gestern und heute Besonders gut finde ich, dass sich die EU-Kommission verursacht worden sind? In jedem Fall müssen die An- klar zu einer 30-prozentigen Senkung des CO2-Ausstoßes strengungen beim Klimaschutz gerecht verteilt werden. bis 2020 bekennt. In der konkreten Ausarbeitung der Vor- Kann es richtig sein, dass die Menschen ihren Teil zum schläge wird von einer Senkung um 20 Prozent ausgegan- Klimaschutz leisten, die Unternehmen demgegenüber die gen; es ist aber eine Klausel eingebaut, die deutlich Standortfrage stellen und die Kosten für den Klimaschutz macht, dass wir eigentlich eine Senkung um 30 Prozent auf den Verbraucher abgewälzt werden? Auf diese und wollen. Damit die Europäische Union in den internatio- andere Fragen müssen wir Antworten finden. nalen Verhandlungen glaubwürdig bleibt, ist es wichtig, dass ihre Maßnahmenprogramme nicht nur das einseitig Wir haben jetzt zweierlei zu tun: Zum einen müssen wir von der EU erklärte Ziel einer 20-prozentigen Minderung in der nationalen Debatte für Glaubwürdigkeit sorgen der Treibhausgasemissionen bis 2020 gegenüber dem und die Meseberg-Beschlüsse so umsetzen, dass es zu ei- Jahr 1990 abbilden. Die EU muss, um glaubwürdig für ner wirklich effektiven Gesetzgebung kommt. Das Klima- die internationalen Klimaschutzverhandlungen zu blei- paket der Bundesregierung darf nicht zur Luftnummer ben, gleichzeitig auch die Maßnahmen abbilden, die es werden. Das sage ich vor allem Richtung von Wirtschafts- ihr erlauben, im Fall des Erfolgs der Verhandlungen auf minister Glos. Zum anderen haben wir als Große Koali- das 30-prozentige Minderungsziel der Industriestaaten tion – das sage ich ausdrücklich – die Aufgabe, gemein- zu kommen. Die Bundesregierung wird sich deshalb in ih- sam zu überlegen, wie wir das, was wir in Meseberg rer Zielsetzung auch von diesem Ziel leiten lassen und beschlossen haben, noch steigern können, bis wir das hält deshalb in ihrer nationalen Klimaschutzpolitik am 40-Prozent-Ziel erreicht haben, welches wir uns gemein- Ziel einer 40-prozentigen Senkung der Treibhausgase sam vorgenommen haben. Das kann aber nur gelingen, fest, um ein 30-prozentiges EU-Ziel weiterhin zu ermög- wenn wir als Koalition gemeinsam arbeiten und nicht ge- lichen. Der Flugverkehr wird in den Emissionshandel geneinander. (B) einbezogen. Der für CCS vorgeschlagene Rechtsrahmen (D) ist eine gute Basis für die geplanten Pilotprojekte. Gabriele Groneberg (SPD): Gleichzeitig habe ich – nach dem derzeitigen Stand – Der Emissionshandel hat sich als Klimaschutzinstru- Bedenken in folgenden Punkten: Bislang fehlen weitge- ment in Europa etabliert und bewährt, auch wenn es Ver- hend Vorschläge, wie wir das Ziel einer 20-prozentigen besserungsmöglichkeiten gibt. Zum ersten Mal wird in- Steigerung der Energieeffizienz in Europa erreichen wol- nerhalb eines Handelssystems dem CO2-Ausstoß ein len. Die EU-Kommission muss dazu Vorschläge vorlegen, Geldwert zugeordnet. Das heißt, die Luftverschmutzung die insbesondere dynamische Effizienzstandards wie das wird marktwirtschaftlich relevant. Dieses System ist nicht Top-Runner-Modell in Europa ermöglichen. Als zweiten nur innovativ, es ist auch flexibel. Denn das europäische wichtigen Punkt möchte ich anführen, dass die erfolgrei- Emissionshandelssystem bindet auch die Schwellen- und chen nationalen Fördersysteme wie das deutsche Erneu- Entwicklungsländer mit ein über den sogenannten Clean- erbare-Energien-Gesetz nicht durch einen künstlichen Development-Mechanism. Sicherlich ist es richtig, die Handel mit erneuerbaren Energien gefährdet werden Quote für dieses Instrument EU-weit zu beschränken, um dürfen. ein Unterlaufen der Klimaschutzmaßnahmen in Europa zu vermeiden. Die Folgen der Energie- und Rohstoffentwicklung und der Klimaveränderungen betreffen alle Menschen. Doch Allerdings sehe ich im CDM eine starke entwicklungs- besonders negativ sind die Ärmeren und Schwächeren politische Komponente, denn er bietet die Möglichkeit vom Klimawandel betroffen. Dies gilt vor allem für Entwicklungsländer mit erneuerbaren Energien zu ver- Afrika. Doch auch bei uns in Deutschland treffen stei- sorgen. Vor diesem Hintergrund stelle ich fest, dass nicht gende Energiekosten für die fossilen Energieträger auf in allen Entwicklungsländern dieser Mechanismus glei- soziale Ungleichheit. Deshalb müssen wir uns mit diesem chermaßen zum Einsatz kommt. In Afrika beispielsweise Thema in Zukunft verstärkt befassen und dafür Lösungs- werden nur 3 Prozent aller CDM-Projekte umgesetzt. Im vorschläge beraten. Wir, die Sozialdemokratische Partei, Vergleich zu den sogenannten Rising Powers, wie Indien werden in den nächsten Monaten intensiv darüber disku- und China, gibt es dort nur geringe CO2-Einsparpoten- tieren, wie wir die Energiepreissteigerungen sozial ziale aufgrund des schwach entwickelten Industrie- und gerecht abfedern können. Den Aufschlag für diese Dis- Energiesektors. Da finanzielle Anreize aus den CER-Ein- kussion machen wir schon nächste Woche: Als Bundes- nahmen fehlen, erscheinen Investitionen der Privatwirt- tagsfraktion organisieren wir eine große Konferenz zum schaft auf dem afrikanischen Kontinent wenig attraktiv. Thema Klimaschutz und soziale Gerechtigkeit. Wir möch- Zudem erweist sich die kaum vorhandene institutionelle ten den Klimaschutz mit einem anderen politischen Kern- Infrastruktur als zusätzliche Barriere. Einige Länder

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008 17285

Gabriele Groneberg (A) Afrikas sind außerdem belastet durch Korruption, Kriege in den einzelnen Mitgliedstaaten sehr unterschiedlich. Sie (C) und Unruhen und bieten somit kein stabiles Umfeld, das sollten daher selbst über die Verwendung entscheiden. für die Durchführung von CDM-Projekten notwendig wäre. Die FDP-Bundestagsfraktion schlägt in ihrem Antrag vor, das Geld den Verbraucherinnen und Verbrauchern Gerade eine dezentrale Energieversorgung aber leis- durch eine Senkung oder Abschaffung der Stromsteuer tet einen entscheidenden Beitrag zur Armutsreduzierung. zurückzugeben. Das ist unsere Antwort auf steigende Durch die Ausweitung von Projekten im Bereich erneuer- Energiepreise, die der Staat durch einen zu hohen Steuer- barer Energien im Rahmen des CDM könnte beispiels- anteil an der Energie mitzuverantworten hat. Der Staat weise für Afrika die entwicklungspolitische Komponente ist einer der Preistreiber bei den Energiekosten, wir wol- dieses flexiblen Instruments stärker zum Tragen kommen. len das ändern. Bisher fehlen allerdings Strategien zur Ausweitung des Ein europäisches Emissionshandelssystem muss auch CDM in Afrika, die die dortigen Herausforderungen be- wirtschaftliche Leistungsfähigkeit und Wettbewerbsfä- sonders in den Blick nehmen. higkeit bestimmter Industriezweige beachten. Solange es Eine Intensivierung des CDM ist grundsätzlich zu be- kein globales Klimaschutzabkommen gibt, müssen wir grüßen. Dies gilt vor allen Dingen auch in Hinblick auf gewährleisten, dass diejenigen Unternehmen, die ener- den Anpassungsfonds, der sich aus einer zweiprozentigen gieintensiv produzieren müssen und zugleich im weltwei- Abgabe aus CDM-Projekten speist. Das Interesse und ten Wettbewerb stehen, faire Wettbewerbschancen haben. Engagement der Privatwirtschaft und der Finanzinstitu- Es hilft der Umwelt nicht, wenn Stahl, Papier und Zement tionen wird jedoch durch den bürokratischen Aufwand statt in der EU in China oder der Ukraine produziert wer- und die hohen Transaktionskosten geschmälert und er- den. weist sich bei der Ausweitung der CDM-Projekte als kon- Die Lösung der EU-Kommission, die Emissionsrechte traproduktiv. an Unternehmen, die einer besonderen Wettbewerbs- situation unterliegen, zu verschenken, ist aus unserer Klimaschutz ist nicht nur eine Frage der nationalen, Sicht nur die zweitbeste Lösung. Die FDP schlägt dage- sondern vor allem der globalen Verantwortung. Ich sehe gen vor: Die Emissionsrechte sollen auch an energiein- es als unsere Aufgabe, dass wir bei der Gestaltung und tensive Unternehmen versteigert werden. Allerdings muss Verbesserung der bereits vorhandenen und wirksamen In- das mit einem konsistenten Rückerstattungssystem ver- strumente mitwirken. bunden werden, sodass die Preisanreize des Emissions- handels greifen können, der Steuerungsmechanismus Michael Kauch (FDP): erhalten bleibt und den Branchen nicht das für den Wett- (B) bewerb notwendige Vermögen entzogen wird. Die FDP (D) Europa muss seinen Beitrag zum internationalen Kli- appelliert an die Bundesregierung, unseren Vorschlag als maschutz leisten. Mit der Ratsentscheidung im März Alternative zum Entwurf der Kommission in die Diskus- 2007 hat die EU wichtige Klimaschutzziele beschlossen. sion einzubringen. Bis 2020 sollen die Emissionen um mindestens 20 Prozent gesenkt werden. Die FDP-Bundestagsfraktion begrüßt Geradezu schädlich für das Exportland Deutschland, dies; wir hoffen aber gleichzeitig, dass dies noch nicht aber auch für die ganze EU sind allerdings die Überle- das letzte Wort gewesen ist. Eine Zielmarke von 30 Pro- gungen, Importen aus Nicht-Kioto-Staaten Zölle aufzu- zent ist aus unserer Sicht für einen ambitionierten Klima- erlegen. Dass ein solcher Schritt im Welthandel Gegen- schutz nicht nur notwendig, sondern auch realisierbar. reaktionen herausfordern würde, ist sicher. Zölle – auch zum Zwecke des Klimaschutzes – sind ein Anschlag auf Die Kommission hat nun Richtlinienvorschläge zur den Freihandel und gefährden die Exportwirtschaft in Erreichung dieser Ziele gemacht. Kernstück einer effi- Deutschland und damit Arbeitsplätze in unserem Land. zienten Klimaschutzpolitik ist der Emissionshandel. Al- lerdings kritisieren wir, dass in der aktuellen Vorlage der Wir sehen mit Sorge, dass sich Teile der EU-Kommis- EU die Lastenverteilung zwischen den Mitgliedstaaten sion für diesen Vorschlag offen zeigen. Ein Exportland nicht gerecht ist. Hier wird Deutschland durch das späte wie Deutschland kann es sich aber nicht leisten, seine Basisjahr 2005 massiv benachteiligt. Wir sind der Auffas- wirtschaftlichen Chancen auf den Märkten durch protek- sung, historisch frühzeitige Anstrengungen der Länder im tionistische Maßnahmen zu gefährden. Die Bundesregie- Klimaschutz sollten Berücksichtigung finden. In diesem rung ist aufgefordert, dem insbesondere von Frankreich Sinne ist das Basisjahr 2005 nicht sachgerecht. Doch favorisierten Vorschlag eine klare Absage zu erteilen und auch das ist Teil eines Verteilungskampfes, den wir auf eine Umsetzung zu verhindern. europäischer Ebene erleben. Wir erwarten, dass sich die Bundesregierung in Brüssel deutlich für die Interessen Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE): Deutschlands einsetzt. Dank einem Bericht der Süddeutschen Zeitung vom 22. März sind wir in der Lage, einmal konkret zur deut- Die FDP begrüßt die geplante vollständige Versteige- schen Verhandlungsposition zum Klimaschutzpaket der rung der Emissionszertifikate im Stromsektor. Zusatzpro- EU-Kommission zu reden. fite der Stromkonzerne aus dem Emissionshandel werden damit vermieden. Allerdings ist es falsch, wenn die EU Ich muss schon sagen: Die Position des Bundeswirt- den Mitgliedstaaten die Verwendung der Versteigerungs- schaftsministeriums zum Emissionshandel ab 2013 hat erlöse vorschreiben will. Die Rahmenbedingungen sind mich umgehauen. Da stellt doch Herr Glos in seinen

Zu Protokoll gegebene Reden 17286 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008

Eva Bulling-Schröter (A) Änderungen zum Eckpunktepapier der deutschen Ver- die zwei Kriterien gleichzeitig erfüllen: Erstens. Sie pro- (C) handlungsposition tatsächlich die Versteigerung der duzieren trotz fortschrittlicher Technik sehr energieinten- Emissionsrechte an die Energieversorger infrage – und siv. Zweitens. Sie stehen auch tatsächlich im größeren das nach den bisherigen Erfahrungen. Weil ihnen die Umfang im Wettbewerb mit Unternehmen außerhalb der weitvollen Zertifikate bislang geschenkt wurden, haben EU. die Stromkonzerne in der ersten Handelsperiode 2005 bis 2007 europaweit bis zu 24 Milliarden an Windfall-Profits Das Bundeswirtschaftsministerium – und wohl auch eingefahren. In Phase zwei bis 2012 werden sie nach das BMU – fordert im Eckpunktepapier weiterhin eine Schätzungen noch einmal 14 bis 34 Milliarden Euro Ex- Ausweitung der Anrechenbarkeit von CDM- und JI-Emis- traprofite einstreichen. Und dies soll nun so weitergehen sionsgutschriften. Die Linke ist jedoch froh, dass die An- bis in alle Ewigkeit? rechenbarkeit im Kommissionsentwurf nunmehr stärker begrenzt ist. Wir alle wissen – ich habe das schon ange- Ich sage Ihnen ganz deutlich: Sollten die wertvollen deutet –, dass CDM-Projekte sehr anfällig für Manipula- Emissionsrechte am Ende wiederum verschenkt werden, tionen sind. Die ökologische Integrität ist vielfach nicht dann hat sich das Instrument endgültig diskreditiert. Ich gewährleistet. Es wird in den Projekten im Süden eben kann Ihnen versichern, dass die Linke dann alles daran vielfach nicht das zusätzlich eingespart, was im Norden setzen wird, den Emissionshandel und seine Derivate mit mit den Emissionsgutschriften zusätzlich ausgestoßen aller Kraft zu bekämpfen. Dabei werden wir bei den meis- wird. So wird aus dem Nullsummenspiel eine zusätzliche ten Umweltverbänden Verbündete finden, in der Bevölke- Belastung der Erdatmosphäre. rung sowieso. Bedenken Sie: Mit einer vollständigen Ver- steigerung der Zertifikate – natürlich auf Grundlage Unsere Position zu den Dingen habe ich hiermit um- anspruchsvoller CO2-Minderungsziele – und einer Be- rissen. Sie können sie auch unserem Entschließungs- grenzung der Anrechenbarkeit der missbrauchsanfälli- antrag entnehmen. Die Linke wendet sich dort strikt ge- gen flexiblen Instrumente wie CDM könnten wir einen gen die Aufweichung des Klima- und Energiepakets der Emissionshandel haben, der tatsächlich ein scharfes Kommission durch das BMWi und fordert Wirtschafts- Schwert im Klimaschutz wäre. So wie es jetzt läuft, ist es minister Glos auf, endlich eine konstruktive Haltung im aber die Perversion eines umweltökonomischen Instru- Sinne des Klimaschutzes anzunehmen. ments. Angesichts der Extraprofite sollten die Versorger – nebenbei bemerkt – keinen Cent an öffentlichen In diesem Zusammenhang begrüßen wir, dass sich Geldern für die fragwürdigen CCS-Pilotprojekte der un- Union und SPD im Bundestag in ihrem Ausschussantrag terirdischen Verklappung von Kraftwerksemissionen be- wenigstens zur vollständigen Auktionierung im Energie- kommen. Die können die Unternehmen nämlich aus der sektor bekannt haben. An anderer Stelle greifen sie (B) Portokasse bezahlen. jedoch die Bestimmung an, nach der 20 Prozent der Auk- (D) tionseinnahmen für Klimaschutzmaßnahmen und zur Ab- Doch zurück zu Herrn Glos und seinem Ministerium. federung des Strukturwandels zu verwenden sind. Genau Das BMWi fordert auch zusätzliche Zertifikate für Unter- dies unterstützen wir jedoch. Im Gegenteil, der Anteil nehmen, die AKWs stilllegen. Heißt das etwa, dass an die hierfür könnte noch deutlich steigen. Stelle der AKWs nun Kohlekraftwerke treten sollen? Das lehnen wir ab. Wir sind der Auffassung – und das belegen Letzteres fordern auch die Grünen in ihrem Antrag. auch Studien –, dass bei einem geplanten Atomausstieg Leider haben sie aber die Illusion, dass sich der Miss- keine zusätzlichen Kohlekraftwerke benötigt werden. brauch von CDM durch Reformen vollständig ausschlie- Dazu braucht es aber wirksame Energieeffizienzmaßnah- ßen ließe. Entsprechend fordern sie keine Begrenzung der men und einen deutlichen Ausbau von KWKs und erneu- Anrechenbarkeit. Ich finde, das ist erstens naiv und zwei- erbaren Energien. tens strategischer Unsinn. Im Hinblick auf das produzierende Gewerbe sei laut In der zweiten Handelsperiode lautet das Minderungs- Bundeswirtschaftsministerium „ein vollständiger Ver- ziel der EU im Emissionshandelssektor 107 Millionen zicht auf die Auktionierung erforderlich“. Dies steht Tonnen CO 2. Mehr als das Doppelte, nämlich 221 Mil- ebenfalls dem Vorschlag der EU-Kommission entgegen, lionen Tonnen, können über die flexiblen Instrumente ab- nach dem über entsprechende Sonder- oder Schutzrege- gerechnet werden. Das hat zur Folge, dass in Europa lungen für diesen Sektor erst dann beraten werden soll, künftig mehr Klimagase ausgestoßen werden könnten als wenn klar ist, ob es ein anspruchsvolles internationales jemals zuvor. Selbst wenn jedes einzelne Emissionsrecht Kioto-Nachfolgeabkommen geben wird oder nicht. Gäbe aus CDM und Jl auf echten Klimagaseinsparungen au- es ein solches Abkommen, so würde die außereuropäische ßerhalb Europas beruhen würde, kann dies bei diesen Konkurrenz vergleichbare Lasten zu tragen haben. Dem- entsprechend wäre die Auktionierung kein Nachteil im in- Größenordnungen nur als Hemmschuh für den inner- ternationalen Wettbewerb. Wir folgen dieser Logik. europäischen Strukturwandel hin zu einer kohlenstoff- armen Energieversorgung bezeichnet werden. Der Be- Wird es kein Nachfolgeabkommen geben, kann 2010 ginn einer nachhaltigen Energiewende wird sträflich in immer noch darüber beraten werden, in welcher Weise die Zukunft verschoben. Und tatsächlich: In Österreich besonders betroffenen Branchen geholfen werden kann, beklagen die Grünen gerade, dass die Regierung nur beispielsweise durch einen Klimazoll oder durch teil- 21 Millionen Euro für erneuerbare Energien im Inland weise kostenlose Vergabe der Zertifikate. Dabei kann es ausgeben will, dafür aber 531 Millionen Euro in Klima- aber unserer Ansicht nach nur um jene Branchen gehen, schutzprojekte im Ausland steckt.

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008 17287

Eva Bulling-Schröter (A) Aus diesem Grunde werden wir uns beim Entschlie- abkommen zu lösen, das international faire Wettbewerbs- (C) ßungsantrag der Grünen enthalten. Da die FDP die bedingungen schafft. Nur wenn dies nicht gelingt, sind Anrechnung von CDM sogar ausdehnen will, lehnen wir Sonderregeln und Schutzmaßnahmen für besonders ener- deren Antrag ab. Das Gleiche gilt für die Beschlussemp- gieintensive Branchen gerechtfertigt. Auf jeden Fall soll- fehlung, da die Koalition hier unter anderem fordert, die ten entsprechende Regeln aber so ausgestaltet werden, von der Kommission vorgeschlagene Mittelverwendung dass auch für energieintensive Unternehmen ein wirt- der Auktionseinnahmen für soziale und Umweltschutz- schaftlicher Anreiz zur Minderung ihrer Emissionen ver- zwecke zu beerdigen. Das ist schade, weil die zugrunde bleibt. liegende Entschließung ansonsten zu begrüßen ist. Ein Problem des Emissionshandels, das noch nicht ge- löst ist, liegt im Bereich der projektbasierten Mechanis- Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): men CDM und JI. Umweltverbände haben aufgezeigt, Wir beraten heute über die Vorschläge der EU-Kom- dass viele dieser Projekte nur einen zweifelhaften Nutzen mission zur Weiterentwicklung des Emissionshandels in für den Klimaschutz haben, zum Beispiel weil sie keine der Zeit von 2013 bis 2020 und damit über ein zentrales zusätzlichen Emissionsreduktionen erbringen, die nicht Instrument des Klimaschutzes. Bis 2020 müssen die In- ohnehin auch ohne CDM erfolgt wären. Solche „faulen“ dustriestaaten ihre Treibhausgas-Emissionen um mindes- CDM-Projekte können dazu führen, dass durch den Emis- tens 25 bis 40 Prozent gegenüber dem Jahr 1990 reduzie- sionshandel insgesamt weniger Emissionen eingespart ren, wenn eine langfristige Begrenzung der weltweiten werden als vorgesehen. Deshalb müssen Deutschland Klimaerwärmung auf 2 Grad gelingen soll. Dazu muss und die Europäische Union bei den Verhandlungen über Europa ambitionierter sein, als es die Kommission an- das Kioto-Nachfolgeprotokoll strengere Regeln und bes- strebt. Die EU-Staaten müssen sich ohne Wenn und Aber sere Kontrollen für CDM- und JI-Projekte durchsetzen. zu einer mindestens 30-prozentigen Emissionssenkung Gelingt das nicht, ist eine weitere Ausdehnung der Aner- bis 2020 verpflichten. Entsprechend niedrig müssen die kennung derartiger Projekte nicht zu rechtfertigen. Emissionsobergrenzen für den Emissionshandel in der dritten Handelsperiode festgelegt werden. Hier ist die Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: EU-Kommission wie auch die Bundesregierung nicht ehrgeizig genug. Wir kommen zur Abstimmung über die Entschlie- ßungsanträge. Wer stimmt für den Entschließungsantrag Davon abgesehen gehen die meisten Vorschläge der der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/9370? – Wer Kommission in die richtige Richtung. So ist positiv zu be- stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Entschließungs- werten, dass der internationale Flugverkehr endlich in antrag ist bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke mit den Stimmen des Hauses im Übrigen abgelehnt. (B) den Emissionshandel einbezogen werden soll und dass der (D) Emissionshandel auf bisher nicht erfasste Treibhausgase ausgedehnt wird. Für die Verbesserung des Emissionshan- Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Frak- dels noch wichtiger ist, dass die Emissionszertifikate für tion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/9371? – die Energiewirtschaft in der 3. Handelsperiode nicht Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Entschlie- mehr kostenlos zugeteilt werden, sondern zu 100 Prozent ßungsantrag ist mit den Stimmen von SPD und CDU/ versteigert werden sollen. Das haben wir Grüne lange ge- CSU bei Enthaltung der Fraktion Die Linke und der FDP fordert. Denn damit ist Schluss mit den ungerechtfertigten bei Gegenstimmen von Bündnis 90/Die Grünen abge- Milliardengewinnen, die die Energiekonzerne bisher zu- lehnt. lasten der Verbraucherinnen und Verbraucher erzielt ha- Damit sind wir am Schluss der heutigen Tagesord- ben, indem sie die geschenkten Zertifikate ihren Kunden nung. teuer in Rechnung stellten. Auch für die bisher prakti- zierte Bevorzugung der klimaschädlichen Kohle bei der Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun- Zuteilung der Emissionszertifikate ist in Zukunft kein destages auf morgen, Freitag, den 30. Mai 2008, um Raum mehr. Das ist gut so. 9 Uhr, ein. Auch für andere Branchen und für den Flugverkehr Ich wünsche allen Kolleginnen und Kollegen, den sollte die Versteigerung der Regelfall werden. Ob für be- Gästen auf der Zuschauertribüne sowie den Mitarbeite- sonders energieintensive Unternehmen Sonderregelun- rinnen und Mitarbeitern des Hauses noch einen schönen gen nötig sein werden, um Wettbewerbsnachteile und eine Abend. Verlagerung von CO2-intensiven Betrieben zu vermeiden, Die Sitzung ist geschlossen. ist noch nicht klar. Denn vorrangiges Ziel sollte es sein, das Problem durch ein ambitioniertes Kioto-Nachfolge- (Schluss: 21.09 Uhr)

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008 17289

(A) Anlagen zum Stenografischen Bericht (C)

Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten

entschuldigt bis entschuldigt bis Abgeordnete(r) einschließlich Abgeordnete(r) einschließlich

Andres, Gerd SPD 29.05.2008 Kortmann, Karin SPD 29.05.2008

Beck (Bremen), BÜNDNIS 90/ 29.05.2008 Dr. Küster, Uwe SPD 29.05.2008 Marieluise DIE GRÜNEN Kurth (Quedlinburg), BÜNDNIS 90/ 29.05.2008 Bodewig, Kurt SPD 29.05.2008 Undine DIE GRÜNEN

Brunkhorst, Angelika FDP 29.05.2008 Dr. Lamers (Heidelberg), CDU/CSU 29.05.2008 Karl Bülow, Marco SPD 29.05.2008 Lopez, Helga SPD 29.05.2008 Dörmann, Martin SPD 29.05.2008 Müntefering, Franz SPD 29.05.2008 Drobinski-Weiß, SPD 29.05.2008 Elvira Naumann, Kersten DIE LINKE 29.05.2008

Dr. Eid, Uschi BÜNDNIS 90/ 29.05.2008 Nitzsche, Henry fraktionslos 29.05.2008 DIE GRÜNEN Piltz, Gisela FDP 29.05.2008 Ernst, Klaus DIE LINKE 29.05.2008 Raidel, Hans CDU/CSU 29.05.2008 (B) Fischer (Karlsruhe- CDU/CSU 29.05.2008* (D) Land), Axel E. Rix, Sönke SPD 29.05.2008

Gabriel, Sigmar SPD 29.05.2008 Dr. Schäuble, Wolfgang CDU/CSU 29.05.2008

Glos, Michael CDU/CSU 29.05.2008 Schily, Otto SPD 29.05.2008

Golze, Diana DIE LINKE 29.05.2008 Siebert, Bernd CDU/CSU 29.05.2008

Gröhe, Hermann CDU/CSU 29.05.2008 Dr. Spielmann, SPD 29.05.2008 Margrit Hänsel, Heike DIE LINKE 29.05.2008 Thönnes, Franz SPD 29.05.2008 Heilmann, Lutz DIE LINKE 29.05.2008 Dr. Troost, Axel DIE LINKE 29.05.2008 Hinsken, Ernst CDU/CSU 29.05.2008 Wieczorek-Zeul, SPD 29.05.2008 Hochbaum, Robert CDU/CSU 29.05.2008 Heidemarie

Hörster, Joachim CDU/CSU 29.05.2008* Zeil, Martin FDP 29.05.2008

Hoppe, Thilo BÜNDNIS 90/ 29.05.2008 Zypries, Brigitte SPD 29.05.2008 DIE GRÜNEN

Klug, Astrid SPD 29.05.2008

Köhler (Wiesbaden), CSU/CSU 29.05.2008 * für die Teilnahme an den Sitzungen der Parlamentarischen Ver- Kristina sammlung des Europarates 17290 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008

(A) Anlage 2 (C) Namensverzeichnis der Mitglieder des Deutschen Bundestages, die an der Wahl der Mitglieder des Rundfunkrates der Deut- schen Welle gemäß Paragraf 31 des Deutsche-Welle-Gesetzes teilgenommen haben

CDU/CSU Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Eduard Oswald Klaus-Peter Willsch Guttenberg Rita Pawelski Willy Wimmer (Neuss) Olav Gutting Ulrich Petzold Elisabeth Winkelmeier- Ilse Aigner Holger Haibach Dr. Becker Gerda Hasselfeldt Sibylle Pfeiffer Dagmar Wöhrl Dorothee Bär Wolfgang Zöller Jürgen Herrmann Willi Zylajew Dr. Wolf Bauer Daniela Raab Ernst-Reinhard Beck Dr. Peter Ramsauer SPD (Reutlingen) Christian Hirte Peter Rauen Klaus Hofbauer Eckhardt Rehberg Dr. Christoph Bergner Gregor Amann Franz-Josef Holzenkamp Dr. Heinz Riesenhuber Anette Hübinger Franz Romer Clemens Binninger Ingrid Arndt-Brauer Hubert Hüppe Johannes Röring Dr. Kurt J. Rossmanith (Neuruppin) Dr. Hans-Heinrich Jordan Dr. Norbert Röttgen Doris Barnett Andreas Jung (Konstanz) Dr. Maria Böhmer Dr. Christian Ruck Dr. Hans-Peter Bartels Steffen Kampeter Albert Rupprecht (Weiden) Wolfgang Börnsen Peter Rzepka Sören Bartol (Bönstrup) Bernhard Kaster Anita Schäfer (Saalstadt) Sabine Bätzing Siegfried Kauder (Villingen- Hermann-Josef Scharf Schwenningen) Klaus Brähmig Hartmut Schauerte Volker Kauder Michael Brand Dr. Annette Schavan Dr. Axel Berg Eckart von Klaeden Karl Schiewerling Ute Berg Dr. Ralf Brauksiepe Jürgen Klimke Christian Schmidt (Fürth) (Heidelberg) Monika Brüning Julia Klöckner Andreas Schmidt (Mülheim) (B) Jens Koeppen (Berlin) (D) Manfred Kolbe Dr. Leo Dautzenberg Hartmut Koschyk Dr. Ole Schröder Dr. Thomas Kossendey Bernhard Schulte-Drüggelte Klaus Brandner Alexander Dobrindt Uwe Schummer Marie-Luise Dött Wilhelm Josef Sebastian (Hildesheim) Maria Eichhorn Dr. Günter Krings Dr. Stephan Eisel Dr. Martina Krogmann Kurt Segner Ulla Burchardt (Lübeck) Dr. Hermann Kues Marion Seib Andreas G. Lämmel Dr. Michael Bürsch Dr. Hans Georg Faust Dr. Norbert Lammert Johannes Singhammer Christian Carstensen Ingrid Fischbach Marion Caspers-Merk Dirk Fischer (Hamburg) Katharina Landgraf Dr. Dr. Maria Flachsbarth Dr. Max Lehmer Christian Freiherr von Stetten Dr. Herta Däubler-Gmelin Klaus-Peter Flosbach Paul Lehrieder Andreas Storm Dr. Carl-Christian Dressel Dr. Hans-Peter Friedrich Max Straubinger Detlef Dzembritzki (Hof) Patricia Lips (Heilbronn) Sebastian Edathy Erich G. Fritz Dr. Michael Luther Lena Strothmann Siegmund Ehrmann Jochen-Konrad Fromme Stephan Mayer (Altötting) Michael Stübgen Dr. Michael Fuchs Wolfgang Meckelburg Hans Peter Thul Petra Ernstberger Hans-Joachim Fuchtel Dr. Annette Faße Dr. Jürgen Gehb Laurenz Meyer (Hamm) Dr. Hans-Peter Uhl Elke Ferner Norbert Geis Ralf Göbel Dr. h. c. Volkmar Uwe Vogel Rainer Fornahl Josef Göppel Philipp Mißfelder Andrea Astrid Voßhoff Gabriele Frechen Peter Götz Dr. Eva Möllring Dr. Wolfgang Götzer Marlene Mortler Peter Friedrich Ute Granold Dr. Gerd Müller Marcus Weinberg Reinhard Grindel Stefan Müller (Erlangen) Peter Weiß (Emmendingen) Iris Gleicke Michael Grosse-Brömer (Bremen) Gerald Weiß (Groß-Gerau) Günter Gloser Markus Grübel Renate Gradistanac Dr. Georg Nüßlein Karl-Georg Wellmann Angelika Graf (Rosenheim) Monika Grütters Franz Obermeier Annette Widmann-Mauz Dieter Grasedieck Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008 17291

(A) (Münster) Wolfgang Nešković (C) (Cottbus) Uwe Barth Dr. Gabriele Groneberg Gerold Reichenbach Ernst Burgbacher Petra Pau Achim Großmann Dr. Carola Reimann Patrick Döring Bodo Ramelow Wolfgang Grotthaus Mechthild Dyckmans Paul Schäfer (Köln) Wolfgang Gunkel René Röspel Ulrike Flach Volker Schneider Hans-Joachim Hacker Dr. Ernst Dieter Rossmann Otto Fricke (Saarbrücken) Bettina Hagedorn Karin Roth (Esslingen) Paul K. Friedhoff Dr. Ilja Seifert Klaus Hagemann Michael Roth (Heringen) (Bayreuth) Dr. Petra Sitte Alfred Hartenbach Ortwin Runde Dr. Edmund Peter Geisen Frank Spieth Michael Hartmann Marlene Rupprecht Dr. Dr. Kirsten Tackmann (Wackernheim) (Tuchenbach) Miriam Gruß Dr. Anton Schaaf Joachim Günther (Plauen) Alexander Ulrich Dr. Reinhold Hemker Axel Schäfer (Bochum) Dr. Christel Happach-Kasan Rolf Hempelmann Bernd Scheelen Birgit Homburger Jörn Wunderlich Dr. Barbara Hendricks Dr. Dr. Werner Hoyer Sabine Zimmermann Michael Kauch Gabriele Hiller-Ohm Dr. Frank Schmidt Dr. Heinrich L. Kolb BÜNDNIS 90/ Stephan Hilsberg (Aachen) Hellmut Königshaus DIE GRÜNEN (Essen) Silvia Schmidt (Eisleben) Gudrun Kopp Kerstin Andreae Gerd Höfer Heinz Schmitt (Landau) Jürgen Koppelin Volker Beck (Köln) (Wismar) Carsten Schneider (Erfurt) Heinz Lanfermann Cornelia Behm Frank Hofmann (Volkach) Sibylle Laurischk Eike Hovermann Birgitt Bender Ina Lenke Alexander Bonde Klaas Hübner Reinhard Schultz Michael Link (Heilbronn) Ekin Deligöz Christel Humme (Everswinkel) Markus Löning Dr. Thea Dückert Lothar Ibrügger (Spandau) Patrick Meinhardt Brunhilde Irber Burkhardt Müller-Sönksen Hans-Josef Fell Frank Schwabe Dirk Niebel Johannes Kahrs Dr. Angelica Schwall-Düren Hans-Joachim Otto Katrin Göring-Eckardt Ulrich Kasparick Dr. Martin Schwanholz (Frankfurt) Britta Haßelmann Dr. h. c. Susanne Kastner Detlef Parr Ulrich Kelber Rita Schwarzelühr-Sutter Cornelia Pieper Dr. Bärbel Kofler Wolfgang Spanier Jörg Rohde Peter Hettlich Jörg-Otto Spiller Dr. Priska Hinz (Herborn) (B) Fritz Rudolf Körper Dieter Steinecke Marina Schuster Ulrike Höfken (D) Rolf Kramer Andreas Steppuhn Dr. Hermann Otto Solms Dr. Anette Kramme Dr. Max Stadler Bärbel Höhn Ernst Kranz Rolf Stöckel Dr. Rainer Stinner Ute Koczy Dr. Hans-Ulrich Krüger Christoph Strässer Carl-Ludwig Thiele Angelika Krüger-Leißner Sylvia Kotting-Uhl Dr. Peter Struck Fritz Kuhn Jürgen Kucharczyk Joachim Stünker Christoph Waitz Ute Kumpf Renate Künast Dr. Rainer Tabillion Dr. Claudia Winterstein Jörg Tauss Dr. Volker Wissing Christian Lange (Backnang) Anna Lührmann Jella Teuchner Hartfrid Wolff (Rems-Murr) Dr. Nicole Maisch Dr. h. c. Waltraud Lehn Jerzy Montag Rüdiger Veit DIE LINKE Gabriele Lösekrug-Möller Kerstin Müller (Köln) Simone Violka Dirk Manzewski Karin Binder Jörg Vogelsänger Lothar Mark Dr. Dr. Marlies Volkmer Caren Marks Dr. Martina Bunge Hedi Wegener Brigitte Pothmer Katja Mast Roland Claus Petra Weis (Augsburg) Dr. Gunter Weißgerber Werner Dreibus Dr. Rainer Wend Manueal Sarrazin Petra Merkel (Berlin) Dr. Dagmar Enkelmann Lydia Westrich Elisabeth Scharfenberg Dr. Dr. Gregor Gysi Dr. Christine Scheel Ursula Mogg Hans-Kurt Hill Andrea Wicklein Irmingard Schewe-Gerigk Marko Mühlstein Cornelia Hirsch Engelbert Wistuba Dr. Gerhard Schick Detlef Müller (Chemnitz) Dr. Barbara Höll Dr. Wolfgang Wodarg Michael Müller (Düsseldorf) Ulla Jelpke Waltraud Wolff Gesine Multhaupt Dr. Lukrezia Jochimsen Rainder Steenblock (Wolmirstedt) Dr. Rolf Mützenich Dr. Hakki Keskin Silke Stokar von Neuforn Heidi Wright Thomas Oppermann Dr. Wolfgang Strengmann- Uta Zapf Holger Ortel Jan Korte Kuhn Manfred Zöllmer Heinz Paula Katrin Kunert Hans-Christian Ströbele Johannes Pflug Oskar Lafontaine Dr. Harald Terpe FDP Christoph Pries Ulla Lötzer Jürgen Trittin Florian Pronold Dr. Karl Addicks Dorothée Menzner Wolfgang Wieland Dr. Sascha Raabe Kornelia Möller Josef Philip Winkler 17292 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008

(A) Anlage 3 Nun weiß auch ich, dass man, wenn es um die Bezüge (C) von Abgeordneten geht, schnell Emotionen bedienen Zu Protokoll gegebene Rede kann. Das werde ich mitnichten populistisch bedienen. zur Beratung Aber wir brauchen endlich eine Regelung, die uns aus dem Selbstbedienungsvorwurf herausbringt. – Entwurf eines Gesetzes über die Anpassung von Dienst- und Versorgungsbezügen im Bund Das Bundesverfassungsgericht hat uns nicht verboten, 2008/2009 (Bundesbesoldungs- und -versor- eine neue Regelung zu finden. Die Fraktion Die Linke gungsanpassungsgesetz 2008/2009 – BBVAnpG ist für entsprechende Vorschläge offen. Wir sind auch 2008/2009) gern bereit, eigene Vorstellungen beizusteuern. Lassen sie uns also verantwortlich darüber reden! – Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Bundesbesoldungsgesetzes – Entwurf eines Dritten Gesetzes zur Ände- Anlage 4 rung des Bundesministergesetzes Zu Protokoll gegebene Reden (Tagesordnungspunkt 10 a und c) zur Beratung der Beschlussempfehlung und des Petra Pau (DIE LINKE): Mit der folgenden Abstim- Berichts zu den Anträgen: mung geht es darum, den Tarifabschluss im öffentlichen – Rahmenbedingungen für Lebenslanges Ler- Dienst auf die Bezüge von Beamtinnen und Beamten so- nen verbessern – Weiterbildung und Qualifi- wie Richterinnen und Richtern des Bundes zu übertra- zierung ausbauen und stärken gen – jedenfalls im Wesentlichen. Dem wird die Frak- tion Die Linke zustimmen. – Der beruflichen Weiterbildung den notwen- Die Beamtinnen und Beamten haben in den zurück- digen Stellenwert einräumen liegenden Jahren mehrfach Einbußen hinnehmen müs- (Tagesordnungspunkt 14) sen. Aber auch ihre Lebenshaltungskosten sind gestie- gen. Deshalb ist es höchste Zeit, dass sie endlich besser besoldet werden als bisher. Uwe Schummer (CDU/CSU): Lernen ist wie Ru- dern gegen den Strom. Hört man damit auf, treibt man Überfällig ist die Angleichung der Bezüge ostdeut- zurück. scher Beamtinnen und Beamte an das Westniveau. In (B) diesem Jahr wird die deutsche Einheit „volljährig“. Des- Dieser Erfahrung stellt sich der Koalitionsantrag zum (D) halb ist es höchste Zeit, dass auch die Mauern zwischen Lebenslangen Lernen. Ost und West, die sich noch immer auch durch Tarifver- träge ziehen, fallen Bildung schafft Beteiligungschancen für den Men- schen, der seine berufliche Perspektive verbessert. Ohne Leider geschieht keine Angleichung bei den Arbeits- berufliche Qualifikation steigt das Risiko, arbeitslos zu zeiten der Tarifbeschäftigten und der Beamtinnen und werden, um das Dreifache. Bildung schafft Beteili- Beamten auf einheitlich 39 Stunden. Die Linke kritisiert gungschancen für unser Land. Exportweltmeister kann das und fordert Nachbesserung, übrigens nicht nur von nur bleiben, wer seine Potenziale nutzt. Bildung ist der der Bundesregierung, sondern auch von den zuständigen Schlüssel zu einer guten sozialen und wirtschaftlichen Gewerkschaften. Zukunft. Schon heute berechnet die Wirtschaft einen Der vorliegende Gesetzentwurf enthielt ursprünglich jährlichen Verlust an Aufträgen mit einem Volumen von einen Art. 13. Mit ihm sollten die sogenannten Diäten 18,5 Milliarden Euro der entsteht, weil Stellen nicht be- der Mitglieder des Bundestages ebenfalls angehoben setzt werden. werden. Formal wäre das rechtens, aber politisch wäre es Deutschland hatte 2007 fast 60 000 Patentanmeldun- falsch gewesen. Deshalb war Die Linke klar dagegen. gen, ist damit Spitzenreiter in Europa und belegt den Nun haben sich die Unionsfraktion und die SPD-Frak- fünften Platz weltweit. 80 Prozent der Patente kamen tion darauf geeinigt, die Diätenerhöhung heute auszu- von betrieblichen Mitarbeitern, 20 Prozent von Hoch- klammern, nicht ohne Grummeln und Widerstand, wie schulen, Forschungseinrichtungen und Einzelerfindern. man hören konnte. Dieser Rückzug sei „feige“, war so- gar zu hören. Ich hingegen finde: Wenn die Regierung Das Flaggschiff der Bildung ist das duale System mit und wenn die Fraktionen der CDU/CSU und der SPD 1,5 Millionen Auszubildenden in 490 000 Betrieben. Dies gelegentlich wahrnehmen, wie die Stimmung in der Be- ist eine Voraussetzung für die Weiterbildungsfähigkeit. Im völkerung wirklich ist, dann ist das nicht feige, sondern letzten Jahr gab es 644 000 neue Ausbildungsplätze, ein eine Voraussetzung für eine lebendige und akzeptierte Plus im Zweijahresvergleich um fast 14 Prozent. Die Demokratie. Wenn sich aber die Meinung weiter verfes- Bundesagentur für Arbeit und die Kammern sagen, dass tigt, dass die da oben sowieso machen was sie wollen, die Zahl in diesem Jahr erstmals seit 1992 über 700 000 dann ist das auch ein Einfallstor für die demokratiefeind- liegen wird. Seit 2005 eine Steigerung um 130 000 Aus- lichen Parolen und ihrer rechtsextremistischen Kamera- bildungsplätze. Die Zahl der Arbeitslosen unter 25 Jahren den. Das kann keine Partei im Bundestag ernsthaft oder hat sich seit 2005 halbiert: 300 000 junge Menschen, die fahrlässig wollen. wieder eine Zukunft haben. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008 17293

(A) Die Opposition fragt nach dem roten Faden unserer durch frühzeitige Verrentung, Entlassung und Billigst- (C) Politik. 2005 gingen täglich 2000 Arbeits- und Ausbil- löhne, Hin zu der Erkenntnis: Arbeitnehmer sind nicht dungsplätze verloren, heute werden täglich 1400 neue nur Kostenfaktor; sie sind Aktivposten. Unser Antrag geschaffen. Die Hartz-Gesetze haben die Weiterbildung zum lebenslangen Lernen und die neuen Instrumente der in Deutschland kurz- und kleingeschossen. Wir bauen Weiterbildung werden diesen Prozess verstärken. wieder auf und schaffen neue Impulse. Die Union hat bereits 2005 einen Antrag zum lebenslangen Lernen in Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD): Die zweite und den Deutschen Bundestag eingebracht. Die Koalitions- abschließende Beratung des gemeinsam von den Koali- vereinbarung knüpfte daran an. Unser Antrag bündelt tionsfraktionen vorgelegten Antrags im Bundestag diese Maßnahmen. Ein erster Erfolg ist, dass die Beteili- möchte ich für die SPD zum Anlass nehmen nicht noch gung an der formalen Weiterbildung von 41 Prozent auf einmal die detaillierte Analyse aus den Ausschussbera- 43 Prozent gestiegen ist. Unser Ziel ist eine Weiterbil- tungen aufzunehmen und auch nicht die noch folgenden dungsquote der Erwerbstätigen von 50 Prozent und beim intensiven Fachberatungen zu einzelnen Programm- informellen Lernen von 80 Prozent. punkten vorwegzunehmen, sondern einzelne grundsätz- Eine älter werdende Gesellschaft lebt von der Lust am liche Überlegungen und Feststellungen anzustellen. Lernen. Heute geht sie mit zunehmendem Alter zurück. Es ist gut, dass sich nicht nur in der Bundesregierung, Wir wollen Anreize setzen, dass Lernen im Lebenslauf sondern auch in den großen Parteien zur Frage der Wei- selbstverständlich wird. Eine DIHK-Befragung zur Wei- terbildung umfassend angelegte konzeptionelle Beratun- terbildung hat ergeben: Zwei Drittel der Befragten sag- gen vollziehen, die ein bisher in der Bildungsdebatte zu ten, sie lohne sich. 70 Prozent erhielten eine bessere Po- sehr vernachlässigtes Feld wieder in den Mittelpunkt der sition, 61 Prozent ein höheres Gehalt. Für jeden Dritten politischen Agenda rücken. Nicht nur kleinere Fraktio- verbesserte sich die Sicherheit des Arbeitsplatzes. nen des Bundestages wie Bündnis 90/Die Grünen, son- Unsere neuen Instrumente sind eine Bildungsprämie dern auch die SPD-Arbeitsgruppe Bildung und For- als Direktzuschuss von 154 Euro für Arbeitnehmer mit schung sind mit umfassenden und komplexen Konzepten mittlerem und geringem Einkommen. Höhere Einkom- hier schon vor einiger Zeit in die Diskussion eingestie- men können Weiterbildungskosten über den pauschalen gen. Die Sozialdemokratie insgesamt hat über ein Ge- Steuerfreibetrag von 920 Euro absetzen. Es ist ein Start; samtkonzept zur mittel- und langfristigen Stärkung der nicht das Ziel. Wir wissen, dass die Opposition immer Weiterbildung auf der Ebene des Präsidiums bis hin zu mehr fordern wird, als die Haushaltslage hergibt. Doch Parteitagsbeschlüssen bereits entschieden. Die Bundes- wir sagen: Lieber prozesshaft starten als bis zur Ideallö- regierung hat schließlich mit den Ergebnissen aus dem sung warten und noch mehr Zeit verlieren. Innovationskreis Weiterbildung sowie der Vorlage einer (B) (D) Qualifizierungsinitiative deutlich gemacht welche Hand- Eine Bildungsallianz soll die Programme von Bund, lungsmöglichkeiten und -perspektiven sie in Ausfüllung Ländern und Sozialpartnern aufeinander abstimmen. des Koalitionsvertrags für diese Legislaturperiode und Größte Hebelwirkung hat die Erweiterung des Vermö- darüber hinaus nutzen bzw. schaffen will. Hierzu vier gensbildungsgesetzes durch Prämie, Zinsen, Eigenan- Feststellungen: teil und Arbeitgeberanteil. Derzeit werden 7 Millionen Arbeitnehmer durch die Sparzulage gefördert. Sie sol- Erstens. Wenn von der FDP, aber auch von anderen len Guthaben flexibel für Bildung nutzen können. Oppositionsparteien, wie es in der ersten Lesung unserer 15 Millionen Arbeitnehmer sind betroffen. Die Einkom- Anträge geschehen ist, vehement der rote Faden einge- mensgrenzen für die Sparförderung werden durch die fordert wird, dann darf sich dahinter nicht das funda- geplante Verbesserung der Mitarbeiterbeteiligung er- mentale Missverständnis verbergen, dass es für die Auf- höht: Ledige 20 000 Euro, Verheiratete 40 000 Euro Jah- wertung und Weiterentwicklung von Weiterbildung nur resverdienst. Davon ist dann jeder zweite Beschäftigte das eine herausragende Instrument und die eine ultima- betroffen. tive politische Handlungslinie gibt. Gerade Weiterbil- dung ist von den Problemen und den Bedarfslagen, den Arbeitnehmer als Mitunternehmer: Dies war lange beteiligten Akteuren aller staatlicher Ebenen bis hin zum Zeit ein unterschätztes Thema. 80 000 Betriebe wech- breit ausgefächerten subsidiär verankerten System der seln jährlich ihren Chef. 30 000 Betriebe verschwinden Weiterbildungsträger so komplex, dass auch die politi- vom Markt, weil der bisherige Unternehmer in Rente sche Unterstützung dieses Bereiches entsprechend kom- geht und kein Nachfolger da ist. Die Kombination von plex sein muss. Dies gilt insbesondere auch deshalb, Mitarbeiterbeteiligung und Bildungssparen sichert Un- weil Weiterbildung im Sinne des modernen Konzepts ternehmen und Arbeitsplätze. Hinzu kommen Weiterbil- von lebensbegleitendem Lernen nicht erst dann anfängt, dungsdarlehen und Zeitkonten, die zeitverzinst für Fami- wenn Bildungsprozesse abgeschlossen sind, sondern lienphasen und für Qualifizierungszeiten genutzt werden faktisch mit Beginn der frühkindlichen Bildungspro- können. Wir ermuntern die Tarif- und Betriebsparteien, zesse im Sinne eines Aufbaus von Bildungsfähigkeit und diesen Weg zu gehen. Unsere Themen, die bei der Bil- letztlich auch Weiterbildungsfähigkeit. Auch deshalb dungsallianz besprochen werden sollten, sind der Insol- finden sich sowohl in den Konzepten der Bundesregie- venzschutz und die Mobilität, wenn Arbeitnehmer ihren rung zur Qualifizierungsinitiative als auch in den Vor- Betrieb wechseln. schlägen des Innovationskreises Weiterbildung Anknüp- Wir brauchen einen Paradigmenwechsel in der Ge- fungspunkte von der frühkindlichen Bildung bis zum sellschaft, weg von der Dequalifizierung der Menschen Lernen im höheren Erwerbs- und Lebensalter. 17294 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008

(A) Zum anderen hat Weiterbildung neben ihrem primä- rung, eine zeitliche Absicherung und eine institutionelle (C) ren Charakter als lebensbegleitendes Lernen immer auch Zugänglichkeit. eine kompensatorische Funktion, die sich auf den Aus- gleich von Bildungsdefiziten bezieht. Schon diese dop- Dass wir in Deutschland hier einen großen Nachhol- pelte Funktion der primären Weiterbildung und der se- bedarf haben, zeigt sich nicht nur in der Tatsache, dass kundären kompensatorischen Weiterbildung führt dazu, immer noch jedes Jahr über 80 000 junge Menschen die dass Lösungskonzepte entsprechend vielgestaltig und Schule ohne einen entsprechenden Schulabschluss ver- lassen, sondern auch darin, dass wir auch eine große mehrdimensional sind. Dies gilt es mitzubeachten, wenn Zahl von Menschen haben, die in höherem Alter immer die Dualität von beruflicher und allgemeiner Weiterbil- noch ohne einen Schulabschluss bzw. einen Berufsbil- dung einbezogen wird. Aus all dem folgt im Übrigen, dungsabschluss sind. Wenn wir es hinbekommen dass eine Weiterbildungsstrategie nicht streng an ein können, mit dem Schulabschluss anzufangen, wird es si- Ressort gebunden sein kann, sondern die Gesamtheit ei- cherlich richtig sein, dieses dann weiter durchzubuchsta- ner Regierung fordert hierbei insbesondere die ressort- bieren, und zwar in Bezug auf den Rechtsanspruch auf übergreifende Zusammenarbeit des Bildungs-, Arbeits- einen nachgemachten beruflichen Bildungsabschluss. und Sozial- sowie des Familienressorts. Zwei Zahlen müssen sich alle Interessierten hier mer- Zweitens. In der Koalitionsvereinbarung wie in dem ge- ken: 1,5 Millionen Menschen in Deutschland zwischen meinsamen Antrag der Koalitionsfraktionen wird deshalb 15 und 25 sind ohne Berufsabschluss. Und wenn man es auch der sogenannte Bildungsgipfel alias Weiterbildungs- auf alle Altersgruppen bezieht, liegen wir insgesamt bei bzw. Qualifizierungsgipfel, der von der Bundeskanzlerin geschätzten 9 Millionen Menschen bis zum 65. Lebens- für die gesamte Regierung im Zusammenwirken mit den jahr. Dass dieses keine ausreichende Basis bildet, nicht Ministerpräsidenten der Länder vorbereitet wird, grund- nur für die betroffenen einzelnen Menschen, sondern sätzlich positiv angesprochen. Für die Sozialdemokratie auch die volkswirtschaftliche Wertschöpfung und im darf ich an dieser Stelle noch einmal den Wunsch aus- Hinblick auf den Fachkräftebedarf und für die Innova- drücken, dass der Bildungsgipfel keine schlechte Du- tionspotenziale der Zukunft insgesamt, braucht hier blette des Kohlschen Bildungsgipfels wird, der nur eine nicht weiter ausgeführt zu werden. Frau Ministerin wahlkampfbezogene Eintagsfliege war, sondern dass Schavan sollte keine überflüssige und sachlich falsche hieraus eine kontinuierliche Kooperation von Bund, Konfrontation suchen. Die Bundesregierung sollte zu ei- Ländern und allen anderen beteiligten Akteuren er- ner echten ressortübergreifenden Qualifizierungsinitia- wächst und eine konstruktive auch institutionelle, Zu- tive mit Blick auf den Bildungsgipfel finden, bei der sammenarbeit zwischen Bund und Ländern und anderen nicht gegeneinander, sondern miteinander gearbeitet (B) Partnern zur Verstetigung und Verstärkung der nachhalti- wird. (D) gen Politik für Weiterbildung entsteht. Drittens. Es ist gemeinsame Erkenntnis der Bundesre- Genauso wichtig ist uns, dass Weiterbildung als ressort- gierung und der Koalitionsfraktionen – aber ich bin sicher, übergreifendes Prinzip von den hieran beteiligten Res- dies auch für die bildungsinteressierten Oppositionsfrak- sorts konstruktiv aufgenommen wird. Um es konkret zu tionen sagen zu dürfen, dass die in einer Kabinettsinitia- sagen: Die drei konkreten Initiativen von Bundesarbeits- tive aus dem August 2007 auf Schloss Meseberg gefor- minister Scholz – Schaffung eines Rechts auf den nach- derte, notwendige Erhöhung der Bildungsbeteiligung gemachten Hauptschulabschluss im Sinne einer zweiten nur dann zu erreichen ist, wenn diese Notwendigkeit zu Chance, Einführung eines Ausbildungsbonus, um allen lebensbegleitendem Lernen im öffentlichen Bewusstsein Jugendlichen, auch Altbewerbern, eine Chance auf eine stärker verankert wird, wenn Arbeitnehmerinnen und qualifizierte berufliche Ausbildung zu ermöglichen, Ver- Arbeitnehmer Weiterbildung als Chance und nicht als stärkung von Weiterbildungsfördermöglichkeiten nach Belastung begreifen, wenn Unternehmerinnen und Un- den Sozialgesetzbüchern II und III für Menschen, die in ternehmer Weiterbildung nicht als Kostenstelle, sondern Arbeitslosigkeit leben oder von Arbeitslosigkeit betroffen als Zukunftsinvestition von aus betreiben und wenn sich sein könnten – sind solche sehr konstruktiven Beiträge, im Übrigen das öffentliche Bewusstsein Bahn bricht, die nicht aus einem nichtklassischen Bildungsressort dass eine höhere Weiterbildungsbeteiligung von nicht so kommen. Als Sozialdemokraten hat es uns deshalb sehr gut qualifizierten und älteren Arbeitnehmerinnen und befremdet, mit welcher harschen Ablehnung die Bundes- Arbeitnehmern ein vorrangiges gemeinsames Interesse darstellt. bildungsministerin auf die Initiative von Minister Scholz für den Rechtsanspruch auf einen ersten allgemeinbilden- Für eine erfolgreiche Kampagne zum lebensbegleiten- den Schulabschluss, der in den meisten Bundesländern den Lernen braucht es nicht nur mehr wissenschaftliche noch als Hauptschulabschluss etikettiert sein dürfte, re- Expertise, zum Beispiel durch den Ausbau der Bildungs- agiert hat. Es ist eine Allerweltsweisheit, die Frau Schavan forschung, mehr gesellschaftliche Breite, zum Beispiel an der Stelle kundgetan hat: Sie hat darauf hingewiesen, durch die Einbeziehung der Tarifpartner, wichtiger Trä- dass es jetzt schon die Möglichkeit gibt, Hauptschulab- gerorganisationen und der Zivilgesellschaft, mehr Koor- schlüsse auch nach der aktiven Schulzeit im Sinne einer dinierung aller politischen Ebenen in Deutschland im zweiten Chance nachzumachen. Die neue Qualität liegt Hinblick auf ein gemeinsames Ziel, zum Beispiel durch darin, dass es dies nicht nur als Möglichkeit und als An- einen Bund-Länder-Kommunen-Pakt, sondern es braucht gebot gibt, sondern dass hieraus ein Recht erwachsen vor allem auch mehr Projekte, die neue Chancen und Per- kann, mit allen Implikationen für eine materielle Forde- spektiven eröffnen. Solche Projekte sind – auf Grundlage Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008 17295

(A) des Koalitionsvertrags und eines gemeinsamen Antrags politische Initiative ausging. Aber wenn wir in diesen (C) der Koalitionsfraktionen, aber auch zusätzlicher Initiati- Jahren eine Weiterbildungsdynamik insgesamt in Gang ven aus der Regierung – jetzt in Arbeit. Ich nenne hier setzen können, kommt dieses letztlich dem Gemeinwe- vier Projekte: sen und den Menschen insgesamt zugute. Das muss für uns im Vordergrund stehen. Erstens. Mit der deutlichen Ausweitung von Alphabe- tisierungs- und Grundbildungsangeboten gibt es ein sol- Wenn also Konsens das eine Fundament bildet, auf ches klar adressiertes Projekt speziell für die Gruppe der dem eine umfassende Weiterbildungsbewegung fußen Menschen, die sich über Weiterbildung elementare Bil- muss, erhält sie natürlich zusätzliche Dynamik durch dungs- und Aufstiegschancen erschließen wollen. den politischen Streit und die politische Differenz, die deshalb hier auch nicht verschwiegen werden soll. Für Zweitens. Mit dem Rechtsanspruch auf einen ersten uns Sozialdemokraten ist Bildung ein öffentliches Gut, allgemeinen Bildungsabschluss bzw. Hauptschulabschluss auf dessen Förderung, Organisation und Qualitätssiche- wird das Programm der zweiten Chance zugespitzt. Mil- rung der Staat verpflichtet ist. Bildungsrechte sind Men- lionen von Menschen über die verschiedenen Alters- schenrechte, die allen Menschen unabhängig von ihren gruppen hinweg können und müssen letztlich hierfür ge- materiellen Verhältnissen zur Verfügung stehen müssen. wonnen werden. Deshalb sind wir so vehemente Streiter für ein BAföG Drittens. Die von den Koalitionsfraktionen ange- wie für das Meister-BAföG, auch um allgemeine und be- strebte höhere Weiterbildungsbereitschaft von Men- rufliche Bildung – sie sind gleichwertig – gleichermaßen schen, die sich im beruflichen Bereich als Meister, Tech- ernsthaft zu fördern. Deshalb sagen wir jetzt schon, dass niker oder Fachwirt aufstiegsorientiert qualifizieren aus einer erfolgreichen Bildungsprämie ein Rechtsan- können oder die als beruflich sehr gut Qualifizierte aus spruch in Form eines Erwachsenenbildungsförderungs- ihrer Berufstätigkeit heraus in ein Studium streben kön- gesetzes werden muss. Deshalb stützen wir eine sinn- nen, wollen die Koalitionsfraktionen mit der Novellie- volle Initiative für ein Aufstiegsstipendium und wissen rung des Aufstiegsfortbildungsförderungsgesetzes sowie zugleich, dass es auch hier eine sinnvolle Erweiterung, dem zusätzlichen Angebot eines Aufstiegsstipendiums sei es über das BAföG oder das Meister-BAföG, geben in Ergänzung der bisherigen Stipendienwerke zusätzlich muss, um allen beruflich Qualifizierten, die wir in ihrer ausbauen. Die SPD freut sich, dass speziell die Weiter- Weiterbildung für ein akademisches Studium gewinnen entwicklung des Aufstiegsfortbildungsförderungsgeset- wollen, faire Förderungsbedingungen zu garantieren. zes, auf die wir unsere zusätzlichen Anstrengungen in Deshalb bauen wir auf die Perspektive einer Arbeitsver- dieser Legislaturperiode konzentrieren, auch bei den sicherung auf, bei der dann Rechtsansprüche auf Weiter- Fachkollegen des Koalitionspartners und darüber hinaus bildung eben nicht nur an Arbeitslosigkeit oder die Be- (B) eine positive Resonanz gefunden hat. drohung durch Arbeitslosigkeit gebunden sind. Um (D) diese Ziele zu erreichen, können wir jetzt erste Schritte Viertens. Mit dem Projekt der Bildungsprämie neh- tun. men wir schließlich auf, dass es eine Ungerechtigkeit gibt in Bezug auf die materielle Unterstützung, die bisher Wir werden dafür kämpfen, dass auch die weiteren nur Besserverdienende erhielten, wenn sie ihre berufli- Schritte möglich werden. Denn unser Kredo ist: Weiter- chen Weiterbildungskosten steuerwirksam geltend ma- bildung ist ein Menschenrecht. Aufstieg durch Bildung chen konnten, gegenüber solchen – das ist keine kleine in Solidarität muss für möglichst viele Menschen mög- Zahl von Menschen – die trotz harter Arbeit ein Einkom- lich werden. men haben, das von seiner Höhe her gar nicht mehr steu- erpflichtig ist. Hier stellen wir Gleichheit – damit auch Patrick Meinhardt (FDP): Wir diskutieren heute Gerechtigkeit – her. Mit dem Angebot einer Bildungsprä- zum wiederholten Mal in diesem Jahr das Thema Wei- mie von bis zu 154 Euro Zuschuss dürfen wir zugleich terbildung und Lebenslanges Lernen. Der vorliegende davon ausgehen, einen Kreis von rund 80 Prozent der Antrag der Regierungsfraktionen ist ein hervorragendes bisherigen Weiterbildungsmaßnahmen im beruflichen Beispiel dafür, dass nicht schlecht, sondern gut gemeint Bereich von den Kosten her zu erfassen. das Gegenteil von gut ist. Sie stellen völlig zu Recht fest, Ich habe diese vier konkreten Projekte bewusst dass Weiterbildung ein wichtiger Bestandteil der Siche- genannt, weil wir uns als Sozialdemokraten davon ver- rung des Wohlstands in unserer Gesellschaft ist. Sie stel- sprechen, dass die notwendige Kampagne für das Le- len weiterhin fest, dass sich Arbeitsnehmer, die sich wei- benslange Lernen damit eben auch tragfähige Kristalli- terbilden, ihre Beschäftigungsfähigkeit sichern und ihre sationspunkte gewinnt, die materiell über Aufklärung, Aufstiegs- und Einkommenschancen steigern. Sie stellen Werbung und über Bewusstseinsbildung herausreichen ebenfalls völlig zu Recht fest, dass es weiterhin unser und hilfreich für die Menschen sind. Ziel sein muss, besonders die Weiterbildungsbeteiligung Geringqualifizierter und Älterer erheblich zu verbessern. Wir haben die dringliche Bitte: Die gesamte Opposi- Denn laut EU-Statistik haben sich 2006 43 Prozent der tion soll mit weitergehenden Vorschlägen die Regie- 25- bis 64-jährigen Deutschen entweder privat oder ge- rungsfraktionen antreiben; so tun wir es selbst auch in- werblich weitergebildet. Das war zwar geringfügig mehr nerhalb der Regierung und der eigenen Fraktionen. Nur als 2003, doch trotzdem liegt Deutschland im EU-Ver- zerreden sollten wir solche Kristallisationspunkte nicht, gleich weiterhin im hinteren Feld. Skandinavier und denn wenn sie denn hoffentlich Wirksamkeit entfalten, Österreicher kommen im Vergleich auf eine Weiterbil- mag es am Ende schnell vergessen sein, von wem die dungsquote von 70 Prozent bis 90 Prozent 17296 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008

(A) Es könnten noch einige weitere Punkte genannt wer- Drittens. Die Koalitionäre verlieren die älteren Ar- (C) den, die jede Fraktion dieses Hauses unbenommen un- beitnehmer aus dem Blick. Deren Wissen und Fähigkei- terschreiben würde. Das gilt übrigens auch für den An- ten dürfen wir nicht so leichtfertig vergeben, wie es trag der Fraktion Die Linke. zurzeit geschieht. Die Beteiligung an Weiterbildungs- maßnahmen von älteren Arbeitnehmern ist erschreckend Bei aller Übereinstimmung darin, dass die Weiterbil- gering. Angesichts des vielfach festgestellten Facharbei- dung in Deutschland ausgebaut werden muss, so unter- termangels, der demografischen Entwicklung in scheiden sich unsere Ansätze erheblich. Vor allem haben Deutschland und der Wertschätzung älterer Menschen in die beiden Regierungsfraktionen offensichtlich beim unserer Gesellschaft können wir es uns nicht leisten, mühsamen und im Endergebnis für beide Seiten unbe- dass Arbeitnehmer die letzten 17 Jahre bis zum Ren- friedigenden Aushandeln von Instrumenten und Konzep- tenalter ihre beruflichen Fähigkeiten nicht weiterbilden. ten der Weiterbildung, diejenigen aus den Augen verlo- Diese Klientel nimmt auch mal 2 000 Euro in die Hand, ren, um die es gehen muss. Kaum jemand scheint sich um sich weiterzubilden. Notwendig wären vernünftige die drei Zielgruppen ernsthaft vor Augen zu führen, für Bildungskredite, die auch teurere Maßnahmen ermögli- die wir Weiterbildung stärken müssen: chen. Ihre Finanzierungsmodelle gehen an der Realität Erstens. Wir haben ein ernsthaftes Problem in der vollkommen vorbei. Für Berufskarrieren und Chancen Weiterbildung bei kleinen und mittleren Unternehmen, auf dem Arbeitsmarkt, insbesondere für ältere Berufstä- nicht weil diese nicht weiterbilden wollen, wie sie von tige, bieten Weiterbildungsmodule eine besonders gute den Linken gerne unterstellen, sondern weil sie es sich Gelegenheit, sich durch die systematische Aneignung oft finanziell nicht leisten können. Gerade unsere deut- neuen Wissens einen Vorteil zu verschaffen. Doch bri- schen kleinen und mittelständischen Unternehmen be- santerweise stoßen die Angebote und Maßnahmen der dürfen der Unterstützung, wenn es um die Qualifizie- Weiterbildung in diesem Personenkreis leider häufig auf rung der eigenen Mitarbeiter geht. Deswegen brauchen Skepsis und Ablehnung. Nicht zuletzt weil sie nicht wir endlich bundesweit Weiterbildungsschecks, die bis altersgerecht beworben und entsprechend umgesetzt zu 50 Prozent der Weiterbildungskosten decken und die werden. Es bedarf eines anderen Umganges mit einem von der Landesregierung in NRW schon mit großem Er- 55-Jährigen mit langer beruflicher Erfahrung und einem folg und hoher Akzeptanz eingeführt wurden. Damit ge- reichhaltigen Wissensvorrat als mit einem gerade ausge- ben wir den Beschäftigten von kleinen und mittleren Un- bildeten 20-Jährigen. ternehmen konkret Möglichkeiten der Weiterbildung. Generell vermissen wir Liberale am Koalitionsantrag Nichts davon findet sich im Konzept der Koalition. Die eine stimmige Grundlinie, den roten oder schwarzen Fa- Union ist zu schwach, um das Konzept durchzusetzen, den. Die Koalition fordert Weiterbildungsallianzen, Wei- was ihre CDU-Landesregierung in NRW erfolgreich um- (B) terbildungskampagnen, Weiterbildungsforschung, Wei- (D) gesetzt hat. terbildungsmaßnahmen der BA, Weiterbildungsberatung Zweitens. Zielgruppe Nummer Zwei sind junge Men- und Weiterbildungsaktivitäten, um dadurch das nationale schen unter 30 Jahren, die weder einen Berufs- noch Weiterbildungsziel, nämlich die Weiterbildungsbeteili- Schulabschluss haben. Diesen Menschen verspricht der gung auf 50 Prozent der formalisierten und 80 Prozent in Arbeitsminister seit kurzer Zeit ein verbrieftes Recht auf allen Lernformen zu steigern. Der inflationäre Gebrauch einen Hauptschulabschluss. Die Bundesbildungsministe- des Präfix „Weiterbildung“ beim Versuch, halbgare rin widerspricht. Welchen Personalchef wird ein Ab- Maßnahmen auf den Markt zu werfen, verdeutlicht nur schluss überzeugen, der bestenfalls eine Schulbescheini- noch deutlicher, dass die Koalition nichts Substanzielles vorzuweisen hat. Das sind alles nur Potemkinsche Dör- gung ist? Wir brauchen kein Recht auf einen fer – bunte Fassade mit nichts dahinter! Hauptschulabschluss – wir brauchen gute Hauptschüler. Stattdessen sollten Sie lieber die Weiterbildungsmög- Notwendig ist doch nicht weniger als ein Bewusst- lichkeiten schaffen, bei denen junge Menschen ihren seinswandel! Lernen muss fortan ein Leben lang stattfin- Abschluss nachholen können. Das wäre ein stimmiges den! Angefangen im Kindergarten, über die Schule und Konzept, um die Zahl der jungen Menschen ohne Schul- Berufsausbildung bis zur regelmäßigen Weiterbildung abschluss zu senken. Das Konzept des Arbeitsministers im Beruf. Das muss die Marschrichtung sein, Sie, liebe garantiert zwar einen Abschluss und bereinigt die Statis- Kolleginnen und Kollegen der Regierungsfraktionen, tik, lässt aber die jungen Menschen anschließend im Re- verlieren aber im zähen Kompromiss um Einzelmaßnah- gen stehen, da sie den Übergang zum Berufsleben mit ei- men diese Grundlinie aus den Augen. nem verbrieften Abschluss nicht meistern werden. Die Weiterbildung muss den jungen Menschen als zweite Volker Schneider (Saarbrücken) (DIE LINKE): Die Chance offen stehen, ihnen als Anker dienen, um Schar- allgemeine Euphorie der Bundesregierung über den ent- ten im Lebenslauf auswetzen und Fehler korrigieren zu standenen Maßnahmenkatalog kann und will ich nicht können. Wir müssen gerade in das Fundament der Bil- teilen. Aus dem durchaus sinnvollen Bericht der dung investieren – sonst zerstören wir Lebensentwürfe. Timmermann-Kommission wurden allein das soge- Gerade uns Liberalen liegt viel daran, den Menschen nannte Weiterbildungssparen und die Bildungsprämie in Optionen, Perspektiven und Möglichkeiten zu bieten die Pläne der Bundesregierung übernommen. und ihnen nicht den Weg zur persönlichen Ausgestaltung der Zukunft zu verbauen. Deswegen werden wir uns ve- Zum Einmaleins der Politik gehört die Formel: Wer hement für die Unterstützung und den Ausbau dieses In- Weiterbildung ausbauen will, der muss auch investieren. strumentariums einsetzen und hierfür werben. Die selbstverordnete Kostenneutralität, die CDU/CSU Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008 17297

(A) und SPD im Koalitionsvertrag festgeschrieben haben, ren Studien zu Weiterbildung macht, verwirft das BMBF (C) wird deshalb sicher kaum zu einer explosionsartigen in ihrem Berichtssystem, und zwar aus Gründen der An- Ausweitung der Weiterbildungsbeteiligung führen. Diese schaulichkeit! In Zukunft wird daher wohl weiterhin Kritik teilen auch die Gutachter, die das BMBF im Rah- eine verzerrte Datenlage vom BMBF zu erwarten sein, men des Eckpunktepapiers zum Weiterbildungssparen allein um eine Luftblase als Meilenstein verkaufen zu beauftragt hat: können. Es ist allerdings darauf hinzuweisen, dass ein par- Aus diesen Gründen wird die Fraktion Die Linke tieller Zielkonflikt zwischen dem Ziel der Mobili- nicht in Ihren Freudengesang mit einstimmen. Wir for- sierung bisher wenig oder nicht partizipierender dern ein umfassendes Weiterbildungsrahmengesetz, das Bevölkerungsgruppen und der Vorgabe des Koali- bundesweit einheitliche Standards festsetzt und bran- tionsvertrags nach Haushaltsneutralität besteht. chenspezifische Fondslösungen, damit auch die Unter- Da die Bundesregierung nicht umfassend in die Wei- nehmen in die Verantwortung genommen werden. Das terbildung investieren will, muss das Geld zwangsläufig alles setzen Sie mit Ihren Plänen nicht in die Tat um; Sie von den Bürgern kommen. Damit wird nicht nur die Ver- suchen ausschließlich nach der für den Haushalt güns- antwortung der Beschäftigungsfähigkeit auf die Men- tigsten Lösung. Dass Sie es mit der Weiterbildung nicht schen abgeschoben, sondern auch noch mehrheitlich die ernst meinen, liegt da auf der Hand. Hier kommen wir Kosten. Die von Ihnen ausgearbeiteten Finanzierungsin- nur vorwärts, wenn wir Weiterbildung als gesamtgesell- strumente sind ein Witz. Letztendlich müssen die Bürger schaftliche Aufgabe begreifen und sie nicht in die Eigen- und Bürgerinnen, die sich weiterbilden wollen, selbst verantwortung des Einzelnen abschieben. Da ihr Antrag tief in die eigene Tasche greifen. Das als Möglichkeit zur dies nicht beachtet, lehnen wir ihn ab. Verbesserung der Weiterbildungssituation zu feiern, ist absurd und irreführend. Priska Hinz (Herborn) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Diese Instrumente helfen auch nicht dem Personen- NEN): Es ist zu begrüßen, dass nun überhaupt einmal ein paar handfestere Vorschläge von der Bundesregierung kreis der Erwerbslosen und Geringqualifizierten, den Sie ebenfalls in Ihrem Antrag ansprechen: denn diese Gruppe zum Thema Weiterbildung vorliegen, an denen wir uns verfügt in der Regel gar nicht über Rücklagen, aus denen als Opposition abarbeiten können. Lange genug hat die Koalition uns ja mit warmen Worten abgespeist. sie ihre eigene Weiterbildung finanzieren könnte. Das schreiben sogar Sie selbst in Ihrer Änderung des Fünften Was allerdings im Regierungskonzept „Lernen im Le- Vermögensbildungsgesetzes. Gerade diesen Menschen, benslauf“ vorgesehen ist, reicht nicht aus, um Weiterbil- denen eine große Bedeutung bei der Weiterbildungsbetei- dung in Deutschland wirklich voranzubringen. Das be- (B) ligung zukommt, begegnen Sie mit einer Ignoranz, die klagen nicht nur wir, sondern auch viele andere aus dem (D) kaum noch zu überbieten ist. Diese Ansicht wird auch im Weiterbildungsbereich. Die Gewerkschaft Erziehung schon von mir zitierten BMBF-Gutachten zum Weiterbil- und Wissenschaft beispielsweise sagt, dass – ich zitiere – dungssparen geteilt: „engagierte Akteure der Weiterbildung nach der Mitar- Es sei abschließend noch darauf hingewiesen, dass beit im Innovationskreis … enttäuscht feststellen, dass eine stärkere Förderung arbeitsloser Personen oder ihre Vorschläge hinter abstrakten Zielformulierungen von Maßnahmen zur Nachqualifizierung von Perso- verschwinden“. nen ohne vorhergehenden Schulabschluss wün- Die Regierung setzt in der Weiterbildungspolitik fal- schenswert gewesen wäre. Dies ist aber über ein In- sche Schwerpunkte oder gestaltet Instrumente so aus, strument, das – wie im Koalitionsvertrag gefordert – dass sie nicht zum Ziel führen. eine individuelle Beteiligung vorsieht, nicht mög- lich. Lassen Sie mich das an einem Beispiel erläutern. Wer Die Linke fordert hier eine verstärkte Förderung von lebenslanges Lernen ernst meint, der muss auch dafür Erwerbslosen und Geringqualifizierten in Form von sorgen, dass Menschen über ihre gesamte Biografie hin- langfristigen Maßnahmen, unabhängig von ihren finan- weg gut vorbereitete, sinnvolle Bildungsentscheidungen ziellen Möglichkeiten. treffen können. Deshalb ist Beratung in Bildungsfragen enorm wichtig – und zwar nicht nur im Rahmen der Einen letzten, aber wichtigen Punkt möchte ich hier klassischen Bildungsinstitutionen wie Schule oder noch ansprechen: Wenn Sie von CDU/CSU und SPD in Hochschule. Frau Schavan hat letztes Jahr eine Studie einem Jahr hier stehen und sich über einen Anstieg der des BMBF zur Bildungsberatungslandschaft vorgestellt. Weiterbildungsbeteiligung von 2 Prozent freuen, denken Darin heißt es, dass die Beratungslandschaft als Ganzes Sie auch ein wenig an den schönen Ausspruch:Glaub betrachtet heterogen und an vielen Stellen unübersicht- keiner Statistik, die du nicht selbst gefälscht hast. – Bis- lich sei. Zugegeben, diese Erkenntnis ist nicht wahnsin- her stehen in Ihren Argumentationen vor allem die Zah- nig neu. Doch tut die Regierung etwas, um dies zu än- len zur Beteiligung an Weiterbildungsmaßnahmen im dern? Nein. Sie plant lediglich eine Telefonhotline und Vordergrund. Das Lernen im Lebenslauf funktioniert ein Internetportal. Internetportale gibt es schon zahlrei- aber nur, wenn die Menschen auch Zeit zum Lernen ha- che; da trägt eines mehr eher zur Verwirrung als zu mehr ben. Kurzfristige Maßnahmen, die oftmals nicht länger Transparenz bei. Und die Telefonhotline? Wer soll denn als sechs Stunden gehen, helfen nicht dabei. Den Vor- da sitzen und die Menschen beraten? Wie werden diese schlag, die Dauer von Maßnahmen in die Gewichtung Personen qualifiziert? Das ist alles unklar. Das sind doch mit einzubeziehen, was die OECD schon seit 2006 in ih- nicht die Strukturen, die wir dringend brauchen. Das ist 17298 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008

(A) doch nicht ausreichend, um eine flächendeckende, träger- Neuregelungen und Änderungen in fast allen Bereichen (C) unabhängige und individuell zugeschnittene Beratung zu der Arbeitsförderung verabschiedet. Ziel war es dabei, ermöglichen. Wir Grünen plädieren schon lange dafür, nach dem Grundsatz „Fördern und Fordern“ die Autono- Bildungsberatung bei Verbraucherzentralen anzusiedeln. mie und Teilhabe der Bürgerinnen und Bürger in Wirt- schaft und Gesellschaft zu stärken. Zur Schwerpunktsetzung der Regierung noch ein paar Worte. Sie zielen stark auf Anreize, um den Einzelnen Mit Wirkung vom 1. Januar 2004 hat im Wesentlichen bzw. die Einzelne zu mehr Weiterbildungsausgaben zu der Umbau der Arbeitsverwaltung zur heutigen Bun- bewegen. Eigenverantwortung zu stärken, ist nicht per se desagentur für Arbeit mit dem Ziel der Schaffung einer falsch. Auch wir Grünen befürworten das Instrument des modernen Dienstleistungseinrichtung am Arbeitsmarkt Bildungssparens, wenn es so ausgestaltet ist, dass auch begonnen. Damals hat es wohl kaum jemand für möglich Geringverdiener davon profitieren. Unsere Fraktion hat gehalten, dass sich aus einer Bundesbehörde mit festge- gerade einen entsprechenden Antrag beschlossen. Doch fahrenen Strukturen eine Serviceagentur entwickelt, die dürfen diese Sparanreize für die Individuen nicht das sich nach den Bedürfnissen der von ihr zu betreuenden Kernelement einer Weiterbildungsstrategie sein. Viel Kunden richtet. wichtiger ist ein Erwachsenenbildungsförderungsge- setz. Das ist der entscheidende Hebel, um Weiterbildung Heute können wir feststellen, dass dieser Umbau im zu fördern. Und es würde uns auch viel mehr helfen als Großen und Ganzen hervorragend funktioniert hat, auch der Streit zwischen den Ministern Scholz und Schavan wenn es in einzelnen Teilbereichen noch Optimierungs- über einen Rechtsanspruch auf einen Hauptschulab- bedarf gibt. Daher möchte ich an dieser Stelle allen Ver- schluss. antwortlichen bei der Bundesagentur für Arbeit ein gro- ßes Lob aussprechen für ihr Engagement, dass sie bei Doch nicht nur das Erwachsenen-BAföG fehlt im Re- der BA geleistet haben und immer noch leisten. gierungskonzept. Es enthält auch kein Instrument, um speziell kleine und mittlere Unternehmen, KMU, zu Der mit der Reform eingeleitete organisatorische Um- mehr Weiterbildung anzuregen. Drei Viertel der KMU bau der BA geht dem Bericht zur Evaluierung der Hartz- bieten ihren Beschäftigten keine Weiterbildung. Wir Gesetze zufolge in die richtige Richtung. Transparenz, Grüne schlagen hier ein Anreizprogramm ähnlich den Effizienz und Wirtschaftlichkeit der Arbeit der BA wür- britischen „Small Firm Development Accounts“ vor. Es den deutlich gesteigert. Lobend erwähnt wurden in dem soll KMU helfen, Personalentwicklungs- und Weiterbil- Bericht die verbindlichen Zielvereinbarungen zwischen dungsstrategien zu etablieren. den verschiedenen Organisationsebenen der BA und das damit verbundene Controlling. Die neue Transparenz er- Eine Bemerkung noch zu Ihrem neuen Vorhaben laubt erstmalig eine fundierte Diskussion über die Quali- (B) „Lernen vor Ort“. Es ist ja richtig, dass man im Weiter- tät ihrer Dienstleistungen. (D) bildungsbereich die Vernetzung in der Region fördert. Genau dafür wurde ja auch das große Programm „Ler- Das Herzstück der Organisationsreform der BA war nende Regionen“ ins Leben gerufen, das seit 2001 läuft. das Modell des Kundenzentrums, das den Kundenstrom Bis heute war diese Regierung jedoch nicht in der Lage, in den Arbeitsagenturen systematisch steuern und die dieses Projekt ordnungsgemäß abzuschließen und in Beratungsleistung verbessern soll. Tatsächlich wurde die nachhaltige Strukturen zu überführen. Von den zwei gro- Vorgabe, mindestens 60 Prozent der arbeitnehmerorien- ßen wissenschaftlichen Begleituntersuchungen gibt es tierten Vermittlungskapazitäten für Beratungsgespräche bis heute keine öffentlich verfügbaren Abschlussbe- bereitzustellen, dem Bericht zufolge bereits im März richte. Das ist doch absurd. Da wird das eine Programm 2006 fast erreicht. Auch die Mitarbeiter der BA äußern mehr schlecht als recht abgewickelt, und dann stampft sich eher positiv zur Neuorganisation. man ein ganz ähnliches Projekt neu aus dem Boden. Das Dass in einem großen Verwaltungsapparat nicht alles ist überhaupt nicht nachhaltig. zu 100 Prozent den Erwartungen entsprechen kann, ist Die Regierung hat noch einen weiten Weg in der Wei- verständlich. Auch ich bin der Meinung, dass selbst bei terbildungspolitik vor sich. Aber wir geben die Hoff- optimaler Umsetzung aller Erwartungen noch Verbesse- nung nicht auf, dass sich etwas verbessert. Denn lernfä- rungen möglich und nötig sein können. Was jedoch nicht hig soll ja auch die Regierung ein Leben lang bleiben. nötig ist, ist das Suchen nach dem Haar in der Suppe, wie Sie es von der Linksfraktion mit Ihrem Antrag tun. Die Bundesagentur für Arbeit hat zur Optimierung Anlage 5 der Arbeitsabläufe und vor allem zur Steigerung der Kundenzufriedenheit 52 Servicecenter eingerichtet, die Zu Protokoll gegebene Reden sich mit den Problemen der Bürgerinnen und Bürger zur Beratung des Antrags: Kostenpflichtige auseinandersetzen. Dadurch werden bei den Vermittlern Service-Telefonnummer der Arbeitsagentur in Kapazitäten frei, die für die Vermittlung und Integration eine gebührenfreie Rufnummer umwandeln der Kunden in den Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen. (Tagesordnungspunkt 15) Darum muss es in erster Linie gehen, nämlich um eine Optimierung der eigentlichen Kernaufgabe der Bundes- agentur für Arbeit. Stefan Müller (Erlangen) (CDU/CSU): Mit den Ge- setzen für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt Die 3 000 Mitarbeiter der Servicecenter nehmen die wurde zwischen 2002 und 2004 ein ganzes Paket von telefonischen Anfragen für 480 Arbeitsagenturen auf Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008 17299

(A) und leisten damit einen besseren und schnelleren Dienst, aufs Polemisieren und darauf, einen Teufel an die Wand (C) als wenn jeder Arbeitsuchende bei seiner zuständigen zu malen, den es nicht gibt. Agentur anrufen müsste wie bisher. Das alte Problem war doch, dass die BA-Kunden mehrere Versuche ge- Sie vergleichen in Ihrem Antrag zudem Äpfel mit braucht haben, um ihre Arbeitsagentur direkt zu errei- Birnen, genauer gesagt die Bundesagentur für Arbeit mit chen. Das hat übrigens auch Telefongebühren gekostet, der Rentenversicherung Bund. Die kostenpflichtige Hot- die von den Betroffenen getragen werden mussten. Es line der BA mit der kostenfreien Hotline der Rentenver- kann also keine Rede davon sein, dass den Arbeitslosen sicherung gleichzusetzen, taugt nicht für eine schlüssige durch die Servicehotline zusätzliche Kosten entstehen. Begründung Ihres Anliegens. Wir haben es bei den Servicecentern mit einer Er- Die Rentenversicherung bearbeitet jährlich 3,8 Millio- folgsgeschichte zu tun. 80 Prozent aller Anrufer bekom- nen Anrufe auf ihrer Hotline im Vergleich zu 50 Millio- men bereits beim ersten Anruf einen sachkundigen Mit- nen Anrufen bei der Bundesagentur für Arbeit. Durch arbeiter in die Leitung, der sich direkt um seine Fragen dieses vergleichsweise geringe Volumen ist die Renten- kümmern kann. An Schnelligkeit ist das durch andere versicherung auch in der Lage, die Anrufe mit den be- Hotlines, die es mittlerweile für fast alles gibt, nicht zu reits vorhandenen Mitarbeitern zu bearbeiten, ohne zu- übertreffen. sätzlich Kräfte für eine Hotline finanzieren zu müssen. Das ist ein ganz anderes Betreuungssystem, das die Ren- Wenn wir schon über die Kosten für die Hotline dis- tenversicherung hier vorhält und das mit der BA in kei- kutieren, müssen wir auch über die Zahlen reden, um die ner Weise vergleichbar ist. es hier geht. Ein Anruf bei dieser Servicenummer kostet den Anrufer 3,9 Cent pro Minute. Ich habe mich bei der Mir geht es darum, dass allen Arbeitsuchenden in Bundesagentur für Arbeit einmal nach der durchschnitt- Deutschland so schnell und umfassend wie möglich ge- lichen Gesprächsdauer erkundigt, die ein solcher Anruf holfen wird. Der Hotlineservice leistet dafür die erfor- in Anspruch nimmt. Das sind exakt 2 Minuten pro Anru- derliche Arbeit und zwar schneller, kostengünstiger für fer. Wir reden hier also nicht von einer teuren Service- die Betroffenen und effektiver, als das je zuvor der Fall hotline, die dazu dient, die Kassen des Anbieters zu fül- gewesen ist. len, sondern von Kosten in Höhe von 7,8 Cent pro Anruf. Katja Mast (SPD): Immer Anschluss unter dieser Es ist doch allemal billiger, wenn den Kunden der BA Nummer – Ihre Bundesagentur für Arbeit! Und genau für 7,8 Cent pro Anruf geholfen wird, als wenn sie sich das haben mir viele Bürgerinnen und Bürger, Freunde für 2,10 Euro oder mehr einen Fahrschein für öffentliche und Bekannte versichert. Natürlich habe ich die Service- (B) Verkehrsmittel kaufen müssten, um zur Arbeitsagentur Telefonnummer auch selbst ausprobiert. Ich kann nur (D) zu fahren. Wir müssen doch die Maßstäbe im Auge be- bestätigen: Die Service-Telefonnummer der Arbeits- halten, über die wir hier diskutieren. Jede Fahrt zur Ar- agentur ist eine gut funktionierende Dienstleistung für beitsagentur kostet mehr als ein Anruf für insgesamt die Bürgerinnen und Bürger in unserem Land. Man be- 7,8 Cent und muss ohnehin von den Arbeitslosen bis zu kommt die Auskunft schnell, und der lange Weg zum einer Höhe von 6 Euro selbst getragen werden. Amt für jede Kleinigkeit ist Vergangenheit. Am Beispiel Es ist schlicht und ergreifend dreist, wenn Sie mit Ih- wird das klar: Aus Sternenfels im östlichen Enzkreis rem Antrag den Eindruck erwecken wollen, als würden kann es mit dem Zug bei zweimal Umsteigen bis zur Fa- hier hilflose BA-Kunden durch einen Anruf über Gebühr milienkasse in Nagold gut zwei Stunden dauern – ein belastet. Für jeden Kunden, bei dem das Gespräch länger Weg. Per Telefon bleibt man einfach gelassen daheim als diese 2 Minuten dauert, besteht die Möglichkeit, dass auf dem Sofa sitzen. er sich zurückrufen lässt und die Kosten dann zulasten Seit gut einem Jahr kann jeder bundesweit – von Frei- der BA gehen. Die Mitarbeiter der Servicehotline weisen burg bis Flensburg – unter ein und derselben Nummer auch auf diese Möglichkeit hin. bei der Bundesagentur für Arbeit Auskünfte am Telefon Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Servicehot- erhalten. Das klappt so, weil alle Kundenanrufe, egal line leisten eine hervorragende Arbeit und bewältigen woher, immer dorthin weitergeleitet werden, wo jemand pro Jahr 50 Millionen Anrufe. Das ist ein gigantisches frei ist – unnötige Warteschleifen werden vermieden. Dienstleistungsvolumen, das aus meiner Sicht auch Die Arbeitsvermittler in den 178 Arbeitsagenturen vor 7,8 Cent pro Anruf wert ist. Ort werden dadurch entlastet, um sich noch stärker auf ihre Hauptaufgabe zu konzentrieren: Die Arbeitsuchen- Wenn Sie in Ihrem Antrag schreiben, die Servicenum- den in Arbeit zu vermitteln und damit die Arbeitslosig- mer entlastet die Arbeitsagenturen vor Ort, dann ist das keit zu bekämpfen. richtig. Nicht richtig ist jedoch die Behauptung, diese Entlastung werde nicht an die Arbeitslosen weitergege- Aktuell betragen die von den Anrufern zu tragenden ben. Sie wird weitergegeben in Form von kürzeren Bear- Gebühren 3,9 Cent pro angefangener Minute aus dem beitungszeiten und qualitativ besserer Beratung. Sie ha- Festnetzanschluss. Die Gebühren erhält nicht die Bun- ben sich ja noch nicht einmal die Mühe gemacht und die desagentur für Arbeit – wie man irrtümlich annehmen Kosten beziffert, um die die Arbeitsagentur durch die könnte –, sondern sind ein ganz normaler Tarif der Deut- Servicenummer entlastet wird. Das wäre zumindest ein schen Telekom. Viele wissen es nicht, aber schon heute diskutabler Ansatz gewesen. Aber Sie beschränken sich kann man die Gebühren umgehen, denn die Ratsuchen- 17300 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008

(A) den werden jederzeit auch zurückgerufen – egal ob aufs alltägliche Einwirkung der Politik auf die Arbeitsver- (C) Festnetz oder aufs Handy. mittlung gang und gäbe war. Nach den erfolgreichen Hartz-Reformen bei der Modernisierung der Arbeitsver- Aber das ist mir und der SPD-Bundestagsfraktion mittlung gibt es aber eine Dreiteilung der Verantwort- noch nicht genug: Die Bundesagentur für Arbeit soll zur lichkeiten: Das Parlament setzt die Rahmenbedingun- besten Arbeitsvermittlung der Welt werden, und dazu gen. Das Bundesarbeitsministerium gewährleistet, dass gehört auch ein kostenloser Service für die Kunden. Es Gesetze beachtet werden, und ein starker Verwaltungsrat sind die Kunden, die die Agentur durch ihre Beiträge sorgt als Selbstverwaltungsorgan der Bundesagentur für und Steuermittel bezahlen. Wir brauchen also eine ge- Arbeit für die Zweckmäßigkeit und Durchführung der bührenfreie Service-Telefonnummer der Arbeitsagentur. Arbeitsvermittlung selbst und ist Kümmerer für den Ser- Wir Sozialdemokraten finden aber, dass wir mit unse- vicegedanken. ren Hartz-Gesetzen die Selbstverwaltung gestärkt haben. Denn es war unsere Gesetzgebung, die Schluss mit den Es gelten bei diesem Antrag Bertolt Brechts Worte: alltäglichen Eingriffen der Politik auf die Bundesagentur Das Gegenteil von gut ist gut gemeint. Oder auch: Gut für Arbeit gemacht hat. Aufgabe des Parlaments ist es, recherchiert ist halb gewonnen. In einem Punkt hat der die Rahmenbedingungen für die Arbeitsvermittlung per Antrag aber Recht: Wir brauchen eine gebührenfreie Gesetz zu beschließen, und es ist Aufgabe der Bundesre- Service-Telefonnummer der Arbeitsagentur. Dies ist gierung, die Rechtsaufsicht – also die Aufsicht darüber, Kern einer modernen Dienstleistungseinrichtung, die fi- dass dieses Recht eingehalten wird – bei der Bundes- nanziert wird aus den Beitragsmitteln und Steuergeldern agentur für Arbeit zu führen. Aber es ist eben auch Auf- ihrer Kunden! Wir Sozialdemokratinnen und Sozialde- gabe des Verwaltungsrates der Bundesagentur für Ar- mokraten fordern daher den Verwaltungsrat der Bun- beit, über die Organisationsfragen zu entscheiden. Das desagentur für Arbeit auf, seine Freiheit zu nutzen und ist auch der Grund, weshalb der Verwaltungsrat stark be- die gebührenfreie Servicenummer einzuführen! setzt ist – sowohl aus den Bundesländern, der Bundesre- gierung als auch mit Arbeitnehmer- und Arbeitgeberver- Jörg Rohde (FDP): Bevor ich auf den vorliegenden tretern. Antrag der Linken eingehe, wüsste ich gerne von den Kolleginnen und Kollegen der Linken, was sie eigentlich Und das ist auch der Grund dafür, weshalb ich der wirklich mit Initiativen wie der heute zur Beratung ste- Linken ausdrücklich widersprechen will, bei ihrem An- henden bezwecken. Wüsste ich es nicht besser, ginge ich liegen, die Bundesregierung könnte die Bundesagentur davon aus, dass Sie tatsächlich eine Verbesserung für die für Arbeit „anweisen“, eine gebührenfreie Service-Tele- Jobsuchenden in unserem Lande erreichen wollen. Aber fonnummer einzurichten. Es fehlt also wieder einmal bei Sie selbst wissen, dass der von Ihnen gewählte Weg zum (B) ihnen am richtigen Weg, das Ziel zu erreichen. Wenn der (D) Scheitern verurteilt ist, und das nehmen Sie billigend in Weg der falsche ist, kommt man nie am Ziel an! Kauf. Sie glauben doch nicht ernsthaft, dass die Koali- Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten wol- tionsfraktionen ihrem Antrag zustimmen, und sei er auch len aber, dass die Bürgerinnen und Bürger – so schnell noch so gut begründet. Das mag bedauerlich sein, ist wie möglich – den gewohnt guten Service kostenfrei be- aber nun einmal so. Uns von der FDP ergeht es da leider kommen. Das kann nur über das Selbstverwaltungsorgan nicht anders. Ihnen aber geht es nur um die Effektha- der Bundesagentur für Arbeit, den Verwaltungsrat, funk- scherei und die Pflege Ihres Images als Robin Hood der tionieren. Dieser wurde im Übrigen auch vor der Ein- Erwerbslosen. Sie suggerieren Aktivität, bewirken aber richtung der Servicenummern der Bundesagentur für Ar- nichts. Anstatt im Hintergrund Überzeugungsarbeit zu beit informiert. leisten und mithilfe der Medien sanften Druck in Ihrer Sache auf das Arbeitsministerium auszuüben, machen Doch wer sitzt in diesem Verwaltungsrat der Bun- Sie hier Ihr Anliegen zum Bestandteil Ihres arbeits- desagentur für Arbeit? Seit 2004 sitzen hier bis 2010 ins- marktpolitischen Dauerfeuerwerkes, von dem – wie je- gesamt 21 Vertreter der Arbeitnehmer, der Arbeitgeber der weiß – bekanntlich nur Schall und Rauch übrigblei- und der öffentlichen Körperschaften. ben wird. So hilft man den Menschen nicht, meine Vonseiten der Arbeitgeber sitzen im Verwaltungsrat Damen und Herren bei den Linken. beispielsweise die Bundesvereinigung der Arbeitgeber- Zum Antrag: Eine Begrenzung der Anrufdauer über verbände, die Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft das Instrument höherer Anrufkosten wäre in der Tat und der Bundesverband des Deutschen Groß- und Au- nicht hinnehmbar. „Fasse Dich kurz“ ist ein Gebot der ßenhandels. Vonseiten der Arbeitnehmer sind dies der Höflichkeit, darf aber insbesondere bei einkommens- Deutsche Gewerkschaftsbund und seine Einzelgewerk- schwachen Menschen nicht durch höhere Telefongebüh- schaften Verdi, IG Metall, IG Bau, NGG und IG BCE. ren erzwungen werden. Man muss hier immer sicherstel- Bei den öffentlichen Körperschaften sind dies unter an- len, dass kein Kunde durch hohe Telefongebühren von derem Vertreter von Bundesministerien und einzelne einem wichtigen Anruf bei der Beratungshotline abge- Landesarbeitsministerien: Günther Beckstein sitzt mit halten werden darf. Daraus aber nun gleich die Forde- seiner bayrischen Landesregierung genauso wie Jürgen rung nach Gebührenfreiheit abzuleiten, schießt übers Rüttgers mit seiner nordrhein-westfälischen Landes- Ziel hinaus und wird dem Gebot des sparsamen Um- regierung dabei. gangs mit Beitragsmitteln, aus denen sich die BA zu gro- Meine Position ist klar: Ich spreche mich gegen den ßen Teilen finanziert, nicht gerecht. 3,9 Cent pro Minute Antrag aus, weil er von anno dazumal ausgeht, als die sind ein Preis, der sich am oberen Ende der Ortstarife im Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008 17301

(A) Festnetz der Telekom befindet. Solange diese Ober- dass Arbeitslose über Jahre in die Arbeitslosenversiche- (C) grenze nicht überschritten wird, halte ich die Kosten für rung eingezahlt haben und dann im Versicherungsfall vertretbar. von der Arbeitsagentur und der Telekom ein zweites Mal zur Kasse gebeten werden. In Anbetracht der Tatsache, Das Angebot einer Hotline, die bundesweit unter der dass ein Hartz-IV-Empfänger im Monat über eine Tele- gleichen Rufnummer erreichbar ist, ist grundsätzlich fonpauschale von nur circa 23 Euro verfügt, ist dieses richtig. Die Gebühren dafür sollten nicht höher als die Verfahren besonders perfide. für ein Ortsgespräch sein. Diese Vorgabe ist mit 3,9 Cent pro Minute gerade noch erfüllt. Wünschenswert wäre es Die Bundesregierung begründet auf meine Anfrage darüber hinaus, wenn die Hotline auch im jeweiligen hin dieses Vorgehen wie folgt: Ortsnetz unter Umgehung der Sonderrufnummer an- „Als Alternative bestand die Möglichkeit einer wählbar ist. Denn immer mehr kostenbewusste Men- gänzlich gebührenfreien Rufnummer. Diese bringt schen telefonieren mit Flatrates oder speziellen Festnetz- ein erhöhtes Kostenrisiko, da die Anrufer auf die Tarif-Optionen, die in der Regel aber nicht für Sonder- Gesprächsdauer keine Rücksicht nehmen müssten. rufnummern gelten. Hier könnte man vielleicht noch nacharbeiten. Lassen Sie uns das in den Ausschussbera- Der Arbeitslose als Kostenrisiko, als Nervensäge, der tungen klären. die Bundesagentur von der eigentlichen Arbeit abhält, ist dies das Verständnis der Bundesregierung? War da nicht Aber viel wichtiger als die Kosten für die telefonische einmal die Rede von Kunden, die von der Arbeitsagentur Beratung ist doch deren inhaltliche Qualität. Und hier betreut werden sollen? Geht man so mit Kunden um, die kommen wir zum eigentlichen Pferdefuß der deutschen die Dienstleistung mit ihren jahrelang eingezahlten Bei- Jobvermittlung, die als weltfremdeste Arbeitsvermitt- trägen bereits vorfinanziert haben? Bemerkenswert ist, lung noch meilenweit vom Anspruch des Ministers dass die Deutsche Rentenversicherung schon 1999 ihre Scholz ist, die „weltbeste“ Jobvermittlung zu sein: Pra- kostenpflichtige Service-Telefonnummer wieder abge- xisferne, Bürokratie ohne Ende, lange Wartezeiten, wo- schafft hat, weil sie der Meinung war, dass eine kosten- chenlang keine Termine, ständig neue Ansprechpartner, pflichtige Telefonnummer keine kundenfreundliche Lö- falsche Bescheide, Klagen ohne Ende, das ist die Reali- sung ist. tät in den meisten Arbeitsagenturen. Hier muss sich et- was ändern. Warum ist die Deutsche Rentenversicherung schon im letzten Jahrtausend zu dieser Einsicht gekommen, und Die FDP predigt in diesem Haus gebetsmühlenartig, warum ist die Bundesagentur noch nicht zu der Erkennt- wie die Jobvermittlung verbessert werden kann: Mit ei- nis gekommen? Gibt es vielleicht andere Gründe für die ner Kommunalisierung dieser Aufgabe und einem Bundesagentur für die kostenpflichtigen Service-Tele- (B) (D) gründlichen Ausmisten der unzähligen nutzlosen Förder- fonnummern, vielleicht alte Freundschaften oder Seil- instrumente. Wir brauchen eine schlägkräftige Jobver- schaften? mittlung vor Ort, die sowohl die Erwerbslosen als auch die lokalen und regionalen Arbeitgeber bestens kennt Die Telekom hat von der Bundesagentur einen und mit wenigen, aber zielgenauen und effizienten För- 100 Millionen Euro schweren Auftrag zugeschanzt be- derinstrumenten dort hilft, wo eine Vermittlung sonst kommen. Die Einnahmen aus der Service-Nummer be- nicht erfolgen kann. Hier ist die Bundesregierung in der kommt die Telekom noch obendrauf. 2007 sind 50 Mil- Bringschuld, nicht zuletzt auch deshalb, weil es den lionen Anrufe bei den Arbeitsagenturen eingegangen. Wählern im Koalitionsvertrag von Schwarz-Rot verspro- Damit hat die Telekom auf Kosten der Arbeitslosen Mil- chen wurde. Passiert ist bislang nichts. Ob Müntefering lionen eingestrichen. Doch wie sich jetzt herausstellte, oder Scholz: Diese Minister hatten und haben nicht den ist das nur eine netter Bonus für die Telekom. Die Bun- Mut, die Arbeitsmarktreformen fortzusetzen. Stattdessen desagentur hat mit dem Konzern für die Bereitstellung überlässt die Bundesregierung den Linken das Feld, die und die Erbringung von Telekommunikationsdienstleis- das Parlament Woche für Woche mit Schaufensteranträ- tungen einen Vertrag über 60 Monate geschlossen. gen zur Sozialpolitik überziehen. Vor allem von den Ko- Dafür zahlt die Bundesagentur die bereits erwähnten alitionsparteien CDU und CSU sowie der Bundeskanzle- circa 100 Millionen Euro. Der Auftrag an die Telekom rin hätte ich deutlich mehr erwartet. Es wird Zeit, dass wurde freihändig vergeben, was bei dieser Summe schon die Liberalen wieder Verantwortung für Deutschland ein weiterer Skandal ist. übernehmen. Wir sind vorbereitet! Die Linke fordert mit ihrem Antrag die Bundesregie- Dr. Gesine Lötzsch (DIE LINKE): „Fordern und rung auf, die Bundesagentur anzuweisen, dass die bisher Fördern“ war das Konzept der Bundesregierung. Jeder, kostenpflichtige bundesweite Service-Nummer der Bun- der diesen flotten Spruch ernst genommen hat, muss sich desagentur in eine gebührenfreie Rufnummer umgewan- veralbert vorkommen. delt wird. Als Haushälterin meiner Fraktion will ich da- rauf hinweisen, dass der Bundesagentur dadurch keine Das Konzept der Bundesagentur für Arbeit lautet: Mehrkosten entstehen, da die Einnahmen der Service- „Arbeitsuchende, bitte melden Sie sich nicht und rufen Telefonnummer vollständig an die Telekom gehen. Die Sie auch nicht an! Wenn Sie anrufen, dann müssen Sie Bundesagentur muss mit der Telekom den 100-Millio- zahlen.“ Arbeitsuchende zahlen 3,9 Cent pro Minute, nen-Euro-Vertrag nachverhandeln und sicherstellen, wenn sie sich mithilfe der Agentur aktiv um Arbeit küm- dass die Telekom im Rahmen des üppigen Vertrages die mern wollen. Das ist unverschämt, wenn man bedenkt, gebührenfreie Rufnummer absichert. 17302 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008

(A) Wer der Auffassung ist, dass Arbeitslose keine Bitt- Arbeitslosen, sondern auch den Sinn und Zweck von Be- (C) steller sind, wer der Auffassung ist, dass sich die Tele- ratungstelefonen. Es geht darum, seine Anliegen zu erle- kom nicht auf Kosten der Arbeitslosen eine goldene digen und Fragen beantwortet zu bekommen. Da ist für Nase verdienen darf, und wer der Auffassung ist, dass die Dauer aus meiner Sicht vor allen Dingen entschei- die Bundesagentur die Arbeitslosen nicht abwimmeln dend, wie kompetent und schnell diese Anliegen und darf, sondern sich noch intensiver um ihre Probleme Fragen bearbeitet werden. kümmern muss, der kann unserem Antrag nur zustim- men. Lebhaft ist mir noch die Erzählung des Kollegen Romer von der CDU im Ausschuss in Erinnerung, der in der Sache eines Bäckermeisters aus seiner Region mehr Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): als einen Tag lang vergeblich versuchte, über die Ser- Arbeitslose oder absehbar von Arbeitslosigkeit betrof- vicenummer der Bundesagentur eine bestimmte Sachbe- fene Menschen sind per Gesetz mit vielen Pflichten be- arbeiterin zu fassen zu bekommen. Das lag sicherlich legt. Es besteht aus meiner Sicht kein Anlass, sie für die nicht am Sprechbedürfnis des Kollegen Romers, aber Erledigung dieser Pflichten auch noch bezahlen zu las- das können wir bestimmt in der anstehenden Ausschuss- sen. Denn ein Anruf bei der Service-Nummer der Arbeits- beratung noch klären. agentur kann ganz schön ins Geld gehen: Festnetz- aber auch Flatratekunden zahlen 3,9 Cent pro Minute; Mobil- Wir unterstützen das Anliegen, und ich würde mich kunden können sogar bis zu 72 Cent pro Gesprächsmi- freuen, wenn wir insgesamt zu einer einmütigen Auffas- nute loswerden; bei Prepaidkarten liegen die Kosten teil- sung gelangen. weise noch höher.

Ende letzten Jahres hat der Vorsitzende des Vorstands Anlage 6 der Bundesagentur für Arbeit, Herr Weise, im Ausschuss für Arbeit und Soziales berichtet, dass pro Woche mehr Zu Protokoll gegebene Reden als 1 Million Anrufe bei der Servicenummer eingehen. Selbst wenn wir von kurzen Gesprächen und dem ge- zur Beratung der Beschlussempfehlung und des ringsten Gebührensatz ausgehen, kann sich jeder hier Berichts: Mitteilung der Kommission an den lebhaft vorstellen, welche enorme Gebührensumme da Rat, das Europäische Parlament, den Europäi- Monat für Monat zusammenkommt. schen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Eine europäische Wenn Arbeitslose Fragen zu ihrer Situation haben, ei- Initiative zur Entwicklung von Kleinstkrediten nen Gesprächstermin mit ihrem Berater vereinbaren oder für mehr Wachstum und Beschäftigung (Tages- (B) junge Menschen die Berufsberatung in Anspruch neh- ordnungspunkt 16) (D) men wollen – in jedem Fall werden sie abkassiert, wenn sie sich zu diesem Zweck an die zentrale Telefon-Ser- Eckhardt Rehberg (CDU/CSU): Die europäische vicenummer der Bundesagentur wenden. Und, das hat Initiative zur Entwicklung von Kleinstkrediten für mehr Herr Weise ebenfalls berichtet, auch viele Arbeitslosen- Wachstum und Beschäftigung soll das Marktumfeld von geld-II-Bezieher nutzen die Servicenummer. Dass ge- Mikrofinanzinstituten verbessern, wenn nicht gar auf- rade sie aber wenig Geld für teure Nummern haben, bauen. Begründet wird das Ganze damit, dass diese Kre- dürfte allseits bekannt sein. Die Gebühren für die Ser- dite mit einem Volumen von bis zu 25 000 Euro nur sel- vicenummer – da stimmen wir der Linken zu – müssen ten den Weg zu Kleinstunternehmen mit weniger als weg. zehn Beschäftigten bzw. Nichterwerbspersonen oder Ar- Um nicht missverstanden zu werden: Ich halte die beitslosen schaffen, denen so der Start in die Selbststän- Einrichtung einer zentralen Nummer und das Angebot digkeit erleichtert werden soll. Sicher sind wir als der telefonischen Erledigung von Geschäftsvorgängen Unionsfraktion, auch als Koalition, der Meinung, wil- für eine nützliche Sache. Aber ich halte nichts davon, lens und auch bemüht, diese Personen zu unterstützen, das Ganze mit einer indirekten Gebühr über Telefonkos- wo es nur möglich ist. Nur stellt sich die Frage: Ist die ten zu belegen. von der Europäischen Kommission angestrebte Initiative auch zielführend? Sicher können Arbeitslose dadurch Zeit und vielleicht sogar Geld sparen, wenn beispielsweise Fahrtkosten In Deutschland existieren bereits sehr gute Ansätze wegfallen. Aber auch die Bundesagentur für Arbeit hat zur Förderung der Vergabe von Kleinstkrediten, wie durch die telefonische Bearbeitung Vorteile und Effi- etwa durch die KfW. Bevor ich jedoch auf deren Förder- zienzgewinne, sodass beide Seiten profitieren. Das sollte programme zu sprechen kommen möchte – abgesehen genügen. davon, ob es in Deutschland auch ohne die Initiative geht – möchte ich auf den Entschließungsantrag der Die Bundesregierung vertritt ja offenbar die Meinung Fraktionen von CDU/CSU, SPD und FDP aufmerksam – so verstehe ich jedenfalls die im Antrag zitierte Äuße- machen. Hierin sprechen wir uns ausdrücklich gegen die rung von Staatssekretär Thönnes –, dass nur Gebühren Schaffung einer neuen Fazilität mit Fachpersonal auf die Anrufer auf die Gesprächsdauer achten ließen und EU-Ebene, die bankfremde Mikrofinanzinstitute finan- sie anderenfalls die Service-Nummern dazu nutzten, um ziell und technisch unterstützen soll, aus. Denn selbst sich mal wieder so richtig auszusprechen. Ich glaube, wenn diese neue Mitarbeiterstruktur aus dem Budget der diese Auffassung verkennt nicht nur die Situation von Strukturfonds finanziert würde, so bedeutet dieser Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008 17303

(A) Schritt eine erneute Erweiterung der umfangreichen EU- Im Jahr 2006 reichte die KfW etwa 661 000 Mikrofi- (C) Verwaltung. Über das löbliche Bemühen um die Förde- nanzierungen in Höhe von bis zu 25 000 Euro aus. Diese rung von Kleinstkrediten darf das Subsidiaritätsprinzip Förderungen erreichten ein Gesamtvolumen von 5,28 Mil- nicht vergessen werden. Ein europäischer Mehrwert ist liarden Euro. bei der Schaffung einer solchen neuen administrativen Um Unternehmensgründungen generell zu finanzie- Einheit absolut nicht erkennbar. Zumal, wo Mitglied- ren, griffen 319 000 Gründer auf externe Finanzmittel staaten in ihren eigenen Ländern seit Jahren zu Recht be- zurück. Bei einem Volumen von fast 9 Milliarden Euro müht sind, Ministeriums- und Verwaltungspersonal ab- beliefen sich 68 Prozent auf ein geringeres Volumen als zubauen. Nicht zu Unrecht hat unsere Bundeskanzlerin 10 000 Euro. den Bürokratieabbau auf nationaler und europäischer Ebene zur Chefsache erklärt, wurde der Nationale Nor- Auch die Personengruppe von Frauen, die von der menkontrollrat errichtet und haben wir uns in der Koali- Kommission als besonders förderungsbedürftig einge- tion zum Ziel gemacht, die Belastung noch in dieser Le- stuft wird, schneidet überraschen gut ab. In Mecklen- gislaturperiode um 12,5 Prozent abzubauen. burg-Vorpommern, einem Bundesland, in dem die För- derung von regionaler Wirtschaft ein enorm wichtiges Auch die von der Kommission geplante Einrichtung Anliegen ist, entfielen 2007 beispielsweise etwas mehr einer Schuldnerdatenbank auf europäischer Ebene lehnen als anderthalbmal so viele positiv votierte Zusagen auf wir strikt ab und verweisen auf schon bestehende Institu- Frauen wie auf Männer. tionen wie zum Beispiel in Deutschland die SCHUFA Holding AG. Auch hier muss der regionalen Verschieden- Dass trotz der positiven Entwicklung die Vergabe von heit der einzelnen Mitgliedstaaten Rechnung getragen Kleinstkrediten nicht ausreicht, wollen wir hier aber gar werden. nicht bestreiten. So werden Gründungsfinanzierungen, bei denen ein höheres Startkapital als 25 000 Euro benö- Der Vorschlag nach Lockerung der Zinscaps inten- tigt wird, zum Großteil über Bankdarlehen finanziert. Im diert eine höhere Bereitstellung von Kleinstkrediten. Da Rahmen von bis zu 10 000 Euro erfolgt dies aber nur zu durch diese Lockerung eine Kostendeckung erzielt wer- knapp 40 Prozent und im Bereich zwischen 10 000 und den soll, bedeutet im Umkehrschluss jedoch, dass die 25 000 Euro nur zu etwa 25 Prozent. Hier werden viel Zinsen erheblich steigen würden. Und wer wäre schon öfter Freunde und Bekannte um Unterstützung gebeten. bereit, einen Kleinstkredit mit einem Zinssatz von bis zu Dies indiziert natürlich, dass der Zugang zu Kleinstkre- 20 Prozent aufzunehmen? Zinscaps sollten definitiv in diten zu aufwendig gestaltet ist. der Verantwortung der einzelnen Mitgliedstaaten ver- bleiben. Aber auch hier hat die KfW Mittel und Wege geschaf- (B) fen: So gibt es beispielsweise das Programm „StartGeld“ (D) Auffällig ist auch die offensichtliche Diskrepanz bei mit tilgungsfreien Anlaufsjahren für junge oder neu zu der Bewertung der Kommission bezüglich der Abde- gründende Unternehmen und sogar der Möglichkeit, den ckung von Verwaltungskosten durch Institutionen auf Kredit außerplanmäßig ohne Vorfälligkeitsentschädigung nationaler Ebene auf der einen und auf europäischer zurückzuzahlen. Die Zusagen haben sich in Deutschland Ebene auf der anderen Seite. Die Übernahme von Ver- hierbei von 2 600 mit einem Volumen von 86 Millionen waltungskosten für Kleinstkredite durch die National- Euro im Jahr 2006 auf 3 500 Zusagen und ein Volumen staaten kann von der Generaldirektion Wettbewerb als von 113 Millionen Euro in 2007 erweitern können. Eine nicht hinzunehmender Beihilfetatbestand eingestuft und ähnlich positive Entwicklung zeichnet sich auch im somit verboten werden. Eine Übernahme der Verwal- Segment der Darlehen zwischen 5 000 und 10 000 Euro tungskosten durch einen Fond beim EIF, der durch steu- ab. Auch hier stieg die Anzahl der Zusagen um 1 000 ge- erlich begünstigte Einlagen Dritter gespeist wird, gilt genüber dem Vorjahr auf insgesamt 2 400 Zusagen in hingegen als beihilferechtlich unbedenklich. Ein solches 2007. Vorgehen, das darauf abzielt, Kompetenzen über den Weiter existiert seit September 2006 der Mikrofinanz- Weg des Wettbewerbsrechts an sich zu ziehen, ist nicht fonds Deutschland. Dieser wurde durch das Bundesmi- akzeptabel. nisterium für Wirtschaft und Technologie mithilfe des Wir fordern allerdings die Bundesregierung auf, sich ERP-Sondervermögens, durch das Bundesministerium auf europäischer Ebene für einen möglichst unbürokrati- für Arbeit und Soziales mit ESF-Mitteln und die KfW schen Gesetzesrahmen einzusetzen. Wenn wir den Blick sowie die GLS-Bank gegründet. Das Programm zielt ge- auf vor allem osteuropäische Mitgliedsländer richten, nau auf Gründer und Kleinunternehmer mit erschwertem stellen wir fest, dass dort kleinere Unternehmen Pro- Zugang zu Bankkrediten ab. In Zusammenarbeit mit lo- bleme beim Zugang zu Kleinstkrediten haben. Die Ver- kalen Mikrofinanzierern gelingt es hier, auch bei sprach- gabe solcher Kredite wird dort bislang nicht im notwen- lichen Barrieren und Gründungen aus Arbeitslosigkeit digen Umfang von der Kreditwirtschaft abgedeckt. heraus, echte Starthilfe für Unternehmen zu bieten. Da der Fonds das Risiko zu 100 Prozent gegen Ausfall absi- Hier wollen wir eine politische Unterstützung für den chert, gehen die Banken gerne diese Verbindung ein. Be- Vor-Ort-Aufbau spezieller Mikrofinanzinstitute in den sonders erfolgreich war diese Mischung aus „Beratung osteuropäischen Mitgliedsländern und betrachten dies und Kleinstkredit“ in solch strukturell schwachen Gebie- unter den in der Bundesrepublik Deutschland gesammel- ten wie etwa in Berlin-Pankow oder der Dortmunder ten guten Erfahrungen als sinnvolle Maßnahme. Schauen Nordstadt. Der Erfolg dieses Programms liegt hier mit wir so einmal, welch gute Erfahrung das sind. Sicherheit an der Transparenz und den niedrigen Kosten, 17304 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008

(A) die durch die Nähe vorgegeben sind. Eine europäische der Lissabon-Strategie für mehr Beschäftigung zu sor- (C) Institution würde dies nicht erreichen. gen. Beschäftigung und damit Arbeitsplätze entstehen nicht nur in bestehenden Unternehmen, sondern wir erle- Schließlich müssen wir uns als Politiker nicht jeden ben gerade auch bei uns in Deutschland eine Zunahme Schuh anziehen. Der private Mikrofinanzsektor weist ein von Existenzgründungen. Lange Zeit war ein solcher hohes Wachstum auf: Das Volumen der privaten Investi- Schritt für Menschen, die gerade die Hochschule verlas- tionen konnte sich zwischen 2003 und 2005 fast verdop- sen haben, aber auch für solche, die arbeitslos geworden peln. Auch der Blick ins außereuropäische Ausland ist sind, praktisch undenkbar. In Deutschland gab es dafür hier erlaubt. Denn nicht zuletzt wurde Muhammad kein Klima – und auch kein Geld. Yunus, der vor über 30 Jahren die indische Grameen Bank gegründet hat, im Jahr 2006 hierfür mit dem Friedensno- Mit der Agenda 2010 haben wir hier in Deutschland belpreis ausgezeichnet. Die Grameen Bank vergibt Kleinst- die Eigeninitiative verstärkt gefördert, Existenzgründun- kredite an Arme, die bei herkömmlichen Banken durchs gen unterstützt. In der Zwischenzeit liegen auch Er- Raster fallen. Seit Gründung gewährte das Institut insge- kenntnisse zu Existenzgründungen und deren notwendi- samt Gelder in Höhe von 5,8 Milliarden Dollar. Die gen Rahmenbedingungen vor. Auch haben sich Banken, Rückzahlungsrate lag bei 98,9 Prozent. Nach Schätzun- und zwar von der KfW bis zu den Sparkassen und Ge- gen der Beratungsgruppe zur Unterstützung der Armen, nossenschaftsbanken, und auch Privatinitiativen auf CGAP, einem Zusammenschluss von Entwicklungshilfe- diese Unternehmensgründungen eingerichtet und helfen und Finanzorganisationen, gibt es weltweit 2700 lokale mit gezielten Programmen, welche von der Beratung bis Mikrofinanzinstitute, die bisher 750 Millionen Kleinst- hin zu günstigen Finanzierungsmöglichkeiten auch von kredite in Höhe von durchschnittlich 345 Dollar vergeben Kleinstkrediten reichen. Natürlich ist dabei nicht zu ver- haben. kennen, dass eben nicht alle Existenzgründungen in ei- ner Erfolgsgeschichte enden. Aber weit mehr als die Eines der größten Mikrofinanzinstitute ist die Ban- Hälfte der Existenzgründer haben es geschafft: Sie sind kengruppe ProCredit. Sie ist mittlerweile in 19 Ländern nicht nur weiterhin am Markt, sie haben auch zusätzliche vertreten und erhielt von der Ratingagentur Fitch die Bo- Arbeitsplätze geschaffen. Ohne vorhandene Unterstüt- nitätsbezeichnung „Investment-Grade“. Sie vergibt Kre- zung durch Kleinkredite wären aber viele Gründerinitia- dite nur an Kleinunternehmer, die mindestens sechs Mo- tiven nicht möglich gewesen. Deshalb sage ich es hier nate im Geschäft sind. Seit Gründung der Bankengruppe auch ausdrücklich: Das Thema Kleinstkredite ist von 1998 sind 50 Millionen Euro staatlicher Subventionen an großer Bedeutung für das Unternehmertum bei uns und ProCredit geflossen. auch nicht mehr wegzudenken. Aber auch ohne staatliche Subventionen können Ban- (B) Dass sich die EU-Kommission mit diesem Instrument (D) ken in diesem Bereich erfolgreich wirtschaften. So ha- befasst, weil es im Einzelfall zwar wenige, aber in der ben Banken wie Dexia, Credit Suisse und Rothschild Gesamtheit viele Arbeitsplätze schaffen kann, und somit breit zugängliche Fonds aufgelegt. Leider erfahren dies die Lissabon-Strategie unterstützt, ist absolut richtig. Al- Kleinanleger aber überhaupt erst gar nicht. Das hat fol- lerdings sind die dabei ins Auge gefassten Mittel und genden Grund: Kreditgeschäfte werden normalerweise Wege nicht die, die wir von deutscher Seite her unter- von der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht, stützen sollten, weil sie massiv in das Subsidiaritätsprin- BaFin geprüft. Da die Kredite der betreffenden Fonds zip eingreifen. aber von ausländischen Mikrofinanzbanken vergeben werden, fallen sie nicht unters Kreditwesengesetz und Die EU-Kommission greift zunehmend in die Fein- werden von der BaFin nicht durchleuchtet. Daher dürfen steuerung von wirtschaftlichen Prozessen ein und setzt sie weder offiziell zugelassen noch beworben werden. sich so dem Vorwurf der Gleichmacherei aus. Die Über- Sie sind nur über die direkte Anfrage bei der Fondsge- legungen zur Regelung von Kleinstkrediten auf europäi- sellschaft oder über Banken erhältlich. Hier können und scher Ebene kommen ja nicht von ungefähr. Im Novem- müssen wir ansetzen, um dem Engpass der Versorgung ber 2007 wurde diese Mitteilung über eine europäische mit Kleinstkrediten entgegenzuwirken. Initiative zur Entwicklung von Kleinstkrediten für mehr Wachstum und Beschäftigung erstellt. Auch kann der Gesetzesentwurf der Bundesregierung zur Modernisierung des GmbH-Rechts eine Möglichkeit Am 1. Februar 2008 startete die EU-Kommission eine sein, den Start in die Selbstständigkeit zu erleichtern. bis zum 31. März 2008 laufende öffentliche Konsulta- Hier muss das Mindeststammkapital auf 10 000 Euro tion zur geplanten europäischen Regelung für kleine Un- statt wie bisher 25 000 Euro, gesenkt werden. ternehmen, den sogenannten Small Business Act. Wenn wir dies erreichen und sich die Vergabe von Mit dieser Konsultation will die EU-Kommission un- Kleinstkrediten weiter etabliert, Kleinstkredite den Weg ter anderem auch Einblick in bestehende Probleme und zu Unternehmen finden, wenn die KfW Beispiel sein Chancen vom Marktzugang einschließlich der Finanzie- kann, wie wir durch deutsches Know-how osteuropäi- rungsmöglichkeiten von KMUs erhalten. Wenn sie dann sche Mitgliedsländer unterstützen können, dann ist dies ein Maßnahmenpaket als Ergebnis der Konsultation im allemal zielführender als eine europäische Initiative. Juni 2008 vorlegen wird, wird mit Sicherheit eben die Mitteilung herangezogen, über die wir hier debattieren. Doris Barnett (SPD): Nach wie vor gehört zu den Ich will ja nicht behaupten, dass der Maßnahmenkata- obersten Zielen in der Europäischen Union, im Rahmen log, der als Ergebnis der Konsultation in 2008 zum Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008 17305

(A) Small Business Act vorgelegt werden wird, bereits im mit Millionen-Euro-Beträgen zu tun haben, sondern mit (C) November 2007 feststand, aber auf den Gedanken Kreditsummen von durchschnittlich 7 000 bis 10 000 könnte man schon kommen. Euro und recht kurzen Laufzeiten. Bisher organisieren die Mitgliedstaaten ihr Kreditwesen auch auf dem Ge- Die Art und Weise, wie die EU-Kommission nun den biet vernünftig und bauen es aus. Schließlich erzeugt die Markt für Kleinstkredite ankurbeln und attraktiv machen Nachfrage nach Kleinstkrediten auch das entsprechende will, kann allerdings nicht auf Zustimmung stoßen, wes- Angebot. Aber nur weil es bisher in den Bankberichten halb sich der Wirtschaftsausschuss auch entschlossen keine ausführlichen Angaben zur Entwicklung dieses hat, diese Entschließung zu fassen und die Bundesregie- Kreditsektors gibt, bedarf es im Umkehrschluss nicht au- rung aufzufordern, in Brüssel entsprechend zu handeln. tomatisch einer europäischen Einrichtung, die nicht nur Lassen Sie mich ein paar Punkte herausgreifen: zusätzliches Geld kostet bzw. Geld braucht, das dann Bei den Kleinstkrediten handelt es sich um Durch- seinem ursprünglichen Zweck nicht zugeführt werden schnittsbeträge von 7 000 Euro bis 10 000 Euro. Wegen kann, nämlich den Strukturfonds. der relativ geringen Kreditsumme und der kurzen Lauf- Bedenkt man die notwendigerweise entstehende Büro- zeiten fallen die Verwaltungskosten in der Relation recht kratie, die hinter einem solchen Sonderreferat steckt, das hoch aus, die durch die Zinscaps aber nicht abgebildet darüber hinaus auch noch Gütesiegel verteilen will, wofür werden können. Die EU-Kommission will diese es ja auch Richtlinien geben muss mit Statistiken, Notifi- Zinscaps lockern. Damit sollen höhere Zinsen möglich zierungsanforderungen, Kontrollverfahren, Genehmigun- sein, die ja – so meint die Kommission – durch die kur- gen usw., dann darf, nein es muss an dieser Stelle dann zen Laufzeiten nicht auffallen! Diese Begründung macht auch nachgefragt werden, welchen Sinn diese ganze Ein- mich doch schon etwas sprachlos; denn mit günstigen richtung überhaupt macht, wenn doch die Kommission Kleinstkrediten soll doch den Existenzgründern geholfen gleichzeitig an „Schnellmaßnahmen zur Verringerung werden, die in den allermeisten Fällen gar nicht über ei- der Verwaltungslasten in der Europäischen Union“ ar- gene Rücklagen verfügen, also auf jeden Euro angewie- beitet – ich beziehe mich hier auf die Mitteilung der sen sind. Wenn ein leichter Kreditzugang nur durch hohe Kommission vom 13. März 2008 über die für 2008 vor- Zinsen gewährt werden kann, wird das nicht zu einer gesehenen Sofortmaßnahmen zur Verringerung der Ver- größeren Bereitschaft führen, eben diese Kredite aufzu- waltungslasten in der Europäischen Union. Ich rate des- nehmen und sich selbständig zu machen, weil die Belas- halb der EU-Kommission, sich an ihren selbst gestellten tung ja nicht mehr abschätzbar wird. Auftrag zu halten und unnötige Verwaltungslasten zu Des Weiteren ist es mehr als fraglich, ob der Aufbau ei- vermeiden. ner gemeinsamen europäischen Datenbank über Schuld- (B) nerausfall und Verluste bei Kleinstkrediten nebst EU-weit Deshalb fordert die SPD-Bundestagsfraktion noch- (D) einheitlichen Bewertungshilfen tatsächlich dem Ausbau mals nachdrücklich die Bundesregierung auf, sich bei von Kleinstkreditgeschäften hilft. Die Kreditinstitute ha- der EU-Kommission dafür einzusetzen, diese Initiative zu ben sicherlich nichts gegen eine solche Datenbank, die ih- Kleinstkrediten zu stoppen und den Mitgliedstaaten im nen zur Verfügung steht. Aber ob diese Sammelwut auch Rahmen der Subsidiarität die Organisation von Kleinst- dem Datenschutz oder gar dem Verbraucherschutz der krediten zu überlassen. Ich bin sicher, dass im Rahmen potenziellen Kreditnehmer dient und entspricht, ist wohl von Kooperationen Mitgliedstaaten sich gegenseitig in Frage zu stellen. auch beim Aufbau bzw. bei der Weiterentwicklung von Kleinstkrediten helfen werden. Das Risiko von Kreditinstituten, die Kleinstkredite vergeben, dadurch abzumildern, indem man es auf die Paul K. Friedhoff (FDP): Mit der heutigen Be- Steuerzahler abwälzt, ist auch nicht akzeptabel, wenn die schlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Kommission ja gleichzeitig die Lockerung der Zinscaps Technologie beraten wir eine gemeinsame Initiative der fordert und somit schon Kosten und Risiken auf den Regierungskoalition und der Fraktion der FDP. Es ist das Kreditnehmer abwälzt. Deshalb muss hinterfragt wer- erklärte Ziel der Initianten, auf Basis einer breiten parla- den, warum Einzelpersonen oder Unternehmen, die Geld mentarischen Unterstützung eine konstruktive Korrektur in private Mikro-Kreditinstitute geben oder gar in Form der vorliegenden Initiative der Europäischen Kommis- von Schenkungen einbringen, Steuernachlässe erhalten sion anzuregen. Eine starke bundesdeutsche Position zu sollten. Die Frage ist deshalb notwendig, weil die Kom- finden, ist deshalb im Interesse aller Fraktionen im Deut- mission ja selbst im Rahmen ihrer Kohäsionspolitik eine schen Bundestag. eigene Kleinstkreditfazilität einrichten will und somit Fi- nanzmittel und technische Hilfe bereitstellen will. Die Förderung der Entwicklung von Kleinstkrediten Dazu schlägt die Kommission ein eigens dafür einzu- ist wirtschafts- und sozialpolitisch zu begrüßen. Wirt- richtendes Sonderreferat beim Europäischen Investi- schaftliche Dynamik kann sich nur einstellen, wo Risiko- tionsfonds vor, das sich aus Mitteln der Strukturfonds fi- bereitschaft, Eigeninitiative und Unternehmertum nicht nanzieren würde. Dieses Sonderreferat würde dann wohl durch den mangelhaften Zugang zu adäquat bepreistem auch das vorgeschlagene Gütesiegel entwickeln und eu- Fremdkapital eingeschränkt oder abgewürgt wird. Ge- ropaweit verleihen. rade für Freiberufler und kleine Gewerbetreibende ist deshalb die Verfügbarkeit von kleinen Kreditsummen Ich muss zugeben, dass die Kommission hier alles be- beispielsweise zur Finanzierung von Produktionsmate- dacht hat – nur nicht die Tatsache, dass wir es hier nicht rialien von entscheidender Bedeutung. Mikrokredite sind 17306 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008

(A) somit ein nachhaltiger Beitrag zur Stärkung mittelständi- sion will Mikrokredite in Europa fördern. Sie will dazu (C) scher Strukturen. unter anderem eine neue Behörde schaffen und fordert die Mitgliedstaaten auf, vorgeschriebene Zinsobergren- Gegen die Initiative der Europäischen Kommission zen abzuschaffen, die bislang insbesondere Wucher spricht aus unserer Sicht vor allem die Verletzung des verhindern sollen. Diese Forderungen kritisieren die Ko- Subsidiaritätsprinzips. Neue Bürokratie, Zentralisierung alitionsfraktionen und die FDP in ihrem Entschließungs- von Verantwortlichkeiten und Kompetenzverlagerung antrag zu Recht. Denn selbst wenn insbesondere in den auf die europäische Ebene stehen den Bedürfnissen der neuen Mitgliedstaaten Osteuropas Probleme bei der Kre- Kreditnehmer entgegen. Mehr noch als das klassische ditfinanzierung von Kleinstunternehmen bestehen – es Kreditgeschäft bedarf es im Bereich von Kleinstkrediten bleibt immer noch zweifelhaft, ob diese Probleme durch schlanker Strukturen, klarer dezentraler Verantwortlich- die zentralisierte Regulierung des Mikrofinanzbereichs keit und einer hohen Flexibilität bei der Berücksichti- effektiv bekämpft werden können. gung lokaler Standortfaktoren. Die Schaffung neuer Planstellen beim markt- und kundenfernen Europäischen Die wirklich kritischen Punkte in der EU-Vorlage Investitionsfonds lehnen wir deshalb ab. werden im vorliegenden Entschließungsantrag aber mit keinem Wort erwähnt. Und das ist äußerst schade, liebe Ein funktionsfähiger Binnenmarkt ist auch nicht auf Kolleginnen und Kollegen aus der Regierungskoalition! eine staatlich organisierte Schuldnerdatenbank auf euro- päischer Ebene angewiesen. Ziel muss es vielmehr sein, Ich habe bereits gesagt, dass Muhammad Yunus die privatwirtschaftliche Strukturen zu fördern und gleich- Idee der Mikrofinanzen entwickelte, um Menschen zeitig Voraussetzungen für einen intensivierten System- – insbesondere Frauen – in den ärmsten Ländern der und Strukturwettbewerb auch in diesem Wirtschaftssek- Welt eine Möglichkeit zur Selbsthilfe zu geben, damit tor zu schaffen. Die bereits bestehenden Strukturen in sie die schlimmste Armut überwinden können. Eines den einzelnen Mitgliedstaaten werden von der Europäi- können Mikrokredite aber auf keinen Fall sein, meine schen Kommission in der vorliegenden Mitteilung nicht Damen und Herren! Sie können kein Ersatz für starke ausreichend gewürdigt. Sozialsysteme und eine vernünftige Arbeitsplätze schaf- fende Wirtschaftspolitik in Europa sein! Genau das will Der von uns getragene und heute zu beratende Be- uns die EU-Kommission in ihrer Mitteilung aber weis- schluss des zuständigen Ausschusses stellt eine politi- machen, wenn sie die Mikrokredite in einen Zusammen- sche Konsenslösung dar. Im Sinne einer möglichst effek- hang mit ihrem Konzept zur sogenannten Flexicurity tiven Position des bundesdeutschen Parlaments haben bringt. Was diese Flexicurity bedeutet wissen wir: Viel wir uns für eine gemeinsame Initiative ausgesprochen. „Flexibilität“ der Beschäftigten und wenig soziale Si- Wir drücken hier folglich nicht unsere liberale Idealvor- (B) cherheit. Es kommt ja nicht von ungefähr, dass die Kom- (D) stellung aus. Insbesondere der durch die Regierungsko- mission sich lobend auf das deutsche Instrument der Ich alition vertretene Standpunkt zur Vermeidung einer AG bezieht, das – nebenbei bemerkt – bei Verabschie- Zinscaplockerung wird von uns differenzierter beurteilt. dung der EU-Vorlage schon lange wieder abgeschafft Zinscaps sind sozialpolitisch motivierte Eingriffe in war. Auch bei der Ich AG wurde die Verantwortung für den Marktprozess, welcher bei funktionierendem Wett- fehlende Arbeitsplätze auf die Arbeitsuchenden abge- bewerb – und damit in jedem Finanzmarkt der Europäi- wälzt. Zukünftig sollen Arbeitslose dann offensichtlich schen Union – keine Rechtfertigung besitzt. Die Kredit- einen Mikrokredit beantragen und sehen wo sie bleiben. märkte in Europa weisen eine ausreichende Anzahl Prekäre Selbstständigkeit soll gefördert werden, um gu- alternativer Marktteilnehmer auf. Es bestehen weder Mo- ten Gewissens soziale Sicherheiten abzubauen. Aber nopol- noch Oligopoltendenzen. Der sozialpolitisch mo- nicht mit uns! tivierte Markteingriff ist somit wettbewerbsrechtlich Ich möchte an dieser Stelle auch noch eine andere nicht gerechtfertigt. Gleichzeitig bedeuten Zinscaps, dass Frage stellen: Wenn der Kommission wirklich etwas an nicht jeder Kreditnehmer zu einem risikoadäquaten Zins- einem verbesserten Zugang zu Krediten für kleine Un- satz einen Zugang zu Krediten bekommt. Die Europäi- ternehmen liegt, warum kämpft sie an anderer Stelle im- sche Kommission will diese Unterversorgung verhin- mer wieder für das Gegenteil? Wir haben in Deutschland dern, indem sie für eine Lockerung des Zinscaps bei einen großen Sektor öffentlich-rechtlicher Banken und Unternehmenskrediten einsteht. Dies ist wirtschaftspoli- Sparkassen, sowie einen starken genossenschaftlichen tisch-, finanzpolitisch- und letztlich entwicklungspoli- Sektor. Es sind nach wie vor diese Bereiche, die die klei- tisch zu unterstützen. nen Unternehmen mit Krediten versorgen, während sich Vor diesem Hintergrund werben wir heute noch ein- die Privaten immer weiter zurückziehen. Trotzdem greift mal bei allen Fraktionen, die vorliegende Initiative zu- die Kommission die Sparkassen an und schwächt diese, mindest in der Tendenz im Interesse der Bundesrepublik wo sie nur kann: 2005 wurden die staatlichen Haftungs- Deutschland zu unterstützen. garantien auf Druck von Brüssel abgeschafft, später ka- men der Kampf um den Namensschutz für Sparkassen und andere Attacken unter dem Deckmantel des Wettbe- Sabine Zimmermann (DIE LINKE): Wir reden werbsrechts hinzu. Diese Politik der Kommission ist es, heute über Vorschläge zur Förderung von Mikrokrediten. die kritisiert werden muss! Wohlgemerkt nicht für Bangladesch, wo der Friedensno- belpreisträger Muhammad Yunus dieses Instrument zur Die Linke steht ein für den Erhalt des deutschen Drei- Bekämpfung der Armut erfand. Nein! Die EU-Kommis- Säulen-Modells! Wir brauchen einen starken genossen- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008 17307

(A) schaftlichen und öffentlichen Bankensektor, dem auch verschiedenen Förderprogramme transversal betrachtet (C) die Möglichkeit gegeben wird, sich auf sein Kernge- und koordiniert. schäft zu konzentrieren! Dann wird auch die Kreditfinan- zierung wieder einfacher – auch im Bereich der Mikro- Experten aus dem Mikrofinanzsektor, wie zum Bei- Unternehmen, wohlgemerkt im Bereich derjenigen, die spiel dem Deutschen Mikrofinanzinstitut und Oikocre- aus eigenem Antrieb gegründet werden, nicht unter dem dit, raten uns deshalb zu einem solchen europäischen Druck fehlender Sozialsysteme! Thinktank. Sie sehen in Brüssel derzeit eher zu wenig als zu viel fachkompetentes Personal. Wir müssen uns die Frage stellen: Was ist zeit- und personalintensiver? Eine Kerstin Andreae (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): europäische Koordinierung, wo laut den Fachleuten be- Wir beraten heute über einen Entschließungsantrag der reits das notwendige Know-how liegt und eine gute, aber Regierungskoalition und der FDP im Zusammenhang ausbaufähige Infrastruktur gegeben ist oder ein unkoor- mit der europäischen Initiative zur Entwicklung von diniertes, nicht abgestimmtes Verfahren auf nationaler Kleinstkrediten für mehr Wachstum und Beschäftigung. Ebene? Subsidiarität in allen Ehren, aber hier scheint mir Im Kern geht es um das Aufstocken von Fachpersonal der europäische Weg vielversprechender zu sein. zur Unterstützung und Koordinierung von Mikrofinanz- instituten beim Europäischen Investitionsfonds, EIF. Normalerweise bin auch ich skeptisch, wenn es um Anlage 7 Gründungen oder Erweiterungen von EU-Einrichtungen geht. Bürokratieabbau sei hier als Schlagwort genannt. Zu Protokoll gegebene Reden Aber: In diesem Fall lohnt es sich doch einmal, näher zur Beratung der Beschlussempfehlung und des hinzuschauen. Berichts zu dem Antrag: Gesundheitscheck der Mikrofinanzierungen sind ein effektives Instrument europäischen Agrarpolitik - Mit Klimabonus zu zur Armutsbekämpfung in den Entwicklungs- und Klimaschutz, guter Ernährung und nachhalti- Schwellenländern. Aber auch in Deutschland sind sie ger Entwicklung (Tagesordnungspunkt 17) insbesondere zur Förderung von Existenzgründungen von großer Bedeutung. Ich denke, Sie stimmen mir in Marlene Mortler (CDU/CSU): „Gesundheitscheck diesem Punkt zu. So können oft gerade diejenigen, die der europäischen Agrarpolitik – Mit Klimabonus zu Kli- am nötigsten auf kleine Darlehen angewiesen sind, vom maschutz, guter Ernährung und nachhaltiger Entwick- Bankkredit bei der Existenzgründung nur träumen. lung“ – Die Grünen haben mit ihrem Antrag eine kluge Kleingründer mit wenig Eigenkapital und Kreditbedarf, Überschrift gewählt, aber der Inhalt ist mehr als frag- die den Schritt in die Selbstständigkeit womöglich noch würdig. Gott sei Dank, dass die Grünen nicht alleine (D) (B) aus der Arbeitslosigkeit heraus wagen, haben kaum Zu- über europäische Agrarpolitik entscheiden können. Die gang zu Banken. Hier helfen Mikrofinanzierungen oft vorgesehene Gesundheitsüberprüfung würde sonst zu ei- schnell und unbürokratisch. ner Totaloperation werden. Grundsätzlich sind das Know-how und die Bereit- Selbst die EU-Kommission hat bis zum heutigen Tag schaft für bankfremde Mikrofinanzierungen in den letz- betont, dass sie mit dem Gesundheitscheck keine grund- ten Jahren deutlich gestiegen. Insbesondere die öffentli- legenden Reformen einleiten wolle. Kommissarin chen Stellen in Deutschland lernen glücklicherweise Fischer-Bohl ist jetzt monatelang durchs Land gereist dazu. Wie Mikrofinanz aber praktisch funktioniert, wis- bzw. hat reisen lassen und immer wieder von Vereinfa- sen viele Entscheidungsträger bis heute nicht. chung, von Verbesserung, von Vereinheitlichung gespro- chen – nicht mehr und nicht weniger. Und Sie tun so, als Das birgt aber große Gefahren. DB Research schätzt wenn die letzten Reformen 20 Jahre her wären und jetzt den aktuellen weltweiten Bedarf an Mikrokrediten auf alles auf den Kopf gestellt werden müsste. 250 Milliarden Dollar. Bisher konnten nur circa 100 Mil- lionen Mikrokreditnehmer bedient werden. Das ist ein Die Wahrheit ist: Die Gemeinsame Agrarpolitik, Bruchteil von den geschätzten potenziellen 1 Milliarde GAP, ist die am weitesten integrierte gemeinschaftliche Nachfragern. Wir reden also nicht mehr nur von ein paar Politik der Europäischen Union mit weitreichenden Fol- wenigen kleinen Investments, sondern von einer immen- gen für die Mitgliedstaaten und ihre Regionen. Ihr Fun- sen Mikrokreditnachfrage. Wenn wir auch nur annäh- dament ist das europäische Agrarmodell, das heißt, eine rend diese Nachfrage bedienen wollen, benötigen wir in multifunktionale Landwirtschaft. Ich bin stolz, dass wir den kommenden Jahren kompetente Fachleute und ins- eine so vielfältige Landwirtschaft haben. Mit ihren Pro- besondere ein koordiniertes Vorgehen in Europa. Hier duktions- und Betriebsformen hat sie weltweit Vorbild- kann der EIF in Brüssel wertvolle Arbeit leisten. Wir re- charakter. den übrigens auch nicht von der Gründung einer neuen Behörde sondern lediglich über weiteres Fachpersonal Die umfassenden Agrarreformen der vergangenen beim EIF bei schon bestehender Infrastruktur. Jahre haben unsere GAP modernisiert und immer wieder angepasst. Sie stellen unsere Landwirte auch in Zukunft In der EU-Kommission, im EIF, aber auch bei NGOs vor große Herausforderungen. Seit 2005 werden die letz- wie dem European Microfinance Network gibt es das ten tiefgreifenden Beschlüsse zur europäischen Agrarpo- notwendige Wissen und die Erfahrungen für Mikrofi- litik auf unseren Höfen umgesetzt, und sie sind längst nanz, das uns auch in Deutschland entscheidend weiter- nicht abgeschlossen. Mitbeschlossen wurde diese Re- bringen kann. Es mangelt aber an einer Stelle, die die form von Ihrer damaligen Landwirtschaftsministerin. 17308 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008

(A) Sie steht für mich persönlich im Wort, diesen Rahmen, duziert und Kohlendioxid bindet, und das jedes Jahr neu. (C) wie versprochen, auch bis 2013 zu erhalten. Unsere Das passiert nicht durch Brachflächen, sondern durch or- Landwirte erwarten völlig zu Recht Verlässlichkeit und dentliche Bewirtschaftung. Wir fangen doch nicht bei sichere Rahmenbedingungen. Adam und Eva an. Warum ringen wir im Moment bei- spielsweise beim EEG um die besten Lösungen? Weil Auch australische Farmer haben uns in der letzten Sit- wir uns den Herausforderungen stellen, weil wir wollen, zungswoche in einer Gesprächsrunde bestätigt: dass über Gülle in den Biogasanlagen Emissionen weiter „Wir müssen schon mit dem Wetter und den Wet- reduziert werden. terkapriolen fertig werden. Da brauchen wir zumin- Zu nachhaltiger Entwicklung gehört eine gesunde dest einen Rahmen, der nicht auf drei, vier, fünf Pflanze. Wenn ich sie nicht pflege, dünge und guten Jahre, sondern auf zehn Jahre und mehr ausgerich- Pflanzenschutz betreibe, wird sie krank. Das ist wie mit tet ist.“ uns Menschen, wenn sich keiner um uns kümmert, wenn Deshalb ist es logisch und konsequent, dass wir uns wir uns zu einseitig ernähren oder wenn wir keine Medi- als Unionsfraktion entschieden gegen weitreichende zin nehmen, obwohl wir sie brauchten. Einschnitte bei der ersten Säule aussprechen. Die Direkt- zahlungen dieser ersten Säule sind direkt einkommens- Zur Milch. Wenn die Kommission die Aufstockung wirksam. Das heißt, sie kommen zu 100 Prozent bei un- der Milchquoten nicht zurücknimmt, dann bekommen seren Betrieben an. wir keine sanfte Landung. Die Kommission provoziert vielmehr mit ihren Vorschlägen eine Bruchlandung. Das An dieser Stelle möchte ich einmal unseren Verbrau- zeigt die aktuelle Milchstreikinitiative. Sie ist aus meiner cherinnen und Verbrauchern, den Bürgerinnen und Bür- Sicht absolut berechtigt. gern in unserem Land danken. Die Diskussionen der letzten Monate haben deutlich gemacht, dass die Ver- „Landwirtschaft stärken, heißt an morgen denken!“ braucher – dass Sie – sogar ausdrücklich wünschen, dass Ein Danke an Euch, liebe ARGE-Landjugend, nach Bay- der Bauer einen Ausgleich für niedrige Preise bekommt. ern. Ihr habt mit eurer Bewertung zum Health-Check die Aber sie akzeptieren dies nur dann, wenn dieser Aus- Dinge auf den Punkt gebracht. Wir brauchen also keine gleich auch zu 100 Prozent bei der Bauernfamilie an- Wende, wie die Grünen sie fordern. Wir brauchen ein kommt und nicht im System versickert. Deshalb sollten Ende der Wende. Wir brauchen das Geld dort, wo es am wir uns jetzt auf die aktuellen Legislaturvorschläge der besten angelegt ist: bei unseren Bäuerinnen und Bauern. Kommission konzentrieren. Andererseits müssen wir die Ich fordere Sie daher auf: Stärken Sie Bundeslandwirt- Überprüfung des EU-Haushalts im Auge behalten; denn schaftsminister Seehofer! Nur mit Geschlossenheit im Rücken kann er für unsere Betriebe in Europa das Opti- (B) diese steht im nächsten Jahr ebenfalls an. (D) male erreichen. Die deutsch-französische Achse hat das Es gibt viel zu gewinnen, es gibt aber auch einiges zu in der Vergangenheit eindrucksvoll bewiesen. verlieren; denn die Verordnungsvorschläge der Kommis- sion zum Gesundheitscheck werden dem Anspruch ver- lässlicher Politik nicht wirklich gerecht. Glaubwürdigkeit Waltraud Wolff (Wolmirstedt) (SPD): Die EU- schaut aus meiner Sicht anders aus; denn Modulation be- Agrarpolitik hat sich bereits gewandelt. Mit den jetzt deutet immer Kürzungen zulasten unserer Betriebe. vorgelegten Legislativvorschlägen zum Gesundheits- check hat die EU-Kommission – wie in der Mitteilung Leider erwecken Andersdenkende immer wieder den vom November angekündigt – Kurs in Richtung weiterer Eindruck, dass die angedachte progressive Modulation Reformen gehalten. Wir unterstützen den eingeschlage- nur Großbetriebe treffen würde. Das ist schlichtweg nen Reformkurs. falsch. Sie würden selbst in meinem landwirtschaftlich klein strukturierten Wahlkreis jeden zweiten Betrieb Die Kommission stellt die Weichen richtig: mehr treffen. Das heißt, bis zu 13 Prozent der Betriebsprämie Geld für die Entwicklung der ländlichen Räume und würden auf einen Schlag gestrichen werden, das, wie ge- mehr Geld für die Herausforderungen des Klimawan- sagt, bei einer kleinbäuerlichen Struktur. In der Praxis sind dels, des Schutzes der Artenvielfalt und der Sicherung also bereits kleine und mittlere Bauernhöfe, ob Haupt- der Welternährung. Es ist richtig, die Förderung von den oder Nebenerwerbsbetriebe, Milcherzeuger, Schweinebe- Direktzahlungen hin zu den Maßnahmen umzuschich- triebe, Sonderkulturen, Ackerbau und selbst Ökobetriebe ten, die Antworten auf diese Herausforderungen geben. mit weniger als 20 Hektar Äcker oder Wiesen betroffen. Nur so ist eine nachhaltige Entwicklung der ländlichen Aus gesamtdeutscher Sicht finde ich es aber richtig, dass Räume zu gewährleisten. die Degression gefallen ist. Wir stehen in der Agrarpolitik vor neuen Herausfor- Zu Art. 68: Er ist neu, aber nicht besser als Art. 69, derungen. Der Klimaschutz, den die Grünen in ihrem weil es nicht ehrlich und nicht fair ist, wenn ich den Mit- Antrag in den Mittelpunkt gestellt haben, ist eine davon. gliedstaaten sage: Macht neue Maßnahmen, aber das Die Landwirtschaft und mit ihr die Agrarpolitik müssen Geld müsst ihr vorher von den Betriebsprämien, also den einen Beitrag zum Klimaschutz leisten; ich denke, da- Betrieben, holen. rüber sind sich alle einig. Sie sagen in Ihrem Antrag: „Agrarpolitik ist ein Die zweite Herausforderung ist in der Zeit seit der schwarzer Fleck der Klimapolitik.“ Wo leben Sie denn? ersten Lesung dieses Antrages in den Vordergrund ge- Nennen Sie mir eine Branche, die für uns Sauerstoff pro- rückt: Wir reden nicht mehr über Überschüsse in der Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008 17309

(A) Landwirtschaft; im Gegenteil: Wir müssen die Frage festhält. Ich sehe wohl, dass die Legislativvorschläge (C) stellen, wie wir die Welt in Zukunft ernähren können. deutlich weniger Subventionskürzungen für Landwirte vorsehen als ursprünglich geplant. Insbesondere bei der Diese beiden Themen sind in den letzten Wochen in Kürzung der Zahlungen an große Betriebe ist die Kom- die Schlagzeilen, auf die Titelseiten und in alle Reden mission Deutschland entgegengekommen. Dies begrü- zur Agrarpolitik gerutscht. Gleichzeitig werden schon ßen wir. heute mit der Diskussion der EU-Finanzen ab 2013 die Perspektiven und Rahmenbedingungen der Europäi- Dennoch: Eine progressive Modulation widerspricht schen Agrarpolitik bestimmt. Wir müssen diese Heraus- der Zielorientierung der Agrarförderung und belastet ge- forderungen annehmen. rade die schwachen ländlichen Räume in Ostdeutsch- Ich habe den Eindruck, in den Debatten werden die land. Wir sprechen uns daher gegen jegliche progressi- neuen Herausforderungen als Begründung für die alten ven Elemente aus. Lösungen verwendet. Auf der einen Seite wird dann die Die mit der Agrarreform von 2003 eingeführten Ver- Gentechnik als das Allheilmittel verkauft, auf der ande- pflichtungen hinsichtlich der Einhaltung von Standards ren Seite große Betriebe als Subventionsgrab verteufelt. in den Bereichen Umwelt- und Tierschutz sowie Lebens- Beides bringt uns nicht weiter. mittelsicherheit gelten für alle Flächen. Es geht uns doch Der Weltagrarrat hat im April eine Änderung der darum, welche Leistungen ein Betrieb erbringt, nicht wie agrarpolitischen Ziele eingefordert. Seine Kernthese ist, groß er ist. Eine Differenzierung nach Betriebsgrößen dass das bisherige Modell – Innovationen zur Ertrags- würde im Widerspruch zu den Zielen der Cross-Com- steigerung und die damit einhergehende Senkung der Er- pliance-Regelung stehen. zeugerpreise – nach dem Zweiten Weltkrieg in den In- Die Kommission weist darauf hin, dass der Gesund- dustriestaaten sehr erfolgreich war, dass es aber die heitscheck auch eine Vorbereitung auf die anstehende aktuellen Herausforderungen nicht lösen kann. Überprüfung des EU-Haushalts darstellt. Wir wissen, Wir müssen dem Erhalt der natürlichen Ressourcen dass die Agrarpolitik dabei als eines der zentralen Pro- und den umweltverträglichen Anbaumethoden mehr Be- blemfelder angesehen wird. Es wird also bei dieser achtung schenken. Es geht darum, Entwicklungs- und Haushaltsüberprüfung um die künftige Finanzierung der Nachhaltigkeitsziele genauso mit einzubeziehen wie so- Agrarpolitik und der Politik für die ländlichen Räume ziale Ungleichheit, Kriege, Nahrungsmittelmangel, Än- gehen. derungen unserer auf Öl basierenden Wirtschaft. Explizit Planungssicherheit heißt damit, frühzeitig Weichen zu bezieht sich der Weltagrarrat auf die Multifunktionalität stellen: Wir brauchen eine zielorientierte Politik für die der Landwirtschaft. (B) ländlichen Räume und für eine nachhaltige Landwirt- (D) Die Nachfrage nach Agrarprodukten wird weiter stei- schaft. Es wäre fahrlässig, jetzt auf kurzfristige Pla- gen. Die Landwirtschaft muss mehr Lebensmittel für im- nungssicherheit bei den Direktzahlungen an landwirt- mer mehr Menschen produzieren. Gleichzeitig wird schaftliche Betriebe zu setzen. Wir müssen schon heute Biomasse als Ersatz für Öl verwendet. Die Herausforde- die Perspektiven nach der Reform der EU-Finanzen ab rungen des Klimawandels, des Schutzes der Artenviel- 2013 in den Blick nehmen. Dazu brauchen wir Kraft, falt und der Sicherung der Welternährung werden damit Kreativität und die Unterstützung des Berufsstands. weiter in den Mittelpunkt der Agrarpolitik rücken. Es ist Diese Zukunftsaufgabe müssen wir gemeinsam meis- das Recht und gleichzeitig auch die verantwortungsbe- tern. wusste Pflicht des Weltagrarrates, entsprechend dieser zentralen Ziele Forderungen zu formulieren. Hans-Michael Goldmann (FDP): Die Legislativ- Wie wollen wir die Ziele über die Europäische Agrar- vorschläge der EU-Kommission zum sogenannten politik erreichen? Zum einen – hier stimme ich den Grü- Health-Check sind eine bittere Enttäuschung für die nen zu – brauchen wir eine stärkere Zielorientierung in deutschen Landwirte. Aus der zugesagten Überprüfung der Gemeinsamen Agrarpolitik. Zum anderen brauchen und Nachjustierung der letzten GAP-Reform ist nun wir eine vernünftige Finanzierung der dazu notwendigen doch eine weitere Agrarreform mit massiven Einschnit- Maßnahmen. Ein „Weiter so“ mit Detailkorrekturen wird ten für die Landwirte in Deutschland geworden, und das, den neuen Herausforderungen nicht gerecht. Das heißt: obwohl die Gemeinsame Agrarpolitik bereits 1992, 2000 Modulation ja! Wir brauchen die Stärkung der zweiten und 2003/2004 umfassend reformiert wurde. Säule. Anstatt zum Versprechen zu stehen, die Direktzahlun- Der Wissenschaftliche Beirat beim Bundesministe- gen der ersten Säule bis 2013 unangetastet zu lassen, sol- rium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucher- len die Direktzahlungen nun doch – je nach Betriebs- schutz liegt völlig richtig, wenn er für die Maßnahmen größe – zwischen 16 und 22 Prozent gekürzt werden. der zweiten Säule ein konsistentes Konzept und eine Das wird weder der versprochenen Verlässlichkeit euro- Neuausrichtung einfordert. Damit unterstützt er die Posi- päischer Agrarpolitik noch der unternehmerischen Plan- tion der SPD in der Großen Koalition. Die SPD hat er- barkeit gerecht. Außerdem ist eine Größendegression, reicht, dass die Bundesregierung eine interministerielle die einseitig auf Kosten der Betriebe in den neuen Län- Arbeitsgruppe eingesetzt hat, um ein Konzept zu erarbei- dern geht, nicht akzeptabel, insbesondere auch deshalb ten. Der Weg ist richtig. Unverständlich ist für mich, dass nicht, weil die so geschaffenen neuen Modulationsmittel die Kommission an einer größenabhängigen Modulation in der zweiten Säule von den Bundesländern zusätzlich 17310 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008

(A) kofinanziert werden müssten, wozu sehr häufig die Lan- sche und nachhaltige Landwirtschaft ist die entschei- (C) desmittel nicht ausreichen. dende Voraussetzung für die Herstellung qualitativ hoch- wertiger Lebensmittel. Auch wenn wir begrüßen, dass bestätigt wurde, 2015 aus der Milchquote auszusteigen, kann es natürlich nicht Nur eine effiziente und produktive Landwirtschaft angehen, dass die EU-Kommission im Hinblick auf ein kann den notwendigen Beitrag zu einem wirkungsvollen eventuell zu schaffendes Begleitprogramm für die Milch- Klimaschutz leisten. Gesetzliche Regulierungen, die bauern auf die Ausweitung der zusätzlichen nationalen überproportional und einseitig die Land- und Forstwirt- Modulation über Art. 69 der Verordnung zu nationalen schaft belasten, wie sie auch die Grünen in ihrem Antrag Sonderregelungen zu verweisen. Dies geht zulasten der fordern, lehnen wir Liberale ab. Landwirte und kann so nicht hingenommen werden. Enttäuschend ist zudem, dass Bundeslandwirt- Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE): Vor zehn Ta- schaftsminister Seehofer auch sein Versprechen zu gen hat EU-Kommissarin Fischer Boel die überarbeite- deutlichen Vereinfachungen und Entbürokratisierungen ten Vorschläge der Kommission zum Gesundheitscheck nicht eingelöst hat. Durch Cross-Compliance droht so- vorgestellt. Im Vergleich zu den ersten Überlegungen gar ein weiteres Aufblähen durch neue Prüfbereiche. wurden einige verheerende Wirkungen abgeschwächt. Durch die Zerstrittenheit von CDU/CSU und SPD in Problematisch und ungerecht bleiben sie dennoch. Eine zentralen Verhandlungspunkten – insbesondere bei der halbe Katastrophe bleibt immer noch eine. Die Ab- Modulation – wurden die deutschen Interessen zum schmelzung der sogenannten Direktzahlung an die land- Spielball anderer Mitgliedstaaten. Die agrarpolitische wirtschaftlichen Betriebe um bis zu 45 Prozent in Ab- Durchsetzungsfähigkeit der Bundesregierung und des hängigkeit von der Höhe der Gesamtfördersumme ist Bundeslandwirtschaftsministers Seehofer in Europa sind zwar vom Tisch; wurde die „progressive Modulation“ er- damit auf einem historischen Tiefpunkt angekommen. funden. Das bedeutet eine über die kommenden Jahre an- steigende Kürzung der Direktzahlungen. Bis zu 17 Pro- Die Position der Grünen zur Gesundheitsüberprüfung zent der Fördermittel verlieren die Betriebe nach diesem der europäischen Agrarpolitik ist widersprüchlich und Vorschlag also immer noch – vor allem in Ostdeutsch- bauernfeindlich. Einerseits fordert die Fraktionsvorsit- land. zende und ehemalige Landwirtschaftministerin Künast die Abschaffung der Agrarsubventionen im EU-Haus- Erster Knackpunkt des Vorschlags ist: Es wird Geld halt, andererseits wird in dem hier vorliegenden Antrag gekürzt, das dringend in den Betrieben für den Erhalt von eine Fortführung bzw. Ausweitung der EU-Agrarförde- Arbeitsplätzen gebraucht wird, und das, obwohl es ei- rung unter anderem Namen gefordert. Widersprüchlich gentlich beim Gesundheitscheck 2008/2009 nur um eine (B) ist zudem, dass im Antrag einerseits die letzte Agrarre- Zwischenbilanz der Beschlüsse zur Gemeinsamen (D) form als „Gegenstrategie zu Fehlentwicklungen wie Agrarpolitik von 2005 gehen sollte. Die deutlichste Kür- Überschusserzeugung, Marktverzerrung, Lebensmittel- zung trifft Betriebe ab 300 000 Euro Direktzahlungen pro skandalen und ökologischen Folgeschäden“ ausdrück- Jahr. Im Jahr 2012, mit Erreichen der Endstufe der pro- lich gewürdigt wird. Andererseits fordern die Antrag- gressiven Modulation, würde so ein Betrieb mindestens steller die „notwendige Wende in der Agrarpolitik“ im 60 000 Euro weniger Direktzahlungen pro Jahr erhalten Rahmen der Gesundheitsüberprüfung. Der EU-Agrar- als zurzeit. Das entspricht einer gut bezahlten Stelle in ei- haushalt wird zum Jäger 90 der Grünen. Ständig sollen nem Landwirtschaftsbetrieb. Angesichts eines durch- mit den Agrarmitteln alle möglichen Programme und schnittlichen Haushaltseinkommens in meinem Wahl- Projekte gefördert werden. kreis von etwa 15 000 Euro entspricht diese Summe dem Im Gegensatz dazu fordert die FDP-Bundestagsfrak- Einkommen von vier durchschnittlichen Haushalten. Das tion eine Stärkung der unternehmerischen und mittel- gilt pro Betrieb. ständischen Land- und Ernährungswirtschaft im Rahmen Der Kommissionsvorschlag zwingt die Betriebe doch der Gesundheitsüberprüfung. Dazu sind insbesondere zu mehr Rationalisierung und Arbeitsplatzabbau. Gerade die überbordende Bürokratie abzubauen und Vereinfa- das können wir uns aber im sozialen Brennpunkt ost- chungen durchzusetzen. Aus Gründen der Planungssi- deutsches Dorf gar nicht leisten. cherheit und Verlässlichkeit müssen die Direktzahlungen der ersten Säule bis zum Jahr 2013 gesichert bleiben. Hier existieren laut Agrarbericht noch circa 5 000 Danach kann über eine degressive Ausgestaltung der Di- Agrargenossenschaften und weitere 20 000 juristische rektzahlungen verhandelt werden. Die von der EU-Kom- Personen. Sie bieten häufig die letzten Arbeitsplätze in mission geplante Kappung bzw. Degression bedeutet den Dörfern. Die vorgeschlagene progressive Modula- eine Existenzgefährdung bislang stabiler Unternehmen tion würde also einen dramatischen Stellenabbau auslö- und vieler Arbeitsplätze im ländlichen Raum, die zu ei- sen; ausgerechnet in den Regionen, die heute schon als ner enormen Verunsicherung der gesamten Branche und struktur- und einkommensarm gelten. Die Tendenzen der der Menschen in den neuen Ländern führen würde. Das Verarmung, Vergreisung und sozialen Destabilisierung lehnt die FDP strikt ab. würden damit weiter gestärkt. Für die FDP-Bundestagsfraktion muss der erfolgrei- Zweiter Knackpunkt: Der Vorschlag ist ungerecht. Er che Reformkurs zur marktwirtschaftlichen Weiterent- berücksichtigt in keiner Weise die besonderen Bedin- wicklung der gemeinsamen Agrarpolitik konsequent gungen, unter denen diese ostdeutschen Betriebe alltäg- fortgeführt werden. Eine leistungsfähige, unternehmeri- lich arbeiten, und er ignoriert die gesellschaftlichen, vor Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008 17311

(A) allem sozialen und ökologischen Leistungen, die sie in sellschaftlich gewollter Wirkungen der Förderung. Diese (C) den Dörfern erbringen, in denen sie verwurzelt sind. Fragen sind legitim und müssen dringend beantwortet werden. Entsprechend diesen Antworten muss dann ge- Dritter Knackpunkt: Es wird vergessen, dass das Geld handelt werden. Aber eben erst, wenn sie beantwortet nicht nur den Betrieben verloren geht, sondern auch den sind. Regionen, die durch diese größeren landwirtschaftlichen Betriebe geprägt sind, übrigens häufig bereits seit histo- Entstehende finanzielle Spielräume im EU-Agrar- rischer Zeit, weil zum Beispiel der magere Acker weni- haushalt dürfen zukünftig nicht im Weltraum verschwin- ger Menschen eine Lebensgrundlage bietet. den, etwa über Galileo. Das Geld muss den Menschen Die Kommission behauptet zwar, dass die Modula- zugute kommen, die in den Dörfern leben wollen. Dazu tionsmittel in die Regionen zurückfließen sollen, aus de- gehören existenzsichernde Arbeit und Strukturen der öf- nen sie kommen. Aber dort werden sie nicht oder nur fentlichen Daseinsvorsorge. Dazu gehören flächende- teilweise ankommen. ckend multifunktionale landwirtschaftliche Betriebe, die unsere Grundversorgung mit Lebens- und Futtermitteln Natürlich sieht auch Die Linke die neuen Herausfor- und zukünftig auch mit Energie sichern. Die flächende- derungen, die von der EU-Kommission definiert wer- ckende Landbewirtschaftung muss gleichzeitig die na- den: Klimawandel, Wassermanagement, Bioenergie und türlichen Lebensgrundlagen unserer Nachfahren sichern. Biodiversität. Gestalterische Agrarpolitik findet natür- Das ist die agrarpolitische Zielbestimmung der Die Lin- lich vor allem in der zweiten Säule, das heißt in den För- ken und das ist das Maß, an dem agrarpolitische Vor- derprogrammen zur ländlichen Entwicklung statt. Dabei schläge von wem auch immer gemessen werden. Die wird ausgeblendet: EU-Kommission hat diese Hürde eindeutig gerissen und Erstens. Gerade dieser Fördertopf war vor Jahren muss nachsitzen. noch deutlich voller und wurde durch politische Ent- scheidungen geschröpft. Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Mi- Zweitens. Jetzt sollen also Löcher gestopft werden, nister Seehofer blockiert die dringend notwendige Wei- indem neue – im Budget der Betriebe – gerissen werden. terentwicklung der Gemeinsamen Europäischen Agrar- Dieses Ausspielen der Regionen gegen die landwirt- politik – GAP – und verweigert damit die Lösung der schaftlichen Betriebe macht Die Linke nicht mit. anstehenden Probleme. Das zeigt sich deutlich bei der aktuellen Krise in der Milchpolitik: Minister Seehofer Drittens. Die Mittel werden nicht oder nur zum Teil in hat mit seiner Positionierung in Brüssel viel zu lange ge- den ländlichen Programmen verfügbar sein; denn die zögert, so dass jetzt kaum noch Einflussmöglichkeiten (B) Mittel der zweiten Säule müssen von den Ländern ko- gegen Milchpreisdumping und die drohende Weltmarkt- (D) finanziert werden. Aber gerade die ostdeutschen Länder, liberalisierung bestehen, die laut Kommission einen Ver- die mit dem Geldsegen beglückt werden sollen, können lust von 7,8 Milliarden Euro verursachen wird. Seehofer oft schon jetzt das Geld gar nicht abfordern, weil die Ko- präsentiert sich einmal mehr als Mundwerker denn als finanzierung die Landeshaushalte überfordert. Handwerker. Da verspricht er lautstark einen Milchfonds Die wirkliche Konsequenz der Kommissionsvorschläge und legt dafür kein Finanzierungskonzept vor. Die Mittel ist also eine neue Umverteilung. Landwirtschaftliche für die Grünlandwirtschaft will er nicht verbessern. Die Betriebe werden untereinander und gegen die Regionen von der Europäischen Kommission in Art. 68 der Agrar- ausgespielt, Ost gegen West. Die Linke fordert den Ver- reform eröffneten Möglichkeiten zur Finanzierung will zicht auf die Kürzung der Direktzahlungen im Rahmen er nicht nutzen. Auch will er Milchrenten anbieten; des Gesundheitschecks 2008/2009, weil sie strukturpoli- gleichzeitig lehnt er die Mittelaufstockung in der zwei- tisch das vollkommen falsche Signal ist und weil sie die ten Säule dafür ab. sozialen Probleme vor allem in ostdeutschen Dörfern, aber nicht nur dort, verschärft und weil sie ungerecht ist. Wir wollen ein modernes Marktanpassungs- und Mengenregulierungssystem, wie es der Bundesverband Die Grünen unterstützen mit ihrem Antrag diese ver- Deutscher Milchviehhalter e. V. auch fordert. Ein Beibe- fehlte Agrarpolitik der Kommission und fordern sogar halten einer Regulierung ist viel billiger für die Steuer- Verschärfungen. Sie tragen damit zur Schwächung der zahler als jegliche Subventionen und sichert die Qualität. ländlichen Räume in Ostdeutschland bei; sie eröffnen Es ermöglicht zugleich, dass die Milchbauern kostende- eine Debatte zur falschen Zeit. Deshalb lehnen wir die- ckend wirtschaften können. sen Antrag ab. Gerade befindet sich der Verhandlungsmarathon der Die Linke fordert aber gleichzeitig dringend eine De- UN-Konferenz zur biologischen Vielfalt auf der Zielge- batte zum EU-Agrarhaushalt und zur Förderphilosophie rade. Artenschutz wird zwar in den stolzen Reden der nach dem Ende der aktuellen Förderperiode, also nach Klimakanzlerin in Bonn versprochen; Millionen werden 2013, ein. zugleich bei der EU bei der konkreten Ausgestaltung der Wir brauchen gerechte und faire Regeln, gerade in der GAP blockiert. Die Ursache für das Artensterben ist vor Landwirtschaft. Dazu gehört für Die Linke zwingend die allem die industrielle Landwirtschaft. Mehr Förderung Frage der Anerkennung der sozialen und ökologischen für Natur- und Umweltschutz sind die dringend notwen- Leistungen der Betriebe als Voraussetzung für Förderun- digen Maßnahmen dagegen. Einmal mehr beweist die gen. Dazu gehört auch die Frage nach dem Nachweis ge- Bundesregierung, dass ihr der politische Wille fehlt, die 17312 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008

(A) Themen Klima- und Artenschutz realpolitisch anzuge- Ausstiegsstrategie aus der Milchquote rückgängig ge- (C) hen. macht wird und stattdessen ein flexibles Milchmengenre- gulierungssystem eingesetzt wird, drittens dem Arbeits- Stattdessen kündigt die Bundesregierung nun an, die kraftbesatz eines Betriebes einen direkten Einfluss auf die neuen Modulationsgelder „investitionsfördernd“ auszu- Bemessung der Direktzahlungen der ersten Säule zu ge- geben. Überhört hat sie da wohl die Vorgaben der EU- ben und damit ein sozial gerechtes Verteilungssystem zu Kommission: Die neuen Finanzmittel sollen der Bewäl- installieren, viertens Cross-Compliance als Instrument tigung der globalen Herausforderungen Klimaschutz, zur Durchsetzung von Mindeststandards unter dem Erhalt der Artenvielfalt und Wassermanagement dienen. Blickwinkel Klimaschutz, Sozialstandards und Arbeits- Die Bundesregierung und ihre Landesminister sind schutz inhaltlich zu erweitern und fünftens die Verbind- für die Umsetzung und Kofinanzierung der Förderung lichkeit und die Kofinanzierungsbedingungen der zwei- der Programme für den ländlichen Raum und der Agrar- ten Säule zu verbessern, um die Planungssicherheit und umweltmaßnahmen zuständig. Hier liegt der Hase im Attraktivität für die Wirtschaft zu stärken. Pfeffer: Die angeblichen Subventionskürzungen für die Landwirte von 400 Millionen Euro für den Rest der GAP-Laufzeit, von denen Minister Seehofer spricht, ver- Anlage 8 bleiben in Wirklichkeit durch Umschichtung in die Zu Protokoll gegebene Reden zweite Säule in den Bundesländern und müssen dort ko- finanziert werden. Seehofer spielt sich gerne als Retter zur Beratung des Antrags: Zukunft des Brannt- des ländlichen Raums auf. Er darf nun die dringend not- weinmonopols nach 2010 (Tagesordnungs- wendigen Mittel für den ländlichen Raum nicht zurück- punkt 18) weisen, um den eigenen Haushalt zu schonen, sondern muss gemeinsam mit seinen Kollegen in den Bundeslän- Norbert Schindler (CDU/CSU): Vor zwei Jahren dern Möglichkeiten zur Gegenfinanzierung finden. Wir haben wir mit großer Zustimmung in diesem Hohen fordern, dass sich die Bundesregierung für eine Verbes- Haus die Änderung des Gesetzes über das Branntwein- serung der Kofinanzierungsmöglichkeit und verbindli- monopol beschlossen. Mit dieser Entscheidung schieden che Programme in der zweiten Säule einsetzt, um diese die gewerblichen Brennereien aus dem Branntweinmo- Gegenfinanzierung zu erleichtern. Schließlich gleichen nopol aus, da die Beihilferegelung als mit dem Gemein- die zusätzlichen Modulationsmittel gerade mal das aus, samen Markt unvereinbar angesehen wurde. was die Bundesregierung den ländlichen Regionen seit den Verhandlungen zum EU-Haushalt für 2007 bis 2013 Gleichzeitig wurde den landwirtschaftlichen Korn- (B) jährlich kürzt. Das Geld wird dringend gebraucht, um brennereien die gesetzliche Möglichkeit eröffnet, den (D) die Planungssicherheit für all die Betriebe wieder herzu- aus Getreide gewonnenen Naturalkohol weiterhin an die stellen, die mit einer nachhaltigen oder ökologischen Be- Bundesmonopolverwaltung abzuliefern. Somit wurde wirtschaftung und der Teilnahme an Agrarumweltmaß- ein Beschluss von 1999, das Branntweinmonopol auf die nahmen zum Erhalt unserer Kulturlandschaft beitragen. landwirtschaftlichen Brennereien zu reduzieren, nach- vollzogen. Gestern verkündete Bundesminister Seehofer in der Agrarausschusssitzung, dass er die von der EU-Kommis- Mit der Annahme der Beschlussempfehlung des Fi- sion vorgeschlagene betriebsgrößenabhängige Modula- nanzausschusses zur Änderung des Branntweinmono- tion an den Arbeitskraftbesatz des Betriebes binden will. polgesetzes am 19. Mai 2006 und des darin enthaltenen Das ist positiv. Er erfüllt damit die Forderung aus unse- Entschließungsantrags zur Zukunft dieses wichtigen In- rem Antrag nach einer sozial gerechteren Ausgestaltung strumentes zur Förderung der Agraralkoholerzeugung der landwirtschaftlichen Direktbeihilfen. Damit soll mehr wurde die Bundesregierung verpflichtet, die Funktions- Verteilungsgerechtigkeit bei den Kürzungen zwischen fähigkeit des Branntweinmonopols zunächst bis zum den landwirtschaftlichen Betrieben erreicht werden. Vor Auslaufen der EG-rechtlichen Ausnahmeregelung für allem die großen, arbeitsintensiven Betriebe in den östli- den deutschen Weg bis Ende 2010 sicherzustellen. Darü- chen Bundesländern und die Tierhalter erhalten dann eine ber hinaus hat der Bundestag die Regierung gebeten, alle angemessene Förderung. Wir erwarten, dass Seehofer möglichen EG- und verfassungsrechtlich zulässigen För- diese Arbeitsplatzbindung in Brüssel durchsetzt. Ziel dermaßnahmen zu prüfen, über die die dezentrale land- muss es sein, den Faktor Arbeit zukünftig grundsätzlich wirtschaftliche Produktion von Alkohol aufrechterhalten in die Bemessung der Direktzahlungen einzubeziehen. werden kann. Mittelfristig muss die gesamte Agrarförderung auf ihre Zukunftsfähigkeit überprüft und noch weiter an gesell- Diese von den zuständigen Ressorts BMF und BMELV schaftliche Leistungen gekoppelt werden. durchgeführte Prüfung hat nunmehr ergeben, dass die Verlängerung der geltenden Ausnahmegenehmigung um Wir Grüne fordern die Bundesregierung und Minister weitere sieben Jahre die beste und gesetzestechnisch am Seehofer auf, erstens die Förderung der Klima-, Arten-, einfachsten zu realisierende Fördermaßnahme darstellt. Tier- und Umweltschutzmaßnahmen in beiden Säulen der Um genügend Zeit zu haben, die Fortführung des Brannt- Agrarförderung durch Verbesserung der Modulation und weinmonopols oder einer rechtlich zulässigen und wirt- Einführung eines Klimabonusses zu stärken und die EU- schaftlich gleichwertigen Regelung über 2010 hinaus zu Kommission dahin gehend zu unterstützen, sich zweitens gewährleisten, wird die Bundesregierung mit vorliegen- bei der EU-Kommission dafür stark zu machen, dass die dem Antrag aufgefordert, sich schon heute bei der EU- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008 17313

(A) Kommission für die Belange der deutschen kleinen und guten Essen nicht mal ein Gläschen „Selbstgebrannten“ (C) mittleren landwirtschaftlichen Brennereien einzusetzen. auf sein eigenes Wohl zu akzeptablen Preisen konsumie- ren? Die Stützung der traditionellen deutschen Brennerei- wirtschaft durch eine Verlängerung des Branntweinmo- In diesem Sinne erwarte ich von der Bundesregierung nopols sichert den Erhalt von mehreren Tausend land- vollen Einsatz für eine Verlängerung des deutschen wirtschaftlichen Betrieben mit Verschluss- oder Branntweinmonopols bis 2017, auch wenn nicht alle Abfindungsbrennereien mit rund 4000 Vollzeitarbeits- Markteilnehmer im Alkoholbereich diese Forderung plätzen in der Brennerei- und Landwirtschaft. Die klei- stützen wollen. Aber meines Erachtens sind die oben an- nen landwirtschaftlichen Brennereien stellen einen Teil geführten Argumente so stichhaltig, dass sie auch eine unserer seit Jahrtausenden gewachsenen Natur- und Kul- EU-Kommission überzeugen können. Und dabei setze turlandschaft, die durch unterschiedlichste landwirt- ich auch auf das Engagement der Abgeordneten aller schaftliche Nutzungen geprägt ist und in Zukunft ge- Couleur im Europäischen Parlament, den deutschen Weg prägt sein wird, dar. Die nachhaltige Bewirtschaftung in zu vertreten und sich nicht nur für die Stützung von Rum diesen Betriebsformen trägt eindeutig zum Erhalt der bio- aus den französischen Überseedepartements, sondern logischen und der Strukturvielfalt bei. Diese sind nicht auch für deutschen Schnaps stark zu machen! nur erstrebenswertes Ziel, sondern Voraussetzung für die Attraktivität ländlicher Regionen als Erholungs- und Le- Lydia Westrich (SPD): Jetzt haben die Kollegen bensräume. doch noch einmal eindringlich dargestellt, was sich hin- Neben dem Erhalt der Vielfalt im ländlichen Raum ter dem sperrigen Wort „Branntweinmonopol“ verbirgt, muss auch die gesamtwirtschaftliche Wertschöpfung der nämlich Wirtschaftskraft, Arbeitsplätze, Landschafts- bäuerlichen Produktionen berücksichtigt werden. Der und Naturschutz. Landwirt stellt nicht nur Lebensmittel her – für die er Wir haben wenige Beispiele einer solchen Kreislauf- derzeit keine kostendeckenden Preise erwirtschaften wirtschaft, wie sie den bäuerlichen Betrieben durch das kann; dies nur als Anmerkung zur derzeitigen Milch- Brennrecht ermöglicht wird. Dass es in der ländlich preisdiskussion –, sondern fungiert auch als Landschafts- strukturierten Westpfalz, die keine großen Bodenschätze pfleger und Energiewirt, meist in Ergänzung des Haupt- aufweist, noch so viele landwirtschaftliche Vollerwerbs- erwerbs. Diese Nebentätigkeiten müssen sich aber auch betriebe gibt, verdankt sie allein dem zweiten Standbein in seinem Einkommen bemerkbar machen, und dies ist Brennerei. Viele der Höfe haben sich sogar schon in der ohne Stützung derzeit leider nicht möglich. Nachfolge auf die Weiterführung festgelegt – umso mehr Ich sehe die landwirtschaftlichen Alkoholhersteller als werden es sein, wenn es uns gelingt, das Branntweinmo- (B) mögliche Anbieter von Rohstoffen für eine neue Genera- nopol über 2010 hinaus zu erhalten. (D) tion von Biokraftstoffen; sie tragen im Wesentlichen Ich wohne auf einer landwirtschaftlich genutzten dazu bei, dass der von uns erwünschte Energiemix nach- Hochebene; in den Tälern sind Wälder und Bäche, die haltig aus heimischen Rohstoffen und nicht aus fragwür- Hänge überziehen grüne Weiden. Dieses Landschafts- digen Importen erfüllt wird. Hier nehmen die Brenner bild so zu erhalten, wie es sich seit Jahrhunderten dar- und die Bundesmonopolverwaltung – als Auf- und Ver- stellt, wäre ohne den Bestand vieler landwirtschaftlicher käufer – eine wichtige Stellung ein. Dabei ist die Verwal- Familienbetriebe nicht möglich. Streuobstwiesen umrun- tung natürlich in der besonderen Pflicht, mit ihren Ver- den die Dörfer, eine Vielzahl alter Duftrosen ergibt ein käufen auf dem Alkoholmarkt kein Preisdumping zu wunderbares Destillat. betreiben, damit andere Alkoholhersteller und -anbieter nicht in ihrer Existenz gefährdet werden. Durch das 90 Jahre alte Branntweinmonopol ist es ei- ner strukturschwachen Region gelungen, die Wirt- Nochmals gute Gründe, warum der deutsche Weg und schaftskraft vor Ort auszubauen und zu erhalten. mit ihm das Branntweinmonopol erhalten bleiben muss: Wertschöpfung im ländlichen Raum, Bereitstellung und Es gibt eine Wertschöpfungskette, die von For- Erhalt von Arbeitsplätzen nicht nur in der Landwirt- schungs- und Lehrprojekten an der Fachhochschule über schaft und den Brennereien, sondern auch in den Zulie- Betriebe, die Destillationsgeräte herstellen oder warten, ferbetrieben – Landhandel, Handwerk –, gut entwickel- spezielle Transporteure für den verplombten Alkohol bis tes Know-how im Apparatbau, das weltweit anerkannt zu den landwirtschaftlichen Betrieben und kleineren ist, Pflege der Kulturlandschaft, Erhalt der Biodiversität, Obstbrennereien reicht. Selbst die Tourismusentwick- zum Beispiel durch Streuobstwiesen, umweltfreundliche lung ist davon berührt. Produktion durch Verwertung von Schlempe als Futter- Die wenigen Mittel, die wir aus dem Bundeshaushalt mittel. für das Monopol aufwenden, vervielfachen sich vor Ort Nicht zuletzt stellt die Herstellung von Destillaten in eindrucksvoll in Arbeitsplätze für Ingenieure, Techniker, kleinen Brennereien auf dem Land auch eine Tradition Handwerker, Fahrer, Kontrolleure, Brennmeister – wir dar, die es zu bewahren gilt. Zwar profitieren Direktver- haben sogar eine Brennmeisterin – und natürlich für die markter von Bränden nicht direkt vom Monopol, haben ganzen bäuerlichen Familien. Wir müssen keinen Soja- aber durch den Abfluss größerer Mengen Alkohols ande- Schrot importieren, haben hochwertiges Eiweißfutter- rer Hersteller an die Monopolverwaltung größere mittel durch die abfallende Schlempe und natürlich ge- Marktchancen und können damit kostendeckende Preise nauso hochwertigen Alkohol für Pharma- und Kosmetik- am Markt erwirtschaften. Und wer möchte nach einem industrie. Wir brauchen keine Prämien für die Pflege 17314 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008

(A) ungenutzter Brachflächen zu zahlen, und die gewach- Wir können feststellen, dass wir mit diesen wenigen (C) sene Kulturlandschaft bleibt in ihrer Substanz erhalten. Millionen Euro aus dem Bundeshaushalt eine Fülle von Investitionen, Wissen und Wirtschaftskraft befördern, Richard Rutz, der Vorsitzende unseres Brennereiver- deren Sinnhaftigkeit selbst vom Bundesrechnungshof bandes, sagte: „Wir haben die Grausamkeiten, die uns nicht infrage gestellt werden kann. Deshalb arbeiten wir der Bundeshaushalt durch die Kürzungen in den letzten schon jetzt dafür – und bekräftigen das mit diesem An- Jahren auferlegt hat, mühsam in unseren Betrieben ver- trag –, die Ausnahmegenehmigung in Brüssel über 2010 arbeitet, haben modernisiert und die Abläufe optimiert. hinaus um weitere sieben Jahre auszudehnen. Wir schaf- Wir brauchen ein deutliches Signal, dass sich weiteres fen damit die notwendige Planungssicherheit für unsere Investieren lohnt und dass wir unseren Kindern die Wei- Betriebe. Es lohnt sich daran mitzuarbeiten, Kolleginnen terführung des Betriebes empfehlen können.“ und Kollegen; denn nicht alles, was nur in Deutschland existiert, muss per se auf den Prüfstand gestellt werden. Mit dem Antrag, den wir heute vorlegen, soll dieses Signal nach Brüssel gegeben werden. Die in Deutsch- land mit staatlichen Beihilfen geförderte Alkoholmenge Reinhard Schultz (Everswinkel) (SPD): Vor 90 Jah- kann auf dem EU-Binnenmarkt keine Wettbewerbsver- ren, am 26. Juli 1918, unterzeichnete Kaiser Wilhelm II zerrung hervorrufen. Wenn wir zum Beispiel im das erste Branntweinmonopolgesetz. Seither gilt dieses Jahr 2010 600 000 Hektoliter geförderten Alkohol her- Gesetz in seinen wesentlichen Grundzügen und insbe- stellen, so fällt diese Menge im großen EU-Agraralko- sondere in seiner Zielsetzung der Förderung landwirt- holmarkt von 50 bis 60 Millionen Hektolitern kaum auf. schaftlicher Betriebe unverändert. Aufgrund seines Al- Außerdem steckt kein Cent EU-Geld darin. Ganz im Ge- ters, seiner historischen Bezeichnung und der Tatsache, genteil, wir ersparen der EU Beihilfen für die betroffe- dass dieses agrar- und regionalpolitische Förderinstru- nen Betriebe. ment seit 1976 mit Mitteln aus dem Bundeshaushalt ge- stützt werden muss, sah sich das deutsche Branntwein- Die Kreislaufwirtschaft, der Erhalt der Kulturland- monopol in der Vergangenheit immer wieder der Kritik schaft und die Existenz der vielen Streuobstwiesen mit ausgesetzt, in der heutigen Zeit ein völlig überflüssiges alten, selten gewordenen Obstsorten entsprechen genau und kostspieliges Fossil aus der Antike zu sein. Ich den europäischen Zielen. Inzwischen kommen bereits möchte heute noch einmal eine Lanze für das Brannt- sehr interessierte Besucher aus Bulgarien, aus Ungarn, weinmonopol brechen und erläutern, warum ich zusam- die diese Kreislaufwirtschaft für ihre Entwicklung als men mit meinem Kollegen Norbert Schindler den heute gute Chance betrachten. Ich möchte nicht erleben, dass eingebrachten Entschließungsantrag initiiert habe. bei uns in Deutschland wertvolle Strukturen zerschlagen (B) werden, die eigentlich als Beispiel für eine ökonomisch Uns geht es darum, die politischen Weichen dafür zu (D) und ökologisch gut funktionierende Landwirtschaft aus- stellen, dass das Branntweinmonopol auch nach 2010 strahlen können. Deshalb ist es wichtig, diesen Antrag fortbestehen kann. Denn nach einigen grundlegenden zum jetzigen Zeitpunkt in die parlamentarische Beratung Änderungen stellt das Branntweinmonopol heute eine einzubringen. sehr sinnvolle Förderung für die Landwirtschaft, die ländlichen Räume und zum Erhalt unserer Kulturland- Der Bundesrat hat sich vor kurzem in seiner Agrarmi- schaft dar. nisterkonferenz eindeutig für die Beibehaltung des Branntweinmonopols ausgesprochen. Nur das Saarland Im Jahr 1999 haben wir das Branntweinmonopol hat dagegen votiert. Vermutlich weiß Ministerpräsident grundlegend reformiert, indem wir die gewerblichen Peter Müller, der so gern für die Abschaffung von Sub- Brenner davon ausgenommen und das Monopol auf die ventionen eintritt, nicht, dass es auch in seinem Land ge- landwirtschaftlichen Brennereien, die quasi eine Kreis- nügend Familienbetriebe gibt, die ihren wertvollen Bei- laufwirtschaft repräsentieren, reduziert haben. Dadurch trag für die vielfältige Landschaft des Saarlandes leisten. haben wir den Zuschussbedarf aus dem Bundeshaushalt Da bitte ich die Kolleginnen und Kollegen aus diesem deutlich verringert und die ökonomische Zukunft des Land, hier für Aufklärung zu sorgen. verbleibenden Monopols verlängert. Das Europäische Parlament steht unserer Forderung Das Monopol steht nach dieser Reform für einen spe- nach Verlängerung der Ausnahmeregelung in weiten zifisch deutschen Weg der Alkoholerzeugung. Die Pro- Teilen aufgeschlossen gegenüber. Es bleibt an uns, der duktion erfolgt dezentral in kleinen und mittleren land- Europäischen Kommission noch einmal die Vorteile wirtschaftlichen Brennereien, die mit der Landwirtschaft auch für die europäische Politik und Fortentwicklung eine ökonomische und ökologische Einheit bilden, eine aufzuzeigen. Wenn Länder wie Bulgarien eventuell Einheit, die sich bestens bewährt hat. In diesem Herstel- ebenfalls solche Strukturen einrichten könnten, würde lungsprozess geht nichts verloren. Die Schlempe wird an sich das positiv auf die ökonomisch sinnvolle Landwirt- das Vieh verfüttert, die Gülle zur Düngung der Felder schaft vor Ort auswirken. verwendet, und das Getreidekorn oder die Kartoffel lie- fern den Rohstoff für den Alkohol. Als Nebenerwerb Bei uns ist das Branntweinmonopol, das wir auf die stellt die Brennerei für den landwirtschaftlichen Betrieb landwirtschaftlichen Familienbetriebe eingegrenzt ha- ein starkes wirtschaftliches Standbein dar. Zugleich un- ben, nicht verzichtbar. Die Monopolverwaltung selbst terstützen die Brenner die Pflege der Kulturlandschaft hat sich straff organisiert, ihr sparsames Wirtschaften – ich denke hier insbesondere an die kleinbäuerlichen kann für andere Behörden beispielgebend sein. Abfindungsbrennereien, die Obst von ökologisch wert- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008 17315

(A) vollen Streuobstwiesen zu Alkohol verarbeiten – und Säule der Agrarpolitik bzw. der Verordnung über den (C) dienen damit dem gesamten ländlichen Raum durch ländlichen Raum, der ELER-Verordnung, eine Förde- Wertschöpfung und Bereitstellung von Arbeitsplätzen. rung der Brennereien durch Deminimis-Beihilfen im Agrarsektor und letztlich auch eine mögliche künftige Um das Missverständnis zu vermeiden, das Brannt- Erzeugung von Ethanol für Kraftstoffzwecke – Bioetha- weinmonopol fördere das Trinken von hochprozentigem nol – durch die traditionellen deutschen Brennereien sind Alkohol und sei daher nicht länger mit dem Kampf der entweder kein adäquater Ersatz zur Einkommens- und Bundesregierung gegen den insbesondere bei Jugendli- damit Existenzsicherung der Brennereien oder scheiden chen zunehmenden riskanten oder missbräuchlichen Al- von vornherein aus rechtlichen, technischen oder ökono- koholkonsum vereinbar, möchte ich unterstreichen, dass mischen Gründen aus. der überwiegende Teil des im Rahmen des Branntwein- monopols produzierten Alkohols in der kosmetischen Wir haben damals – das möchte ich freimütig zuge- oder pharmazeutischen Industrie landet. Nur ein kleiner ben – auch den Zeitpunkt der erneuten Befassung im Teil landet in den beiden Leberlappen von Abgeordneten Bundestag falsch eingeschätzt. Wir wollten das Thema oder anderen Feinschmeckern von hochprozentigen Spi- ursprünglich erst im ersten Quartal 2009 auf Basis eines rituosen. Berichts der Bundesregierung beraten. Eine Befassung erst im ersten Quartal des Jahres 2009 wäre eindeutig zu Mit dem heutigen Entschließungsantrag möchte der spät gewesen. Man muss davon ausgehen, dass die Be- Deutsche Bundestag den im Jahre 2009 bzw. 2010 in amten der EU-Kommission bereits zu Beginn des Jahres Brüssel anstehenden Entscheidungsprozess um das künf- 2009 Struktur und Inhalt des Berichts konzipieren. Die tige Schicksal des Branntweinmonopols politisch beglei- Landwirte, die aus Kartoffeln Alkohol erzeugen, müssen ten und der Bundesregierung bei ihrem Kampf in Brüs- im Frühjahr 2009 bereits das Pflanzgut einkaufen, das sel für den Erhalt des Branntweinmonopols den Rücken dann ab Herbst 2010 zu Alkohol verarbeitet werden soll. stärken. Je früher die Bundesregierung in Brüssel vor 2010 vor- Die Erfahrung der Jahre 2001 bis 2003, als die EU- stellig wird, um für eine Verlängerung des Branntweinmo- Kommission mit ihrem Vorschlag für eine europäische nopols zu werben, desto eher wird die EU-Kommission in Alkoholmarktordnung das deutsche Branntweinmonopol Brüssel gewahr, dass es sich beim Branntweinmonopol ersatzlos und ohne Übergangsfristen abschaffen wollte, um ein für Deutschland wichtiges politisches Anliegen hat gezeigt, dass nur ein gemeinsamer mit großem politi- handelt. Wichtig ist, dass die EU-Kommission von sich schen Druck geführter Kampf der Bundesregierung, des aus als geeigneten Weg die Verlängerung der Ausnahme- Deutschen Bundestages über alle Partei- und Fraktions- regelung um sieben Jahre bis 2017 vorschlägt. Denn nur grenzen hinweg, der Landesregierungen und Landtage in diesem Fall kann der Rat die Verlängerung mit qualifi- (B) und der deutschen Europaabgeordneten die Wettbe- zierter Mehrheit beschließen. Würde die Kommission (D) werbsfetischisten die EU-Kommission zum Einlenken eine Verlängerung ablehnen, müsste der Rat einstimmig bewegen konnte, sodass letztlich eine zunächst bis zum gegen die EU-Kommission entscheiden; das scheint bei 31. Dezember 2010 befristete Ausnahmeregelung für 27 Mitgliedstaaten relativ ausgeschlossen. Man sieht: Es das Branntweinmonopol im Rat durchgesetzt werden kann nicht früh genug mit der Überzeugungsarbeit in konnte. Die EU-Kommission muss dem Rat und dem EP Brüssel begonnen werden. Ich denke, wir haben gute Ar- bis Ende 2009 einen Bericht zusammen mit geeigneten gumente für eine Verlängerung, die letztlich auch Brüs- Vorschlägen vorlegen, wie es mit dem deutschen Brannt- sel überzeugen müssen. weinmonopol weitergehen soll. Durch den Erhalt der landwirtschaftlichen Brenne- Als wir uns zuletzt im Mai 2006 im Deutschen Bun- reien werden volks- und betriebswirtschaftliche Negativ- destag anlässlich einer Änderung des Branntweinmono- wirkungen – insbesondere der Verlust von rund 4 000 polgesetzes mit dem Branntweinmonopol befasst hatten, Vollzeitarbeitsplätzen in der Brennereiwirtschaft und der waren wir uns einig, dass die traditionelle deutsche Landwirtschaft – vermieden. Darüber hinaus sichern wir Agraralkoholerzeugung auch über das Jahr 2010 hinaus rund 7 000 landwirtschaftlichen Betrieben mit Ver- fortgeführt werden sollte. Ich verweise in diesem Zu- schluss- oder Abfindungsbrenner ihre Existenz und beu- sammenhang noch einmal auf die Entschließung vom gen so der Vernichtung von weiteren Arbeitsplätzen in 19. Mai 2006. Damals wollten wir aber die Möglichkeit der Verwaltung und der regionalen gewerblichen Wirt- eines alternativen Fördermodells, das mit dem EG-Recht schaft – Apparatebauer, Landhandel und einheimische leichter vereinbar sein könnte, nicht von vornherein aus- Handwerker – vor. Das Branntweinmonopol leistet einen schließen. Zwischenzeitlich hat sich jedoch herausge- unverzichtbaren Beitrag zum Artenschutz. Zurzeit findet stellt – hier verweise ich auf Prüfungen der Experten des in Bonn die UN-Artenschutzkonferenz statt. Die ökono- Bundesfinanz- und Bundeslandwirtschaftsministeriums, mische Nutzung des Obstes von seltenen hochstämmi- der Länderministerien und der Verbände –, dass es zu ei- gen Obstbäumen auf sogenannten Streuobstwiesen si- ner Verlängerung der geltenden beihilferechtlichen Aus- chert nicht nur die biologische Vielfalt seltener nahmeregelung des Branntweinmonopols um weitere Obstbaumarten, sondern auch die Vielfalt von Insekten sieben Jahre keine Alternative gibt. und Tieren, die sich in den Streuobstwiesen wohlfühlen. Eine Förderung der Brennereien im Rahmen der ers- Die im Rahmen des Branntweinmonopols geförderte ten Säule der Gemeinsamen Agrarpolitik, das heißt, über Alkoholmenge von circa 600 000 Hektolitern Alkohol entkoppelte Direktzahlungen je Betrieb, eine Förderung macht bei einem EU-Alkoholmarkt von derzeit rund der Brennereien im Rahmen der sogenannten zweiten 40 Millionen Hektolitern gerade einmal 1,5 Prozent aus. 17316 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008

(A) Ein Marktanteil von 1,5 Prozent kann sicher nicht den nen und Kollegen von CDU/CSU und SPD, besser beur- (C) EU-Alkoholmarkt stören. Hinzu kommt, dass der im teilen. Rahmen des deutschen Branntweinmonopols gewon- nene Alkohol ausschließlich in Deutschland abgesetzt Trotz allem halte ich es für ein fatales Signal an die wird, also auch nicht direkt auf anderen EU-Märkten zahllosen kleinen Brennereibetriebe in Deutschland, verkauft wird. dass die Bundesregierung aus eigener Kraft nicht willens oder in der Lage ist, sich um sie zu kümmern. Dieser Nicht zuletzt als Abgeordneter aus Westfalen bzw. Entschließungsantrag von CDU/CSU und SPD ist kein dem Münsterland, das bekanntlich die Hochburg der Ge- positives Signal an die landwirtschaftlichen Brenne- treidebrennerei in Deutschland ist, möchte ich bitten, reien, er ist ein Zeichen für die politische Orientierungs- dass wir uns gemeinsam wie bisher für die landwirt- losigkeit der Großen Koalition. schaftlichen Brennereien, für die durch die Brennereien gepflegte Kulturlandschaft und insbesondere für die Wenn Sie wirklich etwas für die Zukunft des Brenne- durch sie geschaffenen Arbeitsplätze im ländlichen reiwesens in Deutschland tun wollen, dann führen Sie Raum einsetzen. Denn das Branntweinmonopol ist nicht eine Anhörung durch, stellen Sie sich den Argumenten nur wichtig für die Landwirtschaft; es ist auch gut für der Gegner und Befürworter des Branntweinmonopols. den ländlichen Raum. Was die Brennereien, was die Bürgerinnen und Bürger in unserem Land von Ihnen erwarten, sind keine wohlfeilen Entschließungsanträge, sondern Konzepte – und zwar Dr. Volker Wissing (FDP): Man fragt sich wirklich, solche, die über den Tag hinaus tragen. was Sie eigentlich mit diesem Entschließungsantrag be- zwecken wollen. Wenn CDU/CSU und SPD diesen An- Ihr Antrag ist aber alles andere als ein Konzept, ja er trag in den Deutschen Bundestag einbringen, dann kann ist nicht einmal eine Entschließung. Es ist niemandem das doch nur eines bedeuten: Sie trauen ihrer Bundesre- geholfen, wenn Sie die Bundesregierung auffordern, sich gierung nicht. CDU/CSU und SPD vermuten anschei- intensiv für etwas einzusetzen. Die Bundesregierung soll nend, dass wenn sie im Deutschen Bundestag nicht ge- sich nicht für etwas einsetzen, sondern Ergebnisse lie- nügend Druck ausüben, die Bundesregierung beim fern. Branntweinmonopol auf europäischer Ebene klein bei- Aber Sie trauen sich nicht einmal, konkrete Ergeb- gibt. nisse einzufordern. Nein, Sie geben sich damit zufrie- Ich könnte jetzt Ihre Forderungen eine nach der ande- den, die Bundesregierung aufzufordern „sich intensiv ren durchdeklinieren und Sie jedes Mal fragen, ob die einzusetzen“ – sich zu bemühen … Bundesregierung dazu Ihrer Aufforderung bedarf. Sie Nun sind Bemühungen per se nichts Schlechtes, und (B) fordern in Ihrem Antrag die Bundesregierung auf, sich (D) bereits 2008 intensiv dafür einzusetzen, dass die EU- die FDP honoriert Ihre Bemühungen durchaus. Aber um Kommission in dem von ihr bis Ende 2009 zu erstellen- unsere Zustimmung zu bekommen, müssen Sie Ergeb- den Bericht zur Evaluierung der bisherigen Beihilfen im nisse liefern. Mit Ihren „Bemühungen“ geben wir uns je- Rahmen des Branntweinmonopols die Verlängerung der denfalls nicht zufrieden. geltenden EG-beihilferechtlichen Ausnahmeregelung in der Verordnung über die einheitliche Gemeinsame Dr. Barbara Höll (DIE LINKE): Das Branntweinmo- Marktorganisation für Agrarprodukte um weitere sieben nopol hat im Laufe seiner Geschichte eine interessante Jahre bis 2017 vorschlägt und zugleich ihre Erklärung finanzpolitische Wandlung erfahren. Ursprünglich war aus dem Jahre 2003 zur Zulässigkeit der Auszahlung von das Branntweinmonopol als zusätzliche Einnahmequelle Ausgleichsbeiträgen bei einem vorzeitigen Ausscheiden der öffentlichen Hand konzipiert. Der Staat hatte Exklu- aus dem Branntweinmonopol über das Ende der Ausnah- sivrechte, die den Bezug, die Herstellung, die Einfuhr, meregelung hinaus bestätigt. den Handel und die Reinigung von Branntwein betrafen. Heute ist es mutiert zu einer besonderen Form der Agrar- Das heißt doch vor allem: Zum einen sind SPD und subvention, da die Bundesmonopolverwaltung für CDU/CSU nicht in der Lage, kurze Sätze zu bilden, und Branntwein den durch Reinigung gewonnen Neutralal- zum anderen bedarf die Bundesregierung offensichtlich kohol unter dem Einkaufspreis für den Rohalkohol ver- einer solchen Aufforderung. Das sagt ziemlich viel über kauft. Die Bundesmonopolverwaltung für Branntwein den Zustand dieser Bundesregierung. Die Gräben ver- muss daher aus Haushaltsmitteln subventioniert werden. laufen nicht nur zwischen Schwarz und Rot, sondern obendrein zwischen der Regierung und den sie tragen- Subventionen stellen einen Eingriff in den marktwirt- den Fraktionen. Diese Ministerriege ist offensichtlich so schaftlichen Preismechanismus dar. Bei der Begründung träge geworden, dass sie zum Jagen getragen werden von Subventionen ist zu fragen, wer warum durch diese muss. Das wird einem durch ihren Entschließungsantrag begünstigt werden soll und ob dieses Mittel dafür geeig- jedenfalls noch einmal so richtig deutlich vor Augen ge- net ist. Für die Bundestagsfraktion Die Linke kommen führt. vor allem verteilungspolitische, arbeitsmarktpolitische und lenkungspolitische, wie zum Beispiel ökologische, Wir sehen Ihren Entschließungsantrag insgesamt mit Begründungen infrage. sehr gemischten Gefühlen. Ob eine Bundesregierung, die nicht will, tatsächlich mittels eines Entschließungs- Im konkreten Fall des Branntweinmonopols sind die antrages auf Trab gebracht werden kann? Ich bezweifle mittelbar Begünstigten vor allem kleinere landwirtschaft- es. Aber das können Sie, meine sehr geehrten Kollegin- liche Betriebe und die mit diesen eng verbundenen Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008 17317

(A) landwirtschaftlichen Brennereien, Obstgemeinschafts- partements die gleichen seien wie diejenigen, welche für (C) brennereien sowie Abfindungsbrennereien. An diesen eine Beibehaltung des deutschen Branntweinmonopols Brennereien hängen 4 000 Vollzeitarbeitsplätze in der sprächen. In beiden Fällen würden durch die Ausnahme- Brennereiwirtschaft und 7 000 Betriebe in der Landwirt- regelungen für kleine Brennereien deren Existenz und schaft. Die Brennereien erzeugen Rohalkohol im Rahmen Konkurrenzfähigkeit gegenüber industriell arbeitenden von Brennkontingenten und liefern diesen zur Reinigung Wettbewerbern gesichert. und Vermarktung an die Bundesmonopolverwaltung für Branntwein ab. Diese zahlt den Brennereien gesetzlich Cornelia Behm (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): festgelegte Übernahmepreise, welche über den Markt- Wenn wir die landwirtschaftliche Brennereiwirtschaft preisen liegen. Die gesetzlich festgelegten Übernahme- und die Produktion von Agraralkohol in Deutschland er- preise orientieren sich dabei an den Herstellungskosten. halten wollen, dann besteht zur Förderung im Rahmen Den beteiligten landwirtschaftlichen Betrieben wird so des Branntweinmonopolgesetzes keine Alternative. Dies die Möglichkeit geboten, ein Zusatzeinkommen zu erzie- müssen wir uns ganz klar machen, wenn wir darüber dis- len. kutieren, wie es nach dem Auslaufen der Ausnahmege- Die mit dem Branntweinmonopol verbundenen Struk- nehmigung der EU für die Förderung der Agraralkohol- turen von kleinteiligen landwirtschaftlichen Betrieben produktion in landwirtschaftlichen Brennereien in und Brennereien sind langjährig gewachsen und oftmals Deutschland nach 2010 weitergehen soll. eng verbunden mit erhaltenswertem landschaftlichen Ein Großteil des Rohalkohols, den landwirtschaftli- Kulturraum, Beispiel: Streuobstwiesen. In der Erhaltung che Brennereien erzeugen, liefern sie an die Bundesmo- dieses Kulturraums liegt eine Rechtfertigung für die Auf- nopolverwaltung für Branntwein. Trotz erheblicher An- rechterhaltung des Branntweinmonopols. Die Symbiose strengungen der Branche kann auch in Zukunft nur ein zwischen Brennereien und landwirtschaftlichen Betrie- geringer Teil in Form von Destillaten bzw. Bränden ben äußert sich darüber hinaus in einer aus ökologischer selbst vermarktet werden. Das heißt, dass die Abnahme Sicht zu begrüßenden Kreislaufwirtschaft. Nicht marktfä- des Alkohols durch die Monopolverwaltung für die land- hige landwirtschaftliche Produkte – Getreide, Kartoffeln, wirtschaftliche Brennereiwirtschaft von existenzieller Obst – können so verwertet werden, bei der Alkoholher- Bedeutung ist. stellung entstehende Restprodukte – Schlempe – werden als Viehfutter wiederverwendet. Das Branntweinmono- Mit einer Flächenprämie wäre den Betrieben nicht ge- pol bildet somit eine ökonomische und ökologische Ein- holfen. Denn wenn man die Förderung durch das heit mit der Landwirtschaft, stärkt eine umweltfreundli- Branntweinmonopol auf die Fläche umrechnet, dann er- che Kreislaufwirtschaft und bewirkt die Erhaltung von geben sich etwa 2 000 bis 3 000 Euro pro Hektar. Auch (B) Wertschöpfung und Arbeitsplätzen im ländlichen Raum. andere Möglichkeiten zur Förderung – etwa als Demini- (D) Verteilungs- und wettbewerbspolitisch ist zu ergän- mis-Beihilfe in Höhe von bis zu 6 000 Euro pro Betrieb zen, dass die größeren gewerblichen Brennereien nicht oder in Form von flächenbezogenen Agrarumweltpro- mehr zum Branntweinmonopol dazugehören. Es umfasst grammen – würden im Vergleich zu dieser Förderung zu nur noch einen sehr kleinen Teilsektor des deutschen niedrig ausfallen. Das heißt also: Ohne den Preisaus- Agraralkoholmarktes. Eine Wettbewerbsverzerrung ist gleich durch die Branntweinmonopolverwaltung gäbe es damit weitgehend ausgeschlossen. keinen ökonomischen Anreiz mehr für die Agraralkohol- produktion in landwirtschaftlichen Brennereien. Ohne Daher ist die Initiative der Regierungsfraktionen zur eine Verlängerung der Ausnahmegenehmigung für die Verlängerung des Branntweinmonopols über das Jahr Förderung der Agraralkoholproduktion im Rahmen des 2010 hinaus zu begrüßen. Der Bundestag hatte sich be- Branntweinmonopolgesetzes über das Jahr 2010 hinaus reits 2006 hierfür einstimmig ausgesprochen. Bei den wird es also keine landwirtschaftliche Brennereiwirt- Verhandlungen mit der EU-Kommission kann diesbe- schaft in Deutschland mehr geben. züglich auch auf nationale Sonderregelungen in anderen Mitgliedstaaten verwiesen werden. Die deutschen Agrar- Wir Grüne sind dafür, die landwirtschaftliche Brenne- alkoholerzeuger verweisen hier auf das französische Bei- reiwirtschaft zu erhalten und dazu die EU-Ausnahmege- spiel. In Frankreich existiert eine Sonderregelung bei der nehmigung zu verlängern, und zwar aus folgenden Besteuerung von traditionellem Rum aus den französi- Gründen: schen überseeischen Departements Martinique, Réunion Die landwirtschaftlichen Obstbrennereien tragen zur und Guadeloupe. Auf Rum, der aus diesen Departements Pflege und zum Erhalt der ökologisch wertvollen und ar- stammt, wird ein ermäßigter Steuersatz angewandt, der tenreichen Streuobstwiesen bei. Sie sorgen für zusätzli- um bis zu 50 Prozent unter dem Regelsteuersatz in che Einkommen für Nebenerwerbs- oder Haupterwerbs- Frankreich liegt. Ursprünglich sollte diese Sonderrege- landwirte. Sie tragen bei großen Ernten zur Entlastung lung bis zum Jahr 2009 begrenzt sein. Am 6. Juli 2007 des Obstmarktes bei und verhindern damit einen Preis- hat nun die EU-Kommission einen Vorschlag für eine verfall beim Frischobst. Sie fördern die Regionen und Entscheidung des Rates vorgelegt, wonach der zeitliche prägen unsere Kulturlandschaft mit. Rahmen für die Besteuerung dieses traditionellen Rums bis Ende 2012 verlängert werden soll. Die deutschen Leider tut die Bundesregierung nicht viel, um die Agraralkoholerzeuger verweisen zu Recht darauf, dass Streuobstbestände zu schützen und zu erhalten. Ökono- die Voraussetzungen für die reduzierte Steuer auf tradi- misch können sie gegenüber modernen Obstbaumplanta- tionellen Rum aus den französischen überseeischen De- gen nicht mithalten. Um sie zu erhalten, braucht es also 17318 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008

(A) einer speziellen Unterstützung. Die Streuobstbestände der Erklärung von Barcelona und mit dem 2005 verab- (C) der Bundesrepublik sind folglich in den vergangenen schiedeten Arbeitsprogramm große Ziele gesetzt. Dies 50 Jahren von 1,5 Millionen auf 300 000 Hektar ge- vor dem Hintergrund und im Bewusstsein, dass sich die schrumpft. Wenn nicht schnellstens Maßnahmen ergrif- aktuellen Probleme, die unsere Länder und Gesellschaf- fen werden, droht ein noch weiterer Rückgang einer ten betreffen, nicht mehr im nationalen Rahmen lösen besonders artenreichen Kulturlandschaft. Die Bundesre- lassen. Ob in der Frage der Migration, der inneren und gierung muss im Jahr der Biodiversität das formulierte äußeren Sicherheit, ob in der Frage des Klima- und Um- Ziel erreichen, den Rückgang der Artenvielfalt zu stop- weltschutzes oder der Energiesicherheit: Die euromedi- pen. Dazu gehört auch, die Streuobstwiesen zu erhalten terranen Partnerländer müssen gemeinsame Positionen bzw. den Streuobstwiesenanteil wieder zu erhöhen. zu globalen Herausforderungen definieren und zur Wei- terentwicklung der bestehenden politischen Prozesse Ohne die Förderung der landwirtschaftlichen Obst- beitragen. brennereien droht aber stattdessen ein zusätzlicher und noch schnellerer Verlust an Streuobstwiesen. Außerdem Ich möchte nachfolgend aufzeigen, wo uns das gelun- steht eine hohe Anzahl an Existenzen auf dem Spiel. gen ist, und auch auf Politikfelder hinweisen, bei denen der Barcelona-Prozess hinter seinem Potenzial zurück- Es geht bei den landwirtschaftlichen Brennereien aber geblieben ist. nicht nur um die Obstbrennereien. Es geht auch um die Kartoffel- und die Getreidebrennereien. Auch diese leis- Zunächst ist positiv anzumerken, dass es in einigen ten einen Beitrag zur regionalen Kreislaufwirtschaft und Bereichen, gerade im Umwelt- und Energiesektor, eine zur regionalen Wertschöpfung. Auch sie sind es wert er- Reihe von Initiativen der Partnerländer gibt. Dadurch halten zu werden. wird meiner Auffassung nach unterstrichen, dass die zu- Die Landwirte, Obstbauern und Brennereien brau- gegebenermaßen hochgesteckten ökonomischen Ziele in chen Planungssicherheit! Die Aussaat des Getreides und den angesprochenen Bereichen innerhalb des Barcelona- der Kartoffeln, die im Jahr 2010 der Alkoholgewinnung Prozesses realisierbar sind. dienen, müssen im Jahr 2009 erfolgen. Deswegen muss Beim Stichwort Umwelt- und Klimapolitik möchte die Regierung jetzt handeln, wenn sie der landwirt- ich außerdem auf die Notwendigkeit hinweisen, im Rah- schaftlichen Brennereiwirtschaft in Deutschland eine men des Finanzprogramms der Europäischen Nachbar- Zukunft geben will. Minister Seehofer ist in der Pflicht, schaftspolitik gemeinsame Strategien zu entwickeln, um jetzt in Brüssel eine Verlängerung der Ausnahmegeneh- auf die Herausforderungen im Zusammenhang mit der migung zu erreichen, so wie es seinerzeit Renate Künast Bekämpfung des Klimawandels und der Wüstenbildung, gelungen ist. Deswegen stimmen wir dem Antrag zu. dem Schutz der Ökosysteme und der Förderung des (B) (D) Noch eine Anregung zum Schluss: Der Name des menschlichen Wohlergehens zu reagieren Branntweinmonopolgesetzes ist völlig überholt, denn Ein weiteres Positivbeispiel ist zu nennen: So werden ein Branntweinmonopol besteht schon lange nicht mehr. im Zusammenhang mit dem Barcelona-Prozess verstärkt Dieses Gesetz gibt durch seinen Namen also einen völlig Ausbildungsprogramme für Jugendliche gefördert. Die falschen Eindruck seines Inhaltes. Das wäre nicht so Kommission hat im Rahmen des MEDA-2-Programms schlimm, wenn der Begriff „Monopol“ nicht so schlecht die Fördersumme von anfangs 700 Millionen Euro letz- besetzt wäre. Monopole will jeder abschaffen. Warum tes Jahr nochmals deutlich erhöht. Ausdrücklich möchte also nicht auch das Branntweinmonopol? Genau diese ich in diesem Zusammenhang an den Vorschlag einer Gefahr besteht. Um also dieser Gefahr vorzubeugen, ist zirkulären Migration bzw. Mobilitätspartnerschaft von es dringend an der Zeit, das Gesetz umzubenennen, etwa Bundesinnenminister Dr. Schäuble erinnern. Gerade in Branntweingesetz. Auch für einen solchen Antrag junge Menschen aus den Euromed-Partnerstaaten sind hätte die Koalition unsere Stimmen. eingeladen, für einen bestimmten Zeitraum zu Aus- und Fortbildungszwecken in die Europäische Union zu kom- men, um anschließend ihre dort erworbenen Kenntnisse Anlage 9 in ihren Herkunftsstaaten einzusetzen. Dieses Modell Zu Protokoll gegebene Reden kann auch dazu beitragen, den Zusammenhang zwischen Frieden, Handel und Zivilgesellschaft innerhalb der zur Beratung der Unterrichtungen: Partnerländer zu verdeutlichen – Zweite Plenartagung am 26. und 27. März Nicht verhehlen möchte ich allerdings, dass die Eta- 2006 in Brüssel (Belgien) blierung und Umsetzung internationaler Standards bei – Dritte Plenartagung vom 16. bis 18. März Rechtssicherheit, Menschenrechten und guter Regie- 2007 in Tunis rungsführung in der Mittelmeerregion unbefriedigend ist. Hier haben wir für den Bereich der politischen Re- – Vierte Plenartagung am 26. und 27. März formen versäumt, ein Benchmarking aufzunehmen. Die 2008 in Vouliagmeni (Athen), Griechenland Entwicklung der Demokratie in der Mittelmeerregion (Tagesordnungspunkt 20 a bis c) muss gerade mit dem Fokus „Nahostkonflikt“ eine der Kernfragen der Partnerschaft bleiben. Thomas Dörflinger (CDU/CSU): Die Euromediter- Ich bin davon überzeugt: Nur wenn wir die sozialen, rane Parlamentarische Versammlung hat sich 1995 mit ökologischen und kulturellen Herausforderungen besser Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008 17319

(A) bedenken, können wir die wirtschaftlichen Freiheiten, Auf unsere Jahrestagung in Athen hat die Parlamenta- (C) die die Globalisierung mit sich bringt, auch tatsächlich rische Versammlung bereits reagiert und beschlossen, zum Wohl der Bürgerinnen und Bürger in unseren Län- sich organisatorisch neu aufzustellen. Wir begrüßen dern nutzen. Wenn wir uns als Euromed-Partner zu einer sehr, dass unser deutscher Kollege, EU-Präsident Profes- gemeinsamen politischen Verantwortung für die darge- sor Dr. Pöttering, zum Präsidenten der EM-PV gewählt stellten Aspekte bekennen und effektiv, ehrlich und ver- wurde. Damit ist eine entschlossene Umsetzung des trauensvoll zusammenarbeiten, können wir die Poten- Transformationsprozesses der EM-PV und eine nachhal- ziale des Barcelona-Prozesses weiter ausschöpfen und tige Mittelmeerpolitik im Rahmen der EM-PV gewähr- die Demokratisierungspolitik konsequenter umsetzen. leistet. Lassen Sie uns zusammen daran arbeiten! Damit effiziente Strukturen entstehen können, haben wir in Athen dafür gesorgt, dass falsche Weichenstellun- gen keine Mehrheit fanden, insbesondere haben wir die Hans Raidel (CDU/CSU): Der Mittelmeerraum Ablehnung des vorgelegten Finanzstatutes durchgesetzt. wurde 1995 von der EU zum Gebiet von strategischer Bedeutung erhoben. Im selben Jahr wurde von den Au- Jetzt sind wir allerdings zu großer kooperativer Mit- ßenministern der Barcelona-Prozess ins Leben gerufen. und Zusammenarbeit aufgefordert. Dazu sind wir als Er ist das institutionelle Fundament für die Beziehungen deutsche Delegation bereit. Als ersten Beitrag habe ich zwischen der EU und ihren Mittelmeernachbarländern, einen kompletten Organisationsplan für die EM-PV aus- insbesondere Nordafrika, in Form von Handelskoopera- gearbeitet und Herrn Professor Dr. Pöttering als Anre- tions- oder Europamittelmeerabkommen. gung übersandt. Selbstverständlich wird die Ausarbei- tung auch der Bundesregierung und dem Parlament zur Das oberste Ziel ist die Schaffung eines Raumes des Verfügung gestellt. Friedens, der Stabilität und des gemeinsamen Wohlstan- des im Mittelmeerbecken. Bis 2010 wird eine Freihan- Der Barcelona-Prozess, das unbekannte Wesen. Der delszone angestrebt. Dabei setzt die EU auf eine Stabili- Dornöschenschlaf muss beendet werden. Die neue Form, sierung und langfristige politische und wirtschaftliche als „Sarkozy-Plan“ bekannt geworden, von Deutschland Transformation der Partnerländer mittels wirtschaftli- richtig einjustiert, kann die dringend nötige Dynamik cher, politischer und sozialer Kooperation. Kernthemen entfalten. Während der EU-Ratspräsidentschaft Frank- sind die „politische und Sicherheitspartnerschaft“, die reichs ab Juli 2008 soll die Umsetzung erfolgen. Wenn „Wirtschafts- und Finanzpartnerschaft“ und die „Part- sie so wollen: der Barcelona-Prozess mit seinen Zielset- nerschaft der Zivilgesellschaften in kulturellen, sozialen zungen „in neuen Kleidern“ und mit neuem Namen. und menschlichen Bereichen“. (B) Wenn wir den Mittelmeerprozess erfolgreich gestal- (D) Dass auch der Nahost-Friedensprozess im Mittel- ten können, handeln wir nicht nur im Interesse Nordafri- punkt des Interesses steht, versteht sich ganz von selbst. kas, sondern setzen uns auch für eine gute Zukunft Euro- Die Lösung dieses Konfliktes ist geradezu eine wichtige pas und damit auch für Deutschland ein. Voraussetzung für alle anderen Bemühungen. Für die nächsten zehn Jahre stehen wieder 16 Milliar- Axel Schäfer (Bochum) (SPD): Der Deutsche Bun- den Euro aus dem EU-Haushalt für die einzelnen Pro- destag hat bereits in der 15. Wahlperiode in einem inter- gramme und Projekte zur Verfügung. fraktionellen Antrag die Stärkung der parlamentarischen Dimension des euromediterranen Barcelona-Prozesses Ähnlich wie bei der NATO PV, der OSZE PV und der gefordert. Fast auf den Tag genau hat am 26. und IPU wurde schnell erkannt, dass zur Unterstützung der 27. März diesen Jahres die vierte Plenartagung der Euro- gemeinsamen Interessen die parlamentarische Beglei- mediterranen Parlamentarischen Versammlung in Grie- tung unverzichtbar ist. Deshalb erfolgte 2004 die Grün- chenland stattgefunden. dung der Parlamentarischen Versammlung Europa/Mit- Ich hätte mir natürlich gewünscht, dass wir für unsere telmeer. Als deutsche Delegation arbeiten wir in allen heutige Debatte einen attraktiveren Zeitpunkt zugeteilt Ausschüssen intensiv mit. Als deutscher Delegationslei- bekommen hätten, der der Bedeutung des Themas ge- ter habe ich eine Analyse zur Lage, Organisation und zur recht geworden wäre. Doch hierzu werden wir nochmals Dynamik erarbeitet, die viel Beachtung im Politischen Gelegenheit im EU-Ausschuss haben. Ausschuss der EM-PV gefunden hat. Die Diskussion der vergangenen Wochen und Monate Heute stehen wir vor einer neuen Herausforderung. zeigt wie wichtig die parlamentarische Zusammenarbeit Auf Vorschlag Frankreichs wurde der Barcelona-Prozess ist, und es wäre der Sache nicht dienlich, sich nur auf in „Union für das Mittelmeer“ umbenannt bzw. mit eige- eine Akteursebene zu konzentrieren. Zu Erlangung von nen Verwaltungsstrukturen „neu erfunden“. Nach inten- politischer, wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Stabi- siven Gesprächen auf der Ebene der Regierungschefs lität bedarf es aber unterschiedlicher Kooperationsfor- wurde jetzt eine Form gefunden, die dem Thema neue men bzw. -ansätze. Insofern kommt der Euromed-PV Dynamik verleihen kann. Während der französischen eine sehr wichtige Rolle zu. Ratspräsidentschaft sollen die Weichen gestellt werden. Frau Bundeskanzlerin Merkel und Außenminister Wir haben es im Mittelmeerraum mit einer äußerst Steinmeier haben erfolgreich den richtigen Weg abge- heterogenen Staatenlandschaft zu tun, die gekennzeich- steckt, nämlich innerhalb der EU und nicht außerhalb. net ist durch eine Vielzahl von „Herausforderungen“. 17320 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008

(A) Hierzu gehörte die politische Lage im Nahen Osten in zu ziehen. Leider fällt die Bilanz ernüchternd aus. Ich (C) toto, ebenso Fragen im wirtschaftlichen und ökonomi- sage bewusst „leider“, denn 1996 ist man mit großen schen Bereich, Klimawandel und Energieversorgung, Zielen angetreten. Eine bessere Zusammenarbeit zwi- Meinungsfreiheit und Menscherechte, kultureller Dia- schen der EU und den Mittelmeeranrainerstaaten wollte log usw. man erreichen. Wir alle wissen, dass dieses Ziel bisher noch nicht erreicht ist und der Weg noch lang sein wird. Von „Wandel durch Verflechtung“ hat Bundesaußen- Die Partnerschaft mit 39 Anrainerstaaten hat sich wirt- minister Frank-Walter Steinmeier im Zusammenhang schaftlich noch nicht wie erwartet ausgewirkt. Das Wirt- mit der Beziehungen zwischen der EU und Russland ge- schaftswachstum ist zwar nicht schlecht, aber durch den sprochen und diese Aussage lässt sich ebenfalls für die anhaltenden Bevölkerungszuwachs in der Region hat Mittelmeerregion treffen. Im Wissen um die Bedeutung sich das Wohlstandsgefälle zur EU in vielen Ländern und die Verantwortung hat die deutsche EU-Ratspräsi- vergrößert. dentschaft in das Zentrum ihrer Politik gegenüber dem Mittelmeerraum die vier Themenschwerpunkte: Erstens Wir haben bei Weitem nicht das erreicht, was das Ziel die Stärkung der Europäischen Nachbarschaftspolitik, der europäischen Nachbarschaftspolitik ist: Stabilität, Si- zweitens der Kampf gegen die illegale Zuwanderung, cherheit und Wohlstand aller Betroffenen zu stärken. drittens die Energiesicherheit und viertens die friedliche Lösung des Nahostkonflikts gesetzt. Alle drei Ziele sind nur durch eine Öffnung der politi- schen Systeme, eine Stärkung des Rechtsstaates, die Be- Wir müssen aber auch sehr aufpassen, dass mit der kämpfung von Korruption und die Ausweitung der de- Schaffung neuer Strukturen, nicht das Gegenteil von mokratischen Rechte der Bevölkerungen zu erreichen. dem erreicht wird, was ursprünglich konzipiert war: Ein friedliches, freiheitliches und demokratisches Klima Nämlich eine immer enger werdende Verflechtung zwi- in den Ländern des Maghreb und des Nahen Ostens zu schen der EU und den an sie angrenzenden Staaten des schaffen, muss eine der Kernaufgaben europäischer Mittelmeers, die auf einer gleichberechtigten Partner- Nachbarschaftspolitik sein. Mit einer kurzfristigen Stabi- schaft beruht. Der französische Vorschlag, die Idee, dass lisierung des Status quo in der Region ist keinem gehol- die Staaten des Mittelmeers stärker kooperieren müssen, fen, ganz im Gegenteil: Es würden verschärfte Spannun- ist vom Ansatz her richtig. Doch Darstellung und letzt- gen innerhalb der Gesellschaften entstehen, die nicht im lich Intention waren falsch. Statt die auf mittlerweile Interesse der Europäischen Union sind. 27 Staaten angewachsene EU stärker zusammen zu brin- Die aktuellen Entwicklungen im Nahen Osten, aber gen, sind vielmehr Zentrifugalkräfte frei geworden, die auch der Karikaturenstreit – Presse- und Meinungsfrei- das Gegenteil bewirkt hätten. – Die jüngsten Äußerun- gen von polnischer Seite nach Schaffung einer Ostunion heit – in den letzten Jahren zeigen, wie wichtig die Ein- (B) beziehung und Bedeutung der Maghreb-Region und des (D) sind im Übrigen sehr vorsichtig formuliert. Anscheinend Nahen Ostens ist. Stichwort: Dialog der Kulturen. Die ist man sich dort darüber schon im Klaren, welcher Euromediterrane Parlamentarische Versammlung ist ein Spaltpilz sich hier zeigen könnte. erster Schritt in die richtige Richtung. Die EMPV ist das Es war deshalb richtig und wichtig zugleich, dass einzige Gremium, in dem sowohl Israel als auch Paläs- nunmehr die von Frankreich geplante „Mittelmeer- tina vertreten sind. union“ nun doch als Initiative der gesamten Europäi- Wie den Berichten der letzten drei Treffen zu entneh- schen Union mit den Mittelmeer-Anrainerstaaten entwi- men ist, haben genau diese eben angesprochenen The- ckelt werden soll. Wir sind deshalb sehr gespannt auf die men auch die Euromed-Treffen der letzten Jahre über- Vorschläge der Europäischen Kommission. schattet und beeinflusst. Immer wieder kam es bei den Die Grundlage für die Mittelmeerpolitik der Europäi- Delegationstreffen zu heftigen Auseinandersetzungen schen Union ist und bleibt der Barcelona-Prozess. Nun und gegenseitigen Schuldzuweisungen im Zusammen- besteht die Möglicheit, den 1995 eingeschlagenden Weg hang mit dem Nahost-Konflikt. Schritt für Schritt, Projekt für Projekt, Aktion für Ak- Uns steht noch viel Arbeit bevor, die aber gemacht tion, weiterzugehen und die unbestreitbar bestehenden werden muss und an der sich alle beteiligen müssen. Der Defizite der vergangenen Jahre zu verringern. Zu Recht ungelöste Nahost-Konflikt hat sich in der Vergangenheit wurde von Frankreich darauf hingewiesen, dass dieser immer wieder als ein fast unüberbrückbares Hindernis Prozess bislang nicht die Erfolge erzielt hat, die erwartet für den Barcelona-Prozess erwiesen. Das kann nicht län- worden waren. Aber, es sind eben auch die Mitgliedstaa- ger hingenommen werden. Wir und auch die EU müssen ten der EU selbst, die hier eine Bringschuld haben und uns stärker um eine Vermittlung zwischen Israel und Pa- nicht mit dem Finger auf die anderen zeigen dürfen. lästina bemühen und uns stärker im Nahost-Quartett en- Die Debatte um die „Mittelmeerunion“ zeigt aber gagieren. auch, wie wichtig die deutsch-französische Zusammen- In jüngster Vergangenheit konnten wir wieder ver- arbeit für Europa ist: Nur wenn Frankreich und Deutsch- mehrt über die Partnerschaft zwischen der EU und den land zu einer gemeinsamen Position finden, kann die EU Mittelmeeranrainerstaaten lesen und diskutieren. An- zusammengehalten werden. gestoßen hat diese Debatte der französische Präsident Sarkozy mit seinem Vorschlag einer Mittelmeerunion, Dr. Karl Addicks (FDP): Mehr als 10 Jahre nach der nicht ganz uneigennützig war. Die Mittelmeerunion Beginn des Barcelona-Prozesses ist es nun Zeit, Bilanz soll das Prestigeprojekt der im zweiten Halbjahr 2008 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008 17321

(A) bevorstehenden französischen EU-Ratspräsidentschaft ten Jimmy Carter für den Dialog mit allen relevanten (C) sein. Sarkozy schwebte ein exklusives Bündnis nach Kräften der Region, und wir appellieren an die Konflikt- dem Vorbild der EU vor. Nicht-Anrainer des Mittelmee- parteien, ihr gegenseitiges Misstrauen bei der Blockade res sollten nur einen Beobachterstatus erhalten. Proteste des Gazastreifens durch internationale Unterstützung bei gegen diesen Vorschlag kamen allen voran aus Deutsch- der Überwachung von Waffenlieferungen und Waffen- land. Gemeinsam hat man sich nun darauf geeinigt, dass stillstand zu überwinden. Denn die Blockade Gazas die Mittelmeerunion alle EU-Mitglieder, die Europäi- schadet den Menschen und nutzt nur den falschen Kräf- sche Kommission und die Mitglieder und Beobachter ten in diesem Konflikt. Den Empfehlungen der deut- des Barcelona-Prozesses sowie die anderen Küstenstaa- schen Delegation im Abschlussbericht von Athen schlie- ten des Mittelmeeres umfassen wird. ßen wir uns uneingeschränkt an. Aber auch ein neuer Name garantiert nicht, dass wir Mit großer Sorge betrachten wir die Entwicklungen mehr erreichen und bewegen können. Denn die Pro- im Rahmen des Barcelona-Prozesses bzw. der Union für bleme bestehen weiter. Ich erinnere nur an die Westsa- das Mittelmeer. Wir meinen, dass sowohl die deutschen hara-Frage. Ich bin gespannt, wie Herr Sarkozy den als auch die französischen Diven zu lange Europa als Streit zwischen Algerien und Marokko um dieses Gebiet Bühne eines großen Theaters missbraucht haben. Frau lösen möchte, ohne dass es zu einer Belastung für die Merkel und Herr Sarkozy erinnern in ihren Gebietsan- Mittelmeerunion wird. Oder auch der Nahost-Konflikt: sprüchen auf Osteuropa bzw. das Mittelmeer manchmal Es gibt erste Anzeichen, dass die arabischen Staaten mit an Bismarck und Napoleon. Es ist schon bemerkenswert, einer gleichberechtigten Teilnahme Israels ihre Pro- dass sich hierzu im Bericht der deutschen Delegation bleme haben. Ich bin skeptisch – das gebe ich offen zu – wenig findet bzw. sich im Rahmen der Parlamentari- würde mich aber umso mehr freuen, wenn wir eine Bele- schen Versammlung auch nicht viel ereignet hat. bung des Barcelona-Prozesses erreichen. Die im Rahmen der zweiten Plenartagung der Parla- mentarischen Versammlung in Brüssel diskutierte Frei- Alexander Ulrich (DIE LINKE): Die Euromediter- handelszone mit den euromediterranen Ländern erscheint rane Parlamentarische Versammlung erhält nicht immer uns ungeeignet für eine erfolgreiche Partnerschaft. Frei- die Aufmerksamkeit, die sie verdient. Dabei ist sie etwas handel führt nur zu mehr Wohlstand unter Gleichen, un- Besonderes: Sie ist die einzige Möglichkeit der Begeg- ter Ungleichen schadet er oftmals der ökonomischen nung für israelische und palästinensische Parlamentarier. Entwicklung. Wir sollten die Integration daher bei den Seit die europäischen Kernmächte, Deutschland und Arbeitsmärkten, im Bildungs- und Hochschulsektor so- Frankreich, über die Union für das Mittelmeer streiten, wie bei der technologischen Kooperation beginnen, richten sich unsere Blicke wieder stärker nach Süden. nicht bei Waren und Dienstleistungen. (B) (D) Wir feiern diese Tage den 60. Geburtstag Israels. Die Wir hätten uns auch ein eindeutigeres Signal in Gründung des israelischen Staates bedeutet uns Freude, puncto Flüchtlingsschutz gewünscht. Wir können nicht Trauer, Verantwortung und Hoffnung: Wir freuen uns die Staaten Nordafrikas mit Waren überschwemmen, über eine Heimat für alle Bürger des israelischen Staates, aber die Menschen im Mittelmeer ertrinken lassen. Der die ihnen Schutz vor Ermordung und Verfolgung bot. Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen für das Wir trauern darum, dass unser Land Millionen seiner jü- Recht auf Nahrung nennt diese humanitäre Katastrophe dischen Töchter und Söhne durch die Schoa verlor. Wir ein „Imperium der Schande“. Diese Schande soll vor den tragen die historische Verantwortung, dass die Gründung Europäern verborgen werden; daher soll die Flüchtlings- des Staates Israels mit neuem Leid einherging und Paläs- abwehr bereits in der Sahara stattfinden. Die Menschen tinenser und Israelis bis zum heutigen Tage nicht in Si- werden dann nicht mehr ertrinken, sondern verdursten. cherheit leben. Wir hoffen, dass beide Seiten den Mut zu Soziale Mindeststandards in Europa würden die Angst einem gerechten Frieden finden. der Menschen vor Migration – wir benötigen dringend Migration – verringern. Die Geschichte lehrt uns: Mau- Israel befindet sich heute in einer Position der Stärke. ern haben keine Chance. Herr Sarkozy, Frau Merkel, Wir vertrauen daher auf den Mut, weil dies, seit „David „tear down that wall!“ gegen Goliath“ die stärkste Waffe Israels war. Deutsch- land trägt eine besondere Verantwortung, im Rahmen Die Atom-Diplomatie von Herrn Sarkozy im Rahmen der EU sowohl die Existenz Israels als auch einen le- der Mittelmeerunion ist nicht hinnehmbar. Die Verteue- bensfähigen palästinensischen Staat zu fördern, um ei- rung der Energie hat auch zum Anstieg der Lebensmit- nen Frieden zu ermöglichen. Die historische und dop- telpreise geführt und wird den Migrationsdruck zukünf- pelte Verantwortung Deutschlands gegenüber Israeli und tig erheblich erhöhen. Wir müssen weg von den fossilen Palästinensern ist auch eine Chance, denn sie verpflich- Energieträgern und dem Sicherheitsrisiko Nuklearener- tet zu besonderer Neutralität. gie. Es wäre daher vernünftiger, wenn wir uns im Rah- men der Mittelmeerpartnerschaft um die großen Poten- Wir begrüßen daher die politischen Entwicklungen ziale bei der Solar, Wasser- und Windenergie in seit der Plenartagung der Parlamentarischen Versamm- Nordafrika bemühen würden. Dies entspricht auch den lung in Athen. Dort war es noch zu sehr hitzigen Wort- Empfehlungen zur Diversifizierung der Energieversor- gefechten zwischen Angehörigen der Hamas, Syrien und gung im Bericht von Athen. der israelischen Delegation gekommen. Wir begrüßen daher die Bereitschaft Israels zu Gesprächen mit Syrien, Die Privatisierung hoheitlicher Aufgaben wie der wir begrüßen die Initiative des ehemaligen US-Präsiden- Flüchtlingspolitik im Rahmen von Public-Private-Part- 17322 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008

(A) nerships zur Befriedigung der kommerziellen Interessen Barcelona-Prozess und die EU-Nachbarschaftspolitik ge- (C) von Investoren lehnen wir ab. Es fehlt wie auf allen Ebe- genüber den südlichen Anrainern bisher so wenig erfolg- nen der Europapolitik an vernünftiger parlamentarischer reich waren. An mangelnder Finanzierung liegt es nicht. Kontrolle. Der Konflikt um das Präsidium der Mittel- Nicht einmal drei Viertel des bereitgestellten Geldes meerunion belegt zudem, dass der Konflikt um die au- konnten ausgegeben werden. ßenpolitischen Kompetenzen mit dem Vertrag von Lissa- bon nicht gelöst, sondern institutionalisiert wurde. Diese Wie sollen die gewünschten Inhalte und Projekte bes- beiden Aspekte fehlen uns im Bericht der deutschen De- ser umgesetzt und die Ziele der neuen Union erreicht legation. werden? Was soll wirklich neu sein außer dem Namen, was macht die qualitative Aufwertung des Barcelona- Die Parlamentarische Versammlung sollte daher in Prozesses aus? Zukunft stärker genutzt werden, Rechenschaft von den Regierungen der beteiligten Staaten zu verlangen. Wir Die Mittelmeerpartner haben zwar die Neubelebung werden den Prozess der angedeuteten Umwidmung des des Barcelona-Prozesses begrüßt, sich aber bereits wie- Gremiums vor dem Hintergrund der Union für das Mit- der deutlich gegen multilaterale Investitionen zulasten telmeer zukünftig aufmerksam verfolgen. Der Deutsche der bilateralen Mittelzuweisungen gestellt. Zweitens hat Bundestag sollte sich dem anschließen. Dies erfordert, die syrische Regierung bereits angedeutet, dass sie auf- die Berichte der deutschen Delegation zukünftig nicht grund der möglichen Anwesenheit Israels am kommen- erst mit zwei Jahren Verspätung abzunicken. den Gipfeltreffen nicht teilnehmen will, die Türkei weiß auch noch nicht, Libyen will nur Sondergast sein.

Rainder Steenblock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Das geht ja wieder gut los. All das widerspricht einem NEN): Zum Auftakt der EU-Ratspräsidentschaft Portu- unserer europäischen Grundprinzipien: die Bereitschaft gals hat der französische Präsident Nicolas Sarkozy im zur regionalen Kooperation. Es muss klar sein: Das eine Frühjahr 2007 die bereits länger bestehende Idee einer ist ohne das andere nicht zu haben. Wer Geld will, muss Mittelmeerunion wieder ins Gespräch gebracht. Die Mit- auch kooperieren wollen. telmeerunion soll beim Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs der EU-Mitgliedstaaten und Mittel- Die Kommission hat jetzt mit ihrer Mitteilung einen meerpartnerländer am 13. Juli 2008 anlässlich des Euro- guten Aufschlag gemacht, vor allem zu den institutionel- päischen Rates aus der Taufe gehoben werden. Die len Fragen, auch wenn die Frage nach dem Funktionie- Transparenz des konkreten Vorhabens ließ von Anfang ren der Projektarbeit noch nicht ganz ausgefeilt scheint: Sarkozys ursprüngliche Idee, nur Mittelmeeranrainer (B) an zu wünschen übrig. (D) könnten in der geplanten Kopräsidentschaft der Union Sarkozys ursprünglicher Plan, einen neuen und eigen- für das Mittelmeer vertreten sein, kann nur ein Witz sein. ständigen Verbund außerhalb der EU zu schaffen, ist Auch der im Frühjahr angenommene Kompromiss – die Gott sei Dank gescheitert, und das nicht zuletzt an unse- alle zwei Jahre wechselnde Kopräsidentschaft aus einem rem vereinten Widerstand. Ich möchte Bundeskanzlerin südlichen Partnerland und einem EU-Mitgliedsland – wi- Angela Merkel ausdrücklich loben; denn sie war eine der derspricht meines Erachtens dem Gedanken der europäi- treibenden Kräfte, um die geplante Mittelmeerunion in schen Integration und ihrer gemeinsamen Interessens- die bestehenden Strukturen der EU zu integrieren, als vertretung, da auf EU-Seite zunächst nacheinander die Weiterentwicklung der seit zwölf Jahren bestehenden neun Länder die Kopräsidentschaft innehätten, die selbst euromediterranen Partnerschaft, des sogenannten Barce- Anrainer des Mittelmeers sind. lona-Prozesses. Meiner Meinung nach steht doch außer Frage: Die ge- Als Mitglied der deutschen Delegation bei der Euro- plante Kopräsidentschaft muss mit den Regeln des EU- mediterranen Parlamentarischen Versammlung betone Vertrages über die Außenvertretung der EU übereinstim- ich: Ja, die Bilanz der euromediterranen Beziehungen ist men. Demnach muss nach jetzigem Stand die rotierende ernüchternd, denn nur wenige Regierungen in den Län- Ratspräsidentschaft auch die Mittelmeerunion vertreten. dern des südlichen Mittelmeerraums haben ein eindeuti- Nach Inkrafttreten des Lissabonner Vertrages sind das ges Interesse an demokratischen Reformen und regiona- dann der neue Ratspräsident, der Kommissionspräsident ler Integration gezeigt. Dabei nimmt die Bedeutung der und der Hohe Vertreter. Wo kämen wir denn hin, wenn Beziehungen mit und unter unseren südlichen Mittel- wir für jedes regionale Kooperationsprojekt unterschied- meeranrainern stetig zu, und das nicht nur bei den Be- liche Vertretungen nach außen aufbauen? Damit begeis- mühungen um eine Friedenslösung im Nahen Osten, tern wir unsere europäischen Bürger, die die EU-Struktu- dem Dialog mit dem Islam, Lösungen von Migrations- ren eh schon für recht unübersichtlich halten, bestimmt fragen und der Frage der Sicherheit der Energieversor- nicht wieder für die EU. gung. Jetzt müssen wir daran arbeiten, die noch offenen Fra- Aber: Anstatt gleich neue, parallele und doppelte gen nach den genauen Zuständigkeiten und dem Sitz des Strukturen zu schaffen und noch mehr Geld für die EU- neu zu gründenden Sekretariats, dem Generalsekretär Mittelmeerpolitik lockerzumachen, hätte zuvor analysiert und der Rechenschaftspflicht gemeinschaftlich zu beant- und bilanziert werden sollen, warum der viel kritisierte worten. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008 17323

(A) Anlage 10 halb die Teilhabe des Abkömmlings am Nachlass dem (C) Erblasser nicht mehr zuzumuten wäre. Zu Protokoll gegebene Reden Eine weitere wichtige Neuregelung stellt die Um- zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur wandlung der starren Ausschlussfrist von zehn Jahren Änderung des Erb- und Verjährungsrechts (Ta- für Schenkungen beim Pflichtteilsergänzungsanspruch gesordnungspunkt 22) in eine dann gleitende Ausschlussfrist dar. Die Frist zur erbrechtlichen Berücksichtigung wird also durch die Ute Granold (CDU/CSU): Wir befassen uns heute Einführung einer sogenannten Pro-rata-Lösung flexibler mit einer Änderung des Erb- und Verjährungsrechts, die gestaltet, indem die ergänzungspflichtige Schenkung nicht sehr umfassend, aber dennoch wichtig ist. Das Erb- künftig zeitanteilig gemindert wird. Mit Blick auf diesen recht hat sich in seinen Grundzügen bewährt, doch ma- Vorschlag wurden bereits im Vorfeld von den Verbänden chen gesellschaftliche Entwicklungen und veränderte Bedenken vorgetragen. Wir werden daher diesen Punkt Wertvorstellungen, insbesondere eine stärkere Berück- im weiteren Gesetzgebungsverfahren besonders sorgfäl- sichtigung der Persönlichkeitsrechte des Einzelnen, eine tig prüfen. Anpassung erforderlich. Es geht im Wesentlichen um die Für die Union ist es ein besonders wichtiges Anlie- Erweiterung des Selbstbestimmungsrechts und damit der gen, die häusliche Pflege künftig auch im Erbrecht stär- Testierfreiheit des Erblassers, die Stärkung der Rechte ker zu berücksichtigen und eine entsprechende Privile- der Erben gegenüber den Pflichtteilsberechtigten sowie gierung vorzunehmen. Damit wollen wir den hohen die stärkere Honorierung familiärer Leistungen, wie zum gesellschaftlichen Stellenwert der häuslichen Pflege un- Beispiel der Pflege. terstreichen und das Engagement der Angehörigen stär- ker als bisher honorieren. Der Gesetzentwurf sieht zu Grundlage für die vorgesehenen Änderungen ist eine diesem Zweck eine Erweiterung des ausgleichsberech- Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom tigten Personenkreises auf alle gesetzlichen Erben sowie 19. April 2005. Kernpunkt dieser Entscheidung ist die den Wegfall der bisherigen Einschränkung vor, nach der Feststellung, dass die grundsätzlich unentziehbare und eine Ausgleichung nur stattfindet, wenn der Pflegende bedarfsunabhängige Mindestbeteiligung der Kinder des auf ein berufliches Einkommen verzichtet hat. Erblassers an dessen Nachlass durch die Erbrechtsgaran- tie und den Schutz der Familie nach Maßgabe des Kritisiert wird in diesem Zusammenhang jedoch, dass Grundgesetzes gewährleistet sein muss. für die Höhe der Ausgleichung künftig eine regelmäßige Bewertung der Pflegeleistungen anhand der Pflegesätze Damit ist es uns als Gesetzgeber also verwehrt, das des § 36 Abs. 3 SGB XI vorgenommen werden soll. (B) Pflichtteilsrecht, wie gelegentlich diskutiert, gänzlich Auch hier bedarf es daher im weiteren Gesetzgebungs- (D) abzuschaffen oder etwa auf das Unterhaltsminimum zu verfahren einer sorgfältigen Prüfung. Um den unter- reduzieren. Gleichwohl gewährt das Bundesverfassungs- schiedlichen Fallgestaltungen – ich denke dabei bei- gericht einen weiten Spielraum, was die Ausgestaltung spielsweise an Menschen, die besonders aufwendige des Pflichtteilsrechts im Einzelnen angeht. Pflegemaßnahmen benötigen – gerecht zu werden, soll- Im Rahmen dieser Vorgaben und im Lichte der verän- ten wir hier alternative bzw. ergänzende Regelungen in derten gesellschaftlichen Bedingungen wollen wir mit Betracht ziehen. der nunmehr anstehenden Novellierung die unterschied- Der vorliegende Entwurf sieht schließlich vor, die lichen Interessen neu austarieren. Dabei bewegen wir bislang praktisch bedeutungslose Stundungsmöglichkeit uns in einem Spannungsfeld zwischen der Testierfreiheit aufzuwerten und sie jedem Erben einzuräumen. Dieser des Erblassers einerseits und der unentziehbaren ange- Ansatz wird in der Fachwelt ganz überwiegend positiv messenen Teilhabe der Kinder am Nachlass andererseits. bewertet. Es gibt jedoch vereinzelt Bedenken, dass das In diesem Sinne enthält der heute zur Beratung anste- Ziel, eine wirklich praxisgerechte Stundungsmöglichkeit hende Entwurf eine ganze Reihe von Änderungen, die zu eröffnen, nicht erreicht wird. Hier sind sicherlich im Vorfeld insbesondere mit den Verbänden und Län- noch einige kritische Fragen zu klären; ich denke etwa dern breit diskutiert wurden und dort große Zustimmung an mittelständische Unternehmen, deren Fortbestand gefunden haben. aufgrund eines Erbfalls nicht gefährdet werden darf. Die zum Teil nicht mehr zeitgemäßen Gründe für ei- Anders als im ursprünglichen Entwurf vorgeschlagen, nen Entzug des Pflichtteils werden entsprechend einer sieht der Gesetzentwurf jetzt vor, die bisherige familien- seit langem erhobenen Forderung modernisiert und an und erbrechtliche Sonderverjährung soweit wie möglich die veränderten familiären bzw. sozialen Strukturen und an die dreijährige Regelverjährung anzupassen, die seit Wertvorstellungen angepasst. Danach soll im Interesse dem Schuldrechtsmodernisierungsgesetz 2002 gilt. einer Stärkung der Testierfreiheit der Kreis der vor ei- nem Fehlverhalten des Pflichtteilsberechtigten zu schüt- Eine weitere Anregung des Bundesrates im Anhang zenden Personen erweitert werden. zu diesem Gesetz betrifft eine Änderung, die wir bereits im Rahmen des letzten Jahressteuergesetzes thematisiert Der Entziehungsgrund des „ehrlosen und unsittlichen haben: die Schaffung eines Steuerfreibetrages für ehren- Lebenswandels“ soll entfallen. Im Gegenzug soll künftig amtliche Betreuer in Höhe der Übungsleiterpauschale eine Entziehung des Pflichtteils bei einer Verurteilung von 2 100 Euro. Angesichts des großen, unverzichtbaren wegen einer vorsätzlichen Straftat ausreichen, wenn des- Engagements ehrenamtlicher Betreuer plädiere ich da- 17324 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008

(A) für, diese Forderung im weiteren Verfahren ergebnisof- gen wird in unserer Gesellschaft ein immer wichtigeres (C) fen zu prüfen. Thema. Viele Angehörige erbringen in diesem Bereich herausragende Leistungen, die auf dem Grundgedanken Zusammenfassend lässt also sich festhalten: Die vor- der familiären Solidarität beruhen. Gerade diese fami- geschlagenen Änderungen stellen mit Blick auf die Re- liäre Verbundenheit ist aber auch der Grund dafür, dass formvorschläge der Verbände lediglich eine „kleine“ Lö- keine Vereinbarungen über einen finanziellen Ausgleich sung dar. Vor dem Hintergrund der veränderten getroffen werden. Hat der Erblasser dann kein Testament gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Rahmenbedin- hinterlassen, geht der pflegende Angehörige oft leer aus, gungen ist die Novelle überfällig. Da sich das Erbrecht was den finanziellen Ausgleich betrifft. Die bisher beste- aber, wie schon erwähnt, insgesamt bewährt hat, halte henden Regelungen, wonach nur für Abkömmlinge, die ich die punktuellen Neujustierungen dieser „kleinen“ auf berufliches Einkommen verzichten, eine Anrech- Lösung für angemessen und zweckdienlich. nungsmöglichkeit besteht, sind zu eng. Die Erweiterung der Ausgleichspflicht, wie sie der Gesetzentwurf vor- Wir nehmen die im Vorfeld geäußerten Bedenken sieht, auf alle gesetzlichen Erben und unabhängig von bzw. Anregungen ernst und werden diese im weiteren dem Verzicht auf berufliches Einkommen, ist daher zu Gesetzgebungsverfahren ergebnisoffen prüfen. unterstützen.

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP): Durch die vorgesehenen nachträglichen Anrechnungs- Das heutige Erbrecht stützt sich in seinen wesentlichen bestimmungen wird die Testierfreiheit ebenfalls maßvoll Zügen noch auf das Familienbild des 19. Jahrhunderts. ausgeweitet. Dies greift nicht unverhältnismäßig in die Dieses Familienbild hat sich in über 100 Jahren sehr ver- Dispositionsfreiheit des beschenkten Erben bzw. Pflicht- ändert, in deren Verlauf die Verbreitung der häuslichen teilsberechtigten ein. Zwar ist zum Zeitpunkt der Zuwen- Gemeinschaft von verheirateten Eltern mit ihren minder- dung für den Beschenkten nicht voraussehbar, ob die jährigen Kindern stetig abnimmt. Im Gegenzug nehmen Zuwendung zu erbrechtlichen Konsequenzen führt; es von diesem Muster abweichende Lebensformen immer besteht jedoch die Möglichkeit, durch eine vertragliche weiter zu. Abzulesen ist dies an der rückläufigen Anzahl Vereinbarung Rechtssicherheit zu schaffen. Welcher von Eheschließungen, den steigenden Scheidungszahlen, Form diese vertragliche Vereinbarung sein muss, wird im den anhaltend niedrigen Geburtenzahlen sowie der stei- Gesetzgebungsverfahren noch zu diskutieren sein. genden Anzahl nicht verheirateter zusammenlebender Zu schützen ist auch das seit vielen Jahren verheira- Paare. Es ist unstrittig, dass die Familie in ihrer traditio- tete Ehepaar, dessen Vermögen im Wesentlichen aus nellen Form seltener wird und sich dafür andere Lebens- dem selbst bewohnten Familieneigenheim besteht. Ver- formen etablieren. Die Klein- und Kleinstfamilie wird da- stirbt nämlich ein Ehegatte und ist kein weiteres Vermö- (B) (D) mit zu einer Lebensform unter vielen anderen. Allein die gen vorhanden, ist es dem überlebenden Ehegatten nicht Zahl der Ehescheidungen stieg von 1985 bis 2006 von möglich, den Pflichtteil bezogen auf das Haus auszuzah- 179 364 auf 190 928. Von diesen Ehescheidungen waren len. Ein Verkauf des Hauses und ein Umzug in eine un- im Jahre 2006 alleine 148 624 minderjährige Kinder be- gewohnte Umgebung wären die Folge. Es entspricht troffen. Darüber hinaus wird jedes vierte Kind mittler- aber gerade dem Willen des Erblassers, dass der länger weile außerehelich geboren. Immer mehr Kinder leben in lebende Ehegatte in dem Eigenheim wohnen bleiben sogenannten Patchworkfamilien. Die Bindung zu dem El- kann. Auch in einem solchen Fall muss sichergestellt ternteil, mit dem die Kinder zusammenleben, ist häufig sein, dass eine Stundung des Pflichtteilsanspruchs erfol- enger als zum leiblichen Elternteil. Die veränderten ge- gen kann. Auch mit Blick auf die Vererbung von Unter- sellschaftlichen und wirtschaftlichen Umstände legen nehmen kann die sofort eintretende Fälligkeit des eine Überprüfung der Grundsätze des Pflichtteilsrechts Pflichtteilsanspruchs den Erben und damit das Unterneh- nah. Die FDP-Bundestagsfraktion hat bereits in zwei men in einem ganz besonderen Maße belasten. Dadurch Kleinen Anfragen (Drucksachen 15/3899 und 16/3222) entstehende Liquiditätsengpässe können dazu führen, in den Jahren 2004 und 2006 auf den Änderungsbedarf dass Unternehmen weit unter Wert und gegen den Willen hingewiesen. des Erblassers verkauft werden müssen. Ob die Neufor- mulierung der entsprechenden Vorschriften in dem Ge- Mit dem Gesetzentwurf reagiert die Bundesregierung setzentwurf diesbezüglich eine Verbesserung bringt, nun endlich auf diese veränderten gesellschaftlichen muss sich im Rahmen der Beratungen des Gesetzentwur- Verhältnisse. Die Modernisierung der Pflichtteilsentzie- fes im Deutschen Bundestag zeigen. Die FDP-Bundes- hungsgründe im Rahmen des Gesetzentwurfes stellt eine tagsfraktion wird hierauf Wert legen. wesentliche Neuerung zur Stärkung des Selbstbestim- mungsrechts und der Testierfreiheit des Erblassers dar. Die Einführung einer gleitenden Ausschlussfrist im Dazu gehört, dass die Pflichtteilsentziehungsgründe für Rahmen des Pflichtteilsergänzungsanspruchs wird auch alle Pflichtteilsberechtigten angeglichen werden, der von der FDP-Bundestagsfraktion seit langem gefordert. Kreis der vom Verhalten des Pflichtteilsberechtigten Be- Die bisherige Stichtagsregelung, nach der eine Schen- troffenen auch auf Lebenspartner, Stief- und Pflegekin- kung unberücksichtigt bleibt, wenn zur Zeit des Erbfalls der erweitert wird und der Katalog der Entziehungs- zehn Jahre seit der Schenkung verstrichen sind, führte zu gründe überarbeitet wurde. Diese Neuregelungen sind zu Unbilligkeiten. Die nun vorgeschlagene gleitende Aus- unterstützen. Eine weitere wesentliche Neuerung stellt schlussfrist mildert das bisherige Alles-oder-Nichts- die Ausgleichspflicht bei Pflegeleistungen eines gesetz- Prinzip deutlich ab und gibt dem Beschenkten mehr Pla- lichen Erben dar; denn häusliche Pflege von Angehöri- nungssicherheit. Viele Fragen, unter anderem zur Be- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008 17325

(A) handlung nichtehelicher Partner und Ehegatten, sind in Wolfgang Nešković (DIE LINKE): Ich habe diesen (C) diesem Zusammenhang noch zu klären. Zu einer Umge- Beitrag in einen juristisch-handwerklichen und einen ge- hung der Ansprüche nichtehelicher Kinder darf es aber sellschaftspolitischen Teil gegliedert. nicht kommen. Der Gesetzentwurf enthält insgesamt so- Der vorgelegte Gesetzentwurf nimmt eine Reihe mit etliche Detailregelungen, die der Stärkung der Tes- rechtlicher Feinjustierungen am Erbrecht vor, die für tierfreiheit dienen. Dieser eingeschlagene Weg ist unter- sich betrachtet nachvollziehbar erscheinen. Es ist sicher- stützenswert. lich sinnvoll, die Regeln der kurzen Verjährung der Über den vorliegenden Gesetzentwurf hinaus möchte Schuldrechtsreform zu überdenken, wenn sie im Verhält- ich jedoch auf das Problem hinweisen, dass das Pflicht- nis zum Erbrecht zu unbilligen Ergebnissen führen. Es teilsrecht sowohl Verständnisprobleme als auch teilweise ist sicherlich angebracht, die Entziehungs- und Anfech- tungsgründe für den Pflichtteil dem heutigen Verständnis einen Akzeptanzverlust in der Bevölkerung aufweist. von Moral und Sitte anzupassen. Es ist auch begrüßens- Vermehrt richten sich Bürgerinnen und Bürger an den wert, unzeitgemäße Unterscheidungen von Lebenspart- Petitionsausschuss des Deutschen Bundestages und ver- nerschaften und Ehen innerhalb des Erbrechts abzu- langen eine Abschaffung des Pflichtteilsrechts. Auch aus schaffen. Es macht ebenfalls Sinn, solchen Erben, die dem Bereich der notariellen Praxis wird berichtet, dass den Erblasser zu Hause pflegten, einen Ausgleichsan- das Pflichtteilsrecht sehr häufig im Mittelpunkt der erb- spruch aus der Erbmasse zu verschaffen. Wir werden rechtlichen Beratung stehe. Den Erblassern gehe es fast wohl in naher Zukunft ein Gesetz verabschieden, das immer um die Frage, inwieweit die als unpassend emp- handwerklich innerhalb des bestehenden Systems Ver- fundene gesetzliche Regelung geändert bzw. gestaltet besserungen bringt. Das bestehende Erbrechtssystem werden könne. Das Bundesverfassungsgericht hat in sei- wird damit wohl widerspruchsfreier werden. Aber das ner Entscheidung vom 19. April 2005 (l BvR 1644/00) Erbrecht selbst bleibt als Widerspruch erhalten. festgestellt, dass das Pflichtteilsrecht eine grundsätzlich unentziehbare und bedarfsunabhängige wirtschaftliche Ich komme zum gesellschaftspolitischen Teil meiner Mindestbeteiligung der Kinder am Nachlass des Erblas- Rede. Hierzu möchte ich an die Begründung des Ent- sers darstelle. Das Merkmal der Familiensolidarität, die wurfes anknüpfen. Dort heißt es sinngemäß, das Erb- grundsätzlich unauflösbar zwischen dem Erblasser und recht habe sich seit seiner Kodifizierung am Ende des seinen Kindern bestehe, präge das Pflichtteilsrecht. Bei 19. Jahrhunderts bewährt. Es bestehe nur punktueller der konkreten gesetzlichen Ausgestaltung habe der Ge- Änderungsbedarf. Sie alle kennen und verwenden das setzgeber jedoch einen weiten Gestaltungsspielraum. politische Ideal von der Leistungsgesellschaft. Ich will Das heißt, dass die Realisierung des Pflichtteilsrechts diesen Begriff jetzt einmal sehr ernst nehmen. (B) nicht umgangen werden darf. Die Höhe des Pflichtteils- In einer Leistungsgesellschaft entscheidet die indivi- (D) rechts ist verfassungsrechtlich jedoch nicht strikt vorge- duelle Leistung eines Menschen über sein Vermögen. In geben. einer Leistungsgesellschaft gelangt zu Wohlstand, wer körperlich fleißig oder geistig rege war. Bedenklich sind Der Wandel der sozialen Strukturen und Traditionen in einer solchen Gesellschaft dann jedoch Vorteile, die führt zu einer zunehmenden Individualisierung, aber nicht auf eigener Leistung beruhen. Diese Bedenken auch zu einer Pluralisierung der Familienformen und Fa- vermisse ich, wenn es um die gesellschaftspolitische Be- milienbeziehungen. Um auf diese veränderten gesell- handlung des Erbrechtes geht. Denn Erbschaft beruht schaftlichen Verhältnisse zu reagieren, bedarf es auch – klar erkennbar – nicht auf der eigenen Leistung des Er- sich fortentwickelnder Verantwortungsgemeinschaften. ben. Erbschaft – das ist der letzte goldene Löffel, der ei- Der Stärkung der Testierfreiheit kommt dabei eine wich- nem in den Mund gesteckt wird. tige Bedeutung zu. Denn letztendlich ist es das Vermö- gen des Erblassers, welches vererbt wird. Der Erblasser Den ersten goldenen Löffel gibt es schon in der hat ein Recht, über sein Vermögen bestimmen zu kön- Wiege, so sie im richtigen Haus steht. Wer in vermögen- nen. Dabei zu berücksichtigen ist jedoch die unentzieh- dem Hause aufwächst, der erhält Förderung, beste Aus- bare Nachlassteilhabe der Pflichtteilsberechtigten. Das bildung, Chancen und Geschenke. Wer in einer Moabiter Hinterhofwohnung groß wird, der erhält Sorgen, Zweifel Pflichtteilsrecht ist zu Recht als verfassungsrechtlich ge- an den eigenen Fähigkeiten und Steine in den Weg ge- boten anzusehen; denn es spiegelt die Familiensolidarität legt. Für den einen gibt es noch viele goldene Löffel, für im Rahmen der gesetzlichen Erbfolge wider und darf den anderen nur das trügerische Versprechen des Lohns nicht angetastet werden. der Leistung. Die Erbschaft ist der letzte goldene Löffel. Vor diesem Hintergrund sollte, wenn man schon eine Wer nie Not oder Existenzangst kannte, erhält durch die Reform des Erbrechts angeht, die zentrale Beschränkung Erbschaft nun noch einmal üppige Unterstützung. Wer der Testierfreiheit, nämlich die Höhe des Pflichtteilsan- aber dringend Unterstützung braucht, geht leer aus. spruchs von derzeit der Hälfte zumindest offen im Ge- Es geht mir nicht um Omas Häuschen. Es geht mir um setzgebungsverfahren diskutiert werden. In den Beratun- die großen und riesigen Vermögen, die durch die Gene- gen des Rechtsausschusses des Bundesrates wurde rationen hindurchgereicht werden wie ein Adelstitel. zumindest angedacht, die Höhe des Pflichtteilsanspruchs Wie dieses Gerechtigkeitsdilemma gelöst werden kann, auf ein Drittel zu reduzieren. Zu fordern ist diesbezüg- ist eine komplexe Frage, die ebenso komplexe Antwor- lich eine rechtstatsächliche Untersuchung zur Praxis und ten erfordert, Antworten, die Sie wahrscheinlich als „So- zu den Vorstellungen der Beteiligten zum Erbrecht. zialismus“ alten Stils brandmarken würden – und damit 17326 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008

(A) wohl mit einem Denkverbot belegen würden. Nein, es che Berücksichtigung von Pflegeleistungen auch nicht (C) geht nicht einfach um das, was im Sozialismus Umver- ausschließt. teilung genannt wurde. Es geht um Gemeinsinn und Ge- meinnützigkeit. Es geht um den zentralen Satz unseres Die vorgeschlagene konkrete erbrechtliche Regelung Grundgesetzes, der wieder zu Geltung kommen soll: Ei- im Gesetz enthält jedoch aus meiner Sicht einen erhebli- gentum verpflichtet. chen Schwachpunkt. Sie klammert eine nicht unwesent- liche, ja ich möchte sogar sagen eine ganz wesentliche Ich könnte ihnen hier viel erzählen über die Einbrin- Gruppe von Pflegenden von vornherein aus dem Anwen- gung von Erbschaften in gemeinnützige Projekte, in Stif- dungsbereich aus: die der pflegenden Schwiegerkinder tungen, über Ideen, die sich nicht eben mal in einer Vier- – das sind heute zumeist die Schwiegertöchter – und Minuten-Mitternachtsrede ausbreiten lassen. Wir, die auch der Lebensgefährten! Den in der Gesetzesbegrün- Fraktion der Linken, möchten Sie aber zu einem Diskurs dung angeführten und auch erfassten Fall der nicht be- einladen, Sie auffordern, mit uns auch über Ideen nach- rufstätigen Frau, die ihre verwitwete kinderlose Schwes- zudenken, die außerhalb der üblichen Parlamentsverlaut- ter pflegt – ja, den mag es geben. Das Gros der Fälle barungen liegen. Wir möchten Sie zu einer Diskussion macht er jedoch nicht aus. Aber wesentliche Gruppen über Chancengleichheit einladen, einer Diskussion über von im Familienverbund Pflegenden von vornherein das, was schon die Mütter und Väter des Grundgesetzes auszuklammern, darin sehen wir ein klares Defizit des im Sinn hatten: die Sozialbindung des Eigentums. Gesetzes. Wer aus familiärer Solidarität heraus Pflege- leistungen erbringt – gleich ob als Schwiegerkind oder auch als Lebensgefährte –, darf keine Schlechterbehand- Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Uns lung durch das Gesetz erfahren! Hier reicht es nicht, sich liegt ein Gesetzentwurf zur Änderung des Erb- und Ver- mit Verweis auf Praktikabilitätserwägungen um notwen- jährungsrechts vor, der heute in erster Lesung im Bun- dige Antworten herumzudrücken. In den Beratungen des destag beraten wird. Der thematische wie politische Rechtsausschusses werden wir darauf dringen, insoweit Schwerpunkt des Entwurfes liegt unzweifelhaft im Erb- nach Lösungsansätzen zu suchen, um damit nichtge- recht. Daher möchte ich mich in meiner Rede diesem rechtfertigte Ungleichbehandlungen abzuwenden. Bereich vorrangig zuwenden und auf die Änderungen im Verjährungsrecht, die mir nicht problematisch erschei- Zum Schluss möchte ich noch kurz auf die „Omni- nen, nicht näher eingehen. busforderung“ des Bundesrates eingehen, ehrenamtliche Betreuerinnen und Betreuer in die Regelungen zur soge- Wir Grünen unterstützen die Zielsetzung des Entwur- nannte steuerfreien Übungsleiterpauschale einzubezie- fes, das Erbrecht zu modernisieren, mit veralteten Rege- hen. In diesem Punkt hat die Bundesregierung Prüfbe- lungen „aufzuräumen“ und Unstimmigkeiten zu beseiti- (B) reitschaft signalisiert. Ich würde mich sehr freuen, wenn (D) gen. Es ist richtig, den Pflichtteilsentziehungsgrund des diese Prüfbereitschaft – endlich – zu einem Änderungs- „ehrlosen und unsittlichen Lebenswandels“, der längst willen würde. Denn wir Grüne erheben diese Forderung nicht mehr zeitgemäß ist, zu streichen. Richtig und not- nach Schaffung eines Steuerfreibetrages für ehrenamtli- wendig ist es auch, die Entziehungsgründe zu vereinheit- che Betreuerinnen und Betreuer in Höhe der Übungslei- lichen, also gesetzlich keine Unterscheidung mehr zu terpauschale bereits seit langem – ich verweise nur auf treffen zwischen Abkömmlingen und Eltern, Ehegatten unseren Änderungsantrag 16(14)0256 vom Juni 2007. und Lebenspartnern. Jedoch ist zu kritisieren, dass Le- Ehrenamtliche Betreuerinnen und Betreuer leisten eine benspartner insoweit nicht ausdrücklich und eindeutig in wichtige, verantwortungsvolle, eine persönlich for- den Schutzbereich des § 2333 BGB einbezogen wurden, dernde und mitunter auch sehr aufwendige Arbeit; sie sondern – so die Gesetzesbegründung – im Begriff der unterstützen unter Betreuung stehende Menschen in de- „ähnlich nahe stehenden Personen“ miterfasst sein sol- ren rechtlichen Angelegenheiten, leisten den Betroffenen len. Solcherlei Versteck-Regelungen sind unangemes- Unterstützung, geben Zuwendung. Diese wichtige eh- sen und gehen zulasten schwul-lesbischer Lebenspart- renamtliche Arbeit, die kostenintensive Berufsbetreuun- nerschaften, weil sie diese aus dem Licht des Gesetzes in gen vermeiden hilft, wird mit gerade mal 323 Euro pro den Schatten der Fußnoten drücken und unnötige Inter- Betreuung und Jahr pauschal vergütet. Darauf Steuern zu pretationsspielräume zulassen. Hier muss nachgebessert erheben, kann nicht richtig sein und fördert das Ehren- werden. amt nicht. Ein von Bundesjustizministerin Zypries als ganz zen- tral hervorgehobener Punkt des Gesetzentwurfes betrifft Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär bei der die verstärkte erbrechtliche Berücksichtigung erbrachter Bundesministerin der Justiz: Auf die Generation der Pflegeleistungen. Nach dem neuen § 2057 b BGB kann Erben kommt ein wahrer Geldsegen zu. Während 1970 eine ein gesetzlicher Erbe, der den Erblasser während länge- durchschnittliche Hinterlassenschaft noch 28 000 DM be- rer Zeit gepflegt hat, bei der Auseinandersetzung der trug, hatte sich der Betrag 1990 schon versiebenfacht. Im Erbmasse einen Ausgleich für die von ihm erbrachten Jahre 2010 dürfen die Erben mit durchschnittlich fast Pflegeleistungen verlangen. Ich möchte an dieser Stelle 300 000 Euro rechnen. Bereits jetzt haben die Bürgerin- betonen: Die Erbringung und finanzielle Absicherung nen und Bürger nach Auskunft des Bundesverbands von Pflegeleistungen ist und bleibt an erster Stelle eine Deutscher Banken insgesamt 9 Billionen Euro auf der sozialpolitische, gesamtgesellschaftliche Aufgabe und „hohen Kante“ liegen. Das bedeutet im Durchschnitt, Herausforderung, sie kann und darf nicht ins Erbrecht dass jeder, ob Baby oder Greis, rund 94 000 Euro in der „abgeschoben“ werden, wenngleich dies eine erbrechtli- Tasche oder besser auf der Bank hat. Natürlich sind Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008 17327

(A) diese Reichtümer nicht in jedem Haushalt vorhanden, teilsentziehungsgründe sollen in genau diesen Punkten (C) der Armuts- und Reichtumsbericht spricht eine deutliche modernisiert werden: Künftig sollen alle Pflichtteilsent- Sprache. Aber eine weitere sehr erstaunliche Zahl ist, ziehungsgründe für Abkömmlinge, Eltern, Ehegatten dass inzwischen fast jeder zweite Bundesbürger Haus- und Lebenspartner gleichermaßen gelten. Eine Pflicht- oder Grundbesitz hat. Ein kleines Häuschen ist also in teilsentziehung soll möglich sein bei einem tätlichen An- sehr vielen Familien zu vererben. griff gegen den Erblasser, seinen Ehegatten, Lebenspart- ner oder einen anderen Abkömmling. Darüber hinaus Auch der Staat profitiert von diesem Wohlstand. erweitern wir diesen Schutzbereich auch auf dem Erblas- Während 1997 über die Schenkung- oder Erbschaft- ser ähnlich nahestehende Personen. Der Pflichtteilsent- steuer 2,1 Milliarden Euro erwirtschaftet wurden, ist ziehungsgrund des ehrlosen oder unsittlichen Lebens- diese Einnahme kontinuierlich gestiegen. Im Jahr 2006 wandels entfällt. Stattdessen soll eine rechtskräftige lagen die Einnahmen schon bei 3,8 Milliarden. Aber wo Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von mindestens ei- es viel Geld gibt, ist der Streit nicht weit. Und viel Streit nem Jahr ohne Bewährung künftig zur Pflichtteilsentzie- bedeutet viel Arbeit für Rechtsanwälte, Notare und Ge- hung berechtigen, wenn die Pflichtteilsüberlassung für richte. Und es bedeutet, dass das Erbrecht zunehmend den Erblasser unzumutbar ist. Gleiches soll für ver- weiter an Bedeutung gewinnen wird. Wir wollen dieses gleichbare Taten gelten, die im Zustand der Schuldunfä- Rechtsgebiet deshalb an einigen Stellen reformieren. higkeit begangen wurden. Viele Bürgerinnen und Bürger kennen die Gestaltungs- möglichkeiten nicht, die ihnen das geltende Erbrecht Die Stärkung der Testierfreiheit wird auch durch ei- bietet und machen deshalb nur zurückhaltend davon Ge- nen weiteren wichtigen Punkt umgesetzt: die nachträgli- brauch. Wir gehen davon aus, dass nur knapp ein Drittel che Anrechnung von Zuwendungen auf Pflichtteil oder der künftigen Erblasserinnen und Erblasser ein Testa- das Erbe. Wendet der Erblasser zu Lebzeiten seinen Kin- ment oder einen Erbvertrag gemacht hat. Ich bin über- dern etwas zu, so kann eine solche Schenkung derzeit zeugt, dass eine vernünftige Regelung der Vermögens- nur unter engen Voraussetzungen auf den Erb- oder nachfolge so manchen Streit in der Familie vermeiden Pflichtteil angerechnet werden. Der Erblasser muss be- kann. reits vor oder bei der Zuwendung eine Anrechnung er- Wir brauchen Änderungen dort, wo sich in der Praxis klärt haben. Eine nachträgliche Anrechnung ist nicht ein Bedürfnis entwickelt oder sich das Recht als veraltet möglich. Gerade bei Geldgeschenken wissen aber viele erwiesen hat. Die Anhörung der Verbände hat uns in die- Bürgerinnen und Bürger nicht, dass es nach der Schen- ser Zielrichtung bestätigt. Auch der Bundesrat befürwor- kung nicht mehr möglich ist, diese auf Erb- oder Pflicht- tet den Reformentwurf im Grundsatz. Er hat lediglich teil anrechnen zu lassen. Viele gehen wie selbstverständ- kleinere Detailänderungen vorgeschlagen und Prüfbit- lich davon aus, dass hohe Geldzuwendungen eine Art (B) (D) ten formuliert. Hauptziele der Reform sind die Stärkung vorweggenommene Auszahlung des späteren Erbes sein des Selbstbestimmungsrechts und der Testierfreiheit. sollen. Künftig sollen die Erblasser diese „Fehlvorstel- Dazu setzt unsere Reform an folgenden wesentlichen lung“ berichtigen können und nachträglich die Anrech- Punkten an: Es werden, wie seit langem gefordert, die nungen erklären oder frühere Erklärungen widerrufen Pflichtteilsentziehungsgründe überarbeitet. Dabei ist ein können. Die nachträglichen Erklärungen sind aus Grün- wesentlicher Ansatz die Erweiterung des Schutzbereichs den der Rechtssicherheit an eine bestimmte Form ge- der Entziehungsgründe. Im geltendem Recht ist es so: knüpft: die Form eines Testaments oder Erbvertrags. Der Richtet sich der Angriff des Pflichtteilsberechtigten ge- Stärkung des Selbstbestimmungsrechts dient auch die gen das Leben eines Beteiligten, ist der Schutzbereich Umwandlung der starren Ausschlussfrist für Pflichtteils- am weitesten. Eine Entziehung des Pflichtteils ist mög- ergänzungsansprüche in eine gleitende Ausschlussfrist. lich, wenn der Pflichtteilsberechtigte entweder dem Erb- lasser, seinem Ehegatten oder einem anderen Abkömm- Schenkungen des Erblassers können zu einem Pflicht- ling des Erblassers nach dem Leben trachtet. Bei teilsergänzungsanspruch führen. Derzeit werden Schen- schweren tätlichen Attacken nur gegen die körperliche kungen dabei in voller Höhe berücksichtigt, wenn seit Unversehrtheit und nicht gegen das Leben sieht das Ge- der Schenkung noch keine zehn Jahre verstrichen sind. setz eine Pflichtteilsentziehung lediglich dann vor, wenn Verstirbt der Erblasser auch nur einen Tag vor Ablauf der Erblasser oder sein Ehegatte, von dem der Pflicht- der Frist, wird der Pflichtteilsberechtigte für die Berech- teilsberechtigte zusätzlich abstammen muss, angegriffen nung seines Anspruchs so gestellt, als gehöre die wurde. Schenkung noch zum Nachlass. Verstirbt der Erblasser dagegen nach Ablauf der Frist, geht der Pflichtteilsbe- Aber nicht nur am Schutzbereich, auch bei den Ent- rechtigte im Hinblick auf die Schenkung leer aus. ziehungsgründen setzt die Reform an. Wer kann noch et- was mit dem Begriff „ehrloser und unsittlicher Lebens- Für den Erben, der vorrangig zur Pflichtteilsergän- wandel“ anfangen? Und warum kann ein solcher nur zung verpflichtet ist, geht es damit um alles oder nichts“. dem Kind vorgeworfen werden und nur hier die Pflicht- Das halte ich für ungerecht. Je mehr Jahre verstreichen, teilsentziehung rechtfertigen? Eltern oder Ehegatten dür- desto weniger soll die Schenkung künftig bei der Pflicht- fen ohne pflichtteilsrechtliche Konsequenz ehrlos und teilsergänzung berücksichtigt werden. Ausgehend von unsittlich leben. Und können wir heute noch ernsthaft den zehn Jahren soll die Schenkung pro Jahr mit einem vertreten, dass die Ermordung eines fremden Kindes Zehntel weniger in Ansatz gebracht werden. Diese Re- kein ehrloser und unsittlicher Lebenswandel und damit gelung führt auch bei Zuwendungen an gemeinnützige auch kein Pflichtteilsentziehungsgrund ist? Die Pflicht- Stiftungen künftig zu mehr Planungssicherheit. 17328 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008

(A) Ein weiterer Reformpunkt ist die Stundung des Lassen Sie uns die Chance nutzen, das Erbrecht ge- (C) Pflichtteilsanspruchs nach § 2331 a BGB. Viele ältere meinsam voranzubringen! Lassen Sie uns in den Aus- Ehepaare äußern in ihren Eingaben an das Bundesminis- schüssen diskutieren und am Ende der Beratungen ein terium der Justiz die Sorge, dass das hart erarbeitete Erb- und Verjährungsrecht beschließen, das den Bürge- Häuschen bei Versterben eines Ehegatten verkauft wer- rinnen und Bürger mehr Spielraum ermöglicht, ihren den müsse, um den Pflichtteil der Kinder zu bezahlen. letzten Willen umzusetzen! Viele wissen nicht, dass wir bereits heute schon eine Re- gelung haben, die zumindest dem Ehegatten oder Le- benspartner in dieser Situation helfen kann: die Stun- Anlage 11 dung. Allerdings sind die Voraussetzungen sehr eng. Die Regelung gilt nur für den pflichtteilsberechtigten Erben. Zu Protokoll gegebene Reden Hier sind Erweiterungen notwendig. Deshalb soll die zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Möglichkeit der Stundung künftig jedem Erben eröffnet Neuregelung des Schornsteinfegerwesens werden. Damit kann zum Beispiel die als Erbin einge- setzte Lebensgefährtin Stundung verlangen. Aber auch für Familienbetriebe kann diese Neuregelung nützlich Lena Strothmann (CDU/CSU): Die Leistungen und sein. Wird der Betrieb nicht dem Sohn, sondern dem die Funktionsfähigkeit des Schornsteinfegerwesens in Neffen vererbt, kann die Gefahr der Zerschlagung des Deutschland sind vorbildlich. Dennoch widerspricht das Betriebes wegen Zahlung des Pflichtteilsanspruchs Schornsteinfegerrecht in seiner derzeitigen Ausprägung durch eine Stundung abgewendet werden. dem EU-Recht zur Dienstleistungsfreiheit. Die EU ver- folgt die Umsetzung der Dienstleistungsfreiheit in allen Ein weiteres wichtiges Reformziel ist die bessere Ho- Bereichen in Europa. Die EU-Kommission hat als Lö- norierung von Pflegeleistungen beim Erbausgleich. sung bereits vor einigen Jahren die vollständige Aufhe- Viele Angehörige erbringen bei der privaten Pflege ge- bung unseres Systems gefordert. Schließlich holte sie rade betagter Menschen wichtige Leistungen. Zwei Drit- das schärfste Schwert hervor und leitete ein Vertragsver- tel der auf Pflege angewiesenen Personen werden zu letzungsverfahren ein, das bis zum Europäischen Ge- Hause versorgt, in erster Linie von Familienmitgliedern. richtshof führen kann. Das Verfahren ruht während unse- Da die Pflege aufgrund der familiären Verbundenheit er- res Gesetzgebungsverfahrens, aber es kann jederzeit folgt, treffen die Beteiligten in der Praxis vielfach keine wieder einen Schub erhalten. Der nun vorliegende Re- Vereinbarungen über ein angemessenes Entgelt. Der Ge- formentwurf stellt ein Ergebnis aus langwierigen Ver- pflegte sorgt aus den unterschiedlichsten Gründen auch handlungen mit der Kommission dar. Vorrangiges Ziel nicht immer dafür, die ihm erbrachten Leistungen aus der Kommission: Die Umsetzung der Dienstleistungs- (B) der Pflegeversicherung an die pflegenden Angehörigen freiheit in Deutschland. Das bedeutet, Schornsteinfeger (D) weiterzuleiten. aus dem EU-Ausland können ab sofort hier tätig werden. Auf frei werdende Kehrbezirke können sie sich sofort be- Hat der Erblasser kein Testament errichtet, in dem er werben. Gleichrangiges Ziel im nationalen Interesse sind die Pflege durch Erbeinsetzung oder ein Vermächtnis der Schutz der Verbraucher in Bezug auf Brand- und Kli- hätte honorieren können, geht der pflegende Angehörige maschutz und Energieeinsparung. Diese Ziele bleiben für seine erbrachten Leistungen oftmals leer aus. Er er- unter staatlicher Aufsicht und stellen die hoheitlichen hält zwar seinen Erbteil, aber dieser spiegelt bei mehre- Tätigkeiten des Bezirksbevollmächtigten dar. Dieser ho- ren Erben nicht die überobligatorisch erbrachten Leis- heitliche Bereich kann nur in Verbindung mit dem Sys- tungen im Vergleich zu den anderen Erben wider. tem der Beleihung, mit Kehrbezirken und einer Gebüh- § 2057 a des Bürgerlichen Gesetzbuchs, der eine Anre- renordnung umgesetzt werden. Alles andere würde eine chung von Pflegleistungen zwar ermöglicht, hilft in der neue staatliche Behörde notwendig machen. Die Tätig- Regel nicht weiter. Denn die Regelung ist eng: Sie gilt keiten des Bezirksbevollmächtigten bestehen dann nur nur für Abkömmlinge und nur, wenn die Pflege unter noch aus der Feuerstättenschau und der Führung des Verzicht auf berufliches Einkommen erfolgt ist. Damit Kehrbuches. Da dies zum Erhalt des Betriebes nicht aus- wird der häufigste praktische Fall nicht erfasst. Pflegt reichen wird, heben wir das bisherige Nebenerwerbsver- zum Beispiel die Tochter ihre Mutter oder ihren Vater bot auf. Die Bezirke werden wiederum aber durch Aus- und ist sie Hausfrau, so verzichtet sie für die Pflege nicht schreibung nach sieben Jahren und nicht mehr auf auf berufliches Einkommen. Sie erhält damit bei der Lebenszeit vergeben. Erneute Bewerbungen sind natür- Erbauseinandersetzung keinen Ausgleich. Diese Pflege- lich möglich. leistungen sollen stärker und in häufigeren Fällen hono- riert werden. Künftig sollen alle gesetzlichen Erben und Der Wettbewerb wird nicht nur durch die Konkurrenz nicht nur wie im geltenden Recht Abkömmlinge ausglei- aus dem EU-Ausland gestärkt. Auch unsere Schornstein- chungsberechtigt sein. Der Verzicht auf berufliches Ein- feger, die nicht Bezirksbevollmächtigte sind – das sind kommen als Voraussetzung entfällt. Zudem wird der diejenigen, die bisher auf den Bewerberlisten standen –, Praxis ein Bewertungsmaßstab für die Pflegeleistung an können sich selbstständig machen. Das konnten sie bis- die Hand geben. Die Wertbemessung soll an die Sätze her nicht. Dieses Vorrecht war den Bezirksinhabern vor- aus der gesetzlichen Pflegeversicherung anknüpfen. Ich behalten. Alle Betriebe können zukünftig die nicht ho- bin überzeugt, dass wird damit auch die Arbeit der Ge- heitlichen Schornsteinfegerarbeiten, zum Beispiel die richte und der Anwälte bei den gerade hier so sinnvollen Reinigung, auf dem Markt anbieten. Damit hat der Bür- Vergleichen vereinfachen. ger erstmals die Möglichkeit, Angebote zu vergleichen Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008 17329

(A) und sich einen Schornsteinfeger selbst auszusuchen. Die Schornsteinfeger Mängel an Feuerungsanlagen erkunden (C) Fäden werden organisatorisch beim Bezirksbevollmäch- und feststellen. Bei meinem Besuch wurde mir noch ein- tigten zusammenlaufen, da seine Kollegen des freien mal deutlich: Die Tätigkeit der Schornsteinfeger ist trotz Wettbewerbs ihm gegenüber eine Art Berichtspflicht ha- der technischen Fortschritte bei Heizungsanlagen nach ben, zum Beispiel über erfolgte BImSch-Messungen. wie vor unerlässlich. Mit ihrem fachkundigen Blick und Das mag sich kompliziert anhören, wird in der Praxis ihren Messungen bewahren sie Hauseigentümer vor aber leicht laufen und ist zudem der einzige Weg, die Brandgefahren. Mit ihren Messungen nach der Ersten Verpflichtung der Eigentümer nachhalten zu können. Bundesimmissionsschutzverordnung wird ein wichtiger Noch einmal: Die einzige Alternative wäre eine neue Beitrag zum Schutz der Umwelt geleistet. Die wichtige Aufsichtsbehörde. Auf das Schornsteinfegerhandwerk Aufgabe, Brand- und Umweltschutz in unseren Gebäu- werden viele Änderungen zukommen. Die Schornstein- den sicherzustellen, sollte daher auch in Zukunft staat- feger werden sich dem Wettbewerb stellen, sie müssen lich geregelt bleiben. sich im Markt behaupten lernen und in Teilen ein neues Berufsbild mitentwickeln. Sie haben erkannt, dass sie Das Schornsteinfegerhandwerk spielt dabei eine zen- sich verändern müssen. Sie sind dazu bereit, da es letzt- trale Rolle. Zwar müssen wir nach Vorgaben der Euro- lich positive Auswirkungen hat und es das Handwerk zu- päischen Union das Schornsteinfegermonopol teilweise kunftsfähig macht. Die Reform hat auch Einfluss auf aufheben und die periodischen Messungen nach der Bun- angrenzende Handwerke. Insbesondere das Sanitär-Hei- desimmissionsschutzverordnung in den Wettbewerb ent- zung-Klima-Handwerk sieht Wettbewerbsverzerrungen lassen. Doch Schornsteinfegermeister als bevollmäch- auf sich zukommen. Durch den Wegfall des Nebentätig- tigte Unternehmer des Staates sind heute für Brand- und keitsverbotes für Schornsteinfeger können diese sich Umweltschutz an Feuerungsanlagen verantwortlich und – nach entsprechender Qualifikation mit Meisterab- werden es auch in Zukunft sein. Es war ein großer Erfolg, schluss – auch im SHK-Handwerk betätigen. Umgekehrt dass die Bundesregierung bei ihren Verhandlungen mit geht das zwar auch, aber erst nach Ende der gut vierjäh- der Europäischen Kommission erreichen konnte, dass rigen Übergangsfrist. Zudem plädiert das SHK-Hand- der heute vorliegende Gesetzentwurf zur Reform des werk entweder für die Beibehaltung der jetzigen Tren- Schornsteinfegerwesens den Vorgaben der EU entspricht nung von Messung und Wartung oder eben für einen und dem Schornsteinfegerhandwerk trotzdem eine klare ganz freien Wettbewerb, an dem sie dann auch teilhaben Perspektive gibt. wollen. Wir werden über all diese Punkte und auch noch über andere Detailfragen sprechen: Die Dienstleistungsfreiheit wird sofort, die Niederlas- sungsfreiheit nach einer Übergangszeit gewährt. Nach Dazu gehören die Festschreibung der Kehrbezirke, Prüfung ihrer handwerklichen Qualifikation durch die (B) die unterschiedlichen Rechtssysteme aufgrund der Über- Handwerkskammer und Eintragung in das Schornstein- (D) gangsfrist, die Trennung zwischen Wartung und Mes- fegerregister können EU-Ausländer in Deutschland als sung, die Aspekte der Altersversorgung und auch die Schornsteinfeger tätig werden. Trotzdem werden die Mitarbeiterausbildung. Bei all diesen noch offenen Fra- Kehrbezirke beibehalten, werden Schornsteinfegermeis- gen werden wir die Forderungen der EU im Auge haben ter als Bezirksbevollmächtigte weiter die Kehrbücher müssen. Denn eines ist ganz klar: Erneute grundsätzliche führen. Sie werden über die Feuerstättenschau die Be- Änderungen sind mit der Kommission nicht verhandel- triebssicherheit der Anlagen überprüfen und die Pflich- bar. Details ja, aber eine Abkehr von der Liberalisierung ten der Eigentümer kontrollieren. Wir haben mit der Be- ist unmöglich. Es ist daher schlichtweg unseriös, wenn schränkung des Gesetzes auf die hoheitlichen Aufgaben die Fraktion Die Linke sich hier wider besseren Wissens den Teil erhalten, der im Interesse der Gesellschaft ist. als Fürsprecher oder gar Bewahrer des bestehenden Sys- Mit anderen Worten: Die Brandsicherheit in Deutsch- tems hinstellt. Sie wissen, dass das nicht geht. Seit meh- land bleibt trotz der Umsetzung der EU-Vorgaben wei- reren Jahren ist klar, dass auf das Schornsteinfegerwesen terhin gewahrt. in Deutschland Änderungen zukommen. In welchem Ausmaß und mit welchen Auswirkungen genau, kristal- Dem Schornsteinfegerhandwerk wird trotz der Verän- lisiert sich nunmehr heraus. Alle brauchen Planungs- derungen eine Perspektive gegeben. Sicher: Der Anpas- sicherheit: die Schornsteinfeger, deren Berufsbild sich sungsprozess bringt Veränderungen, aber eben auch sehr ändern wird, die Gesellen, die eine Perspektive Chancen mit sich. In Zukunft werden die Bezirksschorn- brauchen, und die Auszubildenden, die wir auch zukünf- steinfegermeister, die dann Bezirksbevollmächtigte hei- tig gewinnen wollen. ßen, nicht mehr allein von Gebühreneinnahmen leben können. Nicht nur wegen der Niederlassungsfreiheit, Sie alle müssen wissen, was kommen wird. Daher ist sondern auch deshalb muss das Nebenerwerbsverbot es notwendig, dass wir bei der Reform des Schornstein- aufgehoben werden. In Zukunft können sich dann auch fegerwesens keine Zeit mehr verlieren. Schornsteinfeger in anderen Gewerken betätigen, wenn sie die nötigen handwerksrechtlichen Qualifikationen Andrea Wicklein (SPD): Vor gut einem Monat war und Voraussetzungen erfüllen. Dies bietet neue Möglich- ich mit einem Bezirksschornsteinfegermeister aus Pots- keiten für die Schornsteinfeger, auch für diejenigen, die dam auf den Dächern der Stadt unterwegs. Ich wollte derzeit mit der Ausbildung beginnen. Natürlich entsteht mir ein eigenes Bild von der Tätigkeit der Schornsteinfe- dadurch auch neue Konkurrenz für andere Gewerke, so ger machen. Ich war bei einer Feuerstättenschau dabei, zum Beispiel für das Sanitär-, Heizungs- und Klima- sah in Schornsteine hinein und konnte sehen, wie handwerk. 17330 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008

(A) Es muss aber deutlich gesagt werden: Umgekehrt ste- ken einer neutralen und unabhängigen Überprüfung (C) hen in Zukunft auch die Schornsteinfeger unter Konkur- zuwiderläuft. Das Problem stellt sich auf der anderen renzdruck. Die in den Wettbewerb entlassenen Aufgaben Seite natürlich gleichfalls, wenn nach Ablauf der Über- der Schornsteinfeger können ab dem Jahr 2013 von je- gangsfrist entsprechend qualifizierte SHK-Betriebe auch dem wahrgenommen werden, der sich fortbildet und in Leistungen der Schornsteinfeger anbieten dürfen. die Handwerksrolle als Schornsteinfeger eintragen lässt. Hauptzweck der Schornsteinfegertätigkeit muss die Ge- Den Bürgerinnen und Bürgern steht es daher in Zukunft währleistung von Brandsicherheit bleiben. Diesem Ziel frei, welchen Schornsteinfeger sie mit der Durchführung wird nicht gedient, wenn wir durch eine Vermischung der vorgeschriebenen Überprüfungs-, Kehr-, und Mess- von Wartung und Kontrolle am Ende sozusagen Hei- arbeiten beauftragen. Das bedeutet mehr Freiheit, aber zungsbauer mit angeschlossener Kaminkehrerei bekom- natürlich auch mehr Verantwortung. Um zu wissen, wer men. in der Umgebung als Schornsteinfeger tätig ist, wird ein Register geführt, aus dem sich die Haus- und Wohnungs- Das Gesetzesvorhaben geht zulasten des SHK-Hand- eigentümer ihren Schornsteinfeger wählen können. werks. Aufgrund ungleicher Übergangsfristen entstehen spürbare Wettbewerbsverzerrungen. Die in ihrem Kehr- Die Übergangszeit bietet allen Beteiligten die Mög- bezirk bis 2013 durch ihr Kehrmonopol geschützten lichkeit, sich auf die neuen Bedingungen einzustellen. Schornsteinfeger werden einseitig zulasten des Hand- Ich bin überzeugt, das wird ihnen auch gelingen. Sicher werks privilegiert. Die deutschen SHK-Handwerker dür- wird sich der Markt in Zukunft ändern. Der Gesetzent- fen bis dahin nicht im Berufsfeld der Schornsteinfeger wurf bietet aber die Gewähr dafür, dass trotz der Anpas- tätig werden. Das Nebenerwerbsverbot für diese fällt je- sung des Schornsteinfegerwesens an das EU-Recht un- doch sofort. Darüber hinaus besteht langfristig die Ge- sere Ziele beim Brand- und Klimaschutz erfüllbar fahr, dass Bezirksbevollmächtigte den umfassenden Da- bleiben. tenbestand des Kehrbuchs für gezielte Werbeangebote nutzen. Hier muss noch einmal nachgebessert werden. Paul K. Friedhoff (FDP): Der Deutsche Bundestag ist aufgerufen, den Traditionsberuf des Schornsteinfe- Das Gesetzesvorhaben geht zulasten der Verbraucher. gers neu zu regeln. Diese Reform ist angesichts veralte- Das Reformmonster verursacht zunächst mindestens ter und verbraucherfeindlicher Strukturen in diesem 22 Millionen Euro zusätzlicher Bürokratiekosten, die Handwerksbereich notwendig und angesichts des euro- letztlich der Bürger zu zahlen hat. Obwohl in immer päischen Vertragsverletzungsverfahrens auch überfällig. mehr Gebäuden rußfreie und wartungsarme Heizsysteme Die hierin liegende Chance zur Rechtsverbesserung wird zum Einsatz kommen, soll das Kontrollintervall noch er- jedoch mit dem vorgelegten Entwurf vertan. höht werden: Statt einmal in fünf Jahren soll nun zwei- (B) mal in sieben Jahren des Hauseigentümers Feuerstätte (D) Während die Bundesregierung – wie schon die Vor- kontrolliert werden. Das wird die Kosten in die Höhe gängerregierung – bei der Umsetzung von europäischen treiben. Letztlich werden wohl auch die weiterhin not- Vorgaben oft über das Ziel hinausschießt, regelt sie mit wendigen Gebührensätze über dem heutigen Niveau lie- dem vorliegenden Entwurf nur das Nötigste. Um der eu- gen. Dass den Verbrauchern so keine Entlastung ge- ropäischen Dienstleistungsfreiheit zu genügen, soll es bracht werden kann, wird von der Bundesregierung nun Schornsteinfegern aus dem EU-Ausland gestattet offensichtlich bewusst in Kauf genommen: In der Geset- werden, in deutschen Kaminen zu kehren. Anwendungs- zesbegründung gibt sie offen zu, dass sie Senkungen des fälle dieser Liberalisierung werden sich wohl höchstens Verbraucherpreisniveaus nicht erwartet. Wieder einmal in grenznahen Regionen ergeben, für die meisten Ver- ist die Bundesregierung einer der Preistreiber der Na- braucher ist sie ohne Belang. Die eigentlichen Probleme tion. jedoch werden nicht gelöst. Den Mut, das Schornsteinfe- gerwesen umfassend und konsequent zu modernisieren, Das Schornsteinfegerwesen ist aufgerufen, durch Re- hat die Bundesregierung nicht. Nebulös bleibt die zu- formbereitschaft die Akzeptanz seiner Stellung beim üb- künftige Zuständigkeit für die amtliche Immissions- rigen Handwerk und beim zahlungsverpflichteten Bür- schutzmessung. Die neue Gebührenordnung wird durch ger zu erhöhen. Reform im Dialog statt in Konfrontation die Bundesregierung verschwiegen. Von einer zukunfts- ist meiner Meinung nach die Lösung. Es darf nicht da- festen Altervorsorge für die Schornsteinfeger und Be- rum gehen, die Gewerke gegeneinander auszuspielen. zirksbevollmächtigten wird nicht gesprochen. Dem Aus- Nötig ist eine sinnvolle Verzahnung und eine versöhnli- bildungswesen wird die nötige Finanzierungsperspektive che Arbeitsteilung mit dem Heizungs- und Klimahand- verwehrt. Es fehlt an einer Regelung zum Informations- werk. austausch mit den Brandbekämpfungskräften. Stattdessen wird mit dem Gesetzentwurf das bislang Sabine Zimmermann (DIE LINKE): Die Linke ist wichtigste Prinzip in der Arbeitsteilung zwischen gegen die von der Großen Koalition angestrebte Libera- Schornsteinfegern und Heizungsbauerhandwerk aufge- lisierung des deutschen Schornsteinfegerhandwerks. brochen. Es muss auch weiterhin heißen: Wer installiert Warum? Es drohen ein Abbau von Sicherheit und Um- und wartet, kontrolliert nicht, und wer kontrolliert, der weltschutz, Mehrkosten für den Verbraucher und prekäre wartet und installiert nicht. Wenn man aber Schornstein- Beschäftigung in einem bisher gesicherten Berufsstand, fegern erlaubt, auch Wartungstätigkeiten durchzufüh- wenn die Bundesregierung mit den Kehrarbeiten einen ren, führt dies zu einer Selbstkontrolle, was dem Gedan- Großteil der bisher hoheitlichen Aufgaben der Schorn- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008 17331

(A) steinfegerinnen und Schornsteinfeger dem Wettbewerb Und zu guter Letzt: Die Regierung kann sich hier (C) preisgibt. auch deshalb nicht herausreden, weil sie es 2006 bei der Verabschiedung der sogenannten Bolkestein-Richtlinie In der Begründung zu ihrem Gesetzentwurf räumt die versäumt hat, das Schornsteinfegerhandwerk vom Gel- Bundesregierung selbst ein – ich zitiere –: Mit den neuen tungsbereich der Dienstleistungs-Richtlinie auszuneh- Regelungen sind „Abstriche an Betriebs- und Brandsi- men. Mit diesem Gesetz droht ein gesellschaftlicher cherheit, Umweltschutz, Klimaschutz oder an den Zielen Rückschritt. Dafür ist Die Linke nicht zu haben. der Energieeinsparung zu befürchten“. Allerdings wür- den diese nicht über „ein vertretbares Maß“ hinausge- hen. Und: „Zur Erreichung dieses Zieles ist allerdings Kerstin Andreae (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): der Aufbau einer gewissen Bürokratie unvermeidbar.“ Mit dem Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Neure- Das sagt wohl alles. Und zu möglichen Kostensteigerun- gelung des Schornsteinfegerwesens endet nach mehr als gen für den Verbraucher bemerkt sie: „Geringfügige 70 Jahren das Kehrmonopol. Einzelpreisanpassungen können aufgrund der neu einge- Diese Reform haben wir allerdings nicht unserer Re- führten Wettbewerbssituation nicht gänzlich ausge- gierung, sondern der EU-Kommission zu verdanken. schlossen werden.“ Wirtschaftsminister Glos und seine Kollegen haben sich Einzelne Bürgerinitiativen kritisieren das bestehende mit Händen und Füßen dagegen gewehrt, wollten den Sta- Schornsteinfegerwesen wegen mangelnder Transparenz tus quo für die 20 000 Schornsteinfeger beibehalten. Erst und unnötiger Kosten. Eins ist klar: Mit dem vorliegen- ein EU-Vertragsverletzungsverfahren zwingt sie zum den Gesetzentwurf ist die Bundesregierung keine dieser Handeln. Das bisherige deutsche Schornsteinfegergesetz Fragen systematisch angegangen. Hausbesitzer sollen verstößt gegen die Dienstleistungs- und Niederlassungs- künftig zwar frei wählen können, wer ihren Kamin kehrt. freiheit der EU. Warum die Regierung hier nicht von sich Aber dafür werden sie gegenüber der gegenwärtigen Lö- aus tätig wurde, ist mir schleierhaft. sung wahrscheinlich höhere Kosten aufbringen müssen. Nun gut, jetzt kommt also die Neuregelung. Aber ein Die Linke sieht noch eine weitere gefährliche Ent- Blick in den Gesetzentwurf zeigt uns, dass die Ziele die- wicklung. Bisher garantierte der Beruf einer Schorn- ses Gesetzes, nämlich faire und verbraucherfreundliche steinfegerin oder eines Schornsteinfegers ein gesichertes Rahmenbedingungen zu schaffen, mitnichten erreicht Einkommen. Das wird künftig nicht mehr so sein, wenn werden. Selbst das CDU-geführte Bundesland Baden- die Bundesregierung ihre Pläne umsetzt. Schon jetzt for- Württemberg ist mit diesem Entwurf unzufrieden und dern die Arbeitgeber im Schornsteinfegerhandwerk die hatte im Bundesrat Änderungsanträge eingebracht, die Einführung einer neuen Billiglohngruppe für Kehrarbei- aber keine Mehrheit gefunden haben. In diesem Fall rate (B) ten, also genau den Bereich, der dem Wettbewerb freige- ich Ihnen: Hören Sie auf Ihre Kollegen aus Süddeutsch- (D) geben werden soll – und das obwohl laut neuem Gesetz- land! entwurf dafür eine Mindestqualifikation gefordert wird. Dieser Gesetzentwurf ist unausgegoren und unvoll- Die Linke unterstützt hier die Schornsteinfegergewerk- ständig. Sie bleiben auf halber Strecke stehen. Warum schaft in ihren Aktivitäten und ihrer Forderung, die An- nur? Mit diesem Entwurf ist keiner zufrieden, weder die zahl der Kehrbezirke zumindest bis zum Ende des Über- Schornsteinfeger, noch die Mitbewerber aus den Hei- gangszeitraums festzuschreiben. Und wir sehen die zungs- und Installationsbetrieben und die Bürgerinnen Gefahr, dass es durch die Aufhebung des Nebenerwerbs- und Bürger in Deutschland schon gar nicht, denn sie verbotes für die Schornsteinfeger in anderen Gewerben müssen die Rechnung am Ende bezahlen. wie der Heiz- und Klimatechnik zu Verdrängungswett- bewerb kommen kann. Schauen wir uns doch ein mal an, wie Sie Wettbewerb verstehen: Künftig wird ein Bezirk auf sieben Jahre ver- Ich fasse an dieser Stelle zusammen: Die Bundesre- geben. In diesem Zeitraum findet zweimal, also durch- gierung plant einen Gesetzentwurf, von dem sie selbst schnittlich alle 3,5 Jahre, eine Feuerstättenschau statt, weiß, dass es Abstriche an Brandsicherheit und Umwelt- die aber nur von den jeweiligen Bezirksschornsteinfe- schutz gibt und die Kosten für den Verbraucher steigen gern – bzw. jetzt sollen sie ja Bezirksbevollmächtigte können. Ich füge hinzu: Einem bisher gesicherten Be- heißen – durchgeführt werden dürfen. Damit bleiben aber rufsstand droht der Einzug prekärer Beschäftigung. auch weiterhin alle anderen Schornsteinfeger außen vor. Die Bundesregierung behauptet nun, sie müsse dies Der Gesetzentwurf sieht zudem weitreichende Über- alles tun. Denn es gebe ein Vertragsverletzungsverfah- gangsfristen vor; das heißt, bis zum 31. Dezember 2012 ren, dass das deutsche Schornsteinfegergesetz gegen die bleibt das Kehrmonopol bei den Schornsteinfegern. Das Dienstleistungs- und Niederlassungsfreiheit der Europäi- Nebentätigkeitsverbot wird allerdings mit sofortiger schen Union verstoße. Aber ich frage: Wer hat diese Eu- Wirkung aufgehoben. Schornsteinfeger können demnach ropäische Union gemacht, in der das Streikrecht und so- bei entsprechender Qualifikation Arbeiten im Bereich ziale Mindeststandards als Hindernis für den freien des Sanitär-, Heizungs- und Klimahandwerks anbieten, Wettbewerb angesehen wird? Die Bundesrepublik ist das während dem übrigen Handwerk dieses zunächst ver- größte Mitgliedsland der Europäischen Union. SPD und wehrt bleibt. Wo findet hier Wettbewerb statt? Union, beide Parteien haben in den letzten drei Jahr- zehnten die Regierung gestellt und hätten für eine sozi- Warum können Hausbesitzer nicht selbst entscheiden, ale Ausrichtung der Europäischen Union eintreten kön- wen Sie mit der Wartung Ihrer Heizungsanlagen beauf- nen. tragen? Da viele bereits Wartungsverträge mit Fachbe- 17332 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 163. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Mai 2008

(A) trieben haben, die Emissionsmessungen beinhalten, Schornsteinfeger. Das möchte ich an dieser Stelle aus- (C) kommt es hier zu Doppelmessungen und somit zu unnö- drücklich würdigen. tigen weiteren Kosten für die Hausbesitzer. Der Nach- weis der Durchführung dieser notwendigen Messungen Bündnis 90/Die Grünen treten für einen echten Wett- kann gegenüber den Behörden auch auf anderem Weg bewerb bei den Schornsteinfegern ein. In vielen anderen erbracht werden, zum Beispiel durch zertifizierte Hei- Branchen hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass zungsmonteure. mehr Wettbewerb zu mehr Qualität und Kostentranspa- renz führen kann. Auch die Schornsteinfeger werden Die Kontrollintervalle sollten wir übrigens an den von diesem Wettbewerb profitieren. Ich nenne nur die technischen Fortschritt der Heizungsanlagen anpassen. qualifizierte Beratung ökoeffizienter Heiztechniken als Nur so können wir verhindern, dass jährlich viele einen von möglichen neuen Tätigkeitsbereichen. Es las- Schornsteine gereinigt werden, obwohl sie sauber sind und weder eine Brand- noch eine Gesundheitsgefahr be- sen sich ja bereits einige Schornsteinfeger zu Gebäude- steht. energieberatern ausbilden. Hier sehe ich ein großes Potenzial für die gesamte Branche. Beim Schornsteinfeger handelt es sich um einen sehr alten Beruf, dessen Bestand noch immer auf dem not- Wir fordern die Bundesregierung auf, diesen Gesetz- wendigen vorbeugenden Brandschutz wie aber auch sehr entwurf gründlich zu überarbeiten um dabei auch ihren zunehmend auf dem angewandten Umweltschutz grün- eigenen Ansprüchen gerecht zu werden: weniger Kon- det. Deutschland hat hier mit die höchsten Standards trolle, weniger Bürokratie, aber mehr Entlastung für die weltweit, und das ist sicher auch der Verdienst der Bürgerinnen und Bürger.

(B) (D)

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