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Werbeseite DAS DEUTSCHE NACHRICHTEN-MAGAZIN

Hausmitteilung 25. März 2002 Betr.: Titel, New Economy, Rushdie m 28. Februar 1945 war die Kindheit von Hans-Joachim Noack, 6, zu Ende. Sein AOpa nahm ihn an die Hand und sagte: „Jetzt gehen wir flüchten.“ Von Bär- walde in Pommern sollte es nach Kolberg aufs Schiff Richtung Swinemünde gehen. Endlich an Bord, kamen sowjetische Kampfflugzeuge und warfen Phosphorbomben. In Panik wurde das Schiff geräumt. Wochenlang irrte Noack mit seiner Familie im Niemandsland zwischen heranrückender Roter Armee und abziehender Wehrmacht umher. Die Erlebnisse verfolgten Noack, heute Ressortleiter Politik beim SPIEGEL, jahrelang. Wie ihm ging es Millionen anderer Deutscher, die ihre Heimat verloren, nachdem Hitler Europa mit Terror und Völkermord überzogen hatte. Das Leid der Flüchtlinge und Fortgejagten fand vor allem in den Vertriebenenverbänden Gehör. Die Generation der Nazi-Täter verrechnete es gern mit der eigenen Schuld, die Jüngeren (wie Noack) kümmerten sich vornehmlich um die Verantwortung ihrer Eltern für die Verbrechen Hitlers. „Erst jetzt scheint ein Blick auf die Deutschen auch als Opfer mög- lich zu sein“, sagt Noack, der gemeinsam mit den SPIEGEL-Redakteuren Thomas Darnstädt, 52, und Klaus Wiegrefe, 36, die Titelgeschichte schrieb – Auftakt einer vier- teiligen Serie zum Drama von Flucht und Vertreibung (Seite 36).

mlagert von den Gewinnern der Internet-Ära war USPIEGEL-Korrespondentin Michaela Schießl, 40, als sie vor einem Jahr ihr Büro in San Franciscos Hancock Street bezog. Die hatten sich Luxusapartments bauen lassen, fuhren teure Autos, trugen edle Kleidung und gingen zum Essen ins Nobelrestaurant „Bacar“. „Wer in dieser Straße zur Miete wohnte, galt schon als Under-

dog“, sagt Schießl. Dann begann die Entlassungswelle in FREEBERG ANDY der Hightech-Industrie und mit ihr die Krise der Han- Schießl cock-Street-Bewohner. In Schießls linkem Nachbarhaus verlor ein Hewlett-Packard-Direktor seinen Job, rechts verkaufte ein französischer Risikokapitalist sein Apartment. Immer häufiger fuhr der Möbelwagen in die Straße. Die Start-up-Marketingchefin von nebenan ging plötzlich tagsüber mit dem Hund spazieren – auch sie war gefeuert worden. „In der Hancock Street ließ sich der Branchenkollaps aus nächster Nähe beobachten“, so Schießl (Seite 114).

ie Fatwa gegen ihn hat seinen japanischen Übersetzer das DLeben gekostet, zwei weitere Mitarbeiter haben Attentate mit Verletzungen überstanden, und noch immer gibt es Extre- misten, die Salman Rushdies Kopf wollen. Aber seit Iran seine Tö- tung nicht mehr von Staats wegen betreibt, versucht der Schrift- steller, in New York ein normales Leben zu führen. Dort spielt auch sein neuer Roman „Wut“, ein Sittenbild des boomenden New York der Jahrtausendwende. Als SPIEGEL-Korrespondent Thomas Hüetlin, 40, Rushdie zum Interview traf, wunderte er sich

HARALD SCHREIBER HARALD über fehlende Bodyguards. „Ich habe keine Angst mehr“, sagte Rushdie, Hüetlin Rushdie. Eine Viertelstunde nach Beginn des Interviews sprang er jedoch panisch auf und wollte den Raum verlassen – vom Nachbarhaus stieg Rauch auf. Als Hüetlin darauf hinwies, dass dies nur ein Kamin sei, kehrte Rushdie zurück. „Wir New Yorker“, sagte er entschuldigend, „sind alle ein biss- chen nervös seit dem 11. September“ (Seite 210).

Die nächste SPIEGEL-Ausgabe wird wegen der Osterfeiertage bereits am Samstag, dem 30. März, verkauft und den Abonnenten zugestellt.

Im Internet: www.spiegel.de der spiegel 13/2002 3 Werbeseite

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Werbeseite InIn diesem diesem Heft Heft

Titel Die Deutschen als Opfer – der neue Blick auf die Vergangenheit ...... 36 SPIEGEL-Serie über Flucht und Vertreibung Verfassungsbruch im Bundesrat? Seite 22 der Deutschen aus dem Osten (Teil I) ...... 40 Die Entscheidung des Bundesrats über die Zuwanderung gerät zum Eklat, die SPIEGEL-Gespräch mit dem Historiker Union spricht von einem „Verfassungsbruch“. Das letzte Großprojekt von Rot-Grün Hans-Ulrich Wehler über die Wiederkehr einer verdrängten Debatte ...... 61 markiert den Beginn eines Wahlkampfs, der hart und schmutzig zu werden droht. Ob Bundespräsident Rau das Gesetz überhaupt unterzeichnet, gilt als ungewiss. Deutschland Panorama: Parteiprominenz versetzt Stoiber / Kreditkartenbetrug nimmt rasant zu ...... 17 Zuwanderung: Der Eklat im Bundesrat ...... 22 Interview mit dem Frankfurter Staatsrechtler Erhard Denninger über das Ergebnis der Abstimmung...... 24 Europa: Gerhard Schröder düpiert seinen Außenminister ...... 26 Umfrage: Kanzlerkandidat im Abwind ...... 30 Unfälle: Tödlicher Leichtsinn bei LAURENCE CHAPERON der Bundeswehr ...... 32 DARCHINGER MARC Internet: Die stumpfen Waffen der Ermittler Kanzlerkandidat Stoiber, Innenminister Schily, Kanzler Schröder gegen die Kinderporno-Szene ...... 68 Baden-Württemberg: Steuerermittlungen gegen Gerhard Mayer-Vorfelder ...... 72 Medien Seite 92 Trends: Der Bergsteiger Hans Kammerlander Müll, Macht und Moneten über seine Klettertour, die live im Die SPD-Spendenaffäre weitet sich aus. Nach Erkenntnissen der Ermittler haben Fernsehen übertragen wird / Kirch ohne Leo? ...... 75 Kölner Genossen sogar Bares aus schwarzen Kassen angenommen – und zurück- Fernsehen: TV-Film über das Leben von Oswalt Kolle / Querelen als Öffentlichkeitsarbeit ..... 76 gespendet. Die Liste des Ex-Kassenwarts Biciste nennt Quittungssünder – darunter Vorschau / Rückschau ...... 77 Ex-OB Norbert Burger. Doch auch die CDU hat im Rheinland nun ein Problem. Werbung: Knappe Etats zwingen die Agenturen zu immer aggressiveren Kampagnen ...... 78 Musikindustrie: Wie die Plattenriesen den Milliardenmarkt Internet verspielen ...... 81

Wirtschaft Spekulant mit Moral Seite 106 Trends: Briefporto soll nur um einen Cent Der Finanzstratege wird zum Glo- gesenkt werden / Gesamtmetall-Chef balisierungskritiker: George Soros Kannegiesser lehnt Aussperrungen ab / wirbt für einen Ausgleich zwischen Werften-Deal verärgert den Kanzler ...... 85 Geld: Nächtliche Ad-hoc-Meldungen armen und reichen Ländern und sollen Kursverluste lindern / fordert von den USA einen neuen Gewinnwarnungen als Kaufsignal ...... 87 Marshallplan. „Die Globalisierungs- Korruption: Wie tief stecken RWE und gegner haben in vielen Punkten Babcock im Schmiergeld-Geschäft?...... 88 ihrer Kritik einfach Recht.“ VICTOR CAIVANO / AP CAIVANO VICTOR Spendensumpf im Rheinland immer tiefer ...... 92 RUIZ / AP VICTOR Soros, Globalisierungsgegner (im mexikanischen Monterrey) Rohstoffe: Interview mit BP-Chef Lord John Browne über die Gefahren eines neuen Ölpreis-Schocks...... 96 Pleiten: Beim Holzmann-Debakel verlor nicht nur der Kanzler ...... 98 Seite 78 Konzerne: Mobilcom-Chef Gerhard Schmid Wie dreist darf Werbung sein? kämpft um sein Lebenswerk ...... 99 Als Ikea der blonden Ariane Tourismus: Die abenteuerlichen Reisen Sommer für eine Anzeige die mit Rainbow Tours ...... 102 Weltwirtschaft: Interview mit dem Haare per Computer dunkel Börsenspekulanten George Soros über Fehler färbte, schaltete sie ihren An- der US-Regierung und seine walt ein. Missbrauchte Promi- neuen Freunde – die Globalisierungsgegner ...... 106 nente, veräppelte Senioren – New Economy: Wie die Bewohner des Hauses die Kampagnen werden un- Hancock Street 45 in San Francisco verfrorener. Dagegen müsste Aufstieg und Fall des Silicon Valley erleben ...... 114 der Werberat einschreiten, doch seine Rügen bewirken Sport wenig, und der Branche dient Ski alpin: Die Schweiz will ihren das Gremium nur als Alibi. querschnittsgelähmten Abfahrer Silvano Beltrametti weiter siegen sehen ...... 130 Fußball: Risse im Kaiserslauterer Reklame-Opfer Sommer Kicker-Idyll ...... 133

6 der spiegel 13/2002 Gesellschaft Szene: Die neuen Bergsteiger / Lästige Sicherheits-Checks bei Flugreisen / 14 Jahre unschuldig im Gefängnis...... 141 Rechtsradikale: In Basdorf in Brandenburg terrorisieren Jugendliche eine Familie ...... 144 Ortstermin: Promi-Auftrieb bei Genschers Geburtstag ...... 150

Ausland Panorama: Weißrussische Waffen für den Irak? / Flüchtlingschaos in Italien ...... 153 Nahost: Historische Chance bei Beiruter Araber-Gipfel ...... 156 Interview mit Amr Mussa, Generalsekretär der Arabischen Liga, über die Solidarität mit dem Irak ...... 159 „War room“ in Florida, US-Flugzeugträger (U.) / REUTERS MORRIS / VII (L.); JIM HOLLANDER CHRISTOPHER Jugoslawien: Machtkampf der Belgrader Demokraten ...... 160 Frankreich: Sympathien für Videokrieg gegen den Terror Seite 174 trotzkistische Präsidentschaftskandidatin ...... 162 Spanien: Containerhafen für Gibraltar? ...... 164 Die Soldaten kämpfen in Afghanistan, proben in Kuweit und überwachen die Seewege Italien: Angst vor neuer Terrorwelle ...... 166 vor Afrika – gesteuert werden sie aus dem 12000 Kilometer entfernten Florida. Aus Singapur: Deutscher Schülerin droht dem „War room“ des Centcom in Tampa führen Offiziere aus 27 Nationen per der Galgen ...... 168 Videoschaltungen den Krieg gegen den Terror – unter Regie der Amerikaner. Afghanistan: Kabuls mühsamer Wiederaufbau ...... 170 Bundeswehr: Deutsche als Zaungäste in Amerikas Kriegsführungszentrum in Florida ...... 174 Tschechien: Der letzte KP-Chef muss vor Gericht ...... 178 Glanz und Überschwang Seite 210 Brasilien: Mordserie an Kindern ...... 184 Der Autor Salman Rushdie, von Islamisten jahrelang Wissenschaft · Technik mit dem Tod bedroht, bekennt sich im SPIEGEL-Ge- spräch zu New York, seinem „Glanz und Überschwang“. Prisma: Eisbergwasser für Bier und Sprudel / Dort fühle er sich daheim und „frei“. Er verteidigt Mehr Heuschnupfen durch Treibhauseffekt ...... 187 Gesundheit: Länger leben mit Gentests? ...... 190 Bushs Anti-Terror-Krieg. Muslimische Länder, sagt er, Computer: Simulationen für das Büro seien oft „selbst schuld“ an der Zukunft ...... 194

TORE BERGSAKER / CORBIS SYGMA / CORBIS SYGMA BERGSAKER TORE Rushdie in New York ihrem „Niedergang“. Automobile: Citroëns Abschied vom Avantgarde-Design ...... 198 Tiere: Wie Zoologen mit versteckten Kameras Exotenarten beobachten ...... 200 Ernährung: Hygienemängel in Polens Vorbild im Rollstuhl Seite 130 Agrarbetrieben gefährden den EU-Beitritt ...... 204 Er galt als „Jahrhunderttalent“ im alpinen Skisport. Kultur Doch seit der Schweizer Abfahrer Silvano Beltrametti Szene: Interview mit Ulrike Draesner, die bei Tempo 120 stürzte, ist er querschnittsgelähmt. den neuen „Preis der Literaturhäuser“ erhält / Jetzt benutzen Ärzte das Schicksal des Prominenten, Hörbücher auf der Leipziger Messe gefragt...... 207 um anderen Behinderten Zuversicht zu vermitteln. Autoren: SPIEGEL-Gespräch mit Salman Rushdie über New York, den Islam und seinen neuen Roman „Wut“ ...... 210 Beltrametti mit Therapeutin GFC-CHUR.CH Legenden: Wie Robert Wilson „Das Cabinett des Dr. Caligari“ auf die Bühne holt ...... 216 Denkmäler: Das neue Bernsteinzimmer in St. Petersburg ist fast fertig ...... 218 Zeitgeschichte: Der CDU-Politiker Gentest für jedermann Seite 190 Jürgen Rüttgers über Franz Walters Thesen zur Geschichte der SPD ...... 222 Die englische Kosmetikkette Body Shop bietet in Bestseller ...... 224 ausgewählten Filialen den ersten frei verkäuflichen Kino: Neue Kriegsfilme mit heftigen Gentest für Gesundheitsbewusste an: Wer eine Zell- Gewaltszenen machen Furore in den USA ...... 228 probe abgibt, bekommt Ernährungstipps, die zu einem längeren Leben verhelfen sollen. Schon bald Briefe ...... 8 könnte der Erbgut-Check „Du & deine Gene“ auch Impressum, Leserservice ...... 236 Chronik...... 237 G. WEASER / THE GUARDIAN G. WEASER in Deutschland auf den Markt kommen. Register ...... 238 Probenentnahme für Gentest Personalien ...... 240 Hohlspiegel/Rückspiegel ...... 242 TITELBILD: Foto Deutsches Historisches Museum

der spiegel 13/2002 7 Briefe

wie Volkswagen, Lufthansa, Telekom, Post und Bahn. Und danach die Rathäuser! Ich „Kein Wunder, denn würde lieber diese Aktien kaufen, als sinn- los Steuern zahlen! die Bundeswehr hat 50 Jahre Palma de Mallorca Timm D. Esser auf Pappkameraden Als Sohn eines Reichswehr-/Wehrmachts- geschossen. Man kann offiziers und Bruder eines Bundeswehr- offiziers habe ich als „einfacher Zivilist“ auf die Schnelle kein immer wieder ernsthafte Probleme, die Larmoyanz der Bundeswehrangehörigen Lamm zum Wolf machen.“ einerseits und die überzogene Bemühtheit Günther Oelrich aus Hamburg zum Titel: der politischen Klasse um die Bundeswehr „Deutsche an allen Fronten – Die überforderte Armee“ andererseits nachvollziehen zu können. SPIEGEL-Titel 11/2002 Wenn sich jemand bei seinem Arbeitgeber Bundeswehr nicht wohl fühlt, so soll er sich einen Arbeitsplatz seiner Wahl suchen. auch politischen Führung und bei den Und wenn die Politik meint, die Bundes- Trägheit, Machtgier, Inkompetenz Medien verursacht hat. Die Trauer um un- wehr wie eine „heilige Kuh“ behandeln Nr. 11/2002, Titel: Deutsche an allen Fronten – sere getöteten Soldaten, sei es im Manöver und den Normalbürgern gegenüber be- Die überforderte Armee oder im Auslandseinsatz, ist unteilbar. sonders bevorzugen zu müssen, so ist dies Hamburg Ralf Lindenberg angesichts dessen, dass die Bundesrepu- Was soll dieser weinerliche Pseudo-Pazi- blik nur noch von Freunden umgeben ist, fismus? Soldaten werden ausgebildet, um Warum sind die Deutschen nicht pragma- schwerlich zu begreifen. Menschen zu töten – im Zweifelsfall zur tisch und privatisieren die Armee? Mit Karlsruhe Roland Zahn Verteidigung nationaler Interessen. Das gilt einem Budget von jährlich rund 50 Milli- auch für die Bundeswehr. Und es liegt ganz arden Mark würde ein privater Konzern Das Grauen hat einen Namen: Scharping. sicher im nationalen Interesse Deutsch- die legitimen Sicherheitsinteressen der Dieser Minister ist für die Armee das größ- lands, dass Terroristen dort bekämpft wer- te Handicap. Durch sein den, wo sie ihr Hauptquartier haben. Was Verhalten hat er sich und offensichtlich viele hier zu Lande nicht ver- damit das Ansehen der standen haben, ist, dass es Freiheit und Bundeswehr besonders Wohlstand nicht zum Nulltarif gibt und im Ausland in Misskredit dass manchmal schmerzliche Opfer nötig gebracht. Wenn ihn seine sind. Mit Hurra-Patriotismus und fanati- eigenen Untergebenen als schem Führergehorsam hat dies nichts „Witzblattfigur“ bezeich- zu tun. nen, so ist das noch ein Halle / Saale Charles Thibo wohlwollender Begriff. Er ist weiterhin mit allen Früher hieß es bei den Grünen und weiten Forderungen nach Er- Teilen der Roten: Nie wieder Krieg! Das höhung des Wehretats im wurde nun zeitgemäß erweitert. Jetzt lau- Kabinett gescheitert, weil tet die Parole: Nie wieder Krieg ohne uns! er auch dort als „Loser“ Dresden Dr. Dieter Nees dem Spott ausgesetzt ist

ANJA NIEDRINGHAUS / DPA ANJA und keine Lobby hat. Es ist eine unglaubliche Frechheit gegen- Deutsche Soldaten in Kabul: Zur Sicherheit des Volkes Dass er letztlich ein aku- über jungen Menschen und Zeugnis seiner tes Sicherheitsrisiko dar- volkswirtschaftlichen Unkenntnis, wenn Deutschen perfekt garantieren. Im Grunde stellt, wann immer er öffentliche Dampf- General Kujat behauptet, dass bei einer haben das schon die alten Römer so ge- plauderei betreibt, sollte den Bundeskanz- Abschaffung der Wehrpflicht dem Steuer- halten und noch im Mittelalter haben die ler endlich dazu bewegen, sich von diesem zahler 300000 jugendliche Arbeitslose zur Hansestädte Kriegsschiffe gegen Piraten Mann zu trennen. Last fielen, und damit die Notwendigkeit eingesetzt, um ihre Handelswege zu schüt- Wiesbaden Felix Fritze der Wehrpflicht begründet. Dem liegt die zen – die Wirtschaft also, die Freiheit und unsinnige Annahme eines begrenzten Ar- Wohlstand finanziert. Dieses historische Ihre Formulierung, ein Rekrut könne beitsangebotes in Deutschland zu Grunde. Konzept hat Zukunft: Russland in die Nato „nach der zweimonatigen Grundausbil- Die wahren Kosten der Wehrpflicht lassen – die Bundeswehr an die Börse! Genau dung gerade mal ein Gewehr halten“, muss sich erst ermessen, wenn man sich über- legt, was 300000 Erwerbstätige zusammen in einem Jahr verdienen können. Finanzi- Vor 50 Jahren der spiegel vom 26. März 1952 ell kann sich eine Wehrpflicht nie lohnen. Entwurf zum Pressegesetz in der Kritik Polizei-Paragraf 42. Geklüngel Köln Ingo Reinhardt unter Weltkriegssoldaten Die üble Sache vom 9. April 1945. Sowjet- Note setzt West-Alliierte unter Druck Aggressive Propagandathesen So schrecklich das tragische Unglück in Af- der Amerikaner. Posten des Nato-Generalsekretärs zu vergeben ghanistan auch gewesen ist, das hohe Risi- Wie Sauerbier. Kriegsszenario in Alaska 40000 US-Soldaten im Ein- satz. Berühmtester Bankräuber Amerikas vor Gericht Drohbriefe ko war und ist bekannt. Für mich ist es un- an die Richter. Von den Azteken lernen Squash-Weltmeisterschaft in verständlich, dass der Tod zweier Marine- London. Mäuse im Weltall Falls der Mensch genauso reagiert … soldaten am gleichen Tag auf der Ostsee Diese Artikel sind im Internet abzurufen unter www.spiegel.de nicht gleiche Aufmerksamkeit, Betroffen- Titel: Bundesfinanzminister Fritz Schäffer heit und Trauer bei der militärischen wie

8 der spiegel 13/2002 Werbeseite

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Werbeseite Briefe jedem ehemaligen und derzeitigen Wehr- dienstleistenden wie eine Beleidigung vor- Risiken der Unterlassung kommen. „Langeweile, Fettleibigkeit und Nr. 11/2002, Psychologie: Hirnforscher Gerald Hüther Alkohol“ erkennen Sie als die „größten über hyperaktive Kinder Risiken deutscher Soldaten“. Ich glaube nicht, dass Sie mit solchen Einschätzungen Warum haben Sie zu diesem hochsensi- den Wehrpflichtigen gerecht werden. Die blen, komplexen Thema nur die Meinung Wehrpflicht ist ein tiefer Eingriff in die in- eines einzelnen Hirnforschers publiziert? dividuelle Freiheit eines jeden jungen Man- Viele Betroffene (meist medizinische Lai- nes, doch habe ich diesen Dienst gern zum en) sind jetzt verunsichert, da man gern Wohl und zur Sicherheit unseres deutschen den so genannten Experten Glauben und europäischen Volkes getan – natürlich schenkt, auch wenn diese irren. Denn für auch in der Hoffnung, dass mein Zutun Parkinson und ADHS sind unterschiedliche entsprechend honoriert wird. Dopaminsysteme zuständig. Die Aussagen Heiligenhaus (Nrdrh.-Westf.) von Hirnforscher Hüther werden somit Frank Oliver Aldenhoff nicht richtiger, auch wenn er noch mal fünf Ratten zerlegt. Diese neurologischen Ver- irrungen unterminieren die Basisarbeit der vielen Elterngruppen, die sich um eine sachliche Aufklärung des ADHS-Symp- toms im täglichen Alltag bemühen. Denn der ist mit ADHS-Kindern eine echte Her- ausforderung an liebevoll konsequente Er- ziehung (auch mit Unterstützung durch die „Brille“ Methylphenidat/Ritalin). Waiblingen (Bad.-Württ.) Martin Metzger

Professor Hüthers Thesen sind äußerst um- stritten. Professor Rothenberger, ebenfalls Universität Göttingen und Vorstand der

DETMAR MODES / BMVG DETMAR Kinderpsychiatrie, warnte vor Interpreta- Minister Scharping bei Truppeninspektion tionen dieser im eigenen Hause erfolgten Das Grauen hat einen Namen Rattenversuche in der einen wie in der an- deren Richtung. Im Grunde handelt es sich Ich finde die Aussage „Ohne Hilfe der um Grundlagenforschung. Babyratten wur- Amerikaner wären die deutschen Truppen den mit Methylphenidat (MPh) zu Ver- aufgeschmissen“ falsch. Die deutschen suchszwecken vergiftet, ohne dass dazu ein Soldaten sollen die amerikanischen Trup- therapeutischer Anlass bestand. Die toxi- pen beim Kampf gegen die afghanischen sche Wirkung von MPh und die therapeu- Soldaten doch unterstützen und nicht al- tische Wirkung von MPh sind nicht zu ver- lein gegen die afghanischen Truppen gleichen. Ratten und Menschen sind sicher kämpfen. Ich finde Krieg schrecklich, und auch nicht 1:1 vergleichbar, weder im ich möchte, dass es Krieg nie gibt. Mein Sozialverhalten, noch in der Hirnentwick- Opa hat mir sehr viel darüber erzählt, des- lung, noch in der Arzneimittelwirkung. halb weiß ich wirklich, dass es kein „Aben- Ottobeuren (Bayern) Dr. Rupert Filgis teuer“ ist, in den Krieg gehen zu müssen. Allein die Frage, wie man am besten le- Endlich ein überfälliger Warnruf aus kom- bend den Krieg übersteht, ist dann wichtig. petentem Munde auch in Deutschland: Der Hoisdorf (schlesw.-Holst.) Birgit Hollnagel Ritalin-Megatrend kommt aus den USA – (14 Jahre) wie bekanntlich alles Gute. Gleichzeitig aber wird gerade in den USA seitens ver- Die Frage, ob unsere Armee überfordert, antwortlicher Universitätsforscher bereits oder überhaupt gefordert wird, kann nur seit 1996 gewarnt: Damals nahmen schät- beantwortet werden, wenn ihre Aufgabe zungsweise schon bis zu zwölf Prozent aller klar definiert ist. Ist sie das? Uns allen Jungen von 6 bis 14 Jahren Ritalin. Außer- klingt noch Schröders „uneingeschränkte dem war schon damals ein Anstieg des Solidarität“ in den Ohren. Brauchen wir Missbrauchs von illegalem Ritalin unter eine Armee, die angreifen kann? Was soll Teenagern zu verzeichnen, die die anre- ihre Aufgabe sein? Soll sie erschießen, wen gende Wirkung dieses Stimulans suchten. Washington als böse bezeichnet, soll sie Heidelberg Dr. Eva-Maria Tepperberg dort aufräumen, wo Amerika mit dem Krieg fertig ist, oder soll sie ausputzen, was Die begrenzte Aufmerksamkeitsspanne, zwischen nationalen Interessen innerhalb die auch mit Training nur unwesentlich der Uno zerrieben wurde? Ich bedaure all verlängert werden kann, lässt die betroffe- die Soldaten, die ihr Leben im Ausland für nen Kinder täglich immer wieder erfah- die Machtgier, die Trägheit und die In- ren, dass sie ihre Sachen nicht so gut hin- kompetenz unserer Politik riskieren und bekommen, wie sie sie eigentlich im Kopf lassen müssen! haben. Dies schafft ein tiefes Leid, Selbst- Aachen W. Kraushaar zweifel an der Stelle, wo ein Selbstbewusst-

12 der spiegel 13/2002 sein ohne Überschätzung wachsen sollte. Vom Leid, durch die Alterskameraden we- gen ihrer impulsiven Unangepasstheit ab- gelehnt zu werden, einmal ganz zu schwei- gen. Das Medikament, das den konstan- ten Zugriff auf ihre eigenen Fähigkeiten der Wahrnehmung und Handlungskon- trolle wieder ermöglicht, soll diesen Patien- ten auf Grund spekulativer Überlegungen von Herrn Hüther jetzt vorenthalten wer- den – ist das angemessen? Dagegen stehen immerhin 65 Jahre Behandlungserfahrung mit Ritalin, da hätte ein Einzelfall mit Früh- parkinson schon längst im Beipackzettel auftauchen müssen. Ein Arzt hat immer mögliche Risiken zu berücksichtigen, aber nicht nur für eine Behandlung, sondern auch für deren Unterlassung. Gießen Dr. Hans-Jürgen Kühle

Spiegelfechtereien im Flachsinn? Nr. 11/2002, Zeitgeist: Moderatorinnen prägen das Bild von der Politik im Fernsehen

Mit manchem im SPIEGEL bin ich einver- standen, mit manchem weniger, aber un- berechtigte Jubelarien gehen mir beson- ders auf den Senkel. Es wird so getan, als fände in den Talkshows kritischer politi- scher Journalismus statt, was überhaupt nicht der Fall ist. Unabhängig vom Ge- schlecht der Moderatoren wird im Talk nicht politisch informiert, sondern es fin- den Spiegelfechtereien im Flachsinn statt. Wer sich über Talkshows seine Wähler- meinung bilden will, der kann sein Votum gleich auf das Aussehen der Kandidaten gründen. Hamburg Jürgen Dieberitz

Wie gut, dass diese neue Moderatorinnen- generation frischen Wind in unsere Me- dienlandschaft hineinbrachte und endgül- tig mit dem gängigen Vorurteil aufräumte, Frauen wären nur zum Verlesen der Nach- ANDRÈ RIVAL Journalistinnen Illner, Bauer, Maischberger Informiert, schlagfertig, schnell richten gut. Die Wills, Maischbergers, Slomkas und Co. sind gut informiert, ex- zellent vorbereitet, schlagfertig und brin- gen die Politiker endlich dazu, schneller auf den Punkt zu kommen. Sie setzen jetzt die Maßstäbe in Funk und Fernsehen. Die noch aktiven (männlichen) Moderatoren- „Dinosaurier“ müssen sich nun warm anziehen. Berlin Milan Brezina der spiegel 13/2002 13 Briefe

viel beschworener Pünktlichkeit sind Finanzielles russisches Roulette komischerweise immer meine Maschinen In doppelter Bedrängnis Nr. 11/2002, Luftfahrt: SPIEGEL-Gespräch mit mit Ryanair vollkommen verspätet. Hat Nr. 10/2002, Arbeitsmarkt: SPIEGEL-Gespräch mit Ryanair-Chef Michael O’Leary man es nach vielen Hürden bis ins Flug- , dem neuen Chef über seinen Angriff auf die Lufthansa zeug geschafft, wird man für die Länge des der Arbeitsverwaltung, über die Notwendigkeit Flugs vom Bordpersonal mit Verkaufsan- grundlegender Reformen Die neuen Billiganbieter sind mir sehr will- geboten tyrannisiert; wie bei einer Senio- kommen. Ich würde in den meisten Fällen renbustour wartet man eigentlich nur noch, Gut, dass Sie Herrn Gerster ein Forum für immer diese Neuen vorziehen. Allerdings dass einem die Heizdecken vorgeführt wer- seine radikalen Verbesserungsvorstellun- nimmt Michael O’Leary den Mund zu den. Wer Abenteuer sucht und auf dem gen gegeben haben. Es ist zu hoffen, dass voll, dabei zeigt er eine Arroganz, welche Weg noch ein bisschen deutsche und eng- der Totalumbau gelingt. Ohne Überzeu- die der Etablierten noch übertrifft. Er ver- lische Provinz kennen lernen will, mit aus- gen der Bedenkenträger, Aussitzer, Ober- reichend Nerven und bürokraten wird es allerdings nicht gehen. Kreuzworträtseln ausge- Die bereits bestehenden arbeitsmarktpoli- stattet ist, für den ist Ryan- tischen Instrumente richtig und gründlich air genau das Richtige. Die angewendet, wäre bereits ein Segen für die meisten meiner deutschen arbeitslosen Mitbürger und die öffentlichen Kommilitonen und ich flie- Kassen! gen inzwischen wieder Nürnberg Dr. Michael Beck Lufthansa. Cambridge (Großbritannien) Bundeskanzler Schröder leistet sich einen Jonas Nahm Bärendienst als Steigbügel-Halter von Gerster. Einen Mann in diesen sensiblen Die Nutzung einer Sache Sattel zu hieven, der, noch nicht im Amt, führt gemeinhin zu Ver- bereits den Rotstift ansetzt, wie immer und schleiß und kostet Geld, am leichtesten bei den Arbeitslosen, und aber, O-Ton O’Leary: „Wa- sich noch brüstet, wie viele er bereits ar- rum sollen wir für die Nut- beitslos gemacht hat, gehört dort nicht hin. zung … bezahlen, wenn Ich hoffe, im September wissen dies vier ein Flughafen bereits exis- Millionen Arbeitslose zu würdigen. tiert? Frankfurt-Hahn … Aachen Wolfgang Glockner (hat) die amerikanische

OLIVER STRATMANN / DPA STRATMANN OLIVER Regierung bezahlt.“ Mit Die Bezugsdauer des Arbeitslosengelds für Ryanair-Flugzeug in Hahn bei Frankfurt: Schön billig dem Kalkulationsmuster ältere Arbeitslose soll reduziert werden, kann man Flugpreise nied- weil wir es uns auf Dauer nicht leisten langt von seinen Fluggästen, dass diese jede rig halten. Gilt entsprechend für die Flot- (können), Ältere mit finanziellen Reizen Verspätung hinnehmen, langwierige und te, außer Personalkosten nur Geld für Flug- teure Anfahrten zu einsamen Flughäfen benzin auszugeben? Mehr braucht’s ja akzeptieren und alles mit der Begründung, nicht, um die Flieger in die Luft zu be- Ryanair sei ja billiger. Was man folglich kommen. Wenn dann mal ein Flugzeug durch billigere Tickets einspart, wird in runterfällt, weil’s nicht gewartet wurde, oft vorkommenden Krisenfällen durch oder wenn die Kisten am Ende vergam- Extrakosten, für die Ryanair, trotz der eu- melt und fluguntauglich sind: Pech gehabt, ropäischen Fluggastcharta, nicht aufkom- bis dahin war’s für alle Ryanair-Passagiere men will, wieder aufgewogen. Mit Ryanair jedenfalls schön billig … zu fliegen ist wie finanzielles russisches Wardenburg (Nieders.) Volker Dohmann

Roulette. / LAIF GERSTER GABY London Werner Kierski Arbeitsverwaltungschef Gerster Nie in der Sauna Radikale Vorstellungen Dass es nur um User-Zahlen und weniger Nr. 12/2002, Titel: Kölner Justiz ermittelt gegen den um Kostendeckung geht, hat uns mit be- früheren SPD-Fraktionsgeschäftsführer Karl Wienand aufs Abstellgleis zu stellen. Was für eine kanntem Erfolg die New Economy schon Verhöhnung älterer Arbeitsloser! Herrn einmal beizubringen versucht. Nicht ewig In dem Artikel „Charly auf der Achter- Gerster müsste eigentlich die Altersfeind- werden sich jedoch die „User“ – sprich bahn“ schreiben Sie, ich hätte mit dem lichkeit der Arbeitgeber bekannt sein. Nun Passagiere – ein Hunsrück-Dorf als Frank- langjährigen Kölner Oberstadtdirektor Lo- gerät die Gruppe der älteren Arbeitsuchen- furt am Main verkaufen lassen, und irgend- thar Ruschmeier (SPD) und dem früheren den in doppelte Bedrängnis. wann wird auch der Cash hereinspülende Bundestagsabgeordneten Karl Wienand Dresden R. Panek Schneeballeffekt rasanter Expansionen an (SPD) ein „Trio“ gebildet, das in Partei- seine Grenzen stoßen. kreisen „Troisdorfer Mafia“ genannt wur- Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe – bitte mit Freiburg Siegfried Klausmann Anschrift und Telefonnummer – gekürzt zu veröffentli- de. In Ruschmeiers Sauna sei „schon man- chen. Die E-Mail-Adresse lautet: [email protected] ches öffentlich-private Ding gefingert“ Ich studiere in England und habe mich zu worden. Diese Darstellung ist, was mich Beginn sehr über Ryanairs Billigtarife betrifft, falsch. Ich habe nie mit Ruschmei- In der Heftmitte dieser SPIEGEL-Ausgabe befindet sich gefreut. London–Hamburg für umgerech- er und Wienand ein Trio gebildet, das in einer Teilauflage ein Beihefter der Firma Subaru, net 50 Euro versprach mein Studenten- „Troisdorfer Mafia“ genannt werden konn- Friedberg. In der Gesamtauflage dieser SPIEGEL-Ausga- budget zu schonen. Doch versucht man die te. Die Sauna im Hause Ruschmeier habe be befindet sich ein Prospektbeikleber der Firma Sala- Probe aufs Exempel und testet irische Gast- ich nie von innen gesehen. mander, Kornwestheim, und in einer Teilauflage ein Post- kartenbeikleber des SPIEGEL Verlags/Abo, Hamburg, Troisdorf Uwe Göllner freundschaft an Bord von Ryanair, vergeht sowie eine Beilage des Verlags Gruner+Jahr / Capital, MdB einem schnell der Spaß. Trotz O’Learys Hamburg.

14 der spiegel 13/2002 Werbeseite

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Werbeseite Panorama Deutschland BERND WEISSBROD / DPA JENS BÜTTNER / DPA GEORG JANSSEN Rehberg Schawan Glos

de in sein „Kompetenzteam“ genanntes Schattenkabinett aus- schließlich Politiker berufen, die im Falle eines Wahlsiegs tatsächlich für die Bundespolitik zur Verfügung stünden. Für Stoiber verloren ist deshalb auch Niedersachsens CDU-Chef Christian Wulff, der sich auf die Spitzenkandidatur bei der Landtagswahl Anfang 2003 eingestellt hat. Verstärkt werden

FRANK LEONHARDT / DPA LEONHARDT FRANK Stoibers Personalsorgen durch die Erkrankung von Horst See- Stoiber, Merz hofer. Der CSU-Sozialexperte liegt mit einer schweren Herz- muskelentzündung seit Mitte Januar im Krankenhaus. Führen- UNION de Unionspolitiker gehen deshalb davon aus, dass Stoiber bei der ab Ende April geplanten Vorstellung seines Schattenkabi- netts auch auf weniger bekannte Kräfte zurückgreifen muss. Als Zweite Reihe für Stoiber chancenreiche Kandidaten gelten die baden-württembergische Kultusministerin Annette Schawan, Mecklenburg-Vorpommerns anzlerkandidat (CSU) muss bei der Auf- CDU-Chef , der hamburgische Wirtschafts- Kstellung seiner Wahlkampftruppe auf einige prominente senator Gunnar Udall, die Junge-Union-Vorsitzende Hildegard Unionspolitiker verzichten und sich mit Kräften aus der zwei- Müller sowie Horst Teltschik, einst außenpolitischer Berater ten Reihe begnügen. Mit Hessens Ministerpräsident Roland von . Unionsfraktionschef soll sich Koch und dem saarländischen Landesvater Peter Müller schlos- in Stoibers Schattenkabinett um die Finanzpolitik kümmern. sen gleich zwei Spitzenkräfte im kleinen Kreis aus, nach der Als Verteidigungsexperte ist , CSU-Landesgrup- kommenden Bundestagswahl ihre Ämter aufzugeben und nach pensprecher, im Gespräch. Die besten Aussichten auf das In- Berlin zu wechseln. Stoiber jedoch hatte angekündigt, er wer- nenressort hat Brandenburgs Innenminister Jörg Schönbohm.

PDS ne Woche mit einem Antrag auf Be- schlagnahme von Telefonrechnungen, Ende des Angriffs? die in der Hanauer Wohnung des angeb- lichen hessischen Gebiets-Emirs der ie PDS-Bundestagsfraktion ver- Islamistenbewegung gefunden worden Dsucht, einen Keil zwischen SPD waren. Bei der Durchsuchung fanden und Grüne zu treiben. Sie will im Bun- die Ermittler Fotos und Plakate, die be- destag einen Antrag zur „Aufhebung waffnete Männer in Afghanistan zeigen. des Bündnisfalles“ stellen, mit dem die Die Polizei erhielt zudem Hinweise, der Nato-Waffenpartner den USA nach den unterdessen untergetauchte Deutsche Anschlägen vom 11. September bei- türkischer Herkunft habe für den Ka- sprangen. Mit dem Antrag wollen die plan-Verband Kontakte zu islamistischen Postkommunisten die Kriegsgegner bei Gruppen im Ausland aufgebaut. Darauf- den Grünen aus der Reserve locken. hin leitete die Staatsanwaltschaft Hanau Der soll die Bundesregie- ein Verfahren wegen des Verdachts der rung dazu auffordern, im Nordatlantik- Unterstützung oder Mitgliedschaft in ei-

rat darauf hinzuwirken, „den dort am / AP BARI PHILIPP ner terroristischen Vereinigung ein, das 4. Oktober 2001 beschlossenen Bünd- Kaplan (1997 in Bonn) vom Generalbundesanwalt übernom- nisfall nach Art. 5 Nato-Vertrag für be- men wurde. Von den in der Hanauer endet zu erklären“. Nach Auffassung JUSTIZ Wohnung gefundenen Telefonrechnun- der PDS ist der Angriff auf die USA zu gen erhoffte sich der Generalbundesan- Ende, damit fehle die „Legitimation Schutz für Islamisten walt Aufschluss über Verbindungen des zur Selbstverteidigung“. In ihrer An- Kaplan-Anhängers mit „terroristischen tragsbegründung bezieht sich die PDS on dem im Dezember verbotenen Netzwerken“. Doch nun darf er sie pikanterweise auf Äußerungen der VKölner Verband des Islam-Extremis- nicht auswerten, weil es nach Ansicht grünen Bundestagsvizepräsidentin ten Metin Kaplan geht nach Ansicht des des BGH keine Belege für die Vermu- , die bereits nach Aus- Bundesgerichtshofs (BGH) derzeit keine tung gibt, „dass sich innerhalb des ‚Ka- rufung des Bündnisfalls gefragt habe, Terrorismusgefahr aus. Der General- plan-Verbandes‘ im Inland eine terroris- ob dieser nun „für immer“ gelte. bundesanwalt scheiterte so vorvergange- tische Vereinigung herausgebildet hat“.

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GEFANGENE Bremer Taliban auf Kuba er in Afghanistan festgenommene an- Dgebliche Bremer Taliban-Kämpfer Murat K., 20, ist von der US-Armee of- fenbar in das berüchtigte Kriegsgefange- nenlager auf Kuba aus- geflogen worden. Eine

Nachricht an seine Fami- / CORBIS SYGMA PIGE RON SACHS lie, die in der vergange- US-Gefangenenlager Camp X-Ray auf Kuba nen Woche in Bremen ankam, trägt als Absenderangabe seinen Ge- Eltern hat K. bestritten, je für die Radikalen gekämpft zu ha- fangenencode (JJJFA) und die Ortsangabe ben: „Ich war die ganze Zeit in Pakistan und habe nichts an- „160 Camp X-Ray“. Das ist die Bezeichnung gestellt. Betet für mich.“ In einem persönlichen Schreiben an der US-Regierung für das Internierungslager die Familie hat Außenminister inzwischen zu- auf dem Stützpunkt Guantanamo Bay, in dem gesagt, sich um das Schicksal des in Deutschland geborenen jun- inzwischen 300 gefangene mutmaßliche Tali- gen Türken zu kümmern. Da dieser nicht die deutsche Staats-

AXEL SCHMIDT / ACTION PRESS / ACTION AXEL SCHMIDT ban- und Bin-Laden-Kämpfer festgehalten angehörigkeit besitze, seien seine Möglichkeiten „allerdings Murat K. werden. In einem früheren Brief an seine sehr eingeschränkt“.

KORRUPTION sowie Privatwohnungen. Eine Mün- BERLIN chener Mediengesellschaft soll sich Schmiergeldverdacht durch Absprachen mit der techni- Gieriger Senator schen Leitung des Kongresszentrums in München einen Auftrag in Höhe von 1,2 Millio- ährend neuer Finanzsenator Thi- nen Mark gesichert haben. Ein Büh- Wlo Sarrazin den Landesdienern mit Ge- egen Mitarbeiter der Messe nenmeister des ICM steht unter dem haltskürzungen sowie Personalabbau droht, GMünchen GmbH ermittelt die Verdacht, selbständige Auftragneh- sollten sie nicht freiwillig auf zehn Prozent ih- Staatsanwaltschaft München I wegen mer um einen Teil ihres Honorars er- rer Bezüge verzichten, kämpft er privat weiter des Verdachts auf Korruption und presst zu haben. Wer nicht zahlte, so verbissen um seine Gehaltsansprüche. Sarrazin Erpressung. Im Internationalen Kon- ein Kollege der Opfer, habe im ICM versucht, an Stelle seines Senatoreneinkom- gresszentrum der Messe (ICM) – keinen Job mehr bekommen. Die mens (rund 10500 Euro) das deutlich höhere Hauptgesellschafter sind die Stadt Messegesellschaft bestätigte, bereits Gehalt (17043 Euro) von seinem früheren Ar- München und der Freistaat Bayern – vor einem Jahr seien intern Ermitt- beitgeber, der Deutschen Bahn (DB), zu bezie- soll es, so der Verdacht, Millionen- lungen gegen Mitarbeiter „wegen un- hen. Der Ex-DB-Bereichsvorstand hat dort ei- aufträge gegen lukrative Geschenke korrekten Verhaltens“ eingeleitet nen Vertrag bis Februar 2005, wurde aber im gegeben haben. Deshalb durch- worden. Wegen laufender Unter- Dezember 2001 im Streit von seinen Aufgaben kämmten 3 Staatsanwälte und 25 Kri- suchungen der Justiz wolle man sich entbunden. Nachdem Berlins Regierender Bür- po-Beamte vor kurzem ICM-Büros jedoch zur Sache nicht äußern. germeister Klaus Wowereit (SPD) den Vorgang zur Privatangelegenheit herabstufte, macht nun DB-Chef Hartmut Mehdorn Druck. Er se- he sich „rechtlich gehindert“, weitere Zahlun- gen zu leisten, schreibt Mehdorn an Wowereit. Die Bahn müsse fürchten, dass Überweisungen an ihren Ex-Manager als eine „unzulässige Vor- teilsgewährung“ anzusehen wären. Mehdorn ärgert, dass Sarrazin – der den Streit nicht kommentie- ren will – den Bahnaufsichts- rat nicht vorher fragte, als er den Senatsposten antrat und neuer Aufsichtsratschef der Berliner Verkehrsbetriebe BVG wurde. Nun muss er mit der DB-Tochter S-Bahn ULLI SEER / LOOK ULLI Berlin über eine Fusion ver- DARCHINGER MARC Münchner Messe handeln. Sarrazin

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KRIMINALITÄT brüche (plus sechs Prozent). Mit einem Rückgang der Autodiebstähle um neun Mehr Prozent setzt sich ein Trend fort, der wesentlich durch immer bessere Siche- Wirtschaftsverbrechen rungstechnik der Autoindustrie eingelei- tet wurde. Die Rauschgiftkriminalität etrügereien mit Kreditkarten und blieb nahezu unverändert, allerdings Bunseriösen Geldanlagen haben die werden Heroin und Kokain zunehmend Wirtschaftskriminalität in Deutschland von Designerdrogen verdrängt. im Jahr 2001 um 23 Prozent im Ver- Besorgnis erregend ist die weitere Zu- gleich zum Vorjahr steigen lassen. Das nahme der Gewaltkriminalität um geht aus der neuen Kriminalstatistik 0,7 Prozent auf 188000 Straftaten und hervor, die jährlich etwa Anfang Mai die wiederkehrende Zunahme der Ju- veröffentlicht wird. Insgesamt stieg die gendkriminalität um 4000 auf 298000 Zahl der registrierten Fälle bundesweit Delikte. Die Gewerkschaft der Polizei um 1,6 Prozent auf 6,36 Millionen (GdP) sieht darin eine direkte Folge des Straftaten. Die Aufklärungsquote betrug Personalabbaus. „Die polizeiliche Prä- unverändert 53 Prozent. Experten alar- senz auf der Straße fehlt“, klagt GdP- miert der Anstieg der Wohnungsein- Vorsitzender Konrad Freiberg.

STAATSBESUCH Massenprotest gegen George Bush S-Präsident George Bush muss bei rechnen. Felix Kolb, Sprecher der Pro- Useinem Deutschland-Besuch im Mai testbewegung Attac, erwartet mehrere mit massiven Protesten von Globalisie- zehntausend Demonstranten, die am rungskritikern und Friedensbewegten 21. Mai, dem Vorabend des Bush-Be- suchs, durch Berlin ziehen werden: „Wir wollen Bush zeigen, was wir von seiner Linie halten – nämlich überhaupt nichts.“ Die Proteste richten sich gegen das „amerikanische Kriegstreiben“ in Af- ghanistan sowie gegen die Haltung der US-Regierung in der Umwelt-, Wirt- schafts- und Entwicklungshilfepolitik. Vor wenigen Tagen hatte Bush deutlich gemacht, dass die USA sich früheren Versprechungen gegenüber der Dritten

PETER JUELICH Welt nicht mehr verpflichtet fühlen. Attac-Demonstration (2001 in Brüssel) Kolb: „Das ist schon ein starkes Stück.“

UMWELT risiertes Modell im jeweiligen Segment („Mittelklasse“, „Kleinwagen“) eher gut Gütesiegel für Autos oder eher schlecht abschneidet. Vom Umweltbundesamt, aber auch vom m Dauerclinch zwischen Wirtschafts- ADAC liegen noch weiter gehende Vor- Iminister Werner Müller (parteilos) schläge vor. Danach sollen Autos ähn- und Umweltminister Jürgen Trittin lich wie derzeit schon Kühlschränke in (Grüne) bahnt sich eine neue Runde an: Verbrauchsgüteklassen (von A für be- Beide können sich nicht über die Um- sonders schadstoffarm bis G für beson- setzung einer EU-Richtlinie einigen, mit ders schadstoffreich) eingeteilt werden. der Autohersteller verpflichtet werden, Die Zeit drängt. Eigentlich hätte die Neuwagenkäufer umfassend über Sprit- Bundesregierung die EU-Richtlinie verbrauch und Kohlendioxid-Emissio- schon bis Januar 2001 umsetzen müs- nen ihrer Modelle zu informieren. Mül- sen. Vor fast einem Jahr leitete Brüssel ler will auf den Treibhausgas-Ausstoß wegen des Zeitverzugs ein Vertragsver- mit einer schlichten Zahl („300 Gramm letzungsverfahren gegen Deutschland pro Kilometer“) hinweisen. Damit ein. Weil bei der für die Einführung des „kann niemand etwas anfangen“, kon- Gütesiegels notwendigen Verordnung tern Trittins Ministerialen. Sie favorisie- auch der Bundesrat zustimmen muss, ren eine Lösung, bei der ein Autokäufer droht sogar eine Verzögerung bis nach deutlicher erkennen kann, ob sein favo- der Bundestagswahl.

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nehmigten Kunst-Aktion ge- Am Rande gen den Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr protestier- ten. Kripo-Beamte, welche die Demo beobachteten, forderten die Herausgabe des angeblich verfassungs- immt man ein Wort, schüt- feindlichen Objekts und brachten es ins Polizeipräsi- Ntelt seine Buchstaben durch- dium. Gegen den Leiter der

einander und setzt sie neu zu- KASTNER P. WOLFRAM Kunst-Aktion eröffnete die sammen, so entstehen merkwür- Münchner Demonstration gegen Afghanistan-Einsatz Staatsanwaltschaft wegen dige Verbindungen, so genannte BUNDESKANZLER Anagramme: „Tierschutz“ zum Beispiel ergibt „Ist zu Recht“, was Verbotenes Symbol ja noch Sinn macht. Auch „Re- ie Münchner Kriminalpolizei hat gierung“ lässt sich schön umstel- Dsich blamiert, weil sie bei einer De- len: „Irre genug“. Aber nicht im- monstration ein Foto sicherstellte, das Kanzlerfrau Doris Schröder-Köpf mit ei- mer ist die Bedeutung sofort klar, nem Bild des Vaters von Gerhard Schrö-

aus „Christdemokraten“ etwa der zeigt. Der Grund des Zugriffs: Ver- OSSENBRINK FRANK wird, etwas rätselhaft: „Dank stoß gegen Paragraf 86a StGB, der das Porträts auf Kanzler-Schreibtisch schmort Tiere“, oder auch: Verwenden verfassungsfeindlicher Sym- bole unter Strafe stellt. Denn auf dem des Hakenkreuzes ein Ermittlungsver- „Hacke mordet Stirn“. Das ist in- Bild trägt der später in Rumänien gefal- fahren. Einem der Fahnder fiel offen- terpretationsbedürftig und lässt lene Soldat Schröder einen Wehrmachts- sichtlich später die Ähnlichkeit der abge- womöglich auf ein kleines men- helm mit Hakenkreuz. Beschlagnahmt bildeten Dame mit der Ehefrau des hatten Polizisten das Foto bei einer Kanzlers auf. Das Verfahren wurde dann tales Problem der CDU beim Kundgebung von Münchner Pazifisten „nach Klärung der tatsächlichen Um- Umgang mit Tieren schließen. am 31. Januar, die im Rahmen einer ge- stände“, so ein Beschuldigter, eingestellt. Tatsächlich hat die Union sich ja vergangene Woche überraschend dafür ausgesprochen, den Tier- TRANSPORTFLÜGE Nachgefragt schutz ins Grundgesetz aufzu- Noch zwei Jahre Kabul? nehmen, nachdem sie jahrelang Her mit den dagegen war. ffenbar richtet sich die Bundeswehr Als Grund gibt sie an, der Tier- Oauf einen Langzeit-Einsatz in Af- ghanistan ein. Zwar ist das Mandat für Pfand-Dosen! schutz sei wichtiger geworden, das Kontingent der Isaf-Friedenstruppe seit den Muslimen das Schächten Ab Januar 2003 will die Bundes- in Kabul bis Ende Juni befristet. Aber regierung ein Pfand von 25 Cent (Anagramm: „Ach, Stechen“) vergangene Woche schrieb das Bundes- bzw. 50 Cent auf Getränkedosen amt für Wehrverwaltung Transportflüge und Einwegflaschen einführen. von Tieren erlaubt worden sei, nach Kabul aus – für „zunächst“ sechs was in der Bevölkerung niemand Befürworten Sie das Monate mit einer „Option“ auf „dreimal Dosenpfand? so recht versteht. Rein zufällig sechs weitere Monate“. Die Ausschrei- bung geschah in unüblicher Hast: Die kommt die Erkenntnis der Uni- am vergangenen Dienstag wie üblich on zeitnah zur Bundestagswahl angeschriebenen Vermittler von Charter- („Bald hast weg uns“), und ob flügen sollten die Angebote über bis zu der Tierschutz im Grundgesetz ir- zehn Flüge pro Woche binnen 24 Stun- den einreichen. Unüblich war auch die gendetwas bewirkt, ist eh zwei- Vorfestlegung, die gewünschten An-124- Ja 76 felhaft. Dass in Bayern der Um- Transporter dürften „ausschließlich“ von weltschutz als Staatsziel in der der ukrainischen Antonov Airlines be- reitgestellt werden. Sie erhielt bislang Nein 22 Verfassung steht, haben ja auch pro Flug von Köln nach Kabul 220000 eine Menge Bäume nicht über- Dollar. Branchenkenner verwiesen dar- lebt. Geht es nach dem Ana- auf, dass andere Fluggesellschaften aus NFO-Infratest-Umfrage für der vormaligen Sowjetunion die An-124- den SPIEGEL vom 20. bis 21. März; rund 1000 gramm für „“, soll- Großraumjets um bis zu 10000 Dollar Befragte; Angaben in Prozent; an 100 fehlende te die Union nicht allzu optimis- pro Flug günstiger offerieren. So könnte Prozent: „weiß nicht“/ tisch sein: „Klare Mängel“. das klamme Wehrressort in sechs Mona- keine Angabe ten 2,4 Millionen Dollar einsparen.

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Werbeseite Deutschland

ZUWANDERUNG Der Vertrauensbruch Tricksereien und Showeffekte im Bundesrat: Die Endabstimmung zum lange geplanten Zuwanderungsgesetz geriet zum Trauerspiel der deutschen Parteien. Droht nun ein rücksichtsloser und schmutziger Wahlkampf? LAURENCE CHAPERON (L.); MARCO-URBAN.DE (R.) LAURENCE CHAPERON (L.); MARCO-URBAN.DE CSU-Chef Stoiber, Bundesratssitzung (am vergangenen Freitag): Die Machtprobe ist den Akteuren entglitten

as Orchester spielte gerade Brahms’ ein Reformprojekt, das mit Ausnahme der Brandenburger Koalition ein Gesetz ver- „Deutsches Requiem“, als ein Mi- Union alle Parteien, Kirchen, Arbeitgeber abschieden?“ Dnisterialbeamter dem Bundesprä- und Gewerkschaften seit Jahren anmah- Selbst der Bestand ihrer Regierung – ei- sidenten und dem neben ihm sitzenden nen – und bringt dem ohnehin schwer un- nes bis zuletzt gut funktionierenden Bünd- Kanzler ein weißes DIN-A4-Blatt herein- ter Druck stehenden Kanzler eine womög- nisses – war im zynischen Machtkalkül der reichte. Aus den Gesichtern der beiden lich folgenschwere Schlappe bei. großen Politik nur von untergeordneter Be- höchsten politischen Repräsentanten, die In einer in 53 Jahren Bundesrat unver- deutung. 18-mal, zählte Stolpe während am Freitagnachmittag vergangener Woche gleichlich dramatischen Sitzung hatte die der Bundesratssitzung mit, wurde Schön- in der Hamburger St.-Michaelis-Kirche am Länderkammer über die Zustimmung oder bohm von den Unionsministerpräsidenten Staatsakt für die verstorbene „Zeit“-Her- Ablehnung für das rot-grüne Einwande- zum Kungelgespräch beordert. ausgeberin Marion Gräfin Dönhoff teil- rungsgesetz zu entscheiden. Eine klare Nach einer in ihrer Konfusion kaum nahmen, verflüchtigte sich die Andacht. Mehrheit galt seit langem als ausgeschlos- noch zu überbietenden Schlussbefragung – Auf Johannes Rau ruht nun eine Zent- sen. CDU wie SPD setzten auf die vier siehe Grafikkasten Seite 25 – brach im Saal nerlast. Seine Unterschrift entscheidet dar- Stimmen des von einer Großen Koalition ein wüstes Tohuwabohu aus. über, ob das Zuwanderungsgesetz, das regierten Brandenburg. Der Kanzler und der Kandidat stehen wenige Minuten vorher mit einem beispiel- Sie sollten den Ausschlag geben, hoffte nun beide als Trickser da. Die sorgfältig losen Eklat im Berliner Bundesrat be- der SPD-Kanzler. Das Problem: Dasselbe vorbereitete Machtprobe des Berliner schlossen wurde, nach jahrelanger Diskus- hofften auch die Unions-Christen um den Regierenden und seines Widersachers sion überhaupt in Kraft treten kann. Herausforderer Edmund Stoiber. war beiden Akteuren gleichermaßen ent- Der Bundespräsident als Schlichter in Konnte es da verwundern, dass sich der glitten. Statt für Deutschland entscheiden- einer zentralen politischen Frage – und das Ministerpräsident Manfred Stolpe (SPD) de Zukunftsfragen – wie viele Auslän- auch noch im Wahlkampf: Sehr viel schlim- und sein Partner Jörg Schönbohm (CDU) der verträgt das Land, wer darf rein, wer mer kann es für den Sozialdemokraten, – die beiden führenden Männer des um- muss draußen bleiben, und wie stark dessen Motto stets „Versöhnen statt spal- kämpften Bundeslandes – wie im Würge- haben die Zuwanderer sich anzupassen? – ten“ lautete, wohl kaum noch kommen. griff fühlten? Brandenburg sei „ein ge- ihrem Gewicht entsprechend zu disku- Fertigt er das Gesetz aus, wird ihn die schundenes Land“, klagte Schönbohm in tieren, führten die beiden Volksparteien Union als servilen Parteipolitiker kritisie- seiner Rede und fragte fast schon flehent- das parlamentarische Procedere ad absur- ren. Entscheidet er dagegen, verhindert er lich: „Wollen Sie auf den Trümmern dieser dum.

22 der spiegel 13/2002 Was von den Verfassungsvätern als öf- spät in die Nacht hatten sie am Vortag mit das Projekt vielleicht ganz in seine Obhut fentlicher Diskurs gedacht war, verkam ihren Parteifreunden zusammengesessen, übernehmen. zum Showgefecht von Parteitaktikern und konspiriert und vorausberechnet. Schön- Die Hilfe für Brandenburg lässt sich bedenkenlosen Drahtziehern in Sachen bohm versicherte den Parteifreunden, sei- nicht auf Euro und Cent beziffern, doch Machterhalt. Plötzlich war alles aus dem ne Ablehnung werde von ihm so laut vor- auch sie fällt nicht gerade gering aus. Blick geraten: Die mehr als sieben Millio- getragen, „dass es selbst ein Taubstummer Für mehrere Großprojekte hat Berlin nen Ausländer in Deutschland – eine Rand- hören kann“. Aber auch Kanzleramtschef Unterstützung zugesagt: den Bau des erscheinung. Der Ruf der deutschen Wirt- Frank-Walter Steinmeier hatte mit mehre- Hauptstadt-Flughafens, das Prestigeobjekt schaft nach Fachkräften aus dem Ausland ren Länderregierungen zäh um die Zu- Cargo-Lifter und die geplante Chip-Fabrik – egal. Die Nachvollziehbarkeit der Auf- stimmung gerungen. Am Freitagmittag zog in Frankfurt (Oder). Bei anderen Pro- führung für das breite Publikum – ohne er ermattet in seinem Dienstzimmer Bi- blemen werde man sich ebenfalls groß- Belang. Wie die schmutzige Schlacht auf lanz: „Was wir tun konnten, haben wir ge- zügig erweisen, bekamen Stolpes Leute die europäischen Nachbarstaaten wirkt, tan. Mehr war nicht drin.“ zu hören. ACTION PRESS (M.); MARC DARCHINGER (R.) DARCHINGER PRESS (M.); MARC ACTION MARCO-URBAN.DE Bundesratspräsident Wowereit, Koalitionäre Stolpe, Schönbohm, Parteifreunde Schily, Schröder: Wer ist das größere Alphatier? schien da niemanden mehr zu interessie- Und es wurde ja auch etwas geboten. Vergangenen Mittwoch, als sich der Ver- ren. Die Parteien begingen an ihren Rund 300 Millionen Euro, die die Länder mittlungsausschuss mit der Lkw-Maut be- Wählern einen glatten Vertrauensbruch. im Vorjahr zu viel für regionale Bahn- und schäftigte, fiel auch für die SPD/FDP-Re- Nur noch um eine Sache ging es im Bun- Busstrecken erhalten hatten, wollen Schrö- gierung in Rheinland-Pfalz noch ein biss- desrat – Sieg oder Niederlage. Die Macht- der und Co. auf sich beruhen lassen. Die chen ab – der Ausbau einer Bundesstraße frage war gestellt, so unverhüllt wie selten. Mittel für 2003 werden nochmals um rund bei Eisenberg in der Pfalz. Niedersachsens Ministerpräsident Sigmar 150 Millionen Euro aufgestockt und bis Doch weder Geld noch Zugeständnisse Gabriel sprach es offen aus: „Wer ist das 2007 stufenweise weiter steigen. Berlins Re- konnten den CDU-Mann Schönbohm um- größere Alphatier?“ gierender Bürgermeister Klaus Wowereit stimmen. Stolpes Optimismus im SPD- Der skandalträchtige Abschluss des letz- holte sich die Zusage ab, der Bund werde Kreis („Lasst mich mal machen“) erwies ten politischen Großprojekts von Rot-Grün sich bei der teuren Renovierung der Mu- sich als unbegründet. Der Eklat auf offener – er markiert den Beginn eines Wahl- seumsinsel noch stärker engagieren – und Bühne, das Horrorszenario (oder, so Stol- kampfes, der hart, schmutzig und verlo- pe, die „kabarettreife Nummer“) rück- gen zu werden droht. Stoiber, der „ernste te immer näher. Kandidat für ernste Zeiten“ (Wahl- Denn in der CDU war das Drehbuch kampfmanager Michael Spreng), beklagte für die Aufführung mit dem Titel „Ver- mit bitterer Miene, dass die Zeiten ange- fassungsbruch“ zu dieser Zeit schon ge- sichts der „offensichtlichen Verfassungs- schrieben. Unter großem Applaus dank- krise“ nun noch etwas ernster seien. te Stoiber dem brandenburgischen In- „Absurd“, konterte der Kanzler, und der nenminister Donnerstagnacht für seine rheinland-pfälzische Regierungschef Kurt Standfestigkeit. Wenn der amtieren- Beck (SPD), der für seine eher moderaten de Bundesratspräsident Brandenburgs Einschätzungen bekannt ist, empfahl den Stimmen trotz Schönbohms Nein für Kontrahenten, sich abzuregen: „Das ist al- gültig erkläre – und damit das Gesetz les total korrekt gelaufen.“ beschlossen sei –, müsse die Union eben

Ihres Triumphes sicher waren die Minis- WERNER SCHUERING beim Bundesverfassungsgericht klagen. terpräsidenten der SPD wie der Union am Sozialdemokrat Rau Auch Stolpe und Schönbohm kalku- Freitagmorgen in den Bundesrat geeilt. Bis Der Schwarze Peter liegt beim Präsidenten lierten am Freitagmorgen ihren „Koali-

der spiegel 13/2002 23 Deutschland „Der durfte das“ Der Frankfurter Staatsrechtler Erhard Denninger über die Abstimmung im Bundesrat

SPIEGEL: Herr Professor Denninger, hat gan des Landes Brandenburg. Da hat die Möglichkeit geben, die Sache mit das Zuwanderungsgesetz im Bundes- sozusagen das Land seine Stimme er- einer erneuten Stimmabgabe zu ihren rat am Freitag eine Mehrheit gefunden? hoben. Gunsten zu wenden. Denninger: Ja. SPIEGEL: Und wenn das Land sich so Denninger: Das ist sicher ein schwacher SPIEGEL: Wie kann denn so ein Schmie- über ein Gesetz zerstreitet, dass es gar Punkt der Sache. Ich bin aber der Mei- rentheater, wie es Brandenburg dem nicht reden kann? nung, dass er das durfte, weil ein Bun- Bundesrat geliefert hat, als verfas- Denninger: Das Land streitet sich nicht. desratspräsident für ein Verfahren zu sungsrechtlich einwandfrei anerkannt Brandenburg hat eine Verfassung, in sorgen hat, das die verfassungsmäßi- werden? der steht, wer Streitfragen zu ent- gen Beteiligungsrechte der Länder an- Denninger: Es kommt im Bundesrat al- scheiden und die Entscheidung nach gemessen zur Geltung bringt. Also lein darauf an, ob die Stimmabgabe ei- außen zu vertreten hat. Das ist der musste er erforschen, was bei diesem nes Landes formal wirksam war – egal, Ministerpräsident. Und der hat Ja ge- verwirrenden Vorgang wirklich gelten wie sie zu Stande gekommen ist. sagt. sollte. SPIEGEL: Für eine formale Wirksamkeit SPIEGEL: Ist es denn verfassungsrecht- SPIEGEL: Es besteht doch eher der Ein- verlangt das Grundgesetz in Artikel 51, lich vollkommen unbeachtlich, wenn druck, dass der Ratspräsident in das die Stimmabgabe müsse „ein- abgekartete Spiel seiner Ge- heitlich“ sein. Brandenburg nossen eingeweiht war. sagte erst Ja, dann Nein, dann Denninger: Ich gebe zu, der noch mal Ja. Eindruck ist verheerend. Aber Denninger: Die Frage ist, auf wir sind hier nicht mehr im wessen Äußerung es ankom- Mittelalter, als die Juristen men soll. Auf die Nachfrage ihre Opfer am einmal gespro- des Bundesratspräsidenten chenen Wort erbarmungslos hat Manfred Stolpe klar „Ja“ festgehalten haben, selbst an gesagt. Er hat als Minister- Versprechern. Es ist schon er- präsident für Brandenburg laubt, zu prüfen, ob Nein gesprochen und damit klar wirklich Nein bedeuten soll. gemacht, dass dies die ver- SPIEGEL: Wowereit durfte nach- bindliche Stimmabgabe für fragen, er musste aber nicht: sein Land ist. Das kann doch unter Juristen SPIEGEL: Aber wenn ein Mi- so nicht stehen bleiben. nisterpräsident sich so einfach Denninger: Unbefriedigend ist

über Koalitionsverträge hin- FOCUS / AGENTUR A. BÖTTCHER das sicher, aber die Verfah- wegsetzen kann, hätten in Jurist Denninger: „Das Land hat seine Stimme erhoben“ rensleitung einem Vorsitzen- den vergangenen Jahrzehn- den anzuvertrauen, ist alle- ten viele Bundesratsentscheidungen ein Ministerpräsident seine Befugnisse mal besser, als dem Recht zu geben, völlig anders ausgesehen. missbraucht, um seinen Parteifreunden der am lautesten schreien kann. Stellen Denninger: Das Grundgesetz teilt dem einen Gefallen zu tun? Sie sich vor, Stolpe hätte gar nicht auf Bundesrat eine Rolle als reine Länder- Denninger: Das müssen die in Branden- die Rückfrage gewartet, sondern ein- kammer zu. Parteipolitische Meinungs- burg unter sich ausmachen. Der Bun- fach losgebrüllt: Jajajaja. Dann hätten verschiedenheiten sollen da ganz ge- desrat kennt keine Parteien. Sie das Problem auch gehabt. zielt ausgeblendet werden. Koalitionen SPIEGEL: Wieso konnte Herr Stolpe SPIEGEL: Kann es also wirklich ohne und ihre Vereinbarungen sind etwas, überhaupt zu Wort kommen? Nachdem verfassungsrechtliche Sanktionen blei- was im Bundestag Gewicht bekommt – Arbeitsminister Alwin Ziel Ja und Jörg ben, wenn ein Land demokratische der Bundesrat kennt keine Parteien, Schönbohm Nein gesagt hatten, wäre es Bräuche und Entscheidungsverfahren der kennt nur Länder. doch am Bundesratspräsidenten Klaus derart missachtet? SPIEGEL: Man kann ja nun nicht so tun, Wowereit gewesen, festzustellen, dass Denninger: Der Bundespräsident und als ob im Bundesrat keine Politik ge- das Land Brandenburg keine vom das Bundesverfassungsgericht werden macht würde. Grundgesetz verlangte einheitliche sich ja aller Voraussicht nach damit be- Denninger: Streng genommen, sitzen da Stimme abgegeben hat. schäftigen müssen. Sicher ist: Man soll- keine Politiker, sondern Länderorgane Denninger: Richtig. Wowereit hat statt- te das so nicht machen, wie die das ge- oder deren Vertreter. Und deren Poli- dessen nachgefragt und damit Stolpe macht haben. Es ist schrecklich. tik ist vom föderalistischen Staat, nicht Gelegenheit gegeben, die Sache ver- SPIEGEL: Schrecklich, aber nicht verfas- von der Parteiendemokratie geprägt. fahrensmäßig in Ordnung zu bringen. sungswidrig? Deshalb hat Herr Stolpe seine Stimme Das hätte er nicht gemusst. Denninger: Nicht alle Katastrophen auch nicht als Leiter einer Koalitions- SPIEGEL: Die Frage ist doch, ob Wowe- verstoßen auch gegen das Grundge- regierung abgegeben, sondern als Or- reit das durfte – seinen Parteifreunden setz. Interview: Thomas Darnstädt

24 der spiegel 13/2002 tionsbruch“ genauestens durch. Der Mini- ten die Meinung vertreten, eine gesplitte- bohm per Handy zu seinem Sieg. „Histo- sterpräsident drohte seinem Ressortleiter te Stimmabgabe müsse als ungültig gewer- risch“ nannte sie diesen Tag. Inneres mit Entlassung, wenn der zweimal tet werden. Im Zeuthener Seehotel („Tagen, Ent- Nein sage: „Herr Kollege, dann müssen So fiel der Startschuss für den Bun- spannen, Genießen“) erwartete den Ex- wir uns heute hier trennen.“ Eine doppel- destagswahlkampf, den vor allem der General Schönbohm abermals tosender te Verneinung, so Stolpe, wäre den Bür- hessische Ministerpräsident Roland Koch Beifall. Stolpe habe den Koalitionsvertrag gern nicht zu vermitteln. einläutete: „Das ist unglaublich, das ist gebrochen, schnarrte er dort – aber im In- Deshalb sagte Schönbohm nur beim glatter Rechtsbruch“, brüllte er: „Herr teresse des Landes gehe es jetzt darum, ersten Mal Nein – was nun aber den Präsident, Sie manipulieren hier eine Ab- dieses außerordentliche Bündnis am Le- Bundesratspräsidenten Wowereit ver- stimmung.“ ben zu erhalten. wirrte. „Ich stelle fest, dass das Land Nachdem Thüringens Regierungschef Auch der Brandenburger Regierungs- Brandenburg nicht einheitlich abgestimmt Bernhard Vogel eine Unterbrechung der chef hatte zur selben Zeit zum inneren hat“, sagte Wowereit und fragte zur Sitzung beantragt hatte, versammelten sich Gleichgewicht zurückgefunden. Er habe Verwirrung im Bundesrat Der Schriftführer ruft nacheinander in alpha- betischer Reihenfolge die Länder Baden- Württemberg, Bayern und Berlin auf, die darauf ihr Stimmverhalten bekannt geben. Schriftführer: „Brandenburg?“ Brandenburgs Arbeitsminister Alwin Ziel (SPD): „Ja.“ Brandenburgs Innenminister Jörg Schönbohm (CDU): „Nein.“ Wowereit: „Damit stelle ich fest, dass das Land Brandenburg nicht einheitlich abge- stimmt hat. Ich verweise auf Artikel 51, Absatz 3, Satz 2 Grundgesetz. Danach können Stimmen eines Landes nur einheit- lich abgegeben werden. Ich frage Herrn Ministerpräsident Stolpe, wie das Land Brandenburg abstimmt.“ Ministerpräsident Manfred Stolpe (SPD): „Als Ministerpräsident des Landes Brandenburg erkläre ich somit: Ja.“ Schönbohm: „Sie kennen meine Auffassung, Herr Präsident.“ Wowereit: „Damit stelle ich fest, dass das Land Brandenburg mit Ja abgestimmt hat.“ Tumulte und Zwischenrufe. MARCO-URBAN.DE Unionsministerpräsidenten*: „Das ist glatter Rechtsbruch“

Klärung Stolpe, der bislang geschwiegen die Unionsleute im Konferenzraum 2051, das Zuwanderungsgesetz und die Koali- hatte. „Als Ministerpräsident des Landes wo sie Schönbohm offen applaudierten. tion in Potsdam gewollt, erklärte er im Brandenburg erkläre ich somit: Ja“, sagte Wenig später tauchte vor dem Bundesrats- SPD-Landesvorstand – und wenn es denn Stolpe – und Schönbohm schob ungefragt gebäude ein Trupp Aktivisten der Jungen nötig sei, werde er im sogar die an die Adresse von Wowereit hinterher: Union auf. Der brachte verdächtig schnell Vertrauensfrage stellen, um der „erfolgrei- „Sie kennen meine Auffassung, Herr Prä- gefertigte Handzettel – Aufschrift: „Verfas- chen Koalition“ willen. sident.“ sungsbruch“ – mit. Im Siegestaumel ging eine Blitzumfrage Das war die Formulierung, mit der er Nun liegt der Schwarze Peter beim Bun- des Forsa-Instituts nach der Abstimmung offenbar glaubte, beiden Herren gedient despräsidenten. Erst anschließend, so das im Bundesrat beinahe unter. 77 Prozent zu haben – Stolpe und Stoiber. Kalkül der Union, will sie die Abstimmung der Befragten erklärten, Regierung und Wowereit gab sich danach mit dem gegebenenfalls in Karlsruhe anfechten – Opposition gehe es bei ihrem abenteuer- merkwürdigen Stimmverhalten der Bran- oder aber eine Normenkontrollklage ge- lichen Poker keineswegs um die Sache, denburger – Ja, Nein, Ja – zufrieden und gen das gesamte Gesetz einreichen. sondern ausschließlich um wahltaktische zog eine Schlussfolgerung, die möglicher- Die Chancen auf einen Erfolg der Union Manöver. weise vom obersten deutschen Gericht auf in Karlsruhe stünden „sehr gut“, meint Viele, darunter auch die am Freitag mit ihre Richtigkeit überprüft werden muss: der ehemalige Verfassungsgerichtspräsi- einer Trauerfeier geehrte Gräfin Dönhoff, „Damit stelle ich fest, dass das Land Bran- dent Ernst Benda (CDU). Andere Juristen hatten gehofft, das Zuwanderungsgesetz denburg mit Ja abgestimmt hat.“ sind geneigt, ihm zu widersprechen (siehe würde ein „Test auf die Zukunftsfähigkeit Dabei hatte er noch zwei Tage zuvor auf Denninger-Interview). des Landes“ („Die Zeit“) werden. Er wur- einem Treffen der Ost-Ministerpräsiden Doch für derlei juristische Feinheiten de nicht bestanden. Stefan Berg, mochte sich Angela Merkel wenige Stun- Ulrich Deupmann, Matthias Geyer, Dietmar Hipp, Michael Kloth, den nach dem angeblichen Schock über * Peter Müller, Erwin Teufel, Edmund Stoiber, Roland Horand Knaup, Koch, Bernhard Vogel nach ihrem Auszug aus dem Bun- die „Verfassungskrise“ noch nicht interes- Sven Röbel, Hans Ulrich Schäfer, desrat vor der Presse. sieren. Die CDU-Chefin gratulierte Schön- Christoph Schult

der spiegel 13/2002 25 MARC DARCHINGER MARC Koalitionspartner Fischer, Schröder*: Das gegenseitige Vertrauen hat sich verflüchtigt

EUROPA Koch gegen Kellner Der Wahlkampf hat begonnen – nun auch innerhalb der Koalition. Beim Werben um die politische Mitte will der SPD-Kanzler allein marschieren. Um sich von den Grünen abzusetzen, zettelt Schröder einen Streit mit dem eigenen Außenminister an: Wem gehört Europa?

ch hoffe“, verkündete Joschka Fischer politik war, sei heute eben „europäische gesagten. Er schwieg und blieb auch an den im Frühjahr 1999 mit der Forschheit des Innenpolitik“. darauf folgenden Tagen bei der selbst ver- INeulings, „das Amt des Außenministers Und die gehört, nach seiner Meinung, ordneten Gelassenheit: kein böses Wort, in Zukunft überflüssig zu machen.“ Und die er so konkret dem Parlament allerdings keine unfreundliche Geste. der Vizekanzler versprach: „Daran werde noch nicht mitteilen mochte, natürlich ins Doch intern herrscht im Fischer-Lager ich arbeiten.“ Machtzentrum – als Koordinierungsstelle Verärgerung und vor allem tiefes Unver- Aus der Pose ist Politik geworden – nur im Kanzleramt, geleitet von einem neu zu ständnis über einen Kanzler, der keine anders als geplant. Dass seine Entmach- ernennenden Staatsminister. Die außen- Freunde mehr zu kennen scheint, sondern tung vom eigenen Regierungschef betrie- politischen Berater Schröders brüten der- offenbar entschlossen ist, allein in die ben würde und die Zuständigkeit nicht auf zeit über den Details, die auf dem nächsten Wahlschlacht zu ziehen. Warum Schröder einen europäischen Außenminister, son- Treffen der EU-Regierungschefs im Juni seinen ganzen Unmut über die miserablen dern auf das deutsche Kanzleramt überge- für Aufsehen sorgen werden. Umfrageergebnisse und den Kölner Kor- hen könnte, hätte Fischer nie für möglich Denn würden des Kanzlers kühne Eu- ruptionssumpf nun ausgerechnet am Ko- gehalten. Und nun das. ropa-Ideen tatsächlich Realität, wäre alitionspartner austobt, will den Grünen Einen eigenen Europa-Minister wünscht Fischer nur noch ein Außenminister en mi- nicht einleuchten. sich ausgerechnet Fischers Vorgesetzter, niature – zuständig für Fernreisen und Schließlich ist es erst zehn Monate her, Kanzler Gerhard Schröder. So teilte er es Exotik. Den harten Interessenpoker mit dass Schröder selbst dafür sorgte, einen Pas- am Donnerstag vergangener Woche dem Franzosen, Briten, Italienern würden an- sus aus dem Leitantrag zum SPD-Parteitag Bundestag in einer Regierungserklärung dere betreiben. Und Schröder hätte sich zu streichen, der einen eigenen Europa-Mi- mit. Vieles, was früher klassische Außen- selbst zum Überkanzler befördert. nister forderte. Damit, so der SPD-Chef im Mit unbewegter Miene lauschte der Vize Kreis der Genossen, würde der Partner be- * Am vergangenen Donnerstag im Deutschen Bundestag. im Bundestag dem Gesagten wie dem Un- schädigt – und die Versammelten nickten.

26 der spiegel 13/2002 Deutschland

Auch die Parteistrategen beider Seiten Jobs bangen, als entschlossener Verfech- Der Kanzler pochte auf Führung, der hatten sich, so schien es, auf einen Koali- ter nationaler Interessen präsentieren. Für selbstbewusste Außenminister meldete tionswahlkampf eingestellt. Finanziert im staatsmännische Zurückhaltung im Inter- Widerspruch an – und immer ging es um Wesentlichen von der SPD, wurden erst esse der europäischen Einigung, wie sie Europa. im Januar in großformatigen Anzeigen der Fischer symbolisiert, ist einstweilen kein Zuletzt hatte der Knatsch sogar das Ka- Kanzler und sein Vize gemeinsam gezeigt. Platz. binett erreicht. Unverhohlen wurde da Darunter der Werbespruch: „Verantwor- So glaubt der Kanzler am ehesten die über den blauen Brief gestritten, den die tung und Vertrauen. Politik für unser Wahlkampfpläne der Konservativen durch- EU-Kommission den Deutschen für ihre Land.“ kreuzen zu können. Denn Europa-Skepsis Schuldenpolitik schicken wollte. Fischer Nun hat sich das Vertrauen verflüchtigt und die Betonung deutscher Interessen plädierte vor den Ohren der anderen Mi- – zumindest das gegenseitige. Die Achse gehörten seit jeher zum Lieblingsrepertoire nister dafür, die kleine Ermahnung zu ak- Schröder/Fischer erhielt eine Unwucht, die des Kanzlerkandidaten der Union, CSU- zeptieren, Schröder setzte auf beinhartes womöglich nur schwer zu korrigieren sein Chef Edmund Stoiber. Lobbying. wird. Schröders Attacke zielt aber nicht nur Er will nicht länger hinnehmen, dass die Der Kanzler, daran lässt sich nicht deu- auf Fischer, sondern auf die Grünen ins- Deutschen nur zahlen und wenig fordern teln, hat seinen Stellvertreter brüskiert. gesamt. Er will als Kanzler für alle wahr- dürfen. Für ihn ist eine härtere Gangart in Ausgerechnet jenen Joschka Fischer, der genommen werden – das rot-grüne Etikett Brüssel Teil des neuen Selbstbewusstseins, sich nach dem Abgang von Oskar Lafon- scheint ihm bei der Suche nach Mehrhei- das er schon oft reklamierte und das er taine dem Regierungschef zunächst zöger- ten eher hinderlich. nun versucht in klingende Münze zu ver- wandeln. Es gilt Schröders Wort vom „Ende der Belast- barkeit“. Denn immer stärker wird auch für den Regierungschef spürbar, dass Europa die deut- schen Entscheidungen – und damit vor allem seine – massiv beeinflusst. Vertreter von Wirtschaftsverbänden rechnen vor, jede zweite wirtschaftlich relevante Gesetzesinitiative habe einen europäischen Ur- sprung Kein Wunder also, dass Schröder allein in den vergan- genen Monaten die Brüsseler Bürokratie unablässig mit Ein- sprüchen nervte. Der Berli- ner Regierungschef hat sein Verhältnis zur EU-Bürokratie erkennbar neu sortiert: For- sches Auftreten statt Zurück- haltung, fordern statt geben – die deutsche Haushaltslage und die Interessen der einhei-

MARC-STEFFEN UNGER MARC-STEFFEN mischen Unternehmen sind Europäische Staats- und Regierungschefs*: Schröder hat sein Verhältnis zur EU neu sortiert zum Maßstab seines Handelns geworden. lich annäherte, ihm dann aber mit einer Nach dem Wahltag möchte er schließlich • In letzter Minute stoppte Schröder die für Berufspolitiker fast ungewöhnlichen für alle möglichen Konstellationen offen Übernahmerichtlinie der EU-Kommis- Loyalität diente. sein. Immerhin ist die Fortsetzung des bis- sion, weil Konzernchefs ihm klar ge- Eine „Ohrfeige“ habe der Vize von sei- herigen Bündnisses, das ohnehin nie seine macht hatten, dass deutsche Unterneh- nem Chef verabreicht bekommen, höhnte Lieblingspaarung war, mehr als fraglich. men von der ausländischen Konkurrenz denn auch ein Unionsredner im Bundestag. Er könnte ebenso gut mit der FDP oder – geschluckt und dann Standorte ge- Karikaturen zeigten einen griesgrämig wenn es sein muss – mit der Union regie- schlossen werden könnten. Damit wäre dreinschauenden Grünen, dem Schröder ren. Rot-Grün: nicht mehr als eine Option auch das „VW-Gesetz“ gekippt worden, die Hosenbeine stutzte, und die Über- von vielen. das die Wolfsburger mit seinem garan- schriften der Kommentare lesen sich ver- Aber nicht nur deshalb bekommt der tierten staatlichen Vetorecht vor Über- heerend: „Europa ohne Fischer?“, fragte Außenminister die Quittung. Dass einer nahmegelüsten, zum Beispiel des Ford- der Berliner „Tagesspiegel“, die „Welt“ wie er, der nur maximal acht Prozent der Konzerns, schützt. meldete hämisch: „Viel Schröder, wenig Wähler hinter seiner Partei versammelt, • Lautstark zieht der Kanzler intern gegen Fischer.“ der beliebteste Politiker im Lande ist, die skandinavischen Politiker zu Felde, Sechs Monate vor der Wahl trennen sich schmerzt den Kanzler. Ihm missfalle „die die in Brüssel strengste Umweltstandards die Wege des rot-grünen Führungsduos – Reihenfolge“, hatte er schon vor dem letz- für die Chemiebranche durchsetzen wol- jedenfalls bis zum 22. September. Schröder ten Urnengang in schöner Offenheit ge- len. will sich den Arbeitnehmern, die um ihre knarzt: „Der Größere ist der Koch, der • Auch im Konflikt um die öffentlich-recht- Kleinere der Kellner.“ lichen Banken, denen die Kommission * Beim EU-Gipfel am 15. März in Barcelona mit dem spa- Und auch in jüngster Zeit gerieten Fi- seit längerem schon das Leben schwer nischen Königspaar. scher und Schröder häufiger aneinander. macht, schlug sich Schröder auf die Sei-

der spiegel 13/2002 27 Deutschland

bereitete der Bundeskanzler seinen An- griff auf den Partner vor. Beim traditio- nellen Kamingespräch erzählte er den Journalisten – scheinbar beiläufig –, dass er sich eine deutsche Interessenvertretung auf dem Kontinent etwas lautstärker und hand- fester vorstelle. Diplomaten seien da nicht so geeignet. Mit seinem „Freund Fischer“ werde er nach der Wahl wohl darüber spre- chen müssen. Der Außenminister las dann in der Zeitung, was Vertraute ihm schon vorher berichtet hatten: „Schröder macht Fischer die Europa-Politik streitig“, verkündete die „FAZ“ am vergangenen Dienstag. Beim abendlichen Vier-Augen-Gespräch dann ein vergeblicher Klärungsversuch: Der Kanzler beharrte auf seiner Idee, sein Vize hielt dagegen und kündigte an, dass mit ihm weder vor noch nach der Bundes- tagswahl eine solche Beschneidung seiner Funktion zu machen sei. Er habe, so der Außenminister später gegenüber einem Quelle: DER TAGESAPIEGEL Kabinettsmitglied, eine „deutliche Ansa- ge“ gemacht: Bleibe Schröder stur, werde te der Sparkassen. Der Staat soll weiter ropa? Alle Regierungschefs verstanden die er, Fischer, dem nächsten rot-grünen Ka- in begrenztem Umfang für die Kredit- Brisanz dieser Frage – und schickten ihre binett nicht mehr angehören. institute bürgen und ihnen am Finanz- Außenminister, die bis dahin an der Sit- Für Joschka Fischer ist Europa nämlich markt Bonitätsvorteile verschaffen. zung teilgenommen hatten, kurzerhand vor mehr als nur irgendeine Teilzuständigkeit Bei seinem Europa-Einsatz bemerkte die Tür. seines Ministeriums – es ist sein eigentli- der Bundeskanzler allerdings, dass die Im fensterlosen Sitzungssaal im Souter- ches Thema. Spätestens seit seiner pro- Häufung der Konflikte zwischen Berlin und rain des Kongresszentrums berieten dann grammatischen Europa-Rede in der Berli- Brüssel nicht nur mit den angeblich selbst- Schröder, Jospin, Blair und Co. über die ner Humboldt-Universität im Mai 2000 hat herrlichen EU-Kommissaren zusammen- künftige Jobbeschreibung ihrer Außenmi- er deutlich gemacht, dass er hier seinen hängt. Das hausgemachte Durcheinander nister. Schnell war man sich einig, eigene Schwerpunkt zu setzen gedenkt. Europa, in der Europa-Politik ist auch darüber hin- Europa-Minister mit einer eigenen Europa- so Fischer damals, „bedarf einer visionären aus beträchtlich. Konferenz zu berufen. Das Zusammen- Kraft und pragmatischen Durchsetzungs- Die Kompetenzen sind auf viele Minis- wachsen zwischen den Ländern sei viel zu kraft“. Der Außenminister schlug unter an- terien – Außen, Finanzen, Wirtschaft – ver- wichtig, um es nebenbei zu behandeln. derem die Direktwahl eines europäischen teilt, wo man sich um die für Schröder Ein eigener Rat der Europa-Minister Präsidenten mit weitgehenden exekutiven wichtigen Anliegen eher nebenher zu küm- könnte künftig die Hauptarbeit leisten und Befugnissen vor. mern scheint. Die Klage, Berlin verfüge in Ideen produzieren, Kompromisse aushan- Im politischen Tagesgeschäft plädiert brenzligen EU-Angelegenheiten über kein deln oder Bündnisse schmieden. Die Re- der Grüne eher für Konfliktvermeidung „Frühwarnsystem“, ist inzwischen längst gierungschefs bräuchten dann nur noch zu mit den EU-Partnern, um die weitere von allen Seiten zu hören. entscheiden. Das Wichtige würde endlich Einigung nicht zu gefährden. Das Ein- Auch Joschka Fischer sieht die Zersplit- vom Unwichtigen getrennt. treten für nationale Interessen darf sei- terung und wirbt intern für Reformen – Während Fischer beim Rückflug zum ner Meinung nach nicht zu einer betriebs- doch nicht zu seinen Lasten. Einen Staats- Grünen-Parteitag nach Berlin in den Sitzen wirtschaftlichen Verengung der Europa- minister für Europa-Fragen kann er sich der Luftwaffen-Challenger schlummerte, Politik führen. gut vorstellen, aber, bitte schön, Seine Partei hat sich fürs Erste nur im eigenen Hause. entschlossen, den Attacken des Schröder geht es dagegen we- Kanzlers mit Geduld zu begegnen. niger um die Sache als ums Sym- Als wäre nichts gewesen, trat Fi- bol. Die Attacke auf den Junior- scher am vergangenen Donners- partner war kühl kalkuliert, und tag im Parlament nach Schröder die Sitzung mit den Regierungs- an die Mikrofone und verteidigte chefs der 15 Mitgliedsstaaten der mit Verve dessen Wirtschaftspoli- EU am vorvergangenen Wochen- tik. Er habe, hieß es später in den ende in Barcelona bot ihm eine Zeitungen, eine „sozialdemokra- willkommene Chance. tische Rede gehalten“. Denn Javier Solana, der Hohe Den Kern des Konflikts möch- Beauftragte für die Außenpolitik te der Außenminister einstweilen der Europäischen Union, brachte „nicht zu einer Prestigefrage“ das Thema einer besseren Koor- machen. Sein Friedensangebot an dinierung von ganz allein auf die den Kanzler: „Am besten, wir Tagesordnung: Wem gehört Eu- entscheiden nach der Wahl und dann entlang der Sache.“

THOMAS KOEHLER / PHALANX KOEHLER THOMAS Ralf Beste, Ulrich Deupmann, * Im Gespräch mit Journalisten an Bord ei- Gabor Steingart nes Luftwaffen-Airbus im Oktober 2001. Reisender Fischer*: Bald nur noch zuständig für Exotik?

28 der spiegel 13/2002 Werbeseite

Werbeseite Umfrage

Joschka Fischer Gerhard Hoffnung für Schröder

Angela Edmund Merkel Stoiber Koalition Renate Guido Heide Wolfgang Künast Simonis Westerwelle Holzmann-Pleite, Spen- Schäuble densumpf und mise- rable Wirtschaftsdaten – schlechte Zeiten für Kanzler Gerhard Schrö- 76 der und seine Mann- schaft. Also gute für die Opposition? Soll- 69 te man meinen. Das Wahlvolk sieht das differenzierter, wie die aktuelle März-Umfrage von NFO 58 57 Infratest im Auftrag des SPIEGEL zeigt. 54 Zwar ist die Zufriedenheit mit der Ar- 52 51 beit der Regierung gegenüber Februar 49 weiter gesunken – um 4 Punkte auf nun- mehr 24 Prozent; doch weder die Oppo- sition noch das sie führende Personal kann davon profitieren. Im Gegenteil, die Koalition kann etwas Hoffnung schöpfen. „Wichtige Rolle“ seltener gewünscht als in der Bei der Frage, wer künftig eine „wich- Februar-Umfrage tige Rolle“ spielen sollte, verlieren CSU- Kanzlerkandidat Edmund Stoiber und CDU-Chefin Angela Merkel kräftig: Stoi- –8 –6 –5 ber sinkt um 6 Punkte auf derzeit 54 Pro- +4 zent, Merkel gibt sogar 8 Punkte ab und „Dieser Politiker liegt jetzt bei 58 Prozent. ist mir unbekannt“ 11 20 6 Danach kommt lange nichts: Außen- minister Joschka Fischer (76 Prozent) und Veränderungen bis zu 3 Prozent liegen im Zufallsbereich, sie werden deshalb nicht ausgewiesen. Kanzler Schröder (69 Prozent) verteidi- gen ihren kommoden Vorsprung. Stoiber leidet vor allem schwer im Osten, wo er Sonntagsfrage doch so gern punkten würde: Nur noch „Welche Partei würden Sie wählen, wenn 45 Prozent der Wahlberechtigten in den neuen Ländern wünschen, dass der Bayer am nächsten Sonntag Bundestagswahl wäre?“ künftig eine wichtige Rolle spielt – satte 12 Prozent weniger als noch im Februar. 1999 2000 2001 2002 Die PDS hat inzwischen die Grünen als Wackelkandidat an der Fünfprozent- Bundes- Umfrage hürde abgelöst. Fischers Freunde verbes- tagswahl 45% 18. bis 21. serten sich um 2 Punkte auf 8 Prozent September 1998 März 2002 und liegen damit knapp hinter der FDP. Eine Regierungsbildung wäre gegenwär- 40,9 tig ziemlich schwierig: Union und Libe- 40 % 40 rale kämen zwar gemeinsam auf 49 Pro- 40 zent, dagegen stünde aber eine mächtige Opposition mit 48 Prozent. SPD-Sympathisanten scheinen schon 35,1 35% über eine Alternative nachzudenken: In 35 ihrer Gunst sanken sämtliche Unions- strategen deutlich – bis auf einen: Wolf- gang Schäuble. Von ihm hoffen immerhin 30% 53 Prozent der SPD-Anhänger eine wich- tige Rolle – 5 Prozent mehr als noch im 10% Februar. Gleichzeitig setzen auch 72 Pro- 6,7 9 zent der Unionswähler auf Schäuble. 6,2 8 Leises Comeback des früheren CDU- 5,1 5 Vorsitzenden und ein halbes Jahr vor der 5% Bundestagswahl immerhin ein Denkmo- dell: eine Große Koalition unter Wolf- NFO infratest; bis August 2001 Infratest dimap für ARD/„Bericht aus Berlin“ gang Schäuble? Hans-Ulrich Stoldt

30 der spiegel 13/2002 Opposition verliert Infratest nannte die Namen von 20 Spitzenpolitikern. Der Anteil der Befragten, die es gern sähen, wenn der jeweilige Politiker künftig „eine wichtige Rolle spielen“ würde, und die Veränderungen zur letzten Infratest-Umfrage im Februar 2002.

Hans Otto Alle Angaben in Prozent Eichel Schily Manfred Klaus Stolpe Wowereit

Gregor Walter Friedrich Gysi Riester Merz Jürgen Jürgen Möllemann Trittin

Rudolf Ulla Scharping Schmidt Ronald Schill

48 48 44 43 38 36 33 31 31 „Wichtige Rolle“ häufiger gewünscht als in der Februar-Umfrage 22 22 +4 14

10 7 13 19 7 9 23 7 7 42 28

NFO-Infratest-Umfrage für den SPIEGEL vom 18. bis 21. März 2002; rund 1000 Befragte.

Stoiber enttäuscht Grüne Evolution Müllklüngel und Spendensumpf „Sind Sie zufrieden mit „Die Grünen wollen Gewalt als letztes „Hat der SPD-Korruptionsskandal der politischen Arbeit ... Mittel der Politik nicht mehr kategorisch inzwischen ein Ausmaß ausschließen.“ erreicht, dass man ihn . . . von Kanzler Veränderung mit der CDU-Spenden- Gerhard im Vergleich Lehne diese affäre auf eine gleiche Schröder?“ zum Vormonat Entwicklung ab 43 Stufe setzen könnte?“ JA 50% 0 Begrüße . . . der Bundesregierung?“ diese Haltung 53 JA 24% –4 NEIN 41% Schonfrist für Saddam . . .des CSU-Vorsitzenden Edmund Stoiber?“ „Wäre ein militärisches JA 52% Eingreifen gegen den Irak richtig, wenn sich die Ja-Antworten der Anhänger JA 38% –4 Machthaber in Bagdad auch SPD 35 künftig weigern sollten, Waf- CDU/CSU 69 . . . der CDU/CSU-Opposition?“ fen-Inspektoren der Vereinten Nationen ins Land zu lassen?“ B’90/Grüne 37 JA 31% –1 FDP 66 27JA NEIN 66 An 100 fehlende Prozent: „weiß nicht“/keine Angabe PDS 46

der spiegel 13/2002 31 Deutschland

Ein Fall von Eigenmacht also, dass von den drei Raketen, die am Rande eines Ka- UNFÄLLE buler Wohngebiets entdeckt worden wa- ren, nur eine an Ort und Stelle in die Luft gejagt wurde. Zwei weitere Raketen si- Schläge auf den Sprengkopf cherten die Bombenentschärfer dagegen nur und transportierten sie zum zentralen Nach einer Pannenserie mit Todesfolge ermitteln nun die Sprengplatz, zwei Kilometer vom deut- schen Camp entfernt. Dort hätten die Staatsanwälte bei der Bundeswehr. Der Verdacht: Leichtsinn und Männer die Flugkörper dann endgültig Disziplinlosigkeit haben zwölf Menschenleben gekostet. unschädlich machen sollen, indem sie die explosiven Teile ausgebaut und beseitigt ann immer sich die Bundeswehr drigkeit und Disziplinlosigkeit sind offen- hätten. Die wieder zusammengefügte in den vergangenen Wochen zu bar in Teilen der Truppe so sehr Alltag, Rakete, so hingegen die Verabredung, woll- Wden Ursachen der tödlichen Pan- dass Staatsanwälte in Hamburg, Lüneburg ten die Sprengstoff-Männer als „Ausbil- nenserie in ihren Reihen äußerte, bemüh- und Oldenburg auch prüfen werden, wie es dungsmuster“ in die Heimat schicken: eine ten die Befehlshaber zur Erklärung höhe- um Befehl, Gehorsam und die Dienstauf- nach Dänemark und eine ins niedersäch- re Mächte. sicht in der Bundeswehr bestellt ist. sische Munster. Nachdem fünf Soldaten beim Entschär- Die Untersuchungskommission für den Dieser Plan widerspricht den Vorschrif- fen einer russischen SA-3-Flugabwehrrake- Raketenunfall von Kabul kam denn auch ten des Herstellers in der vormaligen So- te in Kabul ums Leben gekommen waren, nur wenige Tage nach der Katastrophe zu wjetunion, die explizit und in deutscher versicherte Generalinspekteur Harald Ku- ganz anderen Ergebnissen, als Kujat und Sprache vorschreiben, dass ein aufgefun- jat, seine Männer seien „hervorragend aus- Verteidigungsminister dener Gefechtskopf komplett gesprengt gebildet“ nach Afghanistan gefahren und der Öffentlichkeit in ersten Verlautbarun- werden muss. Zudem bleibt es ein Rätsel, dort „sauber, ordentlich und professionell“ gen präsentiert hatten. Das Verhalten aller warum ausgerechnet die Afghanistan-Tro- vorgegangen. Die ganze Geschichte sei Beteiligten aus Deutschland, Dänemark phäe der Ausbildung dienen sollte. Schließ- eben „ein sehr tragischer Unfall“. und Großbritannien, heißt es in dem Be- lich hatte die Bundeswehr nach 1990 bereits Der Crash eines Rettungshubschraubers richt der deutsch-dänischen Gutachter 700 Raketen dieses Typs aus NVA-Bestän- der Bundeswehr in Hamburg-Hummels- („Verschlusssache – nur für den Dienstge- den bei einer Spezialfirma im branden- büttel in der vorvergangenen Woche, bei brauch“), habe nicht den Sicherheitsvor- burgischen Pinnow zerlegen lassen. Mus- dem fünf Menschen starben, sah zunächst schriften entsprochen. Soldaten hätten ge- terstücke gab es also genug. aus wie ein Sturz aus heite- gen so ziemlich jede Regel verstoßen – und Wie auch immer: Die rem Himmel. Und auch kein Vorgesetzter fühlte sich bemüßigt, sie Kampfmittelbeseitiger 14. März 2002 für den Tod von zwei daran zu hindern. 6. März 2002 hatten schon den Hubschrauber Beiboot abgestürzt gekentert 5 Tote 2 Tote ACTION PRESS (L.); INGO WAGNER / DPA (R.) / DPA PRESS (L.); INGO WAGNER ACTION Hubschrauber-Absturz in Hamburg, Fregatte „Mecklenburg-Vorpommern“, Überführung der toten Soldaten von Kabul nach Köln: „Bestens

Marinesoldaten bei einem Manöver An- Schon die Verabredung, die Feuerwer- Zünder entfernt, Start- und Marschtrieb- fang März in der Ostsee fand die Bundes- ker der internationalen Einsatztruppe in werk sowie den Gefechtskopf abmontiert wehrführung nur Erklärungen, die mehr Afghanistan für den Umgang mit den und ihn mit einem Lkw an den Rand der mit Schicksal als mit Ursache und Wirkung SA-3-Raketen getroffen hatten, wider- Sprenggrube gebracht. Kameraden aus der zu tun hatten. sprach gängigen Vorschriften. In der so ge- Afghanistantruppe posierten auf der La- Mehr und mehr stellt sich nun jedoch nannten „EOD-Zelle“ (Explosive Ordo- depritsche neben dem Geschoss, als wären heraus, dass die Truppe zumindest in Ka- nance Disposal) beim Brigadestab verein- sie Großwildjäger, die gerade einen Löwen bul und Hamburg selbst zu den Katastro- barten die Fachleute aus Dänemark, erlegt hätten. Die meisten Arbeiten seien phen beigetragen hat. Menschen mussten Deutschland und Großbritannien nämlich, da schon abgeschlossen, sagte der Chef der sterben, weil sich Soldaten nicht an die dass nicht alle Raketen zerstört werden so genannten Delaborierungsgruppe in ei- Vorschriften hielten. Leichtsinn, Schlu- sollten. ner ersten Befragung aus. Gegen den 31-

32 der spiegel 13/2002 Die Kontrolleure rüffeln zudem, dass die gen wird. 1,5 Promille Alkohol hatte Pilot Kameraden mit dem falschen Werkzeug Dieter S., 41, im Blut, als die Bell UH-1D an dem maroden Flugkörper hantiert hät- über einem Gewerbegebiet im Hamburger ten – normalerweise darf man sich an dem Norden abschmierte und sich in den Boden Sprengkopf nur mit Spezialwerkzeug zu bohrte. Bordmechaniker Dirk von S., 32, schaffen machen, mit dem die schräg in hatte einen Pegel von 1,2 Promille. Mor- den Rumpf versenkten Schrauben gelöst gens, kurz vor halb zehn in Deutschland. werden können. Auch hätten die Soldaten Wer um diese Uhrzeit mit 1,5 Promille vermutlich die vorgeschriebene Reihenfol- Restalkohol im Blut unterwegs ist, muss ge beim Zerlegen nicht eingehalten. Einer sich am Abend zuvor bis zu 3,0 Promille der Lenkflugkörper sei außerdem beim Ar- angetrunken haben. „Der normale Mensch beiten nicht geerdet gewesen. schafft das nicht“, sagt Suchtexperte Mi- 24 Soldaten hielten sich schließlich im Si- chael Soyka, Professor für Psychiatrie an cherheitsbereich des Sprengplatzes auf – 2 der Uni München. Werte über 1,6 Promil- sind erlaubt. Von den 24 starben bei der Ex- le seien „indikativ für Alkoholsucht“. plosion 5; 8 wurden verletzt, 3 davon schwer. „Es ist ein Wunder“, sagt ein Ermittler, Ob Übermut oder Nachlässigkeit in Uni- „dass er mit so viel Alkohol im Blut die

JEAN-MARIE TRONQUET / ACTION PRESS / ACTION TRONQUET JEAN-MARIE form auch bei der Marine zu Todesfällen Maschine überhaupt in die Luft gekriegt Verteidigungsminister Scharping geführt haben, prüft derzeit die Staatsan- hat.“ Nicht nur das. Völlig unauffällig hat- Prüfung von Befehl und Gehorsam waltschaft in Oldenburg. Weil bei dem in- te der Pilot den Hubschrauber aus dem ternationalen Manöver in der Ostsee An- Hangar geholt, sich über das Wetter infor- jährigen Oberfeldwebel wird jetzt wegen fang März zwei deutsche Marinesoldaten miert und seinen ersten Einsatz geflogen. fahrlässiger Tötung ermittelt. starben, läuft dort ein Todesursachen- Auch die beschlagnahmten Gesprächspro- Als ein Soldat den Sprengkopf vom Ermittlungsverfahren. Natürlich frage sich tokolle mit dem Tower klingen klar, routi- Transporter hob, rieselte Sprengmasse auf seine Behörde, sagt Staatsanwalt Gerhard niert, gelassen. Die Notärzte, die früher den Boden. In der Sprenggrube postierten Kayser, warum das Beiboot, das zwischen mit Dieter S. in die Luft gegangen sind, sich zwei Kampfmittelbeseitiger direkt ne- der britischen „Cumberland“ und der wollen keine Anzeichen von Alkoholpro- ben dem Gefechtskopf, einer hatte einen „Mecklenburg-Vorpommern“ hin und her blemen bemerkt haben. „Wenn ich ir- Karton zum Auffangen der Sprengmasse in fuhr, bei nur 30 Knoten Wind kentern gendwann einmal eine Fahne festgestellt der Hand. Ein dritter Kollege stand breit- konnte. Und warum zwei Menschen er- hätte, wäre ich nie in den Hubschrauber ge- beinig über dem rund 60 Kilogramm tranken, obwohl sie innerhalb von 17 Mi- stiegen“, sagt Oberstabsarzt Martin Tobias. schweren Sprengkörper nuten aus dem Wasser gezogen wurden. Der ehemalige Fluglehrer Dieter S. war und bearbeitete diesen Demnächst wird sich eine auf nautische seit 1998 beim Lufttransportgeschwader 63 6. März 2002 mit einem Zimmer- Probleme spezialisierte Staatsanwältin des in Hohn bei Rendsburg, seit April 2000 flog Sprengunfall er den Rettungshubschrauber in Hamburg. Für jeden Piloten gelten die 0,0-Promille- in Kabul Grenze und Alkoholverbot zwölf Stunden 5 Tote vor dem Flug. Schon deshalb hätten Dieter Isaf-Soldaten S. und sein Techniker gar keinen Alkohol während ihrer Bereitschaftswoche trinken dürfen. Denn die ging eine ganze Woche lang, geflogen wird von morgens bis abends. Da bleibt keine Lücke für ein Bier- chen, erst Recht nicht für ein Gelage. Einmal im Jahr werden Bundeswehr- piloten von Fliegerärzten gecheckt, die Ermittler müssen nun prüfen, ob die Wer- te der Blutuntersuchung Rückschlüsse auf eine Alkoholsucht hätten geben können. Eines scheint bislang festzustehen: Da- nach war es ein äußerst riskantes Manöver, das vermutlich zum Abriss eines Rotor- blattes und damit zum Absturz führte. Eine Wende, die selbst die Soldaten in Vietnam nur in äußerster Lebensgefahr flogen. Da-

STEFAN SCHULZ / RETRO STEFAN bei zieht der Pilot den Hubschrauber hoch, ausgebildet und sauber, ordentlich und professionell vorgegangen“ bis er fast senkrecht in der Luft steht, be- vor die Maschine wieder mit der Schnau- mannshammer und einem Schraubenzie- Falles annehmen. Sie wird auch der Frage ze nach unten in eine stabile Position her, als gelte es, nur den Deckel einer nachgehen, warum die Deutschen trotz ih- zurücksackt. Dabei zerren erhebliche Kräf- großen Blechdose mit Gulasch aufzustem- rer ohnmachtssicheren Westen starben. Bei te am Hubschrauber, er gerät in seinen ei- men. Dabei kam es zur Explosion. Die Lei- Kontakt mit Seewasser bläst sich diese Ret- genen Luftwirbel. ter der Untersuchungskommission, der tungsausrüstung automatisch auf und dreht Aufklärung erhofft sich die Bundeswehr deutsche Oberst Ludwig Groß und Oberst- die Havarierten auf den Rücken. von einem psychologischen Gutachten. Um leutnant Niels-Erik Jacobsen aus Däne- Sicher scheint dagegen bereits, dass der etwas über die Motive des eigenartigen Pi- mark, werten diese Vorgehensweise als ent- Absturz des Rettungshubschraubers SAR lotenverhaltens zu erfahren, werden nun scheidende Fehler beim „Delaborieren“, 71 in Hamburg als ein Beispiel für Diszi- mehr als 30 Soldaten und Ärzte befragt. dem ordnungsgemäßen Zerlegen einer Ra- plinlosigkeit und womöglich mangelnde Udo Ludwig, Georg Mascolo, kete. Dienstaufsicht die Staatsanwälte beschäfti- Alexander Szandar, Andreas Ulrich

der spiegel 13/2002 33 Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite Titel Die Deutschen als Opfer Mehr als ein halbes Jahrhundert nach Ende des Zweiten Weltkriegs bricht in der von Normalität beseelten Berliner Republik ein Thema auf, das längst vergessen schien: Die unbelastete nachgeborene Generation interessiert sich für Flucht und Vertreibung.

Deutsche Flüchtlinge in Danzig 1945: Schlimme Qualen unter dem von Hitler entfachten Weltenbrand

36 der spiegel 13/2002 10000 Flüchtlingen und Soldaten an Bord lungen – etwa der junge Philipp Ther über die Russen in der Ostsee versenkten. das tragisch ineinander verschlungene Und der in Danzig geborene „Praeceptor Schicksal der deutschen und polnischen Germaniae“ („Süddeutsche Zeitung“) textet Vertriebenen, oder Manfred Zeidler, der nicht nur, er schlägt auch wirksam die Trom- sich der Verbrechen der Roten (Besat- mel: Welche Qualen die eigenen Landsleu- zungs-)Armee annimmt. te unter dem von entfachten Was geschah da, als sich der von Hitler Weltenbrand erlitten, sei zu lange in Schwei- und seinen willigen Vollstreckern geführte gen gehüllt worden – er selbst habe sich ein Vernichtungskrieg dem bitteren Ende „bodenloses Versäumnis“ anzulasten. näherte? Wie es kam, dass in einem harten,

ARMIN BROSCH / PHOTO SELECTION ARMIN BROSCH / PHOTO Die Deutschen als Opfer – ein im Jahre schneereichen Winter 1944/45 bereits Zig- Schriftsteller Grass 12 des wiedervereinigten Landes aufbre- tausende auf dem großen Treck Richtung „Bodenloses Versäumnis“ chendes dunkles Kapitel, das nicht allein Westen erfroren oder erschossen wurden, möchten mehr als ein halbes Jahrhundert später vor allem die nachgeborenen Deut- schen wissen. „Die fragen jetzt häufig ihre Großväter“, berichtet der aus Nordböhmen stammende Osteuropa-Experte Hans Lemberg. In die- ser Altersklasse zeige sich „eine bemer- kenswerte Veränderung der Optik – going to the roots“. Über alle Erwartungen hohe Einschalt- quoten von TV-Dokumentationen be- stätigen das ebenso wie etwa eine gerade angelaufene Serie des populären Fernseh- Historikers Guido Knopp im Massenblatt „Bild“. In einem SPIEGEL-Gespräch er- klärt der mit der Problematik seit vielen Jahren vertraute Geschichtswissenschaft- ler Hans-Ulrich Wehler (siehe Seite 61) einen Teil der Gründe: Die Deutschen hätten nun augenschein- lich „ein zeitliches und emotionales Si- cherheitspolster“, das ihnen die Möglich- keit gebe, den Schrecken an sich heranzu- lassen – eine insgesamt heilsame Art der Befassung. Und so ähnlich scheint darüber auch eine stattliche Zahl vorwiegend junger Bundesbürger zu denken. Die Geschich-

DAMIR SAGOLJ / REUTERS SAGOLJ DAMIR ten aus der alten kalten Heimat, die Kosovo-Flüchtlinge (in Mazedonien 1999): Umdenken bei der deutschen Linken lange Zeit eher Verdruss erzeugten oder mit unverhohlenem Argwohn verfolgt uf der Leipziger Buchmesse ist Günter Grass entdeckte. Der Leidensweg wurden, haben plötzlich Hochkon- er am Freitagabend vergangener von über 14 Millionen Ostpreußen, Pom- junktur. AWoche der große Star und seine mern oder Schlesiern, die zwischen 1944 Passé jedenfalls die Wortführerschaft de- Veranstaltung der Höhepunkt: Die Lite- und 1947 ihre Heimat verloren (und von rer, die sich nahezu ausschließlich auf die raturszene bestaunt den Schriftsteller denen Hunderttausende, vielleicht gar Schandtaten der Nazis und ihrer Mitläufer und Nobelpreisträger Günter Grass, als zwei Millionen starben), ist jetzt unver- fixierten. Wer wie die Erfinder des Holo- er in der Stadtbibliothek am Wilhelm- mittelt zum Spitzenthema avanciert. caust und anderer Scheußlichkeiten den Leuschner-Platz aus seinem neuen Werk Über Flucht und Vertreibung schreibt Völkern unsägliche Gräuel zugemutet vorliest. der bei Bremen lebende Kollege Walter habe, möge in eigener Sache gefälligst Erfolg macht attraktiv, und den hat er Kempowski, 72, („Echolot“) und die 33 den Mund halten, hatten zumindest die zurzeit. Die Versammelten feiern den ei- Jahre alte Autorin Tanja Dückers („Him- gegen ihre Väter als Täter antretenden gentlich etwas ins Abseits geratenen alten melskörper“). Der Klassiker der am ver- 68er verlangt. Dichterfürsten, dem ein kaum noch für gangenen Freitag mit einem Staatsakt in Doch die Zeiten, in denen es schlicht als möglich gehaltener Hit gelang. Hamburg zu Grabe getragenen Publizistin ungebührlich galt, nicht allein das vom NS- In mehr als 300000 Exemplaren kauften Marion Gräfin Dönhoff, 92 – „Namen, die Terror der Welt zugefügte, sondern auch die Bundesbürger bisher seine erst im Feb- keiner mehr nennt“ – ist inzwischen in die das selbst erlittene Leid zu diskutieren, ge- ruar publizierte Novelle „Im Krebsgang“ – 32. Auflage gegangen. hen nun offenkundig zu Ende. eine aus fiktiven und realen Versatzstücken In Berlin, Düsseldorf oder Potsdam ver- Die Enkel-Generation sieht in einem gefügte Schicksalsstory, die einen lange öffentlichen Historiker gelehrte Abhand- Land, das ja auch sonst in atemraubender gemiedenen Stoff aufgreift. Geschwindigkeit ungeahnte Normalisie- Es geht dabei (siehe SPIEGEL-Titel Die Entwurzelung schmerzte so rungsprozesse durchläuft, die zurücklie- 6/2002) um den Untergang der „Wilhelm sehr, dass selbst die auf Aus- genden Ereignisse mit neuem, nüchternem Gustloff“, eines im Dritten Reich von den Blick. Eine Verhaltensweise, die in eine Nazis gebauten Touristendampfers, den in gleich bedachte Marion Gräfin dritte und letzte Stufe der viel zitierten den letzten Kriegsmonaten mit nahezu Dönhoff jahrzehntelang litt. Vergangenheitsbewältigung münden könn-

der spiegel 13/2002 37 Titel

Heimat in der Fremde Reval Deutschsprachige Siedlungsgebiete ESTLAND in Mittel- und Osteuropa 1937

Riga Moskau LETTLAND DDeutschbalteneutschbalten Kuibyschew Memelland LITAUEN Kaunas SOWJETUNION Danzig Saratow Königsberg Minsk Hamburg Pommern Ostpreußen Woronesch WWest-est- Wolga-Deutsche Berlin prpreußeneußen Warschau Posen Wolhynien- Stalingrad DEUTSCHES REICH POLEN Deutsche Charkow Schlesien Kiew Prag SSudetendeutscheudetendeutsche Lemberg Galizien-Galizien- ■ Deutsches Reich TSCHECHOSLOWAKEI KarpKarpaten-aten- Saporoschje Donezk EElsasslsass DDeutscheeutsche DeutscheDeutsche ■ Geschlossene München Pressburg Schwarzmeer- Wien BukBukowina-owina- Deutsche deutschsprachige DDeutscheeutsche Melitopol Siedlungsgebiete SCHWEIZ WWestungarn-estungarn- SaSatmar-tmar- Odessa ■ ÖSTERREICH DDeutscheeutsche Budapest DDeutscheeutsche RUMÄNIEN Gebiete mit deutsch- sprachigen Streu- SSüdtirolerüdtiroler UNGARN SiebeSiebenbürgernbürger DDonau-onau- SaSachsenchsen Bessarabien- siedlungen sschwabenchwaben Deutsche weitere Siedlungsgebiete ITALIEN GGottscheerottscheer BBatschkaatschka Banater in den Sowjetrepubliken Schwaben Sewastopol Kasachstan, Kirgisien, Belgrad Bukarest Dobrudscha- Deutsche Tadschikistan, Usbekistan JUGOSLAWIEN und im Kaukasus te. Denn die erste, die gleich nach dem tungen: „Das wäre so“, schrieb sie im Na- Und auch ansonsten veränderten sich aus Verlust der Ostgebiete von den unmittelbar men der Flüchtlinge, „als verlangte man guten Gründen die Perspektiven. Spätestens Betroffenen forciert wurde, lag noch zu von ihnen, ihre Toten zu verraten.“ mit der auf Versöhnung ausgerichteten Ost- nahe an der Katastrophe. Zwar beklagten Ein schönes Bekenntnis, das sich dann politik Willy Brandts haftete den Verbands- im Westen zahllose Ostpreußen oder Schle- allerdings peu à peu am anfangs noch lobbyisten, die nostalgisch-aggressive Mas- sier das ihnen auferlegte Schicksal, mehr tristen Alltag aufrieb. Den ihrerseits er- senveranstaltungen wie das berüchtigte als andere büßen zu müssen – bloß, was heblich belasteten „Einheimischen“ gin- Pfingsttreffen der Sudetendeutschen insze- half das schon? gen die unentwegten Geschichten von der nierten, etwas lähmend Gestriges an. Tabu war die von den Siegermächten verlorenen Scholle zunehmend auf die Zwar hatten die Vertriebenen in einer etwas fühllos zum „Bevölkerungstransfer“ Nerven – und vor allem die Kinder der Ver- 1950 verabschiedeten „Charta“ Gelüsten heruntergeredete Zwangsumsiedlung im triebenen, die traumatische Erfahrungen nach „Rache und Vergeltung“ abgeschwo- sowjetischen Vasallenstaat DDR. In der abzuschütteln versuchten, arrangierten sich ren, aber nicht nur das Ausland bezweifel- Bonner Republik bildete sich zwar ein mit den neuen Verhältnissen. te den Verzicht: Alle, die sich dafür stark „Block der Heimatvertriebenen und Ent- Das Kind aus Masuren oder der pom- machten, Königsberg oder Breslau im Her- rechteten“ (BHE), der zeitweilig sogar in merschen Schweiz sprach sehr bald pfäl- zen zu bewahren, galten in einer sich libe- den Bundestag einzog, aber dann rasch zisch oder hessisch – Verdrängung und An- ralisierenden und pragmatischen deutschen an Einfluss verlor. passung als Überlebensprinzip. Öffentlichkeit prompt als „Revanchisten“. Während die Funktionäre Was immer sich die Hard- der einzelnen Landsmann- Schlesiertreffen (1995 in Nürnberg): Privater Erinnerungskult liner noch klammheimlich an schaften radikal und zuse- Chancen ausrechnen mochten hends weltfremd auf einem – der Lauf der Geschichte ver- Vaterland „in den Grenzen wehte ihre Träume. Selbst als von 1937“ beharrten, pflegten nach der 89er Wende der Millionen von Flüchtlingsfa- marode Ostblock zerbrach, milien zwischen Flensburg änderte das nichts an den Be- und Garmisch ihren privaten schlüssen von Potsdam und Erinnerungskult. Jalta. Um die Einheit zu si- Die Entwurzelung schmerz- chern, trat die Bundesrepu- te dabei so sehr, dass selbst blik die 1945 faktisch einge- Vertriebene wie die auf Aus- büßten Ostprovinzen auch ju- gleich bedachte Marion Gräfin ristisch ab. Dönhoff jahrzehntelang litten. Aber dann kamen ja die Noch im September 1964 be- Kriege auf dem Balkan, die kundete die trauernde Ost- politisch engagierte Zeitge- preußin ihr Verständnis für nossen mit einer bestürzenden den hinhaltenden Widerstand Realität konfrontierten. Flucht

gegenüber allen Verzichtsleis- PRESS BERG / ACTION und Vertreibung – und ärger:

38 der spiegel 13/2002 die „ethnische Säuberung“ als erklärtes Aus und vorbei. Mit der unumkehrbaren militärisches Ziel – gehörten, wie man nun Hinnahme dessen, was ja schon vom ersten erlebte, keineswegs der Vergangenheit an. Nachkriegstag an irreversibel war, fühlen Sie erzwangen als europäisches Gegen- sich die neuen Deutschen nun locker ent- wartsphänomen eine dem bitteren Dilem- fesselt. ma adäquate Antwort. Von Verdrängung keine Spur mehr. So- Im Angesicht der im Kosovo fliehenden gar die in Fragen nationaler Introspektion und gejagten Menschen setzte bei der lan- vorsichtige „Frankfurter Rundschau“ kon- ge unwilligen deutschen Linken ein all- statiert ein inzwischen „ungeheuer großes mähliches Umdenken ein. Waren das nicht Bedürfnis, das Vertreibungsthema in ein die gleichen Bilder wie vor mehr als ei- breites öffentliches Geschichtsbewusstsein nem halben Jahrhundert auf der Kurischen zu integrieren“. Nehrung oder im Stettiner Haff? Woher das rührt, lässt sich nicht mit Si- Zunächst bemühte sich – 1995 – die Vi- cherheit bestimmen. Eine Rolle spielt da- zepräsidentin des Bundestags, Antje Voll- bei gewiss die Erkenntnis, dass sich solche mer, selbstzerknirscht um eine neue Ein- Katastrophen auch dann ereignen, wenn schätzung: Wie sie und ihresgleichen sich den Betroffenen keinerlei Schuld nachzu- bei der „Aufarbeitung historischer Wahr- weisen ist – der hier zu Lande stets als heiten“ geirrt hätten, räumte die spürbar Grund angeführte Sühne-Aspekt also ent- verunsicherte Theologin ein, sei „kein fällt. Allein in Europa mussten zwischen Ruhmesblatt“ gewesen. 1939 und 1947 schließlich nahezu 50 Mil- lionen Menschen unter Zwang ihre Hei- mat verlassen. Nur jeder Vierte davon war Deutscher. Aber reicht das, darüber in einem Land, das den verheerenden Zweiten Weltkrieg zu verantworten hat, endlich unbefangener zu debattieren? Als eine der wenigen kri- tischen Stimmen bemängelt die „Neue Zürcher Zeitung“, der gegenwärtige Dis- kurs spiegele den „mentalen Status quo der Berliner Republik“: Zu deren fort- währendem Normalisierungsgerede gehö- re nun offenbar der begehrte „Eintritt in die internationale Opferkultur“. So mögen – immer noch oder schon wie- der – auch die Tschechen denken, während sich die Polen anders verhalten. Ihre ein-

DER SPIEGEL schneidende Erfahrung, selbst vertrieben Versöhnungspolitiker Brandt in Warschau* worden zu sein, bevor sie in den entvöl- Bemerkenswerte Erinnerungsarbeit kerten Provinzen Schlesiens, Pommerns oder Westpreußens ihre Heimat fanden, Das war es auch nicht, sondern laut In- hat zu einer bemerkenswerten Erinne- nenminister „Ausdruck von rungsarbeit geführt. Mutlosigkeit und Zaghaftigkeit“, den er Polnische Schriftsteller, und gerade sol- jetzt gründlich zu korrigieren versprach. che, die in den einstigen deutschen Ost- Im September 2000 wagte sich als erster so- gebieten leben, sehen in den vormaligen zialdemokratischer Bundeskanzler der für Bewohnern eher Schicksalsgefährten. Sie Umschwünge mit feiner Antenne ausge- verfassen Bücher, die davon handeln, dass stattete Gerhard Schröder auf einen „Tag Beschweigen nicht befreit, sondern die der Heimat“. Geschehnisse benannt werden wollen, weil Spontan regte er dort an, „miteinander sie nur so – und auch im Hinblick auf ein zu reden“, statt die alten „Vorurteile zu sich vereinigendes Europa – wirklich zu pflegen“ – um zunächst die wechselseitige befrieden sind. Verkrampfung zu lösen. „Der Aussöhnung zu dienen, indem man So wurde das Ende einer seit der sich wechselseitig seine Geschichten er- „68er“-Zäsur andauernden Political cor- zählt“, wünscht sich etwa Philipp von Bis- rectness eingeläutet, die auch sensible marck, lange Zeit Sprecher der Pommer- Charaktere wie den einstigen Bundesprä- schen Landsmannschaft – ein Appell, der sidenten Richard von Weizsäcker beein- nicht ohne Echo bleibt. Vor allem die his- flusste. Hatte der nicht noch am 8. torisch interessierte, nachgewachsene Ge- Mai 1985 in seiner sonst zu Recht gerühm- neration scheint nun einen unverstellten ten Rede über die Vertreibung seiner Blick jenseits von Schuld und Selbst- Landsleute seltsam gewunden von einer kasteiung zu riskieren. „erzwungenen Wanderschaft“ gespro- Sie will nicht „aufarbeiten“ oder das Un- chen? abänderliche gar in Frage stellen, sondern wissen, was war. Der SPIEGEL versucht, * Am 7. Dezember 1970 vor dem Denkmal für das War- diesem Bedürfnis mit einer vierteiligen Se- schauer Ghetto. rie nachzukommen. Hans-Joachim Noack

der spiegel 13/2002 39 Titel

VERTREIBUNG (I): Millionen Menschen – Frauen, Kinder, Greise – waren in den letzten Kriegsmonaten auf der Flucht vor der Roten Armee. Für Hunderttausende endete der Treck gen Westen im Inferno. Sie erfroren, ertranken, wurden erschossen oder vergewaltigt.

FLÜCHTLINGE AUF DER VEREISTEN OSTSEE BEI HEILIGENBEIL: „Häufig rutschte man aus und glaubte sich schon verloren, aber die Todesangst „Vater, erschieß mich!“ SPIEGEL-Serie über Flucht und Vertreibung der Deutschen aus dem Osten

n Nemmersdorf lebt niemand mehr, der Chaussee von Gumbinnen herab. Die er- sie eingenommen, und hinter den Panzern sich noch erinnern kann. Der Ort heißt schöpften Rotarmisten waren seit Tagen verquoll auf dem Damm ein Brei aus Pfer- Iheute Majakowskoje, und jetzt wohnen im Einsatz. Verbissen verteidigte die Wehr- dekörpern und dem Holz der Fuhrwerke, Russen in den kleinen Häusern mit den macht die Ostgrenzen des Reiches. dazwischen wohl auch Menschenleiber. grauen Dächern. Von der Brücke über den Über drei Jahre hatten die Landser auf Gerda Meczulat lebte auf der westlichen Fluss Angerapp sind nur Steinreste und ein polnischem und russischem, ukrainischem Seite des Flusses. Ihr Vater Eduard, 71, hat- Pfeiler übrig, der mitten aus dem Wasser und lettischem Boden Hitlers Vernichtungs- te sich gegen die Flucht entschieden. Die ragt. krieg geführt – und waren zurückgeworfen Meczulats besaßen keinen Wagen. Mit ei- Wer konnte, ist damals rechtzeitig ge- worden. Nun standen Stalins Truppen erst- nigen anderen Dorfbewohnern suchten sie flohen, oder wenigstens danach. mals auf deutschem Siedlungsgebiet. in einem Unterstand Schutz. Danach? Gibt es das überhaupt? Bei Nemmersdorf, vor den sowjetischen Was dort passierte, ist bis heute nicht voll- Am 21. Oktober 1944, als eine Vorhut Panzern auf dem schmalen Damm zur kommen geklärt. Gerda Meczulat berichte- der Roten Armee über das ostpreußische Brücke über die Angerapp, drängten sich te später, dass die ersten Russen am frühen Nemmersdorf herfiel, war für Millionen die Fuhrwerke der Bauernfamilien, die Nachmittag in den Unterstand eindrangen. Deutsche die Geschichte zu Ende. Das aus den umliegenden Weilern und Ge- Sie durchwühlten das Handgepäck, waren Massaker von Nemmersdorf war der Vor- meinden geflohen waren. Der Weg nach aber dabei unerwartet freundlich. Einer bote von Flucht und Vertreibung, mit der Westen führte über den Fluss. spielte sogar mit den Kindern. Doch am alles zerfiel in Hass, Hunger, Entwürdi- Als er die Brücke sah, ließ der Kom- Abend erschien ein Offizier und befahl die gung, Angst. Hunderttausende, vielleicht mandeur Vollgas geben. Um 7.30 Uhr war Deutschen barsch nach draußen. sogar zwei Millionen überlebten die Kata- „Als wir rauskamen, standen zu beiden strophe nicht. Der Himmel am Horizont schim- Seiten des Ausgangs Soldaten mit schuss- Als am 21. Oktober noch der Frühnebel mert blutrot und violett – das bereiten Gewehren. Ich fiel hin, da ich eine über der ostpreußischen Moränenland- Kinderlähmung habe, wurde hochgeris- schaft lag, rollten die sowjetischen Tanks sind die von den Russen bereits sen und spürte in der Aufregung nichts des 2. Bataillons der 25. Panzerbrigade die erreichten brennenden Städte. mehr. Als ich zu mir kam, hörte ich die

40 der spiegel 13/2002 vertrieb die Frostschauer, die über den Körper jagten“

Kinder schreien und Gewehrschüsse. Dann Über die Details der grauenvollen Sze- ja nur deshalb über die Betroffenen, weil war alles still.“ ne von Nemmersdorf streiten Historiker Adolf Hitler und seine skrupellosen Kriegs- Gerda Meczulat überlebte – schwer ver- und Vertriebenenpolitiker oft mit Zorn. herren und Gauleiter noch immer vom letzt – als Einzige, weil der Soldat, der sie Verharmloser? Revanchisten? Nemmers- Endsieg schwadronierten. töten wollte, ungenau gezielt hatte. dorf ist zu einem Inbegriff deutschen Leids Verteidigung jeden Quadratmeters Bo- Als die Wehrmacht die 637-Seelen-Ge- geworden. den im Osten bis zum letzten Atemzug: meinde am Morgen des übernächsten Tages Es lässt sich nicht bestreiten: Am 21. Ok- Diese Floskel erfüllte sich hunderttau- zurückeroberte, fand sie wenigstens zwei tober 1944, im vierten Jahr des Vernich- sendfach in furchtbarer Weise. Dutzend Leichen von Frauen, Kindern und tungskrieges gegen die Sowjetunion, zeig- Was wäre gewesen, wenn? 2,5 Millionen Alten vor. Rotarmisten hatten sie erschos- te sich in Nemmersdorf, dass aus einem Deutsche lebten 1944 in Ostpreußen, 1,9 sen oder ihnen den Schädel eingeschlagen. Volk der Täter ein Volk der Opfer wurde. Millionen in Ostpommern, 4,7 Millionen Wie viele Frauen wurden vergewaltigt? Dabei wäre in diesem Augenblick der in Schlesien: Wochen und Wochen wäre Stimmt es wirklich, dass Menschen nackt an deutschen Geschichte die Katastrophe Zeit gewesen, sie alle rechtzeitig in Si- ein Scheunentor genagelt worden waren? noch aufzuhalten gewesen. Massenpanik, cherheit zu bringen, rechtzeitig vor diesem Oder handelte es sich nur um die Propa- Todesmärsche, erfrorene Babys eine Beu- mörderischen Winter, der so kalt wurde, ganda von Joseph Goebbels, der das Mas- te hungriger Ratten, Hunderttausende ver- dass erschöpfte Flüchtlinge am Wegesrand saker umgehend zum Beleg für das „Wüten gewaltigter Frauen, über 33000 Ertrunke- einfach zu Eisblöcken erfroren. der sowjetischen Bestien“ hochputschte? ne in der Ostsee – das ganze Grauen kam Aber in Hitlers Reich war Weglaufen verboten in jenem goldenen Oktober 1944. Heinrich Himmler hatte auf einer Gauleitertagung in Posen verkündet, dass die Ausweitung des germanischen Reiches nach Osten „selbstverständlich“ bevorstehe: „Es ist unverrückbar, dass wir hier die Pflanzgärten germanischen Blutes im Osten errichten.“ Was für ein Bild. Unverrückbar war es da für den ost- preußischen Gauleiter, Erich Koch, in Königsberg, dass Fluchtvorbereitungen nur eine besonders infame Art der Sabo- tage sein konnten. Landräte, Kreisleiter

KEYSTONE und Bürgermeister des Gaus bekamen An- OSTPREUSSIN GRÄFIN DÖNHOFF*

MARION DÖNHOFFMARION STIFTUNG (L.); BPK (2) Ritt durch die eisige Nacht * Auf dem elterlichen Gut in Quittainen, 1998 in Hamburg. 41 Titel weisung, jeden, der so etwas plane, sofort Das bohrende Gefühl, zu melden. noch beim Schmücken des Und da war die Hoffnung, gegen jede Weihnachtsbaumes, dass das Vernunft, dass es so schlimm nicht werden Leben eigentlich zu Ende ist könne. Nemmersdorf war ja zurückerobert und alles versinken wird, worden. Luftangriffe hatte es hier im Osten schon in den folgenden Ta- auch kaum gegeben – und war es nicht ein gen: Am 12. Januar 1945 rol- wunderschöner Herbst? len russische Panzer in Ost- „Das Licht so stark, der Himmel so preußen ein, und niemand hoch, die Ferne so mächtig“, beschreibt hält sie mehr auf. Keine Zeit der Arzt Hans Graf von Lehndorff in sei- mehr für „Zitronenfalter“ – nen Aufzeichnungen aus jenem Oktober nun fliehen die Menschen pa-

die Stimmung in seiner Heimat, dem Land nikartig in Richtung Westen. / OSTKREUZ MICHAEL TRIPPEL des Bernsteins. Die Züge, die den Bahnhof ORTSEINGANG VON MAJAKOWSKOJE (NEMMERSDORF) Und doch wussten alle, dass alles vorbei der Metropole Königsberg Inbegriff deutschen Leids war. Nie würde man die Störche wieder se- verlassen, sind schon am hen, die sich in diesen Tagen aus Ost- ersten Tag überfüllt. preußen davonmachten, nach Süden. Es sind meistens Frauen und Kinder, die ersten Nächten erfroren. Das Ziel: Die Vorboten einer Katastrophe: Tiere trot- überstürzt Haus und Hof im Stich lassen. Weichselübergänge bei Marienburg und ten herrenlos über die Wiesen, von Gehöf- Die Männer dienen entweder an der Front, bei Dirschau. Denn über die Weichsel, das ten weiter östlich, die von ihren Besitzern oder sie gelten, unter Aufsicht der NSDAP, war so eine wilde Hoffnung, würden es die schon aufgegeben waren. Auf den Feldern als unabkömmlich beim Volkssturm, dem Russen denn doch nicht schaffen. bei Preußisch Holland merkwürdige, lau- letzten Aufgebot zur Verteidigung. Die Angst vor den Eroberern wehte mit benartige Konstrukte, nur mühsam mit Pla- Drei Tage später geht schon fast gar dem beißenden Nordoststurm über die Hü- nen getarnt. Das sind die Güter der jungen nichts mehr. Die verschneiten Straßen sind gel – von Ostpreußen nach Schlesien. Öst- Marion Gräfin Dönhoff, die heimlich Pfer- von Flüchtlingstrecks verstopft, ein träger lich der Oder brachten nun Sonderzüge dewagen für die Flucht nach Westen aus- Wurm aus Planwagen, von Pferden oder Menschenmassen ins scheinbar schützende statten lässt. von Menschen gezogen, und dick ver- Breslau. Der letzte Transport kam am 18. Im Büro von Doktor Wander, dem Bür- mummten Gestalten, die sich mit dem Januar durch, von da an ging es auch dort germeister von Insterburg, geht ein Stapel wichtigsten Hab und Gut, ein paar Koffern nur noch zu Fuß. Briefe von der vorgesetzten Stelle in Kö- und Eimern mit Lebensmitteln, aus ihrer nigsberg ein: streng geheim und im Tresor Heimat aufgemacht haben. „FRAU, KOMM!“ zu deponieren. Erst wenn das Kennwort Alles, was sie besitzen, lassen sie zurück, 18. Januar: An diesem Tag rollen russi- „Zitronenfalter“ fällt, dürfen diese Briefe die Häuser unverschlossen, das Vieh los- sche Panzer bereits durch den Warthe- an Wirtschafts- und Handwerksleute in gebunden. Und das bisschen, was sie mit- gau, früher Polen, aber seit kurzem Insterburg verteilt werden: Sie enthalten nehmen können, werden sie unterwegs Deutschland. Am Vorabend ist in Posen die Aufforderung, Maschinen und Vorräte meist auch noch verlieren. noch ein Zug mit Frauen und Kindern – nicht aber Menschen – per Bahn nach Überholen unmöglich. Zäh schleichen nach Westen losgefahren, aber da die Räu- Westen zu schicken. die Trecks voran, die Pferde rutschen auf mung viel zu spät begann, treten sich nun Als der Bürgermeister am Tag nach den den spiegelglatten, gefrorenen Straßen aus. alle auf die erfrorenen Füße: Die Trecks Geschehnissen von Nemmersdorf bei der Stundenlange Staus an Bahnübergängen, stehen auf den Straßen, ängstlich horchen Gauleitung in Königsberg darum bittet, wo Militärtransporte – von der Front, an die Flüchtlinge, ob sie von hinten das ty- Transportzüge für die Flüchtlinge herzu- die Front? – ihnen den Weg abschneiden. pische Geräusch der Panzerketten hören schicken, die sich, aus dem Osten kom- Stundenlanges Stehen in der eisigen Nacht: – der russischen. mend, schon jetzt am Bahnhof drängeln, Hinten, in den Panjewagen, sind die in Mit den Pferden bis zum Bauch im wird er spöttisch gefragt, ob er Fieber habe. Decken gewickelten Alten schon in den Schnee versuchen manche Familien, aus 28. November bis 1. Dezember 1943 Oktober 1944 Der lange Weg nach Westen In Teheran einigen sich die Alliierten über die In Ostpreußen überschreiten sowjetische Flucht und Vertreibung der Deutschen „Westverschiebung“ Polens: Dessen Ostgebiete Truppen die Grenze des Deutschen Reiches gehen an die Sowjetunion, dafür bekommt das und begehen in Nemmersdorf und andernorts Land im Westen deutsches Territorium hinzu. Massaker an Zivilisten. 1. September 1939 Polen und Deutsche sollen aus den abzutre- Der Zweite Weltkrieg beginnt. Hitler holt bis 1944 tenden Regionen ausgesiedelt werden. 12. Januar 1945 über eine Million Volksdeutsche aus Osteuropa Die Rote Armee eröffnet ihre Weichseloffensive „heim ins Reich“; 1,2 Millionen Polen werden Juli 1944 und erreicht nach drei Wochen die Oder. Ende vertrieben oder ermordet, um ihnen Platz zu Die Rote Armee zerschlägt die Heeresgruppe Januar befinden sich fünf Millionen Deutsche schaffen. Mitte und rückt nach Westen vor. Hitler erlässt auf der Flucht. für alle Ostgaue eine Sperre für Bahnreisen 22. Juni 1941 von über 100 Kilometern, Fluchtvorbereitungen sind verboten. 26. Januar 1945 Nach dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion Große Teile Ostpreußens werden eingeschlossen, evakuiert Stalin bis zu 10 Millionen den Flüchtlingen bleibt nur der Weg über die Menschen, um sie vor der Wehr-

AKG Ostsee. Im März ist auch Pommern erobert. macht zu schützen, mindestens weitere 6,5 Millionen fliehen Richtung Osten. Etwa 11 Millionen sowjetische Zivilisten fallen 30. Januar 1945 dem Krieg zum Opfer. Die „Wilhelm Gustloff“ wird vor der pommer- schen Küste von einem sowjetischen U-Boot torpediert und sinkt; etwa 9000 Flüchtlinge Russlandfeldzug 1941/42 und Soldaten sterben.

42 der spiegel 13/2002 ZDF ÜBERLEBENDE MECZULAT „Dann war alles still“

bis heute eine der eindrucksvollsten Samm- lungen über das Elend am Ende des Krieges. „Sofort los! Nur mit Handgepäck!“, pro- tokolliert Frau Sternberg. „Im Nu sind wir auf der Dorfstraße, die voll von jammern- den Frauen ist.“ Der Aufbruch: „Die Kin- der finden es herrlich.“ „Mutti, die Russen, was werden sie mit uns machen“, hat eines von Lilly Stern- bergs Kindern gefragt, als sie unterwegs die Panzer hören. „Nichts, sage ich, während es mich schüttelt, nichts, und lege meine Hand auf die Lippen.“ Die Russen, was werden sie machen? Die schlimmsten Gerüchte stimmten nicht – was wirklich war, war schlimmer. Die Medizinstudentin Josefine Schleiter, in der- selben Gegend auf der Flucht, hat erlebt, wie Panzer in ihren Treck rasten. „Die Wagen wurden in den Graben

BUNDESARCHIV KOBLENZ BUNDESARCHIV geschleudert, die Pferdeleiber lagen ver- GETÖTETE DEUTSCHE IN NEMMERSDORF: Wie viele Frauen wurden vergewaltigt? endet, Männer, Frauen, Kinder kämpften mit dem Tode.“ Die Studentin hörte ein verletztes Mädchen sagen: „Vater, erschieß dem Stau über die Felder zu entkommen. Osterode, der Dorflehrer zu Lilly Sternberg mich!“ Und auch der Bruder bat: „Ja, Va- Sie bleiben liegen, versuchen oft, die Nacht und schlägt Alarm. ter, ich habe nichts mehr zu erwarten.“ im Schutz einer Scheune zu überstehen, „Es ist so weit, richten Sie Ihren Treck.“ Der Vater, weinend: „Wartet noch etwas, aber bald sind die nassen Windeln der Die Ostpreußin hat wie Hunderte das Pro- Kinder.“ Säuglinge gefroren. Dann sterben die Kin- tokoll ihres Leidensweges in den fünfziger Dann ist sie dran. „Drei baumlange Kerls der. Sie können nicht mal begraben wer- Jahren aufgeschrieben für eine Dokumen- halten mich fest und werfen mich auf ihr den, weil die steinharte Erde das nicht tation über Flucht und Vertreibung. Das Auto. Mein Rufen verhallte im Schnee- zulässt. Wilde Tiere holen sie vom Weges- Tausende Seiten umfassende Werk wurde sturm. Der Wagen setzte sich in Bewegung, rand. Und es schneit und schneit. von Historikern im Auftrag des Vertriebe- und ich stand auf dem Auto, von den lau- Am 19. Januar, 8 Uhr morgens, kommt nenministeriums zusammengestellt. Die ernden Blicken eines Russen beobachtet. im ostpreußischen Groß-Nappen, Kreis meisten Aussagen sind beeidet und bilden Eisige Kälte. Ich war seit Mittag ohne Es- 4. bis 11. Februar 1945 Mai bis Juli 1945 muss in „ordnungsgemäßer und humaner In Jalta können sich die Alliierten nicht einigen, In „wilden“ Vertreibungen werden Hunderttau- Weise“ erfolgen. Zunächst sollen die Ver- wo die neue Westgrenze Polens verlaufen und sende Deutsche gezwungen, die ehemaligen treibungen jedoch eingestellt werden. wie viele Millionen Deutsche vertrieben werden Ostgebiete und das Sudetenland zu verlassen. Herbst 1945 sollen. Die Deutschen in Jugoslawien, seit November 1944 zu „Volksfeinden“ erklärt, werden in La- Aus Polen werden weiterhin Hunderttausende gern konzentriert. Etwa 51000 sterben dort. vertrieben. Am 20. November vereinbart der 8. Mai 1945 Alliierte Kontrollrat, 6,7 Millionen Deutsche Mit dem Ende der Kampfhandlungen kehren innerhalb von sieben Monaten aus Mittel- über eine Million deutsche Flüchtlinge in die und Osteuropa auszusiedeln. von sowjetischen und polnischen Truppen Januar 1946 eroberten Gebiete zurück. Im Juni sperrt Polen die Übergänge von Oder und Neiße. Die organisierte Vertreibung beginnt. Fachkräfte werden teilweise bis 1951 zurückgehalten.

Mai bis Oktober 1945 11. Oktober 1947 Mit den Bene∆-Dekreten werden die Stalin ordnet an, alle Deutschen aus dem Sudetendeutschen enteignet und entrechtet. sowjetischen Teil Ostpreußens in die Sowjetische Besatzungszone zu deportieren. Über 70000 Edvard Menschen werden abtransportiert. Bene∆ 30. Mai 1945 Ende 1947 Die deutschsprachigen Einwohner Brünns 17. Juli bis 2. August 1945 Die organisierten Vertreibungen laufen aus. werden nach Österreich vertrieben; mehr In Potsdam stimmen die Westmächte der In den nächsten Jahren werden per anno als 2000 Menschen sterben auf dem Aussiedlung der Deutschen aus Polen, nur noch einige zehntausend Deutsche „Brünner Todesmarsch“. Ungarn und der Tschechoslowakei zu; sie aus Polen zwangsweise ausgesiedelt.

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Werbeseite Titel sen. Grinsend beobachtete mich einer der in der Bundesrepublik, Österreich und der „Wir werden uns rächen für Kerle: ‚Kalt?‘ Es folgten die entehrendsten DDR oder in der alten Heimat lebten; die die in den Teufelsöfen Augenblicke meines Lebens, die nicht wie- Differenz betrug über zwei Millionen. derzugeben sind.“ Dass diese Größenordnung zu hoch ge- Verbrannten, für die in den Als der Wagen hält, springt die Studen- griffen sein musste, zeigten schon damals Gaskammern Erstickten.“ tin hinunter, flieht in den Wald und läuft, Listen verschollener Zivilisten; nur knapp läuft, läuft. ein Zehntel – etwa 200 000 Menschen – nicht vorgesehen. Aber als die Rote Ar- Das hatte Methode. Vergewaltigungen wurden von Angehörigen und Freunden mee die Westgrenze der Sowjetunion er- waren eine furchtbare Waffe der roten Sol- gesucht. Freilich machten sich bisher nur reicht hatte, waren viele müde, und Stalins daten, ein Mittel des Terrors wie Quäle- die Donauschwaben die Mühe, alle Opfer Generäle lockerten – zur Aufmunterung – reien, Morde und Brandstiftungen. einzeln zu dokumentieren – und halbierten jene Sicherungen, die auch im Krieg den In Ostpommern wird ein Zug mit Flücht- die Schätzungen des Statistischen Bundes- Unterschied zwischen Soldaten und Mör- lingen von russischen Soldaten gestoppt, amtes für ihre Region. dern ausmachen. die Lok zerschossen. „Alles raus!“ Frauen Auf 1,4 Millionen schätzen Historike- Über tausend Truppenzeitungen hatten und Kinder fliehen durch den Schnee in rinnen die Zahl der Frauen, die damals den Hass gesät, der jetzt nötig war, zu sie- die Felder. Im Dorf Gowitz holen die Ver- vergewaltigt wurden. Viele von ihnen gen. Etwa die Aufrufe Ilja Ehrenburgs: folger sie ein. „Frau, komm!“, das ist der nahmen sich danach aus Ekel und Entset- „Wenn du im Laufe eines Tages einen gefürchtete Befehl. Das Mädchen Gabi zen das Leben. Noch Monate später, be- Deutschen nicht getötest hast, ist dein Tag Köpp, von der ZDF-Historiker Guido richten Zeugen, hätten Kinder, heil im verloren. Zähle nicht die Tage, zähle nicht Knopp in seinen Berichten über „Die Westen, in den Flüchtlingslagern „Frau, die Wersten, zähle nur eins: die von dir große Flucht“ erzählt, weiß noch nicht, komm!“ gespielt. getöteten Deutschen. Töte den Deutschen.“ was der Befehl für sie bedeutet, sie ist nicht aufgeklärt. Wer nicht kam, muss- te damit rechnen, er- schossen zu werden. Der russische Soldat, der im polnischen Groß Dase- kow auf verschüchterte Zurückgebliebene traf, zeigte mit dem Finger auf die Jüngste im Haus. Die Schwester berichtet: „Als diese nicht gleich aufstand, trat er dicht vor sie hin und hielt seine Maschinenpistole vor ihr Kinn. Alle schrien laut auf, nur meine Schwester saß stumm da und vermochte sich nicht zu rühren. Da krachte auch schon der Schuss …“ Die in den Dörfern zurückblieben, weil sie nicht fliehen konnten

oder wollten, wurden NOWOSTI von den Eroberern oft ROTE ARMEE IN FRAUENBURG (OSTPREUSSEN): Ein bisschen Plündern, ein paar Exzesse, das war vorgesehen nicht besser behandelt als die Opfer von Nem- mersdorf. Als das Bundesarchiv Mitte der FURCHTBARE SIEGER Der Tagesbefehl an die 1. Weißrussische siebziger Jahre Zeitzeugenbefragungen aus- Die Rote Armee war nie sonderlich diszi- Front vor dem Angriff auf das Reich lau- wertete, zählten die Wissenschaftler rund pliniert gewesen, und außerdem war sie tete: „Die Zeit ist gekommen, mit den 3300 so genannte Tatorte östlich von Oder durch den Krieg verroht. Heimaturlaub gab deutsch-faschistischen Halunken abzu- und Neiße, an denen deutsche Zivilisten es nicht, junge Männer mussten mit Flam- rechnen. Groß und brennend ist unser erschlagen oder erschossen, zu Tode ver- menwerfern in Unterstände des Feindes Hass. Wir werden uns rächen für die in gewaltigt oder bei lebendigem Leibe ver- eindringen, Kameraden beispringen, de- den Teufelsöfen Verbrannten, für die in brannt wurden. Das Bundesarchiv ging nen nach einem Bauchschuss die Einge- den Gaskammern Erstickten, wir werden davon aus, dass mindestens 120000 Deut- weide aus der Wunde quollen, ohne solche uns grausam rächen für alles.“ sche auf der Flucht starben. Ereignisse jemals verarbeiten zu können. Es scheint, dass Stalins Generäle die Wie viele Menschen insgesamt Flucht „Gleich nach dem Angriff guckt man bes- Wirkung ihrer Propaganda unterschätzten. und spätere Vertreibung das Leben koste- ser nicht in die Gesichter“, notierte eine Ein bisschen Plündern, ein paar Exzesse, te ist ungeklärt. In den fünfziger Jahren russische Sanitäterin, „da ist nichts das war vorgesehen. schätzte das Statistische Bundesamt ein- Menschliches drin.“ Doch die Mord- und Zerstörungswel- fach die Zahl der Deutschen, die vor 1945 Die Vernichtung von Millionen Men- len in Ostpreußen und Schlesien wurden östlich von Oder und Neiße gelebt hatten, schen, wie sie Hitler für die Russen offenbar auch der russischen Führung un- und zog davon jene ab, die nach dem Krieg plante, hatte Stalin für die Deutschen heimlich.

50 der spiegel 13/2002 Am zehnten Tag der Winteroffensive am Weichselbogen befahl das Oberkommando Ostpreußen Memel der 2. Weißrussischen Front, „Rauben, in den Grenzen von 1937 Plündern, Brandstiftung und Massensauf- gelage“ zu unterbinden. Die Hetzpropa- LITAUEN

g ganda allerdings ließ Stalin erst einstellen, n OSTSEE u r als seine Truppen Oder und Neiße über- h e schritten hatten und damit jenen Boden N e h betraten, den der Kreml-Führer in Zukunft Evakuierung c s Tilsit Memel über die Ostsee ri den Deutschen lassen wollte – die spätere u DDR. Cranz K Was über die Deutschen im Osten her- Putzig Palmnicken Metgethen eingebrochen war, hatte es tatsächlich seit er N eh Königsberg dem Frieden von Münster und Osnabrück ru Fischhausen Insterburg POM- n Gumbinnen 1648 in Mitteleuropa nicht mehr gegeben. g Pillau MERN Gdingen Pregel Damals, nach Ende des Dreißigjährigen Hela g (Gotenhafen) n ff Nemmersdorf Krieges, war es den Befehlshabern gelun- ru a eh H Heiligenbeil Zoppot N es gen, ihr blutiges Handwerk zu einer leidlich Frische ch ris geordneten Angelegenheit zu machen. Danzig F Seitdem war es üblich, Kriege zwischen FREISTAAT OSTPREUSSEN Staaten und ihren gelernten Soldaten zu DANZIG Elbing führen, am besten irgendwo abseits, wo Dirschau Pr. Holland die Zivilisten nicht stören und nicht be- Marienburg lästigt werden. Mohrungen Lyck In den folgenden Jahrhunderten wurde Allenstein der Krieg zum Kabinettskrieg zivilisiert Marienwerder und schließlich sogar der Gebrauch von Weichsel Dt. Eylau Osterode Waffen und Zwangsmitteln vertraglich ge- Graudenz regelt – Vergewaltigung gehörte nicht dazu. Der Krieg, das war das Wichtigste, hatte ein Ziel, das war Frieden, wenn auch ein Frie- den zu den Bedingungen des Siegers. POLEN 50 km Doch nun waren alle Schranken nieder- Bromberg gerissen, in denen der Krieg, nach den Worten des Berliner Politologen Herfried Münkler, „gehegt“ worden war. Der wilde wie Panzersperren oder Haubitzen, nur „Die Menschen liefen in den Straßen Krieg, der totale Krieg: Das war der Krieg eben billiger und überall verfügbar. kopflos herum. Viele Frauen bekamen Adolf Hitlers, der Krieg der entgrenzten Weinkrämpfe. Die Straßenbahnen waren Gewalt. Totale Vernichtung, nicht Frieden TODESMARSCH AUS BRESLAU überfüllt, und jeder fuhr in diesen letzten war das Ziel. Völlig unbefestigte Städte wie das schlesi- Tagen kostenlos.“ So erinnert sich Elisa- Schon im Mai 1941 hatte Hitlers Büro- sche Breslau wurden, als Menschenhaufen beth Erbrich, die sich am nächsten Tag, es kratie den gefürchteten „Kriegsgerichts- sozusagen, zu Festungen erklärt. Ein war ihr 20. Dienstjubiläum bei der Lan- barkeitserlass“ verbreitet, der es deutschen Ostwall aus Menschenleibern sollte sich desbauernschaft, auch auf den Weg macht: Soldaten erlaubte, sowjetische Zivilisten den bolschewistischen Panzern entge- „Es wurde dieser Tag der schwerste meines straffrei zu töten. Etwa elf Millionen Zivi- genstemmen. „Jeder Häuserblock, jedes Lebens.“ listen starben in Stalins Imperium an den Dorf, jedes Gehöft, jeder Graben, jeder Auf dem Leib trug sie Unterwäsche und Folgen des Krieges. Busch“, so Heinrich Himmler, „wird von Kleider, so viel sie anziehen konnte, einen Hitlers Feldherren waren es, die das er- Männern, Knaben, Greisen und – wenn es Rucksack nahm sie mit, in der Handtasche funden hatten: Menschen zu Kriegsmate- sein muss – von Frauen und Mädchen ver- gekochtes Huhn. Vom Himmel regneten rial zu machen, zu seelenlosen Einheiten teidigt.“ Breslau sollte mit seinen 630000 Flugblätter: „Deutsche, ergebt euch, es pas- Zivilisten der Roten Armee trot- siert euch nichts.“ zen; man würde überall Kanonen Elisabeth Erbrich aber musste, bei 16 aufstellen. Grad minus und mit Hunderttausenden an- Zunächst einmal begeben sich derer Frauen und Kinder, hinaus in den die zur Verteidigung unbrauchba- endlosen Zug durch den Schnee Richtung ren Frauen und Kinder auf einen Westen. Dieser Marsch aus Breslau koste- von Gauleiter Karl Hanke befoh- te Tausende Menschen das Leben. Am fol- lenen Fußmarsch nach Oppau. genden Tag wurden BDM-Mädchen aus Denn Fahrgelegenheiten gab es der Stadt zum Sanitätsdienst an die Strecke keine mehr, und auf dem Freibur- des Trauermarsches abkommandiert, um ger Bahnhof, von dem die Züge „die Puppen am Wegrand wegzuräumen“. nach Westen fuhren, war es bei Welche Puppen? Es waren alles steif ge- dem Gedränge bereits zur Mas- frorene Säuglinge, von ihren Müttern lie- senpanik gekommen. Hunderte gen gelassen. kleine zertretene Körper sammel- In Quittainen, elf Kilometer vor te die Bahnhofspolizei ein, als der Preußisch Holland, lebt seit einigen Jahren Zug endlich abgefahren war. Gräfin Dönhoff. „Keiner“, ahnt sie am PROPAGANDIST EHRENBURG (M.)* Abend ihrer Flucht, „wird diese Namen „Töte den Deutschen“ * In Berlin 1945. mehr nennen.“ Den meisten Menschen,

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Werbeseite Titel LANDSMANNSCHAFT OSTPREUSSEN E.V. (R.) E.V. LANDSMANNSCHAFT OSTPREUSSEN FLÜCHTLINGSSCHIFF „WILHELM GUSTLOFF“, FLÜCHTLINGE IM HAFEN VON PILLAU: Regelmäßig Chaos am Kai

wenn sie irgendwo wegmüssen, bleibt ja 26. Januar. Der größte Teil Ostpreußens melten Erfrorenen begraben, durch- die Gewissheit, dass es die verlorene ist vom Reich abgeschnitten oder erobert. schnittlich sind es 50, die in Papiertüten Heimat auch ohne sie geben wird – in Auch der Dönhoff-Treck, obwohl er dem den letzten Segen bekommen. Särge sind Wirklichkeit, nicht nur als Bild. Der Kessel entronnen ist, verliert den Mut. Re- keine mehr da. Abschied der Menschen von jenseits der signiert kehrt das Völkchen um – lieber Wieder so ein strahlender Wintertag. Oder kommt dagegen einem Weltunter- zurück zu den Russen als im Schneesturm Das Weiß der riesigen Eisfläche schneidet gang gleich. erfrieren. Nur die Gräfin wendet ihr Pferd ins Auge. 20 Kilometer lang ist der Weg Und das war es auch. Jahrhundert- nach Westen und reitet weiter, durch die übers Haff. Er ist von Soldaten mit lang bildeten Deutsche und Juden die eisige Nacht Richtung Weichsel. Bäumchen markiert worden, doch die wohl bedeutendsten Minderheiten in braucht es bald nicht mehr. Stattdessen Osteuropa. Doch Hitler ließ erst die Ju- DIE FLUCHT ÜBERS EIS säumen Erfrorene, die einfach liegen blei- den ermorden; der von ihm angezettelte Den Ostpreußen bleibt nur noch der Weg ben, tote Tiere oder zerschmetterte Wa- Krieg führte dann auch die deutsche Welt übers Wasser. Von Königsberg ist ein gen den Pfad – und Eislöcher. ins Chaos. schmaler Streifen zum rettenden Hafen Mehrere Wagen sind eingebrochen, Im Mittelalter waren die Ahnen der von Pillau frei geblieben, wo nun die ersten Menschen und Pferde im schwarzen Was- Krockows und Dönhoffs, der Matzkereits großen Flüchtlingsschiffe beladen werden. ser einfach verschwunden. Die endlose Ka- und Dubinskis Richtung Osten gezogen; Für die meisten führt der Weg zur Küste zu rawane macht kleine Kurven um solche sie hatten Städte gegründet und Land ko- Fuß übers zugefrorene Frische Haff, das Stellen. lonisiert – scheinbar beständige Konstanten zwischen Königsberg und Danzig wie ein Eine schaurige Flucht. Der Himmel am europäischer Geschichte. Riegel vor Ostpreußen liegt – von der Ost- Horizont schimmert blutrot und violett – Ferien im ostpreußischen Badeort Cranz see nur mehr durch einen schmalen Land- das sind die von den Russen bereits er- oder im schlesischen Kurort Bad Warm- streifen, die Frische Nehrung, getrennt. reichten brennenden Städte. Nachts wird brunn waren für viele Deutsche so selbst- Für Zigtausende ist das der einzige Weg verständlich wie heute Urlaub in Tra- in die Freiheit. Hinten, in den Panjewagen, vemünde oder am Königssee. Heiligenbeil am Haff: das letzte Mal fes- sind die in Decken Jeder kannte sie: den erzreaktionären ter Boden unter den Füßen. Von hier geht’s pommerschen Junker, der schon als Intel- aufs Eis. Auf dem neuen Friedhof wer- gewickelten Alten schon in den lektueller galt, wenn er sich aus Berlin den den täglich um halb drei die eingesam- ersten Nächten erfroren. Jagdkalender schicken ließ, oder die bitterarmen schlesischen Weber, deren es zwar noch kälter, aber dafür können die Schicksal Gerhart Hauptmann ein literari- feindlichen Flieger die Marschkolonne sches Denkmal setzte. Hitlers Krieg ließ nicht ausmachen. Die Wasserfontäne, die von dieser deutschen Welt im Osten so gut tagsüber hochspritzt, wenn eine Bombe wie nichts zurück; nur die leeren Städte das Eis durchschlägt, ist weithin zu sehen. und Dörfer. Eine Abiturientin aus Lyck in Ost- „Trudchen, meine Köchin, hatte schnell preußen war mit Mutter und Schwester un- noch Abendbrot gemacht“, schreibt die terwegs: „Das Eis war brüchig. Stellenwei- Gräfin Dönhoff über ihre Flucht. „Wir aßen se mussten wir uns durch 25 Zentimeter also noch rasch zusammen. Wer weiß, hohes Wasser hindurchschleppen. Mit wann man wieder etwas bekommen wür- Stöcken tasteten wir ständig die Fläche vor de. Dann standen wir auf, ließen Speisen uns ab. Bombentrichter zwangen uns zu und Silber auf dem Tisch zurück und gin- Umwegen. Häufig rutschte man aus und gen zum letzten Mal durch die Haustür, glaubte sich bereits verloren. Aber die To- ohne sie zu verschließen. Es war Mit- desangst vertrieb die Frostschauer, die über

ternacht.“ STAATSBIBLIOTHEK BAYERISCHE den Körper jagten.“ KRIEGSHERR HITLER (1941)* Die Tieffliegerangriffe der Roten Armee * An Bord eines Kriegsschiffs vor Danzig. Vom Endsieg schwadroniert auf die wehrlosen Flüchtlinge, deren dunk-

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das Ende so vorgestellt“, notierte nach ih- rer Ankunft im Westen Gräfin Dönhoff, die um diese Zeit irgendwo durch die Käl- te reitet: „Das Ende eines Volkes, das aus- gezogen war, die Fleischtöpfe Europas zu erobern und die Nachbarn im Osten zu un- terwerfen.“ Das Ende? Es wird noch dauern. Am 30. Januar versinkt die „Wilhelm Gustloff“ mit annähernd 10000 Flüchtlin- gen und Soldaten auf dem Weg nach Wes- ten in der Ostsee. Und am Strand nahe Pil-

SÜDDEUTSCHER VERLAG SÜDDEUTSCHER lau, wo trotz dieser Nachricht immer mehr ZUSAMMENGESCHOSSENER FLÜCHTLINGSWAGEN: Symbol sowjetischer Kriegsverbrechen Menschen auf immer neue Schiffe klettern, ist wenige Stunden später ein makabres Feuerwerk zu besichtigen. le Leiber sich von dem verschneiten Eis mersdorf – fallen sowjetische Soldaten Das ist die Leuchtmunition von SS-Leu- wie Schießbudenfiguren abheben, haben über die Flüchtlinge her und richten ein ten. Sie brauchen Licht, um 3000 Häftlin- das Haff zum Symbol sowjetischer Kriegs- Blutbad an. ge in der Dunkelheit am Strand zu er- verbrechen werden lassen. Als der Frühling Der Arzt Graf Lehndorff ist in Königs- schießen. Die Opfer, meist Frauen, kom- kam und das Eis brach, schwemmte das berg zurückgeblieben und schreibt in sein men aus dem KZ Stutthof. In Pillau, hatte Wasser Tausende von Körpern an den Tagebuch: „Wo man hinhört, überall wird man ihnen vorgegaukelt, würden sie auf Strand. heute von Cyankali gesprochen, das die Schiffe verladen. Nun umspült das gleiche Fluchtpunkt Pillau: Das Hafenstädtchen Apotheken freigiebig in jeder Menge aus- Ostseewasser ihre Leichen und die der an der Nehrung zeigt sich diesem An- teilen. Dabei steht die Frage, ob man über- „Gustloff“-Passagiere. sturm durchgefrorener Eiswanderer nicht haupt dazu greifen soll, gar nicht zur De- Der Westen – das ist nicht nur die ver- gewachsen. Am 26. Januar ist dort auch batte. Nur über die notwendige Menge heißungsvolle Richtung deutscher Opfer, noch die Munitionsfabrik in die Luft ge- wird verhandelt, und das in einer leichten, sondern auch deutscher Täter. Unter die flogen und hat weite Teile der Stadt ver- nachlässigen Art, wie man sonst etwa über Flüchtenden reihen sich immer wieder be- wüstet. Am Hafenkai steht unverrück- das Essen spricht.“ sondere Trecks – abgezehrte Gestalten in bar eine Menschenmauer und wartet Am Tag darauf umringen russische Trup- schmutzig grauen Häftlingslumpen: Die SS auf eine Schiffspassage. Wer in dem pen die Stadt. Königsberg, das etwa noch räumt ein KZ nach dem anderen. Gedränge ins eisige Wasser fällt, hat kei- 100000 Menschen in seinen Mauern be- Todesmärsche werden die Elendszüge ne Chance mehr. herbergt, ist abgeriegelt. genannt, weil die SS-Männer Tausende er- Für Sonntag, den 28. Januar, werden Dieser furchtbare Januar. „Mein Gott, schossen und erschlagen am Straßenrand 8000 Flüchtlinge erwartet, es kommen wie wenige in unserem Lande hatten sich zurücklassen. aber 28000, viele per Schiff aus Anfang Februar gab es dann dem nahen Königsberg. Die kein deutsches Ostpreußen Kriegsmarine bringt die Men- Vorstoß aus dem Osten mehr. Von winzigen Zipfeln ab- schen provisorisch in Kasernen Die sowjetische Offensive Anfang 1945 gesehen, war der Vorposten des unter. Reiches im Osten fest in sowje- SCHWEDEN Evakuierung deutscher Memel Wenn Boote anlegen, um Flüchtlinge über die Ostsee Königs- tischer Hand. In Oberschlesien Passagiere für die großen Schif- begann nun erst die Flucht aus Bornholm berg fe aufzunehmen, die auf der DÄNEMARK den Dörfern. Viele Menschen Ostsee liegen, gibt es regel- versuchten Sachsen zu errei- mäßig ein Chaos am Kai. Frau- Rügen Danzig chen, andere zogen in Panik en werfen ihre Kinder den Ret- übers Riesengebirge in die Su- Kolberg OST- tern ins Wasser entgegen, nur POMMERN PREUSSEN deten und wurden dort Opfer um wenigstens ihnen einen der ersten von den Tschechen in Platz zu sichern – und damit Stettin Gang gesetzten Vertreibungen. r sie an Land nicht totgedrückt e Wohin noch fliehen? Was d werden. O Bromberg auch immer die Deutschen auf Am Abend dieses Tages Berlin Warschau den Straßen unternahmen, wo- lässt Gauleiter Koch bei den Küstrin Posen hin sie sich auch wandten – sie Behördenchefs in Königsberg erlebten sich als Gejagte. Als DEUTSCH- eine Losung durchrufen: Am Od Opfer der Kälte, der Rotarmis-

e er

nächsten Vormittag sei Dienst- LAND s ten, der SS oder zuletzt der s i besprechung in Fischhausen. e Tschechen. Die Ortschaft liegt auf der N Breslau Gab es denn keine Macht, Straße nach Pillau. Es handelt SCHLESIEN Oppeln keinen Mächtigen, der diesem sich um einen verdeckten Elend ein Ende hätte machen Fluchtbefehl. Sudetenland können? Danach gibt es kein Halten Prag Krakau Keinen. Es war ja Krieg. mehr. Bald drängen Tausende Noch drei Monate lang, bis durch den Schneesturm über Frontverlauf Anfang Januar 1945 zum 8. Mai, würde noch weiter die Straße nach Fischhausen. Stoßrichtung der sowjetischen Streitkräfte gestorben, geschossen, ge- Nahe der Ortschaft Metgethen Frontverlauf Anfang Februar 1945 bombt. – ein Name, der später kaum Am 7. Februar findet die Grenzverlauf von 1937 minder bekannt wird als Nem- vierte Vollsitzung der Konfe-

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Werbeseite renz von Jalta statt. Die ent- Die Rettung der Flüchtlinge sei scheidenden Männer der USA, sein „vordringliches Anliegen“ Englands und der Sowjetunion, gewesen. Franklin D. Roosevelt, Winston Doch gerade Dönitz zögerte Churchill und Josef Stalin, sit- viel zu lange, die knappen zen da unter Palmen beisam- Brennstoffvorräte für die Flotte men, um über die Neuordnung zur Evakuierung der Menschen Deutschlands und Polens nach freizugeben. Hätte er schon dem Sieg der Alliierten zu spre- früher die ja durchaus vorhan- chen. denen Kapazitäten eingesetzt, Churchill greift dabei einen so der Historiker Heinrich Kernpunkt eher beiläufig auf. Schwendemann, „hätten sowohl Die Engländer, sagt er, würden die Bevölkerung als auch die über eine Massenaussiedlung Soldaten aus den Kesseln an der

aus dem Osten vielleicht scho- AKG Ostsee vollständig abtranspor- ckiert sein, er selbst aber nicht. SIEGESFEIER SOWJETISCHER SOLDATEN IN OSTPREUSSEN tiert werden können“. Stalin bemerkt, die meisten Die Wirkung der Propaganda unterschätzt Statt der vielen Kleinen set- Deutschen seien ja sowieso be- zen sich die Großen ab; jene, die reits vor der Roten Armee ge- für den Schlamassel die Verant- flohen. Darauf der Brite: Das wortung tragen. vereinfache die Sache natürlich. Am 27. April geht in Hela An der Ostseeküste bahnt Erich Koch, ein fanatischer sich das nächste Drama an. In Menschenschinder, an Bord des Pommern herrscht noch im- Eisbrechers „Ostpreußen“. Als mer Fluchtverbot, und die Räu- Gauleiter in Ostpreußen ließ er mungspläne – Codenamen „Re- bis zum Schluss alle Fluchtvor- gen“ und „Hagel“ –, die etwa bereitungen als Defätismus ver- im Kreis Deutsch Krone endlich folgen – die Russen, krakeelte realisiert werden sollen, bleiben Koch, würden niemals deut- auf Geheiß Himmlers bis fast schen Boden betreten. zuletzt in den Schubladen. Ein Also war ihm seine eigene Referent meldet dem zuständi- Flucht so unangenehm, dass er gen Landrat, dass der Reichs- dem Kapitän des Eisbrechers führer SS den Befehl über die befahl, die an Bord befindlichen

Heeresgruppe Weichsel persön- BPK Zivilisten zurückzulassen. Doch lich übernommen hat – zur Be- SIEGER AUF DER KONFERENZ VON JALTA* Ostpreußen gab es nicht mehr sorgnis kein Grund. Neuordnung Europas unter Palmen und daher auch keinen Gaulei- Wenige Tage später wird der ter. Der Kapitän weigerte sich, Kreis in letzter Minute doch den großkotzigen Anweisungen noch geräumt. Russische Panzer schneiden – bis die Städte nacheinander der Roten zu folgen. Der Statthalter des Führers, der dann alle Wege nach Westen ab. Armee anheim fallen wie Steine in einem dennoch heil über die Ostsee kam, nannte Die Schlinge um die Flüchtlinge ist ge- Dominospiel. sich künftig Rolf Berger und wurde erst legt, und langsam zieht Stalin zu. Richtung 1949 von den Briten verhaftet. Norden, an die Ostseeküste, in den Hafen DAS VERSAGEN VON DÖNITZ Am letzten Tag des Krieges hisst Elisa- von Kolberg, der Hansestadt, fliehen die Bis zuletzt unbesetzt bleibt in der Danziger beth Erbrich, die einige Wochen zuvor mit Menschen. Kolberg – hier hatten preußi- Bucht lediglich eine schmale, vorgelagerte einem gekochten Huhn in der Handtasche sche Truppen einst gegen Napoleon aus- Landzunge, die von Westen her wie ein aus Breslau floh, in einem Dorf im Erzge- geharrt; Goebbels hatte darüber rasch noch Blinddarm ins Ostseewasser reicht. Da, wo birge die weiße Fahne. Bis nach Sachsen einen berüchtigten Propagandastreifen dre- der Darm spitz endet, liegt Hela, ein Ha- hat es die Schlesierin geschafft – und nun hen lassen. Doch die Geschichte wiederholt fenstädtchen, das für Tausende und Aber- ziehen die Russen dort ein, die massenhaft sich nur selten, dieses Mal fällt die Stadt. tausende bis in den Mai hinein ein Ort der vergewaltigen. Die Angst vor den Rotarmisten lässt die Hoffnung ist. Die Häuser wurden geplündert. „Circa Menschen in den großen Kesseln an der Und es kommen tatsächlich Schiffe. Sie 40 Mal“, wird sie später zu Protokoll ge- Küste sogar Richtung Osten, also wieder sammeln sich außerhalb der Danziger ben, „mussten wir in der Nacht am 7. Mai zurück nach Westpreußen irren – solange Bucht, werden zu Geleitzügen zusammen- die Tür öffnen.“ noch die Hoffnung besteht, von dort ir- gestellt und fahren bei Einbruch der Wenige Wochen danach befiehlt der gendwie wegzukommen. Dunkelheit, gesichert von Einheiten der kommissarische Bürgermeister allen Flücht- Seit dem 7. März wird nun auch in Pom- Kriegsmarine, ohne Licht und Funkver- lingen, binnen kurzem in ihre Heimat mern den Apothekern nahe gelegt, Gift an kehr in den Hafen. zurückzukehren. Frauen rezeptfrei abzugeben – und zwar Gut eine Million Menschen versuchten Folglich packt sie wieder den Handwa- großzügig. Wozu noch Vorräte horten, in den letzten Kriegsmonaten, über die gen und schlurft tagelang zu Fuß Richtung wenn morgen die Welt untergeht? Ostsee den Westen zu erreichen. Eine Osten durch die öde, verbrannte Früh- Ausgerechnet Pommern und West- großartige Leistung in all dem Jam- lingslandschaft. preußen, diese kargen Gebiete, die dem mer, so scheint es – und so verbreiten Wie es „zu Hause“ aussieht, hat Elisa- spröden Menschenschlag dort nie viel zu es auch später Großadmiral Karl Dönitz, beth Erbrich nie mehr erfahren. Auf der bieten hatten, werden zur Hoffnung. Denn Hitlers Nachfolger in den letzten Tagen Brücke über die Neiße steht ein polnischer von hier, von Danzig, von Gotenhafen, von des Dritten Reiches, und seine Helfer. Offizier und erklärt ihr tonlos, dass die Kolberg gehen die rettenden Transporte Grenzen geschlossen sind. ab, die Zehntausende nach Westen bringen * Winston Churchill, Franklin D. Roosevelt, Josef Stalin. Thomas Darnstädt, Klaus Wiegrefe

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SPIEGEL-GESPRÄCH „Die Debatte wirkt befreiend“ Der Historiker Hans-Ulrich Wehler über die verspätete Aufarbeitung von Leid und Elend der Vertriebenen

SPIEGEL: Herr Professor Wehler, war das ten Angst, es könnte zu einer Aufrechnung Schicksal der deutschen Flüchtlinge und kommen, in der die gewaltige Anzahl von Vertriebenen, das nun in vielstimmigen 14 Millionen Landsleuten aus dem ehema- Erinnerungen wieder auflebt, während ligen deutschen Osten, von denen viele un- der zurückliegenden Jahrzehnte ein Tabu- ter grässlichen Umständen ums Leben ge- thema? kommen waren, aufgewogen würde gegen Wehler: Der Begriff Tabu ist zu stark. Es die Summe der eigenen Verbrechen. Ab- gab aber eine tief sitzende Scheu, die Ver- seits der Gedenktage und außerhalb der treibung nach dem Zusammenbruch des Landsmannschaften und Vertriebenenver- Dritten Reichs gleichgewichtig mit den an- bände gab es deshalb für diesen Teil der ge- deren großen Fragen jener Zeit zu behan- meinsamen Geschichte keine nennens- deln. Die Deutschen sollten sich erst einmal werte Öffentlichkeit. ihren eigenen Verbrechen stellen, was Völ- SPIEGEL: Immerhin stammt das bis heute

ker denkbar selten tun. Das wollte man umfassendste Kompendium über den er- MARCO-URBAN.DE nicht relativieren durch den offenen Blick zwungenen Weg nach Westen aus den fünf- auf die Tragödie von Millionen Menschen, ziger Jahren. Sie selbst haben als junger Hans-Ulrich Wehler die ganz überwiegend weder den Zweiten Wissenschaftler an der „Dokumentation war bis zu seiner Emeritierung 1996 Professor Weltkrieg verursacht hatten noch an den der Vertreibung der Deutschen aus Ost- für Allgemeine Geschichte an der Universität Bie- Verbrechen der Nazis beteiligt waren. Mitteleuropa“ mitgearbeitet … lefeld. Er ist Mitbegründer der „Bielefelder Schu- SPIEGEL: Die Gräuel des nationalsozialisti- Wehler: … ein Auftragswerk für das dama- le“, die historische Prozesse auf innen- und ge- schen Völkermords und die Schrecken von lige Vertriebenenministerium. Mein Dok- sellschaftspolitische Bedingungen zurückführt. In Flucht und Vertreibung lassen sich doch torvater Theodor Schieder, einer der Lei- seiner wissenschaftlichen Arbeit beschäftigte nicht einfach gleichsetzen. ter des Projekts, hatte mich ein halbes Jahr sich Wehler, 70, vorwiegend mit der Geschichte Wehler: Sicher nicht, denn der Holocaust lang für den Jugoslawien-Band verpflich- des 19. und 20. Jahrhunderts. läuft auf die industrielle Massentötung tet, obwohl sich meine Begeisterung dafür ohne Ansehen von Alter, Person und Ge- in Grenzen hielt. schlecht hinaus, während die Vertriebenen SPIEGEL: Wie konnten Sie so kurz nach den ferenz stärken, indem das erlittene Leid der ungleich verteilte Überlebenschancen hat- Ereignissen eine stichhaltige Dokumen- Deutschen schwarz auf weiß festgehalten ten. Aber viele in der Bundesrepublik hat- tation verfertigen? wurde. Es ging dem Ministerium also um Wehler: Man hatte zuvor jene Aufrechnung, die Sie und viele Ihrer DEUTSCHE FLÜCHTLINGSFAMILIE* eine schier unendliche An- Generation nicht wollten. „Ihr müsst mit eurem Leid allein fertig werden“ zahl von Zeugnissen ge- Wehler: Mir und den jüngeren Kollegen war sammelt, nach meiner Er- dieser geheim gehaltene Zusammenhang innerung allein 20000 für überhaupt nicht bewusst. Uns gegenüber das damalige Gebiet Ju- wurde das Geschehen so präsentiert: Hier goslawiens. Bei der Aus- gibt es einen Auftrag, das soll festgehalten wertung galten stren- werden, ehe es aus dem Gedächtnis ver- ge Vorsichtsmaßnahmen: schwindet, helfen Sie doch bitte mal eben. Wenn ein dramatischer SPIEGEL: Schieder, einer der bedeutendsten Überfall acht- bis zehnmal Historiker der Bundesrepublik, hatte 1939 die bestätigt wurde, konnte Annexion von Teilen Polens, die Auswei- man das Geschilderte glau- sung von 700000 Polen aus diesen Gebieten ben. War zum Beispiel und die „Entjudung Restpolens“ gefordert. von einem Treck mit 900 Darüber gesprochen hat er später nicht. Leuten aus einer bestimm- Wehler: Ja, wie viele seiner Generation hat ten Ortschaft die Rede, er eisern gemauert. Seine Schüler ahnten überprüften wir anhand nicht das Geringste von dieser Seite Schie- alter Adressbücher, ob ders, der sich während des Krieges in Kö- dort überhaupt so viele nigsberg aufgehalten hatte. Wenn ich ihn Menschen gelebt hatten. nach dieser Zeit fragte, guckte er mich SPIEGEL: Das Projekt soll- scharf an und fragte: „Haben Sie für das te die Position der Bun- nächste Seminar schon die Texte besorgt?“ desrepublik bei einer SPIEGEL: In dieses Bild passt: Während es eventuellen Friedenskon- ein Vierteljahrhundert lang in Deutschland keine Holocaust-Forschung gibt, die die- * 1945 in Berlin. sen Namen verdient, kommt rasch eine Das Gespräch führten die SPIE- GEL-Redakteure Dietmar Pieper staatlich geförderte Untersuchung der Ver-

DEUTSCHES HISTORISCHES MUSSEUM HISTORISCHES DEUTSCHES und Klaus Wiegrefe. treibungen in Gang.

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Sudetendeutschen Landsmannschaft Recht Wehler: Ich sehe das große Problem, dass geben, indem ich die Schrecken der Ver- sich im Vorfeld der EU-Osterweiterung ein treibung noch einmal darstelle? Lieber Horrorszenario aufbaut, das zu einer vehe- nicht. menten Ablehnung führt: Warum soll man SPIEGEL: Wann hat sich das geändert? mit den Kindern dieser Täter in einer Uni- Wehler: Das beginnt Ende der siebziger Jah- on zusammenleben? re mit eher halbseidenen Darstellungen. Die SPIEGEL: Dass aus der Vergangenheit solche seriösen Impulse kommen aus dem Aus- Folgerungen für die Zukunft gezogen wer- land, vor allem von den großen Migra- den, ist doch ziemlich unwahrscheinlich. tionsstudien aus Oxford und Cambridge, Wehler: Ich habe Angst vor der Wirkung die den, wie es in der kalten Sprache der der Worte. Die Umstände der Vertreibung Neutralität heißt, „Transfer“ von Bevölke- rung in weltweiter Perspektive beschreiben. „Ohne das brutale Vorgehen SPIEGEL: Welche Rolle spielten der Mauer- der Deutschen hätte es keine fall 1989 und der Zusammenbruch des Ost- blocks für die Beschäftigung mit diesem derartigen Auswüchse auf Kapitel der Geschichte? der anderen Seite gegeben.“ Wehler: Zum ersten Mal leben die Deut- schen in einem Staat, der keine schwelen- sind schrecklich. Es gibt unzählige glaub- den Grenzkonflikte hat. Das erleichtert es, würdige Berichte, wie Panzer die Trecks über die Schrecken in den ehemaligen einfach niederwalzen, wie Leute gezwun-

ULLSTEIN BILDERDIENST ULLSTEIN Ostgebieten, auf die nun hier zu Lande gen werden, aus Latrinenkübeln zu trin- SS-MORD AN JUDEN (1941)* niemand mehr Anspruch erhebt, neu zu ken, bis sie verrecken. Oder die ständigen Vernichtung in großem Stil reden. Wir haben dann die Bilder der so Vergewaltigungen. Es gab eine Faustregel: genannten ethnischen Säuberung auf dem Maximal 15 kann eine Frau überleben, bei Balkan gesehen. Die Flüchtlingstrecks in 20 stirbt sie, Kinder sterben früher. Da Wehler: Was die Geschichtsschreibung des einem ziemlich nahen Teil Europas riefen kann man in direkter Sprache eine drama- Holocaust angeht, haben Sie Recht. Aber es sicher bei vielen die Erinnerung wach: Das tisierte Vertreibungsgeschichte schreiben, gibt lange Zeit praktisch genauso wenig eine sind ja Vorgänge, wie Deutsche sie selber die einen Horror davor erzeugt, die Nach- Vertriebenenforschung. Die „Dokumen- vor gut 50 Jahren mitgemacht haben. Da- kommen dieser Täter in die EU zu lassen. tation“ wurde 1960 beendet und ging nicht von ging vielleicht auch für Jüngere, die SPIEGEL: Es ist aber ein Teil der historischen in den Buchhandel, sondern verschwand als das nur aus Erzählungen kennen, eine Art Wahrheit, die Gräuel zu benennen und sie Ministeriumsdruck in einigen wenigen Weckeffekt aus. nicht hinter Zahlen und Strukturen ver- Regalen. Der Ergebnisband erschien über- SPIEGEL: Beginnt durch diese Wiederkehr schwinden zu lassen. haupt nicht, weil er den Politikern nicht des Verdrängten jetzt ein heilsamer Prozess? Wehler: In einer Kosten-Nutzen-Analyse genehm war. Denn darin wurde ausgeführt, Wehler: Für die Überlebenden der Trecks würde ich sagen: Im Augenblick besteht dass es ohne das brutale Vorgehen der war es eine jahrzehntelang andauernde der Gewinn einer Debatte darin, dass sie Deutschen keine derartigen Auswüchse auf Zumutung, dass sie ihr Leid privatisieren befreiend wirkt, dass ein abgesunkenes der anderen Seite gegeben hätte. mussten. Gewisse Ventile boten zwar die Stück der kollektiven Leidensgeschichte SPIEGEL: Und in den sechziger Jahren wollte Landsmannschaften und anfangs auch der des Zweiten Weltkriegs hochtransportiert sich niemand mit dem Thema beschäftigen? „Block der Heimatvertriebenen und Ent- wird und ruhig besprochen werden kann. Wehler: Unter den jungen Historikern der rechteten“. Aber die Botschaft der bun- SPIEGEL: Zur Klarheit über das Geschehen Bundesrepublik zeigte sich damals eine desdeutschen Mehrheit hieß: Ihr müsst mit gehört die Analyse der Ursachen, die zu verbreitete emotionale Hemmung, das eurem Leid allein fertig werden. Wenn das Flucht und Vertreibung der Deutschen aus Thema aufzugreifen. Wer in die Nähe jetzt im Abstand von gut einem halben den Ostgebieten führten. Welche Faktoren solcher Fragestellungen kam, sagte sich: Jahrhundert neu aufgerollt wird, kann das halten Sie für die wichtigsten? Soll ich mich auf dieses verminte Gelände nicht schaden, denn wir haben ein zeit- Wehler: Die Ereignisse folgen weitgehend begeben und den Amokläufern von der liches und emotionales Sicherheitspolster. dem simplen Schema von Aktion und Re- SPIEGEL: Ganz überzeugt sind Sie offenbar aktion. Die Aktion geht aus von den deut- * In der Nähe von Kaunas (Litauen). nicht. schen Besatzungstruppen, den SS-Dienst- stellen, den Einsatzgruppen und Himmlers ARMENIER VOR DER ERMORDUNG, TÜRKISCHE BEWACHER (1915): Vorbild für Hitler Reichskommissariat für die Festigung deut- schen Volkstums. Sie steuern die Bevölke- rungsverschiebung und die Germanisie- rung in den eroberten Gebieten. Auch der leidenschaftlichste polnische, ungarische oder tschechische Nationalist wäre bis 1939 nicht auf die Idee gekommen, Millionen von Bürgern mit anderer Sprache einfach zu vertreiben. SPIEGEL: Es hat aber schon vor dem Zwei- ten Weltkrieg Überlegungen bei politischen Führern in Osteuropa gegeben, mit Hilfe ethnischer Säuberungen das Nationalitä- tenproblem zu lösen. Wehler: Das große, schreckliche Beispiel, bei dem Europa entsetzt zuschaut, ist die Ermordung von wohl 1,5 Millionen Ar-

INFORMATIONS- U. DOKUMENTATIONSZENTRUM BERLIN DOKUMENTATIONSZENTRUM U. INFORMATIONS- meniern während des Ersten Weltkriegs Werbeseite

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ren noch äußeren Frie- den schafft. SPIEGEL: Der britische Premier Winston Chur- chill war ein Befürwor- ter der Bevölkerungsver- schiebung – sie sollte, ein- mal abgeschlossen, den Frieden sichern. Hat die Vertreibung der Deut- schen womöglich wirk- lich zum langen Frieden in Europa beigetragen? Wehler: Im Nachhinein kann man schwer be- streiten, dass Konflikt- möglichkeiten durch sol- che Gewaltakte radikal

FALK HELLER / ARGUM (L.); ACTION PRESS (R.) / ARGUM (L.); ACTION HELLER FALK reduziert werden. Man SPITZENPOLITIKER STOIBER, SCHRÖDER BEI VERTRIEBENEN-TREFFEN*: Neues Reden auf vermintem Gelände kann das nüchtern kons- tatieren, aber ich sehe die Gefahr, dass man daraus durch die Türken. Dann kommen als Wehler: Bei den osteuropäischen Exilpoli- auch eine Art von moralischer Rechtferti- direkte Kriegsfolge die Vertreibung der 1,5 tikern, die nach 1945 ans Ruder kommen, gung für grässliche Verbrechen ableitet. In Millionen Griechen vom türkischen Fest- lässt sich ein Denkprozess beobachten: den Balkankriegen konnten wir das wieder land und im Gegenzug der Exodus von Wenn sich der Krieg zu unseren Gunsten beobachten. 600000 Türken, die auf der europäischen wendet, werden wir nicht mehr mit kom- SPIEGEL: Aber waren nicht das atomare Seite des Bosporus gelebt haben. Das lässt plizierten Minderheitsverträgen versuchen, Gleichgewicht des Schreckens einerseits sich mit allen Gräueln der Umsiedlung der einen Modus vivendi mit deutschen Min- und die Integration der Vertriebenen an- Polen durch die Deutschen 1939/41 oder derheiten zu finden. Dann werden wir dererseits die eigentlichen Gründe dafür, der Vertreibung der Deutschen aus Osteu- entsprechend radikale Maßnahmen wie die dass die Vertreibung keine Gegengewalt ropa seit 1945 vergleichen. Deutschen vorher ergreifen. erzeugte? SPIEGEL: 1923 einigen sich Türken und Grie- SPIEGEL: Aber Stalin fängt schon vorher Wehler: Dass gleich nach Kriegsende die bei- chen im Frieden von Lausanne auf einen damit an. den weltpolitischen Blöcke in Deutschland geordneten Bevölkerungsaustausch. Wehler: Erst nachdem der Krieg begonnen aufeinander treffen und keinen Millimeter Wehler: Da sind die schlimmsten Verbre- hat. Wolgadeutsche und andere Minder- Bewegung erlauben, spielt in der Tat eine chen aber schon passiert. Den Zeitgenos- heiten sind in den Augen der Bolsche- große Rolle. Dazu kommt, dass der Korea- sen ist völlig präsent, dass in beiden Fäl- wiki unsichere Kantonisten. Bei den ers- Krieg seit 1950 weltweit eine Konjunktur in len etwas Ungeheuerliches geschehen ist. ten deutschen Truppenvorstößen zeigen Gang setzt, mit der niemand gerechnet Auch in den Religionskriegen wurden sich Kollaborationsneigungen, und dann hatte. Ohne die internationalen Wachstums- kommt die Umsiedlung. Die ist dann rabiat impulse hätte auch die vernünftige Politik „Der Verlust der Ostgebiete bis zum Exzess. Ludwig Erhards das Land nicht so schnell ist der Preis dafür, dass SPIEGEL: Woher kommt das starke Bedürf- aus den Ruinen auferstehen lassen. Der nis, nur mit Menschen gleicher Nationalität Arbeitsmarkt saugt die Millionen Menschen ein Land zweimal einen in einem Staat leben zu wollen? aus dem Osten so schnell auf, dass schon ab totalen Krieg riskiert.“ Wehler: Sicher gibt es das alte sozialpsy- 1955 die ersten Gastarbeiter aus Italien und chische Problem, dass die In-Group, wer Spanien angeworben werden. zwar Menschen vertrieben, aber da ging immer das gerade ist, Fremde, die Out- SPIEGEL: Die Vertriebenen scheinen nahe- es um relativ kleine religiöse Minderhei- Group, fern halten möchte. Aber die eu- zu spurlos in der deutschen Gesellschaft ten. Jetzt werden auf einmal Millionen ver- ropäischen Staaten waren, wenn man die aufgegangen zu sein. Sehen Sie außer den schoben, oder sie werden massakriert wie Legenden beiseite lässt und sich ihre Ge- Heimattreffen noch Traditionen, die wei- die Armenier. schichte genau anschaut, niemals homo- terwirken? SPIEGEL: Und das hatte Vorbildcharakter? gen. In Frankreich etwa sprachen 1789 nur Wehler: Nein. Was bleibt, sind Erinnerun- Wehler: Hitler wusste das sehr genau. Ehe 13 Prozent des Staatsvolks, die in der Ile- gen wie die, dass der selige Immanuel Kant er nach Polen einmarschiert, ruft er am de-France lebten, Französisch; ihre Lands- im fernen Königsberg die geistige Welt ver- 22. August 1939 die Generalität zusammen leute in Burgund oder der Provence rede- ändert hat. Mehr nicht. Diese Gebiete, die und erklärt, jetzt kommt ein völkischer ten für sie unverständlich. Dann kommt jahrhundertelang von Deutschen besiedelt Krieg. Der wird anders laufen als Kriege ein nationales Bildungssystem und verein- waren, sind für uns verloren. Das ist der bisher, dazu wird auch eine Bevölkerungs- heitlicht die Sprache. So ist die Neigung, in Preis dafür, dass ein Land zweimal einen verschiebung samt Vernichtung im großen einem Nationalstaat nur mit Gleichspra- totalen Krieg riskiert. Stil gehören. Und als zynische Begründung chigen zusammenleben zu wollen, ein his- SPIEGEL: Herr Wehler, wir danken Ihnen fügt er hinzu: „Wer redet heute noch von torisches Kunstprodukt, das weder inne- für dieses Gespräch. der Vernichtung der Armenier?“ SPIEGEL: Die Vertreibung der Deutschen war dann vor allem eine Vergeltungsmaß- Im nächsten Heft lesen Sie: „SCHRECKEN DER WILDEN VERTREIBUNG“ nahme? Nach Kriegsende begann in den befreiten Ländern des Ostens grausame Selbstjustiz – die „wilde Vertreibung“ der noch nicht geflohenen Deutschen. Massaker wie beim * Links: beim Sudetendeutschen Tag in Nürnberg (Juni 2000); rechts: beim Tag der Heimat 2000 in Berlin. Prager Aufstand oder dem „Brünner Todesmarsch“ brachten Zehntausenden den Tod.

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Werbeseite Deutschland

Nie war es so einfach, Großhändler in Sachen Kinderpornos zu werden, warnte INTERNET kürzlich Unicef, das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen. Camcorder, digitale Kamera und Scanner reichten aus, um ins Jagd auf „Donald Duck“ Geschäft einzusteigen. Täglich wächst die Zahl der einschlägigen Angebote im Web Der jüngste Erfolg im Kampf gegen die Kinderpornografie nach einer Schätzung der Uno um mindes- tens 100. Und es geht nicht nur um Sex: kaschiert die Ohnmacht der Ermittler: Die Polizei Auch Gewalt- und Folterbilder von Klein- kommt den Tätern meist nur durch Zufall auf die Spur. kindern und Säuglingen gelten bei den schätzungsweise 60 000 Pädophilen und Päderasten in Deutschland als so heiße wie heiß begehrte Ware. Für den „ultimativen Kick“ ist den Sex- Surfern jedes Mittel recht: Mit Kot ver- schmierte Babys, die vor der Kamera miss- braucht werden, ein Hund beim Ge- schlechtsverkehr mit einem Mädchen, die Vergewaltigung eines kleinen Jungen, live im Netz übertragen. Die „Entsorgung“ des Opfers sei nicht billig, deshalb werde noch eine „zusätzliche Gebühr“ fällig, heißt es auf einer russischen Seite. Massenhaft werden Kinderpornos in Asien und Osteuropa hergestellt. Aber auch in Deutschland werden nach Schätzung des BKA jährlich 200000 Kinder sexuell miss- braucht, häufig dabei gefilmt oder fotogra- fiert. Dagegen nimmt sich die Zahl der Täter, die wegen Besitzes oder Verbrei- tung von Kinderpornos angeklagt werden, lächerlich gering aus. Gerade einmal in 2600 Fällen wurde im Jahr 2000 ermittelt.

DPA 1998 nahmen zwei Dutzend Beamte in Internet-Polizeifahnder (in München): Zugang zum inneren Zirkel der Zentralstelle „Kinderpornografie“ im BKA den ungleichen Kampf auf. Klar sei, er 40-jährige Hotelfachwirt hatte an Der Coup ist einer der Aufsehen erre- dass die Erfolge größer wären, wenn für die diesem Dienstagnachmittag, Ende gendsten Schläge der vergangenen Jahre Online-Polizeistreife mehr Fahnder einge- DNovember, nicht mehr mit Besuch gegen die Kindersex-Szene, doch tatsäch- setzt würden, räumt Max-Peter Ratzel, Ab- gerechnet; wer via Internet Kinderporno- lich kaschiert die Erfolgsmeldung nur die teilungspräsident Allgemeine und Organi- Fotos tauscht, legt dabei schließlich Wert Ohnmacht der Ermittler. Bei der Jagd im sierte Kriminalität, ein. auf Privatsphäre. Dass er dennoch die Tür Netz fehlt es an Personal, moderner Tech- Handeln aber wollen die Politiker nicht. öffnete, wurde ihm dann zum Verhängnis: nik und politischer Unterstützung; was den Bislang bleibt der Bund auf den Kosten Die Besucher, Beamte des Polizeipräsidi- Fahndern bleibt, ist die Hoffnung auf der Zentralstelle sitzen und will den Ein- ums Münster, konnten den Netz-Spanner Glückstreffer. Und die Erfolge werden häu- satz auch nicht wesentlich erhöhen. Den in Münster-Hiltrup bei laufendem Compu- fig von zu hohen Anforderungen der Ge- Ländern reichen in der Regel ein bis zwei ter überführen. setze wieder zunichte gemacht. Auch im Beamte in ihren Landeskriminalämtern. Auf die Spur des Mannes war die Poli- Fall Artus: Wenige Stunden nach der Fest- Und gerade die Erfolge offenbaren die zei schon Monate zuvor durch den Tipp ei- nahme waren zwei der mutmaßlichen Täter Schwachstellen der Strafverfolgung. Der nes österreichischen Journalisten gekom- wieder auf freiem Fuß. Paradefall: Die Aktion „Nadelöhr“, bei der men. Der war bei Recherchen im Internet im vergangenen Jahr der Zufallsfund einer auf einen abgeschotteten Bereich für Kin- Festplatte im rheinland-pfälzischen Eifel- derschänder gestoßen und hatte das Bun- städtchen Kaisersesch eine Razzia in 23 deskriminalamt (BKA) eingeschaltet. Die Staaten auslöste – und allein zu 2200 Er- Beamten werteten die Daten des geständi- mittlungsverfahren bei der Staatsanwalt- gen Münsteraners aus – und schlugen am schaft Koblenz führte. Schon damals fragte vergangenen Mittwoch gemeinsam mit sich die Öffentlichkeit: Wie war es möglich, Polizisten und Zollbeamten in neun weite- dass sich ein weltumspannendes Kinder- ren Staaten zu. Beteiligt waren auch Inter- porno-Netzwerk bilden konnte, ohne dass pol und das FBI, das im Auftrag des Jus- irgendein Computerpolizist auf dem Globus tizministers John Ashcroft zeitgleich in 26 davon etwas mitbekommen hatte? US-Bundesstaaten die „Operation Candy- Tatsächlich waren die Ermittler verblüfft, man“ durchzog. Stolz verkündete BKA- als sie das Kommunikationssystem des Sprecher Norbert Unger, bei der Aktion Rings aufdeckten. Fotos, Videos und Daten „Artus“ sei es erstmals gelungen, den Tä- wurden nicht – wie gewohnt – von zentra-

tern „bandenmäßiges Vorgehen“ nachzu- / DPA TIM SLOAN len Netzrechnern, den Servern, herunter- weisen. Zwölf Personen seien verhaftet US-Justizminister Ashcroft geladen. Die Kinderschänder nutzten so worden, drei davon in Deutschland. Ermittlungen in 26 Bundesstaaten genannte Peer-to-Peer-Verbindungen. Wie

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Werbeseite Deutschland bei der Musikbörse Napster können die Die Waffen der Polizei sind dagegen 130 Tatverdächtige fest. Solche spekta- Spanner dann für einen Online-Tausch- meist stumpf. Das gilt auch für das System kulären Erfolge sind aber wegen der un- handel untereinander auf ihre Rechner zu- „Intermit“, das Claus Henning Schapper, terschiedlichen Gesetze in den Staaten und greifen – für Fahnder ist diese Art „Stille Staatssekretär im Innenministerium, im wegen der Verweigerungshaltung von In- Post“ kaum kontrollierbar. vergangenen Mai als neuartiges Fahn- ternet-Betreibern selten. Bald schon könnte aber selbst das Sam- dungsinstrument vorgestellt hatte. Als Unterschiedlich lang sind auch die Zeit- meln der Schmuddelbilder auf dem hei- Netzpatrouille sollte das Programm das spannen, in denen Provider die Verbin- mischen Computer passé sein. Immer mehr Web automatisch nach Stichwörtern durch- dungsdaten ihrer Kunden aufbewahren. Im- Netzbetreiber richten Kunden passwort- forsten, die auf Strafbares hinweisen. Im mer wieder kommt es vor, dass bereits alles geschützte Speicherplätze im Web ein. Der BKA wird die Meta-Suchmaschine wegen gelöscht ist, bevor der zur Herausgabe be- Besitz der Pornos lässt sich dann kaum technischer Probleme bislang allerdings nötigte richterliche Beschluss vorliegt. Aber mehr entdecken. Auch Roland M., mut- nicht eingesetzt. Sie wäre auch kaum eine selbst wenn es gelingt, eine Kinderporno- maßliche Schlüsselfigur der Aktion „Na- Arbeitserleichterung. Im Gegenteil: Das Community im Internet aufzuspüren, haben Ermittler oft keine Chance. Die zum Ein- tritt notwendigen einschlägigen Fotos, das „Spielmaterial“, dürfen die Beamten nicht zur Verfügung stellen. Das wäre eine Straftat; auch Surfen unter falschem Namen ist deutschen Polizisten nicht erlaubt. Den größten Kummer bereiten ihnen aber die Paragrafen der Strafprozessord- nung. Besitz und Verbreitung von Kinder- pornografie rechtfertigen bislang nur dann eine Telefonüberwachung und damit auch Einblicke in geschützte Internet-Aktivitä- ten, wenn die Ermittler die Spanner zur „Kriminellen Vereinigung“ erklären – an- dernfalls bleiben selbst E-Mails tabu. Das Bundesjustizministerium sieht trotzdem keinen Änderungsbedarf. Die Zögerlichkeit der Politik bringt Ex-

FRANK MAY / DPA MAY FRANK perten wie Adolf Gallwitz, Professor an der BKA-Sonderkomission „Artus“: „Bandenmäßiges Vorgehen“ Polizeihochschule in Villingen-Schwennin- gen, in Rage. Eine wirkliche delöhr“, hatte möglicherweise eine „virtu- Programm würde Tausende Sei- Chance hätten die Ermittler nur, elle Festplatte“ irgendwo auf dem Glo- ten ausspucken, die von den Er- wenn sie online die Rechner von bus; mittlerweile ist M. schon wieder auf mittlern geprüft werden müss- Verdächtigen überwachen dürf- freiem Fuß. ten. Dabei stünden die Code- ten. Das machen bislang aber Passwortgeschützte Communities, wie wörter der Kinderporno-Szene nur Computer-Hacker, illegal sie M. nutzte, erlauben den Surfern, selbst noch nicht einmal auf der In- natürlich. „Die Gefahr, gehackt Gesprächsrunden zu organisieren; sie wer- termit-Liste. zu werden, ist für die Kinder- den inzwischen von vielen Internet-Be- Also bleiben den Fahndern schänder mit Sicherheit höher, treibern neben den eigenen Web-Plauder- nur ihre herkömmlichen Daten- als von der Polizei geschnappt plätzen, den Chatrooms, angeboten. Was banken, in denen sie Infor- zu werden“, sagt Beate Blumen- in einer Community geschieht, wissen mationen über ermittelte Fälle thal, zweite Vorsitzende des sogar die Netzbetreiber oft nicht. Sie kön- und Täter speichern. Daneben Vereins „Anti-Kinderporno“ in

nen meist nicht einmal Auskunft dar- gibt es seit wenigen Jahren das IMO / PHALANX THOMAS Hofheim bei Wiesbaden. Die über geben, wer eine Community einrich- Software-System Perkeo, das Staatssekretär Organisation will Kinderschän- tet; Namen wie „Donald Duck“ reichen 60000 Kinderporno-Bilder ent- Schapper der im Netz aufspüren und der zur Anmeldung. Wer dann an Kindersex- hält. Damit können Fahnder Stumpfe Waffen Polizei melden. Doch die Be- Fotos interessiert ist, sucht per „Bran- neu entdeckte Fotos mit sicher- amten haben kaum Zeit, der chenjargon“ zunächst einen geeigneten gestelltem Material abgleichen. Aber auf wachsenden Zahl von Hinweisen aus der Chatroom. Dort wird er von Insidern über- der Suche nach geheimen Pornoringen hilft Bevölkerung nachzugehen. Ohnehin kann prüft. Ehe er Zugang zum inneren Zirkel diese Technik kaum. die Zivilcourage der Bürger unangenehme erhält, muss er selbst Bilder zur Verfügung Angeboten hat die Polizei ihre Perkeo- Nebenwirkungen haben. Denn wer Kin- stellen. Software auch Internet-Providern. Doch derpornos besitzt, macht sich strafbar – Längst aber haben findige Pädophile an- die sperrten sich, Seiten ihrer Kunden mit selbst wenn er Täter überführen will. dere Dienste des Internet für sich entdeckt. Ermittlungsdaten automatisch abzuglei- Diese Erfahrung musste auch der Vor- So wird das File Transfer Protokoll (FTP), chen. Harald Summa, Geschäftsführer von sitzende von Anti-Kinderporno, Udo Blu- über das Banken und Unternehmen Da- Eco, dem Verband der deutschen Internet- menthal, machen. 1999 war die Polizei nach ten übertragen, neuerdings von Pädophilen Wirtschaft, wirbt stattdessen lieber für frei- einer Anzeige am Vereinssitz im hessischen für den diskreten Austausch missbraucht. willige Zusammenarbeit mit der Polizei. Hofheim aufgetaucht – und fand drei CD- Beliebt ist für den Transfer von Schmud- Wie die aussehen könnte, zeigt der Fall Roms mit einschlägigen Fotos. Im April delkram auch das Internet Relay Chat des britischen Providers Demon Internet, steht Blumenthal nun vor dem Frankfurter (IRC), ein Dienst aus den Pioniertagen des der den Fahndern zwei Wochen lang Zu- Amtsgericht. Dabei hatte er das Material Internet. Wie man die Fotos und Videos gang zu seinen Servern gewährte. Mehr als aus dem Netz gezogen, gesichert und dem verschlüsselt und als harmlose Musikdatei 10000 Surfer klickten rund 30 überwach- FBI übergeben. Sein Fehler: Er hatte die tarnt, können die Kriminellen in jeder te Kindersex-Seiten an. Ende November CDs nicht sofort vernichtet. Computerzeitschrift nachlesen. nahm die Polizei in 19 Ländern insgesamt Michael Fröhlingsdorf, Conny Neumann

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Der Geldsegen bringt nicht nur MV, son- Das wundersame VfB-Salär sorgt bei BADEN-WÜRTTEMBERG dern auch die Finanzbehörden des Mus- MV aber nicht nur für Steuerprobleme. terländles wie schon bei der FlowTex- Dem Landesamt für Besoldung und Ver- Lawinengefahr Affäre oder dem Fall der Tennisspielerin sorgung, das ihm das Übergangsgeld nach Steffi Graf in Erklärungsnot. seinem Ausscheiden aus dem Ministeramt Denn seit 1999 hat der Ex-Finanzminister ausrechnete, teilte er mit, dass er über kein im Ländle keine Einkommensteuererklärung mehr anderes Einkommen verfüge, das seinen abgegeben. Üblicherweise geht der Fiskus Anspruch schmälern würde. Mittlerweile DFB-Chef Mayer-Vorfelder muss rigoros gegen jeden vor, der seine Er- prüft das Amt den Fall. Hier drohen MV klärung nicht fristgerecht einreicht. Dann zusätzlich beträchtliche Rückzahlungen. womöglich 250000 Euro Steuern nämlich wird das Einkommen geschätzt Und die SPD sieht in dem verschwiegenen nachzahlen. So hiebfest er und die festgesetzte Steuer eingetrieben. VfB-Nebenverdienst einen Verstoß gegen sich verteidigt, so wenig stichhaltig Doch in Stuttgart gilt dies offenbar nicht Offenlegungsregeln des . scheint die Argumentation. für MV. Bis heute hat sich das zuständige Auf die Turbulenzen um MV hat jetzt Finanzamt die fälligen Steuern nicht geholt. auch die Finanzverwaltung intern reagiert, r war der Mann, den keiner schaffte, Mancher Steuerzahler wäre ob dieser und die ist trotz aller Prügel erst mal der Steher unter den Umfallern, großzügigen Behandlung voller Dankbar- bemüht, aus dem Fall Lehren zu ziehen, Eder sein Kinn vorreckte, wo andere keit; Reserveoffizier Mayer-Vorfelder dage- wie anderen Würdenträgern ähnliches zurücktraten. 22 Jahre saß Gerhard Mayer- gen, geübt in der Nach-Vorne-Verteidigung, Ungemach erspart werden kann. Jetzt soll Vorfelder auf der Regierungsbank im Stutt- drischt munter auf den Fiskus los. Schließ- die Prominenten-Vorzugsbehandlung näm- garter Landtag seine Affären aus; den Ab- lich sei er mit der Steuererklärung nur sprung aus der Politik bestimmte der CDU- deshalb in Verzug geraten, weil er auf den Regelmäßig auffällig Mann, Ex-Chef des Fußball-Bundesligisten Abschluss der Betriebsprüfung beim VfB Die Affären des Gerhard Mayer-Vorfelder VfB Stuttgart und heutiger Präsident des gewartet habe. Würde das Argument verfan- Deutschen Fußball-Bundes (DFB), dennoch gen, müsste kein Arbeitnehmer mehr seine 1994 Toto-Lotto-Affäre selbst. Dass „die Journalisten meinen Skalp Steuererklärung vor einer Betriebsprüfung Während seiner Zeit als Aufsichtsratsvorsitzen- nicht bekommen haben“, erfüllt den Ex- seines Arbeitgebers abgeben – die aber fin- der der Toto-Lotto-Gesellschaft spendieren sich Kultus- und Finanzminister heute noch mit det in der Regel nur alle zehn Jahre statt. deren Geschäftsführer teure Spaßreisen. Stolz. Und die Erklärung dafür ist sein Zudem arbeite das Finanzamt offenbar Lebensmotto: „Wenn die Lawine abgeht, schlampig. Auf einen Antrag, die Frist für 1996 Graf-Affäre musst du einen Schritt zur Seite gehen.“ die Abgabe seiner Erklärung zu verlän- Jahrelang genießt die Familie Graf eine Vorzugs- Nun aber herrscht für Mayer-Vorfelder, gern, habe er keine Rückmeldung erhalten, behandlung bei den Finanzbehörden. Das genannt „MV“, wieder Lawinengefahr im Landgericht Mannheim spricht von einer „Mit- Ländle, und diese Lawine könnte so groß verantwortung, wenn auch nicht Mitschuld“ der werden, dass ein Schritt zur Seite nicht Behörden, die Mayer-Vorfelder unterstanden. mehr reicht. Seit Februar ermittelt die Staatsanwaltschaft Stuttgart gegen den Uni- 1997 Stammtisch-Affäre onspolitiker wegen des Verdachts der Steu- Mayer-Vorfelder gerät in Verdacht, seinen erhinterziehung. Die Behörden überprüfen obersten Steuerbeamten vor Ermittlungen der nicht nur Einnahmen in Höhe von mindes- Staatsanwaltschaft wegen Verletzung von tens 675000 Mark vom Verein. Die Summe Dienstgeheimnissen geschützt zu haben. Der seiner Gesamteinnahmen, die er für die Beamte hatte am Stammtisch über steuer- strafrechtliche Ermittlungen gegen Konzert- Jahre 1999 und 2000 noch nicht versteuert veranstalter Matthias Hoffmann geplaudert. hat, liegt offenbar noch viel höher: Weit über eine Million Mark, schätzen Ermittler, habe der Ex-Finanzminister in diesen zwei 2002 Steuer-Affäre Jahren eingestrichen; die Steuern, die er Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts dem Staat schuldet, liegen nach ihren Be- der Steuerhinterziehung. rechnungen bei mehr als 250000 Euro. MV will sich „angesichts des laufenden Verfah- lich noch erweitert werden. rens“ zu den Vorwürfen nicht äußern. Mit Schreiben vom 27. Febru- Hintergrund der Affäre ist das merk- ar, wenige Tage nach Einlei- würdige Finanzgebaren beim Fußballbun- tung des Verfahrens gegen

desligisten VfB Stuttgart. „Schlitzmayer- KUNZ / AUGENKLICK ihren Ex-Chef, erhielten die Ohrfelder“ („Bild“) soll dort in seiner Ex-Finanzminister Mayer-Vorfelder Finanzämter neue Anweisun- Zeit als ehrenamtlicher Präsident von „Einen Schritt zur Seite gehen“ gen. Künftig muss, anders als Oktober 1999 bis Oktober 2000 monatlich bisher üblich, bei „Ermitt- 25000 Mark kassiert haben – eine fürstliche beschwerte sich MV bei den Behörden und lungsverfahren von besonderer Bedeu- Aufwandsentschädigung. trat mal wieder einen Schritt zur Seite. tung“ zuerst die Oberfinanzdirektion Darüber hinaus soll er von seinem hoch Doch das ist nur die halbe Wahrheit. Auch (Dienstherr: der Minister) informiert wer- verschuldeten Club 1997 ein Darlehen in für Anträge zur Fristverlängerung gibt es den – noch „vor der ersten Kontaktauf- Höhe von 300000 Mark erhalten haben – eine Frist; gehen die rechtzeitig ein und mel- nahme mit der Staatsanwaltschaft“. Geld, das der Verein nie wieder gesehen det sich das Finanzamt anschließend nicht, Zu den besonderen Fällen zählen unter hat. Denn drei Jahre später verzichteten zeigt es dadurch sein „stillschweigendes Ein- anderem Ermittlungen gegen Amtsträger die VfB-Verantwortlichen auf die Rück- verständnis“. Kommt der Antrag aber erst der Finanzverwaltung, Bundestagsabge- zahlung; der Kredit mutierte so zu einer an, wenn die Frist schon abgelaufen ist, muss ordnete und Mitglieder der gesetzgeben- satten – und steuerpflichtigen – nachträg- das Finanzamt schriftlich zustimmen. Keine den Körperschaften der Länder. Unter lichen Aufwandsentschädigung für das Antwort, wie im Fall MV, bedeutet: keine den Beamten heißt die Weisung bereits hochverdiente Club-Mitglied. Verlängerung für die Steuererklärung. „Lex MV“. Felix Kurz

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Werbeseite Werbeseite

Werbeseite Trends Medien

TV für die Formel-1-Beteiligung. „Nichts gespielt“ Für eine Kapitalerhöhung um 500 bis 800 Millionen Bergsteiger-Legende Hans Kammer- Euro sowie weitere Kredite lander, 45, über Extremfernsehen und wollen Bayerische Landes- Live-Bergsteigen bank, HypoVereinsbank, DZ Bank und Commerzbank SPIEGEL: Ab 8. April begleitet Sie die mehr als 50 Prozent der An- ARD zwei Wochen lang mit täglichen teile an dem Unternehmen Live-Schaltungen bei der Besteigung – damit wäre Leo Kirch nicht des heiligen Sherpa-Berges Ama mehr Herr im eigenen Haus. Dablam. Warum nehmen Sie das Fern- Holding-Geschäftsführer Die- sehen mit in den Himalaja? ter Hahn würde dann wohl Kammerlander: Ich hatte schon die ein Sanierer vorgesetzt. ganzen letzten Jahre, auch auf dem Ohnehin verknüpfen einige Mount Everest und dem K2, einen Ka- Banken ein weiteres Engage- meramann zur Dokumentation dabei. ment mit einem Manage- Und es ist ja ein verrücktes Jahr, das mentwechsel. Weil auch

Uno-Jahr der Berge, da hat man auch HUSCH / TERZ! STEFAN den insgesamt sieben Kirch- verrückte Ideen. Der Ama Dablam ist Kirch Media-Investoren eine Er- der schönste Berg von Nepal, mitten im höhung ihrer Anteile an- Everest-Gebiet, im Sherpa-Land. Der KONZERNE geboten wird, könnte der Einfluss des Berg gibt einfach so viele Geschichten 75-jährigen Firmenpatriarchen, der mit frei, vom Volk unten am Fuß des Mas- seinem Sohn Thomas derzeit 79 Pro- sivs wie auch von der herrlichen Land- Kirch zent an dem Unternehmen hält, am schaft, die meine zweite Heimat gewor- Ende nur noch gering sein. Selbst ein den ist. vollständiger Rückzug des Gründers SPIEGEL: Bei der Live-Besteigung der ohne Leo? aus seinem Lebenswerk, das insgesamt Eigernordwand vor drei Jahren waren mit mehr als sieben Milliarden Euro 20 Kameras dabei. Was bekommt der ei den Gesprächen zur Rettung des verschuldet ist, galt am vergangenen Zuschauer bei Ihnen geboten? Bhoch verschuldeten Kirch-Konzerns Freitag nicht mehr als ausgeschlossen. Kammerlander: Das war ein unwahr- lief Ende vergangener Woche alles auf Leo Kirch hat nur noch wenig Bewe- scheinlicher Aufwand, ein Wahnsinn einen Einstieg der Gläubigerbanken bei gungsspielraum. Als Alternative bliebe war das. Bei uns kommt das Technik- der Kernfirma KirchMedia zu. Bis spä- ihm nach Einschätzung beteiligter Ban- team aus sieben testens 31. März, so hatten sich Sanie- ker nur der Gang zum Insolvenzrichter. Leuten nur bis rer und Banken zum Ziel gesetzt, müs- Selbst bei hohen Kirch-Mitarbeitern zum Basislager se eine Lösung gefunden sein – dann geht jetzt die Angst um: „Anders als mit. Am Berg drohen neue Zinszahlungen in zwei- die Banken hat Kirch bei einer Pleite aber sind wir stelliger Millionenhöhe, unter anderem doch nichts mehr zu verlieren.“ nur zu viert un- terwegs, darun- ter ein Kamera- mann, der zu meinem Team PRESSE wird die Beilage von derzeit bis zu acht gehört und die auf maximal vier Seiten abgespeckt, Bilder ins Lager Sparkurs bei der „FAZ“ aber weiterhin von der „FAZ“-Redak-

WDR funkt. Einen von tion produziert. Oder das von der Re- Kammerlander der ARD würde eutliche Umsatzrückgänge im Janu- daktion unabhängige „FAZ“-Institut, ich nicht mit- Dar und Februar haben die „Frank- das unter anderem Länderanalysen im nehmen. Das ist mir zu riskant, wenn furter Allgemeine“ („FAZ“) zum Um- Fremdauftrag erstellt, sorgt fortan für ich die Leute nicht kenne. denken gezwungen. Nachdem Mither- die Übersetzung der deutschen Artikel SPIEGEL: Also nur Sie, der Berg und die ausgeber Frank Schirrmacher den erst – dies wäre die deutlich günstigere Va- Kamera. Ist das eine neue Art von Ex- eine Woche zuvor verkün- riante. Auch die ambitio- tremfernsehen? deten Umzug seines Feuil- „FAZ“-Gebäude in Berlin nierten Macher der „Ber- Kammerlander: Ich werde alles versu- letons nach Berlin wieder liner Seiten“ werden vom chen, dass es nicht wie eine Sensations- abgesagt hat, stehen nun Sparkurs nicht verschont. geschichte erscheint. Bei diesen Live- weitere Projekte auf dem Obwohl die Hauptstadt- Geschichten kann nichts gespielt und Prüfstand. So diskutieren auflage der „FAZ“ seit nicht herumgeschnitten werden. Und Herausgeber und Ge- dem Start der Beilage vor ich möchte auch die negativen Seiten schäftsführung derzeit zweieinhalb Jahren von zeigen. Es gibt viele schlimme Organisa- zwei Modelle für die eng- 12500 auf rund 19000 tionen, die Besteigungen veranstalten lischsprachige Ausgabe der Exemplare gestiegen ist, und die Sherpas wie Sklaven behan- „FAZ“, die täglich dem wird die nahezu anzeigen- deln. Die Gedenktafeln für die Toten Kooperationspartner „In- freie Berlin-Beilage künf- am Fuß der Berge werden Jahr für Jahr ternational Herald Tri- tig von sechs auf vier

mehr. bune“ beiliegt. Entweder BACH CHRISTIAN Seiten reduziert.

der spiegel 13/2002 75 Medien

Willkommen im Club TV-BILDER lappern gehört zum Handwerk Trügerisch Kund Plappern zum Geschäft Der israelische Historiker, Journalist des Fernsehens, besonders wenn es und Buchautor Tom Segev, 57, über die in eigener Sache geschieht. Jahre- Beweiskraft von Kriegsfotos lang amüsierte der ehemalige RTL- SPIEGEL: Laut ARD-Bericht wurde der Chef Helmut Thoma die Republik Palästinenserjunge Mohammed al-Durra mit seinen Sottisen gegen das mutmaßlich nicht von israelischen Sol- ANDRE BRUTMANN öffentlich-rechtliche Fernsehen, daten, sondern von Schützen aus den Segev und Fred Kogel, einstmals erster Reihen der Palästinenser getötet. Muss Mann von Sat.1, beschäftigte die die Geschichte neu geschrieben werden? Durra-Fall ist, dass wir heute vorsichti- Phantasie der Partygänger und der Segev: Auch dieser Beitrag klärt nicht ger denn je sein müssen beim Umgang endgültig, wer den Jungen erschossen mit Fotos. Gerade in Konflikten werden Partybewunderer. Leo Kirch tritt hat. Das Fragezeichen hinter seinem Tod sie für Propaganda missbraucht. jetzt aus dem Dunkel der Macht ins bleibt. Die Palästinenser werden weiter SPIEGEL: Mohammed wurde zum Märty- Licht der Scheinwerfer, der Mogul behaupten, dass es die Israelis waren, die rer stilisiert. muss kämpfen. Je nach konjunk- Israelis das Gegenteil. Segev: Die Palästinenser haben das Foto tureller Lage inszenie- SPIEGEL: Wie verlässlich sind Bilder aus ungeheuer professionell ausgeschlach- ren sich die Medien mal einem Krieg überhaupt? tet, bis hin zum Schulunterricht. Das Segev: Bilder zeigen nicht immer die Bild wurde zum nationalen Opfer-My- als frohe, mal als un- Wirklichkeit, sie können sogar lügen. Es thos. Und den würden sie sich nicht frohe Botschaft. Nur ist ja nur eine Momentaufnahme, die nehmen lassen, selbst wenn man bewei- auf dem Mainzer Ler- das Vorher und Nachher verschweigt. sen könnte, dass sie selbst den Jungen chenberg beim ZDF Neulich gab es hier ein Bild mit lachen- erschossen haben. Als Symbol ist es so- kam das Stück „Wir den Arabern, angeblich freuten sie sich gar berechtigt – denn wahr ist, dass vie- spannenden Me- über ein Attentat – was weiß ich, warum le palästinensische Kinder von Soldaten sie lächelten? Die Lehre aus dem al- getötet wurden. dienracker“ nicht so richtig in die Puschen. Der In- tendant, so viel PROJEKTE Scheinliberalen. Immerhin machten sei- war bekannt, ne Filme das unterschiedliche sexuelle Empfinden von Frauen, Männern und hieß Dieter Stol- Aufklärer als Filmheld Jugendlichen bekannter. Jetzt hat die te und mit zunehmen- r wollte den Elternschlafzimmer- Regisseurin Susanne Zanke für die ARD der Amtszeit Professor Dieter Stol- EMuff der fünfziger Jahre vertreiben. das Leben des Libido-Spezialisten ver- te. Einmal wurde die „Heute“- Aber mit seinen Filmen über die sexuel- filmt. Im Mittelpunkt stehen nicht nur Nachrichten-Moderatorin Brigitte le Aufklärung geriet er Ende der sechzi- die politischen Widerstände, sondern Bastgen, Spitzname „Schneewitt- ger Jahre zwischen alle Stühle: Oswalt auch die ganz privaten Seiten eines Os- Kolle, 73. Die Konservativen setzten ihn walt Kolle (Sylvester Groth): Zu Hause chen“, vom Abend- ins Nachmit- auf den Index der Freiwilligen Selbst- lebt er die traditionelle Männerrolle mit tagsprogramm verbannt. Ein Pfui kontrolle der Filmwirtschaft (FSK), und Frau und Kindern, in einer Kommune ging durchs Land. Das war’s. Der die studentische Linke sah in ihm einen die Beziehung zur Journalistin Christia- Mainzelmann – ein Ladenhüter. ne (Annett Renneberg) – Doch dann kam die Neuwahl des eine mit „sexuelle Frei- Intendanten, und die Blätter er- heit“ und „soziale Treue“ umschriebene offene Ehe, wärmten sich für Lerchenberg-Pos- der Versuch, das Ideal der sen. Kein Wunder, dass das Zweite freien Liebe mit bürgerli- nun auf den Geschmack gekom- chen Normen zu versöh- men ist und sogleich die Vertrags- nen. Für die Hauptdar- verlängerung von Thomas Gott- stellerin Annett Renne- schalk als Schwank inszeniert. 1. berg, 24, trat Kolle als Aufklärer jedoch nicht in Akt: Neuintendant Markus Schäch- Erscheinung: Sie wuchs in ter verordnet dem Thommy einen der DDR auf. Und dort Gagschreiber. 2. Akt: Thommy ist entwickelte sich der Frau- beleidigt. 3. Akt: Ätschi, bätschi, entyp, den sie in „Oswalt nix Krise, Vertrag verlängert. Kolle“ verkörpert, ohne Mainz, wie es singt und sich ins Kino-Nachhilfe: die selbständige Frau, die frei Fäustchen lacht. Narhalla, marsch! THOMAS KOST / WDR KOST THOMAS über ihren Körper ent- Groth, Renneberg in „Oswalt Kolle“ scheidet.

76 der spiegel 13/2002 Fernsehen TV-Vorschau die so genannten Ahnen-Nachweise Problemzone Mann aus und nutzte diese Stellung auch dazu, 2866 namentlich bekannte Juden Dienstag, 20.15 Uhr, Sat.1 vor der Deportation in ein Vernich- Zugegeben: Eine scharfsinnige Stu- tungslager zu bewahren. Nach dem die über männlichen und weiblichen Krieg litt der Jurist unter der Weige- Schönheitswahn ist das nicht, was rung des wirtschaftswunderlichen Nach- Julia Wawrzyniak (Buch) und Felix kriegsdeutschlands, sich mit dem brau- Dünnemann (Regie) hier vorlegen. nen Terror auseinander zu setzen. Aber ein Film mit charmanten Licht- Calmeyer zog sich verbittert in Depres- blicken, vor allem, als es zwischen sionen und esoterischen Eskapismus der übergewichtigen Cleo (Elena Uh- zurück. 1992 wurde der Mann wie lig) und dem zunächst dumpfsinnigen Oskar Schindler als „Gerechter der Mucki-Beau Vic (Steffen Groth) end- Völker“ in die israelische Gedenkstät- lich funkt. Die gute alte Liebe muss te Jad Vaschem aufgenommen. Götz Balonier zeichnet ein eindrucks- volles Porträt. Bella Block – Im Namen der Ehre / ZDF SAWHNES MANJU „Bella Block“-Star Hoger Samstag, 20.15 Uhr, ZDF Auch der zwölfte Film mit der Souveränität nicht mehr beweisen, sie Hamburger Kommissarin Bella dient der Geschichte. Die handelt von Block (Hannelore Hoger) zeigt die einer albanischen Familie, die zerris- hohe Qualität dieser Krimireihe. sen ist zwischen Moderne und isla- Jochen Brunow (Buch) und An- mischer Tradition. Instinktsicher er- dreas Gruber (Regie) gewinnen der kennt Bella, dass das Mädchen Bea Hauptdarstellerin erstaunlich wei- (Yasmin Asadie) zum Opfer des Starr- che Seiten ab, nichts ist mehr zu se- sinns zu werden droht. Besonders zu

JANDER / SAT.1 JANDER hen vom Raubein früherer Filme, loben: die Abwesenheit von nerv- Landgrebe, Brandner in „Problemzone Mann“ Hoger muss ihre schauspielerische tötender politischer Korrektheit.

sich allerdings den Weg über reichlich konstruierte Handlungsgleise bahnen. TV-Rückblick Um sein Buch zu promoten, trainiert „Lass uns gemeinsam am Schicksals- der erfolgreiche TV-Fitnesstrainer Vic strumpf stricken.“ Mit Walser kam indes acht Wochen lang die bewegungsmü- „Ich vertraue. Querfeldein.“ derlei textiles Werken nicht zu Stande. de Cleo. Die gegenseitige Abneigung Das lag an dem Moderator und Litera- zwischen Trainer und dem vollschlan- 24. März, 3sat turredakteur Martin Lüdke, der die ei- ken Objekt seiner Bemühungen ist Wer sein Vertrauen so richtungslos wal- gentlich üppig bemessene Sendezeit un- zunächst herzlich: Er verachtet dicke ten lässt, wie es der Schriftsteller Martin ter anderem mit einer Art Bibelstechen Frauen, sie hält ihn für einen hirn- Walser – siehe Sendungstitel – tut, der vertat: Das Publikum rief beliebige Sei- losen Schönling. Erschwert wird ein darf sich über Enttäuschungen nicht tenzahlen aus der Walser-Gesamtausga- Umdenken durch die Existenz von wundern. Offenbar aus be zur Bühne, der Dich- Cleos Mutter Linda (Gudrun Land- Frust über die üblichen ter las die aufgerufenen grebe), die an den Rollstuhl gefesselt Literatursendungen ließ Seiten brav vor. Lämmle ist, permanent das Haus hütet und die sich der Dichter auf eine blieb die Rolle, die die Tochter ob ihrer Leibesfülle verach- vermeintlich unterhaltsa- Herren des Literaturbe- tet. Doch da gibt es noch Manni (Mi- mere Sendeform ein, mit triebs Frauen gern über- chael Brandner), den Manager des der sein 75. Geburtstag lassen: Der Dichter über- schönen Jungen, der sich in Linda gefeiert wurde. Dazu lu- schüttete sie mit dem verliebt. Eros, so die Botschaft dieses den der Südwestrund- Kompliment, sie sei der Movies, ist stärker als Narziss. Da funk und 3sat ins Theater Mensch, der am überzeu- braucht selbst der unverbesserliche Baden-Baden die populä- gendsten zuhören könne. Freund der Currywurst nicht alle re Psychologin Brigitte Das war’s aber auch. Als Hoffnung fahren zu lassen. Lämmle, 55, ein, die im die Psychologin Walser Ländle die erfolgreiche mit Fragen, was er mit Ein Gerechter unter den Völkern Kummerkastensendung dem Schreiben kompen- „Lämmle live“ betreibt. siere, auf den Zahn Mittwoch, 20.45 Uhr, Arte Darin bereichert die fühlen wollte, musste sie Hans Calmeyer (1903 bis 1972), An- temperamentvolle Psy- die Bühne räumen. Die walt aus Osnabrück, arbeitete für die chologin den Betroffen- Herren waren wieder un-

Nazis im besetzten Holland. Er stellte heitssprech mit originel- DORIS DENAND ter sich, die Frau irgend- len Formulierungen wie: Walser (l.) wo querfeldein.

der spiegel 13/2002 77 Medien PAUL GLASER (L.); GLASER ADFINDER (2) PAUL Reklame mit Politikern: Wer nicht als Humorbremse dastehen will, macht mit

WERBUNG Opium fürs Volk Die sinkenden Reklame-Etats der Unternehmen zwingen die Agenturen zu immer aggressiveren Kampagnen. Im harten Konkurrenzkampf soll der Werberat auf die Moral achten. Doch das Gremium ist eher ein Placebo der Branche, die schärfere Kontrollen von außen vermeiden will.

ndreas Hetzer hatte bereits alles eingetütet. Auf den Plakaten sei- Aner Kampagne für die Elektro- händler von Media Markt sollte Vertei- digungsminister Rudolf Scharping zu se- hen sein, planschend im Pool. Darüber das Motto: „Alles halb so schlimm.“ Kurz bevor die Plakate in Druck gingen, kam der 11. September. Und irgendwie hörte sich der Slogan plötzlich gar nicht mehr lustig an. Fiebrig bastelte der Werber an einer neuen Kampagne. Ein Knaller musste her, ein richtiger Hingucker. Hetzer, 39, er- fand das Motto „Mehr drin, als man glaubt“ und ließ ein Model fotografieren, dem er per Computer eine dritte Brust in den Ausschnitt mogelte. 15 000 Plakate wurden geklebt. Viele Kunden wollten of- fenbar zu Hause noch mal genau hin- gucken und in Ruhe nachzählen. Bis Hei- ligabend lagen dem Verbrauchermarkt über 1000 Nachbestellungen vor – und et- liche Proteste. Unter anderem schaltete sich Volker Nickel ein, Geschäftsführer des Deutschen

Werberats in Bonn. Nickel, eine Art Sit- DPA tenwächter der Werbeindustrie, kritisierte Parfüm-Werbung: Ästhetische Inszenierung

78 der spiegel 13/2002 die Kampagne als „frauendiskriminierend“ Prozent zusammen. Der Konsumgüterher- 305 Beschwerden verhandelte der Werbe- und forderte eine Erklärung von Media steller Procter & Gamble („Ariel“) kürzte rat 2001 – 14 Prozent mehr als im Vorjahr. Markt. um 23 Prozent. Gerade rechnete die Bos- „Nicht nur konkurrierende Werbung Ohne viele Worte zu verlieren, ließ die ton Consulting Group aus, dass die Werbe- nimmt zu, sondern auch die Trash-Ästhe- Geschäftsführung die Plakate abhängen. investitionen im Jahr 2001 im Vergleich tik“, sagt Norbert Bolz, Professor für Kom- Die Kampagne samt Protestgeschrei hatte zum Vorjahr um 6,3 Prozent gefallen sind. munikations- und Medientheorie an der sich ohnehin längst gelohnt. Zum ersten Mal seit 1981 sind die Etats Universität Essen. Dabei kann Bolz an der Für Nickel, der sich als „Konfliktmanager rückläufig. dreibrüstigen Media-Markt-Ikone nicht mal der Bevölkerung“ sieht, hat die Reaktion Folge: Die Agenturen müssen mit weni- Schlimmes finden. Die Agenturen nutzten dagegen bewiesen, „wie gut die Selbst- ger Geld mehr Wirkung erzielen. Also set- lediglich die alte Erkenntnis, dass „im Ekli- regulierung funktioniert“. Wären die Me- zen sie auf Aggressivität und Provokation. gen viel Witzpotenzial steckt“. dia-Markt-Manager renitent und die Brust- Es war der Textilhersteller Benet- Bilder weiter zu sehen gewesen, Nickel ton, der zu Beginn der neunziger hätte eine öffentliche Rüge erteilt – seine Rüffel für Rüpel Jahre als Erster die oft abstoßen- größte Daumenschraube im Kampf gegen Vom Deutschen Werberat geprüfte de Realität mit der Welt des schö- allzu geschmacklose Reklame. Werbekampagnen und die Ergebnisse nen Scheins konfrontierte. Ölver- 58 solcher Rügen hat der Rat seit seiner schmierte Vögel und Aidskranke mit Gründung vor 30 Jahren ausgesprochen. In 305 dem Logo des Herstellers galten als der vergangenen Woche präsentierte das davon: „Schockwerbung“ – ein unglaubli- Gremium, das von 40 Verbänden aus Wer- 268 Die Firmen erklären sich frühzeitig cher Affront für die bis dahin heile beindustrie und Medien getragen wird, sei- 96 bereit, die beanstandete Ariel-Welt. nen Jahresbericht 2001, die drei jüngsten Werbemaßnahme zu ändern oder Beim Werberat häuften sich allein nicht mehr zu veröffentlichen Abmahnungen inklusive. gegen das Motiv eines mit „H.I.V. So wurde etwa die Anzeige eines Ener- Positive“ bedruckten Hinterns 289 gieunternehmens gerügt, weil das abgebil- Beschwerden. Zwar betont der Wer- 3 Öffentliche Rügen dete Liebesspiel eines ergrauten Herrn mit beratsvorsitzende Jürgen Schrader einer auf ihm sitzenden, nackten Blondine gespreizt, dass man sich vom „Ver- herabwürdigend sei – allerdings nicht nur 206 Vom Werberat als braucherleitbild A“ leiten lasse, dem für die Frau, sondern besonders für den Se- nicht kritisch eingestuft informierten, verständigen Konsu- nior. Auf dem Foto stand: „Wer Energie menten, und nicht von der Variante verliert, verliert bald alles.“ „Fürsorgezögling“. Den- Die Häufung dieser Art gedruckter Her- Inhalte der vom Werberat geprüften noch schien der Schock renwitze führt Nickel auf den ökonomi- Kampagnen selbst beim Werberat so Diskriminierung Sonstige schen Druck zurück. Die Wirtschaftsflaute in Prozent von tief zu sitzen, dass er im macht der Branche schwer zu schaffen. In 23% Fall Benetton mahnte 6% Minderheiten Zeiten knapper Kassen gehören Werbe- Erniedri- und mahnte. ausgaben zu den wenigen Posten, die ein gung von 35% 11% Verletzung reli- Die Bundesverfassungs- giöser Gefühle Unternehmen am schnellsten senken kann, Frauen 12% richter schienen weniger wenngleich der Erfolg solcher Aktionen 13% nervös und entschieden fragwürdig bleibt. Gefährdung im Dezember 2000, „ein 2000 2001 Gewalt- von Kindern und Die Deutsche Telekom strich ihr Werbe- darstellungen Jugendlichen vom Elend der Welt un- budget im vergangenen Jahr um satte 59 beschwertes Gemüt des

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„Dass die Großen so reden, • Eine Studie, die der Staatsminister für ist politische Klugheit, nicht Mo- Kultur und Medien, Julian Nida-Rüme- ral“, glaubt Theoretiker Bolz. lin (SPD), unter dem Titel „Regulierte Viele der früheren Werberebel- Selbst-Regulierung“ in Auftrag gegeben len sitzen heute in den Gremien hat, untersucht neue Formen der Selbst- der Werbeindustrie, vergeben kontrolle unter staatlicher Beteiligung; Trophäen und entscheiden über • im Bundesgesundheitsministerium wer- guten Geschmack. Ein Werbe- den derzeit schärfere Vorschriften für rat, den sich die Branche als Fas- Alkoholwerbung debattiert, und sade der Anständigkeit leistet, • im Justizministerium berät eine Arbeits- wirkt nicht nur dekorativ. gruppe gerade über die „Modernisie- Die Aufseher kämpfen längst rung“ des Gesetzes gegen den unlaute- nicht mehr nur für eine saube- ren Wettbewerb (UWG). In einem Gut- re Werbewelt. Sie kämpfen vor achten schlägt der Konstanzer Professor allem für sich selbst. Eigentlich Karl-Heinz Fezer Justizministerin Herta wollte sich die Werbeindustrie Däubler-Gmelin (SPD) vor, „die diskri- mit dem Gremium auch ein Fei- minierende Werbung als einen Spezial-

AFP / DPA genblatt schaffen, das andere tatbestand im UWG zu regeln“. Benetton-Werbung: Affront für die heile Ariel-Welt lästige Kontrollen unnötig er- Was damit gemeint ist, hat der Gutach- scheinen lässt. Getreu dem Mot- ter in fünf „Fallgruppen“ gleich mit aufge- Bürgers“ sei „kein Belang, zu dessen Schutz to: Lieber passen wir selbst auf uns auf, schrieben: rassen-, ausländer-, religions-, der Staat Grundrechtspositionen einschrän- bevor es ein anderer tut. behinderten- und geschlechterdiskriminie- ken“ dürfe. Unentwegt ist der Werberat bemüht, die rende Werbung. Selbstverständlich aber, Wenn ein solches Motiv überhaupt eine Wirksamkeit der eigenen Arbeit zu beto- versichert der Professor, wolle er „nicht Geschmacklosigkeit sei, so Bolz, „dann nen: „Zusätzliche Vorschriften sind über- der Prüderie das Wort“ reden. eine von vielen“. Einen Werberat als Hil- flüssig, wenn nicht sogar gesellschaftspoli- Grund zum Eingreifen hätten die Politi- festellung brauche sowieso niemand. „Das tisch schädlich“, heißt es mahnend in ei- ker genug, werden sie doch selbst häufig ist ein Placebo“, sagt Bolz. nem Papier des Organs. unfreiwillig zu Werbeträgern. Vor allem Alles also eine Frage der Perspektive? Im Kein Wunder, dass auch die Agenturen der Münchner Autoverleiher Sixt platziert Herbst 2000 protestierten Frauen in Frank- die Arbeit des Werberats unisono in den die Polit-Prominenz gern ungefragt vor sei- reich, Großbritannien und Deutschland ge- höchsten Tönen loben: „Ich bin sehr für nen Mietkarossen. 1998 zeigte Sixt Ger- gen eine wohlproportionierte Rothaarige, wirksame, pragmatische Lösungen“, sagt hard Schröder, wie er mal nach links, mal die sich für das Parfüm „Opium“ räkelte. Turner, „deshalb bin ich für den Werbe- nach rechts guckte. Dazu die Zeile: „Sixt In England mussten die Plakate schließlich rat.“ Sogar der einst angegiftete Textilmulti hat Autos für Leute, die noch nicht genau abgehängt werden. Der deutsche Werberat Benetton gibt sich versöhnlich: „Der Wer- wissen, wo sie hinwollen.“ hingegen lobte das Opium fürs Volk gar berat macht seine Sache gut“, lobt Paola Als Angela Merkel im vergangenen Jahr als ästhetische Inszenierung. Balbo von der deutschen Dependance. als Kanzlerkandidatin gehandelt wurde, Stephan Hollfelder wusste lange Zeit Doch aller Enthusiasmus in den eigenen druckte die Firma die CDU-Vorsitzende gar nicht, dass es überhaupt einen Werbe- Reihen nutzt wenig: Das Gremium gerät in mit Sturmfrisur – in einer Anzeige für Ca- rat gibt. Der Geschäftsführer des Münch- die Defensive. Angst hat man vor allem brios. Merkels gelassene Reaktion („Ein ner Fitness-Centers „Sport Forum“ ist ei- vor der Politik, die mit ins Boot der Kon- interessanter Vorschlag für Haarstyling“) ner der drei Gerügten des vergangenen trolleure will. Im Stillen wird längst an Ge- bewies bloß, was Politiker außer ihrem Be- Jahres. Hollfelder hatte auf 70000 Hand- setzen gebastelt, mit denen die Werbung kanntheitsgrad so attraktiv für Werber zetteln ein Foto von fünf knienden, spär- drastisch eingeschränkt werden könnte: macht: Sie können sich selten wehren. lich mit Tangas bekleideten Frauen dru- Wer in der Spaßgesellschaft nicht als cken lassen, über die er titelte: „Suchen Humorbremse dastehen will, kann kaum Sie sich eine(n) aus.“ anders, als gute Miene zur frechen Kam- Die prompte Mahnung des Werberats pagne zu machen. Erst recht nicht im Wahl- ließ Hollfelder kalt: „Dann mach ich nächs- jahr, für das Branchenkenner einen Boom tes Mal eben etwas anderes Provokatives.“ der Politikerwerbung prophezeien. Zurzeit Gelohnt habe sich die Po-Parade für ihn missbraucht Ikea Polit-Prominenz wie Gre- ohnehin schon: „Eine solche Aktion bringt gor Gysi. Was also tun? uns 70 bis 80 neue Mitglieder.“ Ein Media- In die Offensive gehen, sagt sich der Markt-Manager sekundiert: „Ich nehme Grünen-Abgeordnete Cem Özdemir und den Werberat nicht sonderlich ernst. Im posiert in Strellson-Anzügen. Man könne Prinzip ist er überflüssig, weil er sowieso „eine Zielgruppe erreichen, die sich sonst nur Einzelmeinungen puscht.“ nicht unbedingt für Politik oder für die Gemeint sind die Geschmäcker der we- Grünen interessiert“, glaubt er. nigen großen deutschen Agenturen, die Genauso dachte wohl auch Jürgen Möl- einmal im Jahr im Art Directors Club lemann. Im Landtagswahlkampf vor zwei die Kreativpreise unter sich verteilen und Jahren präsentierte er FDP-Wahlplakate, nur selten mit dem Werberat in Konflikt auf denen mit einem Hitler-Konterfei ge- geraten. Für Sebastian Turner von der gen den Bildungsnotstand protestiert wur- Agentur Scholz & Friends gilt die alte de. Der Werberat war in diesem Fall nicht Small-Talk-Regel: Nicht der schmutzigste, zuständig – zum Glück. Nicht eine mühsam sondern der beste Witz garantiert Lacher. in Gremien errungene Rüge, sondern spon- Für den Werber heißt das: Gute Werbung taner Bürgerzorn ließ die Liberalen ein- bricht mit Erwartungen, schlechte bricht Gerügte Ultrafilter-Kampagne knicken. Sie zogen die Kampagne selbst nur Tabus. Herabwürdigend für Senioren? zurück. Nils Klawitter, Klaus Werle

80 der spiegel 13/2002 MUSIKINDUSTRIE Alte Feindbilder Den Plattenriesen ist es wieder gelungen, den Neustart der Online-Börse Napster zu torpedieren. Die eigenen Konzepte aber sind ebenso ein Reinfall. ndlich sollte mal alles ganz schnell gehen: Ende März wolle die Online- EMusikbörse Napster wieder loslegen, versprach Vorstandschef Konrad Hilbers. Als großes Portal zur Musikwelt. Als lega- ler Bezahlservice. Als Beweis, dass im / REUTERS WINKLER ALEXANDRA Netzgeschäft doch viel Musik drin ist. Das Teenie-Stars No Angels: Die Branche verspielt einen Milliardenmarkt war im Januar. Noch im September hatte Hilary Rosen, zesspause für Nachverhandlungen ab. Über Doch nur selten ist offene Kritik zu mächtige Präsidentin der „Recording In- einen neuen Starttermin, so Hilbers, wolle hören. Bertelsmann-Chef Thomas Middel- dustry Association of America“, dem Naps- man nun „lieber nicht mehr spekulieren“. hoff, entnervt von ergebnislosen Verhand- ter-Regenten verkündet: „Du bist tot, und Während die Wiederbelebungsversuche lungen, platzte im vergangenen Jahr der noch vor Weihnachten wirst du zahlen.“ für Napster noch nicht aufgegeben wur- Kragen. Er bezeichnete die Plattenindustrie Derlei Geplänkel beeindruckte Hilbers den, steht bereits fest: Die ersten eigenen als „Musik-Mafia“. Und Tim Renner, Chef nur wenig, auch wenn seine mehrheitlich Angebote der Musikriesen sind Totgebur- von Universal Music Deutschland, klagt von Bertelsmann finanzierte Internet-Bör- ten. Seit Ende vergangenen Jahres bieten heute: „Die Industrie hätte sich schon vor se mit einst 80 Millionen Nutzern seit Juli die Web-Projekte MusicNet (BMG, Warner fünf Jahren intensiver mit dem Online-Ver- 2001 per Gerichtsbeschluss lahm gelegt ist. Music, EMI) und Pressplay (Sony, Univer- trieb befassen sollen.“ Die großen Plattenfirmen hatten Napster sal) wenig Musik für viel Geld. Als Alternative bleibt Renner vorerst auf Schadensersatz verklagt, weil sie die Selbst in den beteiligten Konzernen wer- nur der Versuch eines Soloauftritts: Pop- Rechte an ihren Millionen Musiktiteln ver- den die Versuche nicht ernst genommen. file.de heißt das Online-Angebot, mit des- letzt sahen, die übers Netz so fleißig wie Nur eine Million Dollar hat die Musikin- sen Hilfe ihm ab Sommer die Fans von No kostenlos getauscht wurden. dustrie weltweit mit ihren Online-Angebo- Angels und Co. ins Netz gehen sollen. Dem Bislang hat Napster keinen Pfennig ge- ten umgesetzt. Eine lächerliche Zahl ange- Bedarf nach einem umfassenden Musik- zahlt. Die von den Plattenbossen erwarte- sichts von rund acht Milliarden Titeln, die service aber wird auch dieses Angebot te schnelle Verurteilung ist nicht mehr zu sich Musikfreunde 2001 aus dem Internet nicht gerecht werden. Renner kann nur die erwarten. Tot ist Napster also nicht. Doch klaubten. Titel seiner Universal-Stars anbieten. aus dem Dauerkoma erwacht es ebenso Branchenbeobachter sind sich einig, dass Bertelsmann dagegen setzt auch weiter- wenig. Trotz aller Beteuerungen gibt Hil- die schwächelnde Musikindustrie einen hin auf Napster, das als Lieblingsprojekt bers zu: Auf absehbare Zeit Milliardenmarkt zu ver- von Middelhoff gilt. Rund 85 Millionen werde man den Napster- spielen droht. Der Weg zu- Dollar haben die Gütersloher bislang in Neustart nicht schaffen. rück zu alter Stärke müsse das US-Unternehmen gepumpt – Kosten, Lebendiggeglaubte ster- über den Online-Vertrieb wie es hausintern heißt, die man selbst bei ben länger, denn für eine führen. Doch statt Erfolg einem Totalausfall noch unter der Rubrik Rückkehr ins Netz brauchte versprechende eigene lega- „Marketingausgaben“ verbuchen könnte. das Unternehmen endlich le Angebote zu schaffen, Der Wert steckt für die Bertelsmänner vor die Musikschätze der fünf jammerte etwa der Bun- allem in der Marke: Napster hat in den weltweit führenden Platten- desverband der Phonogra- USA einen Bekanntheitsgrad von angeb- giganten Warner, Universal, phischen Wirtschaft Ende lich 96 Prozent – zu wertvoll, um sich da- EMI, Sony sowie des Ber- vergangener Woche wieder mit nur auf einen Musikservice zu be- telsmann-Ablegers BMG. über Musikpiraterie und schränken. Die großen Fünf teilen den moralischen Verfall der Neue Planspiele in Gütersloh sehen nun

rund 80 Prozent des Welt- 4B / STOCK PIELOW STEFAN kopierfreudigen Jugend. vor, Napster zum zentralen Entertainment- marktes unter sich auf. Bertelsmann-Chef Middelhoff Hinter den Kulissen ru- Portal auszubauen, um das gesamte Ber- Doch die konservative Plat- Der Kragen geplatzt mort es auch bei den Gro- telsmann-Imperium mit TV-Beiträgen, CD- tenindustrie kann die alten ßen. Selbst in den obers- Vertrieb und Buchversand einzubinden. Feindbilder nicht überwinden und will ten Etagen werden „verfilzte Strukturen“, Dahinter stehe die einmalige Chance, Ber- noch immer nur einen Bruchteil ihrer Mu- „von fetten Jahren verwöhnte Manager“ telsmann wie einst Napster einen festen sikkataloge rausrücken. und „planlose Arbeitsstäbe“ angeprangert. Platz auf Millionen PC zu verschaffen, um So war dem Napster-Hauptinvestor Ber- Der einst erfolgsverwöhnten Musikin- den Traum von einem „zweiten AOL“ telsmann ein bereits auf dem Tisch liegen- dustrie geht es so schlecht wie nie. In wahr zu machen. der Deal nicht gut genug: Hilbers, hieß es Deutschland verzeichnete die Branche Doch das Portal wird frühestens 2003 an aus Gütersloh, müsse vor allem im Hin- 2001 ein Minus von 10,2 Prozent – der den Start gehen. Bis dahin könnte der Vor- blick auf die Zahl der bereitgestellten Mu- höchste Umsatzeinbruch ihrer Geschich- sprung anderer uneinholbar sein: Der welt- siktitel und die Kopiermöglichkeiten mehr te. Prompt verkündete EMI vergangene größte Medienkonzern AOL Time Warner herausholen. Sony und EMI lehnten eine Woche, 1800 Mitarbeiter auf die Straße hat sein Portal „AOL Music“ schon im ver- Verlängerung der zuvor vereinbarten Pro- zu setzen. gangenen Jahr gestartet. Thomas Schulz

der spiegel 13/2002 81 Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite Trends Wirtschaft

POST Portosenkung um nur einen Cent ie Deutsche Post AG muss ihr Briefporto in diesem DJahr voraussichtlich nur um maximal einen Cent senken. Dies zumindest hat das Bundesfinanzministe- rium der zuständigen Bonner Regulierungsbehörde klar gemacht. Die Experten in Bonn hatten nach monate- langer Prüfung wegen der hohen Rationalisierungs- fortschritte bei dem Staatsunternehmen für eine Sen- kung um mindestens sechs Cent plädiert. Die Post ist wegen ihres Monopols verpflichtet, niedrigere Kosten,

wie sie zum Beispiel durch den Abbau von Arbeits- BONESS / IPON STEFAN plätzen erreicht wurden, an die Verbraucher weiterzu- Briefzentrale Berlin-Zentrum geben. Bereits vor zwei Jahren hatte die Regulierungs- behörde die Briefpreise senken wollen. Damals intervenierte eine massive Portosenkung dürfte den ohnehin schwachen Wirtschaftsminister Werner Müller mit Blick auf den Börsen- Börsenkurs der Aktie Gelb weiter drücken. Der geplante Ver- gang der Post. Auch diesmal scheint die Bundesregierung vor kauf einer zweiten Tranche könnte dem Bund dann deutlich allem die angespannte Haushaltslage im Blick zu haben. Denn weniger Einnahmen bringen als bisher erwartet.

TARIFSTREIT Arbeitsbeziehungen in modernen Be- KONJUNKTUR trieben. Außerdem wäre der wirtschaft- „Wir sperren liche Schaden einfach zu groß. Wir wer- US-Wirtschaft den in dieser Tarifrunde deshalb einen nicht aus“ Streik nicht mit einer allgemeinen Aus- legt zu sperrung beantworten. Es sei denn, ei- Martin Kannegiesser, nem Betrieb bleibt bei einem massiven n den USA brummt die Konjunktur. 60, Präsident des Ar- Arbeitskampf keine andere Wahl. IDas Wirtschaftswachstum im ersten beitgeberverbandes Ge- SPIEGEL: Sie kapitulieren? Quartal dieses Jahres wird nach Ansicht samtmetall, zur bevor- Kannegiesser: Wir setzen darauf, mit von Klaus Friedrich, Chefvolkswirt der stehenden Tarifrunde der IG Metall eine vernünftige Ge- Dresdner Bank, bei 4,5 Prozent liegen. sprächslösung zu erreichen. Sollte die „Die Prognose basiert auf harten Fak- SPIEGEL: Die IG Metall Gewerkschaft dazu aber nicht bereit ten“, sagt Friedrich. „Eine Rezession droht im Tarifkonflikt sein, muss sie die Verantwortung für die hat es überhaupt nicht gegeben.“ Tat- mit Streik. Wie werden Folgen übernehmen. sächlich ist das Bruttoinlandsprodukt in

RALPH ORLOWSKI / REUTERS ORLOWSKI RALPH Sie reagieren? SPIEGEL: Welche wären das? den USA nur im dritten Quartal des Kannegiesser Kannegiesser: Dass ei- Kannegiesser: Fällt der Abschluss zu vergangenen Jahres geschrumpft – und nige in der IG-Metall hoch aus, müssen viele Betriebe Be- nicht zwei Quartale in Folge, was qua schon jetzt von Urabstimmung und schäftigung abbauen, oder sie werden Definition erst eine Rezession wäre. Be- Streik reden, ist unverantwortlich. Die sich aus der Bindung der Flächentarif- reits im vierten Quartal betrug das Arbeitgeber streben einen Abschluss verträge verabschieden. Für die IG Me- Wachstum, nach inzwischen revidierten am Verhandlungstisch an. Dazu haben tall wäre das ein Pyrrhus-Sieg. Ihre ho- Zahlen, stattliche 1,4 Prozent. Friedrich wir erst kürzlich ein weit reichendes hen Tarife würden für immer weniger erklärt die Fehleinschätzung mit dem Lösungskonzept vorgelegt, über das Beschäftigte gelten. Stimmungstief nach dem 11. September. erst einmal gründlich verhandelt wer- Auch der Chefökonom der Commerz- den sollte. Wenn die IG Metall aber bank, Ulrich Ramm, rechnet mit einem unbedingt streiken will, dann werden starken ersten Quartal in Amerika. Bis wir darauf anders reagieren, als das in Ende März werde die US-Konjunktur früheren Tarifrunden üblich war. 3,9 Prozent zulegen und im weiteren SPIEGEL: Was meinen Sie damit? Jahresverlauf mit mehr als 2,4 Prozent Kannegiesser: Wenn die IG Metall wachsen. Auch in Europa gebe es keine früher 10000 Beschäftigte in den Streik Rezession. Lediglich in Deutschland sei geschickt hat, haben wir im Gegenzug die Wirtschaft zwei Quartale hinterein- 10000 Beschäftigte ausgesperrt. Solche ander geschrumpft. Hier zu Lande wird überholten Arbeitskampf-Rituale pas- sich die Konjunktur nach Ansicht von sen nicht mehr in die vernetzte Wirt- Ramm auch am langsamsten erholen.

schaft eines modernen Industrielandes PFEIFFER / DPA HORST Für das erste Quartal erwartet Ramm und erst recht nicht zur Qualität der Warnstreik in Kiel ein Wachstum von 0,6 Prozent.

der spiegel 13/2002 85 Trends

ENTWICKLUNGSHILFE Eichels Rechentrick ntwicklungshilfeministerin Heide- Emarie Wieczorek-Zeul (SPD) will im nächsten Jahr weit mehr Geld für die Dritte Welt ausgeben, als Finanzminis- ter ihr bislang zugesteht. Vor wenigen Tagen hat sie eine Auf- stockung ihres Etats 2003 um rund 250 Millionen Euro beantragt – um so das Versprechen des Gipfels von Barce- lona zu erfüllen, wonach alle EU-Staa- ten ihre Entwicklungshilfe bis 2006 auf mindestens 0,33 Prozent des Bruttosozial- produkts erhöhen müssen. Bislang liegt der deutsche Anteil bei 0,27 Prozent.

WULF PFEIFFER / DPA WULF Doch Eichel muss schon jetzt ein zwei- HDW-Werft

KONZERNE Werften-Verkauf verärgert den Kanzler

erhard Schröder ist sauer auf deutsche Konzerne, weil sie es nicht geschafft ha- / PHALANX WAGNER ANDREAS Gben, einen deutschen Werftenverbund zu bilden. Diese Lösung hatte der Bun- Wieczorek-Zeul in Peschawar deskanzler favorisiert. Stattdessen verkaufte Babcock Borsig seinen Anteil an der Howaldtswerke Deutsche Werft AG (HDW) an den amerikanischen Pensionsfonds stelliges Milliardenloch im Bundesetat One Equity Partners. Am 20. Februar rief Schröder ThyssenKrupp-Chef Ekkehard schließen. Deshalb hat der Sparkommis- Schulz an und fragte, ob dessen Unternehmen nicht HDW erwerben wolle. Schulz sar durchrechnen lassen, wie stark sich war interessiert und erkundigte sich bei Babcock-Boss Klaus Lederer, wie viel der Deutschland tatsächlich international US-Fonds zahlen wolle. Nach den bereits ausgearbeiteten Verträgen sollte Babcock engagiert – mit scheinbar erstaunlichem für seinen 50-Prozent-Anteil umgerechnet rund 550 Millionen Euro bekommen. Zu- Ergebnis. Insgesamt gebe die Regierung dem wollte der Fonds für einen 30-Prozent-Anteil der HDW, den die Preussag noch – abzüglich der Verteidigungsausgaben hält, 240 Millionen Euro zahlen. ThyssenKrupp war bereit, auf Basis des Preises – rund 1,3 Prozent des Bruttosozialpro- für den Preussag-Anteil die Mehrheit an HDW zu erwerben. Lederer war das zu dukts für „Leistungen im internationa- wenig, das US-Angebot war insgesamt höher. Heikel ist der Einstieg der Amerikaner len Bereich“ aus. Das Zahlenwunder vor allem deshalb, weil der Fonds seinen Anteil vermutlich an US-Rüstungskon- wird möglich, weil Eichel auch die Zah- zerne weiterverkauft. Die könnten dann die in Deutschland geltenden strengen Ex- lungen an die Vereinten Nationen, die portrichtlinien unterlaufen und bei HDW produzierte Kriegsschiffe und U-Boote EU, den Balkan-Stabilitätspakt und die über die USA nach Taiwan und in andere Krisenregionen verkaufen. Nachfolgestaaten der Sowjetunion mit- rechnet.

LUFTHANSA 1998 bei der Expansion nach Skandina- vien womöglich seine Sorgfaltspflichten Revision in den Küchen verletzt hat. Der charismatische LSG- Chef baute das Catering-Unternehmen ei der Deutschen Lufthansa bahnt mit Zustimmung der Konzernführung Bsich eine Affäre um Millionenrisiken zum weltgrößten Airline-Verpfleger aus. bei der Catering-Tochter LSG Sky Chefs Um sich auch in Nordeuropa die Markt- an. Vor knapp zwei Wochen musste der führerschaft zu sichern, errichtete Woel- Konzern für seinen Bordverpfleger ki rund ein halbes Dutzend neue Gar- Wertberichtigungen und Rückstellungen küchen in Skandinavien und luchste ei- für drohende Verluste in Höhe von fast nem Konkurrenten die Fluglinie SAS als 700 Millionen Euro bekannt geben. Der Kunden ab. Doch die Verträge kamen LSG-Aufsichtsrat mit Lufthansa-Chef damals nur durch gewaltige Preisnach- Jürgen Weber an der Spitze hat nun die lässe zu Stande und kosten den Konzern Konzernrevision eingeschaltet. Die Con- Jahr für Jahr gut 45 Millionen Euro. Das

ENGEL + GIELEN / VISUM ENGEL + GIELEN troller sollen prüfen, ob der frühere LSG-Management will die Verträge nun Bordmenüs LSG-Geschäftsführer Helmut Woelki nachbessern.

86 der spiegel 13/2002 Geld

Chemiekonzerne Aktien in Euro 60 52 40 46

36 42 50 46 32 38

40 40 28 34

34 24 30 30 Quelle: Thomson 2001 2002 2001 2002 2001 2002Financial Datastream 2002 20 26 Jan. Juli Jan. März Jan. Juli Jan. März Jan. Juli Jan. März Jan. Juli Jan. März

CHEMISCHE INDUSTRIE dämpfen. Das Jahr 2002 werde nicht leicht werden, warnte etwa BASF-Chef Jürgen Strube seine Aktionäre, „weder für un- sere Branche noch für unser Unternehmen“. Taugt das stark Im Gleichschritt konjunkturabhängige Geschäft dennoch als Frühindikator für einen nahen Aufschwung? Vorsichtige Analysten warnen vor einem allzu frühen Einstieg. Einbrüche wie im Februar, nach- nach oben dem Dow-Chemical-Chef Michael Parker von der „schwierigs- ten Phase der chemischen Industrie seit Jahrzehnten“ gespro- rühlingserwachen in der Chemiebranche: Im Gleichschritt chen hatte, zeigen die nach wie vor labile Stimmung. Einigkeit Fmit dem weltweit größten reinen Chemiekonzern Dow Che- herrscht in der Branche darüber, dass steigende Gewinne erst mical in den USA begannen die Aktienkurse der drei größten im dritten Quartal 2002 zu erwarten sind. Das frühe Interesse deutschen Chemieunternehmen BASF, Bayer und Degussa im der Anleger wird denn auch allgemein als Investition in die Che- März stetig zu klettern. Selbst pessimistische Äußerungen der miekonjunktur des nächsten Jahres bewertet, wenn der Auf- Unternehmenslenker konnten die Euphorie der Anleger nicht schwung, vielleicht, in vollem Gange ist.

AD-HOC-MITTEILUNGEN kurz vor 22 Uhr herausgab, dass sie AKTIEN die Dividende um 40 Prozent kür- Nächtliche zen will. Die Telekom begründet Gewinnwarnung den späten Zeitpunkt damit, dass Versteckspiele dann sowohl die deutsche als auch als Kaufsignal die US-Börse geschlossen seien. eutsche Aktiengesellschaften Diese Entschuldigung hält das Bun- ewinnwarnungen von Unternehmen kön- Dgehen dazu über, schlechte desaufsichtsamt für den Wertpa- Gnen für langfristig orientierte Anleger wie Nachrichten mitten in der Nacht pierhandel für fragwürdig. Um Insi- Kaufsignale wirken. Nach zwei Jahren ent- mitzuteilen, in der Hoffnung, wickelten sich die Aktienkurse von Unterneh- dass sie dann von weniger Deutsche Telekom Aktie in Euro men, die eine Warnung abgegeben hatten, um Anlegern wahrgenommen 21.59 Uhr: Deutsche 17.60 21 Prozent besser als die Kurse der anderen werden. Einige Beispiele aus Telekom verkündet, 17.40 Aktiengesellschaften, fanden britische Wissen- den vergangenen Wochen: dass die Dividende um schaftler der Universität Exeter in einer Studie Die Media AG meldete am 40 Prozent auf 37 Cent 17.20 heraus. Zwar verloren die Unternehmen am Tag 27. Februar um 0.40 Uhr ei- je Aktie gekürzt wird 17.00 der Warnung, so die Untersuchung, im Durch- nen drastischen Umsatzrück- 16.80 schnitt 17 Prozent mehr an Wert als der Markt gang. Consors beichtete am und mussten in den darauf folgenden sechs Mo- 16.60 18. März um 20.46 Uhr einen naten noch einmal Verluste von 4 Prozent hin- Verlust von 125 Millionen 16.40 nehmen. Doch dann begannen offenbar die Quelle: Bloomberg Euro. Da die meisten Zeitun- 16.20 Sparmaßnahmen der Manager zu wirken. „In gen bereits deutlich früher 18. März 19. März 20. März 21. März 22. März anderen Fällen“, so schreiben die Wissenschaft- Redaktionsschluss haben, be- ler um Professor George Bulkley, „wird das Ma- kommen viele Kleinaktionäre sol- der-Geschäften vorzubeugen, sind nagement ersetzt.“ Nach etwa zwölf Monaten che kursrelevanten Informationen die Unternehmen durch das Wert- zeigten sich die ersten Ergebnisse der Sanierung erst mit, wenn es für eine Reaktion papierhandelsgesetz verpflichtet, in Form verbesserter Gewinnerwartungen, die bereits zu spät ist. Auch die Deut- kursrelevante Tatsachen „unver- Aktienkurse stiegen steil an. Insgesamt diagnos- sche Telekom musste in der vergan- züglich“ mitzuteilen. „Warten gilt tizieren die Wissenschaftler in ihrer Studie über genen Woche Kritik einstecken, nicht“, sagt eine Sprecherin des den britischen Aktienmarkt, dass der auf Ge- weil sie ihre Ad-hoc-Mitteilung erst Bundesaufsichtsamts. winnwarnungen langfristig deutlich überreagiert.

der spiegel 13/2002 87 Wirtschaft MANFRED VOLLMER MANFRED RWE-Konzernzentrale in Essen, Müllverbrennungsanlage in Köln, Babcock-Verwaltung in Oberhausen: Untersuchungen deutscher Behörden

KORRUPTION Schmutzige Töchter Stecken RWE und Babcock weit tiefer im Schmiergeld-Sumpf als bislang angenommen? Konzernableger scheinen mit Millionen die Ermittlungsarbeit torpediert zu haben. Nach Verwaltungsbeamten und Politikern sind nun auch Top-Manager unter Verdacht geraten.

ie Manager von Europas zweit- den sei: „ohne jede Rücksicht auf sein fa- größtem Energiekonzern RWE wie- miliäres und berufliches Umfeld“. Dann Dgelten ab. Nein, mit den Machen- konstatierte er, ebenfalls auf der Babcock- schaften des niederrheinischen Entsorgers Hauptversammlung vergangenen Diens- Trienekens habe man nichts zu schaffen. tag, während seiner fünfjährigen Amtszeit Schwarze Kassen? Keine Ahnung. Beste- sei „nichts vorgefallen“, was irgendwie an- chung? Niemals. So viel Schmutz würde rüchig gewesen wäre. auch gar nicht zum aktuellen Werbespot Beide, Babcock wie RWE, könnten ge- des Unternehmens passen, in dem John waltig irren. Wenn stimmt, was Kölner Kri- Lennon „Imagine“ singt und von klarer po-Männer, Staatsanwälte und Finanz- Luft, reinem Wasser und sauberem Strom fahnder in Verhören und nach Auswertung geschwärmt wird. Tausender Aktenblätter ermittelt haben, Die Kölner Schmiergeld- und Partei- dann sind die beiden deutschen Tradi- spendenaffäre, so RWE-Umwelt-Vorstand tionsunternehmen viel tiefer in die Affäre Bernhard Kemper, treffe das Haus schon verstrickt, als bisher bekannt wurde. deshalb nicht, weil sein Unternehmen zur Dann könnten sie sich nicht mehr her- fraglichen Zeit zwischen 1989 und 1998 nur ausreden, schon aus zeitlichen Gründen eine Minderheitsbeteiligung am größten mit dem Kölner Schmutz nichts zu schaf- NRW-Müllentsorger gehalten habe. fen zu haben. Dann trifft sie unternehme- Auch die Manager des Anlagenbauers rische Verantwortung: RWE für Triene- Babcock Borsig reagierten heftig. Erst kens, dessen Töchter Isis, UTG und EVB „empörte“ sich Vorstandschef Klaus Le- nach Ermittlungen der Kölner Staatsan- derer über die Art und Weise, wie sein Ge- waltschaft zur Errichtung einer Kriegskas-

neralbevollmächtigter Sigfrid Michelfelder / DDP MICHAEL URBAN se in der Schweiz ordentlich bluten muss- – „ein anerkannter Fachmann mit makel- SPD-Generalsekretär Müntefering ten; und Babcock für Steinmüller, deren loser Vita“ – Ende Februar verhaftet wor- Nicht nur Parteifunktionäre im Visier früherer Chef Michelfelder mehr als 23 Mil-

88 der spiegel 13/2002 gritätsklausel eingesetzt: Danach sollen auch Geschäftspartner zu fairem Wettbe- werb verpflichtet werden. Und die Deutsche Bahn, die allein in diesem Jahr Aufträge im Wert von vier Milliarden Euro an Baufirmen vergibt, hat Ombudsmänner als Ansprechpartner ein- gesetzt, an die sich Mitarbeiter und Liefe- ranten wenden können. Schon mehr als 200 Hinweise sind dort eingegangen, rund drei Dutzend Bahnbeschäftigte wurden bereits entlassen, einige sind in Haft. Solch offensives Vorgehen ist die Aus- nahme, die Regel sieht anders aus, wie die Beispiele RWE und Babcock zeigen. Jahreswende 1999/2000, kurz vor den Millenniumsfeiern. Seit Monaten schon gehörte Trienekens als „erste Tochter“ (RWE-Werbung) zur Hälfte der RWE Um- welt AG, Babcock hatte den Anlagen- bauer Steinmüller nach endgültiger Ge- nehmigung des Bundeskartellamtes vom Baukonzern Philipp Holzmann erwor- ben. In der Kanzlei des Züricher An- walts Werner Stauffacher an der Dufour- straße traf sich nach Erkenntnissen der

MAGO LUFTBILD (L.); GERO BRELOER / DPA (R.) / DPA (L.); GERO BRELOER LUFTBILD MAGO Kölner Ermittler eine interessante Her- „mit aller Macht“ verhindern renrunde:

lionen Mark in Schweizer Schwarzgeld- Beteiligungen der Konzerne im Entsorgungsgeschäft kassen einbezahlt haben soll. Die Großen und der Müll Mindestens zehn Millionen Mark, so ge- stand Hellmut Trienekens Anfang März RWE Babcock Borsig AG vor Kölner Staatsanwälten, seien in die Familie seit 1989: 49%-Beteiligung Schweiz transferiert worden, um dort ganz Trienekens an der Trienekens GmbH offenbar Aktivitäten der Fahnder zu 50% seit Januar 1999: 50% Im Januar 1999 blockieren – zu einer Zeit, als Babcock be- (plus 1 Aktie) (minus 1 Aktie) Übernahme von 74,9 % reits die Mehrheit beim Anlagenbauer Steinmüller besaß und RWE seinen Anteil am Entsorgungsunternehmen Trienekens Trienekens AG L&C Steinmüller GmbH auf 50 Prozent aufgestockt hatte. im Januar 1999 aus der Trienekens GmbH und Anlagenbauer, u. a. Kölner Die Debatte um Kölns Schmier-Mafia, der R+T Entsorgung GmbH hervorgegangen Müllverbrennungsanlage so viel ist sicher, dreht in eine neue Rich- tung: Mandatsträger, Parteifunktionäre und Beschäftigte Verwaltungsbeamte, die Nehmer also, wur- 2001 den einvernommen – auch nach der Er- Umsatz Umsatz Beschäftigte kenntnis von SPD-Generalsekretär Franz 2000/2001 2000 2001 Müntefering sind bislang keine Spitzen- 958 Mio. ¤ ca. 4700 190 Mio. ¤ 700 leute in die Affäre verstrickt. Doch nun gerät auch die Geberseite ins Visier: Un- der Göttinger Korruptionsforscher Johann Müllmanager Trienekens, Babcock-Mann ternehmen jeder Größe und quer durch Graf Lambsdorff. Michelfelder, Ulrich Eisermann, Chef je- alle Branchen. Da hilft nur die harte Lösung, glaubt ner Gesellschaft AVG, die in Köln die Müll- Ob Baufirmen oder Weltkonzerne: Kor- Bundeswirtschaftsminister Werner Müller. verbrennungsanlage betreibt, und der ruption, so behauptet der Frankfurter Künftig will er Firmen, die der Bestechung Schweizer Arthur Hofmann, Boss der Sten- Oberstaatsanwalt Wolfgang Schaupenstei- überführt sind, an den Pranger stellen und na AG, die später als Geldwaschanlage in ner, lasse sich nicht auf ein paar schwarze eine Zeit lang von öffentlichen Aufträgen Verruf geraten sollte. Schafe reduzieren, sondern sei „Teil des ausschließen. Der Treff bei Stauffacher hatte durch- normalen geschäftlichen Gebarens der „Das wird im Sande verlaufen“, vermu- aus Krisencharakter. In der Bundesrepu- Wirtschaftsunternehmen in Deutschland tet der Konstanzer Wirtschaftsethiker Josef blik ermittelten bereits die Staatsanwalt- geworden“. Laut Dieter Biallas, Deutsch- Wieland. Er hielte mehr davon, wenn die schaften Stuttgart und Mannheim wegen landchef des Antikorruptionsverbands Unternehmen von sich aus den Kampf ge- des Verdachts auf Geldwäsche und Kor- Transparency International, ist es längst gen Korruption aufnähmen. Dazu aber ruption mit handfesten Hinweisen Rich- „gang und gäbe geworden, dass man für müssten betriebsintern verbindliche Spiel- tung Trienekens und Michelfelder. geschäftliche Aktivitäten schmieren muss“. regeln festgelegt werden. Weil deutsche Staatsanwälte außerhalb Der volkswirtschaftliche Schaden, den Erst wenige Firmen haben mit diesem der Landesgrenzen nicht recherchieren die Firmen anrichten, ist immens. Theore- „Wertemanagement“ begonnen. Der Flug- dürfen, müssen sie den Weg der Rechtshil- tisch könnte das Wirtschaftswachstum ein- hafenbetreiber Fraport beispielsweise hat fe einschlagen. Vernehmungen, Durchsu- malig um bis zu vier Prozent höher liegen, über den Verhaltenskodex hinaus in Lie- chungen und Beschlagnahmen obliegen wenn es keine Bestechung gäbe, schätzt ferantenverträge eine so genannte Inte- den Behörden vor Ort. Trienekens er-

der spiegel 13/2002 89 knapp einer Milliarde Euro und mehr als 4700 Angestellten ein Eigenleben im sonst so klar strukturierten RWE-Konzern? Oder wollten die feinen RWE-Spitzenmanager von den schmutzigen Geschäften der Toch- ter einfach nicht zu viel und vor allem nichts Konkretes wissen? Einiges spricht dafür. Dass im Müllge- schäft seit Jahren kaum ein Auftrag ohne „Landschaftspflege“ oder „Beatmung“ läuft, ist in der Branche ein offenes Geheimnis. „Und dass sich Trienekens auch auf diesen

BERT BOSTELMANN / ARGUM BOSTELMANN BERT Part des Geschäfts glänzend versteht“, so Frankfurter Flughafen: Verhaltenskodex für Mitarbeiter und Lieferanten ein vor kurzem ausgeschiedener RWE-Spit- zenmanager, „war uns allen bekannt.“ kannte die Bedrohlichkeit der Lage. In auch andere Vorfälle rund um den Entsor- So ließ man den Müllkönig offenbar jah- dieser Situation habe ihm Stauffacher ei- ger Trienekens kaum noch zu erklären. relang schalten und walten, wie es ihm in nen Zettel zugeschoben „mit seiner Ho- Mindestens 12 Millionen Mark, so haben den Sinn kam. RWE verzichtete – trotz des norarforderung“: stattliche zehn Millionen die Kölner Ermittler addiert, habe Triene- 50-Prozent-Anteils – für viele Jahre auf ein Mark. kens in den Jahren 1995 bis 2000 auf du- Mitspracherecht im operativen Geschäft. Das Honorar zahlte Trienekens’ Firma biose Art und Weise auf schwarze Konten Gegen alle Regeln war Trienekens nicht nach Wissen der Staatsanwälte tatsächlich. der Stenna AG in der Schweiz transferiert. nur Vorstandsvorsitzender der Gesell- Zumindest Michelfelder habe ebenfalls blu- Rund 2,3 Millionen Mark überwies die schaft. Er war auch deren Finanzvorstand. ten sollen, erinnerte sich Trienekens. Die Trienekens AG selber für entsprechende Nicht einmal eine Handlungsvollmacht Abwehrschlacht musste ordentlich organi- Scheinrechnungen aus der Schweiz, 8,8 Mil- besaß RWE bei Trienekens. Noch bis vor siert werden, mindestens drei weitere Male, lionen die Trienekens-Tochter UTG und de- wenigen Tagen war „der Hellmut“, wie er so haben die Ermittler herausgefunden, traf ren Nachfolgerin Isis. Rund 850000 Mark im RWE-Konzern liebevoll genannt wird, sich die Runde am Kölner oder Düssel- kamen, so die Rechnung, vom Bonner im Handelsregister als „allein vertretungs- dorfer Flughafen. Trienekens-Ableger EVB. berechtigt“ für das gesamte Unternehmen Immer ging es nach Erinnerung von Das Geld, hat der NRW-Müllpatron längst eingetragen. Das sei wegen der schwierigen Trienekens darum, „mit aller Macht“ zu gegenüber der Staatsanwaltschaft einge- Verhandlungslage mit Trienekens nicht an- verhindern, dass deutsche Behörden „wei- räumt, sollte zum „Öffnen von Türen“ die- ders möglich gewesen, sagt RWE-Vorstand tere Kenntnisse“ über schwarze Kassen und nen, also als Schmiermittel. Klein. „Schlichtweg unglaublich“, urteilt kriminelle Absprachen erlangen könnten. dagegen einer seiner Vor- Tatsächlich dümpelten die bisherigen drei Die Verführer standskollegen über den Fall. Rechtshilfeersuchen vor sich hin und waren Welche Branchen in Korruptionsfälle verstrickt sind Die „Alleinvertretungs- bis Anfang dieses Jahres nicht erledigt. berechtigung“ wurde auf Stauffacher räumt ein, „im Rahmen von Sonstige Hoch- und Druck des aufgescheuchten Rechtshilfeersuchen umfassend tätig“ ge- 14,3 Tiefbau Aufsichtsrats inzwischen ge- Industrie 25,2 worden zu sein. Allerdings völlig ord- 4,4 löscht. Von einer groß ange- nungsgemäß und natürlich entsprechend Handel kündigten Aufklärungskam- Schweizer Gesetzen. 10,0 pagne der RWE ist dabei Doch zehn Millionen Mark und mögli- noch nicht viel zu se- Gesundheit Handwerk cherweise viel mehr sind für gewöhnliche 10,7 20,1 hen. Nicht einmal rechtliche Anwaltstätigkeiten in Rechtshilfeverfahren Schritte wegen möglicher ein ungewöhnlich hoher Preis. Deshalb 15,3 Veruntreuung von Konzern- Dienstleistungs- Angaben in Prozent prüft die Kölner Staatsanwaltschaft jetzt, gewerbe vermögen hat RWE bisher ob sie ihr ohnehin gigantisches Verfahren Quelle: BKA eingeleitet. Zwar drängt der auch auf diesen Sachverhalt ausdehnt. Stromgigant darauf, die rest- Trienekens jedenfalls will bei der Auf- Allerdings, so Trienekens’ Anwälte, sei lichen Trienekens-Anteile zu überneh- klärung weiter mithelfen und sich auch von das Geld nur im Zusammenhang mit dem men, um das Geschäft unter neuem, un- einem Richter unter Eid vernehmen lassen. Aufbau einer Schweizer Tochterfirma be- beflecktem Namen fortzuführen. Doch Babcock will von einem Mandat an nötigt worden. Rückflüsse nach Deutsch- Trienekens sperrt sich noch gegen Über- Stauffacher nichts wissen. „Nach unserem land, gar Bestechung von Beamten habe es nahmepläne. Wissen“, heißt es dort, sei der Anwalt le- nicht gegeben. Auch eine systematische Aufklärung diglich für Schweizer Firmen wie die Sten- Von all diesen Praktiken will RWE nichts durch Wirtschaftsprüfungsgesellschaften, na tätig gewesen. Trienekens’ Anwälte mitbekommen haben. Nichts von schwar- klagt ein RWE-Manager, gestalte sich dagegen räumen die Treffen und auch zen Kassen oder Steuerhinterziehung.„Ich schwierig. Einerseits fehlten viele Unterla- die Beauftragung Stauffachers in „Zusam- habe davon nichts gewusst“, beteuert Ri- gen, weil sie von der Kölner Staatsanwalt- menhang mit einem Rechtshilfeverfahren“ chard Klein, damals Chef der RWE-Um- schaft beschlagnahmt wurden. Anderer- ein. Allerdings sei das Honorar deutlich weltsparte. Dass Trienekens beim Finanz- seits blockierten auch einige Trienekens- niedriger gewesen. Außerdem habe es sich amt Viersen 4,7 Millionen Mark hinterlegt Manager die Arbeit. lediglich um die Klärung „grundsätzlicher hat, um die durch Scheinrechnungen ent- Eine umfassende Aufklärung hat Bab- rechtlicher Fragen“ gehandelt“. standenen Steuerverkürzungen und even- cock-Chef Lederer offenbar nicht einmal Nicht nur die Enthüllung über den Ver- tuelle Nachforderungen auszugleichen, eingeleitet. Viele Unterlagen, heißt es bei such einer Ermittlungsblockade könnte höre er zum ersten Mal. Babcock, habe die Staatsanwaltschaft be- RWE und deren Umweltsparte in Be- Handelte Trienekens tatsächlich völlig schlagnahmt – also sei eine Prüfung äußerst drängnis bringen. Mit normaler Konzern- losgelöst von RWE? Führte die Viersener schwierig. Georg Bönisch, politik und gebotener Aufsichtspflicht sind Entsorgungsfirma mit einem Umsatz von Frank Dohmen, Alexander Jung

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Werbeseite HACKY HAGEMEYER / TRANSPARENT / TRANSPARENT HAGEMEYER HACKY Kölner Karnevalswagen zum Thema „Klüngel“: „Nach bestem Wissen und Gewissen“ Ein bisschen schämen Noch ein illegales Spendensystem, noch mehr Mitwisser, und die halbe Funktionärsriege auf der geheimen Namensliste: Kölns SPD rutscht immer tiefer in den Schwarzgeldsumpf. Doch auch ein rheinischer CDU-Mann hat jetzt ein Problem.

äbe es Preise für besonders dekora- Tiefen des Sumpfes, aus dem nun endlich entfiele – gar nicht als Parteispenden beim tives Jammern und Wehklagen – die auch die Namen der gut 40 Pseudo-Spen- Fiskus geltend gemacht wurden; je nach GKölner SPD-Geschäftsführerin Mar- der auftauchen, die dem früheren Kölner Falllage könnte es sich um Untreue han- lis Herterich, 59, hätte sie in den vergange- SPD-Schatzmeister Manfred Biciste beim deln – oder Steuerhinterziehung bezie- nen Wochen alle gewonnen. „Völlig fas- Tricksen geholfen haben sollen. Noch dazu hungsweise Beihilfe dazu. sungslos“, stammelte sie immer wieder mit belastet die andere Schlüsselfigur des Köl- So erhielten laut Biciste-Liste Spenden- bebenden Mundwinkeln, sei sie angesichts schen Schummels, Ex-Fraktionschef Nor- quittungen unter anderem des SPD-Parteispendenskandals. Ehrlich. bert Rüther, zahlreiche angebliche SPD- • der langjährige Kölner Oberbürgermeis- Ehrlich und ehrenwert hat sich natürlich Mitwisser – darunter eben jene Marlis Her- ter und Landtagsabgeordnete Norbert auch Wuppertals Oberbürgermeister (OB) terich. Und schließlich gerät auch Wup- Burger (3000 Mark); Hans Kremendahl stets verhalten, sagt pertals OB Kremendahl noch weiter hinein • der seit 1980 dem Bundestag angehö- zumindest Wuppertals Bürgermeister Hans in den Verdacht, sich die Finger am Morast rende Abgeordnete Konrad („Conny“) Kremendahl. Die Vorwürfe, er sei käuf- schmutzig gemacht zu haben. Gilges (2000 Mark); lich, nämlich mit 500000 Mark aus der Kas- Vor allem bei den Kölner Genossen • der Ex-Bundestagsabgeordnete Erich se eines Unternehmers, der seinen Wahl- brennt die Luft, seit die geheimnisvolle Henke (5000 Mark); kampf gesponsert hat, seien keineswegs Sünderliste des Manfred Biciste bei den Fi- • der mittlerweile von der Kandidatenliste korrekt. nanzbehörden liegt. Das ominöse Papier, genommene Bundestags-Aspirant Wer- Nicht korrekt, gelinde gesagt, findet das dem SPIEGEL bekannt ist und in dem ner Jung (10000 Mark); auch die CDU in Nordrhein-Westfalen, was der zurückgetretene SPD-Schatzmeister • die nordrhein-westfälischen Landtags- bei der Müllconnection der Sozis alles jene Parteimitglieder vermerkt hat, die abgeordneten Marc Jan Eumann (15000 möglich war. Dass so etwas bei Unions- nach seiner Erinnerung Spendenquittun- Mark), Annelie Kever-Henseler (3000 funktionären gänzlich undenkbar sei, sagt gen annahmen, ohne Geld gespendet zu Mark) und Rüther selbst (22000 Mark) – die CDU allerdings vorsichtshalber nicht. haben, bringt die ganze Hautevolee der obendrein seine frühere Ehefrau Anne- Und tut gut daran. Denn im Land der Kölner Genossen schwer in die Bredouille. marie Frage-Münch (25000 Mark); notorisch Unschuldigen erreicht der Skan- Mindestens 830000 Mark illegaler Spen- • die Kölner Bürgermeisterin Renate Ca- dal um Müll, Macht und Moneten neue den hatte Rüther gesammelt, dafür mit Bi- nisius (3000 Mark); Gipfel von Heuchelei und Heimlichkeit: cistes Hilfe getürkte Spendenquittungen • die jetzigen oder früheren Kölner Stadt- Auch die CDU hat jetzt mit ihrem Bun- geschrieben und an Genossen ausgegeben. verordneten Kurt Uhlenbruch, Karl- destagsabgeordneten aus Teilbeträge flossen auch in eine heimliche Heinz Schmalzgrüber, Heinz Lüttgen Weeze am Niederrhein ein Entsorgungs- Wahlkampfkasse für den später zurückge- und Toni Klefisch, jeweils mit Ehe- problem. tretenen OB-Kandidaten Klaus Heugel. frauen (Beträge zwischen 24 000 und Die SPD in Köln versinkt derweil mit Derzeit prüfen Kölner Staatsanwälte, ob 28500 Mark); einer neuen, bisher unbekannten Variante diese Gelder im Ganzen, in Teilen oder • die mittlerweile von ihren Posten geflo- des Schwarzgeldwaschens in ungeahnten möglicherweise – womit die Strafbarkeit henen Funktionäre Arno Carstensen,

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Geschäftsführer des Unterbezirks (28000 Einer sei der Kölner Franz Arnold aus dem nach ihrem Amtsantritt im Juni 2000 zu- Mark) und Biciste (21500 Mark). Ortsverein Köln-Neustadt. Arnold bestä- mindest über eine der schwarzen SPD-Kas- Der Rest sind zumeist Kleckerbeträge tigte dem SPIEGEL auf Anfrage, er habe sen informiert haben. Gemeinsam, so Rü- fürs Parteifußvolk, Mitarbeiter der SPD, „mehrfach“ Geld an die SPD gespendet. ther weiter, hätten beide zwei Jahre lang die mal Bescheinigungen über 1000, mal Dieses Geld sei aber niemals von Rüther entschieden, „welche Rechnung ordentlich über 2000 Mark bekommen haben sollen. gekommen. Als weiteren Empfänger einer verbucht wurde“ – und welche nicht. Ein Fall allerdings regt die Ermittler beson- 10 000-Mark-Tranche nannte Rüther ein Marlis Herterich widerspricht. Erst „am ders auf. Mit 24000 Mark – über die Jahre SPD-Mitglied aus Köln-Lindenthal. 3. März“ dieses Jahres habe sie von der hinweg in sechs Tranchen aufgeteilt – steht Diese Männer sind nicht die einzigen, Existenz schwarzer Kassen bei der SPD er- Amtsrichter Michael Allmer, 57, zu Buche. die nun eine gute Erklärung brauchen. fahren. Ihr Ehemann Günter Herterich, 62, Als Allmers Fall vergangene Woche intern Aussagen des 105-Kilo-Mannes Rüther und Ex-SPD-Bundestagsabgeordneter (Spitz- bekannt wurde, reagierte Nordrhein-West- des Ex-Kassierers Biciste vor Kölner Staats- name: das Krokodil), erinnert sich anders: falens Justizminister Jochen Dieckmann so- anwälten könnten noch viele Genossen in Beide, er und seine Marlis, seien zumindest fort: Allmer wurde aus dem Bereich der Bedrängnis bringen, die sich bislang als über das in der Fraktion gehortete Extra- Straf- in die Ziviljustiz versetzt. Saubermänner- und -frauen präsentierten. Geld im Bilde gewesen. „Marlis wusste seit Die ertappten Sozialdemokraten hadern Und siehe da: Auch die so gefühlig jam- Dezember 2001 Bescheid, ich seit 1975, kaum mit ihrem Schicksal. Ex-MdB Henke mernde SPD-Geschäftsführerin Herterich, denn ich bin ja der Gründer der schwarzen hat kein schlechtes Gewissen, sonst „müss- die sich über die Praktiken so schockiert Fraktionskasse“, bekannte der frühere Köl- te die ganze Nation ein solches haben“. Und wie ahnungslos zeigt, ist von Schwarzgeld- ner SPD-Fraktionschef dem SPIEGEL frei- Gilges erklärte „nach bestem Wissen und Mann Rüther angeschwärzt worden. Rü- mütig. Diese Kasse, in die laut Marlis Her- Gewissen“, er habe weder von Biciste noch ther, berichtet ein Ermittler, will sie direkt terich jedoch nie illegale Spenden geflossen „über Dritte“ fingierte Spendenquittungen sind, war noch kürzlich mit mindestens bekommen. Auch Richter Allmer konterte, 600000 Mark gefüllt. keine „Spendenquittungen über rund 24000 Die schwarzen Kassen der Kölner SPD Mark erhalten zu haben“. Uhlenbruch, frü- – offenbar waren sie jahrzehntelang eine her mal Kölner SPD-Vorsitzender, schämte parteiintern bekannte und geschätzte Geld- sich ein bisschen: Er sei mit seinen acht quelle. Etwa „20 bis 30 Prozent der Frak- Spendenquittungen über insgesamt 25000 tionsmitglieder“, beichtete Rüther, hätten Mark „leichtfertig umgegangen“, was er von dem illegalen System gewusst. Und „außerordentlich bedauere“. auch darauf vertraut, dass sie bei ihm stets Damit aber noch nicht genug: Als hätte Herterich Biciste unbürokratisch Hilfe fänden „bei finan- zum Sittenbild eines Lotterladens noch et- ziellen Problemen, die mit politischer was gefehlt, kommt nun noch ein bisher Arbeit zu tun hatten“. Ein weites Feld. unbekanntes „Cash-System“ ans Licht, das Was derweil 40 Kilometer entfernt, in die gewieften Genossen 1999 erfanden und Wuppertal, geschah, interessiert die dorti- der Spendentrickserei damit die Krone auf- ge Staatsanwaltschaft mindestens so bren- setzten. (V.L.O.N.R.U.) H .DARCHINGER SPIEGEL TV; J. / VERSION; ; H. SACHS nend wie der Kölsche Klüngel die Ermitt- Die Bargeldverschiebung der Kölner So- ler in der Domstadt. Die 500000 Mark, die zialdemokraten funktionierte nach Re- der Bauunternehmer Uwe Clees selbst und cherchen der Ermittler so: Gelder, die in Kremendahl Lüttgen über Strohmänner 1999 in den Wahlkampf schwarzen Kassen der SPD lagen, wurden des Oberbürgermeisters Kremendahl inves- bar an vertrauenswürdige Parteimitglieder tierte, sollen in sechs Tranchen geflossen ausgezahlt. So bedient, sollten sie die Sum- sein – immer dann, wenn mal wieder eine men, in unauffällige Häppchen gestückelt, große Rechnung Kremendahls Kampa- peu à peu ganz offiziell wieder an die Par- gnenkasse belastete. tei zurückspenden. Der Vorteil: Größere Der OB selbst, so ist sich Oberstaatsan- Mengen Bares konnten auf einen Schlag walt Alfons Grevener nach „vorliegenden aus den illegalen SPD-Kassen abfließen. Unterlagen und Zeugenaussagen“ sicher, Daran hatte der oberste Kölner Burger Rüther hat die „Verwendung der Gelder weitge- Schwarze-Kassen-Wart Rüther ein drin- hend kontrolliert“. gendes Interesse. Der inzwischen aus der Kremendahl streitet alles ab, den Ruf ei- Partei Ausgetretene gestand den Staatsan- nes Saubermannes ist der 53-Jährige aber wälten, er habe in ständiger Angst „vor ei- los, und noch mehr Ungemach droht: Nun nem Skandal“ gelebt. Sein Ziel sei es ge- erinnert sich ein früherer Mitarbeiter des wesen, die drei Kassen mit Schwarzgeld, Bauunternehmers Clees an nützliche Be- auf die er zugreifen konnte, möglichst rasch ziehungen zum Stadtoberhaupt: „Kre- zu leeren, damit sie nicht entdeckt würden. mendahl war uns einfach behilflich.“ Zum Jahreswechsel 1999/2000 habe Rü- Heugel Gilges Den Kontakt zur Verwaltung hätten für ther, so ein Ermittler, nach eigenen Anga- Clees zwei Leute gehalten: Jürgen Specht, ben beispielsweise zwei Kölner SPD-Freun- ein wegen Korruptionsverdacht bereits in den jeweils rund 10000 Mark in bar aus den anderer Sache vorübergehend in U-Haft heimlichen Kassen gezahlt – mit der Bitte, genommener SPD-Politiker, der als „bau- sie nach und nach offiziell an die Partei politischer Sprecher“ für die SPD im Stadt- zurückzuspenden; ob auch Spendenquit- rat sitzt, und vom Wup- tungen ausgestellt und später von den an- pertaler Telekommunikationsunternehmen

geblichen Gönnern eingereicht wurden, H. KAISER / DDP; G. OHLENBOSTEL B. SCHULLER; ; VERSION; H. KAISER / DPA / DDP; R. WEIHRAUCH STADTANZEIGER; S. WORRING / KÖLNER Engel AG. muss nun die Staatsanwaltschaft prüfen. Klefisch Henke Auch Schmidt hat beste Verbindungen in Auch die Namen der beiden Helfer hat Genossen unter Verdacht der SPD – Johannes Rau, dessen Karriere Rüther inzwischen den Fahndern genannt. „Einfach behilflich“ in Wuppertal begann, war sein Trauzeuge

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–, und auch Schmidt saß schon in U-Haft wegen Beteiligung an einem Korruptions- skandal mit der stadteigenen Gemeinnüt- zigen Wohnungsbaugesellschaft GWG. Wuppertal, Köln – eigentlich ein gefun- denes Fressen für die notorisch von Nie- derlagen gebeutelte NRW-CDU. Doch bis- lang hielten sich die Christdemokraten auf- fällig zurück – und nun wissen sie auch, warum das gut so war. Denn in das grelle Scheinwerferlicht der öffentlichen Aus- leuchter rückt nun auch ihr Bundestags- abgeordneter Ronald Pofalla aus dem Kreis Kleve. Pofalla, der vor der letzten NRW- Wahl als Justizminister im CDU-Schatten- kabinett nominiert war, hat sich ausge- rechnet vom Chef eines Müllentsorgungs- unternehmens 150000 Mark geliehen. Vorausgegangen war eine Scheidung. Pofalla hatte sich 1996 von seiner Ehefrau MARC DARCHINGER MARC CDU-Abgeordneter Pofalla „Mehr als peinlich“ getrennt, dabei gab es nach seiner Schilde- rung „Vermögensauseinandersetzungen“. Dafür nahm er zunächst einen Sparkas- senkredit auf; als seine „Ehefrau und deren Eltern“ aber noch zusätzliche Forderun- gen „in einer Größenordnung von über 100000 Mark“ stellten, sei es ihm „mehr als peinlich“ gewesen, die Sparkasse „um eine entsprechende Erhöhung ihrer Finanzie- rungszusage zu bitten“. So habe er sich lieber an Bernhard Josef Schönmackers, der seit langem im Kreis den Müll abfährt und in der Nachbarschaft Mitbetreiber der Müllverbrennungsanlage Asdonkshof ist, gewandt. Pofalla hatte den Unternehmer Anfang der achtziger Jahre kennen gelernt, als Werkstudent in dessen Betrieb. „Da Herr Schönmackers in meinem Wahlkreis eine bedeutende Unternehmerpersönlichkeit ist, hat sich dieser persönliche Kontakt im Verlauf meiner politischen Karriere natur- gemäß verstärkt“, rechtfertigt Pofalla die Finanzbeziehung zum Geschäftsmann. Deshalb habe er sich „getraut, ihn um die- ses Darlehen zu bitten“. Schönmackers soll bar gezahlt haben. Einen schriftlichen Vertrag habe es dar- über nicht gegeben. Pofalla hat den Kredit nach eigenen Worten mit fünf Prozent Zin- sen zurückgezahlt. Gefälligkeiten für den Unternehmer, da hält sich Pofalla strikt an übliche Sprachregelungen der SPD, habe es keinesfalls gegeben. Georg Bönisch, Barbara Schmid, Andrea Stuppe

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Werbeseite SPIEGEL: Für die Verbraucherlän- der aber schon. Schließlich ver- fügen die Golfstaaten über den weitaus größten Teil bekannter Ölreserven. Browne: Mag sein. Noch immer je- doch gehören die USA und die Staaten der Russischen Födera- tion – das wird oft vergessen – zu den weltgrößten Ölproduzenten. Gewiss befinden sich im Nahen Osten eine Menge Rohstoffreser- ven, aber eben nicht nur dort. Sie müssen sich das globale Energie- geschäft so vorstellen: Das ge-

VICTOR R. CAIVANO / AP R. CAIVANO VICTOR samte Öl, das die Welt fördert, Förderplattform (im Golf von Mexiko): „In einen großen Eimer gekippt“ wird praktisch in einen großen Eimer gekippt, jeder hat einen Strohhalm und saugt sich heraus, was er ROHSTOFFE benötigt. Kaum einer weiß genau, wo sein Öl herkommt. Und wenn ein Lieferant aus- fällt, springt eben der andere ein und füllt „Jeder hat einen Strohhalm“ den Eimer wieder. SPIEGEL: Was macht Sie so sicher, dass die- BP-Chef Lord John Browne über die Folgen ser Eimer ausreichend gefüllt bleibt? Browne: Jeder Produzentenstaat ist einfach der aktuellen Nahostpolitik auf das globale Ölgeschäft darauf angewiesen, Öl zu verkaufen. Wie sonst sollten die Regierungen finanzieren, Browne, 54, steht seit 1995 an der Spit- ka, im Kaspischen Meer, in der Nordsee. In was sie der Bevölkerung alles versprochen ze von BP (British Petroleum). Mit der der Golfregion dagegen sind wir inzwischen haben – also müssen sie fördern. Übernahme von Amoco und Arco hat er in verhältnismäßig geringem Ausmaß aktiv, SPIEGEL: Auch wenn – falls die USA den BP zur Nummer zwei (nach Exxon) im seit die Industrien dort in den siebziger Jah- Irak angreifen – es politisch nicht mehr op- globalen Öl- und Gasgeschäft gemacht. ren verstaatlicht wurden. Für BP spielt der portun sein mag, den Westen zu beliefern? arabische Raum – anders als zu Beginn un- Browne: Ich halte es für sehr unwahrschein- SPIEGEL: Der Preis für Rohöl ist in den ver- serer Unternehmensgeschichte – derzeit lich, dass politische Spannungen das Öl- gangenen Wochen sehr stark gestiegen. Ist keine besonders wichtige Rolle. angebot heutzutage noch stark beeinflussen die Zeit billigen Öls schon wieder vorbei? können. Es kann kurzzeitige Ausschläge Browne: Der Preis liegt derzeit immer noch beim Preis geben wie nach dem 11. Sep- niedriger als vor etwa einem Jahr. Ich tember, keine Frage. Aber selbst da hat sich sehe also noch keinen Grund zur Auf- der Preis sehr schnell wieder eingependelt. regung. Die Bedrohung durch einen Preisschock ist SPIEGEL: Bereitet es Ihnen keine Sorgen, heute deutlich geringer als früher. wenn US-Präsident George Bush mit Iran SPIEGEL: Wie kommt das? und Irak ausgerechnet zwei der ölreichsten Browne: Anfang der siebziger Jahre wusste Länder zur „Achse des Bösen“ zählt? niemand so recht, wo das Öl überhaupt Browne: Natürlich beobachten wir ganz ge- war. Es gab keine freien Handelsmärkte, nau, was momentan in Washington und im und darum waren die Menschen beun-

Nahen Osten geschieht. Ich glaube nicht, HANS SCHERHAUFER ruhigt, sie kauften und lagerten Öl. Heute dass die Äußerungen hier wie dort größe- Energiemanager Browne sind die Märkte viel transparenter, die In- re Auswirkungen auf das globale Energie- „Das Öl fließt weiter“ formationen über den Rohstoff sind frei geschäft haben. Es wird zwar vielleicht für zugänglich. Seit der ersten Ölpreiskrise kurze Zeit ein bisschen komplizierter, aber Ende 1973 hat es keine Unterbrechung der das Öl fließt weiter. Fast auf altem Niveau Versorgung mehr gegeben – trotz einiger SPIEGEL: Untertreiben Sie da nicht? Sie Ölpreis in Dollar je Barrel Widrigkeiten. Selbst nach der Revolution in wollten doch gerade wieder mit Iran ins 11. September: Terror- Iran 1979 floss das Öl weiter. Geschäft kommen. anschläge in den USA SPIEGEL: Hat Öl als Waffe ausgedient? Browne: Es gab Gespräche, und wir werden 30 Browne: Alle Akteure haben erkannt, dass sie auch fortsetzen. Im Moment allerdings ihre Interessen auf Gegenseitigkeit beru- 28 ruhen sie erst einmal wieder. Wir wollen hen. Irgendwo in einem breiten Preiskor- Schwierigkeiten vermeiden. Immerhin sind 26 ridor zwischen 15 und 25 Dollar pro Bar- wir ein britisches Unternehmen, dessen 24 rel entsteht eine Art Gleichgewicht zwi- Geschäft zu 40 Prozent in den USA behei- 22 schen denen, die denken, die industriali- matet ist. sierte Welt halte die arabische Welt als Gei- SPIEGEL: Die amerikanische Politik hat Ih- 20 sel, und jenen, die denken, die arabische nen also einen Strich durch die Rechnung 18 Welt halte die industrialisierte Welt als Gei- gemacht? sel. Auf diese Weise bleibt der Mechanis- 16 Quelle: Thomson Financial Datastream Browne: Sie sollten das alles nicht so hoch mus in Balance, und das funktioniert gut hängen. BP ist auf der ganzen Welt tätig: im so. Interview: Konstantin von Hammerstein, Golf von Mexiko, vor der Küste von Afri- Jan.2001 Jan. 2002 Alexander Jung

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Werbeseite Wirtschaft

Trotz der Rettung vor gut zwei Jahren strich Holzmann im Inland mehr als 6000 PLEITEN Stellen. Außerdem hat der Konzern laut Karl Robl, Chef des Zentralverbandes des Deutschen Baugewerbes, „mit Kampfprei- Ein Exempel für Schröder sen dem Mittelstand Konkurrenz gemacht“ – und so viele andere Firmen in die Pleite Neben den Mitarbeitern hat das Holzmann-Debakel drei Verlierer: getrieben. Rund 85 000 Bauarbeiter ver- loren allein 2001 ihre Jobs, ohne dass der Gerhard Schröder, den EU-Wettbewerbskommissar Kanzler im Fackelschein demonstrieren- und die Deutsche Bank. Einziger Gewinner: die Marktwirtschaft. der Arbeiter publikumswirksam zu Hilfe geeilt wäre. as feierliche Dinner des Asien-Pa- len die Arbeitsplätze bei wankenden Rie- Machtpolitisch war die Rettung von zifik-Ausschusses der Deutschen sen wie der Philipp Holzmann AG weg – Holzmann für Schröder 1999 zwar ein DWirtschaft am vergangenen Diens- oder werden Dutzende kleinerer Firmen in Gewinn. Nun aber wird seine einstige tagabend im Kanzleramt kam Klaus-Peter den Ruin getrieben, weil die Großen mit Heldentat zur Blamage: Denn die einst von Müller äußerst gelegen. Besorgt bat der immer neuen Finanzspritzen künstlich am ihm zugesicherte Bundesbürgschaft für das Commerzbank-Chef den Regierungschef Leben erhalten werden? Im Fall Holzmann Unternehmen – von Holzmann nie einge- um eine kurze Privataudienz. wäre die nun gescheiterte Rettung die drit- löst – wird nun zum Teil von den Banken Ob sich Gerhard Schröder in der Holz- te in fünf Jahren gewesen. mann-Frage wieder einmischen werde, Immerhin: So gut wie nie hat die wollte Müller vom einstigen Retter des Deutschland AG bisher eines ihrer tradi- Baukonzerns wissen. Als der Kanzler ver- tionsreichen Mitglieder hängen lassen. Ob neinte, war Müller sichtlich erleichtert. Grundig, Maxhütte oder Metallgesellschaft Trotzdem: Ein gewisses Restrisiko, so die – sie alle konnten sich in schweren Zeiten einhellige Meinung unter Müllers Kolle- auf das eng geflochtene Beteiligungs- und gen, lasse sich nicht ausschließen. Beziehungsnetz aus Banken, Industrie und Würde Schröder die Geldhäuser noch Politik verlassen. einmal öffentlich brüskieren – und sie, un- Diesmal aber waren sich die Geldinsti- ter dem lautstarken Beifall der „Gerhard, tute bis zuletzt untereinander nicht einig, Gerhard“ jubelnden Holzmänner, in letzter erstmals schwiegen auch die Medien: Noch Sekunde erneut zur sündteuren Rettung vor gut zwei Jahren hatte der ARD-„Tages- des maroden Unternehmens zwingen? themen“-Kommentator „die hässliche Frat- Anders als im Dezember 1999 blieb der ze des Kapitalismus“ angeprangert, als die

Kanzler diesmal in Berlin. Der Holzmann- Banken Holzmann fallen lassen wollten. UWE ZUCCHI / DPA Vorstand aber ging, während einige hundert Diesmal fragte der öffentlich-rechtliche Holzmann-Chef Binder, Kanzler Schröder* Bauarbeiter in Frankfurt vergebens pro- Sender: Was ist denn eigentlich so schlimm Heldentat wird zur Blamage testierten, am Donnerstagnachmittag zum an einer Insolvenz? Amtsgericht, um Insolvenz anzumelden. Hat sich die Stimmungslage in der Re- in Anspruch genommen werden. Die Rech- Nüchtern betrachtet ist das nichts weiter publik geändert? Ist die Wirtschaft brutaler nung für den missglückten Rettungsver- als eine Konsequenz der Marktwirtschaft. geworden? Und kälter? Oder nur gerechter? such zahlt also auch der Steuerzahler. Die Baubranche leidet nach wie vor unter Bislang ist Holzmann ein Einzelfall. Aber Überkapazitäten – 50000 Jobs, so schät- eben auch ein Exempel dafür, dass staat- * Vor der Holzmann-Zentrale in Frankfurt am Main nach zen Experten, werden in den nächsten Jah- liche Interventionen oft unsinnig sind – Bekanntgabe der 250 Millionen Mark Bundesmittel am ren noch abgebaut. Die Frage ist nur: Fal- volks- wie auch betriebswirtschaftlich. 24. November 1999. OLIVER BERG / DPA (L.); THOMAS SCHULZE / DPA (R.) SCHULZE (L.);/ DPA THOMAS BERG / DPA OLIVER Holzmann-Mitarbeiter, -Baustelle Zentralstadion Leipzig: Andere Firmen in die Pleite getrieben

98 der spiegel 13/2002 Dabei beruhte die Hilfsaktion von 1999 Innerhalb der kommenden drei Monate ohnehin auf falschen Annahmen. Der da- KONZERNE wird die endgültige Entscheidung fallen. malige Holzmann-Chef Heinrich Binder Im Kern geht es um viel Geld und die und sein Aufsichtsratsvorsitzender, Carl Rosenkrieg richtige Strategie für den Einstieg in die Ludwig von Boehm-Bezing, hatten Ende neue Mobilfunkära UMTS. Nachdem der 1999 einhellig versichert: Die Verluste von hoch verschuldete Staatskonzern schon 7,3 insgesamt 2,4 Milliarden Mark beruhten in Büdelsdorf Milliarden Mark für sein 28,5-Prozent- einzig und allein auf „Altlasten“, die kri- Paket an Mobilcom gezahlt und weitere minelle Alt-Vorstände vertuscht hätten. Ist Mobilcom-Chef Schmid kämpft mit 16,5 Milliarden Mark für die UMTS-Lizenz das Loch einmal gestopft, begännen für lockergemacht hat, will er nun die weiteren Holzmann rosige Zeiten. allen Tricks um sein Lebenswerk. Investitionen ins Mobilfunknetz der Zu- Doch alle Wirtschaftsprüfer kamen zum Doch sein französischer Partner hat kunft auf ein Minimum zusammenstrei- gleichen Ergebnis: Die Verluste waren we- die besseren Karten. chen. Später will FT mit einem anderen der alt noch vertuscht, sondern in den bei- Netzbetreiber zusammenarbeiten – auch den Amtsjahren von Binder aufgelaufen. ast drei Wochen lang hielt sich Ger- wenn die Lizenzauflagen eine solche Fu- Damit aber war die Sanierungsfähigkeit hard Schmid dezent zurück. Als sion bisher nicht vorsehen. des Konzerns massiv in Frage gestellt. Die Fkönnte er die „Kriegserklärung“ aus Schmid dagegen hat ehrgeizige Soloplä- Staatsanwaltschaft ermittelt nun unter an- Paris mit diplomatischen Mitteln vom ne. Er will Ende 2002 als erster Netzbe- derem wegen Betrugs gegen die beiden Tisch wischen, betonte er gebetsmühlen- treiber mit UMTS starten und allein im Manager. artig: „Es gibt keinen Streit mit unserem laufenden Jahr noch 1,1 Milliarden Euro in Der Kanzler aber kannte den Sachver- Partner France Télécom, die Verträge sind die neue Technik investieren – ohne Zu- halt. Er wusste um die Täuschungsvorwürfe eindeutig.“ wendungen aus Paris ist das nicht möglich. – wie vergangenes Jahr eine Nachfrage des Am Freitag vorvergangener Woche war Zwar hat sich Bon verpflichtet, genü- SPIEGEL im Kanzleramt ergab. Dennoch der Mobilcom-Chef mit seiner Geduld am gend Geld für Mobilcom bereitzustellen, vergab er Bundesbürgschaften in Höhe von Ende. „Entweder die Franzosen halten sich „um die UMTS-Aktivitäten in Gang zu set- 250 Millionen Mark an Holzmann. In den an ihre Finanzzusagen, oder sie müssen die zen“. Doch die Franzosen sitzen am län- Augen des Strafrechtsprofessors Gerhard ganze Firma übernehmen“, entschied er. geren Hebel und können eine Klage auf Wolf könnte das den Tatbestand der Un- „Für mich gibt es nur schwarz oder weiß.“ Vertragserfüllung in Ruhe abwarten. treue erfüllen. Und auch EU-Wettbewerbskommissar Mario Monti wusste um die Prüfberichte wie auch die Täuschungsvorwürfe. Nach 20-monatiger Prüfung genehmigte er im Mai 2001 die staatliche Subvention den- noch – ohne stichhaltiges Sanierungs- konzept. Im Jahr eins nach der Rettung sollte die Holzmann-Bilanz ausgeglichen sein. Statt- dessen schlugen Verluste von 80 Millionen Euro zu Buche, 2001 lag das Minus gar bei 237 Millionen Euro. Schuld waren man- gelhaftes Controlling, aber auch der eins- tige Größenwahn aus Zeiten, als Holzmann noch auf eigene Rechnung Großprojekte baute, hohe Mietgarantien abgab und

schließlich auf den Objekten sitzen blieb. / REUTERS PETER MUELLER Auch die Deutsche Bank geht als Verlie- Kontrahenten Schmid, Bon (2000): „Nur schwarz oder weiß“ rer aus dem Desaster hervor. Denn sie hat- te das Rettungskonzept zusammen mit der Per Fax teilte der Gründer der Büdels- Denn auch Mobilcom ist hoch verschul- Unternehmensberatung Roland Berger er- dorfer Telefonfirma seinem Partner Michel det und muss allein bis Ende Juli einen arbeitet, was nicht unbedingt für die Sa- Bon in Paris mit, dass er wegen unüber- Überbrückungskredit von 4,7 Milliarden nierungskompetenz der Bank spricht, die brückbarer Meinungsverschiedenheiten Euro umschulden. Ohne konkrete Zusa- nun am meisten Geld abschreiben muss. von einer Put-Option Gebrauch machen gen aus Frankreich werden die Banken Der Branchenprimus ist mit knapp 20 werde, die im gemeinsam unterschriebe- nicht mitspielen und ihr Geld sofort zu- Prozent nicht nur größter Aktionär von nen Kooperationsvertrag vereinbart sei. rückfordern. Dann, so warnen die Wirt- Holzmann. Er hat dem Konzern auch 320 Laut diesem „Cooperation Framework schaftsprüfer der PwC Deutsche Revision Millionen Euro gepumpt – mehr als jede Agreement“ sei France Télécom (FT) nun AG im Mobilcom-Geschäftsbericht, sei andere Bank. verpflichtet, 33 Prozent der Mobilcom-Ak- „der Bestand der Gesellschaft gefährdet“. Für die Mitarbeiter ist das kein Trost. tien aus Schmids Portfolio zu übernehmen. Gewinnen kann Schmid, der Rambo aus Viele werden ihren Job verlieren, wenn Die Antwort aus Paris kam prompt. FT Büdelsdorf, den Kampf deshalb nicht mehr. Insolvenzverwalter Ottmar Hermann die könne die Entscheidung nicht akzeptieren, Für ihn geht es nur noch darum, möglichst Führung übernimmt. Aber längst nicht alle. teilte Bon wenige Stunden später seinem viel Geld beim Verkauf seines Aktien- Großbaustellen wie das Zentralstadion in Kontrahenten mit. „In diesem Stadium“ pakets herauszuschlagen. Leipzig werden von anderen Firmen über- habe Schmid „kein Recht, die Put-Option Das wissen auch die Franzosen. Alles, nommen. Zudem kann Hermann die profi- auszuüben“. sagt FT-Finanzchef Jean-Louis Vinciguer- tabel arbeitenden Teile des Konzerns retten Mit der schroffen Ablehnung aus Paris ra, laufe auf eine Trennung hinaus. Es – und verkaufen. Die Interessenten, darun- geht der seit Wochen andauernde Rosen- sei nur noch die Frage, „ob es eine freund- ter Bilfinger Berger, aber auch die Strabag, krieg zwischen den Partnern Bon und liche oder eine schmutzige Scheidung warten bereits. Wolfgang Reuter Schmid seinem Finale furioso entgegen. wird“. Klaus-Peter Kerbusk

der spiegel 13/2002 99 Werbeseite

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Zielort als den eigentlichen Glücksfall ih- Ziemlich aufdringlich sollen sich die TOURISMUS res Urlaubstrips. Zudem klagen viele über Rainbow-Leute hingegen dann gezeigt ha- organisatorische Mängel wie Verspätun- ben, wenn sie ihre Eintrittskarten für Bierpulle und gen, überbuchte Busse, fehlende Hotel- abendliche Partys verkaufen wollten. Man- zimmer und mitunter inkompetentes Per- chen der Jugendlichen sei auf der Suche sonal. nach Geld sogar das Gepäck durchwühlt Wasserpistole Verbraucherschützerin Wagner warnt worden. vor allem deshalb, weil die Rainbow-Bil- Rainbow Tours, mit einem Umsatz von Die Billigpreise von Rainbow Tours ligpreise viele Jugendliche anlocken, de- rund 20 Millionen Euro ohnehin einer der ren Unerfahrenheit leicht ausgenutzt wer- Kleinen der deutschen Tourismusbranche, locken besonders Jugendliche den kann. 16 Stunden chauffierte ein Bus- firmiere nicht als Jugendreiseanbieter, de- an. Verbraucherschützer warnen, fahrer im vergangenen Sommer Heike finiere sich aber als solcher durch sei- mitunter seien schon die Manthey und ihre Tochter aus dem Un- ne günstigen Preise, meint Monika Dom- Busreisen unfreiwillige Abenteuer. garn-Urlaub in Siófok nach Haus. Damit browsky vom ReiseNetz, der Bundesar- lag er sechs Stunden über der gesetzlich er- beitsgemeinschaft der Jugendreisebranche. ie Skiurlauber blickten in einen Ab- laubten Höchstfahrzeit. Dass die Qualität der Trips „jenseits von grund – jedoch nicht auf der Piste, „Der war fertig, der Mensch“, erinnert gut und böse“ sei, ärgert sie daher be- Dsondern am Busfenster. Auf der sich Manthey. „Und ich hatte eine Mords- sonders. Rückfahrt aus dem französischen Doucy angst.“ Mehrmals sei man fast in die Leit- Die rund 70 Unternehmen in ihrem Ver- verlor ihr Busfahrer im Januar auf einer planke geschlittert. Für sie steht fest: „Ich bund haben gemeinsame Qualitätsstandards Serpentinenstraße plötzlich die Kontrolle. würde meine Tochter niemals allein mit festgelegt – vor allem in der Ausbildung ih- Den Absturz den Hang hinunter verhin- diesem Verein verreisen lassen.“ res Personals. Doch Klagen über die Reise- derte nur ein Baum. „Nie wieder Urlaub mit „Die Reiseleiter wa- leiter finden sich in vielen Beschwerden Rainbow Tours“, habe sie während des Res- ren nie da“, erinnert über Rainbow Tours. „Offensichtlich legt tes der Fahrt gedacht, sagt eine Schülerin. sich die Schülerin das Unternehmen auf die Mei- Kaum ein Reiseunternehmen hat in der Anne Huch an ihren nung seiner Kun- Branche einen derart schlechten Ruf und eigenen Siófok-Ur- den nicht so viel Wert“, meint Ver- braucherschützerin Wagner angesichts der immer wieder- kehrenden Vorwürfe. Rainbow-Tours-Ge- schäftsführer Mathias Kampmann kennt die Klagen, spricht von Einzelfällen und versichert, man zahle den Busunternehmen marktgerech- te Preise. „Unser Margenspiel ist eben gering.“ Allerdings gibt er zu: „Wir ha- ben mit nicht optimalen Busun- ternehmen zusammengearbei- tet.“ Das sei „eine Schwachstelle in der Vergangenheit gewesen“. Im Januar hat er sich in das bis dahin 20 Jahre vom Firmen- gründer geführte Unternehmen eingekauft und als sein persönli- ches Credo nun ein klares „Qua- litätsmanagement“ ausgerufen.

CHRISTIAN AUGUSTIN / ACTION PRESS / ACTION AUGUSTIN CHRISTIAN Auf die bisher niedrigen Preise Rainbow-Tours-Busreisende in Hamburg: „Jenseits von gut und böse“ werde sich das jedoch kaum aus- wirken. provoziert so harsche Beschwerden von laub mit Rainbow Tours in den vergan- Sein Personal schule Rainbow Tours in- Verbraucherschützern wie der Billig-Reise- genen Sommerferien. Das wurde spätes- tensiv, so Kampmann: „Die Reiseleiter un- veranstalter aus Hamburg. tens dann zum Problem, als ein Junge terliegen einer ganz harten Auswahl und Das Einzige, was bei Rainbow Tours im Hotel ohnmächtig geprügelt wurde. Bei Beurteilung“ – gemanagt vor Ort von bunt zu schillern scheint, ist die Palette der vermeintlichen „24-Stunden-Hotline“ Chefkoordinatoren. Doch die seien, so kla- abenteuerlicher Randerlebnisse. Vor allem des Unternehmens meldete sich lange Zeit gen die Siófok-Urlauber, mitunter genauso die Bustouren des Unternehmens seien niemand. betrunken gewesen wie die Reiseleiter. „berühmt-berüchtigt“, so die Juristin Bea- Manthey hatte die Reiseleiter, wenn Kampmann will sich der Reklamationen te Wagner von der Verbraucher-Zentrale überhaupt, „immer nur mit Bierpulle und nun persönlich annehmen. Früher sprach Nordrhein-Westfalen. Wasserpistole“ erlebt. Sie seien auch nicht Rainbow Tours gern von „entschädigungs- Technisch veraltete Busse, die unterwegs eingeschritten, als betrunkene Halbstarke los hinzunehmenden Unzulänglichkeiten“, den Dienst quittierten, und Fahrer, bei de- nächtelang Möbel von den Hotelbalkonen wenn Urlauber ihr Geld zurückforderten. ren ruppigem Fahrstil den Gästen angst warfen. „Da war Randale“, erinnert sich Die meisten gaben klein bei. Und Anwäl- und bange wurde – seit Jahren bezeichnen ein Reiseveranstalter, der zur selben Zeit in te winken ab: Der Streitwert ist meist zu viele Kunden ihre unversehrte Ankunft am Siófok war. gering. Marcel Kehrer

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George Soros zählt weltweit zu den berühmtesten Bör- senspekulanten. Legendär ist der Kampf des gebürtigen Ungarn gegen die Bank von England, bei dem er 1992 mit seinem Fonds auf eine Abwertung des britischen Pfunds setzte – und über Nacht eine Milliarde Dollar gewann. So leidenschaftlich Soros, 71, als Finanzstratege agiert, so engagiert ist er auch als Philanthrop. Über 500 Millio- nen Dollar steckt er jedes Jahr in ein Netzwerk diverser Stiftungen, die sich vor allem für die Demokratisierung Osteuropas einsetzen.

Soros: Diese Regierung hat leider überhaupt kein Inter- esse an internationaler Zu- sammenarbeit. Bush ist an- getreten, die Bedingungen des Kalten Kriegs wieder- herzustellen, mit den USA als Supermacht und Führer der freien Welt. Amerika will ganz allein bestimmen, wo es

BÄRBEL SCHMIDT BÄRBEL langgeht. Bush hat so gese- hen im internationalen Ter- rorismus den perfekten Feind gefunden: WELTWIRTSCHAFT unsichtbar, allgegenwärtig, unbesiegbar – eine Legitimation für alles, von der Er- höhung des Militäretats bis zur Kündigung „Perfekter Feind“ des ABM-Vertrags. SPIEGEL: Sie halten die Militärintervention Der Börsenspekulant George Soros, 71, über Fehler in Afghanistan für falsch? Soros: Keineswegs, die Entsendung von der US-Regierung, Irrtümer der Globalisierungskritiker und die Truppen und Bombern nach Afghanistan Frage, wie viel Moral die Märkte brauchen war sicher richtig. Was fehlt, ist ein zwei- gleisiger Ansatz, der auf die militärische SPIEGEL: Herr Soros, vorige Woche haben Amerikanern haben die Terroranschläge eine soziale Initiative folgen lässt. Wir sind Sie auf der Uno-Konferenz im mexikanischen vom 11. September zu einem Umdenken dabei, eine gewaltige Chance zu verpassen. Monterrey vor 54 Staats- und Regierungs- geführt. Vor dem 11. September haben bei Die Supermacht Amerika könnte jetzt ihre chefs eindringlich vor den Folgen der Globa- Umfragen nur 55 Prozent erklärt, dass sie Dominanz nutzen, um für eine gerechtere, lisierung gewarnt und für einen neuen Fi- es begrüßen würden, wenn die USA mehr demokratischere Welt zu sorgen, so wie nanzausgleich zwischen armen und reichen Rücksicht auf die Interessen anderer Länder man es nach dem Zweiten Weltkrieg in Ländern geworben. Wie war die Reaktion? nähmen. Jetzt sind es weit über 80 Prozent. Europa mit dem Marshallplan gemacht hat. Soros: Man hat mir zumindest zugehört. SPIEGEL: Gilt das Ihrer Meinung nach auch Gerade wegen unserer unbestrittenen Das ist einer der Vorteile, wenn man sich für die Regierung von US-Präsident Bush? Überlegenheit könnten wir es uns leisten, einen gewissen Ruf als Fi- den Leuten, mit denen wir nanzexperte erworben hat: diesen Globus teilen, mehr Man wird ernst genommen. Aufmerksamkeit zu schen- SPIEGEL: Als Mann vom Fach ken. Aber das ist außerhalb wissen Sie aber auch, wel- der Vorstellungskraft der che starken Antriebskräfte Leute im Weißen Haus. Gier und Geiz sind. Schließ- SPIEGEL: Die Republikaner lich leben Sie davon, das haben offenbar den Ein- Geld anderer Leute zu meh- druck, dass ihnen der Erfolg ren. Was sollte die Reichen Recht gibt: Der Krieg läuft dazu bewegen, mit den Ar- erfolgreich, die Wirtschaft men zu teilen? ist wieder auf Wachstums- Soros: Die Einsicht, dass eine kurs, der Schock nach dem Welt mit großen Ungleich- 11. September überwunden. heiten eine sehr gefährliche Warum also umdenken? Welt ist. Gerade bei den Soros: Übergroße Dominanz fördert Widerstand. Selbst der deutsche Außenminister * Am Rand einer Uno-Entwicklungs- hilfekonferenz am vergangenen Mon- / AP CAIVANO VICTOR Joschka Fischer hat sich tag im mexikanischen Monterrey. Proteste in Mexiko*: „Amerika will allein bestimmen, wo es langgeht“ kürzlich zu Recht dagegen

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Werbeseite verwahrt, dass die USA ihre Verbündeten Soros: Ich kann nicht für die Wall Street in Europa wie Vasallen behandeln. Vor insgesamt sprechen, aber diejenigen, zu sechs Monaten konnten die Amerikaner denen ich Kontakt halte, sind sehr be- mit der nahezu ungeteilten Solidarität des sorgt über die Richtung, in die sich dieses Auslands rechnen, doch dieses moralische Land bewegt. Eine weitere kriegerische Kapital ist beinahe aufgebraucht. Die Ent- Auseinandersetzung, möglicherweise so- weder-oder-Politik der US-Regierung po- gar unter Einsatz von Atomwaffen, ist das larisiert, fördert Extrempositionen und Letzte, was die amerikanische Wirt- bereitet damit auf unselige Weise gerade schaftswelt will. Die Leute sind doch gott- jenen terroristischen Kräften den Boden, froh, dass die Börse wieder anzieht und denen an einer weiteren Spaltung der Welt sich das allgemeine Geschäftsklima deut- sehr gelegen ist. lich aufhellt. SPIEGEL: Bush hat immerhin vor wenigen SPIEGEL: „Märkte sind amoralisch“, postu- Tagen vorgeschlagen, die Entwicklungshil- lierten Sie einst. Ist ein wenig Moral mög- fe an Dritte-Welt-Staaten um fünf Milliar- licherweise doch gut fürs Geschäft? den Dollar aufzustocken. Ist Ihnen das Soros: Märkte an sich kennen keine Moral, nicht genug? das macht sie so effizient. Zwischen richtig Soros: Ich fand diesen Vorschlag ziemlich ir- und falsch zu unterscheiden ist ja immer reführend, was ich in Monterrey auch ge- eine komplizierte Geschichte, wenn es sagt habe. Wer sich das Hilfspaket genauer über die nüchterne Kalkulation von Ge- ansah, musste nämlich feststellen, dass die winnchancen hinausgeht. Doch was die versprochene Summe über drei Jahre ge- Marktfundamentalisten gern übersehen, ist

streckt war. Ich bin sehr froh, dass der Prä- die Tatsache, dass Gesellschaften nun ein- BILDERDIENST UNKEL / ULLSTEIN sident nun noch einmal nachgelegt hat, so mal nicht wie Märkte funktionieren, zu- Slum-Kinder auf den Philippinen dass die jährliche Auslandshilfe tatsächlich mindest nicht die Art von offener Gesell- „Folge einer miserablen Politik“ um fünf Milliarden erhöht wird. Das ist ein schaft, wie wir sie wollen. So lange es um guter Anfang, doch gemessen an der Wirt- den freien Verkehr von Kapital und Waren SPIEGEL: Das klingt, als würden Sie sich schaftsleistung ist der Entwicklungshilfeetat geht, ist die Globalisierung sicher eine neuerdings mühelos in die Front der Glo- der USA trotzdem noch immer geringer als wunderbare Sache. Doch wenn wir ab- balisierungsgegner einreihen. der jedes anderen Industrielands. straktere Güter wie Umweltschutz, Ge- Soros: Die Globalisierungsgegner haben in SPIEGEL: Sehen Ihre Bekannten und Freun- sundheitsvorsorge oder Bildung betrach- vielen Punkten ihrer Kritik einfach Recht. de an der Wall Street die amerikanische ten, sieht die Leistungsbilanz weit weniger Aber ich glaube, sie machen einen Fehler, Politik ähnlich kritisch wie Sie? überzeugend aus. wenn sie die bestehenden Finanzinstitutio- Wirtschaft nen schwächen wollen. Für die Globalisie- ren Finanzhilfe für die Dritte Welt vorge- Soros: Viel hängt jetzt davon ab, ob Bush rungskritiker sind der Internationale Wäh- stellt*. Können Sie uns das kurz skizzieren? offen gegen meine Idee votiert. Wenn der rungsfonds IWF, die Weltbank und die Welt- Soros: Im Mittelpunkt meines Modells ste- Präsident nicht eindeutig Stellung nimmt, handelsorganisation WTO der Inbegriff al- hen die so genannten Sonderziehungs- sehe ich durchaus Chancen, dass der Vor- len Übels. Dabei übersehen sie schlicht die rechte, die der Internationale Währungs- schlag es durch den US-Kongress schafft. Tatsache, dass Armut und Elend fast immer fonds als eine Art zusätzliche Währungs- Viele Demokraten halten meine Idee für die Folge einer miserablen Politik vor Ort reserve an die Mitgliedsländer ausgibt. Ich gut. Und die Republikaner muss man halt sind. Über korrupte Regime in Afrika hört schlage nun eine neue Zuteilung dieser an ihrem Bekenntnis zur Religion packen, man seltsamerweise wenig Klagen. Rechte vor unter der Bedingung, dass die die tätigem Mitleid einen hohen Stellen- SPIEGEL: Was also schlagen Sie vor? reichen Länder ihre Anteile an die armen wert einräumt. Soros: Ich finde, dass die WTO eine bril- spenden. SPIEGEL: Vielleicht sollten Sie einen Teil lante Konstruktion ist. Sie hat nämlich die SPIEGEL: Und was genau wäre dabei der der 500 Millionen Dollar, die Sie jedes Jahr Macht, Fehlverhalten durch den Erlass von Vorteil? in Ihre diversen Stiftungen stecken, für Handelsschranken und Strafzöllen zu ahn- Soros: Zunächst einmal könnten die Ent- Lobbyarbeit in Washington ausgeben? den. Aber zwei Dinge laufen verkehrt. Ers- wicklungsländer ihre Währungsreserven Soros: Da ich gerade den Gesetzesvor- tens: Die reichen Länder nutzen die WTO deutlich aufstocken, was dringend Not tut, schlag von Senator John McCain unter- zu ihrem Vorteil aus. Für Waren aus der weil sie praktisch keinen Zugang zu den stütze, private Spenden an Parteien und Dritten Welt, etwa Agrarprodukte oder internationalen Kapitalmärkten haben. Zu- Politiker stark zu begrenzen, sind mir da Textilien, sind die Märkte der Industrie- dem würde indirekt die Entwicklungshilfe leider die Hände gebunden. staaten oft geschlossen, während die hoch steigen, da jedes Land seine Rechte gegen SPIEGEL: Sie könnten selbst in die Politik spezialisierten Güter aus Europa oder den Hilfsprogramme aus einem genau defi- wechseln. USA in der Regel keinen Importbeschrän- nierten Katalog tauschen könnte. Über die Soros: Parteiarbeit wäre, glaube ich, nicht kungen unterliegen. Zum anderen sorgt Projekte in diesem Katalog würde wieder- ganz das Richtige für mich. Außerdem die WTO bislang nur für den freien Ver- um ein unabhängiges Expertengremium mache ich ja nichts anderes als Politik, kehr von Handelsprodukten, nicht aber für befinden, womit dann auch sichergestellt wenn ich versuche, öffentlichen Druck zu den Export öffentlicher Güter wie Um- wäre, dass die Hilfe wirklich den bedürfti- erzeugen. Ich habe jetzt einen Vorschlag weltschutzstandards oder Arbeitsrechte. gen Ländern dient und nicht den Interes- vorgelegt, von dem die Experten meinen, SPIEGEL: In Ihrem gerade erschienenen sen der Geberländer. dass er praktikabel ist. Wenn sie das in Buch haben Sie ein Modell zur effektive- SPIEGEL: Wenn Sie mit Ihrer kritischen Ein- Washington nicht wollen, kann ich nur schätzung der amerikanischen Politik sagen: Bitte schön, entwickelt einen bes- Recht haben, dann sieht es für Ihr Modell seren, ich warte. Der Ball ist nun im ande- * George Soros: „Der Globalisierungsreport – Weltwirt- Interview: Jan Fleischhauer, schaft auf dem Prüfstand“. Alexander Fest Verlag, Berlin; eines globalen Finanzausgleichs allerdings ren Feld. Michaela Schießl 208 Seiten; 17,90 Euro. nicht gut aus. Werbeseite

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Werbeseite ED KASHI / AGENTUR FOCUS Blick auf Silicon Valley: In zwei Jahren 144242 Arbeitsplätze verloren

NEW ECONOMY Das Traum-Haus Der Apartment-Block an der Hancock Street 45 in San Francisco wurde für die Gewinner der Internet-Ära gebaut. Mittlerweile sind zwei der drei Bewohner arbeitslos. Eine Homestory der Hinterbliebenen. Von Michaela Schießl

eim dritten Erdrutsch hätte Tom Mc- Er sparte an nichts: Marmorbäder, Whirl- sichts 788 untergegangener Internet-Fir- Donald seine Idee vom Hausbau fast pools, Sonnenterrassen. Die Geschirrspül- men. 600000 Hightech-Arbeiter wurden seit Bmit begraben. Ungläubig starrte er maschine schimmert in gebürstetem Stahl. Anfang 2000 entlassen, 144242 allein im auf den frischen Geröllhaufen, der vom Hü- Der Backofen reinigt sich von selbst, und Valley. Die Technologiebörse Nasdaq ver- gel auf das ausgehobene Grundstück ge- der offene Kamin lodert auf Knopfdruck. lor bis heute über 60 Prozent ihres Werts. stürzt war. Aber weil er Ire ist und deshalb Als der Bauherr Ende 1999 verkaufte, Vier Billionen Dollar wurden vernichtet. störrisch, beschloss er, sich von dem Dreck war Wohnraum in San Francisco teilweise Das lindgrüne Haus in der Hancock nicht runterziehen zu lassen. Er würde das teurer als in Manhattan. Manche Interes- Street, gebaut für die Gewinner der Inter- Haus in der Hancock Street 45 bauen. Und senten hatten Koffer voller Banknoten da- net-Ära, beherbergt nun deren Hinterblie- es würde eine Goldgrube werden. bei. Perfektes Timing für McDonald. Er bene. Zwei der drei Bewohner sind mitt- Frühjahr 1999 in San Francisco. An jeder kassierte zwei Millionen Dollar für drei lerweile arbeitslos. Ecke schossen Internet-Firmen aus dem Bo- Apartments. den. Im Baseballstadion der „Giants“ wur- Das Juwel, die doppelstöckige Suite ganz Der Anwalt den mehr Börsengänge gefeiert als Home- oben, sicherte sich Michael Nichols, Di- Eugene White hat den Kauf des Apart- runs. Und für Wohnungen in den bunten rektor des Computergiganten Hewlett- ments penibel geplant. Er nahm sich eine viktorianischen Holzhäusern wurden riesi- Packard. In die Mitte zog der Anwalt Eu- Karte von San Francisco und malte einen ge Summen gezahlt – sofern die Domizile gene White mit seinen drei Möpsen. Den Kreis um die obere Market Street. In die- Carports boten für die offenen Sportwa- unteren Stock bekam Geene Rees, Marke- sem Gebiet wollte er wohnen. Als er das gen ihrer künftigen Besitzer. Die Erfinder tingchefin eines Start-ups. Alle drei waren Haus an der Hancock Street 45 betrat, der New Economy hatten die Stadt erobert. von der Bugwelle der Internet-Hysterie in wusste er, dass er angekommen war. Die- Und sie hatten die Taschen voller Geld. die Hancock Street gespült worden. Alle se Wohnung war der Beginn eines neuen Für diese Menschen baute McDonald drei träumten den Traum vom immer Lebens. sein Haus. Sorgfältig hatte er den Ort ge- währenden Wohlstand dank E-Commerce. White, ein kahler Mann von kräftiger wählt: eine ruhige Seitenstraße auf einem Und alle drei wurden im Frühjahr 2000 Statur, ist Partner in einer Anwaltskanzlei nebelfreien Sonnenhügel zwischen den vom Dotcom-Zusammenbruch überrascht. im noblen Newport Beach in Südkalifor- Szenevierteln Castro und Mission. Clubs, Zwar beschwor das US-Magazin „News- nien. Bis 1999 wohnte er dort in einer Zwei- Läden und der Dolores Park mit Palmen week“ vergangene Woche auf seinem Titel Millionen-Dollar-Villa mit Meerblick und und Tennisplätzen – alles bequem zu Fuß die Rückkehr des Silicon Valley. Doch arbeitete so hart wie die Juristen, die man zu erreichen. derlei sind eher Mutmachparolen ange- aus John Grishams Anwaltskrimis kennt.

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Irgendwann fing sein Magen an zu bluten, glänzt einsam in der Garage. Als sein Ak- und die ersten Depressionen kamen. tiendepot auf Normalmaß schrumpfte, Whites Kanzlei verdient ihr Geld ei- kehrte White zurück in die Tretmühle. Jede gentlich mit Immobilienprojekten, Ein- Woche fliegt er nun wieder an seinen kaufszentren und Ähnlichem. Der Internet- Schreibtisch nach Newport Beach. Die Hysterie begegnete er erstmals auf seinem Frührente ist vergessen. Bankauszug. Wie die meisten Amerikaner Bedauerlich sei das, ja. Aber niederge- hat er seine Altersvorsorge vor allem in schlagen ist er nicht. Er hatte zwei tolle Aktien angelegt. Ende 1999 war das Depot Jahre. Vor allem aber war er, anders als die so fett wie eine Gans vor Weihnachten. Internet-Reichen, schon vorher ein wohl- White nahm es als Wink des Schicksals. habender Mann. „Ich bin nicht über Nacht Er zog den Anzug aus und verabschiedete reich geworden und habe nicht über Nacht sich aus dem Tagesgeschäft. Ab nun laute- alles verloren.“ te die Devise des 48-Jährigen: Langsamer In gewissem Sinne habe der Crash die treten, schneller fahren. Welt auch wieder ins Lot gerückt. In Res- Er kaufte sich einen schwarzen BMW taurants bekommt man wieder Plätze. Die Z3, verkaufte die Villa, packte seine drei Künstler erobern die Fabriketagen zurück. Möpse auf den Rücksitz und zog nach San Die 25-jährigen Milchbart-Millionäre ha- Francisco. Nur noch alle zwei Wochen sah ben die Stadt verlassen und kehrten in ihre er in seiner Kanzlei nach dem Rechten. Er Kinderzimmer zurück. reiste lieber, ging ins Fitnesscenter und Humorvoll habe er den Aufstieg der stromerte durch Kunstgalerien. Neureichen beobachtet, sagt White, gele- „Es war eine irreale Zeit“, sagt er heu- gentlich mit einem leichten Anflug von te. Ein Blick auf die Aktienkurse genügte, Neid. „Manchmal hat man sich doch ge- und schon machte man sich auf den Weg ärgert, dass die sich ihren Reichtum nicht erarbeiten mussten.“ Heute tun sie ihm Leid. Die Marketing- Expertin Geene Rees kann sich zumindest nicht vor- werfen, etwas verpasst zu haben: Sie hat den schrillsten Hype der Wirtschaftsgeschichte hautnah miterlebt, seit sie ihre Karriere in der Werbeagentur Ket- chum hinschmiss und in die Internet-Blase eintauchte. Begonnen hatte alles 1996, als immer mehr ihrer Kunden ein www auf die Firmenbroschüre drucken wollten. Kei- ner wusste so recht, was man damit soll- te. Doch ohne die drei Buchstaben wirk- te man plötzlich sehr

ANDY FREEBERG ANDY altmodisch. Anwalt White vor Hancock Street 45: „Eine irreale Zeit“ Die Klienten ver- langten nach Web-Sei- zum Skiurlaub nach Aspen. Zweimal im ten. Konkurrenten verlangten nach Rees. Jahr flog White zum Einkaufen nach Paris. „Komm zu uns, du wirst reich werden beim „Wir fühlten uns alle so schrecklich Börsengang“, lockten Start-up-Gründer. reich.“ Dabei blieb das Vermögen virtuell 41 Jahre alt war sie damals. Jung genug, um wie die meisten Firmen: „Es war fast wie etwas zu riskieren. Spielgeld.“ Im Casino des Cyberspace Im Januar 1998 stieg sie bei der Inter- konnte man nur gewinnen. Echtes Geld net-Agentur Novo Interactive ein. Die war irgendwie aus der Mode. 13 Leute, die in einem unbeheizten, alten Einen Tag, nachdem White die Wohnung Industriegebäude bastelten, saßen auf in der Hancock Street für 520000 Dollar ge- Aeron-Chairs. Die ergonomischen Desi- kauft hatte, bot ihm jemand 700000 Dollar gner-Stühle, Stückpreis 1600 Mark, waren dafür. Er war nicht interessiert. das Statussymbol der Sieger. Seit dem Börsencrash ist der nun 50- Rees’ Erweckungserlebnis kam jedoch, Jährige seltener zu Hause. Der Sportwagen als sie mit ihren Programmierern über

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Werbeseite Wirtschaft einem Auftrag für den japa- Was wollten die Nörgler? nischen Autoriesen Toyota Dann kamen die ersten Zah- brütete. Da erkannte sie len und mit ihnen die Er- plötzlich, was eine Web-Sei- kenntnis, dass im Internet te wirklich ist: ein virtuelles nur schwer Geld zu verdie- Kaufhaus, das Kunden auf nen ist. der ganzen Welt besuchen, Im Frühjahr 2000 schlichen wo sie Produkte hin- und sich still und heimlich erst die herdrehen und schließlich Insider davon, bald rannten bestellen können. Ein Ort alle Investoren. Nach dem auch, in dem jeder Schritt, Börsencrash konnten oder jeder Klick des Besuchers wollten viele der Internet- verfolgt werden kann. Kunden von Lot 21 ihre Rees war sich ganz sicher. Rechnungen nicht mehr be- Diese Technik würde die zahlen. Tupperware zog sich Wirtschaft revolutionieren. zurück. Dann die Bank of Der gläserne Kunde war kein America. Dann Palm. Traum mehr. Alles würde An Halloween 2000 traf vernetzt sein: Käufer, Lager, sich die Familie ein letztes Produktionsstätten, Liefe- Mal vollzählig. Während ihre ranten. Aller Handel würde Kollegen in Sensenmann- im Cyberspace stattfinden, Kostümen tanzten, wusste der nun ihr Zuhause wurde. Rees, dass am nächsten Mor- „Damals glaubten wir, gen die große Entlassung be- dass Einkaufszentren tot vorstand. Es gab keine Vor- sind“, stöhnt sie und wirft warnung – jemand hätte ja sich auf ihr Sofa. Ihr Hund vor Wut das Familiensilber

winselt ungeduldig. Frau- FREEBERG ANDY klauen können. chen greift zum Laserpoin- Marketing-Expertin Rees: Der Job ist weg, die Wohnungsrate läuft weiter Seit März dieses Jahres ist auch Geene Rees arbeitslos. für zehn Cent die Aktie. Nur durchhalten, Der Beratervertrag, den man ihr noch ge- dachten wir, bald sind wir Millionäre.“ währt hatte, ist ausgelaufen. Als immer mehr Kunden genervt ab- Ihre Ersparnisse sind unberührt. Noch. wanderten, verschwand Novos Börsenplan Neuerdings kocht sie wieder selbst. Der in der Schublade. Rees wechselte als Mar- Putzfrau hat sie gekündigt. Der Leasing- keting-Chefin zur Internet-Agentur Lot 21, vertrag fürs Auto läuft unerschütterlich die Banner-Werbung für das Netz entwarf – weiter. Die Ratenzahlung für die Wohnung eine Lizenz zum Gelddrucken damals. Um auch. ihre Markennamen zu verbreiten, gaben Sie hat jetzt Zeit für sich, ihre Eltern, den Start-ups Millionen für blinkende Plakate Pudel, mit dem sie sonntags in die Hunde- im Netz aus. Was sollte da schief gehen? schule geht. Sie pflanzt Rosen auf ihrer Im Dezember 1999 kaufte Rees in der Terrasse. Sie denkt viel nach. Vor allem Hancock Street die Wohnung, die sie nur darüber, wie sie „wieder einstellbar“ wird.

ED KASHI / AGENTUR FOCUSED KASHI / AGENTUR selten bei Tageslicht sehen würde. Lot 21 Sie ist 45 und ledig. „Es ist fast peinlich zu Laptop-Lunch in San Francisco (1999) wurde ihr Leben. Morgens kamen süße sagen, wohin ich überall Bewerbungen „Irgendwann nahmen wir jeden“ Stückchen. Dienstags standen Bagels be- schicke.“ Oft trifft sie sich nun mit frühe- reit. Mittwochs gab es Videos zur Pizza. ren Geschäftsfreunden, „damit man mich ter. Der Riesenpudel hechtet über den 16 Freitags war Früchtetag. Am Wochenende nicht vergisst, wenn es wieder aufwärts Meter langen Gang, auf der Jagd nach dem ging man Golfen im Golden Gate Park. geht“. Zwei kleine Aufträge sind dabei im- kleinen roten Lichtpunkt. „Das ist High- Wem danach der Rücken schmerzte, be- merhin schon herausgesprungen. tech“, grinst Rees. stellte den Masseur. Die Anstrengung ihrer Dotcom-Jahre Selbst die Kunden gehörten zur Familie. Der Personaldirektor sieht man ihr nicht an. Dabei hat sie nur ein Sie kamen zur Margarita-Party in der VIP- Michael Nichols hatte schon 20 Jahre für einziges Mal in zwei Jahren bei Novo einen Lounge des Pacbell Stadions. Kostenpunkt: den Computerriesen Hewlett-Packard (HP) Urlaubsversuch gemacht, drei Tage auf Ha- 50000 Dollar. Als Einladung wurden win- gearbeitet, als der Ruf aus Palo Alto kam. waii. Das Telefon läutete unentwegt. zige, sondergefertigte Baseballs verschickt. Ob er nicht in die Firmenzentrale wechseln Als die Nachfrage nach Web-Seiten ex- „Es war eine wilde Zeit. Alles Geld, was wolle, als Direktor für Talentsuche und plodierte, schwoll Novo auf 70 Mitarbeiter reinkam, wurde ausgegeben“, sagt Rees. Personalentwicklung? an. Studienabgänger verlangten 80 000 Manchmal wunderte sie sich zwar schon, Nichols war entzückt. „Ich bin bei HP Dollar pro Jahr, plus Aktienoptionen. „Ir- wenn Kollegen stundenlang am Computer aufgewachsen“, sagt er. Sein halbes Leben gendwann nahmen wir jeden, der einen spielten oder endlose Mittagspausen ein- hatte der Psychologe HP zu Liebe immer Computer bedienen konnte“, sagt Rees. legten. Konnte es sein, dachte sie in solchen wieder die Umzugskisten gepackt: von Leute mit Erfahrung gab es kaum in die- Momenten, dass die New Economy über Chicago nach Detroit, von Denver nach ser jungen Technologie, und die Kunden ihre Verhältnisse lebt? Mountain View. Zuletzt hatte er in Miami verstanden das Spiel ohnehin nicht. Sie Doch ein Blick an die Wall Street beru- das Personalmanagement für Lateinameri- fragten nur ungeduldig, wo ihre Web-Sei- higte sie: Analysten hielten die Daumen ka aufgebaut. Seit ihm das gelang, genießt te bleibe. Ohne sie kein Börsengang. Ohne hoch, Anleger rauften sich um Internet-Ak- er den Ruf eines Problemlösers. Börsengang kein Geld. Novo wollte selbst tien. Yahoo war mehr wert als General Mo- So eine Wunderwaffe war genau, was an die Börse: „Wir hatten alle Optionen, tors, AOL hatte TimeWarner geschluckt. HP brauchte. Der Gründerboom war in

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Werbeseite Wirtschaft vollem Gange, und der altehrwürdigen Fir- ten Oberlippenbart, wenn er daran zurück- klärungen, aus juristischen Gründen. Das ma lief das Personal davon. Die arbeitneh- denkt. „Stil hatten die nicht. Aber einen hast du doch selbst so festgelegt. Nimm’s merfreundliche Unternehmenskultur, ehr- Businessplan.“ Ein bisschen Schadenfreu- nicht persönlich.“ furchtsvoll „der HP-Way“ genannt, zog de konnte er sich nicht verkneifen, als Mit 29 war er eingestiegen, da machte nicht mehr. Talente wollten lieber in 2 Jah- schließlich eine Internet-Klitsche nach der HP noch keine zwei Milliarden Dollar Um- ren Millionär sein als in 20 Direktor. „Start- anderen schließen musste – bis der Ab- satz. Als er rausflog, war er 50 Jahre alt und ups waren jung und sexy, wir waren alt wärtstrudel auch HP erfasste. sein Konzern 45 Milliarden Dollar schwer. und lahm“, sagt Nichols. Er trat an, HP Vorstandschefin Carly Fiorina ordnete Drei Tage später traf Nichols seine Nach- sexy zu machen. 6000 Entlassungen an. Das war der Sün- barin Gene Rees im Treppenhaus. Wo Wie schwer es sein würde, gegen die denfall. „Die Dotcom-Ära veränderte die denn sein roter Mustang geblieben sei, neuen Reichen zu bestehen, merkte er Werte bei Hewlett-Packard.“ Nichols sieht fragte sie. „Den musste ich abgeben“, sag- schon bei der Wohnungssuche. Fünf An- plötzlich wie ein enttäuschter Liebhaber te Nichols, „ich bin entlassen.“ gebote hat er abgegeben – und war glatt aus. Er hatte die Firma verehrt, weil sie „Ich auch“, antwortete Rees. Sie sahen ausgelacht worden. Obwohl seine Gebote das Profitstreben nie über das Wohl der sich an. Ein bisschen tröstlich war das 50000 Dollar über dem Nennwert lagen, Mitarbeiter gestellt hatte. „Diese Balance schon, wenigstens fühlte er sich nicht ganz waren sie mit Abstand die niedrigsten. war plötzlich dahin.“ allein mit seinem Schicksal. Doch das Stig- Als Nichols die 150 Quadratmeter große Er erhielt den Auftrag, das weltweite ma der Arbeitslosigkeit nagt an ihm. Er Wohnung in der Hancock Street 45 sah, Entlassungsprogramm zu gestalten. Das geht jetzt regelmäßig zur Therapie. Wird er hatte er seine Lektion gelernt. Für knapp Procedere wurde bis in kleinste Details gefragt, was er macht, sagt er: Ich bin in über eine Million Dollar bekam er den standardisiert. So gut es ging, versuchte er, einer Übergangsphase. Zuschlag. Eine ungeheure Summe, zuge- den HP-Way auch auch auf dem Weg zur Sechs Monate dauert diese Phase jetzt geben, aber was sollte er fürchten? HP Tür durchzuhalten. Er bot den Entlasse- schon. Anfangs riefen noch ein paar Head- zahlte ihm einen Wohnungszuschlag, und nen Beratungsgespräche und Vermitt- hunter an. Dann wurde es still. 24 Stunden die Immobilienpreise stiegen. lungshilfe an. Sie wurden auch nicht wie können lang werden für einen, der 14 Stun- anderswo vom Sicherheitsdienst nach den täglich gearbeitet hat. „Ich war ein draußen eskortiert. „Sie sollten in Würde globaler Mensch, um fünf Uhr früh hatte gehen“, sagt Nichols. Allein im Silicon Val- ich das erste Telefonat mit Japan.“ ley feuerte HP 1800 Leute. Aus dem globalen ist ein lokaler Mensch Als alles vorbei war, bat der oberste Per- geworden. Und weil er immer noch Mana- sonalchef Nichols für den folgenden Tag, ger ist, managt er jetzt die Nachbarschaft: neun Uhr, zum Abschlusstreffen. Es war der Zur Bezirkswahl lief Nichols mit Wahlpla- 29. August 2001, und nach 15 Minuten war katen durch das Viertel und telefonierte Nichols’ Leben bei HP beendet. tagelang, um Freunde zur Stimmabgabe zu Wie angewurzelt stand er da, sprachlos, bewegen. Im neuen Kulturzentrum ist er dann stieg die Wut in ihm hoch. Er ver- auch aktiv. langte eine Erklärung für seinen eigenen Am liebsten wäre er Personalchef in ei- Rausschmiss, das sei ja wohl das Mindeste ner mittelgroßen Firma, doch die schauen

P. BESSARD / REA LAIF BESSARD P. nach 22 Betriebsjahren. Sein Chef lächelte ihn beim Bewerbungsgespräch immer so Hewlett-Packard-Werk in Mexiko dünn. „Michael, wir geben niemals Er- komisch an. Was will denn der hier? Als „Wir waren alt und lahm“ einstiger Konzern-Direktor ist er rettungslos überqua- Dann fing er an, HP auf lifiziert. Internet-Geschwindigkeit zu Der Wohnungszuschlag ist beschleunigen. Erst moder- seit seinem Abgang bei HP nisierte er die Web-Seite. dahin, die Monatsbelastung Wer zu HP wollte, musste ist geblieben. Die Arbeitslo- sich per Internet bewerben. senversicherung schickt ihm Briefe mit Lebenslauf waren 250 Dollar pro Woche. Kurz zu sehr Old Economy. Job- hatte Nichols überlegt, sich Anzeigen ließ er auf an- von seiner Wohnung in der deren Web-Seiten schalten. Hancock Street 45 zu tren- Zuletzt schlüpfte er aus sei- nen. Doch er würde 100000 nen Jacketts, stieg in die Dollar Verlust machen – wie Jeans und klapperte die Uni- der französische Venture Ca- versitäten ab. pitalist, der nebenan seine „Einmal traf ich mich mit Wohnung verkaufte. Start-up-Gründern in einem Die neuen Besitzer sind Café. Die Kids erschienen in schon eingezogen, eine ame- sackartigen Lumpen. We- rikanische Kleinfamilie: Va- nigstens hatten sie Schuhe ter Arzt, Mutter Lehrerin, an“, erzählt Nichols. Als das ein Sohn mit Gitarre, eine Treffen zu Ende war, griff Tochter mit Papagei, zwei einer der Burschen in die Hunde. Hose und zog ein Bündel Nichols grüßt sie immer 100-Dollar-Scheine heraus. freundlich über den Zaun „Lass stecken“, sagte er zu und kann sich ein Grinsen Nichols, „ich zahle.“ nicht verkneifen. So sieht

Nichols bleckt die Zähne FREEBERG ANDY sie eben aus, die neue Nor- unter dem akkurat getrimm- HP-Direktor Nichols: „Stil hatten die nicht, aber einen Businessplan“ malität. ™

der spiegel 13/2002 127 Werbeseite

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Werbeseite Sport ROBERT PRATTA / REUTERS PRATTA ROBERT Skirennfahrer Beltrametti (kurz vor dem Sturz): „Tausendmal habe ich im Kopf den Befehl gegeben: Beweg doch was“

SKI ALPIN „Ein unglaublicher Moment“ Er hatte das Zeug zum Weltstar – bis es ihn bei Tempo 120 aushob und er die Fangnetze durchschlug. Silvano Beltrametti, vom siebten Brustwirbel abwärts gelähmt, soll den Schweizern dennoch als Held dienen. Sie wollen ihn künftig als Behindertensportler siegen sehen.

it Glücksgefühlen kannte sich Sil- Beltrametti, 23, der auf der Piste als nen, auch wenn es seinen Neigungen nicht vano Beltrametti aus. Bei Junio- Draufgänger galt, wirkt erstaunlich unbe- entspricht. Mren-Weltmeisterschaften gewann fangen. Über seine Behinderung zu reden Nun, da Beltrametti der Fähigkeit be- er drei Medaillen, bei der Weltcup-Abfahrt fällt ihm leicht. Er sei halt „ein Kämpfer- raubt ist zu gehen, zu stehen und brust- in Lake Louise gelang ihm im November typ“, sagt er und bekommt leuchtende abwärts zu fühlen, soll er als Behinderten- 2000 erstmals der Sprung aufs Podest. Augen. sportler Siege feiern. Er hatte die Intensiv- Doch jede Annäherung an die internatio- Auf dem Stationsflur begegnet er dem station kaum verlassen, da forderte der nale Elite wertete der Schweizer als logi- Leiter der Ergotherapie. „Hast du ein paar Boulevard, er möge spätestens 2006 bei schen, beinahe überfälligen Schritt. Er freu- Autogrammkarten für mich?“, fragt ihn den Winter-Paralympics in Turin antreten. te sich gemessen. der Arzt verzweifelt. Beltrametti schüttelt Guisep Fry, ein hagerer Mann mit oran- Nachdem es ihm aber in diesem Jahr den Kopf. Die alten sind vergriffen und die ge getönter Brille, lässt die öffentliche Mei- zum ersten Mal gelungen war, sich ohne neuen, auf denen er im Rollstuhl abgebil- nung laufen. Er ist seit drei Jahren Beltra- fremde Hilfe die Hose anzuziehen, lag Bel- det ist, noch nicht gedruckt. mettis Manager. Durch den Unfall, sagt er, trametti auf dem Bett und genoss einen Die neuen Autogrammkarten sind eine habe sich seine Arbeit in einer Weise in- „großen Sieg“. Ihm war, als hätte er gera- Idee seines Managers. Und ein Reflex auf tensiviert, „als hätte Silvano olympisches de das legendäre Lauberhorn-Rennen ge- die Anteilnahme seiner Landsleute. Gold“ gewonnen. wonnen. „Ein unglaublicher Moment.“ Vor seinem Unfall galt Beltrametti ih- Mancher Experte glaubt sogar, dass die Inzwischen ist die morgendliche An- nen als größte Hoffnung im alpinen Ski- Mechanismen der Sportvermarktung auch kleideprozedur zur Routine geworden. Bel- sport. Die Eminenz Bernhard Russi, Olym- bei einem Querschnittsgelähmten greifen. trametti, der seit dreieinhalb Monaten piasieger 1972, nannte ihn ein „Jahrhun- Heinz Frei, einer der weltweit erfolgreichs- querschnittsgelähmt ist, erledigt sie in we- derttalent“, und voriges Jahr wurde der ten Rollstuhl-Athleten, prophezeit, dass niger als zehn Minuten. Anschließend Graubündner prompt Vierter bei der WM- Beltrametti wieder Profi werden könne: rutscht der ehemalige Skiprofi vom Bett in Abfahrt in St. Anton. Der neue Pirmin „Er weiß, wie es ist, seinen Körper auszu- den Rollstuhl und bewegt ihn mit kräftigen Zurbriggen schien gefunden. reizen. Er sieht gut aus und ist prominent.“ Armschüben aus Raum E 304. Das große, So einen möchte eine Nation nicht Doch Beltrametti will gar nicht bei den helle Zimmer liegt im dritten Stock des Pa- verlieren. Und deshalb wollen ihn jetzt Behinderten starten. „Ich war in Kitzbühel raplegiker-Zentrums in Nottwil bei Luzern. andauernd Menschen für etwas gewin- dabei, wo 40000 Leute im Ziel stehen und

130 der spiegel 13/2002 peuten kennen: Guido Zäch, 66, Klinik- direktor in Nottwil, nahm den promi- nenten Neuzugang persönlich in Empfang. Vor laufenden Kameras strich er ihm über den Kopf. Eine Stunde später präsentierte er der wartenden Presse das erste drei- dimensionale Röntgenbild. Zäch, der für die christsoziale Partei CVP im Nationalrat sitzt, hat in seiner Karriere bereits etliche namhafte Unfallopfer betreut, etwa den Formel-1-Piloten Clay Regazzoni oder den Skifahrer Roland Collombin. Sein Mitteilungsbedürfnis potenziert sich mit der Bekanntheit seiner Patienten. Journalisten, die ihn im Krankenhaus besuchen, führt er schon mal ins Zimmer einer Frau, die letzten September beim Amoklauf im Zuger Kantonsparlament an- geschossen wurde – obwohl ein gelbes Schild an der Tür Unbefugten den Zutritt verbietet. Er lässt sich medienwirksam mit Beltrametti fotografieren und gibt in den Fernsehnachrichten erschöpfend Auskunft über dessen Gesundheitszustand. Wer sich nach Details zur Operation erkundigt, be-

URS FLUEELER / KEYSTONE ZÜRICH / DPA / KEYSTONE FLUEELER URS kommt unerbeten drei Röntgenaufnahmen Klinikdirektor Zäch, Patient Beltrametti*: „Penetrante Inszenierung“ per E-Mail geschickt. Zächs Öffentlichkeitsarbeit ist in der dir zujubeln“, sagt er. „Da schmerzt es zu dratzentimeter, doch die messerscharfen Schweiz umstritten. „Wir führen unsere Pa- sehr, ein Rennen zu fahren, bei dem nur Skikanten zerschnitten zuerst eine Werbe- tienten nicht wie Zirkuspferde vor“, sagt die Tante zuguckt.“ plane aus Kevlar und dann das dahinter Volker Dietz, Chefarzt des Paraplegiker- Sein Antrieb war es immer, eine Me- gespannte Sicherheitsnetz. Zentrums der Universitätsklinik Balgrist in daille bei den Olympischen Spielen zu ge- Das Rennen wurde gestoppt. Manager Zürich. Und Maria Thomas, die sich in winnen. In Salt Lake City wollte er „das Fry stand im Ziel und weinte. Er hatte den Bern für Behinderte einsetzt, moniert in Rennen meines Lebens“ fahren. „Perfekt Sturz auf einer Videowand gesehen. der Zürcher „Weltwoche“ die „penetrante auf jedes Detail wäre ich vorbereitet ge- Beltrametti war zehn Meter hinter dem Art, wie sich Zäch hier wieder inszeniert“. wesen“, sagt er, „keine Unsicherheit hätte Netz gelandet. Als man ihn fand, lag er Er spiele sich „als Heilsbringer“ der Quer- ich verspüren lassen. Auf jede Frage hätte rücklings auf einem Stein. Er dachte, ein schnittsgelähmten auf. ich innerlich eine Antwort gewusst.“ Blitz sei in ihn gefahren. Er spürte die un- Zäch sagt, es gehöre nun mal zu seinen So stark hatte er sich auch am 8. Dezem- tere Körperhälfte nicht. „Tausendmal habe Aufgaben, das Paraplegiker-Zentrum nach ber 2001 gefühlt, dem Tag der Abfahrt in Val ich im Kopf den Befehl gegeben: Beweg außen zu vertreten. Er wolle „Optimismus d’Isère. Er trug die Startnummer 14. Er doch was! Den Rumpf oder wenigstens ausstrahlen“ und „Zuversicht vermitteln“. strotzte vor Selbstbewusstsein, weil er am einen Zeh.“ Doch es kam nichts. Elf Tage nach dem Unfall setzte ein Ärz- Vortag Dritter im Super-G geworden war. Das Rückenmark war zwischen dem teteam Beltrametti zwei 20 Zentimeter lan- Um 11.04 Uhr stieß sich Beltrametti aus sechsten und siebten Brustwirbel vollstän- ge Stäbe aus Chromstahl und acht Schrau- dem Starthäuschen. Nach der ersten Zwi- dig durchtrennt. Ein irreparabler Schaden. ben ein, um die Wirbelsäule zu stabilisieren. schenzeit führte er knapp, bei der zweiten Einer, der Ärzten geläufig ist – von Mo- Der Eingriff dauerte fünfeinhalb Stunden. lag er deutlich vor dem Italiener Kurt Sul- torradfahrern, die beim Sturz zuerst mit Wenig später stellte Beltrametti sich erst- zenbacher, der am Ende auf Platz zwei kam. dem Kopf aufschlagen. mals den Medien. Klinikdirektor Zäch saß Zwölf Sekunden später stemmte sich Bereits 48 Stunden nach dem Unfall direkt neben ihm. 60 Reporter waren er- Beltrametti in eine lang gezogene Rechts- lernte Beltrametti seinen obersten Thera- schienen. Beltrametti wirkte gefasst, prak- kurve, geriet in Rücklage, tisch unverletzt. Seitdem verlor die Gewalt über schmiedet die Schweiz seine Ski, die sich in die Pläne mit ihm. Piste frästen – und hob Beltrametti glaubt hin- ab. Im 90-Grad-Winkel gegen, dass er in zwei Jah- zur vorgesehenen Fahrt- ren vergessen sein wird. richtung und mit Tempo „Ich muss mich der Rea- 120 schoss er nach links lität stellen.“ Kürzlich hat auf den vier Meter ent- er den Führerschein für fernten Fangzaun zu. ein behindertengerechtes Der besaß zwar eine Auto gemacht. Seinem Reißfestigkeit von 800 Ki- Selbstwertgefühl habe das logramm je zehn Qua- „extrem gut“ getan, sagt er. Daheim in Valbella * Oben: bei einer Pressekonferenz am 3. Januar in Nottwil; unten: Volksheld Beltrametti* mit Mitgliedern der Schweizer Herren-Skinationalmannschaft am „Er sieht gut aus und

18. März in Klosters. ZÜRICH / DPA ARNO BALZARINI / KEYSTONE ist prominent“ 131 Sport wird gerade ein Anbau an das Elternhaus lierten Bretter, die engere Kurvenradien er- schnee. Um die Ideallinie halten zu kön- fertig gestellt, in dem er künftig wohnen möglichen, für eine „Waffe“. Bei einem nen, waren dort scharfe Skikanten nötig. wird. Die Ärzte rechnen damit, dass Bel- Fahrfehler mit Höchstgeschwindigkeit ist Nach der Zwischenzeit, im unteren Teil, trametti in einem Monat die Klinik verlas- die Sturzrichtung kaum vorhersehbar. fuhren die Athleten auf Naturschnee. Wa- sen kann. Spitzensportler sind gute Reha- Andere Fachleute wiederum halten die ren die Bretter für den weicheren Unter- bilitanden, leistungsfähiger und willens- Pistenpräparierung für ausschlaggebend. grund zu aggressiv? stärker als gewöhnliche Leute. Mit einem Im oberen Drittel bestand die Strecke aus Beltrametti selbst sucht keine Erklärun- Psychologen hat er nie gesprochen. betonhartem, durchgefrorenem Kunst- gen. Warum ausgerechnet er die Macht Die Abgeklärtheit irritiert, mit der das über seine Beine verlor, ist eine ehedem größte Schweizer Skitalent seine jener Fragen, von denen er Situation bewältigt. Neulich hat er sich eine weiß, dass sie keiner beant- Herren-Abfahrt im Fernsehen angeschaut. worten kann. „Der liebe Gott „Es war völlig emotionslos“, sagt er. hat es so gewollt“, sagt er ein- Nur nachts holt ihn die Vergangenheit fach. „Er hat mir eine neue Auf- immer wieder ein. Im Traum sieht sich Bel- gabe diktiert.“ trametti als Fußgänger. Dem Sport gibt er keine Die Zukunft ist noch diffus. Manager Fry Schuld. Denn das hieße, jene Be- sagt, er habe für seinen Klienten schon was schäftigung verantwortlich zu in Aussicht, allerdings „ist noch nichts fix“. machen, die seinem Leben bis- Ein Anwalt in Albertville soll klären, ob lang einen Sinn gab. Und Bel- man die Organisatoren des Rennens in Val trametti sagt, er sei sich seines d’Isère für den Unfall haftbar machen Berufsrisikos bewusst gewesen. kann. Gegebenenfalls wird er Klage ein- Kraftmeierisches Ausblenden reichen. Als Beweismaterial liegen Beltra- der Gefahr, eine übliche Strategie mettis zerbeulter Helm und seine Ski ver- im Weltcup-Zirkus, gehörte nicht schlossen in einem Keller. Viele Experten zu seiner Rolle. Als der gelernte glauben, dass Beltrametti so tragisch ver- Zimmermann 1999 das Skifahren unfallt ist, weil er auf den modischen Car- zu seinem Beruf machte, wurde ving-Ski unterwegs war. Kurt Hoch, Renn- er auch Gönner der Schweizer direktor des Ski-Weltverbandes, hält die tail- Paraplegiker-Stiftung. Sie zahlt ihm nun 150 000

* Der deutsche Skifahrer Martin Braxenthaler am 10. März PRESS / ACTION ALLSPORT Franken Direkthilfe. bei den Paralympics in Salt Lake City. Behindertensportler*: „Nur die Tante guckt zu“ Maik Großekathöfer REINER VOSS / VIEW Fritz-Walter-Stadion auf dem Kaiserslauterer Betzenberg: Verwirrendes Krisenmanagement

Region. Sie kreuzen täglich die Wege ihrer FUSSBALL Bewunderer. Sie gehören dazu. Vom Trainingsplatz des Vereins bis in die Innenstadt sind es mit dem Auto gera- Bermuda-Dreieck in der Pfalz de mal zehn Minuten. In den Cafés rund um den Stiftsplatz, dem „Central“, dem Seit Jahren pflegt der 1. FC Kaiserslautern seinen Ruf als „Wiener’s“ und dem „Café am Markt“, zählen die Fußballprofis zu den besonders Kicker-Idyll. Nun fragen sich viele: Wie konnte die Affäre um den gern gesehenen Gästen. Denn dort, wo die verurteilten Profi Hany Ramzy so lange unentdeckt bleiben? Kicker ihr Bier einzunehmen pflegen, fin- den sich über kurz oder lang auch die hüb- ls die große Affäre vorigen Dienstag Konzert der Großen immer wieder mit- schen Mädchen der Stadt ein. Die drei abermals die Geschäftsstelle des mischt. Als einziger Bundesliga-Verein hat Schänken liegen nur jeweils 200 Meter von- A1. FC Kaiserslautern erfasste, sah Kaiserslautern ein Fan-Magazin im öffent- einander entfernt. Es ist eine Art pfälzi- sich der Vorstandsvorsitzende Jürgen Fried- lich-rechtlichen Fernsehen. Freitags wird sches Bermuda-Dreieck. rich, 58, zu einer Erklärung genötigt. „Ich die Jubelshow „Treffpunkt Betze“ im SWR Dorthin war auch der Verteidiger Hany sage das jetzt in aller Natürlichkeit: Es gibt ausgestrahlt. Ramzy am 22. August 2001 abgetaucht. Der keinen normaleren Menschen als mich zum Kaiserslautern ist mit 107000 Einwoh- Ägypter feierte im „Wiener’s“. Gegen 1.30 Beispiel. Ich gehe samstags mit meiner nern die kleinste Bundesliga-Stadt. Anders Uhr folgte der angetrunkene Profi mit dem Frau einkaufen, ich gehe mit meinem Hund als in Hamburg oder Berlin, wo Fußballer Schlafzimmerblick einer jungen Frau auf spazieren, ich stehe im Telefonbuch, ich allenfalls ein überschaubarer Teil einer die Toilette. Gegen ihren Willen küsste er sie habe keine Berührungsängste, gar nichts.“ vielfältigen Unterhaltungsszene sind, ge- und griff ihr an die Brust. Es klang wie ein Plädoyer. nießen die Kicker vom 1. FCK hier den Droben auf dem Betzenberg gaben sich Nur wofür? Rang von Königen. Sie sind der Stolz der die Vereinsoberen um Friedrich „erschüt- Jürgen Friedrich wusste es wohl selbst tert“, als „Bild“ vor drei Wochen nicht. Es war ja auch nicht einfach, als Boss die Story vom „Grapscher“ Ram- des Clubs, der sich als „eine große Familie“ zy veröffentlichte. Nichts habe versteht, dem Ungemach zu entkommen: man von dem Fall gewusst, be- „Busen-Grapscher“, „Sex-Skandal“. Die teuerte einmütig die Club-Spitze ganze Stadt redete von nichts anderem und lieferte ein verwirrendes mehr als der achtmonatigen Bewährungs- Krisenmanagement. Erst wurde strafe, zu der Fußballprofi Hany Ramzy, Ramzy vom Dienst suspendiert, 33, wegen „sexueller Nötigung“ verurteilt weil er seinem Arbeitgeber „mas- worden ist. siven Schaden“ zugefügt habe. Der Oberbürgermeister Bernhard Deu- Dann gab es aber auch Gespräche big fühlt sich in seiner Funktion als Auf- mit den Anwälten und schließlich sichtsrat übergangen. Die Zeitungen schrei- ein Telefonat mit dem Opfer, das ben, Friedrich habe „versagt“. Vorvergan- sich auf Hochzeitsreise im au- genen Sonntag unkte ein Lokalblatt gar stralischen Outback befand. Ram- von einem „Skandal de luxe“ und unter- zy wurde begnadigt. Es hieß stellte Friedrich und seinen Vorstandskol- plötzlich, die Dame habe keine legen eine „Hanybüchene Heuchelei“. Entlassung gewollt. Damit war der Höhepunkt einer Affäre „Praktizierte Resozialisation“, erreicht, die das Selbstverständnis der Fuß- so feierte Friedrich den Ent- ballfürsten im pfälzischen Kicker-Idyll auf schluss, Ramzy wieder in die eine harte Probe stellte. Vor allem seit der Arme zu schließen. „Eiertanz“ Ex-Profi Friedrich Vorstand ist, gilt der nannten es die Gazetten. Und in

Club als Blüte der Region. Ein prächtiges / GES GILLIAR MARKUS der Bevölkerung mehrten sich Stadion, dazu eine Mannschaft, die im FCK-Profi Ramzy: „Praktizierte Resozialisation“ die Stimmen derer, die in dem

der spiegel 13/2002 133 Werbeseite

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Traditionsverein weniger einen Segen als vielmehr eine Landplage sehen. Das liegt auch an Gerüchten, die plötz- lich publik werden. Mal wird von Sauf- gelagen ehemaliger FCK-Kicker mit „ki- chernden Gespielinnen“ getuschelt. Gern erzählen Insider zudem Geschichten dar- über, wie Fußballer hier ihre Freundinnen akquirieren. So zierte die heutige Lebens- gefährtin eines Nationalspielers einst die Rubrik „Mädel des Monats“ einer örtli- chen Szene-Postille. Am heftigsten aber wurde die Frage dis- kutiert: Hat der Verein wirklich nichts vom

Fall Ramzy gewusst? Oder wurde da was / VISUM DENIZ SAYLAN vertuscht? Denn mannigfaltig sind die Ver- „t5“-Herausgeber Matissek flechtungen im Fußball-Soziotop Kaisers- „Es war ein Fehler“ lautern. Da ist das Opfer, eine 26-jährige Nor- mutet „Kungelei“. Matissek ist in Kaisers- wegerin und glühende Anhängerin des lautern keine kleine Nummer. Ihm gehört Vereins, die sich als Hochzeitsgeschenk das Café „Central“. Er gibt aber auch das eine Tribünen-Dauerkarte wünschte. Stadtmagazin „t5“ heraus. Auf dem Cover Da ist Rolf Lechner, Anwalt des Opfers, der jüngsten Nummer ist eine entblößte der selbstredend eine Dauerkarte des FCK Frauenbrust zu sehen, auf der das rote Ver- besitzt. Am Tag der Tat weilte er ebenfalls einsemblem prangt. „Sex statt Fußball“, im „Wiener’s“ – allerdings nicht bis in die heißt die Zeile dazu. frühen Morgenstunden. Dass im Verein keiner vom Fall Ramzy Und da ist ein Beamter von der Kai- wusste, mag Matissek nicht glauben. Die serslauterer Polizei. Offenkundig auch ein Verhandlung war öffentlich. Das Urteil wur- treuer Fan des Vereins. Gleich nachdem de am 14. Februar gesprochen. Doch erst das Opfer Anzeige erstattet hatte, wählte zwei Wochen später will der Verein durch der Ordnungshüter eine Nummer beim „Bild“-Reporter davon erfahren haben. Verein. Ans Telefon ging FCK-Vorstands- Zu gut informiert erscheint Matissek al- mitglied Gerhard Herzog. lein die Hausmacht, auf die sich sein eins- Was genau gesprochen wurde, ist nicht tiger Kumpel Friedrich verlassen kann: bekannt. Nur so viel ließ der Beamte, von Aufsichtsratschef Robert Wieschemann ist Polizeipräsident Gerd Braun zur Rede ge- der einflussreichste Insolvenzverwalter der stellt, durchblicken: Er habe um die Adres- Region und unterhält beste Kontakte zur se des Täters Ramzy gebeten. Möglicher- örtlichen Gerichtsbarkeit. Und Gerhard weise seien dabei aber auch die Worte „es Herzog, der ehemalige Medienreferent von geht um eine Vernehmung“ gefallen. Landesvater Kurt Beck, hat als SPD-Mann erstklassige Beziehungen auch zur örtlichen Politik. Und dann ist da noch Fried- richs bessere Hälfte. „Meinen Kontakt zur normalen Welt“, so nennt der FCK-Boss seine Brigit- te gern. Was ihm nicht zugetra- gen werde, erfahre seine Frau. Die half ihm prompt aus der Patsche, als Herzogs Telefonat mit dem Polizisten vergange- ne Woche aufflog. Zu diesem Zeitpunkt sei ihr Mann ja gar nicht im Land gewesen, sondern vielmehr zu Besuch beim Sohn

REINER VOSS / VIEW in Sydney. FCK-Vorstand Friedrich (l.)*: „Wieder der Dumme“ Nun wäscht sich Friedrich sei- ne Hände in Unschuld, wenn- Der Geschäftsmann Daniel Matissek, 29, gleich er auch sagt: „Ich hab hier kein Pro- der schon immer ein „ambivalentes Ver- blem, wieder der Dumme zu sein.“ Über- hältnis“ zum Club pflegte, hält diesen be- haupt: Wenn er rechtzeitig von der Affäre merkenswerten Vorgang für Kaiserslau- erfahren hätte, wäre sie „anders geregelt“ tern-typisch. Einst half Matissek mit, Fried- worden. rich auf den Chefsessel des FCK zu hieven. „Wie viel?“, das hätte er die Dame ge- Jetzt sagt er: „Es war ein Fehler“, und ver- fragt, und dann noch mal „50“ draufge- packt. Schließlich „werden 90 Prozent al- * Mit Aufsichtsratschef Wieschemann und Vorstands- ler Verfahren im Vergleich geregelt. Das ist kollege Herzog am 22. Mai 2001. so, das weiß doch jeder“. Gerhard Pfeil

der spiegel 13/2002 137 Werbeseite

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Klüger werden mit: Eric Schlosser

Der 42-jährige New Yorker Journa- list über Macht und Machenschaf- ten der Fast-Food-Industrie

SPIEGEL: Mr. Schlosser, die Amerika- ner lieben Fast Food – ist das so schlimm? Schlosser: Es ist eine Sucht. Jeden Tag rennen 70 Millionen US-Ameri-

DIDRIK JOHNCK / CORBIS SYGMA kaner in ein Fast-Food-Restaurant. Bergsteiger auf dem Weg zum Gipfel des Mount Everest Dadurch bekommen diese Ketten unglaubliche Macht und verändern BERGSTEIGEN unsere Gesellschaft: Durch ihren Einfluss sind die Mindestlöhne für Arbeiter seit Ende der sechziger Jah- Der Klassiker ruft re um 40 Prozent gefallen. Das finde ich erschreckend. ls der Schöne gilt der Kilimandscha- Beispiel folgen. Genauso der Texaner SPIEGEL: Sie haben für Ihr Buch Aro, der K2 ist die tödliche Bestie, Gary Guller, der bei einem Kletterunfall „Fast Food Gesellschaft“ mehr als der Mount Everest der Klassiker – der seinen linken Arm verlor. Al Hanna aus zwei Jahre recherchiert. Wie viele beliebteste, weil der höchste Gipfel. Chicago will es trotz seines Alters von Hamburger haben Sie dabei gegessen? Und der Berg ruft: Immer mehr Leute 72 Jahren in diesem Frühjahr zum vier- Schlosser: Während meiner Recher- trauen sich zu, ihn zu bezwingen – und ten Mal versuchen. Gleichzeitig gibt es chen saß ich ständig in Fast-Food- nicht nur solche, die beste Vorausset- einen Trend zur speziellen Seilschaft. Restaurants. Es wäre unhöflich ge- zungen dafür haben. Der Amerikaner Zum ersten Mal trainiert eine reine wesen, nicht mit meinen Informanten Erik Weihenmayer, der bei den Para- Frauengruppe für das große Abenteuer zu essen. Außerdem lympics in Salt Lake City die Fackel im Himalaja. Auch ein Sohn-Enkel- schmeckt mir das trug, war der erste Blinde, der den Team ist dabei, sich vorzubereiten. Peter Zeug richtig gut, und Mount Everest (8848 Meter) bestieg; Ed Hillary ist der Sohn von Sir Edmund, natürlich ist es toll, Hommer, dem beide Unterschenkel feh- Tashi Tenzing der Enkel von dessen für einen Dollar satt len und der schon 1999 auf den Mount Sherpa Tenzing Norgay, die 1953 als zu werden. McKinley kraxelte, will Weihenmayers erste Bergsteiger ganz oben waren. SPIEGEL: Wo ist dann das Problem? Schlosser: Die Aus- wirkungen dieser In-

FLUGVERKEHR höhe. Seitdem die Transportation Secu- dustrie auf die Land- RÜCKEIS THILO rity Administration die Checks auf allen wirtschaft sind ver- Schlosser Nervöse Stewardessen US-Flughäfen drastisch verschärft hat, heerend. Sie wird kommt es immer wieder zu Fehlalar- mittlerweile von wenigen Großun- ie Sicherheits-Checks hatte der Pas- men. Die geplagten Fluggäste müssen ternehmen kontrolliert. Die Arbeits- Dsagier schon hinter sich gebracht, ihre Schuhe ausziehen, Armbanduhren bedingungen der Angestellten sind als er plötzlich seine Kamera vermisste auf Sprengstoff und Gift prüfen lassen miserabel, in den Schlachthöfen sind – er hatte sie in der Flughafenhalle lie- und, obwohl die Zahl der Passagiere um sie manchmal sogar lebensgefährlich. gen gelassen. Der Football-Fan stürmte rund 12 Prozent gesunken ist, stunden- In dem Essen stecken Unmengen von los und überrannte die Kontrollen. Die lang anstehen. Auf einem Flug von Lon- Geschmacksstoffen, die Gesund- Folge: Terroralarm auf dem Flughafen don nach New York schlug die Crew heitskontrollen sind lasch. Und die von Atlanta. Tausende von Passagieren Alarm, weil sich zwei Verdächtige ge- Art und Weise, wie die einzelnen wurden evakuiert, alle Flüge gestoppt, meinsam in die Toilette verdrückt hat- Ketten auf Kinder abzielen, ist un- ein Schaden in zweistelliger Millionen- ten. Kampfjets stiegen auf, um den Flie- verantwortlich. ger zurückzugeleiten. Dabei waren die SPIEGEL: Sind Veränderungen mög- vermeintlichen Terroristen lediglich ein lich? schwules Pärchen, von der Libido über- Schlosser: Klar. In Kalifornien hat mannt. Auch das falsche Hemd kann die Regierung gerade Fast Food an Ärger machen: Zwei Männern wurde Grundschulen verboten. Man über- von einer nervösen Stewardess der Mit- legt auch, hohe Steuern auf Limona- flug in einer britischen Charter-Maschi- de zu erheben. Damit könnte man ne verweigert, weil sie T-Shirts mit dem 500 Millionen Dollar im Jahr ein- mutmaßlichen Konterfei Osama Bin nehmen. Mit dem Geld sollte man Ladens trugen. Fehlalarm: Der Bärtige die Fettleibigkeit der Amerikaner

ED ANDRIESKI / AP auf den Shirts war Haile Selassie, der bekämpfen. Sicherheitskontrolle vor dem Abflug frühere Kaiser von Äthiopien.

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Was haben Sie da gedacht, Signore Lo Cicero?

Giuseppe Lo Cicero, 27, Helfer beim ita- lienischen Roten Kreuz, über die Rettung eines Flüchtlingsmädchens in Catania

„Es ging alles sehr schnell: Ein Polizist drückte mir das Bündel in den Arm. Es war ihm gerade über die Reling des Flücht- lingsschiffes „Monica“ gereicht worden, nach zehn Tagen auf See, nach Wind, Was- ser und Angst. Das Mädchen lebte! Aber es war kreidebleich, röchelte und hatte kaum Puls, die Windeln aus schäbigen Tüchern waren klatschnass. Sie muss so acht Mona- te alt sein. Mit Kindern kenne ich mich aus, mein Sohn Mattia ist jetzt ein gutes Jahr alt. Während ich mit dem Mädchen zu den Ärz- ten im Rot-Kreuz-Zelt im Hafen lief, ihre erschöpfte Mutter hinter uns her, dachte ich an Mattia, der gerade Mittagsschlaf in den Armen seiner Mama in Catania hielt. Er hat so vieles: ein Zuhause, eine Zukunft, echte Pampers. Ich wünsche mir, dass auch die 982 Kurden und Iraker bald eine Heimat finden. Noch in derselben Nacht haben wir sie in Bari versorgt und registriert, damit sie in Europa bleiben dürfen. Dann kann auch endlich das Leben des kleinen Mäd-

chens beginnen.“ / AP VILLA FABRIZIO

Lo Cicero mit Flüchtlingsmädchen

SACHBUCH abgestandener Ideologie und linkem INTERNET Besserwissertum: Manche der kriti- Leitfaden für schen Aufsätze sind durchaus überzeu- Mario in Trance gend, viele Beiträge sind diskussions- Weltverbesserer würdig. Kaum ein Themengebiet haben rüher, in der Steinzeit des PC, waren die Herausgeber ausgelassen, allerdings FComputerspiele fast lautlos. Ein lei- limaveränderung, Missernten, haben nicht alle Beiträge die gleiche ses Knarzen tödlich getroffener Aliens, KArmut, Flüchtlingselend – daran ist Relevanz: Oder muss man wirklich ein wenig Pieps-Begleitung, das war’s. die Globalisierung schuld. Und der wissen, welchen Einfluss die weltweite Die Musik wiederholte sich alle paar Mi- freie Handel ist kein Ga- Verbreitung der Pop- nuten. Legendär ist beispielsweise das rant für den steigenden musik auf die Arbeits- nervtötende Dauergedudel, mit dem der Wohlstand der Welt, son- möglichkeiten der Steel- Spieleklassiker „Tetris“ begleitet wurde. dern lediglich die Freiheit bands auf Trinidad hat? Heute, da um den Soundtrack eines einiger Großkonzerne, Dennoch ist das Schwarz- Spiels ungefähr so viel Aufwand betrie- überall Menschen und buch eine gute Argumen- ben wird wie bei einem Spielfilm, Umwelt ausbeuten zu kön- tationshilfe für Gegner scheint es eine Sehnsucht nach den rudi- nen. So jedenfalls sehen der Globalisierung – und mentären Daddel-Hits von früher zu ge- es Globalisierungsgegner, für die Befürworter eine ben. Auf Internet-Seiten wie vgmix.com und oft werden ihre Argu- Herausforderung. Und kann man sich die Melodien herunter- mente als gut gemeinte unbefangene Leser wer- laden – allerdings in bearbeiteter Form: Plattheiten abgetan. Doch den zumindest die Dring- die Tetris-Musik wurde zum Techno- was prominente Vorden- lichkeit des Themas be- Stück gemixt, „Super Mario“ läuft als ker wie Jerry Mander greifen. Tranceversion, und vom „Final Fanta- oder Naomi Klein im sy“-Soundtrack gibt es haufenweise „Schwarzbuch Globalisie- Jerry Mander, Edward Goldsmith Variationen. Nicht alle Songs sind (Hg.): „Schwarzbuch Globalisie- rung“ zusammengetragen rung“. Riemann Verlag, München; gelungen – aber selbst das Techno-Tetris haben, klingt nicht nach 524 Seiten; 24,90 Euro. weckt nostalgische Gefühle.

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EINE MELDUNG UND IHRE GESCHICHTE tausend Häftlinge. McGee verbrachte fast eineinhalb Jahrzehnte in einer Zweimannzelle, hatte 16 wechselnde Zellengenossen, Vergewaltiger, Kinder- Gott regelt das schänder, Räuber. Er verstand sich mit allen, und allen schwor er, dass er un- Arvin McGee saß 14 Jahre lang im Gefängnis – zu Unrecht. schuldig sei – „manche glaubten’s, aber die meisten nicht“. Man schlug ihm vor, m Abend des 29. Oktober 1987 über den dunklen Parkplatz zu ihrem seine Schuld zu gestehen. Er könnte briet Arvin McGee Jr. sich drei eigenen Auto und fuhr mit ihr in einen mit einer Strafmilderung rechnen. „Das ASpiegeleier, aß dazu Maisbrot, Wald am Stadtrand. Wo er sie ver- ging nicht, weil ich’s doch gar nicht zum Nachtisch Honig-Smacks. Er setz- gewaltigte, mehrmals, in verschiedenen war.“ te sich mit seinem Teller vor den Fern- Stellungen. Er war nicht maskiert, Er spielte Football, machte seinen seher, die „Bill-Cosby-Show“ lief, aber Cindy B. konnte sein Gesicht erken- College-Abschluss, freute sich auf die im Nebenzimmer schlief die kleine nen, sie wimmerte, sie flehte um ihr Sonntage, dann gab es Hühnchen. Zwei Tochter seiner Freundin, also hatte Mc- Leben. Mal im Monat telefonierte er mit seinem Gee den Ton leise gedreht. Es war ein Dann sperrte er sie in den Koffer- Sohn, der auf den Namen Derel getauft einsames Mahl, ohne Zeugen. raum. Aus der Wäschereikasse hatte er wurde, während der Vater im Gefängnis Nach dem Essen betete McGee, rollte 85 Dollar und 30 Cent genommen. hockte, älter wurde, Jahr um Jahr, und sich auf dem Sofa zusammen, schlief ein. Cindy B., verletzt und gedemütigt, Gott um ein Wunder bat. Am Abend des 26. Februar 2002 wollte nur noch eines: Gerechtigkeit. „Ich sagte, was hier mit mir passiert, fuhren Arvin McGee Jr., seine Mut- Sie konnte den Täter beschreiben, vor ist einfach nicht richtig, also bitte, Gott, ter, Brüder, Schwestern, Anwälte zu allem sein Gesicht. Das Oklahoma State tu was, regle das.“ „Pearl’s Restaurant“. Ein großer Tisch Bureau of Investigation ließ Zeichnun- Das Wunder hieß „DNA Foren- war reserviert, und McGee, Held des gen anfertigen, vier Monate später er- sic Testing Program“. Das Wunder be- Abends, aß gebrate- stand darin, dass die nes Huhn, Berge von Rechtsanwältin Julie Kartoffeln und gönn- Gardner, 30, brünett, te sich zwei Erdbeer- hübsch, im Septem- shakes. Alle lachten ber 2000 den Fall auf und weinten durch- den Schreibtisch be- einander. Es war ein kam. Julie Gardners Festessen. Job sind Fälle wie die- Zwischen den bei- ser. Sie fuhr zum La- den Mahlzeiten lagen gerhaus der Gerichts- 14 Jahre, 3 Monate, 28 medizin. Fand nach Tage. Für Arvin Mc- zwei Tagen Suche Gee aus Tulsa, Okla- eine staubige Papp-

homa, war es „die / AP CARTER PAT J. kiste, darin die Sper- Hölle, ich war leben- Aus der„Neuen Zürcher Zeitung“; Justizopfer McGee maproben, die man dig begraben“. von Cindy B.s Scham- Denn der schwarze Hilfsarbeiter und kannte ein Polizist den Mann. Arvin haar genommen hatte. Die Proben wur- Tellerwäscher, groß, stark, wortkarg, McGee staunte sehr, als die Handschel- den mit McGees frischem Sperma ver- das linke Knie kaputt vom Football, war len klickten. „Ich dachte, hey, das bin glichen, die DNA war nicht identisch. verurteilt worden. Zu 298 Jahren Ge- doch nicht ich, dem dieser Scheiß hier Die Wahrscheinlichkeit, dass McGee fängnis. War schuldig befunden worden passiert.“ der Vergewaltiger war, lag bei eins zu in einem schweren Fall von Raub, Ent- Es gab drei Verhandlungen. Die Aus- acht Milliarden. führung, Vergewaltigung. sagen der Hauptzeugin Cindy B. waren Julie Gardner weinte, als sie im Be- Und war unschuldig. widersprüchlich. Die Sperma-Analyse sucherraum des Gefängnisses ihrem Während McGee an jenem Abend ergab, dass McGee der Täter gewesen Mandanten das Ergebnis mitteilte. vor 14 Jahren gemütlich seine Spiegel- sein konnte – dass aber auch 19 Prozent McGee wurde schwarz vor Augen, er eier vertilgte und sich dann aufs Sofa der schwarzen Bevölkerung in Frage kä- war jetzt 39, und er war frei. legte, wurde in einer Reinigung in der men. In der dritten Verhandlung jedoch, Die Entschädigung, sagen seine An- 21. Straße von Tulsa die Angestellte vom 20. bis zum 22. Juni 1989, identifi- wälte, könne zwischen 500 Dollar und Cindy B. überfallen. Sie war weiß, rot- zierte Cindy B. diesen und keinen an- zehn Millionen liegen. McGee will haarig und damals 20 Jahre jung. Der deren Mann als den Vergewaltiger. Die aber keine Zeit verschwenden, indem Täter war ein Schwarzer. Jury war beeindruckt von ihrer Klar- er zu viel über Geld und Prozesse Ein Kunde, hatte sie gedacht, bis der heit. Cindy B. bekam Gerechtigkeit, Ar- nachdenkt. Mann sie plötzlich packte, ihr die Arme vin McGee Jr. bekam 298 Jahre. Mc- Oder indem er Cindy B. etwas nach hinten verdrehte und sie in die Gee, groß, stark, wortkarg, wurde nachträgt. „Das Mädchen hat sich ge- winzige Angestellten-Toilette schob. schwarz vor Augen. Er war 26, sein irrt, die Sache ist erledigt, ich hab ihr Dort fesselte er sie mit Textil-Tape. Sohn war vier Monate alt. verziehen“, sagt er. „Nun muss ich mich Der Mann hatte enorme Kräfte. Wie Wie hält man das aus? um meinen Jungen kümmern. Gott hat einen Kleidersack, erinnert sich Cindy Im Joseph Harp Correctional Center ein Wunder getan, jetzt werd ich mich B., warf er sie über die Schulter, trug sie in Lexington gibt es 490 Zellen für etwa revanchieren.“ Ralf Hoppe

der spiegel 13/2002 143 FOTOS: MICHAEL TRIPPEL / OSTKREUZ MICHAEL TRIPPEL FOTOS: Canaydin-Tochter Yesim: Angst vor fremden Stimmen im Garten

RECHTSRADIKALE „Schlagt die Türken tot“ In Basdorf nahe Berlin terrorisieren rechte Jugendliche eine Familie, weil der Vater Türke ist. Die Familie wehrt sich lautstark, auch mit Fäusten. Nun macht der türkische Generalkonsul den Fall zum internationalen Politikum. Von Uwe Buse

as Haus steht am Rand des Waldes, sollen. Sie fühlte sich wohl. Sie saß in ei- Meist hocken sie einfach nur im Wohn- und Martina Canaydin war glück- nem Gartenstuhl und blickte nach oben. zimmer, hinter der runtergezogenen Jalou- Dlich, als sie es das erste Mal sah. Der Himmel war grenzenlos. Alles schien sie, und versuchen, ein normales Gespräch Das Haus hat ein rotes Dach, einen Vor- möglich. zu Stande zu bringen. Nala will Geld fürs garten, genug Zimmer für die Kinder, ei- Martina Canaydin weiß noch nicht, ob Solarium, Yesim erzählt, dass sie in einem nen Rasen hinter dem Haus, auf den sie sie in diesem Jahr in ihrem Garten sitzen Internet-Chat blöd angemacht wurde von ihren Grill stellen kann, einen Zaun, einen kann, ob sie es wagt zu grillen. Vielleicht einem Kerl. Teich und einen gepflasterten Parkplatz für tut sie es, vielleicht auch nicht. Vielleicht Alle reden ein wenig zu laut und zu has- das Auto. Das Haus ist sehr deutsch. So sitzt sie im Sommer ganze Nächte in ihrem tig und zu verkrampft, wie es auf Partys wollte es Martina Canaydin. Wohnzimmer, die Jalousien bis auf den geschieht, wo sich niemand richtig wohl Im vergangenen Jahr zog sie hier ein, Erdboden heruntergelassen, die Türen ver- fühlt, und das einzig Gemeinsame der mit ihrem Mann, ihren fünf Töchtern und schlossen, die Fenster zu und das Telefon Wunsch ist, die Stille zu vermeiden. So ist ihrem Sohn. Die zwei blauen Sofas und mit der Notrufnummer der Polizei griff- es auch hier. Wenn draußen ein seltsames den blauen Sessel stellten sie ins Wohn- bereit auf dem Tisch. So verbringt sie jetzt Geräusch zu hören ist, werden alle starr, zimmer vor das Fenster. An die Wand ihre Zeit, trinkt kannenweise Kaffee, in- das Gespräch fällt in sich zusammen wie hängten sie das Bild von einem eng um- haliert Großpackungen Marlboros und ein leerer Sack, und das Einzige, was sich schlungenen Paar, das Fenster rahmten sie lauscht. noch bewegt, ist die Scheibe im CD-Play- mit blauen und gelben Vorhängen, und in Ob sie im Garten fremde Stimmen hört. er auf der Schrankwand. Die Jungs von die Ecken des Zimmers setzten sie die Pup- Oder Schritte. Ob sich jemand mit einem der „3. Generation“ singen davon, wie be- pen. Es sind Clowns, bunt und lustig, wie Brecheisen an den Jalousien zu schaffen schissen das Leben sein kann. Als die CD Kinder sie oft in ihren Zimmern haben, macht. Oder am Wagen. Wenn sich Marti- zu Ende ist, sagt Martina Canaydin: „Ich damit die Monster in der Nacht nicht kom- na Canaydin aus dem Haus wagt oder ihr habe diesen Krieg nicht angefangen.“ men und sie holen. Mann oder eines der Kinder, dann gehen Dann legt sie die Stirn in Falten und starrt Es war August, damals, die Abende wa- sie immer zu mehreren, und wenn doch angestrengt in ihre leere Kaffeetasse. Als ren mild und warm, und Martina Canay- mal jemand allein raus muss, ist das Han- würde auf dem Boden der Tasse die Lö- din hatte den Wunsch, dass sie nie enden dy rufbereit. sung liegen für ihre Probleme und die von

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Basdorf, einem kleinen Ort in Branden- sei auf dem Marktplatz auf sie zugerast nicht richtig, aber irgendwann reicht es burg, der ausgerechnet jetzt, wo Politiker und habe sie fast überfahren. Und ein Mo- einfach.“ darüber streiten, wie viele Ausländer torrad auch. Nur ein Sprung zur Seite habe Martina Canaydin ist eine mächtige Frau Deutschland verträgt, eine Antwort geben sie gerettet. Die Polizei bildet eine Ermitt- mit einem großen Herz und einer großen soll auf die Frage: Müssen Konflikte zwi- lungsgruppe. Die Familie erhält Polizei- Klappe. Kommt ihr jemand dumm, wird schen rechtsradikalen Jugendlichen und schutz. Seit dem 12. März fahren stündlich sie laut. Bedroht jemand ihre Kinder, gibt Ausländern zu einem brennenden Haus Streifenwagen durch das Waldviertel. Die sie sich gefährlich. Ihre Wohnung hält sie und Toten führen, oder lassen sich Vorur- Familie verbarrikadiert sich in ihrem Haus. nicht für ein Ausstellungsstück, sondern teile und Wut in friedliche Koexistenz ver- Die Kinder werden von Freunden beglei- für einen Ort, an dem gelebt wird, geliebt wandeln? tet, wenn sie zur Schule gehen. und auch gestritten. Ihr Garten soll ein Ge- Im Zentrum des Konflikts stehen Marti- Während eines Gangs durch den Ort brauchsgegenstand sein, kein Kunstobjekt. na Canaydin, eine Deutsche, verheiratet trifft Yesim, die älteste Tochter der Canay- Wenn sie sich entscheiden muss zwischen mit Engin Canaydin, einem Türken, und der Hausarbeit und einem Mutter von Can, Birzen, Ebru, Yeliz, Nala Sahra hat Yesim angeblich „Türkenschlampe“ Gespräch mit ihren Kin- und Yesim, sowie etwa ein Dutzend rechts- dern, entscheidet sie sich für radikale Jungen und Mädchen aus Basdorf. genannt. Darauf schlug ihr Yesim mit aller die Kinder, und wenn man Weitere Beteiligte sind der Polizeichef, die Kraft ins Gesicht. Sahra erstattete Anzeige. sie auf der Straße sieht, er- Bürgermeisterin, der türkische General- kennt man auf den ersten konsul in Berlin und die Einwohner des dins, ein Mädchen, das angeblich vor dem Blick, dass die Frage: „Was ziehe ich denn Ortes. Haus herumgeschrien haben soll, und heute an?“ nicht im Zentrum ihres Lebens Begonnen hat alles im Herbst des ver- schlägt ihr ins Gesicht. Das Mädchen zeigt steht. Sie ist das Zentrum der Familie. Ihr gangenen Jahres, wenige Wochen nach Yesim an. Mann ist Lagerarbeiter, im Moment ar- dem Einzug der Familie, als das Haus am Als Yesim mit ihrer Familie nach Basdorf beitslos und flüchtet, so oft es geht, aus Wald plötzlich zu dem Ort wurde, an dem zog, war sie 17 Jahre alt und hatte ihr ge- dem Haus zum Billardspielen nach Berlin. sich die Rechtsradikalen aus Basdorf ihre samtes Leben im Märkischen Viertel in So eine Familie hat es nicht leicht in ei- Wut von der Seele schreien. Regelmäßig Berlin zugebracht, einem Ort, der von Bas- nem Ort wie Basdorf, dessen Bürgermeis- tauchen sie auf dem Grundstück auf, dorf nur eine halbe Autostunde entfernt terin bei der Frage nach den Werten des reißen Jalousien aus der Verankerung und ist und der auf einem anderen Planeten Ortes das Wort „Anpassung“ einfällt. legen Drohungen in den Briefkasten: „Wir liegt. Sucht man die Jugendlichen, die vor beobachten Euch 24 Stunden am Tag.“ – Das Märkische Viertel findet man im dem Haus der Canaydins randalieren, kann „Spätestens Silvester geht die Bombe Norden Berlins, es ist eine Stadt in der man es an der Skaterbahn versuchen, ei- hoch.“ Stadt, eng bebaut mit Wohnmaschinen. nem asphaltierten Stück Weide am Orts- Martina Canaydin geht zur Polizei und Yesims Schwester Birzen nennt das Vier- ausgang, auf dem ein Blechcontainer steht, erstattet Anzeige. Die Polizei ermittelt, die tel „das Ghetto“, und sie will zurück dort- eine schwarz gestrichene Hütte aus Kie- Staatsanwaltschaft stellt die Verfahren ein hin, weil dort ihre Freunde leben und weil fernbrettern, eine Halfpipe und ein paar wegen Geringfügigkeit oder weil sich nicht sie die Regeln kennt, nach denen das Rampen, über die man hüpfen kann, wenn klären ließ, wer wann „Heil Hitler“ ge- Zusammenleben im Viertel funktioniert. man bereit ist, dafür einen Euro Eintritt zu schrien hat. Das Haus bleibt der Kundge- Eine der wichtigsten Regeln lautet: Mach bezahlen. bungsort der Rechten in Basdorf: „Schwarz- dich nicht klein, wenn du bedroht wirst. Oder man versucht es auf dem Markt- weiß-rot, schlagt die Türken tot.“ Mach dich groß. Diese Regel befolgte platz, einer granitgepflasterten Angele- Mitte März steht Martina Canaydin wie- Yesim, als sie das andere Mädchen schlug. genheit mit blau gestrichenen Drahtbän- der in der Polizeiwache und sagt, ein Auto Martina Canaydin sagt dazu: „Das war ken, Holztieren auf Stahlfedern und um-

Straße in Basdorf, Jugendliche: Warum wohnen die Neulinge in einem schicken Haus und wir in einer Bruchbude?

der spiegel 13/2002 145 WERNER MAHLER / OSTKREUZ WERNER MAHLER Familie Canaydin, Generalkonsul Durusoy (2. v. r.): Die Zeitung „Hürriyet“ informieren und den Fernsehsender TRT-INT stellt vom üblichen Pizzeria-Drogerie-Vi- schwinden, die Scheiß-Muftis.“ Und die cken alle doof“. Rocco trägt eine braune deotheken-Mix. Hier kann man umsonst anderen nicken, bis auf Rocco, der die Hö- Cordhose, darunter ein paar ganz norma- sitzen, und aus diesem Grund ist der rer seines Walkmans im Ohr hat, um sich le Lederschuhe, und auf dem Kopf hat er Marktplatz das Jugendzentrum von Bas- nach einem Vormittag in der Berufsschule jede Menge Haare. Er sieht nicht aus dorf. den Kopf mit Techno freizuwummern. wie ein Neonazi, eher wie ein 17-Jähriger, Er ist die Bühne, auf der die Jungs auf Werden sie gefragt, warum die Canaydins der versucht, mit Anstand durch den Tag ihren Motorrädern beweisen, dass man die verschwinden sollen, antworten die Mäd- zu kommen. Er macht eine Lehre als In- enge Kurve am Eingang zum Marktplatz chen: weil sie nerven. Weil sie sich nicht dustriekaufmann und soll mit seiner Ya- auch noch im zweiten Gang mit Halb- anpassen, wie es sich für Neulinge gehört. maha auf Martina Canaydin zugehalten ha- gas schafft, ohne in die Bänke zu scher- Weil sie in einem schicken Haus wohnen ben. „Was für ein Schwachsinn“, sagt Roc- beln. Und die Mädchen stehen herum, die und wir nur in einer Bruchbude. Langsam co, „da würde ich mir doch meine Ma- Haare hochtoupiert, tun so, als würde reden sie sich in Fahrt und kramen die Vor- schine demolieren.“ Er sei ganz normal sie die Vorstellung der Jungs nicht inter- urteile hervor, die man im Kopf hat, wenn losgefahren. essieren, und essen bunten Knusper- man 15, 16 oder 17 Jahre alt ist, Anschluss Normal loszufahren bedeutet hier auf puffreis. an eine Clique sucht und wenn die einzige dem Marktplatz für einen 17-Jährigen, der Viele tragen schwarze Bomberjacken Gruppe, die genug Spaß verspricht, ein ein bisschen Ehre im Leib hat, den ersten von „Alpha“, weil das die Jacken sind, die rechter Haufen ist. Gang einzulegen, ein paar Mal ordentlich man zurzeit tragen muss, wenn man in Bas- Sarah hat besonders wenig für die Ca- Gas zu geben, damit jeder weiß, dass es dorf lebt und alt genug ist, um zu wissen, naydins übrig, und das ist auch kein Wun- hier gleich etwas zu sehen gibt, dann die wie man Zigaretten auf Lun- Kupplung kommen zu lassen, und mit ge raucht. So stehen sie da, Die Jungs im Dorf fahren Motorrad, die Glück nur auf dem Hinterrad vom Platz zu vergraben die Hände in den schießen. Leise verschwinden von hier nur Taschen, weil ein kalter Mädchen essen bunten Knusperpuffreis, und Rentner in ihren Autos, Marke Opel Astra. Wind geht, und alle warten, alle warten darauf, dass etwas passiert. So ähnlich ist Rocco losgefahren an dem dass irgendwas passiert. Montag, über den jetzt alle reden in Bas- Im vergangenen Jahr wurde Basdorf der. Sie ist der Familie in den vergange- dorf, und vielleicht hat er auf Martina von der Landesregierung zu einer der fa- nen Tagen zweimal begegnet, und beide Canaydin gezielt, vielleicht auch nicht. Ein- milienfreundlichsten Gemeinden Branden- Male hat Yesim sie geschlagen. Yesims gebracht hat es ihm ein Ermittlungsver- burgs erklärt, und wenn die Jungs und Hand landete auf der rechten Gesichts- fahren wegen eines „gefährlichen Eingriffs Mädchen das hören, verdrehen sie genervt hälfte von Sarah, die immer noch ein we- in den Straßenverkehr“, was nicht schlimm die Augen, denn das Letzte, was sie inter- nig geschwollen ist. Yesim sagt, Sarah habe klingt, aber schlimm ist. Die Maximalstra- essiert, ist ein Stück Holz mit einer Pla- sie eine Türkenschlampe genannt. Sarah fe beträgt fünf Jahre Haft. kette, das im Büro der Bürgermeisterin bestreitet das. Sie erstattete Anzeige ge- Seit diesem Montag sitzen Alt-Basdorfer liegt. gen Yesim. in den Imbissen an der Hauptstraße, Eines der Mädchen, das an der Lehne ei- Rocco hat sich mittlerweile die Hörer empören sich und behaupten, dass die ner Drahtbank lehnt, heißt Sarah, dann seines Walkmans aus den Ohren gezogen Canaydins Waffen in der Wohnung liegen sind da noch Jessica, Katrin und Rocco. und sagt, „dass es kein Zufall ist, dass ge- haben, mit Drogen handeln, Kinder in Al- Werden sie gefragt, was sie von den Canay- rade die Familie so viel Stress mit uns hat. koholiker verwandeln, und dass sie dann dins halten, sagt Jessica, den Mund voller Und wenn die sich nicht benehmen, pas- auch noch unter Polizeischutz stehen, „das Knusperpuffreis: „Die sollen hier ver- siert noch was Schlimmes, und dann gu- ist das Allerschlimmste“.

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Martina Canaydin kennt all diese Vor- vestieren, in der Ausländer drangsaliert ne schafft, denn die Rollen sind nicht be- würfe. Sie hockt in ihrem halbdunklen werden?“ Er behauptet, dass intensive setzt mit den klassischen Akteuren. Mit Wohnzimmer und fragt sich, was sie tun Prävention volkswirtschaftlich sinnvoller Ausnahme des Vaters Engin Canaydin sind soll: wegziehen? Eine Hundertschaft Tür- ist als der Bau neuer Gefängnisse. Wenn alle Bewohner des Hauses am Waldrand ken aus dem Viertel einreiten lassen, die nur ein Fünftel der künftigen Häftlinge vor dem Gesetz Deutsche, und sie fühlen das Dorf mal richtig aufmischen, damit die durch Prävention vor dem Gefängnis be- sich auch so. Und die rechten Jugend- Leute hier spüren, wie es ist, wenn man wahrt werden, rechne sich die Investition. lichen im Ort sind noch keine rechts- terrorisiert wird? Oder reden mit diesen Und schließlich sagt er ein paar Sätze, die radikalen Schläger, sondern ziemlich nor- Menschen, die sie fortekeln wollen? die schlecht gelaunten Basdorfer in den male, ausländerfeindliche Jungs und Mäd- Einmal hat sie es versucht, am Ende des Imbissen an der Hauptstraße vor Wut die chen aus dem Osten Deutschlands. Im Bas- vergangenen Jahres, nachdem Unbekann- Wände hochtreiben würden: „Die Situa- dorfer Streit findet sich hinter der Fassade te ein Hakenkreuz in die Motorhaube eines BMW geritzt hatten, der vor ihrem Haus parkte, und sich die Drohbriefe auf ihrem Wohnzimmertisch sammelten. Da saß sie an einem Abend im November mit ihrem Mann im Speisesaal der Gesamtschule an einem Holztisch. Ihr gegenüber saß Heidi Freistedt, die Bürgermeisterin des Ortes. Die Leiterin der Schule war auch da und dann noch ein paar Lehrer, ein paar Schüler und Eltern. Martina Canaydin er- zählte, wie es ist, die Nächte zu durchwa- chen und sich kaum noch aus dem Haus zu trauen. Die anderen hörten zu, ohne viel zu sagen. Am Ende sagte die Mutter eines

Schülers, dass es sie ärgert, weil in der (2) / OSTKREUZ MICHAEL TRIPPEL Ankündigung nicht klar stand, dass es heu- Polizist Feuring, Bürgermeisterin Freistedt: Weichen wäre eine Katastrophe te um so ein Thema gehe. Einer, der es ernst meint mit seinem tion in Basdorf ist kein Problem der Fami- aus Rassismus und Fremdenfeindlichkeit Hilfsangebot, ist Arne Feuring, Chef der lie. Es ist ein Problem der Gemeinde. der alte Konflikt zwischen dem klein- Polizei in der Gemeinde. Er sitzt in seinem Wenn es den Rechten gelingt, die Familie bürgerlichen Wunsch nach dem Idyll und Büro im ersten Stock des Polizeigebäudes, zu vertreiben, wäre das eine Katastrophe.“ der Gefährdung des Idylls durch die Groß- hinter ihm an der Wand hängen Marx, En- Feuring will, dass die Basdorfer die stadt. gels und Lenin, eingerahmt von dem Slo- Canaydins akzeptieren. Sie sollen mit ih- Polizeichef Feuring drängt darauf, das gan „Alle reden vom Wetter. Wir nicht“. nen reden. Doch noch unterhalten sich die Problem mit einer Bürgerversammlung zu Feuring ist ein Quereinsteiger. Er hat Basdorfer lieber über den Autokonvoi, der lösen, zu der alle Einwohner Basdorfs ein- sich nicht von unten hochgedient in der am Donnerstag durch den Orte rollte, in geladen werden, die Medien, der türkische Polizei-Maschinerie, er hat Jura studiert, seiner Mitte fuhr ein schwarzer Mercedes. Generalkonsul und natürlich auch die Ju- sich ein Stück Idealismus bewahrt und sitzt In dem Wagen sitzt Aydin Durusoy, der gendlichen des Ortes und die Familie seit ein paar Jahren auf dem Stuhl des türkische Generalkonsul, der wenig später Canaydin. Er hofft, dass dort „offen über Chefs mit Blick auf einen tristen Hinterhof. die Familie Canaydin begrüßt und sie auf- das Problem gesprochen wird“. Damit Vor sich auf dem Tisch hat er die Ergeb- fordert, trotz der Angriffe im Ort zu bleiben. meint er, dass es „keine harmonische Ver- nisse der Ermittlungsgruppe Canaydin lie- Er spricht davon, „Hürriyet“, die größte anstaltung werden darf. Wenn es harmo- gen, und er referiert über Fremdenfeind- türkische Zeitung, zu informieren und auch nisch abläuft, sind wir gescheitert“. lichkeit als hartem Standortfaktor der wirt- den staatlichen Fernsehsender TRT-INT. Als der türkische Generalkonsul nach schaftlichen Entwicklung einer Region: Der Konflikt zwischen den Canaydins, dem Treffen mit den Canaydins mit der „Wer will denn schon in eine Gegend in- den rechten Jugendlichen und dem Dorf Bürgermeisterin Heidi Freistedt, Feuring ist endgültig keine loka- und Amtsdirektor Udo Tiepelmann zu- le Angelegenheit mehr. sammensitzt, erläutert die Bürgermeiste- Die Art und Weise, wie rin den Plan, der dem Generalkonsul sehr die Einwohner des klei- gefällt. Und um sicherzugehen, dass all das nen Ortes künftig mit passiert, bietet er auch hier freundlich den Canaydins umge- lächelnd an, „Hürriyet“ und den Fernseh- hen, wird mitbestim- sender TRT-INT zu informieren. Das An- men, wie das Land Bran- gebot treibt die Bürgermeisterin an die denburg in Deutschland Lehne ihres Stuhls zurück, dann bringt sie betrachtet wird und was ein „Ja“ heraus. Stattfinden soll die Bür- man in den musli- gerversammlung Mitte April. mischen Teilen Euro- Wie angespannt die Stimmung zu Be- pas über Deutschland ginn des Treffens ist, entscheidet sich am denkt. Basdorf ist auf Osterwochenende. Dann treffen sich die dem Weg, ein Symbol rechten Cliquen aus der Region an einem zu werden. Feuer am Rand von Basdorf, feiern und Es ist seltsam, dass verprügeln einander. gerade dieser Streit es „Im Moment steht es drei zu null für auf die nationale und Basdorf“, sagt Rocco und fügt hinzu: „Ich

PATRICK PLEUL / DPA PLEUL PATRICK wahrscheinlich auch auf kann mir aber schon vorstellen, dass dieses Mutter Canaydin, Polizistin: Jede Stunde eine Streife die internationale Büh- Jahr was ganz anderes passiert.“ ™

der spiegel 13/2002 147 Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite Gesellschaft Popstar mit Pullunder Ortstermin: Ex-Außenminister Genscher feiert seinen 75. Geburtstag als Wahlkampf-Auftakt.

äre Jürgen Möllemann am Fall- sei ein Kultstar, sagt Schröder über Gen- Dass sich sein Nachfolger offenbar ähn- schirm herabgesegelt, hätte sich scher. Das meint er natürlich positiv. Längst lich unbehaglich fühlt, dürfte ihn kaum er- Wkeiner gewundert. Vielleicht ist ist „Genscherismus“ ein Markenzeichen ge- reichen. Als den Kan- es ja die Riesenhalle, die zu solchen Er- worden. Was es heißt? Wenn keiner genau didaten Stoiber „mit der gleichen Herz- wartungen einlädt, das 200 Meter lange weiß, was gemeint ist, außer dass es nicht lichkeit“ begrüßt wie Schröder, sieht der und 23 Meter hohe Foyer des Paul-Löbe- um das geht, worüber gerade geredet wird. Kanzler aus, als würde er am liebsten ge- Hauses neben dem Reichstag in Berlin. An seinem Ehrentag blickt Hans-Diet- hen. Er fühlt sich getäuscht, weil Wester- Und dazu die Thomas-Mann-Frage aus rich Genscher mit sichtlicher Zufrieden- welle ihm bei der Einladung verschwiegen dem „Zauberberg“, die in metallischen heit zurück auf seine Zusammenarbeit mit hatte, dass auch Stoiber reden sollte. Das Lettern in den Fußboden eingelassen ist: den „drei bedeutenden Kanzlern“ Willy erfuhr er erst aus der „Bild am Sonntag“. „Was also war das Leben?“ Brandt, Helmut Schmidt und Helmut Kohl. Die Begrüßung fällt knapp aus. Wie im- Es sind viele ältere Herrschaften ange- An Gerhard Schröder gewandt, der ihn mer ist Edmund Stoiber spät dran. Hastig reist am Donnerstag vergangener Woche, über die Popqualitäten hinaus als „ein stolpert er auf seinen Platz, wo er neben die fremdeln in dieser Schiffs- oder Luft- Stück Geschichte dieses Landes“ preist, sich zu seiner Überraschung den russischen schifffahrtsatmosphäre. Eine Außenminister Igor Iwanow Antwort haben sie nicht mit- vorfindet: „Oh, nice to see gebracht. Draußen fließt die you“, stottert Stoiber. Aus Spree vorbei: Läuft nun gleich dem Hintergrund kommt ein die „Titanic“ vom Stapel oder Echo: „Ach, Herr Stoiber, auf Grund? nice to see you.“ Das ist, mit Dabei könnte der Anlass gravitätischem Hohn, Josch- harmloser nicht sein. Von den ka Fischer. Balustraden blicken aus sie- Die Herren Kontrahenten ben Stockwerken Menschen haben es zunächst leicht, ein- herab auf eine wimmelnde ander nicht wahrzunehmen. Festversammlung von 1500 Sie sitzen durch einen Gang Überlebenden der Bonner Re- getrennt. Stoiber schlägt das publik, die einen ihrer Größ- linke Bein über das rechte, ten feiern – Hans-Dietrich Schröder das rechte über das Genscher. linke. Dann kommen die Re- „Genschman“ ist 75 Jahre den, und es wird schwerer für

alt geworden. (L.) PEER GRIMM / DPA (O.); DARCHINGER MARC die beiden wegzugucken. Geht damit was zu Ende? Jubilar Genscher: Listige Elefantenaugen Schröder schließt seine Lau- Oder fängt wieder etwas an? datio mit einer Anspielung auf „Wir feiern ja seinen Geburtstag“, sagt fügt Genscher hinzu: „Sie sind der erste, Genschers eigenwilligen Umgang mit Ho- Bundeskanzler Gerhard Schröder, als müss- der ohne mich auskommen muss.“ roskopen. Der Jubilar, der im Übergang te darüber erst Einverständnis hergestellt Dass das nicht nur ein Nachteil sein müs- vom Sternbild Fische auf das Sternbild werden, „das ist natürlich das Wichtigste se, weil ihm damit vieles erspart bleibe, Widder geboren ist, pflege beide zu lesen, heute.“ Über jeden Zweifel erhaben fügt der Jubilar spöttisch selbst hinzu: Er um auf Nummer Sicher zu gehen. Schröder scheint das nicht. Es liegt zu viel in der könne sich ja bei seinem Vorgänger im mit süffisantem Grinsen Richtung Union: Luft in dieser politisch brisanten Woche: Kanzleramt erkundigen. Den muss Ger- „Wer Optionen besitzt, kann sich glück- die Holzmann-Pleite. Das Zuwanderungs- hard Schröder aber nicht fragen, den lich schätzen. Das gilt bei Sternzeichen wie gesetz. Vor allem aber das unterschwellige braucht er nur anzusehen. Mürrisch hockt in der Politik überhaupt.“ Kanzlerkandidaten-Duell, das Guido Wes- Helmut Kohl in der ersten Reihe und Über diesen Gag des Kanzlers, der trotz terwelle dem Jubilar durch seine Einla- schweigt. Für ihn müssen es zwei schwere einer spürbaren Grundverdrossenheit sei- dungspolitik ins Hohe Haus geholt hat. Stunden gewesen sein; eine Orgie an Ge- ne Rede locker inszeniert, können von An- Und dann ist da ja auch Genscher selber, schichtsfälschung. gela Merkel bis Joschka Fischer alle herz- der Meister verdeckter Signale, der nach 56 Wer hat denn Deutschland geeint? Wer lich lachen, außer dem hinter seiner Hand Jahren in der Politik habituell unfähig zur war denn Gorbis Freund? Wem haben versteckten Edmund Stoiber. Eindeutigkeit geworden ist. Das große denn die Ossis zugejubelt? Genscher etwa? Dabei hat der Bayer in seinem Manu- Strahlemann-Plakat, von dem seine listigen Je länger der Festakt seines früheren skript ebenfalls einen hübschen Gag ste- Elefantenaugen herabzwinkern, könnte Freundes Hans-Dietrich dauert, desto hen – einen Spreng-Satz sozusagen – über ebenso der Werbung zur Wiederwahl die- grimmiger zieht sich Kohl in seine Kör- seinen Sinn für Humor, den er mit Gen- nen wie eine Ehrung zum Geburtstag sein. perfestung zurück. Die Mundwinkel si- scher teile: „Sie in der Praxis, ich in der So ist er eben. gnalisieren den Trend: abwärts. Wahr- Theorie“. Da hat praktisch jeder gelacht, Leben war ein schrill-gelber Pullunder scheinlich hat er „absurd“ gedacht, „abso- auch Schröder. Und das war auch das und 1:30 Minuten in der „Tagesschau“. Er lut absurd“. Das denkt er immer gern. Leben. Jürgen Leinemann

150 der spiegel 13/2002 Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite Panorama Ausland

WEISSRUSSLAND Waffen für Saddam? eißrusslands Präsident Alexander WLukaschenko und seine Regierung geraten zunehmend in den Verdacht, Saddam Hussein durch Waffenlieferun- gen und Ausbildung von Militärs zu un- terstützen. Am Dienstag voriger Woche empfing Lukaschenko in seiner Minsker Residenz den irakischen Vizepremier und Finanzminister Hikmat Misban Ibra- him. Dabei wurde für dieses Jahr ein Wa- renaustausch-Volumen von 50 Millionen KARIM SAHIB / AFPKARIM SAHIB / DPA Militärparade in Bagdad (2000)

system SA-3. Lukaschenko bestreitet hört zu den größten Staatsgeheimnissen dies, rühmt aber die vaterländische Pro- der nach sowjetischem Muster regier- duktion „optischer Geräte und einmali- ten weißrussischen Republik. Rüstungs- ger Lenksysteme“. An solchen Verteidi- exporterlöse fließen in einen geheimen gungseinrichtungen ist der Irak ebenso Fonds, über den Lukaschenko persön- interessiert wie am Reparaturservice, den lich verfügt. Weißrusslands Verteidi- weißrussische Produzenten anbieten. gungsminister Leonid Malzew verhehlt Erst vor sechs Monaten hatte eine iraki- nicht, „dass wir Waffen auf dem Welt-

EASTWAY.DE sche Militärdelegation Minsk besucht. markt verkaufen“. Vorwürfe, mit dem Präsident Lukaschenko Die oppositionelle „Belarusskaja delo- Irak militärisch zu kungeln, nennt er waja gaseta“ veröffentlichte eine Na- eine von den USA gelenkte Kampagne. Dollar vereinbart – das Doppelte des mensliste irakischer Luftabwehr-Offizie- Sein Amtsvorgänger Pawel Koslowski Vorjahres. Weißrussische Oppositions- re, die zur Fortbildung in die Minsker bezichtigt die Minsker Führung dage- zeitungen berichten, das Minsker Regime Militärakademie eingeladen worden sei- gen, „keine moralischen Prinzipien“ zu liefere an Bagdad auch Waffen und en – was die Regierung umgehend de- haben und im Waffengeschäft „eine kri- Wehrtechnik, etwa das Luftabwehr- mentierte. Handel mit Kriegsgerät ge- minelle Politik“ zu betreiben.

WELTHANDEL zu hohe Rückstände des Antibioti- kums Chloramphenicol, das zu le- Verseuchte Shrimps bensbedrohlichen Blutungen führen kann, gefunden wurden. ie Europäische Union hat an Häfen Auch in den Krustentieren aus Bur- Dund Flughäfen verschärfte Kontrol- ma entdeckten EU-Inspekteure len von Lebensmitteln aus den südost- jetzt dieses Breitbandantibiotikum. asiatischen Ländern Vietnam, Thailand In Geflügel und Shrimps aus Thai- und Burma angeordnet, nachdem erste land und in Shrimps aus Vietnam Tests von Hühnchen und Shrimps aus fanden sich dagegen die gefährli- diesen Ländern viel zu hohe Antibio- chen Nitrofurane. Sie stehen im tikarückstände zu Tage förderten. Die Verdacht, beim Menschen Krebs Asiaten setzen in ihrer Tiermast offen- auszulösen. Die dortigen Shrimps- bar Mittel ein, die in Europa wegen Farmer kippen in ihre voll gestopf- möglicher Krebsgefahr und Erbgutschä- ten Zuchtbecken verstärkt Anti- digung seit bald zehn Jahren verboten biotika, weil sich bei den relativ sind. Vor wenigen Wochen sind schon warmen Wassertemperaturen

die Importe tierischer Lebensmittel aus Südostasiens Krankheiten unter / VISUM MICHAEL WOLF China in die EU gestoppt worden, weil den Tieren schnell ausbreiten. Shrimps-Zucht in Thailand

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USA wirtschaftlichen Produktion. Gewalt- same Landbesetzungen haben diese fast „Religiöse Dogmen zum Erliegen gebracht. Die Folgen spürt jetzt auch die Regierung: Allein in die- verwirren sem Jahr wird das Land weniger als die Hälfte des täglichen Bedarfs an Mais die Menschen“ produzieren. Ist bis Mitte April kein Weizen angebaut, wird auch das Brot Minnesota-Gouverneur Jesse Ventura, knapp. Dennoch scheiterten Diskussio- 50, über Hintergründe des Kriegs ge- nen zwischen Regierungsvertretern und

gen den Terror AP Farmern über eine Bewirtschaftung der- Verhüllte Leiche eines weißen Farmers zeit brachliegender Farmen bisher an SPIEGEL: Mr. Ventura, in der US-Marine der Weigerung der Staatsführung, die waren Sie Kommandosoldat bei der Eli- SIMBABWE Ländereien zurückzuübereignen und tetruppe der Navy Seals, später wurden die Sicherheit der Bauern zu garantie- Sie Profi-Catcher und sind heute Exodus der Farmer ren. Mindestens 15 Landwirte sind al- Regierungschef eines Bundesstaats im lein seit der Wiederwahl Mugabes von Herzland der USA. Glauben Sie, dass ährend Staatschef Robert Mugabe ihren Gütern vertrieben worden; ein der Krieg gegen den Terror mit militäri- Wverkündet, die Enteignungen von weißer Farmer wurde am vergangenen schen Mitteln gewonnen werden kann? Großfarmern stärker als bisher voran- Montag von Landbesetzern erschossen, Ventura: Nein. treiben zu wollen, verhandelt er heim- als er zu fliehen versuchte. Sollte keine SPIEGEL: Woran fehlt es? lich mit weißen Farmern über eine Wie- Einigung erzielt werden, steht ein Ex- Ventura: Sie dürfen die Ursachen dieses deraufnahme der kommerziellen land- odus der Weißen bevor. Konflikts nicht außer Betracht lassen: 90 Prozent aller Kriege werden aus religiö- sen Gründen geführt. Es ist sehr schwie- rig, jemanden mit Waffengewalt von der Calais DEUTSCHLAND Fluchtrouten über Land Überzeugung abzubringen, dass Gott zur See auf seiner Seite steht, während seine Gegner ohne Gottes Segen kämpfen. FRANKREICH SPIEGEL: Was kann die Istanbul Kurdische Regierung denn tun, ALBANIEN Bevölkerung wenn Ihre Ansichten über die Rolle der Reli- ITALIEN TÜRKEI SYRIEN gion in diesem Konflikt IRAK stimmen? ZYPERN LIBANON Ventura: Was heißt, wenn Mittelmeer sie stimmen? Schauen Sie sich doch den Nahen

FRITZ REISS / AP FRITZ Osten an. Dort schlagen ITALIEN Ventura sie sich seit Jahrzehnten die Köpfe ein wegen Land, das keine der gegnerischen Par- Seeweg teien wirklich nutzen will, aber keine der beiden Religionen der jeweils ande- ren überlassen mag. Angesichts solch nach Europa tief verwurzelter religiöser Ansprüche wird dieser Kampf noch eine Ewigkeit ie „Monica“, mit der vorige Woche 928 dauern. Dvorwiegend kurdische Flüchtlinge in der SPIEGEL: Und was bedeutet das für den sizilianischen Hafenstadt Catania anlandeten, Krieg gegen den Terror, dem ja auch re- war offenbar das Flaggschiff einer größeren ligiöse Motive zu Grunde liegen? Flüchtlingsflotte aus dem östlichen Mittel- Ventura: Dieser Konflikt wird auf unab- meer. Weitere vier oder fünf Menschentrans- sehbare Zeit andauern. Terrorismus porter seien bereits auf See, meldeten Si- lässt sich nicht ausrotten – vor allem so- cherheitsexperten. Die Schiffe könnten die Flüchtlingsschiff „Monica“ im Hafen von lange religiöse Dogmen den Geist so italienische Küste schon in den nächsten Ta- vieler Menschen verwirren. gen erreichen. In libanesischen und türkischen Häfen und auf der als Umladestation für SPIEGEL: Geraten Sie mit solch kriti- menschliche Ware genutzten Insel Zypern lägen noch bis zu zehn Frachter abfahrbereit schen Ansichten nicht in Schwierigkei- vor Anker. ten in einer Nation, die sich als Gottes Kamen auf dem Seeweg bislang hauptsächlich Flüchtlinge aus Osteuropa und dem Bal- eigenes Land versteht? kan über die nicht einmal 100 Kilometer breite Adria nach Italien, bewegen sich auf der Ventura: Natürlich bereitet mir das Pro- neuen Mittelmeerroute Menschen aus asiatischen Ländern und vor allem Kurden aus dem bleme. Die Presse reitet darauf herum. Irak. Sie zahlen den Organisatoren der Massentransporte in der Regel 4000 bis 5000 US- Für die ist das wie Blut im Wasser, und Dollar pro Erwachsenen, um auf dem Deck oder im Laderaum eines ausgemusterten das lockt die Haie. Provokationen Uralt-Frachters reisen zu dürfen. Die „Monica“-Passagiere waren mindestens acht Tage gehören für die Medien nun mal zum unterwegs, hatten kaum zu essen und zu trinken und nicht die geringsten Möglichkei- Unterhaltungsgeschäft.

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Projekts im Vergleich zum ursprünglichen Ansatz bereits versiebenfacht. Entsprechend dieser selbst für das Baugewerbe rekordverdächtigen Kostensteigerung ist auch die ursprüngliche Zeitplanung Makulatur. Anfangs sollten die 129 Abgeordneten des schottischen Parlaments im August 2001 den prachtvollen Bau beziehen, doch inzwischen steht auch der auf den Mai 2003 verschobene Einzugstermin in Frage.

RMJM Hauptgrund für die atemberaubende Kosten- Computersimulation des geplanten schottischen Parlamentsgebäudes explosion: Die Regierung in London erwarb, noch bevor das schottische Parlament überhaupt GROSSBRITANNIEN gewählt war, einen zu kleinen Baugrund. Wenig später starb dann auch noch der katalanische Architekt Enric Miralles – Luxus-Labyrinth zwei Jahre nachdem er den internationalen Wettbewerb ge- wonnen hatte. Zudem wollten die Parlamentarier immer neue für schottische Abgeordnete Einfälle und Ansprüche verwirklicht sehen. Mitte dieses Mo- nats bewilligten sie für die Beschilderung des komplexen Ge- ie Schotten mögen als geizig gelten, doch beim Neubau ih- bäudes zusätzliche 500000 Pfund. Dres Parlamentsgebäudes in Edinburgh lassen sie sich nicht „Das kommt davon“, grollte ein Abgeordneter der oppositio- lumpen: Mit inzwischen 280 Millionen Pfund (452 Millionen nellen Konservativen, „wenn man statt eines anständigen Par- Euro) haben sich die geschätzten Kosten des ambitionierten lamentssitzes ein Labyrinth baut.“

JAPAN Mächtiger Pate apans Premier Junichiro Koizu- Jmi büßt rapide an Autorität ein. Vor knapp einem Jahr war Koizu- mi mit dem Versprechen angetre- ten, die seit 1955 fast ständig regie- rende Liberaldemokratische Partei (LDP) von der Geißel der Korrup- tion zu heilen. Doch in der vergan- genen Woche musste Koizumi vor der alten Garde der LDP kapitulie-

FABRIZIO VILLA / AP VILLA FABRIZIO ren: Seine Bitte, den skandalum- Kurdische Flüchtlinge, Helfer witterten Ex-LDP-Politiker Muneo Suzuki gemeinsam mit der Opposi- ten für ihre hygienischen Grund- tion zur Aufgabe seines Abgeord- bedürfnisse. Über 300 waren Kin- netenmandats aufzufordern, wurde der, das Jüngste wurde erst weni- von mächtigen Parteibossen abge- ge Stunden vor der Ankunft in lehnt. Suzuki, der wie ein Pate in Catania geboren. In Italien hat das Außenministerium hineinre- das Flüchtlingsschiff zu heftigem giert haben soll, war aus der Partei Streit in der Regierung geführt. Vor ausgetreten, um den Parteifreun- allem Lega-Nord-Chef Umberto den „Unannehmlichkeiten“ zu Bossi forderte „härtere Maßnah- ersparen. Auch Koizumis lang- men gegen die illegale Einwande- jähriger Verbündeter, der frühere

DPA rung“. Die Menschen sollen LDP-Generalsekretär Koichi Kato, Catania zurückgeschickt, die Schiffe ver- verließ die Partei in der vergan- senkt werden. Das geht Bossis genen Woche, nachdem ein ehe- Koalitionspartnern und auch Regierungschef Silvio Berlusconi aber zu weit, zumal es kaum maliger Mitarbeiter unter dem praktikabel wäre. So hatten die „Monica“-Passagiere den Marine-Einheiten, die sie an der Verdacht umfangreicher Steuer- Grenze der italienischen Hoheitsgewässer zunächst stoppten, gedroht, sich oder ihre Kinder hinterziehung verhaftet worden ins Wasser zu werfen. Experten verweisen außerdem darauf, dass nicht wenige dieser Flücht- war. Die Skandale nähren die linge nach internationalen Normen einen Rechtsanspruch auf Asyl haben. weit verbreitete Enttäuschung über Ein „Sonderkommissar“ soll nun alle Möglichkeiten ausloten, einen weiteren Flüchtlingsan- Koizumi. Nach der als ungerecht sturm zu verhindern. Den östlichen Mittelmeerländern wird aufgetragen, die Schiffe möglichst empfundenen Entlassung seiner schon vor der Abfahrt zu stoppen. Die Brüsseler EU-Kasse soll den Italienern ihren Aufwand populären Außenministerin Maki- an Europas Südgrenze bezahlen, fordert Rom. Ein Interesse daran können die Nordländer ko Tanaka fiel die Beliebtheit des durchaus haben: Die meisten Flüchtlinge ziehen zügig weiter – vor allem nach Deutschland. Premiers in Umfragen auf weit unter 50 Prozent.

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NAHOST Harte Worte hinter den Kulissen Historische Chance beim Araber-Treffen diese Woche in Beirut: Gelingt es dem saudischen Kronprinzen Abdullah, den Rest der arabischen Welt für seinen Friedensplan mit Israel zu gewinnen? Bagdad hofft auf Solidarität im Konflikt mit den USA.

ls die ersten Vorbereitungen liefen, Geradezu rührend, wie Anekdoten aus Jerusalem erschütterte und drei Men- schien es noch, als wäre Muammar einer unschuldigen Zeit, wirken heute die schenleben forderte, drängen die USA nun Aal-Gaddafi das größte Problem. Der Querelen, mit denen sich die arabischen offensichtlich darauf, den Automatismus libysche Revolutionsführer lehnt es ab, auf Führer noch vor kurzem herumschlugen. von Schlag und Vergeltungsschlag zu un- Reisen in einem Hotel zu übernachten. Wenn die Monarchen und Staatschefs der terbinden. Zwar sei Präsident George W. Stattdessen führt er selbst auf Staatsvisiten 22 Mitgliedsländer der Arabischen Liga – Bush „enttäuscht“ über Arafat, doch solle immer ein eigenes Beduinenzelt mit, ei- bis auf Gaddafi und Saddam Hussein, Jas- Israel Zurückhaltung üben, hieß es aus nen halben Hofstaat von Leibwächtern und sir Arafats Anreise ist nach den jüngsten Washington. drei prachtvolle Kamelstuten. Der Proto- Anschlägen noch nicht sicher – am Mitt- Selbst das Angebot, Arafat könne sich in kollchef des Araber-Gipfels, der diese woch zusammentreffen, liegen Probleme Kairo mit US-Vizepräsident Richard Che- Woche in Beirut stattfindet, fügte sich und von ganz anderem Kaliber auf dem Tisch: ney treffen – noch vor wenigen Wochen begann nach einem passenden Camping- der zum offenen Krieg ausgeartete Konflikt undenkbar unter derartigen Umständen –, platz in der Altstadt zu suchen. zwischen Israelis und Palästinensern und blieb vorerst bestehen. Amerika, so viel Doch dann kam, fast unvermeidlich im der mögliche US-Schlag gegen den Irak. wurde klar, wollte eine Vorleistung erbrin- Vorfeld nahöstlicher Großkonferenzen, Die Amerikaner, die sich bereits völlig gen für den Araber-Gipfel in Beirut. eine diplomatische Verstimmung dazwi- vom Nahost-Kriegsschauplatz abgewandt Die Erwartungen auf der Gegenseite schen: Die Schiitengemeinde des Libanon, und Israels Ministerpräsident Ariel Scha- sind denn auch enorm. Nicht weniger als seit Jahren verfehdet mit der libyschen ron das Feld überlassen zu haben schie- das endgültige arabische Friedensangebot Führung, kündigte eine „Überraschung“ nen, kehrten vergangene Woche mit er- in der Palästina-Frage und ein kompro- an, falls die Regierung ihren Erzfeind Gad- staunlichem Engagement auf das diplo- missloses Nein gegen jeden Angriff auf den dafi ins Land lassen sollte. matische Parkett in Nahost zurück. Auch Irak stellt Amr Mussa, Generalsekretär der Außenminister und Staatspräsidenten wenn die vom US-Sondergesandten An- Liga, für den Beiruter Gipfel in Aussicht schalteten sich ein, tagelang gingen diplo- thony Zinni moderierten Sicherheitsge- (siehe Interview Seite 159). matische Noten hin und her zwischen spräche nur schleppend in Gang kamen, ist So vermessen Mussas Ankündigung Kairo, Beirut und Tripolis – bis Gaddafi die neue Handschrift Washingtons deutlich klingt – die Umstände könnten ihn bestäti- überraschend nachgab und versprach, zu erkennen. gen. Fast 1600 Menschen – davon über 1200 einen Stellvertreter zu schicken. Obwohl am Don- nerstag erneut ein * Links: mit Außenminister Schimon Peres; rechts: am Selbstmordanschlag 16. März mit Kronprinz Abdullah in Dschidda. die Innenstadt von

Premier Scharon (l.), Saudi-Arabien-Besucher Cheney* Gewalt-Tour im Auftrag eines enttäuschten Präsidenten GIL COHEN MAGEN / REUTERS GIL COHEN MAGEN J. SCOTT APPLEWHITE / AP APPLEWHITE SCOTT J.

156 der spiegel 13/2002 Palästinenser – sind in an- derthalb Jahren ums Leben gekommen. Die von Tag zu Tag blutigeren Bilder haben von Marokko bis Oman zu der Einsicht geführt, dass die Zeit reif ist für ein gemeinsa- mes Araber-Wort Richtung Is- rael. Dass dort mit Ariel Scha- ron ein bei allen gleicher- maßen verhasster Gegner an der Macht ist, scheint die Geschlossenheit der Araber – sonst nicht gerade ihre politi- sche Tugend – zu stärken. Auch Araber können Zei- chen setzen, wenn sie mit ei- ner Stimme sprechen – das weiß niemand besser als die Saudis, deren König Feisal mit seinem Entschluss, im Kampf gegen Israel die Öl- waffe zu ziehen, vor 30 Jah- ren die islamische Welt hin-

ter sich scharte. / GETTY IMAGES SILVERMAN DAVID Hat auch der viel gerühm- Palästinensischer Terroranschlag in Musmus*: Eindringliche Worte aus Washington te Friedensvorstoß von Fei- sals Halbbruder Abdullah, dem heutigen staat mit der Hauptstadt Ost-Jerusalem an- Gast Nummer 23 am Gipfeltisch sitzt, sind Kronprinzen von Saudi-Arabien, das For- erkenne. die syrischen Korrekturen Anlass zur Skep- mat, die so oft zerstrittenen Nachbarn Normalisierung, das hieße etwa unein- sis: „Voller Frieden“, kritisiert der israeli- zu einen? Ist seine Initiative jener lang geschränkter Handel, Tourismus und Auf- sche Nahost-Experte Bruce Maddy-Weitz- erwartete panarabische Masterplan, der nahme diplomatischer Beziehungen. Eine man, sei eine Formel, „die nicht viel heißt Washington unter Zugzwang setzt und bestechende Perspektive: Kibbuz-Orangen in der arabischen Welt“. Ohnehin stecke Israel zum Frieden zwingt? auf dem Basar von Damaskus, israelische hinter der Initiative nicht plötzliche Liebe Zweifel sind erlaubt, denn die Agenden Touristen in den Shopping Malls von Du- zu Israel: Nach dem 11. September fürch- zwischen Kairo, Damaskus, Kuweit und bai und die grüne Fahne auf dem Dach ten die arabischen Staaten, allen voran die Riad gehen zum Teil spürbar ausein- einer Saudi-Botschaft in Tel Aviv. Saudis, um ihr Image. ander und könnten das Treffen zum Gip- Doch der Teufel steckt nicht nur in der Israel hat den Abdullah-Plan höchst fel der Probleme werden lassen. Immer- Semantik. Einen „vollen Frieden“ statt zurückhaltend aufgenommen. Denn der hin „volle Normalisierung“ in den Bezie- „voller Normalisierung“ solle man Israel in jüdische Staat tut sich vor allem schwer hungen der arabischen Staaten zu Israel Aussicht stellen, schränkte Syrien auf einer mit dem Rückkehrrecht von mehre- hatte Abdullah angeboten, falls Jerusalem Sitzung arabischer Außenminister vor dem ren Millionen Flüchtlingen – einem The- sich auf die Grenzen des 4. Juni 1967 Beirut-Gipfel ein – im Klartext: Bloß das ma, an dem der Gipfel gerade in Beirut zurückziehe und einen Palästinenser- Kind nicht mit dem Bade ausschütten. nicht vorbeikommen wird. Allein im Li- Damaskus fürchtet, banon leben rund 400 000 Palästinen- Palästinenser-Präsident Arafat, US-Unterhändler Zinni dass ein allzu spekta- ser unter größtenteils erbärmlichen Be- „Voller Frieden statt voller Normalisierung“ kulärer Friedensschluss dingungen. Eine Rückkehr aller Flücht- zwischen Jerusalem und linge wäre für Israel schon demografisch den Palästinensern sei- inakzeptabel. nen eigenen Anspruch Auch über die Frage, was genau die „be- auf die seit 1967 be- setzten Gebiete“ sind, bestehen gravieren- setzten Golanhöhen in de Differenzen. Israel möchte sich lediglich den Hintergrund drängen auf seine Interpretation der Uno-Resolu- könnte. Dass sein Behar- tion 242 stützen, aus der es einen Anspruch ren auf einer sofortigen ableitet, zumindest etliche Siedlerzentren Lösung der Golanfrage behalten zu dürfen. den Saudi-Plan zunichte Es bleibt wohl an Kairo hängen, zwi- machen könnte, nimmt schen den Maximalpositionen seiner Bru- Präsident Baschar al-As- derländer und dem zu vermitteln, was den sad offenbar in Kauf. Israelis vorgelegt werden kann. Ägypten „Entweder ein umfassen- versteht sich als arabischer Vorreiterstaat, der Frieden oder gar kei- der dreimal uneigennützig für die Palästi- ner“, erhöhte das syri- nenser in den Krieg zog. Präsident Husni sche Staatsfernsehen den Mubarak, von Anfang an eingeweiht, ist Erwartungsdruck. Kronprinz Abdullahs wichtigster Partner Für Israel, das gewis- in der neuen Friedensinitiative. sermaßen als stummer Weitgehend von Einnahmen aus dem Tourismus abhängig, leidet Ägypten be-

HUSSEIN / PPO GETTY IMAGES * Am vergangenen Mittwoch. sonders unter dem anhaltenden Palästina-

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Konflikt; die miserablen Buchungszahlen „Ein gut kontrollierter Saddam“, so ver- schaffen und sogar zu einer Abtrennung für Reisen an den Nil werden nur noch lautet aus Kairo, sei „noch das kleinere der Kurdengebiete im Norden führen. Jor- von denen nach Israel unterboten. Doch Übel“. Viel schlimmer wäre ein Zustand, danien fürchtet um seinen wichtigsten Han- auch wichtige Wirtschaftsprojekte laufen der das Land spaltet und unkontrollierbar delspartner, Kuweit erst recht um seine wie mit angezogener Handbremse, weil die machen würde. Dann könnten sich am Ti- Sicherheit: „Alle Namen“, so die Tages- Region nicht zur Ruhe kommt. Vergange- gris islamistische Terrorgruppen ansiedeln zeitung „al-Anba“ aus dem Ölemirat, „die ne Woche erst einigten sich Kairo und Am- und mit den Mullahs in Iran verbünden. als mögliche Nachfolger genannt werden, man über eine aufwendige Erdgasleitung Hinter den Kulissen soll Issat Ibrahim, sind unrealistisch. Es geht nicht um Na- durch den Golf von Akaba, die viel güns- als Vizechef des Revolutionären Kom- men, sondern um eine neue Verfassung.“ tiger über israelisches Territorium verlau- mandorats Saddams Nummer zwei, bei Dass eine Zuspitzung in der Irak-Frage fen könnte – wenn es denn einen wirkli- seinem Besuch in Kairo harte Worte alle Friedensvisionen von Beirut zunichte chen Frieden gäbe. vernommen haben: Ein US-Angriff machen könnte, bestätigte vergangene Wo- sei nicht abzuwenden, che auch eine ungewöhnliche Ankündi- wenn der Irak nicht gung aus New York: Eine Uno-Delegation drei Bedingungen er- unter Führung von Generalsekretär Kofi fülle: die Wiederzulas- Annan wird – eine Premiere – zum Araber- sung der Uno-Waffen- Gipfel einfliegen und sich mit Nadschi Sa- inspekteure, die Zu- bri treffen, dem Außenminister Bagdads. stimmung zum Saudi- Nur einer dürfte in der Lage sein, in Friedensplan und die Beirut noch mehr Interesse auf sich zu zie- endgültige Festschrei- hen: Jassir Arafat. „Egal, ob ich auf dem bung der 1991 neu ge- Gipfel auftrete oder nicht“, so der von Pre- zogenen irakisch-ku- mier Scharon unter Hausarrest gestellte weitischen Grenze. Palästinenser-Chef, „ich werde dort die Den Kuweitern, de- Hauptperson sein. Im Notfall spreche ich nen ihr Bekenntnis über Satellit zu meinen Brüdern.“ zum Erzfeind Saddam So schreckt Arafat auch nicht, dass Isra- von allen am schwers- el sogar droht, ihn vielleicht ausreisen zu ten gefallen sein dürfte, lassen – ihm aber dann die Rückkehr zu bot Kairo einen Deal verweigern. „Sollte Arafat den Gipfel nut-

J. SCOTT APPLEWHITE / AP APPLEWHITE SCOTT J. von historischer Größe zen, um zu einer Fortsetzung des Kampfs US-Vizepräsident Cheney, US-Truppen in Katar: Neue Handschrift an: Der Gipfel könnte und einer Eskalation der Gewalt anzu- die Entsendung einer stacheln, sind alle Optionen offen“, so ein Höchst ungelegen kommen Mubarak da- panarabischen Friedenstruppe beschließen, Regierungssprecher in Jerusalem. her auch Washingtons wiederholte Ankün- um die Pufferzone zwischen Irak und Arafat verlässt sich für seinen Gipfel- digungen, gegen den Irak losschlagen zu Kuweit zu sichern. Schon vor 40 Jahren Trip, Rückkehr inklusive, ganz auf Wa- wollen. Dieser Schritt droht den Nahen hatte Mubaraks Vorvorgänger Gamal Abd shington. Er weiß, dass ihn die USA nicht Osten vollends ins Chaos zu stürzen. al-Nasser das Golfemirat so zu schützen fallen lassen können. „Er ist eine nationa- Was Cheney auf seiner Reise durch die versucht – vor Abd al-Karim Kassim, ei- le Ikone“, räumt ein US-Diplomat ein, „ihn Krisenregion zu hören bekam, war – wie nem Vorgänger Saddam Husseins. ins Exil zu drängen, würde bedeuten, wirk- von Riad über Kuweit bis Kairo und An- Die arabischen Staaten treibt die Sorge lich alles, was wir in über zehn Jahren er- kara abgesprochen – eine beeindruckende um, eine nach einem Militärschlag von reicht haben, über Bord zu werfen.“ Solidaritätsadresse auf Zeit: kein Angriff Washington eingesetzte Regierung könnte Annette Großbongardt, Volkhard Windfuhr, Bernhard Zand auf den Irak, zumindest nicht jetzt. auf Jahre hinaus instabile Verhältnisse Vergangenheit denken. Wir haben schließlich seit der Friedenskonferenz von Ma- drid schon zehn Jahre verlo- ren und sind nicht bereit, noch mal ein Jahrzehnt zu warten. Ein Jahr sollte jetzt reichen. Wir beginnen ja nicht bei null. Wir brauchen im Grunde nur das in die Tat umzusetzen, worüber wir uns schon geeinigt hatten – bei der Uno in New York, dann in Madrid, in Oslo und anderswo. SPIEGEL: Was wird, wenn Is- raels Premier Ariel Scharon doch noch Präsident Jassir Arafat daran hindert, in Beirut dabei zu sein oder – schlimmer noch – ihn an- schließend nicht mehr nach Palästina zurückkehren lässt? Mussa: Beides wäre eine

JAMAL SAIDI / REUTERS SAIDI JAMAL deutliche Absage Israels an Pro-palästinensische Demonstration in Beirut*: „Die Araber sind verärgert und frustriert“ den Frieden. Und die ganze Welt würde das bezeugen. SPIEGEL: Und was passiert, wenn die ara- NAHOST bische Friedensinitiative bei Israel nicht verfängt? Mussa: Immerhin ist dann klar, dass Israel „Wir wollen in Frieden leben“ den Frieden nicht will; wir werden uns ent- sprechend verhalten. Der Generalsekretär der Arabischen Liga, Amr Mussa, SPIEGEL: Womit könnte denn die arabische Seite Israel beeindrucken? über die Forderungen des Araber-Gipfels in Beirut an Israel und Mussa: Außenstehende mögen den Ein- die Solidarität mit dem Irak bei einem US-Angriff druck haben, wir Araber seien in eine Art Winterschlaf verfallen, nur weil wir uns SPIEGEL: Bringt der für diese Woche in palästinensischen Flüchtlingen irgendeine bislang nicht wirklich geregt haben. Doch Beirut anberaumte arabische Gipfel eine Art von Rückkehr zu ermöglichen. Sollte selbst wenn das zuträfe, glauben Sie mir: Wende in der Palästina-Politik? sich Israel gegen die Punkte sträuben, wür- Wir werden wieder aufwachen. Mussa: Der arabisch-israelische Konflikt den wir Araber das als eine Absage an SPIEGEL: Außer mit dem Palästina-Problem eskaliert wie nie zuvor, deshalb hat der den Frieden betrachten. Wenn sich die Is- muss sich der Gipfel auch mit einem Gipfel zukunftweisende Bedeutung. Und raelis aber an die Uno-Resolutionen 242 drohenden US-Angriff auf den Irak aus- fest steht in jedem Fall: So wie bisher geht und 338 halten und das Prinzip „Land ge- einander setzen. es nach dem Treffen der arabischen Führer gen Frieden“ respektieren, Mussa: Alle arabischen Staa- nicht mehr weiter. steht einem Frieden nichts ten, auch Kuweit, das mit SPIEGEL: Rechnen Sie mit Zugeständnissen im Wege. Die Araber akzep- Bagdad durchaus noch Dif- an Israel? tieren die Existenz Israels ferenzen hat, lehnen einen Mussa: Die Araber werden auf keine ein- und wollen mit den Israelis amerikanischen Angriff auf zige ihrer gerechten Forderungen verzich- in Frieden leben. Das kön- den Irak ab. Wir hoffen auch ten. Wir bestehen nach wie vor auf der nen sie jetzt haben. auf den sich anbahnenden Rückgabe aller 1967 besetzten Gebiete, SPIEGEL: Sind das nicht allzu Dialog zwischen Bagdad und ebenso auf der Schaffung eines unabhän- hohe Erwartungen? den Vereinten Nationen. gigen palästinensischen Staates. Darunter Mussa: Zumindest verbinden SPIEGEL: Das muss die USA läuft gar nichts. Aber wir werden anderer- wir mit dem Gipfel die Hoff- nicht von einem Krieg ab- seits an alle, auch an die israelische Öf- nung, dass die arabischen halten. fentlichkeit, eine klare und ernste Frie- Länder diesen Friedensplan Mussa: Wir Araber erwarten,

densbotschaft richten. gemeinsam einbringen. Und AMR NABIL / AP dass die Amerikaner sich für SPIEGEL: Wird dabei die Initiative des saudi- von den Israelis erwarten wir Generalsekretär Mussa den Frieden in Palästina ein- arabischen Kronprinzen Abdullah im Mit- nicht nur Lippenbekenntnis- „Wir werden aufwachen“ setzen, lehnen aber gleich- telpunkt stehen? se zum Frieden, sondern Ta- zeitig einen Angriff auf den Mussa: Das ist nicht nur eine Initiative, ten, zum Beispiel den umgehenden Rück- Irak ab. Außerdem warne ich vor den un- sondern kann ein arabischer Friedensplan zug aus den besetzten Gebieten. übersehbaren Konsequenzen einer Auftei- werden. Den nächsten Schritt aber müssten SPIEGEL: Mehrere arabische Staatschefs be- lung des Landes. Die Folgen würden nicht dann die Israelis tun. Dazu gehört, das ara- zeichnen den saudi-arabischen Friedens- nur die arabischen Nachbarn treffen, son- bische Ost-Jerusalem freizugeben und den plan als die letzte Chance für den Frieden. dern die gesamte Region erschüttern. Mussa: Wir sind verärgert und frustriert, Interview: Volkhard Windfuhr, Bernhard Zand * Zum Treffen der Arabischen Liga am vorigen Freitag. wenn wir an die ungute Entwicklung der

der spiegel 13/2002 159 Mafia-Clans von Belgrad und schütze die Attentäter des Milo∆eviƒ-Regimes.“ Der Kalte Krieg der DOS-Hierarchie hemmt nicht nur Reformen. Zu registrieren ist zugleich ein Rückfall in Nationalismus und erneute Paranoia von Serbiens Kampf gegen den Rest der Welt. Wochen vor seiner Festnahme war Peri∆iƒ von den Agenten des militärischen Geheimdienstes bereits gedroht worden: „Wir werden Sie zum Schweigen bringen!“ Laut „nacional“ soll der General dem Haa- ger Tribunal seine Zeugenaussage gegen Milo∆eviƒ angeboten haben, wenn er im Gegenzug Straffreiheit für die „eigenen

STRINGER / AFP / DPA STRINGER Kriegsvergehen“ erhalte – unter anderem Beschuldigter Peri∆iƒ (2. v.r.): Kompetenter Zeuge für Den Haag die Bombardierung der kroatischen Küs- tenstadt Zadar. Zweifellos wäre Peri∆iƒ ein Ein Videoband über das konspirative kompetenter Zeuge für die nach Belgrad JUGOSLAWIEN Treffen wurde vergangene Woche von führenden Kommandostrukturen während Staatspräsident Ko∆tunica zwangsweise des jugoslawischen Erbfolgekriegs, zum Für eine dem protestierenden DOS-Präsidium vor- Beispiel bei der Eroberung der bosnischen geführt. Die Herren seien danach ge- Enklave Srebrenica und dem Massaker an schockt gewesen, berichtete die Zeitung über 7000 Muslimen. Menge Dollar „Blic“. Doch seit in Den Haag Milo∆eviƒ Punk- Sie legten dem Kompromittierten den te sammelt und sich widersprechende Zeu- Nur beim Sturz des Despoten Rücktritt als serbischer Vizepremier nahe – gen kompromittieren, ist in Serbien von vorrangig wohl wegen ihrer eigenen Schuldbewusstsein nicht mehr viel zu Milo∆eviƒ bewiesen Belgrads Demo- Charakterisierung von „Affe“ spüren. Fasziniert verfolgt die kraten Einigkeit. Seitdem bis „Konservendosenspezia- Nation „Slobo“, der sich er- reiben sie sich in Machtkämpfen auf. list“, die dieser dem Diploma- neut als Verteidiger verletzten ten als Zugabe vermittelt hatte. Nationalstolzes präsentiert. Bis er Präsident benehme sich „wie Na- Peri∆iƒ trat zurück, sieht sich Ende März verlangt das Haager poleon“ und wolle eine Parallel- jedoch als Opfer böser Intrigen: Tribunal die Auslieferung wei- Dmacht aufbauen, wetterte Serben- Serbien stehe am Kreuzweg terer Kriegsverbrecher. Falls premier Zoran Djindjiƒ. Der Regierungs- zwischen Demokratie und fins- Belgrad nicht kooperiere, droh- chef verletze die Verfassung und gefährde terer Nacht. te Washington eine Einstellung den Staat, konterte Jugoslawiens Staats- Wer das Land diesmal vorm aller Finanzhilfen an. „Unser

oberhaupt Vojislav Ko∆tunica die Vorwür- Verderb retten soll, darauf wis- FOTOCREDIT Volk“, sagt Djindjiƒ, „wird dies fe seines DOS-Koalitionspartners. sen auch westliche Strategen Ko∆tunica kaum noch verstehen.“ Was die beiden führenden Staatsmän- keine Antwort mehr. DOS ge- Dass die neue Sympathie- ner im Land eineinhalb Jahre nach dem gen DOS, dies sei kein Streit welle für den entmachteten Sturz des Despoten Slobodan Milo∆eviƒ vor dem Familienrichter, warnt Despoten ausgerechnet aus der noch verbindet, kommentieren jugosla- der Polit-Professor Djordje Vu- Partei von Ko∆tunica kommt, wische Medien sarkastisch: gegenseitiger kadinoviƒ und will im Macht- ist kein Zufall. Fast 100000 So- Hass, wechselseitige Putschvorwürfe. duell zwischen Ko∆tunicas De- zis wechselten ihr Parteibuch Erst vor zwei Wochen soll der von Mi- mokratischer Partei Serbiens und suchten in der Demokrati- lo∆eviƒ-Loyalisten unterwanderte militäri- (DSS) und Djindjiƒs Demo- schen Partei Serbiens Zuflucht, sche Geheimdienst Jugoslawiens versucht kratischer Partei (DS) sogar um dort eine neue Karriere haben, die Regierung Djindjiƒ zu stürzen, ein Blutbad nicht mehr aus- aufzubauen.

um Ko∆tunica als neuen serbischen Pre- schließen. FOTOCREDIT Nach der neuen Staatenver- mier an die Macht zu putschen. Enttäuschung über die ver- Djindjiƒ einbarung zwischen Serbien Dazu wurde ein Spionagethriller wie untreute Revolution macht sich Politische Gegner und Montenegro herrscht Panik aus den finsteren Zeiten der Milo∆eviƒ- im Land breit. Von einem bes- Gegenseitiger Hass unter den Genossen. Denn der Ära inszeniert: Fünf Monate hatten die seren Leben ist bisher wenig zu künftige gemeinsame Staatsprä- Agenten des militärischen Abwehrdiens- spüren. Im Belgrader Klinikzentrum für sident wird kaum Kompetenzen haben. tes den ehemaligen Generalstabschef Lungenkranke schleppen die Stations- Die Macht im Land konzentriert sich auf Mom‡ilo Peri∆iƒ ohne Kenntnis seines schwestern ihre Patienten nach wie vor den prowestlichen Pragmatiker Djindjiƒ – Chefs Djindjiƒ observiert. Am 14. März mühsam durch das Treppenhaus, der Lift zumindest bis zu den 2003 vorgesehenen schlug „Kobra“ zu. ist seit zehn Jahren außer Betrieb. Die Neuwahlen. Bis dahin wird das DOS- Die Ko∆tunica unterstehende Eliteein- Schlangen vor Belgrads Suppenküchen Bündnis längst in neue Fraktionen und heit verhaftete den „Spion“ auf frischer werden länger; in Mülltonnen wühlen Koalitionen zerfallen sein. Die nächste Kri- Tat: In einem Restaurant nahe Belgrad soll hungrige Rentner und Arbeitslose. „Wenn se steht bereits vor der Tür: Sollte Ko∆tu- der 1998 von Milo∆eviƒ gefeuerte Gene- ich die Morgenzeitungen lese“, sagt der 32- nica den Chef des militärischen Ge- ral dem CIA-Balkanbeauftragten John Da- jährige Kriegsinvalide Bata, „finde ich statt heimdienstes und Verantwortlichen für die vid Neighbor geheime Militärdokumente Zukunftsperspektiven Sex-Skandale unse- Peri∆iƒ-Affäre, Aleksandar Tomiƒ, nicht übergeben und im Gegenzug den Erhalt rer Minister, angebliche Mordpläne unserer auswechseln, will Djindjiƒ jede Zusam- einer „größeren Menge Dollar“ bestätigt DOS-Führer und das Gerücht, unser Pre- menarbeit mit dem jugoslawischen Präsi- haben. mier Djindjiƒ sei Pate des berüchtigtsten denten einstellen. Renate Flottau

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Werbeseite sondern ein mysteriöser Mann na- FRANKREICH mens Robert Barcia, 73, Deckname „Hardy“, der seine Genossen wie Treue Soldatin eine militärische Einheit mit puri- tanischem Rigorismus und eiserner Disziplin führt. der Revolution Aber Arlette ist ein Star, eine Re- volutionärin, vor der sich niemand Als Pasionaria der Armen lehrt fürchtet, ausgenommen natürlich die anderen Präsidentschaftskandi- die Trotzkistin Arlette Laguiller bei daten, denen sie „Pickel ins Gesicht der Präsidentenwahl Sozialisten treiben“ möchte, und am meisten und Kommunisten das Fürchten. der Chef der Kommunistischen Par- tei, Robert Hue, 55. Den hält Ar- lle nennen sie nur liebevoll beim lette für einen bloßen „Verwalter Vornamen. Zum fünften Mal stellt des Kapitalismus“, der die Arbeiter Asich „Arlette“ als Präsidentschafts- längst verraten habe, um sich der kandidatin zur Wahl, „immer im Lager der Linksregierung des sozialistischen

Arbeiter“. Eine solche Ausdauer ist auch in PRESS / SIPA SICHOV Premiers Lionel Jospin als Koali- Frankreich, wo politische Karrieren schier Kandidatin Laguiller tionspartner andienen zu können. ewig währen, ein Rekord: Amtsinhaber Programm von umwerfender Schlichtheit Nach dem Tod des Präsidenten Jacques Chirac tritt erst das vierte Mal an. Georges Pompidou 1974 hatte „Har- Aber Arlette wirkt frisch, sympathisch geriet ihr Vater in deutsche Kriegsgefan- dy“ die geniale Idee, seine treue Soldatin und unverbraucht, während Chirac sich genschaft. Als er zurückkam, war er nur Arlette als erste weibliche Präsident- ganz gegen sein Naturell seltsam passiv noch beschränkt arbeitsfähig. Zum Monats- schaftskandidatin Frankreichs ins Rennen verhält. Meinungsumfragen sagen ihr bis zu ende ließ die Familie bei den Geschäfts- zu schicken. Für große Teile der Öffent- neun Prozent der Stimmen voraus, so viel leuten anschreiben. Fleisch gab es selten, lichkeit wurde sie zum Symbol des Kamp- wie noch nie. der Metzger gewährte keinen Kredit. fes für die Gleichstellung der Geschlechter: Dabei gehört Arlette Laguiller, 62, einer Als Mädchen wollte sie Lehrerin wer- „O ja“, sagte sie in ihrer ersten Fernseh- ausgestorbenen Art an. Sie ist Trotzkistin, den, schaffte aber die Aufnahmeprüfung ansprache, „ich bin eine Frau, und ich unbeirrbar und unerbittlich. Sie hebt die nicht. So fing sie mit 16 als Tippse bei der wage es, mich als Bewerberin für die Prä- Faust zum Gruß, ihre Reden beginnt sie damals staatlichen Großbank Crédit Lyon- sidentschaft dieser Republik von Männern seit 30 Jahren mit der Formel: „Arbeiter, nais an. Für eine schlecht bezahlte Ange- vorzustellen.“ Die Frauen seien es, welche Arbeiterinnen!“ Zum Abschluss singt sie stellte aus ihrem Milieu wären zu jener Zeit die Linke voranbringen könnten, denn „die die Internationale, und ihr Programm ist die KPF und deren starke Gewerkschaft Frauen, auch die der Bourgeoisie, sind Op- von umwerfender Schlichtheit. fer dieser Ausbeutergesellschaft. Erster Punkt ihres Glaubensbekenntnis- Allez Arlette! Manche sitzen im goldenen Käfig, ses: Unternehmen, die Gewinne machen, Prognose aber es bleibt ein Käfig“. Abschneiden Arlette Laguillers 2002 dürfen niemanden entlassen. Zweitens: bei französischen Präsidenten- Tatsächlich zeigen Umfragen, dass auch im jetzigen Wahlkampf Wenn Unternehmen keine Gewinne mehr wahlen 9 % machen, dürfen sie auch niemanden ent- 1995 eine Mehrzahl von Frauen ihre lassen, außer den Spitzenmanagern, denn Interessen am besten bei Arlette 1974 1981 1988 5,3 % die haben versagt. Drittens: Um die Verlus- aufgehoben wähnt. Wahlforscher te zu decken, müssen Aktionäre und Ge- 2,3 % 2,3 % 2,0 % haben herausgefunden, dass sie sellschafter zuvor entnommene Gewinne Quelle: selbst in konservativen ländlichen Ifop zurückerstatten. Um das kontrollieren zu Kleinkommunen vereinzelte Stim- können, sollen das Geschäfts- und das men bekommt – vermutlich von Bankgeheimnis aufgehoben werden. Vier- CGT die natürliche Heimstatt gewesen. grollenden Frauen, die ihrem Unterdrücker tens: Wenn nichts mehr hilft, beschlag- Aber der Ungarn-Aufstand 1956 und der eins auswischen wollen. nahmt der Staat das Unternehmen. Algerien-Krieg, den die französischen Dass ihr Kommunismus Zukunft hat, Alles klar? Die Zuhörer auf ihren Kund- Kommunisten damals nicht rundheraus steht für Arlette außer Frage, denn „so- gebungen, und sie füllt fast täglich die Säle verurteilten, bewahrte sie vor dem menta- lange die kapitalistische Gesellschaft am mühelos, finden es jedenfalls einleuchtend. len Anschluss an die Sowjetunion. Leben ist, wird der Kommunismus nicht Arlette spricht zu den Mühseligen und Be- Dennoch wollte sie Kommunistin sein, sterben“. Die Linke macht das nicht froh. ladenen, eine Pasionaria der knapp neun im Klassenkampf mitmischen und die Dik- Zwischen dem Sozialisten Jospin und dem Millionen Franzosen, die sich abrackern tatur des Proletariats anstreben – und so Gaullisten Jacques Chirac erkennt Arlette und doch zur Armut verurteilt bleiben. schloss sie sich „Voix ouvrière“ (Arbeiter- Laguiller nur unwesentliche Unterschiede. Ihre Stimmenkurve weist aus, dass sie ent- stimme) an, einer trotzkistischen Splitter- Deshalb wird sie nicht dazu aufrufen, im täuschte Linke an sich bindet und vom gruppe, die nur über einige hundert Mit- zweiten Wahlgang für Jospin zu stimmen. unaufhaltsamen Niedergang der Kommu- glieder verfügte. Viele ihrer Wähler werden sich enthalten, nistischen Partei profitiert. Die Partei, die sich nach einem Verbot was Jospin den Sieg kosten könnte. Ihr ganzes Leben hat sie in Les Lilas zu- 1968 in „Lutte ouvrière“ (Arbeiterkampf) Noch schlimmer dürfte es Hue ergehen. gebracht, einer östlichen Vorstadt von Pa- umbenannte, ist auch heute noch ein Es gilt als sicher, dass Arlette diesmal im ris, die noch in den fünfziger Jahren ein schwer durchschaubarer Verein mit einem ersten Wahlgang ein besseres Ergebnis er- Slum war und heute mit Mietskasernen zu- harten Kern von kaum mehr als tausend zielen wird als der verachtete KP-Chef. Für betoniert ist. Mit ihren Eltern und zwei militanten Anhängern. Die Parteitage fin- sie wäre das ein historischer Triumph. Für Brüdern wohnte sie in einem Zimmer; die den hinter verschlossenen Türen statt, als die KP aber, die ohnehin ums Überleben Spüle in der Küche bot die einzige Wasch- Adresse wird nur ein Postfach angegeben. kämpft, hätte wohl das Totenglöcklein gelegenheit. Kurz nach ihrer Geburt 1940 Der wirkliche Chef ist gar nicht Arlette, geläutet. Romain Leick

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Später verkündete der britische Europa- schließen. Die Zermürbungstaktik war er- SPANIEN minister Peter Hain, was den Außenminis- folgreich, denn die Labour-Regierung von ter Piqué – vermeintlich bei Geheim- Tony Blair gibt nun endlich nach. Seit Klippe auf verhandlungen ertappt – hatte erbleichen November führen beide Außenminister lassen: Die Europäische Kommission über- Verhandlungen über eine gemeinsame legt, erstmals 56 Millionen Euro aus den Souveränität. der Kippe Strukturfonds gemeinsam an Gibraltar und Den Briten ist der Felsen ohnehin stra- sein verarmtes Gegenüber auf der spani- tegisch nicht mehr wichtig. Und seit An- Entsteht bei Gibraltar Südeuropas schen Seite fließen zu lassen. Gibraltar fang der sechziger Jahre verlangt die Uno könnte zusammen mit Algeciras den größ- von ihren Mitgliedstaaten die Aufgabe der größter Container- ten Containerhafen ganz Südeuropas er- Kolonien. Blair will sich jetzt seine guten Hafen? Briten und Spanier halten. Beziehungen zum spanischen Regierungs- haben große Pläne. Was die 30000 Bewohner der Felsen- chef Aznar nicht länger trüben lassen. Al- klippe von dem Deal halten, zeigten sie lerdings hat Großbritannien den Gibralta- er Minister mit den dünnen Lippen am vergangenen Montag mit der massivs- rern in der Präambel zu ihrer Verfassung und den stets nach hinten gegelten ten Demonstration, die der Stadtstaat je von 1969 versprochen, nichts gegen ihren DHaaren wurde blass, als er die auf erlebte. Veteranen der britischen Armee, Willen zu entscheiden. Englisch gestellte Frage hörte. „The Rock“, Unternehmer, Arbeiter und sogar der ka- „Wir wissen gar nicht, ob wir für die Bri- stöhnte Josep Piqué, Spaniens Außen- tholische Bischof schwenkten Union Jacks ten nicht bloß noch eine Last sind“, sorgt minister gequält. Sollte er tatsächlich selbst und weiß-rote Flaggen Gibraltars. „Ich bin sich der frühere sozialistische Regierungs- auf dem EU-Gipfel in Barcelona nicht vor als Brite geboren und will als Brite ster- chef Gibraltars, Joe Bossano. Seine bri- der Gibraltar-Lobby sicher sein? Erleichtert ben“, bekannten viele Demonstranten auf tischen Freunde von Labour, so der al- stellte er fest, dass es dem Frager nicht um Transparenten. te Mann mit dem dicken grauweißen Schnurrbart, hätten ihn gebeten, „Blair ei- nen Vertrauensvorschuss zu geben“. Da- von will der kämpferische Nachkomme von Genuesern und Portugiesen, der als Jüngling für die Handelsmarine zur See gefahren war, nichts wissen. „Wir werden die Abmachung sabotieren“, verheißt er, „der spanisch-britische Pakt wird am Fel- sen zerschellen.“ Bossanos politischer Gegner von den Sozialdemokraten, Chief Minister Carua- na, droht mit einem Referendum. Bei der letzten Volksbefragung 1967 wollten nur 44 von 12182 Bürgern Spanier werden. Bislang sehen die Felsen-Bewohner kei- nen Vorteil in der Angliederung an Spa- nien. Sie haben jetzt schon mehr Autono- mie als das Baskenland oder Katalonien. Gibraltar genießt Steuerprivilegien, die 28500 registrierte Finanzgesellschaften und 8800 Briefkastenfirmen angelockt haben. Das Finanzbusiness sorgt für 30 Prozent des Bruttoinlandsprodukts von Gibraltar. Großbritannien werde in Gibraltar bald

R. PERALES / AP R. PERALES die Möglichkeiten beschneiden, Anlegern Demonstranten in Gibraltar: „Als Brite geboren, als Brite sterben“ und Spekulanten Steuervorteile zu ge- währen, drohen indes britische Verhand- den vermaledeiten Felsen ging, sondern Seit Gibraltar 1713 an Großbritannien lungsführer. Weil die spanische Regierung bloß um „Irak“. abgetreten wurde, versucht die spanische Gibraltar als Schlupfwinkel für organisier- Der freudsche Verhörer war wohl be- Krone, es zurückzugewinnen. Sie beruft tes Verbrechen und Geldwäsche anklagt, gründet. Denn über den 6,5 Quadratkilo- sich auf eine Klausel, die ihr ersten Zugriff hat Chief Minister Caruana gerade der meter großen Wurmfortsatz Spaniens am zusichert, sollten die Briten den Hoheits- OECD zugesichert, bis 2005 die Gesetze Südzipfel Europas wurde tatsächlich in anspruch abtreten. anzupassen. Dann können ausländische Barcelona hinter verschlossenen Türen ge- Von 1968 an machten die Spanier Druck, Steuerflüchtlinge hier nicht mehr so leicht sprochen. Der zu Großbritannien gehören- indem sie die Grenze völlig schlossen. Erst ihr Geld in Sicherheit bringen. de Stachel im spanischen Nationalbewusst- seit 1985, als Spanien in die Europäische Europaminister Peter Hain versucht sein tauchte sogar in der Schlusserklärung Gemeinschaft aufgenommen werden woll- nunmehr den störrischen Klippenbewoh- des Europäischen Rats auf, die Gastgeber te, können die Gibraltarer wieder auf dem nern klar zu machen, dass ihre wirtschaft- José María Aznar stolz verlas. Landweg nach Spanien einreisen. liche Zukunft vom Pakt mit Spanien ab- Die EU-Mitgliedstaaten bekundeten dar- Für die spanische Regierung ist Gibral- hängt: Der Flughafen könnte ausgebaut in Unterstützung für den Entschluss Spa- tar als letzte Kolonie in Europa ein werden, eine Wasseraufbereitungsanlage niens und Großbritanniens, nach fast 300 Skandal. Deshalb war Madrids Taktik, die auf spanischem Terrain entstehen. Doch Jahren Zank noch vor den Sommerferien restlichen EU-Staaten mit immer neuen dazu müssten die Gibraltarer den Boykott ein „globales Übereinkommen“ über Gi- Forderungen zu nerven, Gibraltar von aufgeben, so Hain, „sich mit an den Tisch braltars Zukunft anzustreben: Beide EU- europäischen Projekten wie der gemein- setzen und reden, statt in den Straßen rum- Länder könnten sich die Souveränität teilen. samen Nutzung des Luftraums auszu- zuschreien“. Helene Zuber

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Protagonisten der Politik ITALIEN werden könnten. Deren Anschläge, mal mit linken, Die gleiche mal mit rechten Phrasen verbrämt, kosteten in den vergangenen 33 Jahren 420 Pistole Menschen das Leben. Et- wa 1200 wurden verletzt. Hunderttausende drängen auf Auch die vor Bologna letzte Bluttat der Roten Bri- die Straßen: Der Protest gegen gaden, im Mai 1999 in Rom, einen Regierungschef mit hatte einen Arbeitsrechts- Allmachtsanspruch wächst ebenso experten und Regierungs- wie die Angst vor neuem Terror. berater getroffen, Massimo D’Antona. Auch der war ie Mörder kamen per Motorroller, damit befasst, den gesetzli- ihr Opfer auf dem Fahrrad: Vori- chen Kündigungsschutz zu Dgen Dienstag, abends um 20.05 Uhr, überarbeiten. Er wurde mit streckten zwei junge Männer den Arbeits- der gleichen Pistole vom rechtsprofessor Marco Biagi vor seiner Kaliber 9 Millimeter nie- Haustür im Zentrum Bolognas mit Pisto- dergeschossen wie jetzt

lenschüssen nieder. Per Internet rühmten / AP FERRARI PAOLO Biagi – gewiss kein Zufall. sich die „Roten Brigaden – Kämpfende Mordopfer Biagi, Freund Prodi (1997): Konsens der Parteien Doch 1999 regierte eine Kommunistische Partei“ auf 26 Seiten ihrer Mitte-links-Regierung in Tat: Einen Handlanger „des bürgerlichen praktizierter Einigkeit acht Stunden lang Rom, geführt von dem Postkommunisten Kapitalismus“ hätten sie hingerichtet, ei- alle Räder stillstehen lassen: Generalstreik Massimo D’Alema. Im breiten Konsens der nen wichtigen Exponenten des „Reformis- gegen die „hire and fire“-Politik des Minis- Parteien und Sozialpartner sollte damals mus“, der sich gegen die Arbeiterklasse terpräsidenten. Das politische Klima in Ita- das Arbeitsrecht reformiert werden. Der organisiert habe. lien ist rau geworden. Mord an D’Antona zielte auf die als Verrat Hochschullehrer Biagi war im Nebenjob Der Biagi-Mord hat es nun zusätzlich ver- empfundene Einmütigkeit. Berater des römischen Arbeitsministers. giftet. Das Attentat sei „die Frucht des Has- Heute dagegen regiert die Rechte, und in Dessen Gesetzesvorhaben, Kündigungen ses“, den seine Gegner im Lande säten, den Straßen marschieren nicht nur die Ge- werkschaften gegen Berlusconi. Die politi- sche Harmonie, welche die Killerbrigaden hassen und deshalb stören wollen, die gibt es gar nicht. Im Gegenteil, seit Wochen wächst die Zahl derer, die sich in vielen italienischen Städten zu phantasievollen Protest-Hap- penings einfinden: hier gegen Berlusconis Zugriff auf das staatliche Fernsehen, einzig relevante Konkurrenz seiner eigenen TV- Kanäle, dort gegen seine Attacken auf die Justiz und den Rechtsstaat. Bieder, mit einem „girotondo“, einem „Ringelreihen“, hatte es begonnen, erst mit ein paar hundert Mailändern, dann mit ein paar tausend Römern: eine Menschen- kette rund um den römischen Justizpa- last, symbolisches Händchenhalten gegen den machtversessenen Milliardär. Ende Fe- bruar schließlich drängten sich 40000 in Mailand, 30 000 in Neapel. Von den „Schwarzen Blocks“ fehlt jede Spur – das brave Bürgertum gibt den Ton an, oft in Anzug und Krawatte, viele im Vorruhe- standsalter.

STEFANO RELLANDINI / REUTERS RELLANDINI STEFANO Ausgerechnet die Schwäche der Oppo- Anti-Terror-Demonstration in Bologna: Die braven Bürger geben den Ton an sition hat die Protestwelle gegen die Re- gierung ausgelöst. Nanni Moretti, Italiens von Arbeitnehmern zu erleichtern, um da- schob Regierungschef Silvio Berlusconi Ge- erfolgreichster, zuletzt in Cannes hoch prä- durch möglicherweise die Angstschwelle werkschaften und Oppositionellen Mitver- mierter Filmregisseur, gab das Signal – eher der Unternehmer vor Neueinstellungen zu antwortung zu. Die hieben kräftig zurück zufällig. senken, hat Biagi mitformuliert. und sahen sich gleichwohl in der Pflicht, ihre Am 2. Februar stand der schüchterne Gegen das Gesetz laufen die Gewerk- Demonstrationen gegen Berlusconi fortan und stille Filmschaffende mit anderen An- schaften seit Wochen Sturm. Hunderttau- mit Protesten gegen den Terror zu verbinden. hängern des „Ulivo“-(Ölbaum-)Opposi- sende protestierten vorigen Samstag in Überall im Land wächst die Sorge, dass tionsbündnisses auf der römischen Piazza Rom. Im April wollen die drei großen Ar- wieder einmal Pistoleros und Bombenleger Navona und ärgerte sich wieder einmal beitnehmerverbände in seit Jahren nicht mit ihren mörderischen Aktivitäten zu maßlos über die Redner. Seit ihrer Wahl-

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Werbeseite niederlage im vorigen Mai scheint die Op- position unter politischem Mehltau zu lie- gen. Sie rafft sich nur noch auf, wenn es gilt, sich im Streit um Pöstchen mit maso- chistischer Hingabe selbst zu zerfleischen. Moretti drängte sich spontan ans Mikro- fon, für eine kurze Bemerkung, wie alle dachten. In 2 Minuten und 20 Sekunden vernichtete er die Ulivo-Führung en bloc. Mit solchen Figuren, so sein Fazit, „werden wir nie gewinnen“. Als ob alle auf das Signal gewartet hät- ten, riefen von Stund an gerühmte Geis- tesgrößen, vom Literatur-Nobelpreisträger Dario Fo bis zum Krimi-Bestsellerautor Andrea Camilleri, Uni-Dozenten und Sän- ger, aber auch spontan formierte Mini-Zir- kel von Anwälten oder Ärztinnen überall in Italien zum außerparlamentarischen

Amateur-Protest gegen Berlusconi. ZEITUNG / BILD THELEN ANDREAS Der Mord in Bologna sei auch deren Angeklagte Bohl, Freund Mahdi: „Wie im Alptraum“ Saat, hetzte der attackierte Regierungschef gegen die ungeliebte Bewegung. Für ver- gangenen Samstag setzte er ein Staats- SINGAPUR begräbnis für den ermordeten Biagi an: in Rom, um die Massen-Demonstration der Gewerkschaften zu konterkarieren. Er „Papagei und graue Maus“ wolle, so Berlusconi, die Straßen der ita- lienischen Hauptstadt nicht seinen Geg- Die deutsche Schülerin Julia-Susanne Bohl kann dem Galgen in nern überlassen. Aber die Sache ging schon im Vorfeld schief. Singapur nur mit viel Glück entgehen. Die Tochter aus gutem Die Familie des Ermordeten lehnte das Hause geriet in schlechte Gesellschaft mit einem tödlichen Umfeld. Zeremoniell dankend ab. Wäre Biagi nicht vor ein paar Monaten vom Innenminister ie Deutsche Schule in Singapur ist die Drogenanalyse des Ge- die Leibwache gestrichen worden, obwohl eine Oase der Heimat in den Tro- sundheitsdienstes. die Sicherheitsdienste ihn als höchst ge- Dpen. An den Türen der Vorschule Denn neben einem Sam- fährdet einstuften, lebte er womöglich steht: „Pippi Langstrumpf“ und „Taka- melsurium von Partydrogen, noch. Und ein politischer Anhänger Ber- Tuka-Land“. Die Kindergartengruppen die bei einer Razzia in ihrer lusconis war Biagi so wenig wie D’Antona, heißen „Zaubersterne“ und „Dschungel- Wohnung Nummer 04-05 in befreundet war er hingegen mit dem Ber- kinder“. Aus den Klassenzimmern fällt der der abbruchreifen Wohnan- lusconi-Gegenspieler, früheren Minister- Blick der gut 550 Schüler direkt in den lage „Balmoral Court“ si- präsidenten und heutigen Präsidenten der feucht dampfenden Urwald. Eine Art chergestellt wurden, fand EU-Kommission, Romano Prodi. Traumschiffkulisse für behütete Kinder sich auch eine Cannabisplat- Wer das Morden jener vorgeblich lin- von Firmenentsandten und Diplomaten. te von 687 Gramm. Sollte der ken Terrortruppe politisch nutzen will, hat Mit Aussicht ins Grüne sitzt Schulleiter Anteil von reinem Haschisch es nicht leicht. Zu absurd sind deren The- Günter Boos, 53, aus Frankfurt am Schreib- bei mehr als 500 Gramm lie- sen, zu breit gestreut der Hass. Im Visier tisch. Er lächelt freundlich und schwitzt. gen, gilt die Berufsschülerin haben sie den Rechtspopulisten Umberto Hinter ihm an der Wand ist ein Sinnspruch Bohl nach den strengen Singapurer Geset- Bossi ebenso wie den neuen Helden der zu lesen: „So mancher akzeptiert die Ket- zen als Drogenhändlerin. Das Gesetz kennt Linken, den Gewerkschaftsführer Sergio te in dem Glauben, an ihrem Ende befin- keine Gnade, sondern nur Gramm. Die To- Cofferati. det sich der Rettungsanker.“ desstrafe durch den Strang im berüchtigten So gehen auch die Menschenketten und Bis zum Mittwoch vorletzter Woche Changi-Gefängnis ist obligatorisch. „girotondi“, nach einer Schrecksekunde, hatte der bekennende 68er noch einen Bei der Vorladung im Amtsgericht ei- weiter. Schon haben sie die Landesgrenzen Traumjob. Sicher, Singapur ist kein Hort nigten sich Verteidigung und Staatsanwalt- überschritten. In Paris, beim Büchersalon westlicher Demokratie. Doch sein größtes schaft vorigen Freitag darauf, die nächste gab es Anti-Berlusconi-Aktionen. In Berlin Problem waren die frechen Affen aus dem Anhörung auf kommenden Donnerstag zu zogen Demonstranten vor dem italieni- nahen Naturschutzgebiet, die den Schülern verschieben. Ob dann das Ergebnis der schen Kulturinstitut auf und wetterten ge- schon mal das Pausenbrot weggrapschen; Cannabisanalyse vorliegt, ist allerdings un- gen Zensur und Pression aus Rom. Die oder dass die Lernanstalt, wie sonst lan- gewiss. Kulturschaffenden haben sich den Zorn ih- desüblich, keinen eigenen Swimmingpool Stattdessen wurde die Anklage um einen rer Regierung zugezogen, weil sie kritische besitzt. Jetzt fühlt der Schulleiter sich „wie Punkt erweitert: In Bohls Urin fanden sich Filme oder Texte aufsässiger Schriftsteller im Alptraum“. Spuren des Halluzinogens Ketamin. Als präsentierten. Bei Androhung personeller Seit die Boos-Schülerin Julia-Susanne Konsumentin dieses Rauschmittels, so die Konsequenzen ist ihren Instituten nun auf- Bohl, 22, vorletzte Woche Agenten des Sin- Hoffnung, könnte die Deutsche vielleicht getragen worden, nur noch Positives aus gapurer Zentralen Rauschgiftbüros (CNB) mit einem geringeren Strafmaß davon- der Heimat zu verbreiten. in die Fänge geriet, ist sie die erste Bürge- kommen. Diese Aufgabe wird gar nicht so einfach rin deutscher Nationalität, der seit über 50 Gleichzeitig übernahm Subhas Anandan zu erfüllen sein: Bella Italia steht vor einem Jahren die Todesstrafe droht. Ein Hoff- die Verteidigung der jungen Deutschen. heißen Frühjahr. Hans-Jürgen Schlamp nungsanker der jungen Frau ist nur noch Der strenggläubige Hindu ist der renom-

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mierteste Strafverteidiger der 4,1-Millio- gang war mit stattlichem Auslandsgehalt nen-Stadt. Seit Januar betreut er einen der als Bodeningenieur der Lufthansa ent- al-Qaida-Anhänger, die geplant hatten, die sandt. Das ermöglichte ein Leben in der US-Botschaft in die Luft zu sprengen. geräumigen Wohnanlage „La Suisse“. Die Wenn letzte Woche Eltern auf dem Jahrbücher der Deutschen Schule zeigen Schulgelände zusammenstanden, gab es Julia bis zum Abitur 1998 immer lächelnd, nur eine Frage in der heilen Tropenwelt: die Haare meist streng zum Pferdeschwanz Was lief falsch bei Julia? Alle beschrieben zusammengebunden. die junge, zierliche Frau als „intelligent Einmal im Jahr besuchten Beamte der und höflich“. Anti-Drogen-Behörde CNB die Deutsche Bei denen, die länger in Asien sind, rief Schule Singapur und klärten über die Fol- der Fall Bohl schlimme Erinnerungen wach. gen von Rauschgiftmissbrauch auf. Zuletzt Dass in dieser Region Deutsche mit Drogen geschah das im Juni vergangenen Jahres, in Schwierigkeiten geraten, ist nichts Neu- kurz vor dem 22. Geburtstag der Berufs- es. Der spektakulärste Zugriff ereignete schülerin. Nur einmal pro Woche kam Ju- sich am 20. November 1983. Damals stürm- lia jetzt noch in die Schule. ten malaysische Polizisten bei Nacht das Den praktischen Teil ihrer Ausbildung Hotelzimmer des deutschen Globetrotters zur Groß- und Außenhandelskauffrau ab- Frank Förster in Georgetown. solvierte sie für ein Salär von 600 Singapur- Auf seiner Reisetasche lagen drei Kon- Dollar in der Südostasienzentrale von dome in einem Plastikbeutel, in ihnen wa- DaimlerChrysler. Welche Ironie: Sie wur- ren 239,7 Gramm Haschisch. Nach über de noch vom Steuerflüchtling Ludwig-Hol- drei Jahren nervenaufreibender Unter- ger Pfahls eingestellt. suchungen und Gerichtsverhandlungen Ihren Freundeskreis hatte sie jetzt kaum konnte Förster nur dem Galgen entgehen, noch in der Schule. Der Vertrag des Vaters weil zwei Zimmergenossen, die längst das war ausgelaufen, die Ehe zerbrach, der Land verlassen hatten, die Verantwortung Vater ging nach Deutschland zurück. für den Drogenbesitz übernahmen. Mutter und Tochter blieben und genossen In Thailand, Hort für Aussteiger und die Tropen. Doch das Verhältnis war ge- Sextouristen aus Europa, sitzen derzeit spannt. mehr als 30 Deutsche in Haft. 16 davon Bald zog Julia-Susanne Bohl mit Freund sind mit den strengen Drogengesetzen in Mahdi Bin Ibrahim, 21, zusammen, einem Singapurer malaiischer Abstammung. Der Name bedeutet: „Der von Gott Gesandte, Sohn Ibrahims“. Aber der auffällige Mah- di, der sich von seinen ausländischen Freunden nur „Ben“ nennen lässt, brach- te der jungen Frau Unglück. Zu ihrer Abschlussfeier im Hilton-Hotel am 22. Februar tauchte Julia-Susanne Bohl vor Daimler-Management, Geschäfts- träger der Deutschen Botschaft und Schul- direktor Boos mit dem neuen Lover auf. Sie im grauen Kostüm, er im bunten Sei- denfrack, blond gefärbtem Haar und mit

NAASHON ZALK NAASHON Ziegenbärtchen. Es wirkte, so ein An- Changi-Gefängnis wesender, wie „brave, graue Maus und Das Gesetz kennt keine Gnade, nur Gramm Papagei“. Im Hotelfoyer warteten die Rauschgift- Konflikt geraten. Sie vegetieren in Mas- fahnder geduldig auf das ungleiche Paar. senzellen mit oft bis zu 100 einheimischen Nach einem Hinweis stand es rund um die Häftlingen. Uhr unter Beobachtung. Mahdi Bin Ibra- In fast jedem Land der südostasiatischen him verfügt über ein einschlägiges Vor- Region wird Drogenhandel mit Todesstra- strafenregister. fe geahndet. Über die strengsten Gesetze Der Zugriff erfolgte in der milden Tro- verfügt aber Singapur. Denn seinen Auf- pennacht vom 13. März. Seitdem sitzt die stieg vom Piratennest zum Industriezen- junge Frau in einer kleinen Zelle der Sin- trum mit westlichem Lebensstandard hat gapurer Anti-Drogen-Polizei. Das ist die die autoritär geführte „Löwenstadt“ der Behörde, die einmal jährlich auch zum Auf- Beibehaltung des britischen Kolonialrech- klärungsunterricht in der Deutschen Schu- tes zu verdanken. Der Gebrauch einer le erschienen war. Schusswaffe führt genauso automatisch zur Im Eingang des Gebäudes warnt ein bun- Todesstrafe wie der Besitz von mehr als 15 tes Poster vor dem Genuss von Rauschgift: Gramm Heroin oder einem halben Kilo- „Deine Zukunft ist in unserer Hand.“ Dar- gramm Haschisch. unter sind zwei Hände, die mit einer Hand- Julia-Susanne Bohl wusste über die schelle zusammengekettet sind. Das konn- strengen Drogengesetze Bescheid. Sie lebt te Julia-Susanne Bohl nicht mehr sehen. seit 1995 in Singapur, ein behütetes Mäd- Sie wurde gefesselt durch die Hintertür in chen aus begütertem Hause. Vater Wolf- das Gebäude gebracht. Jürgen Kremb

der spiegel 13/2002 169 THOMAS GRABKA THOMAS Architekt Breshna an der Maiwand-Straße in Kabul: Lehmbraune Wüstenei, hundertmal von Granaten und Raketen durchwühlt

AFGHANISTAN Die Friedensware Lehm Kabuls Chefplaner hat in Karlsruhe studiert und dort den Bürgerkrieg überdauert. Nun will er Exil-Kollegen zur Rückkehr in die Heimat ermutigen – und geht mit gutem Beispiel voran.

in alter Mann steht auf einem Rui- Afghanistan aber blühte unter König Zahir sende Afghanen monatelang mit dem Auf- nenhügel mitten in Kabuls Altstadt. Schah gerade erst auf. Die Kinder, die hier räumen beschäftigen muss“. EEr trägt nicht den einheimischen im Kriegsmüll spielen, würden sich aus- Diplomingenieur Abdullah Breshna, 69, Shalwar, sondern ausgesuchtes europäi- schütten vor Lachen, würde er ihnen vom ist ein Mann vom Fach. Acht Jahre lang sches Tuch: eine feine olivgrüne Cordhose, bunten, brodelnden Kabul der vierziger hat er im deutschen Karlsruhe Architektur darüber ein braunes Jackett und einen Jahre vorschwärmen. und Städtebau studiert, unter seinem be- eleganten beigefarbenen „Gilberto“-Wild- Die Reise in die Vergangenheit fällt rühmten Lehrer Egon Eiermann an der ledermantel. Ein Afghane, zweifellos, sa- schwer, kaum eines der alten Bilder lässt Berliner Gedächtniskirche mitgebaut, nach gen sich die Leute, die vorübergehen. Aber sich wiederbeleben. Breshna hat es schon seiner Rückkehr 1961 im Ministerium für keiner von hier. während der Annäherung an Kabul ge- öffentliche Arbeiten einen Job als Hoch- Abdullah Breshna stöbert in seiner Ver- merkt: Auf der aus Jalalabad kommenden bau-Spezialist bekommen und dann – als gangenheit. „Hier irgendwo“, sagt er un- Straße gibt es kein Fitzelchen Asphalt Erster überhaupt – Kabuls Zukunft ge- sicher, „muss der Chahr-Chatta gewesen mehr, auf einem riesigen Blechfriedhof am plant. sein, der berühmte Vier-Dächer-Basar.“ Stadtrand ruhen die al- Den hätten zwar schon die rachsüchtigen ten Oberleitungsbusse, Briten 1842 nach ihrer Niederlage im ersten wilde Notbauten ziehen Krieg gegen die Afghanen niedergebrannt, sich die Hügel hinauf, aber Breshna hat immerhin noch die Reste die Straßen aber sind gekannt. Jetzt liegt zu seinen Füßen eine mit den schmutzstarren- lehmbraune Wüstenei, hundertmal von den Wägelchen der Granaten und Raketen durchwühlt. Kleinhändler zugestellt. Auch von seinem Geburtshaus unter- Breshna hielt sich für halb des Forts Bala Hissar findet sich kei- vorbereitet, in Europa ne Spur. Nur die große Ruine neben einem hat er Bilder aus dem Bombentrichter voller Wasser kommt zerbombten Kabul stu- Breshna bekannt vor. Es sind Überbleibsel diert. Aber dass diese des Behzad-Kinos, benannt nach jenem einst farbenprächtige Miniaturen-Maler, durch den im 15. Jahr- asiatische Metropole so hundert Herat berühmt wurde. Als Kind barbarisch heimgesucht ist der alte Mann jeden Freitag ins Behzad worden ist – „nein“, sagt gegangen. er, „das habe ich nicht

Das war Anfang der vierziger Jahre, da- gedacht. Und sie ist so DI LAURO / AP MARCO mals versank das ferne Europa im Krieg. dreckig, dass man Tau- Kinder in der Altstadt: Viertel der Dichter, Maler und Musiker

170 der spiegel 13/2002 Ausland

Das Villenviertel für die Reichen in Wa- terialien ins Land verschickt, damit am 23. sir Akbar Khan – in dem Ex-König Zahir März das neue Schuljahr beginnen konnte. Schah nun wieder Einzug hält – ist auf sei- Aus Pakistan kommen für 90 Kilometer nen Reißbrettern entstanden. Außerdem Straßenlampen, um das nachts stockfins- das Riesenquartier für 25000 arme Fami- tere Kabul auszuleuchten. Und mit sie- lien im Norden, die Kabuler Markthallen, ben Millionen Euro werden Trinkwasser- öffentliche Bauten in Herat und Jalalabad. pumpen wieder flottgemacht, die vor 30 Als die Russen Babrak Karmal als Staats- Jahren mit deutscher Hilfe gebaut wurden. chef installierten, war Breshna der wich- Kurzatmige humanitäre Unterstützung, tigste Baufachmann in ganz Afghanistan. die aus dem Gröbsten heraushilft – mehr ist Damals, als die sowjetische Invasion be- das nicht. Die Interimsregierung hofft eher gann, flüchtete er wie ein Nomade – mit auf große Wiederaufbauprojekte, die die Frau, Kindern und zwei Säcken – nach Deutschen aus dem Topf der in Tokio ver- Deutschland, zurück nach Karlsruhe. sprochenen Hilfsgelder finanzieren. Dort hat ihn im Februar der Hilferuf des Immerhin waren Vertreter wichtiger Fir- neuen Städtebauministers erreicht: Er wis- men schon da, um die Wunschlisten der se nicht, wo anfangen beim Wiederaufbau, Afghanen zu studieren. Siemens, das in Breshna möge kommen und helfen. „Noch den sechziger Jahren am Hindukusch das am Telefon habe ich zugestimmt“, sagt der Telefonnetz installierte, soll die gekappte Architekt, der zuletzt Gastprofessor in Kommunikation zwischen Kabul und den Stuttgart und Karlsruhe war. Er hat seine Provinzen wiederherstellen und die einst in Medikamente geschnappt, das Hörgerät, eigener Regie gebauten Wasserkraftwerke ein paar Lebensmittel und die fürs heutige von Mahipar und Sarobi retten. Kabul viel zu guten Sachen. Fachleute der Baufirma Hochtief haben Nun stapft er über die Schlachtfelder den Zustand der Piste zwischen der Haupt- des 23-jährigen Bürgerkriegs und überlegt, stadt und Jalalabad dokumentiert, des völ- wie die alten Bilder von der heilen Stadt lig zerstörten Highways ins benachbarte mit den Bedürfnissen der Überlebenden Pakistan. Das Projekt zum Neubau liegt zusammenzubringen sind. bereits vor, das Konsortium aus Hochtief, Der Schlüssel liege in Deutschland, Züblin und Papenburg wartet nur auf die glaubt Breshna. Bei den Exil-Afghanen, Entscheidung von Premier Hamid Karzai. die wie er die letzten Jahrzehnte im Westen DaimlerChrysler schließlich will eine verbracht haben und dort mit privaten Fir- Mechaniker-Werkstatt nach Kabul bringen, men erfolgreich geworden sind. Er will sie um 50 afghanische Fachleute auszubilden. nach Hause locken, „zumindest für eine „Was nutzt es, wenn der Betrieb neuer An- Übergangszeit“, sagt er. Aufbauhilfe als lagen nicht für längere Zeit sichergestellt Mix aus abendländischem Know-how und wird“, bemängelt Projektmanager Martin genuiner orientalischer Landeskenntnis. Jenner von der Kreditanstalt für Wieder- Die Deutschen selbst sind seit Wochen aufbau ziellose Geberlaunen. Zwar flicke schon in Kabul. Von einem Haus im Vier- man nun das Wassernetz, doch in Kabul tel Wasir Akbar Khan aus kurbelt die Kre- werde Trinkwasser noch immer kostenlos ditanstalt für Wiederaufbau Hilfsprojekte verteilt. „Die Wasserwerke aber können an. Gerade erst brachte ein Flieger für ihren Mitarbeitern nicht mal Gehalt zahlen. 128000 Euro Medikamente in die Stadt. Ändert sich das nicht, liegt in fünf Jahren Die Kinderchirurgen im Indira-Gandhi- alles wieder am Boden.“ Krankenhaus profitieren davon, zwei Tu- Das eben ist die Sorge des heimgekehr- berkulose-Hospitäler, eine Augenklinik. ten Städtebauers Abdullah Breshna. Ihn Mit deutschem Geld wurden marode schmerzen nicht so sehr die Wunden, die Mädchenschulen repariert und Schulma- der Krieg seiner Vaterstadt geschlagen hat, PAOLO KOCH / KEYSTONE ZÜRICH / DPA / KEYSTONE KOCH PAOLO Zentrum von Kabul (1967): Noch vorhandene Fundamente aufspüren

der spiegel 13/2002 171 Ausland ihn schmerzen die seelischen Schäden sei- islamisch geprägte Quartier. Das große ner Landsleute. Viertel hinter dem Kabulfluß, wo Dichter, Gleich nach der Ankunft ist er in sein Maler, Musiker und Zünfte ihre eigenen früheres Architekturbüro geeilt. Die Freu- Quartiere hatten, die Buchverkäufer und de war groß: Er hat viele seiner ehemaligen Parfümhersteller, wo es überall kleine Kon- Mitarbeiter angetroffen. „Aber die Leute zerthäuser und überdachte Basare gab und haben kein Geld, kein Ziel. Sie haben nicht dazwischen blühende Gärten. mal mehr Lust, den Tisch abzuwischen“, Die Altstadt existierte noch, als die Mu- sagt Breshna kopfschüttelnd: „Die haben dschahidin in ihrer politischen Eifersucht sich völlig aufgegeben.“ 1992 begannen, Teile von Kabul dem Erd- Trotzdem erzählt ihnen der Bauprofes- boden gleichzumachen. Breshna hat zwei sor, dass es in seinem Büro im Württem- alte Vermesser gefunden. Die sollen noch bergischen längst keine Reißschienen mehr vorhandene Fundamente aufspüren und gibt und keine Bleistifte wie in Kabul, dass die alten Gassen und Wege rekonstruieren. nur noch am Bildschirm gezeichnet wird. Jedenfalls erst mal auf dem Papier. „Afghanistan muss jetzt mitten in die Com- Ist dieser Gedanke, nur wenige Atem- puterzeit springen, so wie es einst das Zeit- züge nach dem Krieg, nicht purer Luxus? alter der Eisenbahn übersprungen hat“, „Nein, wieso“, erregt sich der sonst ruhi- sagt Breshna. ge alte Herr, „Kabul wird nur durch die- Was ist dringend, was ist wünschens- se Altstadt irgendwann wieder zur Touris- wert, was ist machbar? Der alte Herr aus tenattraktion. Schon früher war es so.“ Karlsruhe diskutiert es jeden Abend auf Aber das würden die Kabuler nicht alleine den Pritschen im provisorischen Nachtquartier mit zwei Archi- tektenkollegen, die er aus Bonn und London mitgebracht hat. Sie sind sich einig, dass zu- allererst der Andrang der Men- schen auf Kabul abgefangen werden muss. 350000 Einwoh- ner hatte die Stadt, als Breshna vom Studium in Deutschland kam. Als er flüchtete, war die Zahl auf 900 000 angewach- sen. Jetzt sollen zwei Millionen die Metropole bevölkern – hun- gernde, frierende und verängs-

tigte Menschen, die der Krieg GRABKA THOMAS ins vermeintlich sichere Kabul Ehemaliger Königspalast: Traum vom afghanischen Ikea schwemmte. Breshnas Schlüsselwort heißt Lehm, or- schaffen. Dazu brauche man den Blick von dinärer Lehm. Mit ihm will er ganze Häu- außen, Leute mit westlicher Erfahrung. ser-Quartiere bauen und dort die Entwur- Exilanten, die wie er in Deutschland le- zelten unterbringen. Lehm sei kein Arme- ben. Die dort Geld gemacht haben, das sie leutewerkstoff, sondern der beste Baustoff in Kabul investieren könnten. überhaupt: „Ökologisch und klimatisch „Bisher warten alle noch ab, sie sind sich sind die Häuser ideal und billig obendrein. unsicher, ob Engagement wirklich schon In ganz Europa wird dazu geforscht.“ lohnt“, sagt Breshna. Viele Afghanen hät- Afghanen bauen schon seit Jahrhunder- ten florierende Firmen in Deutschland und ten kunstvoll mit Lehm. Im trockenen Sü- brauchten Garantien: „Könnten die Deut- den und Westen stehen Häuser mit bis zu schen nicht an dieser Stelle sinnvoll Geld vier Meter breiten Kuppeln und Tonnen- einsetzen – indem sie afghanischen Unter- gewölben, ohne jegliche Schalung errichtet. nehmern die Rückkehr erleichtern?“ Ihr einziger Nachteil: Lehm ist empfind- Er hat Visionen, der fast 70 Jahre alte lich gegen Nässe. Mann. Er selbst wird sie kaum noch ver- Breshna will noch im Frühjahr eine in- wirklichen können. Aber seine vier Kinder ternationale Lehmbau-Werkstatt in Kabul könnten es tun. Zahra, 37, die älteste Toch- veranstalten. Afghanische Baumeister sol- ter, betreibt ein Architektenbüro in Berlin len mit ausländischen Forschern debattie- – sie will über die Kabuler Altstadt pro- ren, wie sich Dächer und Böden der Häu- movieren. Auch Habib, den ältesten der ser verbessern lassen und wie man selbst drei Söhne, einen studierten Bauingenieur, die Inneneinrichtung aus Lehm formen zieht es an den Hindukusch – er könnte kann: Regale, Schränke und Sofas. Das den Afghanen Lehrgänge über computer- ideale, preiswerte Nachkriegs-Wohnungs- gestütztes Zeichnen anbieten. bauprogramm. Ein afghanisches Ikea. Ein weiterer Sohn ist Betriebswirt, und Der eigentlich längst zum Europäer mu- der vierte studiert gerade in Hamburg Ar- tierte Breshna hat aber noch einen anderen chitektur. „Wir allein wären schon fünf“, großen Traum: Er will die Kabuler Altstadt sagt Breshna und schlurft weiter durch die wiedererrichten, dieses unverwechselbar Ruinen der Altstadt. Christian Neef

172 der spiegel 13/2002 Werbeseite

Werbeseite „War room“ im Central Command in Florida*

BUNDESWEHR Krieg unter Palmen Fernab der Schlachtfelder steuern die Amerikaner aus dem sonnigen Florida die weltweiten Einsätze gegen den Terror. Auch deutsche Offiziere sitzen im „War room“ des US-Hauptquartiers mit am Tisch.

s ist neun Uhr morgens an der Tam- Gestalt und den Augen eines Raubvogels: – die Kommandeure in Afghanistan, Ku- pa Bay in Florida. Im abgedunkel- Tommy Franks, 56, texanischer Vier-Ster- weit, Bahrein oder Saudi-Arabien. Knapp Eten „War room“ im zweiten Stock ne-General und oberster Jäger Osama Bin rapportieren sie über den Verlauf der Ope- des Central Command (Centcom), US- Ladens und seiner Krieger. rationen, etwa der Offensive in Gardez im Hauptquartier des Krieges gegen den Per Videoschaltung, in fest gefügter Rei- Osten Afghanistans, über die Feindlage, Terror, dominiert ein Mann mit mächtiger henfolge, beamt sich Franks die Befehls- die Logistik, das Personal. Am Schluss gibt haber der Mission „Enduring Freedom“ der stets ungeduldige General ein so ge- * Mit US-Befehlshaber Franks (r.) und Stellvertreter Ge- vor den hufeisenförmigen Konferenztisch. nanntes Wrap-up, eine Zusammenfassung neralleutnant Michael P. DeLong (l.) an der Stirnseite und dem deutschen Brigadegeneral Müller (2. von oben links) Aus allen Teilen der Welt erscheinen sie ei- mit Ausblick. Dann folgt die Order für den in Tampa Bay. ner nach dem anderen auf den Monitoren nächsten Tag.

174 der spiegel 13/2002 Ausland

US-Befehlshaber Franks: „Ruppig und autoritär“ FOTOS: CHRISTOPHER MORRIS / VII CHRISTOPHER FOTOS:

Florida, USA Morgendliches Briefing: „Kaum noch Zeit für den Sport“ Nicht im Pentagon in Washington D. C., Afghanistan US-Special-Forces be- Schon der Golfkrieg 1991, den in der all- sondern hier am Golf finden, liegt an ei- gemeinen Wahrnehmung Mediengeneral von Mexiko, im sonni- ner lieblichen Bucht Norman Schwarzkopf doch ganz allein gen Süden von Down- mit Sandstränden, führte, wurde von Centcom verantwortet, town Tampa, wird über Kuweit gesäumt von Pal- jedoch noch in weiten Teilen aus Saudi- Bomben, Bodenkampf und men, die sich in der Arabien gemanagt. Erstmals nun dirigie- Kenia Spezialeinsätze entschieden: Frühlingsbrise wie- ren die USA einen Krieg allein mit Satel- Franks befehligt den „War against gen. An der Marina, litenbildern und Videoübertragung – aus terror“ in seinem Kommandobereich, der wo die Soldaten die spektakulären Sonnen- sicheren 12 500 Kilometer Entfernung, 25 Länder zwischen Kenia und Kasachstan untergänge Floridas bestaunen können, nüchtern und ohne Emotionen. umfasst. „Wenn du mit dem Finger auf den klimpern die Masten ihrer privaten Segel- Dem feuchten Klima Floridas angemes- heißesten Platz der Erde zeigen solltest“, boote; unweit liegt der Golfplatz. Franks sen, trägt der deutsche Brigadegeneral schreibt US-Außenminister Colin Powell beklagt in jüngster Zeit gelegentlich, wegen Bernd Müller, 57, einen leichten Wüsten- in seiner Biografie, „dann landest du bei des Zeit raubenden Krieges „kaum noch tarnanzug und gelbe Leinen-Leder-Stiefel. der Adresse von Centcom.“ Zeit“ zu finden für den Sport. Der ranghöchste deutsche Offizier im Tampa in Amerika und die Einsatz- Die schroffen Berge und die unterirdi- Centcom ist im normalen Soldatenleben orte in der Krisenregion – unterschied- schen Labyrinthe des Hindukusch, die Vizechef der Elitedivision für Spezielle licher können die Plätze auf der Welt kaum staubige Wüste in Kuweit – das alles ist Operationen in Regensburg, der schnel- sein. Der US-Luftwaffenstützpunkt Mac- eine halbe Weltreise entfernt. Die meisten len militärischen Eingreiftruppe, zu der Dill, auf dem sich auch das Hauptquar- Offiziere kennen die realen Einsatzorte le- auch das Kommando Spezialkräfte (KSK) tier und Schulungseinrichtungen für die diglich von ihren Monitoren und vom TV. gehört. Seit Dezember in Florida, vermit-

der spiegel 13/2002 175 nichts beisteuert – wie die Deutschen bei U-Booten oder Jagdbombern –, wird vom Informationsfluss ausgeschlossen. Die Amerikaner kontrollieren dabei al- les und jeden. Sie beherrschen die Auf- klärung durch Satellitenüberwachung und durch ihre Special Forces vor Ort, die re- gelmäßig Kontakt zu den Stammesältesten der Dörfer und Regionen halten. Wird da- bei etwa ein Verdächtiger aufgespürt, weil er fremd ist in der Gegend oder seine Te- lefon-Satellitenverbindung bemerkt wur- de, erteilen die US-Militärs den Auftrag, die Person zu beobachten und womöglich gemeinsam mit ihren Gefolgsleuten fest- zusetzen. Das ist dann zum Beispiel ein Job für die Deutschen. Im Centcom, sagt ein deutscher Offizier, gehe es zu wie auf einer Galeere: „Einer gibt den Trommelrhythmus vor.“ Und der eine heißt Tommy Franks.

CHRISTOPHER MORRIS / VII CHRISTOPHER Der Spitzenmilitär aus Midland, George Technische Operationszentrale im Centcom: „Afghanistan war nur der Auftakt“ W. Bushs Heimatstadt, ist ein Meister aller Spielarten seines Metiers. Nach innen gilt telt der General zwischen dem deutschen Bürogemeinschaft auf Zeit. „Das hält so er als Kumpeltyp, als „muddy boots sol- Verteidigungsministerium und dem mi- lange, wie die Operation dauert“, sagt Mül- dier“, der flucht wie ein Pferdekutscher, litärischen US-Hauptquartier. ler, „danach kennen sie einen hier nicht gern draußen bei der Truppe ist und mit Müller diente bereits zu Zeiten des Golf- mehr.“ Diplomatie und Politik nicht viel am Hut kriegs als Heeresattaché in Washington. Er Immerhin gehören die Deutschen mit hat. Gleichzeitig weiß er sich auf dem poli- gehört zu den wenigen, die wissen, was in ihren Spürpanzern in Kuweit, den Offizie- tischen Parkett im Pentagon sicher zu be- diesem Krieg tagtäglich geschieht und vor ren in den Awacs-Aufklärungsflugzeugen, wegen und dort die richtigen Strippen zu allem: was genau die Deutschen dabei tun. ihren Schiffen in Dschibuti, der Marine- ziehen – stets aufgeschlossen und formvoll- Sieben Tage die Woche, immer zur glei- Aufklärung in Kenia und den 92 Spezial- endet zuvorkommend. chen Tageszeit, sieht und spricht Müller in kräften des KSK inzwischen zum „oberen Deutsche Generäle haben den dreifach der Videokonferenz den Bataillonskom- Drittel der wichtigen Verbündeten“, urteilt verwundeten Vietnam-Veteranen bei ge- mandeur der ABC-Truppe in Kuweit, den Centcom-Sprecher Colonel Rick Thomas, meinsamen Übungen ausgiebig kennen ge- Operationschef des KSK in Afghanistan, 45. Deshalb darf Müller im „Kriegsraum“ lernt. Sie haben erfahren, wie geringschät- Isaf-General Carl Hubertus von Butler in auch mit am Konferenztisch sitzen, hinten zig er von nichtamerikanischen Kamera- Kabul und die Einsatzführung in Bonn und links. Kleinere Koalitionspartner müssen den denkt. „Ruppig und autoritär“ sei Potsdam. Großer Wert wird darauf gelegt, sich mit einem schlechteren Platz zufrie- Franks, sagt einer. dass der Konferenz-Zeitplan geheim bleibt den geben – ihnen zeigt Franks nur den Wann dieser Krieg zu Ende sein wird, – die Angst, dass Videoschaltungen oder Rücken. auch für die Verbündeten, mag hier keiner Telefonverbindungen vom Feind angezapft Die Amerikaner, bekannt dafür, in den auch nur schätzen: „Heute haben wir den werden, ist groß. Kein Gespräch geht über Verbündeten eher Statisten als ernst zu 160. Tag der Operation Enduring Free- ein unverschlüsseltes Telefon, jedes Schrift- nehmende Partner zu sehen, seien jedoch dom“, sagt Sprecher Thomas, „und Af- stück wird geschreddert, jeder erfährt nur, „fair“, wenn es darum gehe, Informationen ghanistan war nur der Auftakt.“ Rund 60 was er für seinen Aufgabenbereich wissen zu teilen und Entscheidungen zu treffen, der weltweit 192 Länder unterstützten ak- muss. Das Sicherheitssystem bei Centcom sagt Müller. Das Procedere ist schlicht: Wer tiv oder beherbergten unwissentlich Ter- scheint nahezu perfekt. „Das ist wie Fort bei einer Operation dabei ist, wie die Deut- roristen. Knox hier“, sagt ein Stabsoberfeldwebel schen beim Spezialkräfte-Einsatz, erfährt Zweifel an ihrer Mission ist den Militärs, des deutschen „Verbindungskommandos“. alles über Orte, Zeiten und Ziele. Wer die so fern vom Kriegsgeschehen sind, voll- Mit „Kongo-Müller“, wie kommen fremd. Selbst die Zahl der un- der forsche Fallschirmjäger- schuldig zu Tode gekommenen Zivilisten General mit der grauen Kurz- interessiert die US-Militärs kaum: „Es star- haarfrisur in Anlehnung an ben 3000 Amerikaner. Die Verantwortung einen berüchtigten Legionär für den Tod derer, die nun sterben, haben aus den sechziger Jahren bei allein jene, die angefangen haben“, sagt der Truppe heißt, kamen Thomas. zwölf deutsche Offiziere von Afghanistan, daran ist man sich hier Heer, Luftwaffe und Marine in der US-Kriegszentrale offenbar einig, nach Tampa. Ihr Arbeitsplatz wird nicht der letzte Schauplatz bleiben. ist ein Wohncontainer auf ei- Doch wollen sich die Amerikaner dort, nem ehemaligen Parkplatz wo sie gekämpft haben, anschließend kei- hinter dem verschachtelten neswegs mit Truppen am mühseligen Betonbau des Centcom. Die Stabilisierungsprozess beteiligen. Peace- Amerikaner errichteten für keeping, wie es die Deutschen in Kabul ihre 27 Verbündeten das so machen, gehöre nicht zu ihren Plänen, sagt

genannte Coalition Village, SKIP GANDY Colonel Thomas: „Wir haben anderes zu eine Wohnwagenkolonie und Centcom-Hauptquartier: „Der heißeste Platz der Erde“ tun.“ Susanne Koelbl

176 der spiegel 13/2002 Werbeseite

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TSCHECHIEN Der alte Mann und das Märchen Milo∆ Jake∆ war letzter Chef der tschechoslowakischen Kommunisten. Seine Kampfgefährten Honecker, Ceau≈escu, Schiwkow und Kádár sind tot. Dem kreuzfidelen Rentner Jake∆ soll nun der Prozess gemacht werden.

Jake∆ war für 15 Mil- nes, zweistöckiges Zuhause hat, die neue lionen Tschechoslowaken Zeit eingezogen. Praktisch vor seinem Gar- das Gesicht des kommu- tenzaun, im einstigen Parteihotel „Praha“, nistischen Apparats – geht nun in den alten Suiten der Genossen Gleichster unter Glei- jene Millionen-Dollar-Aristokratie ein und chen, Fixstern der Partei- aus, vor der Jake∆ und die Partei immer ge- satelliten, Zielscheibe der warnt hatten: Tom Cruise, Johnny Depp Zornigen. und Konsorten – Sendboten aus der Welt Er ist ein Kommunist des Konsumterrors. der ersten Nachkriegs- Wenn dem alten KP-Chef nach Men- stunde: 1945 kommt er schen ist, wenn er zur traditionellen Mai- zur KP, kaum dass die Feier aufs Letná-Gelände will, in den Kul- Nazis aus Böhmen ver- turpark Julius Fu‡ík oder zu Freunden aus schwunden sind. Vize-In- den alten Bezirkspartei-Organisationen, nenminister ist er 1968, dann geht er zu Fuß bis zur U-Bahn. Die als sowjetische Panzer Station in Prag 6 hieß früher, als Jake∆ noch

SEAN GALLUP einrollen. Er drängt nach einen Chauffeur hatte und die U-Bahn Altkommunist Jake∆: „Ich fühle mich unschuldig“ vorn, als es danach gilt, nicht brauchte, nach Lenin. Reformer aus der Partei In den Zeitungen, die an den Kiosken m fahlen Licht der Straßenlaternen zu kehren. Und ist schließlich als KP-Chef und in den U-Bahnen ausliegen, häufen zeigt Prags Altstadt ihr neues Gesicht. dafür verantwortlich, dass die Tschecho- sich seit kurzem Berichte über Menschen, IZwischen Kristallglas-Läden haben Piz- slowakei bis weit in den November 1989 die Jake∆ gut kennt: Urteil in der Slowakei za- und Sushi-Filialen an Boden gewon- hinein eine Bastion der reinen Lehre bleibt: gegen Alojz Lorenc, den alten —SSR- nen. Ein Sexshop blinkt neonfarben vom Jake∆ steht noch reglos auf der Krone, als Geheimdienstchef – 15 Monate auf Bewäh- Kohlenmarkt her. Unweit der Egidius-Kir- schon alle Deiche brechen. rung; Urteil gegen Ex-Premier Lubomír che reckt ein Mädchen seinen nackten Hin- Ein hilfloser alter Mann, der sich an das µtrougal; Prozess gegen Jaromír Obzina, tern auf einem Barhocker Richtung Schau- Märchen von der Überlegenheit des So- Ex-Innenminister. Und, mittendrin im fensterscheibe. zialismus klammert – und doch wird er Schlamassel: Jake∆ selbst. Verloren steht vor dem „Bloody Freddy“ nicht ganz weggespült. Lebt einfach weiter, Jake∆, Milo∆, ehemals Generalsekre- ein alter Mann in heller Windjacke. Er als wäre nichts gewesen. Ein Kommunis- tär des ZK der KP— und Vorsitzender des blickt prüfend ins Gassengewirr und sagt: ten-Kaiser ohne Kleider. Schon Geschich- Nationalen Verteidigungsrates, oberster „Die Fassaden der Häuser sind bunter ge- te, noch am Leben. sowjetischer Statthalter auf tschechoslo- worden. Es gibt auch ein breiteres Waren- Längst ist im Villenviertel Hanspaulka, wakischem Terrain und also ideologische angebot jetzt. Und mehr Möglichkeiten zur wo Jake∆ unverändert sein schlammbrau- Speerspitze des Kalten Kriegs an der West- Zerstreuung.“ Er spricht wie einer, den die Zeitma- schine gerade erst wieder ans Moldau-Ufer gespuckt hat. Dabei war er nie weg. Nur zerbrechlicher sieht er inzwischen aus als auf dem Ausweis, den er im Innen- futter seiner Windjacke verwahrt. Unter dem Bild eines kantigen Apparatschik- Kopfes steht dort amtlich geschrieben: Jake∆, Milo∆, geboren am 12. August 1922 in —eské Chalupy, Bürger der Tschechi- schen Republik. Jake∆, Milo∆, war schon mal mehr als das – als es die Tschechoslowakei noch gab und die Kommunistische Partei (KP—). Als Nachfolger Gustáv Husáks ist er General- sekretär des Zentralkomitees der KP ge- wesen. Von 1987 bis zum bitteren Ende 1989 also: Sprachrohr von 1,72 Millionen Parteimitgliedern. Die tschechoslowakische

Antwort auf Erich Honecker, Nicolae X / STUDIO SHONE / GAMMA Ceau≈escu, Todor Schiwkow, János Kádar. KP-Führer Gorbatschow, Jake∆ (r.) 1988 in Moskau: Zum Kotau genötigt

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flanke, soll vor Gericht. Die Anklage ist treue Genossen wie Jake∆ ein Konter- KP-Chef und kramt in seinen Notizen: „Er seit dem 5. Dezember fertig. Sie liegt im revolutionär. hatte versprochen, es werde allen besser Stadtgericht Prag, Spálená-Straße 2. Sie „Hätte ich Landesverrat begangen“, sagt gehen.“ wollen ihn kriegen – wegen Landesverrats. Jake∆, „dann müsste mich Havel jetzt auf Milo∆ Jake∆, Doktor der Gesellschafts- Da muss er bitter lachen, der Jake∆. Soll die Burg einladen und auszeichnen – für wissenschaften mit Diplom der Partei- er das ernst nehmen – Landesverrat? Wel- die Abschaffung des Sozialismus.“ hochschule in Moskau, Träger des Kle- ches Land, fragt er, solle er denn verraten Überhaupt, Havel. Václav Havel, wenn ment-Gottwald-Ordens und jenes der Ok- haben 1968: seine sozialistische —SSR er den Namen schon hört. Sitzt seit fast 13 toberrevolution, bleibt sich treu. Er, der etwa, nur weil er, so die Anklage, auf Sei- Jahren auf dem Hradschin. Als Präsident. höchstrangige noch lebende Hauptdarstel- ten der einmarschierenden Sowjets Pläne Dabei hat den früher außerhalb Prags ler des versunkenen Systems, steht stell- zur Bildung einer Arbeiter-und-Bauern- kaum einer gekannt. Dichter, angeblich. vertretend für die Idee einer besseren Ge- Regierung unterstützte? Das verstand er Ein vorbestrafter Rowdy jedenfalls, einer, sellschaft, verflochten mit Repressionen bis als Akt der Vaterlandsliebe. Der dama- der noch durch Zellenstäbe blinzelte, als hin zum Mord an Andersdenkenden, mit lige Parteichef, der Reformer Alexander Jake∆ mit Michail Gorbatschow schon Gesinnungsterror bis hin zur Vertreibung Dub‡ek, für den Westen die Lichtgestalt Weltpolitik machte. „Havel hat nach der außer Landes und mit millionenfacher ent- des Prager Frühlings, war für moskau- Wende das Volk belogen“, sagt der alte schädigungsloser Enteignung. Dass er persönlich deswegen Grund ha- um eine Telefonverbindung zu Breschnew anderen als dem Moskauer Antlitz zu ben könnte, sich etwas vorzuwerfen, sieht zu betteln. Um endlich zu erfahren, wo der schaffen. Milo∆ Jake∆ nicht ein. Er sagt: „Ich fühle verhaftete Dub‡ek steckt. Vasil Bílák war In den Jahren nach 1968, in jenem „Zeit- mich völlig unschuldig.“ damals dabei, der Chefideologe und Mann raum leichenhafter Stille“, wie Václav Ha- Nur: Wie soll er das denen begreiflich Moskaus; Alois Indra, der Kronprinz der vel die von den Kommunisten „Normali- machen, die nun über ihn richten wollen? Sowjet-Treuen; dazu Jake∆ selbst, Jozef sierung“ getaufte Periode nannte, lässt Jake∆ Der junge Mann etwa, der ihn mehrfach im Lenárt, der inzwischen auch angeklagt ist, als Chef der Revisions- und Kontrollkom- Polizeigebäude verhört hat, war zum Zeit- und die anderen aus dem ZK. mission 71000 Mitglieder der liberalen Par- punkt der Invasion 1968 gerade geboren. Natürlich haben sie keine Leitung in tei-Elite aus der KP ausstoßen und 391000 Der kennt bestenfalls Bilder aus jenen den Kreml bekommen. Die Sowjets ließen weitere vorübergehend suspendieren. Aus Tagen, da die Panzer der Warschauer-Pakt- Jake∆ und Genossen nach Moskau einflie- dem Fundus der Ausgesonderten wird spä- Truppen bis zum Wenzelsplatz rollten, da gen, wo die Elite der KP— dann zum Ko- ter der harte Kern der Oppositionsbewe- die Prager mit Blumen warfen und 150 tau genötigt wurde, im Angesicht von gung Charta 77 entstehen. Menschen im Kampf starben. Breschnew, Kossygin und Podgorny. Der Doch das interessiert Jake∆ nicht. Wenn Der weiß nicht, wie das war – in der so- Prager Frühling war beendet, der aus- er heute auf 1989 zu sprechen kommt, auf wjetischen Botschaft in Prag zu sitzen und sichtslose Versuch, Sozialismus mit einem den Herbst der roten Herrscher, schrumpft Kommunist sein Land verraten hat. Ein Staatsanwalt steht dem Ermittler zur Seite. Oder behauptet das zumindest. Die Beweislage bleibt dünn, die Jahre gehen ins Land. Auf den langen Gängen der Polizei- und Justizpaläste verliert sich die Hoffnung der Bürgerbewegten auf Ge- rechtigkeit. Es geht ihnen wie Kafkas Josef K.: „Wie lange dauern doch derartige Pro- zesse, besonders in letzter Zeit“, hört der von seinen Wächtern. Gegen 169 Personen aus der alten No- menklatura ist in 82 Strafsachen bisher ermittelt worden. 52 Anklagen waren das Ergebnis. Neun Angeklagte wurden verur- teilt. Keiner von ihnen sitzt ein. Erst in allerletzter Zeit sind Dinge in

AP / ULLSTEIN BILDERDIENST AP / ULLSTEIN Gang gekommen. Im Bezirksgericht Prag Einmarsch der Sowjets in Prag 1968: „Abtreten, Milo∆, es ist Zeit“ am Obstmarkt etwa hat bereits der alte Jake∆-Rivale, Ex-Premier Lubomír µtrou- der Jahrhundert-Entwurf Sozialismus am lein kein Staat zu machen war und dass gal, 78, Rede und Antwort über drei Morde Ende zu einer Ansammlung unveröffent- „die Mehrheit unserer Bürger“, freiwillig in der Nachkriegszeit stehen müssen. Jener lichter Fußnoten der Geschichte. oder nicht, mit den Kommunisten zusam- µtrougal, der noch zu kommunistischer Zeit Zu Tage kommt dabei, dass Egon Krenz mengearbeitet hatte, plädierte er vom ers- geweissagt hatte: „Wir reiten einen Tiger – ihm, Jake∆, schon am Tag vor dem 40. Re- ten Tag an für gebremste Vergangenheits- wenn wir runterfallen, frisst er uns.“ publik-Geburtstag der DDR auf dem Weg bewältigung. Ist die tschechische Justiz also aufge- vom Flughafen Berlin-Schönefeld stadtein- „Gerechtigkeit statt Rache“ fordert er wacht? Der Jake∆-Anwalt Kolja Kubí‡ek wärts erzählt hat, Honecker werde dem- im Umgang mit der KP-Nomenklatura. glaubt das nicht. Er spottet: „Die alten nächst abgelöst; dass Gorbatschow später Und intoniert damit die Leitmelodie der Kommunisten im Kabinett wollen jetzt bei der Festrede des SED-Chefs immer wie- samtenen Revolution und der Folgezeit. noch ein paar alte Kommunisten vor Ge- der höhnisch „smotri, smotri“ richt herzeigen, um zu bewei- – schau nur, schau: wie der re- sen, dass sie sich geändert ha- det! – geflüstert habe; und dass ben.“ Kubí‡ek unterstellt den am Ende Ceau≈escu, Schiw- regierenden Sozialdemokra- kow und die anderen ihn, ten taktische Motive und der Jake∆, den fließend Russisch Justiz Willfährigkeit. Im Juni Sprechenden, bedrängten, Gor- sind Neuwahlen. batschow um eine Aussprache Milo∆ Jake∆ jedenfalls, „der zu bitten. Der KPdSU-Chef Pfeiler im Zaun“, wie er sich ließ sie alle kühl abblitzen: sieht, der letzte Aufrechte, ist „Ich habe keine Zeit mehr.“ vorbereitet für den Fall, dass Auch Jake∆’ Zeit ist damals, es ihm selbst an den Kragen im Oktober, praktisch schon geht. Er weiß, dass eigentlich abgelaufen. Am 22. November so gut wie alle darauf warten, 1989 wird er wieder in die so- dass er endlich stirbt. Rich-

wjetische Botschaft gerufen, (2) SEAN GALLUP ter, Staatsanwälte, Politiker – wie 1968, wieder erhält er ei- Präsident Havel, Ex-Premier µtrougal: „Leichenhafte Stille“ inoffiziell murmeln sie von nen Befehl: „Abtreten, Milo∆, der Hoffnung auf eine „natür- es ist Zeit!“ Und Parteisoldat Milo∆ ge- Die erste Anklage gegen Jake∆ wird im liche Lösung“. Doch Jake∆ stirbt nicht. horcht, ein letztes Mal: Am 24. November Juli 1995 erhoben. Die zweite im Mai 1997. Die zuständige Richterin verzögert zwar, so tritt er zurück, zehn Tage später wird er aus Die dritte im Dezember 2001. Immer wie- gut sie kann. Bis Ende März aber muss der KP geworfen, „auf den politischen Mist- der wandert die Akte von den Richtern über die Eröffnung des Hauptverfahrens haufen“. Er glaubt noch an einen Irrtum. zurück zu den Staatsanwälten und von dort entschieden werden. Es soll im Stadtge- Bis zum Tag, da der vorbestrafte Rowdy zu den Ermittlern der UDV. richt Prag stattfinden, einem knapp hun- Havel, auch mit den Stimmen der Kommu- Die UDV ist eine tschechische Spezia- dertjährigen Palast aus hellem Stein. Im nisten, zum Präsidenten der Tschechoslo- lität, eine 1995 geschaffene Polizeibehörde, Saal 49, erster Stock, hinter mächtigen wakei gewählt wird: „Erst da habe ich ver- die Zivilisten rekrutiert hat, um die Ver- weißen Flügeltüren. Im Saal für große Fi- standen, dass es vorbei ist“, sagt Jake∆. brechen des Kommunismus aufzubereiten sche. 1989 hat hier der letzte Prozess gegen Havel und Jake∆, der neue und der alte – aus Misstrauen gegen die als Prügel- und Václav Havel stattgefunden. Herrscher, das sind die zwei Gesichter Spitzeltruppe verrufene Polizei, gegen die Wird Jake∆ schuldig gesprochen, drohen des tschechischen Übergangs: Herr und schwachen Staatsanwälte, gegen die ganze ihm 15 Jahre Gefängnis. Nur ein Gnaden- Knecht. Einem wie Havel kam einer wie jahrzehntelang korrumpierte Justiz. gesuch mit Verweis auf sein hohes Alter, zu Jake∆ schon früher nicht bei. Havel sperr- Dieser absichtsvolle Laizismus bei der richten an den Justizminister, könnte ihn te man ein, doch der schwieg nicht. Havel Strafverfolgung führt allerdings dazu, dass dann noch retten. sperrte man aus vom sozialistischen Para- etwa im Fall Jake∆ der frühere Bauarbeiter Doch der alte Kommunistenführer ver- dies, und er schuf sich sein eigenes Reich Michal µtikar, begleitet von Polizisten, die wehrt sich bisher massiv gegen den Ver- – aus Freunden, Büchern, Bierkrügen. angeblich wissen, wo die Akten liegen, in dacht, er könnte sich eines Tages ausge- Weil Havel wusste, dass mit 257 Charta- Archive abtaucht, um Beweise dafür zu rechnet von Rowdy Havel die Freiheit 77-Unterzeichnern der ersten Stunde al- sammeln, dass der einst mächtigste —SSR- schenken lassen. Walter Mayr

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be. In den meisten Fällen sind die Täter auf lizisten Körperteile des Opfers, die wur- BRASILIEN freiem Fuß. Für den Mord an Edvan soll ein den dann von Familienangehörigen einge- arbeitsloser Wanderarbeiter verantwort- sammelt“, sagt die Anwältin Joisiane Kreisende lich sein, der vergangene Woche verhaftet Sanches. In einem anderen Fall vernach- wurde. Er bestreitet die Tat. lässigten die Beamten Reifenspuren und Nur in einem Fall kam es bislang zum anderes Beweismaterial. Ein Untersu- Geier Prozess. Er habe die Geschlechtsteile des chungsbericht ging verloren, in anderen Opfers in eine Flasche gefüllt und einer wurden Zeugenaussagen ignoriert. Als Eine Mordserie an halbwüchsigen Frau übergeben, gestand der Mörder. Sie Polizisten den Leichnam von Edvan bar- waren für ein „Hexenritual“ bestimmt. gen, hatten sie nicht einmal Lampen, um Jungen verängstigt die Bewohner In den anderen Fällen wurde die Auf- den Fundort auszuleuchten. von São Luís. Doch die Polizei klärung von der Polizei verschleppt oder „Die Polizei gibt sich keine Mühe, weil schlampt, und die Politiker spielen verschludert. „Die Behörden haben grobe die Opfer aus armen Familien stammen“, die Gräueltaten herunter. Ermittlungsfehler begangen“, sagt James klagt Raimundo Nonato, Vater eines 1997 Cavallaro, Leiter der Menschenrechts- ermordeten Jungen. Alle Jungen wohnten achbarn führten Domingas Pinto organisation „Justiça Global“. Gemeinsam bei ihren Familien in armen Randbezirken, Lobato zu der verlassenen Hütte, mit der Kinderhilfsorganisation „Marcos sie waren keine Straßenkinder und ver- Nwo ihr Sohn Edvan, 12, die letzten Passerini“ in São Luís hat er die Mord- dingten sich auch nicht als Strichjungen. qualvollen Minuten seines Lebens ver- serie deshalb bei der Menschenrechts- Raimundo Nonato junior, 11, war mit brachte. Der Junge lag in einer Blutlache kommission der Organisation Amerikani- seinem Spielkameraden Eduardo Rocha, unter Ziegelsteinen. Einen Mittelfinger und scher Staaten (OAS) angezeigt. 10, auf dem Weg zu einer Müllkippe, als seine Geschlechtsorgane hatte der Mörder Für die Regierung kommt der Skandal der Mörder ihnen auflauerte. Ihre Leichen abgetrennt. Offenbar hatte er das Kind ver- äußerst ungelegen, weil er ein Schlag- wurden erst Tage später entdeckt, weil licht auf die grassierende Geier über ihnen kreisten. Beide Jungen Straflosigkeit in Maran- waren erstochen und entmannt worden. hão wirft. Roseana Sar- Anwohner wollen beobachtet haben, ney, 48, die Gouverneu- dass Männer mit Perücken Jagd auf die rin des Bundesstaats, Jungen machen. Andere vermuten, dass war bis vor kurzem die die Opfer ausgenommen und ihre Organe wichtigste Verbündete verkauft wurden. von Präsident Fernando Bei den meisten Jungen trennten die Henrique Cardoso und Mörder Penis und Hoden mit einem glat- kandidiert für die Prä- ten Schnitt ab, die Geschlechtsorgane wur- sidentenwahl im Okto- den nie gefunden. In einem Fall lagen Ker- ber. Die Kampagne wird zen und rote Bänder neben der Leiche – von ihrem Vater José Indizien für schwarze Magie. Macumba Sarney gesteuert, einem und andere afroamerikanische Kulte sind einflussreichen Senator in Maranhão weit verbreitet. Vor einigen und ehemaligen Präsi- Jahren verhaftete die Polizei in São Luís

THOMAS J. MÜLLER J. THOMAS denten. einen homosexuellen Sektenführer, der seine Anhänger kastrieren ließ. Die Polizei hat jetzt eine Sondereinheit gebildet, auch die archivierten Fälle sollen wieder aufgerollt werden. Kommissar Mutter Frazão mit Familienfoto, Kinderleiche Rubem Sérgio dos Santos schließt jedoch Keine Aussicht auf Aufklärung, geschweige aus, dass ein Serienmörder allein für die denn Gerechtigkeit Verbrechen verantwortlich ist. „Wir sind mehreren Verdächtigen auf der Spur“, ver- gewaltigt und erstickt. Mitte Februar war sichert er. In den meisten Fällen liegen die der fröhliche Junge Mangos pflücken ge- Morde allerdings zu lange zurück, um noch

gangen. Bis in die Abendstunden hatte JORNAL PEQUENO neue Spuren zu finden. seine Mutter in Paço do Lumiar auf ihn Das letzte Opfer Edvan wohnte in der- gewartet, einem Armenviertel von São Die Sarney-Sippe regiert Maranhão wie selben Siedlung wie Welson Frazão, 13, der Luís, der Hauptstadt des brasilianischen ihren Privatbesitz; die wichtigsten Medien, im Oktober vergangenen Jahres ermordet Bundesstaats Maranhão. Schließlich mach- Polizei und Justiz sind in ihrer Hand. Sie wurde. In den Baracken geht jetzt die te sie sich auf die Suche. Mit Fackeln und versucht, die Morde an den Jungen her- Angst um. Viele Mütter lassen ihre Kinder Taschenlampen durchkämmte sie die an- unterzuspielen. Ihre Kritiker wollten das nicht mehr allein vor die Tür. Vergangene liegenden Felder. Ansehen der Gouverneurin beflecken, ze- Woche rodeten Anwohner das Gelände, Als sie vor dem Leichnam stand, brach terte ein Regierungsabgeordneter. wo die Leiche gefunden wurde, und rissen Domingas weinend zusammen. Ihre Tatsächlich hat Sarney bislang nichts un- die verlassene Hütte nieder. schlimmsten Befürchtungen hatten sich be- ternommen, um die Aufklärung der Ver- Für die Familien der Ermordeten ist das wahrheitet. Edvan ist das letzte Opfer einer brechen zu beschleunigen. Der Justiz- kein Trost. Oft steht Welsons Mutter an Mordserie, die Brasilien in Atem hält. minister bietet ihr zwar seit Monaten die der Tür und ruft ihren Jüngsten, als wür- Seit 1991 sind im Großraum São Luís 21 Bundespolizei zur Hilfe an. Doch die Gou- de er noch leben. Beim Mittagessen gibt Jungen im Alter zwischen 9 und 15 Jahren verneurin versichert, die Polizei von Ma- es auch einen Teller für ihn. Sie wolle auf bestialische Weise umgebracht worden, ranhão sei in der Lage, die Fälle allein keine Rache, sondern Gerechtigkeit, be- ein weiteres Opfer wurde im Landesinne- zu lösen. teuert die zierliche Frau: „Wenigstens ein ren gefunden. Alle Kinder wurden ka- Das bezweifeln jedoch nicht nur Men- einziges Mal soll die Justiz funktio- striert, einige offenbar bei lebendigem Lei- schenrechtler. „Einmal übersahen die Po- nieren.“ Jens Glüsing

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BERGBAU Eisberge zu Feuerwasser ls vorige Woche erneut riesige Eisschollen vom Randbereich Ader Antarktis abbrachen, war weltweit die Aufregung groß. In der kanadischen Provinz Neufundland dagegen wird die Geburt neuer Eisberge stets freudig begrüßt: Sie bringen Geld. Das gefrorene Wasser, aus dem sie bestehen, ist gut und gern 10000 Jahre alt. Tüchtige Unternehmer fangen deshalb Eisber- ge ab, die aus der Polargegend herangetrieben kommen, und zerlegen die Beute. Aus dem Schmelzwasser machen sie „Ice- berg Vodka“, Bier oder Nobelwasser von angeblich unübertroffener Güte. Die Erntemethoden waren bislang eher schlicht: Arbeiter enterten den Berg von Fischerbooten aus, zückten Ket- tensägen, die mit Pflanzenöl geschmiert waren, und schnitten Klötze aus den Eismassen. Nun aber soll der Eisberg- R. DREXEL / BILDERBERG bau im Großmaßstab beginnen: Die Fir- Eisberge vor Neufundland ma Iceberg Industries baut gerade eine 25 Meter lange Fräse, die sich brachial in die Eisriesen hinein- großen Geschäft. Schließlich bekommen die Kunden für den gräbt. Ein großer Saugrüssel befördert den Eisbruch dann aufs Aufpreis, anders als bei gereinigtem Allerweltswasser, Reinheit Mutterschiff, wo er in Heizkesseln geschmolzen, gefiltert und in einem höheren Sinn – schon weil, wie ein Sprecher sagt, abgefüllt wird. Die Firma erhofft sich davon den Schritt zum „noch kein Mensch hineingepinkelt hat“.

BIOMECHANIK ARCHÄOLOGIE Egarter-Vigl: Ja. Der Angreifer hatte ein Messer oder ein Beil. Ötzi hat Kunst des Gehens Ötzi im Nahkampf wohl versucht, einen Hieb abzufan- gen. Wahrscheinlich fand der Kampf ie bringen afrikanische Frauen es fertig, verwundet wenige Stunden vor seinem Tod statt. Wmit schweren Lasten auf dem Kopf schier SPIEGEL: Der Innsbrucker Frühge- mühelos ihres Weges zu wandeln? Der belgi- Der Bozener Pathologe Eduard schichtler Konrad Spindler behaup- sche Forscher Norman Egarter-Vigl hat an der Gletscher- tet aber, der Mensch der Frühzeit Heglund hat das Rätsel mumie Ötzi eine schwere Schnitt- konnte mit solchen Verletzungen ta- gelöst: Die Frauen ha- wunde entdeckt, die zehn Jahre gelang herumlaufen. ben eine besondere lang niemandem aufgefallen war. Egarter-Vigl: Die Wunde ist frisch. Gangtechnik erfunden, Schon vor einem Jahr war über- Wir fanden kein Indiz für einen Hei- die viel Energie spart. raschend eine Pfeilspitze in lungsprozess. Heglund schickte sie der Schulter des Eismannes auf- mit bleibeschwerten getaucht. Helmen auf ein Lauf- band, dann maß er SPIEGEL: Wie schwer war Ötzis Ver- Sauerstoffverbrauch letzung? und Puls. Das Ergeb- Egarter-Vigl: Der Schnitt hat die nis: Die Frauen trugen Muskeln der rechten Hand zwischen

KNUT MUELLER / DAS FOTOARCHIV / DAS MUELLER KNUT 20 Prozent ihres Kör- Daumen und Zeigefinger durch- Frauen in pergewichts ohne jedes trennt. Auch ein Knochen ist be- Burkina Faso Zeichen von Anstren- schädigt. gung. Eine Kontroll- SPIEGEL: Wie konnte das so lange gruppe dagegen zeigte schon beim leichtes- verborgen bleiben? ten Gewicht Ausschläge. Bei diesen ungeüb- Egarter-Vigl: Die Hand ist stark ten Menschen bewegt sich das Gangwerk wie gekrümmt und fast immer, da üblich: ein Auf und Ab der Hüften, wobei die Mumie tiefgekühlt wird, mit jedes Mal beim Auftreten viel Bewegungs- Eis überzogen. Erst als wir energie versackt – eher ein Plumpsen von jeden Quadratzentimeter der Schritt zu Schritt. Die afrikanischen Frauen Körperoberfläche mit dem dagegen nehmen unmerklich den Schwung Mikroskop absuchten, fiel uns ihrer Hüften mit in die Vorwärtsbewegung. die Wunde auf.

Sie tun das aber nur, solange sie eine Last SPIEGEL: Weist der Schnitt auf einen CHANNEL / DISCOVERY QUILICI BRANDO tragen. Kampf hin? Egarter-Vigl, Ötzi

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SIMULATIONEN Rettung für die Überkirche m Computer wird derzeit die gewalti- Ige Kathedrale von St. Peter im franzö- sischen Beauvais nachgebaut – es könn- te ihre Rettung sein. Die vor sieben Jahrhunderten errichtete gotische Bi- schofskirche nördlich von Paris droht zu

kollabieren. Ihre Baumeister waren allzu RIAN / RUFO verwegen gewesen: Der Altarraum der Russisches Atomkraftwerk in Chukotka Kathedrale ist mit seinen 48 Metern ei- ner der höchsten, die je gebaut worden ATOMWAFFEN sind. 1272 war der Chor der Überkirche fertig. Zwölf Jahre später stürzte er ein. Die himmelstürmenden Gesteinsmassen Viel Stoff zum Bau hatten ihr eigenes Gewicht nicht mehr tragen können. Der Neubau, ein unvoll- endeter Torso, zeigte ebenfalls bald sta- schmutziger Bomben egelmäßig verschwindet waffenfähiges Uran oder Plutonium aus schlecht be- Rwachten Nuklearanlagen der ehemaligen Sowjetunion. 40 Kilogramm waren es insgesamt im letzten Jahrzehnt – theoretisch mehr als genug für eine Atombombe. Der Großteil der heißen Ware tauchte irgendwann wieder auf; aber mindestens zwei Kilogramm fehlen immer noch. Solche Angaben finden sich in einer neuen Daten- bank, die an der kalifornischen Stanford-Universität aufgebaut worden ist. Eine For- schergruppe sammelt dort weltweit alle verfügbaren Nachrichten über gestohlene Kernbrennstoffe, aufgeflogene Schmuggeleien oder verschlampte Geräte mit strah- lendem Material. Das globale Zentralregister umfasst inzwischen 830 Zwischenfäl- le. Oft genug herrscht der schiere Schlendrian im Umgang mit dem tödlichen Stoff. Selbst in den USA werden der zuständigen Kommission pro Jahr im Schnitt 200 Vor- fälle gemeldet, bei denen radioaktives Material abhanden gekommen ist – meist aus Fabriken, Krankenhäusern oder Forschungslaboren. Die Öffentlichkeit beruhigte sich

HOA QUI HOA bislang mit dem Wissen, dass der hochwertige Stoff, der für eine Atombombe nötig Kathedrale von Beauvais ist, für Terroristen immer noch kaum zu erlangen ist. Es geht aber auch einfacher, warnt der Salzburger Atomphysiker Friedrich Steinhäusler, auf dessen Initiative die Datenbank zurückgeht: Primitive Bomben aus strahlendem Material minderer Güte, zusammengepackt mit konventionellem Sprengstoff, könnten zwar keine nukleare Kettenreaktion erzeugen. Sie seien aber gefährlich genug. Wer eine solche „schmut- zige Bombe“ in die Luft jagt, kann damit immer noch die nähere Umgebung über Jahrzehnte verseuchen – und allseits Schrecken verbreiten.

ALLERGIEN ihren Pollenausstoß um 61 Prozent. Schon jetzt reagieren immer mehr Computermodell (Detail) Triefnasen Menschen allergisch auf dieses Un- kraut, besser bekannt unter dem engli- tische Probleme; seither ist er immer durch Treibhauseffekt? schen Namen Ragweed. Vor allem in wieder in Reparatur. Erst 1993 musste Nordamerika ist das Traubenkraut eine das brüchige Bauwerk mit Armierungen er Heuschnupfen droht schlimmer schwere Plage. Aber auch in Europa aus Stahl und Holz geschient werden. Dzu wüten, wenn sich das Klima er- breitet es sich schon rapide aus. In Un- Im vergangenen Jahr aber hat eine For- wärmen sollte. Zumindest das Trauben- garn konnten Ausrottungskampagnen schergruppe der New Yorker Columbia- kraut, eine der aggressivsten bisher wenig ausrichten. Von Universität den ganzen Bau penibel mit Pollenschleudern, würde dann dort her dringen die Pflanzen einem 3-D-Laserscanner abfotografiert. prächtiger denn je gedeihen. derzeit über das Wiener Aus dem feinen Datengitter, das die For- Forscher an der Harvard-Uni- Becken nach Westen vor – mit scher gewonnen haben, entsteht nun ein versität haben eine Gruppe die- einem Tempo von bis zu 20 räumliches Computermodell. An ihm ser Pflanzen aufgezogen in ei- Kilometern im Jahr. Bald wer- soll erprobt werden, wie es damals zur ner Luft, die doppelt so viel den die ersten Invasoren in Katastrophe kommen konnte – und von dem Treibhausgas Kohlen- Bayern erwartet. womöglich, mit welchen Umbauten die dioxid enthielt wie normal.

Kathedrale heute zu stabilisieren wäre. Prompt erhöhten die Gewächse RESEARCHERS PHOTO Traubenkraut

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Werbeseite PETE JONES / ARENA Untersuchung von Zellproben im Sciona-Genlabor, Wellness-Schwimmbad: „Harmonie von Körper und Nahrung“ versprochen

GESUNDHEIT Gentest aus dem Supermarkt Die englische Kosmetikkette Body Shop bietet den weltweit ersten frei verkäuflichen Erbgut-Check fürs allgemeine Wohlbefinden an: „Du & deine Gene“ verheißt den Kunden ein längeres und gesünderes Leben. Wie groß ist der medizinische Nutzen der genetischen Durchleuchtung wirklich?

iegt der Schlüssel zum Wohlbefinden Shop-Filialen in den Städten im Erbgut? „Die Gene erzählen nicht London, Kent, Manchester Ldie ganze Geschichte“, sagt Rosalynn und Birmingham. Ginge es Gill-Garrison, 40, mit einem sanften Lä- nach der Herstellerfirma cheln. „Aber sie können jedem Menschen Sciona, dann wäre das 120 verraten, welche Nahrung für ihn geeignet Pfund teure Screening-Ver- ist und was für einen Lebenswandel er fahren jedoch schon bald in führen sollte.“ amerikanischen und konti- Die blonde Biologin von der englischen nentaleuropäischen Super- Firma Sciona hat den weltweit ersten Erb- märkten zu haben. For-

guttest für Wellness-Kunden auf den Markt PETE JONES / ARENA schungsdirektorin Gill-Garri- gebracht, der frei verkäuflich ist: „You & Sciona-Gentest: Fehlersuche im Erbgut son will expandieren: „Wir Your Genes“ („Du & deine Gene“) heißt suchen gegenwärtig einen das Verfahren, das neun Gene untersucht Ausgerechnet die weltweit operierende geeigneten Vertriebspartner für Deutsch- und ein „längeres“ und „gesünderes Le- Kosmetikkette, die Tierversuche verdammt land.“ ben“ bescheren soll. Zielgruppe sind Kun- und das Recycling feiert, bahnt damit In Großbritannien ist bereits ein Rum- den der prosperierenden Lifestyle-Industrie. der umstrittenen Gendiagnostik den Weg. mel um die Gendiagnose für jedermann Die Rasterfahndung im Erbgut wird pri- Die „radikal neue Überprüfung“, so lockt ausgebrochen. Das Ministerium für Handel vaten Kunden in aller Welt angeboten: jetzt Body Shop, stelle sicher, dass „Körper und Industrie findet den Erbgut-Check so über das Telefon, das Internet – und seit und Nahrung in Harmonie zusammen- „innovativ“, dass es Sciona einen begehr- kurzem auch in Filialen des Body Shop in arbeiten“. Derzeit gibt es die Erbgut- ten Forschungspreis verliehen hat: den England. Inspektion in elf ausgesuchten Body- „Smart Award“. Investoren sind ebenfalls

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sie Patienten anbieten. Der Konstanzer Staaten von Amerika ihr Erbgut mustern Wellness-Arzt Rolf-Dieter Hesch etwa lassen. lockt seine männliche Kundschaft mit einer Sie alle haben einen Bogen mit 90 Fra- Erbgut-Analyse (Preis: rund 200 Euro), die gen ausgefüllt, der Ess-, Trink- und Rauch- genetische Risiken für eine verringerte gewohnheiten erkundet. Und sie alle haben Lebenserwartung aufspüren soll. sich ein spezielles Wattestäbchen etwa eine Mit einer Sequenziermaschine werden Minute lang an der Innenseite der Wange beispielsweise Gene getestet, die mit Blut- gerieben. Ungefähr 2000 Zellen bleiben an hochdruck, Alzheimer, Arthrose und dem dem Stäbchen haften, das der Kunde dann, Altern allgemein zusammenhängen sollen. in einem Röhrchen verschlossen, an Scio- „Männer ändern ihren Lebensstil nur auf- na schickt. grund von harten Tatsachen“, so Hesch, Was folgt, ist Laborroutine: Zunächst „die ich mit meiner Genanalyse liefere.“ wird das Erbgut aus den Kernen der Zel- Doch mit der Zahl der genetischen Dia- len gewonnen. Im nächsten Schritt werden gnosen wächst die Zahl der Menschen, die nur die neun Ziel-Gene millionenfach ko- das komplexe Testergebnis nicht verstehen piert. Nach dieser Vermehrung wird auf und dann mit ihrer Angst allein gelassen Grund einer speziellen Färbetechnik er- werden, zu erkranken und früh zu sterben. kennbar, welche Genvarianten die Test- „Das wachsende Bewusstsein darüber, person trägt. dass identifizierbare genetische Faktoren Dass es im Erbgut der Menschen über- am Zustandekommen nahezu jeder Krank- haupt kleine Unterschiede gibt, ist ein Erbe heit beteiligt sind, wird nicht ohne soziale der Evolution. Etwa jeder tausendste Bau- Folgen bleiben“, mahnt der Genetiker Jörg stein des Erbguts ist zwischen zwei Indivi- Schmidtke von der Medizinischen Hoch- duen unterschiedlich. Diese genetische schule Hannover. Der „Fehler im Erbgut“ Vielfalt sichert die Überlebenschancen der werde „zum Fehler der Person selbst“. Art – beispielsweise im Kampf gegen tücki- „Die meisten Menschen haben schreck- sche Krankheitserreger. So sind einige liche Angst vor ihren Genen“, hält Sciona- wenige Menschen auf Grund einer Gen- Forscherin Gill-Garrison dagegen. „Das variante immun gegen das Aidsvirus. brauchen sie aber nicht. Wir geben den Leu- Im Erbgut der Menschen schlummern

SABINE BUNGERT / LAIF BUNGERT SABINE ten die Chance zu begreifen: Du kannst mit viele solcher Varianten, von den Biologen deinen Genen zusammenarbeiten.“ begeistert und haben soeben drei Millionen Ihre eigene Zusammenarbeit mit Länger leben dank Gencheck? Pfund in das junge Unternehmen gepumpt. den Genen begann an jenem Juni- Die Verbraucherschützer von „Gene- tag 2000, als der damalige US-Prä- Was beim Test „Du & deine Watch“ hingegen brandmarken den Test sident Bill Clinton von Washington Gene“ untersucht wird als „irreführend und nicht hilfreich“. Scio- aus in die Welt hinausposaunte, das na übertreibe den Einfluss der untersuch- Erbgut des Menschen sei nun ent- ZAHL DER IM KÖRPER RATSCHLAG BEI ten Gene auf die Gesundheit in schamloser schlüsselt. Molekularbiologin Gill- ERFASSTEN SORGEN DIE AUFFÄLLIGEN Weise und mache sich daran, das Erbgut Garrison saß zur gleichen Stunde GENE GENE FÜR ... GENVARIANTEN leichtgläubiger Bürger auszuleuchten. mit befreundeten Geschäftsleuten 6 ...... den den chemi-chemi- Nicht rauchen. Bei Jene Menschen, deren Analyse geneti- in einem elitären Club in London. schen Umbau der Ernährung Grill- sche Makel ergibt, könnten durch Versi- „Die ganze Zeit haben wir über das giftiger Stoffe fleisch und Räucher- cherungen und Arbeitgeber benachteiligt Genom debattiert“, erzählt sie, fisch meiden. Ver- werden, befürchtet GeneWatch-Spreche- „und überlegt: Wie kann man dar- stärkter Verzehr von rin Helen Wallace: „Kein Gesetz verbietet aus etwas für den Durchschnitts- Brokkoli, Rosenkohl es den Arbeitgebern, diese Testresultate bürger machen?“ oder Knoblauch zu benutzen.“ Wenig später war die Geschäfts- Ob „Du & deine Gene“ überhaupt einen idee geboren: maßgeschneiderte 1 ...... den den AbbauAbbau Viel Obst und Gemüse Vorteil für die Gesundheit bringt, ist in der Gesundheitsratschläge, die auf dem von aggressi- wie Orangen, Zitronen, Tat höchst umstritten. „Wir wissen noch genetischen Profil beruhen, das für ven Molekülen Spinat und Sojapro- gar nicht genau, wie Gene und Ernährung jeden Menschen einzigartig ist. (freien Radika- dukte. Grüner Tee und zusammenhängen“, urteilt beispielsweise Alles, was es jetzt noch brauchte, len),len), diedie dasdas Rotwein (in Maßen). der britische Wissenschaftler Roland Wolf suchte das Team um Gill-Garrison Altern der Zel- Gegebenenfalls von der University of Dundee. sich aus frei verfügbaren Daten- lele begünstigenbegünstigen Vitaminpräparate Eines jedoch müssen die Kritiker ein- banken des menschlichen Genoms (A, C, E) einnehmen räumen: Was die derzeit 18 Sciona-Mitar- und mehr als 300 wissenschaftlichen 1 ...... die die Um-Um- Viel Vitamin B6 und B12, beiter in ihren Laboratorien in der südeng- Arbeiten zusammen. Am Ende be- wandlung von etwa aus Rindfleisch, lischen Stadt Havant treiben, das hat schlossen die Sciona-Forscher, neun Aminosäuren Eiern oder Leber. Fol- durchaus mit Wissenschaft zu tun. „Du & Gene zu testen, die für die Ge- säurehaltige Nahrung deine Gene“ gehört zu den ersten kom- sundheit eine Rolle spielen (siehe (Leber, Weizenkleie) merziellen Produkten, die auf der Ent- Grafik) und in der Bevölkerung in oder entsprechende schlüsselung des Genoms des Menschen unterschiedlichen Varianten vor- Vitaminpräparate basieren, die im Juni 2000 weitgehend ab- kommen. geschlossenen werden konnte. Seit der Markteinführung im 1 ...... den den AbbauAbbau Verzicht auf Seither durchstöbern immer mehr Fir- Dezember haben 300 Menschen aus von Alkohol Alkohol men und Forscher die drei Milliarden Bau- Großbritannien, aber auch aus der steine lange Sequenz nach auffälligen Gen- Türkei, Griechenland, Australien, Quelle: Sciona veränderungen und entwickeln Tests, die Südafrika und den Vereinigten

der spiegel 13/2002 191 Wissenschaft

Polymorphismen genannt. Sie können un- das nichts darüber aus, ob das terschiedlichste Abläufe im Körper betref- Wohlbefinden darunter leidet. fen. Ein bestimmter Polymorphismus be- „Die angeblichen Auswirkungen wirkt beispielsweise, dass Spargel anders der untersuchten Polymorphis- als gewöhnlich verdaut wird, was man nach men auf die Gesundheit sind einer Mahlzeit riechen kann: Bei vielen weitgehend unbewiesen“, kriti- Spargelessern duftet der Urin ungewohnt siert der Genetiker Peter Prop- streng. ping von der Universität Bonn. Unter den neun Genen, die Sciona tes- Die biologischen Fakten lassen tet, sind Polymorphismen weit verbreitet. die Aussagekraft des Tests aber- Jede Genvariante findet sich in 20 bis 40 witzig erscheinen: Sciona stützt Prozent der Bevölkerung. Statistisch gese- sich auf die Analyse von neun hen trägt also kaum jemand ein – im Sin- Genen – doch alles in allem spie- ne der Firma Sciona – perfektes Erbgut. len Hunderte von verschiedenen Bei den meisten Menschen finden die Tes- Erbgutabschnitten eine Rolle bei ter fünf bis sechs Variationen – mithin er- der Verwertung von Nahrungs- klärt Sciona die Mehrheit der Getesteten mitteln. Hinzu kommt der ge- für genetisch auffällig. waltige Einfluss der Umwelt auf Doch die schlechte Nachricht berge die Gesundheit. durchaus eine „positive Botschaft“, tröstet Witzlos erscheint, dass Sciona Biologin Gill-Garrison: „Wir verraten den das Gen für die „Aldehyd-Dehy- Menschen ihr genetisches Profil und ge- drogenase 2“ testet, von dem vie- ben ihnen zugleich Ratschläge, wie sie da- le Asiaten eine nahezu unwirk- mit umgehen können.“ Wer die Hinweise same Variante besitzen. Denn befolge, habe eine „bessere Chance gesund derjenige, der das defekte Enzym zu bleiben“. hat, erfährt die Folgen früh genug Die Tipps erhält man etwa drei Wochen in seinem Leben am eigenen nach der Genmusterung mit der Post. Da Leib: Bereits geringe Mengen

jedoch allein sechs Gene getestet werden, PETE JONES / ARENA Alkohol führen dazu, dass sich die mit der körpereigenen Entsorgung von Biologin Gill-Garrison: „Viele haben Angst vor Genen“ im Körper ein schädliches Zwi- Giftstoffen zu tun haben, findet sich in die- schenprodukt anreichert – Haut- sem Bereich fast immer irgendeine Auffäl- derlich originell sei. „Es mangelt ja nicht an rötungen, Benommenheit und Herzrasen ligkeit. Das führt zu Ratschlägen, die prak- guten Empfehlungen“, sagt sie. „Aber un- sind Symptome dieser Vergiftung. tisch für jeden gelten: Man soll angebrann- sere werden vermutlich eher befolgt, weil Zudem spielen einige der Genvarianten, tes Fleisch meiden und viel Gemüse essen. sie auf einem ganz persönlichen Test be- die von Sciona gescreent werden, offenbar Auch die anderen Tipps sind alles ande- ruhen. Erstmals sagen wir den Leuten in- nicht nur beim Stoffwechsel eine Rolle. Zu- re als neu: Vitamintabletten und reichlich dividuell, was auf Grund ihrer Gene gut für gleich scheinen sie das Risiko für Krank- Obst werden empfohlen; Zigaretten solle sie ist.“ heiten wie Brustkrebs, Blasenkrebs und man meiden und Alkohol nur in Maßen ge- Genau diese Behauptung aber halten Thrombosen zu erhöhen – was Sciona sei- nießen. Wissenschaftler für haltlos. Denn selbst nen arglosen Kunden jedoch verschweigt, Sciona-Forscherin Gill-Garrison räumt wenn die Sciona-Analyse ergibt, dass ein um diese nicht zu verängstigen. denn auch ein, das ihr teurer Rat nicht son- Gen nur eingeschränkt funktioniert, sagt Deutsche Genetiker warnen davor, sich die Unterlagen des neuen Tests über das In- ternet zu bestellen und sich screenen zu lassen. „Da werden einzelne Gene heraus- gepickt, was zu einem bedeutungslosen Er- gebnis führt“, meint Jörg Schmidtke von der Medizinischen Hochschule Hannover. „Das alles ist Unfug und sagt gar nichts aus“, urteilt der Bonner Genetiker Prop- ping. „Es ist verheerend, wenn so ein Gen- test auf dem freien Markt angeboten wird.“ Doch Sciona-Präsidentin Rosalynn Gill- Garrison will die Welt schon bald mit ei- ner erweiterten Version von „Du & deine Gene“ beglücken. In ihrem Büro liest die aparte Forscherin deshalb immer die ak- tuellen wissenschaftlichen Artikel, stets auf der Suche nach neuen Genen für den Test. Für die geplante Expansion in andere Länder muss aber auch noch der Fragebo- gen über die Lebensgewohnheiten überar- beitet werden. Vor kurzem bekam Gill- Garrison einen erbosten Brief einer Kun- din aus Frankreich. „Wie können Sie es wagen“, empörte sich die Dame, „mich zu

PETER BROOKER / REX FEATURES fragen, ob ich gebackene Bohnen in Toma- Body-Shop-Filiale (in London): Großes Geschäft mit dem kleinen Unterschied tensoße esse?“ Jörg Blech

192 der spiegel 13/2002 Werbeseite

Werbeseite Technik

auch systematisch zünden ließen. Einfach ist das nicht. Der Kopfarbeiter, sei er Keks- COMPUTER designer oder Fadenwurmforscherin, ist oft mit Hunderten Kollegen in verzweigten Komplexen untergebracht. Und von allein Geistesblitze auf dem Flur unterhalten sich die Leute fast nur mit ihren Nachbarn. Zählungen haben erge- Computerexperten simulieren die Büroarchitektur der Zukunft. ben: Schon Kollegen, die 25 Meter entfernt voneinander hausen, kommen kaum noch Ihr Ziel: Kollegen sollen einander unverhofft über den ins Gespräch. Dabei ist es gerade der Kon- Weg laufen – weil zufällige Begegnungen zu neuen Ideen führen. takt zu Kollegen außerhalb der eigenen

er liebe Büronachbar, weithin geschätzt bei DMitarbeitern und Vor- gesetzten – was hat er den Kol- legen bloß voraus? Sein Einser- diplom? Seine Frohnatur? Sei- nen Ameisenfleiß? Gut möglich, dass der Kerl nur verkehrsgünstig sitzt. Diese verblüffende Erklärung für manche Karrieren legen Stu- dien der Londoner Beratungsfir- ma Space Syntax nahe. Sie zei- gen: Die Wertschätzung, die ein Büromensch erfährt, hat er- staunlich viel mit der Lage seines Arbeitsplatzes im Haus zu tun. Glücklich, wer gut angebunden ist an das Netz der Schleichpfade Kommunikationsverhalten im Hauptgebäude von PowerGen*: Mehr Gespräche, mehr Gewinn? und Rennstrecken. Lebhafter Büroverkehr, das heißt: immer mal wieder eine Begegnung, eine schnelle Nach- frage, ein nützlicher Einfall zwi- schendurch. Das hebt nicht nur das Ansehen des Mitarbeiters. Das steigert auch seinen Nutz- wert fürs Ganze. Der Kollege in Randlage dagegen kann sich plagen, wie er will. Jedes Büro- haus hat Gegenden, wo der bes- te Laden nicht läuft. Das muss nicht sein, meinen die Forscher von Space Syntax: alles eine Frage der Verkehrs- planung. Die Firma analysiert die Wegenetze der Kundschaft am Computer und weissagt, wo die Zonen liegen, in denen Fußgängerströme bei PowerGen*: Wo der Verkehr gut zirkuliert, gedeiht die Neuerungsfreude es brummt – und wo die Mit- arbeiter in Abgeschiedenheit zu verstocken nachgewiesen. Er konnte studieren, wie Arbeitsgruppe, der mit Abstand die meis- drohen. in großen Entwicklungslabors neue ten Anregungen stiftet. Manchmal genügen dann ein paar Um- Technik entsteht. Der Geist, fand Allen, Wie bringt man also die Leute dazu, dass bauten, und der Verkehr kommt in Fluss. kommt fast immer beiläufig über die Mit- sie einander unentwegt zwanglos über den Der Lohn, wenn alles gut geht: mehr Be- arbeiter. Eine Begegnung zwischen Tür Weg laufen? Eben das ist es, was Space gegnungen, mehr Gespräche, mehr Ideen. und Angel, ein Wortwechsel an der Syntax zu bewirken verspricht. Die Firma Und damit vielleicht mehr Gewinn. Kaffeemaschine – und unverhofft springt errechnet im Voraus für jedes Gebäude, auf Unter den Kunden von Space Syntax der Funke. welchen Routen die Fußgänger darin kur- finden sich Forschungslabors, Werbefirmen Seit dieser bahnbrechenden Studie grü- sieren. Sie braucht dafür nur den Grundriss und ein Pharmakonzern. Allen ist dar- beln die Firmenstrategen, ob Ideen sich mitsamt den Fluren und Freiflächen, den an gelegen, die Einfallsfreude der Beleg- Tischgruppen und Raumteilern. Das ge- schaft zu schüren. * Die obere Grafik zeigt, an welchen Arbeitsplätzen es im nügt, um für jeden gewünschten Winkel zu Innovative Ideen, so viel ist mittlerwei- Beobachtungszeitraum zu Gesprächen gekommen ist (gel- weissagen, wie viel Verkehr er anziehen le sicher, werden nicht geboren, indem be Kreise). Die Mitarbeiter sind als Punkte dargestellt wird und woher. Dann können die Forscher die Vorgesetzten aufstampfen und zum (rot: sitzend, gelb: stehend, grün: gehend). Die untere Gra- trickreiche Alternativen durchspielen. fik stellt für das gleiche Bürogebäude eine Aufzeichnung Brainstorming trommeln. Das hat der US- der Fußgängerströme dar (grün: dichter Verkehr, rot: Das Verfahren ist erstaunlich simpel: Ein Forscher Thomas Allen schon vor Jahren mäßiger Verkehr). Computer frisst sich durch alle möglichen

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Werbeseite Pfade, auf denen ein belie- kommt, und ruft ihn her- biges Flurstück oder auch bei. Leute, die sitzen, wer- ein Tisch im Großraumbüro den dagegen selten gestört; zu erreichen ist. Dabei ver- es ist offenkundig, dass sie merkt er jedes Mal, wie oft arbeiten. Sobald sie aber er abbiegen musste. Abbie- aufstehen, gelten sie als re- gen gibt Minuspunkte. krutierbar. Folglich sollten Der Mensch, so versi- möglichst viele Fußwege in chern die Experten von Sichtweite der Sitzplätze Space Syntax, verfährt ähn- verlaufen. lich bequem. Er nimmt, wo „Bewegung ist eine Res- immer es geht, den einfach- source“, sagt Alan Penn, Ar- sten Weg. Dreimal Abbiegen chitekt bei Space Syntax. ist ihm schon nicht mehr ge- „Sie bringt uns an anderer heuer; da verliert er den Leute Arbeitsplatz vorbei.“ Überblick. Er liebt die freie Das Gebäude mit seinem Strecke, die Sichtschneise, Wegenetz scheint ein eige- die Direktverbindung. ner Produktionsfaktor zu So kommt es, dass ein sein. Bürotrakte, in denen Ort, der von allen Winkeln die Mitarbeiter gut verteilt im Gebäude aus leicht er- über die Fläche zirkulieren, reichbar ist, auch häufig an- wären quasi von Haus aus gesteuert wird. Er ist das Brutstätten der Neuerungs-

Bindeglied für vielerlei Rou- / GROWBAG CRAIG TOM freude. ten. Der Computer errech- Büroforscher Penn, Hillier: Grammatik der Fortbewegung Als der britische Energie- net das aus dem Grund- konzern PowerGen sein riss; dann verleiht er eine Maßzahl der es häufig zu Gesprächen, dort ballen sich neues Hauptquartier in Coventry in An- Zugänglichkeit. auch die notorisch nützlichen Kollegen. griff nahm, war Space Syntax an der Pla- Wo immer die Forscher das reale Ge- Mit Videokameras hat die Firma ermit- nung beteiligt. Jahre später, das Gebäude schehen filmten, fanden sie ihre Prognosen telt, wie ein typisches Gespräch zu Stande war schon bezogen, zeichneten Kameras bestätigt: In den Lagen, die allseits mit kommt: In vier von fünf Fällen sitzt der das Mitarbeiterverhalten auf (siehe Grafik wenigen Richtungswechseln erreichbar eine Kollege gerade an seinem Platz, sieht Seite 194). Ergebnis: Die Verkehrsströme sind, fließt der Hauptverkehr. Dort kommt einen anderen, der zufällig des Weges zirkulieren tatsächlich wie erwünscht. Technik

Wie sich die Belegschaft am besten und Städten. Überall gilt das Gesetz der schnitten sind, die Zahl der Einbrüche mischen lässt, können die Planer gefahr- einfachen Verbindungen: Die Leute set- deutlich steigt. Je weniger Leben auf der los am Rechner probieren. Der kalkuliert zen, ehe sie losziehen, ihre Route im Kopf Straße, desto wagemutiger, so scheint es, ihnen jedweden Grundriss, dann färbt er aus Wegstücken zusammen wie einen Satz der Dieb. die zugänglichsten Zonen rot, die abgele- der Sprache. Hier wie dort meiden sie Die Firma hat auch schon die Labyrinthe gensten blau. Wo müsste demnach die intuitiv die Schachtelsätze, in denen die moderner Krankenhäuser untersucht, die Teeküche hin, die viel Publikum anzieht? Orientierung verloren geht. Besucherströme in Bahnhöfen und Museen Wo könnten die Leute, die quer durchs Vor einiger Zeit analysierte die Firma – und mit besonderem Aufwand das Inne- Gebäude eilen, den Lokalverkehr zum das Verkehrsnetz Londons. Und siehe re von Kaufhäusern: Dafür baut Space Kopierer kreuzen? Und nützt es, eine da: Die Straße, die man von überall her Syntax ganze Etagen im Computer nach Wand einzureißen, wenn das eine neue mit den wenigsten Richtungswechseln er- und schickt künstliche Kunden hinein, so Sichtachse öffnet? reicht, ist die Oxford Street, „nicht von genannte Software-Agenten. Das sind sim- Man kann das Umrühren der Mitarbeiter ungefähr die belebteste Einkaufsstraße Eu- ple Programme, die unentwegt zwischen aber auch übertreiben. Werden die Ange- ropas“, sagt Architekt Penn. „Und zwar Regalen und Gondeln herumstapfen. Die stellten mit allzu viel Durchgangsverkehr nicht, weil dort viele Geschäfte locken. Es Forscher geben ihnen die Einkaufszettel traktiert, bunkern sie sich ein und verstopfen ist genau umgekehrt: Die Läden konnten realer Kunden mit. Dann kann der Kauf- die Ohren. Das lehrt das Debakel des einst blühen, weil ihre Lage im Wegenetz so hausbetreiber ausprobieren, wie er seine modischen Großraumbüros. Die meisten günstig ist.“ Angebote am besten postiert. Insassen haben diese hassen gelernt. Das ist der Kerngedanke hinter der Die virtuellen Agenten sollen nun auch Das Büro der Zukunft, vermutet Penn, Arbeit von Space Syntax: Das Wegenetz ist als Büroangestellte auf Probe dienen: Sie dürfte am besten funktionieren, wenn es eine Maschine, die den Verkehr in Gang sitzen zu Hunderten in ihren Kabäuschen, vielerlei Räume bietet – stille und ver- setzt, verteilt und umtreibt. Der Londoner streben zufallsgesteuert aufs Klo – und bie- kehrsnahe, offene und versteckte –, grup- Architekturprofessor Bill Hillier, der die gen vielleicht in die Teeküche ab, wenn piert um ein paar Sichtachsen herum. Die Firma mitbegründet hatte, baute diesen ihnen ein Kollege ins Blickfeld gerät. Die Mitarbeiter suchen sich dann jeden Tag Gedanken aus zu einer Art Grammatik des Forscher sehen zu, wo die digitalen Ange- einen Arbeitsplatz, der ihrem Bedarf Fortbewegens. stellten unterwegs hängen bleiben und entspricht. Eine solche Bürowelt ähnelt Hilliers Methoden kommen mittlerwei- Grüppchen bilden. einem wohnlichen Stadtviertel, in dem der le auch in der Stadtplanung zum Einsatz: Im simulierten Büro lassen sich auch die Mensch für alle Erregungsgrade das Pas- Zum Beispiel scheinen Wohnviertel, in Geheimnisse des Flurfunks leicht erschlie- sende vorfindet – vom Trubel in den denen erträglicher Verkehr zirkuliert, bes- ßen: Es genügt, einen Agenten mit einem Gassen bis zur Ruhe im Hinterhof. ser gegen Kriminalität gefeit zu sein. Die „Gerücht“ zu füttern. Weiß wenig später die Space Syntax macht in der Tat keinen Forscher fanden heraus, dass in Siedlun- ganze Firma Bescheid, ist das Wegenetz großen Unterschied zwischen Bürohäusern gen, die vom Durchgangsverkehr abge- wohl in Ordnung. Manfred Dworschak Martin Folz und Markenchef AUTOMOBILE Claude Satinet konsequent vermieden. Gefallene Göttin Und das aus gutem Grund. Denn die technischen und Mit eher unspektakulären stilistischen Eskapaden, de- nen viele Citroën-Enthusiasten Massenautos enttäuscht Citroën heute nachweinen, führten be- die Nostalgiker – doch triebswirtschaftlich betrachtet dafür verdient der französische schon zweimal in die Kata- Hersteller jetzt richtig Geld. strophe. Die Marke, so die Sa- tinet-Devise, dürfe nicht wie- ie Erwartungen waren groß und der „in Schönheit sterben“. weit gehend unerfüllbar. Auf der Mit dieser Maxime steuert DInternationalen Automobil-Aus- Citroën in Wahrheit zu seinen stellung 1999 in Frankfurt hatte der fran- längst vergessenen Ursprün- zösische Autohersteller Citroën eine exo- gen zurück. Firmengründer tische Kleinwagenstudie namens „C3“ André Citroën war ein Pio-

gezeigt. nier industrieller Massenpro- AFP Mit komplett kippbaren Sitzen, schrank- duktion. Mit der Herstellung De Gaulle im Citroën DS 19 (1958): Den General gerettet? artig sich öffnenden Türen ohne Mittel- von Zahnrädern (daher auch säule und einem an Raumschiff-Cockpits das zackige Firmenzeichen) gemahnenden Armaturenbrett weckte der und einer Munitionsfabrik be- Prototyp Hoffnungen. Endlich, hofften gann er seine Unternehmer- Nostalgiker, würde der französische Au- karriere. tohersteller wieder einen echten Citroën Nach dem Ersten Welt- bauen. krieg verlegte er sich auf die Das serienreife Resultat kommt nun in Produktion von Autos nach diesem Frühjahr auf den Markt. Von der amerikanischem Vorbild und innovativen Studie übernommen wurde führte als erster Automobil- zwar das hoch gewölbte Kuppeldach, das fabrikant Europas 1922 das in seiner Buckligkeit ein wenig an die Fließband ein. Die unterneh- selige „Ente“, den Citroën 2 CV, erinnert. merische Fortune mischte sich Im Übrigen aber ist der neue Citroën C3 mit „Leidenschaft zu persön- ein ganz normales Auto, in das man durch lichem Ruhm“, so das Schwei- Citroën 2 CV: Kultmobil der Flower Power ganz normale Türen einsteigt, das ganz zer Fachmagazin „Automobil normal fährt und das mit seinem Hart- Revue“ – und endete mit einer Aufsehen musste Citroën sein Unternehmen für zah- plastik-Interieur eher etwas billig aussieht erregenden Neuentwicklung, an der sich lungsunfähig erklären. Der Reifenfabrikant – und mit einem geplanten Grundpreis von Citroën letztlich verhob. Michelin übernahm die Firma. 11520 Euro auch relativ billig ist. Mit enormem technischem Aufwand Im Unternehmen blieb Konstrukteur Der neue C3 ist keine neue „Ente“ und entwickelte Citroën in den Dreißigern das André Lefebvre, der Kopf hinter all auch keine fliegende Untertasse. Er könn- erste frontgetriebene Großserienauto der den wunderlichen Gefährten, mit denen te auch von Opel sein oder von Mazda. Im Welt. Der gespenstische „Traction Avant“, Citroën zum Hightech-Harlekin der Fahr- Konzernverbund mit Peugeot hat sich die im Rückblick als „Gangster-Citroën“ be- zeugbranche wurde. Nach dem Minimal- einstige Avantgardemarke zu einem eben- kannt geworden, erforderte eine totale Auto 2 CV, das laut Lastenheft vier Perso- so gewöhnlichen wie erfolgreichen Auto- Umstellung der Produktionsanlagen und nen, einen Sack Kartoffeln und einen Kar- mobilhersteller gewandelt. Der Ausdruck wurde von dem ungeduldigen Firmen- ton Eier bruchfrei über einen Feldweg bizarrer Kreativität, der Citroën-Produk- gründer zu hastig auf den Markt gedrückt. transportieren können sollte und dann zum ten einst anhaftete, wird von dem heuti- Der Absatz stockte, die Kinderkrankheiten Kultmobil der Flower Power aufstieg, schuf gen Management unter Präsident Jean- nahmen kein Ende. Im Dezember 1934 Lefebvre die Citroën-Ikone DS. Die „Göttin“ (französisch: Kasse mit Masse „déesse“) fiel 1955 „vom Him- mel“, schwärmte etwa der Produktion Philosoph Roland Barthes von Citroën- 1,23 Mio. und nannte sie ein „super- Fahrzeugen lativistisches Objekt“. Ihre 812373 fischige Karosserie glitt auf einem Luftfahrwerk einher, 691504 dessen Zentralhydraulik auch die Servolenkung und die halbautomatische Schaltung versorgte. Der Wagen galt als Wun- derwerk der Fahrsicherheit und soll General de Gaulle in den frühen Sechzigern das Leben gerettet haben: Dessen Chauffeur konnte bei einem 9092 94 96 98 2001 Neuer Citroën C3: „Nicht in Schönheit sterben“ Anschlag angeblich trotz zer-

198 der spiegel 13/2002 Technik schossener Reifen mit dem Präsidenten- Citroën erfolgreich flüchten. Auch Mercedes-Ingenieure besorgten sich damals eine DS, um deren gerühmtes Fahrverhalten zu erproben. Dabei riss Ver- suchsfahrer Friedrich van Winsen das Auto derart ungestüm durch eine Linkskurve, dass sich die Karosserie extrem verdrehte und die Beifahrertür aufsprang. Mess- techniker Hans Werner flog samt seinen Utensilien auf die Straße. Solche Härte- tests, erklärten die Franzosen verschnupft, entsprächen nicht den Fahrgewohnheiten ihrer Kundschaft. Für die kostspieligen Ambitionen der Konstrukteure war der Käuferkreis des französischen Herstellers letztlich zu klein. Im Zuge der Ölkrise blutete das Unter- nehmen finanziell aus. 1976 fusionierte Citroën mit Peugeot zum PSA-Konzern. Diese Allianz hat sich zum zweitgröß- ten Autoimperium Europas nach Volks- wagen entwickelt. Und Citroën ist in die- sem Verbund nicht nur ein exotisches Anhängsel; die Marke trägt rund 40 Pro- zent zum Gesamtabsatz bei. Im vergange- nen Jahr wurden weit über 1,2 Millionen Citroën-Fahrzeuge produziert und ver- kauft. Vorwiegend sind es Klein- und Mit- telklassewagen, die auf gemeinsamen Entwicklungsplattformen mit Peugeot- Fahrzeugen entstanden sind. Was beide Marken technisch vor allen anderen Her- stellern der Welt auszeichnet, ist der Groß- serien-Einsatz von Rußfiltern in Diesel- fahrzeugen. Im Übrigen setzt die Konzernstrategie für Citroën inzwischen eine klare Priorität: preiswerte Autos statt großer Extravagan- zen. Vorrang in der Entwicklung hat der- zeit ein Gemeinschaftsprojekt mit Toyota: ein weiterer, noch günstigerer Kleinwagen, der im Niedriglohnland Tschechien gebaut werden soll. Aus der oberen Fahrzeugklasse, wo einst die „Göttin“ DS glänzte, hat sich Citroën vorübergehend ganz zurückgezogen. In frühestens zwei Jahren wird der C6 er- wartet, der die Luxustradition wieder auf- nehmen könnte. Für individuelle techni- sche Lösungen wird dabei kein unbe- grenzter Spielraum bleiben, denn der große Citroën muss sich eine Entwick- lungsplattform mit dem Nachfolger des Peugeot 607 teilen. So wird die Tradition des skurrilen Fahr- zeugbaus eher in kleinen Marketing-Gags fortleben als in großen Entwürfen. Im Rah- men der Fahrvorstellung des C3 versuchten Citroën-Ingenieure eine Fernreparatur per Datenleitung. Von der Pariser Service-Zentrale aus sollte ein Techniker die elektrische Zen- tralverriegelung eines online verstöpselten C3 über seine PC-Tastatur in Stand setzen. In guter Citroën-Manier misslang das Kunststück. Die Datenleitung bockte. Christian Wüst der spiegel 13/2002 199 OLE ANDERS OLE Luchs im Harz*: Erfolgreich eingelebt

Linsenmair, 61, der mit automatischen Ka- meras Leoparden in der Elfenbeinküste

BEN BEHNKE und Spitzhörnchen auf Borneo nachstellte. Förster Anders mit Fotofalle: „Gefühl wie Weihnachten“ Bereits vor hundert Jahren zogen Na- turforscher mit fotografischen Apparatu- ren, die damals noch durch Stolperdrähte TIERE ausgelöst wurden, in die Wildnis, um Hir- sche, Tiger, Fledermäuse und anderes Ge- tier abzulichten. Doch die unhandliche Paparazzi der Wildnis Ausrüstung erschwerte die Arbeit der frühen Wildtier-Paparazzi. Auch im Reich der Tiere ist es mit der Privatheit vorbei: An den Kräftige Träger waren nötig, um die sperrigen Plattenkameras und schweren entlegensten Orten stellen Forscher Fotofallen auf – und entdecken Stative durch das Unterholz zu schleppen. so neue Arten oder Exoten, die schon als ausgestorben galten. Das Blitzgerät bestand aus einer Metallkis- te, die mit einem Kilogramm Magnesium- in Javanashorn walzt durch den in- storben geglaubten Javanashörner ebenso pulver gefüllt war. Ausgelöst durch Fun- donesischen Dschungel: klick. Durch in die Fotofalle wie jenes Exemplar eines ken, explodierte das Magnesium und tauch- Edie iranische Kawir-Wüste streicht gehörnten Säugetiers, das westliche For- te die Umgebung in ein grelles Licht. ein Gepard: klick. Im nächtlichen Harz scher nie zuvor in ganzer Pracht gesehen Das Spektakel war ungefähr so gemüt- macht sich ein Luchs über ein Rothirsch- hatten: „Saola“ tauften die Zoologen das lich wie ein Artilleriebeschuss: Der Feuer- kalb her: klick. Viech, das sie der Familie der Hornträger knall vertrieb die Tiere aus der Gegend – Wer in die Fotofalle tappt, erschrickt zuschlugen, zu der auch Rinder, Ziegen und steckte häufig genug Büsche und Bäu- sich vor dem Blitz, muss aber nicht um und Antilopen zählen. me in Brand. sein Leben fürchten. „Das Einzige, was die „Fotofallen sind zu wichtigen Werkzeu- Die heutigen automatischen Kameras Tiere lassen, sind ihre Bilder“, sagt der gen der Forschung geworden“, konstatiert dagegen sind so ausgereift, dass man mit Förster Ole Anders, 31, der im Harz Luch- der Würzburger Tropenökologe Eduard ihnen Kreaturen fast jeder Größe heimlich se in selbst gebastelte Fotofallen lockt. aufnehmen kann – vom Elefan- Das letzte Pinselohr wurde dort ver- ten bis zur Maus. mutlich vor knapp 200 Jahren zur Strecke Sogar Flöhe, die so schnell gebracht. Jetzt beweisen Anders’ Aufnah- beschleunigen wie eine Raum- men auf eindrucksvolle Weise: Jene Luch- fähre, werden von modernen se, die in den vergangenen zwei Jahren im Fotofallen erwischt. Früher ge- Nationalpark Harz ausgewildert wurden, ha- lang das ausschließlich in tiefer ben sich in ihrer neuen Heimat erfolgreich Dunkelheit: Der hüpfende Floh eingelebt. Bereits fünf der insgesamt zwölf löste nur noch den Blitz aus, der ausgesetzten Exemplare haben bisher – per Verschluss musste schon vorher Selbstauslöser – Fotos von sich gemacht. offen sein. Selbstbildnisse solcher Art gewähren den Zwar sind längst die ersten Zoologen in aller Welt wertvolle, mitunter kommerziellen Geräte auf dem sogar sensationelle Einblicke in das Leben Markt. Doch die meisten Biolo- scheuer, nachtaktiver und seltener Tiere. gen und Forstleute schwören So gelang es nach jahrelanger Suche kürz- nach wie vor auf selbst gebas- lich mit einer automatischen Kamera, den telte Fotofallen, wie Förster An- schon verschollen geglaubten Asiatischen ders erzählt: „Es gibt fast so Geparden wieder aufzuspüren. Einst war viele verschiedene Systeme wie der schnelle Jäger, eine Unterart des afri- Forschungsprojekte.“ kanischen Geparden, von Saudi-Arabien Alles, was er für seine Harzer bis Indien verbreitet; heute leben nur noch Fotofalle brauchte, fand Anders schätzungsweise 50 Exemplare im Iran. in normalen Foto- und Elektro-

Im vietnamesischen Urwald wiederum GEOGRAPHIC / NATIONAL MICHAEL NICHOLS tappte ein Trupp der dort längst als ausge- Tiger in Indien*: Heimliche Selbstporträts * Fotofallen-Schnappschüsse.

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Werbeseite Wissenschaft geschäften: eine Kompaktkamera mit elek- einander, werfen die Batterie in die eine, schutzorganisation World Wild Fund for trischem Fernauslöser, einen handelsübli- das Gehäuse in die andere Richtung. Nature (WWF) Anfang des Jahres vorge- chen Bewegungsmelder, der Körperwär- Manche Affen wiederum lieben die stellt. Im Kirirom-Nationalpark gelang es me erkennt und Hausbesitzern gemeinhin Foto-Sitzung geradezu, berichtet Tilson: ihnen erstmals, den Fleckenlinsang nach- zur Abwehr von Einbrechern dient, sowie „Die ganze Horde blickt der Reihe nach in zuweisen – eine Schleichkatze, die kleinen eine 12-Volt-Batterie. Gesamtkosten: unter die Linse und zieht Grimassen, bis der Beutetieren nachstellt. 300 Euro. ganze Film verknipst ist.“ Mehr als 60 Arten großer Säugetiere All diese Komponenten verband Anders Die Augen der Kameras gucken häufig in haben im kambodschanischen Dschungel mit Drähten und verstaute sie in wasser- Gebiete, in die sich zuvor kaum ein For- ihre Selbstporträts hinterlassen: darun- dichten Holzkästchen. Seinen Eigenbau scher hineinwagte. In den Wäldern Myan- ter Marmorkatzen und Sonnenbären, Ti- stellte der findige Förster vorigen Herbst mars beispielsweise verleiden Tiger, Mala- ger und Leoparden, Nebelparder und erstmals im Wald auf – und zwar zwei riamücken und bewaffnete Rebellen jede Asiatische Wildhunde sowie die urwüch- Meter vom Kadaver eines sigen Rinderarten Gaur Rothirschkalbs entfernt, das und Banteng. Die beein- von einem Luchs gerissen druckenden Fotos, so hof- worden war. fen die WWF-Aktivisten, Tatsächlich kehrte die könnten die kambodscha- Raubkatze in der tiefen nische Regierung veranlas- Nacht an den Riss zurück sen, die von Wilderern und und schoss beeindruckende Holzfällern bedrohten Tie- Fotos von sich. „Als ich auf re besser als bisher zu dem entwickelten Film den schützen. Luchs sah“, so der Waid- Der gefährdete Florida- mann, „war das ein Gefühl Puma gehört schon zu je- wie Weihnachten.“ nen Arten, die von Kamera- Fast jede Filmrolle birgt überwachung nachweislich eine Überraschung: Auch profitiert haben. Jede zwei- Eichelhäher, Mäusebussar- te tote Raubkatze ging de und eine äußerst seltene früher auf das Konto von europäische Wildkatze hat Autofahrern. Forscher der Anders bereits mit seinem University of Florida ent- System erwischt. wickelten deshalb eine Art Noch eindrucksvollere Puma-Leit-System aus Zäu-

Einblicke gewähren Fotofal- GEOGRAPHIC / NATIONAL MICHAEL NICHOLS nen und Unterführungen, len in den artenreichen Tro- Languren in Indien*: „Die Affen ziehen Grimassen, bis der Film voll ist“ um die Tiere von besonders pen. In den Regenwäldern gefährlichen Highways fern Südostasiens beispielsweise zu halten. öffnen sie gegenwärtig eine Kurz darauf bewiesen Fo- verborgene Welt – bevöl- tofallen an der Interstate 75, kert von wunderlichen We- dass die Pumas einen dort sen wie dem Sumatrakanin- errichteten Tunnel tatsäch- chen „Nesolagus netscheri“ lich benutzten. Nur wegen oder dem schnaubenden dieses Beweisfotos wurde Dschungelrind „Banteng“. der kostspielige Bau wei- Bis vor kurzem noch ver- terer Unterführungen be- brachten manche Biologen willigt. Monate oder gar Jahre in Auf dem Puma-Pfad, so dem grünen Blättermeer, zeigten die Überwachungs- ohne ihre Studienobjekte kameras, wandelten aber jemals zu Gesicht zu be- noch ganz andere Wesen: kommen. Auch Waschbären, Hirsche, Wissenschaftler wie der Alligatoren, Wasservögel, amerikanische Zoologe Ro- Hunde und Spaziergänger nald Tilson, der in Asien nahmen diese sichere Rou- wilde Elefanten und Tiger te. Selbst ein Autofahrer

erforscht, sind deshalb ganz SUMIADI FOEAD / WWF & BTNUK YEHYA testete verbotenerweise die begeistert von den Fotofal- Javanashornkalb in Indonesien*: Wunderliche Wesen neue Strecke – und wurde len: „Diese Kameras wer- gleich geblitzt. den das Studium der Regenwald-Biologie Lust an der Feldforschung. Inzwischen Auch andernorts ist schon so mancher revolutionieren. Man kann mit ihnen ein wird der ungemütliche Landstrich mit Fo- Finstermann in die Fotofalle von Forschern großes Areal schnell und systematisch er- tofallen ausgeleuchtet. „Kein Mensch war getappt. Im Kantabrischen Gebirge Spa- fassen und herausfinden, was da draußen bisher in diesen Gebieten“, berichtet der niens etwa wollten Umweltschützer ei- alles existiert.“ beteiligte Biologe Anthony Lynam. „Jedes gentlich die letzten dort überlebenden Die tierischen Foto-Modelle halten je- Foto bringt eine neue Information.“ Bären fotografieren. doch nicht immer still. Elefanten verwech- Das Ergebnis einer Schnappschuss-In- Auf einem Bild jedoch war eine Gestalt seln die Blitze der Kameras häufig mit je- ventur im ähnlich verschlossenen Kam- mit einem Gewehr zu sehen. Die Umwelt- nen Feuerkrachern, mit denen Bauern sie bodscha haben Mitarbeiter der Umwelt- polizei Seprona konnte den Mann schließ- von den Feldern vertreiben wollen. Die lis- lich identifizieren und der Wilderei über- tigen Grautiere reißen die Fotofallen aus- * Aufgenommen mit Fotofallen. führen. Jörg Blech

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drei Wochen brüsk erklärte: „Im Hinblick auf die Lebensmittelsicherheit ist ihr Land nicht erweiterungsfit.“ So berichten EU-Veterinärinspektoren, dass es in den begutachteten polnischen Firmen oft an qualifiziertem Personal feh- le. Vielerorts werde zudem mit schmudde- ligem Werkzeug und gammeligen Arbeits- handschuhen gearbeitet. Zuvor schon wur- den Kontrolleure Zeuge, wie Schlachthof- werker Fleisch mit Gabelstaplern über die Böden schleiften. Nicht einmal jede zehnte Molkerei und nur 19 der insgesamt 3600 Schlachthöfe und Wurstfabriken in Polen, so eine Mit- teilung des Landwirtschaftsministeriums in Warschau, arbeiten derzeit auf EU-Niveau. Hunderte andere Betriebe haben bereits Übergangsfristen beantragt, um auch nach dem voraussichtlichen Beitritt im Jahr 2004 noch aufholen zu können. Allein die Mo- dernisierung der Anlagen wird Milliarden

EASTWAY.DE kosten und sehr lange dauern. Bauernhof in Polen: Milliarden für die Modernisierung der Landwirtschaft Trickreich hat die polnische Agrarlobby deshalb jetzt vorgeschlagen, „lokal be- lität der Milch beeinträchtigt – vor allem grenzte Sondermärkte“ einzurichten: Pro- ERNÄHRUNG wegen der Abfallprodukte der Keimleichen. dukte aus solchen Regionen sollten nur in- Vielerorts mangelt es in den Molkereien nerhalb Polens verkauft werden und dürf- Keime in den an Testlabors. Eine große Zahl von Schlacht- ten nicht in das übrige Europa gelangen. höfen und Wurstfabriken ist abbruchreif. Nur wer soll das kontrollieren? Sind die Dampfwasser tropft dort von der Decke, Grenzen nach dem EU-Beitritt einmal ver- Kannen der Putz rieselt, die Böden sind nicht wasserdicht – all dies eine Brutstätte Agrar-Hochburg im Osten Milch und Fleisch in Polen für unwillkommene Keime. Natürlich führt das nicht dazu, dass Tausende Landwirtschaft in Polen entsprechen meist noch Polen an Lebensmittelvergiftungen und Deutschland nicht westlichen Hygienestandards sterben – aber viele Molkereiproduk- – schlechte Aussichten te und Fleischwaren sind in der EU Anteil der Landwirtschaft an der Gesamtbeschäftigung 18,8 % 2,5 % für den geplanten EU-Beitritt. bislang nicht handelsfähig. Erschreckendes melden EU-In- Anteil am Bruttowertschöpfung 3,3 % 1,2 % it seinem Pferdefuhrwerk parkte spektoren nun auch von der BSE- der Bauer vor der Molkerei in Front: Der EU-Beitrittskandidat wird Zahl der Betriebe in Tausend 1886* 447** MLowicz südwestlich von War- von ihnen als Risikoland eingestuft. schau. Auf der Pritsche schepperten die Weil Deutschland und andere EU- landwirtschaftliche 18435 17013 Milchkannen. Länder bei Ausbruch der BSE-Krise Nutzfläche in Hektar EU-Verbraucherkommissar David Byrne, nicht mehr wussten, wohin mit Quelle: FAO, BLM, Landwirtschaftsministerium Polen; der gerade den Molkereibetrieb inspizierte, ihren Tiermehl-Überschüssen, wur- *Betriebe ab 1 Hektar, Stand 2000; **Stand 2001 fühlte sich an seine irische Heimat erinnert. den rund 300000 Tonnen nach Polen „Auch dort ging es vor einigen Jahren noch verkauft. In welchen Ställen das Zeug schwunden, fallen auch die bei Einfuhren so altertümlich zu“, erzählt Byrne, „aber verfüttert wurde, ist fast nie dokumentiert. aus Drittländern üblichen Routine-Kon- mit Hilfe Europas kamen wir voran. Das Die Futtermittelüberwachung funktioniert trollen der Veterinäre weg. Im offenen Bin- will ich auch für Polen erreichen.“ mehr schlecht als recht; im Rinderfutter nenmarkt muss nun einmal jedes Her- Da hat sich der EU-Kommissar viel vor- wurden Tiermehlrückstände gefunden. kunftsland für die Einhaltung der EU-Stan- genommen. Die polnische Landwirtschaft Auch bei der Kennzeichnung der Tiere dards sorgen. arbeitet noch wie zu Großmutters Zeiten. kann mit Ohrmarken geschummelt wer- Byrnes Drohungen zeigen erste Wir- Die Mehrheit der 750000 Milchbauern hält den, einschlägige Register fehlen. kung: Nach eineinhalb Jahren hat die pol- gerade mal zwei oder drei Kühe. Geld für Der 34-seitige Horrorbericht soll indes nische Regierung endlich eine namentli- moderne Kühlanlagen fehlt auf den Hö- geheim gehalten werden. Andernfalls hät- che Aufstellung aller polnischen Lebens- fen. Die Milchtanks der Molkereien sind te das EU-Kandidatenland Polen die um- mittelbetriebe geschickt, die überhaupt veraltet. fassende BSE-Inspektion durch westliche EU-fähig gemacht werden könnten. Entsprechend schlecht sind auch die Kontrolleure gar nicht erst zugelassen. Geheim gehalten wird von der polni- Hygienestandards der Milch. Oft stehen Hinter verschlossenen Türen streiten schen Regierung jedoch auch weiterhin ein die Kannen stundenlang in der Sonne, be- polnische Agrarlobbyisten mit EU-Unter- Anhang des Dokuments, die so genannte vor es zum Milchwerk geht. Die Keimzah- händlern mittlerweile lautstark um die Auf- C-Liste: Dort sind die chancenlosen Un- len liegen häufig um das Dreifache über nahme in die EU. Die Empfindlichkeiten ternehmen aufgeführt, die nach der Öff- dem zulässigen EU-Grenzwert. sind beträchtlich gewachsen, seit Verbrau- nung der Märkte verschwinden werden. Und selbst wenn Streptokokken oder cherkommissar Byrne dem neuen polni- Auf dieser schwarzen Liste steht jeder drit- Fäkalbakterien wie die Enterokokken durch schen Landwirtschaftsminister Jaroslaw te Lebensmittelbetrieb des Landes. Erhitzung abgetötet werden, bleibt die Qua- Kalinowski bei seinem Antrittsbesuch vor Sylvia Schreiber

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LITERATUR Draesner Vater und Sohn SCHRIFTSTELLER in Vater geht im Kaufhaus hinter sei- Enem Sohn her, der sich bewegt wie „Jenseits ein betrunkener Matrose. „Geh ordent- lich!“, ermahnt sein Vater ihn. Paolo, sein Sohn, ist Spastiker, er hat Mühe der Norm“ beim Laufen und beim Sprechen. „Wenn du dich schämst“, erwidert er, „kannst Die Berliner Autorin du ja ein bisschen Abstand halten.“ Mit Ulrike Draesner, 40, über dieser anrührenden Szene führt der ita- die Auszeichnung ihres lienische Schriftsteller Giuseppe Pontig- Romans „Mitgift“ mit gia das Thema seines neuen Romans dem neu gestifteten „Preis

ein: das schwierige Verhältnis eines Va- der Literaturhäuser“ MICHAEL HUGHES ters zu seinem behinderten Sohn. Mit viel Zärtlichkeit und Wärme beschreibt SPIEGEL: Frau Draesner, für das Preisgeld und Frau. Ich fragte mich: Wie lebt man Pontiggia den Schmerz, die Verzweif- von 8000 Euro müssen Sie auf Leserei- mit jemandem, der von der sexuellen lung, die Scham und die Schuldgefühle se durch Literaturhäuser gehen. Ist das Norm abweicht? des Vaters, die Wut auf die Ärzte und nicht Strafe statt Belohnung? SPIEGEL: Ihre Heldin soll operativ in auf Gott, die Wut aber auch auf ein her- Draesner: Wirklich nicht. Das ist eine die weibliche Existenz gezwungen wer- anwachsendes Wesen. schöne Form der Anerkennung. Ich in- den. Pontiggia, 67, schildert die professionelle szeniere eine Lesung auf der Bühne und Draesner: Mich interessierten auch die Distanz der Ärzte, ihre Hilflosigkeit, die führe einen Dialog mit den Zuhörern. Diskurse, die wir alle in den Neunzi- wiederum die Ängstlichkeit der Eltern Das Hören gibt dem Text eine Dimen- gern betrieben haben, als Androgynität verstärkt. Dystonische spastische Tetra- sion hinzu. Oft stellen gerade die Jünge- als schick galt. Dabei ist die Theorie parese erfordere viele Stunden täglicher ren Fragen. meilenweit von unserer Praxis entfernt. Physiotherapie, erklärt eine Ärztin, man SPIEGEL: Was interessiert die? Aber was passiert wirklich, wenn Eltern müsse die Bewegungsabläufe Paolos Draesner: Ich habe für das Schreiben ein Kind bekommen, das nicht der normalisieren – eine Aussicht, die die eine wissenschaftliche Karriere aufge- Norm entspricht? Das ist tabuisiert wie Eltern in Panik versetzt. geben und damit auch materielle Si- eh und je. Der Schicksalsschlag bringt das Fami- cherheit. Das ist nach den Maßstäben SPIEGEL: Ihre Gedichte und Romane liengefüge völlig durcheinander. Der der meisten Leute unsinnig, fasziniert spielen oft zwischen Naturwissenschaf- ältere Bruder Alfredo fühlt sich abge- junge Menschen aber sehr. ten und feministischer Theorie. Strapa- stoßen von der Zer- SPIEGEL: In Ihrem Buch geht es um eine ziert das nicht die Literatur? brechlichkeit Paolos, Frau, die mit männlichen und weibli- Draesner: Was sich durch mein Werk dessen Krankheit pro- chen Geschlechtsmerkmalen ausgestat- zieht, ist die Frage nach Körperlichkeit. voziert immer neu die tet ist – ein Zwitterwesen, das beein- Wissenschaft und feministische Theo- Ungeduld des Vaters, druckt und abstößt. rien lassen sich mit Handlungen und was wiederum die Draesner: Mein Roman erzählt auch von Personen gut verbinden, in ihnen spie- Beziehung zwischen einer Liebesgeschichte zwischen Mann gelt sich, wer wir sind. diesem und seiner Frau Franca belastet. „Es gibt so vieles, was nicht über die Spra- che funktioniert!“, AUSSTELLUNGEN seit der Wiedereröffnung des Geburts- sagt Franca. Es dauert zwanzig Jahre, hauses des Duce vor drei Jahren müsse bis ihr Mann begreift, dass sie Recht Pilgern zum Hirn sich die Stadtverwaltung die Klagen rei- hat. „Zwei Leben“, in Italien ein großer sender Mussolini-Fans anhören, heißt es Erfolg, ist eine zarte, manchmal bittere er norditalienische Ort Predappio im örtlichen Kulturdezernat – die Pilger Liebesgeschichte zwischen Vater und Dwill eigentlich keine Pilgerstätte für könnten es nicht verwinden, dass Pred- Sohn und gleichzeitig das eindrucksvol- Neofaschisten mehr sein. Zwar eröffnet appio ihrem Idol keinen Tempel gebaut le Porträt eines unwiderstehlich liebens- die Stadtverwaltung am kommenden habe. Allerdings duldet die Stadt, dass werten Jungen: Er verzeiht die Abwehr Donnerstag im Geburtshaus von Benito die Anhänger regelmäßig auf dem Fried- und Ignoranz der Erwachsenen und Mussolini die Ausstellung „Sportarte“ – hof des Dorfs ihre Ikone anbeten: In der der anderen Kinder wieder und wieder die aber soll eine betont Gruft der Familie Mussolini und bedenkt sie mit einem milden Lä- nüchterne Rückschau auf die ist ein Stück vom Gehirn des cheln, wenn sie ihn wie einen Idioten Geschichte des italienischen Duce zu bestaunen. Auch behandeln. So ist es schließlich auch ein Sports zwischen 1900 und scheint niemanden in der tröstendes Buch über die Liebe eines 1950 sein. Zu sehen sind dann Stadtverwaltung zu stören, Kindes, die sogar die Verzweiflung des vor allem Plakate und Ge- dass vor dem Grab stets ein Vaters zu heilen vermag. mälde aus der Zeit des Fa- Wächter in schwarzem Um- schismus, die den Wandel hang ausharrt. vom privaten Freizeitvergnü- Giuseppe Pontiggia: „Zwei Leben“. Aus dem Italieni- schen von Karin Krieger. Carl Hanser Verlag, München; gen zur politischen Massen- Autosport-Plakat 224 Seiten; 17,90 Euro. bewegung illustrieren. Schon von Federico Seneca (1924)

der spiegel 13/2002 207 Szene EVERETT COLLECTION / KPA (L.); BERTRAND GUAY / AFP / DPA (R.) / AFP / DPA GUAY (L.); BERTRAND / KPA EVERETT COLLECTION Audrey Tautou in „Die fabelhafte Welt der Amélie“, Musiker Tiersen

FILMMUSIK nen und Spielzeugklavieren wird er sein gelungenes neues Album „L’Ab- sente“ (Labels/Virgin) vorstellen, das Der Sound der Amélie auch als Fortsetzung der Welt der Amélie taugt. „Ich spiele alles, was mir in die Finger kommt“, er Mann, der in dem Erfolgsfilm „Die fabelhafte Welt der sagt er – dahinter steckt aber nicht Kleinkunst, sondern Geld- DAmélie“ für den Wohlklang sorgte, heißt Yann Tiersen. mangel. Seine Tagtraum-Melodien, die oft an Satie und Mi- Er hat für seinen wunderbaren Soundtrack zum Hit aus Frank- chael Nyman erinnern und mit denen der junge Bretone seit reich zwar keine Oscar-Nominierung bekommen, war aber Jahren in Frankreich erfolgreich ist, schrammen schon mal am mit der begleitenden CD auch in Deutschland so erfolgreich, Kitsch vorbei. Aber Melancholie, meint der in Paris lebende dass er nächste Woche auf Tournee kommt. Mit exotischen Künstler, sei die einzige Stimmung, die das „Leben in großen Instrumenten wie handgefertigten Keyboards, Schreibmaschi- Städten erträglich macht“.

Kino in Kürze

„Beijing Bicycle“. Wenn in China ein Fahrrad umfällt, interes- überzeugt diesmal anfangs mit lakonischem Witz und hohem siert das keinen Menschen. Wird eins geklaut, ist dies ein großes Erzähltempo. Doch in der Mitte des Films wirft er das Ruder Drama. Der Regisseur Wang Xiaoshuai folgt in seiner charman- herum und gerät schwer vom Kurs ab – und versinkt fast in ten Tragikomödie den Reifenspuren von Vittorio De Sicas neo- falscher Dramatik und der Vergangenheitsbewältigung seines realistischem Filmklassiker „Fahrraddiebe“ (1948) und zeigt Helden. Peking als eine Metropole, deren Bewohner ihre Drahtesel mit der gleichen Inbrunst pflegen wie hier zu Lande die Menschen „Herz“. Das Leben mit seinen Höhen und Tiefen, wie es so ist ihren Benz. Auch wenn man sich bisweilen wünscht, der Re- – nicht mehr und nicht weniger versucht dieser Spielfilm zu fas- gisseur hätte in einen höheren Gang geschaltet, so hält er doch sen, indem er rund einem Dutzend Leuten aus einer Kölner eine universelle Liebeslektion für seine Zuschauer bereit: Um Nachbarschaft ein paar Tage lang auf der Spur bleibt: Partner- eine Frau zu erobern, reicht es nicht, sie zu überfahren. schaftskollaps und Totschlag, Arbeitslosigkeit und Ehebruch, altes Trinkerelend und neues Liebes- „Schiffsmeldungen“ beruht auf dem glück, Hochzeit, Selbstmord und Geburt. Pulitzerpreis-prämierten Roman von E. Der Autor und Regisseur Horst Sczerba Annie Proulx und erzählt von einem ackert schwer, um das episoden- und Mann in den mittleren Jahren (Kevin figurenreiche Pensum von „Herz“ zu be- Spacey), der nach schweren Schicksals- wältigen. Sein fünfter Spielfilm, der et- stürmen in einem neufundländischen was wie „Short Cuts“ auf Deutsch sein Fischerdorf vor Anker geht. Unter Men- möchte, kommt leider allzu deutsch da- schen, die wie Gestrandete wirken, fin- her: so bedeutungsbefrachtet, schwerfäl- det er zu sich selbst. Regisseur Lasse lig und humorlos, dass man der Unter- Hallström, im letzten Jahr mit der kleb- nehmung ihren Ehrgeiz und ihre hohen

rigen Literaturverfilmung „Chocolat“ CINETEXT Absichten zugute halten muss, um nicht unter die Süßwarenhändler gegangen, Szene aus „Herz“ vorzeitig erschöpft aufzugeben.

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ARCHITEKTUR Brodelndes Finale ie Pinakothek der Moderne in DMünchen sollte ein Prestigeobjekt werden – für den bayerischen Freistaat und den Architekten Stephan Braun- fels. Doch um keinen anderen Neubau der vergangenen Jahre gab es so viel Knatsch. Am vergangenen Donnerstag präsentierten Braunfels und Bayerns Kunstminister Hans Zehetmair in Mün- chen den noch leeren Neubau. Wen wundert’s, dass auch dabei nicht nur jubiliert wurde. Zehetmair deutete „im- mer noch nicht vollständig ausgeräum- te“ Differenzen an. Mehrmals hatte sich schließlich die Fertigstellung des Baus verzögert, die Kosten stiegen von 100 Millionen auf 121 Millionen Euro. Als sich im vergangenen Jahr auch noch die riesige Glaskuppel als undicht erwies und der Deckenputz abbröckelte, droh-

te das Haus endgültig zur Pleiten- und / DDP GAMBARINI MAURIZIO Pannen-Pinakothek zu werden. Archi- Zentrale Halle der Pinakothek tekt Braunfels selbst hatte sich schon früh über den knappen Kostendeckel Museum, das von außen schlicht und und den Zwang zu Billigmaterialien be- hermetisch wirkt, überrascht mit einer schwert („peinliche Misere“). Immerhin lichten und klar strukturierten Innen- half der Freundeskreis der Pinakothek welt – und dürfte als idealer Rahmen mit zusätzlichen Spenden aus. Braun- für die bis September einziehende fels’ Büro hat sich zudem verschuldet, Kunst funktionieren. Wie viel Geld er um weitere Korrekturen zu finanzieren. ausgelegt hat, mag Braunfels nicht ver- Eine ungewöhnliche Maßnahme, die raten. Aber er räumt ein: Er würde es sich aus ästhetischer Sicht lohnt: Das gern zurückbekommen.

HÖRBÜCHER schuld“ – eine kleine Revolution in der Erzählkunst und der erotischen Litera- Das erste Mal tur. Auf mehr als 50 Seiten (in der spä- teren Buchfassung) berichtet der Ich-Er- as ist ein Hörbuch anderes als ein zähler, wie er die geliebte und von allen Wgut gelesenes Stück Literatur auf begehrte Kommilitonin Orra Perkins CD oder Kassette? Bisweilen eine Art nicht nur für sich gewinnen kann, son- Offenbarung: Auf der Leipziger Buch- dern eines Tages – gegen ihren zunächst messe, die am Sonntag erklärten Widerstand – zu Ende ging, hat sich zum ersten Orgasmus in diesem Frühjahr ne- ihres Lebens bringt. ben dem traditionel- Gelesen wird diese len Rahmenprogramm Reise ins Herz der Se- „Leipzig liest“ das xualität nun ungekürzt akustische Gegenge- von Matthias Fuchs, wicht „ganz Ohr“ mit der genau den rich- täglichen Veranstaltun- tigen Ton für diesen gen eindrucksvoll eta- literarischen Versuch bliert. Welche Intensität findet: nüchtern und auf CD gebrannte Lite- fast pedantisch, auf ei- ratur tatsächlich mitun- ner Länge von exakt ter erreichen kann, da- 121 Minuten. Zugleich für ist eine Produktion Hörbuch-Cover ist dieses Hörbuch aus dem Verlag Hör- auch eine Erinnerung buch Hamburg ein Beispiel: Der US- an den großen Vortragskünstler: Fuchs, Autor Harold Brodkey (1930 bis 1996) der lange im Ensemble des Hamburger publizierte 1973 erstmals seine Ge- Schauspielhauses arbeitete, starb am schichte mit dem harmlosen Titel „Un- 1. Januar dieses Jahres.

der spiegel 13/2002 209 Kultur

Ein schillerndes Sittengemälde New Yorks vor der Katastrophe s ist ein kalter, klarer Wintertag, als Sal- ler Rückendeckung gibt. Er ist vor zwei Jah- Nun ist „Wut“ gewiss kein Meisterwerk wie Eman Rushdie die Räume seines Agenten ren nach New York gezogen, um die Furcht „Mitternachtskinder“ und bleibt literarisch auf der New Yorker Upper West Side betritt. hinter sich zu lassen. Die Erinnerung an die 30 unter den Möglichkeiten, die Rushdie in sei- Seine Kleidung schwarz, zerknautscht und Verstecke, in denen er sich über neun Jahre in ner Karriere oft genug bewiesen hat. von Armani – wie früher. Neu ist, dass nie- Großbritannien verkriechen musste. Das An- Aber „Wut“ ist ein interessanter Roman, vol- mand hinter ihm herläuft, der dem Schriftstel- denken an die englische Presse, die ihm vor- ler Ideen und Geschichten über das Leben warf, seine Sicherheitsmaßnahmen hätten den um die Jahrtausendwende in New York. Ein Steuerzahler elf Millionen Pfund gekostet. schillerndes Sittengemälde der Boom-Jahre Natürlich wurde er auch im letzten Sommer in der Globalisierungshauptstadt, wo trotz zur Zielscheibe, als „Fury“ (Wut) in England allen Taumels die Bedrohung und die Angst besprochen wurde und die Journalisten of- vor einer Katastrophe ständig hinter den In- fenbar den Titel als Aufforderung verstanden, signien des Wohlstands, hinter den 300- auf Rushdie einzuprügeln. „Eines der ab- Dollar-Korkenziehern und Amazon-Aktien scheulichsten Bücher, die jemals ein berühm- lauern. ter Schriftsteller in englischer Sprache veröf- „Wut“ entfacht ein Fegefeuer der Eitelkeiten, fentlicht hat“, scharfrichterte der „Indepen- welches stets drauf und dran ist, von einer dent“. Andere aus dem Lohnschreibermob Explosion verschlungen zu werden. „Ich hat- forderten Rushdies sofortige Zwangsverban- te das Gefühl, sehr schnell arbeiten zu müs- nung aus der ersten Liga. sen“, sagt Salman Rushdie, der mit diesem neuen Roman bewiesen hat, dass er zumin- Autor Rushdie dest als Seismograf unserer Zeit konkur- Eine Stadt im Fegefeuer der Eitelkeiten renzlos dasteht. HARALD T. SCHREIBER T. HARALD

SPIEGEL-GESPRÄCH „Der Anti-Terror-Krieg musste sein“ Der Schriftsteller Salman Rushdie über seine neue Heimat New York, die Tragödie der islamischen Länder und seinen Roman „Wut“

SPIEGEL: Mr. Rushdie, in Ihrem gerade er- F. Scott Fitzgeralds Roman „Der große haben, so gibt es in Ihrem Roman doch schienenen Roman beschreiben Sie New Gatsby“. Als Fitzgerald seinen Roman ver- Zeichen einer schwärenden Unruhe vor York als das neue Rom*. Was macht für Sie öffentlichte, wurde er stark kritisiert als zu der Bedrohung durch die, die keinen An- New York zur Hauptstadt der Welt? oberflächlich und zu geschwätzig. Heute teil am amerikanischen Wohlstand haben. Rushdie: In bestimmten Geschichtsepochen aber zählt er offiziell zu den besten Roma- An einer Stelle schreiben Sie: „Amerika werden bestimmte Städte zu Zentren wich- nen, die je in Amerika erschienen sind. beleidigt den Rest des Planeten. Und die- tiger Energien. Das galt einmal für Paris SPIEGEL: Fitzgerald porträtierte in „Gats- se Beleidigung macht den Rest der Welt und London, und jetzt, für meine Genera- by“ die zwanziger Jahre; das Lebensgefühl nur noch gieriger. Menschen in Indien, tion, heißt dieser Ort New York. In den des Jazz-Age. Welchen Namen geben Sie China und Afrika würden morden für die neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts der Epoche, die Sie in „Wut“ beschreiben? Waren, die in New York einfach auf der hat der Boom dieser Stadt wohl seinen Rushdie: Das wirklich goldene Zeitalter Straße angeboten werden.“ Höhepunkt erreicht, und gleichzeitig be- New Yorks. Ich weiß, Leute haben dies Rushdie: Eine Menge von diesem ganzen schlich viele seiner Bewohner das Gefühl, über die Periode gesagt, in der die Wol- Gerede über Amerika ist scheinheilig, und dass diese Zeit nicht ewig weitergehen kön- kenkratzer gebaut wurden. Aber ich glau- viel von der Kritik ist nichts anderes als ne. In den Ecken sammelten sich kleine be, die neunziger Jahre waren es wirklich. Neid. Trotzdem hat mich der 11. Septem- Schatten, die immer größer wurden. Die Stadt strotzte vor Selbstbewusstsein, ber absolut überrascht. Als mein Buch we- SPIEGEL: Welche Schatten meinen Sie? Kraft und Geld. Ich wollte also – wie beim nig später in Frankreich herauskam, be- Rushdie: Zum Beispiel das Platzen der In- „Großen Gatsby“ – zwei Dinge leisten. Ers- handelten mich die Leute, als sei ich ein ternet-Blase und die ersten Zeichen für tens sollten die Leute, die diese Epoche er- Hellseher. Das war sehr seltsam. Denn ein eine Rezession sorgten dafür, dass diese lebt haben, sie wiedererkennen können. Schriftsteller mag vielleicht in der Lage Abenteuerspielplatz-Atmosphäre allmäh- Zweitens sollten die, die später einmal auf sein zu beschreiben, was in der Luft liegt. lich gefährdet war. Dieses Gefühl, alles ha- die Welt zurückblicken, sagen können: Auf keinen Fall aber kann er vorhersagen, ben zu können, wenn man es nur wollte. „Aha, so war das also.“ Was ich allerdings was genau kommen wird. Ich wusste also, dass ich schnell arbeiten nicht wusste, war, dass dieses goldene Zeit- SPIEGEL: Auf dem Cover Ihres Buches ist musste. Im Hinterkopf hatte ich dabei alter im Monat der Veröffentlichung des das Empire State Building zu sehen, über Buches mit einem Schlag enden sollte. dem eine dunkle Wolke schwebt. Werden * Salman Rushdie: „Wut“. Aus dem Englischen von Gise- SPIEGEL: Das Buch erschien in den USA im Sie da im Nachhinein nicht abergläubisch? la Stege. Kindler Verlag, Berlin; 396 Seiten; 19,90 Euro. Das Gespräch führte Redakteur Thomas Hüetlin in New September letzten Jahres. Aber auch wenn Rushdie: Das Foto hat eine englische Art- York. Sie nicht den Anschlag vorhergesehen direktorin sechs Monate vor der Veröf-

210 der spiegel 13/2002 SPENCER PLATT / GETTY IMAGES Rushdie-Thema Manhattan*: Bei all dem Glanz und Überschwang ist das Ende nah fentlichung ausgewählt. Das tat sie natür- dass eine kleine Zahl von motivierten Leu- gen sagen den Leuten nichts, solange sie lich, weil bei all dem Glanz und dem Über- ten ein Riesendesaster anrichten kann. nicht müssen. Wohingegen in der ameri- schwang, den das Buch im New York der SPIEGEL: Wie Sie lange genug erfahren ha- kanischen Politik die schlimmen Dinge im- Neunziger beschreibt, die Katastrophe ben, ist das Ergebnis von einem Maximum mer durchsickern. Schon deshalb bin ich ständig lauert. Das Ende ist nah. Dass es al- an Sicherheit die Unfreiheit. Sehen Sie, bis heute davon überzeugt, dass Lee Har- lerdings in Form eines Terrorangriffs kom- dass der amerikanische Staat unter dem vey Oswald tatsächlich der Mörder von men würde, davon wurde ich ebenso über- Vorwand, seine Bürger zu schützen, Schritt John F. Kennedy war. Wäre der Mord eine rascht wie jeder andere. für Schritt die Grundrechte einschränkt? große Verschwörung gewesen, es wäre her- SPIEGEL: Den größten Teil der neunziger Rushdie: Die große Aufgabe besteht darin, ausgekommen. Amerikaner können auf die Jahre mussten Sie sich in England ver- ein Sicherheitsnetz zu schaffen, welches Dauer ihren Mund nicht halten. Ich mag stecken, weil Sie durch Chomeini zum die Werte, die es schützen soll, nicht stran- das. Es ist für mich ein wichtiges Element Tode verurteilt wurden. Iran hat 1998 er- guliert. Wenn wir uns darauf einigen, dass der Demokratie. klärt, man wolle das Urteil nicht weiter das, was wir verteidigen, die freie Gesell- SPIEGEL: In Europa gab es massive Kritik an verfolgen. Trotzdem gibt es noch Extre- schaft ist, dann sollten wir uns davor hüten, der Härte der amerikanischen Kriegs- misten, die daran festhalten. Fürchten Sie sie in eine unfreie Gesellschaft zu verwan- führung in Afghanistan… sich jetzt, in New York, noch vor Leuten, deln. Schon deshalb mache ich mir große Rushdie: … ich war für den Anti-Terror- die Sie umbringen wollen? Sorgen über die Geheimnistuerei, mit wel- Krieg, er musste sein – davon bin ich bis Rushdie: Nein. cher die US-Regierung seit dem 11. Sep- zum heutigen Tag überzeugt. Und meine SPIEGEL: Ihr Schicksal teilen Sie mit Ame- tember zur Sache geht. Mehr und mehr Meinung teilen die meisten Afghanen, die rika, dem die al-Qaida vor vier Jahren den Dinge werden unter den Teppich gekehrt, ja aufgejubelt haben an dem Tag, als die Krieg erklärt hat und deren Attentate die man weiß oft nicht mehr, was genau vor- Schreckensherrschaft der Taliban zusam- Zustimmung radikaler Muslime finden. geht und warum. Menschen werden aus menbrach. Übrigens ist die Niederlage der Halten Sie weitere Anschläge für möglich? mysteriösen Gründen festgenommen, für Taliban auch eine Wohltat für den Rest der Rushdie: Sehr wahrscheinlich. Der 11. Sep- unbestimmte Zeit festgehalten und irgend- Welt. Denn mit ihnen entmachtet wurde tember war kein Einzelfall, er hat gezeigt, wann wieder freigelassen, ohne dass je- die Bin-Laden-Gruppe, welche es geschafft mand auch nur Entschuldi- hatte, als eine terroristische Organisation New Yorks Times Square: „Selbstbewusstsein, Kraft, Geld“ gung sagt. einen gesamten Staat zu lenken. Die al- SPIEGEL: Lernen Sie auf Qaida hatte nicht nur die afghanische Re- Grund solcher Entwicklun- gierung mit enormen Summen Jahr für gen in Amerika die politi- Jahr bestochen, genau genommen hatte sie sche Kultur Englands wie- ganz Afghanistan im Griff. Wie tief sie das der neu zu schätzen? Land durchdrungen hatte, sieht man bis Rushdie: Die politische Kul- heute. Überall sind ihre Festungen verteilt, tur Englands war immer die Aufräumarbeiten werden noch eine von Geheimnistuerei ge- Zeit lang andauern. Ohne diesen Krieg hät-

VARIO-PRESS prägt. Britische Regierun- te es in der Zwischenzeit viele neue At- tentate auf den Westen gegeben. Wenn je- mand kommt und zentrale Gebäude im * Mit Licht-Türmen, die am 11. März an die zerstörten Twin Towers erin- Herzen deines Landes zerstört und dazu nerten. Tausende von Menschen umbringt – was

der spiegel 13/2002 211 soll man mit so jemandem anstel- politik gemacht, die ziemlichen len? Sich entschuldigen: „Sorry, Schaden angerichtet haben. Zum wir waren böse und geloben Bes- Beispiel, als sie in Iran eine demo- serung von jetzt an?“ kratische Regierung stürzen hal- SPIEGEL: So ungefähr stellen sich fen, den Schah installierten, die Ty- das einige Linksintellektuelle in rannei des Schahs stützten, was Europa vor. schließlich zu Chomeini führte. Rushdie: Unsinn. Dieser Krieg Zum Beispiel vor kurzem, als sie musste geführt werden, und er ist die Extremisten in Algerien unter- gut geführt worden. All die War- stützten. Trotzdem sind viele mus- nungen, mit denen die Kritiker die limische Staaten an ihrem Nieder- amerikanische Regierung stoppen gang zum größten Teil selbst wollten, erwiesen sich als falsch. schuld. Sie haben eine Art para- Die Kritiker sagten: Die Amerika- noider Rhetorik entwickelt, deren ner werden dasselbe Desaster er- Grundsatz heißt: „Es ist nicht un- leben wie die Sowjetunion. Falsch. sere Schuld, die Amerikaner ha- Die Nordallianz hat gegen die Ta- ben uns das alles eingebrockt.“ liban keine Chance. Falsch. Wenn Diese Haltung zeigt vor allem, dass die Nordallianz in Kabul einmar- sich diese Staaten verhalten wie schiert, wird die Stadt in ein unmündige Kinder. Sie geben auf

Schlachthaus verwandelt. Falsch. FRED PROUSER / REUTERS diese Weise die Verantwortung für Wenn die Nordallianz gewinnt, Rushdie mit Freundin Padma: „Unglaubliche Anziehung“ die Eigenständigkeit ab, nach der wird sie die Macht in Afghanistan sie angeblich streben. Die Liste der an sich reißen und nicht teilen wollen. dass solche nicht unbedingt im Pentagon Staaten, die sich selbst ruiniert haben, ist Falsch. Die Festungen im Norden des Lan- arbeiten. Es gibt nicht viele Leute auf der lang. Nehmen wir doch mal Iran: früher des und Kandahar sind so gut gesichert, Welt, die solch eine Konversation so über- einmal ein prosperierender Staat, heute dass sie nicht einnehmbar sind. Falsch. Es zeugend erfinden können. Die dazu in der ein ökonomisch fast hoffnungsloser Fall. wird einen Guerrilla-Krieg geben, der vie- Lage sind, kenne ich. Nehmen wir Pakistan: ein Land, welches le, viele Jahre dauert. Na ja, nicht wirklich. SPIEGEL: Unmittelbar nach dem 11. Sep- sich durch Putsch und Korruption fast SPIEGEL: In einem Punkt hatten die Kritiker tember hat das Pentagon eine Runde von schon zerstört hat. Nehmen wir die fürch- Recht. Es ist den USA nicht gelungen, Osa- Kreativen aus Hollywood zusammengeholt terliche Königsfamilie in Saudi-Arabien, ma Bin Laden zu schnappen. – sie sollten in einem Brainstorming Ter- die die Menschenrechte mit Füßen tritt. Rushdie: Es wird vielleicht noch fünf Jahre rorszenarien entwerfen, die die USA in Der Niedergang der arabischen Welt ist in dauern, aber sie werden ihn kriegen. Ihn ihre Abwehrplanungen einbeziehen konn- den letzten 40 Jahren eine mehr als depri- ebenso wie Mullah Omar. ten. Vielleicht ist aus dieser Runde das eine mierende Angelegenheit. SPIEGEL: Mit welchem Fahndungsfoto? An- oder andere Schreibtalent übrig geblieben? SPIEGEL: Sie haben darauf hingewiesen, wie geblich ist Bin Ladens Gesicht schon längst Rushdie: Es gibt keine vier Leute in Holly- zäh Reformbewegungen in der islamischen chirurgisch verändert worden. wood, die sich genügend mit der arabi- Welt vorankommen. Rushdie: Das ist jetzt Detektivarbeit, aber schen Welt auskennen, um solche Dialoge Rushdie: Das Grundproblem ist, dass Poli- die Amerikaner werden den Fall lösen. Bin zu entwerfen. Und selbst wenn es so wäre, tik und Kultur durch die Religion definiert Laden ist Richard Nixon in einer Hinsicht dann stünde diesen Schreibern die eigene werden und die Trennung von Kirche und sehr ähnlich: Er ist davon besessen, sich auf Eitelkeit im Wege. Angenommen, der Staat nie vollzogen wurde. Es gibt eine Band aufzunehmen. Diese Sucht hat Nixon Drehbuchautor Joe Eszterhas, einer der tiefe Angst vor der Freiheit, und die Leid- sein Amt gekostet, und sie wird Bin Laden bestbezahltesten Männer der Branche, hät- tragenden dieser Furcht vor der Moderne zum Verhängnis werden. Bin Laden liebt es, te das Tape geschrieben – er würde es laut sind vor allem die Frauen. Eine meiner drei sich im Fernsehen zu zeigen, er liebt es, Vi- angebend jedem auf die Nase binden. Schwestern arbeitete als Rechtsanwältin deos von sich zu machen. Und jetzt haben SPIEGEL: Der größte Teil der muslimischen in Pakistan, und sie hat inzwischen ihren wir schon länger keins von ihm gesehen. Er Welt tut sich mit der Moderne schwer. Als Beruf aufgegeben. Weil sie als Frau vor muss also schrecklich leiden. Er wird wie- Sündenbock für dieses Zentralproblem Gericht nicht für voll genommen wurde der ein Band von sich verschicken. Dieses muss stets Amerika herhalten. und weil sich ihre Mandanten oft nach ei- Band wird uns viel über ihn verraten. Wir Rushdie: Im Zuge des Kalten Krieges haben nem Prozess weigerten zu bezahlen, nach leben nun mal in einer kleinen Welt. Dies die Amerikaner Fehler in ihrer Außen- dem Motto: „Sie ist ja nur eine Frau, sie ist die größte Suchaktion in der wird niemals durchsetzen, dass wir Menschheitsgeschichte. Das mäch- unsere Rechnungen begleichen tigste Land der Welt jagt mit allen müssen.“ Mitteln, die es zur Verfügung hat, SPIEGEL: Sie haben den Westen auf- einen einzigen Mann. gefordert, Reformen in der musli- SPIEGEL: Halten Sie das Tape, auf mischen Welt zu unterstützen. Zur- dem Bin Laden seine Beteiligung zeit aber verfolgt die Regierung der an den Anschlägen vom 11. Sep- Vereinigten Staaten eher das Ge- tember gesteht, über jeden Fäl- genteil: Erst reiht sie den reforme- schungsverdacht erhaben? rischen Iran in eine „Achse des Bö- Rushdie: Das Ganze wirkt sehr au- sen“ ein, dann plant sie eine neue thentisch, sehr im Einklang mit Bin Generation von Atomwaffen, spe- Ladens Charakter, und ist als Ge- ziell für den Irak, Iran, Nordkorea, spräch sehr überzeugend. Wenn es Syrien und Libyen. gefälscht sein sollte, dann müssen Rushdie: Diese Haltung ist in der Tat

brillante Schriftsteller am Werk ge- / GETTY IMAGES JOE RAEDLE Furcht erregend, und ich bin wenig wesen sein, und ich bin mir sicher, US-Soldaten, toter Taliban: „Eine Wohltat für die Welt“ begeistert von der Konstruktion die-

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Werbeseite Kultur ser „Achse des Bösen“. Andererseits glau- Summe für den Polizeischutz damit ver- be ich, dass die Europäer die Reformbe- rechnet, kommt heraus, dass der englische wegungen in Iran ein wenig überschätzen. Staat am Ende noch Profit mit mir gemacht Die neue Generation von Atomwaffen aber hat. wird meiner Meinung nach nicht gebaut SPIEGEL: Sie haben einmal gesagt, dass Sie werden. Gespräche, die ich mit Senatoren gern die Titelseiten der Tageszeitungen in Washington geführt habe, sagen mir, wieder verlassen und Ihren Platz weiter dass es dafür keine Mehrheit geben wird. hinten im Feuilleton einnehmen würden. Andererseits leben wir in einer neuen In England sind Sie auf die Klatschseiten Welt: Alles kann passieren. abgerutscht. Wie erklären Sie sich, dass die SPIEGEL: Was sagen Ihnen Ihre Kontakte dortigen Journalisten es so interessant fin- in Washington über das Schicksal des den, dass Sie einen persönlichen Trainer Irak? Steht eine US-Invasion unmittelbar beschäftigen und jetzt mit einem indischen bevor? Fotomodell zusammenleben? Rushdie: Die Amerikaner wollen da hinein. Aber es gibt ein zentrales Problem: Was kommt nach dem Sturz von Saddam Hussein? Welche Regierung kann die Interessen der Menschen dort vertreten? Was nie- mand will, ist ein Marionetten- regime, welches die Amerikaner zwingt, sich die nächsten 50 Jahre im Irak aufzuhalten. Wenn mir ei- ner eine legitime Regierung zeigen könnte, die von der Mehrheit des

irakischen Volkes getragen wird, AFP / DPA würde ich sagen: weg mit ihm. Ich Rushdie-Ankläger (1989): Niemals sicher kann Saddam Hussein auch nicht leiden. Ich bin kein friedliebender Typ in Rushdie: Die wenigen Leute, die das be- dieser Frage. treiben, treffen sich in denselben sechs Lo- SPIEGEL: Was hat Sie vor zwei Jahren be- kalen, trinken gern zusammen und haben wogen, England zu verlassen und sich hier sich darauf geeinigt, dass ich ein „arro- niederzulassen? ganter Bastard“ bin. Sollen sie. Wenn man Rushdie: Für mich wurde es höchste Zeit, sich die Weltpresse anschaut, stehen sie hierher zu ziehen. Eigentlich wollte ich mit dieser Meinung ziemlich alleine da. schon Ende der Achtziger mir hier eine Die britische Presse geht leider durch eine Wohnung suchen, aber aus wohl bekann- ziemlich bösartige Phase. Ihre Vorstellung ten Gründen musste ich es bleiben lassen. von Journalismus besteht vor allem darin, New York und ich – wir hatten also noch dass sie Zielscheiben errichten und dann eine Verabredung offen. Dazu kam, dass voll draufhalten. Wahrscheinlich sind die- mir mein Instinkt sagte: „Fahr dorthin – es se Hinterhaltsschreiber sauer, dass ich nicht gibt Arbeit für dich.“ Ich war stets begeis- getötet wurde. Sie gönnen mir nicht, dass tert vom Charakter der Stadt, die erst ein- ich die Fatwa überstanden habe und jetzt mal jedem, der sie betritt, einen Neuanfang ein besseres Leben führe. verspricht. Diese Verheißung Amerikas, SPIEGEL: Warum haben Sie Ihrer Freundin dass der Einzelne sich noch einmal erfin- Padma das Buch nicht nur gewidmet, son- den kann, funktioniert hier noch. Sie kön- dern auch einen der Hauptcharaktere nach nen aus dem Mittleren Westen kommen, ihrem Vorbild geformt? Haben Sie damit sich einen weißen Anzug anziehen und wie nicht neue Prügel provoziert? ein Dandy durch die Straßen marschieren, Rushdie: Padma beeindruckt mich weit es wird Ihnen niemand übel nehmen. New mehr als die Drohungen dieser Schreiber. York ist eine Stadt der Identitätssuchen- Von Anfang an war eine unglaubliche An- den und Immigranten. Ich habe mich hier ziehung zwischen uns, man könnte sagen, stets zu Hause gefühlt. es war, als habe es gleichzeitig geblitzt und SPIEGEL: Was die britische Presse mit Ih- gedonnert. Wir wurden einander vorge- nen Ende der Neunziger anstellte, kam stellt, redeten ganz kurz, vielleicht 30 Se- einer Vertreibung gleich. Ständig wurde kunden, und schon tauschten wir die Te- an Ihnen herumgenörgelt und am Ende lefonnummern. Am nächsten Morgen habe sogar vorgerechnet, dass Ihr Polizeischutz ich sie angerufen. Diese Entschlossenheit den englischen Steuerzahler elf Millionen war auch für mich neu. Normalerweise tue Pfund kostete. Haben solche Kampagnen ich so etwas nicht. den Umzug in die neue Heimat erleich- SPIEGEL: New York ist immer noch das tert? primäre Ziel für weitere Anschläge. Über- Rushdie: Es waren keine elf Millionen legen Sie, die Stadt wieder zu verlassen? Pfund, sondern viel weniger. Außerdem Rushdie: Ich bleibe. Hier fühle ich mich habe ich während der Zeit, als ich im Ver- frei. borgenen leben musste, britische Ein- SPIEGEL: Mr. Rushdie, wir danken Ihnen kommensteuer bezahlt. Wenn man die für dieses Gespräch.

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Werbeseite films „Das Cabinett des die beiden Drehbuchautoren zu ihrer bis Dr. Caligari“ von 1920. Am heute beklemmenden Parabel. Dienstag dieser Woche hat „Eine Staatsautorität, die uns zwang, an die Produktion endlich einem unsinnigen Krieg teilzunehmen“, ihre verspätete Premiere. schrieb Hans Janowitz, einer der Autoren, Irgendwann als Student später, sei in ihrem Film durch „den großen in Texas, verrät Wilson, 60, Psychiater, den berühmten und geachte- in der Mittagspause bei ten Direktor der Irrenanstalt, charakteri- wässrigem Kantinen-Salat, siert“ worden, „der sich selbst in Dr. Cali- habe er den Stummfilm gari, den Mörder, verwandelte“. von Robert Wiene zum ers- Auf den Schlussproben im Deutschen ten Mal gesehen. Die un- Theater lässt Robert Wilson immer wieder gewöhnlichen Bilder hät- Christian Grashof, seinen Caligari, eine ten ihn nie mehr losgelas- steile Rampe hinaufbalancieren. Immer sen. Und die Story. wieder muss er mit einem langen roten Mit der Creme der da- Stab in der Hand im genau richtigen Mo- maligen Hauptstadt-Schau- ment eine komplizierte Drehung aus- spieler – Werner Krauß führen. Sein Kostüm, eine Art verfremde- und Conrad Veidt etwa ter Gehrock mit einer überlangen Schlep- und der Debütantin Lil Da- pe, ist dem Schauspieler sichtlich im Wege. gover – erzählt der ansons- Grotesk verlangsamte Bewegungen und ten cineastisch eher unbe- die weit aufgerissenen Augen im weiß ge- deutende Regisseur Wiene schminkten Gesicht des Schauspielers ver- die schreckliche Geschich- weisen auf die berühmte expressionistische te des Dr. Caligari, der von Vorlage. Aber eine Kopie ist Wilsons Ver- Jahrmarkt zu Jahrmarkt sion, in der es so gut wie keinen gespro- zieht und dem staunenden chenen Text gibt, nicht. Er gehe mit dieser Publikum in seinem Cabi- Arbeit, sagt der Regisseur, „zurück zu den nett einen scheinbar willen- Wurzeln“. losen Nachtwandler prä- Zurück zu den grandiosen Anfängen, sentiert. Eines Tages, in ei- als er, der Amerikaner, den im Regie-Thea- ner norddeutschen Klein- ter fest verankerten Europäern ein ful- stadt, kommt es zu myste- minantes Bühnenspektakel der minutiös riösen Morden. Gerüchte inszenierten Langsamkeit vorführte; als er wirbeln durch die Stadt. heute noch legendäre Aufführungen zeig- War es das somnambule te wie Ende der siebziger Jahre „Einstein Medium? Oder gar der un- on the Beach“, in denen die Sprache nichts

IKO FREESE / DRAMA IKO heimliche Doktor selbst? und retardierte Bewegung und sphärische Wilson-Inszenierung „Doktor Caligari“*: Macht der Magie Als sich der Ring um Musik alles waren – zusammengehalten den Schausteller zuzieht, durch die Macht magischer Bilder und flieht er in eine Irrenanstalt. Doch, o Graus, hochprofessioneller Beleuchtungseffekte. LEGENDEN die Verfolger entdecken, dass der Direk- Inzwischen hat sich Wilsons Stil per- tor des Instituts und Caligari identisch fektioniert – einige Kritiker spotten, er Katastrophe sind. Doch das ist lange noch nicht das habe sich bloß konfektioniert. Der Re- Ende. gisseur arbeitet an verschiedenen Projek- In Wahrheit nämlich, so sug- ten gleichzeitig, zieht – ein Ca- als Kopfgeburt geriert eine Rahmenhandlung ligari der Kunst – wie ein Wan- des Films, ist die ganze gruse- derzirkusdirektor durch die Der amerikanische Star-Regisseur lige Geschichte die bloße Kopf- Theaterlande und öffnet fast im geburt eines jungen Mannes, der Monatsrhythmus immer wieder Robert Wilson reanimiert sich in seinem eigenen Wahn die sein Wunder-Cabinett. in einem Berliner Theater den ganze Katastrophe ausgedacht Nach dem Berlin-Gastspiel berühmten Stummfilm hat. folgt am 19. April in Prag Leo∆ „Das Cabinett des Dr. Caligari“. Der Film sorgte nicht nur Janá‡eks selten gespielte Oper durch seine ungezügelt expressi- „Osud“ („Schicksal“), und am ie Bühne leuchtet knallblau. Doch ven Dekorationen für Aufsehen, 20. Mai soll Wilsons Inszenie-

dem Meister ist das Licht noch nicht die plakativ und ohne rechten BILDERDIENST / ULLSTEIN SAWATZKI RONALD rung von Wagners „Götterdäm- Dintensiv genug. Geduldig und kon- Winkel eine aus den Fugen gera- Regisseur Wilson merung“ in Zürich herauskom- zentriert probiert er immer neue Effekte tene Welt symbolisierten; er wird Stil perfektioniert men. Irgendwann, so hofft er, aus; so lange, bis genau die magische Stim- auch bis heute als ein künstleri- will er sogar seine Büchner-Ar- mung erreicht ist, die er für diese Szene sches Schlüsselwerk der Zeit nach dem Ers- beiten – „Dantons Tod“ (1998) und „Woy- braucht: ein kühles Geheimnis. ten Weltkrieg interpretiert. Und als weit- zeck“ (2000) – in Berlin mit „Leonce und Robert Wilson, Theaterzauberer mit lang- sichtige Erklärung für den späteren Erfolg Lena“ zu einer Trilogie bündeln. jähriger internationaler Praxis, probt bis zur des Hitler-Faschismus. Aber bis dafür Zeit ist, muss ein viel Erschöpfung aller Abteilungen im Deut- Ihre Erfahrungen mit der modernen dringenderes Problem gelöst werden. Das schen Theater in Berlin „Doktor Caligari“, Kriegsmaschinerie, das Massensterben in Gelb, in dem eine schmale Säule auf der seine Adaption des legendären Stumm- den Schützengräben von 1914 bis 1918 und Bühne erstrahlt, gefällt dem Lichtmagier der Zusammenbruch der alten, monar- gar nicht. Dieses Gelb passt nicht zum mys- * Mit Christian Grashof (l.). chistischen Ordnung – all dies verdichteten teriösen Blau. Joachim Kronsbein

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Werbeseite mers“ herausbringen – und darin mal eben belegen, wo sich das Ensemble befindet. Er vermutet es noch in Königsberg. Schatzsucher, die sich ihrer Sache eben- so sicher waren, stiegen aber auch schon in sächsische Stollen hinab, wähnten das Schmuckstück bei Göttingen oder in Fran- ken – bewiesen wurde bisher nichts. Die Restauratoren, Juweliere und Stein- schneider in Zarskoje Selo mussten sich während all der Jahre an Fotografien aus der Vorkriegszeit und ein paar Bernstein- krümeln orientieren, die wohl beim orga- nisierten Kunstklau durch die Deutschen abgebröckelt waren. Tausende von Details wurden, oft unterm Mikroskop, nachge-

FOTTOS: PAWEL KASSIN PAWEL FOTTOS: schnitzt: virtuos verschlungene Ornamen- te und ganze Genre- szenen. Das neue Bernsteinzimmer in Zarskoje Selo Als Moskau 1979 Wiederauferstehung eines Mythos die Rekonstruktion beschloss und in den achtziger Jahren die DENKMÄLER Werkstatt einrichte- te, hatten die Hand- Countdown für werker erst jahre- lang die alten Ar- beitstechniken erler- ein Weltwunder Katharinenpalast, Bernstein-Ornamente: „Soll jetzt Schluss sein?“ nen müssen. Nie zu- vor sei das zerbrech- Im Mai 2003 wird – nach 20 Jahren Politprominenz und vieler Kameras der liche Bernstein in dieser Weise und Menge Öffentlichkeit übergeben. in Russland verarbeitet worden, sagt Mari- Arbeit – das neue Bernsteinzimmer Mesenzew und seine Kollegen aber sor- na Trufanowa, Vize-Chefin des Projekts. fertig. Die hoch spezialisierten gen sich eher um die Zeit nach dem Eröff- Es waren andere Probleme, die das Vor- Handwerker haben Angst vor der nungspomp: „Wir freuen uns darauf, das haben beinahe zum Scheitern gebracht hät- Zeit nach der Übergabe. Zimmer nach vielen schweren Jahren voll- ten. Ein Kilo Bernstein kostet im Schnitt endet zu sehen. Aber viele hier fragen sich, 400 Dollar, und in Zarskoje Selo wurden on Hektik hält er nichts, „die scha- ob sie danach noch Arbeit haben werden.“ Tonnen davon gebraucht. Vor allem zu Zei- det unserer Arbeit“, sagt Wladimir Das Zimmer selbst, inzwischen zu mehr ten der Perestroika fehlte das Geld. Beina- VMesenzew. Er muss es wissen. Im als zwei Dritteln fertig gestellt, wird garan- he hätte auch der Ruhrgas-Konzern sein Katharinenpalast von Zarskoje Selo nahe tiert vom Mythos des Originals profitieren: Angebot zurückgezogen, mit 3,5 Millionen St. Petersburg koordiniert er ein 50-Mann- Es war 1716 vom preußischen Königshaus Dollar das gefährdete Projekt zu unter- Team, das bis zum Mai 2003 immerhin die nach Russland verschenkt worden, wo es stützen – weil Russland ursprünglich Steu- perfekte Kopie des legendären Bernstein- später unter anderem um vier wertvolle ern auf die Hilfszahlung erheben wollte. zimmers vollendet haben soll. florentinische Mosaik-Tafeln ergänzt wurde „Heute steht uns genug Bernstein zur Das verschollene Original, eine Wand- – und hatte im Zweiten Weltkrieg die Gier Verfügung. Heute beherrschen wir eine sel- dekoration aus dem frühen 18. Jahrhun- der Wehrmacht geweckt. Die ließ das ho- tene und hohe Kunst. Aber was machen dert, wurde wegen seines kostbaren Mate- niggelbe Weltwunder made in Preußen im wir in Zukunft daraus?“, fragt Trufanowa. rials und der kunstvollen Schnitzereien Katharinenpalast ab- und im Königsberger Viele der Handwerker in Zarskoje Selo auch schon mal als „achtes Weltwunder“ Schloss aufbauen. Gegen Kriegsende wur- lebten seit Jahren, einige seit fast zwei gefeiert. Ein solches nachzuschöpfen kann den die Paneele in Kisten verpackt – und Jahrzehnten, nur dafür, das Bernsteinzim- dauern. In diesem Fall sind es bald zwei sind seither nicht wieder gesehen worden. mer wiederherzustellen, sagt sie. „Soll jetzt Jahrzehnte. Regelmäßig wird über den Verbleib spe- Schluss sein?“ Vielleicht werde die Werk- Seit zweieinhalb Jahren sponsert der kuliert: Ist das Ensemble entweder beim statt ja weitergeführt, hofft sie. Sie und ihre deutsche Energiekonzern Ruhrgas diese Brand des Königsberger Schlosses zerstört Kollegen würden gern Restaurierungsauf- Wiederauferstehung. Das Essener Unter- worden, oder haben die Nazis es damals träge übernehmen, Ausstellungen organi- nehmen verschickt zwar gern Pressemittei- noch versteckt, und wenn, dann wo, und in sieren und Andenken aus Bernstein für den lungen, die indirekt sehr wohl zur Eile mah- welchem Zustand ist es heute? Als vor fünf Verkaufsshop im Schloss produzieren. nen, etwa mit Sätzen wie: „Die russischen Jahren in Bremen und in Berlin zuerst ei- Viel hängt für sie vom Erfolg des neuen Restaurateure kennen ihren Termin genau.“ nes der Mosaikbilder, dann eine Kommo- Bernsteinzimmers ab. Mesenzew fürchtet Doch auch das bringt Mesenzew nicht aus de aus dem Bernsteinzimmer auftauchten, umso mehr, bei der Eröffnung keine Über- der Ruhe: „Wir schaffen das schon.“ war das eine Sensation – doch es blieb bei raschung bieten zu können. Die Besucher Alles andere wäre blamabel, findet er. diesen Funden. des Palastes verfolgten ja schon seit Jahren Wenn die Stadt St. Petersburg 2003 ihr 300- Filme sind über die Jagd nach der verlore- jeden Fortschritt. „Wer soll da bei der jähriges Bestehen feiert, soll das Bern- nen Vertäfelung gedreht worden und mehr Eröffnung noch staunen?“ steinzimmer die Hauptattraktion sein. Prä- oder weniger seriöse Bücher erschienen. Damit ein Rest von Spannung erhalten sident Wladimir Putin will den Raum zum Ende April will auch Heinz Schön, als Chro- bleibt, wird der Saal Ende dieses Monats Abschluss des G-8-Gipfels in St. Petersburg nist des „Gustloff“-Untergangs bekannt, ein für die Öffentlichkeit geschlossen. nächstes Jahr in Anwesenheit weiterer Buch zum „Geheimnis des Bernsteinzim- Ulrike Knöfel

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halb kann die SPD stolz auf den 23. März 1933 zurückblicken. Walter zeigt aber auch ZEITGESCHICHTE die Versuche von Gewerkschaften und SPD, ihre Organisation zu retten. Er redet von deren Hoffnung, sich mit den neuen Die stillgestellte Partei Machthabern verständigen zu können, und zeigt, wie die Gewerkschaften sich in vor- Auf ihrem langen Weg vom Arbeiterverein zur neuen Mitte hat die auseilendem Gehorsam von der SPD dis- tanzierten und ihre Häuser mit schwarz- SPD ihr Sendungsbewusstsein verloren. Diese These weiß-roten Fahnen beflaggten. Er berichtet, entwickelt Franz Walter in einer neuen Studie. Von Jürgen Rüttgers wie die SPD-Fraktion am 17. Mai 1933 Hit- lers Friedensresolution zustimmte und ein- Rüttgers, 50, von 1994 Sozialdemokraten trächtig mit dem ganzen Reichstag auf- bis 1998 Bundesbildungs- in den Jahrzehn- stand, um das Deutschlandlied zu singen. minister, ist seit 1999 ten bis zum Ersten Es half nichts. Kurz darauf wurde die Par- Landesvorsitzender der Weltkrieg auf die tei verboten. nordrhein-westfälischen Zukunft. Sie dach- Eine andere Legende ist die so genann- CDU. ten optimistisch te Zwangsvereinigung von SPD und KPD und selbstbewusst. 1946 in der sowjetischen Besatzungszone, itten im Wahljahr Doch dann, nach die für Walter keine war. Die Sozialdemo- präsentiert der 1914, kam die Zeit kraten, erfährt der Leser, strebten die lin- MGöttinger Poli- der Stagnation, der ke Einheitspartei bis in den frühen Herbst tikwissenschaftler Franz Rückschläge, der 1945 selber an. Natürlich gab es vor allem KARL-B. KARWASZ / TEAMWORK KARL-B. KARWASZ Walter ein Buch über die DARCHINGER MARC Niederlagen: Auf an der Basis Gegner, aber die meisten Lan- SPD**. „Vom Proletariat Rüttgers Walter ein halbes Jahrhun- desvorsitzenden befürworteten unbeirrt zur Neuen Mitte“ lautet dert des Aufstiegs den Zusammenschluss. Über den anti- sein Untertitel. Der Autor erzählt die Ge- folgte ein weiteres halbes Jahrhundert der demokratischen, in der Konsequenz tota- schichte der Sozialdemokraten, um Politik Depression. litären Charakter der kommunistischen Be- zu erklären. Insofern ist sein Buch wohl Walter stellt die Verfolgungen dar, denen wegung sahen die Genossen der SPD auch ein Lehrbuch für Gerhard Schröder. Sozialdemokraten in ihrer Geschichte aus- großzügig hinweg, schreibt der Verfasser. Es zu lesen macht Spaß. geliefert waren. Bismarcks Sozialistenge- Heute steht die SPD wieder vor der Fra- Sein Thema ist der Weg der SPD vom setz, die NS-Diktatur, die DDR-Diktatur: ge, wie sie mit der links von ihr stehenden Arbeiterverein über die marxistische Ka- Aus Verfolgung, Verbot, Leid und Tod er- Partei kommunistischen Ursprungs umge- derpartei, über die Milieupartei in Regie- wuchs die Würde der ältesten deutschen hen soll. Die innere Unsicherheit, mit der rung, Verfolgung und Opposition, über die Partei. der Vorsitzende Schröder und die Kampa linke Volkspartei zur Partei der neuen Mit- Aber Walter zeigt auch: Die Sozialde- Koalitionen auf Länderebene akzeptieren, te. Walter berichtet, wie die Sozialdemo- mokratie liebte es zu leiden. Sie richtete um sie auf Bundesebene auszuschließen, kraten lange im Trend der Zeit lagen, vom sich ein in ihrer eigenen Welt, in ihrem se- zeigt deutlich, dass es um mehr als nur sozialen Prozess profitierten und darauf paraten Milieu, das von zahlreichen Kul- Taktik geht. Es geht auch um die doppelte hofften, dass der unaufhaltsame gesell- tur-, Sport- und Geselligkeitsvereinen ge- Identität der SPD, die immer zwischen Re- schaftliche Fortschritt dem Sozialismus tragen war. Deshalb ist die SPD auch heu- form und Revolution schwankte, wie Franz zum Sieg verhelfen werde. te noch wie ein Verein – die CDU dagegen Walter belegt. Soll sie heute um der Einheit Die Entwicklung der Industriegesell- ist wie eine Familie. der Linken willen die PDS bekämpfen oder schaft hatte der SPD fast von selbst im- Im typisch sozialdemokratischen Milieu zu integrieren versuchen? mer mehr neue Mitglieder, Anhänger und konnten die großen Erzählungen entste- Nach einem halben Jahrhundert sozial- Wähler zugeführt. Daher vertrauten die hen und gepflegt werden, die Zusammen- demokratischen Aufbruchs und einem hal- halt und Identität stifteten. Walter erzählt ben der Depression schien sich Mitte der * Links: in Nürnberg mit Kommunalpolitikern und dem neu- sie nach. Aber er zerstört auch Legenden. sechziger Jahre die nächste Wende anzu- en Wahlkampf-Logo; rechts: in Bonn mit dem Schriftsteller So stimmten allein die Sozialdemokraten deuten: Unter glaubte die Günter Grass (l.) und Außenminister Walter Scheel (M.). ** Franz Walter: „Die SPD. Vom Proletariat zur Neuen Mit- gegen Hitlers Ermächtigungsgesetz, die SPD, nun sei „der Kairos gekommen, der te“. Alexander Fest Verlag, Berlin; 288 Seiten; 24,90 Euro. bürgerlichen Abgeordneten dafür. Des- historische und politische Wendepunkt, die MARC DARCHINGER MARC DPA Kanzler Schröder beim SPD-Parteitag 2001, Kanzler Brandt nach dem Wahlsieg 1972*: Schwanken zwischen Reform und Revolution

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Werbeseite Kultur große Läuterung der Deutschen nach Jahr- nur noch realistisch, pragmatisch und an- zehnten des geschichtlichen Unheils“. gepasst.“ Es ist nichts daraus geworden. Aber halt, war da nicht noch die neue Lag es daran, dass Brandts Nachfolger Mitte? Franz Walter ist auch der Ge- Helmut Schmidt sich darauf konzentrierte, schichtsschreiber der neuen Mitte. Er er- den klassischen Staatsaufgaben ordentlich zählt uns, dass die neue Mitte gar nicht und verlässlich nachzukommen, also für neu ist – aber eine Auskunft, was sie denn äußere und innere Sicherheit wie für ma- teriellen Wohlstand zu sorgen? Der dama- lige Vorsitzende der Jungsozialisten, Ger- Bestseller hard Schröder, kommentierte das so: „Der Kanzler verwaltet brillant. Leider entwi- Belletristik ckelt er keine Zukunftsperspektiven. Da- mit sägt er den Ast ab, auf dem die Zukunft 1 (1) Günter Grass Im Krebsgang der Sozialdemokratie sitzen sollte.“ Heu- Steidl; 18 Euro te wäre man dankbar, einen Kanzler zu 2 (2) John Grisham Der Richter haben, der brillant verwaltet. Visionen Heyne; 24 Euro traut der Politik ja doch keiner mehr zu. Oder lag es daran, dass die SPD durch 3 (4) Joanne K. Rowling Harry Potter den Verlust der Macht im Herbst 1982 eher und der Feuerkelch erleichtert war, als dass sie darunter litt? Im Carlsen; 22,50 Euro Eiltempo wandelten sich die Sozialdemo- 4 (5) Christa Wolf Leibhaftig kraten in eine Partei der Ökologie- und Luchterhand Literatur; 18 Euro Friedensbewegung. Im Eiltempo haben sie das wieder hinter sich gelassen, um regie- 5 (3) Joanne K. Rowling Harry Potter rungsfähig zu werden. und der Gefangene von Askaban Als es die CDU nicht mehr schaffte, „die Carlsen; 15,50 Euro Kluft zwischen älteren Sozialkatholiken 6 (6) John Irving Die vierte Hand und jüngeren Neoliberalen zu überwin- Diogenes; 22,90 Euro den und das christlich-bür- gerliche Lager noch einmal 7 (8) Joanne K. Rowling Harry Potter mehrheitsfähig zusammenzu- und die Kammer des Schreckens schließen“, andererseits aber Carlsen; 14,50 Euro Lafontaine und Schröder In- 8 (–) Stephen King Der Buick novation und Gerechtigkeit als Doppelspitze verkörper- Ullstein; 22 Euro ten, gelang die Rückkehr zur 9 (7) Philip Roth Der menschliche Makel Macht. Doch das Dilemma Hanser; 24,90 Euro zwischen Postmoderne und 10 (9) Paulo Coelho Der Alchimist Tradition setzte sich fort. La- fontaine ging, weil einer der Ein Monster- Diogenes; 17,90 Euro Auto bringt beiden zu viel war. Zurück das Grauen ins 11 (13) Kathy Reichs Durch Mark und Bein blieben ein Kanzlerwahl- Alltägliche Blessing; 22,90 Euro verein und eine „ermattete“ und „deaktivierte“ Partei. 12 (10) Joanne K. Rowling Harry Potter Franz Walter leidet an der SPD. Er ist und der Stein der Weisen enttäuscht, und er fühlt ein Ende. Also Carlsen; 14,50 Euro schreibt er einen Epilog. 13 (11) Umberto Eco Baudolino „Vielen Sozialdemokraten ist der Sinn Hanser; 24,90 Euro ihres Tuns verloren gegangen. Deshalb sind sie so gehemmt und antriebslos…Sie ha- 14 (16) Henning Mankell Die Brandmauer ben mit ihren Themen, ihren Symbolen Zsolnay; 24,90 Euro und Gewissheiten auch ihre Sprache, mehr 15 (14) Elke Heidenreich noch: ihren Aktivismus, selbst eingebüßt. Der Welt den Rücken Hanser; 15,90 Euro Ihnen ist das Sendungs- und Selbstbe- wusstsein, das alte Pathos des Sozialismus, 16 (–) Michel Houellebecq Plattform abhanden gekommen, das gleichsam Treib- DuMont; 24 Euro stoff und Elixier ihres Aktivismus war.“ 17 (12) Catherine Millet Das sexuelle Die SPD, sagt Walter, ist heute „eine still- Leben der Catherine M. gestellte Partei“. Goldmann; 21 Euro Dadurch mag sie regierungsfähiger ge- worden sein, aber sie ist weniger kam- 18 (17) Ildikó von Kürthy Herzsprung pagnefähig. „Sie hat ihren unverwechsel- Wunderlich; 16,90 Euro baren Charakter eingebüßt, wirkt ein 19 (15) Martin Suter Ein perfekter Freund wenig gesichtslos, ist nunmehr eine Partei Diogenes; 19,90 Euro unter vielen. Ihr ist die spezifische Span- nung abhanden gekommen, aus der sie 20 (–) Pedro Juan Gutiérrez stets Kraft, Energie und Phantasie bezo- Schmutzige Havanna Trilogie gen hat…Jetzt sind die Sozialdemokraten Hoffmann und Campe; 20,90 Euro

224 der spiegel 13/2002 sonst wäre, bleibt auch er schuldig. Er de- aber wir machen es besser.“ Am Ende der finiert den Begriff nicht, sondern er be- Kanzlerschaft Brandts war die SPD nicht nutzt ihn und weiß immer, wann in der mehr nur die Partei der Arbeiter, auch langen Geschichte der SPD die neue Mit- nicht mehr nur der neuen Mitte. Sie war te anwesend war. So zum Beispiel unter sogar Partei der Intellektuellen und der Willy Brandt, unter dem es schon einmal höheren Gesellschaft. In den frühen acht- hieß: „Wir machen es nicht ganz anders, ziger Jahren wanderte dann ein Teil der neuen Mitte zur Union ab, ein anderer zu Im Auftrag des SPIEGEL wöchentlich ermittelt vom Fach- den Grünen. Das führte die SPD zurück in magazin „Buchreport“; nähere Informationen und Auswahl- kriterien finden Sie online unter: www.spiegel.de/bestseller die Opposition. Die Grünen platzierten sich im linken Spektrum und schoben die Sachbücher vormals Linken deutlich in die Mitte. So war das also. 1 (1) Dona Kujacinski/Peter Kohl Gern hätten viele Sozialdemokraten ihre Hannelore Kohl – Ihr Leben Partei in Zukunft als Partei der neuen Mit- Droemer; 19,90 Euro te gesehen, ganz so wie die CDU für sie 2 (2) Waris Dirie Nomadentochter über Jahrzehnte die Partei der alten Mitte Blanvalet; 21,90 Euro war. Doch die neue Mitte lässt sich politisch 3 (3) Traudl Junge Bis zur letzten schwer bestimmen. Sie ist launisch und Stunde – Hitlers Sekretärin erzählt wechselbereit. Entschieden ist der Kampf ihr Leben Claassen; 19 Euro um die neue Mitte jedenfalls nicht. Und was sie ist, wissen wir immer noch nicht. 4 (6) Katja Kullmann Generation Ally Aber vielleicht kommt es ja auch gar Eichborn; 14,90 Euro nicht mehr darauf an. Die neue Mitte soll- 5 (5) Jean-Charles Brisard/Guillaume te das Bündnis der Arbeitnehmer mit der Dasquié Die verbotene Wahrheit New Economy sein. So hatte es sich der Pendo; 18,90 Euro ehemalige Kanzleramtsminister Bodo 6 (4) Stephen Hawking Hombach ausgedacht. Sowohl die Arbeit- Das Universum in der Nußschale nehmer wie der neue und der alte Mittel- Hoffmann und Campe; 25,95 Euro stand sind aber heute von Gerhard Schrö- 7 (7) Peter Scholl-Latour der enttäuscht. Da sind sich Klaus Zwickel Der Fluch des neuen Jahrtausends von der IG Metall und Dieter Philipp vom C. Bertelsmann; 22 Euro Handwerk ganz einig. Vielleicht hat die Kampa deshalb die 8 (8) Siba Shakib Nach Afghanistan neue Mitte inzwischen offiziell zu Grabe kommt Gott nur noch zum Weinen getragen. Die Mitte ist rot, verkünden uns C. Bertelsmann; 22 Euro jetzt sozialdemokratische Plakate, und: 9 (11) Stefan Aust/Cordt Schnibben Gerhard Schröder ist die Mitte. Beides hat (Hg.) 11. September – Geschichte allenfalls mit Wunsch, aber nichts mit der eines Terrorangriffs DVA; 24,90 Euro Wirklichkeit zu tun. Über 150 Jahre war Rot 10 (9) Spencer Johnson die Farbe der Linken. Wer plötzlich ver- Die Mäuse-Strategie für Manager sucht, mitten im Wahlkampf eine solche Ariston; 14,90 Euro Tradition umzudefinieren, produziert einen kommunikativen GAU. Deshalb das Unste- 11 (12) Florian Illies Anleitung zum te in den Aktionen der Kam- Unschuldigsein Argon; 17,50 Euro pa: Die Mitte ist links, die Mit- 12 (14) Kerstin Holzer Elisabeth Mann te ist rot, wir sind die Mitte. In Borgese Kindler; 22,90 Euro Wirklichkeit ist die Mitte bunt. 13 (16) Donata Elschenbroich Weil die Bilanz der Re- Weltwissen der Siebenjährigen gierung keinesfalls überzeu- Kunstmann; 16,90 Euro gend und Rot-Grün weder 14 (13) Latifa Das verbotene Gesicht ein Projekt noch attraktiv Schröder; 18 Euro ist, versucht die SPD, die Bundestagswahl zur Abstim- 15 (10) Patricia Clough Hannelore Kohl – mung über ein Lebensgefühl Zwei Leben DVA; 19,90 Euro Der Bonner Sozialforscher zu machen. Nicht Wachstum, 16 (–) Meinhard Miegel Die deformierte rüttelt an den Arbeitslosigkeit, Kriminalität Gesellschaft Propyläen; 22 Euro „Wohlstands- oder Bildungskatastrophe illusionen“ der 17 (15) Susanne Fröhlich/Constanze Kleis Deutschen sollen die Themen sein, son- Jeder Fisch ist schön – wenn er an dern die Mitte steht zur De- der Angel hängt W. Krüger; 16,90 Euro batte. Ob sie so gewinnt oder verliert, wird 18 (–) Wilfried Erdmann Allein gegen dann freilich weder mit neuer Mitte noch den Wind – Nonstop in 343 Tagen mit ihren Projekten zu tun haben. Und so um die Welt Delius Klasing; 22,90 Euro endet Franz Walter: „Es ist nicht so sicher, 19 (–) Reinhold Messner Der nackte Berg dass die Sozialdemokratie noch ein weite- Malik; 19,90 Euro res Jahrhundert überstehen wird; die große 20 (–) Tippi Degré Tippi aus Afrika Botschaft hat sie jedenfalls nicht mehr. Aber Ullstein; 22 Euro vielleicht ist das ja auch gar nicht nötig.“ ™

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Werbeseite nem Helikopter abzuseilen, den Halt. Dann stürzt ein Hubschrauber vom Typ Black Hawk ab – die Besatzung kämpft im Kugelhagel ums Überleben. Hollywood ist schnell. War es diesmal schneller als die Wirklichkeit? Nur schein- bar. „Black Hawk Down“, das neue Werk von Hollywoods erfolgreichstem Militaria- Händler, dem Produzenten Jerry Bruck- heimer („Top Gun“, „Pearl Harbor“), blickt nicht in die Zukunft, sondern fast ein Jahrzehnt zurück. Im Oktober 1993 sollten amerikanische Spezialeinheiten in Somalia die Herrschaft des Warlords Mohammed Farah Aidid bre- chen, der weite Teile des von einer Hun- gersnot geplagten Landes kontrollierte und

Szenen aus „Black Hawk Down“ Hinter jeder Straßenecke lauert der Tod SENATOR FILM (2) SENATOR

dabei ein Massensterben der Bevölkerung KINO in Kauf nahm. Der Film rekonstruiert den Versuch, einige von Aidids Offizieren aus Mogadischu zu entführen. Helden auf verlorenem Posten Der schlampig geplante Einsatz münde- te in ein Desaster. Die Aktion sollte mit der Seit November liefen in den USA vier neue große Kriegsfilme Präzision eines chirurgischen Eingriffs durchgeführt werden – und wurde zu ei- an – mit beachtlichem Erfolg. Deutsche Verleiher nem Schlachtfest: 18 Amerikaner kamen schrecken vor den Nahaufnahmen unfassbarer Gewalt zurück. ums Leben, fast 1000 Somalier starben. Die Bilder eines GI, dessen Leiche in einem s war der 4. März – für die Amerika- endlich Hilfe kam – für sechs GIs kam sie blutigen Triumphzug durch die Straßen ner bis dahin der schwärzeste Tag zu spät. von Mogadischu geschleift wurde, gingen Eihres Krieges gegen den Terror. Ein Viele amerikanische Fernsehzuschauer um die Welt und bewogen die Amerikaner, Soldat der Eliteeinheit Seals war aus ei- rieben sich an diesem Tag ungläubig die sich gänzlich aus dem Land zurückzu- nem Helikopter in die Tiefe gestürzt, ein Augen: Was ihnen soeben in den Nach- ziehen – und es dem Bürgerkrieg zu über- anderer Hubschrauber nach schweren richten geschildert wurde, hatten sie doch lassen. Treffern zu Boden gegangen. Zwölf Stun- schon auf der Leinwand gesehen – in dem Das jüngste Hubschrauber-Drama in Af- den lang stand die Besatzung im afghani- Kriegsfilm „Black Hawk Down“. Da ver- ghanistan unterschied sich von jenem in schen Wüstenstaub unter Beschuss, bis liert ein GI bei dem Versuch, sich aus ei- Somalia auch durch eine gruselige Be-

228 der spiegel 13/2002 Kultur sonderheit: Die amerikanischen Kom- Wer dies auf den ausgeprägten Patrio- mandanten konnten über die Kamera ei- tismus der Amerikaner zurückführt, muss ner Aufklärungsdrohne live mit anse- sich mit einem überraschenden Befund hen, wie der GI, der aus dem Helikop- auseinander setzen: Zur Wehrertüchtigung ter gefallen war, von al-Qaida-Kämpfern taugt kein Einziger dieser neuen Filme. In weggezerrt und hingerichtet wurde. Viel- jedem von ihnen sehen sich die Amerika- leicht kam für sie auch deshalb ein Rück- ner auf gefahrvollem Terrain einem über- zug wie in Somalia nicht in Frage: Die mächtigen Feind gegenüber und können Amerikaner verstärkten umgehend ihre froh sein, ihre Haut zu retten. Sie sind kei- Truppen. ne glorreichen Heroen, sondern vielmehr Während sich die US-Verbände dieser Helden auf verlorenem Posten. Tage in der Golf-Region anscheinend auf Die GIs in „Black Hawk Down“ geraten einen neuerlichen Einsatz in Somalia vor- in einen ausweglosen Häuserkampf. Hinter bereiten, läuft „Black Hawk Down“ seit jeder Straßenecke lauert der Tod. In dem knapp drei Monaten erfolgreich in den Film „Im Fadenkreuz“ (Originaltitel: „Be- amerikanischen Kinos. Einige Soldaten, die hind Enemy Lines“) kämpft sich ein US- vom Pentagon im letzten Jahr für die Dreh- Pilot, der in Bosnien von Serben abge- arbeiten freigestellt worden waren, kämp- schossen wurde, durch eine Schneewüste – fen jetzt wirklich – in Afghanistan. als perfektes Ziel für Scharfschützen. „Wir waren Helden“ mit Mel Gibson zeigt die erste Schlacht amerikanischer Ein- heiten gegen nordvietnamesische Verbän- de im Jahre 1965 – nichts als ein grauen- haftes Gemetzel; und in „Das Tribunal“, der wie ein Blindgänger aus lange vergan- genen Zeiten des Genres anmutet, bringen amerikanische Soldaten 1944 in einem deutschen Kriegsgefangenenlager einen Kameraden um. Im Kino geht der Weltpolizist zurzeit auf Streife durch 60 Jahre Geschichte – und sucht am Ende stets das Weite. All die- se neuen Kriegsfilme scheinen den Ameri- kanern nur eines zu raten: Haltet euch bloß aus fernen Konflikten heraus. Sie wirken wie Plädoyers für den Isolationismus, der in den USA in den letzten Jahren immer mehr Anhänger fand – bis der 11. Septem- ber kam. Nun, sie wurden ja auch alle vor dem Anschlag auf das World Trade Center gedreht. Dass ihre Tendenz kaum noch zur vorherrschenden Stimmung im Land passt, stand aber dem Erfolg beim Publi- kum nicht im Wege. Einer der Gründe dafür dürfte sein: Mit politischen Reflexionen halten sich die Fil- me nicht lange auf. Sie stürzen ihre Helden kopfüber in Situationen, die oft nur eine Alternative erlauben: töten oder getötet Weit mehr als 100 Millionen Dollar hat werden. Ein Schema dabei: Aus Hub- der Film, der von Oscar-Preisträger Ridley schraubern oder Kampfflugzeugen wird Scott („Gladiator“) inszeniert wurde, bis- das fremde Land erst distanziert betrach- her in Nordamerika eingespielt. Doch der tet. Und dann, beim ersten Bodenkontakt, deutsche Verleih verschob den für April ge- beginnt der Nahkampf ums Überleben. planten Start auf unbestimmte Zeit – an- Um den Zuschauern einen authentischen geblich aus Pietät gegenüber den deutschen Eindruck von einem Gefecht zu vermitteln, Soldaten, die Anfang März ums Leben ka- muss man im Kino mit scharfer Munition men. Doch der wahre Grund dürfte eher knapp über ihre Köpfe feuern – das hat die sein: In Europa – Ausnahme: Großbritan- Regie-Legende Sam Fuller einmal gesagt. nien – ist der Film bisher an der Kasse ab- Die neuen Kriegsfilme folgen Fullers Rat: In gestürzt. „Black Hawk Down“ und „Wir waren Hel- An der Heimatfront in den USA sind den“ geht der Zuschauer oft unwillkürlich Kriegsfilme mit amerikanischen Soldaten in Deckung: Splitter fliegen ihm fast ins so gefragt wie lange nicht: Vier große Pro- Auge, Fontänen von Staub umnebeln die duktionen, allesamt vor dem 11. Septem- Kamera, Blut spritzt auf die Linse. ber abgedreht, liefen in den letzten vier Den Helden ist der Betrachter ganz nah, Monaten in den US-Kinos. Seit Jahrzehn- er versteht nur zu gut, wenn sie – auf Heli- ten hat es eine solche Dichte einschlägiger kopter oder Gott hoffend – immer wieder Schlacht-Epen nicht mehr gegeben. den Himmel absuchen. Doch von oben

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des gesamten Genres. Die vielen Toten, behauptet Spielbergs Film, fördern keineswegs eine zynische Einstellung zum Krieg, sondern lassen das einzelne Leben umso wertvoller er- scheinen. Nach der martia- lischen Landungssequenz zeigt „Der Soldat James Ryan“ die Suche nach ei- nem einzigen Menschen, dem Titelhelden, der seiner Familie heil zurückgebracht werden soll – um jeden Preis. Bei dieser Rettungs- aktion kommen allerdings wieder viele GIs ums Le- ben, und Spielbergs Recht- fertigung des Massenelends funktioniert nicht mehr. „Kein Mann bleibt zu- rück“ steht auf dem deut- schen Plakat zu „Black Hawk Down“ – es ist das Motto des neuen amerika-

EVERETT COLLECTION / KPA EVERETT COLLECTION nischen Kriegsfilms. Auch Bruce Willis in „Das Tribunal“: Die Amerikaner fallen ihren eigenen Kugeln und Bomben zum Opfer wenn Scotts Epos, das auf Mark Bowdens Buchvorla- kommt nichts Gutes. In „Black Hawk Noch nie zuvor hat der amerikanische ge „Black Hawk Down: A Story of Mo- Down“ fällt dem von Josh Hartnett ge- Kriegsfilm seine Zuschauer mit derart har- dern War“ basiert, die wahren Gründe für spielten Protagonisten eine glühend heiße ten Nahaufnahmen konfrontiert. In „Black diese Politik camoufliert: Es ist vor allem Patronenhülse in die Uniform – abgefeuert Hawk Down“ blickt die Kamera einem an- deshalb wichtig, sich sogar die Leichen der aus einem US-Hubschrauber. geschossenen GI sogar in die Eingeweide. eigenen Männer zu sichern, damit der In „Das Tribunal“ tragen die Dächer der Um ihm das Leben zu retten, greift der Sa- Feind sie nicht als Trophäen in die Fern- Eisenbahnwaggons, mit denen die Kriegs- nitäter mit bloßen Händen in die Wunde. sehkameras halten kann. gefangenen ins Lager gebracht werden, den Am Ende verblutet der Mann kläglich – Dabei kommt der Einzelne, allem Mas- Schriftzug „POW“ – „prisoners of war“. auch Soldaten, sagt dies, sind hinfällige sensterben zum Trotz, dann doch zu sei- Doch dann fällt Schnee und verdeckt die Menschen, keine heldenhaften Herren nem Recht. Die moderne amerikanische Schrift – viele der Gefangenen sterben bald über Leben und Tod. Kriegsführung, bestrebt, die eigenen Ver- darauf bei einem alliierten Bombenangriff. Erst jetzt, in dieser neuen Blutwelle, luste so gering wie möglich zu halten, hat In den neuen Kriegsfilmen fallen etliche zeigt sich das Ausmaß des Dammbruchs, zur Folge, dass der unbekannte Soldat im- Amerikaner den eigenen Kugeln oder den Steven Spielberg vor vier Jahren mit mer mehr der Vergangenheit angehört. Bomben zum Opfer – sie werden selbst den ersten 25 Minuten seines Kriegsfilms Denn die wenigen, die sterben, werden zu „Kollateralschäden“ ihrer Angriffe. „Der Soldat James Ryan“ ausgelöst hat. zum Dank für ihren Einsatz im Dienst des Von der Legende der punktgenauen Mi- Mit drastischem Naturalismus, der im ame- Vaterlandes der Anonymität entrissen und litärschläge, die zwischen Freund und rikanischen Mainstream-Kino seinesglei- für die Medien zu Helden erklärt. Feind, zwischen Soldaten und Zivilisten chen suchte, stellte der Regisseur die Lan- Der Besuch des Washingtoner Vietnam unterscheiden, bleiben fast nur Trümmer dung der Alliierten in der Normandie nach Veterans Memorial, in das die Namen der übrig. – auf Augenhöhe der Kämpfer. in Indochina gefallenen amerikanischen In „Wir waren Helden“ rollt die Flam- Diese Darstellung des massenhaften Soldaten eingraviert sind, war stets eine menwalze einer Napalmbombe über die Sterbens veränderte nachhaltig die Moral Pflichtaufgabe des Genres – ein bevorzug- Amerikaner hinweg. Ein GI – der fast wie ter Ort für die Schluss- ein Vietnamese aussieht – wird von seinen szene. Die neuen Kriegs- Kameraden brennend aus dem Inferno ge- filme sind War Memorials zogen. Doch als sie ihn an den Beinen an- in Zelluloid: „Black Hawk fassen, um ihn hochzuheben, löst sich das Down“ und „Wir waren Fleisch von den Knochen. Helden“ listen im Abspann Lange verweilt die Kamera auf dem halb die Toten der Kämpfe auf, verkohlten Gesicht des Schwerverletzten, von denen sie erzählen – der mit einem Hubschrauber aus der aber nur die Amerikaner. Kampfzone geflogen wird. Vor Schmerzen Für die Feinde war nicht wirft der Mann seinen Kopf hin und her – genug Platz, und die Filme in den Schatten, der das Leid verdeckt, zeigen auch, warum: In und dann wieder zurück in die Sonne. So „Black Hawk Down“ stür- nimmt der Film die Zerrissenheit des Zu- men die Somalier wie Lem- schauers, der die Augen schließen möchte minge ins Feuer der ameri-

und den Blick doch nicht abwenden kann, FOX 20TH CENTURY kanischen Maschinenge- schon vorweg. „Im Fadenkreuz“: Perfektes Ziel für Scharfschützen wehre. Unaufhörlich kom-

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Werbeseite Kultur STEPHEN VAUGHN / AP VAUGHN STEPHEN Gibson in „Wir waren Helden“: Patriotisches Pathos im Feuer der Napalmbomben men neue Kämpfer nach, rücken näher Werks. Tatsächlich kämpft in „Wir waren und bilden schließlich unmittelbar vor ei- Helden“ der neue gegen den alten Kriegs- nem GI, der sich bis zur letzten Patrone film: Angesichts der unfassbaren Gewalt verteidigt, eine schwarze Front, die das Ci- wirkt das patriotische Pathos von früher so nemascope-Bild verdunkelt. Es sind ein- hohl wie die Geschosshülsen, die sich zu fach zu viele Feinde für irgendeine Liste. Gibsons Füßen türmen. Am Ende von „Wir waren Helden“, Doch auf den Schreibtischen von Hol- nachdem die Schlacht geschlagen ist, wer- lywoods Studiobossen türmen sich nun den die gefallenen Vietnamesen zu großen wieder Drehbücher für heldenhafte Kriegs- Haufen aufgetürmt. Auf der einen Seite Epen. „Wir bekommen immer mehr pa- die Menschen, auf der anderen das Men- triotische Stoffe ins Haus“, sagt „Gladia- schenmaterial – beide Filme profilieren ihre tor“-Produzent Douglas Wick. Zurzeit Helden gegenüber einer weitgehend ge- plant er „Fertig“, die Geschichte eines GI sichtslosen Masse von Feinden. im Zweiten Weltkrieg, der sich den Japa- Nimmt Scott nur die Sicht der Ameri- nern nicht ergeben wollte. Empfohlen wur- kaner ein, so wechselt „Wir waren Hel- de Wick der Stoff von Ronald Reagan. den“-Regisseur Randall Wallace (der die Wer hingegen einen Film wie „Black Schlachtplatten „Braveheart“ und „Pearl Hawk Down“ gesehen hat, möchte vieles, Harbor“ geschrieben hat) einige Male die bloß eines sicher nicht: in den Krieg zie- Perspektive und blickt mit den Augen des hen. Das Pentagon unterstützte die Pro- Feindes auf seine Protagonisten. duktion dennoch mit 139 Soldaten und 8 Das sieht dann so aus: Ein Vietnamese Hubschraubern. Eine Investition in die Zu- versteckt sich hinter einem Baum, nimmt kunft? Produzent Bruckheimer jedenfalls allen Mut zusammen und rennt los – und wird zusammen mit Bertram van Munster, die Kamera zeigt groß das Bajonett seines einem Freund von Verteidigungsminister Gewehrs. Als er eine Gruppe von Ameri- Donald Rumsfeld, eine 13-teilige Reality- kanern fast erreicht hat, hebt einer von ih- TV-Serie über die amerikanischen Trup- nen, ohne sich umzudrehen, die Waffe und pen in Afghanistan drehen. erschießt den Angreifer: Mel Gibson hat Auch der neue Kriegsfilm kann die Un- eben auch hinten Augen und ist in der Hit- mittelbarkeit der Bilder nur simulieren. ze des Gefechts cool bis ans Herz. Das reicht nun nicht mehr. In Zukunft wer- „Ich bin stolz, für mein Land zu ster- den sie womöglich, ohne den lästigen Um- ben“, gibt ein verletzter GI von sich und weg über die Kino-Leinwand, mitten aus schließt die Augen. Das möchte auch der der Schlacht direkt in die amerikanischen Zuschauer, wenn er sieht, wie Gibson mit Wohnzimmer flimmern – zensiert vom einer Zigarre im Mund aufrecht im feind- Pentagon: Jetzt wird TV-Produzenten er- lichen Sperrfeuer seinen Mann steht und laubt, Kameraleute zusammen mit den die Kugeln an seinem Helm abprallen. kämpfenden Verbänden ins Gefecht gegen „Viele Darstellungen des Vietnam-Kriegs die Taliban und al-Qaida zu schicken. auf der Leinwand waren sehr zynisch“, sagt Realistischer geht’s dann kaum noch. der Star. „Unsere ist es nicht.“ Umso näher rückt der Zeitpunkt, zu dem „Schlacht-Epos im Krieg mit sich selbst“, der gewöhnliche Zuschauer glaubt, der überschrieb Kenneth Turan, Kritiker der Krieg selbst sei eigentlich fiktiv – ein Fern- „Los Angeles Times“, seine Rezension des sehfilm. Lars-Olav Beier

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Redaktion: Annette Bruhns, Dominik Cziesche, LONDON Michael Sontheimer, Christoph Pauly, 6 Henrietta Street, Michael Fröhlingsdorf, Carsten Holm, Ulrich Jaeger, Sebastian Knau- London WC2E 8PU, Tel. (004420) 75206940, Fax 73798599 für Fotos: er, Gunther Latsch, Udo Ludwig, Cordula Meyer, Norbert F. Pötzl, LOS ANGELES Helmut Sorge, 1134 Cory Avenue, Los Angeles, CA Telefon: (040) 3007-2869 Andreas Ulrich. Autoren, Reporter: Jochen Bölsche, Klaus Brink- 90069, Tel. (001-310-) 2741333, Fax 2741308 Fax: (040) 3007-2966 E-Mail: [email protected] bäumer, Gisela Friedrichsen, Gerhard Mauz, Bruno Schrep, Ulrich MADRID Helene Zuber, Apartado Postal Número 100 64, Schwarz 28080 Madrid, Tel. (003491) 391 05 75, Fax 319 29 68 DER SPIEGEL auf CD-Rom und DVD BERLINER BÜRO Leitung: Heiner Schimmöller, Wolfgang Krach MOSKAU Jörg R. Mettke, Uwe Klußmann, 3. Choroschewskij Telefon: (040) 3007-3016 Fax: (040) 3007-3180 (stellv.). Redaktion: Wolfgang Bayer, Stefan Berg, Susanne Koelbl, Iri- Projesd 3 W, Haus 1, 123007 Moskau, Tel. (007095) 9400502-04, E-Mail: [email protected] na Repke, Sven Röbel, Holger Stark, Peter Wensierski Fax 9400506 WIRTSCHAFT Leitung: Armin Mahler, Thomas Tuma (stellv.). Abonnenten-Service Redaktion: Beat Balzli, Dr. Hermann Bott, Dietmar Hawranek, Alex- NEW DELHI Padma Rao, 101, Golf Links, New Delhi 110003, Tel. (009111) 4652118, Fax 4652739 SPIEGEL-Verlag, 20637 Hamburg ander Jung, Klaus-Peter Kerbusk, Nils Klawitter, Marcel Rosenbach, NEW YORK Jan Fleischhauer, Thomas Hüetlin, Alexander Osang, 516 Umzug/Urlaub: 01801 / 22 11 33 zum Ortstarif Thomas Schulz AUSLAND Leitung: Dr. Olaf Ihlau, Fritjof Meyer, Hans Hoyng (stellv.). Fifth Avenue, Penthouse, New York, N Y 10036, Tel. (001212) 2217583, Zustellung: 01801 / 66 11 66 zum Ortstarif Redaktion: Dieter Bednarz, Dr. Carolin Emcke, Adel S. Elias, Fax 3026258 Service allgemein: (040) 3007-2700 Manfred Ertel, Rüdiger Falksohn, Joachim Hoelzgen, Siegesmund PARIS Dr. Romain Leick, 1, rue de Berri, 75008 Paris, Tel. (00331) Fax: (040) 3007-3070 von Ilsemann, Reinhard Krumm, Dr. Christian Neef, Roland Schlei- 42561211, Fax 42561972 E-Mail: [email protected] cher, Dr. Stefan Simons, Thilo Thielke. Autoren, Reporter: PEKING Andreas Lorenz, Sanlitun Dongsanjie Gongyu 2-1-32, Dr. Erich Follath, Claus Christian Malzahn, Carlos Widmann, Erich Peking 100 600, Tel. (008610) 65323541, Fax 65325453 Abonnenten-Service Schweiz Wiedemann PRAG Jilská 8, 11000 Prag, Tel. (004202) 24221524, Fax 24220138 DER SPIEGEL, Postfach, 6002 Luzern WISSENSCHAFT UND TECHNIK Leitung: Johann Grolle, Olaf Telefon: (0041) 41-329 22 55 Fax: (0041) 41-329 22 04 Stampf. Redaktion: Philip Bethge, Jörg Blech, Rafaela von Bredow, RIO DE JANEIRO Matthias Matussek, Jens Glüsing, Avenida São Manfred Dworschak, Beate Lakotta, Dr. Renate Nimtz-Köster, Hilmar Sebastião 157, Urca, 22291-070 Rio de Janeiro (RJ), Tel. (005521) E-Mail: [email protected] 22751204, Fax 25426583 Abonnement für Blinde Schmundt, Matthias Schulz, Katja Thimm, Gerald Traufetter, Christian Wüst. Autor: Dr. Hans Halter ROM Hans-Jürgen Schlamp, Largo Chigi 9, 00187 Rom, Tel. (003906) Audio Version, Deutsche Blindenstudienanstalt e. V. KULTUR Leitung: Wolfgang Höbel, Dr. Mathias Schreiber. Redaktion: 6797522, Fax 6797768 Telefon: (06421) 606265 Fax: (06421) 606259 Lars-Olav Beier, Susanne Beyer, Nikolaus von Festenberg, Angela SAN FRANCISCO Marco Evers (Wissenschaft), 3782 Cesar Chavez E-Mail: [email protected] Gatterburg, Doja Hacker, Dr. Volker Hage, Ulrike Knöfel, Dr. Joachim Street, San Francisco, CA 94110, Tel. (001415) 6437550, Fax 6437530; Elektronische Version, Stiftung Blindenanstalt Kronsbein, Reinhard Mohr, Dr. Johannes Saltzwedel, Elke Schmitter, Michaela Schießl (Wirtschaft), 43 Hancock Street, San Francisco, Frankfurt am Main Peter Stolle, Dr. Rainer Traub, Klaus Umbach, Claudia Voigt, Susanne CA 94114, Tel. (001415) 8613002, Fax 8614667 Weingarten, Marianne Wellershoff, Martin Wolf. Autoren, Reporter: Telefon: (069) 955124-15 Fax: (069) 5976296 SINGAPUR Jürgen Kremb, 15, Fifth Avenue, Singapur 268779, Ariane Barth, Urs Jenny, Dr. Jürgen Neffe Tel. (0065) 64677120, Fax 64675012 E-Mail: [email protected] GESELLSCHAFT Leitung: Lothar Gorris, Cordt Schnibben. Redak- TOKIO Dr. Wieland Wagner, Chigasaki-Minami 1-3-5, Tsuzuki-ku, tion: Anke Dürr, Fiona Ehlers, Hauke Goos, Ralf Hoppe, Ansbert Yokohama 224, Tel. (008145) 941-7200, Fax 941-8957 Abonnementspreise Kneip. Reporter: Uwe Buse, Ullrich Fichtner, Dirk Kurbjuweit, Inland: zwölf Monate ¤ 133,12 Alexander Smoltczyk, Barbara Supp WARSCHAU Ul. Chopina 5 b m. 24, 00-559 Warszawa, Tel. (004822) Studenten Inland: zwölf Monate ¤ 93,18 SPORT Leitung: Alfred Weinzierl. Redaktion: Maik Großekathöfer, 6216158, Fax 6218672 Schweiz: zwölf Monate sfr 260,– Jörg Kramer, Gerhard Pfeil, Michael Wulzinger WASHINGTON Dr. Gerhard Spörl, 1202 National Press Building, Europa: zwölf Monate ¤ 188,76 SONDERPUBLIKATIONEN Horst Beckmann, Manfred Schnieden- Washington, D.C. 20 045, Tel. (001202) 3475222, Fax 3473194 harn, Kirsten Wiedner WIEN Walter Mayr, Herrengasse 6-8/81, 1010 Wien, Tel. (00431) Außerhalb Europas: zwölf Monate ¤ 266,24 PERSONALIEN Dr. Manfred Weber; Petra Kleinau, Katharina 5331732, Fax 5331732-10 Halbjahresaufträge und befristete Abonnements Stegelmann ZÜRICH Jan Dirk Herbermann, Postfach 3108, 8021 Zürich, Tel. werden anteilig berechnet. 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Michael Lindner, Dr. Petra Ludwig-Sidow, Rainer Lübbert, Ulrich Hendricks, Andrea Huss, Elisabeth Kolb, Peer Peters, Monika Rick, Meier, Dr. Andreas Meyhoff, Gerhard Minich, Cornelia Moormann, Das Geld für bezahlte, aber noch nicht gelieferte Sabine Sauer, Claus-Dieter Schmidt, Gershom Schwalfenberg, Karin Tobias Mulot, Bernd Musa, Werner Nielsen, Margret Nitsche, Hefte bekomme ich zurück. Weinberg. E-Mail: [email protected] Sandra Öfner, Thorsten Oltmer, Andreas M. Peets, Anna Petersen, Bitte liefern Sie den SPIEGEL an: GRAFIK Martin Brinker, Gernot Matzke; Cornelia Baumermann, Axel Pult, Thomas Riedel, Constanze Sanders, Petra Santos, Andrea Renata Biendarra, Ludger Bollen, Tiina Hurme, Cornelia Pfauter, Sauerbier, Maximilian Schäfer, Rolf G. 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236 der spiegel 13/2002 Chronik 16. bis 22. März SPIEGEL TV

SAMSTAG, 16. 3. KONSEQUENZEN Simbabwe wird für ein MONTAG, 25.3. Jahr aus dem Commonwealth ausge- 23.15 – 23.55 UHR SAT.1 PROTEST Nach dem EU-Gipfel demon- schlossen, weil die Wiederwahl von Prä- SPIEGEL TV REPORTAGE strieren Hunderttausende in Barcelona sident Robert Mugabe nicht unter fairen gegen die Globalisierung. Mehr als 9000 und freien Bedingungen erfolgte. Alchimisten des Geschmacks – Polizisten sind im Einsatz. Essen aus dem Labor MITTWOCH, 20. 3. SONNTAG, 17. 3. KOMPROMISS NEUES PROFIL Auf ihrem Parteitag in Ber- Der Haushaltsausschuss gibt lin beschließen die Grünen ein neues grünes Licht für den umstrittenen An- Programm. Sie geben den seit 1980 be- kauf von zunächst 40 Maschinen des Mi- stehenden Grundsatz der Gewaltfreiheit litärtransporters A400M. auf. UMWELT Das Bundeskabinett beschließt, SPIEGEL TV STICHWAHL Die bayerische SPD stellt nun ab 2003 ein Pfand von bis zu 50 Cent auf Adrià-Menü im Weltraumlook auch die Oberbürgermeister in Nürnberg Getränkedosen und Einwegflaschen zu und Augsburg. erheben. Drei-Sterne-Koch Ferran Adrià entwirft Speisen, die an Astronautenkost erin- AUTOBOMBE Bei einem Anschlag in der REGIERUNGSWECHSEL Bei der vorgezoge- nern, der Chemiker Hervé This bekämpft peruanischen Hauptstadt Lima sterben in nen Parlamentswahl in Portugal verlieren den Aberglauben in der Küche, und die der Nähe der amerikanischen Botschaft die Sozialisten ihre Mehrheit. Stärkste Nasa plant Menüs für den Mars. Experi- neun Menschen. Am Samstag wird US- Partei wird die konservative PSD mit mente, von denen auch irdische Fein- Präsident W. George Bush in Peru zu ei- ihrem Spitzenkandidaten José Manuel schmecker profitieren. Durão Barroso. nem Staatsbesuch erwartet. DONNERSTAG, 28.3. DONNERSTAG, 21. 3. MONTAG, 18. 3. 22.10 – 23.05 UHR VOX FLÜCHTLINGSDRAMA Ein Schiff mit fast PLEITE Nachdem Kanzler Schröder im SPIEGEL TV EXTRA 1000 Kurden, darunter etwa 300 Kinder, Herbst 1999 versucht hatte, den Baukon- wird vor Sizilien aufgebracht und in den zern Philipp Holzmann vor dem Konkurs Bei Anruf: Koch! Hafen von Catania geschleppt. zu retten, muss das Unternehmen nun Statt frustrierender Selbstversuche am doch Insolvenz beim Amtsgericht Frank- heimischen Herd, bestellt sich der moder- DIENSTAG, 19. 3. furt/Main beantragen. Damit sind Tau- ne Mensch lieber einen Mietkoch ins sende von Arbeitsplätzen bedroht. Haus. SPIEGEL TV begleitet Kochspe- KORRUPTION Die Bundes-SPD erhebt in zialisten bei ihren Gastspielen in deut- der Schmiergeldaffäre Anklage gegen die schen Privatküchen. führenden Kölner Parteigenossen Nor- FREITAG, 22. 3. bert Rüther und Manfred Biciste. EKLAT Die Länderkammer stimmt mehr- SAMSTAG, 30.3. 22.00 – 23.55 UHR VOX VERKEHR Inlineskater gelten als Fußgän- heitlich für die Annahme des Zuwande- rungsgesetzes. Weil Bundesratspräsident ger und müssen auf dem Gehweg fahren. SPIEGEL TV SPECIAL Das urteilt der Bundesgerichtshof. Klaus Wowereit jedoch die beiden diver- gierenden Stimmen Brandenburgs als Herzschlag der Metropolen: ANSCHLAG In Bologna wird der Wirt- Zustimmung gewertet hat, verlassen die London und Moskau schaftsprofessor und Regierungsberater CDU/CSU-Vertreter unter Protest die Marco Biagi vor seinem Haus erschossen. Sitzung. Sie werfen dem Regierenden Später bekennen sich die Roten Brigaden Bürgermeister von Berlin Verfassungs- zu der Tat. bruch vor.

Labour-Politiker Tony Banks protestiert mit verkleideten Gesinnungsgenossen vor dem Londoner Parlament für ein Verbot der Fuchsjagd in England. SPIEGEL TV Lomonossow-Universität an der Moskwa

Zwei ehemalige Weltreiche, zwei moder- ne Hauptstädte – zwei Stadtporträts: Lu- xus in der königlichen Kapitale, Alltag in Upperclass-Moskau – über die Spielre- geln einer erfolgshungrigen Generation.

SONNTAG, 31.3. RTL SPIEGEL TV MAGAZIN Die Sendung entfällt wegen des Oster- Sonderprogramms auf RTL. ODD ANDERSEN / AFPODD ANDERSEN / DPA

237 Register

gestorben nicht: „Ich will noch etwas Neues pro- bieren“, erklärte er im Januar. Christian Luise Rinser, 90. Sie war die Mutter Zivil- Graf von Krockow starb am 17. März in courage der deutschen Nachkriegsliteratur, Hamburg. bayerisch, aber sozialistisch, katholisch, aber antiklerikal, und in einem selbst ver- Gösta Winbergh, fassten Nachruf vor zehn Jahren hieß sie 58. Der Job des sich einen „Störfaktor“. Vor allem ihre Ro- Bauingenieurs, der mane um rebellische Frauen brachten ihr den väterlichen Be- treue Leserinnen, und weil sie eher volks- trieb übernehmen tümlich pädagogisch als literarisch ambi- sollte, behagte ihm tioniert schrieb, blieben ihr höhere Weihen nicht, aber auch in versagt, nicht aber über fünf Millionen einer Popband kam Weltauflage. Die Tochter eines Lehrers er nicht recht auf

wurde selbst Lehre- / DPA JOHANNES IFKOV Touren. Erst nach- rin und kam gegen dem er, von Profis Ende des Krieges we- geschult, 1971 in Göteborg debütiert und gen „Wehrkraftzer- sich dort „von der Operette bis ,Faust‘“ setzung“ ins Gefäng- durch sein Fach gesungen hatte, war der nis – in NS-Publika- schwedische Tenor auf dem richtigen Weg tionen der dreißiger – in alle bedeutenden Musiktheater der Jahre hatte sie noch Welt. In den ersten Jahren beschränkte sich den „großen Führer“ Winbergh noch auf lyrische Partien, etwa angehimmelt. Nach- den Rodolfo der „Bohème“ oder den Ta- dem die Ehe mit mino aus Mozarts „Zauberflöte“. Doch

dem Komponisten / DPA JÖRG SCHMITT dann begann er die Ochsentour zu den Carl Orff gescheitert Kräfte raubenden Wagner-Partien, „ein war, zog sie gen Italien, in die Nähe von Traum von mir“. Fortan, als Lohengrin, Tris- Rom, wo sie länger als 30 Jahre lebte und tan und Siegmund, bereicherte er die Kul- schrieb. Sie engagierte sich für Willy Brandt tur seiner Stimme um Pathos und Strahl- und Nordkorea (wo sie „Kirchtürme und kraft, beides allerdings nobel dosiert: „Ich Glockengeläut“ vermisste), und 1984 kürten versuche, Wagner italienisch zu singen“, sie die Grünen zur Bundespräsidenten- sagte er und beschwor damit eine Art Bay- Kandidatin. Luise Rinser starb am 17. März reuther Belcanto. Wenige Stunden nach ei- im oberbayerischen Unterhaching. nem Auftritt als „Fidelio“-Florestan in der Wiener Staatsoper starb Gösta Winbergh Christian Graf von am 18. März vermutlich an Herzversagen. Krockow, 74. „Der Krockow muss doch Wolfgang Gruner, 75. Gegenüber vom wohl ’ne Macke ha- Bahnhof Zoo, tief im Untergeschoss des ben“, tuschelten Kol- Europa-Centers, wo das alte West-Berlin legen hinter vorge- noch spürbar geistert, machte er Kabarett haltener Hand, als wie vor 50 Jahren – ein „Stachelschwein, der Politologe 1969 das die Stellung hielt“, urteilt treffend die seinen Lehrstuhl an „FAZ“. Bekannt wurde er mit Figuren der Frankfurter Uni- wie dem Straßenfeger Otto Schruppke

versität aufgab, um / DPA JÖRG SCHMITT oder dem Taxifahrer Fritze Flink: galliger fortan als freier Au- Frontstadt-Kommentator, unverwüstlicher tor und Wissenschaftler seinen Lebensun- Schultheiß-Berliner, dafür stand Gruner terhalt zu verdienen. Bereut hat er es nie, bundesweit. Weder ein Rausschmiss durch denn mit seinen zahlreichen Büchern er- den SFB („Ihre Sendungen sind zuneh- reichte er weit mehr Menschen, als es ihm mend verflacht“) noch die Ost-Abwande- als Professor je möglich gewesen wäre. Ver- rung des Hauptstadtentertainments änder- treibung, Zerstörung – und Versöhnung, ten etwas daran: Der Mann mit Schnauze das sind die Themen, die seine Bestseller war Publikumsliebling – nölig, nervig, über seine Heimat Pommern beherrschen. herzig. In sowjetischer Kriegsgefangen- Gelehrtheit, Einfühlsamkeit, Erzähltalent schaft („Ooch nich’ sind Qualitäten, die Publikum wie Kriti- gerade ’ne sitzen- ker auch an den Biografien des „Preußen- de Tätigkeit“) hatte Krockow“ schätzten. Ebenso im besten er mit Lager-Theater Sinne aufklärerisch-pädagogisch sind seine begonnen. In Berlin politisch-historischen Schriften wie „Die war er ein gefrag- Deutschen in ihrem Jahrhundert 1890– ter Synchronsprecher 1990“ von 1990 und, drei Jahre später, „Die und Filmdarsteller. Deutschen vor ihrer Zukunft“ oder „Hit- Wolfgang Gruner ler und seine Deutschen“ (2001). Ans starb am 16. März

Aufhören dachte der vielseitige Publizist / TEUTOPRESS KERSTEN ROLF in Berlin.

238 der spiegel 13/2002 Werbeseite

Werbeseite Personalien

José María Aznar, 49, Aznar jedoch, sein Mikro abzustellen. In spanischer Regierungschef der einzigen sich der Regierung gegenüber und zurzeit Ratsvorsit- neutral gebenden Nachrichtensendung zender der EU hatte ver- wurde der verbale Ausrutscher den spa- gangene Woche Abhör- nischen Zuschauern vorgespielt. Es war probleme. In einer sehr wirklich nicht José Marías Tag: Am gesetzten 25 Minuten dau- Mittag war durch ein Versehen sein Tref- ernden Rede trug er den fen mit den Abgeordneten der Europäi- nur in geringer Zahl schen Volksparteien direkt ins Par- erschienenen Abge- lament zu Brüssel übertragen wor- ordneten des Eu- den. Da konnten alle hören, was ropaparlaments eigentlich hinter verschlosse- die Ergebnis- ner Tür bleiben sollte: Britische se des EU- Tory-Abgeordnete beschimpf-

VIOUJARD CHRISTIAN / GAMMA / STUDIO X / STUDIO / GAMMA CHRISTIAN VIOUJARD Gipfels von ten Aznar wegen seiner Aznar Barcelona Freundschaft zum Labour- vor. Seine Mann Tony Blair und der einschläfernden Ausfüh- „unakzeptablen Lösung“, rungen wurden in den die beide für die Kronkolo-

Presseraum und in die nie Gibraltar erdacht hätten PIPAL CORNELIA Dolmetscherkabinen (siehe Seite 164). Lukaschenko übertragen. Nach- dem er unter Ap- Pim Fortuyn, 54, ehema- Alexander Lukaschenko, 47, Staatsprä- plaus wieder Platz ge- liger Soziologieprofessor in sident von Weißrussland, spielte vorver- nommen hatte, raunte den Niederlanden und gangene Woche inkognito in Österreich er seinem Sitznach- Spitzenkandidat der Par- Eishockey. Der autoritäre Herrscher, für barn, dem spanischen tei „Liste Pim Fortuyn“ den in der EU wegen schwerer Menschen- Staatssekretär für eu- (LPF), hat einen politi- rechtsverletzungen ein Kontaktverbot auf ropäische Angelegen- schen Bestseller geschrie- Regierungsebene gilt, war der Einladung heiten, zu: „Vaya ben – sein Parteipro- des Österreichischen Olympischen Komi- coñazo que he solta- gramm, das als Buch im tees gefolgt. In Tirol lernte er zunächst do.“ Bei der Selbst- Handel für 14,95 Euro die Grundlagen des Skifahrens. Anschlie- kritik in Fluchform – zu haben ist. Die ers- ßend nahm er in Innsbruck an einem Be- „Was ich für einen te Auflage von „Der nefiz-Eishockey-Spiel für Tschernobyl- langweiligen Scheiß ge- Scherbenhaufen von Opfer in Weißrussland teil. Der Autokrat redet habe“ – vergaß acht Jahren Violett“ schoss drei Tore gegen das österreichische (gemeint ist die sozial- Seniorenteam, das mit 4:7 unterlag. Tref- liberale Regierungsko- fen mit hochrangigen Politikern wurden Mariah Carey, 31, ame- alition von Arbeiter- während der gesamten Dauer seines ein- rikanische Popsängerin, partei und Libera- wöchigen Aufenthalts auf Druck des öster- hat eine Menge gemein- len) war am Erschei- reichischen Außenministeriums vereitelt. sam mit einer kleinen nungstag Dienstag Armee von Fabrikarbei- vorvergangener Wo- Hans-Dietrich Genscher, 75, früherer tern. Beide, Arbeiter und che ausverkauft. Das wa- Bundesaußenminister und Ehrenvorsit- der Star, sind von der Plat- ren 7000 Exemplare. Inzwi- zender der FDP, hatte sich bislang eher tenfirma EMI an die Luft gesetzt schen wurde die zweite Aufla- vor Aufnahmen für Wahlplakate zu worden, weil Careys jüngstes Al- ge mit 12 000, die dritte mit Landtagswahlen gedrückt. Doch für die bum „Glitter“ ein Flop war und 30000 und die vierte mit 15000 dem Musikgiganten einen Verlust Exemplaren an die holländi- Pieper, Genscher von 38 Millionen Pfund eintrug. schen Männer und Frauen ge- Doch während die arbeitslosen Plat- bracht. Derzeit wird eine fünfte tenpresser aus EMIs aufgegebener Auflage mit 16000 Stück des 168 CD-Fabrik im britischen Swindon Seiten starken Werks vorberei- (und mit ihnen weltweit insgesamt tet. Fortuyn hatte mit ausländer- 1800 EMI-Mitarbeiter) in eine unge- feindlichen Parolen und starken wisse Zukunft schauen, erhielt die Sprüchen zur inneren Sicherheit schwächelnde Sirene, wie bekannt, bei den Kommunalwahlen am ein Trostpflaster von knapp 20 Mil- 6. März in der sozialdemokrati- lionen Pfund. Zwar ist das CD- schen Hochburg Rotterdam die Geschäft generell im Abschwung, etablierten Parteien hinter sich aber Careys Versagen und Entlas- gelassen und wurde stärkste sung waren, so weiß das Boule- Kraft. Nach Meinungsumfragen vardblatt „Mirror“ zu berichten, der könnte Fortuyns LPF bei den letzte Sargnagel für die CD-Fabrik Parlamentswahlen am 15. Mai

KEVIN MAZUR / WIREIMAGE.COM in Swindon. mit 27 Sitzen rechnen und wäre damit die zweitstärkste

Carey Partei im Lande. OSSENBRINK FRANK 240 FDP-Generalsekretärin Cornelia Pieper, SPD, an der er andere gern teilhaben 43, und gebürtige Hallenserin machte lässt. Fragen nach seinem Befinden pflegt der Hallenser eine Ausnahme. „Ich hörte, der CDU-Mann in diesen Tagen je nach Sie hätten da gern noch ein Foto für Stand der Ermittlungen der Staatsanwalt- Sachsen-Anhalt“, sagte Genscher, als er schaft gegen die Genossen etwa so zu be- die Generalin in einem Berliner Fotostu- antworten: „Stündlich besser. Eben haben dio begrüßte. „Dann machen wir das sie auch das Büro des Wuppertaler Ober- doch gleich hier.“ Die Generalsekretä- bürgermeisters durchsucht.“ rin, bewaffnet mit ei- nem Geburtstagsblu- menstrauß für den alten Herrn, stammelte ge- rührt: „Aber ich krieg doch auch eins fürs Familienalbum, nicht wahr, Herr Genscher?“

Marcel Desailly, 33, seit zwei Jahren Ka- pitän der französischen Fußball-Nationalmann- schaft, verriet jetzt, wie Staatspräsident Jacques

Chirac, 69, zum Sieg der OSSENBRINK FRANK bleus bei der Weltmeis- Simonis, Knorre, Faltlhauser terschaft 1998 beigetra- gen hat. Der Elysée-Herr, so erzählt der Kurt Faltlhauser, 61, bayerischer Finanz- beim Londoner FC Chelsea kickende ge- minister, tat vergangene Woche Buße bürtige Ghanaer in seiner Autobiografie für eine sprachliche Entgleisung. Der („Capitaine“), sei vor der Mondial im gebürtige Münchner hatte im vergange- Trainingslager Clairfontaine aufgetaucht nen Jahr Niedersachsen öffentlich als und habe die Equipe de France „absolut „Pampa“ abqualifiziert. Als werbewirksa- ernsthaft“ angefeuert: Sie müsse den Titel me Buße musste er nun eine Stunde lang gewinnen, weil „ich schon jetzt alle Aben- in der Berliner Landesvertretung von de mit meiner Frau übe, wie man einen Niedersachsen/Schleswig-Holstein Einbe- Pokal überreicht“. Es wäre doch „wirklich cker Bier zapfen, erstmals von Bürgern vor dumm“, so Chirac damals, „wenn ich um- über 600 Jahren gebraut. Das reichte aber sonst geprobt hätte“. Die Trikolore-Elf habe der niedersächsischen Wirtschaftsminis- sich daraufhin ausgemalt, wie Chirac sich, terin Susanne Knorre, 40, nicht, die in „vielleicht im Pyjama, seiner steif stehenden Gegenwart der Ministerpräsidentin von Gattin mit einem Pokal oder ersatzweise ei- Schleswig-Holstein, , 58, von Faltlhauser noch zusätzliche Abbitte verlangte. Faltlhau- ser wand sich und gestand mehr als „folgende Demütigun- gen“ könne er nun nicht mehr zugeben. Erste Demütigung: Er mache jedes Jahr Ur- laub an der Nordsee. Zweite: Der Gaucho regiere die „Pampa“, das „macht er jetzt

GABRIEL BOUYS / AFP / DPA (L.); GABRIEL BOUYS / AFP (L.); (R.) GABRIEL BOUYS / AFP / DPA GABRIEL BOUYS aus Berlin“. Dritte Chirac, Desailly Demütigung: „Das Bier, das wir in Bay- ner Salatschüssel nähert“. Der Fußballstar ern trinken dürfen“, komme aus Nieder- ist überzeugt, dass der Staatschef an die Sym- sachsen. „Vor 400 Jahren brachten Mönche bolkraft seiner Übung geglaubt hat: „Jedes es zu uns, und so beschlossen die bayeri- Mal, wenn wir ihm bei einem Länderspiel schen Regenten mit dem Wissen der Brau- begegnet sind, hat er uns daran erinnert.“ er aus der Pampa, das bayerische Hofbräu- haus zu gründen.“ Faltlhausers endgültiger Helmut Kohl, 71, Parteichef der unge- Kniefall: „Also, die Niedersachsen regieren klärten Spendenaffären, hat seine helle uns, und wir trinken auch noch deren Bier. Freude am Kölner Spendenskandal der Was wollt’s mehr von uns?“

der spiegel 13/2002 241 Hohlspiegel Rückspiegel Aus dem „Gelnhäuser Tageblatt“: „In den Zitate Kindergärten soll entsprechende Werbung dafür gemacht werden, auch der türkische Der Nachrichtendienst dpa zum Verein will sich engagieren, da es sich bei SPIEGEL-Bericht „Affären – Beim den ausländischen Schülern in der Messe- Milliardenbetrug von FlowTex stadt meist um Ausländer handelt.“ sahen Baden-Württembergs Behörden jahrelang zu“ (Nr. 33/2001),„Panorama – Akten manipuliert?“ (Nr. 50/2001) und „Wirtschaftskriminalität – Eilfertige Staatsanwälte?“ (Nr. 12/2002):

Im milliardenschweren FlowTex-Betrugs- Aus dem Bonner „General-Anzeiger“ komplex ermittelt der Generalstaatsanwalt in Karlsruhe gegen drei Staatsanwälte. An- lass seien mehrere namentliche Anzeigen, in Aus der „Amberger Zeitung“: „Der Wahl- denen den Anklagevertretern in Karlsruhe ausschuss der Stadt Hirschau hat einstim- und Mannheim unter anderem Strafverei- mig das Ergebnis der kommenden Wahlen telung im Amt vorgeworfen werde, teilte festgestellt.“ der Sprecher des Generalstaatsanwalts, der Leitende Oberstaatsanwalt Alexander Schwarz, auf Anfrage mit. Hintergrund des Aus dem Katalog „Brot & Butter“ von Ma- größten Wirtschaftsbetrugs der deutschen nufactum: „Züchter auf den Inseln Rügen Nachkriegsgeschichte sind Scheingeschäfte und Usedom sind seit einigen Jahren mit nicht vorhandenen Bohrsystemen. Nach bemüht, den stark vom Aussterben be- einem Bericht des Nachrichten-Magazins drohten Bestand wieder auszubauen. Un- DER SPIEGEL stehen die beschuldigten ser Lammfleisch kommt von der Rügener Staatsanwälte im Verdacht, möglicherweise Landschlachterei; das Schlachtalter der bereits 1996 durch Nicht-Weitergabe von Lämmer liegt unter einem Jahr.“ Urkunden Akten manipuliert zu haben. Als Folge sollen die damals laufenden Ermitt- lungsverfahren gegen die ehemaligen Flow- Tex-Geschäftsführer Manfred Schmider und Klaus Kleiser wieder eingestellt worden sein, hieß es. Die drei beschuldigten Staats- anwälte seien größtenteils bereits vernom- men worden, sagte Schwarz.

Das „Börsenblatt“ unter der Überschrift „SPIEGEL und Klett produzieren für die Schule“:

Aus dem „Hamburger Abendblatt“ Der SPIEGEL-Verlag (Hamburg) und der Verlag Ernst Klett (Stuttgart) verknüpfen ihre Interessen: Unter dem Label Spie- Aus einer Meldung des „Sport-Informa- gel@Klett erscheinen ab Mai Magazine zu tions-Dienstes“ über Juventus Turin: „Das gesellschaftspolitischen und literarischen Ausscheiden aus der Champions League Themen für den Unterricht – sie sollen das soll der Mannschaft die Konzentration für Lehrmaterial ergänzen. Die ersten drei das spannende Dreierduell mit AC Rom Hefte behandeln Gentechnik, Terrorismus und Inter Mailand in der Meisterschaft ver- sowie Leben und Werk des Schriftstellers leihen.“ Jurek Becker. Die Magazine haben jeweils einen Umfang von 48 Seiten und kosten 5,60 Euro. Die inhaltliche Koordination und redaktionelle Bearbeitung der Hefte liegen beim SPIEGEL-Verlag, Klett über- nimmt Herstellung und Vertrieb.

Der Branchendienst „rundy“ zum SPIEGEL-Buch „11. September. Aus der „Süddeutschen Zeitung“ Geschichte eines Terorrangriffs“:

Die SPIEGEL-Autoren haben den Tag des Aus dem „Trierischen Volksfreund“: „In verheerenden Anschlags der Gotteskrieger einem Gespräch mit , dem auf die Ungläubigen, die Giaurs, akribisch vierten deutschen Fußball-Bundestrainer zu einer dramatischen Chronik verdichtet, nach Otto Nerz, und deren Dramatik und Erschütterung das Un- Helmut Schön, vergeht die Zeit wie im fassbare noch einmal erleben lässt…Was Flug, bisweilen scheint sie sogar stehen zu Stefan Aust und Cordt Schnibben hier als bleiben.“ Buch verlegen, ist schlicht Pflichtlektüre.

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