Plenarprotokoll 15/88

Deutscher

Stenografischer Bericht

88. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2004

Inhalt:

Nachruf auf die Abgeordnete und Vorsitzende CSU: Perspektiven schaffen für das des Petitionsausschusses Marita Sehn . . . . . 7705 A Jahr der Technik 2004 (Drucksache 15/2161) ...... 7727 A Erweiterung der Tagesordnung ...... 7705 C b) Beschlussempfehlung und Bericht des Absetzung des Tagesordnungspunktes 21. . . . 7706 B Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Tagesordnungspunkt 3: – zu dem Antrag der Abgeordneten , Katherina Unterrichtung durch die Bundesregierung: Reiche, weiterer Abgeordneter und Aktionsprogramm Informationsgesell- der Fraktion der CDU/CSU: Die schaft Deutschland 2006 Innovationskraft Deutschlands (Drucksache 15/2315) ...... 7706 B stärken – Zukunftschancen , Bundesminister durch moderne Forschungsför- BMWA ...... 7706 C derung eröffnen Dr. Martina Krogmann CDU/CSU ...... 7709 B – zu dem Antrag der Abgeordneten Ulrike Flach, , wei- BÜNDNIS 90/ terer Abgeordneter und der Frak- DIE GRÜNEN ...... 7711 D tion der FDP: Aktionsplan für Rainer Brüderle FDP ...... 7713 C freie, effiziente und innovative Forschung SPD ...... 7715 D (Drucksachen 15/1696, 15/1932, Dr. CDU/CSU ...... 7717 C 15/2383) ...... 7727 B Grietje Bettin BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN ...... 7720 B in Verbindung mit fraktionslos ...... 7721 B , Parl. Staatssekretär Zusatztagesordnungspunkt 1: BMBF ...... 7722 A a) Erste Beratung des von den Abgeord- Dr. Georg Nüßlein CDU/CSU ...... 7723 C neten , Dr. Maria Böhmer, weiteren Abgeordneten und Jörg Tauss SPD ...... 7725 A der Fraktion der CDU/CSU einge- brachten Entwurfs eines Siebten Ge- setzes zur Änderung des Hochschul- Tagesordnungspunkt 4: rahmengesetzes (7. HRGÄndG) (Drucksache 15/2385) ...... 7727 B a) Antrag der Abgeordneten Katherina Reiche, , weiterer Ab- b) Erste Beratung des von den Abge- geordneter und der Fraktion der CDU/ ordneten Ulrike Flach, Christoph II Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 88. Sitzung. , Donnerstag, den 29. Januar 2004

Hartmann (Homburg), weiteren Abge- c) Erste Beratung des vom Bundesrat ein- ordneten und der Fraktion der FDP gebrachten Entwurfs eines Straf- eingebrachten Entwurfs eines Siebten rechtsänderungsgesetzes – Schutz Gesetzes zur Änderung des Hoch- der Intimsphäre schulrahmengesetzes (7. HRGÄndG) (Drucksache 15/1891) ...... 7754 A (Drucksache 15/2402) ...... 7727 C d) Erste Beratung des von der Bundesre- Katherina Reiche CDU/CSU ...... 7727 C gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Modernisierung des Kos- Michael Müller (Düsseldorf) SPD ...... 7729 B tenrechts (Kostenrechtsmodernisie- Ulrike Flach FDP ...... 7731 B rungsgesetz – KostRMoG) (Drucksache 15/2403) ...... 7754 A Jörg Tauss SPD ...... 7732 B

Cornelia Pieper FDP ...... 7732 C Zusatztagesordnungspunkt 2: Dr. Reinhard Loske BÜNDNIS 90/ a) Erste Beratung des von der Bundesre- DIE GRÜNEN ...... 7733 D gierung eingebrachten Entwurfs eines Dr. Dagmar Schipanski, Gesetzes zur Harmonisierung des Haftungsrechts im Luftverkehr Ministerin (Thüringen) ...... 7735 D (Drucksache 15/2359) ...... 7754 A Jörg Tauss SPD ...... 7736 D b) Antrag der Fraktionen der SPD, der , Bundesministerin CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/ BMBF ...... 7738 C DIE GRÜNEN und der FDP: Wirt- schaftliche und organisatorische Cornelia Pieper FDP ...... 7738 D Strukturen der Deutschen Flugsi- Dr. CDU/CSU ...... 7739 D cherung dauerhaft verbessern (Drucksache 15/2393) ...... 7754 B Werner Lensing CDU/CSU ...... 7740 C

Michael Kretschmer CDU/CSU ...... 7743 A Tagesordnungspunkt 25: Marion Seib CDU/CSU ...... 7744 B a) Zweite und dritte Beratung des von der Hans-Josef Fell BÜNDNIS 90/ Bundesregierung eingebrachten Ent- wurfs eines Gesetzes zu dem Ände- DIE GRÜNEN ...... 7745 C rungsprotokoll vom 22. Juni 1998 Dr. Gesine Lötzsch fraktionslos ...... 7746 D zum Europäischen Übereinkommen zum Schutz der für Versuche und Walter Hoffmann (Darmstadt) andere wissenschaftliche Zwecke SPD ...... 7748 A verwendeten Wirbeltiere Dr. Maria Böhmer CDU/CSU ...... 7749 D (Drucksachen 15/2143, 15/2401) . . . . 7754 B/C Ulrich Kasparick SPD ...... 7752 A b) Zweite Beratung und Schlussabstim- mung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zu dem Europäischen Überein- Tagesordnungspunkt 24: kommen vom 6. November 1997 a) Erste Beratung des von der Bundesre- über die Staatsangehörigkeit gierung eingebrachten Entwurfs eines (Drucksachen 15/2145, 15/2406) . . . . 7754 D Gesetzes zur Neuordnung der Ge- c)–e) Beschlussempfehlungen des Petitions- bühren in Handels-, Partnerschafts- ausschusses: Sammelübersichten 87, und Genossenschaftsregistersachen 88 und 89 zu Petitionen (Handelsregistergebühren-Neuord- (Drucksachen 15/2342, 15/2343, nungsgesetz – HRegGebNeuOG) 15/2344) ...... 7755 A (Drucksache 15/2251) ...... 7753 D b) Erste Beratung des von der Bundesre- gierung eingebrachten Entwurfs eines Zusatztagesordnungspunkt 3: Gesetzes zu dem Übereinkommen Zweite und dritte Beratung des vom Bun- vom 28. Mai 1999 zur Vereinheitli- desrat eingebrachten Entwurfs eines Ge- chung bestimmter Vorschriften über setzes zur Ergänzung des Gesetzes zur die Beförderung im internationalen Sicherstellung einer Übergangsregelung Luftverkehr (Montrealer Überein- für die Umsatzbesteuerung von Alt- kommen) Sportanlagen (Drucksache 15/2285) ...... 7753 D (Drucksachen 15/2132, 15/2414) ...... 7755 B Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2004 III

Zusatztagesordnungspunkt 4: Dr. SPD ...... 7781 D Aktuelle Stunde auf Verlangen der Frak- Albert Deß CDU/CSU ...... 7783 A tion der SPD: Umbau der Bundesagen- tur für Arbeit zu einem modernen Renate Künast, Bundesministerin Dienstleister BMVEL ...... 7784 B Wolfgang Clement, Bundesminister BMWA 7755 C Christa Reichard (Dresden) CDU/CSU . . . . 7785 C Karl-Josef Laumann CDU/CSU ...... 7758 A Dr. Thea Dückert BÜNDNIS 90/ Tagesordnungspunkt 6: DIE GRÜNEN ...... 7759 D – Zweite und dritte Beratung des von FDP ...... 7761 B den Abgeordneten , , weiteren Abgeordneten Klaus Brandner SPD ...... 7762 C und der Fraktion der CDU/CSU einge- Bernhard Kaster CDU/CSU ...... 7764 A brachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Bereinigung von SED- SPD ...... 7765 B Unrecht (Drittes SED-Unrechtsbe- CDU/CSU ...... 7767 A reinigungsgesetz – 3. SED-UnBerG) (Drucksachen 15/932, 15/2412, Fritz Kuhn BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN . . 7768 C 15/2413) ...... 7786 D Petra Pau fraktionslos ...... 7769 C – Zweite und dritte Beratung des von Dr. SPD ...... 7770 B den Abgeordneten , Joachim Günther (Plauen), weiteren Hans-Joachim Fuchtel CDU/CSU ...... 7771 B Abgeordneten und der Fraktion der FDP SPD ...... 7772 C eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Bereinigung von SED- Hartmut Schauerte CDU/CSU ...... 7773 C Unrecht (Drittes SED-Unrechtsbe- Hans-Werner Bertl SPD ...... 7775 A reinigungsgesetz – 3. SED-UnBerG) (Drucksachen 15/1235, 15/2412, 15/2413) ...... 7786 D Tagesordnungspunkt 5: Arnold Vaatz CDU/CSU ...... 7787 A Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verbraucherschutz, Er- Peter Dreßen SPD ...... 7789 C nährung und Landwirtschaft Klaus Haupt FDP ...... 7791 B – zu dem Antrag der Abgeordneten BÜNDNIS 90/ Reinhold Hemker, Sören Bartol, weite- DIE GRÜNEN ...... 7792 B rer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Thilo CDU/CSU ...... 7793 C Hoppe, (Köln), weiterer Abgeordneter und der Fraktion des Franz Thönnes, Parl. Staatssekretär BMGS . . 7794 D BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Verbesserung der Welternährungs- situation und Verwirklichung des Tagesordnungspunkt 7: Rechts auf Nahrung a) Antrag der Abgeordneten Gabriele – zu dem Antrag der Abgeordneten Hiller-Ohm, Sören Bartol, weiterer Peter H. Carstensen (Nordstrand), Dr. Abgeordneter und der Fraktion der Christian Ruck, weiterer Abgeordneter SPD sowie der Abgeordneten Ulrike und der Fraktion der CDU/CSU: Ver- Höfken, Volker Beck (Köln), weiterer antwortung für die Sicherheit der Abgeordneter und der Fraktion des Welternährung übernehmen – BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Chancen der Grünen Gentechnik Lebensmittelüberwachung effizien- nutzen ter gestalten (Drucksache 15/2339) ...... 7796 D (Drucksachen 15/1316, 15/1216, 15/2234) 7776 B b) Antrag der Abgeordneten Ursula Reinhold Hemker SPD ...... 7776 C Heinen, Peter H. Carstensen (Nord- CDU/CSU ...... 7778 A strand), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Wirksamere Thilo Hoppe BÜNDNIS 90/ und breitere Lebensmittelüberwa- DIE GRÜNEN ...... 7779 B chung und -kontrolle in Deutschland Dr. Christel Happach-Kasan FDP ...... 7780 B (Drucksache 15/2386) ...... 7797 A IV Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2004

c) Bericht des Ausschusses für Bildung, b) Antrag der Abgeordneten Ulrike Forschung und Technikfolgenabschät- Flach, Cornelia Pieper, weiterer Abge- zung gemäß § 56 a der Geschäftsord- ordneter und der Fraktion der FDP: nung: Technikfolgenabschätzung Eckpunkte für einen Wissenschafts- tarifvertrag hier: TA-Projekt – „Potenziale zur (Drucksache 15/1716) ...... 7806 A Erhöhung der Nahrungsmittel- qualität – Entwicklungsten- Ulrike Flach FDP ...... 7806 B denzen bei Nahrungsmittelan- Hans-Peter Kemper SPD ...... 7807 B gebot und -nachfrage und ihre Ulrike Flach FDP ...... 7808 A Folgen“ (Drucksache 15/1673) ...... 7797 A Thomas Rachel CDU/CSU ...... 7809 B Jörg Tauss SPD ...... 7809 D d) Bericht des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschät- Grietje Bettin BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 7810 D zung gemäß § 56 a der Geschäftsord- Marion Seib CDU/CSU ...... 7811 D nung Technikfolgenabschätzung SPD ...... 7812 D hier: TA-Projekt – „Potenziale zum Ausbau der regionalen Nah- rungsmittelversorgung – Ent- Tagesordnungspunkt 9: wicklungstendenzen bei Beschlussempfehlung und Bericht des Nahrungsmittelangebot und Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag -nachfrage und ihre Folgen“ der Fraktionen der SPD, der CDU/CSU, (Drucksache 15/1674) ...... 7797 B des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und e) Bericht des Ausschusses für Bildung, der FDP: Die deutsch-koreanischen Be- Forschung und Technikfolgenabschät- ziehungen dynamisch fortentwickeln zung gemäß § 56 a der Geschäftsord- (Drucksachen 15/2167, 15/2411) ...... 7814 B nung Technikfolgenabschätzung Johannes Pflug SPD ...... 7814 C hier: TA-Projekt – „Potenziale für Hartmut Koschyk CDU/CSU ...... 7815 C eine verbesserte Verbraucher- information – Entwicklungs- Dr. Ludger Volmer BÜNDNIS 90/ tendenzen bei Nahrungsmittel- DIE GRÜNEN ...... 7817 C angebot und -nachfrage und Harald Leibrecht FDP ...... 7818 C ihre Folgen“ (Drucksache 15/1675) ...... 7797 B Tagesordnungspunkt 10: Gabriele Hiller-Ohm SPD ...... 7797 C Große Anfrage der Abgeordneten Peter Ursula Heinen CDU/CSU ...... 7799 D Hintze, , weiterer Abgeord- , Parl. Staatssekretär neter und der Fraktion der CDU/CSU: Strukturveränderungen der Bundes- BMVEL ...... 7801 A zollverwaltung sowie Auswirkungen Hans-Michael Goldmann FDP ...... 7802 B der Beitritte Polens und Tschechiens zur Europäischen Union 2004 Matthias Berninger BÜNDNIS 90/ (Drucksachen 15/1379, 15/1623) ...... 7819 C DIE GRÜNEN ...... 7803 B CDU/CSU ...... 7819 C Hans-Michael Goldmann FDP ...... 7804 A Dr. Barbara Hendricks, Parl. Staatssekretärin Uda Carmen Freia Heller BMF ...... 7821 A CDU/CSU ...... 7804 C Dr. FDP ...... 7822 B Christine Scheel BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN ...... 7823 A Tagesordnungspunkt 8: CDU/CSU ...... 7824 A a) Antrag der Abgeordneten Christoph Lydia Westrich SPD ...... 7825 A Hartmann (Homburg), Ulrike Flach, weiterer Abgeordneter und der Frak- tion der FDP: Akkreditierte Master- Tagesordnungspunkt 11: abschlüsse von Fachhochschulen und Universitäten im öffentlichen Antrag der Fraktionen der SPD, der CDU/ Dienst gleichstellen CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- (Drucksache 15/1710) ...... 7805 D NEN und der FDP: Eine politische Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2004 V

Lösung für den Westsaharakonflikt Tagesordnungspunkt 15: voranbringen – Baker-Plan unterstützen Erste Beratung des von der Bundesregie- (Drucksache 15/2391) ...... 7826 A rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- Jelena Hoffmann (Chemnitz) SPD ...... 7826 A zes über den Arbeitsmarktzugang im Siegfried Helias CDU/CSU ...... 7827 C Rahmen der EU-Erweiterung (Drucksache 15/2378) ...... 7844 B Hans-Christian Ströbele BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN ...... 7828 D Tagesordnungspunkt 16: Ulrich Heinrich FDP ...... 7829 D Erste Beratung des vom Bundesrat einge- Hermann Gröhe CDU/CSU ...... 7831 A brachten Entwurfs eines Investitionszula- gengesetzes 2005 (InvZulG 2005) Tagesordnungspunkt 12: (Drucksache 15/2249) ...... 7844 C Antrag der Abgeordneten , Dr. Barbara Hendricks, Parl. Staatssekretärin Dr. Friedbert Pflüger, weiterer Abgeord- BMF ...... 7844 D neter und der Fraktion der CDU/CSU: Manfred Kolbe CDU/CSU ...... 7845 B Den Weg zur Einheit und Demokratisie- rung in Moldau unterstützen Dr. Karl-Heinz Paqué, Minister (Drucksache 15/1987) ...... 7832 A (Sachsen-Anhalt) ...... 7846 D Claudia Nolte CDU/CSU ...... 7832 B Simone Violka SPD ...... 7847 C (Wiesloch) SPD ...... 7834 C Dr. Michael Luther CDU/CSU ...... 7848 D Dr. Rainer Stinner FDP ...... 7836 A Marianne Tritz BÜNDNIS 90/ Tagesordnungspunkt 17: DIE GRÜNEN ...... 7837 A Antrag der Abgeordneten Michael Kretschmer, Katherina Reiche, weiterer Tagesordnungspunkt 13: Abgeordneter und der Fraktion der CDU/ CSU: Konzeption zur Struktur und zur Erste Beratung des von der Bundesregie- Finanzierung eines Osteuropazentrums rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- für Wirtschaft und Kultur jetzt vorle- zes zur Änderung der Bundesärzteord- gen nung und anderer Gesetze (Drucksache 15/2162) ...... 7849 D (Drucksache 15/2350) ...... 7837 D Nächste Sitzung ...... 7850 C Tagesordnungspunkt 14: a) Beschlussempfehlung und Bericht des Anlage 1 Ausschusses für Verkehr, Bau- und Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . 7851 A Wohnungswesen zu dem Antrag der Abgeordneten Dirk Fischer (Ham- burg), Klaus Brähmig, weiterer Abge- Anlage 2 ordneter und der Fraktion der CDU/ CSU: Sicherheit im Busverkehr Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung der (Drucksachen 15/1528, 15/2023) . . . . 7838 A Anträge: b) Antrag der Abgeordneten Gero – Verbesserung der Welternährung Storjohann, Gerhard Wächter, weite- und Verwirklichung des Rechts auf rer Abgeordneter und der Fraktion der Nahrung CDU/CSU: Mehr Sicherheit an un- – Verantwortung für die Sicherheit beschrankten Bahnübergängen der Welternährung übernehmen – (Drucksache 15/1984) ...... 7838 B Chancen der Grünen Gentechnik Heinz Paula SPD ...... 7838 B nutzen Volkmar Uwe Vogel CDU/CSU ...... 7839 C (Tagesordnungspunkt 5) Peter Hettlich BÜNDNIS 90/ Petra Pau fraktionslos ...... 7851 D DIE GRÜNEN ...... 7840 C (Bayreuth) FDP ...... 7841 D Anlage 3 Heidi Wright SPD ...... 7842 C Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung CDU/CSU ...... 7843 C des Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung VI Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2004 der Bundesärzteordnung und anderer Ge- Anlage 8 setze (Tagesordnungspunkt 13) Einrichtung eines Fonds für übergewichtige Dr. Erika Ober SPD ...... 7852 D Kinder Monika Brüning CDU/CSU ...... 7853 C MdlAnfr 1,2 Petra Selg BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN . . . . 7855 A Ursula Heinen CDU/CSU Detlef Parr FDP ...... 7856 A SchrAntw PStSekr Dr. Gerald Thalheim BMVEL7 869 C Marion Caspers-Merk, Parl. Staatssekretärin BMGS ...... 7856 D Anlage 9 Export von werthaltigen Plastikabfällen nach Anlage 4 China sowie Kontrolle der Verwertung in China Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung MdlAnfr 3 des Entwurfs eines Gesetzes über den Ar- Tanja Gönner CDU/CSU beitsmarktzugang im Rahmen der EU-Er- weiterung (Tagesordnungspunkt 15) SchrAntw PStSekr’in Simone Probst BMU . 7869 D Angelika Krüger-Leißner SPD ...... 7857 C Klaus Hofbauer CDU/CSU ...... 7859 C Anlage 10 (Berlin) BÜNDNIS 90/ Kostenbeteiligung der von einer Geisel- DIE GRÜNEN ...... 7860 C nahme im Ausland betroffenen Deutschen; Absicherung durch eine Pflichtversicherung Dr. Claudia Winterstein FDP ...... 7861 A MdlAnfr 6, 7 Dr. CDU/CSU Anlage 5 SchrAntw StSekr Dr. Klaus Scharioth AA . . 7870 B Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung des Entwurfs eines Investitionszulagengesetzes Anlage 11 2005 (Tagesordnungspunkt 16) Franziska Eichstädt-Bohlig BÜNDNIS 90/ Herkunft der Exponate der Ausstellung „Kör- perwelten“; eventuelle Lücken im Strafge- DIE GRÜNEN ...... 7861 D setzbuch hinsichtlich des Schutzes von Lei- chenteilen Anlage 6 MdlAnfr 8, 9 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung Hartwig Fischer (Göttingen) CDU/CSU des Antrags: Konzeption zur Struktur und SchrAntw PStSekr Alfred Hartenbach BMJ . 7870 C zur Finanzierung eines Osteuropazentrums für Wirtschaft und Kultur jetzt vorlegen (Tagesordnungspunkt 17) Anlage 12 Andrea Wicklein SPD ...... 7862 C Kürzung der Zahlungen in den Pflegestufen I und II und Anhebung in der Pflegestufe III bei Michael Kretschmer CDU/CSU ...... 7863 D stationärer Versorgung (Zingst) CDU/CSU ...... 7865 B MdlAnfr 10, 11 Peter Hettlich BÜNDNIS 90/ Matthäus Strebl CDU/CSU DIE GRÜNEN ...... 7866 B SchrAntw PStSekr’in Marion Caspers-Merk Cornelia Pieper FDP ...... 7867 B BMGS ...... 7871 A Iris Gleicke, Parl. Staatssekretärin BMVBW ...... 7867 D Anlage 13 Finanzieller Mehraufwand für die öffentli- Anlage 7 chen Kassen durch Ausgabe von Krankenbe- handlungs-Chipkarten auch für Sozialhilfe- Vorgänge um die Position des Vorstandsvor- empfänger infolge deren Gleichstellung mit sitzenden der Bundesagentur für Arbeit; Rolle den gesetzlich Krankenversicherten im Rah- der Vorsitzenden des Verwaltungsrates der men der Gesundheitsreform Bundesagentur für Arbeit MdlAnfr 12 DringlAnfr 1, 2 CDU/CSU CDU/CSU SchrAntw PStSekr’in Marion Caspers-Merk SchrAntw PStSekr Gerd Andres BMWA . . . . 7869 B BMGS ...... 7871 B Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2004 VII

Anlage 14 Anlage 20 Senkung bzw. Erhöhung der Krankenkassen- Beratung der großen EU-Länder über das Pro- beiträge im Jahre 2004 jekt einer europäischen Neutronenspallations- MdlAnfr 13, 14 quelle am 8. Januar 2004; Gründung einer Dr. Gesine Lötzsch fraktionslos Folgeeinrichtung des „ESS-Council“ mit Sitz SchrAntw PStSekr’in Marion Caspers-Merk in Grenoble zur Vorbereitung des Baus einer BMGS ...... 7871 C europäischen Neutronenspallationsquelle MdlAnfr 22, 23 Anlage 15 Dr. Christoph Bergner CDU/CSU SchrAntw PStSekr Christoph Matschie BMBF 7873 B Klagen gegen das Gesetz zur Modernisierung der gesetzlichen Krankenversicherung MdlAnfr 15 Anlage 21 Petra Pau fraktionslos Finanzielle Auswirkungen der vorgeschlage- SchrAntw PStSekr’in Marion Caspers-Merk nen Neuordnungen im Bereich Hochschulbau BMGS ...... 7871 D und Finanzierung der Forschungsorganisa- tionen für den Bund und die einzelnen Bun- Anlage 16 desländer; Umsetzung des Ausschlusses grundfinanzierter Einrichtungen aus der Pro- Einstellung bzw. Verschiebung bereits begon- jektförderung des BMBF im Vergleich der nener Schieneninfrastrukturprojekte; Options- verschiedenen Forschungsorganisationen vorbehalt betreffend die Auflösung der Hol- dinggesellschaften sowie die Bildung MdlAnfr 24, 25 voneinander getrennter Aktiengesellschaften Michael Kretschmer CDU/CSU für Fahrweg, Personennah-, Personenfern- SchrAntw PStSekr Christoph Matschie BMBF 7873 C und Güterverkehr MdlAnfr 16, 17 Anlage 22 CDU/CSU SchrAntw PStSekr’in Iris Gleicke BMVBW 7872 A Stand der Einführung einer Ausbildungsplatz- abgabe und entstehende Kosten MdlAnfr 26, 27 Anlage 17 Werner Lensing CDU/CSU Umsetzung der Verbesserung der haftungs- SchrAntw PStSekr Christoph Matschie BMBF 7874 B rechtlichen Situation von Fahrgästen gegen- über Verkehrsunternehmen bei mangelhafter Leistung vor dem Hintergrund der Rück- Anlage 23 nahme des Forschungs- und Entwicklungs- Verkauf von bundeseigenen Wohnungen bzw. vorhabens „Qualitätsoffensive im öffentlichen Wohnanlagen in München Personenverkehr – Verbraucherschutz und Kundenrechte stärken“ MdlAnfr 28 MdlAnfr 18, 19 Johannes Singhammer CDU/CSU CDU/CSU SchrAntw PStSekr BMF ...... 7874 C SchrAntw PStSekr’in Iris Gleicke BMVBW 7872 B Anlage 24 Anlage 18 Gründe für die Aufhebung der Verwaltungs- Veröffentlichung einer Liste von Luftver- vorschrift bezüglich der Mietpreise für bun- kehrsunternehmen mit besonders groben Si- deseigene Wohnungen cherheitsmängeln MdlAnfr 29 MdlAnfr 20 Johannes Singhammer CDU/CSU Ernst Hinsken CDU/CSU SchrAntw PStSekr Karl Diller BMF ...... 7824 D SchrAntw PStSekr’in Iris Gleicke BMVBW 7872 D Anlage 25 Anlage 19 Entlastung der Mieter in Ballungsräumen mit Bau der A 73 (Suhl–Lichtenfels) im Abschnitt extrem hohem Mietniveau wie beispielsweise Ebersdorf bei Coburg bis Lichtenfels in München MdlAnfr 21 MdlAnfr 30 CDU/CSU Hannelore Roedel CDU/CSU SchrAntw PStSekr’in Iris Gleicke BMVBW . 7873 A SchrAntw PStSekr Karl Diller BMF ...... 7875 A VIII Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2004

Anlage 26 Anlage 32 Höhe und Verwendung des durch den Verkauf Kriterien für die Festlegung von „Innovations- der Zuschlagsmarke „50. Jahrestag des regionen“ – beispielsweise die nördliche Volksaufstandes am 17. Juni 1953“ erzielten Oberpfalz – im Zusammenhang mit dem vom Spendenaufkommens Bundeskanzler im Dezember 2000 zugesi- MdlAnfr 31, 32 cherten Grenzgürtelprogramm für die bayeri- Dr. Jürgen Gehb CDU/CSU schen Gebiete entlang der EU-Erweiterungs- grenze SchrAntw PStSekr Karl Diller BMF ...... 7875 B MdlAnfr 41, 42 Georg Girisch CDU/CSU Anlage 27 SchrAntw PStSekr Gerd Andres BMWA . . . . Kriterien für die Verwendung der Erlöse aus 7878 B dem Verkauf der Zuschlagsmarke „50. Jahres- tag des Volksaufstandes am 17. Juni 1953“; Kreis der an entsprechenden Entscheidungen Anlage 33 beteiligten Institutionen und Personen Ausweitung der wirtschaftlichen Beziehun- MdlAnfr 33, 34 gen zu China; Stellenwert der grundlegenden Jochen-Konrad Fromme CDU/CSU Menschenrechte SchrAntw PStSekr Karl Diller BMF ...... 7875 D MdlAnfr 43 CDU/CSU Anlage 28 SchrAntw PStSekr Gerd Andres BMWA . . . . 7878 C Berechnung der Gebühren für Finanzdienst- leister nach der Verordnung über die Erhe- Anlage 34 bung der Gebühren nach dem Finanzdienst- leistungsaufsichtsgesetz vom 17. Dezember Auswirkungen der EU-Osterweiterung auf die 2003; Rechtfertigung für Gebührensteigerung Chancen deutscher Busunternehmen, insbe- MdlAnfr 35, 36 sondere des Mittelstandes, bei öffentlichen CDU/CSU Ausschreibungen auf europäischer Ebene; SchrAntw PStSekr Karl Diller BMF ...... 7876 B Konkurrenz durch Busunternehmen aus den EU-Beitrittsländern

Anlage 29 MdlAnfr 44, 45 Klaus Hofbauer CDU/CSU Vorlage eines Gesetzentwurfs zu einer großen Steuerreform mit radikaler Steuervereinfa- SchrAntw PStSekr Gerd Andres BMWA . . . . Anlage7879 35 C chung vonseiten der Bundesregierung MdlAnfr 37 Hans Michelbach CDU/CSU Anlage 35 SchrAntw PStSekr Karl Diller BMF ...... 7877 A Auslandsprojekte, für die die Westdeutsche Landesbank eine Hermesbürgschaft beantragt hat Anlage 30 Einführung eines reduzierten Mehrwertsteu- MdlAnfr 46 ersatzes für die Gastronomie Petra Pau fraktionslos MdlAnfr 38 SchrAntw PStSekr Gerd Andres BMWA . . . . 7880 A Ernst Hinsken CDU/CSU SchrAntw PStSekr Karl Diller BMF ...... 7877 A Anlage 36

Anlage 31 Schlechtere Vermittlungsergebnisse des Virtu- ellen Arbeitsmarktes (VAM) als bei dem von Beschleunigung der EU-Erweiterung bei der Bundesagentur für Arbeit geförderten gleichzeitiger Beschränkung des EU-Ausga- System Wimmi; Vergabe von externen Bera- bevolumens; Verhinderung des erneuten Ver- tungsleistungen im Rahmen des VAM fehlens der EU-Stabilitätskriterien MdlAnfr 39, 40 MdlAnfr 47, 48 (Weiden) CDU/CSU Hartmut Schauerte CDU/CSU SchrAntw PStSekr Karl Diller BMF ...... 7877 C SchrAntw PStSekr Gerd Andres BMWA . . . . 7880 A Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2004 7705

(A) (C) Redetext

88. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2004

Beginn: 9.00 Uhr

Präsident : Liebe Kolleginnen und Kollegen, interfraktionell ist Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die vereinbart worden, die verbundene Tagesordnung um Sitzung ist eröffnet. die in einer Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu er- weitern: Ich bitte Sie, sich zu erheben. ZP 1 a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Katherina Reiche, (Die Anwesenden erheben sich.) Dr. Maria Böhmer, Thomas Rachel, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Mit tiefer Betroffenheit haben wir erfahren, dass die Vor- Siebten Gesetzes zur Änderung des Hochschulrahmenge- sitzende des Petitionsausschusses, unsere Kollegin setzes (7. HRGÄndG) Marita Sehn, am 18. Januar dieses Jahres, nur wenige – Drucksache 15/2385 – Monate vor ihrem 49. Geburtstag, auf tragische Weise Überweisungsvorschlag: ums Leben gekommen ist. Auf einem heimatlichen Spa- Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung (f) ziergang mit ihrer Familie starb sie bei einem Verkehrs- Innenausschuss (B) unfall, bei dem ihr Bruder ebenfalls sein Leben verlor Rechtsausschuss (D) und ihr Mann schwer verletzt wurde. Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Marita Sehn wurde am 2. Mai 1955 in Rödern gebo- Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ren. Die ausgebildete Industriekauffrau trat 1985 in die Ausschuss für Kultur und Medien FDP ein, in der sie ab 1992 zehn Jahre lang Kreisvorsit- Haushaltsausschuss zende im Rhein-Hunsrück-Kreis und seit 1998 Vorsit- b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Ulrike Flach, zende des Bezirks Eifel-Mosel-Hunsrück sowie Mitglied (Homburg), Cornelia Pieper, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der FDP eingebrachten Ent- des Landesvorstands Rheinland-Pfalz war. Schon hier wurfs eines Siebten Gesetzes zur Änderung des Hochschul- begann sich abzuzeichnen, was für die Kollegin so cha- rahmengesetzes (7. HRGÄndG) rakteristisch war: ihre Verwurzelung in der Heimat und – Drucksache 15/2402 – ihr Einsatz für die Belange der Menschen ihrer Region. Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Auch dass sie in ihrer Zeit als Bundestagsabgeordnete Technikfolgenabschätzung (f) weiterhin Mitglied im Stadtrat Kirchberg und im Ver- Innenausschuss bandsgemeinderat Kirchberg sowie Kreisbeigeordnete Rechtsausschuss blieb, weist auf ihre Bürgernähe und ihr Engagement für Finanzausschuss ihre Heimat hin. Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Von 1990 bis 1994 und dann wieder seit 1998 war Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Ausschuss für Kultur und Medien Marita Sehn Mitglied des Bundestages. Sie übernahm Haushaltsausschuss 2002 den Vorsitz des Petitionsausschusses – ein Amt, ZP 2 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren das ihrem Einsatz für die Belange der Menschen ent- (Ergänzung zu TOP 24) sprach und das sie mit großer Tatkraft und Einfühlungs- a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten vermögen für die Anliegen der Petenten ausfüllte. Mit Entwurfs eines Gesetzes zur Harmonisierung des Haf- ihrem Wirken erwarb sie sich die Anerkennung und den tungsrechts im Luftverkehr Respekt ihrer Kollegen über alle Fraktionsgrenzen hin- – Drucksache 15/2359 – weg. Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss (f) Angesichts des Todes unserer Kollegin Sehn sind wir Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen tief bestürzt und sprechen ihren Angehörigen, insbeson- Ausschuss für Tourismus dere ihrem Mann, unser tief empfundenes Beileid aus. – b) Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD, der CDU/CSU, Ich danke Ihnen. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP: Wirt- 7706 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2004

Präsident Wolfgang Thierse (A) schaftliche und organisatorische Strukturen der Deut- Wolfgang Clement, Bundesminister für Wirtschaft (C) schen Flugsicherung dauerhaft verbessern und Arbeit: – Drucksache 15/2393 – Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Überweisungsvorschlag: Herren! Am Beginn dieses Jahres können wir sagen, Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f) dass das Jahr 2004, was die Ökonomie angeht, mit größ- Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ter Wahrscheinlichkeit besser sein wird als die vergange- Verteidigungsausschuss nen drei Jahre. Wir stehen – die Anzeichen dafür sind Haushaltsausschuss unübersehbar – am Beginn eines sehr kräftigen welt- ZP 3 Weitere abschließende Beratungen ohne Aussprache wirtschaftlichen Aufschwungs. Nach allem, was wir (Ergänzung zu TOP 25) erkennen können, wird die Weltwirtschaft um 3 bis Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat eingebrachten 4 Prozent wachsen. Der Welthandel wird um 7 bis 8 Pro- Entwurfs eines... Gesetzes zur Ergänzung des Gesetzes zur zent zulegen. Sicherstellung einer Übergangsregelung für die Umsatz- besteuerung von Alt-Sportanlagen In der Bundesrepublik Deutschland, einem Land, das – Drucksache 15/2132 – exportstärker ist als die meisten anderen Länder auf der (Erste Beratung 86. Sitzung) Welt, werden wir von diesem Prozess profitieren. Wir werden von dem ökonomischen Schwung, der insbeson- Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses dere von den USA, von China und übrigens auch von (7. Ausschuss) den EU-Beitrittsländern ausgeht, profitieren und von – Drucksache 15/2414 – ihm gewissermaßen mitgerissen. Wir können erwarten, Berichterstattung: dass aufgrund unserer Exportstärke der Aufschwung Abgeordnete Horst Schild auch bei uns in Deutschland Fuß fassen wird und dass Heinz Seiffert durch die Reformmaßnahmen, die wir in den Bereichen ZP 4 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der SPD: Um- Steuern und soziale Sicherungssysteme unternommen bau der Bundesagentur für Arbeit zu einem modernen haben, die Höhe der Investitionen steigen wird und so Dienstleister schließlich die Binnennachfrage in unserem Land ge- ZP 5 Beratung des Antrags der Fraktion der CDU/CSU: Einrich- stärkt wird. tung eines Zukunftsausschusses Alle Indikatoren sprechen für eine solche Entwick- – Drucksache 15/2387 – lung. Der aktuelle Ifo-Geschäftsklimaindex ist im Ver- ZP 6 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der CDU/CSU: gleich zu denen der letzten drei Jahren am besten ausge- Auswirkungen des von der Bundesregierung geplanten Emissionshandels auf die deutsche Wirtschaft fallen. Alle Umfragen weisen darauf hin – das geht über unsere Erwartungen hinaus –, dass die Investitionsnei- (B) (D) Von der Frist für den Beginn der Beratung soll, soweit gung der Unternehmen des Mittelstandes steigt. Viel- erforderlich, abgewichen werden. leicht können wir außerdem darauf hoffen, dass die Ver- braucherinnen und Verbraucher in Deutschland wieder Außerdem ist vereinbart worden, den Tagesord- etwas kauflustiger in die Geschäfte gehen, als das in der nungspunkt 21 – Förderung von Gedenkstätten – abzu- zurückliegenden Zeit der Fall gewesen ist. setzen. Sind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstan- den? – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so be- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ schlossen. DIE GRÜNEN) Ich rufe Tagesordnungspunkt 3 auf: Alle Signale, die wir empfangen können – eine solche Nachricht ist wohltuend; vor allem außerhalb Deutsch- Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre- lands hat man oft mehr Zuversicht und Optimismus –, gierung weisen darauf hin, dass in der Europäischen Union ins- gesamt wie auch in Deutschland der Aufschwung ein- Aktionsprogramm Informationsgesellschaft setzt. Das zeigt, dass wir mit unseren Reformmaßnah- Deutschland 2006 men – diese sind mit denen in den meisten europäischen – Drucksache 15/2315 – Ländern übrigens fast identisch – auf dem richtigen Weg sind. Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Innenausschuss DIE GRÜNEN) Rechtsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Wir haben das Tal der Tränen durchschritten, haben Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung die Talsohle hinter uns gelassen. Allerdings müssen wir Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung auf unserem Weg Kurs halten und müssen auch weiter- Ausschuss für Kultur und Medien hin strukturelle Reformen und die Förderung von Inno- vationen im Blick haben. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. – Ich Welche strukturellen Reformen haben wir uns vorge- höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. nommen? – Wie Sie wissen, werden wir die Reformen im Bereich der Rentenversicherung fortsetzen und eine Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Bundes- langfristig angelegte Rentenreform auf den Weg bringen. minister Wolfgang Clement das Wort. Wir werden die vorgesehenen Reformen am Arbeits- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2004 7707

Bundesminister Wolfgang Clement (A) markt mit aller Konsequenz realisieren, auch nach dem, standard und auch unseren Wohlstand – halten wollen. (C) was sich bei der Bundesagentur für Arbeit zugetragen Ganz vorne sind wir in Deutschland heute im Bereich hat. Die Veränderungen, die vorgesehen sind – diese sind der Automobilindustrie und des Maschinenbaus. Im richtig –, werden selbstverständlich mit aller Konse- Chemiesektor sind wir unternehmerisch nicht mehr so quenz durchgesetzt. Wir müssen und wir werden die kräftig, wie wir es schon einmal waren, und unsere un- Kräfte des Wettbewerbs in Deutschland stärken. Regu- ternehmerische Power insbesondere im Bereich der lierung werden wir an den Stellen, an denen sie nicht pharmazeutischen Industrie ist schon lange nicht mehr mehr notwendig ist, reduzieren. In den Bereichen, in de- ausreichend stark. nen der Wettbewerb aber noch nicht funktioniert und Vor diesem Hintergrund ist die Diskussion um das noch nicht die erforderlichen Erfolge zeigt – das ist etwa Unternehmen Aventis und seinen so wichtigen Standort auf den Strom- und Gasmärkten der Fall –, werden wir in Deutschland – in Frankfurt am Main – für uns auch Regulierungen einführen, um dadurch den Wettbewerb von so großer Bedeutung. Deshalb weisen wir auf die zu forcieren. An den Stellen, an denen bestimmte Kräfte Bedeutung dieses Standortes immer wieder hin. den Aufschwung hemmen könnten, insbesondere an den Stellen, an denen zu viel Bürokratie besteht, werden wir (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ den Prozess des Bürokratieabbaus und des -umbaus fort- DIE GRÜNEN) setzen. Das Unternehmen Aventis ist übrigens ein Beispiel für Darüber hinaus müssen wir aber auch die Innovatio- eine gelungene unternehmerische partnerschaftliche nen fördern. Dazu müssen wir die Kräfte der Moderni- deutsch-französische Zusammenarbeit. Ich hoffe sehr, sierung und der Erneuerung in Deutschland stärken. Auf dass sich diese partnerschaftliche Zusammenarbeit auch allen Feldern, insbesondere auf denen, die für die welt- dann als haltbar erweist, wenn möglicherweise neue un- wirtschaftliche Entwicklung, die für die Weltmärkte von ternehmerische Wege eingeschlagen werden. heute und morgen entscheidend sind, müssen wir präsent Wenn wir auf den Weltmärkten auch in Zukunft ganz sein und Spitzenleistungen vollbringen können. Die Vo- vorne dabei sein wollen – das müssen wir, wenn wir an raussetzungen dazu haben wir zu schaffen: in Bund und der Spitze bleiben wollen –, dann müssen wir auch auf Ländern, in der Wirtschaft und in allen Bereichen der anderen Feldern Spitzenklasse sein. Ich nenne die Bio- Bildung, Wissenschaft und Forschung. Wir haben hier und Gentechnologie, die Medizintechnik, die IuK-Tech- einen Prozess in Gang gesetzt; der Bundeskanzler hat zu nologie, die neuen Energietechniken, die neuen Ver- einem Gespräch über das Thema Innovationen eingela- kehrstechniken, die Nanotechnologie und die optischen den. Meine Kollegin Edelgard Bulmahn wird sich dazu Technologien. Auf diesen Gebieten müssen wir vorne näher äußern. sein, wenn wir bestehen wollen. Hierauf müssen wir un- (B) (D) Es bedarf, um auf diesen wichtigen Feldern erfolg- sere Anstrengungen konzentrieren. reich sein zu können, einer sehr viel stärkeren und enge- Wir wissen, dass der Informations- und Kommuni- ren Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft und Wirt- kationstechnologie eine herausragende Bedeutung zu- schaft, vor allen Dingen im Bereich des Mittelstandes. kommt. Sie ist mehr als alle anderen eine Schlüsseltech- Deshalb haben wir unsere Innovationsoffensive mit ei- nologie, weil sie alle anderen wirtschaftlichen und nem umfassenden Maßnahmenpaket für den Mittelstand gesellschaftlichen Bereiche durchdringt. Deshalb müs- verbunden. Ein Schwerpunkt unserer Bemühungen ist, sen wir der Information und Kommunikation eine so he- die Finanzierungsmöglichkeiten für junge Techno- rausragende Bedeutung geben und sie sowohl durch die logieunternehmen und High-Tech-Gründungen zu ver- Politik als auch durch die Wirtschaft entsprechend unter- bessern. Gemeinsam mit der Europäischen Investi- stützen. tionsbank haben wir einen neuen Dachfonds für Beteiligungskapital geschaffen, in den ERP-Mittel und Die Aussichten, die Konjunkturzeichen für die IuK- Mittel der Europäischen Investitionsbank von je Wirtschaft in Deutschland sind gut. Auch hier haben wir 250 Millionen Euro fließen. Wir erwarten, dass wir zu- das Tal der Tränen – die Rückgänge in 2002 und die Sta- sammen mit privaten Gebern in den nächsten fünf Jahren gnation in 2003 – hinter uns gelassen. Die Investitionen fast 2 Milliarden Euro mobilisieren können, um kleine in die IuK-Technologien ziehen merklich an. Branchen- Unternehmen und neu gegründete Unternehmen, die experten gehen von einem Wachstum der IT-Branche in sich in den neuen Technologien engagieren, unterstützen Europa von etwa 3 Prozent aus. Die zunehmende Nach- zu können. Diese brauchen – nehmen Sie nur das Bei- frage nach Mobilfunk und Breitband schafft zusätzliche spiel der Bio- und Gentechnologie – längerfristig ange- Wachstumsimpulse. Eine OECD-Studie zeigt, dass die legte finanzielle Unterstützung. Das wollen wir mit sol- flächendeckende Einführung der Informations- und chen Fonds für Beteiligungskapital schaffen. Kommunikationstechnik in vielen OECD-Ländern schon einen deutlichen Wachstumsbeitrag geleistet hat. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Bei uns ist dies noch nicht in genügend großem Umfang DIE GRÜNEN) der Fall. Wir müssen alles daransetzen, das in den IuK- Technologien steckende Potenzial für mehr Produktivität Wir, die Bundesrepublik Deutschland, müssen uns am auszuschöpfen und neue Märkte zu erschließen. Weltmaßstab messen und vor Augen halten, dass wir auf den wichtigsten Feldern, auf denen der Export eine he- IuK-Technologien sind unverzichtbar für moderne rausragende Rolle spielt, ganz vorne dabei sein müssen, Wirtschaftsstrukturen. Über 80 Prozent der deutschen wenn wir unseren heutigen Standard – unseren Lebens- Exporte hängen mittlerweile vom Einsatz moderner 7708 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2004

Bundesminister Wolfgang Clement (A) Informations- und Kommunikationstechnologien ab. Sie tet der Mobilfunk. In Deutschland gibt es inzwischen (C) sind auch für effizientes Verwaltungshandeln und Büro- mehr Mobilfunk- als Festnetzanschlüsse. Die so ge- kratieabbau unverzichtbar. Nicht zuletzt gehören Com- nannte Penetrationsrate liegt in Deutschland inzwischen puter und Internet für die Mehrheit der Deutschen inzwi- bei gut 75 Prozent. Diese hervorragende Mobilfunkver- schen zum Alltag – ob bei der Arbeit, zu Hause oder in breitung ist eine gute Basis, um noch in diesem Jahr der Schule. Mit dem Masterplan „Informationsgesell- UMTS voranzubringen. Es wird Zeit, dass dies Wirt- schaft Deutschland 2006“, den wir im Dezember vergan- schaft und Industrie tun, um UMTS zu fördern. genen Jahres verabschiedet haben, wollen wir uns den neuen Herausforderungen auf diesem Feld stellen und Gleichzeitig nimmt in Deutschland die Zahl der Hot- wir wollen deutlich machen, dass dies ein, wenn nicht spots und der Wireless LANs an exponierten Stellen wie sogar der wichtigste Teil der von uns eingeleiteten Inno- Flughäfen und Bahnhöfen rapide zu. Ganze Städte wer- vationsoffensive ist. den mittlerweile zu Wireless LANs vernetzt. Die aktu- elle Herausforderung besteht darin, mobile Anwen- Bereits in der vergangenen Legislaturperiode hatte die dungspotenziale besser auszuschöpfen und zu mehr Bundesregierung ein strategisches Programm zur Ge- Wettbewerb bei den Infrastrukturen und Diensten zu staltung der Informationsgesellschaft mit konkreten kommen. Zielmarken vorgelegt und durchgeführt. Wir können heute sagen, dass wir die wesentlichen Ziele, die wir uns Ein weiteres wichtiges Feld ist die digitale Rund- gesteckt hatten, erreicht haben. Heute sind jede Schule funkübertragung. Die Einführung von DVB-T in Ber- und fast jedes Unternehmen in Deutschland online. Über lin ist gelungen. Ich freue mich sehr, dass weitere Regio- 50 Prozent der deutschen Bevölkerung nutzt das Inter- nen in Nordrhein-Westfalen, aber auch im Norden der net. Mit „Bund Online“ und „MEDIA@Komm“ sind Bundesrepublik Deutschland insgesamt in der Ausstat- über 500 E-Government-Lösungen entstanden. tung mit DVB-T rasch folgen werden. Die Einführung steht dort unmittelbar bevor. Das ist der richtige Weg, Mit dem Programm „Informationsgesellschaft Deutsch- um unser Ziel zu erreichen, bis spätestens 2010 alle vor- land 2006“ wollen wir nun den Blick weiter nach vorne handenen Übertragungswege zu digitalisieren. richten. Ich möchte Ihnen gerne einige Schwerpunkte zu diesem Programm, das wir in der sehr ansehnlichen Ein weiterer Schwerpunkt des Programms „Informa- Schrift „Informationsgesellschaft Deutschland 2006“ tionsgesellschaft Deutschland 2006“ betrifft den E-Com- zusammengefasst haben, erläutern. merce. Im letzten Jahr sind in diesem Bereich in Deutschland etwa 100 Milliarden Euro umgesetzt wor- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten den. Das Internet ist damit ein bedeutender Wirtschafts- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – faktor geworden. Deutschland ist der mit Abstand wich- (B) [CDU/CSU]: Werbung machen tigste E-Commerce-Markt in Europa. (D) könnt ihr!) Es besteht aber auf diesem Feld bei mittelständischen – Herr Kollege, Sie wissen, Werbung muss sein. Das gilt Unternehmen, bei Handwerksbetrieben sowie bei klei- erst recht, wenn es um die Informations- und Kommuni- nen und mittleren Unternehmen insgesamt noch immer kationstechnologien geht. Nachholbedarf. Zwar sind fast alle Unternehmen inzwi- (Volker Kauder [CDU/CSU]: Welche Bera- schen online; aber erst 10 Prozent steuern ganze Ge- tungsfirma hat das gemacht?) schäftsprozesse einschließlich Beschaffung und Vertrieb unternehmensübergreifend über das Internet. Hier be- – Dafür mache ich die Vermarktung; das ist meine steht erheblicher Nachholbedarf, damit sich auch die Pflicht. Wir setzen hier Schwerpunkte, Herr Kollege kleinen Unternehmen auf den Wettbewerb einstellen, der Kauder, etwa im Bereich von Breitbandmobilfunk und spätestens mit dem Beitritt der mittel- und osteuropäi- digitalem Fernsehen. schen Staaten zur EU noch stärker als zuvor auf uns zu- (Volker Kauder [CDU/CSU]: War es eine kommt. Agentur aus NRW?) Wir versuchen, mit einem Netz regionaler Kompe- In den vergangenen zwei Jahren ist die Zahl der Breit- tenzzentren zahlreiche Beratungsmöglichkeiten aufzu- bandanschlüsse in Deutschland explodiert. Zurzeit gibt bauen und so zu helfen, standardisierte Geschäfts- es in Deutschland mehr als 5 Millionen dieser schnellen prozesse einzuführen. Unser Ziel ist es, dass bis 2008 Internetzugänge, der Breitbandanschlüsse, Herr Kollege mindestens 40 Prozent aller Unternehmen integrierte Kauder. Bis 2010 soll mehr als die Hälfte der deutschen E-Business-Lösungen über die gesamte Wertschöp- Haushalte über einen Breitbandinternetanschluss verfü- fungskette anwenden. Dies wäre – das kann man leicht gen. Das entspricht etwa 20 Millionen Anschlüssen. Na- errechnen – im Vergleich zu heute eine Vervierfachung. türlich spielt die Hochgeschwindigkeitsdatenübertra- Auch die E-Cards mit digitaler Signatur sind ein gung auch für die Geschäftsprozesse der Unternehmen wesentliches Element bei der Modernisierung von Ge- eine zunehmende Rolle. Mit unserer Breitbandinitiative schäfts- und Verwaltungsprozessen. Wirtschaft und Ver- wollen wir Infrastruktur- und Diensteanbieter näher zu- waltung haben sich in einem Signaturbündnis zusam- sammenbringen. Wir hoffen, damit möglichst viele mengeschlossen, um die Verbreitung und Anwendung Dienste verfügbar machen zu können. von Signaturkarten gemeinsam voranzubringen und zu Ganz neue Möglichkeiten mit zusätzlichen Chancen beschleunigen. Die Kartenprojekte des Bundes werden für neue Dienste, für Wachstum und Beschäftigung bie- wir in einer E-Card-Initiative zusammenfassen, um die Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2004 7709

Bundesminister Wolfgang Clement (A) damit verbundenen Anwendungen zu synchronisieren ter, haben in Ihrer Rede erstaunlich oft das Wort „Inno- (C) und zu harmonisieren. vation“ verwendet. Gleichzeitig werden wir das Signaturgesetz vereinfa- (Wolfgang Clement, Bundesminister: Nicht chen und durch geeignete rechtliche Rahmenbedingun- „erstaunlich“!) gen klare Einführungstermine vorgeben. Damit schaffen wir Investitionssicherheit für E-Cards. Im Bereich der Der Bundeskanzler hat in seiner Rede zur Agenda 2010, Gesundheit ist dies mit dem Gesundheitssystemmoderni- in der er aus seiner Sicht die wichtigsten Aufgaben des sierungsgesetz schon geschehen. In anderen Bereichen, Jahrzehnts dargelegt hat, das Wort „Innovation“ kein etwa bei der Jobkarte, bereiten wir zurzeit die Gesetzent- einziges Mal gebraucht – Fehlanzeige! Jetzt muss es würfe vor. Die nächste Generation des Personalauswei- umso häufiger herhalten, hoffentlich nicht nur zur Ab- ses wird ein digitaler Ausweis sein. Auch die Banken ha- lenkung nach dem Motto: „Gerster ade, Innovation ben angekündigt, noch in diesem Jahr Bankkarten mit juchhe“. Signaturfunktion herauszubringen. Damit haben wir (Beifall bei der CDU/CSU) endlich flächendeckende Anwendungen für Signaturkar- ten. Ich denke, das freut Unternehmer und Verbraucher. Tatsächlich hat die Bundesregierung das Thema In- Das stärkt zugleich die internationale Wettbewerbsfähig- formationsgesellschaft in den letzten Jahren in die Ecke keit unserer innovativen Chipkartenindustrie. Das wird gestellt. Als es zu Hochzeiten der New Economy noch wenig beachtet; aber wenn wir unsere Chancen allein auf chic war und automatisch Schlagzeilen brachte, sich ne- diesem Feld gemeinsam mit der Wirtschaft entschlossen ben einem PC fotografieren zu lassen, da waren Sie noch wahrnehmen, dann kann Deutschland auf einem neuen, alle ganz eifrig dabei. Doch als der so genannte Hype sehr spannenden, sehr interessanten Markt einer der vorbei war, haben Sie dieses Thema einfach zu den Ak- Trendsetter und Vorreiter werden. Wir haben gute Vor- ten gelegt, beiseite gewischt, weil es sich nicht mehr so aussetzungen, dass wir das packen können. medienwirksam verkaufen ließ. Das war fatal, denn die wirklichen politischen Herausforderungen, die Informa- Unser Aktionsprogramm „Informationsgesellschaft tionsgesellschaft zu gestalten und weiterzuentwickeln, Deutschland 2006“ beschreibt den Weg in eine zukunfts- hatten gerade erst angefangen. Die Quittung für dieses orientierte Gesellschaft. Wie gesagt, schon heute nutzen Desinteresse haben wir schon längst bekommen. In allen mehr als die Hälfte unserer Bürgerinnen und Bürger entscheidenden Bereichen Computer und Internet. Wir dürfen aber die andere Hälfte nicht übersehen. Eine Informationsgesellschaft (Jörg Tauss [SPD]: Sind wir besser geworden!) kann nur eine offene Gesellschaft sein, wenn sie alle ist Deutschland in den letzten Jahren zurückgefallen. Bürgerinnen und Bürger mitnimmt oder jedenfalls ver- (B) (D) sucht, sie mitzunehmen. (Jörg Tauss [SPD]: Falsch!) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Im aktuellen Jahresbericht des Weltwirtschaftsforums DIE GRÜNEN) 2003/2004 liegt Deutschland in der Kategorie Informa- tionstechnologie auf dem 38. Platz, noch hinter Tune- Deshalb wollen und müssen wir alle Möglichkeiten nut- sien. Die Bundesregierung unternimmt aber nichts ge- zen, die uns die neuen Medien bieten. Das ist gut für un- gen die Ursachen dieser Misere, sondern sie erfreut sich ser Land. Die Vorbereitungen dazu haben wir getroffen. an dem zweifelhaften Glanz sorgfältig aus dem Zusam- Ich lade alle ein mitzugehen. menhang gerissener Zahlen. Ich danke Ihnen sehr für Ihre Aufmerksamkeit. (Jörg Tauss [SPD]: Das ist Prosa!) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Jetzt, da Sie das Thema Innovation auf einmal doch DIE GRÜNEN) noch entdeckt haben, kommen Sie in klassischer SPD- Manier mit Masterplan und Aktionsprogramm. Während Präsident Wolfgang Thierse: andere Länder, zum Beispiel die skandinavischen Staa- Ich erteile das Wort Kollegin Martina Krogmann, ten, die USA und Großbritannien, bereits vor Jahren CDU/CSU-Fraktion. richtigerweise eine allumfassende Gesamtstrategie, (Jörg Tauss [SPD]: Frau Krogmann, jetzt lo- eine Vision der Informationsgesellschaft präsentiert ha- ben Sie uns mal! Das erwarten wir jetzt!) ben, kommen Sie mit Plänen und Programmen. (Albert Deß [CDU/CSU]: Es fehlt nur noch Dr. Martina Krogmann (CDU/CSU): der Fünfjahresplan!) Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Wir Das ist kleinkariert, piefig und geht an den zentralen He- befinden uns im historischen Jahr 1, in dem Jahr, in dem rausforderungen der Informationsgesellschaft völlig vor- die Bundesregierung die Bedeutung von Innovationen bei. entdeckt hat. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP) Ihre Politik ist zu spät, zu langsam und zu halbherzig. Deshalb freue ich mich besonders, dass wir heute über (Beifall bei der CDU/CSU – Brigitte Schulte die Informationsgesellschaft sprechen. Sie, Herr Minis- [Hameln] [SPD]: Unqualifizierter Beitrag!) 7710 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2004

Dr. Martina Krogmann (A) Informationsgesellschaft bedeutet eine noch nie da- ist, dass diese oft nicht einmal miteinander kommunizie- (C) gewesene Enthierarchisierung des Wissens. Ein Maus- ren können. Man muss sich einmal vorstellen, dass in- klick – und jedem steht eine ungeheure Menge an Infor- zwischen allein mehr als 100 verschiedene Softwarelö- mationen zur Verfügung. Wissen wird zum wichtigsten sungen für die An- und Ummeldungen pro Jahr genutzt Produktionsfaktor. Der Innovationszyklus wird immer werden. kürzer. Die Veränderungen betreffen alle Bereiche: un- Diese mangelnde Standardisierung hat inzwischen zu sere Wirtschaft, unsere Gesellschaft, unser Arbeitsleben, einer regelrechten Selbstbehinderung der Verwaltung ge- unsere Kultur. führt. Aber das scheint Sie nicht weiter zu interessieren. Die Politik muss der Wirtschaft einen klaren ord- Sie sind stolz darauf – Sie haben die Zahl bereits ge- nungspolitischen Rahmen geben. Die Politik muss auch nannt –, dass schon 232 so genannte internetfähige allen Gruppen der Bevölkerung die Chance geben, an Dienstleistungen des Bundes im Netz stehen. dieser Entwicklung teilzuhaben, und sie muss die unge- (, Bundesminister: Ja, darauf sind heuren Potenziale der neuen Technologien zur Moderni- wir stolz! – Jörg Tauss [SPD]: Wie viele waren sierung unseres Landes entschlossen nutzen. Eines ist es bei Ihnen? Null! – Gegenruf des Abg. klar: Wir müssen im internationalen Technologiewett- Volker Kauder [CDU/CSU]: Tauss, der lauf schneller werden, viel schneller. schlauste Abgeordnete!) Wir unterstützen die Initiative „Deutschland-Online“, Wenn man aber genauer hinschaut, wird deutlich, dass die gemeinsame E-Government-Strategie von Bund, mindestens zwei Drittel des Angebots reine Informatio- Ländern und Gemeinden vom Juni vergangenen Jahres. nen sind – von Interaktivität, Verwaltungsvereinfachung (Jörg Tauss [SPD]: Aha! Das ist doch was!) und Bürokratieabbau keine Spur. Allein fünfmal bietet zum Beispiel der Deutsche Wetterdienst seine Leistungen Schließlich fordern wir das seit vielen Jahren. Hier ha- an. Auch das zählt zu den internetfähigen Dienstleistun- ben Sie Zeit verschenkt. gen. Ein Link führt zum Servicetelefon Ihrer Familienmi- (, Bundesministerin: Das ist nisterin . Da kann man zwar vielleicht doch lächerlich! – Otto Schily, Bundesminis- nett plaudern; aber mit einer modernen und schlanken ter: Was haben Sie denn in 16 Jahren ge- Verwaltung hat das nun wirklich gar nichts zu tun. macht?) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Mithilfe des Internets können wir aus der deutschen neten der FDP) Bürokratie die modernste Verwaltung der Welt machen. Wir unterstützen die MEDIA@Komm-Projekte, die (B) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- übrigens noch von der CDU/CSU-geführten Bundesre- (D) neten der FDP) gierung ins Leben gerufen wurden. Die wirklich fort- schrittlichen Lösungen aus der Region Nürnberg, aus Sie aber haben bis heute nicht verstanden, was E-Go- Bremen und Esslingen wie ein virtuelles Bauamt oder vernment bedeutet. Es geht eben nicht darum, einfach ein besonders effizientes elektronisches Meldewesen ein Formular ins Internet zu stellen. E-Government müssen nun aber auch unverzüglich den anderen Städten heißt, die modernen Technologien zu nutzen, um Pro- und Gemeinden zur Verfügung gestellt werden. Es kann zesse zu modernisieren und die Verwaltung zu entstau- doch nicht sein, dass Sie diese Projekte über Jahre finan- ben. Der Service für Bürger und Unternehmen muss bes- ziell fördern, sie dann aber einfach auslaufen lassen und ser, billiger und schneller werden. nicht auf andere Regionen übertragen. Da ist bis heute (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – nichts passiert und das ist schlicht und einfach Ver- Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Dann muss schwendung von Steuergeldern. das BKA auch nicht umziehen!) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Stellen Sie sich vor, Sie müssten für einen Behörden- neten der FDP – Jörg Tauss [SPD]: Die Stan- gang nicht mehr einen halben Tag Urlaub nehmen, auf dards sind gesetzt!) dem Amt eine Nummer ziehen und warten, bis über der Wir unterstützen das Signaturbündnis. Wir waren Tür der Amtsstube ein Lämpchen leuchtet und Sie end- weltweit die ersten, die ein Signaturgesetz durchgesetzt lich dran sind. Stattdessen könnten Sie dann Ihr Anlie- haben, auch dies übrigens noch unter einer CDU/CSU- gen einfach und bequem von zu Hause aus per Internet geführten Bundesregierung. Die digitale Signatur wurde erledigen. In Deutschland ist dies fast immer Zukunfts- dadurch mit der Unterschrift rechtlich gleichgestellt. Die musik. Der Bund hat es nämlich viel zu lange versäumt, Bundesregierung hat aber auch diesen Vorsprung nicht eine wirkliche Vorreiterrolle einzunehmen und die unter- genutzt. schiedlichen Aktivitäten mit Ländern und Kommunen zu koordinieren. Sinnvolle Angebote für die Anwendung einer Signa- turkarte sind so selten, dass sich kaum ein Bürger eine Als Ergebnis dieser Untätigkeit ist in Deutschland in Chipkarte beschafft hat. Das Signaturbündnis muss dazu den vergangenen Jahren ein digitaler Flickenteppich mit führen, dass hier endlich der Durchbruch gelingt. Das ist unterschiedlichen IT-Anwendungen und Softwarelösun- zentral für das E-Government und für den Standort gen von Bund, Ländern, Kreisen und Kommunen ent- Deutschland. standen. Zu viele unterschiedliche Stellen entwickeln zeitgleich vergleichbare IT-Anwendungen. Das Problem (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2004 7711

Dr. Martina Krogmann (A) Wir unterstützen die Einführung der Gesundheits- ren den großen Erfolg von SMS vorausgesehen? Kaum (C) karte. Aber E-Health ist natürlich viel mehr als bloß einer hätte gedacht, dass man mit Fotoapparaten in das eine Karte. E-Health ist die Chance auf eine wirkliche Internet kommt oder dass man mit dem Handy fotogra- Modernisierung unseres Gesundheitswesens. Aber auch fieren kann. Leider gilt auch beim TKG: Die Bundesre- hier fehlt es an einer gemeinsamen Sprache, in der die gierung ist zu spät. Der Gesetzentwurf ist unausgegoren verschiedenen Systeme in den Arztpraxen, in den Apo- und bar jeder ordnungspolitischen Grundlinie. theken, in den Krankenhäusern und bei den Krankenkas- (Beifall bei der CDU/CSU) sen miteinander kommunizieren können. Schaffen Sie hier nicht schon wieder einen neuen digitalen Flicken- Gute Ansätze im Referentenentwurf des Bundeswirt- teppich, sondern sorgen Sie dafür, dass jetzt im Gesund- schaftsministeriums, die durchaus vorhanden waren, heitsbereich schnell eine einheitliche Infrastruktur auf- wurden leider im Prozess der Abstimmung mit dem gebaut wird! Dies sind zentrale Anwendungsfelder, auf Bundesfinanzministerium völlig verwässert. Zukunfts- denen Sie in die Puschen kommen müssen, politik unter dem Diktat von Herrn Eichel, das passt überhaupt nicht zusammen. (Jörg Tauss [SPD]: Ihr!) (Beifall bei der CDU/CSU – Volker Kauder und zwar nicht mit kleinkarierten Masterplänen und Ak- [CDU/CSU]: Das ist wahr!) tionsprogrammen, sondern mit Mut und Weitsicht. Wir fordern eine klare Linie für mehr Wettbewerb, (Volker Kauder [CDU/CSU]: Zwei Dinge, die weniger Bürokratie und schnellere Verfahren. Das heißt bei der SPD nicht vorhanden sind!) für uns vor allem EU-rechtskonforme Umsetzung, fle- Die Vorreiterrolle des Staates als Nachfrager ist xibler Einsatz aller Regulierungsinstrumente, Antrags- enorm wichtig für einen zentralen Zukunftsmarkt, den rechte für die Wettbewerber, harte Sanktionen bei Miss- Sie, Minister Clement, angesprochen haben: den brauch, Unabhängigkeit der Regulierungsbehörde und Breitbandmarkt. In der Informationsgesellschaft sind Zuständigkeit der Zivilgerichte. Gehen Sie auf unsere schnelle Datenleistungen genauso wichtig wie die Forderungen ein! Dann ist Ihnen unsere Zustimmung im Strom- und die Wasserversorgung. Tatsache ist aber, Bundesrat sicher. dass wir unter der rot-grünen Bundesregierung unsere Mit dem Internet – auch das haben Sie, Herr Clement, einstige Spitzenposition im Breitbandbereich längst ver- angesprochen – ist ein zusätzlicher sozialer Raum ent- loren haben. Wir sind im internationalen Vergleich nur standen: Wir haben nicht nur auf technischem, sondern noch Mittelmaß. Im vergangenen Jahr hat sich der Ab- auch auf sozialem und kulturellem Gebiet einen Quan- stand zu den führenden Staaten USA, Kanada, Korea, tensprung gemacht. Die Politik muss auch der menschli- (B) Japan oder – in Europa – zu Dänemark und Schweden chen Dimension der Informationsgesellschaft Rechnung (D) sogar weiter vergrößert. Unsere Wirtschaft darf nicht tragen. länger den Preis für politische Schlafmützigkeit zahlen; denn dieser Preis ist zu hoch. Leider ist die digitale Spaltung der Gesellschaft – die Spaltung in diejenigen, die im Umgang mit PC und (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Internet fit sind, und diejenigen, die nach wie vor keinen Jede Verzögerung bedeutet, dass die wirtschaftlichen Zugang zur digitalen Welt haben – bereits Realität. Diese Vorteile nicht bei uns, sondern in anderen Ländern ent- Zweiklassengesellschaft darf sich auf keinen Fall weiter stehen. verfestigen. Alle Bürgerinnen und Bürger müssen die Möglichkeit haben, an der Informationsgesellschaft – sie Herr Minister, Sie haben völlig zu Recht auf die große bietet große Chancen – teilzuhaben; denn wer nicht Bedeutung der digitalen Wirtschaft für die Informations- „drin“ ist, der ist von der wirtschaftlichen und gesell- gesellschaft hingewiesen. Sie ist – über die eigene Bran- schaftlichen Entwicklung bald völlig abgekoppelt. che hinaus – zentraler Wachstumsmotor und Treiber von Innovationen für die gesamte Volkswirtschaft. Hier wird Eines muss uns ganz klar sein: Deutschlands Zukunft der weltweite Innovationswettbewerb entschieden. Nur hängt entscheidend davon ab, ob wir im Bereich Innova- wenn wir hier Spitze sind, werden wir es schaffen, Wett- tion und Information schnell genug und gut genug sind. bewerb und Arbeitsplätze zu sichern. Deshalb ist es so Wir müssen jetzt das enge Zeitfenster nutzen. Dafür wer- wichtig, dass wir in den kommenden Monaten ein gutes den wir uns mit ganzer Kraft einsetzen. Verlassen Sie Telekommunikationsgesetz verabschieden; denn das sich darauf! TKG ist für die gesamte Branche so etwas wie die Ma- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- gna Charta. Vom TKG muss ein klares Signal für Wett- neten der FDP) bewerb, Wachstum und Innovation ausgehen. Wir brauchen eine Balance zwischen Infrastruktur- Präsident Wolfgang Thierse: und Dienstewettbewerb. Ich warne davor, irgendeine Ich erteile dem Kollegen Fritz Kuhn, Fraktion Technologie oder Anwendung durch staatliche Einfluss- Bündnis 90/Die Grünen, das Wort. nahme künstlich zu pushen. Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (Jörg Tauss [SPD]: Ja, was jetzt?) Sehr verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Politik darf sich bei Marktentwicklungen nicht zum Kollegen! Es ist völlig logisch und richtig: Wer neue Ar- Schiedsrichter machen. Denn wer hätte vor einigen Jah- beitsplätze schaffen will, muss alles tun, damit die 7712 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2004

Fritz Kuhn (A) Wirtschaft mehr Innovationen hervorbringt; denn mit nologienetzes entscheidend für die Innovationsstrategie (C) neuen Produkten, Dienstleistungen und Produktionsver- insgesamt. fahren entstehen in einem Land wie der Bundesrepublik neue Arbeitsplätze. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD – Jörg Die I-und-K-Technologie ist die Basis aller Innovatio- Tauss [SPD]: Da hat Herr Kuhn Recht!) nen. Die breite Diffusion dieser Technik in alle Bereiche ist die Basis für das notwendige Produktivitätswachstum Ich finde, dass wir konkreter werden müssen als Sie, – es muss stärker sein als in der Vergangenheit – in liebe Kollegin, gerade in Ihrer Rede. Wir wissen längst, Deutschland. was Innovationsprozesse blockiert und was sie fördert. Herr Minister, wenn ich das Problemfeld, das ich für Erstens. Wer Innovationen voranbringen will, der am bedeutendsten halte, identifizieren soll, dann nenne muss Subventionen für alte Industrien so schnell wie ich die Schwäche bei der Diffusion von I-und-Koali- möglich zurückfahren; denn Subventionen lähmen das tion-Technik vor allem in die Breite des Mittelstandes, Neue. Wir haben gesehen, wie schwer sich die Union im Vermittlungsausschuss getan hat, den Subventions- zum Beispiel ins Handwerk. Wenn man die Zahlen aus abbau voranzubringen. den USA im Bereich dieser Technologie als Diffusions- maßstab nimmt, dann erkennt man, dass wir hinten Zweitens. Wer Innovationen will, der muss den Wett- liegen. Die Hauptaufgabe, die sich stellt, lautet: Der bewerb fördern und ihn dort, wo er nicht existiert, her- Mittelstand und die Kleinbetriebe müssen in der Breite stellen. Deswegen ist das neue Telekommunikations- die I-und-K-Technik anwenden können. Dafür muss die gesetz so entscheidend. Der Telekom darf nicht aus dem Politik in den nächsten Monaten die Weichen stellen. technischen Vorteil, den sie infolge des früheren Mono- pols hat, immer wieder ein neues Monopol erwachsen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Deshalb muss der Marktbeherrscher die Technik auch und bei der SPD) für Wettbewerber bereitstellen. Das ist ein wichtiger Wir von den Grünen sind wir der Überzeugung, dass Punkt, für den wir in der Debatte um das neue Gesetz ein Innovationsprozess auch eine Richtung braucht, und eintreten. sehen deshalb im Zusammenhang mit Ökologie sowie Drittens. Ein Land, das sich immer wieder einer Jam- mit kulturellen, sozialen und natürlich wirtschaftlichen merkultur nach dem Motto „Bei uns läuft alles mies und Fragen ein extremes und gutes Potenzial für die I-und-K- elend!“ hingibt – Sie haben einen Beitrag dazu geleistet –, Technik. Wenn wir es erreichen, mehr Breitbandverka- (D) (B) kann nicht den Spirit, den Geist, entfalten, den wir für In- belung im DSL-System zu schaffen, werden in Zukunft novationen brauchen. anstelle vieler Konferenzen, derentwegen heute die halbe Republik hin- und herbewegt wird, Videokonfe- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN renzen stattfinden können – vielleicht nicht immer, weil und bei der SPD) Menschen sich auch sehen müssen und die soziale Di- Schlechtreden ist nicht gut für Innovationen. mension berücksichtigt werden muss. Aber wir werden vieles von dem, was heute Zeit und eben auch Geld kos- (Jörg Tauss [SPD]: Die da drüben brauchen die tet, einsparen können. Jammerkultur!) Das E-Commerce hat ein ungeheures Potenzial, übri- Viertens. Wir müssen die Schulen, die Hochschulen gens gerade für die älter werdende Gesellschaft. Ich for- und die Forschung in unserem Land in Ordnung bringen, dere Sie auf, endlich herzugehen und das Potenzial die- wir müssen sie verbessern; denn der wesentliche Boden ser Technologien für die alten Menschen auszuschöpfen. für die Innovationsfähigkeit einer Volkswirtschaft ist na- Die Benutzeroberflächen sind heute noch nicht so, dass türlich ihr Bildungswesen: Wie wird Weiterbildung or- alte Menschen damit umgehen können. Wer hier zuerst ganisiert und was passiert an den Hochschulen und For- Lösungen anbietet, kann im Dienstleistungsbereich ent- schungsstätten? lang dieser Techniken viele neue Arbeitsplätze schaffen. Fünftens. Wir müssen für die Firmen, die bei der Fi- Wir haben ein großes Potenzial, beim so genannten nanzierung von Innovationen hohe Risiken eingehen, Thema E-Health, also im Gesundheitswesen, die elek- optimale Finanzierungsbedingungen – steuerlicher- seits und durch Förderungen – schaffen. Der neue Dach- tronischen Medien einzusetzen. Wenn 55 Prozent der fonds, der vor kurzem mit ERP-Mitteln eingerichtet Ärzte in Deutschland offline sind, also nicht mit dem worden ist, ist wichtig dafür, dass Innovationsfinanzie- Netz arbeiten können, dann zeigt dies das ungeheure De- rungen in Deutschland endlich schneller und besser auf fizit auf diesem Gebiet. Wir könnten Milliarden einspa- den Weg gebracht werden können. ren, wenn das anders wäre. Da sage ich wieder: Wo Sie keinen Wettbewerb haben, wie im deutschen Gesund- Die I-und-K-Technologie ist eine Querschnittstechno- heitssystem, gibt es eben keine gute Durchdringung mit logie. Wer im Bereich der I-und-K-Technologie nicht fortschrittlicher Technologie. Das ist ein ganz klares vorne ist, der liegt bei allen Innovationen – auch auf al- Beispiel dafür, dass wir Wettbewerb im Gesundheitswe- len anderen Technologiefeldern – hinten. Deswegen ist sen brauchen. Dann werden auch hier Kostensenkung die Förderung dieses Technologiesegments bzw. Tech- und Effektivität möglich. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2004 7713

Fritz Kuhn (A) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN wie Sie das finanzieren wollen. Was Sie an der Stelle be- (C) und bei der SPD – Volker Kauder [CDU/ treiben, ist Politikverweigerung. CSU]: Das machen Sie doch gerade kaputt mit (Volker Kauder [CDU/CSU]: Dafür brauchen Ihrer Politik!) wir Sie!) Selbstverständlich ist E-Government ein entschei- Ich danke Ihnen. dendes Thema; das hat der Minister ausgeführt. Wir kön- nen schließlich nicht von der Gesellschaft und von der (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Wirtschaft verlangen, innovativer zu werden, während und bei der SPD) andererseits wir in der Regierung in dem, was der Staat an staatlichem Handeln anbietet, eben nicht in der not- Präsident Wolfgang Thierse: wendigen Weise innovativ sind. Ich erteile das Wort Kollegen Rainer Brüderle, FDP- Ich will zum Abschluss noch auf zwei Punkte einge- Fraktion. hen, die mir wichtig sind. Wir müssen in Deutschland (Beifall bei der FDP) auch selbstkritisch über das reden, was nicht läuft. Der Regierungsbericht ist zum Beispiel in Bezug auf das Rainer Brüderle (FDP): Thema Toll Collect – das ist ja gar nicht richtig erwähnt Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Bun- – natürlich unterkritisch. deswirtschaftsminister, Sie haben eingeleitet mit einem (Lachen des Abg. Georg Girisch [CDU/ Blick auf die aktuelle wirtschaftliche Lage. Die Kon- CSU] – Volker Kauder [CDU/CSU]: Da seid junktur hellt sich auf, Gott sei Dank. Aber wir profitieren ihr sehr innovativ! nur davon, dass andere es besser gemacht haben als wir. In Amerika brummt es, in Asien brummt es, aber nicht Man kann nicht über I-und-K-Technik reden und dann bei uns. Wir profitieren von der erfolgreichen Politik an- außer Acht lassen, dass zwei große deutsche Firmen bei derer. diesem Thema völlig versagt haben. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Volker Kauder [CDU/ Die erste Reaktion auf die halbherzigen Beschlüsse CSU]: Die Politik aber auch!) im Vermittlungsausschuss war ja, dass das DIW, ein Ih- nen nicht gerade feindlich gesonnenes Institut hier in Ein mittelständischer Betrieb in Deutschland könnte sich Berlin, die Wachstumsprognose nach unten revidiert hat. so etwas nicht leisten. Würde der so etwas hinlegen, Der Kalendereffekt – fünf Feiertage fallen auf ein Wo- (B) ginge er baden, er ginge kaputt. Darum kümmert sich chenende – sorgt für ein Wachstum von 0,6 Prozent. Das (D) niemand. gibt übrigens einen dezenten Hinweis zu der Vorstel- (Volker Kauder [CDU/CSU]: Da ist aber der lung, mit weniger Arbeit mehr erreichen zu können. Hin- Minister verantwortlich!) sichtlich 0,7 Prozent Wachstum profitieren wir von der amerikanischen und asiatischen Wirtschaft. Nach der Ich will zu Ihnen, Herr Kauder, einen Satz sagen und Prognose kommen gerade 0,1 Prozent aus eigener Kraft, komme damit zum Schluss: Ich habe den Eindruck, dass aus dem Binnenmarkt. Das zeigt, dass die Hausaufgaben die Union die Innovationsdebatte als breite große politi- eben nicht erledigt sind und wir bei weitem keinen An- sche Debatte verschlafen hat. lass zur Entwarnung oder zur Selbstbeweihräucherung (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN haben. und bei der SPD) (Beifall bei der FDP) Sie diskutieren darüber, die Leute durch eine Senkung Den Reformprozess fortsetzen. – Herr Clement, vie- der Steuertarife um 10 Milliarden Euro zu entlasten. Sie les von dem, was Sie sagen, ist richtig sympathisch, es sagen, die Bürgerversicherung koste 20 Milliarden Euro; wird nur nicht gemacht. Heute lesen wir in der Zeitung: das habaen Sie nicht gegenfinanziert. Damit haben Sie Der Bundeskanzler stoppt den Reformprozess, indem er eine Deckungslücke von 30 Milliarden Euro. sagt: Bei der Pflegeversicherung ist die Grenze der Be- lastbarkeit erreicht. – Der Reformprozess wird also nicht (Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Pfeifen im fortgeführt. Wo sind denn die Reformen, die konsequent Walde!) gemacht werden? Sie stoppen sie gerade wieder. So wer- Gleichzeitig beteiligen Sie sich fröhlich an der Diskus- den Sie die Lohnnebenkosten nicht herunterbekommen. sion über eine Erhöhung der Ausgaben im Bildungs- und So entsteht nicht mehr Arbeit in Deutschland. Sie ver- Forschungssystem. Wir werden es schwer haben, die hindern Arbeitsplätze in Deutschland. Das ist die Reali- 3 Prozent zu erreichen, aber Sie sind 30 Milliarden Euro tät. von den Zielen entfernt, die hier anstehen. Meines Er- (Beifall bei der FDP) achtens haben Sie in der Innovationsdebatte eigentlich nicht viel zu melden, weil Sie gar nicht kapieren, dass So trägt der Bundeswirtschaftsminister täglich einen Sie sich auch mit der Finanzierung der Mittel für Innova- neuen bunten Luftballon durch die Gegend. Der bunte tion und für Forschungspolitik auseinander setzen müs- Luftballon des Tages heißt: Aktionsprogramm Informa- sen. Sie versprechen den Leuten Entlastungen in Höhe tionsgesellschaft. Wenn Sie redlich wären, müssten Sie von 30 Milliarden Euro und haben keine blasse Ahnung, eigentlich als Titel wählen: Aktionismusprogramm. So 7714 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2004

Rainer Brüderle (A) etwas ist es nämlich wieder. Da wird alles zusammenge- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (C) schrieben, es gibt Fleißkärtchen – ein Sammelsurium der CDU/CSU) von Einzelmaßnahmen, das modern klingt, möglichst mit vielen Anglizismen verkleidet, damit man nicht Sie machen die Böcke zu Gärtnern. Es stellt sich auch merkt, dass dahinter fast nichts ist. Dieses Sammelsu- die Frage: Wie wollen Sie uns garantieren, dass auf sol- rium bringt uns nicht weiter. Wenn das der Beitrag der chem Wege nicht massive Lobbyinteressen der Beteilig- angekündigten großen Innovationsoffensive ist, dann ten durchgesetzt werden? kann ich nur sagen: Lassen Sie es lieber! (Jörg Tauss [SPD]: Beim Thema Lobby ken- Der Ansatz ist wieder von dirigistischem, korporatis- nen Sie sich gut aus!) tischem Geist geprägt. Es wird von der Telematik im – Herr Tauss, Sie sind Zwischenrufweltmeister. Gesundheitswesen fabuliert. Wir haben gerade die fa- mose Einführung der Praxisgebühr erlebt. Toll! Wenn (Jörg Tauss [SPD]: Ja!) das der Ansatz ist, mit dem die Gesundheitspolitik in Aber in letzter Zeit sind Sie schwach geworden. Haben Deutschland gestaltet werden soll, dann kann ich nur sa- Sie neue Weisungen von Ihrem Chef Peters von der IG gen: Gute Nacht, Gesundheitspolitik! Metall, weniger Zwischenrufe zu machen? (Beifall bei der FDP – Hubertus Heil [SPD]: (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Sie sind ja ahnungslos!) der CDU/CSU) – Sie und der Herr Tauss, der Zwischenrufer, sind die Sie inszenieren ein Treffen von Vorstandsvorsitzen- großen geistigen Vordenker. den einiger Großkonzerne als Zukunftsgipfel. Das ist (Hubertus Heil [SPD]: Sie haben keine Ah- aber ein Gipfel von Pfauenfederträgern. Das ist kein nung! Von E-Health haben Sie noch nichts ge- Weg, Deutschland technologisch nach vorn zu bringen. hört!) (Hubertus Heil [SPD]: Sollen wir den Rexrodt – Herr Heil, gucken Sie sich einmal Ihren eigenen Weg fragen?) an! Sie suggerieren ein Wissen, das dort gar nicht vorhanden Es werden Planzahlen für die Zahl der Internetbenut- ist. Wir haben es doch in der Vergangenheit erlebt. Mit zer, Größenordnungen für die Zahl der Breitbandan- den round tables, den runden Tischen, den eckigen Ti- schlüsse genannt, alle möglichen runden Tische und Ini- schen, den ovalen Tischen – es gibt ganz neue Tischsor- tiativen abgefeiert. Die Bundesregierung tut mal wieder ten, die man dazu anführen kann –, so, als würde sie persönlich die Bevölkerung mit den (B) (Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die (D) Wirtschaftsgütern der IT-Branche versorgen. So ist es wurden in Rheinland-Pfalz veranstaltet!) aber nicht; das macht der Markt. Wettbewerb und Marktwirtschaft sorgen für eine effiziente und schnelle wurden Millionen, ja Milliarden von Steuergeldern ver- Umsetzung von neuen Informations- und Kommunika- senkt. Echte Anreize für Innovationen sind nicht erzeugt tionstechnologien. worden. Denken Sie mal an die Vergangenheit, an die Großrechnerförderung und anderes! Das ist der Geist der (Hubertus Heil [SPD]: Binsenweisheit!) Planifikation. Da zeigt sich Ihr Misstrauen gegenüber Wettbewerb und Marktwirtschaft sorgen für technischen dem Markt. Fortschritt. Wettbewerb bleibt das wirksamste Entde- Jüngstes Beispiel: Online-Jobbörse bei der Bundes- ckungsverfahren in der Wirtschaft. Dem muss man Vor- anstalt für Arbeit. Das Aktionsprogramm wird großartig rang geben. Vorrang dürfen nicht Ihre eigenen Strategien verkauft. Über 100 Millionen Euro werden reingebuttert. haben. Jetzt erfährt man – man höre und staune –: Über ein (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Viertel der 100 Millionen Euro werden für Werbung aus- der CDU/CSU) gegeben. Wo ist denn da die Innovation? Das ist doch Selbstbeweihräucherung. Was dabei herauskommt, ha- Das Motto der Bundesregierung lautet: Idee gesucht, ben wir erlebt. Das ist der falsche Ansatz. Auch hier ha- Kommission gefunden. Nur, so kommen wir nicht wei- ben Sie nicht den Mut zu mehr Marktwirtschaft. Statt- ter. Die Innovationskommission aus dem Jahr 2001 ist dessen pflegen Sie weiter alte syndikalistische Ansätze: noch nicht aufgelöst. Jetzt hat sich der Bundeskanzler ei- ein Drittel Gewerkschaften, ein Drittel Arbeitgeber, ein nen Innovationsrat zugelegt. Mit prachtvoller Medien- Drittel Staat. Alle liegen sich schön in den Armen. Vom inszenierung wird der staunenden Öffentlichkeit vorge- Tanzen her wissen Sie, dass man, wenn man sich in den führt: Jetzt geht es richtig los. Armen liegt, die Hände zum Arbeiten nicht frei hat. Das Das Thema „LKW-Maut in Deutschland“ ist zu Recht ist es, was Sie falsch machen. angesprochen worden. Selbst Herr Kuhn als Weltöko- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten nom konnte es sich nicht verkneifen, über diesen der CDU/CSU – Franz Müntefering [SPD]: Schandfleck grün-roter Politik zu sprechen. Was heraus- Das ist doch die Rede, die Sie letztes Mal ge- kommt, wenn die Herren, die die Verantwortung für die halten haben, Herr Brüderle!) LKW-Maut haben, jetzt den Kanzler auch in der Inno- vationsoffensive beraten, kann ich mir vorstellen, näm- Was haben Sie in diesem Bereich gemacht? Durch lich nichts Vernünftiges. den massiven Einsatz von öffentlichen Geldern werden Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2004 7715

Rainer Brüderle (A) innovative private Jobbörsen aus dem Markt gedrängt. – Es ist nur recht, dass Sie schreien. Sie sollten sich da- (C) Aber ohne diese privaten Jobbörsen wären Sie überhaupt für entschuldigen, was Sie in Deutschland für Unfug an- nicht auf die Idee gekommen, dass man online etwas gerichtet haben. Vernünftiges auf den Weg bringen kann, wenn man es (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – richtig organisiert. Das Neue kommt eben nicht aus den Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Büßerge- Amtsstuben in die Welt. Innovation kann man nicht an wand!) runden Tischen beschließen, Innovationen kann man nicht per Dekret verkünden. Neuheiten entstehen überra- Der entscheidende Punkt ist, dass Deutschland schend. Zukunft ist nicht planbar. Es muss mehr Frei- (Horst Kubatschka [SPD]: Zugabe!) räume geben und weniger staatliche Bevormundung. Dieser Ansatz muss verfolgt werden. Wer an jeder Ecke – das würde ich gerne machen, dann bekommen Sie durch Bürokratie gegängelt und durch hohe Abgaben noch etwas ab; Sie hätten es verdient, aber dafür müssten und Steuern geschröpft wird, überlegt sich dreimal, ob er Sie mir Ihre Redezeit geben – eingemauert ist. Nichts in Deutschland noch Innovationen entwickelt und um- wird flexibel gehandhabt. Das ist überall zu spüren. In setzt. Das ist doch der entscheidende Punkt. den Bremserhäuschen herrscht in Deutschland Vollbe- schäftigung; da sitzen alle drin. Durch falsche Mitbe- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten stimmungsformen, Tarifkartelle und falsch verstandenen der CDU/CSU) Föderalismus werden in Deutschland Veränderungen Deutschland ist jetzt ein Musterland für Braindrain, verhindert. Die deutsche Gesellschaft ist festgefahren. für Auswanderung von Kapital und hoch qualifizierten Wir sind eingemauert. Wir müssen einen Befreiungs- schlag machen: raus aus diesem Mauerwerk, weg vom Fachkräften. Jedes Jahr verlassen 130 000 hoch ausge- Denken von vorgestern. Ihr Syndikalismus ist die Ursa- bildete Wissenschaftler und Spezialisten Deutschland; in che dafür, dass wir eine so hohe Arbeitslosigkeit haben. der Regel kommen sie nicht zurück, weil Sie ein schlechtes Klima für sie geschaffen haben. (Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: 18 Prozent!) Nun kommt der Weltökonom Kuhn und verkündet kühn, dass man mit der Schaffung der Informationsge- – Schämen Sie sich und schreien Sie nicht dazwischen! sellschaft einen großen Schritt in die Zukunft macht. Die Vielen Dank. Grünen tragen die Verantwortung für das fortschritts- feindliche Klima in der deutschen Gesellschaft. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Präsident Wolfgang Thierse: (B) (D) Sie haben anfangs in ihrer Programmatik die Computer Ich erteile das Wort Kollegen Hubertus Heil, SPD- verteufelt. Ich zitiere aus dem Grundsatzprogramm Fraktion. der Grünen, in dem Computer als Teufelswerkzeug dar- (Jörg Tauss [SPD]: Zur Seriosität zurück!) gestellt werden. Dort steht: Computern werden wesentliche Arbeitsaufgaben Hubertus Heil (SPD): übertragen, während den Menschen nur noch eine Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle- sinnentleerte Teilfunktion überlassen bleibt. gen! Herr Brüderle, auf der Tagesordnung steht eigent- lich das Thema Informationsgesellschaft Das ist ein Originalzitat. Sie tragen die Verantwortung, dass eine fortschrittsfeindliche Haltung in diesem Land (Jörg Tauss [SPD]: Davon versteht er nichts!) entstanden ist. Sie haben eine Verhinderungs- und Ver- und nicht die Beschäftigung mit dem Industriezweig teufelungskultur in diesem Land initiiert und dement- Phrasendrescherei. Doch gerade den haben Sie ja soeben sprechend Stimmung gemacht. Die Konsequenzen müs- bedient. Insofern sollten wir uns nun doch wieder dem sen wir heute ausbaden. In vielen Bereichen haben Sie Thema zuwenden. Irrwege eingeschlagen und waren unfähig, die Realitäten zu erkennen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Fritz (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Der Hubert Ulrich [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- steht noch unter Drogen! – Eckart von NEN]: Ist schon Fasching?) Klaeden [CDU/CSU]: Welche Gewerkschaft ist denn dafür zuständig?) Heute verhalten Sie sich wieder so bei der Biotechno- logie und der Gentechnik, indem Sie wie früher bei der – Ich weiß es nicht. Das ist ein Bereich, um den sich nur Kernenergie überall Ängste zu erzeugen versuchen und die FDP kümmert. Dafür braucht es dann offensichtlich mit Anschauungen von vorgestern operieren. Wenn wir keine Gewerkschaften. Ihnen gefolgt wären, würden wir heute mit Federkiel auf (Volker Kauder [CDU/CSU]: Blamieren Sie sich Pergament schreiben, aber nicht über Informationstech- nicht weiter und sprechen Sie richtig!) nologie im Bundestag diskutieren. Ich will ganz klar sagen, dass wir den Begriff Visio- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Zu- nen nicht diffamieren sollten. Es gibt zwar den schönen rufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Satz, der Helmut Schmidt zugeschrieben wird: Wer 7716 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2004

Hubertus Heil (A) Visionen hat, sollte zum Arzt gehen. Ich glaube aber, schäftigten ist er einer der größten Wirtschaftssektoren (C) dass Helmut Schmidt eher krude Utopien meinte und in Deutschland. Die Dynamik der Entwicklung sieht nicht klare Leitbilder. Richtigerweise wird nun ein Mas- man insbesondere in den einzelnen Sektoren ganz deut- terplan für diesen Bereich vorgelegt. In anderen Ländern lich: Im Vergleich zu 1998 hatten wir im vergangenen gab es ihn ja schon früher. Wenn Sie zum Beispiel die Jahr im Mobilfunkbereich eine Steigerung von 14 Mil- Anstrengungen, die diese Bundesregierung unter Feder- lionen Kunden auf 63 Millionen Kunden; das ist sage führung von Otto Schily im Bereich „bund-online.de“ und schreibe ein Zuwachs von 350 Prozent. Bereits mehr unternommen hat und die gerade von der Europäischen als die Hälfte der Menschen in Deutschland nutzen das Union als ein Zugpferd für eine Entwicklung gewürdigt Internet. wurden, die wir nachholen mussten, weil Sie sie ver- pennt haben, diffamieren, möchte ich Ihnen darauf Fol- Es ist richtig, Herr Brüderle: Die Politik kann da gendes sagen: E-Government ist etwas, was wir eher nichts verordnen; das ist etwas, was mit Wettbewerb zu begriffen haben als Sie: tun hat. Das wissen wir aber schon länger als Sie. Trotz- dem geht es um die Frage, ob man sich politische Ziele (Volker Kauder [CDU/CSU]: Sie haben noch nicht setzt und alle vorhandenen Akteure miteinander koordi- einmal das normale Regieren begriffen!) niert. Die Frage ist, ob wir unser ehrgeiziges Ziel errei- chen, bis zum Jahre 2010 die Zahl der Breitband- Als wir 1998 die Bundesregierung übernahmen, war im anschlüsse in Deutschland so zu steigern, dass über Bundeskanzleramt Rohrpost das Kommunikationsinstru- 50 Prozent der Deutschen die Möglichkeit haben, einen ment und nicht das Intranet. Breitbandanschluss zu nutzen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ „Breitbandigkeit“ klingt abstrakt, so abstrakt, dass DIE GRÜNEN) keine Sau weiß, welche Möglichkeiten damit verbunden Ich will Ihnen klar sagen: Dass wir im Bereich E-Go- sind. vernment Nachholbedarf haben, ist unstrittig. Aber die (Dr. Martina Krogmann [CDU/CSU]: „Keine Ursachen dafür liegen nicht bei dieser Bundesregierung, Sau“? – Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: sondern darin, dass Sie in den 90er-Jahren diese Ent- Sprechen Sie hier von den Bürgern der Bun- wicklung verschlafen haben, und auch darin, dass wir desrepublik Deutschland? – Volker Kauder diesbezüglich eine Kompetenzzersplitterung in Deutsch- [CDU/CSU]: Sie reden davon, dass „keine land haben – zwischen Bund, Ländern und Kommunen. Sau“ das weiß? Was ist denn das für eine For- Nach allen Gutachten, die auch Sie kennen, wissen wir: mulierung?) Vor allem im kommunalen Bereich, aber auch bei den (B) Ländern besteht großer Nachholbedarf. Der Bund ist da- – Ach, hören Sie doch erst mal zu, Herr Kauder! Ich (D) gegen der Motor dieser Entwicklung; das bestätigen alle weiß nicht, was Ihr Job hier ist. Ich dachte, Sie sind Ge- seriösen Studien. schäftsführer und nicht Geschwätzführer Ihrer Fraktion. (Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Motor des (Heiterkeit und Beifall bei der SPD und dem Nachholbedarfs? Was ist das denn?) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Insofern bitte ich Sie, kein Zerrbild dieser Gesellschaft Breitbandigkeit heißt, schneller größere Mengen von zu malen, auch nicht dieses Landes. Daten zu transportieren. Es geht darum, das im Breit- bandbereich für unsere Volkswirtschaft liegende Wachs- (Volker Kauder [CDU/CSU]: Dosenpfand und tumspotenzial von 0,3 bis 0,5 Prozent zu nutzen. Das Maut!) hängt davon ab, dass wir es schaffen, in dem Bereich – Herr Kauder, vielleicht sollten Sie einmal zu Themen aufgelaufene Rückstände aufzuarbeiten. dazwischenrufen, von denen Sie wirklich Ahnung ha- Diese Investitionsanreize wollen wir schaffen, indem ben. So nützt es nicht sonderlich viel. wir das Telekommunikationsgesetz novellieren – die Meine Damen und Herren, es geht uns um Zweierlei: Novelle ist gerade in der Beratung –, indem wir Investi- Wir wollen den Weg in die Informationsgesellschaft be- tionen sowohl in den Infrastrukturbereich als auch in den schreiten, indem wir Potenziale in der Branche nutzen, Dienstewettbewerb attraktiv machen; beides gehört zu- aber wir wollen die Informations- und Kommunika- sammen. Infrastrukturinvestitionen sind die Vorausset- tionstechnologien auch nutzen, indem wir sie in vorhan- zung dafür, dass die notwendige Technik bereitsteht; dene Produktions- und Dienstleistungsprozesse integrie- aber Dienste sind es, die die Menschen interessieren. ren. Es geht eben nicht um einen Gegensatz zwischen (Beifall bei der SPD) Old und New Economy, es geht um die Next Economy, um die Frage, wie wir unsere Volkswirtschaft mittels der Breitbandigkeit allein macht keinen froh, aber die Mög- Informations- und Kommunikationstechnologien moder- lichkeiten, die sich über Breitbandigkeit ergeben, sind nisieren. Das heißt, dass wir diese Technologien in allen für die Bürgerinnen und Bürger interessant; sie entschei- Produktionsprozessen, auf allen Stufen der Wertschöp- den darüber, welche Innovationen in diesem Land ange- fungskette, einordnen; ich komme gleich darauf zurück. nommen werden. Die Entwicklung in der Branche selbst ist ganz be- Deshalb müssen wir über Anwendungen sprechen. achtlich. Der Umsatz im Bereich der IuK-Technologien Einige sind vorhin genannt worden, beispielsweise die liegt bei 130 Milliarden Euro pro Jahr. Mit 750 000 Be- Frage: Was ist möglich im Gesundheitswesen? Beim Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2004 7717

Hubertus Heil (A) Thema E-Health geht es um die Frage, wie wir Effektivi- und mithilfe neuer Informations- und Kommunikati- (C) tätsreserven nutzen können, aber auch, wie wir die Le- onstechnologien zu kommunizieren. bensqualität von Menschen steigern können. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. Vieles ist gesetzgeberisch auf den Weg gebracht; das (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ zeigt der Bericht. Wir haben das Elektronischer-Ge- DIE GRÜNEN) schäftsverkehr-Gesetz beschlossen, mit dem Ergebnis, dass der E-Commerce in Deutschland 100 Milliarden Euro pro Jahr ausmacht. Unser Defizit liegt in einem Präsident Wolfgang Thierse: Bereich: Große Unternehmen nützen das Internet auf Ich erteile das Wort Kollegen Heinz Riesenhuber, allen möglichen Ebenen, aber im mittelständischen Be- CDU/CSU-Fraktion. reich gibt es da Nachholbedarf. Dabei geht es nicht da- (Beifall bei der CDU/CSU – Jörg Tauss [SPD]: rum, dass der Malermeister bunte Seiten ins Internet Mikro, Herr Kollege!) stellt, es geht – wie gesagt – darum, in den Bereichen Beschaffung, Produktion und Vertrieb diese neuen In- Dr. Heinz Riesenhuber (CDU/CSU): formations- und Kommunikationstechnologien als inte- Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und grierte E-Business-Lösungen einzusetzen, um Produk- Herren! Hubertus Heil hat so schön dargestellt, dass al- tivitätsfortschritte zu erreichen. Darum geht es, im les, was geschieht, auf kluge Weise von der Bundesre- Interesse der Modernisierung unserer Volkswirtschaft. gierung koordiniert wird. Wenn man sich allerdings die (Beifall bei der SPD) Sache genauer anschaut, dann muss man sagen, dass nur das, wo die Bundesregierung nicht dazwischenfasst, re- Ich komme zum Schluss. Informations- und Kommu- lativ in Ordnung ist. nikationstechnologien sind ein Schlüssel für die Moder- nisierung unseres Landes. Es geht aber noch um mehr. (Jörg van Essen [FDP]: Sehr richtig!) Die einen wollen die Modernisierung unserer Gesell- Aber überall da, wo die Bundesregierung anfängt, in ih- schaft. Dieses Thema ist für unsere Freunde von den rer überlegenen Weisheit die Zukunft zu konstruieren, da Grünen und für die FDP wichtig; auch wir sind dafür. scheint die Sache schief zu laufen. Die anderen, die Konservativen, wollen eine rein techni- sche oder ökonomische Modernisierung. Wir Sozialde- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) mokraten sagen: Unsere Gesellschaft braucht beides; es Lieber Herr Heil, mir liegt dieser „vorzügliche“ Be- muss beides zusammengehen: die gesellschaftliche und richt der Bundesregierung vor. Ich muss sagen, dass ich die technische Modernisierung. (B) den Bericht im Grundsatz für eine gute Sache halte. Es (D) (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des ist vernünftig, diese verschiedenen Einzelprogramme zu BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) einer einzigen integrierten Strategie zusammenzufassen. Ob sie Erfolg hat, ist wieder eine andere Frage. Die In- Deshalb darf es nicht sein, dass wir in diesem Land formationsgesellschaft kann nur funktionieren, wenn eine digitale Spaltung bekommen. Wir dürfen nicht zu- alle Bereiche stimmen. Auch die Ausbildung muss stim- lassen, dass die Gesellschaft in User und Loser, in An- men. Im Rahmen der PISA-Studie haben wir im Bereich und Ausgeschlossene, gespalten wird. Wir wollen, dass Lesen Platz 21 und im Bereich der Mathematik und der moderne Informations- und Kommunikationstechnolo- Naturwissenschaften Platz 20 belegt. Da müssen wir gien allen Menschen zur Verfügung stehen. Wir wollen besser werden. Es geht weiter: Das E-Government kein Privileg und kein Monopol für bestimmte Gruppen – Martina Krogmann hat dazu etwas gesagt – und die in diesem Bereich. Wir wollen einen Nutzen für alle Rahmenbedingungen, die der Staat vorgibt, müssen Menschen. Die Chancen dieses Landes in diesem Be- stimmen. reich sind größer, als es die Opposition wahrhaben will. Sie haben in Ihrer Weisheit das World Economic Fo- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ rum herangezogen. Im Bericht der Bundesregierung DIE GRÜNEN) wird voller Stolz aus dem Global IT Report zitiert. Was Deutschland ist noch nicht ganz so weit. Aber wir sind kann man dort finden? Prima! Wir sind von Platz 17 auf auf dem Weg. Platz 10 vorgerückt – eine erfreuliche Sache. (Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Meine herzliche Bitte ist: Lassen Sie uns bei den an- Nächst Tunesien! – [CDU/CSU]: stehenden Gesetzgebungsverfahren, aber auch bei der Botswana!) Förderung dieser Technologien, bei der Bereitstellung von Beteiligungskapital, bei den Kompetenzzentren für Lassen Sie uns aber einmal die Zahlen genauer an- den Mittelstand – da sind wir auf einem guten Weg – und schauen. Wenn man sich voller Neugier die neuen Zah- im Bereich E-Government nicht nach den Risiken, die es len für dieses Jahr anschaut – in der Zwischenzeit hat ja in der Tat gibt, fragen! Lassen Sie uns vor allen Dingen die Regierung ein Jahr weiter regiert, wie wir beglückt die Chancen betonen, damit wir die Menschen mitneh- feststellen dürfen –, men können, und sie an diesen neuen Möglichkeiten teil- (Heiterkeit bei der CDU/CSU) haben können! So können wir selbstbestimmte Men- schen im Interesse unseres Landes in die Lage versetzen, dann muss man erkennen, dass wir um einen Platz zu- sich die Informationen zu beschaffen, die sie brauchen, rückgefallen sind. 7718 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2004

Dr. Heinz Riesenhuber (A) Wenn man sich die Details anschaut, wird die Sache (Horst Kubatschka [SPD]: Das kennen Sie! – (C) noch interessanter. Wir haben drei Komplexe, in denen Hubertus Heil [SPD]: Weil Kohl so modern verschiedene Komponenten zusammengesetzt werden. war!) Der erste Bereich wird im Wesentlichen vom Staat ge- staltet. Die anderen Komplexe umfassen die vorhande- – Da habe ich, lieber Herr Kubatschka, hinreichende Er- nen Infrastrukturen und ihre Nutzung. In dem Bereich, fahrungen. der im Wesentlichen vom Staat gestaltet wird, sind wir Aber eines muss ich sagen: Wenn der Kanzler ver- von Platz 9 auf Platz 17 zurückgefallen. Lieber Herr sprochen hat, die Investitionen in Bildung und For- Heil, ich muss sagen – das biete ich Ihnen als Dienstleis- schung zu verdoppeln, und er daraufhin gewählt worden tung an –, dass wir folgende Situation haben, die auch ist, dann hat die Forschungsministerin eine prachtvolle durch Ihre Zahlen deutlich erkennbar wird: Wo der Staat Stellung, sich wirklich durchzusetzen. dazwischenfasst, wird die Sache schwierig. (Jörg van Essen [FDP]: Wenn sie denn da ist!) Es gibt einzelne Bereiche, die besonders stark betrof- Stattdessen schmilzt die Sache ab; das ist nicht gut. fen sind. Der Braindrain ist sehr viel stärker geworden. Hier sind wir von Platz 16 auf Platz 28 zurückgefallen. Ich will jetzt nicht alle Punkte im Einzelnen anführen. Das Marktumfeld ist schlechter geworden. Hier sind wir Zu der guten Position Deutschlands im IuK-Bereich, von von Platz 6 auf Platz 15 abgerutscht. Bei der Venture- der im Aktionsprogramm geschrieben wird, gibt es einen Capital-Verfügbarkeit sind wir von Platz 17 auf Platz 30 Kommentar aus dem Technologiebericht der Bundesfor- zurückgefallen. Man glaubt es nicht, dass man bei Ma- schungsministerin vom März letzten Jahres. Die Bundes- thematik und den Naturwissenschaften noch weiter von forschungsministerin schreibt in einer Pressemeldung in Platz 48 zurückrutschen kann: Wir haben Platz 53 er- der Überschrift: Bei IT ist Deutschland abgeschlagen. – reicht. – Das sind nur einige Beispiele. Ich könnte dazu Das fasst die Sache zusammen. weiter ausführen. Wenn Sie mir mehr Zeit geben, bin ich bereit, zu allen diesen Punkten im Einzelnen zu elaborie- Herr Kuhn, das ist keine Frage eines kultivierten Jam- ren. merns. Es geht vielmehr darum, dass man die Probleme beim Namen nennen muss, wenn man sie lösen will. Das Dort, wo der Staat an sich Leistung zu erbringen soll wohl der Sinn des Aktionsplans sein. Sein Mangel hätte, dort, wo man davon ausgehen sollte, dass er die ist, dass kein Zusammenhang zwischen dem, was die Voraussetzung dafür schafft, dass die Einzelnen in Wis- Bundesregierung tut, und dem, was sie erreichen will, senschaft, Wirtschaft und im privaten Bereich erfolg- hergestellt wird. reich arbeiten können, liegen wir schlecht. Wo man die (B) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (D) Wirtschaft arbeiten lässt, da läuft die Sache prima. Stört neten der FDP) die Leute nicht bei der Arbeit! Dann geht etwas voran. Sie schreiben, dass Sie konkrete Ziele beschreiben und (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und konkrete Daten angeben. Wenn Sie auf die Seiten 6 der FDP) und 7 schauen – das ist dazu das Einzige –, dann sehen Sie Kraut und Rüben in einer bunten Gemengelage. Da Um einmal auf einen konkreten Bereich einzugehen: finden Sie die Erwartung im Hinblick auf die Markt- Die Bundesregierung ist ja zu der Erkenntnis gelangt, penetration von Handys, die auch der Wirtschaftsminis- dass Forschung wichtig sei, ter voller Stolz dargestellt hat. Da finden Sie eine Reihe (Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: von weiteren Punkten, mit denen die Bundesregierung Sehr gut!) gar nichts zu tun hat. Die Frage, wie man in der Bildung, in der Ausbil- dass wir, wie sie im Bericht schreibt, hier eine Schlüssel- dung und bei den Infrastrukturen Ziele erreicht und De- technologie haben und dass die Aufgabe besteht, die fizite aufarbeitet, ist interessant. Als Beispiel nehme ich Zahl der zukunftssicheren Arbeitsplätze durch Innovati- E-Health; Kollege Kuhn hat hierzu einige grundsätzli- onen zu steigern, was sie unterstützt. Schauen wir uns che Bemerkungen gemacht. Über E-Health wird in dem einmal Kap. 3006, Titelgruppe 31, an; Sie wissen, das Bericht in einem von sechs großen Kapiteln geschrie- betrifft IuK usw. Jeder dieser einzelnen Titel ist 2001, ben, was hier im Einzelnen passieren müsse und wie der 2002, 2003 und 2004 rückläufig. Das heißt, dass wir in Stand sei. Da ist diese schöne Tabelle – ich glaube, Herr der Situation sind, dass wir, obwohl wir eigentlich be- Kuhn hat sie angesprochen –, in der Sie sagen: Hier in schlossen haben, in Europa in der Forschung Spitze zu Deutschland sind – mit weitem Abstand hinter anderen – werden – 3 Prozent des Bruttosozialproduktes sollen da- nur 6 Prozent der Allgemeinmediziner in einem medizi- für in 2010 verwendet werden –, und Europa selber nerspezifischen Netzwerk. Da fragt man sich: Warum? Spitze werden will, immer mehr zurückfallen. Das werfe Sind deutsche Mediziner dümmer? – Eher unwahr- ich nicht der Frau Forschungsministerin vor. scheinlich. (Jörg van Essen [FDP]: Die ist ja gar nicht da!) (Hubertus Heil [SPD]: Nein, weil Sie die Kar- telle vertreten! Das ist der Punkt!) Das ist eine Sache des Bundeskanzlers. Ein Forschungs- minister hat gegenüber dem Finanzminister immer eine – Lieber Herr Heil, ich kann Ihnen eine Antwort geben – relativ schwierige Arbeit. auch Herr Kuhn war mit dem Begriff „Wettbewerb“ Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2004 7719

Dr. Heinz Riesenhuber (A) schnell bei der Hand –: Man muss spezifisch und nicht auch alles zusammen. Gott sei Dank haben wir jetzt das (C) nur grundsätzlich denken. Jahr der Innovation. Das ist eine tolle Sache, das finde ich wirklich prima. (Hubertus Heil [SPD]: Aber auch spezifisch!) In dem Bericht findet sich eine prächtige Fußnote. Sie Das „Handelsblatt“ fragt etwas skeptisch, ob diese ist ganz klein gedruckt; sie ist die einzige Fußnote in Politblase mit Inhalt gefüllt werden kann. Das ist sicher dem ganzen Bericht. Da wird nämlich geschrieben, dass das normale Ressentiment der bürgerlichen Presse. Aber die kassenärztlichen Vereinigungen den Medizinern un- der Bundeskanzler hat ein großes Wort gesagt – wenn tersagt haben, das keine Wende im Denken der Regierungspartei ist –: Wir sollten erst über die Chancen und dann über die Ri- (Jörg Tauss [SPD]: Aha!) siken nachdenken. die Daten auszutauschen, weil die entsprechenden Si- (Hubertus Heil [SPD]: Genau!) cherheitsstandards nicht gegeben seien. Wenn es aber so ist, dann frage ich: Wer setzt denn die Sicherheitsstan- – Herr Heil, Sie haben das mit Begeisterung aufgegrif- dards? Das tun doch nicht die Mediziner. Seit fünf Jah- fen. ren regieren Sie. Wo sind die Standards? (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ich finde das prima, so haben auch wir immer ge- Wann erbringen Sie die Leistungen, die vom Staat ver- dacht. Aber ich muss sagen: Größer ist die Freude im langt werden können? Dort, wo Sie ran müssen, sind Sie Himmel über einen Bundeskanzler, der sich bekehrt, als nicht da, während Sie dort, wo wir erfolgreich sind, Sie über 99 gerechte Christdemokraten, die der Bekehrung aber nichts zu tun haben, grundsätzliche Reden halten, nicht bedürfen. Das ist etwas, was wir hier in Demut ent- die ganz ausgezeichnet sind. gegennehmen. Dankenswerterweise hat Herr Kuhn eines der Glanz- (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und stücke deutscher Public Private Partnership lobend er- der FDP – Jörg Tauss [SPD]: Das ist Hoffart! wähnt: Die Maut ist ein klassisches Beispiel dafür, dass Hoffart ist eine Todsünde!) man eine wirklich exzellente Idee so gegen die Wand fahren kann, dass die gesamte Bundesregierung mit ab- Wir freuen uns über den Bundeskanzler und seine Be- geschnittenen Hosen dasteht, was wirklich kein schöner kehrung. Denn dann kann uns nicht mehr so etwas pas- Anblick ist. sieren, wie damals in Hessen, als die Insulinanlage von (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) jemandem, der heute in der Bundesregierung sitzt, über (B) neun Jahre verzögert wurde. Es wird uns auch nicht (D) Dass Sie etwas, was einmal eine glanzvolle Spitz- mehr passieren, dass wir aus einer exzellenten Kerntech- marke deutscher Technik sein sollte, so hinstellen, dass nik so aussteigen, dass wir nicht einmal Reaktoren in an- sich ganz Europa vor Heiterkeit den Bauch hält, ist keine deren Ländern aufmotzen können. besonders großartige Sache. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Ich möchte zusammenfassen: Es gibt überall, bei der FDP) E-Government und E-Health, bei der Erziehung und der Ausbildung, in der Frage des Braindrain, beim Haushalt Es wird uns auch kein Moratorium für grüne Gentechnik des Forschungsministers, Probleme. Hier sollte die Bun- mehr passieren und es wird uns nicht passieren, dass der desregierung eigentlich etwas tun. Transrapid in unserem Land zu Tode diskutiert wird, während er in China fährt und das Know-how wer weiß (Zuruf des Abg. Hubertus Heil [SPD]) wo verloren gegangen ist. – Ja, Sie haben einen schönen Bericht geschrieben. Das ist eine wirklich wunderbare Sammlung von exzellenten Wenn der Kanzler jetzt wirklich voller Entschlossen- Euphemismen. Da heißt es nicht: Wir befinden uns in ei- heit zu den Chancen steht, dann gibt es eine leuchtende nem schlechten Zustand. Stattdessen heißt es: Wir haben Zukunft für unser Land. Denn die oben genannten Pro- ein großes Entwicklungspotenzial. Das ist prima. bleme sind ganz unterschiedlicher Art, aber sie haben vielleicht einen gemeinsamen Grund, nämlich eine Hal- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) tung des Pessimismus. Herr Kuhn sprach vom Jammer- tal. Woher kommt diese Haltung? Aber bisher haben Sie noch nicht abgeleitet, was Sie tun sollen. (Jörg Tauss [SPD]: Von Ihnen!) Zum Glück haben wir ja noch einen Bundeskanzler. Sie können nicht eine Technik nach der anderen ver- Wenn ein Problem ganz kritisch wird, ist der Bundes- teufeln und sich danach wundern, dass ein Jammertal kanzler zur Stelle entsteht. Wenn Sie nicht den Erfolg herausstellen und (Hubertus Heil [SPD]: Im Gegensatz nicht Spitzentechnik und Spitzenleistung mit Begeiste- zu ist das ja schon ein Fort- rung unterstützen, entsteht im Land auch nicht die Zu- schritt!) versicht und die Fröhlichkeit, neue Herausforderungen aufzugreifen und sie anzugehen. und wir bekommen eine Kommission oder einen Ar- beitskreis, eine Geschäftsstelle oder einen Berater oder (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) 7720 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2004

Dr. Heinz Riesenhuber (A) Wir haben eine wunderbare Chance. Das, was hier ist, das in der Schule oder an der Uni Gelernte zu Hause (C) entstehen kann, ist ein Wachstum das sich aus Intelligenz weiter auszuprobieren? speist. Ressourcen und Energien werden nicht ver- (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- braucht. Es handelt sich um ein Wachstum, das im SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD) Grunde unbegrenzt ist, weil es keine Ressourcen ver- braucht. Das wäre doch etwas, was die Grünen mit Be- Bildung heißt auch Chancengleichheit – so lautet einer geisterung aufnehmen sollten. Ich rede ja erst gar nicht der zentralen Leitsätze des Aktionsprogramms. Hier sind von Ihren alten Diskussionen über die Jobkiller, die ich wir – und das ist Aufgabe von Bund und Ländern – si- auch noch miterlebt habe. cher noch weit von unserem angestrebten Ziel entfernt. Darin, dieses in den unterschiedlichen Bereichen be- Ich möchte zwei ehrgeizige Ziele dieses Programms harrlich aufzubauen, herausheben: Der Anteil der Internetnutzerinnen und -nutzer soll bis zum Jahre 2005 auf 75 Prozent steigen (Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: und mittelfristig soll der Anteil von Frauen an den IT- Haben wir doch!) Berufsausbildungen und Informatikstudiengängen auf liegt die Chance für die Zukunft, die Chance für ein 40 Prozent gesteigert werden. Momentan liegt der Frau- Wachstum des guten Gewissens. Ich meine damit keinen enanteil hier bei 10 bis 15 Prozent. Es wird sicher technokratischen Hurrapatriotismus. Dafür plädiert nie- schwer, diese Zielmarken im angestrebten Zeitraum zu mand. Mit Blick auf diese Chancen, die unser hoch ver- erreichen, aber gerade deshalb unterstütze ich die Bun- ehrter Herr Bundeskanzler in einer so vorzüglichen desregierung an dieser Stelle ausdrücklich. Weise beschwört, müssen wir die beharrliche Arbeit und Es gilt, die gleichberechtigte Teilhabe aller gesell- die Entschlossenheit der tüchtigen Leute in Unterneh- schaftlichen Gruppen an der Informationsgesellschaft men und Instituten unterstützen. Diese stützen die Zu- sicherzustellen. Eine höhere Nutzung und Akzeptanz kunft Deutschlands und hier sollte eine Regierung nicht neuer technischer Möglichkeiten ergibt sich bei einer stören. breiteren Nutzerschicht nahezu von selbst und liefert (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) wiederum die Grundlage für die permanente Weiterent- wicklung neuer zukunftsweisender Technologien und Wirtschaftszweige. Präsident Wolfgang Thierse: Ich erteile der Kollegin Grietje Bettin, Fraktion Bünd- (Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Das ist nis 90/Die Grünen, das Wort. auch alles sehr konkret! Es gibt eine Sprache, die heißt „Jubelpersisch“!) (B) (D) Grietje Bettin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Im Zusammenhang mit der Ausweitung der Nutzer- Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle- schichten möchte ich einige Beispiele nennen: Was nützt gen! Ich bedaure, dass die Opposition zu diesem für mir die digitale Signatur in Verbindung mit einem ent- Deutschland so zukunftsweisenden Thema nicht mehr sprechenden Gesetz, wenn ich nicht die Technik zur Ver- als diesen allgemeinen politischen Rundumschlag zu fügung habe, um eine rechtsverbindliche Unterschrift bieten hatte. von meinem PC aus zu leisten? Wie soll ich der elektro- nischen Gesundheitskarte vertrauen, wenn ich selber (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- nicht in der Lage bin, die Technik nachzuvollziehen und SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD) die hier gespeicherten Daten einzusehen? Die Informationsgesellschaft entwickelt sich rasant Die Bundesregierung möchte mit diesem Aktionspro- (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Kleines gramm eine Spitzenstellung in der globalen Medien- und Karo!) Kommunikationslandschaft einnehmen. – da können Sie schlechtreden, was Sie wollen, liebe (Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Hurra!) Opposition –: Im Jahre 2003 war laut einer Onlinestudie Es ist wenig zielführend, sich über internationale Ran- von ARD und ZDF erstmals die Hälfte der deutschen kings zu streiten, Herr Kollege Riesenhuber. Fakt ist: Es Bevölkerung ab 14 Jahren online. Insbesondere der An- geht nach oben, aber – das gebe ich offen zu – es ist noch teil von Frauen und älteren Menschen ist stark gestiegen. Platz für eine höhere Platzierung! Rot-grüne Initiativen wie „Frauen ans Netz“ oder „Inter- net für alle“ zeigen eindeutig Wirkung. Um eine weitere Verbesserung zu erreichen, finden wir im Aktionsplan hervorragende Projekte und Maß- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN nahmen wie zum Beispiel die „Deutsche Breitbandinitia- sowie bei Abgeordneten der SPD) tive“ oder die „Stiftung Digitale Chancen“. Die Bedeutung der Informations- und Kommunika- Neben der wirtschaftspolitischen Dimension des Net- tionsbranche für die rot-grüne Politik wird mit dem vor- zes, das heißt der Entwicklung neuer Geschäftsmodelle, gelegten Aktionsprogramm bestätigt und ausgebaut. Wir ist für uns Grüne gerade auch der gerechte und offene müssen insbesondere sicherstellen, dass dieser Master- Zugang zu Wissen eine gleichberechtigte Zielsetzung plan auch wirklich die gesamte Bevölkerung erreicht. bei der Gestaltung der Informationsgesellschaft. Dabei Was nützen uns die tollsten E-Learning-Projekte, so- darf uns ein zu restriktives Urheber- oder Patentrecht lange nicht jeder Schüler oder jeder Student in der Lage nicht im Wege stehen. Hier denke ich unter anderem an Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2004 7721

Grietje Bettin (A) den so genannten Zweiten Korb einer Reform des Urhe- Auch das gehört zur Bilanz und beschreibt die Kehr- (C) berrechts und an die bevorstehende Softwarepatent- seiten sowie drängende Herausforderungen für die Poli- Richtlinie der EU. tik; übrigens nicht nur für die Forschungs-, Arbeits- markt- oder Sozialpolitik, sondern vor allem auch für die Ein weiteres, zukunftsträchtiges Thema der Infor- Bildungspolitik. Medienkompetenz wird zunehmend mationsgesellschaft ist E-Government in Verbindung mit zur Überlebenskompetenz und zur Kulturfrage im wei- E-Demokratie. Auch in diesem Aktionsprogramm testen Sinne. Wie man einen Computer bedient, sich spielt der Bereich E-Demokratie eine Rolle, wenn auch durch das Internet klickt oder per Handy einen Grand leider nicht mehr ganz so exponiert wie in der Vergan- Prix entscheidet, wissen heute schon Vorschulkinder. genheit. Der Deutsche Bundestag ist geradezu dafür prä- Wie man aber all diese Möglichkeiten gebraucht, ohne destiniert, in Sachen E-Demokratie mit gutem Beispiel missbraucht zu werden, das ist ein sehr weites Feld. Die- voranzugehen. Wir müssen unsere politischen Struktu- sen Fragen gebührt viel mehr Aufmerksamkeit als bis- ren ebenfalls an die Herausforderungen der Informa- lang praktiziert. tionsgesellschaft anpassen und innovative Ansätze wie, unter vielen anderen, das E-Demokratie-Projekt aus der (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [frak- letzten Legislaturperiode unbedingt weiterentwickeln. tionslos]) All das hier Aufgezeigte sind spannende, zukunfts- Hinzu kommt ein weiteres Problem, das die PDS im weisende Themen, über die es sich zu streiten lohnt. Bundestag auch immer wieder anspricht: Mit der so ge- Letztendlich glaube ich – das wurde auch in der Debatte nannten Informationsgesellschaft wachsen die techni- deutlich –, dass wir in der Sache durchaus in dieselbe schen Möglichkeiten, Herr fremder Daten zu werden. Im Richtung streben. Daran sollten wir arbeiten. selben Tempo nehmen übrigens die Begehrlichkeiten zu, persönliche Daten zu sammeln. Leider nimmt auch die Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Naivität vieler zu, mit der sie Daten und damit ihre Per- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sönlichkeit preisgeben. Daher wäre es Aufgabe der Poli- sowie bei Abgeordneten der SPD) tik, vor diese Entwicklung Riegel zu schieben und in diesem Bereich noch mehr Aufklärung zu fördern.

Präsident Wolfgang Thierse: (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [frak- Ich erteile der Kollegin Petra Pau das Wort. tionslos]) In der Praxis geschieht das Gegenteil, leider auch Petra Pau (fraktionslos): durch die Politik von Rot-Grün. Der Datenschutz ist zum (B) (D) Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Stiefkind des Schicksals geworden. Wer ein Handy be- Thema Informationsgesellschaft ist seit Jahren in aller nutzt, im Internet surft, sich im Auto navigieren lässt Munde. Jahr für Jahr wird deutlicher, welche großen oder durch den Gebrauch einer Kunden-Card auf Ra- Chancen, aber auch welche erheblichen Risiken damit batte hofft, hinterlässt Spuren, die eifrig gesammelt, ge- verbunden sind. Im Alltag sind Handy und Computer bündelt und auch vermarktet werden. Die nächste Gene- Marken- und Modezeichen dafür. Online-Banking und ration von „Schnüffelchips“ wird bereits millionenfach -Shopping nehmen zu. Selbst dort, wo die Bürger mit der produziert und ist in Erprobung. Diese werden nicht nur Bürokratie ringen, erspart das Internet zunehmend end- von tüchtigen Geschäftsleuten eingesetzt, sondern auch lose Behördengänge. All das zeigt die Chancen, die mo- von Staats wegen; davon war heute schon die Rede. Dar- dernen Kommunikationstechnologien innewohnen. über liest man aber nur sehr wenig im vorliegenden Ak- tionsprogramm „Informationsgesellschaft Deutschland (Hubertus Heil [SPD]: Aber?) 2006“. Weshalb eigentlich, Herr Minister? Zur hemmungslosen Euphorie gibt es allerdings kei- Ich rede im Übrigen nicht gegen den Chip. Ein Chip nen Grund. Auch das wird immer klarer. Drei Fakten an sich ist unschuldig. können das verdeutlichen. Erstens. Inzwischen verfügen 14 Prozent der Weltbevölkerung über einen Zugang zu (Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: modernen Kommunikationsmitteln und -netzen. Da- Sehr gut! – Hubertus Heil [SPD]: Kartoffel- von leben 79 Prozent in den OECD-Staaten. Anders ge- chip!) sagt: Die Mehrheit der Weltbevölkerung hat keinerlei Das Internet brauche ich für meine Arbeit genauso wie Zugang zu der modernen Welt, über die wir hier heute das Handy. Das macht mich aber nicht blauäugig gegen- Morgen reden. Zweitens. Von denen, die Zugang haben, über den Gefahren für die Gesellschaft wie für die De- werden vor allem SMS und E-Mail sowie das Internet mokratie. Gesellschaft und Demokratie ziehen nicht nur genutzt. Die Menge sagt aber noch nichts über die Quali- Nutzen, sie sind auch gefährdet, solange die Politik nicht tät der Kommunikation aus. Drittens. Die Zahl der Fir- ihre Hausaufgaben macht. men, die zum IT-Bereich zählen, hat zugenommen; mit ihnen aber auch die Zahl der Billigjobs. Dort, wo mo- Danke schön. derne Kommunikationsmittel angewandt werden, wer- den Arbeitsplätze weiter abgebaut. Selbst unmittelbar in (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [frak- der Telekommunikationsindustrie gibt es heute nur tionslos] – Jörg Tauss [SPD]: Das ist aber 4 Prozent mehr Arbeitsplätze als vor sechs Jahren. euphorisch da hinten! Mein lieber Mann!) 7722 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2004

(A) Präsident Wolfgang Thierse: Es lassen sich noch andere Beispiele nennen. General (C) Ich erteile das Wort dem Parlamentarischen Staatsse- Electric baut in Deutschland gerade ein neues For- kretär Christoph Matschie. schungs- und Entwicklungszentrum. Das sind, wie ich finde, sehr klare Belege dafür, dass dieses Land stark ist Christoph Matschie, Parl. Staatssekretär bei der und dass es gute Voraussetzungen für Forschung und Bundesministerin für Bildung und Forschung: Entwicklung bietet, auch in dem Bereich, über den wir heute diskutieren. Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, wer sich im Wettbewerb durchsetzen Frau Krogmann, wir haben uns nicht erst heute auf will, der braucht Mut und Selbstbewusstsein. Davon war den Weg gemacht; das ist Ihnen vielleicht entgangen. in Ihren Reden wenig zu spüren. Wer so jammert wie Das Thema Informationsgesellschaft haben wir schon im Sie, der sitzt zu Recht auf der Oppositionsbank. Rahmen des Programms „Innovation und Arbeitsplätze (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ in der Informationsgesellschaft im 21. Jahrhundert“ DIE GRÜNEN – Eckart von Klaeden [CDU/ 1999 aufgegriffen. Das Programm, das wir damals auf- CSU]: Jetzt kommt aber ein Feuerwerk!) gelegt haben, hat deutliche Erfolge erzielt; das sehen Sie an den Beispielen, die ich Ihnen genannt habe. Diesen Wir brauchen Mut und Selbstbewusstsein, um dieses Weg setzen wir mit dem neuen Aktionsprogramm „In- Land weiter voranbringen zu können und um zu errei- formationsgesellschaft Deutschland 2006“ fort. chen, dass wir uns im Wettbewerb durchsetzen. Von mir aus bedarf es auch der Fröhlichkeit, Herr Riesenhuber. Wir haben das Förderprogramm „IT-Forschung 2006“ Ich gebe Ihnen Recht: Sie kann nie schaden. Wenn Sie aufgelegt. In diesem Förderprogramm stellt die Bundes- dies erreichen wollen, haben Sie in der eigenen Fraktion regierung insgesamt 3 Milliarden Euro für Forschung aber noch viel vor sich. und Entwicklung zur Verfügung. Sie sehen: Wir kle- ckern in diesem Bereich nicht, sondern klotzen. Wir (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ bringen das Land voran. DIE GRÜNEN – Eckart von Klaeden [CDU/ CSU]: Unfreiwillige Komik hilft da auch nicht (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ weiter!) DIE GRÜNEN) Wenn man sich die Situation anschaut, dann muss Ein Beispiel aus diesem Programm will ich Ihnen man zu dem Schluss kommen, dass Deutschland trotz al- nennen, nämlich das Programm „Mobiles Internet“. ler Probleme, die es noch immer gibt, ein starkes Land Europa ist heute weltweit der größte Markt für Mobil- ist. Schließlich bedarf es der Stärke, um wie wir Export- kommunikation. Deutschland spielt dabei eine ganz (B) (D) weltmeister und um wie wir mit Abstand der bedeu- wichtige Rolle. Wir wollen diese Stärke Deutschlands tendste E-Commerce-Markt in Europa zu sein. Sie haben und Europas in diesem Bereich weiter ausbauen und ha- hier in Ihren Reden nur deutlich gemacht, was wir in die- ben deshalb eine Reihe von Projekten initiiert, beispiels- sem Land nicht schaffen. Wie konnte es uns aber gelin- weise um einen Standard für ein Gigabit-Wireless-LAN gen, dass beispielsweise AMD in Dresden eine Milliar- zu entwickeln oder um Chips für mobile Endgeräte der deninvestition tätigt und dort eine Chipfabrik baut? – nächsten Generation weiterzuentwickeln. (Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Weil wir eine starke Regierung in Sachsen haben!) Die Entwicklung von Standards für ein drahtloses Da- tennetz im Automobilbereich oder der Aufbau eines mo- Die Antwort lautet: Weil wir gut sind an diesem Standort bilen Wissenschaftsnetzes werden mit Forschungspro- und weil wir die Voraussetzungen in der Forschung und grammen gefördert. Das Fördervolumen dieser Projekte, Entwicklung geschaffen und ein Cluster aufgebaut ha- die ich Ihnen eben genannt habe, beträgt in der ersten ben. Es war diese Bundesregierung, die diese Entwick- Stufe 60 Millionen Euro. Wir packen die vor uns liegen- lung wesentlich vorangetrieben hat. den Aufgaben an und bringen Forschung und Entwick- lung auf diesem Gebiet weiter. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Peter Hintze [CDU/CSU]: Wir wissen aber auch: Innovation ist mehr als ein Das war eine richtige Frage, Herr Matschie!) technisches Problem und auch mehr als technischer Fort- Der Raum Dresden ist heute einer der bedeutendsten schritt. Es braucht Menschen, die mit dieser Technik um- Standorte für Mikroelektronik in Europa. gehen und diesen Fortschritt gestalten können. Deshalb diskutieren wir über Veränderungen in unserem Bil- (Peter Hintze [CDU/CSU]: Stimmt!) dungssystem. Wir haben die Debatte über die Weiter- – Sehen Sie! – Wir werden auf dem Weg der Förderung entwicklung der Schulen in Deutschland hier im Hause der Forschung, den wir eingeschlagen haben, weiterge- geführt. Sie haben sich anfangs gegen das von uns auf- hen. gelegte Programm zur Weiterentwicklung von Ganztags- angeboten gesperrt. Heute ist für alle klar: Solche Ganz- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des tagsangebote sind wichtig, um auch auf solchen neuen BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Eckart Feldern zusätzliche Bildungsangebote für Kinder und von Klaeden [CDU/CSU]: Wir wollen, dass Jugendliche zu machen und dazu beizutragen, dass es Thüringen Dresden folgt und nicht Frankfurt nicht zu einer digitalen Spaltung in der Gesellschaft an der Oder!) kommt. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2004 7723

Parl. Staatssekretär Christoph Matschie (A) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Präsident Wolfgang Thierse: (C) DIE GRÜNEN) Ich erteile Kollegen Georg Nüßlein, CDU/CSU-Frak- tion, das Wort. Alle Menschen müssen Zugang zu diesen neuen Medien haben und lernen, damit umzugehen und die Vorteile (Beifall bei der CDU/CSU) dieser neuen Technik zu nutzen. Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU): Wir diskutieren heute über die Weiterentwicklung un- Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und serer Hochschullandschaft. Auch hier stehen Sie auf der Herren! Herr Matschie, dass man in Ihrer Situation und Bremse. Sie suchen immer nur das Haar in der Suppe, für Ihr permanentes „Weiter so!“ Selbstbewusstsein und anstatt zu sagen: Lasst es uns in diesem Land gemeinsam Fröhlichkeit braucht, ist unbestritten. anpacken, lasst uns die Entwicklung vorantreiben und darüber diskutieren, wie unsere Hochschulen Spitze (Jörg Tauss [SPD]: Ja, dann verstreuen Sie werden können! jetzt mal und loben Sie uns! Aufbruch!) – Gerne. Der Einsatz der Informations- und Kommuni- (Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: In Ihrer kationstechnik bestimmt heute – das ist unbestritten – Suppe sind mehr Haare als Nudeln!) das gesellschaftliche und wirtschaftliche Leben in einer – Sie können sich gern darüber lustig machen. Auf diese Art und Weise, wie es sich selbst die Pioniere dieser Art und Weise wird sich unsere Hochschullandschaft Technik nicht vorstellen konnten. Der IBM-Gründer, aber nicht weiterentwickeln. Thomas Watson junior, ging zum Beispiel von einem weltweiten Bedarf von gerade einmal fünf Computern (Beifall bei der SPD) aus. Das zeigt uns, dass Innovation nicht planbar ist. Es zeigt uns aber auch, dass man sich über die technische Dies wird nur geschehen, wenn wir Ideen dafür entwi- Zukunft trotz allem durchaus programmatisch und offen ckeln, wie wir die Entwicklung hier voranbringen kön- Gedanken machen kann. Herr Tauss, damit Sie es hören, nen. ich lobe ich Sie jetzt: (Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Dann ent- (Beifall des Abg. Jörg Tauss [SPD]) wickeln Sie mal!) Insofern ist ein Aktionsprogramm wie das, welches nun vorliegt, prinzipiell zu begrüßen. Zu diesem Bildungsbereich gehören auch ganz spezi- fische Programme, durch die die Informationstechnolo- (Jörg Tauss [SPD]: Sehr gut!) gien in der Bildung stärker zur Anwendung kommen (B) Den Worten müssen dann aber auch Taten folgen. (D) können. Heute haben alle Schulen einen kostenfreien In- ternetzugang. Das ist unter dieser Bundesregierung ge- (Jörg Tauss [SPD]: Das ist wahr!) lungen. Als Sie noch am Ruder waren, haben Sie sich Taten braucht das Land mehr als Ihre Worte, Ihre Mega- überhaupt nicht dafür interessiert. perls und Ihr TAED-System für die Politik. (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Grietje (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Bettin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Dr. [FDP]) Bezogen auf die Bildungssoftware sind wir heute inter- Die Informations- und Telekommunikationstechnolo- national in einer führenden Position. Wir wollen diese gie war ein Quantensprung. Das kann man von dem vor- Position weiter ausbauen. Deshalb investieren wir mit- liegenden Programm nicht behaupten; zudem kommt es hilfe unseres Programms „Neue Medien in der Bildung“ reichlich spät. Um noch etwas Positives anzufügen: Es in die Forschung und Entwicklung. basiert auf dem, was unter der Regierung Kohl politisch angestoßen wurde, insbesondere der Liberalisierung des Wer sich anschaut, was in den letzten Jahren gelungen Telekommunikationsmarktes. ist, der sieht, dass Deutschland im Bereich der Informa- tions- und Kommunikationstechnologien im Aufbruch (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) ist. Wir haben eine erfolgreiche Kooperation von Wirt- Es drängt sich der Eindruck auf, dass viele der in dem schaft, Staat und Forschung etabliert. Beispiele wie die Programm genannten Ziele in der Hoffnung formuliert Initiative D21, die Deutsche Breitbandinitiative oder sind, dass die Wirtschaft sie aus eigener Kraft erreicht: auch die Initiative Digitaler Rundfunk stehen dafür. Ge- Internetzugang für 75 Prozent der Bevölkerung bis 2005, meinsam mit der Wirtschaft und der Forschung wollen die Breitbandnutzung in 50 Prozent aller Haushalte bis wir diesen Weg weitergehen. 2010 oder der UMTS-Dienstestart noch heuer. Jammern Sie weiter, wenn Sie wollen. Wir bringen Stichwort UMTS. Ich weiß, Sie können es vermutlich das Land inzwischen voran. nicht mehr hören, aber man muss ganz klar sehen, wie Aktionsprogramme und Aktionen dieser Regierung aus- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ einander driften. Herr Minister Clement, es ist zynisch, DIE GRÜNEN – Eckart von Klaeden [CDU/ von der Wirtschaft zu verlangen, es sei höchste Zeit – das CSU]: Ist die Rede zu Ende? – Weitere Zurufe haben Sie gesagt –, etwas zu tun. Der Finanzminister war von der CDU/CSU: Oh!) es doch, der der Wirtschaft bei dieser Versteigerung mit 7724 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2004

Dr. Georg Nüßlein (A) 51 Milliarden Euro eine riesige Last aufgebürdet hat, die Einerseits fordern Sie millionenteure Eliteunis, anderer- (C) die Umsetzung jetzt deutlich belastet und verzögert. seits kürzen Sie den Bildungs- und Forschungsetat. (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. (Jörg Tauss [SPD]: Falsch, falsch!) Dr. Karlheinz Guttmacher [FDP] – Jörg Tauss Einerseits kündigen Sie eine Innovationsoffensive an, [SPD]: Er stand nicht mit dem Revolver dane- zum Beispiel in der Mikro- und Nanotechnologie, der ben!) Bio- und Gentechnologie sowie in den Materialwissen- Das zeigt, dass man Innovationen zwar nicht staatlich schaften und der Energietechnologie, andererseits kür- verordnen, aber staatlich kaputtmachen kann. Gleiches zen Sie die Mittel in der Genomforschung um 17 Millio- gilt für Eliteuniversitäten. Innovation entsteht in den nen Euro, in der Nanotechnologie um 6 Millionen Euro Köpfen, genauso wie Elitewissen. und in der Produktionstechnologie um 1,2 Millionen Euro. Das ist rot-grüne Konsequenz. (Hubertus Heil [SPD]: Aber nicht automa- tisch!) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP) – Sie entstehen nicht automatisch, wie man an Ihnen Nun wollen Sie auch die Informations- und Telekommu- deutlich merkt. nikationsbranche in die so genannte Innovationsoffen- (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. sive einbeziehen. Den Delinquenten schwant sicher Dr. Karlheinz Guttmacher [FDP]) schon Böses. Sie sprechen von der Innovationsoffensive und halten an alten Kamellen fest. Vieles ist schon ange- Man braucht Motivation und fördernde Rahmenbedin- führt worden: keine betrieblichen Bündnisse für Arbeit, gungen. Dafür ist die Politik zuständig. In der Realität keine Flexibilisierung der Arbeitszeit, Ausbildungsplatz- aber kommt die TKG-Novelle, die in der Tat das Herz- abgabe und mit hoher Wahrscheinlichkeit keine große stück Ihres Aktionsprogramms zur Informationsgesell- Steuerreform bzw. keine weitreichenden Steuervereinfa- schaft darstellt und politisch umzusetzen ist, zu spät. chungen. (Klaus Brandner [SPD]: Worüber sprechen Sie (Hubertus Heil [SPD]: Thema verfehlt! jetzt? – Hubertus Heil [SPD]: Sie haben nicht Setzen! Sechs!) viel Ahnung!) Lassen Sie mich zum Thema E-Government kom- Die TKG-Novelle kommt sogar so spät, dass die EU ein men. Die Steuererklärung online abzugeben ist zwar Vertragsverletzungsverfahren einleitet. Die Unterneh- eine schöne Sache; Voraussetzung wäre aber, dass der (B) men hatten lange Zeit keine Rechts- und Planungssicher- Durchschnittsbürger überhaupt in der Lage ist, seine Er- (D) heit und es gibt noch eine ganze Reihe von unbestimm- klärung selbst – und sei es in Papierform – auszufüllen. ten Termini – das wissen Sie, Kollege Heil –, die es Das wäre innovativ. auszugestalten gilt. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Darüber hinaus besteht Diskussionsbedarf, wie wir ei- neten der FDP) nen innovationsfördernden Wettbewerb erreichen wol- Statt echter Innovation kommt ein Innovationsbeirat len, um das Monopol der Deutschen Telekom unum- nach dem anderen. Insgesamt hat dabei die ITK-Branche kehrbar zu brechen. noch Glück, weil sie als prinzipiell erwünscht in Deutschland eingestuft wird. Sonst sagen Sie von der Ich bitte die rot-grüne Mehrheit, über ein paar Punkte SPD immer, womit wir in Deutschland in Zukunft unser nachzudenken, die ich anführen möchte. Das Antrags- Geld nicht verdienen wollen. Jedenfalls lassen Sie sich recht für die Wettbewerber ist ein wesentlicher Ansatz- das von den Grünen diktieren. punkt, um die Verfahren zu beschleunigen; meine Vor- redner haben das bestätigt. Fakturierung und Inkasso aus (Jörg Tauss [SPD]: Was?) einer Hand dienen nicht nur dem Verbraucherschutz, sondern auch der Sicherung der Liquidität der Wettbe- Forschungsreaktoren, Kern- und Verteidigungstechnik, werber und der Aufrechterhaltung gut funktionierender Gentechnik, Chemie usw. – überall kann man Bedenken Geschäftsmodelle im Dienstleisterbereich. haben, was die Sicherheit angeht. Wir können aber die Frage, was wir in Zukunft machen wollen, nicht nur ne- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – gativ beantworten. Man muss die Frage – das ist die Hubertus Heil [SPD]: Wie heißt der Aus- Aufgabe einer Regierung – positiv beantworten: Womit kunftsdienst in Ihrem Wahlkreis? – Gegenruf wollen wir in Zukunft unser Geld verdienen? Womit des Abg. Volker Kauder [CDU/CSU]: Unheil, wollen wir vorankommen? Mit einem Dosenpfand zum seien Sie ruhig!) Wegwerfen, mit einer Maut, über die Österreich lacht, und mit einem Transrapid, der nur in China fährt, wer- Innovation bedingt Investitionen. Investiert wird aber den wir nicht weiterkommen. nur, wenn man kalkulieren kann. Man muss wissen, wie sich die Zukunft gestaltet. Genau das ist das Problem: ( [CDU/CSU]: Sehr wahr!) Ihre Politik ist nicht kalkulierbar. Das gilt für eine ganze Vielen Dank. Reihe Politikfelder. Ich möchte mich auf Bildung und Forschung beschränken, weil es zum Thema passt. (Beifall bei der CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2004 7725

(A) Präsident Wolfgang Thierse: guten Regierung, die sozialdemokratisch geführt ist, (C) Ich erteile das Wort Kollegen Jörg Tauss, SPD-Frak- sondern auch den Vorteil, dass die Grenzen von Kom- tion. mune und Land übereinstimmen. Dort wurden Standards gesetzt, die bundesweit übernommen werden können. (Beifall bei der SPD – Michael Glos [CDU/ Über 300 E-Government-Lösungen sind zwischenzeit- CSU]: Ei der Tauss!) lich aus dem Land Bremen und aus Nürnberg und Ess- lingen angeboten worden und werden von den Kommu- Jörg Tauss (SPD): nen genutzt. Es ist eine Legende, dass keine Standards Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich gesetzt wurden. Das stimmt nicht. glaube meinem Fraktionsvorsitzenden. Jemand, der den Zur Gruppe der PDS, deren Vertreterinnen leider Transrapid im Emsland 16 Jahre lang im Kreis hat fah- nicht mehr da sind: Die IT-Sicherheit ist einer der ganz ren lassen, sollte zu dem Thema nicht reden. wesentlichen Punkte. Lesen Sie das im Bericht nach! (Beifall bei der SPD) Die IT-Sicherheit ist ein Aspekt des Datenschutzes. Die Kollegin , die auf der Regierungsbank Platz ge- Einige Dinge sollten wir klarstellen. Erster Punkt. nommen hat, hat aus diesem Grund schon 1998 begon- Lieber Kollege Nüßlein, Sie haben über das TKG gere- nen, das Thema moderner Datenschutz systematisch für det und beklagt, dass dieses noch nicht umgesetzt sei. den Innenbereich zu bearbeiten. Das TKG ist – so haben wir es angekündigt – in einem sehr offenen und transparenten Prozess mit den Betroffe- Zur FDP sage ich nichts, nicht nur, weil Herr Brüderle nen diskutiert worden, was bei der Wirtschaft auf große gerade in ein Gespräch vertieft ist. Lieber Herr Brüderle, Zustimmung stieß. So stelle ich mir die Entstehung eines wir – ich als Badener und Sie als Pfälzer – können uns Gesetzes vor. Die Diskussionsphase dauert noch an. Sie hervorragend über Weine unterhalten; davon verstehen werden zur Beschlussfassung ein TKG auf den Tisch be- Sie sicherlich etwas. Von dem modernen Datenschutz kommen, das mit Sicherheit Ihr Gesetz um einiges ver- verstehen Sie aber weiß Gott nichts. bessert. Davon können Sie ausgehen. Die FDP hat sogar versucht, ein digitales Urheber- (Dr. Martina Krogmann [CDU/CSU]: Sie hät- recht zu verhindern. Sie wollten noch im vergangenen ten nur ein Jahr vorher anfangen müssen!) Jahr in den Schulen das, was auf dem Papier möglich ist, nämlich dass man eine Kopie fertigt, am Computer ver- Zweiter Punkt. Ich finde es ausgesprochen putzig, bieten. Sie haben sich am Zustandekommen des Geset- dass ausgerechnet jemand aus Bayern sich hier hin- zes noch nicht einmal beteiligt. An dieser Stelle muss ich stellt und über die Kürzungen bei Bildung und For- ausnahmsweise meinen Freunden von der CDU/CSU zur (B) schung jammert. Ich sage Ihnen: Wir haben den Etat Seite springen. (D) für Bildung und Forschung kontinuierlich erhöht. Zu Ihrer Zeit gab es überhaupt kein Genomforschungs- (Zuruf von der CDU/CSU: Keine Drohungen!) netz, Genomforschung fand zu Ihrer Regierungszeit Liebe Kolleginnen und Kollegen, ihr habt euch kon- nicht statt. Heute sind wir weltweit an der Spitze in die- struktiv beteiligt. Gemeinsam haben wir ein digitales Ur- sem Bereich, und zwar dank der Erlöse in Milliarden- heberrecht geschaffen, lieber Kollege Krings. Sie von höhe im Zusammenhang mit der Vergabe der UMTS- der FDP aber sind noch nicht einmal zu den Beratungen Lizenzen, die wir – das sage ich, um einer Legendenbil- gekommen. dung entgegenzuwirken – auch in diesen Bereich inves- tiert haben. Ihr Kollege Hartmann hat völlig Recht, Herr Brüderle: Die FDP muss endlich aufwachen. Der Kol- (Beifall bei der SPD) lege Kubicki hat festgestellt, dass Sie ein nicht ernst zu Apropos UMTS: Ich kann mich nicht erinnern, dass nehmendes politisches Leichtgewicht geworden sind. Karl Diller, den ich hier sitzen sehe, die Anbieter mit Das ist die einzige Beschreibung, die auf Ihren Verein dem Revolver bedroht hat, als es um die Vergabe der zutrifft. Lassen wir das bei dieser Gelegenheit auf sich UMTS-Lizenzen ging. Natürlich hat der Finanzminister beruhen. das Geld gerne genommen. Aber wenn hoch bezahlte (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Volker Beck Vorstände sich an dieser Versteigerung ohne einen Busi- [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) nessplan in der Tasche beteiligen, dann dürfen Sie das nicht dem Finanzminister vorwerfen. Mit dem Geld, das Jetzt erst komme ich zum eigentlichen Thema meiner die Firmen bezahlt haben, haben wir zumindest vernünf- Rede, aber der Präsident hat mir noch einige Minuten tige Politik in den Bereichen Bildung und Forschung und Redezeit gewährt. Verkehrsinfrastruktur gemacht. Das andere ist nicht un- (Lachen bei der CDU/CSU – Dr. Karlheinz ser, sondern deren Bier. Guttmacher [FDP]: Schade um die Zeit!) (Beifall bei der SPD) – Mir bleiben drei Minuten und 14 Sekunden, die ich auch nutzen werde. Dritter Punkt. Liebe Kollegin Krogmann, Sie irren, wenn Sie sagen, dass MEDIA@Komm keine Standards Wir diskutieren heute nicht zum ersten Mal über die hervorgebracht hätte. Ich weiß gar nicht, wie Sie darauf globale Informationsgesellschaft. Vielmehr hat die kommen. MEDIA@Komm gibt es in Bremen, Nürnberg Bundesregierung dieses Thema kontinuierlich vorange- und Esslingen. Bremen hat nicht nur den Vorteil einer bracht und mit dem Aktionsprogramm „Informationsge- 7726 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2004

Jörg Tauss (A) sellschaft Deutschland 2006“ sind viele Ihrer Versäum- ministerium im Bereich E-Government Unglaubliches (C) nisse zwischenzeitlich korrigiert worden. Sie haben geleistet. Dafür ist ihr zu danken. Sie hat Deutschland in durchaus Recht, Herr Riesenhuber: Auch mir reicht der diesem Bereich vorangebracht. von uns erreichte Platz 10 nicht aus. Gestartet sind wir aber von Platz 17, den wir von Ihnen übernommen ha- (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Volker Beck ben. Von dieser Position aus haben wir uns bis heute auf [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) den zehnten Platz vorgearbeitet. Ich bin aber erst dann Wären Sie in den Ländern nur einigermaßen vergleich- zufrieden, wenn wir den ersten Platz erreicht haben. Das bar nachgezogen, dann sähe unsere Position um einiges ist völlig klar. besser aus. (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Volker Beck Wir müssen allerdings noch einiges mehr tun. Dazu [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) gehört beispielsweise – das wurde auch kürzlich auf un- In diesem Punkt finden wir vielleicht zueinander. serer Klausurtagung angesprochen – der Bereich Daten- schutz. An dieser Stelle könnten wir zueinander finden, Wir wollen uns nicht auf dem bisher Erreichten ausru- Herr Riesenhuber. Das wäre eine Innovation, die keine hen. Wenn Sie feststellen, dass die Entwicklung wieder Mehrkosten verursacht. Mit einem modernen Daten- ein bisschen rückläufig ist, dann will ich Ihnen auch die schutz, in dessen Mittelpunkt die Technik steht – Daten- Gründe dafür nennen. Gelegentlich gewinnen Sie die schutz und IT-Sicherheit durch Technik! –, ließe sich eine oder andere Landtagswahl; das ärgert uns sehr. Mit viel erreichen. Wir könnten – da sollte uns das Ministe- jedem Land, das Sie regieren, gehen wir wieder ein paar rium behilflich sein – Milliardenmärkte für Deutschland Schritte zurück. Das ist unser Problem. Würde nur der erschließen; denn dieser Bereich käme dem Sicherheits- Bund in der Statistik berücksichtigt, lägen wir längst an bedürfnis der Deutschen, das uns im Vergleich zur Risi- der Spitze. Beim E-Government sind wir europäische kofreude der Amerikaner oft vorgeworfen wird, entge- Spitze gen. Dieses Grundbedürfnis der Deutschen, das uns so (Beifall bei der SPD) oft blockiert, könnte in der Kombination mit moderner Technik hier einmal neue Milliardenmärkte öffnen. Da- und auch den globalen Vergleich brauchen wir, so glaube rüber müssen wir reden und an diese Bereiche müssen ich, nicht zu scheuen. Das sollte der Gerechtigkeit und wir herangehen. der Korrektheit halber auch erwähnt werden. Die rote Lampe leuchtet auf. Deshalb erlauben Sie Lassen Sie mich einige Anmerkungen zum Thema nur noch einige Stichworte zum Schluss. Bildung und Forschung machen. Seit dem Jahr 2001 ist (B) jede Schule in Deutschland online. Ich denke, das reicht (Dr. Karlheinz Guttmacher [FDP]: Das reicht, (D) aber nicht aus. In vielen Schulen ist leider immer noch Herr Tauss!) nur der Rektor online, während die Schülerinnen und Schüler keinen ausreichenden Zugang zum Internet ha- Zur Informationsgesellschaft gehört, dass nicht desin- ben. In vielen Bereichen in Ihrer Verantwortung, insbe- formiert wird. Es ist über Fröhlichkeit gesprochen wor- sondere in den Ländern, besteht auch noch hinsichtlich den. Was haben Sie nicht alles über dieses Land er- der Inhalte Handlungsbedarf. Ich sehe, dass die Bundes- zählt: Sie haben festgestellt, dass wir die höchste ratsbank einigermaßen gut besetzt ist. Schreiben Sie sich Arbeitslosenquote haben. Die Arbeitslosenquote ist alles auf! Es geht um Inhalte, Frau Schipanski. Reden al- zwar in der Tat hoch, aber der Höchststand lag in Ihrer leine reicht nicht; jetzt müsst ihr in den Ländern ein biss- Regierungszeit. Sie haben festgestellt, die Staatsschul- chen was tun. den hätten einen Höchststand erreicht. Nein, die höchs- ten Staatsschulden haben Sie gemacht. Sie haben be- (Widerspruch der Ministerin Dr. Dagmar fürchtet, der Euro werde weich. Heute müssen wir uns Schipanski [Thüringen]) Sorgen darüber machen, dass der Euro zu stark wird. Wer wie Sie in einen Wettbewerb mit anderen eintreten Für die technische Infrastruktur haben wir einiges getan. will, in dem es darum geht, Deutschland mies zu ma- Ich freue mich, dass Sie hier sind. Wenn es um das chen, der sollte mit dem Finger nicht auf andere, son- Thema Bildung geht, ist die Bundesratsbank sonst nicht dern auf sich selbst zeigen. Das kann man auch von je- so gut besetzt. mandem erwarten, dessen Inhalte auf einen Bierfilz Wir wollen den Bereich neuer Medien zum Bildungs- passen. Das ist der Punkt, über den parallel diskutiert alltag machen. Bildung heißt in diesem Zusammenhang werden muss. Chancengleichheit, barrierefreier Zugang zum Internet und Medienkompetenz für die Kinder, um sich in der Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag. neuen Welt der Informationsgesellschaft zurechtfinden (Beifall bei der SPD) zu können. Ich komme zum E-Government. Liebe Kollegin Präsident Wolfgang Thierse: Krogmann, ich habe Ihnen dazu schon einiges gesagt. Ich schließe die Aussprache. Frau Ministerin Zypries, die leider nicht mehr im Saal ist – jetzt sitzt Staatssekretär Hartenbach auf der Regie- Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf rungsbank –, muss an dieser Stelle ausdrücklich gelobt Drucksache 15/2315 an die in der Tagesordnung aufge- werden. Sie hat seinerzeit als Staatssekretärin im Innen- führten Ausschüsse sowie an den Innenausschuss vorge- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2004 7727

Präsident Wolfgang Thierse (A) schlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Ulrike (C) Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Flach, Christoph Hartmann (Homburg), Cornelia Pieper, weiteren Abgeordneten und der Fraktion Ich rufe Tagesordnungspunkte 4 a und 4 b sowie Zu- der FDP eingebrachten Entwurfs eines Siebten satzpunkte 1 a und 1 b auf: Gesetzes zur Änderung des Hochschulrah- 4 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten mengesetzes (7. HRGÄndG) Katherina Reiche, Thomas Rachel, Dr. Maria – Drucksache 15/2402 – Böhmer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion Überweisungsvorschlag: der CDU/CSU Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung (f) Perspektiven schaffen für das Jahr der Tech- Innenausschuss nik 2004 Rechtsausschuss Finanzausschuss – Drucksache 15/2161 – Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Bildung, Forschung und Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Technikfolgenabschätzung (f) Ausschuss für Kultur und Medien Rechtsausschuss Haushaltsausschuss Finanzausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Haushaltsausschuss die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- richts des Ausschusses für Bildung, Forschung Ich eröffne die Aussprache und erteile der Kollegin und Technikfolgenabschätzung (17. Ausschuss) Katherina Reiche, CDU/CSU-Fraktion, das Wort. (Beifall bei der CDU/CSU) – zu dem Antrag der Abgeordneten Michael Kretschmer, Katherina Reiche, Thomas Rachel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der Katherina Reiche (CDU/CSU): CDU/CSU Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Deutsch- land ist im Stimmungstief und bei der SPD haben Verhei- Die Innovationskraft Deutschlands stär- ßungsparolen Konjunktur. Die letzte war die Eliteuni. ken – Zukunftschancen durch moderne For- Meine Damen und Herren von der Regierung, ich würde schungsförderung eröffnen mich freuen, wenn Sie sich wieder einmal auf den alten (B) (D) – zu dem Antrag der Abgeordneten Ulrike Goethe besinnen würden: „Die Macht soll handeln, nicht Flach, Cornelia Pieper, (Münster), reden.“ Ich möchte so gerne glauben, dass Sie die Geröll- weiterer Abgeordneter und der Fraktion der halden des ideologischen Widerstands gegen Fortschritt, FDP Leistung und Wettbewerb beseitigen wollen. Bei Herrn Matschie gibt es durchaus lichte Momente, zum Beispiel Aktionsplan für freie, effiziente und innova- dann, wenn er wie gestern die Abschaffung der ZVS for- tive Forschung dert oder sich für die Einführung von Studiengebühren stark macht. Nur, dann wird er ins Ministerbüro bestellt, – Drucksachen 15/1696, 15/1932, 15/2383 – muss Abbitte leisten und alles verharrt im Stillstand. Berichterstattung: Die technologische Dienstleistungsbilanz ist negativ. Abgeordnete Jörg Tauss Tausende junger Wissenschaftler verlassen das Land. In- Michael Kretschmer, novative Branchen brechen weg oder entstehen erst gar Hans-Josef Fell nicht. Der Gegenwartskonsum steigt und die Zukunftsin- Ulrike Flach vestitionen sinken. Gerade erst sind 80 Millionen Euro ZP 1a)Erste Beratung des von den Abgeordneten aus dem BMBF-Haushalt in die Rentenkasse transferiert Katherina Reiche, Dr. Maria Böhmer, Thomas worden. Rachel, weiteren Abgeordneten und der Fraktion (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Kassandra!) Siebten Gesetzes zur Änderung des Hoch- schulrahmengesetzes (7. HRGÄndG) Das Schiff Deutschland ist in einer Schräglage. Der Ka- pitän wirft derzeit allen Ballast über Bord, was damit en- – Drucksache 15/2385 – det, dass alles weg ist, was noch gut gebraucht werden Überweisungsvorschlag: könnte, und ergibt sich dann dem Schicksal. Überall Ausschuss für Bildung, Forschung und werden Mittel über Bord geworfen, zum Beispiel bei den Technikfolgenabschätzung (f) Zukunftstechnologien und bei den Hochschulen. Sie Innenausschuss starten Kampagnen ohne Substanz und produzieren fixe Rechtsausschuss Finanzausschuss Ideen – Innovation als Placebo! Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Kultur und Medien Das haben Sie hoffentlich nicht selber ge- Haushaltsausschuss schrieben, was Sie da vortragen!) 7728 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2004

Katherina Reiche (A) Kampagne Nummer eins, die Eliteuni: Erst ging es (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zu- (C) nur um eine Eliteuniversität. Dann waren es zehn und ruf von der CDU: Ratlos!) nun sind es vier bis sechs Eliteuniversitäten. Erst sollten Kampagne Nummer vier: Neuordnung der For- sie verordnet und jetzt über eine Art Preisausschreiben schungslandschaft. Die Idee ist, die Forschung beim gesucht werden. Der Preis beträgt 5 mal 50 Millionen Bund zu konzentrieren und die Grundlast für den Hoch- Euro für die deutschen Harvards. Woher das Geld kom- schulbau den Ländern zuzuweisen. Frau Bulmahn, Sie men soll, weiß niemand, auf keinen Fall von Herrn stehen mit Ihren Ideen ziemlich allein da. Eichel, wie er gestern über die Presse mitteilen ließ. (Jörg Tauss [SPD]: Das fordern Sie in der Fö- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) deralismuskommission! Ist die Forderung erle- Bislang passte Elite zur SPD wie Atomkraft zu den digt?) Grünen. Hervorragende Hochschulen können nicht ver- Die SPD-Wissenschaftsminister und die Forschungsor- ordnet werden. Sie müssen sich im freien Wettbewerb ganisationen haben sich prompt gewehrt. entwickeln können. Dafür brauchen die deutschen Uni- versitäten vor allem eines: Freiheit – Was brauchen wir wirklich? (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Erstens: Hochschulen in Freiheit, im Wettbewerb und in eigener Verantwortung. Wir legen Ihnen heute eine Freiheit, über ihr eigenes Geld zu verfügen, Freiheit, die Novelle des Hochschulrahmengesetzes vor. Das ist ein Balance zwischen Forschung und Lehre zu finden, Frei- Lackmustest für Sie; Sie können hier beweisen, wie heit, ihr Profil im Wettbewerb zu finden, Freiheit, sich ernst sie es mit einer Eliteuniversität tatsächlich meinen. die Studenten auszusuchen, sowie Freiheit für Auftrags- forschung und Kooperation mit der Industrie. Sie ver- Der ehemalige Präsident der HRK Professor Roellecke weigern jedoch den Hochschulen zum Beispiel, sich die hat einmal gesagt: qualifiziertesten Bewerber auszusuchen. Sie streichen Jede Organisation entscheidet über die Aufnahme im Haushalt 2004 135 Millionen Euro für den Hoch- ihrer Mitglieder. Davon gibt es zwei Ausnahmen: schulbau. Sie sperren sich gegen die Einführung von die Gefängnisse und die Universitäten. Studienbeiträgen und gängeln die Hochschulen mit der Regeleinführung der Juniorprofessur und der De-facto- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Abschaffung der Habilitation. Seit fünf Jahren kündigen Ohne Selbstauswahl wird es keinen echten Wettbewerb Sie zudem an, das starre BAT-Gefüge zu lockern. Aber zwischen den Hochschulen geben. Studenten sollen dort- nichts passiert. Größer kann die Kluft zwischen Ankün- hin gehen, wo sie die beste Forschung, die beste Lehre digung und Realität nicht sein. (B) und die beste Betreuung finden. Unser heutiges Angebot (D) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) an Sie ist auch ein Kompromiss, weil wir die Selbstaus- wahl stufenweise ermöglichen wollen. Harvard ist nicht als Eliteuni gebaut worden. Sie hat sich vielmehr durch Exzellenz, Konkurrenz und Freiheit für (Vorsitz: Vizepräsident Dr. ) Experimente zu einer solchen entwickelt. Zweitens. Das Verbot von Studiengebühren muss Kampagne Nummer zwei, mehr Geld für For- fallen. schung: Tatsache ist, dass der Haushalt 2004 um satte (Beifall bei der CDU/CSU) 0,25 Milliarden Euro sinkt. Der UMTS-Mittelfluss ist versiegt. Wir haben Sie vor dem kurzsichtigen Einsatz Es führt über kurz oder lang kein Weg daran vorbei. Ein dieser Mittel gewarnt; denn Forschung braucht langfris- Studium ist immer eine persönliche Investition in die tige Planungssicherheit. Aber es ist ja nicht so, dass der Zukunft. Selbst Fritz Kuhn sagte: Regierung keine Finanzierungsquellen einfielen. Herr Kindergartenplätze … kosten hohe Gebühren, … Clement will die Autobahnen privatisieren. Andere wol- Gleichzeitig sind akademische Studien gebühren- len die Goldreserven verkaufen. Die SPD-Linke will die frei, … Diesen Widerspruch kann mir niemand er- Erbschaftsteuer zugunsten der Forschung erhöhen. klären. (Thomas Rachel [CDU/CSU]: Chaos!) Auch wir können ihn nicht erklären. Studiengebühren Tanken für die Rente, Rauchen für die Sicherheit und werden gebraucht, nicht um die Hochschulen maßgeb- jetzt – das ist etwas Neues – Sterben für die Zukunft. lich zu finanzieren, sondern um einen Beitrag zu Effi- zienz und Wettbewerb zu leisten. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU – Jörg Tauss [SPD]: Kampagne Nummer drei: Innovationsrat. An Räten Keine Tabaksteuer, aber eine Studentensteuer! und Beiräten hat es nun wirklich nicht gemangelt. Im Das passt nicht zusammen! – Dr. Angela Bundesforschungsministerium existierte ein solcher Zir- Merkel [CDU/CSU]: Guter Mann, der Kuhn!) kel; wir haben nie etwas von Ergebnissen gehört. Richtig schädlich sind solche Treffen nicht; schädlich ist die Drittens. Habilitation und Juniorprofessur müssen Vorstellung, sie könnten irgendwie nützlich sein. Man nebeneinander bestehen bleiben. Hierbei ist die Wahl- wird das Gefühl nicht los, dass bei der SPD das Wort freiheit auf der Ebene der Fakultäten notwendig. Die „Räte“ von „raten“ kommt: Was können wir morgen amerikanischen Universitäten sind deshalb so gut, weil tun? sie „Lehre aus Forschung“ betreiben. Wir brauchen des- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2004 7729

Katherina Reiche (A) halb wieder mehr Forschung an den Hochschulen. Das glaube, dass dieser Aufschlag eine Chance für die Festi- (C) muss über gemeinsame Berufungen und Projekte zwi- gung der Reformpolitik und für unser Land ist. schen Universität und außeruniversitärer Forschung hi- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des nausgehen. BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Jörg Tauss [SPD]: Das Konzept kommt von Ich sehe, dass der Aufschlag, der dagegen jetzt von Ih- Frau Bulmahn!) nen gemacht wird, wieder nur Skandalisierung und Dop- Das schaffen wir nicht, wenn der Bund für die For- pelbödigkeit ist. Daher befürchte ich, dass wir diese schung und die Länder für die Hochschulen verantwort- Chance nicht so nutzen, wie wir sie nutzen könnten und lich sind. müssten. Das ist ein Problem. Vor allem aber brauchen wir innovationsfreundliche (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Rahmenbedingungen. Ständig kommen neue Wachs- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) tumsbremsen hinzu: Die Biopatentrichtlinie wurde nicht Sie glauben doch nicht im Ernst, dass ein Land zu Inno- umgesetzt. Wenn es mit der EU-Chemikalienpolitik so vationen fähig ist, wenn wir nicht ein Mindestmaß an weitergeht und Sie auf europäischer Ebene nichts tun, Berechenbarkeit und Sicherheit schaffen. Wenn aber al- wird die chemische Industrie in Deutschland kaputtge- les skandalisiert und jede Kleinigkeit zur Staatskatastro- hen. Wenn die Zulassung eines neuen Fotolacks für die phe gemacht wird, wie sollen dann die Menschen Ver- Chipherstellung künftig sechs Monate dauert, dann hinkt trauen in die Zukunft gewinnen? Das ist doch nicht die deutsche Industrie Produktionszyklen schlichtweg möglich. hinterher. Die ideologischen Scheuklappen werden auch nicht weniger: Herr Trittin möchte am liebsten die (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Atomtechnik in China verbieten; Frau Künast nutzt die Grüne Woche für einen Feldzug gegen die Gentechnik. Sie sind deshalb die größte Innovationsbremse. Ich bitte Sie wirklich zu begreifen: Alle erfolgreichen Epochen in Wir müssen uns deshalb – viertens – um die Stim- der Bundesrepublik waren auch mit einem Mindestmaß mung in der Bevölkerung kümmern. Hubert Markl hat an Sicherheit, Klarheit und Orientierung verbunden und es einmal so ausgedrückt: nicht mit dem Niederreden und dem Kaputtmachen jeder Die deutsche Gesellschaft liebt die Wissenschaft neuen Idee. Wir wollen Innovationen durchsetzen, und geradezu, so lange nichts dabei herauskommt, was Sie können sicher sein, dass wir uns davon auch nicht gewohnte Verhältnisse radikal verändern könnte. abbringen lassen werden. (B) Aber genau das müssen wir den Menschen sagen: Es Innovationen bedeuten nicht, dass wir jetzt die (D) muss Veränderungen geben. Wie lange haben wir über Agenda 2010 beenden. Ganz im Gegenteil: Sie gehört Informationstechnik und Multimedia geredet? Heute ist entscheidend dazu. Die Anstrengungen, die wir jetzt un- klar – diese Debatte wurde gerade geführt –: Die Natio- ternehmen, beinhalten eine Doppelaufgabe. Auf der ei- nen, die früh darauf gesetzt hatten, hatten im vergange- nen Seite holen wir Reformen nach, die viele andere nen Jahrzehnt die höchsten Wachstumsraten. Während Länder in den 90er-Jahren, als Sie an der Regierung wa- die Deutschen über die Schädlichkeit von gentechni- ren, durchgeführt haben. Dänemark, Niederlande, die schem Insulin diskutierten, produzierten es andere Staa- anderen skandinavischen Länder und Großbritannien ha- ben diese Reformen begonnen, als hier in der Bundesre- ten. Der Transrapid fährt in China; das ist eine Schande. publik die Regierung nicht einmal darüber redete. Ich prophezeie Ihnen: Andere Länder werden die grüne Gentechnik zur Herstellung von Pharmaka und allergen- (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: freien Lebensmitteln nutzen und wir werden, wenn Sie So war das! Genau!) noch lange regieren, die Lizenzgebühren zahlen. Diese Länder haben damals die Reformen unter günsti- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) gen wirtschaftlichen Bedingungen durchgeführt; wir müssen das heute unter schwierigen wirtschaftlichen Be- Es ist die Aufgabe politischer Führung, den Men- dingungen tun. Aber wir sind dazu bereit, und zwar nicht schen Mut zu machen, Optimismus und Offenheit zu weil wir den Menschen Lasten aufbürden wollen, son- zeigen und Innovation als Chance zu begreifen. Tun Sie dern weil Reformen eine Voraussetzung für wieder mehr das endlich, aus Verantwortung diesem Land gegenüber! politische, ökonomische und gesellschaftliche Hand- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) lungsfähigkeit sind. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Ich erteile das Wort dem Kollegen Michael Müller, Wir sehen deshalb einen engen Zusammenhang mit der SPD-Fraktion. jetzt beginnenden zweiten Epoche, mit der Gestaltung einer neuen Phase unserer Entwicklung, der Gestaltung Michael Müller (Düsseldorf) (SPD): der Globalisierung. Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Meine Damen und Herren, wenn man die derzeitigen Herren! Mit dem Anfang dieses Jahres haben wir begon- Erkenntnisse der Wissenschaft und die Management- nen, das Thema Innovationen ins Zentrum zu rücken. Ich theorien nachvollzieht, stellt man fest: Dort wird die 7730 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2004

Michael Müller (Düsseldorf) (A) entscheidende Position vertreten, dass heute nicht mehr scheidende Problem – mit den deutschen und europäi- (C) die einseitige Ausrichtung auf ein „kapitalorientiertes schen Sozialbedingungen nicht in Einklang zu bringen Management“ das wirtschaftliche Leben und auch die ist. Das geht einfach nicht. sozialen Systeme bestimmt, wie es in den letzten zehn bis 15 Jahren der Fall war. Das ist vorbei. Wir treten in (Beifall bei der SPD – eine neue Phase ein, in der, wie es beispielsweise die re- [SPD]: Aber in Einklang gebracht werden nommierte Londoner Business School sagt, wieder die soll!) „Ressource Mensch“ im Zentrum steht. Das amerikanische Modell beispielsweise ist für sich In den letzten zehn bis 15 Jahren stand eher ein Mo- genommen völlig logisch. Aber die Kurzfristigkeit in dell der Kurzfristigkeit und der schnellen Kapitalver- diesem System, die Finanzierungsausrichtung dieses mehrung im Zentrum. Diese Phase ist vorbei. Wir haben Systems, die Ranking-Methoden können nicht mit dem große Chancen, das europäische Gesellschaftsmodell in Einklang gebracht werden, was die europäische wieder nach vorne zu bringen, weil es in der neuen Stärke ist: der Interessenausgleich, die Fähigkeit zur Zu- Phase wieder auf Teamfähigkeit, Kreativität, soziale sammenarbeit, die langfristigen Innovationsketten. Kompetenz und intelligente Vernetzung ankommt. All Jetzt haben wir am Beginn einer neuen Epoche wie- das sind Fähigkeiten, die wir in der Bundesrepublik ha- der unsere Stärken zu zeigen. Deshalb bitte ich Sie, diese ben und die wir jetzt nutzen werden und nutzen wollen. Phase der Innovationspolitik als Chance zu begreifen, Bitte zerreden Sie das nicht. Das wird unsere Stärke in wieder gesellschaftlichen Konsens, mehr Integration, der Zukunft werden. mehr Beschäftigung, mehr soziale Stabilität und vor al- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des lem mehr Chancen für alle Menschen zu erreichen. BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Fritz Meine Damen und Herren, eine geschichtliche Be- Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) wertung dessen, warum wir in der Vergangenheit Stabili- Nur so wird es funktionieren. Es ist eine Illusion, zu tät in der Bundesrepublik hatten, zeigt: Stabilität hatten glauben, wir bekommen Reformen durch, wenn die wir immer, wenn wir Innovationen und technologische Menschen verunsichert sind. Die Menschen brauchen Entwicklungen mit sozialer Entwicklung und gesell- eine klare Zukunftsperspektive. Diese können wir mit schaftlichem Fortschritt zusammengebracht haben, nur dem Thema Innovation geben. in diesem Zusammenhang. Plattitüden helfen da nicht weiter, sondern es muss eine Integration zwischen ge- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) sellschaftlicher Entwicklung und technisch-ökonomi- Herr Riesenhuber – ich weiß gar nicht, ob er noch im (B) scher Entwicklung geben. Saal ist –, in der Frage der Effizienzrevolution bei- (D) (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des spielsweise bin ich völlig auf Ihrer Seite. BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Nach dem Krieg hatten wir zuerst die Phase der Sozia- Natürlich ist es ein richtiger Weg, in der Zukunft die len Marktwirtschaft. „Wohlstand für alle“ war nicht der Produktivität und den technischen Fortschritt vor allem Glaube, man könne nur mit ökonomischer Verengung et- auf eine Entwicklung zu lenken, die weniger Ressourcen was erreichen. Es gab vielmehr einen sozialen Grund- und weniger Energie verbraucht. Wenn wir das tun, ma- konsens, der die Bundesrepublik zu vielen Innovationen, chen wir aber leider die Erfahrung, dass wir Widerstand zu großen Leistungen und zu hervorragenden Ergebnis- gerade von Ihnen bekommen. Das ist doch die Realität sen gebracht hat. Das war die erste Phase. in dieser Frage. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des (Beifall bei der SPD sowie des Abg. BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Dr. Reinhard Loske [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Ende der 60er-Jahre gab es eine zweite Phase, die NEN]) Phase „Mehr Demokratie wagen“ mit inneren Reformen. Das Gleiche gilt, wenn Sie sich hier hinstellen und Auch in dieser Phase war die wirtschaftlich-technische fordern: mehr Mittel für Forschung und Bildung. – Na- Leistungsfähigkeit mit gesellschaftlichem Fortschritt türlich wollen auch wir das und tun es. – Bitte sagen Sie verbunden. Leider ist diese Grundphilosophie in den das aber auch den von Ihnen regierten Ländern! Über- 80er-Jahren nicht mehr fortentwickelt worden. wiegend ist das eine Bund-Länder-Aufgabe, bei der die (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Mehrheit von den Ländern getragen wird. Bitte sagen BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Sie es ihnen! Es ist ja richtig und wir wollen es auch. Das ist ein Kern unserer heutigen Probleme. In den (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr. Reinhard 80er- und speziell in den 90er-Jahren hat es nicht den Loske [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Zusammenhang zwischen wirtschaftlich-technischer Was die Bildungspolitik angeht, so warnen wir davor, Entwicklung und gesellschaftlichem Fortschritt gege- nur Spitzenuniversitäten zu schaffen, so wichtig sie ben. Sie haben auf die neuen Herausforderungen keine auch sind; ich bin sehr dafür. Wir müssen vielmehr Antworten gegeben. Mit der Globalisierung wurde es Spitze mit Breite verbinden. noch schärfer, weil Sie sich im Kern nur einem ökono- mischen Modell angepasst haben, das – das ist das ent- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2004 7731

Michael Müller (Düsseldorf) (A) Die große Stärke Europas ist, in der Breite viel stärker „Brain up!“ – das war so innovativ, dass nur noch ein (C) als beispielsweise Amerika zu sein. Wenn wir dies mit Bruchteil der Bevölkerung verstand, was das überhaupt mehr Spitze verbänden, würde uns das einen unglaubli- heißen soll. Sie geben jeden Tag in Ihren Reden neue chen Vorteil bringen. Tun wir es! Tun wir es, weil es Millionenbeträge aus, ohne auch nur einen Bruchteil da- richtig ist, meine Damen und Herren! von in den Haushalt eingestellt zu haben. Innovation, liebe Kollegen von SPD und Grünen, ist bei Ihnen medi- Zum Abschluss will ich ein Beispiel schildern. Ich aler Verkauf von Luftschlössern. Innovation bei der FDP war vor einiger Zeit bei Bosch. Da sagte der Forschungs- ist Reform veralteter Strukturen, Wettbewerb mit dem chef: Vor fünf Jahren habe ich auf die Umweltpolitiker klaren Ziel, dieses Land nach vorne zu bringen, und geschimpft. Heute bin ich dankbar dafür, dass es sie gibt. Freiheit für Wissenschaft und Forschung. Nur dadurch haben wir mehr Gelder investiert, beispiels- weise in moderne Antriebstechniken. Nur dadurch haben (Beifall bei der FDP – Jörg Tauss [SPD]: Die wir beispielsweise beim TDI, bei den Common-Rail- FDP muss aufwachen!) Systemen und Ähnlichem Fortschritte gemacht. – Die Gesellschaft muss Druck für Forschung und Innovation Ich möchte Ihnen an drei Beispielen vorführen, wie machen. Sie muss sagen, dass sie das will. Wir brauchen sich Ihre Vorstellung von Innovation von unserer unter- diese Innovationskultur. Sie fällt nicht vom Himmel. Sie scheidet, lieber Herr Tauss: wird auch nicht dadurch ausgelöst, dass man immer wie- Beispiel Elitehochschulen. Zu Beginn dieses Jahres der sagt: Der Markt regelt alles. – Nein, der Markt ist im- – Frau Reiche hat schon darauf hingewiesen – kamen mer kurzfristiger geworden. Deshalb brauchen wir politi- der Kanzler, Herr Scholz und Frau Bulmahn mit ihrer sche Rahmensetzungen und gesellschaftlichen Konsens. Forderung, zehn Elitehochschulen – zehn Harvards, (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Yales oder Oxfords in Deutschland – zu gründen. Ich des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) finde allein schon die Reihenfolge der Personen interes- sant. Bei dem Thema Innovation geht es um die Zukunft un- serer Gesellschaft, um die Frage, wie wir Nachhaltigkeit, (Dr. [CDU/CSU]: soziale Sicherheit und mehr Beschäftigung erreichen. Wer ist denn Scholz?) Deshalb sollten wir in der Diskussion nicht mit gegensei- Dann ist Ihnen aufgefallen, dass diese Hochschulen tigen Unterstellungen, gegenseitigen Diffamierungen und Etats von rund 2 Milliarden Euro haben. Selbst wenn bloßer Destruktion arbeiten, sondern wir sollten einen man annimmt, dass sich die Wirtschaft engagieren und Wettbewerb der Ideen und der Kreativität entfalten. Das zwei Drittel der Etats tragen würde – Studiengebühren muss unsere Aufgabe sein. (B) schließen Sie ja nach wie vor aus –, müssten Sie unge- (D) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten fähr 800 Millionen Euro pro Hochschule rechnen, also des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) 8 Milliarden. Das ist aber Ihr derzeitiger Gesamtetat, Frau Bulmahn. Das ist also nicht realistisch. Hierbei handelt es sich um ein Wolkenkuckucksheim in Hochpo- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: tenz. Das Wort hat nun die Kollegin Ulrike Flach, FDP- Fraktion. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Ulrike Flach (FDP): Sie haben es aber wenigstens geschafft, Frau Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Immer Bulmahn, den Elitebegriff zu besetzen. Das gebe ich mehr wird erkennbar, dass das Jahr 2004 zu einem Jahr ohne weiteres zu. Ich begrüße das als Liberale; denn der Entscheidung in der deutschen Forschungspolitik schließlich haben wir uns jahrelang von Ihnen beschimp- wird. Ich bin ganz Ihrer Meinung, Herr Müller, dass wir fen lassen müssen, wenn wir diesen Begriff verwende- das alles gemeinsam tun müssen und dass wir auf diesem ten. Die Kollegen von der Union neigen dazu, auf Sie Weg über Diffamierungen natürlich nicht weiterkom- hereinzufallen. Uns ist es egal, ob Sie von Eliten, von men. Da haben wir also überhaupt keinen Dissens. Aber Spitzen- oder Höchstleistungen reden. Wir wollen nur, ich bin nicht der Meinung, Herr Müller, dass wir das dass Deutschland bei Forschung und Bildung endlich über eine mediale Großkampagne mit dem Namen „In- wieder Platz eins in der Welt einnimmt. novation“ schaffen werden. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Was erleben wir im Augenblick bei Ihnen? Sie sind der CDU/CSU) mit großen Auftritten gestartet und kündigen uns sozusa- gen von Tag zu Tag neue bahnbrechende Offensiven an. Nun ist aus Ihrem Elitehochschulprogramm ein Wett- bewerb geworden, demzufolge nicht mehr zehn, sondern (Jörg Tauss [SPD]: Na, na, na!) drei bis sechs Universitäten ab dem Wahljahr 2006 „Deutschland. Das von morgen“ – allein schon der Titel – man beachte den Zeitpunkt! – Fördermittel in Höhe verdient einen linguistischen Innovationspreis. von 50 Millionen Euro fünf Jahre lang erhalten können. Die FDP ist bekanntlich immer für Wettbewerb, aber es (Beifall bei der FDP sowie der Abg. Dr. Maria ist erstaunlich, wie aus zehn Eliteuniversitäten à la Har- Böhmer [CDU/CSU] – Michael Müller [Düs- vard innerhalb von zwei Wochen ein Preisausschreiben seldorf] [SPD]: Wir haben Sie nur überrascht!) wird, bei dem es 50 Millionen Euro zu gewinnen gibt. 7732 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2004

Ulrike Flach (A) Sie werden als Miniaturisierungsministerin in die Ge- Jagen wir doch jetzt einmal Ihren Innenminister. Ge- (C) schichte eingehen, liebe Frau Bulmahn. hen wir einmal gemeinsam an die TdL. Dann könnte daraus doch etwas werden. Ich habe nichts dagegen. Ich (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten fordere von dieser Stelle aus immer gemeinsames Han- der CDU/CSU) deln der Bildungs- und Forschungspolitiker ein. Falls Um wieder in die Spitzenliga vorzustoßen, reicht das Sie, lieber Herr Tauss, ausnahmsweise in dieser Frage aber nicht. Dazu sind vielmehr andere Strukturen und meiner Meinung sind, kann ich Ihnen zusagen, dass die mehr Wettbewerb nötig, vor allem natürlich die Wah- FDP Sie unterstützt. rung der Autonomie von Hochschulen und Forschungs- einrichtungen. Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: (Jörg Tauss [SPD]: Länder!) Frau Kollegin Flach, ist meine Vermutung richtig, Deswegen nehmen wir die Kritik des Wissenschaftsrates dass Sie nun auch eine Zwischenfrage der Kollegin in unseren Anträgen auf. Wir wollen ein Forum für For- Pieper akzeptieren würden? schungsförderung, Lücken besser erkennen, um Prioritä- ten und Nachrangigkeiten festzulegen, wir wollen einen Ulrike Flach (FDP): modernen Wissenschaftstarifvertrag und – das ist im Sie höre ich natürlich immer gerne. Bitte. Hinblick auf die Haushalte das Wichtigste – die unselige Ressortforschung des Bundes neu ordnen, nachdem sie gründlich evaluiert wurde. Cornelia Pieper (FDP): (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Liebe Kollegin Flach, Frau Vorsitzende des zuständi- der CDU/CSU) gen Ausschusses, können Sie mir Initiativen der SPD-re- gierten Länder zur Abschaffung der zentralen Vergabe- stelle für Studienplätze nennen und können Sie mir Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Initiativen der FDP – die in den Ländern mitregiert – zur Frau Kollegin Flach, der Kollege Tauss möchte Ihnen Abschaffung der ZVS nennen? gerne eine Zwischenfrage stellen. (Ulrich Kasparick [SPD]: Das ist keine Bun- dessache!) Ulrike Flach (FDP): Herrn Tauss habe ich heute schon zweimal gehört. Ich Ulrike Flach (FDP): (B) weiß nicht, ob ich Sie noch ertragen kann, Herr Tauss, (D) aber ich will es einmal versuchen. Das ist ein interessantes Gebiet. Diesbezügliche Initi- ativen der SPD kann ich mir überhaupt nicht vorstellen, ich kenne auch keine außer dieser wirklich wohl begrün- Jörg Tauss (SPD): deten Initiative von Herrn Matschie, die leider über Frau Flach, Sie können; ich will Ihnen Mut machen Nacht von Frau Bulmahn eingestampft wurde. bezüglich meiner Frage. Wir sind uns ja bezüglich der (Jörg Tauss [SPD]: Falsch! – Werner Kuhn Notwendigkeit eines Wissenschaftstarifvertrages einig. [Zingst] [CDU/CSU]: Frau Bulmahn hat aus Das haben wir ja auch festgestellt. Meine Frage lautet: Matschie Matschie gemacht!) Welche Initiativen liegen zwischenzeitlich aus den Län- dern, in denen die FDP mitregiert, für diesen Wissen- Von den von uns mitregierten Ländern sind es Baden- schaftstarifvertrag im Rahmen der Tarifgemeinschaft der Württemberg und Hamburg; beide wollen auf diesem Länder vor? Gebiet tätig werden und sie werden es tun. Insofern bin ich beruhigt. (Cornelia Pieper [FDP]: Abschaffung der ZVS!) (Beifall bei der FDP) Damit kommen wir zum zweiten Themenpunkt, dem Ulrike Flach (FDP): Jahr der Technik. Frau Bulmahn, Sie haben gestern das Lieber Herr Tauss, welche Initiativen liegen denn von Jahr der Technik eröffnet. Ich will Ihnen ganz klar sagen: Ländern vor, in denen die SPD regiert? Sie wissen doch, Ich finde es gut, dass es diese Leitthemen bei dieser Ver- dass wir jetzt darüber im Bundestag diskutieren. Bei un- anstaltung gibt. Aber ein Jahr der Technik muss auch ein serem ersten gemeinsamen Auftritt heute Morgen haben Ja zur Technik heißen. Da bin ich mit Frau Reiche völlig Sie noch darauf hingewiesen, dass man immer über das einer Meinung: Sie regieren doch mit einer Partei, die reden soll, wofür man auch zuständig ist. In diesem bei wichtigen Technologien wie der Kernfusion oder der Punkt bin ich ganz Ihrer Meinung: Ich rede jetzt über Roten und der Grünen Gentechnik Nein statt Ja sagt. Na- das, was in meine Zuständigkeit fällt. Wir haben Ihnen türlich ist es richtig, wie Herr Fell bei jeder Gelegenheit einen Vorschlag auf den Tisch gelegt. Ich hoffe, dass in erklärt, dass dies nur ein kleiner Bereich der Biowissen- diesem Fall SPD und Grüne ausnahmsweise einmal mit schaften ist. uns an einem Strang ziehen. (Hans-Josef Fell [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Volker Kauder [CDU/CSU]: NEN]: Ja, das sollten Sie einmal zur Kenntnis Das wird nichts!) nehmen!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2004 7733

Ulrike Flach (A) Aber Sie haben am Montag ganz klar gesagt: Wir för- zwar aller Studenten, liebe Kollegen von CDU und (C) dern das, was Produkte bringt, was schnell in die An- CSU! –, durch Eingangstests oder von ihnen selbst fest- wendung geht. zulegende Verfahren. Das heißt das Aus für die ZVS; dieses Relikt einer steinzeitlichen Zwangsbewirtschaf- (Cornelia Pieper [FDP]: Richtig!) tung muss abgeschafft werden. Was ist denn nun mit der Grünen Gentechnik? Natürlich (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) stehen wir dort vor der Anwendung: Es gibt Länder wie Sachsen-Anhalt, die liebend gerne die Grüne Gentechnik Wir geben den Hochschulen die Freiheit, Studienge- einsetzen würden. bühren zu erheben. Jede Hochschule soll das Recht ha- ben, Gebühren zu nehmen, wenn sie es will. Genauso (Ulrich Kasparick [SPD]: Das sehen die soll jede Hochschule das Recht haben, Gebühren nicht Bauern aber anders! Die Bauern wollen das zu nehmen, wenn sie es nicht will. Das ist Autonomie, nicht!) meine Damen und Herren, statt Gängelung von oben. Aber wer blockiert denn? – Die andere Seite Ihrer Regie- (Beifall bei der FDP) rungsbank! Ihre Politik ist in diesem Falle klar durch die grüne Partei gekennzeichnet. Gleiches gilt für die verfassten Studierendenschaften: Es ist doch absurd, dass einer Kunsthochschule im bis- (Beifall bei der FDP) herigen Gesetz vorgeschrieben wird, dass eine Studie- Sie haben eben keine konsistente, über alle Ressorts rendenschaft den Studierendensport zu fördern hat. greifende Strategie zur Förderung innovativer Technolo- Überlegen Sie einmal das Absurde der jetzigen Situa- gie. Während die internationale Konkurrenz Riesenpro- tion! gramme für neue Technologien bündelt, müssen Sie, Während die Union lediglich die beiden letzten HRG- Frau Bulmahn, Mittel kürzen und mit dem Koalitions- Novellen zurückdrehen will, legen wir Ihnen heute einen partner kämpfen. Was mich besonders erschüttert: Diese umfassenden Autonomie- und Wettbewerbsentwurf vor. Regierung ist sich noch nicht einmal einig, wenn sie Wir brauchen ein HRG – kurz, knapp, schlank und libe- über den Begriff „Innovation“ streitet. Da lese ich von ral. Es wird – das ist besonders charmant – keine Kosten Herrn Fischer völlig andere Sachen als das, was ich von verursachen. Herrn Tauss oder Frau Bulmahn höre. Wie wollen Sie da zu einer gemeinsamen Strategie kommen? (Jörg Tauss [SPD]: Wenn Sie das „liberal“ weglassen, ist das nicht schlecht!) (Jörg Tauss [SPD]: Die haben wir!) Liebe Kollegen, unsere Vorschläge liegen auf dem (B) Unabhängig vom fehlenden Geld und ideologischen Tisch. Sie werden wahrscheinlich in einigen Jahren auch (D) Grabenkämpfen müssen Sie sich auch einem anderen dahin kommen, wo wir heute sind; daran sind wir Libe- Vorwurf stellen: Frau Bulmahn, Sie haben nicht die rale gewöhnt. Kraft, die Weichen für eine innovative, autonome und international konkurrenzfähige Hochschul- und For- (Cornelia Pieper [FDP]: Und unser Leid! Wir schungslandschaft zu stellen. sind immer unserer Zeit voraus!) (Ulrich Kasparick [SPD]: Das sehen wir an- Das ist der Unterschied: Wir machen’s konkret, Sie ma- ders!) chen’s zu spät! Verbale Innovationsoffensiven sind nett, aber sie gehen (Beifall bei der FDP) unseren Problemen nicht an die Wurzel. Wer an die Spitze will, muss mit der Axt endlich an das unselige Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Hochschulrahmengesetz: Nächster Redner ist der Kollege Dr. Reinhard Loske, Bündnis 90/Die Grünen. (Jörg Tauss [SPD]: Jetzt geht es aber los!) Wir müssen den Hochschulen Luft geben. Nur freie und Dr. Reinhard Loske (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- selbstständig agierende Hochschulen haben eine NEN): Chance, im Wettbewerb zu bestehen. Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Be- vor ich meine eigenen Argumente vortrage, will ich auf (Jörg Tauss [SPD]: Setzt doch mal um!) einige Argumente meiner Vorrednerinnen eingehen. Deswegen legen wir Ihnen heute als einzige Fraktion Ich will zunächst auf das eingehen, was Frau Reiche eine umfassende Novelle vor – statt des Versuches, gesagt hat. Frau Reiche hat verschiedene Dinge behaup- schrittweise, wie es die Kollegen von der CDU/CSU ma- tet. Unter anderem hat sie behauptet, es würden Tau- chen, bloß einige kleine Punkte zu ändern. Wir haben sende von akademischen Wissenschaftlern auf die an- getan, was Sie, Frau Bulmahn, immer fordern. In Ihrem dere Seite des Teiches nach Amerika gehen. Sie sagt, es Ministerium gibt es dagegen nicht einmal eine entspre- gebe sozusagen einen großen Exodus aus Deutschland. chende Arbeitsgruppe, die sich mit diesem Thema be- Das Gegenteil ist wahr. fasst. Unser Vorschlag gibt den Hochschulen die Freiheit zurück: Sie werden zuständig für das Personal, welches Ich will Ihnen ein Beispiel nennen. Professor Hans natürlich nicht mehr verbeamtet sein muss. Sie entschei- Schöler, einer der führenden Stammzellenforscher der den selbst über die Aufnahme ihrer Studenten – und Welt, der der Union nicht unbekannt ist und der bis vor 7734 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2004

Dr. Reinhard Loske (A) kurzem an der University of Pennsylvania geforscht hat, Sie sind doch selber einmal Wissenschaftlerin gewe- (C) kehrt jetzt zurück nach Deutschland, und zwar an das sen. Aber offenbar beherrschen Sie die Mathematik Max-Planck-Institut in Münster. Das ist genau der rich- nicht. Zwischen 1994 und 1998 sind die Ausgaben für tige Weg; das ist genau der Weg, den wir wollen und för- Bildung und Forschung um 5 Prozent gesunken. Aber dern. zwischen 1998 und heute sind sie, wenn man das BAföG hinzunimmt, um 30 Prozent gestiegen. Jetzt frage ich (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Sie: Was ist mehr: minus 5 Prozent oder plus sowie bei Abgeordneten der SPD) 30 Prozent? Diese Frage müssten Sie doch beantworten Professor Schöler kommt gerne nach Deutschland zu- können. rück. Er hat vor wenigen Tagen über die Presse verlauten (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN lassen, dass eine Novellierung des Stammzellgesetzes sowie bei Abgeordneten der SPD) nicht notwendig sei. Frau Reiche hat immer wieder be- tont, das Stammzellgesetz sei eine Hauptbarriere für den Ein weiterer Punkt ist die Anzahl der Studierenden. Forschungsfortschritt im Bereich der Biowissenschaften. Als wir 1998 an die Regierung kamen, lag der Anteil Das ist die Wahrheit. Die gleichen Kollegen von der derjenigen eines Jahrgangs, die ein Studium aufgenom- CDU/CSU, die uns hier immer und immer wieder erzäh- men haben, bei 27 Prozent. Heute liegt der Anteil bei len, dass das Stammzellgesetz eine große Errungenschaft über einem Drittel. Ich will nicht sagen, dass Quantität sei, klatschen gleichzeitig Beifall, wenn Frau Reiche das alles ist; davon bin ich weit entfernt. Aber die Verlogen- genaue Gegenteil erzählt. Das ist unehrlich. Dieses Re- heit, die Sie an den Tag legen, ist inakzeptabel. Zu Ihrer den mit gespaltener Zunge lassen wir Ihnen nicht durch- Regierungszeit ist der Anteil der Studierenden immer gehen. weiter gesunken. Auch die Anzahl derer, die BAföG be- zogen haben, ist immer weiter zurückgegangen. Was Sie (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN hier erzählen, ist wirklich vollkommen unglaubwürdig. und bei der SPD) Das muss ich ganz klar sagen.

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Herr Kollege Loske, möchten Sie gleich zu Beginn Ihrer Rede eine Zwischenfrage von Frau Flach beant- Frau Flach, man kann viel über die Grüne Gentech- worten? nik reden. Aber nur weil Sie der Meinung sind, man brauche eine Durchbrecherstrategie, kann man noch Dr. Reinhard Loske (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- lange nicht sämtliche wissenschaftlichen Einwände, aber (B) NEN): auch Befürchtungen der Bürger einfach über den Haufen (D) Nein, ich möchte erst meine Argumente vortragen. werfen. Auch mein zweiter Punkt betrifft die Ausführungen (Ulrike Flach [FDP]: Welche denn?) von Frau Reiche. Ich zitiere einen jungen deutschen Wir wissen, dass 70 Prozent der Bevölkerung gegenüber Genwissenschaftler, der zurzeit an der Universität Stan- der Grünen Gentechnik skeptisch eingestellt sind. Das ford arbeitet. Er hat vor wenigen Tagen einen langen haben wir als diejenigen, die wir die Bürger im Parla- Leserbrief veröffentlicht. Unter anderem spricht er über ment vertreten, zu respektieren. die Kultur an amerikanischen Universitäten. Ich zitiere wörtlich aus diesem Brief: Wir wollen mit dem Gentechnikgesetz Transparenz und Koexistenz sichern. Wir stellen auch sicher, dass die Vergleicht man ... den Einwanderungskinderanteil ökologische Schädlichkeit, soweit wir heute darüber Be- an US-Spitzenunis mit dem an deutschen Unis – so scheid wissen, ausgeschlossen werden kann. Das ist ge- genannte Ausländerkinder –, dann wird eigentlich nau der richtige Weg. Deswegen ist das Gentechnikge- schnell klar, was ich meine. Am MIT setz ein gutes Gesetz. Das möchte ich hier betonen. – das ist das Massachusetts Institute of Technology – (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Ulrike Flach [FDP]: Aus Ihrer Sicht!) hatte fast jeder zweite Student asiatische Features. Wie viele Deutsche türkischer Herkunft hatte ich in Ich habe meine Redezeit jetzt weitgehend verbraucht. Berlin in meinem Studium? Einen in ungefähr 150. Aber es war einmal notwendig, auf die Äußerungen der Ziemlich ärmlich, oder? Kolleginnen einzugehen. Jetzt komme ich zu Ihnen, Frau Reiche. Sie können (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN nicht über die Internationalisierung unserer Hochschulen und bei der SPD) reden und gleichzeitig den Zuwanderern über das Ar- beitsrecht und über das Zuwanderungsrecht einen Knüp- Die Forschungsdebatte ist für uns eine Debatte über pel nach dem anderen zwischen die Beine werfen. Finanzen und Strukturen. Das sind zwei Seiten einer Medaille, die zusammengehören. Für uns geht es bei den (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Strukturreformen – ich muss jetzt leider im Telegramm- und bei der SPD) stil sprechen – um Folgendes: Das lassen wir uns nicht gefallen; das ist absolut wider- Erstens. Wir müssen zunächst einmal die Hochschu- sprüchlich und unehrlich. len und Forschungseinrichtungen – da stimme ich Ihnen Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2004 7735

Dr. Reinhard Loske (A) zu, Frau Flach – vom Korsett des öffentlichen Dienst- chen, wenn unsere Universitäten gleichzeitig verlottern. (C) rechts befreien. Das wäre ungefähr so, als wenn ein Kaufmann, dessen Produkte immer schlechter werden, sagt: Ich muss jetzt (Ulrike Flach [FDP]: Dann machen Sie es die Preise erhöhen, damit ich überhaupt noch Gewinne doch!) erziele. – So geht das nicht! Wir müssen über die Rand- Wir brauchen einen Wissenschaftstarifvertrag. Das kön- bedingungen reden. Wir müssen sicherstellen, dass es nen wir gerne zusammen machen. ein Stipendiensystem gibt, dass soziale Selektion ausge- schlossen wird und dass sich der Staat – das ist am aller- Zweitens. Die Finanzierung der Hochschulen muss wichtigsten – nicht aus der Bildungsfinanzierung zu- stärker über die Nachfrage gesteuert werden. Unser rückzieht. Konzept heißt deshalb Bildungsgutscheine; dafür setzen wir uns ein. In NRW werden diese Gutscheine bereits Wenn wir das gemeinsam geschafft haben – im Mo- eingeführt. ment ist das nicht so; Sie wissen genau, dass sich die Länder mehr und mehr zurückziehen – Wir müssen den Hochschulen – da haben Sie Recht – mehr Autonomie geben. Sie brauchen mehr Personalau- tonomie, mehr Haushaltsautonomie und bessere Mög- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: lichkeiten, ihre Studierenden selbst auszuwählen. Herr Kollege!

(Dr. Maria Böhmer [CDU/CSU]: So ist es!) Dr. Reinhard Loske (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Das ist zutreffend. Was aber die Finanzierung der Hoch- NEN): schulen betrifft, warne ich vor einer Verengung der De- – ich bin fertig –, dann können wir über Studienge- batte auf Studiengebühren; ich komme gleich darauf zu- bühren reden, aber nicht aus heiterem Himmel und ohne rück. Kontext. Da machen wir auf keinen Fall mit. Wir müssen auch sehen, wie man zusätzliches Geld Danke schön. mobilisieren kann: durch Stiftungskapital, durch Patent- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN verwertungsstrukturen und auch durch Weiterbildung. und bei der SPD) Es ist doch ein Witz, dass unsere Universitäten fünf Mo- nate im Jahr leer stehen. In dieser Zeit kann Weiterbil- dung stattfinden; dazu kann auch die Wirtschaft einen Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Beitrag leisten. Ich glaube, diese Einnahmequellen müs- Herr Kollege Loske, darf ich daran erinnern, dass sen wir ausbauen. dann, wenn die Uhr blinkt, nicht die Nachspielzeit be- (B) ginnt, die Gelegenheit gibt, den eigentlichen Höhepunkt (D) In diesen Kontext gehören übrigens auch Wettbe- der Rede einzuleiten, sondern dass dann die Redezeit be- werbe. Ich halte Wettbewerbe für eine gute Idee, will endet ist? aber zwei Dinge hinzufügen: (Dr. Reinhard Loske [BÜNDNIS 90/DIE Erstens. Der Titel „Brain up! Deutschland sucht seine GRÜNEN]: Danke, Herr Präsident! Ich werde Spitzenuniversitäten“ hat mir nicht gefallen. Das klingt mir das zu Herzen nehmen!) für mich eher nach Quiz als nach Alexander von Hum- boldt; das muss ich ohne weiteres zugeben. Nun erteile ich das Wort der Ministerin für Wissen- schaft, Forschung und Kunst des Freistaates Thüringen, (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Frau Professor Schipanski. Zweitens. Wir sollten nicht denken, dass unsere Uni- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) versitäten große Maschinen sind, in die man oben Geld hineinschüttet und bei denen unten Produkte herauskom- Dr. Dagmar Schipanski, Ministerin (Thüringen): men. Unsere Universitäten brauchen mehr Zweckfrei- Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und heit. Dann kommen am Ende mehr Innovationen heraus. Herren Abgeordneten! Das Thema Innovation be- Also keine Konditionierung auf marktfähige Produkte, herrscht im Moment zu einem guten Teil die öffentliche sondern auf Spitzenforschung – das ist das Entschei- Diskussion. Ich muss Ihnen sagen: Ich finde das hervor- dende. ragend. Jetzt wird mir hier signalisiert, dass ich zum Ende (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der kommen muss, deshalb kann ich zu den Studiengebühren SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- nur noch sehr wenig sagen. Unser Gegenmodell – das NEN – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: habe ich bereits gesagt – ist das Modell der Bildungsgut- Durch uns!) scheine. Es gibt in unserer Fraktion einige – dazu gehöre auch ich –, die Studiengebühren nicht prinzipiell abge- Denn schon lange weist die CDU auf die grundlegende neigt sind; das gebe ich ohne weiteres zu. Bedeutung von Forschung, Wissenschaft und Bildung für die Zukunft unseres Landes hin. (Ulrike Flach [FDP]: Also stimmen Sie uns doch einmal zu!) (Beifall bei der CDU/CSU) Aber wir müssen über die Randbedingungen reden. Wir Die Bundesregierung hat das Jahr 2004 zum Jahr der können heute doch nicht über Studiengebühren spre- Innovationen und zum Jahr der Technik ausgerufen. Ich 7736 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2004

Ministerin Dr. Dagmar Schipanski (Thüringen) (A) begrüße das. Wir müssen gemeinsam alles dafür tun, ein Wenn Sie also den Universitäten in Deutschland die (C) technik- und forschungsfreundliches Klima in Deutsch- Möglichkeit bieten wollen, in die Liga der Eliteuniversi- land zu fördern. Ich werte es als ein Kompliment für täten aufzusteigen, dann müssen Sie entsprechende Rah- Thüringen – das sei mir an dieser Stelle gestattet –, dass menbedingungen für Freiheit und Wettbewerb schaffen die SPD die Bedeutung von Innovation und Eliten ge- und dürfen das Hochschulrahmengesetz nicht mit immer rade in erkannt hat. Offensichtlich ist sie vom neuen Regulierungen überfrachten. Ich begrüße den Vor- Geist des Aufbruchs und der Innovation, der in unserem schlag von Frau Flach, wir werden uns darüber unterhal- CDU-regierten Land herrscht, angesteckt worden. ten müssen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Jörg (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Tauss [SPD]: Der alte Geist war ein sozialde- mokratischer!) Es kommt darauf an, Rahmenbedingungen für den Wettbewerb zu schaffen, den Hochschulen und Wissen- Jetzt will die Bundesregierung der Ankündigung Ta- schaft aus sich selbst heraus betreiben können. Die Rea- ten folgen lassen. Hierzu hat sie einen Wettbewerb aus- lität ist hier nämlich weiter, als die Bundesregierung an- gerufen: „Brain up! Deutschland sucht seine Spitzenuni- nimmt. Es gibt bereits eine ganze Reihe von Fakultäten, versitäten“. Ich verzichte an dieser Stelle auf die deren Ruf auch international absolut exzellent ist. Untersuchung der Frage, ob die sprachliche Nähe zu ei- ner zweifelhaften Castingshow bewusst gewählt wurde Das Gleiche gilt für bestimmte außeruniversitäre In- oder ein Zufall ist. stitute. Diesen positiven Ansatz müssen wir nutzen, ihm müssen wir die Chance geben, sich weiterzuentwickeln. (Thomas Rachel [CDU/CSU]: Peinlich ist das!) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Tatsache ist jedoch: Die Länder lehnen diese Pläne ein- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: hellig ab. Wir sehen darin einen weiteren Versuch, den Frau Ministerin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Föderalismus auszuhöhlen und stattdessen mithilfe ein- Kollegen Tauss? zelner Prestigeprojekte Öffentlichkeitsarbeit zu betrei- ben. Dr. Dagmar Schipanski, Ministerin (Thüringen): (Beifall bei der CDU/CSU) Ja. Selbst der grüne Koalitionspartner hält dies für ein „frag- würdiges Konzept“. Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Bitte schön, Herr Tauss. (B) Der Ansatz ist aber auch ordnungs- und wissen- (D) schaftspolitisch inkonsequent und falsch: Jörg Tauss (SPD): Erstens. Laut Zielsetzung der Weimarer Leitlinien Ich bin dankbar, dass Sie sich in dieser Frage unseren sollen sich in Deutschland Spitzenuniversitäten etablie- Überlegungen angenähert haben. Frau Flach hat vorhin ren, die mit Harvard oder Stanford konkurrieren können. zum Thema Zuständigkeit gefragt. Ich habe nichts dage- Ein ehrenwertes Ziel! Nur verkennen Sie dabei völlig, gen, wenn Sie hier über das Hochschulrahmengesetz dass sich die genannten amerikanischen Universitäten in reden, Frau Ministerin. Ich frage aber an dieser Stelle: einem völlig anderen Umfeld entwickelt haben: in einem Warum hat das Land Thüringen die Möglichkeiten, die Umfeld von Wettbewerb und hochschulpolitischer Frei- wir durch die Öffnung des Hochschulrahmengesetzes, heit, von Studiengebühren und Stiftungskapital bis hin beispielsweise im Besoldungsrecht, gegeben haben, bis- zu wirtschaftlicher Betätigung. her nicht genutzt? Warum haben erst drei Bundesländer Anstatt jetzt eine umfassende Deregulierung einzu- die neuen Regelungen umgesetzt? Warum sind erst drei leiten, damit sich ein solcher Wettbewerb auch bei uns Bundesländer an diese Frage herangegangen? entfalten kann, soll eine kleine Zahl von Universitäten Auf die Frage, warum noch keine Initiativen zum – warum eigentlich fünf? – quasi per Dekret den Ritter- Wissenschaftstarifvertrag ergriffen worden sind, will ich schlag zur Spitzenuniversität erhalten. der Fairness halber nicht eingehen. Auch da haben Sie (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) sich nicht durchgesetzt. Ich freue mich aber, dass wir hier einer Meinung sind. Die „FAZ“ hat diese Politik gestern mit Planwirt- schaft verglichen. Als guter Kenner der Planwirtschaft Meine Frage: Warum setzen Sie das, was heute mög- fühle ich mich fatal an Fünfjahrespläne erinnert. lich ist, nicht um? (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Dr. Dagmar Schipanski, Ministerin (Thüringen): neten der FDP) Das kann ich Ihnen ganz genau beantworten. Wir Kommt die Zahl fünf vielleicht von Fünfjahresplänen? werden das insgesamt umsetzen, wenn über die Klage Derjenige, der Fünfjahrespläne erlebt hat, weiß, dass entschieden ist, wie mit der Habilitation umzugehen ist. diese Pläne nie eingehalten worden sind. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Ulrich Kasparick [SPD]: Das ist unglaublich! neten der FDP – Jörg Tauss [SPD]: Ach so! Wettbewerb ist das Gegenteil!) Diese alte Geschichte!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2004 7737

Ministerin Dr. Dagmar Schipanski (Thüringen) (A) Das heißt, wir müssen genau das durchsetzen, was uns (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (C) richtig erscheint, und nichts anderes. Auf der anderen Seite jedoch möchte ich betonen, Lassen Sie mich zu den Universitäten zurückkom- dass gerade die DFG dafür prädestiniert ist, dem wissen- men. Wir brauchen Wettbewerb und Freiheit an den schaftlichen Wettbewerb in Deutschland neue Impulse Universitäten. Es ist richtig, hier sind auch wir Länder zu verleihen. gefordert. Die Bundesregierung sollte aber aus gesamt- (Beifall des Abg. Dr. Christoph Bergner staatlicher Verantwortung dafür sorgen, dass sich die Vo- [CDU/CSU]) raussetzungen zur Teilnahme am Wettbewerb insgesamt verbessern. Wir Länder sind selbstverständlich gefor- Schließlich folgt die DFG bei der Mittelvergabe aus- dert. In diesem Zusammenhang möchte ich nur erwäh- schließlich Wissenschafts- und Exzellenzkriterien. Vor nen – Herr Loske hat vorhin ausgeführt, dass sich die diesem Hintergrund möchte ich einen Vorschlag unter- Hochschulen an der Weiterbildung beteiligen sollen –: breiten, der die Forschung in unserem Land nach Wett- Im Thüringer Hochschulgesetz ist das längst verankert. bewerbskriterien voranbringt und den Willen der Bun- Unsere Hochschulen können sich an der Weiterbildung desregierung aufgreift, sich zu engagieren: Die Deutsche beteiligen und dafür Gebühren erheben. Die Länder nut- Forschungsgemeinschaft erhält das angekündigte Geld, zen die Freiheiten, die ihnen im Rahmen des engen Re- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) gulierungsgesetzes gegeben sind, aber wir brauchen noch mehr Freiheiten, um unsere Hochschulen für den aber ohne an anderer Stelle Mittel zu kürzen, etwa für Wettbewerb fit zu machen. den Hochschulbau oder die Projektforschung. Dazu gehört auch ein Wissenschaftstarifvertrag, über (Beifall bei der CDU/CSU) den wir diskutieren, aber ich wünsche mir auch von den Damit erhält die DFG die Möglichkeit, nach ihren ei- SPD-regierten Ländern einen Vorschlag genen Regularien, nämlich nach der Exzellenz von For- (Lachen bei der SPD – Jörg Tauss [SPD]: schungsanträgen, die besten Vorhaben aus allen Hoch- Immer wir!) schulen zu fördern und auch auszustatten. Dabei sollten die Nachwuchswissenschaftler, die über diese Förderung – über den wir diskutieren können. Wir können nicht eingestellt werden, zugleich zur Lehre an den Universi- einfach die Zeit für die Lehre festlegen, wir können auch täten verpflichtet werden. Denn die Einheit von For- nicht den Zeitraum festlegen, wie lange man an einer schung und Lehre ist nach wie vor das entscheidende Hochschule bleiben darf, bevor man automatisch gehen Merkmal der deutschen Universitäten. muss. Diese starren Zeitregelungen, die detaillierten (Beifall bei der CDU/CSU) Stundenfestlegungen verhindern angemessene Reaktio- (B) nen der Hochschulen auf verändertes Studierverhalten Damit würde der dringend notwendige wechselseitige (D) oder auf sich rasch entwickelnde Forschungsgebiete. Zusammenhang von Forschung und Lehre in einer ganz neuen Qualität in den Universitäten verankert. Bei der Was tut die Bundesregierung? Anstatt die Wettbe- Vergabe der Mittel könnten durchaus auch mit außeruni- werbsbedingungen zu verbessern, kürzt sie die Mittel für versitären Instituten vernetzte Forschungsvorhaben, ver- den Hochschulbau um 135 Millionen Euro. Vergleicht bunden mit Promotionsstudiengängen oder Graduierten- man diese Politik mit den neuerlich angekündigten Mil- kollegs, Kriterien für Auswahl und Exzellenz sein. lionen, dann heißt das im Klartext: Die Bundesregierung will sich mit einzelnen Leuchttürmen auf Kosten der Ich glaube, hieran lässt sich eine gute Diskussion an- Fläche profilieren. Diese Politik trifft die neuen Länder knüpfen, wie im freien Wettbewerb Elite heranwächst, in ganz besonderer Weise; ausgebildet und gefördert und nicht per Dekret verordnet wird. (Nicolette Kressl [SPD]: Falsch!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) denn unsere Hochschulen hatten nicht die Chance, in 15 Jahren 40 Jahre Vorsprung der alten Länder aufzuho- Zugleich hätten wir ein Grundproblem der deutschen len. Universitäten, nämlich das der unzureichenden Zahl wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Lehre, mit gelöst. (Beifall der Abg. Cornelia Pieper [FDP]) Das könnte zu mehr und besserer Forschung und Lehre, aber auch zu veränderten und besser vernetzten neuen Die Chefsache „Aufbau Ost“, meine sehr verehrten Da- Strukturen in der Forschungslandschaft führen. men und Herren Abgeordnete, erweist sich ein weiteres Selbstverständlich müsste ein entsprechendes Engage- Mal als leere Drohung. ment von Wirtschaft und privaten Förderern für die Uni- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) versitäten belohnt werden. Es gibt eine Reihe von Vorschlägen, die häufig disku- Das war schon einmal so, nämlich als die UMTS- tiert wurden. Aber leider erfolgt in unserem Land die Um- Erlöse verteilt wurden. Die Messlatte für die Hochschu- setzung häufig nur sehr zögernd. Auch die letzte Ausein- len zur Teilnahme an dem Programm der DFG-For- andersetzung zwischen Frau Bulmahn und Herrn schungszentren war so hoch angelegt, dass keine einzige Matschie über die Abschaffung der ZVS zeigt das: vor, Universität der neuen Länder überhaupt eine Chance zurück, zur Seite, ran. Wir haben aber noch kein Ergebnis. hatte. Noch sind die Voraussetzungen nicht gleich. Das muss berücksichtigt werden. Hier erwarten wir ein En- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – gagement für den Aufbau Ost. Jörg Tauss [SPD]: Die ZVS ist doch euer Bier! 7738 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2004

Ministerin Dr. Dagmar Schipanski (Thüringen) (A) Der redet schon als Ministerpräsident! Haben Edelgard Bulmahn, Bundesministerin für Bildung (C) Sie das noch nicht gemerkt?) und Forschung: Liebe Kolleginnen und Kollegen! Innovationen sind Im Übrigen sei mir gestattet, zum Abschluss darauf der Schlüssel für die Zukunftsfähigkeit unseres Landes. hinzuweisen, dass die größte Schwäche von Deutschland Die Zukunftsfähigkeit unseres Landes hängt wirklich nicht das Finden von Forschungsergebnissen ist. Darin entscheidend von Bildung, Forschung und Wissenschaft sind wir nach wie vor exzellent und international sehr ab. Aber, liebe Frau Kollegin, es reicht nicht aus, das nur anerkannt. Unsere Schwäche ist die Umsetzung von zu beschwören. Man muss auch entsprechend handeln. Forschungsergebnissen in wirtschaftliche Nutzung. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Dieses Problem aber lösen wir nicht durch die Festle- Die Bundesregierung macht genau das. Sie handelt. gung von Eliteuniversitäten. Das Problem lösen wir nur durch kontinuierliche Verzahnung von Hochschulen, au- (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Wo denn?) ßeruniversitären Forschungseinrichtungen und deren ge- meinsame Verzahnung mit der Wirtschaft. Das muss flä- Der Startschuss dafür ist am 15. Januar dieses Jahres ge- chendeckend passieren. Die fünf Leuchttürme, die wir fallen. Gemeinsam mit Wissenschaft, Wirtschaft und errichten wollen, werden das Ganze nur überstrahlen, Gewerkschaften hat die Bundesregierung die Initiative werden aber keine Tiefenwirkung haben. „Partnerschaft für Innovation“ gestartet. Dabei müs- sen wir alle bereit sein, ausgetretene Pfade zu verlassen (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) und neue Wege zu gehen. Aber die Clusterbildung, die wir mit dem Bio-Re- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des gio-Wettbewerb unter Jürgen Rüttgers initiiert haben, die BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) wir in den CDU-geführten Ländern aufgenommen ha- ben, die wir pflegen und die wir trotz der schwierigen „Wasch mich, aber mach mich nicht nass“: Wenn man Rahmenbedingungen immer weiter voranzutreiben ver- nach dieser Devise vorgeht, liebe Kolleginnen und Kol- suchen, legen, wird sich in unserem Lande überhaupt nichts be- wegen. (Jörg Tauss [SPD]: Die wir finanzieren!) (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des kann uns dort voranbringen. Dafür sind die neuen Län- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) der ein gutes Beispiel; denn unsere neue Wirtschaft ist Deshalb, liebe Frau Schipanski, kann man auch nicht un- (B) nur aufgrund der direkten Umsetzung von Forschungser- (D) gebnissen in neue Produkte auf den Stand gekommen, ter Hinweis auf den Föderalismus und Zuständigkeiten auf dem sie heute ist. notwendige Modernisierungen und Veränderungen in unserem Land in Frage stellen und boykottieren. Das (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zuruf geht nicht. von der SPD: Bedanken Sie sich bei uns!) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Dieses Miteinander würden wir kaputtmachen, wenn des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) wir dem Vorschlag folgen würden, die gut gewachsene Forschungslandschaft jetzt zu zerschlagen, also be- Lassen Sie mich ausdrücklich sagen: Jeder ist gefor- stimmte Forschungseinrichtungen dem Bund und andere dert, einen Beitrag zum gemeinsamen Aufbruch zu leis- den Ländern zuzuordnen. ten.

(Jörg Tauss [SPD]: Sie sind ja strukturkonser- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: vativ!) Frau Bulmahn, darf die Kollegin Pieper Ihnen eine Diese Strukturreformen würden die deutsche For- Zwischenfrage stellen? schungslandschaft nicht voranbringen. (Jörg Tauss [SPD]: Also keine Reformen!) Edelgard Bulmahn, Bundesministerin für Bildung und Forschung: Deshalb sage ich: Wir sollten die derzeitige Diskussion Das darf sie. offensiv führen und der Wissenschaftspolitik in unserem Land neue Impulse geben. Dazu brauchen wir keine zen- tralen Vorgaben. Der föderale Wettbewerb der Länder Cornelia Pieper (FDP): bietet genügend Chancen. Wir müssen sie nur nutzen. Vielen Dank, Frau Ministerin. – In Ihrer Humboldt- Rede haben Sie sich jüngst für mehr Autonomie der (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Hochschulen in diesem Land ausgesprochen. Das habe ich mit großem Wohlwollen gehört. Sie haben sogar ge- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: sagt, Sie wollten eine Novelle zum Hochschulrahmen- Nun erteile ich der Bundesministerin für Bildung und gesetz vorlegen und es auf zwei bis drei Seiten kürzen. Forschung, Edelgard Bulmahn, das Wort. Wann legen Sie, Frau Ministerin, eine Novelle zum Hochschulrahmengesetz vor? Wann können wir Ihren (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Gesetzentwurf erwarten? Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2004 7739

(A) Edelgard Bulmahn, Bundesministerin für Bildung (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (C) und Forschung: des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Zuruf Das, liebe Frau Pieper, wird Inhalt des Gespräches von der SPD: Wir reden und handeln!) sein, das ich mit einigen Landesministern am 4. Februar Spitzenförderung und Breitenförderung – lassen dieses Jahres führen werde. Sie mich das ausdrücklich sagen – sind zwei Seiten einer (Cornelia Pieper [FDP]: Ich denke, Sie brau- Medaille und lassen sich nicht gegeneinander ausspie- chen drei Jahre, Frau Bulmahn! Das haben Sie len. gesagt!) (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Genau Deshalb sage ich ausdrücklich: Es reicht nicht, das zu so ist es!) beschwören. Es muss uns in Deutschland gelingen, aus unseren vor- (Dr. Reinhard Loske [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- handenen Stärken heraus Spitzenzentren zu entwickeln. NEN]: Das war eine präzise Antwort!) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Man muss es auch tun. Deshalb habe ich immer so nachdrücklich gesagt: Spit- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ zenuniversitäten können nicht per Dekret erlassen wer- DIE GRÜNEN) den. Spitzenuniversitäten müssen sich im Wettbewerb entwickeln. Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Hochschulland- schaft Deutschlands kann sich sehen lassen. Wäre dem (Beifall bei der SPD) nicht so, wären deutsche Nachwuchswissenschaftlerin- Liebe Frau Schipanski, ich muss Ihnen ausdrücklich nen und Nachwuchswissenschaftler bei amerikanischen sagen: Das ist das genaue Gegenteil von Planwirtschaft. Forschungseinrichtungen und Unternehmen nicht so ge- fragt, wie sie es sind. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Ich wundere mich, dass Sie sich hier gegen diesen Wett- bewerb aussprechen. Denn an anderer Stelle preisen Sie In der Breite sind wir stark. Aber wir brauchen auch den Wettbewerb zu Recht, Spitzenuniversitäten, die internationale Strahlkraft ha- ben, in die Menschen aus aller Welt gehen und dort (Zuruf von der CDU/CSU: Sie wissen doch forschen wollen. Denn eines ist klar: Wir müssen inter- gar nicht, was Marktwirtschaft ist!) national attraktiver werden. Wir müssen die Leistungsfä- zum Beispiel in den Bereichen Bio-Regio und Inno-Re- (B) higkeit der Hochschulen in der Breite stärken. Aber wir gio. Genau das brauchen wir auch in der Wissenschaft. (D) brauchen auch die Spitze. Denn Wettbewerb ist ein Charakteristikum von Wissen- schaft. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) In den letzten Jahren hat die Bundesregierung die Hochschulen in der Breite gestärkt. Auch hier sage ich Im Übrigen stelle ich fest: Inzwischen will sich eine ausdrücklich: Entscheidend ist das Handeln. Unter die- große Zahl von Universitäten diesem Wettbewerb stel- ser Bundesregierung ist die Zahl der Studierenden um len. Deshalb wird auch für mehr Wettbewerb gesorgt. ein Drittel gestiegen. Mir geht es um die Hochschulen, um die Universitäten sowie um die Studierenden und um die Lehrenden an (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des diesen Einrichtungen. Ihnen möchte ich die notwendige BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Unterstützung geben. Sie sollen eine Chance bekommen. Unter dieser Bundesregierung sind die Studienförderung (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten erheblich verbessert, das BAföG reformiert und Bil- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) dungskredite geschaffen worden. Unter dieser Bundesre- gierung wurden die Mittel für die Hochschulen um 23 Prozent erhöht, unter der vorherigen wurden sie redu- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: ziert. Frau Ministerin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Bergner? (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Edelgard Bulmahn, Bundesministerin für Bildung Zum Vergleich nenne ich Ihnen folgendes Beispiel: Das und Forschung: Land Bayern, das sich ja immer selbst damit preist, sehr Ja. viel für die Hochschulen zu tun, hat die Ausgaben für Hochschulen um 2 Prozent erhöht. Wir haben sie im Dr. Christoph Bergner (CDU/CSU): gleichen Zeitraum um 23 Prozent erhöht. Frau Ministerin, Sie könnten sehr zum Dialog und zur (Beifall bei Abgeordneten der SPD) problembezogenen Diskussion beitragen, wenn Sie zu dem Vorschlag der Thüringer Wissenschaftsministerin Das ist der Unterschied zwischen Taten und Worten. Stellung nehmen könnten, die gesagt hat, Sie sollten die 7740 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2004

Dr. Christoph Bergner (A) Mittel, die Sie für Ihren „Preisausschreibenwettbe- Werner Lensing (CDU/CSU): (C) werb“ eingeplant haben, besser der Deutschen For- Zu dem, was der Kollege Kauder gesagt hat, erlaube schungsgemeinschaft – zusätzlich zu allen übrigen ich mir noch den Hinweis, dass das immer auch eine Verpflichtungen des Bundes – zur Verfügung stellen. Ich Frage des jeweiligen individuellen intellektuellen Zu- finde, das ist ein sehr wettbewerbsbezogenes Konzept. schnitts ist. (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Was ist (Heiterkeit bei der CDU/CSU und der FDP – daran Wettbewerb?) Wilhelm Schmidt [Salzgitter] (SPD): Sie spre- Was sagen Sie zu dem Vorschlag der Thüringer Wissen- chen aus Erfahrung, Herr Kollege!) schaftsministerin? Frau Ministerin Bulmahn, der Vorstoß der SPD zur Förderung von Eliten, von vielen als Paradigmenwech- Edelgard Bulmahn, Bundesministerin für Bildung sel verstanden, wird, wenn man die Presse liest, vorran- und Forschung: gig als populistisches Wendemanöver begriffen. Ich Ich treffe mich am 16. Februar mit den Präsidenten frage Sie: Wie soll man diesen Aussagen einer Partei der Forschungsorganisationen und der Hochschulrekto- glauben, renkonferenz, um gemeinsam mit ihnen meinen Vor- (Jörg Tauss [SPD]: Uns können Sie immer schlag zu erörtern. Natürlich werde ich gute Änderungs- glauben!) vorschläge von ihnen aufgreifen. Ich habe mit den Präsidenten bereits gesprochen, bevor ich den Vorschlag die früher aus primär ideologischen Gründen das Wort der Öffentlichkeit vorgelegt habe, habe ihre Meinungen Elite nicht einmal in den Mund nehmen wollte? angehört und ihre Ratschläge eingeholt und diese in (Horst Kubatschka [SPD]: Witzbold!) mein Konzept eingearbeitet. So werde ich auch weiter- hin verfahren. Darüber hinaus frage ich Sie: Liegt der Grund für die allgemeine Nivellierung an Schulen und Hochschulen, Ich habe mit ihnen in dem damaligen Gespräch über- eingestimmt, dass es richtig ist, dass ein Wettbewerb vor allem in Nordrhein-Westfalen, nicht zuletzt darin, ausgeschrieben wird, dass die Universitäten selber ein weil Sie keinen Unterschied zwischen Chancengleich- Konzept entwickeln, mit dem sie in die Spitze vordrin- heit und Chancengerechtigkeit machen? Das Verfolgen gen wollen, und dass sie selber entscheiden, ob sie au- des Ziels der Chancengleichheit führte bekanntlich zur ßeruniversitäre Forschungseinrichtungen oder die Wirt- allgemeinen Gleichmacherei, während die Chancenge- schaft integrieren. Unser gemeinsamer Wunsch war, rechtigkeit die individuelle Kraft des Einzelnen fordert. dass das jeweilige Bundesland, die Region und die Stadt (B) das Vorhaben ihrer Universität mit allen Kräften unter- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: (D) stützen. Darauf kommt es an. Herr Kollege, Ihre Frage bitte. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Werner Lensing (CDU/CSU): Können Sie mir in dieser Frage nicht uneingeschränkt Man wird dann feststellen können, ob die Worte mit den Recht geben – darauf steuern meine Aussagen hin, Herr Taten übereinstimmen. Präsident –, schließlich ist Leistung zu fordern human und Leistung zu verweigern inhuman? Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: (Heiterkeit bei der CDU/CSU, der SPD und Nun möchte der Kollege Lensing eine Zwischenfrage der FDP) stellen.

Edelgard Bulmahn, Bundesministerin für Bildung Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: und Forschung: Frau Kollegin Bulmahn, bevor Sie die Frage freundli- Gerne. cherweise beantworten, darf ich einmal einen gut ge- meinten Hinweis geben: Wie im Augenblick sicher der (Jörg Tauss [SPD]: Lensing kann auch noch et- Kollege Lensing, so empfinde auch ich es als schwer er- was lernen! Das kann nicht schaden! Herr trägliche Härte, dass die Geschäftsführer der jeweiligen Kauder müsste viele Fragen stellen! Das schaf- Fraktionen immer nur einen kleinen Teil der Kollegen fen wir aber leider nicht mehr! – Volker Kauder förmlich als Redner anmelden. [CDU/CSU]: Das hätte keinen Sinn! Denn Sie verstehen meine Antworten nie! Dazu muss (Heiterkeit und Beifall im ganzen Hause) man ein Minimum an Verstand haben!) Ich kann aber nichts daran ändern und muss deswe- gen darauf hinweisen, dass Zwischenfragen so gestellt Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: werden müssen, wie es der Begriff zum Ausdruck bringt, Die spontane Debatte, die sich in den ersten Reihen nämlich als Zwischenfragen. Es dürfen keine förmlich unter einzelnen Kollegen abspielt, hat sicherlich einen nicht angemeldete Reden sein. – Bitte schön, Frau Kolle- gewissen Reiz, entspricht aber nicht ganz den Formvor- gin. schriften unserer Plenardebatten. (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Die Re- Zu einer Zwischenfrage hat jetzt der Kollege Lensing aktion ist aber immer nur bei der CDU/CSU zu das Wort. spüren!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2004 7741

(A) Edelgard Bulmahn, Bundesministerin für Bildung Jury, einer Expertenkommission, ausgewählt werden. (C) und Forschung: Diese wählt die besten zehn Vorschläge in der ersten Lieber Herr Kollege Lensing, ich sage ausdrücklich: Runde aus. Danach erhalten die Universitäten die not- Unser Land braucht Leistungseliten. Was wir weniger wendige Unterstützung, um die Entwurfsskizzen zu ei- brauchen, sind Erbeneliten. nem umfassenden Konzept auszuarbeiten. Aus diesen ersten zehn ausgewählten Hochschulen und ihren Kon- (Beifall bei der SPD) zepten – nicht mehr Entwürfen – werden dann die besten Vielleicht gibt es hier einen Unterschied zwischen unse- vier, fünf oder sechs Hochschulen ausgewählt. ren Auffassungen. Wir brauchen in unserem Land Leis- Weil ich davon überzeugt bin, dass sich die Spitze, die tungseliten und Leistungsträger. Elite immer wieder dem Wettbewerb stellen muss, wer- Menschen sind sehr unterschiedlich. Deshalb ist es den wir nach vier Jahren eine weitere Runde durchfüh- eine ganz wichtige Aufgabe der Bildungspolitik, Sorge ren. Es ist also kein starres, sondern ein offenes System, dafür zu tragen, dass nicht ein einziges Talent in unse- sodass zum Beispiel auch die Hochschulen, die beim rem Land verschüttet wird. ersten Mal noch nicht mitmachen können, eine Chance erhalten. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Volker Kauder [CDU/CSU]: (Ulrike Flach [FDP]: Dazwischen erlauben Sie Herr Tauss, sie meint nicht Sie! – Jörg Tauss aber noch Wahlen, Frau Ministerin!) [SPD]: Ich bin doch der intelligenteste Abge- ordnete!) – Frau Flach, der Bund wird den ausgewählten Universi- täten 50 Millionen Euro pro Jahr geben. Fünf mal 50 Ich denke, dabei nützt Ihr diffiziles Auseinanderdefinie- sind 250. 250 Millionen Euro zusätzlich ist eine ganze ren von Begriffen nur sehr wenig. Ich glaube, dass kein Menge Geld für unsere Hochschulen. Mensch in diesem Lande wirklich Spaß daran hat oder es interessant findet, zu differenzieren und über den Unter- (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Hans-Josef schied zwischen Chancengleichheit und Chancengerech- Fell (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) tigkeit zu diskutieren. Das entspricht dem gesamten Jahreshaushalt einer sehr Im Kern geht es doch darum, dass die Kinder in den großen Universität. Von daher können wir damit wirk- Schulen nicht entmutigt werden dürfen, sondern dass sie lich einen Schub in der Entwicklung von Universitäten ermutigt werden müssen, ihre Talente zu nutzen und ihre erreichen. Fähigkeiten zu entwickeln. Dafür ist es notwendig und Spitzenuniversitäten sollen sich durch ein klares Pro- wichtig, dass man die Kinder nicht frühzeitig sortiert, (B) fil in Wissenschaft und Forschung auszeichnen. Heraus- (D) einordnet und entmutigt und – deshalb dränge und be- ragende wissenschaftliche Leistungen, eine erstklassige, stehe ich so darauf – dass das Prinzip der individuellen an internationalen Standards orientierte Lehre und enge Förderung in unseren Schulen zum Kern des Unter- Kooperationen mit den außeruniversitären Forschungs- richtsgeschehens und auch zum Mittelpunkt des Gesche- einrichtungen und der Wirtschaft sind dabei wichtige hens in unserer Gesellschaft wird. Kriterien. Auch eine gute Betreuung der Studierenden (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Hans-Josef und ein modernes Management machen Spitzenuniversi- Fell [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) täten aus. Wir müssen in unserem Land endlich wieder auch ein Darüber hinaus – darin stimme ich mit allen Rednern Stück Bildungsoptimismus entwickeln; denn die Men- überein – brauchen unsere Hochschulen die größtmögli- schen können einfach viel mehr, als wir ihnen häufig zu- che Autonomie. Sie müssen ihr Profil eigenständig bil- trauen. den können. Dazu zählt für mich, dass die Hochschulen die Möglichkeit erhalten, ihre Studierenden weitgehend Das ist aus meiner Sicht der eigentlich notwendige selbst auszusuchen. Klima- und Kulturwechsel, den wir in unserem Land brauchen. Wir müssen begreifen, dass wir jedem Kind (Ulrike Flach [FDP]: Alle, Frau Bulmahn! – eine Chance geben müssen. Wie dies geschieht, wird im- Michael Kretschmer [CDU/CSU]: Was heißt mer sehr unterschiedlich aussehen. Die individuelle För- „weitgehend“?) derung, Ermutigung und Unterstützung müssen dabei Wie Sie wissen, verhandeln wir derzeit mit den Län- das A und O sein. Nur dann werden wir die Leistungseli- dern über eine konsensfähige Lösung. ten haben, die wir brauchen, um unser Land auch weiter- hin nach vorne zu bringen. (Ulrike Flach [FDP]: Aber ohne Ergebnis!) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Wie Sie auch wissen, treten die einen Länder für eine DIE GRÜNEN) 25-prozentige Quote und die anderen Länder für eine 50-prozentige Quote ein. Ich habe gesagt: Ich möchte, Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich zu dass der Anteil möglichst hoch ist. Aber wir müssen zu den Spitzenuniversitäten zurückkommen. Ich habe vor- einer vernünftigen Vereinbarung kommen, die praktika- hin gesagt, jede Universität entscheidet selbst, mit wel- bel und gerecht ist. chem Konzept sie in die Spitze vordringt. Die Besten sollen nicht von Politikern, Beamten oder Ministerien, (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des sondern von einer international zusammengesetzten BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) 7742 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2004

Bundesministerin Edelgard Bulmahn (A) Darüber müssen wir reden. Ich bitte alle Kollegen, die dukts für Forschung und Entwicklung bereitzustellen, (C) sich hier geäußert haben, in ihren Parteien dafür Sorge erreichen wollen. zu tragen, dass wir zu einem Ergebnis kommen; denn (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten ohne die Länder können wir nichts machen. Sie sind in des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) erster Linie gefragt. Hierzu wünsche ich mir in diesem Parlament den Willen (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten aller Fraktionen, an der Erreichung dieses Ziel mitzuar- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) beiten. Das wird nicht einfach sein; das wissen wir. Wir Ich habe bereits mehrfach deutlich gemacht, dass ich müssen es aber schaffen. Ich sage ausdrücklich: Es nützt bereit bin, das Hochschulrahmengesetz wirklich gründ- nichts, wenn es die Bundesregierung alleine macht. Die lich zu entrümpeln. Aus meiner Sicht reichen zwei bis Wirtschaft muss kräftig zulegen. Zwei Drittel der Mittel drei Seiten Gesetzestext. müssen von der Wirtschaft aufgebracht werden. (Ulrike Flach [FDP]: Dann machen Sie es (Ulrike Flach [FDP]: Tut sie ja schon!) doch mit uns gemeinsam!) – Sie muss auch weiterhin kräftig zulegen, Frau Flach. Dieser Text sollte nur noch das enthalten, was länder- Auch die Länder müssen deutlich aufstocken. übergreifend geregelt werden kann. Das sind die Berei- (Ulrike Flach [FDP]: Das ist richtig!) che Zulassung, Abschlüsse, Dienstrecht und Qualitäts- sicherung. Mehr muss im Text nicht stehen. Wenn wir nämlich die Mittel erhöhen, aber die Länder kürzen, wie das zum Beispiel das Land Niedersachsen (Ulrike Flach [FDP]: Also ran!) zurzeit massiv macht, Frau Flach, ich bin allerdings nicht so blauäugig, zu (Ulrike Flach [FDP]: Alle!) glauben, wir müssten nur Regelungen streichen und dann hätten die Hochschulen die Freiheit, die sie brau- dann bringt das den Hochschulen überhaupt nichts. chen und die ich ihnen geben will. Vielmehr müssen wir Dann wird das für sie ein Nullsummenspiel. hier zu klaren Absprachen kommen, damit die Länder (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten ihre Hochschulen tatsächlich in die Freiheit entlassen. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Innovationen brauchen eine exzellente Forschungsba- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der sis. Die Bundesregierung hat seit 1998 die institutionelle FDP – Jörg Tauss [SPD]: Genau das ist der Förderung deshalb erheblich gesteigert. Wissenschaft Punkt!) benötigt darüber hinaus mittelfristige Planungssicher- (B) (D) Es hilft den Hochschulen überhaupt nichts, wenn der heit. Daher will ich den Forschungsorganisationen an- Bund Vorschriften streicht – das haben wir im Übrigen bieten, ihnen genau diese mittelfristige Planungssicher- auch schon gemacht – und dann die Länder jeden Frei- heit zu geben. raum, den sie haben, wieder im Detail ausfüllen. Des- Im Gegenzug erwarte ich die Bereitschaft zu Zielver- halb müssen wir zu klaren Vereinbarungen kommen. einbarungen wie mehr Chancen für den wissenschaftli- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten chen Nachwuchs, mehr Vernetzung der außeruniversitä- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Jörg ren Forschung mit der Universität – die Forschung muss Tauss [SPD]: Besoldungsrecht? Bayern!) wieder auf den Campus zurückkehren –, keine Auflö- sung und Veränderung der Forschungsorganisation, aber Zur Zukunft der ZVS. Ich bin für jede Veränderung mehr Brücken, Vernetzung und Internationalität sowie der ZVS offen. Es bringt nichts, wenn von Journalisten mehr Wettbewerb innerhalb der Forschungsorganisatio- und auch hier behauptet wird, es gebe hier einen Dis- nen. Darüber will ich mit den Präsidenten der For- sens. Darüber gibt es keinen Dissens zwischen uns: Ich schungs- und Wissenschaftsorganisationen am 16. Fe- bin für jede Veränderung der ZVS offen. Ich möchte al- bruar diskutieren. lerdings darauf hinweisen: Die ZVS arbeitet auf der Ba- sis eines Staatsvertrages zwischen den Ländern. (Ulrike Flach [FDP]: Wie stehen Sie denn zur Grundlagenforschung, Frau Bulmahn?) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) – Ist das eine Frage oder nicht? Der Bund ist nicht Mitträger dieser Einrichtung. Deshalb müssen die Bundesländer untereinander zu einem Kon- (Heiterkeit) sens kommen. Punkt. Kurz gesagt: ja zur Grundlagenforschung. Wir dürfen (Ulrich Kasparick [SPD]: Basta! Beifall des uns nicht auf Innovationen als mehr oder minder zufäl- Abg. Ulrich Kasparick [SPD]) lige Nebenprodukte der Forschung verlassen. Deshalb werde ich die Projektförderung meines Ministeriums Wirtschaft und öffentliche Hand haben die Investitio- auf Technologien, die neue Wachstumsfelder erschlie- nen in Forschung und Entwicklung seit 1998 von ßen, und auf Basistechnologien, die als Wachstumstrei- 2,3 auf 2,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts erhöht. ber in vielen Branchen wirken, ausrichten. Das sind die Hier müssen wir aber noch weiter zulegen, wenn wir das Informations- und Kommunikationstechnologien, die Ziel, das die Regierungschefs der EU untereinander ver- Nanotechnologien, die Biotechnologien, die optischen einbart haben, nämlich 3 Prozent des Bruttoinlandspro- Technologien und die Umwelttechnologien, die auch Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2004 7743

Bundesministerin Edelgard Bulmahn (A) eine wichtige Rolle spielen. Entscheidend ist immer, (Zurufe von der SPD: Hört! Hört! – Wilhelm (C) dass das Wissen gezielt genutzt wird. Was die Forscher Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Zuhören, Herr entdecken, muss schnell in marktfähige Produkte umge- Kollege!) setzt werden. Das setzt auch neue Formen der Partner- schaft zwischen Wissenschaft und Wirtschaft voraus, Man muss sich schon mit den Fakten auseinander setzen. die neben die klassischen Verbundvorhaben getreten Das gehört auch zur Bildung. sind. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Möchten Sie, um die inzwischen abgelaufene Rede- Damit haben wir es geschafft, dass deutlich mehr zeit zu verlängern, eine Zwischenfrage zulassen? kleinere und mittlere Unternehmen an unseren Program- men partizipieren. Ich sage ausdrücklich, dass ich in die- sem Jahr in einigen Bereichen der Programmförderung Edelgard Bulmahn, Bundesministerin für Bildung auch kürzen musste. Deshalb habe ich hier nachdrück- und Forschung: lich gesagt, dass wir in den kommenden Haushaltsjahren Ja, ich gestatte alle Fragen. wieder mehr Mittel in Bildung und Forschung investie- ren müssen. Daran geht kein Weg vorbei. Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Bitte schön, Herr Kollege Kretschmer. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Michael Kretschmer (CDU/CSU): Wir müssen das schaffen, damit unsere Wissenschaftler, Frau Ministerin, ich möchte Sie gerne nach Deutsch- aber auch die Forschungseinrichtungen und vor allem land – in das von heute – zurückholen. Sie sprechen ge- die Unternehmen die Chance haben, rade über Projektförderung und mittelfristige Planungs- (Zuruf von der CDU/CSU: An uns soll es nicht sicherheit. Wir sehen, dass an allen möglichen Stellen liegen!) gekürzt wird. Ich nenne das Programm FUTOUR, das wegfällt. Es ist das einzige Programm, das technologie- mit neuen Produkten, neuen Verfahren und neuen orientierte Unternehmensgründungen aus Hochschulen Dienstleistungen wieder Märkte zurückzuerobern. heraus, von denen Sie gerade gesprochen haben, ermög- licht. Das ist uns in zwei Bereichen gelungen, lieber Herr Kollege Kretschmer. Es ist uns zum Beispiel bei der (Ulrich Kasparick [SPD]: Was ist denn Ihre (B) Chipmaskentechnologie gelungen. Amerikanische Un- (D) Frage?) ternehmen haben ihre Forschungs- und Entwicklungsab- „Pro Inno I“ ist im vergangenen Jahr ausgelaufen. Das teilungen wieder nach Deutschland verlagert. neue Programm ist noch nicht angelaufen. Viele Fach- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) programme Ihres Hauses laufen nicht mehr weiter. An- träge werden nicht angenommen. Bei uns stapeln sich Vor fünf Jahren hätte niemand hier im Hause geglaubt, die Briefe der Unternehmer, die forschen möchten. Wie dass das geschehen könnte. passt es zu dem, was Sie gesagt haben, wenn diese Fach- programme wegen der globalen Minderausgabe oder aus (Jörg Tauss [SPD]: Laser! So ist es!) welchen Gründen auch immer reduziert werden und Wir haben das geschafft. Sie waren dabei und wissen es. keine neuen Anträge angenommen werden? Wir haben es in der Lasertechnik geschafft. In wichti- (Jörg Tauss [SPD]: Gute Steilvorlage!) gen Bereichen – ich nenne Industrielaser und Systemla- ser – sind wir wieder Weltspitze. Hier haben wir einen Weltmarktanteil von 40 Prozent. In diesem Sektor arbei- Edelgard Bulmahn, Bundesministerin für Bildung ten mittlerweile 50 000 Beschäftigte. und Forschung: Lieber Herr Kollege, die programmbezogene, projekt- Was die Gründungen von Unternehmen der Biotech- orientierte Forschungsförderung, die ein Weg der nologie und die Zahl der Unternehmen betrifft, sind wir Forschungsförderung neben der Förderung der For- in Europa an der Spitze. Damit das so bleibt und wir schungsorganisation und der Deutschen Forschungsge- diese Wachstumsentwicklung aufrechterhalten können, meinschaft darstellt, ist unter dieser Bundesregierung brauchen wir auch in den kommenden Jahren wieder ebenfalls verstärkt worden. Wir haben auch die For- mehr Geld für Forschung. schungsförderung zum Beispiel der DFG und der MPG deutlich gesteigert. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) (Thomas Rachel [CDU/CSU]: Das war gar nicht seine Frage!) Ich werde deshalb die Forschungsförderung noch stärker auf eine Missionsorientierung ausrichten. Das könnte Die programmbezogene Projektförderung, auf die Sie zum Beispiel „Alzheimer 2010 besiegen“ sein. Das ist sich beziehen, ist gegenüber derjenigen unter der CDU/ eine solche Missionsorientierung. CSU-geführten Bundesregierung um 1,1 Milliarden Euro gestiegen. (Jörg Tauss [SPD]: Schönes Ziel!) 7744 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2004

Bundesministerin Edelgard Bulmahn (A) Entscheidend ist immer, dass die Wissenschaft um den oder Medizintechnologie oder im oberbayerischen Mar- (C) besten Weg zur Erreichung des Ziels konkurriert und tinsried, wo sich in der Umgebung des Genzentrums der dies an klar definierten Meilensteinen überprüft wird. Universität München zahlreiche Unternehmen der so ge- nannten Roten Biotechnologie angesiedelt haben. Wir Meine Redezeit ist abgelaufen. Ich könnte noch vieles wollen keine Elite-Inseln, sondern ein flächendecken- ausführen, aber ich muss jetzt zum Ende kommen. des Qualitätsnetz in Länderzuständigkeit. Jede Hoch- Ich wünsche mir, dass das Parlament häufiger über schule muss in den Bereichen ihres unverwechselbaren Forschung und Entwicklung diskutiert Profils eine Spitzenstellung im internationalen Wettbe- werb einnehmen können. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Jörg Tauss [SPD]: Zulasten der Breite! Genau und dass bei allen auch der Wille vorhanden ist, zu han- der falsche Weg!) deln. Denn wir haben eine Menge zu bieten und wir kön- nen vieles leisten. Richtig ist aber auch, dass andere Län- Das Elitenetzwerk Bayern verknüpft die besten Mo- der ebenfalls viel leisten. Deshalb kommt es darauf an, dule der bayerischen Hochschulen nach einem strengen gemeinsam die Innovationsfähigkeit unseres Landes zu Auswahlverfahren zu Elitestudiengängen und internatio- verbessern. nalen Doktorandenkollegs. Statt weniger Qualitätszellen Vielen Dank. wollen wir ein weites Qualitätsnetz. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der CDU/CSU) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) – Aufgrund der Experimentierklausel im bayerischen Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das war Landeshochschulgesetz hat sich die Technische Univer- doch ganz anders als dieser kritische Kram der sität München mit ihrem besonders technikorientierten CDU/CSU!) Profil als außerordentlich reformfreudig erwiesen. Sie erprobt neue Organisationsmodelle und lässt diese auch Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: regelmäßig evaluieren. Bevor ich der Kollegin Marion Seib das Wort erteile, In Weihenstephan zum Beispiel ist ein international bitte ich alle Kollegen, die sich noch zu Zwischenfragen hochrangiges Kompetenzzentrum in den Bereichen Er- gemeldet hatten, um Nachsicht, dass ich das nach Ablauf der Redezeit nicht mehr berücksichtigen kann, selbst nährung, Landnutzung und Umwelt entstanden. In Gar- wenn der jeweilige Redner oder die jeweilige Rednerin ching, Herr Matschie – er ist nicht mehr im Saal –, ist durchaus Interesse an der Zulassung weiterer Zwischen- auf der grünen Wiese ein Campus für moderne High- fragen haben könnte. techforschung entstanden. Es wurde ein Technologiezen- (B) trum von Weltrang geschaffen, das auch zur Ansiedlung (D) Nun hat die Kollegin Marion Seib, CDU/CSU-Frak- des Forschungszentrums von General Electric führte. tion, das Wort. Beim Ausbau der Fakultäten für Maschinenwesen, für (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Informatik und Mathematik wurden neue Finanzierungs- modelle gefunden. Marion Seib (CDU/CSU): Mit den 50 Millionen Euro aus der bayerischen High- Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und techoffensive, dem Wissenstransfer in die Wirtschaft so- Kollegen! „Die Handlungen der Menschen leben fort in wie mit einer laufenden Evaluation wurde die Gestaltung den Wirkungen.“ und Vernetzung auf Länderebene ermöglicht. (Ulrich Kasparick [SPD]: Donnerwetter!) (Jörg Tauss [SPD]: Und der Rest an der Börse verspekuliert! 1 Milliarde!) – Donnerwetter! Dieser Satz von Gottfried Wilhelm Leibniz setzt die Überschrift über das derzeit notwen- Das brauchen wir auch auf Bundesebene; dige Handeln in der Hochschul- und Forschungspolitik. (Beifall bei der CDU/CSU) Wenn es darum geht, die Ressourcen von Hochschu- len, außeruniversitären Forschungseinrichtungen, klein- denn in einem Elitenetzwerk kommen viele zum Zug. und mittelständischen Unternehmen und auch der Groß- Es wurden Anträge aus der Geisteswissenschaft, Neu- industrie zu bündeln und gegenseitig nutzbar zu machen, rowissenschaft, Mathematik, Physik, Ökonomie, Recht, dann spielen vor allem Kompetenzzentren oder High- Geowissenschaften und Biomedizin vorgelegt. Derzeit tech-Cluster eine wichtige Rolle. liegen 29 Anträge vor. Drei wichtige Punkte werden da- Die Verknüpfung des Know-hows unterschiedlicher bei besonders gewertet: neue Formen der Studenten- und Akteure und deren interdisziplinäre Zusammenarbeit hat Doktorandenbetreuung, der hohe Grad an internationaler sich als Innovationsschmiede bestens bewährt. Wir tun Vernetzung und der deutliche Wille zur Zusammenarbeit das. mit anderen Hochschulen. (Jörg Tauss [SPD]: Wo? – Ulrich Kasparick Die Beispiele zeigen, dass sich die Hochschulen her- [SPD]: Wer?) vorragend in der Freiheit bewegen und bewähren kön- nen. Wir in Bayern können dabei auf bereits bestehende und erfolgreiche Kräfteverbünde verweisen, wie im fränki- (Jörg Tauss [SPD]: Dafür müssen wir sie in die schen Erlangen-Nürnberg im Bereich Material-, Laser- Freiheit entlassen? Was denn nun?) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2004 7745

Marion Seib (A) Deshalb gilt es, den Hochschulen und den Ländern die Die Länder und die Hochschulen werden unter den (C) Freiheiten zu bieten, die für die Weiterentwicklung, Leitzielen Eigenverantwortung, Wettbewerb und Quali- Konkurrenzfähigkeit und eine exzellente Forschung und tätssicherung sowie unter Beachtung des Grundsatzes Lehre wichtig sind. der Berufsfreiheit, (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU so- (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das wie der Abg. Ulrike Flach [FDP]) sind doch alles Sprüche! Sagen Sie das mal Herrn Stoiber!) Frau Ministerin, offensichtlich haben Sie erkannt, dass mit staatlicher Gängelung kein Staat zu machen ist. wie es das Bundesverfassungsgericht formuliert hat, das Aber Ihre Struktureingriffe sind komplett falsch. schaffen, was Sie sich so sehnlichst wünschen: exzel- lente Forschung und Lehre auch für die von Ihnen nicht (Jörg Tauss [SPD]: Das bayerische Wissen- per Preisausschreiben gefundenen 300 Hochschulen der schaftsministerium!) Republik. Sie versuchen nun, den an den Hochschulen entstande- Besten Dank. nen Brand mit Benzin zu löschen. Sie wollen die Mittel, (Beifall bei der CDU/CSU) die Sie dem Hochschulbau entziehen, für wenige einset- zen. Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: (Jörg Tauss [SPD]: Unverschämtheit!) Ich bedanke mich auch für die vorbildliche Unterbie- Die in der Fläche vorhandene, aber von Ihnen ignorierte tung der Redezeit, was außerordentlich selten vor- Exzellenz wird weiter darben. Offensichtlich wollen Sie kommt. sich aus dem Hochschulbau zurückziehen, indem Sie die Nun hat das Wort der Kollege Hans-Josef Fell, Bünd- Mittel kontinuierlich zurückfahren. nis 90/Die Grünen. (Nicolette Kressl [SPD]: Es sind doch die Län- der, die das wollen!) Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Auch wenn Sie bei den Politikern der Union Uneinigkeit Herren! Dieses Jahr soll das Jahr der Innovationen wer- zu konstruieren versuchen, unsere Linie ist klar: den. (Jörg Tauss [SPD]: Oh!) (Jörg Tauss [SPD]: Jahrzehnt!)

(B) Entweder halten Sie an der Gemeinschaftsaufgabe im Nein, dieses Jahr muss das Jahr der Innovation werden. (D) Hochschulbau fest und stellen kontinuierlich und zuver- (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- lässig die entsprechend dynamisierten Mittel zur Verfü- SES 90/DIE GRÜNEN) gung oder Sie verabschieden sich aus der Gemein- schaftsaufgabe und stellen die anteiligen Bundesmittel Denn sonst verlieren wir den Anschluss. Schweden und für den Hochschulbau den Ländern zur Verfügung, und Finnland haben es vorgemacht. Sie haben eine erfolgrei- zwar in vollem Umfang und dynamisiert. che Bildungspolitik und investieren vor allem viel mehr Geld in Forschung und Entwicklung, als wir das tun. (Beifall bei der CDU/CSU) Auch die steuerlichen Rahmenbedingungen zum Bei- Im Hinblick auf die derzeit bis zu einem Jahr dauernden spiel für Venture Capital sind dort besser als bei uns. Genehmigungsverfahren wäre das schlichtweg die bes- Wir haben in diesem Jahr die Chance, eine Aufbruch- sere Alternative. stimmung zu erzeugen. Dafür müssen wir aber auch die Weichen stellen. Innovation muss zwar das wichtigste (Jörg Tauss [SPD]: Ist das auch Stoibers Thema sein – das haben wir bereits erreicht –, aber wir Position?) müssen auch handeln. Wir werden dabei darauf ange- Wir lassen es Ihnen nicht durchgehen, dass Sie sich wiesen sein, dass Sie, meine Damen und Herren von der für alles zuständig erklären, dass Sie aber die notwen- Opposition, an diesem Strang mitziehen und keine wich- dige Finanzausstattung ständig zurückführen oder zeit- tigen Reformen blockieren. lich begrenzen. (Zuruf von der CDU/CSU: Sie ziehen doch (Ulrich Kasparick [SPD]: Plus 23 Prozent!) nirgendwo!) Wir lassen es Ihnen ebenfalls nicht durchgehen, wenn Wir werden sowohl im Bund als auch in den Ländern Sie sich nach bekanntem Muster in Länderkompetenzen sehr viel Geld umschichten müssen. Weg von den Sub- einzukaufen versuchen. Verabschieden Sie sich nicht nur ventionen für Schädliches und Verkrustetes hin zu For- von der ZVS in ihrer heutigen Form, sondern auch vom schung und Entwicklung sowie zu einem besseren Steu- Studiengebührenverbot und von einem viel zu fett ge- errecht vor allem für junge, innovative Unternehmen! wordenen Hochschulrahmengesetz. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Soll Herr Die Union hat im Bundestag Anträge vorgelegt, die Stoiber den Staatsvertrag doch kündigen! – Jörg darauf abzielen, die steuerlichen Rahmenbedingungen Tauss [SPD]: Nicht zu fassen!) für innovative Unternehmen zu verbessern. CDU und 7746 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2004

Hans-Josef Fell (A) CSU präsentieren aber derzeit alle paar Tage ein neues brauchen nicht, wie Bush vorschlägt, neue Astronauten (C) Steuerkonzept. Ich möchte Ihnen an dieser Stelle raten: auf dem Mond oder auf dem Mars. Wir brauchen Ideen, Arbeiten Sie das, was Sie in Ihren Anträgen fordern, erst wie die Probleme auf diesem Planeten gelöst werden einmal in Ihre Steuervorschläge ein. Das haben Sie bis- können. her versäumt. In Ihren Steuervorschlägen lässt sich nichts dazu finden. (Volker Kauder [CDU/CSU]: Frau Bulmahn sucht doch Wasser auf dem Mars!) Wer an Steinkohlesubventionen, an der Förderung des Agrardiesels, an der Entfernungspauschale oder an der Wir brauchen Unternehmer und Wissenschaftler, die da- Eigenheimzulage festhält und gleichzeitig die Aufsto- ran arbeiten, und wir brauchen eine Politik, die den Weg ckung der Mittel für Bildung, Forschung und Entwick- dazu frei macht. Wir brauchen Leitvisionen, die die Ge- lung verwehrt, sägt an der Zukunft dieses Landes. Leider sellschaft mitreißen und Innovationen hervorrufen. haben Sie sich von der Union im Vermittlungsausschuss Eine solche Leitvision kann die Problemlösung für – teilweise sogar mit Erfolg – um die Konservierung der die alternde Gesellschaft sein. Wir Deutschen werden alten Strukturen bemüht, statt eine Offensive für Bildung immer älter und müssen gleichzeitig innovativer werden. und Forschung einzufordern. Ihre heutigen Forschungs- Es muss uns gelingen, die damit verbundenen Heraus- vorschläge greifen zudem viel zu kurz und gehen sogar forderungen zu bewältigen, indem wir neue Dienstleis- in die falsche Richtung. Wir können ihnen nicht zustim- tungen, neue Technologien und neue Medikamente ent- men. wickeln. Deutschland als alternde Gesellschaft muss die (Jörg Tauss [SPD]: Was heißt hier „die heuti- Demenz sehr ernst nehmen. Wir wollen Alzheimer be- gen“? Alle! Ständig! Furchtbar!) siegen oder wenigstens stark zurückdrängen. Ein Wettbewerb der Hochschulen – von Frau Eine zweite Leitvision ist das solare Zeitalter. Wir Bulmahn vorgeschlagen – kann, richtig gestaltet, eine müssen uns darauf einstellen, dass die Erdölressourcen positive Dynamik auslösen. Aber was helfen denn die knapp werden und dass wir eine vollkommen neue Ener- vom Bund eingestellten Millionen, wenn in den Ländern gieversorgung benötigen. Der Klimaschutz verbietet ein im gleichen Zeitraum das entsprechende Geld eingespart Ausweichen auf die Kohle. Folglich brauchen wir eine wird? Frau Seib, Sie haben das bayerische Modell mit Vision des solaren Wirtschaftens für die Energie- und guten Maßnahmen für Bildung und Forschung vorge- Stoffwirtschaft. Sie, meine Damen und Herren von der schlagen. Opposition, setzen stattdessen auf alte, von der Mehrheit der Gesellschaft längst abgelehnte Technologien wie (Jörg Tauss [SPD]: Jetzt aber!) Kernenergie oder gentechnisch veränderte Lebensmittel. (B) Beides wird von 80 Prozent der Bürger abgelehnt. Sie (D) Waren Sie letzte Woche in Würzburg, als Studenten lehnen Reformen wie REACH ab, die der chemischen beim Besuch von Herrn Minister Goppel auf die Straße Industrie neue, große Chancen für umweltfreundliche gegangen sind, um gegen die massiven Kürzungen im Innovationen gibt. Sie beharren stattdessen auf der jetzi- bayerischen Landeshaushalt zu protestieren? Dieses Mo- gen Altstoffverordnung, die in den letzten 20 Jahren dell wollen wir nicht haben. Sie haben hier ein schlech- kaum neue Stoffe entwickeln ließ. Daran erkennt man tes Beispiel geliefert. Das sollten Sie zur Kenntnis neh- Ihre Innovationsfeindlichkeit. men. Wir setzen dagegen auf eine Innovationsoffensive, die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Techniken befördert, die eine hohe gesellschaftliche Ak- und bei der SPD) zeptanz haben, wie die Biotechnologie für neue Treib- Zur Reform des Hochschulrahmengesetzes möchte stoffe, für Solartechniken, für neue Dienstleistungen in ich hier nur so viel sagen: Sie ist zwingend notwendig; der Gesellschaft. aber Bund und Länder müssen gemeinsam erklären, wie (Beifall des Abg. Dr. es weitergehen soll. Diesen Prozess hat Ministerin [SPD]) Bulmahn begonnen. Aber es kann nicht sein, dass sich der Bund zurückzieht, um den Hochschulen die von uns Wir wollen die Menschen mitreißen und ihnen Mut zur Grünen schon lange geforderte Autonomie zu geben; Arbeit an der Lösung der ökologischen und sozialen Pro- denn dann kommen die Länder und regeln alles selbst bleme geben. So schaffen wir gleichzeitig Arbeitsplätze. wieder genauso wettbewerbsfern wie bisher. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Wenn wir das Thema Innovationen ernst nehmen und bei der SPD – Axel E. Fischer [Karlsruhe- – wir müssen es tun –, dann müssen wir in den nächsten Land] [CDU/CSU]: Was ist mit den ökonomi- Jahren im Bund und in den Ländern einige Milliarden schen Problemen?) Euro hin zu Bildung und Forschung umschichten. Wir müssen das Geld so umschichten, dass für die Wirtschaft Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: deutliche Anreize geschaffen werden, dabei mitzuma- Das Wort hat nun die Kollegin Gesine Lötzsch. chen. Vor allem muss deutlich mehr Kapital für Innova- tionen in der Wirtschaft bereitgestellt werden. Aber es gilt auch: Geld allein wird nicht reichen. Das heißt, wir Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos): brauchen ein Klima, in dem mehr Mut entsteht, neue Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- Ideen zu entwickeln, zuzulassen und umzusetzen. Wir ren! Sehr geehrte Gäste, ich bin Abgeordnete der PDS. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2004 7747

Dr. Gesine Lötzsch (A) Bereits im Jahr 1990 stellte Professor Simon, der da- letzten Jahr stagnierenden Finanzierung kam es bei der (C) malige Präsident des Wissenschaftsrates, dem Hoch- Max-Planck-Gesellschaft – Herr Tauss ist ja Experte für schulsystem der Bundesrepublik ein schlechtes Zeugnis die Max-Planck-Gesellschaft – aus. Er sagte: „Das Hochschulsystem der Bundesrepu- (Axel E. Fischer [Karlsruhe-Land] [CDU/ blik ist im Kern verrottet.“ Jetzt, 14 Jahre später, reagiert CSU]: Meint er!) die SPD mit dem Vorschlag, Eliteuniversitäten zu fördern. Angeblich war es eine Idee von Herrn – meint er, das war von mir auch nicht ganz ernst ge- Müntefering: Brain up! Deutschland sucht seine Spitzen- meint; Sie kennen ja die Auseinandersetzung zwischen universitäten! uns – zur Streichung von einem Drittel der selbstständi- gen Nachwuchsgruppen. Ich frage mich: Was machen (Jörg Tauss [SPD]: Der Müntefering ist gut!) Sie denn mit den Elitestudenten nach der Uni, wenn die Wenn wir hier über Wissenschaftssysteme reden, soll- Zahl der Stellen für die Spitzenforschung in den For- ten wir klar unterscheiden, was wir als Tribut an die schungsorganisationen stagniert oder sogar rückläufig Eventkultur betrachten und was langfristig wissen- ist? Frau Bulmahn, Sie sollten die vorhandene Spitzen- schaftspolitisch erreicht werden soll. Ich finde, Sie soll- forschung fördern und den Wissenschaftsorganisationen ten sich weniger von Herrn Henkel oder von den Pro- eine längere Planungssicherheit geben. Das wäre eine grammdirektoren von RTL oder SAT 1 beeinflussen wirklich gute und nachhaltige Wissenschaftspolitik. lassen, sondern einfach einmal in eine seriöse Statistik Nun noch ein Wort zum Kanzler Gerhard Schröder. schauen. Die „FAZ“ schreibt am 27. Januar, 4 Prozent des Brutto- (Beifall der Abg. Petra Pau [fraktionslos] – inlandsprodukts flössen jährlich in die ostdeutschen Län- Jörg Tauss [SPD]: Ausgerechnet Herr der. Herr Schröder wird zitiert – ich zitiere mit Erlaubnis Henkel!) des Präsidenten –: Die OECD hat für ausgewählte Länder eine schöne Ich wage mir gar nicht auszudenken, was wäre, hät- Übersicht über die Studienanfängerquote vorgelegt. ten wir auch nur zehn Prozent davon für die natio- Neuseeland liegt mit 75,8 Prozent auf Platz 1, Deutsch- nale Forschung … land auf Platz – Sie dürfen raten – 23. Unser Nachbar- Abgesehen davon, dass hier wieder einmal der Eindruck land Polen zum Beispiel liegt auf Platz 4 und Ungarn auf vermittelt wird, das Geld sei für den Osten eigentlich zu Platz 8. Schon allein aufgrund dieser Zahlen ist Ihre Idee schade, ist es doch gerade Sache des Bundeskanzlers, et- von Eliteuniversitäten der Lächerlichkeit preisgegeben. was dafür zu tun, damit mehr Geld aus dem Solidar- Wir werden in Deutschland nur dann Spitzenkräfte pakt II für Wissenschaft und Forschung im Osten (B) hervorbringen können, wenn wir einen breiten Zugang ausgegeben wird. Denn gerade im Osten brauchen wir (D) zur Bildung ermöglichen. Doch davon sind wir weit ent- überproportional viel Wissenschaft und Forschung und fernt. Die kürzlich veröffentlichte IGLU-Studie hat das wir brauchen dringend Spitzenforschung. wieder einmal untermauert. In unserem Land studieren (Beifall der Abg. Petra Pau [fraktionslos]) nicht zu viele Menschen, sondern zu wenige und ihr Le- bensweg wird sehr früh, bereits in der Grundschule, fest- Ich kann das auch begründen. gelegt. Hinzu kommt, dass sich in der Bundesrepublik Erstens. Von der Abwicklung von Wissenschaft und die wenigen Studenten noch weniger Studienplätze tei- Forschung nach der Wende haben sich die Industriefor- len müssen. Doch dieses Problem wollen Sie offenbar schung, die Universitäten und die außeruniversitäre For- gar nicht lösen. Sie wollen einen Bruchteil dieser Stu- schung noch nicht erholt. Auf 1 000 Einwohner kommt denten besser stellen als den Rest und hoffen, so eine nur noch ein Wissenschaftler. Das ist eine dramatisch Elite bilden zu können. niedrige Zahl. (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Wenn Zweitens. Ich denke, alle müssten inzwischen erkannt Sie zugehört hätten, hätten Sie das jetzt nicht haben, dass mit Lausitzring und Vergnügungspark der ablesen müssen!) Osten nicht zu retten ist, sondern nur durch langfristig Ich denke, das wird nicht funktionieren. Das ist leider wirkende Ansiedlung von Spitzenforschung, zum Bei- der falsche Weg. spiel von Max-Planck-Instituten. Mich erinnert das ein bisschen an den Transrapid. Sie Drittens. Wenn wir die Jugend im Osten halten wol- finanzieren mit sehr viel Steuergeldern einen Schnell- len, dann müssen wir Wissenschaft und Forschung im zug, der nicht mit dem Schienensystem in unserem Land Osten ansiedeln, um kreativem wissenschaftlichen kompatibel ist. Sie sind offensichtlich zufrieden, wenn Nachwuchs auch hier eine Chance zu geben. ein Hochleistungszug im Emsland im Kreis herum fährt, Mein Vorschlag lautet also: Frau Bulmahn, legen Sie die Bürger aber weiter auf verspätete Züge der Deut- ein Wissenschaftsprogramm für die neuen Länder auf, schen Bahn warten müssen. Mit solchen kurzatmigen treffen Sie eine Vereinbarung mit den Ländern, die si- Brain-up-Initiativen werden Sie das Wissenschaftssys- cherstellt, dass mehr Geld aus dem Solidarpakt II in Bil- tem auf Dauer nicht stärken; Sie werden es weiter dung, Wissenschaft und Forschung fließt. Für ein sol- schwächen, weil Sie nämlich eine Illusion verkaufen. ches Programm und für eine solche Unternehmung Wir sollten lieber über die vorhandene Spitzenfor- hätten Sie auch die volle Unterstützung der PDS im schung in der Bundesrepublik reden. Aufgrund der im Bundestag. 7748 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2004

Dr. Gesine Lötzsch (A) Vielen Dank. jektive Studien, zum Beispiel von der Prognos AG; eine (C) Studie wurde erst vor wenigen Tagen veröffentlicht. (Beifall der Abg. Petra Pau [fraktionslos] – Jörg Tauss [SPD]: Frau Expertin, das war wie- Die Stärken Deutschlands liegen auch – nicht nur – in der mal was!) der Automobilindustrie, in der Chemieindustrie, im Werkzeugmaschinenbau und in der Biotechnologie. Das Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: sind einige wichtige Innovationsbranchen in unserem Land. Ich erteile das Wort dem Kollegen Walter Hoffmann, SPD-Fraktion. Die Automobilindustrie ist weltweit wohl die inno- vativste Branche überhaupt. Sie hat ihre Forschungsaus- Walter Hoffmann (Darmstadt) (SPD): gaben in den letzten zehn Jahren deutlich erhöht. In vie- Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Ich len Bereichen, in der Motorentechnik, in der Elektronik, will mich auf einige Anmerkungen zum Zusammenhang bei den Sicherheitsstandards, sind wir führend. Darauf von Innovation, Forschung und Entwicklung sowie sollten wir und darauf können wir auch stolz sein. Wirtschaftspolitik konzentrieren, die in der bisherigen Die chemische Industrie ist der Innovationsmotor in Diskussion vielleicht noch nicht in angemessenem Um- Deutschland. Ein Großteil der Neuentwicklungen der fang einbezogen worden sind. chemischen Industrie hat entscheidende Bedeutung für Prozesse in anderen Branchen, übrigens auch in der Au- Erlauben Sie mir einen persönlichen Einstieg. Ich tomobilindustrie. habe in meinem Bekanntenkreis eine Reihe von Perso- nen, die auf dem chinesischen Markt beruflich tätig sind. Vorhin ist die Lasertechnik genannt worden. Sie ist Sie investieren dort, verkaufen Produkte und Dienstleis- ein Beispiel aus dem Werkzeugmaschinenbau. Jede tungen und nutzen alle Chancen, die sich in der Volks- fünfte Werkzeugmaschine der Welt kommt aus Deutsch- wirtschaft des größten Landes der Erde ergeben. Wenn land. Die zehn größten Werkzeugmaschinenhersteller, wir zusammenkommen, berichten sie von den Erfahrun- die größten Unternehmen dieser Branche, sind deutsche gen, die sie dort machen. Diese Erfahrungen sind aus Unternehmen. Ihre Innovationen haben entscheidenden meiner Sicht für unsere Diskussion zur Modernisierung Anteil an den Innovationen fast aller anderen Branchen. unseres Landes von großer Bedeutung. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Sie berichten zum Beispiel, dass in China eine Ar- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) beitsstunde 2,50 Euro kostet und dass die Menschen dort Ich hatte am Rande eines Neujahrsempfangs Gele- häufig bereit sind, für diesen Preis rund um die Uhr zu genheit, mit einem Wissenschaftler der Gesellschaft für (B) arbeiten. Wir alle wissen, dass unsere Unternehmen, Schwerionenforschung zu sprechen. Er kam nach seiner (D) Produkte und Dienstleistungen, aber auch die Arbeitneh- Rede auf mich zu und sagte: Herr Hoffmann, wir haben mer mit chinesischen Unternehmen, Produkten und fast so viele oder sogar mehr Patente als die Vereinigten Dienstleistungen sowie Arbeitnehmern konkurrieren. Staaten. Darauf können wir stolz sein. Wir sollten das of- Uns allen ist auch klar, dass wir mit Lohnkosten in Höhe fensiv und selbstbewusst nach außen vertreten. von 2,50 Euro in der Stunde nicht konkurrieren können und nicht konkurrieren wollen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Dennoch sind diese Personen auf dem chinesischen Ich habe das deshalb gesagt, weil vorhin Frau Reiche Markt erfolgreich. Das hängt von verschiedenen Fakto- dieses Horrorszenario gebracht hat. Uns allen ist doch ren ab. Ein ganz entscheidender Faktor ist, dass sie über klar, denke ich, dass Innovationen nicht allein durch eine gute Ausbildung, auch im Vergleich zu chinesi- mehr Geld kommen; schen Arbeitnehmern oder Unternehmern, verfügen. Ein (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten weiterer Faktor ist, dass sie hoch qualifizierte Mitarbei- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) ter haben, die ebenfalls gut ausgebildet sind. Ein anderer Faktor ist, dass sie auf dem chinesischen Markt qualita- sie hängen mit einem innovationsfreundlichen Klima zu- tiv hochwertige innovative Produkte vertreiben, die mit sammen. Daran haben auch die Meinungsträger des Deut- moderner Spitzentechnologie erzeugt werden. schen Bundestages einen ganz entscheidenden Anteil. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Ihre Stärke heißt – um es einmal ein bisschen plakativ zu Die positive Entwicklung in der Biotechnologie ist sagen –: Innovation. Innovation faktisch als Motor für bereits geschildert worden. Darauf einzugehen kann ich die Entwicklung dieser Produkte, die dann auf dem chi- mir hier sparen. nesischen Markt abgesetzt werden. Die Prognos AG befasst sich auch mit der Frage: Wie könnte es möglicherweise im Jahr 2020 aussehen? Auch Wir alle wissen, dass Deutschland im 20. Jahrhundert da sieht es gut aus. Sie sagt: Wir werden eine wichtige eines der innovativsten Länder der Welt in den Berei- Rolle als Hochtechnologieland spielen – aber nur dann, chen Technik, Naturwissenschaft und Forschung war. wenn bestimmte Weichenstellungen vorgenommen wer- Wir sind in vielen Bereichen – das ist von vielen Vorred- den. nern schon gesagt worden – nach wie vor vorn. Das be- legen nicht nur unsere eigenen Zahlen, sondern auch ob- (Jörg Tauss [SPD]: Ja!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2004 7749

Walter Hoffmann (Darmstadt) (A) Nur dann bleiben wir an der Spitze, nur dann werden wir hängen und werden nicht zur Umsetzung von Maßnah- (C) den Wohlstand in unserem Land erhalten. Das bedeutet men verwendet. im Grunde genommen: Wir müssen die Bedingungen für (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Innovationen und Investitionen verbessern, das Problem DIE GRÜNEN) der Alterung unserer Gesellschaft in den Griff bekom- men, Staat und Gesellschaft modernisieren und For- Lassen Sie uns auch gemeinsam daran arbeiten, das schung und Bildung stärker fördern, als wir es heute tun. Potenzial älterer Arbeitnehmer zu reaktivieren. Wir soll- ten nicht darauf stolz sein, wenn wir ältere Arbeitnehmer (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ möglichst frühzeitig, schon mit 50, 51, 52 Jahren, nach DIE GRÜNEN) Hause schicken. Es gibt keinen Grund zur Selbstzufriedenheit; damit (Beifall bei Abgeordneten der SPD) ich nicht missverstanden werde. Das ist gar nicht das Dieses enorme Potenzial sollten wir mittel- und langfris- Thema. Die anderen haben nicht geschlafen, sie sind tig auch für Innovationen nutzen. besser geworden. Wir müssen somit hart daran arbeiten, dass wir den Vorsprung in den Bereichen, wo wir spitze Wir brauchen eine bessere Verzahnung von For- sind, aber auch in anderen Bereichen halten. Das ge- schung und Unternehmen zur schnelleren Entwicklung schieht auch. Wir brauchen neue innovative Produkte marktreifer Produkte; damit gäbe es auch mehr Welt- und Verfahren mit hoher Qualität, kluge Lösungen bei marktpatente aus Deutschland. wettbewerbsfähigen Lohnkosten und eine Verbesserung der Standortbedingungen. Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Herr Kollege, denken Sie bitte an die Redezeit. Im Jahre 2003 haben wir wichtige Voraussetzungen geschaffen. Viele Diskussionen, die hier liefen, konzent- rierten sich auf die Agenda 2010. Viele Schwerpunkte Walter Hoffmann (Darmstadt) (SPD): betreffen in der Tat den Umbau der sozialen Sicherungs- Abschließend lassen Sie mich noch sagen: Ein wichti- systeme. Aber darum ging es ja nicht alleine. Viele kon- ger Punkt ist Bürokratieabbau, denn kleinere und mitt- krete Schritte, die wir mit der Agenda 2010 beschlossen lere Betriebe, die forschen und entwickeln wollen, kran- haben, betrafen den wirtschaftspolitischen Rahmen und ken an einem Übermaß an Bürokratie. Von daher ist der verbesserten die Möglichkeiten für Innovationen: Sen- Abbau von Bürokratie und Wettbewerbsbeschränkungen kung der Steuern, Förderung der Gründung von Unter- ein weiterer wichtiger Schwerpunkt. nehmen, Abbau hemmender Regelungen. Trotz des Innovation ist ein langfristiger Prozess, in den wir alle (B) Sparkurses haben wir die Investitionen des Bundes in gesellschaftlichen Kräfte einbinden müssen. Deshalb ist (D) Forschung und Entwicklung gestärkt. Wir sind dabei es gut, dass der Bundeskanzler das Jahr 2004 zum Jahr dem Ziel, die Lohnnebenkosten auf unter 40 Prozent zu der Innovationen erklärt hat. Hier sind wir alle gefordert drücken, ein Stück näher gekommen. Im steuerlichen und sollten daran mitarbeiten. Es geht um die Zukunfts- Bereich haben wir einen großen Schritt gemacht. Wir fähigkeit unseres Landes auf einem immer schwieriger wollten noch weiter gehen; Sie haben es blockiert. Nun werdenden Weltmarkt. In diesem Sinne sollten wir das gut, wir werden weiter daran arbeiten. ganz aktiv und mit viel Drive unterstützen. Lassen Sie mich in dem Zusammenhang noch einmal Vielen Dank. deutlich sagen: Ohne soziale Sicherheit und ohne sozia- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ len Ausgleich, ohne Solidarität der Starken mit den DIE GRÜNEN) Schwachen werden nur wenige die Chance haben, Wis- sen zu erwerben und zu Innovationen beizutragen. An- ders ausgedrückt: Die Erhaltung unseres Sozialstaates ist Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: wichtiger Bestandteil einer zukunftsgerichteten Wirt- Ich erteile das Wort Frau Professor Böhmer, CDU/ schaftspolitik und Voraussetzung für Innovationen. Hier CSU-Fraktion. besteht aus meiner Sicht ein ganz entscheidender Zu- sammenhang, der häufig nicht ausreichend berücksich- Dr. Maria Böhmer (CDU/CSU): tigt wird. Umgekehrt gesagt: Ohne Innovationen gibt es Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und kein Wachstum und keine soziale Sicherheit. Wir brau- Kollegen! Die Rede der Bundesministerin Bulmahn ist chen daher mehr Investitionen – das wurde bereits ge- ein Paradebeispiel dafür, wie diese Bundesregierung im- sagt – in Wirtschaft und Staat. Wir brauchen eine bessere mer wieder Ankündigungspolitik betreibt. Innovationsförderung. Diese muss sich vor allen Dingen auf kleine und mittlere Betriebe konzentrieren. Wir müs- (Beifall bei der CDU/CSU) sen auch die berufliche Ausbildung verbessern – das ist Das Auseinanderklaffen zwischen Reden und Handeln, ein entscheidender Standortvorteil –, benachteiligten Frau Bulmahn, ist eklatant. Auf die Frage, wann Sie end- Gruppen besseren Zugang zu Bildung ermöglichen und lich Gesetzentwürfe zum Hochschulrahmengesetz vorle- für mehr Kinderfreundlichkeit durch bessere Möglich- gen, haben Sie geantwortet, Sie wollten erst reden. Auf keiten zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf sorgen. die Frage, wie Sie die Mittel verteilen, haben Sie geant- Da wird eine ganze Menge getan. Wir haben Milliarden wortet, Sie wollten erst reden. Sie haben doch in den investiert; diese bleiben aber häufig bei den Ländern ganzen Jahren genug Zeit gehabt, um zu reden und zu 7750 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2004

Dr. Maria Böhmer (A) handeln! Aber Sie haben kostbare Zeit verstreichen las- Frau Bulmahn, ich habe gerne von Ihnen gehört, dass (C) sen. Das holt Sie jetzt ein; denn Sie haben die Weichen Sie die Forschung auf dem Campus stärken wollen und über Jahre hinweg falsch gestellt. vor allen Dingen dorthin zurückholen wollen. Aber Ihre Weichenstellung bewirkt genau das Gegenteil von dem, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Jörg was notwendig ist. Wenn Sie in Ihrer Rede vom Tauss [SPD]: Wieder mal Quatsch mit Soße!) 20. Januar verkünden, dass Sie die großen Forschungs- Wir müssen auch fragen, was es mit dieser Innova- organisationen unter Ihr Dach, also in die Zuständigkeit tionsrhetorik auf sich hat. Innovation ist kein Selbst- des Bundes, übernehmen wollen, aber die Leibniz-Ge- zweck. Innovation ist auch nicht planbar; das wissen Sie sellschaft gleich zerschlagen und die Finanzierung des genau. Trotzdem versuchen Sie immer wieder, Innovati- Hochschulbaus in die Zuständigkeit der Länder übertra- onen zu planen. gen wollen, dann kann ich Ihnen nur sagen: Herr Zöllner, Ihr Kollege aus Rheinland-Pfalz, der Sprecher (Zuruf von der SPD: Quatsch!) der SPD-Wissenschaftsminister, hat erklärt, dass diese Ich frage mich: Welche Innovationen meinen Sie eigent- Verlagerung der Spitzenorganisationen zum Bund die lich? deutsche Hochschullandschaft ins Mark treffen würde. Das stimmt. (Hans-Josef Fell [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das haben wir doch gerade gezeigt!) (Zuruf von der CDU/CSU: Wo er Recht hat, hat er Recht!) Sie haben in Ihrer Rede am vergangenen Montag gesagt: Förderung nur von Forschung, die Fortschritt und Be- Der Deutsche Hochschulverband hat erklärt, dass das schäftigung schafft. Was ist denn eigentlich Fortschritt? der Anfang vom Ende der Spitzenforschung an den Uni- Wenn ich Herrn Fell höre, wird mir, ehrlich gesagt, doch versitäten sei. etwas angst und bange. (Nicolette Kressl [SPD]: Wollen Sie die Kolle- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zu- gen aus Ihrer Fraktion fragen?) ruf von der CDU/CSU: Mir auch!) Sie zerschlagen das, was gewachsen ist, und schwächen Ich sehe, dass Sie oft klare Grenzziehungen vorneh- die Stärken, die wir haben. Das geht in die falsche Rich- men. Aber an bestimmten Stellen – ich nenne die Grüne tung. Gentechnologie und das REACH-Programm im Zusam- menhang mit der Chemikalienpolitik; ich könnte auch (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – den Emissionshandel hinzufügen – liegen Innovations- Nicolette Kressl [SPD]: Könnten Sie einmal hemmer erster Klasse auf dem Tisch. mit Herrn Röttgen reden?) (B) (D) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Ich fand es eine besonders aparte Antwort von Ihnen, neten der FDP) als Sie uns mit Ihrer neuen Idee „Brain-up“ konfrontiert haben. Die Wortschöpfung ist heute schon hinreichend Das wird dazu führen, dass Chemieunternehmen abwan- kommentiert worden. Man muss aber auch einmal darüber dern, dass Arbeitsplätze wegfallen und dass wir in un- nachdenken, welchen Verschnitt diese Idee bedeutet. Peter serem Land noch weniger Wachstum haben werden, als Glotz hat Ihnen geraten, von Ihrem Eliteexperiment Ab- es jetzt der Fall ist. stand zu nehmen, weil er es für den falschen Weg hält. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zu- Er hat sehr wohl gefordert, dass an drei Universitäten ruf von der CDU/CSU: Das ist die rot-grüne 50 Millionen Euro pro Jahr gegeben werden sollten. Das Politik!) ist die Idee von . Aber er hat etwas Wesentli- ches hinzugefügt, nämlich dass die Hochschulen, gerade Ich habe sehr wohl gehört, Herr Hoffmann, dass Sie wenn es um Spitzenleistungen gehen soll, aus der Fach- davon sprachen, man müsse Deutschland jetzt stärken. aufsicht durch die Ministerien und dem starren Beamten- Sie haben auch von der Automobilindustrie gesprochen. recht entlassen werden müssten. Geld allein, noch dazu Ich halte eine ganze Menge davon, dass man das, was in einem Wettbewerb, der formalisiert ist, der neue Bü- man klassische Bereiche nennt – ob Automobil, Chemie, rokratie bedeutet und neue Kommissionen schafft – die Pharmazie oder Maschinenbau –, stärkt und mit neuen Sie ja alle so lieben –, wird nicht zu dem Ergebnis füh- Bereichen verbindet. Die Verbindung von Automobilin- ren, das Sie sich wünschen und das wir dringend brau- dustrie und Digitalisierung ist ein großer Ansatzpunkt chen, nämlich zu einer Wissenschaftselite in unserem für uns. Land. Eine Elite zu schaffen, die nur auf einige wenige (Jörg Tauss [SPD]: Natürlich: Es ist kein Chip Universitäten konzentriert ist, geht völlig an der Sache im Auto! Das gilt vielleicht für den Käfer Jahr- vorbei. gang 1950!) (Beifall bei der CDU/CSU – Wilhelm Schmidt Das wird kurzfristig zu mehr Arbeitsplätzen und mehr [Salzgitter] [SPD]: Starten Sie doch einmal Wachstum in unserem Land führen. Man muss an der eine beamtenrechtliche Initiative! Da kommt richtigen Stelle fördern und darf nicht nur Nebelkerzen aus Ihrer Ecke überhaupt nichts!) werfen. Sie haben uns erklärt, dass Sie das Hochschulrahmen- (Beifall bei der CDU/CSU – Jörg Tauss [SPD]: gesetz entrümpeln wollen. Aber in den letzten Jahren ha- Haben Sie einen Käfer Jahrgang 1950?) ben Sie genau das Gegenteil gemacht. Sie haben die Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2004 7751

Dr. Maria Böhmer (A) Hochschulen in die Zwangsjacke eines rechtlichen Kor- – Mit der ZVS muss Schluss sein. Das wissen Sie ganz (C) setts gesteckt. Jetzt spielen Sie sich als Retterin der genau. Herr Tauss, Sie wollen das Gegenteil. Hochschulfreiheit auf. Das finde ich unerhört. (Jörg Tauss [SPD]: Ist doch Unfug, (Beifall bei der CDU/CSU) völliger Unfug!) Wir müssen endlich mit Reformen Ernst machen. Wir müssen weitergehen. Auf der Länderebene muss Wir haben einen Gesetzentwurf vorgelegt, der Wege es schlanke Hochschulgesetze geben. Wir brauchen im weist, wie man weniger Bürokratie und weniger recht- Hochschulbereich einen Dreiklang der Freiheit: erstens liche Einengung erreichen kann, und der deutlich Organisationsfreiheit der Hochschulen, die Möglichkeit macht, welche falschen Vorschriften abzuschaffen sind. zur Profilbildung und das Herunterbrechen der Kompe- Die FDP – Kompliment – hat ebenfalls einen Gesetz- tenzen auf die Fachbereiche. entwurf vorgelegt. Es gibt damit zwei grundlegende Ini- tiativen zur Novellierung des HRG. Wenn Sie zu bei- Wir brauchen zweitens Personalfreiheit, nicht nur den Ja sagen, dann kommen wir ganz schnell – das ist was die Auswahl der Studenten betrifft. Wir brauchen auch notwendig – zu mehr Freiheit und damit zu mehr die Möglichkeit der staatsfreien Berufung der Professo- Autonomie für die Hochschulen sowie zu mehr Wett- ren durch die Hochschulen. Die Hochschulen müssen bewerb. Das sind wesentliche Voraussetzungen für Dienstherreneigenschaft und Arbeitgeberfunktion erhal- Spitzenleistungen der Wissenschaft in unserem Land. ten. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Peter Dreßen [SPD]: Das müssen Sie dem neten der FDP) Ministerpräsident Teufel erzählen!) Ich sage Ihnen auch ganz klar: Sie greifen immer wie- Es kann nicht sein, dass der Wissenschaftsminister im- der in die Kiste alter Ideen. Sie haben beispielsweise den mer noch derjenige ist, der letztendlich der Dienstherr Hochschulen den Juniorprofessor verordnet, obwohl ist. Hier müssen der Präsident bzw. der Rektor einer Uni- Sie es längst hätten besser wissen müssen. Der Junior- versität in der Verantwortung stehen. professor ist das, was vor Jahren einmal der Assistenz- (Beifall bei der CDU/CSU) professor war. Dieses Experiment ist gescheitert. Denn schon damals konnten die Wissenschaftlerinnen und Wir brauchen drittens Finanzfreiheit. Frau Ministe- Wissenschaftler, die sich im Hochschulbereich qualifi- rin, Sie sträuben sich immer noch gegen die Einführung zieren wollten, nicht forschen, weil sie von der Lehre so- von Studiengebühren. Ich stimme sehr der Aussage zu, zusagen aufgesogen wurden. Sie hatten keinen Tenure dass es den Hochschulen überlassen bleiben muss, ob sie Track und sie standen nachher mit größten Existenzsor- Studiengebühren einführen wollen oder nicht. (B) (D) gen da. Erforderlich sind aber nicht nur Veränderungen auf Jetzt machen Sie wieder den gleichen Fehler. Sie bin- der Einnahmeseite. Auf der Ausgabenseite sind globale den Kräfte an der falschen Stelle und schaffen die Habi- Budgets für die Hochschulen notwendig, damit diese litation faktisch ab, anstatt den Universitäten die not- – entsprechend ihren Schwerpunkten – entscheiden kön- wendige Freiheit zu geben. Lassen Sie die nen, wie die finanziellen Mittel für Personal- und Sach- Qualifizierungen zu, die angezeigt sind, und schreiben kosten eingesetzt werden sollen. Sie nicht immer den Ländern und den Universitäten vor, was sie zu tun haben! Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Frau Kollegin, auch Sie denken bitte an die Redezeit. (Beifall bei der CDU/CSU)

Die Leitlinien für die Schaffung von Exzellenz und Dr. Maria Böhmer (CDU/CSU): Wissenschaftselite, die es geben muss, heißen – ganz im Ich denke an die Redezeit und möchte nur noch einen humboldtschen Sinne –: Freiheit und Verantwortung, letzten Punkt, nämlich die Finanzierungsfrage, aufgrei- Einheit von Forschung und Lehre. Dazu muss man aber fen. richtig handeln. Das heißt, wir brauchen ein schlankes Hochschulrahmengesetz ohne Verbot von Studiengebüh- Der Bundeskanzler hat am Montag dieser Woche er- ren und eine Auswahlmöglichkeit für Studenten. klärt: Weg von Vergangenheitssubventionen, hin zu Zu- kunftsinvestitionen! Es muss noch weitergehen. Bei dem Auswahlrecht für Studenten haben wir uns jetzt an den Vorschlägen orien- (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Sehr tiert, die von Länderseite entwickelt wurden. Wir sind gut!) uns völlig darin einig, dass die Studierenden zu Sie können damit Ernst machen. Es gibt derzeit eine Ver- 100 Prozent von den Universitäten ausgewählt werden gangenheitssubvention: Subventionen in Höhe von sollten und dass die ZVS in ihrer derzeitigen Form fallen 16 Milliarden Euro fließen in die Steinkohle. Ich sage muss. Damit muss Schluss sein. Sie können sie morgen Ihnen: Schichten Sie um! abschaffen. Tun Sie es also! (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Sie ha- (Jörg Tauss [SPD]: Damit muss Schluss sein? ben keine Ahnung!) Mit dem Fallen muss Schluss sein! – Gegenruf des Abg. Thomas Rachel [CDU/CSU]: Es war Geben Sie 5 Milliarden davon für die Hochschulen aus! so ruhig hier! Jetzt redet er dazwischen!) Das wäre ein Hochschulsonderprogramm, das sich 7752 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2004

Dr. Maria Böhmer (A) wirklich lohnen und das den Hochschulen helfen würde. wir werden uns bewerben und uns mit der außeruniversi- (C) Statt einer punktuellen Förderung von fünf Universitäten tären Forschung vernetzen, wir schauen, dass wir die müssen wir alle Universitäten stärken, um wirklich zu Stärken der Region so einsetzen, dass wir wirklich in der Spitzenleistungen zu kommen. Oberliga mitspielen können. Wir fordern Sie auf, von den Vergangenheitssubventi- Dass das geht, zeigen eindrückliche Zahlen aus Re- onen wegzukommen. Investitionen in die Zukunft müs- gionen in Deutschland, die so manch einer der Kollegen sen gelingen. Ich bin zugleich dafür, den Vorschlag zu hier noch nicht kennt, wobei ich die Kollegen einladen realisieren, – möchte, sich diese Entwicklung einmal anzusehen. (Zuruf von der SPD: Jawohl!) Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Frau Kollegin! Innerhalb von zehn Jahren ist es gelungen, an allen ge- samtdeutschen Diskussionen vorbei Forschungscluster in Ostdeutschland aufzubauen, die stärker sind als Wirt- Dr. Maria Böhmer (CDU/CSU): schaftsregionen im Westen. Ohne dass es die große Öf- – dass die Hochschule für jeden Euro an Drittmitteln fentlichkeit gefeiert und wahrgenommen hat, ist es im mit Mitteln aus diesem Hochschulsonderprogramm be- Forschungsraum Dresden durch ein zwischen Bund und lohnt wird. Dies ist eine leistungsorientierte Förderung. Land abgestimmtes Verhalten gelungen, mit der Mikro- Es muss mit der Finanzierung sowie mit der Freiheit der elektronik einen Bereich aufzubauen, der Nummer eins Forschung vorangehen. Wir wollen den humboldtschen in Europa ist. Gedanken wieder beleben. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Herzlichen Dank. DIE GRÜNEN sowie der Abg. Ulrike Flach (Beifall bei der CDU/CSU) [FDP]) Der richtige Weg ist: Ausbau von Forschung, insbeson- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: dere der außeruniversitären Forschungsinstitute durch Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der eine zielgerichtete Ansiedlungspolitik. Kollege Ulrich Kasparick, SPD-Fraktion. Wie ist das erreicht worden? Man hat gelernt, dass man sich thematisch aufstellen muss. Das kann man ex- Ulrich Kasparick (SPD): emplarisch in Dresden studieren. Ich finde es toll: Dres- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Worum den bzw. die dortige Region hat es mittlerweile in einem (B) geht es heute? Es geht um die Frage, wie wir Deutsch- zwischen Bund und Land gut abgestimmten Verfahren (D) land zukunftsfähig gestalten können. Wir dürfen nicht geschafft, Stuttgart, was die Zahl der Fraunhofer-Insti- länger von der Substanz leben, sondern müssen in die tute anbetrifft, abzuhängen. Das ist gut. Zukunftsbereiche investieren, von denen sich erwarten lässt, dass sie Gewähr dafür bieten, dass unsere sozialen (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Sicherungssysteme stabil gehalten werden können. In dieser ostdeutschen Region befinden sich neun Fraun- Wer auf die europäische Landkarte schaut und sich hofer-Institute; Stuttgart schaut in die Röhre. So muss fragt, wo die starken Wirtschaftsräume sind, der sieht: der Wettbewerb aufgestellt sein. Sie sind dort, wo es starke Forschungscluster gibt. In de- Ich finde es bemerkenswert: Als Porsche nach Leip- ren Zentrum sind die Universitäten. Deswegen ist es zig kam, hat man die Mitarbeiter gefragt: Warum kommt richtig, dass die Bundesregierung jetzt nach einem Er- ihr ausgerechnet nach Leipzig? Warum bleibt ihr nicht in folg versprechenden Weg sucht und vorgeschlagen hat, Stuttgart oder geht in andere schöne Regionen, wo es ein wie man die Zentren dieser Cluster, die Universitäten, viel günstigeres Umfeld gibt? Wissen Sie, was Wendelin stärkt. Wiedeking den Journalisten geantwortet hat? Er hat ge- Das macht man nicht auf dem planwirtschaftlichen sagt: Leipzig ist eine so dynamische Region; da muss Wege, wie dies Frau Schipanski annimmt. Ich wider- man dabei sein. spreche ihr da. Ich verstehe überhaupt nicht, in was für (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE einem Land sie lebt, wenn sie von Planwirtschaft redet. GRÜNEN und der FDP) Es geht vielmehr darum, diejenigen, die sich bewegen wollen, zu unterstützen. Um diese Regionen geht es. Es geht darum, diese Re- gionen zu stärken. Wie schafft man das? Man erreicht Es gab in Ostdeutschland sehr verschiedene Reak- das durch Wettbewerb und nicht dadurch, dass man wie tionen auf den Vorschlag, einen solchen Wettbewerb Frau Schipanski von Planwirtschaft redet. Genau das durchzuführen. Es gibt einige, die immer noch die alte Gegenteil wollen wir auf den Weg bringen; genau das Mentalität an sich haben. Sie fangen als Erstes an, zu Gegenteil brauchen wir. jammern, und sagen: Wir sind zu klein; wir können uns nicht beteiligen; wir sind benachteiligt. – Dann gibt es (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des andere, wie zum Beispiel die Universität Leipzig, die BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) sagt: Wir sind dabei, Wir wollen diejenigen stärken, die sich endlich bewegen (Beifall bei Abgeordneten der SPD) wollen. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2004 7753

Ulrich Kasparick (A) Ich möchte noch etwas zu den Themen sagen, um die Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: (C) es geht. Es ist richtig, was heute bereits angemerkt wor- Ich schließe die Aussprache. den ist: Deutschland hat industriepolitisch Stärken, aber Deutschland hat auch Schwächen im System. Es ist gut, Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage zu wenn wir uns nicht nur europäisch, sondern weltweit Tagesordungspunkt 4 a – das ist die Drucksache 15/2161 – vergleichen. Wir müssen sehen, bei welchen Themen wir an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor- im europäischen und internationalen Vergleich gut sind. geschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Um Regionen wie Halle, Leipzig oder Jena zu ermuti- gen, brauchen wir zündende Leitideen. Es geht nicht nur Wir kommen dann zur Abstimmung über die Vorlage darum, Technologien nach vorn zu bringen – das sagen zu Tagesordnungspunkt 4 b. uns die Forscher vom Institut für Innovationsforschung, das Fraunhofer-Institut macht sehr gute Arbeiten dazu –, Der Ausschuss für Bildung, Forschung und Technik- wir brauchen darüber hinaus sehr gute Leitideen. Eine folgenabschätzung empfiehlt unter Nr. 1 seiner Be- dieser Ideen ist heute schon genannt worden: die schlussempfehlung auf Drucksache 15/2383 die Ableh- Bekämpfung von Krankheiten, beispielsweise von nung des Antrags der Fraktion der CDU/CSU auf der Alzheimer bis 2010. Drucksache 15/1696 mit dem Titel „Die Innovations- kraft Deutschlands stärken – Zukunftschancen durch Ich glaube, wir brauchen darüber hinaus noch andere moderne Forschungsförderung eröffnen“. Wer stimmt Ideen. Ich nenne ein Leitbild, von dem ich glaube, dass für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – insbesondere Ostdeutschland davon profitieren kann. Wer enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist ange- Wir fördern zurzeit das Programm „Stadtumbau Ost“ nommen. mit über 3 Milliarden Euro. Das müssen wir mit dem Themenbereich „solares Bauen“ verknüpfen. Es muss Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt gelingen, die Arbeit der guten Forschungsinstitute wie der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion der Fraunhofer-Institute und der Blaue-Listen-Institute der FDP auf der Drucksache 15/1932 mit dem Titel „Ak- mit jener der guten Universitäten bei solchen Themen zu tionsplan für freie, effiziente und innovative Forschung“. verknüpfen. Denn wenn wir schon so viel Bundesmittel Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer in die Hand nehmen und ein großes Stadtumbaupro- stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Auch diese Be- gramm auflegen, dann müssen wir es an moderne Bedin- schlussempfehlung ist angenommen. gungen knüpfen. Dazu gehört nach meiner Auffassung zum Beispiel ein Leitbild wie die „solare Stadt“. Das Damit kommen wir zu den Zusatzpunkten 1 a und kann funktionieren, so etwas ist lohnend. 1 b. Interfraktionell wird die Überweisung der Gesetz- (B) entwürfe auf den Drucksachen 15/2385 und 15/2402 an (D) Ich wünsche mir darüber hinaus sehr, dass sich die gu- die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge- ten Kraftwerkstechniker, die es zum Beispiel in Sachsen schlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? – Das oder in Sachsen-Anhalt gibt, an dem nächsten großen ist nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so be- Forschungsprojekt, das wir im Energiebereich vorhaben, schlossen. nämlich dem kohlendioxidfreien Kohlekraftwerk, be- teiligen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 24 a bis 24 d sowie die Zusatzpunkte 2 a und 2 b auf: (Beifall bei Abgeordneten der SPD) 24 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Das sind doch Modelle, die wir fördern müssen. Wir gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuord- müssen heimische Rohstoffe so fördern und Projekte mit nung der Gebühren in Handels-, Partnerschafts- so guter Technologie ausstatten, dass sie exportfähig und Genossenschaftsregistersachen (Handelsre- sind. gistergebühren-Neuordnungsgesetz – HReg- Worum geht es im Kern? Es geht darum, Wirtschafts- GebNeuOG) räume stark zu machen und diejenigen zu ermutigen, die sich wirklich bewegen wollen. Wir brauchen keine – Drucksache 15/2251 – Bremser, die nur darüber klagen, was in der Vergangen- Überweisungsvorschlag: heit nicht ging, sondern wir brauchen Menschen, die an- Rechtsausschuss (f) packen wollen und sich dem Wettbewerb stellen wollen, Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit weil sie sich darauf freuen, sich endlich beteiligen zu b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- können. Diese Menschen werden zeigen, dass wir mit gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem den starken Regionen in Europa mithalten können. Übereinkommen vom 28. Mai 1999 zur Ver- Ich bin mir sicher, wir werden, wenn wir über die einheitlichung bestimmter Vorschriften über Auswertung dieses Wettbewerbs sprechen werden, nicht die Beförderung im internationalen Luftver- nur über die Region Dresden reden können, sondern kehr (Montrealer Übereinkommen) über weitere starke ostdeutsche Regionen. – Drucksache 15/2285 – Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss (f) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen DIE GRÜNEN) Ausschuss für Tourismus 7754 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2004

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert (A) c) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten (Erste Beratung 82. Sitzung) (C) Entwurfs eines … Strafrechtsänderungsgeset- zes – Schutz der Intimsphäre Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- ses für Verbraucherschutz, Ernährung und Land- – Drucksache 15/1891 – wirtschaft (10. Ausschuss) Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss (f) – Drucksache 15/2401 – Innenausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Wilhelm Priesmeier d) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Moderni- Ulrike Höfken sierung des Kostenrechts (Kostenrechtsmoder- Hans-Michael Goldmann nisierungsgesetz – KostRMoG) Der Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und – Drucksache 15/2403 – Landwirtschaft empfiehlt auf Drucksache 15/2401, den Überweisungsvorschlag: Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die Rechtsausschuss (f) dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzei- Innenausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit chen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenom- men. ZP 2a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Harmo- Dritte Beratung nisierung des Haftungsrechts im Luftverkehr und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem – Drucksache 15/2359 – Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Überweisungsvorschlag: Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Dann ist der Rechtsausschuss (f) Gesetzentwurf mit den Stimmen der Koalition gegen die Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Stimmen der Oppositionsfraktionen angenommen. Ausschuss für Tourismus Tagesordnungspunkt 25 b: b) Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD, der CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE Zweite Beratung und Schlussabstimmung des GRÜNEN und der FDP von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs (B) Wirtschaftliche und organisatorische Struktu- eines Gesetzes zu dem Europäischen Überein- (D) ren der Deutschen Flugsicherung dauerhaft kommen vom 6. November 1997 über die verbessern Staatsangehörigkeit – Drucksache 15/2393 – – Drucksache 15/2145 – Überweisungsvorschlag: (Erste Beratung 82. Sitzung) Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f) Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Beschlussempfehlung und Bericht des Innenaus- Verteidigungsausschuss Haushaltsausschuss schusses (4. Ausschuss) Es handelt sich um Überweisungen im vereinfach- – Drucksache 15/2406 – ten Verfahren ohne Debatte. Berichterstattung: Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an Abgeordnete die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Darf ich dazu Ihr Einverständnis feststel- Silke Stokar von Neuforn len? – Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Der Innenausschuss empfiehlt auf Drucksache 15/ Ich rufe die Tagesordnungspunkte 25 a bis 25 e sowie 2406, den Gesetzentwurf anzunehmen. Wir kommen zur Zusatzpunkt 3 auf. Es handelt sich um Beschlussvorla- gen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist. Zweiten Beratung Tagesordnungspunkt 25 a: und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- Möchte jemand dagegen stimmen oder sich der Stimme gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes enthalten? – Das ist nicht der Fall. Dann ist der Gesetz- zu dem Änderungsprotokoll vom 22. Juni 1998 entwurf einstimmig angenommen. zum Europäischen Übereinkommen zum Schutz der für Versuche und andere wissen- Wir kommen nun zu den Beschlussempfehlungen des schaftliche Zwecke verwendeten Wirbeltiere Petitionsausschusses. – Drucksache 15/2143 – Tagesordnungspunkt 25 c: Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2004 7755

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert (A) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- men der Koalition gegen die Stimmen der Opposition (C) ausschusses (2. Ausschuss) angenommen. Sammelübersicht 87 zu Petitionen Ich rufe Zusatzpunkt 4 auf: – Drucksache 15/2342 – Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der SPD Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer möchte sich der Stimme enthalten? – Die Sammelüber- Umbau der Bundesagentur für Arbeit zu ei- sicht 87 ist damit angenommen. nem modernen Dienstleister Tagesordnungspunkt 25 d: Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst der Bundesminister Wolfgang Clement. Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- ausschusses (2. Ausschuss) Wolfgang Clement, Bundesminister für Wirtschaft Sammelübersicht 88 zu Petitionen und Arbeit: – Drucksache 15/2343 – Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Ereignisse um die Führung der Bundesagen- Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Möchte tur für Arbeit haben in den letzten Tagen und Wochen sich jemand der Stimme enthalten? – Dann ist auch diese die Öffentlichkeit und uns alle beschäftigt. Ich möchte Sammelübersicht einstimmig angenommen. heute noch einmal deutlich machen, dass ich es bedaure, dass es zu dieser Zuspitzung gekommen ist, für die die Tagesordnungspunkt 25 e: Ausschreibungsverfahren bei der Bundesagentur offen- Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- sichtlich der Anstoß waren. ausschusses (2. Ausschuss) Im Ergebnis haben sich – das wissen Sie – alle Bänke Sammelübersicht 89 zu Petitionen des Verwaltungsrats der Bundesagentur nicht in der Lage gesehen, dem Vorstandsvorsitzenden, Herrn Gerster, das – Drucksache 15/2344 – Vertrauen auszusprechen. Darauf konnte die Bundesre- Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent- gierung, weil sie auf ein Vertrauensverhältnis zwischen hält sich? – Dann ist auch diese Sammelübersicht ange- Verwaltungsrat, Vorstandsvorsitzenden und Bundesre- nommen, aber diesmal gegen die Stimmen der Opposi- gierung angewiesen ist, aus meiner Sicht nicht anders re- tion. agieren, als das Arbeitsverhältnis mit Herrn vorzeitig zu beenden. (B) Zusatzpunkt 3: (D) Das ist ein Vorgang gewesen, der – nicht nur bei Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat Herrn Gerster – durchaus Bitterkeit hervorrufen und eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur auch eine Sekunde lang zum Innehalten veranlassen Ergänzung des Gesetzes zur Sicherstellung ei- kann. Ich jedenfalls möchte Herrn Gerster für seine Ar- ner Übergangsregelung für die Umsatzbesteu- beit danken. Er ist ein exzellenter Kenner der Arbeits- erung von Alt-Sportanlagen markt- und Beschäftigungspolitik in Deutschland. Ihm – Drucksache 15/2132 – ist es mit seinen Vorstandskollegen und den Mitarbeite- rinnen und Mitarbeitern der Bundesagentur gelungen, (Erste Beratung 86. Sitzung) erste Furchen zu ziehen, die für die weitere Entwicklung Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzaus- der Beschäftigungspolitik und der konkreten Arbeits- schusses (7. Ausschuss) marktpolitik der Bundesagentur sehr wichtig sind. – Drucksache 15/2414 – (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Berichterstattung: Abgeordnete Horst Schild Trotz allem, was sonst über Herrn Gerster und die Ar- Heinz Seiffert beit, die er dort getan hat, gesagt werden kann, ist festzu- halten: Das ist eine Leistung, die sich inzwischen ja auch Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschluss- am Arbeitsmarkt niederschlägt, zwar nicht in gewaltigen empfehlung auf Drucksache 15/2414, den Gesetzent- positiven Daten, aber doch in erkennbaren Zeichen, die wurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte darauf hinweisen, dass wir die Arbeitsmarktsituation diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfas- nicht nur unter Kontrolle bekommen können, sondern sung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Gegen- dass wir sie in überschaubarer Zeit auch verändern bzw. stimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist in verbessern können. zweiter Beratung angenommen. (Dirk Niebel [FDP]: Der Kanzler wollte sich Dritte Beratung doch am Abbau der Arbeitslosigkeit messen lassen!) und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Beispielsweise denke ich daran, dass wir heute, nach Wer stimmt dagegen? – Möchte sich jemand der Stimme dreijähriger wirtschaftlicher Stagnation in Deutschland, enthalten? – Dann ist der Gesetzentwurf mit den Stim- keine steigenden Arbeitslosenzahlen mehr zu verzeich- 7756 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2004

Bundesminister Wolfgang Clement (A) nen haben, sondern dass die Arbeitslosenquote einiger- Die Voraussetzungen dafür sind mit den so genannten (C) maßen konstant ist. Das ist natürlich nicht befriedigend. Hartz-Gesetzen, die wir ja – teilweise im Vermittlungs- Aber gemessen an den Entwicklungen der letzten Jahr- verfahren – verabschiedet haben, geschaffen worden. zehnte ist dies ein Zeichen dafür, dass wir die Trendum- Insbesondere meine ich die Gesetze Hartz III und IV. kehr schaffen können. Auch ist es nicht zu unterschät- Hierbei geht es um zwei Themen: zum einen um den zen, dass die Arbeitslosenzahlen in Ostdeutschland im Umbau der Bundesagentur für Arbeit, zum anderen um Dezember letzten Jahres zum ersten Mal seit langer Zeit eine neue Beschäftigungs- und Arbeitsmarktpolitik, die niedriger waren als im Dezember des Vorjahres. insbesondere dadurch gekennzeichnet ist, dass wir die beiden Fürsorgesysteme, die es in Deutschland bisher (Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne gibt – das staatliche, die Arbeitslosenhilfe, und das kom- Kastner) munale, die Sozialhilfe –, zusammenführen, um daraus Sicher ist es auch nicht zu unterschätzen – hier wer- ein neues System der Arbeitsförderung zu machen. Das den Sie mir vielleicht zustimmen –, dass es gelungen ist, sind die beiden Hauptlinien der Reformen, an denen wir die Quote der Jugendarbeitslosigkeit in Deutschland um arbeiten und die jetzt realisiert werden müssen. etwa 7 Prozentpunkte zu senken. Das alles ist nicht aus- Der Umbau der Bundesagentur, über den wir heute reichend und nicht befriedigend. Aber die Signale sind insbesondere sprechen wollen, muss vor dem Hinter- positiv. grund der bisherigen Strukturen der Bundesanstalt, der (Dirk Niebel [FDP]: Nicht ausreichend ist klassischen Arbeitsverwaltung, gesehen werden. Die ungenügend!) klassische Arbeitsverwaltung war gekennzeichnet durch – ich nenne nur einige Stichworte – eine außerordentlich Daran haben der Vorstand mit Herrn Gerster an der hohe Komplexität und eine außerordentlich hohe Re- Spitze und die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der gelungsdichte; jeder Schritt und die Verwendung jeder Bundesagentur maßgeblichen Anteil. D-Mark bzw. jedes Euros war festgelegt. Das hat den Bewegungsspielraum der Mitarbeiterinnen und Mitar- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten beiter viel zu sehr eingeengt und hat ihnen fast keinen des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Ermessensspielraum mehr gelassen. Es gab außerdem eine außerordentlich hohe Spezialisierung – das ist Aus- Die Lage ist so – das habe ich Herrn Gerster gegen- druck der Regulierungsdichte –, was zu mangelnder über in aller Offenheit, in der wir miteinander umgegan- Transparenz hinsichtlich Wirkung und Wirtschaftlichkeit gen sind und miteinander umgehen, deutlich gemacht –, geführt hat. – Das hat, kurz umrissen, die klassische Ar- dass der Verwaltungsrat der Bundesagentur für Arbeit beitsverwaltung in Deutschland gekennzeichnet, die nun jetzt einen neuen Vorstandsvorsitzenden vorschlagen (B) muss – so will es das Gesetz, das wir zum 1. Januar die- von Grund auf verändert werden muss. (D) ses Jahres in Kraft gesetzt haben –, dass die Bundesre- Es hat mir gestern viel Freude bereitet, die Präsenta- gierung an diesen Vorschlag nicht gebunden ist und ihm tion des zuständigen britischen Staatsministers und zustimmen muss, sodass die Bundesregierung auf Chefs der dortigen Arbeitsagenturen in der Friedrich- Grundlage des Gesetzes das Letztentscheidungsrecht Ebert-Stiftung zu erleben, in der das Gegenbild zu der hat, von dem sie selbstverständlich auch Gebrauch ma- klassischen deutschen Arbeitsverwaltung aufgezeigt chen wird. wurde. Die kundenorientierte Dienstleistung in Großbri- tannien verfolgt einzig das Ziel – das ist deren Hauptauf- Aber ungeachtet dessen besteht heute eine Situation, gabe –, Menschen, die Rat suchen, aus der Arbeitslosig- die niemanden zur Hektik veranlassen muss; wohl dazu, keit in Arbeit zu vermitteln. Daran hat es in Deutschland unverzüglich und ohne Verzögerung zu arbeiten, nicht bisher gemangelt. Schuld daran sind aber nicht die Mit- aber dazu, hektisch zu arbeiten. Der Vorstand, an dessen Spitze jetzt Herr Weise, der bisherige stellvertretende arbeiterinnen und Mitarbeiter, sondern Schuld hat unser Vorstandsvorsitzende, und Herr Alt stehen, ist nicht nur Perfektionismus im bürokratischen Umgang mit Proble- handlungsfähig; vielmehr ist er an den Reformprozessen men. maßgeblich beteiligt und hat sie teilweise direkt gesteu- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) ert. Er hat unser volles Vertrauen, dass die Arbeit so wei- tergeführt wird, wie sie vom bisherigen Vorstand ange- Wir haben in Deutschland eine Technik entwickelt, und legt worden ist. Darauf kommt es an. zwar nicht nur in der Arbeitsverwaltung, die sich vor al- len Dingen auf die Administration und das Finanzieren Weil es viele Spekulationen über Leute gibt, die Inte- versteht. Wir haben gewaltige Behördenapparate aufge- resse an einer Veränderung im Vorstand gehabt haben baut, die sich immer mehr von ihrer eigentlichen Auf- könnten, sage ich ganz klar: Der Kurs der Bundesagen- gabe, der Arbeit am Menschen und mit den Menschen tur und der Bundesregierung wird, bezogen auf die Be- – im Fall der Bundesagentur mit der Vermittlung der schäftigungs- und Arbeitsmarktpolitik, beibehalten und Menschen in Arbeit –, zu entfernen drohen. Das ist das nicht verändert. Er ist richtig. Wir sind auf dem richti- Problem. Dieses Problem muss nun angegangen werden. gen Weg und werden ihn ohne Abstriche, ungehindert, mit aller Konsequenz und mit hohem Tempo weiterge- Den gewaltigen Unterschied habe ich in Stratham, hen. London bei einem Besuch in einem Jobcenter, Jobcentre Plus genannt, erlebt. Ich kann nur jedem empfehlen, der (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten die Chance hat, sich ein solches einmal anzuschauen, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) diese auch wahrzunehmen. Man erfährt auf Anhieb den Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2004 7757

Bundesminister Wolfgang Clement (A) Unterschied. Herr Kollege Niebel, ich lade Sie ein, dass und Mitarbeiter, denen das vermutlich nicht leicht gefal- (C) wir gemeinsam einmal dorthin fahren. len ist, gehen jetzt in die Arbeitsvermittlung vor Ort. (Dirk Niebel [FDP]: Gerne!) Es werden Kundenzentren der Zukunft aufgebaut. Das erste Muster eines solchen Kundenzentrums ist in Dann erleben Sie den Unterschied zwischen einer klassi- Heilbronn entstanden. Zehn weitere werden zurzeit in schen deutschen Verwaltung und einer offenen Vermitt- den verschiedenen Regionen der Bundesrepublik aufge- lung. baut. Diese Kundenzentren ähneln dem, was in Großbri- (Dirk Niebel [FDP]: Ich kann mir das sogar schon tannien – beispielsweise in diesem Jobcentre Plus in gut vorstellen! Das kommt noch hinzu!) Stratham – zu besichtigen ist, bereits sehr. Das ist das Kundenzentrum der Zukunft. Hier wählen wir eine völ- – Manchmal ist es besser, wenn man sich etwas vorstel- lig andere Herangehensweise len kann. Sie haben eine ausreichende Fantasie und Kreativität; das merkt man an manchem Ihrer Beiträge. (Abg. Gerd Andres [SPD] erinnert an die Re- Dort würden Sie aber vor Ort erleben, wie es wirklich dezeit) ist. – ich bin gleich fertig, Herr Kollege Andres –, als das in In der Zwischenzeit ist viel geschehen. Das ist durch der Arbeitsvermittlung bisher der Fall war. die Kritik an den Ausschreibungsverfahren in der Bun- desagentur aus dem Blickpunkt der öffentlichen Auf- (Dirk Niebel [FDP]: Solange Sie seine Rede- merksamkeit verschwunden. Tatsächlich wurde in der zeit verbrauchen, können Sie ruhig weiterma- Bundesagentur unter Führung von Herrn Gerster zusam- chen!) men mit dem Vorstand Ende des Jahres 2002 eine inten- – Sehen Sie, so sind wir. Wir wollen eben arbeiten. Auch sive Projektarbeit begonnen, in der wirklich alles auf den der Kollege Andres will arbeiten. Damit hat er Recht. Prüfstand gestellt wurde. Das ist unter Mitwirkung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter – 250 Führungskräfte Es werden Servicecenter und ein virtueller Arbeits- waren in diese Projektarbeit ständig eingebunden – und markt aufgebaut. An diesem virtuellen Arbeitsmarkt habe der Berater geschehen. ich viel Kritik gehört. Ich stelle mir mal eine Sekunde lang vor, die Bundesagentur hätte keinen virtuellen Arbeits- Weil so viel über die Berater gesprochen wird, markt aufgebaut, sondern würde weiterhin – wie bisher – möchte ich Folgendes sagen: Dafür sind ungefähr mit Papier und Bleistift arbeiten. Die Reden, die Sie 60 Millionen Euro aufgewendet worden. Das ist viel heute Morgen dann gehalten hätten, als wir über die IT Geld. Aber das Ergebnis, das durch die Mitarbeit der ex- und anderes gesprochen haben, hätte ich dann nicht hö- (B) ternen Berater erzielt worden ist, stellt sich so dar, dass ren wollen. Dies ist also ein richtiger und vernünftiger (D) etwa 5 500 Stellen von Mitarbeitern, die bisher in der Weg. Administration tätig waren, entfallen können. Diese Mit- arbeiter können sich nun der Vermittlungsarbeit widmen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Dirk Niebel [FDP]: Erzählen Einen solchen Umbau von Grund auf kann man nicht Sie uns das ruhig einmal umfassend!) mit den eigenen Mitarbeitern bewerkstelligen; das wis- sen Sie. Das gilt sowohl für das Qualitätsmanagement als auch für das effektive Controlling. (Dirk Niebel [FDP]: Wenn Sie das schon wis- sen, brauchen Sie die Berater doch gar nicht Herr Kollege Laumann, dieser Prozess der Dezentra- mehr!) lisierung und Dekonzentration muss stattfinden. Darüber Er wird zu einer beachtlichen Kostenreduktion führen. müssen wir uns ernsthaft unterhalten. Es wird dort kein Das sage ich, um deutlich zu machen, dass diese Bera- Moloch mehr vorhanden sein, wie Sie das so oft – nicht tungsarbeit natürlich auch Ergebnisse gebracht hat, die immer zu Unrecht – skizziert haben. Wir gehen in die von größter Bedeutung sind und die in erheblichem Regionen und in die Arbeitsverwaltungen vor Ort. Das Maße zu Buche schlagen. ist der richtige Weg. Es ist in manchen Debatten übersehen worden, dass Der Umbau der Bundesagentur wird 2005 abge- die Bundesagentur im Jahr 2003 bereits erfolgreicher schlossen sein. Wir werden uns dann auch in der Umset- war, als wir es erwartet hatten. Der Bundesfinanzminis- zung des Hartz-IV-Gesetzes befinden. Die Bundesregie- ter, Herr Kollege Eichel, ist beim Zuschuss für die Bun- rung wird in sehr überschaubarer Zeit – gestützt auf desagentur nicht an der Grenze angekommen. Wir sind Vorschläge der Bundesagentur – einen Vorschlag für die vielmehr um 1,5 Milliarden Euro darunter geblieben. Ausgestaltung der Arbeitsgemeinschaften entwickeln, die wir gemäß dem Hartz-IV-Gesetz zwischen der Bun- Was passiert? Ich nenne nur Stichworte. Die Bundes- desagentur und den Kommunen vor Ort aufbauen agentur in Nürnberg wird in Zukunft eine Holding sein, müssen. Sehr rasch werden wir auch das so genannte die nicht mehr die Einzelprozesse steuert, sondern die Februargesetz – so heißt es bei uns – auf den Weg brin- grundlegende Richtung bestimmt, ansonsten aber wie gen. Durch dieses Gesetz soll das Optionsmodell für die eine Holding funktioniert. Deshalb wird die Stellenan- Kommunen geregelt werden. Nach den Vereinbarungen zahl in Nürnberg auch von 1 100 auf 400 reduziert. Die- im Vermittlungsverfahren wollen wir dieses Gesetz ser Prozess ist bereits im Gange. Viele Mitarbeiterinnen möglichst bis Ende April verabschiedet haben. 7758 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2004

Bundesminister Wolfgang Clement (A) All dies geschieht. Ich habe eine Bitte an Sie alle: Das Ich bin nicht der Meinung, dass es richtig ist – Herr (C) Thema ist insgesamt zu wichtig, als dass wir es in Perso- Clement hat es am Wochenende so formuliert und einige naldiskussionen und -spekulationen versinken lassen Zeitungen haben es in ihren heutigen Ausgaben aufge- dürften. Es geht darum, die Reformen voranzutreiben. nommen –, um den Rücktritt von Herrn Gerster eine Wir werden dabei Erfolg haben. Sie haben gesehen, dass Mythenbildung zu betreiben: Weil er so großartige Ar- wir im Jahreswirtschaftsbericht davon ausgehen, dass es beit geleistet habe, sei er von irgendwelchen Leuten, die in diesem Jahr im Durchschnitt 100 000 Arbeitslose we- keine Reformen wollten, geschasst worden. niger geben wird und dass die Zahl der Arbeitslosen in der zweiten Hälfte allein aufgrund der konjunkturellen (Dirk Niebel [FDP]: Genau so ist es!) Entwicklung und der strukturellen Maßnahmen zurück- Die Wahrheit ist: Herr Gerster hat – dazu gibt es Be- gehen wird, bevor wir im Jahre 2005 eine wirkliche richte des Bundesrechnungshofes – gegen das Vergabe- Trendwende am Arbeitsmarkt erzielen werden. recht und das Haushaltsrecht verstoßen. Das ist nicht nur unser Ziel, sondern daran wird sehr (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) konkret gearbeitet. Ich bin davon überzeugt, dass wir dieses Ziel auch erreichen werden. Er hat Verträge laufen lassen und Verträge in Millionen- höhe teilweise selber verhandelt, die rechtswidrig zu- Herr Kollege Andres, ich danke Ihnen für Ihre Ge- stande gekommen sind. duld. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der CDU/CSU) DIE GRÜNEN) Er hat sich im Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit in seiner Darstellung von Ende November bis Anfang Ja- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: nuar in Widersprüche verstrickt. Wir können nicht ein- Nächster Redner ist der Kollege Karl-Josef Laumann, mal mehr ausschließen, dass im Nachhinein Dokumente CDU/CSU-Fraktion. der Bundesagentur für Arbeit manipuliert worden sind. Das ist die andere Seite; auch das muss man schlicht und (Beifall bei der CDU/CSU) ergreifend zur Kenntnis nehmen, Herr Niebel.

Karl-Josef Laumann (CDU/CSU): (Beifall bei der CDU/CSU – Dirk Niebel Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und [FDP]: Selbstverständlich! Das habe ich im- Kollegen! Zunächst einmal will ich hier feststellen, dass mer gemacht!) auch die CDU/CSU-Fraktion der Auffassung ist, dass Die Wahrheit ist, dass Herr Gerster aufgrund der Art (B) der Reformprozess bei der Bundesagentur für Arbeit und Weise, wie er agiert hat, und aufgrund seiner Verfeh- (D) weiterentwickelt werden muss. lungen null Autorität in der Bundesagentur für Arbeit (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- hatte. Deswegen war seine Entlassung unvermeidlich. neten der SPD – Dr. Rainer Wend [SPD]: Sehr Selbst die Vertreter der Bundesregierung haben ihm am gut! – Franz Müntefering [SPD]: Auch Herr Samstagnachmittag Merz, Herr Laumann?) (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Wir sind sehr dafür, dass bei der Bundesagentur für Ar- Nicht zugestimmt!) beit endlich weniger verwaltet und mehr vermittelt wird. nicht das Vertrauen ausgesprochen; denn im Verwal- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- tungsrat sitzen mehr Vertreter der Bundesregierung, als neten der SPD) es Ja-Stimmen für Herrn Gerster gab. Das ist so sicher Das wollen wir ja alle. Wir sind auch sehr dafür, dass der wie das Amen in der Kirche. Zentralismus bei der Bundesagentur für Arbeit zuneh- Was bleibt, ist, dass wir darüber streiten müssen, ob mend verschwindet und die dezentrale Entscheidungs- wir der Bundesagentur für Arbeit die richtigen Instru- freiheit der örtlichen Arbeitsämter erhöht wird. mente in die Hand geben. Ich nenne hier nur als ein (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Stichwort die PSA. Ist sie wirklich das Instrument, wie neten der SPD) es von Hartz entwickelt wurde? Bringt es für den Ar- beitsmarkt etwas? Nach unseren Informationen haben Wir sind weiterhin dafür, dass bei der Bundesagentur für von 42 000 Leuten, die in dieser Maßnahme geparkt Arbeit das Unwesen der Verordnungen abnimmt und da- wurden, durch die Zeitarbeit allenfalls circa 5 400 eine mit die Entscheidungsfreiheit der Mitarbeiterinnen und Beschäftigung gefunden. Die regulären Zeitarbeitsfir- Mitarbeiter zunimmt. men leiden mehr unter der PSA, als die PSA dem allge- (Beifall bei der CDU/CSU) meinen Arbeitsmarkt nutzt. Das ist die Wahrheit. Zu dieser Debatte gehört ebenso, dass trotz der Arbeit Stichwort Ich-AG. Ohne Businessplan, ohne Ge- und der Reformbemühungen von Herrn Gerster die mo- schäftsidee, ohne Unternehmensplanung kommt man an mentane Situation in vielen örtlichen Arbeitsämtern Staatsknete der Beitragszahler. Das führt natürlich zu noch nie von so viel Resignation und Stillstand wie zur- Verwerfungen im Handwerk. Ich glaube, dass die Ich- zeit gekennzeichnet waren; auch das muss man zugeben. AG dem Arbeitsmarkt mehr schadet als nutzt. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2004 7759

Karl-Josef Laumann (A) Weil Sie es so wollen, muss die Bundesagentur etwas (Beifall des Abg. Franz Müntefering [SPD]) (C) Falsches umsetzen, was ihre Autorität in der Arbeits- marktpolitik nahezu vollständig untergräbt. Ich kann überhaupt nicht erkennen, dass die Landesar- beitsämter in Sachen Bürokratie einen Deut besser sind Ein anderes Thema ist das Vermittlungsverfahren im als die Nürnberger Bundesagentur. Dezember: Die Bundesagentur für Arbeit, die aufgrund ihrer Vielfältigkeit und ihrer Größe kaum mehr be- (Gerd Andres [SPD]: Deshalb habt ihr die herrschbar ist, bekommt von dieser Regierung – das war Landesarbeitsämter auch beibehalten!) ihr Wille – zusätzlich die Zuständigkeit für Ich sage hier ganz klar: Wir haben nicht mehr so viele 1,2 Millionen arbeitsfähige Sozialhilfeempfänger. Chancen, zu erreichen, dass die Bevölkerung dem Um- (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Oben drauf! – bau dieser Bundesagentur überhaupt noch traut. Deswe- Dirk Niebel [FDP]: Plus Familien!) gen: Nutzen Sie die Chance, Es ist doch Wahnsinn, dieser Agentur, die schon vorher (Dirk Niebel [FDP]: Die letzte!) fast nicht regierbar war, zusätzlich die Sorge für bei dem Optionsmodell einen klaren Schritt in Richtung 1,2 Millionen Menschen plus Familienangehörige – wahr- auf eine kommunale Beteiligung bei der Arbeitsmarkt- scheinlich reden wir über 4 Millionen Menschen – zu politik zu machen! Das wird die Bundesagentur im ar- übertragen. beitsmarktnahen Bereich der Arbeitslosenversicherung Ich lege großen Wert darauf – schließlich wollen wir stabilisieren. nach vorne blicken, Herr Bundesminister –, dass wir in Vielen Dank. den nächsten Wochen ein Optionsgesetz machen, (Beifall bei der CDU/CSU) (Franz Müntefering [SPD]: Sagen Sie mal was zu Herrn Merz, Herr Laumann! – Gegenruf des Abg. Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Hat er schon! – Wolfgang Meckelburg [CDU/ Das Wort hat die Kollegin Dr. Thea Dückert, Bünd- CSU]: Das ist erledigt!) nis 90/Die Grünen. mit dem die Gemeinden, die Kreise und kreisfreien (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: So eine Op- Städte, die es wollen, wirklich optieren können. Sie sol- position hätten wir früher gerne gehabt! – Ge- len mit ihren Haushalten, die sie zu verantworten haben, genruf von der SPD: Ihr habt ja alle Angebote dieses Risiko eingehen können. Ich biete Ihnen aus- ausgeschlagen!) (B) drücklich – wenn Sie es wollen, noch vor Einbringung (D) des Gesetzes – die Mitarbeit der CDU/CSU an. Wir ha- Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): ben ein großes Interesse daran, dass möglichst viele Kommunen, die es sich zutrauen und es wollen, verant- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! wortbar optieren können. Sehr geehrter Herr Laumann, Medaillen haben immer zwei Seiten. Auch Ihre Reden haben zwei Seiten. (Dirk Niebel [FDP]: Wir auch!) (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Sie haben erklärt, dass Sie daran kein Interesse haben. Zwei gute Seiten!) Damit sind Sie dafür verantwortlich, wenn die Arbeits- marktpolitik in Deutschland keinen Zentimeter voran- – Ja, die Rede hat auch eine gute Seite, nämlich wenn kommt. Schließlich übertragen Sie der Agentur immer Sie unterstreichen, dass Sie die Reform der Arbeits- mehr Problemfälle. marktpolitik und der Bundesagentur für Arbeit stringent weiterverfolgen. (Beifall bei der CDU/CSU) Sie wissen, dass wir im Vermittlungsausschuss das Wir wissen alle, dass sie zurzeit nicht über Strukturen Angebot unterbreitet haben, dass wir optionale Modelle verfügt, selbst mit dem arbeitsmarktnahen Publikum so für eine kommunale Beteiligung erarbeiten werden. umzugehen, wie es die Beitragszahler auf beiden Seiten von einer vernünftigen Agentur erwarten würden. (Zuruf von der CDU/CSU: Unter großen Schmerzen!) Wir hätten die große Chance, mit einem wirklich ver- nünftig gemachten Optionsmodell einen Riesenbeitrag Es wäre gut, wenn wir eine Lösung hinkriegten, die nicht zur Entschlackung der Bundesagentur für Arbeit zu leis- wieder im Vermittlungsausschuss landen müsste. ten. Was die andere Seite Ihrer Rede, Herr Laumann, be- (Franz Müntefering [SPD]: Sagen Sie was zu trifft, so ist Ihr Vortrag unglaubwürdig. Das ist schon Merz, Herr Laumann! – Gerd Andres [SPD]: durch die Zwischenrufe deutlich geworden. Die andere Seehofer!) Seite ist doch, dass die Parole, mit der Herr Niebel und die FDP durch die Lande laufen, nämlich „Zerschlagt Ich sage Ihnen zum Schluss zu den Zwischenrufen zu die BA!“, Merz und Seehofer: Ich persönlich bin dafür, dass wir eine Bundesagentur behalten. Wir brauchen Bundes- (Dirk Niebel [FDP]: Auflösen! strukturen in der Arbeitsmarktspolitik. Nicht zerschlagen!) 7760 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2004

Dr. Thea Dückert (A) von Ihren Leuten Futter bekommt, an der Spitze von (Franz Müntefering [SPD]: Beigetragen? Sie (C) Herrn Meyer, sekundiert von Herrn Merz und Herrn haben das alleine gemacht! – Gegenruf des Seehofer. Abg. Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Das wüsste ich aber! Frau Engelen-Kefer ist seit (Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Herr 20 Jahren dabei!) Meyer hat das nicht gesagt! Herr Seehofer wollte nur von der Gesundheitsreform ablen- Seit zwei Jahren ist damit Schluss. Vor zwei Jahren ist ken!) ein Reformprozess eingeleitet worden. Ich will deutlich sagen: Herr Gerster hat sehr viel dazu beigetragen, dass Wenn Sie dazu keine einheitliche Position in Ihrer eige- der Reformprozess mit dieser Stringenz in Gang gesetzt nen Fraktion herstellen, dann bleiben die sehr freundli- wurde. chen Angebote, die Sie hier vorgetragen haben, unglaub- würdig. Wir sind längst dabei, dezentrale Strukturen zu schaf- fen. Die Zahlen liegen doch auf dem Tisch. Die Zahl der (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Beschäftigten in der Zentrale ist von 11 000 auf 4 000 und bei der SPD) gesunken. Das politische Ziel, das Sie mit der Parole „Zerschlagt Die Entlohnungssysteme werden umgestellt. Das Be- die BA!“ verfolgen, amtentum an der Spitze ist schon Vergangenheit und (Dirk Niebel [FDP]: Auflösen! wird Vergangenheit bleiben. Die Jobcenter werden ein- Sie kapieren es nicht!) gerichtet. All das läuft doch bereits. ist, die notwendigen und überfälligen Reformen der Wir haben auch – das ist sehr wichtig – das Ziel der Bundesagentur und der Arbeitsmarktpolitik zu torpedie- Arbeitsmarktpolitik klar formuliert: Sie muss eine Poli- ren. Das wollen Sie. Das ist nicht nur populistisch und tik der Integration sein, die sich an den Arbeitslosen ori- dumm, sondern das ist auch zynisch den Arbeitslosen entiert. Um diese beiden Stränge geht es: den Aufbau der gegenüber. Dienstleistungsagentur und die Integration als Ziel der Arbeitsmarktpolitik. (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Wie Sie nach dieser Rede solch eine These aufstellen (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Das haben können!) wir doch zusammen beschlossen! Das ist doch völlig unstreitig!) Wir haben über 4 Millionen Arbeitslose, darunter viele Langzeitarbeitslose. Mit der Bundesanstalt für Arbeit Damit müssen wir weitermachen. Sie aber wollen uns (B) haben wir eine schwerfällige Verwaltung gehabt. Wir mit der Parole „Zerschlagt die BA!“ Steine in den Weg (D) müssen den notwendigen Reformprozess voranbringen. legen. (Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Richtig ist, dass wir aus Fehlern – auch in diesem Pro- Wie denn?) zess – lernen mussten. Es gab Fehler in der Praxis. Ich meine nicht die Vergabeverfahren, die schon angespro- Eines finde ich in dieser Situation wirklich pikant: Herr chen wurden. Dabei sind Fehler unterlaufen, die nicht Niebel, der selber einmal in der Bundesanstalt für Arbeit wieder vorkommen dürfen. Ich meine vielmehr die Pra- tätig war, xis im Umgang mit den Menschen zum Beispiel in der (Gerd Andres [SPD]: Arbeitsvermittler!) Weiterbildung und Qualifizierung. Die Zielrichtung hin zur Integration, zur Qualität und zur Einführung von oder auch andere Quoten ist richtig. Aber in der alltäglichen Praxis wer- (Dr. Rainer Wend [SPD]: Rachegefühle! – den dabei Fehler gemacht. Die Lose in den Ausschrei- Dirk Niebel [FDP]: Ich weiß wenigstens, wo- bungsverfahren sind zu groß. Die kleinen Träger, die in von ich rede!) den Regionen nahe an den Menschen sind und im All- tagsprozess immer wieder mit Kreativität aufwarten sind über Jahrzehnte mit dafür verantwortlich gewesen, können, haben es dabei sehr schwer. dass ein Tanker, eine Mammutbehörde, entstanden ist. 1973 hatte sie 32 000 Beschäftigte, heute sind es fast (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Ändern Sie 100 000. Es ist eine Behörde mit Besoldungsstrukturen, das! – Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Sie bei denen Leistung keine Rolle spielt, eine Behörde, in können das ändern!) der man den Wettbewerbsgedanken erst verankern muss. Daran muss einiges geändert werden. Über diese Fragen (Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Das ist bei müssen wir uns auseinander setzen, nicht über die Ziel- allen Behörden so!) richtung. Denn diese ist richtig. Als wir die Bundesregierung übernommen haben, Lassen Sie mich noch eine Bemerkung zur aktuellen Situation machen. (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Da haben Sie sich übernommen!) (Dirk Niebel [FDP]: Das ist doch eine Aktuelle Stunde!) waren nur 10 Prozent der Beschäftigten der BA mit der Vermittlung betraut. Sie haben dazu beigetragen, dass Wir haben am Freitag von der Vorsitzenden des Verwal- dieser Zustand so lange erhalten geblieben ist. tungsrats gehört, dass Gesetzesänderungen gewünscht Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2004 7761

Dr. Thea Dückert (A) werden. Ich denke, dass wir mit unserem Gesetz eine Ein großer Kreis von Beteiligten in der Bundesagentur (C) klare Arbeitsteilung – der Verwaltungsrat kontrolliert für Arbeit hat zusätzlich noch andere Interessen, die zu- und muss wiederum umfassend informiert werden – er- mindest durch institutionelle Verbundenheiten gekenn- möglicht haben. Das operative Geschäft aber obliegt zeichnet sind, auch wenn es sich bei den Personen um dem Vorstand. Das muss auch weiterhin der Fall sein honorige Menschen handelt. und kann nicht geändert werden. Die Bundesagentur ist in ihren jetzigen Strukturen Der Verwaltungsrat ist kein Sachwalter von steuerfi- nicht reformierbar. Deshalb wollen wir sie auflösen. nanzierten Leistungen; er ist vielmehr Sachwalter der Beitragszahlungen. Ich spreche das Arbeitslosengeld II (Beifall bei der FDP) an, weil am Samstag in der Pressekonferenz des Verwal- Liebe Kollegin Dückert und alle anderen, die mit ih- tungsrats gesagt wurde, dass auch darüber diskutiert ren Äußerungen haarscharf an zynischer Demagogie werden soll. Wir brauchen das Arbeitslosengeld II. vorbeischrammen: Auflösen heißt nicht zerschlagen. Auflösen ist vielmehr das Instrument – sozusagen der Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Omnibus –, um die Bundesagentur neu zu ordnen und Frau Kollegin, Ihre Redezeit ist überschritten. von dem Ballast der Arbeitslosenindustrie und all den Protagonisten, die dazugehören, zu befreien. Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Ich komme zum Schluss. – Damit wir mit der Reform NEN]: Neuordnen wäre Reform! Dann ma- weiterkommen, brauchen wir die klaren Zuschreibun- chen Sie doch dabei mit! Sie wollen aber zer- gen: Die Kontrolle obliegt dem Verwaltungsrat und das schlagen!) operative Geschäft dem Vorstand. Das Auflösen der Behörde würde bedeuten, Frau (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Keiner will Dückert – das haben Sie beim BMA gesehen –, dass die etwas anderes!) Behörde nicht mehr existiert. Dann wäre übrigens auch der drittelparitätische Verwaltungsrat mit Frau Engelen- Diese Richtung wollen wir auch weiterhin einschlagen. Kefer, dem Dinosaurier des Verbändestaates, nicht mehr Danke schön. vorhanden. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall bei der FDP) und bei der SPD) Das ist einer der wesentlichen Hemmschuhe der Re- (B) formvorhaben in der Bundesrepublik. (D) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Auflösen heißt auch, dass Sie die starren Grenzen des Das Wort hat der Kollege Dirk Niebel, FDP-Fraktion. öffentlichen Dienst- und Tarifvertragrechts flexibel (Dr. Rainer Wend [SPD]: Jetzt aber bei der handhaben können. Wahrheit bleiben, Herr Niebel! Nicht falsche (Franz Müntefering [SPD]: Machen Sie sich Argumente benutzen!) einmal Gedanken über die Auflösung der FDP!) Dirk Niebel (FDP): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und – Herr Müntefering, auch Sie sind einer von denen, die Herren! Florian Gerster ist an zwei Dingen gescheitert: hart an der Grenze zur Demagogie argumentieren. Sie an sich selbst und seinen Fehlern und an den Strukturen sind einer von den ganz harten Demagogen. der Arbeitslosenindustrie in Deutschland. Jeder poten- (Widerspruch bei der SPD) zielle Nachfolger von Florian Gerster wird es noch schwerer haben als er. Denn er hat nicht nur mit densel- Auflösen heißt, eine schlanke Versicherungsagentur ben Strukturen zu tun, die von dem Auswechseln des zu schaffen, die die Lohnersatzleistungen organisiert und Vorstandsvorsitzenden unberührt bleiben, sondern er hat marktgerechte Vermittlungsgutscheine ausgibt statt des auch dessen Schicksal vor Augen. Das wird, wie auch Kroppzeugs, das Sie eingeführt haben und das nicht immer der neue Vorstandsvorsitzende heißt, seine Tat- funktionieren kann. kraft mit Sicherheit einschränken. (Beifall der Abg. Gudrun Kopp [FDP]) (Beifall bei der FDP) Marktgerechte Vermittlungsgutscheine versetzen die Ar- Aufgrund der hohen Arbeitslosigkeit hat sich in beitsuchenden in die Lage, ihre Marktmacht auszuüben Deutschland über die Jahrzehnte in der und um die Bun- und zum Vermittler ihres Vertrauens zu gehen. Das kann desagentur für Arbeit ein Moloch von Arbeitslosenin- ein privater oder ein staatlicher Vermittler in den kom- dustrie entwickelt, der es gewohnt war, mit zig Milliar- munalen Jobcentern sein, auf die ich später noch einge- den erhalten zu bleiben und dafür zu sorgen, dass die hen werde. Mittel im System bleiben. (Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Gerd Andres [SPD]: Das ist schlichter Un- NEN]: Das kann auch ein privater sein! Das sinn! Hochgradiger Unsinn!) haben wir erst möglich gemacht, Herr Niebel!) 7762 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2004

Dirk Niebel (A) – Hören Sie zu! Dann können Sie etwas lernen. Ich Zweitens, zur Arbeitgeberseite. Herr Clever, der Ar- (C) komme nämlich aus der Bundesagentur für Arbeit. Ich beitgebervertreter im Verwaltungsrat der Bundesagentur kenne im Gegensatz zu Ihnen den Laden von innen. für Arbeit ist, hat jahrelang als Leiter der Abteilung Ar- beitsmarktpolitik im Bundesministerium für Arbeit und Wir brauchen auf Bundesebene eine schmale Arbeits- Sozialordnung die Bundesanstalt für Arbeit aufgebaut, marktagentur. die die Arbeitsmarktpolitik vor die Wand gefahren hat. (Gerd Andres [SPD]: Sie reden nur Unsinn! Exakt dieser Herr Clever sollte jetzt mit demjenigen zu- Dummes Geschwätz! Nichts kann man bei Ih- sammenarbeiten, der sein eigenes Kind kaputtgemacht nen lernen!) hat? – Hochinteressante Verbindungen! Wir sollten uns über die Arbeitslosenindustrie und – Herr Andres, von Ihnen kann ich zumindest lernen, ihre Protagonisten in Deutschland mehr Gedanken ma- wie destruktiv Gewerkschaftsfunktionäre sind, wenn sie chen; denn das reicht bis in die örtliche Arbeitsamts- vom Postsekretär zum Staatssekretär werden. ebene. In vielen Bereichen geht es gar nicht mehr darum, (Heiterkeit und Beifall bei der FDP und der die Menschen in Arbeit zu bringen und Arbeitsplätze zu CDU/CSU – Gerd Andres [SPD]: Ich komme besetzen, sondern darum, das Geld im System zu lassen, nach Ihnen dran! Warten Sie ab, Herr Arbeits- und zwar zum Wohle derjenigen, die seit Jahrzehnten vermittler!) vom System gut leben. Wie gesagt, nichtsdestotrotz brauchen wir auf Bun- Vielen Dank. desebene eine Arbeitsmarktagentur, die nicht größer sein (Beifall bei der FDP – Karl-Josef Laumann muss als das Bundeskartellamt mit 200 bis 300 Mitarbei- [CDU/CSU]: Das war ein Hirngespinst, bei al- tern und in der das überregional Notwendige erledigt ler Wertschätzung!) wird. Dazu gehören insbesondere Transparenz bei den gemeldeten offenen Stellen, aber auch entscheidungs- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: kompetente Ansprechpartner als Stabsstellen für die Das Wort hat der Kollege Klaus Brandner, SPD-Frak- Bundesländer. Denn eines brauchen wir nicht mehr: die tion. Landesarbeitsämter, die jetzt Regionaldirektionen hei- ßen. Wir brauchen vor Ort, also dort, wo die Menschen und die Arbeitsplätze sind, Jobcenter – und zwar in kom- Klaus Brandner (SPD): munaler Trägerschaft und grundgesetzlich abgesichert in Sehr geehrte Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen der Finanzierung –, die sich um die Betreuung der ar- und Kollegen! Wir alle wissen, was wir nach 40 Jahren CDU/CSU-Herrschaft in der Bundesanstalt für Arbeit (B) beitslosen Menschen kümmern. (D) übernommen haben. Stingl, Franke, Jagoda, all diese (Beifall bei der FDP) Namen stehen für eine Behörde, die in das Verwalten verliebt war, die es vergessen hat, sich den Arbeitslosen Liebe Frau Dückert, das bedeutet Auflösen, um neu zuzuwenden, die keine Aktivitäten entwickelt hat und zu ordnen, und nichts anderes. Damit bekommen die Be- die moderne Dienstleistungen ausgeschlossen hat. schäftigten der Bundesagentur für Arbeit endlich plan- bare Zukunftschancen sowie diejenigen, die Arbeit su- (Beifall bei der SPD – Wolfgang Meckelburg chen, und diejenigen, die Arbeitskräfte suchen, endlich [CDU/CSU]: Das müsst ihr von den Gewerk- ein vernünftiges Betreuungsangebot. Das bedeutet Auf- schaften sagen!) lösen, Frau Dückert. Das ist eine riesengroße Chance für Sie vergessen, dass die Arbeitslosigkeit 1998 am Deutschlands größte Behörde. höchsten war und dass wir eine Behörde übernommen (Beifall bei der FDP) haben, die damals politisch gesteuert war. Wir dürfen in dieser Situation nicht außer Acht lassen, dass Sie 1998 Ich möchte auf die aktuellen Ereignisse zurückkom- diese Behörde genutzt haben, um fast 500 000 politische men – dem Kind sollte man einen Namen geben – und Wahlkampf-ABM zu schaffen, damit die Arbeitsmarkt- fragen, wieso Herr Gerster eigentlich erst jetzt entlassen statistik geschönt werden konnte. So haben Sie die Be- worden ist. Das Einzige, was rechtswidrig war und ihm hörde missbraucht! vorgeworfen werden konnte, waren doch die Beraterver- träge des letzten Jahres. Wieso hat man ihn nicht schon (Beifall bei der SPD – Karl-Josef Laumann [CDU/ damals, sondern erst jetzt entlassen? Wieso hat der Ver- CSU]: Das hat leider nichts genutzt!) waltungsrat noch im Dezember letzten Jahres das Ver- – Richtig, das hat nichts genutzt. Deshalb sollte es jetzt trauen ausgesprochen und im Januar dieses Jahres, ob- auch nicht mehr Thema sein. wohl sich faktisch nichts geändert hat, das Vertrauen entzogen? Dahinter stecken doch Interessen. Die SPD-Fraktion weiß jedenfalls um die Bedeutung einer modernen Arbeitsmarktpolitik. Wir haben deshalb Erstens, zum Zeitraum. Wäre Herr Gerster schon im die Initiative ergriffen, den Umbau der Bundesanstalt für letzten Jahr gegangen, hätte Herr Clement noch einen Arbeit in eine moderne Bundesagentur für Arbeit vorzu- Nachfolger berufen können. Aber durch § 382 des nehmen. Wir wollen aber nicht nur den Namen ändern, SGB III gilt seit dem 1. Januar dieses Jahres ein neues sondern auch dafür sorgen, dass die Kunden die Verän- Recht. Jetzt kommt der Vorschlag von Frau Engelen- derungen direkt bei der Inanspruchnahme der Dienstleis- Kefer. Darüber sollte man einmal nachdenken. tungen spüren. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2004 7763

Klaus Brandner (A) Der Umbau der Bundesagentur für Arbeit zu einem Mammutbehörde gehöre aufgelöst. Das hat nicht nur je- (C) modernen Dienstleister für Arbeitslose und Arbeitgeber mand von den hinteren Bänken getan, sondern auch der ist auf gutem Weg. Der bisherige Vorstand hat – das will FDP-Vorsitzende, . ich hier ausdrücklich sagen – durchaus erfolgreich gear- beitet. Wir lassen nicht zu, dass Sie das durch Ihre De- (Dirk Niebel [FDP]: Kluger Mann!) battenbeiträge kleinreden. Parteipolitik auf dem Rücken Er sagte: Diese Mammutbehörde gehört aufgelöst. Das der Arbeitslosen auszutragen, das lassen wir ebenfalls zeigt im Kern nur, dass man eine aktive Arbeitsmarktpo- nicht zu. Arbeitslose brauchen eine funktionierende litik mit einer modernen Dienstleistungsagentur nicht Bundesagentur für Arbeit. Jugendliche erwarten, dass sie will. nach der Schule mithilfe der Bundesagentur in Ausbil- dungsplätze vermittelt werden, und Behinderte erwarten, (Dirk Niebel [FDP]: Sie haben es nicht ver- dass sie eine vernünftige Beratung erfahren, damit sie in standen! Sie sind doch noch der Gewerk- Arbeit vermittelt werden können. schaftssekretär! Sie denken einfach nicht!) (Beifall bei der SPD) Die BA ist kein Moloch, wie hier dargestellt worden ist. Von den 90 000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern Im Übrigen lassen wir auch nicht zu, dass diese Debatte arbeiten nur noch 1 100 in der Zentrale in Nürnberg; auf dem Rücken der Beschäftigten der Bundesagentur demnächst sind es nur noch 400. Die übrigen Mitarbeiter geführt wird. sind auf 181 Agenturen im ganzen Land und auf weitere (Zuruf von der CDU/CSU: Das hat sich aber 660 Geschäftsstellen verteilt; sie arbeiten also dezentral. gerade so angehört!) (Dirk Niebel [FDP]: Das war aber schon In der Tat hat der Aufbau der gemeinsamen Jobcenter immer so!) nach dem Ergebnis im Vermittlungsausschuss eine feste rechtliche Grundlage. Der damit verbundene Prozess hat Die Eigenverantwortlichkeit und die Entscheidungskom- allerdings erst begonnen; das wissen wir. Wir müssen petenz der dort Tätigen haben wir mit unserem Gesetz diese erfolgreiche Arbeit fortsetzen. Das ist im Übrigen Hartz III herbeigeführt; die Aktivität kann also vor Ort auch die Überzeugung von Arbeitgebern und Gewerk- organisiert werden. Wer das nicht wahrnimmt, betreibt schaften. Um es ganz deutlich zu sagen: Die Personal- Wirklichkeitsverweigerung. entscheidung hält den Reformprozess nicht auf. Wir (Dirk Niebel [FDP]: Heiterkeit bei der FDP!) werden den Reformprozess unabhängig von dem, was an der Spitze der BA mittlerweile passiert ist, fortsetzen. Dazu will ich auch sagen: Die CDU muss endlich ei- Dafür steht die Koalition. nen Klärungsprozess herbeiführen. Herr Merz, nicht ge- (B) rade ein Hinterbänkler, fordert die Abschaffung der BA (D) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ und die Privatisierung der Arbeitslosenversicherung. DIE GRÜNEN) Heute haben wir vom Kollegen Laumann gehört, dass er Sich die Tarifvertragsparteien als neues Opfer auszu- den Reformprozess fortgesetzt wissen will. In den De- gucken ist zwar politisch interessant, aber in der Sache batten hat er aber immer wieder vorgetragen: Die BA völlig verfehlt. kann es nicht; wir trauen ihr die Arbeit nicht zu. Die BA ist also schlechtgeredet worden. Lieber Kollege (Dirk Niebel [FDP]: Ja klar! Sie gehören ja Laumann, wir haben heute von Ihnen gehört – dem liegt dazu!) ein Prozess der Einsicht zugrunde –, dass Sie zur BA ste- Noch im Vermittlungsausschuss hat gerade die CDU/ hen. Wir können uns in dieser Hinsicht sicherlich ge- CSU die Fahne der Selbstverwaltung hochgehalten und meinsam engagieren. Bisher haben Sie diesen Klärungs- mehr Rechte für die Selbstverwaltung gefordert. Jetzt prozess aber nicht vorangetrieben; Sie haben Ihre Politik versuchen Sie, insbesondere die FDP, die Bundesagentur eher auf dem Rücken der Beschäftigten der BA betrie- mit plump-populistischen Angriffen auf die Selbstver- ben. waltung ins Gerede zu bringen. (Dirk Niebel [FDP]: Überhaupt nicht! Dass Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: wir das gerade gewesen sind, ist ja bemerkens- Herr Kollege, Ihre Redezeit ist deutlich überschritten. wert!) Ich bin der Meinung: Wer die Bundesagentur ent- Klaus Brandner (SPD): scheidend mitfinanziert, nämlich die Arbeitnehmer und Das ist aus meiner Sicht ein schändlicher Vorgang. die Arbeitgeber durch ihre Beiträge, der hat einen An- Die Beschäftigten haben es verdient, dass wir zu ih- spruch darauf, an der Kontrolle und an der Aufsicht be- nen stehen. Sie sind in der Lage und bereit, den Reform- teiligt zu sein. Das ist ein Gebot der Fairness, aber auch prozess voranzutreiben. Wir werden mit den Beschäftig- der Klugheit. Die Tarifvertragsparteien sind wesentliche ten der BA eine moderne Bundesagentur schaffen. Alle, Akteure auf dem Arbeitsmarkt. Wir sollten sie deshalb die dabei mitmachen wollen, sind dazu herzlich eingela- verantwortlich einbinden. den. Wir lassen es jedenfalls nicht zu, dass auf dem Rü- (Beifall bei der SPD) cken der Beschäftigten der BA Politik betrieben wird. Gerade jetzt, wo es vorwärts geht, zetteln Vertreter (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ der FDP eine Debatte an, in der sie behaupten, diese DIE GRÜNEN) 7764 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2004

(A) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Als Abgeordnete haben wir Ihnen konkrete kritische (C) Nächster Redner ist der Kollege Bernhard Kaster, Fragen gestellt, die von der Bundesregierung auch be- CDU/CSU-Fraktion. antwortet wurden. Aber das Entscheidende haben Sie versäumt, nämlich aus den eigenen Antworten auch (Franz Müntefering [SPD]: Lasst doch den Konsequenzen zu ziehen. Bereits seit dem 28. November Merz jetzt mal endlich sprechen!) – das ist schon einige Zeit her – liegen dem Minister 41 Beraterverträge mit einem Volumen von 55 Millionen Bernhard Kaster (CDU/CSU): Euro vor Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle- (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Wie viel?) gen! Ich möchte eine Vorbemerkung zum Beitrag von Herrn Brandner machen. Wir müssen aufpassen, dass – 55 Millionen Euro, 41 Beraterverträge – mit durchaus wir mit dieser Debatte nicht von den wahren Problemen ersichtlichen Hinweisen auf Verstöße gegen das Verga- ablenken. Ich will auf den Punkt kommen: Wir haben in berecht. Zum Jahresbeginn wurde ein Vertrag über diesem Jahr im Monat Januar 400 000 Stellen weniger 2,5 Millionen Euro für „Beratung Arbeitslosengeld II“ als noch vor zwölf Monaten. Das sind die Probleme, bekannt. Wie lief das ab? Florian Gerster bestellte, der über die wir zu sprechen haben. Minister bezahlte und der Verwaltungsrat wusste von nichts. So war die Vorgehensweise. (Beifall bei der CDU/CSU – Klaus Brandner [SPD]: Wir reden über den Umbau der BA, (Gerd Andres [SPD]: Und Sie haben keine Ah- Herr Kollege! – Gegenruf des Abg. Karl-Josef nung! Das ist der Höhepunkt!) Laumann [CDU/CSU]: Wohin soll die BA Das Vergaberecht, das Sie immer so abtun, ist kein denn vermitteln, wenn ihr die Stellen alle ka- puttmacht?) überflüssiger Bürokratismus. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Verehrte Kolleginnen und Kollegen, wir sprechen – so sagt es der Kanzler – über die größte Baustelle in Der Präsident des Bundesrechnungshofes hat Recht mit Deutschland. Vorweg bemerkt: Ob es sich um die größte seiner Kritik zur Bundesagentur, wenn er auf die drei Baustelle handelt, sei dahingestellt. Wir sehen inzwi- Kernpunkte des Vergaberechts aufmerksam macht, näm- schen quer durch alle Ressorts nur noch Baustellen. Wir lich Wettbewerb, Transparenz und Vorbeugung gegen warten endlich auf ein erfolgreiches Richtfest. Korruption. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP – Dietrich Austermann [CDU/ (B) Diese Baustellen haben übrigens alle eines gemeinsam: (D) CSU]: Genau, das ist der Punkt!) immer große Ankündigungen, große Theorien, aber klägliches Versagen in der Umsetzung. Grundsätzlich spricht nichts gegen notwendige Bera- tung. Gerade eine schlechte Regierung braucht selbst- (Klaus Brandner [SPD]: Wenn Sie immer alles verständlich mehr gute Beratung als eine gute Regie- abbrechen, können wir auch nicht aufbauen! – rung. Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Kein Richt- fest!) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Dagmar Wöhrl [CDU/CSU]: Die ist jetzt ratlo- Wenn wir über den ins Stocken geratenen Umbaupro- ser als vorher!) zess in der Bundesagentur sprechen, dann gehört dazu auch, ganz deutlich zu sagen, welche Fehler zum jetzi- Aber die Lösung kann nicht darin liegen, dass zusätzlich gen Baustopp auf eben dieser Baustelle geführt haben; zur teuersten Verwaltungsspitze, die die BA je hatte, die denn aus Fehlern muss jetzt gelernt werden. Sie, Herr Beraterkosten von 832 000 Euro im Jahr 2002 auf jetzt Minister Clement, sind der Verantwortliche auf dieser 42 Millionen Euro jährlich gestiegen sind. Wo bleibt da Baustelle. Sie müssen daher endlich Ihrer Verantwortung das Gebot der Verhältnismäßigkeit und der Wirtschaft- gerecht werden und Ihre Aufsicht und Verantwortung lichkeit und wo bleiben die messbaren Ergebnisse? Das gegenüber der Bundesagentur ernst nehmen. versteht im Lande niemand mehr. (Lachen des Abg. Gerd Andres [SPD]) (Beifall bei der CDU/CSU) Wo war denn Ihre Verantwortung, wo war das politische Aus dem größten Desaster in der Arbeitsverwaltung Handeln bei den Problemen des Vorstandsvorsitzenden, müssen endlich Lehren gezogen werden. Eine echte Re- bei den Problemen zwischen Vorstand und Verwaltungs- form der Arbeitsverwaltung ist in dem Bewusstsein zu rat, bei den Problemen zwischen Vorstand und Mitarbei- organisieren und die Bundesagentur ist so zu führen, terschaft, bei den Problemen mit dem Vergaberecht und dass nicht der Eindruck entsteht – so war es in der Ver- der Kritik des Bundesrechnungshofes? Da ist politisches gangenheit –, hier agiere ein Konzern bzw. ein Konzern- Handeln des zuständigen Ministers erforderlich. chef, sondern es muss allen bewusst sein, dass man hier Verantwortung trägt für die Schwachen in unserer Ge- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – sellschaft, nämlich für Arbeitsuchende und Arbeitslose. Klaus Brandner [SPD]: Was sind das für vater- landslose Gesellen! – Gerd Andres [SPD]: Von Wir brauchen Effektivität, Wirtschaftlichkeit und Tuten und Blasen keine Ahnung!) Menschennähe. Wir müssen weg von kopflastiger Büro- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2004 7765

Bernhard Kaster (A) kratie. Das Schlüsselwort heißt Dezentralisierung. Ma- Wir sind fest davon überzeugt – das will ich zu An- (C) chen Sie das! Setzen Sie es endlich um! fang sagen –, dass diese Bundesagentur über eine große Anzahl von hoch engagierten, hoch motivierten und (Klaus Brandner [SPD]: Das machen wir! Sie hoch qualifizierten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern haben völlig Recht mit dem, was Sie sagen! verfügt, die eine ordentliche Arbeit machen. Wir setzen es um!) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Die Lösung liegt in der Fläche, in der stärksten nur denk- der FDP – Dirk Niebel [FDP]: Darüber hinaus baren Regionalisierung, in enger Verzahnung mit den haben Sie keine Ahnung!) Kommunen. Die Vor-Ort-Kenntnisse sind gefragt. Ich erinnere hier an unsere Vorschläge im Zusammenhang Wir haben diese Aktuelle Stunde auch beantragt, weil mit dem Arbeitslosengeld II. wir der Überzeugung sind, es wäre allen, die Verantwor- tung für die Bundesagentur für Arbeit tragen, sehr gehol- Es muss damit Schluss sein, dass die Arbeitsverwal- fen, tung so manchen Flop des Hartz-Konzepts und eine völ- lig verfehlte Arbeitsmarktpolitik ausbaden muss. (Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Deshalb besonders viele Beraterverträge!) (Beifall bei der CDU/CSU) wenn die Bundesagentur nach den Diskussionen der ver- Deswegen fordere ich: Stellen Sie die Dinge bei der Dis- gangenen Wochen allmählich wieder in ein ruhiges kussion nicht auf den Kopf! Die Arbeitslosigkeit in Fahrwasser kommen würde und wenn wir der Bundes- Deutschland ist nicht vorwiegend ein Vermittlungs- und agentur ermöglichen würden, den Reformprozess, in erst recht kein Statistikproblem. Denken Sie über neue dem sie steckt, mit Unterstützung aller, die hier sitzen, Strukturen nach! Neue Strukturen können zur Auflösung zu meistern. von Verkrustungen führen. Beseitigen Sie Interessen- konflikte und Interessenkartelle in den Führungsgre- (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Die Pro- mien! Steuern Sie die Bundesagentur endlich in ein bleme sind an der Spitze!) Fahrwasser, in dem sie leistungsfähig sein kann – im In- teresse der Arbeitsuchenden, der Beitrags- und Steuer- Ich bin Ihnen sehr dankbar, Herr Laumann, dass Sie zahler und auch der Mitarbeiter! die öffentlichen Äußerungen von Herrn Merz und von Herrn Seehofer geradegerückt haben. Ich habe nachgele- Lassen Sie mich zum Schluss noch eine Bemerkung sen, dass die CDU-Vorsitzende ein Interesse daran hat, machen. Verehrte Kolleginnen und Kollegen der Koali- dass die Reform der Bundesagentur weitergeht. Für die tion, seien Sie doch bitte künftig von Beginn an etwas Regierungskoalition und für die Regierung kann ich hier (B) kritischer, wenn Ihnen vom Kanzler ein bester Mann, ganz offen sagen, dass wir uns von der Modernisierung (D) eine Lichtgestalt oder gar ein Superminister präsentiert des Arbeitsmarkts und der Bundesagentur nicht abhalten wird! lassen. Wir haben diesen Prozess begonnen und wir wer- den diesen Prozess auch erfolgreich fortsetzen. Vielen Dank. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der CDU/CSU – Klaus Brandner des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) [SPD]: Haben Sie eine persönliche Abrech- nung vor?) Man muss etwas zu einigen Scharlatanen sagen, die sich öffentlich äußern und die vor dem Hintergrund des Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: schwierigen Umbauprozesses glauben, ihre eigene Nächster Redner ist der Kollege Gerd Andres, SPD- Suppe kochen zu können. Dazu gehört zunächst einmal Fraktion. Herr Westerwelle. (Dirk Niebel [FDP]: „Ich bin Postsekretär! (Dirk Niebel [FDP]: Guter Mann!) Wählt mich hier raus!“ – Gegenrufe von der Herr Westerwelle ist FDP-Vorsitzender. Herr CDU/CSU: Gewerkschaftssekretär!) Westerwelle hat erklärt, er halte die Bundesagentur für nicht reformierbar. Gerd Andres (SPD): (Dirk Niebel [FDP]: Da sehen Sie einmal: Im Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Gegensatz zu Ihnen hat der Ahnung!) Herren! Wir von der SPD-Fraktion haben diese Aktuelle Stunde beantragt, Wir sind von Herrn Westerwelle viel heiße Luft ge- wöhnt. Herr Niebel, weil Sie so dazwischenschreien, (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Das war nicht so klug! Das war ein bisschen ein Selbst- (Dirk Niebel [FDP]: Nicht lauter als Sie!) tor!) sage ich Ihnen: Wenn sich Herr Westerwelle öffentlich weil wir hier im Bundestag über die Zukunft der Bun- äußert, sollten Sie ihn vorher informieren, vor allem in desagentur für Arbeit diskutieren wollen. der Sache informieren. (Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Bis jetzt (Dirk Niebel [FDP]: Er ist so gut informiert, haben wir noch nichts gehört!) wie Sie nie informiert sein werden!) 7766 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2004

Gerd Andres (A) Es muss ja irgendeinen Sinn haben, dass Sie hier in den (Dirk Niebel [FDP]: Gucken Sie mal in die (C) Ausschüssen herumhocken. Sie müssen dafür sorgen, Beschäftigungsgesellschaften!) dass Ihr Vorsitzender nicht immer Unsinn erzählt. Sie haben da den gesamten Etat für die aktive Arbeits- Er hat beispielsweise gesagt, die Bundesagentur habe marktpolitik genannt. Darin sind Lohnkostenzuschüsse 90 000 Beschäftigte und davon seien nur 10 Prozent in usw. enthalten. Lohnkostenzuschüsse bekommen übri- der Vermittlung tätig. gens die Arbeitgeber. (Dirk Niebel [FDP]: Circa!) (Dirk Niebel [FDP]: Ja!) Herr Niebel, Sie wissen es besser. Sie haben in den letz- – „Ja!“ rufen Sie immer. Wissen Sie was? Ich fordere Sie ten Jahren die Reformschritte mitbekommen. In der auf: Sagen Sie einfach einmal die Wahrheit, Herr Niebel, Zwischenzeit sind über 15 000 Beschäftigte mit der Ver- und führen Sie nicht nur Kampagnen! mittlung befasst. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Zurufe von der CDU/CSU) DIE GRÜNEN – Dirk Niebel [FDP]: Eine Hand wäscht die andere!) – Wir sind dabei! Wir verstärken das! Wir bauen das noch aus! Das ist auch völlig richtig. – Meine Empfeh- 5,2 Milliarden Euro hat die Bundesanstalt im letzten lung an Sie, Herr Niebel: Sorgen Sie dafür, dass Ihr Vor- Jahr für berufliche Weiterbildung ausgegeben, davon al- sitzender die Sache kennt, über die er redet! leine 4 Milliarden Euro für Unterhaltsgeld. Dieses Geld bekommen die Leute, die sich in der Weiterbildung be- (Dirk Niebel [FDP]: Ich sage Ihnen: Der kennt finden, für den Unterhalt. Das bedeutet faktisch, dass viel mehr Sachen, als Sie jemals lernen kön- 1,2 Milliarden Euro übrig bleiben. Davon lebt die gigan- nen!) tische Weiterbildungsindustrie, die hier ins Spiel ge- Das kann man übrigens so manchem Redner hier wün- bracht wurde. schen. (Dirk Niebel [FDP]: 25 Prozent Umsatzeinbußen!) Dann komme ich gleich zu Herrn Niebel, der natür- lich auch versucht, seine Suppe auf dem Konflikt zu ko- Herr Niebel, statt hier im Plenum oder woanders dumm chen. herumzuquatschen, (Dirk Niebel [FDP]: Ich esse gar keine (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Wider- Suppe! – Johannes Singhammer [CDU/CSU]: spruch bei der FDP) Der ist doch abgemagert!) (B) empfehle ich Ihnen, bei der Wahrheit zu bleiben und sie (D) Er tritt hier immer auf – die gestanzten Argumente kann zu sagen. Das ist viel sinnvoller. Ich bin auch überzeugt, man zu Dutzenden hören – und spricht von der unglaub- dass Sie es als Mitglied des Fachausschusses besser wis- lichen Industrie, die da tätig sei. sen. (Dirk Niebel [FDP]: Das ist wahr!) Nun sage ich Ihnen etwas zu dem dritten Argument, das da lautet, der Moloch Bundesagentur sei nicht refor- Er hat gesagt – ich will es im Originaltext zitieren –: mierbar. In Deutschland existiert eine riesige Arbeitslosenin- (Dirk Niebel [FDP]: Das ist wahr!) dustrie, Da wird dann von Beschäftigtenzahlen und Ähnlichem (Dirk Niebel [FDP]: Richtig!) geredet. Ich möchte Sie darauf aufmerksam machen, vor allem im Bereich der Weiterbildung. dass wir in der Zwischenzeit fünf Reformgesetze auf den Weg gebracht haben (Dirk Niebel [FDP]: Jawohl!) (Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Besser Da balgen sich 30 000 Unternehmen um 23 Milliar- wäre eines, das funktioniert!) den Euro jährlich. Diese Kreise hat Gerster durch und dass die Bundesagentur für Arbeit – sie hat gegen- seine Reformen massiv gestört. wärtig 99 000 Beschäftigte; das entspricht etwa 89 000 (Dirk Niebel [FDP]: Das ist wahr!) Stellen – eine Organisation ist, die dringend reformiert werden muss. Das, was wir mit befristeter Beschäfti- Herr Niebel, nach meinem Eindruck ist das, was Sie gung, mit anderen Vergütungsarten, mit einer neuen Wir- da machen, pharisäerhaft; kungskontrolle und -steuerung machen, kann sich sehen (Dirk Niebel [FDP]: Nein!) lassen. Ich finde, die Bundesagentur hat für den kom- pletten öffentlichen Dienst Modellcharakter. denn Sie wissen es besser. Der Etat für Weiterbildung bei der Bundesanstalt für Arbeit betrug im letzten Jahr Ich würde mir wünschen, dass Sie, statt die Bundes- 5,2 Milliarden Euro. agentur öffentlich madig zu machen und eine eigene Suppe zu kochen, (Dirk Niebel [FDP]: Richtig!) (Dirk Niebel [FDP]: Die hat sich selbst madig Sie reden von 23 Milliarden Euro. gemacht! Haben Sie das nicht gemerkt?) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2004 7767

Gerd Andres (A) mithelfen und mit daran arbeiten, den schwierigen Re- (Gerd Andres [SPD]: Sagen Sie etwas zu (C) formprozess bei der Bundesagentur für Arbeit erfolg- Seehofer! – Dr. Rainer Wend [SPD]: Er soll reich zu absolvieren. Dann täten Sie etwas Gutes für die einmal etwas zu Merz sagen!) Menschen in diesem Land und für dieses Land. Schlanker heißt, dass jetzt insbesondere bei den Aus- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ führungsgesetzen für die Zusammenlegung von Arbeits- DIE GRÜNEN) losen- und Sozialhilfe die Attraktivität für die Kommu- nen, die Sache zu übernehmen, so erhöht werden muss, Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: dass viele Kommunen und Kreise diese Option auch tat- Nächster Redner ist der Kollege Johannes sächlich wahrnehmen. Es darf nicht so sein, dass ein Ge- Singhammer, CDU/CSU-Fraktion. setz entsteht, das letztlich den Gebietskörperschaften aus finanziellen Gründen verbietet, diese Option zu wählen. (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Rainer Wend Das ist das oberste Prinzip für die Verschlankung. [SPD]: Der sagt jetzt etwas zu Seehofer!) Sparsamer heißt, dass natürlich auch in der Frage der Fort- und Weiterbildung eingespart werden kann. Das Johannes Singhammer (CDU/CSU): gilt auch für die Struktur der Bundesagentur; beispiels- Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und weise beim Gebäudemanagement gibt es eine ganze Herren! Herr Minister Clement, Herr Staatssekretär Reihe von Einsparmöglichkeiten. Andres, nach dem schauerlichen Scheitern von Florian Gerster hätten wir in der von Ihnen jetzt beantragten Ak- (Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- tuellen Stunde zum Umbau der Bundesagentur natürlich NEN]: Haben Sie nicht mitbekommen, dass gerne erfahren, welche konkreten Konsequenzen Sie aus das längst passiert?) diesen Vorfällen ziehen. Außerdem hätte ich von Ihnen erwartet, Herr Minister (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) und Herr Staatssekretär, dass Sie erklären, wie Ihr Minis- terium die Rechtsaufsicht nach diesen Vorkommnissen Aber die Konturenschärfe Ihrer Ankündigungen kann künftig wahrnehmen will. man allenfalls mit in Watte gepacktem Pudding verglei- chen, mit nichts anderem. (Gerd Andres [SPD]: Herr Singhammer be- greift es nie! Das ist alles zwecklos! Das haben Was wir wollen, kann ich Ihnen sehr genau sagen: wir Ihnen schon dreimal im Ausschuss er- Wir wollen, dass die Bundesagentur in dreierlei Hinsicht klärt!) reformiert wird. Sie soll schneller, sie soll schlanker und (B) sie soll sparsamer werden. Bei allem Respekt vor der Selbstverwaltung, die wir na- (D) türlich wollen und hochhalten, kann doch eines nicht Schneller heißt vor allem: dezentrale Strukturen, Ein- richtig sein, nämlich die organisierte Verweigerung der gehen auf die Erfordernisse des örtlichen Arbeitsmark- Rechtsaufsicht, die Sie in den letzten Tagen und Wochen tes. praktiziert haben. (Klaus Brandner [SPD]: Genau das ist gesetz- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) liche Basis! Erklären Sie das einmal den Zu- schauern!) Damit haben Sie auch den Mitarbeitern in der Bun- desagentur schweren Schaden zugefügt. Wenn Sie heute Der Arbeitsmarkt in Rostock unterscheidet sich von dem Krokodilstränen darüber vergießen, sollten Sie sich zu- Arbeitsmarkt in Berchtesgaden beispielsweise wie Eis- nächst an die eigene Brust klopfen und zugeben: Sie ha- bären von Himbeeren. ben angesichts dessen, was sich abgezeichnet hat, viel zu (Dr. [CDU/CSU]: Wer ist Eis- lange abgewartet und gehofft, dass der Fall irgendwie bär und wer ist Himbeere?) doch noch gut ausgeht. Aber es war von Anfang an er- kennbar – spätestens nach dem Bericht des Bundesrech- Deshalb müssen wir eine regionalspezifische Konzen- nungshofes –, dass die Sache nicht gut ausgehen wird. trierung vornehmen und damit neue Möglichkeiten er- öffnen. Kommen wir zu der Praxis der Beraterverträge. Es mag durchaus gute Gründe geben, sich beraten zu las- Wir wollen aber auch, dass die Bundesagentur schlan- sen; dagegen ist auch nichts einzuwenden. ker wird. Schlanker heißt nicht – das sage ich auch an dieser Stelle – Zerschlagung oder Auflösung. Wir wollen (Franz Müntefering [SPD]: Macht die Bayeri- eine schlanke Struktur. Dazu gibt es viele Möglichkei- sche Staatsregierung auch!) ten. Aber wenn in einem Ausmaß und in einer Dichte Bera- (Gerd Andres [SPD]: Sagen Sie doch einmal terverträge abgeschlossen werden, dass praktisch sämtli- etwas zu Seehofer!) che Aufgabengebiete der Bundesagentur nicht nur ein- mal, sondern doppelt beraten werden, – Habe ich doch gerade getan. Haben Sie nicht aufge- passt? Ich habe das gerade gesagt. Wenn Sie nicht aufge- (Gerd Andres [SPD]: Das ist doch Unsinn! passt haben, brauche ich es nicht zu wiederholen. Lassen Das ist doch schon wieder die Unwahrheit, Sie es sich von Ihrem Nachbarn erzählen, Herr Andres. was Sie behaupten!) 7768 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2004

Johannes Singhammer (A) dann stellt sich in der Tat die Frage, welche Effekte bei Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (C) der Einsparung tatsächlich noch zu erzielen sind. Das Wort hat der Kollege Fritz Kuhn, Bündnis 90/Die Grünen. (Gerd Andres [SPD]: Mein Gott, wie Sie mit Dreck schmeißen!) Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): – Herr Andres, seien Sie ganz ruhig! Ich lese Ihnen ein- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! mal das vor, was Ihr eigenes Ministerium hier bekannt Ich will zunächst einmal etwas zu den Beraterverträgen gegeben hat: Seit dem Amtsantritt von Herrn Gerster sagen. Herr Singhammer, ich glaube, dass Sie es sich da sind Beraterverträge in einem Volumen von 55,5 Millio- zu einfach machen, wenn Sie populistisch agieren. Sie nen Euro vergeben worden; das Gesamtvolumen kann in denken, dass das Wort Berater schlecht ankommt. Also diesem Jahr noch um weitere 19,5 Millionen Euro erwei- sind Sie gegen Beraterverträge. tert werden. Wenn ich mir einmal anschaue, welche Landesregie- (Gerd Andres [SPD]: Das wissen wir! – Klaus rungen in den letzten Jahren Beratung selbstverständlich Brandner [SPD]: Das legt der Aufsichtsrat fest in Anspruch genommen haben, als es zum Beispiel um und nicht die Bundesregierung!) die Neuordnung der Wirtschaftsförderung ging – dazu gehört auch die Bayerische Staatsregierung –, Damit sind wir bei über 75 Millionen Euro für Beratung. (Gerd Andres [SPD]: Die haben in Bayern Sie finden praktisch kein einziges Aufgabengebiet der genommen!) Bundesagentur, in dem es nicht mindestens einmal eine und wenn ich mir anschaue, dass die gleichen öffentlich- Beratung gegeben hat. Ich möchte hier ein paar Bei- rechtlichen Medien, die jetzt skandalisieren, dass Bera- spiele nennen: Beratung und operative Unterstützung terverträge gemacht worden sind, bei Senderfusionen Kommunikationsmanagement, Beratung Vorstand Neu- Beratung durch private Gesellschaften selbstverständlich ausrichtung BA, Beratung zur Umsetzung des SGB II, in extenso in Anspruch genommen haben, dann kann ich (Klaus Brandner [SPD]: Jetzt müssen Sie uns nur sagen: Das ist eine große Heuchelei. erklären, warum die Arbeitgeber und die Ge- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN werkschaften das als sinnvoll und notwendig und bei der SPD) ansehen!) Es gilt ein einfacher Satz: Je länger eine große Orga- Reformprojekt BA – Die Agentur, Los D (Einkaufspro- nisation im eigenen Saft schmort, umso notwendiger ist zesse), Einkaufsprozesse Arbeitsmarktdienstleistungen, externer Sachverstand bei der Neuorganisation. (B) (D) Auswahlverfahren von Führungskräften BA-System- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN haus, Beratungsleistung Einrichtung eines Kommunika- und bei der SPD) tionscenters, Projekt virtueller Arbeitsmarkt – ich er- spare Ihnen den Rest. Wo trifft das mehr zu als bei der Bundesagentur für Ar- beit? Dass es für sie zutrifft, ist doch wohl logisch. Eines steht doch fest: Wenn die Bundesagentur schon 90 000 Mitarbeiter hat, Dies ist typischer Populismus. Sie reden der „Bild“- Zeitung nach dem Munde. In Wirklichkeit wissen Sie (Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: 99 000!) aber genau, wie notwendig Beratung ist. Wenn Bundes- minister Clement oder der Chef der Bundesagentur für dann müssen Sie sich entscheiden: entweder Sie sourcen Arbeit keine Berater hinzugezogen hätte, dann wären Sie out und kaufen in großem Stil Beratungsleistungen ein die Ersten gewesen, die gesagt hätten: Sachverstand aus oder aber Sie lassen diese Arbeit von den hoch qualifi- der Wirtschaft muss her! Wir brauchen externe Bera- zierten Mitarbeitern der Bundesagentur erledigen. Das tung! – Das ist doch pure Heuchelei. von Ihnen angeführte Argument, Herr Minister Clement, dass man möglicherweise 5 500 zusätzliche Stellen ge- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN braucht hätte, wären die Beraterverträge nicht abge- und bei der SPD – Johannes Singhammer schlossen worden, und diese Stellen seien dadurch „ein- [CDU/CSU]: Quatsch!) gespart“ worden, kann mich in keiner Weise überzeugen. Auch das gehört zum Thema Heuchelei: Wenn Sie Im Gegenteil: Sparsame Verwaltungsführung heißt, das eine Behörde mit fast 90 000 Mitarbeiterinnen und Mit- vorhandene Potenzial und Personal so zu führen und ein- arbeitern, die jahrzehntelang in einer bestimmten Art zusetzen, wie es Sinn macht. Das haben Sie nicht getan. und Weise gearbeitet haben, zu einer modernen, effektiv Deshalb sage ich Ihnen an dieser Stelle: Hören Sie auf arbeitenden, sparsamen und kundenorientierten Dienst- mit den Beraterverträgen in dem jetzigen Umfang, seien leistungsagentur für Arbeitslose machen wollen, dann Sie sparsam und machen Sie jetzt einen Schnitt! Dazu müssen Sie gründlich vorgehen. Das ist ein schwieriges hätte ich von Ihnen hier und heute eine klare Stellung- Unterfangen. Ganz oben an der Spitze ist etwas schief nahme erwartet. Vielleicht können uns einige weitere gegangen. Wenn man diesen Fehler korrigieren will, Redner der Koalition diese noch geben; wir warten da- dann muss man sagen, dass man nach der Verabschie- rauf. dung der vielen Reformgesetze zu diesem Reformpro- zess steht, und dann muss man auch dafür eintreten, dass (Beifall bei der CDU/CSU) gerade jetzt dieser Prozess konsequent weitergeht. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2004 7769

Fritz Kuhn (A) Ich freue mich über den Grundton in der Rede von froh, dass sich die Haltung von Herrn Laumann davon (C) Herrn Laumann. Herr Laumann, aber Sie haben natür- unterscheidet. lich nichts zu dem gesagt, was Ihre Kollegen, zum Bei- Wir reichen die Hand, für ein gutes Gesetz. Wir müs- spiel Herr Merz, tatsächlich wollen. Sie wenden die klas- sen die beste Lösung finden. Es muss gelten, dass die sische Doppelstrategie an: Für die „Bild“-Zeitung Dienstleistung für die Arbeitslosen der Maßstab ist. Der schlagen die einen feste drauf und andere, die wie Herr ganze taktische Firlefanz wird zu nichts führen. Was wir Laumann etwas von Arbeitsmarktpolitik verstehen, brauchen, ist eine effektive Arbeitsverwaltung. Auf dem schlagen etwas verständnisvollere Töne an. Weil Sie er- Weg sind wir und diesen Weg werden wir fortsetzen. klärt haben, dass Sie für die CDU/CSU-Fraktion spre- chen, werden wir davon ausgehen, dass die CDU/CSU- Vielen Dank. Fraktion in Gänze die Bundesagentur für Arbeit erhalten (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN will und dass sie ihren Umbau will. und bei der SPD – Gerd Andres [SPD]: Der (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Niebel ist wahrscheinlich beim Interview! – Aber doch nicht so!) Dr. Uwe Küster [SPD]: Herr Niebel ist beim Fernsehen! Dummes Zeug erzählen! – Das ist die Geschäftsgrundlage für die Auseinanderset- Hartmut Schauerte [CDU/CSU], an die SPD zung in den nächsten Wochen. Nicht Westerwelle oder gewandt: Fürchtet ihr euch ohne ihn? – Klaus Merz, sondern Laumann pur ist die Grundlage für die Brandner [SPD]: Wertet den Mann nicht auf!) Gespräche, die wir führen werden. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: und bei der SPD – Karl-Josef Laumann [CDU/ Das Wort hat die Kollegin Petra Pau. CSU]: Ich freue mich!) Herr Laumann, mit dem, was Sie mit Blick auf die Petra Pau (fraktionslos): Kommunen gesagt haben, müssen wir uns ernsthaft aus- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! einander setzen. Wir finden es richtig, dass jetzt ein gu- Vielleicht ist Ihnen aufgefallen – vielleicht auch nicht –, tes Gesetz gemacht wird, das es den Gemeinden ermög- dass sich die PDS im Bundestag nicht an der monatelan- licht, in diesem Bereich, wenn sie es denn wollen, tätig gen Debatte beteiligt hat, die letztendlich zur Ablösung zu werden. Aber eine Konsequenz müssen Sie im Auge von Herrn Gerster geführt hat. behalten: Auch für die Arbeitslosen, für die die entspre- (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Gibt es Sie ei- chende Gemeinde diese Aufgabe nicht übernimmt – es gentlich noch? Sind Sie überhaupt noch da?) werden sich nämlich nicht alle Gemeinden beteiligen –, (B) (D) muss es gut funktionierende Jobcenter der Bundesagen- Denn es war eine Stellvertreterdebatte, in der viele ihr tur für Arbeit geben. Das heißt, es darf nicht so sein, dass Süppchen gekocht haben. die guten Fälle zu den Gemeinden gehen und die ande- ren vernachlässigt werden. Wir haben die Aufgabe, si- Das eigentliche Problem, die Massenarbeitslosigkeit, cherzustellen, dass überall im Land Arbeitslose besser gerät so in der Öffentlichkeit immer mehr zur Nebensa- betreut, besser vermittelt und auch besser behandelt wer- che. Sie ist aber die Hauptsache für viele persönliche Er- den, als dies in der Vergangenheit der Fall war. niedrigungen und gesellschaftliche Verwerfungen. Des- halb ist hier darüber zu reden. Herr Niebel hat sich sicherheitshalber verdrückt; das (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch kann ich nachvollziehen. [fraktionslos]) (Gudrun Kopp [FDP]: Er kommt Es kann sein, dass Abgeordnete der PDS öfter mit Ar- gleich wieder!) beitslosen zu tun haben als manch andere. – Er kommt erst gleich wieder; die Präsidentin wird aber (Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Ihr seid die Debatte nicht unterbrechen. – Ich finde, man muss ja auch nur zwei! Das ist klar!) einmal klären, was Herrn Niebel in den fünf Jahren, in denen er bei der Arbeitsverwaltung in gear- Das liegt dann allerdings am Selbstverständnis der Par- beitet hat, persönlich widerfahren ist. Er macht nämlich teien. Jedenfalls weiß ich aus Erfahrung, was die keine Analyse des Reformprozesses, sondern er kocht Agenda 2010, die Hartz-Gesetze und die so genannte sein eigenes Süppchen. Ich habe keine Lust, dauernd von Reform der Bundesagentur für Arbeit für die wirklich dieser Nummer belästigt zu werden. Betroffenen, die Arbeitslosen, bedeutet. Ihnen wird nicht geholfen. Sie werden vielmehr für eine falsche Steuer- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und Arbeitsmarktpolitik in Haft genommen. und bei der SPD) Ich möchte Ihnen das an zwei Beispielen aus meinem Wer sagt: „Bundesagentur für Arbeit jetzt auflösen“, Bekanntenkreis illustrieren: der meint natürlich ihre Zerschlagung. Um das zu erken- nen, braucht man keine semantischen Turnübungen. Er Erstes Beispiel. Ein Ingenieur, inzwischen langzeitar- fordert dies auf dem Rücken der Arbeitslosen, die die beitslos, bekam vom Arbeitsamt ein Schreiben. Darin Hoffnung haben, dass sie eines Tages besser vermittelt wurde ihm gedroht, er habe gefälligst auch Minijobs an- werden. Es handelt sich um einen neoliberalen und kal- zunehmen; ansonsten würden ihm alle Hilfen gestrichen. ten Zynismus, den die FDP hier an den Tag legt. Ich bin Er schrieb zurück: „Bitte nennen Sie mir Minijobs, die 7770 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2004

Petra Pau (A) ich annehmen soll!“ Er wollte solche auch sofort anneh- Drittens sind wir Sozialdemokraten nach wie vor stolz (C) men. Auf eine Antwort wartet er bis heute vergebens. darauf, dass in unseren Reihen auch Maschinenschlosser Abgeordnete und Staatssekretäre werden können. Neh- Zweites Beispiel. Eine Nachbarin von mir ist arbeits- men Sie das bitte zur Kenntnis! los, ebenfalls seit Jahren. Durch die Agenda 2010 sinken ihre monatlichen Bezüge auf weniger als 400 Euro – zu (Beifall bei der SPD – Dirk Niebel [FDP]: viel zum Sterben, aber viel zu wenig zum Leben. Nun Man kann bloß nicht jeden zum Staatssekretär hat sie die Chance auf einen „Miniminijob“: ganze drei machen! Das ist das Problem!) Stunden in der Woche. Sie meldete das pflichtgemäß Wenn wir über die Bekämpfung der Massenarbeitslo- dem Arbeitsamt. Das Einzige, was ihr zuteil wurde: ein sigkeit reden, sollten wir drei Dinge berücksichtigen. Berg Formulare, damit sie am Ende der Woche diese drei Das eine ist die politische Klarheit. Minister Clement hat Stunden beim Arbeitsamt minutiös abrechnet. mit aller Deutlichkeit gesagt: Falls es jemanden geben Herr Gerster war auserkoren, um all das durchzuset- sollte, der glaubt, durch die Demontage von Florian zen. Er sei der Beste, meinte Minister Clement bis zu- Gerster, die es teilweise gegeben hat, und durch dessen letzt. Deshalb ist es müßig, über richtige oder gefällige Abberufung den Reformkurs bei der Bundesagentur Beraterverträge zu streiten. Gerster hat eine falsche Poli- rückgängig machen zu können, so hat sich dieser geirrt. tik exekutiert: eine Politik, die Arbeitslose und nicht die Die Bundesregierung wird unbeirrt am Reformkurs fest- Arbeitslosigkeit bekämpft. Rot-Grün nennt das Reform. halten. Auf unserer Seite des Hauses ist politische Klar- Der Opposition zur Rechten geht das Ganze nicht weit heit geschaffen worden. Auf Ihrer Seite fehlt es an der genug. Die hohe Arbeitslosigkeit muss aber endlich als Klarheit. strukturelles und anhaltendes Problem begriffen werden. Eines muss ich noch einmal sagen: Ich höre Herrn Ihr ist weder durch statistische Tricks noch durch Kon- Laumann und lese Ausführungen der Kollegin Wöhrl, junkturgebete beizukommen. Die Aufgabe von progres- darüber hinaus lese ich aber auch die Ausführungen von siver Politik wäre es, nicht dem Markt zu gehorchen, Herrn Merz und Herrn Seehofer. Herr Merz ist stellver- sondern eine Richtung vorzugeben. tretender Fraktionsvorsitzender, Herr Seehofer stellver- (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch tretender Parteivorsitzender. Ich habe eine Bitte: Die [fraktionslos]) Parteivorsitzenden Merkel und Stoiber sollten klären, ob die Unionsparteien zur Bundesagentur und zur Refor- Noch ein letztes Wort. Über Ablösesummen und Über- mierbarkeit der Bundesagentur stehen oder nicht. Die gangsgelder wird in der Öffentlichkeit viel geredet. Da Klarheit darüber muss auf den Tisch. geht es um 60 Millionen Euro und mehr für außergewöhn- (Beifall bei der SPD) (B) liche Leistungen, wie gesagt wird. Man muss als Arbeits- (D) loser 60 000 Jahre alt werden, um mit Herrn Ackermann Der zweite Aspekt – neben der politischen Klarheit – und Herrn Gerster gleichzuziehen. Wer bundesdurch- betrifft Folgendes: Wir brauchen Wirtschaftswachstum. schnittlich arbeitet, braucht mehr als 3 000 Jahre, um ähn- lich viel zu verdienen. Das ist fürwahr außergewöhnlich, (Beifall bei der CDU/CSU) allerdings nicht die Leistung! Die beste Arbeitsmarktpolitik wird ohne Wirtschafts- (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch wachstum keinen durchgreifenden Erfolg haben. [fraktionslos]) (Dirk Niebel [FDP]: Ihr stellt doch den Minister!) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Deshalb ist es richtig, die Rahmenbedingungen für das Das Wort hat der Kollege Rainer Wend, SPD-Frak- Wirtschaftswachstum verbesert zu haben und weiter zu tion. verbessern. Ich nenne dazu Stichworte: Wir hätten die Steuerreform gern etwas weiter getrieben, was aber im Dr. Rainer Wend (SPD): Bundesrat scheiterte. Die Senkung der Lohnnebenkosten Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr ist ebenso ein Thema, über das wir weiter diskutieren Niebel, sozusagen außerhalb der Tagesordnung möchte müssen. Das Thema Innovation in Wirtschaft und Wis- ich Ihnen vorweg erwidern: Sie haben eben in Bezug auf senschaft wird uns bewegen. Dies alles macht die Rah- den Kollegen Andres ein wenig abfällig gesagt: Vom menbedingungen für ein besseres Wirtschaftswachstum Postsekretär zum Staatssekretär. aus. (Jürgen Koppelin [FDP]: Gewerkschafts- Ein dritter Punkt, nämlich die Senkung der Beschäfti- sekretär!) gungsschwelle, steht im Zentrum. Das heißt: Wir brau- chen in Deutschland zwischen 1,7 Prozent und 2 Prozent Postsekretär ist erstens ein ordentlicher Beruf. Wirtschaftswachstum, um neue Arbeitsplätze zu schaf- (Dirk Niebel [FDP]: Das ist wahr!) fen. Andere Länder sind deutlich besser, sie schaffen es bei niedrigerem Wachstum. Zweitens ist Herr Andres damals Maschinenschlosser gewesen. Was können wir tun? Wir können die Beschäftigungs- schwelle durch eine intelligentere und bessere Arbeits- (Dirk Niebel [FDP]: Und Gewerkschafts- marktpolitik senken. Hierbei haben wir bzw. die Bun- sekretär!) desagentur in der Vergangenheit einiges erreicht. Die Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2004 7771

Dr. Rainer Wend (A) Instrumente beginnen zu greifen. Ich verstehe, wenn bei (Klaus Brandner [SPD]: Wir müssen nicht flie- (C) den Personal-Service-Agenturen noch nicht alles hun- hen! Wir haben etwas vorzuzeigen, Herr dertprozentig funktioniert. Es gibt aber immerhin über Fuchtel!) 40 000 Beschäftigte, erste so genannte Klebeeffekte Wer in der letzten Woche in seinem Wahlkreis war, der werden deutlich. hat erlebt, dass das Verhalten der Bundesregierung in Machen Sie die Existenzgründungen nicht nieder! dieser Angelegenheit der Bevölkerung schlichtweg auf Wir haben über die Ich-AG ungefähr 90 000 Menschen den Keks geht. Es kann auch nicht sein, dass der Bürger aus der Arbeitslosigkeit herausgeholt und in die Selbst- immer weniger in der Tasche hat und in Berlin mal da, ständigkeit geführt. In diesem Zusammenhang müssen mal dort freihändig mit Millionen jongliert wird. So geht wir überlegen, welche Verbesserungen durch Begleitung das einfach nicht weiter. noch möglich sind. Mentalitätsmäßig aber müssen wir (Beifall bei der CDU/CSU) erst einmal klar machen, dass der Weg aus der Arbeitslo- sigkeit nicht nur durch den klassischen Job in der Indus- Bei diesem Schlendrian, der Kumpanei und der Kor- trie möglich ist, sondern dass man sich darüber hinaus ruptionsgefahr hilft nur eine generell verstärkte Kon- auch selbstständig machen kann. Das ist in den letzten trolle durch uns als Vertreter der Steuerzahler, damit Monaten in Bewegung gebracht worden und das ist eine wieder Vertrauen wachsen kann und geordnete Verhält- gute Sache, die wir loben sollten. nisse entstehen können. Ich möchte daher meinen Dank an Florian Gerster Die Kollegin Dückert hat vorhin in etwas hilflosem richten, der bei aller Problematik der Persönlichkeit, die Ton gesagt: ich nicht verschweigen will, die neuen Instrumente mit (Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- viel Intensität und Energie angewandt hat. Ihm sei Dank NEN]: Ach mein Gott, Herr Fuchtel!) dafür. Den Menschen, die in der Bundesagentur beschäf- tigt sind, wünsche ich Mut, diesen Weg auch in Zukunft So etwas darf nicht wieder vorkommen. – Das ist zu we- weiterzugehen. nig! (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Als Obmann der CDU/CSU im Rechnungsprüfungs- DIE GRÜNEN) ausschuss schlage ich heute konkret vor: Weitergehen heißt, die Instrumente, die uns Hartz IV Erstens. Die Regierung wird bis auf weiteres ver- bringt, zu nutzen. Was soll in diesem Jahr auf den Weg pflichtet, dem Bundesrechnungshof sämtliche Vergaben gebracht werden? Ich will einige Stichworte nennen. Es von Gutachteraufträgen vorzulegen. (B) geht um die Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und (Beifall bei der CDU/CSU) (D) Sozialhilfe. Es geht um Jobcenter, in denen die Bundes- agentur zusammen mit den Kommunen durch Bünde- Zweitens. Der Haushaltsausschuss vereinbart mit dem lung von Kompetenzen eine bessere Vermittlung errei- Bundesrechnungshof eine Kriterienliste, nach welcher er chen will. Wir müssen hinsichtlich der Zumutbarkeit das vom Bundesrechnungshof die Vergabeentscheidungen Prinzip „Fördern und Fordern“ für Arbeitslose verbes- zur Bearbeitung vorgelegt bekommen möchte. sern. Drittens. Das Ganze wird zunächst ein Jahr lang in Ich fasse zusammen: Wir müssen erstens die Rah- der Hoffnung exerziert, dass die Regierung bis dahin den menbedingungen für das Wirtschaftswachstum verbes- rechtmäßigen Umgang mit Vergaben eingeübt hat. sern. Wir brauchen zweitens Verlässlichkeit in der Poli- (Beifall bei der CDU/CSU) tik. Drittens müssen die Reformen auf dem Arbeitsmarkt vorankommen und für mindestens den letzten Punkt Diese Maßnahmen sind notwendig, weil die Bevölke- brauchen wir eine Bundesagentur, die reformiert und da- rung von uns erwartet, dass hier bald wieder ein anderer durch schlagkräftiger wird. Daran arbeiten wir. Wind weht und dass wir nicht weiter nach dem Motto „Weiter so“ und dem Prinzip der Verdrängung handeln. Herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Das ist unsere klare Linie für die Zukunft. Diese Linie DIE GRÜNEN) wird übrigens auch in einer anderen Frage vom Haus- haltsausschuss verfolgt, nämlich bei der Vorlage von Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Entscheidungen im Bereich der Garantien und Bürg- Das Wort hat der Kollege Hans-Joachim Fuchtel, schaften, die grundsätzlich dem Haushaltsausschuss vor- CDU/CSU-Fraktion. gelegt werden. Hier müssen wir uns einfach eine Zeit lang die Mühe machen, uns die Dinge anzuschauen, bis (Beifall bei der CDU/CSU) das Durcheinander in der Regierung aufhört.

Hans-Joachim Fuchtel (CDU/CSU): (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Dr. Uwe Küster [SPD]: Fuchteln Sie hier doch Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Auch nicht so rum!) wenn das Thema dieser Aktuellen Stunde wie die Flucht nach vorn aussieht – für uns ist das Vergabethema noch Für die Reform der Bundesagentur ist es erforderlich, nicht abgehakt. dass alle Beteiligten unbelastet sind. Die Besetzung der 7772 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2004

Hans-Joachim Fuchtel (A) Position der Vorsitzenden des Verwaltungsrates mit Frau hat zu gehen, sondern auch Andres hat auf jeden Fall (C) Engelen-Kefer ist eine Verneigung von Regierung und wegen Unfähigkeit seinen Hut zu nehmen! Gewerkschaften vor der personifizierten Reformunfä- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dirk higkeit. Niebel [FDP]: Der Fuchtel ist Klasse!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Gerd Andres [SPD]: So ein Quatsch! So ein Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Unsinn!) Das Wort hat die Kollegin Doris Barnett, SPD-Frak- – Hier sagt der Kollege Andres: „So ein Quatsch!“ tion. (Klaus Brandner [SPD]: Er kennt sich aus!) (Dirk Niebel [FDP]: Man darf Herrn Andres bloß nicht mit Faktenwissen belasten! Das ist Wer die Insider gehört hat, weiß: Die haben deshalb so das Problem!) lange mit sich gerungen, ob sie den Gerster ablösen sol- len, weil sie Angst gehabt haben, dass dieser Mann dort Doris Barnett (SPD): Platz nehmen wollte. Jetzt sitzt er hier und sagt: „So ein Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Quatsch!“. Wir reden hier nicht über die Umbesetzung der Bundes- (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und regierung, sondern über den Umbau der Bundesagentur der FDP – Dr. Uwe Küster [SPD]: Mit der lan- für Arbeit zu einem modernen Dienstleister. gen Latte im Dunkeln!) (Dirk Niebel [FDP]: Das andere wäre auch Bei der Regierung gilt: Die Kleinen dürfen sich nichts wichtig!) erlauben, die Großen alles! Als zuständiger Bericht- Der Umbau der Bundesanstalt zu einem Dienstleister, erstatter im Haushaltsausschuss habe ich seit Oktober nämlich zu einer Agentur, ist mittlerweile auf dem Er- letzten Jahres bei Staatssekretär Andres auf Klärung be- folgsweg. Das haben wir gemeinsam mit den Beschäf- züglich der fraglichen Vergaben gedrängt. Und was hat tigten trotz der Ausbremsversuche aus den Reihen der er gemacht? Opposition hinbekommen. (Dirk Niebel [FDP]: Nichts!) Der seinerzeitige Vermittlungsskandal – gerade ein- – Heiße Luft! Er hat gedacht, er könne die Sache aussit- mal zwei Jahre her – hat uns allen deutlich vor Augen zen. Das ist ihm nicht gelungen. geführt, dass die Steuerung der Anstalt von einem fal- schen Weltbild geprägt war, nämlich dem, möglichst (Beifall bei der CDU/CSU – Dirk Niebel (B) viele Vermittlungen nachzuweisen. Der Kundenbezug (D) [FDP]: Er wollte sich dumm halten, damit er war egal. den Journalisten nichts sagen muss! Das hat er Das war altes Denken, das sogar im Gesetz manifes- selbst gesagt!) tiert wurde. Damit haben wir aber schnell aufgeräumt. Der Einschaltung des Bundesrechnungshofes hätte es Wir haben der Bundesanstalt neue Instrumente gegeben eigentlich gar nicht bedurft. Das Ministerium hat genü- und alte verändert. Wir haben sie in die Lage versetzt, gend qualifizierte Beamte, die die Frage der Rechtmä- dem Markt und nicht nur sich selbst zu genügen. Die ßigkeit dieser Vergaben eigentlich von sich aus im Rah- neue BA ist für die Zukunft gut gerüstet. Sie hat zwei men ihrer Rechtsaufsicht hätten prüfen müssen, und starke Säulen: Die eine ist ihre Zentralität in der Organi- zwar unverzüglich und völlig unabhängig von dem, was sation und der Steuerung, die andere ihre Dezentralität im Verwaltungsrat im Rahmen der Fachaufsicht durch- durch die ortsnahe Leistungserbringung. Gerade das ist geführt wird. Hierin liegt Ihr Versäumnis. in der Diskussion darüber, wie Hartz IV umgesetzt wer- den soll, ein nicht zu unterschätzender Vorteil. Aber das (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) verstehen noch nicht alle. Ich muss zitieren, was dieser Mann, der sich hier vor Denn durch ihre dezentrale Leistungserbringung ist Lachen kaum auf dem Stuhl halten kann, dem es schein- sie in einem Netz von rund 850 Dienststellen organisiert, bar völlig egal ist, wenn uns Hunderttausende Euro die vor Ort präsent sind und alle örtlichen Arbeitsmärkte durch die Lappen gehen, sowie die dort operierenden Kooperationspartner ken- (Gerd Andres [SPD]: Nein! Das ist nicht wahr! nen. Durch ihre Zentralität ist sie in der Lage, Verfahren Ich lache über Sie! – Dr. Uwe Küster [SPD]: sehr schnell bundeseinheitlich umzusetzen und gleiche Außer Fuchteln kann Fuchtel nichts!) Standards zu schaffen. Insellösungen mit unterschiedli- chen Angeboten, unterschiedlichem Betreuungsumfang am 28. November 2003 im Ausschuss gesagt hat: usw., wie sie von Ihnen, der Opposition, angedacht sind, Wir kriegen die Verträge, wir kriegen die Vermerke, würden die Zerschlagung der BA bedeuten. Das wird es wir kriegen alles. Ich darf Ihnen aber sagen, ich mit uns nicht geben. Auf diesem Weg reißen Sie ein wei- kenne sie nicht, will sie auch gar nicht kennen. teres Stück Sozialstaat ein. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Nicht nur die FDP, sondern auch die CDU gibt der BA keine Überlebenschance. Wie sonst ist es zu verste- So nimmt dieser Mann seine Aufgabe in der Regie- hen, dass Herr Schauerte gestern sagte, dass die CDU/ rung wahr! Unsere Forderung lautet: Nicht nur Gerster CSU auf absehbare Zeit an einer reformierten BA fest- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2004 7773

Doris Barnett (A) halten will? Was bedeutet: auf absehbare Zeit? Wann ist McKinsey-Kommission umbenennen sollte. Überlegen (C) diese Zeit für Sie vorbei? Wenn die Städte optieren? – So Sie sich Ihre Bemerkungen zu den Beraterverträgen also verklausuliert reden die Vertreter der FDP nicht. Sie re- gut! Denn sonst schaden Sie einem Berufsstand, der hier- den Klartext. zulande vieles mit bewegen konnte – selbst bei Ihnen. Trotz aller Unkenrufe der Totengräber ist die BA kein Vielen Dank. zentralistischer Moloch. Vielmehr ist sie heute mehr (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten denn je ein kundenorientierter Dienstleister. 1 100 der des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) 90 000 Mitarbeiter waren einmal in Nürnberg beschäf- tigt. Viele dieser Stellen sind längst nach unten verteilt worden. In der Zentrale werden nur noch 400 Stellen Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: bleiben. Denn es geht nicht um das Verwalten, sondern Nächster Redner ist der Kollege Hartmut Schauerte, um Eingliederung, Beratung, Vermittlung, Förderung CDU/CSU-Fraktion. und auch um Lohnersatzleistungen. Dafür müssen die Mitarbeiter der BA aber dort sein, wo auch die betroffe- Hartmut Schauerte (CDU/CSU): nen Menschen sind. Genau das haben wir durch das Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Hartz-III-Gesetz geschafft. Herren! Ich habe die Debatte auf mich wirken lassen und Dass die Arbeitsverwaltung immer besser wird, den muss mich fragen, was sie eigentlich sollte. Kurz nach- arbeitssuchenden Menschen also immer besser helfen dem Sie die Diskussion um den Vorstandsvorsitzenden kann, zeigen die Ergebnisse. So ist die Zahl der Arbeits- der Bundesagentur, die sich über Wochen und Monate losen im Jahresdurchschnitt 2003 konjunkturbedingt hingezogen hat und für Sie ausgesprochen peinlich war, zwar stark angestiegen. Trotzdem hält sich die Zunahme mit dessen Entlassung beenden mussten, beantragen Sie in Grenzen, weil die getroffenen Maßnahmen bereits diese Aktuelle Stunde und wollen eine Debatte über den umgesetzt wurden und greifen konnten. Die Bemühun- Umbau der Bundesanstalt zu einem modernen Dienst- gen um Integration in den ersten Arbeitsmarkt machen leistungsunternehmen führen. Wer in aller Welt hindert sich bemerkbar. Es konnten 13,6 Prozent mehr Arbeits- Sie daran, den Umbau vorzunehmen? Wo liegt das Pro- lose als im Vorjahr in den ersten Arbeitsmarkt integriert blem? Sie haben die Mehrheit und können entscheiden. werden. Es konnten 12,2 Prozent mehr Menschen als im (Klaus Brandner [SPD]: Das ist doch prima, Vorjahr durch Eigeninitiative eine Arbeit finden. Durch dass Sie den Prozess unterstützen!) stärkere Inanspruchnahme von Dritten bei der Vermitt- lung konnten erheblich mehr Menschen mit besonderen Ich habe von Ihnen zu diesem Thema, das Sie selbst vor- gegeben haben, nichts Neues gehört. Sie sind in dieser (B) Erschwernissen wieder in den Arbeitsmarkt zurückkeh- (D) ren. Im letzten Jahr wagten 250 000 Menschen den Debatte strategisch nicht richtig aufgestellt. Schritt vom Arbeitslosen zum Existenzgründer. Nicht (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- alle werden Erfolg haben. Aber diejenigen, die durchhal- neten der FDP – Dirk Niebel [FDP]: Sie woll- ten – das werden viele sein –, schaffen weitere Arbeits- ten die Opposition beschimpfen und nicht plätze. mehr! – Klaus Brandner [SPD]: Es geht nicht Bei der Auswahl der Maßnahmen orientieren sich die um Strategie, es geht um Ergebnisse!) Arbeitsämter immer stärker daran, wie groß der Integra- Herr Gerster war für Gerhard Schröder, der ja schon tionserfolg ist. So können die Gelder besser eingesetzt häufiger personalpolitische Fehlentscheidungen zu ver- werden. Im Gegensatz zur Auffassung von Herrn Niebel antworten hatte, und für Wolfgang Clement der beste wird damit nicht eine Arbeitslosenindustrie ausgehalten. Mann für diese Aufgabe. Die Regierung hat ihn nach der Was hätten Sie als Vermittler nur gemacht, wenn es Stellungnahme des Verwaltungsrates entlassen. Warum keine Bildungsträger gegeben hätte? Hätten Sie den Be- sollen wir darüber noch streiten? troffenen wenigstens die Leistungen ausbezahlt? (Klaus Brandner [SPD]: Sie haben es doch ge- (Dirk Niebel [FDP]: Die Vermittler zahlen fordert: sofort entlassen!) kein Geld aus! Sie vermitteln!) Wir müssen zusehen, dass wir nun den besten Mann für Das wäre für den Vermittler zwar einfach und Zeit spa- diese unglaublich große und schwierige Aufgabe finden. rend, für den Arbeitslosen aber nicht unbedingt optimal. Da Sie aber noch immer Loyalitätsbekundungen abge- ben und beteuern, Herr Gerster sei ein guter Mann gewe- Die Transformation von einer Versorgungsanstalt in sen, droht uns doch, dass Sie wieder einen Mann von eine Eingliederungsmaschine läuft. Sie läuft gut. Wir ähnlicher Qualität nehmen. können den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern nur dan- ken; denn von ihren Anstrengungen profitiert unsere (Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der ganze Gesellschaft. Dass dieser Prozess begleitet werden CDU/CSU) muss, damit Fehlentwicklungen rechtzeitig abgewendet Wollen Sie aus dem, was abgelaufen ist, keine Konse- werden können, weiß hier im Haus eigentlich jeder. Das quenzen ziehen? Was soll uns diese Debatte bringen? macht die Wirtschaft so und das macht auch die BA. In ihrem 53-Milliarden-Euro-Haushalt setzt sie immerhin (Gerd Andres [SPD]: Deswegen hat Ihr Ge- 0,08 Prozent für Beratung ein. Das macht sogar die schäftsführer auch dringliche Fragen ge- Herzog-Kommission, die man vielleicht besser in stellt!) 7774 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2004

Hartmut Schauerte (A) Bis jetzt hat sie uns erstaunlich wenig gebracht. Das überdecken Sie hier verbal. Die heute von Ihnen an- (C) beraumte Debatte ist völlig unnötig und beweist, dass Sie haben Herrn Clever erwähnt, der übrigens nicht Sie sich damit selbst ermutigen wollen, weiterzumachen. mein Freund ist. Das ist hier so vorgetragen worden. Uns brauchen Sie bei diesem Thema keine Ratschläge zu (Klaus Brandner [SPD]: Den hat der Göhner geben. reingeholt!) (Klaus Brandner [SPD]: Da haben wir Sie aus Wollen Sie mit Frau Engelen-Kefer, der ewig freundli- dem Dornröschenschlaf aufgeweckt, jetzt geht chen und liebenswürdigen Begleiterin der Bundesanstalt es vorwärts und Sie sind immer noch nicht zu- für Arbeit alter und neuer Prägung, eine Diskussion da- frieden!) rüber anfangen, dass Sie die Befürchtung haben, der Reformprozess könne behindert werden? Ich möchte noch zwei Punkte ansprechen, die mir darüber hinaus wichtig sind. Zum einen muss man darü- (Klaus Brandner [SPD]: Sagen Sie einmal et- ber nachdenken, wie es mit der Bundesanstalt und ihren was zu dem Verhältnis Göhner, BDA und Gremien weitergehen soll, ob sie richtig besetzt sind und CDU!) ob es zu viele Abhängigkeiten gibt. Sie werfen uns von der Union vor, wir wollten den Re- (Zuruf von der SPD: Ja! Das haben wir gerade formprozess behindern. Das ist doch abstrus! Wir wollen geregelt! – Gegenruf des Abg. Dirk Niebel Reformen schneller haben als Sie. Die FDP will die [FDP]: Nicht wirklich!) Agentur sogar abschaffen; so schnell will sie reformie- ren. Die CDU sagt, Gibt es genügend Transparenz? Ich will das einmal auf die Aktiengesellschaften in Deutschland übertragen. (Klaus Brandner [SPD]: Teile!) Man hört in diesem Zusammenhang die Stichworte wir sollten es mit dieser Agentur versuchen – hoffentlich Good Governance und Good Conduct. Cromme und klappt es –, aber so schnell und so effektiv wie möglich Professor Braun geben vor, wie sich wer zu verhalten hat und mit möglichst schlanken Strukturen. und was er bekannt zu geben hat. Im gesamten öffentli- chen Bereich findet eine solche Debatte nicht statt. Ich (Klaus Brandner [SPD]: Sie wissen doch: Klä- möchte aber auch für diesen Bereich wissen, wer warum rungsprozesse sind immer wichtig!) wie entscheidet. Gegen wen kämpfen Sie also, wenn Sie mit Kraft in der (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Stimme verkünden, der Reformprozess müsse fortge- setzt werden? Die einzigen Personen, bei denen die Wir verpflichten die Vorstände der Unternehmen, der (B) (D) Frage berechtigt ist, ob sie den Reformprozess fortsetzen Welt zu erklären, wie viel Geld sie verdienen. Aber das wollen, sitzen bei Ihnen. Einkommen des Vorstands der Bundesagentur für Arbeit ist ein Staatsgeheimnis, das nicht einmal der Verwal- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) tungsrat kennen darf. Das sind eigenartige Verhältnisse. Sie hatten mit Blick auf Frau Engelen-Kefer doch die Es gibt eine ganze Menge zu verändern. Machen Sie Sorge, ob man ihr den Abschuss von Herrn Gerster er- mit! Seien Sie mutig! lauben konnte, Der zweite Punkt betrifft die Beraterverträge. Wir (Klaus Brandner [SPD]: Clever hat ihn abge- brauchen kluge Beratung. Aber kluge Beratung darf schossen! Der „Stern“ meldet: Clever hat ihn nicht aus strategischen Gründen eingesetzt werden oder abgeschossen!) weil man keinen Mut hat oder weil man taktisch um Ecken spielen will. Man muss sie vielmehr sparsam und weil Sie glaubten, sie wolle diese Reformen nicht und effektiv einsetzen. Sie muss anhand ganz objektiver Kri- deswegen auch nicht Herrn Gerster, weil er ihr zu refor- terien erfolgen. merisch war. Warum bleibt es eigentlich folgenlos, wenn man Be- (Dirk Niebel [FDP]: Das ist genau der Punkt! ratungsaufträge vergaberechtswidrig vergibt? Überall re- Darüber denkt noch nicht einmal jemand den wir über die stärkere Haftung des Managements und nach!) der verantwortlichen Leute. In diesem Bereich zieht die Das ist die objektive Einschätzung der gesamten Öffent- Rechtswidrigkeit keine Folgen nach sich. Lassen Sie uns lichkeit. Sie müssen sich darüber klar werden. über solche Dinge nachdenken! Im Interesse der Berater- branche müssen wir dafür sorgen, dass ein Schmuddel- Herr Brandner, heute war in den Tageszeitungen die image aufgrund zu vieler rechtswidriger, ungeklärter und Bemerkung Ihres Bundeskanzlers zu lesen, mit den Be- nicht transparenter Entscheidungen, insbesondere in der lastungen müsse nun Schluss sein. Ich vermute, bei Ih- Politikberatung, vermieden wird. Hier sind wir und die nen besteht das Problem, dass Sie glauben, mit den Re- Beratungsbranche in der Pflicht, Wege zu finden, durch formen sei nun Schluss. die verhindert wird, dass sich das weiter fehlentwickelt. (Klaus Brandner [SPD]: Das hat er überhaupt nicht gesagt! So viele Reformen wie dieser Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Bundeskanzler auf den Weg gebracht hat, da- Herr Kollege, Sie haben Ihre Redezeit deutlich über- für hätten Sie Jahrzehnte gebraucht!) schritten. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2004 7775

(A) Hartmut Schauerte (CDU/CSU): Selbstverwaltung der Bundesagentur für Arbeit. Ich (C) Ich bitte um Entschuldigung. – Ich erinnere an die frage mich, ob Sie sich wirklich bewusst sind, was Sie Bauwirtschaft. Ich möchte nicht, dass die Beraterbran- den Vertretern der Arbeitgeber, den Vertretern der Ar- che in einen negativen Ruf kommt. Lassen Sie uns sorg- beitnehmer und der öffentlichen Hand unterstellen, ohne fältig darüber nachdenken! dass Sie bis heute einen Beweis hier auf den Tisch gelegt haben. Herzlichen Dank. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Was ist die Bundesagentur für Arbeit wirklich? Ist sie Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: der von Ihnen geschilderte unbewegliche Moloch? – Letzter Redner in dieser Aktuellen Stunde ist der Kol- Nein! 181 lokale Arbeitsagenturen, die früheren Arbeits- lege Hans-Werner Bertl, SPD-Fraktion. ämter, und 660 Geschäftsstellen verteilen sich über ganz Deutschland. Von den so oft zitierten 90 000 Mitarbei- (Dr. Rainer Wend [SPD]: Das ist ein würdiger tern sind ganze 1 100 – demnächst 400 – in Nürnberg Abschluss! – Gegenruf des Abg. Wolfgang beschäftigt. Mit der von uns betriebenen Reform wollen Meckelburg [CDU/CSU]: Wenn Sie als Red- wir diese dezentrale Struktur stärken ner das selbst so empfinden!) (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Machen Sie es doch! Wer hindert Sie daran? Machen Sie Hans-Werner Bertl (SPD): voran!) Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In den letzten Jahren Ihrer Regierungszeit bis 1998 – in Zeiten und die Mitarbeiter mit denjenigen zusammenbringen, höchster Arbeitslosigkeit! – haben Sie, CDU/CSU und die in den Städten und Kreisen in den letzten Jahren FDP, die damalige Bundesanstalt vor sich hindümpeln kompetent und engagiert gegen die Arbeitslosigkeit an- lassen und für parteipolitisch fragwürdige Ziele miss- gegangen sind und sich um die Probleme der Menschen braucht. Ich erinnere hier nur an die dubiosen Wahl- gekümmert haben. ABM. Letztendlich haben eindeutig Sie den Zustand zu (Dirk Niebel [FDP]: Warum habt ihr das denn verantworten, der uns dazu zwingt, die Bundesanstalt im ins Gesetz geschrieben?) Rekordtempo zu reformieren. Das muss man hier einmal klar machen. Meine Damen und Herren, das heißt: Unser Reformziel ist es, für die Menschen vor Ort Ansprechpartner an ei- (Beifall bei der SPD) ner Stelle zu haben, die sich in einer Einrichtung um sie kümmern und dafür sorgen, dass Stunden und Tage der (B) Wir waren es, die den Umbau einer der wichtigsten sozi- (D) alen Sicherungssysteme für die Arbeitnehmer in Ämterlauferei in diesem Land endlich der Vergangenheit Deutschland vorgenommen und eine Reform eingeleitet angehören. haben, die aus der Anstalt eine kompetente Dienstleiste- (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Wer hindert rin für Arbeitgeber machen wird. Sie denn? Machen Sie es doch! – Dirk Niebel (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Jetzt trauen [FDP]: Machen Sie es doch!) Sie sich nicht!) Wir wollen, dass die Jobcenter und Dienstleistungs- Und was machen Sie? Die FDP – Kollege agenturen kompetente und erreichbare Partner für die Westerwelle und Kollege Niebel, der eigentlich besser Unternehmen sind, die einen Job anbieten wollen, Fra- wissen müsste, was los ist – verbreitet die Mär von der gen zu Arbeitserlaubnissen haben, einen schwerbehin- gigantischen Mammutbehörde, die irgendwo in Nürn- derten Menschen einstellen wollen oder eine Ausbil- berg mit 90 000 Menschen auf einem Hügel sitzt, unfle- dungsstelle zur Verfügung stellen können. Da liegt xibel und Spielball innerhalb mafiöser Strukturen ist. unsere Perspektive für die neue Agentur für Arbeit: Sie soll nicht mehr Anstalt, Behörde oder Amt sein, und (Dirk Niebel [FDP]: So ein Quatsch! Das zwar nicht mehr in den Köpfen ihrer Mitarbeiter, aber haben Sie gesagt!) auch nicht mehr in den Augen derer, die sie als Arbeitge- – Das ist doch Ihre Position. ber oder Arbeitnehmer, als Arbeitslose oder Schüler und Schülerin aufsuchen. (Gerd Andres [SPD]: Das ist eine frühkind- liche Schädigung bei Niebel!) Wir sind für die Reform und für Veränderungen. Mit Ihrer Forderung nach Auflösung und Abschaffung wer- Der stellvertretende Fraktionsvorsitzende der CDU/ den Sie bei uns aber auf härtesten Granit stoßen. Die CSU erklärt unterdessen, es müsse eine private Versiche- Idee einer privatisierten Arbeitslosenversicherung wird rung abgeschlossen werden. Ich frage mich: Wie soll das von uns – ich bin sicher, auch von den Arbeitnehmern funktionieren, Herr Merz? Soll es eine Teilkasko- oder und den Arbeitgebern in Deutschland – als ein Angriff eine Vollkaskoversicherung sein? Soll sie mit oder ohne auf eines der wichtigsten sozialen Sicherungssysteme eine Insassenversicherung abgeschlossen werden? verstanden werden. Sie ist aber auch ein Angriff auf ein Ich glaube, das, was hier passiert, muss die Arbeit- Instrument zur Gestaltung unserer regionalen Arbeits- nehmer und Arbeitgeber, die weit über 90 Prozent der märkte. Wenn dieser Zusammenhang begriffen wird, Mittel für die Bundesagentur aufbringen, wach und em- dann wird klar, wie absurd Ihre Position, insbesondere pört machen. Sie diskreditieren und verleugnen die die der FDP, ist. 7776 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2004

Hans-Werner Bertl (A) Ich kann Ihnen nur eines raten: Unterstützen Sie unse- Berichterstattung: (C) ren Reformprozess! Geben Sie – so wie wir das bei die- Abgeordnete Reinhold Hemker ser schwierigen Umgestaltung machen – denen, die Ver- Helmut Heiderich antwortung tragen, also den Mitarbeitern in den Ulrike Höfken Agenturen für Arbeit, und denen, die für die Seite der Dr. Christel Happach-Kasan Arbeitgeber und Arbeitnehmer und die öffentliche Hand vor Ort Verantwortung tragen, die reelle Chance, diesen Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Weg des Umbaus mitzugehen, und geben Sie denen, die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich in den Städten und Kreisen eine Entscheidung über die höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. zukünftige Zusammenarbeit treffen müssen, die Per- Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege spektive, gemeinsam mit der Bundesagentur für Arbeit Reinhold Hemker, SPD-Fraktion. für die Menschen als kompetente Partner tätig zu wer- den! Reinhold Hemker (SPD): Die bisherigen Auswirkungen der umgesetzten Hartz- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Konzepte, die als Gesetz erst vor wenigen Wochen in Wir wissen, Hunger und Unterernährung sind meistens Kraft getreten sind, versprechen schon heute zu einem die Folge von Arbeitslosigkeit und Armut. Sie wurzeln Erfolg zu werden. Mit Ihrer vordergründigen und skan- vor allem im fehlenden Zugang zu Land, Wasser, Bil- dalösen Kampagne werden Sie an den Bedürfnissen der dung oder Krediten. Wir stellen fest: Es ist ein Skandal, Menschen vorbeilaufen. dass weltweit noch immer rund 840 Millionen Men- (Dirk Niebel [FDP]: Wir haben gar keine schen nicht genug zu essen haben, obwohl eine ausrei- Kampagne gemacht!) chende Versorgung aller Menschen auf der Grundlage des heutigen Produktionsumfangs von Nahrung möglich Wir hingegen wollen, dass mit der Bundesagentur für wäre. Arbeit ein kompetenter Partner bei der Zusammenarbeit auf kommunaler und auf Kreisebene zur Verfügung Wir erinnern uns: Erstens. Bereits in der Menschen- steht, der den Menschen hilft, wieder in Arbeit zu kom- rechtscharta der Vereinten Nationen aus dem Jahre 1948 men, der Arbeitgeberinnen und Arbeitgebern bei der Be- wurde das Recht auf Nahrung festgeschrieben. setzung von Stellen zur Verfügung steht und der letzt- Zweitens. Schon 1961 wurde das erste Welternäh- endlich eine Dienstleistung ermöglicht, die bei der rungsprogramm durch die Vereinten Nationen verab- Gestaltung des Arbeitsmarktes allen Seiten gerecht wird. schiedet. Dieses Programm konzentrierte sich im Danke schön. Wesentlichen auf zwei Aufgaben: einerseits auf Nah- (B) rungsmittelhilfe als Nothilfe, international „Emergency (D) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Operation“ genannt, und andererseits auf Nahrungsmit- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) telhilfe zur Stützung der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung, Development Programme. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Drittens. 1966 wurde der Pakt über wirtschaftliche, Die Aktuelle Stunde ist beendet. soziale und kulturelle Rechte vereinbart. In Art. 11 heißt Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 auf: es, dass das Recht auf einen Lebensstandard mit – ich zi- tiere – „ausreichender Ernährung“ anerkannt wird. 1996 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- schließlich wurde auf dem Welternährungsgipfel ein Ak- richts des Ausschusses für Verbraucherschutz, tionsplan mit dem Hauptziel verabschiedet, eine Halbie- Ernährung und Landwirtschaft (10. Ausschuss) rung der Zahl der Hungernden bis 2015 zu erreichen. In – zu dem Antrag der Abgeordneten Reinhold einem besonderen Kapitel wurde damals das Recht auf Hemker, Sören Bartol, Dr. Herta Däubler- Nahrung bekräftigt. Gmelin, weiterer Abgeordneter und der Frak- Seit 1999 gibt es erstmals eine klare Definition von tion der SPD sowie der Abgeordneten Thilo „Recht auf Nahrung“. So heißt es unter anderem: Ver- Hoppe, Volker Beck (Köln), Katrin Göring- wirklicht ist das Recht auf Nahrung, wenn Menschen je- Eckardt, und der Fraktion des derzeit durch Eigenproduktion oder Kauf ausreichend BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Zugang zu angemessener Nahrung ohne schädliche In- Verbesserung der Welternährungssituation haltsstoffe haben. Die Nahrungsmittel müssen ausgewo- und Verwirklichung des Rechts auf Nahrung gen, gesund und der jeweiligen Kultur angemessen sein. Bei der Schaffung von entsprechenden Rahmenbedin- – zu dem Antrag der Abgeordneten Peter H. gungen hat der Staat drei Grundverpflichtungen: Er Carstensen (Nordstrand), Dr. Christian Ruck, muss den bestehenden Zugang zur Nahrung erstens re- Christa Reichard (Dresden), weiterer Abgeord- spektieren, zweitens schützen und drittens gewährleis- neter und der Fraktion der CDU/CSU ten. Verantwortung für die Sicherheit der Welt- Nach Schätzungen der FAO über die Anzahl der un- ernährung übernehmen – Chancen der Grü- terernährten Menschen gibt es einen alarmierenden nen Gentechnik nutzen Trend. Die Reduzierung der Zahl der Hungernden hat – Drucksachen 15/1316, 15/1216, 15/2234 – sich stark verlangsamt, China ausgenommen. Das gilt Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2004 7777

Reinhold Hemker (A) insbesondere für das subsaharische Afrika. Die Verrin- schen Märkte. Die Nahrungsmittelhilfe wird leider inter- (C) gerung beträgt seit 1996 jährlich circa 2,5 Millionen. national nicht selten dazu benutzt, Überschüsse aus hoch Wir wissen aber: Zur Erreichung des Ziels der Halbie- subventioniertem Anbau – so kann man es nennen – zu rung bis 2015 müsste die Zahl der Hungernden jährlich entsorgen. In der letzten Ausgabe der Zeitung der Deut- um 24 Millionen abnehmen. Darum hat der FAO-Gipfel schen Welthungerhilfe wird darauf noch einmal aus- 2002 der Staatengemeinschaft den Auftrag erteilt, Leitli- drücklich verwiesen. nien zur Umsetzung des Rechts auf Nahrung zu entwi- Darum nenne ich einige Prinzipien, die von den Hilfe- ckeln und alle, Zivilgesellschaft und Wirtschaft, daran leistern zu beachten sind: Erstens. Nach dem in dem zu beteiligen. Leitlinienentwurf genannten Do-no-harm-Prinzip dür- Dazu gehört: Erstens. Das Recht auf Nahrung muss fen Hilfslieferungen einheimische Bauern nicht arbeits- Teil der nationalen Gesetzgebung werden, auch der je- los machen und dürfen keine gesundheitsschädigenden weiligen Verfassung. Zweitens. Es müssen öffentliche Nahrungsmittel verteilt werden. Nahrungsmittel sollten und demokratische Gremien mit zivilgesellschaftlicher wenn möglich vor Ort bzw. in der Region aufgekauft Beteiligung sowie Institutionen und Rechtswege ge- werden – auch zur Stärkung der lokalen und regionalen schaffen werden, um das Recht auf Nahrung einklagbar Wirtschaft. zu machen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/ DIE GRÜNEN) CSU]: Bei wem denn einklagen?) Zweitens. Hilfe muss als Zuwendung und darf nicht Dazu gehören auch Land- und Bodennutzungsreformen als Darlehen gegeben werden. Das haben Sie, Frau Mi- zur nachhaltigen Ernährungssicherung. In einem Richtli- nisterin Künast, im letzten Jahr noch einmal ausdrück- nienentwurf, den die Bundesregierung Ende letzten Jah- lich betont. Wichtig ist auch, dass die Hilfe im Budget res vorgelegt hat, wird das auch als zentrale Aufgabe he- des Empfängerlandes nicht als wirtschaftliche Zusam- rausgestellt. menarbeit verbucht wird. Hinzukommen müssen Ausbildungsmaßnahmen, bes- Drittens. Nahrungsmittelhilfe muss Teil einer lang- sere landwirtschaftliche Dienstleistungen sowie Infra- fristig angelegten Entwicklungszusammenarbeit sein. struktur und Marktentwicklung. Ziel ist auch die Ver- Grundlegend ist auch die Problematik der genverän- besserung der Produktivität unter Berücksichtigung der derten Bestandteile in Nahrungsmitteln. Nahrungsmit- klimatischen und ökologischen Bedingungen. Dabei tel aus genveränderten Pflanzen haben in der Vergan- sind die Erfahrungen mit der so genannten Grünen Re- genheit schon dazu geführt, dass einheimische Pflanzen volution zu berücksichtigen. Diese Maßnahmen müssen (B) verdrängt wurden. (D) bei der Gestaltung der EZ verstärkt berücksichtigt wer- den. Die neue Schwerpunktsetzung der Bundesregierung (Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/ trägt diesem Ansatz bereits Rechnung. Darauf wird der CSU]: Wo denn?) Kollege Raabe noch näher eingehen. – Das wissen Sie selbst, Kollege Carstensen. – Es geht Die internationalen Regelungen im Handels-, Finanz-, bei dem gesamten Anliegen – das gilt für Mais, Soja und Agrar-, Umwelt- und Lebensmittelqualitätsbereich müs- viele andere Getreidearten – eben auch darum, deutlich sen mit dem Ziel fortentwickelt werden, dass sie einen zu machen, dass die Grüne Gentechnik nicht der Königs- Beitrag zur Überwindung von Armut und Unterernäh- weg ist. rung leisten. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) DIE GRÜNEN) Wie wir wissen, ist Nahrungsmittelhilfe nur ein Mittel Das heißt unter anderem: Die Verwirklichung des Rechts im Kampf gegen den Hunger. Sie darf nicht die Fähig- auf Nahrung sollte als Zielvorgabe in die Präambel des keit der Menschen zur Selbstversorgung untergraben WTO-Agrarabkommens aufgenommen werden, wie dies und sie muss immer mit einer Politik verbunden sein, die bereits in unserem Antrag zur Verbesserung der Ernäh- die nachhaltige Entwicklung der ländlichen Räume zum rungssituation und Verwirklichung des Rechts auf Nah- Beispiel durch entsprechende Maßnahmen in der Ent- rung formuliert worden ist. wicklungszusammenarbeit fördert. Ein weiterer Punkt ist: Der Marktzugang der Ent- (Beifall bei der SPD) wicklungsländer im Agrarbereich muss substanziell Mit der Verbindung aller Faktoren kann die Ernäh- verbessert werden. Auch dazu wird der Kollege Raabe rungssicherung weltweit deutlich verbessert und damit noch Stellung beziehen. Den Forderungen der Welthan- das Menschenrecht auf Nahrung seiner Verwirklichung delskampagne „Gerechtigkeit jetzt!“, der federführenden näher gebracht werden. Ich begrüße, dass sich die Bun- NROs FIAN, Germanwatch und dem Dachverband der desregierung mit der neuen Schwerpunkt- und Programm- Weltläden ist in diesem Zusammenhang zuzustimmen. entwicklung bereits auf dem richtigen Weg befindet. Nahrungsmittelhilfe ist dort notwendig, wo akute Herzlichen Dank. Hungersnöte drohen bzw. schon eingetreten sind. Oft aber erreicht Nahrungsmittelhilfe die Bedürftigen nicht (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten oder zur falschen Zeit oder sie belastet die einheimi- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) 7778 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2004

(A) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Kollege Hemker hat eben darauf hingewiesen, dass (C) Nächster Redner ist der Kollege Helmut Heiderich, die Bekämpfung des Hungers weitaus langsamer voran- CDU/CSU-Fraktion. geht, als man es sich vorgestellt und gewünscht hat. Ge- nau darin liegt das Potenzial der Grünen Gentechnik – und das müssen wir nutzen. Helmut Heiderich (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Lassen Sie mich mit einem Zitat beginnen: Auch Kanzler Schröder hat seiner Ministerin inzwi- Der Hunger in der Welt ist zwar auch, aber bei wei- schen ins Stammbuch geschrieben, dass man in Deutsch- tem nicht nur, ein Verteilungsproblem. Die nachhal- land nicht ständig über Risiken, sondern vor allem über tige Sicherung der Welternährung wird ohne die ef- Chancen reden solle. Da sei – so Schröder weiter – eine fiziente Nutzung vorhandener und die konsequente neue Balance nötig, Frau Künast. Verwirklichung neuer Agrartechnologien langfris- (Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/ tig nicht möglich sein. CSU]: Auch das hat Herr Clement heute Mor- gen gesagt!) (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Dr. Christel Happach-Kasan [FDP]) Doch wenn Schröder das wirklich ernst meinen würde, müsste er meiner Meinung nach seiner grünen Ministe- Dabei hat die Grüne Gentechnik das Potenzial, rin die Verantwortung für die Gentechnik schleunigst einen signifikanten Beitrag zur nachhaltigen Ent- entziehen, wicklung zu leisten. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Besser, so meine ich, kann man die Thematik, die wir neten der FDP) heute debattieren, nicht zusammenfassen. hat sie doch auf dem Parteitag der Grünen Ende No- Woher stammt das Zitat? Es ist aus einem Gutachten vember – das ist gerade zwei Monate her – laut Presse- für die Friedrich-Ebert-Stiftung – und die steht sicherlich meldungen öffentlich erklärt, dass der Kampf gegen die nicht auf unserer Payroll. Diese Studie stammt bereits Verbreitung gentechnisch veränderter Pflanzen und Nah- aus dem Jahr 1999, als wir technologisch noch lange rungsmittel ein wichtiges Ziel grüner Politik bleibe. Und nicht den heutigen Stand erreicht hatten. weiter O-Ton Künast: „Für das Welthungerproblem bie- tet die Gentechnik keine Lösungen.“ (Beifall bei der CDU/CSU) (Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE (B) Die FAO hat diese Erkenntnis im Jahr 2000 mit ihrem GRÜNEN]: Sehr richtig!) (D) Statement ergänzt: Biotechnik bietet kraftvolle Werk- zeuge für eine nachhaltige Entwicklung der Landwirt- Wenn man das den wissenschaftlichen Erkenntnissen ge- schaft und weiterer Bereiche. genüberstellt, dann kann man sich nur wundern, was hier im deutschen Parlament und von deutscher Regierungs- (Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/ seite verbreitet wird. CSU]: Das hat Herr Clement heute Morgen auch gesagt!) Zwar hat man Frau Künast – das haben auch Sie zur Kenntnis genommen – inzwischen ein wenig die Fittiche – So ist es. – Aber Ministerin Künast scheut sich nicht, gestutzt. So musste sie zum ersten Mal öffentlich einge- im Plenum und anderenorts die Fakten zu verdrehen, al- stehen, dass die Produkte der Grünen Gentechnik keine lenfalls Halbwahrheiten darzustellen Gefährdung für die Gesundheit der Menschen darstellen. Mit ihrem Entwurf eines neuen Gentechnikgesetzes (Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE versucht sie aber nun, im Kleingedruckten das durchzu- GRÜNEN]: Das macht sie nie! Das stimmt setzen, was sie auf dem Grünenparteitag offiziell ange- überhaupt nicht!) kündigt hat. Sie will den Streit und die Auseinanderset- – ich werde es Ihnen gleich verdeutlichen – und die Bür- zung in die Dörfer und unter die Bauern tragen, der ger an einer objektiven Beurteilung dieser Technologie Willkür Tür und Tor öffnen sowie die Bürokratie und die zu hindern. Das beste Beispiel dafür waren ihre falschen Kosten aufblähen, sodass eine Nutzung dieser Technolo- Behauptungen – Sie erinnern sich sicherlich daran – über gie in Deutschland in der Praxis unmöglich wird. Damit den Goldenen Reis in der letzten Debatte zu diesem wird ihr Gesetzentwurf zu einer Art unbegrenzter Über- Thema, die sogar den Vater dieser Erfindung, Professor seeimportgenehmigung; denn er wird letztendlich den Potrykus, auf den Plan gerufen haben. Sie haben selbst internationalen Produzenten den Weg in die Regale des nachlesen können – ich nehme an, er hat den Brief auch Einzelhandels und auf die Teller der Verbraucher ebnen, an Sie geschickt –, dass er die Künast-Behauptungen als die Nutzung dieser Schlüsseltechnik in Deutschland aber „offensichtlich nicht sehr sachkundig“ qualifiziert hat weiter um Jahre verhindern. Am Ende wird genau das und dann fortfuhr: herauskommen, was Ministerin, Staatssekretär und Sie von der Koalition uns immer vorgeworfen haben: Frau Ich bin mit vielen Kollegen in Entwicklungsländern Künast als Wegbereiter der großen internationalen Kon- davon überzeugt, dass die Grüne Gentechnik ein zerne! Kollege Berninger muss dann seine Reden um- unverzichtbares Potenzial zur Ernährungssiche- schreiben, mich als Feindbild entlassen und sich eine rung besitzt. neue Position suchen. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2004 7779

Helmut Heiderich (A) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- für alle gibt. Trotz aller Millenniumsziele ist die Zahl der (C) neten der FDP) Hungernden im letzten Jahr erstmals wieder gestiegen und liegt jetzt bei 842 Millionen. Das sind absolut alar- Es darf doch nicht sein, dass ausgerechnet im Jahr der mierende Zahlen, die zum Handeln zwingen. Unter den Technik derjenige, der in Deutschland die modernen Menschenrechten sollte das Recht auf Nahrung eine Vor- Biotechnologien nutzen will, willkürlich zu Schadener- rangstellung haben; denn was nützen die bürgerlichen satzzahlungen herangezogen werden kann, und zwar Rechte, wenn das Recht auf Nahrung, das Recht auf Le- auch dann, wenn er die gesetzlichen Vorschriften beach- ben und Überleben nicht gewährleistet wird? Ich bin tet, sein berufliches Wissen anwendet deshalb der Bundesregierung und vor allem Renate (Matthias Weisheit [SPD]: Zum Thema!) Künast dankbar, dass sie innerhalb der FAO einen Pro- zess angestoßen haben, der der Implementierung des – ich komme gleich auf Sie zurück – und die Regularien Rechts auf Nahrung dienen soll. in der Praxis penibel umsetzt. Ich meine, hier warnt der Bauernverband zu Recht, nicht auf dieses dünne Eis zu (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) gehen. In diesem Zusammenhang ist momentan eine zwi- (Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Geht es schenstaatliche Arbeitsgruppe damit beschäftigt, Leitli- heute um Welthungerhilfe?) nien zur Umsetzung des Rechts auf Nahrung zu erarbei- ten. Ich war auf der konstituierenden Sitzung dieser – Hier geht es auch um die Welthungerhilfe. Auf diesen zwischenstaatlichen Arbeitsgruppe in Rom dabei und Punkt komme ich gleich zurück. konnte einen hochinteressanten Streit mitverfolgen. Mit dem Untersagen der Nutzung der Grünen Gen- Während die reichen Industrienationen auf die Hunger- technologie in Deutschland entziehen Sie auch der For- länder verwiesen und meinten, jene seien in erster Linie schung in diesem Land den Boden. Dabei war Deutsch- dafür verantwortlich, geeignete Maßnahmen zur Be- land in diesem Bereich bisher an der Spitze. Vor kämpfung des Hungers zu ergreifen, zeigten wiederum ungefähr zwei Stunden hat die Kabinettskollegin von die Hungerländer auf die Industrienationen und sagten: Frau Künast von dieser Stelle aus gesagt: Was Forscher Nein, nicht bei uns, bei euch liegt der Schlüssel zur Lö- entdecken, muss schnell Zugang zum Markt finden. Das sung der Probleme. ist die Aufgabe deutscher Forschungspolitik. Mein Fazit dieses Streites: Beide haben Recht und Unrecht zugleich. Der Hunger in der Welt kann nur dann (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) wirkungsvoll bekämpft werden, wenn sowohl die Ent- Setzen Sie das auch im Bereich der Grünen Gentechnik wicklungsländer als auch die Industrienationen ihrer (B) um! Dann können wir das erreichen, was ich deutlich ge- spezifischen Verantwortung gerecht werden. Selbstver- (D) macht habe. ständlich hat Hunger viel mit schlechter Regierungsfüh- rung, mit Bad Governance, zu tun. Simbabwe ist ein Weltweit – damit komme ich auf Ihre Frage zurück – besonders krasses Beispiel dafür. Deshalb ist es gut, dass nimmt die Anwendung der Anbauverfahren und -metho- jedes Land im Rahmen der Leitlinien, die in der FAO den der Grünen Gentechnik rasant zu. Die Vorteile sind diskutiert werden, Rechenschaft darüber ablegen soll, nicht zu übersehen. Inzwischen – das soll mein Schluss- wie es um die Ernährungssituation innerhalb seiner eige- satz sein – sind von den weltweit knapp 7 Millionen An- nen Grenzen bestellt ist. Regionen und Bevölkerungs- wendern der Grünen Gentechnik 85 Prozent so genannte gruppen, die besonders vom Hunger betroffen sind, sol- Resource-Poor-Farmers, also Kleinbauern. Ich glaube, len aufgelistet werden. Dann müssen Strategien zur hier liegt ein Potenzial für die Bekämpfung des Hungers Lösung der Probleme entwickelt werden. in der Welt. Das sollten wir nutzen, anstatt seine Nut- zung weiter zu verhindern. Genauso klar und deutlich muss aber auch gesagt wer- den, dass externe Faktoren wesentlich zum Hunger in der Schönen Dank. Welt beitragen. Unsere Weltwirtschaftsordnung ist al- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – les andere als gerecht. Den Entwicklungsländern gehen Dr. Uwe Küster [SPD]: Laut gesprochen, allein durch den Protektionismus der Industrienationen nichts gesagt!) Einnahmen verloren, die bei weitem den Betrag überstei- gen, den diese Länder als Entwicklungshilfe bekommen. Die Agrarexportsubventionen zerstören Märkte in der so Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: genannten Dritten Welt und behindern die Entwicklung Das Wort hat der Kollege Thilo Hoppe, Bündnis 90/ in den ländlichen Regionen. Noch immer werden vielen Die Grünen. Ländern im Süden vom Weltwährungsfonds Strukturan- passungsmaßnahmen aufgezwungen, die das Hungerpro- Thilo Hoppe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): blem dort eher noch verschärfen. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Leitlinien zum Recht auf Nahrung dürfen sich Hunger ist kein Schicksal. Hunger wird gemacht. Mehr deshalb nicht allein an die nationalen Regierungen wen- als 25 000 Menschen pro Tag – das entspricht der Ein- den; sie müssen auch an die internationalen Organisatio- wohnerschaft einer mittleren Kleinstadt – verlieren den nen wie den IWF und die WTO appellieren. Handelsli- Kampf um das Überleben, weil sie nicht die Chance ha- beralisierung darf nicht zum Selbstzweck werden. ben, sich ausreichend zu ernähren, und das in einer Welt, auf der es auch ohne Grüne Gentechnik genug Nahrung (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) 7780 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2004

Thilo Hoppe (A) Auch die Maßnahmen der internationalen Organisatio- losigkeit totalitärer Regime, die ungerechte Verteilung (C) nen müssen sich daran messen lassen, ob sie der Umset- der Ressourcen an Land und Wasser, ein hohes Bevölke- zung des Rechts auf Nahrung schaden oder dienen. rungswachstum, ohne dass eine Vermehrung der land- wirtschaftlich nutzbaren Flächen möglich wäre. In der Diskussion um die Lösung des Hungerpro- blems müssen wirklich beide Ebenen – die nationale und (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten die internationale Ebene – gleichermaßen bedacht wer- der SPD) den. Man kann da schnell rechts oder links vom Pferd Obwohl all dies bekannt ist, müssen wir dennoch fest- fallen: indem man entweder nur den Hungerländern die stellen: Die Vorschläge zur Sicherung der Welternährung Schuld gibt oder indem man nur ein Argument gelten orientieren sich nicht nur an den Problemen der Dritten lässt, nämlich dass alles am System liege. Der vorlie- Welt, sondern vielfach an den nationalen Interessen der gende Antrag der Koalition fällt weder links noch rechts entwickelten Welt oder an Partikularinteressen der ver- vom Pferd: Er benennt wirklich beide Handlungsebenen schiedensten Verbände. Solange sich das nicht ändert, und listet alle Handlungsperspektiven auf. Und er ver- bleiben Aufrufe und Reden Lippenbekenntnisse. fällt nicht, wie der Antrag der Union, dem Wunderglau- ben, in der Entwicklung der Grünen Gentechnik liege (Beifall bei der FDP) einer der wichtigsten Schlüssel zur Lösung des Hunger- Ein Beispiel dafür sind die USA, die unter dem Deck- problems. mantel der Hilfe Nahrungsmittelspenden geben, um ver- Wie gesagt, nicht die Mengenproduktion ist das Pro- deckte Exportförderungen für die eigene Landwirtschaft blem; also kann auch die Grüne Gentechnik – von allen zu leisten. Dabei ist erwiesen, dass nur Hilfe zur Selbst- Risiken einmal abgesehen – nicht den entscheidenden hilfe die Menschen in den wenig entwickelten Ländern Beitrag zur Lösung des Problems leisten. Es geht hierbei dabei unterstützt, ihre Ernährungsprobleme zu lösen, in erster Linie um ein Verteilungsproblem und um die und daher Nahrungsmittelspenden aus der betroffenen Gerechtigkeitsfrage. Wir brauchen Good Governance Region kommen sollten, soweit dies nur irgend möglich auf der nationalen und auf der internationalen Ebene. ist. Ich danke Ihnen. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN GRÜNEN) sowie bei Abgeordneten der SPD) Überproduktion bei uns hilft nicht den Hungernden in Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Afrika. Auch unser Wohlstand gründet sich auf die von uns geleistete Sicherung der Ernährung unserer Bevölke- (B) Das Wort hat die Kollegin Dr. Christel Happach- (D) rung. Diesen Weg müssen wir anderen Ländern öffnen. Kasan, FDP-Fraktion. Dazu gehört aber auch, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, unser Wissen und unsere Kenntnisse Dr. Christel Happach-Kasan (FDP): diesen Ländern zur Verfügung zu stellen. Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Hunger tut weh. Die Sicherung der Welternährung ist (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten eine globale Aufgabe und sie wird es auch noch lange der SPD und der CDU/CSU) bleiben. Ohne ausreichende Ernährung gibt es für die Eine weltweit anerkannte Initiative ist die Entwick- Menschen keine Bildung, damit keine Entwicklung, kei- lung des transgenen Goldenen Reises. Der Generalse- nen Wohlstand und auch keinen Frieden. Schon allein kretär der FAO, Jacques Diouf, nennt ihn den bemerkens- deswegen ist es auch im Interesse der Menschen der ent- wertesten Durchbruch der Grünen Gentechnik. Patrick wickelten Welt, den Menschen in den Entwicklungslän- Moore, Mitbegründer von Greenpeace und langjähriger dern bei der Überwindung des Hungers zu helfen. Direktor von Greenpeace International, stellt fest: In der (Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. ) Abwägung ist klar: Die realen Vorteile von genetischer Modifikation überwiegen bei weitem die hypothetischen Vor dem Hintergrund der Internationalen Grünen Wo- Risiken, die von den Gegnern vorgebracht werden. che mit ihren Bildern des Überflusses im reichen Europa müssen wir uns der Verantwortung für die Sicherung der (Beifall bei der FDP) Welternährung stellen. Dabei müssen wir uns dessen be- Doch Ministerin Künast ist sich nicht zu schade, mit wusst sein, dass es auch in Europa Regionen mit Hunger Falschbehauptungen gegen den Goldenen Reis ihre Fun- und Mangelernährung gibt, beispielsweise den Balkan. damentalopposition gegen die Grüne Gentechnik zum Diese Region zeigt ganz deutlich, dass für den Hun- Ausdruck zu bringen, ger nicht nur extreme Witterungen verantwortlich sind, (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Helmut sondern gerade auch menschliches Handeln, Machtpoli- Heiderich [CDU/CSU]) tik von Diktatoren. dies wiederum im nationalen Interesse der Grünen und (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten nicht im Interesse der hungernden Menschen in den Ent- der SPD) wicklungsländern. Die Ursachen für den Hunger auf der Welt sind be- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten kannt: Armut und Arbeitslosigkeit, die Verantwortungs- der CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2004 7781

Dr. Christel Happach-Kasan (A) Das Scheitern der WTO-Verhandlungen in Cancun ist das konservative Beharren auf nicht WTO-kompatiblen (C) ein weiterer Rückschlag für die Sicherung der Welternäh- Agrarsubventionen, wie die Agrarier sie vertreten, oder rung. Die Globalisierungsgegner haben bei ihrer Opposi- die Liberalisierung des Welthandels, wofür die Wirt- tion gegen die WTO-Verhandlungen weniger die Interes- schafts- und Entwicklungspolitiker der Union eintreten. sen der Entwicklungsländer im Auge gehabt als ihre Beides zusammen, liebe Kolleginnen und Kollegen von eigenen Vorbehalte gegen die Globalisierung. der CDU/CSU-Fraktion, geht nicht Offene Märkte sind eine entscheidende Vorausset- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten zung für Entwicklung und mehr Wohlstand in der Welt. der SPD und des Abg. Thilo Hoppe [BÜND- Die Liberalisierung des Welthandels ist Voraussetzung NIS 90/DIE GRÜNEN]) dafür, dass die Länder der Dritten Welt Exportchancen für ihre Produkte erhalten. und das stellt auch das Anliegen des ansonsten wirklich guten und von uns unterstützten Antrags der CDU/CSU- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Fraktion zur Sicherung der Welternährung in Frage. der CDU/CSU) Schokolade macht gute Laune. 10 Kilogramm Schoko- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: lade und Schokoladenprodukte essen die Menschen in Frau Kollegin, denken Sie bitte an Ihre Redezeit. Deutschland pro Kopf und Jahr. Doch die Menschen in den Tropen, der Region, in der der Kakaobaum wächst, Dr. Christel Happach-Kasan (FDP): haben wenig davon; denn sie sind nur die Rohstoffliefe- Ich komme zum letzten Satz. ranten. Die eigentliche Wertschöpfung aus der Verarbei- tung der Produkte findet bei uns statt. Allerdings lehnen wir den Antrag der Koalitionsfrak- Das muss geändert werden. Zölle und Handelshemm- tionen aus einem Grund ab: Er enthält neben vielen nisse auf verarbeitete Agrarprodukte müssen beseitigt wichtigen Forderungen, die wir weitgehend unterstüt- werden, zen, auch die Forderung nach Außenschutz für Entwick- lungsländer. Das lehnen wir ab. (Matthias Weisheit [SPD]: Revolution!) Ich danke für die Aufmerksamkeit. damit die Wertschöpfung aus der Verarbeitung von Agrarprodukten dort erfolgt, wo die entsprechenden (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Helmut Kulturpflanzen angebaut werden. Heiderich [CDU/CSU]) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: (B) der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE (D) GRÜNEN) Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Sascha Raabe. Auch die EU muss sich beim Abbau von Zöllen, Sub- Dr. Sascha Raabe (SPD): ventionen und anderen Handelshemmnissen bewegen. Die gegenwärtig diskutierten Luxemburger Beschlüsse Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen zur Agrarreform gehen mit der Entkopplung der Beihil- und Kollegen! Hier ist schon angesprochen worden: fen in die richtige Richtung. Die FDP sieht sich in ihrem Nicht das Recht auf Nahrung, sondern das Recht, sich Konzept der Kulturlandschaftsprämie durch diese Be- zu ernähren, ist eigentlich das entscheidende Moment; schlüsse bestätigt. denn die ärmsten Menschen wollen keine Almosen, sie wollen keine Nahrungsmittelhilfe, sondern sie wollen Dabei müssen wir dafür sorgen, dass die Lasten aus die Möglichkeit haben, ihre Lebensgrundlage selbststän- den notwendigen Reformen der EU-Agrarpolitik bei uns dig zu erwirtschaften. nicht allein von den Menschen in den ländlichen Räu- men getragen werden. Diesen Aspekt hat die Bundesregierung in ihrem Aktionsprogramm 2015 berücksichtigt. Darin werden (Beifall bei der FDP) viele Faktoren genannt, die dem Ziel dienen, den Men- Sie brauchen Planungssicherheit, sie brauchen Einkom- schen Hilfe zur Selbsthilfe zu geben, zum Beispiel beim mensalternativen und sie brauchen, wie die Menschen in Aufbau leistungsfähiger Wirtschaftsstrukturen, die ar- den Entwicklungsländern, faire Wettbewerbschancen mutsminderndes Wachstum schaffen, und beim Abbau und keine von Rot-Grün diktierten zusätzlichen Regle- der Verschuldung. In diesem Sinne war auch die Ent- mentierungen, egal unter welchen Vorzeichen sie stehen schuldungsinitiative HIPC ein richtiger Weg, der weiter- gegangen werden muss. Die Finanzkrisen in vielen Ent- (Beifall bei der FDP – Reinhold Hemker wicklungsländern, wie erst vor wenigen Jahren in [SPD]: Das tun wir doch gar nicht!) Argentinien, zeigen uns, dass auch eine Stärkung der in- – unterhalten Sie sich mit Ihren Kollegen von den Grü- ternationalen Finanzarchitektur für diesen Weg wichtig nen; die können Ihnen eine Menge von Beispielen dafür ist. Natürlich müssen auch soziale Grunddienste wie Bil- zeigen –, ob Umwelt-, Tier- oder Sonst-was-Schutz, dung, Gesundheit, Familienplanung, Bekämpfung von denn die Standards in Deutschland sind hoch. HIV und Aids gewährleistet sein. Wir alle wissen, dass der Zusammenhang zwischen Umwelt und Entwicklung Dabei wünschen wir uns auch, dass Frau Merkel für ein enger ist. Den ärmsten Menschen muss Zugang zu die CDU/CSU-Fraktion deutlich erklärt, was Sache ist: Trinkwasser und zur Energieversorgung gewährt wer- (Beifall bei der FDP) den. 7782 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2004

Dr. Sascha Raabe (A) Die Stärkung von Menschenrechten, von Kernarbeits- Ich möchte auch unseren Bundeskanzler Gerhard (C) normen, der Gleichberechtigung der Geschlechter, der Schröder ausdrücklich loben, der bei seiner Afrikareise, Demokratie und der Partizipation der ärmeren Menschen die sehr erfolgreich war, wörtlich gesagt hat: sind weitere wichtige Punkte in diesem Aktionspro- gramm 2015. Das kann dazu beitragen, dass sich in den Es ist keine stringente Politik, wenn die EU von of- Entwicklungsländern, wie es zu Recht gefordert wurde, fenen Märkten redet und zugleich aber Spanien und Good Governance durchsetzt. Griechenland ihre Baumwollproduktion so stark subventionieren, dass ein Exportland wie Mali Selbstverständlich geht es im Aktionsprogramm 2015 keine Chance hat. auch um die Frage, wie man das Recht, sich zu ernähren, durchsetzen kann. Da wird als ganz entscheidender Fak- Auch Bundeswirtschaftsminister Clement hat in Da- tor genannt, dass wir vor allem faire Handelschancen für vos zu Recht eine Wiederaufnahme der WTO-Verhand- die Entwicklungsländer brauchen. Dies ist ein wesentli- lungen über Agrarsubventionen gefordert, cher Teil des Antrags. Wir wollen ein Ende der handels- (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Sehr richtig! – verzerrenden Agrarsubventionen und des Agrarprotek- Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/CSU]: tionismus der Industrieländer. Darum geht es ja gar nicht!) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ damit es hier noch in diesem Jahr zu einer Lösung DIE GRÜNEN) kommt und sich die Fehler von Cancun nicht wiederho- len. Laut Weltbank benötigen wir etwa 50 Milliarden US- Dollar mehr im Jahr, um Armut weltweit wirkungsvoll Natürlich ist es wichtig, dass sich auch die USA be- bekämpfen zu können. Allein die Industrieländer geben wegen. Schließlich liegen hier beim Beispiel Baumwolle 360 Milliarden Dollar pro Jahr aus, um ihre Landwirt- die Subventionen viel höher als in Europa. schaft zu subventionieren. Das ist etwa das Sechsfache dessen, was sie für die Entwicklungszusammenarbeit zur (Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/ Verfügung stellen. Ein erfolgreicher Abschluss der CSU]: Das ist Unsinn!) Doha-Welthandelsrunde könnte den Entwicklungslän- dern nach vorsichtigen Schätzungen etwa 50 bis 100 Mil- Sie betragen 3,9 Milliarden Dollar, während das gesamte liarden Dollar bringen. Hilfsbudget für Afrika lediglich ein Drittel, nämlich 1,3 Milliarden Dollar, ausmacht. Deshalb stimmt es Wenn fast 3 Milliarden Menschen von weniger als hoffnungsvoll, dass der US-Handelsbeauftragte Zoellick 2 Dollar täglich leben, aber jede Kuh in Europa mit in seinem jüngsten Brief an alle WTO-Mitglieder trotz (B) (D) 2,5 Dollar pro Tag, in Japan sogar mit 7 Dollar pro Tag der US-Präsidentschaftswahlen in diesem Jahr eine Re- subventioniert wird, dann ist hier eine Schieflage gegeben. duzierung der Baumwollsubventionen und ein definiti- Gegen subventionierte Dumpingpreise haben Kleinbauern ves Ende aller Agrarexportsubventionen fordert, damit in Entwicklungsländern leider keine Chance. das Jahr 2004 kein verlorenes Jahr für die WTO-Runde wird. Dies liegt nicht zuletzt auch im Interesse der deut- (Albert Deß [CDU/CSU]: Das war jetzt kon- schen Wirtschaft und Exportindustrie. zentrierter Unsinn!) Ministerin Renate Künast hat es durch ihre sehr er- Damit wird den Ärmsten der Armen das Recht genom- folgreichen Bemühungen in Europa im letzten Jahr ge- men, sich selbstständig zu ernähren. Wer Ernährungssi- schafft, dass langsam die Subventionierung von der Pro- cherheit will, muss deshalb für eine gerechte Welthan- duktion entkoppelt wird. Das wird in Zukunft ein delsordnung eintreten. nachhaltiges Landwirtschaftsmodell ermöglichen. Wir haben in unseren Bundestagsbeschlüssen zur (Helmut Heiderich [CDU/CSU]: Ein Drittel Doha-Welthandelsrunde im vergangenen Jahr auf diese Einnahmeverlust für die Bauern!) Punkte hingewiesen. Es war die Bundesministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul, die in Cancun mit der Diese Schritte müssen fortgesetzt werden. Schon jetzt Baumwollinitiative mutig vorangegangen ist. aber müssen die EU und die USA ein klares Zeichen in Form einer Frist für das definitive Ende der Exportsub- (Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/ ventionen und aller handelsverzerrenden sonstigen inter- CSU]: Aber Sie wissen doch, was Ihr Minister nen Stützungen setzen. Clement und Staatssekretär Tacke in Cancun An dieser Stelle wird uns auch gentechnisch verän- dazu gesagt haben!) dertes Saatgut nicht helfen. Wenn wir glauben, damit die Ich finde es auch im Nachhinein peinlich, dass Sie, Herr Probleme im ländlichen Raum lösen zu können, ist außer Kollege, und Ihre Fraktion das damals aus parteitakti- auf die Chance, die darin steckt, auch darauf hinzuwei- schen Gründen diskreditiert haben, obwohl sich selbst sen, dass die Lizenzgebühren natürlich zu einem Pro- die EU-Kommission dieser Initiative angeschlossen hat. blem für Bauern in Entwicklungsländern werden kön- nen. Ich bin der Ministerin Künast dankbar, dass sie hier (Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/ immer wieder die Risiken anspricht und die Rahmenbe- CSU]: Das ist doch Quatsch! Das wissen Sie dingungen so setzt, dass Gentechnik und Entwicklungs- ganz genau!) politik zusammenpassen. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2004 7783

Dr. Sascha Raabe (A) Meine sehr verehrten Damen und Herren, enden reicher werden. Reicher werden dort die Reichen, wäh- (C) möchte ich mit einem afrikanischen Sprichwort: Men- rend die Armen noch ärmer werden. schen mit leeren Bäuchen wachen auf mit Herzen voller Hass. Wir können also den Kampf gegen den Terroris- (Beifall bei der CDU/CSU) mus nur gewinnen, wenn wir Hunger und Armut besie- Das hat mit sozialdemokratischer und grüner Politik gen. Deshalb bitte ich Sie um Zustimmung zu unserem nichts mehr zu tun. Bei der FDP verstehe ich das; sie Antrag. kümmert sich schließlich mehr um die Reichen als um Vielen Dank. die Armen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Albert!) DIE GRÜNEN) – Das ist leider eine Tatsache. Aber das Schönreden und Verkleistern der Wirklich- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: keit sind wir bei Rot-Grün leider auch auf anderen Poli- Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Albert Deß. tikfeldern gewohnt, zum Beispiel bei der Bekämpfung (Beifall bei der CDU/CSU) des innenpolitischen Grundübels der Massenarbeitslo- sigkeit. Auch hier wird nur geredet und es passiert nichts. Albert Deß (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und (Dr. Sascha Raabe [SPD]: Bleiben Sie mal beim Herren! Der Antrag der rot-grünen Koalitionsfraktionen Thema! – Lachen bei der CDU/CSU) postuliert zwar das hehre Ziel, die Welternährungssitua- – Das ist mir schon klar, dass Sie unbequeme Dinge tion zu verbessern, wird aber den Realitäten und Erfor- nicht angesprochen haben wollen; aber ich lasse mir dernissen nicht gerecht – und das weder in der Analyse nicht verbieten, das anzusprechen. der Ursachen für den Hunger in vielen Entwicklungslän- dern noch bei den Vorschlägen zu seiner Bekämpfung. (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Sascha Raabe Wer wie Rot-Grün bereits bei der Diagnose der Ursa- [SPD]: Reden wir hier über Deutschland oder chen versagt, kann auch bei der Therapie eines der größ- die Welternährung?) ten Übel der Menschheit, nämlich Hunger und Unterer- nährung, nichts leisten. Eine der Hauptursachen für den Hunger, insbeson- dere in Afrika mit über 40 Millionen unterernährten Men- Was hier heute, leider in einer Koalition zwischen schen, sind Kriege, Bürgerkriege und politische Fehlent- SPD, Grünen und FDP, zum Welthandel gesagt wurde, scheidungen korrupter und diktatorischer Regime. Selbst (B) kann ich so nicht stehen lassen, meine lieben Kolleginnen eine UNO-Organisation wie das Welternährungspro- (D) und Kollegen. Bei einem Produkt ist der Welthandel voll- gramm, das sich als internationale Institution diplomati- kommen liberalisiert, nämlich bei Kaffee. Ich bin der scher Zurückhaltung befleißigen muss, stellt diese Haupt- Vorsitzende der deutsch-brasilianischen Parlamentarier- ursachen deutlicher dar als Rot-Grün in seinem Antrag, in gruppe und kenne die Situation der Kaffeebauern in Bra- dem sie mit keinem Wort erwähnt werden. silien sehr gut. Bevor der Kaffeemarkt liberalisiert wurde, als es also noch feste Handelskontingente gab, war die Si- Besonders tragisch ist – ein Kollege hat es Gott sei tuation der kleinen Kaffeebauern in Brasilien wesentlich Dank angesprochen – die Unterernährung in Simbabwe, besser als heute in einem liberalisierten Markt. das aufgrund der Vertreibung hoch effizienter Farmer durch die Regierung von einem Agrarüberschussland (Beifall bei der CDU/CSU) und Agrarexportland zu einem Importland und Empfän- ger von Nahrungsmittelhilfe geworden ist. Simbabwe, Das Gleiche werden wir wohl auch bei Zucker erle- das frühere Rhodesien, war lange Zeit die Kornkammer ben. Die so genannten AKP-Staaten dürfen zurzeit des mittleren Afrikas. Der Sozialist Mugabe hat es ge- 1,3 Millionen Tonnen Zucker zu unseren hohen europäi- schafft, aus diesem Land eine Hungerregion zu machen. schen Zuckerpreisen in die EU liefern. Verbunden ist da- Darin liegen die Ursachen für die schwierigen Verhält- mit bei ihnen eine hohe Wertschöpfung. Wenn die Zucker- nisse in den Entwicklungsländern. marktordnung, wie vorgesehen, kaputtgemacht wird, dann dürfen diese Staaten zwar statt 1,3 Millionen Tonnen 7 Der Koalitionsantrag konzentriert sich auf die Forde- oder 8 Millionen Tonnen nach Europa liefern; aber sie rung, das so genannte Recht auf Nahrung national und werden für 8 Millionen Tonnen brutto nicht mehr Geld international zu verankern. Aber mit dem so genannten erhalten als bisher für die 1,3 Millionen Tonnen. Recht auf Nahrung verhält es sich genauso wie mit dem von linken Ideologen ständig geforderten Recht auf Ar- (Dr. Sascha Raabe [SPD]: Haben Sie darüber beit: Wo die materiellen Voraussetzungen für die Durch- auch einmal in Brasilien gesprochen?) setzung fehlen, ist die Proklamation solcher Rechte Wie soll denn so eine höhere Wertschöpfung in den Ent- Schwindel und Volksverdummung. wicklungsländern möglich werden? (Beifall bei der CDU/CSU) Ich bin ja nicht strikt gegen den weiteren Abbau von Es sind schlichtweg zu Papier gebrachte Luftblasen. Da- Handelsverzerrungen, aber ich möchte mit dem Märchen mit kann man das Welternährungsproblem nicht lösen. aufräumen, dass durch eine Liberalisierung der Agrar- märkte die armen Bauern in den Entwicklungsländern (Beifall bei der CDU/CSU) 7784 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2004

Albert Deß (A) Grundvoraussetzung der Hungerbekämpfung in den herablassend meinen, das Recht auf Nahrung, das UN- (C) Entwicklungsländern ist eine Steigerung der Nahrungs- Organisationen und viele andere fordern – mittelproduktion. Um dieses Ziel zu erreichen, gibt es wiederum verschiedene Mittel, unter anderem die Nut- (Albert Deß [CDU/CSU]: Das reicht nicht aus, zung der Grünen Gentechnik. Deswegen hat die CDU/ Frau Künast!) CSU-Fraktion in ihrem Antrag vom 24. Juni 2003 auf viele Länder handeln entsprechend und können erste Er- die enormen Chancen hingewiesen, die durch den Ein- folge aufweisen –, sei eine Volksverdummung. Wie soll satz der modernen Biotechnologie für die Sicherung der man mit Ihnen diskutieren, wenn Sie mit solchen Tricks Welternährung und die Bekämpfung des Welthungers und mit doppeltem Boden arbeiten? Das fällt mir wirk- bestehen. lich schwer. Frau Künast, ich habe Ihnen in meiner letzten Rede Ich hoffe, dass wir an dieser Stelle zu einer ernsthaf- zur Gentechnik den Vorwurf gemacht – das steht ja auch ten und seriösen Debatte zurückkommen können. Viel- im Protokoll –, dass Sie hier die Unwahrheit gesagt ha- leicht können wir später die Debatte im Rahmen der ben, was das Thema Goldener Reis und Konzerne anbe- Novellierung des Gentechnikgesetzes endlich einmal un- langt. Die Wissenschaftler haben sich sehr deutlich dazu ideologisch und seriös führen. geäußert – Frau Reichard wird das noch ansprechen –, dass sie bereit sind, den Ländern ihr Wissen zur Verfü- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gung zu stellen. Hier läge doch eine Chance, meine sehr sowie bei Abgeordneten der SPD – Helmut verehrten Damen und Herren von der Regierungskoali- Heiderich [CDU/CSU]: Das müssen ausge- tion: Ihr wollt Eliteuniversitäten schaffen. Schafft eine rechnet Sie sagen! Da machen Sie den Bock Eliteuniversität im Bereich Biotechnologie und stellt die zum Gärtner!) Forschungsergebnisse, die dort erzielt werden, den Ent- wicklungsländern kostenlos zur Verfügung. Das wäre – Nach Ihren Reden habe ich alles Recht der Welt, Sie eine Form effektiver Entwicklungshilfe. darauf hinzuweisen: Auch Sie müssen sich mit der WTO auseinander setzen. Man kann nicht – ganz christlich – (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) internationale Gerechtigkeit fordern, aber mit Zehen und In dieser Richtung muss gearbeitet werden und nicht in Klauen, allen voran die CSU, dieses handelsverzerrende einer ideologischen Richtung, bei der für die Entwick- Agrarsystem der EU, das wir jetzt mühsam reformieren, lungsländer nichts herauskommt. verteidigen. Sie können nicht beides gleichzeitig tun. Sie müssen sich schon zu einem Weg bekennen und sprin- Unser Antrag geht in die richtige Richtung. Wenn die gen. (B) FDP ihn nicht unterstützt, weil er zu wenige liberale As- (D) pekte enthält, dann könnte ja die Regierungskoalition (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN diesen Antrag unterstützen. Ich darf Sie dazu auffordern. und bei der SPD – Albert Deß [CDU/CSU]: Es gibt doch einen dritten Weg!) Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. Wir wissen, dass trotz der Maßnahmen, die sich die (Beifall bei der CDU/CSU) FAO und andere Organisationen vorgenommen haben, die Zahl der Hungernden größer wird. Die Zahlen wären Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: noch schlimmer, wenn es nicht eine wesentliche Verbes- Das Wort hat jetzt die Frau Bundesministerin Renate serung der Ernährungssituation in China geben würde. Künast. Für alle anderen Regionen gilt: Kein Wandel in Sicht. Deshalb geht es darum, dass wir alle Werkzeuge, die Renate Künast, Bundesministerin für Verbraucher- es gibt, nutzen. Wir müssen zunächst einmal anerken- schutz, Ernährung und Landwirtschaft: nen, dass es ein Recht auf ausreichende und gesunde Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich Nahrung überall auf der Welt gibt. Das kann nur heißen, finde es schade, wie die Diskussion hier läuft. Wenn ich dass wir uns darum bemühen, alle Regionen aus der Ar- die beiden Redebeiträge vonseiten der CDU/CSU be- mutsfalle zu holen. Wir wissen von der FAO: Wenn wir trachte und schaue, an welcher Stelle sie zusammenpas- es schaffen würden, das Kalorienangebot für die Men- sen, dann stelle ich fest: Sie wollen den europäischen schen in diesen Hungerregionen um 500 Kalorien pro Markt weiter abschotten und weiterhin Exportsubventio- Kopf und Tag zu erhöhen, dann würde infolgedessen das nen zahlen. Da Ihnen das aber im Hinblick auf die Dis- reale Pro-Kopf-Einkommen in diesen Regionen um kussion um internationale Gerechtigkeit und angesichts 0,5 Prozent pro Jahr – die Auswirkung potenziert sich der Tatsache, dass 800 Millionen Menschen hungern, zu nämlich – steigen. peinlich ist, suchen Sie einen Trick und bieten diesen (Albert Deß [CDU/CSU]: Wenn es in Deutsch- Menschen die Grüne Gentechnik an. land 20 Prozent abwärts geht, gleichen wir uns (Albert Deß [CDU/CSU]: Ich habe entspre- irgendwann an!) chende Vorschläge gemacht! In der kurzen Re- dezeit konnte ich nicht alle darstellen!) Wir brauchen also wirtschaftliches Wachstum nicht nur für einige Menschen, sondern für alle Menschen. Sie Einmal abgesehen davon, dass das eigentlich unter Ih- müssen Zugang zu Arbeit und Produktion haben, und rem Niveau ist: Schlimmer ist noch, dass Sie, Herr Deß, zwar im Wesentlichen im ländlichen Raum. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2004 7785

Bundesministerin Renate Künast (A) Wir wissen eines ganz klar: Ernährungssicherheit Nur mit einem Paket an Maßnahmen kann man den (C) muss absolute Priorität haben. Das heißt als Erstes, dass Welthunger bekämpfen: mit einem fairen WTO-Abkom- wir Kleinbauern unterstützen und fördern müssen. Wir men, mit einem verankerten Recht auf Nahrung, mit ei- müssen ferner die Frauen als wichtige Zielgruppe sehen, ner Überarbeitung der Nahrungsmittelhilfekonvention und mit einer hohen Sensibilität bei der Entwicklungszu- (Albert Deß [CDU/CSU]: Einverstanden!) sammenarbeit im ländlichen Raum. Nur dann schaffen weil sie in den vorhandenen Strukturen diejenigen sind, wir es, dass auf dieser Welt jede Frau, jeder Mann und die für die Ernährung der Familien sorgen. Wir brauchen jedes Kind eine faire Chance hat. also eine Entwicklungszusammenarbeit, die ihr Augen- Ich hoffe, dass Sie uns darin unterstützen. Es kann merk genau auf diese Dinge richtet. Es kann nicht sein aber nicht sein, dass wir in einer Art Beglückungsterro- – der neueste OECD-Bericht weist uns darauf hin –, dass rismus andere mit unseren Dingen beglücken, Herr Deß. wir zwar mehr Geld für Entwicklungshilfe, aber weniger Es geht vielmehr darum, im ländlichen Raum Selbstver- für den ländlichen Raum und für die Agrarproduktion sorgung und Selbstbestimmung zu verankern, das heißt, ausgeben. Außenschutz und interne Stützung in diesen Ländern (Helmut Heiderich [CDU/CSU]: Wie in aufzubauen. Insofern sollten auch wir im Norden uns be- Deutschland!) schränken. Denn nur so schaffen wir mehr Gerechtigkeit und eine Reduzierung des Welthungers. Wir haben angefangen, konkrete bilaterale Projekte der FAO in und in Westafrika zu unter- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN stützen. Bei diesen Projekten geht es um eine nachhal- und bei der SPD) tige Produktionssteigerung im Ernährungsbereich. Wir wissen doch haargenau, dass wir es mit einer Vielzahl Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: ganz spezifischer Probleme zu tun haben, die erst einmal Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Christa Reichard. überhaupt nicht mit dem Gentechnikproblem zusam- menhängen. Schauen wir uns das HIV-Problem in Afrika (Beifall bei der CDU/CSU) an. Dort fallen ganze Generationen aus. Deshalb brau- chen wir neue Strategien, um Menschen zu fördern, die Christa Reichard (Dresden) (CDU/CSU): das Land bestellen können. Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Was (Reinhold Hemker [SPD]: So ist es!) nutzt uns ein Recht auf Nahrung, wenn wir nicht alle Möglichkeiten – und wirklich alle, Frau Ministerin – zu Schauen wir uns ganz aktuelle Probleme an. In dessen Umsetzung ausschöpfen? Auf die Chancen der Afghanistan und in Pakistan zittern die Frauen, die (B) Grünen Gentechnik haben Sie gerade nicht verwiesen. (D) Kleintiere halten, weil die Vogelgrippe ihre Kleintierbe- stände, die sie zur Ernährung brauchen, am Ende dahin- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) raffen könnte. Das zeigt, dass wir konkrete Projekte und Wir sind zum Handeln gezwungen. Wir tragen Mitver- günstige Rahmenbedingungen brauchen. Zu diesen Rah- antwortung. Es ist ziemlich banal, zu sagen, dass die menbedingungen gehören faire Handelsbedingungen im landwirtschaftlich nutzbare Fläche nicht wächst. Also Rahmen der WTO. Damit bin ich wieder bei Ihrem klei- muss die Flächenproduktivität steigen. Experten sehen nen Taschenspielertrick. Sie wollen sich um Konsequen- gerade in der Grünen Gentechnik eine Möglichkeit und zen drücken. Sie bleiben bei der Abschottung und fan- eine Chance für eine höhere Flächenproduktivität, und gen mit der Grünen Gentechnik an. zwar sowohl für die groß- als auch die kleinflächige Pro- Wir sagen eines ganz klar: Der Agrarbereich muss duktion. bei den WTO-Gesprächen vor allen anderen Interessen Die Vorteile der Genpflanzen bestehen nicht nur in oberste Priorität haben. Wir brauchen Fortschritt bei den höheren Erträgen und einer verbesserten Erntequalität, Reformen, die wir in Europa begonnen haben. Wir ha- sondern auch in ernährungsphysiologisch verbesserten ben dies letztes Jahr in Luxemburg entschieden. Das Ka- Eigenschaften und in einer Entlastung der Umwelt. binett hat diese Woche beschlossen, wie das in nationa- Selbstverständlich müssen auch mögliche Risiken, zum les Recht umgesetzt wird. Wir haben im kommenden Beispiel die für die biologische Vielfalt, untersucht wer- April Entscheidungen im Bereich Baumwolle zu treffen; den; da bin ich ganz Ihrer Meinung, meine Damen und auch der Bereich Zucker wird geregelt. Herren von der Koalition. Aber wie sollen mögliche Ri- Wir sagen ganz klar: Alle Formen der Exportförde- siken untersucht werden, wenn Sie sich gegen jede Mög- rung müssen auslaufen. Deshalb wollen wir uns kon- lichkeit des Versuchsanbaus sträuben und sich weigern, struktiv daran beteiligen, auf WTO-Ebene konkrete Da- wissenschaftliche Erkenntnisse, die Ihre Befürchtungen ten dazu zu finden. Wir brauchen zudem den widerlegen, zur Kenntnis zu nehmen? Ich erinnere nur Marktzugang für beide Ländergruppen: für die ärmsten an den fadenscheinig begründeten Stopp eines Vorha- Länder und die Schwellenländer. bens in der Bundesanstalt für Züchtungsforschung in Pillnitz und Quedlinburg; darüber werden wir aber mor- An dieser Stelle muss ich klar feststellen: Auch gen an dieser Stelle genauer sprechen können. Dinge, die uns lieb geworden sind – das Zuckerproblem wurde bereits angesprochen –, müssen auf den Prüf- Führende Experten der Weltnaturschutzorganisation stand. Das heißt allerdings natürlich ebenso, dass wir un- erwarten übrigens durch die Grüne Gentechnik eine seren Landwirten neue Möglichkeiten eröffnen. Produktivitätssteigerung im Ackerbau, die eine 7786 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2004

Christa Reichard (Dresden) (A) weitere Umwandlung von Naturflächen in landwirt- Reden angesprochen haben: Stimmen Sie unserem An- (C) schaftliche Monokulturen verhindern kann. Das heißt, trag zu, meine Damen und Herren! Grüne Gentechnik kann sogar einen Beitrag zum Erhalt (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – der Artenvielfalt leisten. Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE (Beifall bei der CDU/CSU – Matthias Weisheit GRÜNEN]: Nee!) [SPD]: Wunderwaffe für alles!) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Die Potenziale der Grünen Gentechnik sind ein wich- Ich schließe damit die Aussprache.1) tiger Baustein in einer Vielzahl von Maßnahmen, die nötig sind, um Hunger und Mangelernährung zu be- Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus- kämpfen. Es bringt nichts, die Grüne Gentechnik zu ver- schusses für Verbraucherschutz, Ernährung und Land- teufeln. Tragen Sie endlich zu einer konstruktiven Aus- wirtschaft auf Drucksache 15/2234. Der Ausschuss emp- einandersetzung bei und sprechen Sie nicht davon, dass fiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung, den sie vielleicht irgendwann einmal kommt! Antrag der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/ Die Grünen auf Drucksache 15/1316 mit dem Titel „Ver- Ein beliebtes Argument der Kritiker ist, dass es sich besserung der Welternährungssituation und Verwirkli- bei der Grünen Gentechnik um ein Instrument der Groß- chung des Rechts auf Nahrung“ in der Ausschussfassung industrie handelt, mit dem bewusst Abhängigkeiten ge- anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh- schaffen werden sollen. lung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Be- Dazu möchte ich eines sagen: Niemand wird gezwun- schlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitions- gen, genveränderte Pflanzen anzubauen. Wenn Anwen- fraktionen gegen die Stimmen der gesamten Opposition der damit unzufrieden sind, so können sie jederzeit auf angenommen. traditionelles Saatgut zurückgreifen. Unter Nr. 2 empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung Wer eine Technologie an sich immer wieder mit ei- des Antrags der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache nem möglichen Missbrauch, mit bestimmten Formen des 15/1216 mit dem Titel „Verantwortung für die Sicherheit Handels, des Zugangs oder der Patentierung gleichsetzt, der Welternährung übernehmen – Chancen der Grünen der erinnert mich ganz fatal an die Maschinenstürmer Gentechnik nutzen“. Wer stimmt für diese Beschluss- und ihren erfolglosen Kampf. empfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koaliti- (Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE onsfraktionen gegen die Stimmen der Opposition ange- GRÜNEN]: Das ist wie mit der Massentierhal- nommen worden. (B) (D) tung! Die ist auch so richtig sicher!) Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf: Ein anderes und beliebtes Instrument der Kritiker sind Zweite und dritte Beratung des von den Abgeord- Falschaussagen. In diesem Zusammenhang, Frau neten Arnold Vaatz, Ulrich Adam, Günter Künast, hätte ich eigentlich eine Klarstellung von Ihnen Baumann, weiteren Abgeordneten und der Frak- erwartet. Ihre öffentlichen Aussagen zum Goldenen Reis tion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines in der Sitzung vom 23. Oktober waren falsch und sollten Dritten Gesetzes zur Bereinigung von SED-Un- auch öffentlich zurückgenommen werden. recht (Drittes SED-Unrechtsbereinigungsge- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) setz – 3. SED-UnBerG) – Drucksache 15/932 – Auf das Schreiben von Professor Potrykus haben meine Kollegen Heiderich und Deß bereits hingewiesen. (Erste Beratung 49. Sitzung) Herr Potrykus weist in seinem Schreiben unter anderem Zweite und dritte Beratung des von den Abgeord- darauf hin, dass die Samen kostenlos an die Subsistenz- neten Rainer Funke, Joachim Günther (Plauen), bauern abgegeben werden, dass kein bestimmtes Herbi- Horst Friedrich (Bayreuth), weiteren Abgeordne- zid gebraucht wird, dass Patente in diesem humanitären ten und der Fraktion der FDP eingebrachten Ent- Projekt keine Rolle spielen und ein negativer Einfluss wurfs eines Dritten Gesetzes zur Bereinigung von auf die Artenvielfalt ausgeschlossen werden kann. Denn SED-Unrecht (Drittes SED-Unrechtsbereini- all dies haben Sie behauptet. Bitte nehmen Sie es daher gungsgesetz – 3. SED-UnBerG) zurück. – Drucksache 15/1235 – (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Erste Beratung 56. Sitzung) Ich hoffe, dass das von Herrn Professor Potrykus erbe- tene Gespräch mit Ihnen inzwischen stattgefunden hat a) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- und daraus ein Erkenntniszuwachs gewonnen werden ses für Gesundheit und Soziale Sicherung konnte. (13. Ausschuss) Selbst der Vatikan betont inzwischen ausdrücklich die – Drucksache 15/2412 – Chancen der Grünen Gentechnik für die Bekämpfung des Hungers in der Welt. In Verantwortung für die Um- 1) Die Rede der Abgeordneten Petra Pau (fraktionslos wird zu Proto- setzung des Rechts auf Nahrung, das Sie in allen Ihren koll gegeben (Anlage 2) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2004 7787

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer (A) Berichterstattung: Das steht in Ihrem Antrag. (C) Abgeordneter Markus Kurth (Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE b) Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss) GRÜNEN]: Genau das haben wir doch im De- gemäß § 96 der Geschäftsordnung zember gemacht! Vier Wochen später haben wir es umgesetzt!) – Drucksache 15/2413 – – Frau Stokar, wir stellen nun heute fest, dass all das Berichterstattung: nichts als Lippenbekenntnisse und Sprechblasen gewe- Abgeordnete Steffen Kampeter sen sind. Walter Schöler (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Dr. Günter Rexrodt Wieder einmal hat in Deutschland die Politik das Ge- Es liegt ein Änderungsantrag der Abgeordneten Petra genteil dessen getan, was sie – mit dem Bundespräsiden- Pau und Dr. Gesine Lötzsch vor. ten angefangen – vollmundig angekündigt hat: Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Erstens haben Sie keinen eigenen Lösungsvorschlag Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Wider- auf den Tisch gelegt. spruch höre ich nicht. Dann ist so beschlossen. (Hartmut Büttner [Schönebeck] [CDU/CSU]: Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst Richtig!) der Abgeordnete Arnold Vaatz. Zweitens haben Sie unseren Gesetzentwurf abgelehnt, weil er von der Opposition kommt. Arnold Vaatz (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Drittens – das ist ganz neu – haben Sie gestern auch Herren! Sie alle können sich noch an die Gedenkveran- die von Ihnen selbst angekündigte Alternative als Täu- staltung zum 17. Juni vor knapp einem Dreivierteljahr schungsmanöver entlarvt. hier in diesem Parlament erinnern. Damals hat der Herr (Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE Bundespräsident erklärt: GRÜNEN]: Das verstehe ich nicht!) 50 Jahre danach müssen die Opfer Anerkennung er- – Ich erkläre Ihnen gleich, warum. fahren …, die in der DDR Unrecht erlitten haben. Manches geschieht dafür; dennoch begegne ich im- Der Herr Kollege Hacker – ich sehe ihn gar nicht; hat mer wieder Opfern des DDR-Regimes, die nicht er heute Hausverbot von Ihnen bekommen? (B) (D) bekommen haben, worauf sie … billigerweise ei- (Klaus Haupt [FDP]: Das hätte mich nicht ge- nen Anspruch haben sollten. wundert! – Peter Dreßen [SPD]: Er hat einen (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie wichtigen Termin!) bei Abgeordneten der SPD und des BÜND- – gut – hat noch in der ersten Lesung dieses Gesetzes NISSES 90/DIE GRÜNEN) versichert, Sie wollten darauf achten, Der Herr Bundesratspräsident hat mit Blick auf den (Peter Dreßen [SPD]: Der regiert schließlich! gleichen Personenkreis hinzugefügt: Der muss arbeiten!) Sie, sofern sie heute noch leben, als Opfer von Un- dass der Stiftung für ehemalige politische Häftlinge ge- terdrückung und Willkür mit einer Ehrenpension zu nügend finanzielle Mittel zur Verfügung stehen, um zu ehren, sollte … für uns ein lösbares Problem und verhindern, dass SED-Opfer in die Sozialhilfe abrut- eine gemeinsame Verpflichtung sein. schen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Selbst darüber hätten wir ohne Probleme reden kön- nen. Es gibt ganz sicher Möglichkeiten, es auf diese Es haben sich aber nicht nur diese beiden führenden Weise zu lösen. Was wir aber jetzt lesen können, haut Repräsentanten unseres Staates zum Handlungsbedarf dem Fass den Boden aus. Jetzt lesen wir in einem Be- erklärt, sondern es sind zum Beispiel auch einige Stim- richt des Bundesinnenministeriums vom 13. Januar men aus der SPD-Fraktion nie verstummt. Hier möchte 2004, die Stiftung weise eine Deckungslücke von ich zum Beispiel den Kollegen Hilsberg hervorheben, 3,9 Millionen Euro auf und solle darüber hinaus bis der sich mehrfach zu diesem Thema geäußert hat. Ende 2005 auslaufen. Das ist Inhalt dieses Berichts. Eine Bundesdelegiertenkonferenz der Grünen in ( [CDU/CSU]: Unglaublich!) Ostdeutschland hat eine Zur Begründung heißt es, die notwendigen Änderun- nachhaltige Verbesserung der Lage der politisch gen im Bereich der SED-Unrechtsbereinigung seien ab- Verfolgten des DDR-Systems und der sowjetischen geschlossen. Darüber hinausgehende Bestrebungen Besatzungszeit gefordert und dabei konkret ver- seien aus grundsätzlichen Erwägungen und fiskalischen langt, eine monatliche Pauschalsumme als Aus- Gründen abzulehnen. gleichsleistung für erlittenes Unrecht – Haft – ab- hängig von der Haftdauer und eine Erhöhung der Das ist nun das genaue Gegenteil dessen, was die füh- Entschädigungssumme pro Haftmonat. renden Repräsentanten dieses Staates vor einem 7788 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2004

Arnold Vaatz (A) Dreivierteljahr hier an dieser Stelle unter dem Beifall des Meine Damen und Herren, mit der heutigen Entschei- (C) ganzen Hauses festgestellt haben. dung bringt der Gesetzgeber unseres demokratischen Staates im Grunde Folgendes zum Ausdruck: Es war ein (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) großer Fehler, sich für Demokratie und Menschenrechte Ich kann verstehen, wenn die Menschen in diesem einzusetzen. Land und besonders die Betroffenen der SED-Diktatur, (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE die dieser Debatte heute von der Tribüne aus folgen, von GRÜNEN]: Das ist eine Unverschämtheit!) diesem Bundestag immer weniger halten und uns Politi- kern immer weniger glauben. Das Schlimmste ist nicht, Die Demokratie selbst erkennt den Einsatz für Demo- dass Sie, meine Damen und Herren von den Regierungs- kratie nicht an. Sie vollbringt zwar für alle Benachtei- fraktionen, mit Ihrem Verhalten die Spitzenrepräsentan- ligten in unserer Gesellschaft große Solidarleistungen, ten unseres Staates brüskieren. Die Botschaft des heuti- nicht aber für den durch die Diktatur verletzten Demo- gen Tages wird sein: Die Demokratie verrät ihre Mütter kraten. Es waren ihrer zu wenige, was offenbar die und Väter. Das ist die Realität. schwerste Sünde ist, die man in der Demokratie begehen kann. Denn dann hat man keine Lobby und man ist zu (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) gering an Zahl, um wahlrelevant zu sein. Das ist die Ich will dabei durchaus einräumen, dass das Ganze wirkliche Botschaft des heutigen Tages. zuerst eine Fehlleistung von uns in unserer Regierungs- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- zeit gewesen ist. Das ist überhaupt keine Frage. Aber Sie neten der FDP) sind doch mit dem Argument angetreten, Die Bundesrepublik Deutschland sagt weiter: Die An- (Gudrun Schaich-Walch [SPD]: Sie haben uns sprüche, die jemand im Einsatz für seine eigene Karriere leere Kassen hinterlassen!) in der DDR aufgebaut hat, erfüllen wir. Das, was jemand dass Sie alle unsere – von Ihnen behaupteten – Fehler im Einsatz für Freiheit und Demokratie verloren hat, ge- richtig stellen und korrigieren wollten. ben wir ihm nicht einmal symbolisch zurück. Das ist die Botschaft. (Peter Dreßen [SPD]: Haben wir doch!) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Es entschuldigt Sie überhaupt nicht gegenüber den Op- Mit einer solchen Haltung, meine sehr verehrten Damen fern, und Herren von den Regierungsfraktionen, verraten Sie (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE genau die Werte, auf denen unsere freiheitlich-demokra- (B) GRÜNEN]: Wir haben die Beträge verdoppelt, tische Ordnung beruht. Das ist der eigentliche Schaden, (D) die Sie gegeben haben!) den Sie heute anrichten werden. wenn Sie aus dem Verweis auf die schon von uns unter- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- lassene Zuwendung das Recht ableiten, diese Zuwen- neten der FDP) dung ebenfalls unterlassen zu dürfen. In der ersten Lesung hatte der Kollege Hacker den (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Vorwurf erhoben, in unserem Gesetzentwurf wollten wir neten der FDP) die Lage der SED-Opfer zulasten der Opfer des Fa- schismus verbessern. Davon kann nicht einmal andeu- Ich will Ihnen bloß sagen: Ein Fehler, den man das tungsweise die Rede sein. Denn Sie selbst wissen ganz zweite Mal macht, wiegt doppelt. Das müssen Sie sich genau, dass wir niemals auch nur andeutungsweise die hier in aller Deutlichkeit sagen lassen. VN-Renten in Ostdeutschland in Frage gestellt haben. (Beifall bei der CDU/CSU) Auch wissen Sie, dass im Bundesentschädigungsgesetz seinerzeit ein weitaus größerer Begünstigtenkreis ange- Ich will Ihnen auch noch sagen, dass Ihr Verhalten in sprochen wurde, als wir es in unserem Gesetzentwurf fataler Weise mit der Kälte und der Ablehnung korres- tun, und dass die Höhe der Entschädigungen – übertra- pondiert, mit der schon im Jahre 1989 einige heute füh- gen auf die Preise von heute – in etwa den Regelungen rende Sozialdemokraten auf die Revolution in der dama- des Bundesentschädigungsgesetzes entspricht. Wer et- ligen DDR reagiert haben, was anderes behauptet, tut dies wider besseres Wissen. (Karsten Schönfeld [SPD]: Sie erzählen einen (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE Unfug! Das ist eine Unverschämtheit!) GRÜNEN]: Das waren Entschädigungen, aber keine Ehrenpensionen!) in der die SED-Opfer durch die Geschichte rehabilitiert und in ihrem Einsatz bestätigt wurden. Das ist damals – Herr Kollege Ströbele, auch dies sind kein Ehrenpensi- Ihre Reaktion gewesen. Lesen Sie die Aussagen nach, onen. Wir haben ausdrücklich erklärt, dass wir von Op- mit denen Herr Lafontaine und Herr Schröder auf die ferpensionen sprechen wollen, damaligen Ereignisse in Ostdeutschland reagiert haben. (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE Wenn Sie sich nicht mehr erinnern können, schicke ich GRÜNEN]: Sie haben das Wort verändert!) sie Ihnen gerne in Ihr Büro. Denn heute ist nicht der richtige Tag, um Ihnen all das expressis verbis zu sa- weil dadurch die Schäden ausgeglichen werden sollen, gen. die den Menschen zugefügt worden sind. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2004 7789

Arnold Vaatz (A) (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE Peter Dreßen (SPD): (C) GRÜNEN]: Trotzdem ist es etwas anderes als Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Entschädigungen! Das sollten Sie auch einmal SPD-Fraktion ist sich der politischen und moralischen zur Kenntnis nehmen!) Verantwortung bewusst, die sie gegenüber den Opfern der SED-Diktatur, also gegenüber den Menschen, die Nichts anderes. sich für Freiheit, Demokratie und Menschenrechte ein- (Beifall bei der CDU/CSU) gesetzt haben, trägt. Meine Damen und Herren, die CDU/CSU-Fraktion (Hartmut Büttner [Schönebeck] [CDU/CSU]: Des- wird heute auch für den Gesetzentwurf der FDP stim- wegen wollen Sie die Stiftung zumachen!) men, obwohl er sich – sowohl was die Kosten als auch Wir haben großen Respekt vor der Leistung dieser Men- seine Systematik betrifft – von unserem Gesetzentwurf schen. Ich möchte Ihnen aufzeigen – die Rede von Herrn etwas unterscheidet. Damit wollen wir aber eines de- Vaatz macht das notwendig –, welche Gesetze hinsicht- monstrieren: Die Unterschiede zwischen den beiden Ge- lich Rehabilitierung und Entschädigung bisher im Deut- setzentwürfen der Opposition betrachten wir gegenüber schen Bundestag verabschiedet wurden. der übergreifenden Notwendigkeit, in dieser Frage aktiv zu werden und den Opfern zu helfen, als geringfügig. Schon die frei gewählte hatte 1990 ein Rehabilitierungsgesetz beraten und verabschiedet. Da- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – rin ging es um die strafrechtliche, berufliche und verwal- Karsten Schönfeld [SPD]: Im Ausschuss ges- tungsrechtliche Rehabilitierung. In den Einigungsvertrag tern haben Sie das noch ganz anders gesehen! wurden nur Teile dieses Gesetzes übernommen. In ei- Jetzt müssen Sie sich aber mal entscheiden! Im nem Entschließungsantrag wurde der gesamtdeutsche Gesundheitsausschuss haben Sie noch dage- Gesetzgeber aufgefordert, diesen Bereich abschließend gen gestimmt!) zu regeln. Meine Damen und Herren von den Regierungsfrak- Die damalige, von CDU/CSU und FDP geführte Bun- tionen, nun denken Sie sicher, dieses Thema sei mit Ihrer desregierung hat das Erste SED-Unrechtsbereinigungsge- heutigen Ablehnung, die Sie vorbereiten, vom Tisch. Ich setz auf den Weg gebracht, das jedoch von den Opferver- sage Ihnen: Sie täuschen sich. Auch wenn heute ein bänden und von der damaligen Opposition heftig schwarzer Tag der jüngeren deutschen Parlamentsge- kritisiert wurde. Die Kritik bezog sich auf die Differen- schichte werden wird, zierung der Entschädigung nach dem Wohnsitz in Ost oder West: Wer in den neuen Ländern wohnte, bekam (B) (Karsten Schönfeld [SPD]: Durch Ihre Rede, (D) ja!) 550 DM für jeden angefangenen Kalendermonat Haft- zeit, wer im Westen wohnte nur 300 DM je Monat Haft- wird meine Fraktion die Anliegen der Opfer der SED- zeit. Für Angehörige von Hingerichteten, von in politi- Diktatur so lange weiter unterstützen, wie es noch einen scher Haft oder an der innerdeutschen Grenze einzigen anspruchsberechtigten Betroffenen in diesem Umgekommen fehlte eine Entschädigungsregelung. Land gibt. Auch für die Gruppe der Zwangsausgesiedelten fehlte eine verwaltungsrechtliche Rehabilitierung vollkom- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- men. Haftbedingte Gesundheitsschäden wurden nicht neten der FDP – Gisela Hilbrecht [SPD]: Seit angemessen bewertet. – Das waren damals die Hauptkri- 1998! – Peter Dreßen [SPD]: Das ist doch eine tikpunkte der Opferverbände. Konkrete Vorschläge der Frechheit, was Sie hier erzählen!) SPD-Bundestagsfraktion, die in parlamentarischen Ini- Ich sage Ihnen: Wenn Sie schon in der heutigen De- tiativen mündeten und eine deutliche Verbesserung zum batte keinen einzigen ostdeutschen Abgeordneten zu Inhalt hatten, wurden damals von der Koalition aus Wort kommen lassen, seien Sie wenigstens so gut, sich CDU/CSU und FDP abgelehnt. von diesen Abgeordneten den Brief auszuleihen, den der (Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE thüringische Sozialminister Zeh an alle ostdeutschen GRÜNEN]: So war das!) Abgeordneten geschrieben hat, und führen Sie sich sei- nen Inhalt zu Gemüte. Denn aus diesem Brief geht her- Das Zweite SED-Unrechtsbereinigungsgesetz, das vor, dass Sie dieses Thema nicht loswerden und dass die die rot-grüne Koalition auf den Weg gebracht hat, besei- Vertreter der ostdeutschen Länder, die von unserer Partei tigte die Fehler des ersten Gesetzes. regiert werden, dieses Thema in den Bundesrat einbrin- gen werden. Wir werden uns damit also wieder zu befas- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ sen haben. DIE GRÜNEN) Vielen Dank. – Wie Sie, Herr Vaatz, eine solche Rede halten können, wundert mich also sehr. – Es beinhaltete eine einheitli- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) che Haftentschädigung von 600 DM je angefangenem Haftmonat unabhängig vom Wohnsitz und soziale Aus- gleichsleistungen von nächsten Angehörigen von Hinge- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: richteten und von während des Freiheitsentzugs oder an Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Peter Dreßen. der innerdeutschen Grenze Umgekommenen. Die Mittel 7790 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2004

Peter Dreßen (A) für die Stiftung ehemaliger politischer Häftlinge wurde zeigt auch die Tatsache, dass dieser Gesetzentwurf von (C) von 300 000 DM auf 1,5 Millionen DM pro Jahr erhöht. allen Fraktionen in diesem Hause unterstützt wurde. (Hartmut Büttner [Schönebeck] [CDU/CSU]: (Hartmut Büttner [Schönebeck] [CDU/CSU]: Warum wollen Sie die jetzt zumachen?) Ja, natürlich!) Zugleich hatte Bundeskanzler Schröder in einem Brief Im Übrigen setzen wir unsere Bemühungen intensiv an die Ministerpräsidenten der Länder die Forderung fort, dass die Stiftung für ehemalige politische Häftlinge aufgestellt, dass Gutachten, in denen Gesundheitsschä- finanziell so ausgestaltet wird, dass politischen Opfern den, die aus politischer Haft resultieren, nicht attestiert des SED-Regimes wirksam geholfen werden kann. Das, wurden, überprüft werden. Wir haben also die Wahlver- was Sie hier gesagt haben, stimmt also nicht. Auch für sprechen, die wir 1998 gemacht haben, umgesetzt. uns ist dieses Thema nicht vom Tisch. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Ich habe eingangs erwähnt, dass ich großen Respekt DIE GRÜNEN) vor den Menschen habe, die Widerstand gegen das SED- Wir haben die Opfer vom Makel persönlicher Diskri- Regime geleistet haben. minierung durch Rehabilitierung befreit. Durch Kapital- (Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/ entschädigung, Unterstützungsleistungen, Beschädigten- CSU]: Dann hättet ihr mal einen aus dem Os- und Hinterbliebenenversorgung haben wir eine soziale ten reden lassen sollen! – Abg. Arnold Vaatz Ausgleichsleistung gewährt. [CDU/CSU] meldet sich zu einer Zwischen- Eine Opferpension, wie sie die Union in Art. 1 ihres frage) Gesetzentwurfes vorgeschlagen hat, kann im Rahmen – Nein, Herr Vaatz, ich gestatte sie nicht. – In zahlrei- der Rehabilitierungsgesetze nicht geregelt werden; neh- chen Gesprächen mit Betroffenen wurde immer wieder men Sie das zur Kenntnis. Dies ist deshalb ausgeschlos- erwähnt, dass Menschen, die für die gearbeitet ha- sen, weil die bundesdeutsche Entschädigungsgesetzge- bung für Verfolgte unter der NS-Gewaltherrschaft keine ben, heute oftmals eine höhere Rente erhalten als sie rentenrechtlichen Anwartschaften, sondern Leistungen selbst. Dieser Vorwurf trifft und tut einem weh. Ich darf nach dem Bundesentschädigungsgesetz vorsieht. Eine aber daran erinnern, dass die ursprünglich vorgesehenen zusätzliche Pauschalentschädigung für die SED-Opfer in Abzüge in der Rentenversicherung für Stasi-Mitarbeiter Form der Gewährung einer Opferpension würde zu einer von deutschen Verfassungsrichtern und nicht von die- Bevorzugung dieser Opfergruppe gegenüber den NS- sem Hause gekippt wurden. Verfolgten führen und ist im Sinne der Gleichbehand- (Hartmut Büttner [Schönebeck] [CDU/CSU]: lung sachlich nicht zu rechtfertigen. Das stimmt!) (B) (D) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Schon bei der Formulierung des Gesetzgebungsvor- DIE GRÜNEN – Zuruf von der CDU/CSU: habens haben wir darauf hingewiesen, dass man das Und was wollen Sie tun?) Strafrecht nicht mit dem Rentenrecht koppeln kann. Ich Aktuell will die rot-grüne Koalition mit einer Geset- erinnere mich noch sehr gut an Rudolf Dreßler, der dies zesinitiative auf Drucksache 15/1975 wieder für Verbes- mehrmals hier im Parlament vorgetragen hat. serungen sorgen. Die Fristen für Anträge nach dem (Arnold Vaatz [CDU/CSU]: Das hat auch nie- strafrechtlichen, beruflichen und verwaltungsrechtlichen mand bestritten!) Rehabilitierungsgesetz wären 2003 ausgelaufen. Diese Fristen wurden bis zum 31. Dezember 2007 verlängert. Aufgrund von Gerichtsentscheidungen mussten wir also (Hartmut Büttner [Schönebeck] [CDU/CSU]: die ursprüngliche Regelung ändern. Dies ist uns – insbe- Was nutzt denn das? Ihr macht die Stiftung sondere den Kolleginnen und Kollegen aus den neuen doch zu!) Ländern – nicht leicht gefallen. Damit haben wir für die Betroffenen den Zeitraum ver- (Hartmut Büttner [Schönebeck] [CDU/CSU]: längert, Ansprüche auf Rehabilitierung und Gewährung Sie hätten doch etwas tun können!) von sozialen Ausgleichsleistungen geltend machen zu Ein demokratischer Rechtsstaat zeichnet sich eben da- können. Darum geht es, Herr Kollege. durch aus, dass er die Entscheidungen des Verfassungs- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) gerichts umsetzt, auch wenn es ihm, wie in diesem Fall, schwer fällt. Darüber hinaus wurden im Beruflichen Rehabilitie- rungsgesetz die Ausgleichsleistungen für die wegen der In ihrem Antrag geht die Union davon aus, dass politischen Verfolgung in der ehemaligen DDR beruflich jährlich Kosten in Höhe von circa 409 Millionen Euro benachteiligten Opfergruppen, die sich in einer wirt- – mit abnehmender Tendenz – entstehen werden. Selbst schaftlichen Notlage befinden, angehoben. wenn diese Zahlen stimmen sollten, fehlte jeglicher Hinweis darauf, woher dieses Geld eigentlich kommen (Hartmut Büttner [Schönebeck] [CDU/CSU]: soll. Das haben wir aber gemeinsam gemacht!) (Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/ Dass wir hiermit den richtigen Weg beschreiten, CSU]: Das ist bei dieser Regierung natürlich (Hartmut Büttner [Schönebeck] [CDU/CSU]: nicht einfach! Das ist ein regierungsimmanen- Das haben wir gemeinsam gemacht!) tes Problem!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2004 7791

Peter Dreßen (A) Jeden Tag höre ich, dass die Union Steuern senken will. In der grundsätzlichen Zielvorstellung sind wir uns aber (C) Nach dem letzten Spitzengespräch der Union belief sich einig: SED-Opfer sind bislang nicht ausreichend für das die Wasserstandsmeldung auf 10 Milliarden Euro pro von ihnen erlittene Unrecht entschädigt worden. Jahr. Gleichzeitig erlebe ich, wie die Union bei den Haushaltsberatungen zusätzliche Ausgaben im Verteidi- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – gungshaushalt, in der Familienpolitik, in der Innenpoli- Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE tik und in fast jedem anderen Ressort in Höhe von meh- GRÜNEN]: Warum haben Sie das nicht ge- reren zig Milliarden Euro fordert. Meine Damen und macht?) Herren von der Opposition, Sie betreiben hier keine seriö- Ich bedaure, dass sich die SPD nach anderen Signalen se Politik, sondern reinen Populismus. in der vergangenen Sitzungswoche, die zur Vertagung (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ des Themas auf heute führten, doch nicht zu einer inter- DIE GRÜNEN) fraktionellen Initiative durchringen konnte. Wir waren gesprächsbereit. Ich bedaure außerordentlich, dass in der Sollten Sie jemals das verwirklichen müssen, was Sie in bisherigen Debatte versucht worden ist, NS-Opfer gegen der Oppositionszeit versprechen, dann wird dies den SED-Opfer auszuspielen. Das ist unwürdig. Bankrott dieses Staates bedeuten. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Damit haben Sie der CDU/CSU) ja Erfahrung!) Abschließend möchte ich doch noch die Frage stellen, Schließlich halte ich es für sehr unerfreulich, dass tat- warum Sie die Opferrente, die Sie fordern und die Ihnen sächlich der Versuch gemacht wurde, die vorliegenden ja offensichtlich so wichtig ist, mit dem Ersten SED-Un- Anträge parteipolitisch zu diffamieren. rechtsbereinigungsgesetz oder zumindest danach – bis (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten 1998 –, als Sie noch die Möglichkeiten dazu hatten, nicht der CDU/CSU) umgesetzt haben. Herr Vaatz, auch diese Frage haben Sie trotz Ihrer gewaltigen Rede nicht beantwortet. Dazu kann ich nur sagen: Der soziale und wirtschaft- (Karsten Schönfeld [SPD]: Das war doch liche Rahmen der NS-Opferentschädigung unterschei- keine gewaltige Rede!) det sich erheblich – das dürfte auch in der SPD be- kannt sein – von den heutigen Rahmenbedingungen der Die Antwort ist einfach: Sie hatten damals das Geld DDR-Vergangenheitsbewältigung. Seitdem die liberal- nicht und Sie wollten es auch nicht. konservative Koalition den Einstieg in die SED-Opfer- entschädigung gestaltet hat, hat es ein Bundesverfas- (B) (Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE (D) sungsgerichtsurteil – Sie haben bereits darauf hingewie- GRÜNEN]: Sie hatten nicht die Mehrheit da- sen – gegeben, das die Täterrenten de facto deutlich für!) besser stellt als die der Opfer. Damit wird deutlich, wie effekthaschend Sie mit Ih- rem Gesetzentwurf sind. Herr Vaatz, das sollten Sie sich (Hartmut Büttner [Schönebeck] [CDU/CSU]: einmal dick ins Stammbuch schreiben: Das besonders So ist das!) Verwerfliche daran ist, dass dies auf dem Rücken älterer Die Gerechtigkeitslücke zwischen Tätern und Opfern hat Menschen geschieht, vor deren menschlicher Leistung sich zuungunsten der Opfer weiter vergrößert. das ganze Haus den höchsten Respekt hat. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) DIE GRÜNEN) Wir haben uns in Anerkenntnis dieser Entwicklung dazu entschlossen, eine pauschalisierte Entschädigung Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: vorzuschlagen. Eine pauschale Opferpension in Höhe Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Klaus Haupt. von 500 Euro führt dazu, dass zusammen mit der jedem Verfolgten der SED-Diktatur zustehenden Grundsiche- Klaus Haupt (FDP): rungsrente ein Rentenniveau von 1 100 Euro erreicht Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! wird. Das entspricht zwar noch nicht ganz dem Durch- Die FDP hat die Initiative der CDU/CSU, einen Gesetz- schnittsrentenniveau im Westen, aber liegt immerhin et- entwurf für die Entschädigung von Opfern der SED-Dik- was über dem Ostrentenniveau. Zugleich beschränken tatur vorzulegen, ausdrücklich begrüßt. wir den Kreis der Berechtigten auf die tatsächlichen Rentenbezieher. Schließlich schlagen wir vor, gesund- Dass wir einen eigenen Gesetzentwurf erarbeitet ha- heitliche Schäden ehemaliger Häftlinge per gesetzlicher ben, hatte im Wesentlichen zwei Gründe: Wir wollen Vermutung als Haftfolgen anzuerkennen. den Betroffenen schnell und unbürokratisch helfen und wir wollen eine Debatte, ob und inwieweit die Haftdauer (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Eine Regel mit das entscheidende Kriterium für das erlittene Unrecht Augenmaß!) sein kann, vermeiden. Die Pauschalisierung erscheint uns fairer als das Zu- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten grundelegen eines hypothetischen Einkommens; denn der CDU/CSU) – darin sind wir uns einig – kein Verwaltungsorgan kann 7792 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2004

Klaus Haupt (A) wirklich beurteilen, wie ein Leben ohne Verfolgung ver- (Klaus Haupt [FDP]: Sind Sie ostpolitische (C) laufen wäre. Expertin?) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Ich finde es richtig, dass wir die Entscheidung getroffen der CDU/CSU – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: haben, dies nicht als Spezialproblem der Ostabgeordne- Das ist leider wahr!) ten anzusehen. Außerdem ermöglicht die Pauschalisierung ein unbüro- (Hartmut Büttner [Schönebeck] [CDU/CSU]: Wo kratisches Verfahren. Die Verwaltungspraxis hat bisher sind denn die Ostabgeordneten bei Ihnen?) leider viele Defizite gezeigt, die sich für die Opfer des SED-Unrechts als belastend ausgewirkt haben. Vielmehr ist dies ein Thema unserer Fraktion und unse- rer Partei. Deswegen heißen wir Bündnis 90/Die Grü- Dem DDR-Regime sind Menschen zum Opfer gefal- nen. Wir haben die Vereinigung seit 1989 vollzogen. len, die erhebliche Nachteile in Kauf nehmen mussten: von beruflichen Benachteiligungen bis hin zu Haft und Ich fände es im Übrigen fairer, wenn Sie hier vorne Verfolgung. Deshalb ist es nach Auffassung der FDP nicht so herumbrüllten. Denn wir reden heute über das eine Verpflichtung der gesamten Gesellschaft, dafür zu schwere Schicksal von Menschen. sorgen, dass die Opfer der SED-Diktatur wenigstens als (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Rentner im Schnitt nicht schlechter als die Durch- und bei der SPD) schnittsrentner im Osten dastehen. Wir sollten nicht in einem Brüllton, sondern in einer an- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) gemessenen Tonlage darüber reden. Die Bevorzugung der Täter durch die heutigen Renten- Ich möchte etwas zu dem Antrag der Bundesdelegier- berechnungsverfahren würde damit zwar nicht beseitigt, tenkonferenz sagen, der im November in Dresden be- aber erheblich vermindert. schlossen worden ist. Ich habe im Dezember mit Herrn Die FDP wird ausdrücklich jede Initiative mit dieser Hacker von der SPD ernsthafte Verhandlungen geführt Zielrichtung unterstützen. Deshalb votieren wir heute und auch mit Teilen der CDU/CSU und der FDP verhan- nicht nur für unseren eigenen Antrag, sondern auch für delt. Von fünf geforderten Punkten wurden vier umge- den der CDU/CSU, um deutlich zu machen: Die Bereini- setzt. Das ist ein ermutigendes und gutes Ergebnis. Ich gung des SED-Unrechts ist eine gemeinsame Aufgabe lasse mir dieses Ergebnis von Ihnen nicht kleinreden. für die gesamte Gesellschaft und für alle Parteien. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Danke. und bei der SPD) (B) (D) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Ich finde das unfair. Ich verstehe nicht, welches Verständnis Sie von Ihrer Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Funktion und Rolle als Abgeordnete haben. Ich finde es Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Silke Stokar. nicht richtig, wie hier mit einem Bericht umgegangen wird, den wir interfraktionell vom Innenministerium an- (Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/ gefordert haben. Ich möchte mich ausdrücklich für die- CSU]: Wieder keine aus dem Osten! – Peter sen Bericht bedanken und ihn loben. Ich habe diesen Be- Dreßen [SPD]: Das ist doch ein gesamtdeut- richt gelesen. sches Problem!) (Hartmut Büttner [Schönebeck] [CDU/CSU]: Mit den Schlussfolgerungen? Unglaublich!) Silke Stokar von Neuforn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN): – Ich komme gleich zu den Schlussfolgerungen. – Wenn Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich Sie, meine Damen und Herren von der CDU/CSU und finde es schon merkwürdig – das ist nicht mein Ver- von der FDP, diesen Bericht wirklich durchgearbeitet ständnis von Politik –, dass ich aus Ihren Reihen, wäh- hätten, rend ich zum Pult gehe, den Zwischenruf höre: Wieder (Hartmut Büttner [Schönebeck] [CDU/CSU]: keine aus dem Osten! Habe ich!) (Klaus Haupt [FDP]: Das ist dann würden Sie aufhören, einige Lügen und Falschdar- doch bedenklich!) stellungen zu verbreiten. 15 Jahre nach dem Mauerfall zeigt dies, dass bei Ihnen (Hartmut Büttner [Schönebeck] [CDU/CSU]: die Wiedervereinigung im Kopf, im Gefühl und auch im Nein, kein bisschen Lüge! Sagen Sie die Herzen noch nicht vollzogen ist. Wahrheit!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ich fange mit einer Falschdarstellung an, weil meine und bei der SPD – Dr. Peter Ramsauer [CDU/ Redezeit nicht ausreichen wird. Es war 1990 eine be- CSU]: Sie waren doch immer gegen die Wie- wusste Entscheidung von Herrn Schäuble – es war kein dervereinigung!) Versehen –, im Einigungsvertrag das in Westdeutsch- Ich befasse mich seit 1989 sehr intensiv mit dem land gewachsene HHG-Entschädigungsrecht auch auf Thema der Bewältigung des SED-Unrechts. die neuen Bundesländer zu übertragen. Dies ist damals Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2004 7793

Silke Stokar von Neuforn (A) vernünftig begründet worden. Das war eine politische sofern entgegenzukommen und ihre Gesundheitsschäden (C) Entscheidung. Ich halte diese nach wie vor für richtig. anzuerkennen! Das ist eine konkrete Maßnahme, die Sie Ich halte es auch für richtig, dass Rot-Grün den Weg der umsetzen können. Entschädigung über die Stiftung und die Ausweitung der Danke schön. Stiftung weitergegangen ist. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Was ist die Funktion eines Berichts? Hier ist ein sehr und bei der SPD) guter, inhaltlich spannender Bericht geliefert worden. In diesen Bericht sind Schlussfolgerungen aufgenommen worden, die auf den Aussagen des Bundesrechnungshofs Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: und anderer basieren. Auf der ersten Seite des Berichts Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Maria Michalk. steht, dass er eine Grundlage für die weiteren Diskussio- nen in den Fraktionen ist. In meiner Fraktion ist die Dis- Maria Michalk (CDU/CSU): kussion im Dezember abgeschlossen gewesen. Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion hat im Juni Es wird mit der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grü- vergangenen Jahres den Entwurf zum Dritten SED-Un- nen kein Abwicklungsgesetz zum Jahr 2005 geben. rechtsbereinigungsgesetz vorgelegt. In den Tagen davor (Hartmut Büttner [Schönebeck] [CDU/CSU]: und vor allem während der Beratungen hat sich immer Hört! Hört! Sehr gut!) wieder die Frage gestellt: Müssen und können wir noch etwas gutmachen? Zu meinem Wahlkreis gehört auch Wie man bei Rot-Grün so schön sagt: Basta! Das Thema Bautzen. Aber nicht nur deshalb beantworte ich diese ist damit gegessen. Ich möchte Ihnen den Wind aus den Frage immer wieder mit Ja. Segeln nehmen. Die HHG-Stiftung wird zum Jahre 2005 nicht abgewickelt. Wir müssen die Einzelschicksale betrachten. Ich will uns in dieser etwas emotionalen Debatte die bohrenden (Beifall des Abg. Hartmut Büttner [Schöne- Stasiverhöre, Knastnächte mit vorschriftsmäßig unter beck] [CDU/CSU]) der Decke liegenden Händen, das ewig brennende Licht, Wir haben im Dezember beschlossen, die Antragsfris- die Einteilung, wer wann essen oder seine Notdurft ver- ten zu verlängern. Wir haben beschlossen, die Stiftungs- richten kann, die ständigen Ängste und die Verpflich- mittel zu erhöhen. Ich habe die Anregung im Bericht ge- tung, danach Stillschweigen über das Geschehene zu be- lesen und zur Kenntnis genommen. Ich bin souverän wahren, den Rausschmiss aus einer Schule oder das genug, zu sagen: Wir, das Parlament, haben die Stiftun- nicht zugelassene Studium in Erinnerung rufen. (B) gen geschaffen und wir, das Parlament, werden darüber All das und viele weitere Diskriminierungen können (D) entscheiden, wie lange diese Stiftungen bestehen. An- wir nicht eins zu eins wieder gutmachen. Aber wir kön- sonsten ist der Bericht eine Handreichung aus dem In- nen heute den Opfern Respekt erweisen. Wir können ih- nenministerium, die ich gerne in die Überlegungen ein- nen heute eine Extrarente zubilligen, damit ihre Rente beziehe. nicht länger so viel geringer ist als die ihrer Peiniger. Meine Redezeit ist leider fast abgelaufen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Zuruf von der CDU/CSU: Gott sei Dank!) Wir alle in diesem Hohen Hause sind uns doch darin Ich möchte noch zu einem Punkt und dem Änderungsan- einig, dass wir das vereinte Deutschland haben, weil das trag der FDP etwas sagen. Ich glaube, dass wir nur wei- DDR-Regime zusammengebrochen ist, weil es Men- terkommen, wenn wir die Punkte, bei denen es möglich schen gab, die sich diesem Regime entgegengestellt ha- ist, interfraktionell weiter behandeln. ben. Das war – das will ich an dieser Stelle betonen – keine Selbstverständlichkeit. Deshalb bedarf es politi- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN scher Signale, die unterstreichen, dass Widerstand in ei- und bei der SPD) ner Diktatur und das Eintreten für Freiheit und Demo- kratie zentrale Werte sind, von denen heute unsere Das ist und bleibt mein Angebot. Das war eine gute Tra- gesamte Gesellschaft profitiert. dition in diesem Parlament. Die bisherigen einmaligen Haftentschädigungen sind Ich möchte Ihnen auch sagen, was die Länder machen – auch in ihrem Prozess der ständigen Vervollkomm- können. Ich bin mir nicht sicher, ob wir bei der Frage der nung, den Sie beschrieben haben, Herr Dreßen – richtig Begutachtung von Gesundheitsschäden wirklich wei- und wichtig. Wir wissen aber, dass sie keinen ausrei- terkommen, indem wir die Beweislast gesetzlich umkeh- chenden Ausgleich darstellen. Darin stimmen wir über- ren. Ich fordere Thüringen auf, mit gutem Beispiel vo- ein. ranzugehen. Ich fordere Sachsen auf, mit gutem Beispiel voranzugehen. Für die Begutachtung von Gesundheits- Die meisten Verfolgten sind nach der Entlassung aus schäden sind die Ämter in den Ländern zuständig. Nie- dem Gefängnis trotz vieler Bemühungen nicht mehr oder mand auf Bundesebene hält sie davon ab, damit mensch- nur unter erschwerten und zusätzlichen Anstrengungen lich, großzügig und angemessen umzugehen. Wenn Sie beruflich nach oben gekommen. Menschen, die sich dem mit dem Bundesrat zusammenarbeiten wollen, dann le- SED-Regime untergeordnet haben, hatten einen berufli- gen Sie bitte schön einen Antrag oder eine Resolution chen Entwicklungsvorsprung, der von vielen Opfern der vor. Fordern Sie die Länder auf, den betagten Leuten in- Diktatur auch nach der friedlichen Revolution nicht 7794 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2004

Maria Michalk (A) aufgeholt werden konnte. Deshalb haben wir den Aspekt Das sind natürlich enorme Summen. Aber ich möchte (C) der beruflichen Rehabilitierung in unseren Antrag auf- auf eines hinweisen: Anlässlich der zweiten und der drit- genommen. ten Lesung der Entwürfe eines Gesetzes zur Änderung rehabilitierungsrechtlicher Vorschriften – die so ge- Viele beziehen heute eine sehr niedrige Rente oder le- nannte Fristverlängerung, von der heute schon die Rede ben sogar von Sozialhilfe. Das ist umso mehr eine zum war –, die von der Regierungskoalition sowie von CDU/ Himmel schreiende Ungerechtigkeit, als nach Entschei- CSU und FDP eingebracht wurden, hat Kollege Hacker, dungen des Bundesverfassungsgerichts Mitgliedern von der, wie es heute scheint, eine Schlüsselfigur ist, in einer Zusatz- bzw. Sonderversorgungssystemen erhöhte Ren- Pressemitteilung erklärt: ten und sehr hohe Nachzahlungen gewährt werden muss- ten, auch wenn wir die dafür erforderlichen Mittel nicht Gemeinsam mit unserem Koalitionspartner haben eingeplant hatten. wir das Gesetz zur Änderung rehabilitierungsrecht- licher Vorschriften initiiert, dem sich die Bundes- Die Aufarbeitung des DDR-Unrechtsregimes ist – das tagsfraktionen von CDU/CSU und FDP vernünfti- will ich noch einmal unterstreichen – bis heute ein Pro- gerweise angeschlossen haben. zess, der durch immer wieder neu bekannt gewordene bzw. geschaffene Tatsachen in eine Schieflage geraten Ich betone, dass wir hier gestalterisch und zugunsten der ist. Vieles, was wir heute wissen, war uns nicht bekannt, Opfer zusammengearbeitet haben. Ich wünschte aber, als wir den Einigungsvertrag verhandelt und die entspre- wir könnten dieses Mal feststellen: Die Regierungskoali- chenden Gesetze verabschiedet haben. tion hat sich unserem Entwurf eines Dritten SED- Unrechtsbereinigungsgesetzes vernünftigerweise ange- In diesem Zusammenhang will ich daran erinnern, schlossen, zumal Bündnis 90/Die Grünen auf dem Par- dass wir als CDU/CSU-Fraktion mit der Pensionsforde- teitag im November 2003 in Dresden einen wesentlich rung bereits 2001 an der rot-grünen Mehrheit gescheitert weitreichenderen Antrag beschlossen und uns damit gute sind. Signale gegeben hat, was sich in sehr vernünftigen Ge- sprächen niedergeschlagen hat. Leider konnten sich die (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE Kollegen der Fraktion der SPD gegenüber ihrer Frak- GRÜNEN]: Aber vor 1998 hätten Sie es ma- tionsführung offensichtlich nicht durchsetzen. chen können!) (Günter Nooke [CDU/CSU]: Peinlich! Herr Natürlich haben dabei auch fiskalische Gesichtspunkte Scheffler, Sie sind der Einzige!) eine Rolle gespielt. Aber wie wir heute wissen – erst Ich bin zutiefst betrübt, dass uns eine einvernehmli- recht aus dem erwähnten Bericht –, ist auch die von der che Lösung zugunsten der benachteiligten Opfer nicht (B) Koalition favorisierte Stiftungslösung nicht zum Nullta- (D) gelungen ist. Es bleibt die Frage: Haben wir alle gemein- rif zu haben. Unser jetziger Gesetzentwurf enthält des- sam alles unternommen, damit sich niemand erneut halb niedrigere Sätze, die ich für die Öffentlichkeit noch missachtet fühlt? Da wir, die CDU/CSU-Fraktion, diese einmal nennen möchte. Frage nicht mit Ja beantworten können – Sie haben uns Eine monatlich zahlbare Opferpension ist in folgen- die Zustimmung verwehrt –, ist dies nicht die Stunde ei- den Fällen zu leisten: bei einer zu Unrecht erlittenen nes erfolgreichen Parlaments. Dies bleibt also eine stän- Freiheitsentziehung von einem bis zu zwei Jahren dige Aufgabe. Wir werden hier nicht locker lassen. 150 Euro monatlich, bei einer zu Unrecht erlittenen Frei- Ich bedanke mich. heitsentziehung, bei einer bescheinigten Verfolgungs- zeit oder einer bescheinigten verfolgungsbedingten Un- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) terbrechung der Ausbildung von zwei bis zu fünf Jahren 300 Euro monatlich, von fünf bis zu neun Jahren Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: 400 Euro monatlich und ab neun Jahren 500 Euro mo- Das Wort hat jetzt der Parlamentarische Staatssekretär natlich. Weiterhin soll die Summe bei der strafrechtli- Franz Thönnes. chen Rehabilitierung von jetzt 306,78 Euro auf 500 Euro je Haftmonat erhöht werden, weil die bisherige Rege- lung nach unserer Auffassung den besonderen Verhält- Franz Thönnes, Parl. Staatssekretär bei der Bundes- nissen der politischen Haft in der DDR nicht Rechnung ministerin für Gesundheit und Soziale Sicherung: trägt. Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! In der Geschichte Deutschlands gab es zwei Antragsberechtigt sind ungefähr noch 150 000 Perso- langjährige Diktaturen, denen eine Vielzahl von Men- nen, wovon 55 Prozent einer Verfolgungszeit von bis zu schen auch im Innern zum Opfer gefallen ist. Besonders zwei Jahren ausgesetzt gewesen sind. Den Steuerzahler leiden mussten diejenigen, die sich für Freiheit, Demo- würde die Schließung der bestehenden Gerechtigkeitslü- kratie und Menschenwürde eingesetzt und Widerstand, cke, die ich eben beschrieben habe, jährlich etwa mit ob nun im Großen oder im Kleinen, geleistet haben. Es 180 Millionen Euro belasten, aufgeteilt auf Bund und waren diejenigen, die wegen ihrer Rasse, ihres Glaubens Länder in einem Verhältnis von 60 zu 40. Durch die Er- oder ihres politischen Bekenntnisses verfolgt, inhaftiert, höhung der Entschädigung bei der strafrechtlichen Reha- misshandelt oder gar getötet wurden. Deswegen werden bilitierung entstehen Kosten in Höhe von 409 Millionen wir uns immer wieder vor dem Hintergrund unserer Ge- Euro. schichte mit dem Nationalsozialismus und der SED-Dik- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2004 7795

Parl. Staatssekretär Franz Thönnes (A) tatur befassen müssen. Immer wieder wird sich die Frage Vorhin wurde auf einen Bericht des Bundesministeri- (C) nach einem gerechten Umgang mit den Opfern stellen. ums des Inneren eingegangen und daraus zitiert. Der Klarheit halber möchte ich ein Zitat hinzufügen – Herr Zur verantwortlichen Beantwortung dieser Frage ge- Vaatz, die folgende Passage auf Seite 39 bezieht sich auf hört aber auch die Ehrlichkeit, dass es wohl kaum eine Ihre Beschreibung des Defizits –: alles abdeckende Wiedergutmachung oder Gerechtigkeit geben kann. Viele von uns erhalten immer wieder Briefe Eine Vermögensaufstockung ist geboten, um der von Betroffenen der SED-Diktatur, denen unermessli- Stiftung die abschließende Erfüllung ihrer Aufga- ches Leid und Demütigungen widerfahren sind. Viele ben bis zum Jahre 2005 zu ermöglichen. Dabei soll- von ihnen leiden noch heute unter den hieraus resultie- ten aus dem Stiftungsvermögen zunächst die Perso- renden gesundheitlichen Folgen. Je mehr man nach Lö- nal- und Sachkosten bis 2005 abgedeckt und im sungen für einen Ausgleich sucht, desto klarer wird, dass Übrigen Mittel zur Gewährung von Unterstützungs- man das Geschehene in Geld wird nie umfassend ent- leistungen entnommen werden. schädigen können. Damit sind dem Ausgleich, auch um mögliches neues Unrecht zu verhindern, Grenzen ge- Es heißt weiter: setzt. Die Finanzierung der Abwicklung aus dem Bundes- Es gilt deshalb, das zu behandelnde Thema mit Ernst haushalt würde für das Haushaltsjahr 2005 nochmals und Sorgfalt zu diskutieren, Erreichtes deutlich zu ma- Sonderzuweisungen an beide Stiftungen erfordern, chen und angesichts der Rahmenbedingungen keine fal- die aufgrund entsprechender Kostenschätzungen im schen Hoffnungen zu wecken. Seit der Wiedervereini- Zusammenhang mit der Einbringung des Abwick- gung haben wir, das geeinte Deutschland, neben der lungsgesetzentwurfs anzustellen und im Haushalts- gigantischen und geschichtlich einmaligen Aufgabe, ansatz zu berücksichtigen wären. Ferner müsste auf gleichwertige Arbeits- und Lebensverhältnisse herzu- dieser Grundlage auch der Fehlbedarf in 2004 stellen, die große Verantwortung, die Opfer des SED-Re- durch zusätzliche Zuweisungen aus dem Bundes- gimes für erlittenes Unrecht zu entschädigen und zu re- haushalt ausgeglichen werden. habilitieren. Dies wird im zuständigen Ausschuss beraten werden 1992 und 1994 hat die damalige CDU/CSU-geführte müssen. Bundesregierung ihre SED-Unrechtsbereinigungsge- setze in das Parlament eingebracht. Wir alle wissen je- Ich möchte noch etwas hinzufügen, damit nicht der doch: Von den Opferverbänden, aber auch in der Öffent- Eindruck entsteht, als hätte diese Bundesregierung sozu- lichkeit wurde wegen des zögerlichen Vorgehens, wegen sagen beschlossen, die Stiftungen aufzulösen. erheblicher Regelungsmängel und wegen der Schieflage (B) (Hartmut Büttner [Schönebeck] [CDU/CSU]: (D) im Vergleich zu den vermögensrechtlichen Rückgabere- Genau das steht drin! – Gegenruf der Abg. gelungen viel Kritik geäußert. Herr Kollege Dreßen hat Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE das hier angeführt. GRÜNEN]: Unsinn! Das ist doch eine Ente!) Hinzuzufügen ist, dass es eine die Opfergruppen spal- tende Entschädigungsregelung gegeben hat. Es wurde – Ganz ruhig. Reagieren Sie doch nicht so nervös, Herr nicht berücksichtigt, inwiefern gleiches Haftschicksal Kollege! sozusagen entschädigt werden kann. Die Kritik an der (Erika Lotz [SPD]: Der ist die ganze Zeit Nichtaufnahme von Zwangsausgesiedelten in das Ver- schon so nervös!) waltungsrechtliche Rehabilitierungsgesetz war ebenfalls gerechtfertigt. Das gilt auch für alle Regelungen, durch Hören Sie ganz einfach zu. die die Haftentschädigung in Ost und West unterschied- lich behandelt wurden. 7. Oktober 1992, Drucksache 12/3212: In der Begrün- dung zum Regierungsentwurf des Kriegsfolgenbereini- Sie haben damals die Anträge der SPD und des Bünd- gungsgesetzes wurde im Übrigen von einer Leistungsge- nisses 90/Die Grünen in diesem Bereich abgelehnt. währung etwa bis zum Jahre 2005 ausgegangen. Hiervon Auch das muss erwähnt werden, wenn wir heute offen ging dementsprechend auch die Stellungnahme des und ehrlich über die Frage der so genannten Opferpensi- Haushaltsausschusses zur Finanzierbarkeit dieses Teils onen sprechen wollen. Dazu gehört aber auch, die durch der Leistungsgewährung nach dem Kriegsfolgenbereini- die Regierung unter Bundeskanzler Schröder seit dem gungsgesetz aus. 1992 – Sie kennen die damaligen Regierungswechsel beschlossenen Verbesserungen zu Mehrheitsverhältnisse im Deutschen Bundestag. Die erwähnen. In der Debatte wurde darauf hingewiesen. Mehrheit war auf der rechten Seite dieses Hauses. Es muss ergänzt werden, dass neben der Erhöhung Der Bundesrechnungshof hat dann noch einmal nach- der Mittel für die Stiftung für ehemalige politische gelegt, aber ich bin Frau Stokar von Neuforn sehr dank- Häftlinge die Verlängerung der Antragsfristen beschlos- bar für ihren Hinweis, dass das hier in diesem Parlament sen wurde. Zudem wurden die Ausgleichsleistungen für entschieden werden muss. Ich denke, das Parlament wird die wegen politischer Verfolgung in der ehemaligen auch entscheiden. DDR beruflich benachteiligte Opfergruppe im berufli- chen Rehabilitierungsrecht angehoben, und zwar mit (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Blick auf diejenigen, die sich in einer wirtschaftlichen DIE GRÜNEN – Hartmut Büttner [Schöne- Notlage befinden. beck] [CDU/CSU]: Genau das!) 7796 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2004

Parl. Staatssekretär Franz Thönnes (A) Das sollten wir alle schlichtweg im Hinterkopf haben, Die Menschen in der ehemaligen DDR, die für Frei- (C) wenn es jetzt um die beiden Gesetzentwürfe geht. Ich halte heit und Demokratie gekämpft haben und dafür verfolgt sie für sehr problematisch, weil durch die Zahlung einer pau- wurden, verdienen unseren vollsten Respekt. Sie haben schalen Leistung für politisch Verfolgte ganz unterschiedli- Anspruch auf eine gerechte Entschädigung. Den entspre- che und unterschiedlich schwere Schicksale vollkommen un- chenden gesetzlichen Rahmen haben wir in den letzten differenziert abgegolten werden könnten. Es ist unbestritten, Jahren geschaffen. Auch deshalb steht die Bundesregie- dass es in der Vergangenheit Probleme bei der Anerken- rung den vorliegenden Gesetzentwürfen ablehnend ge- nung verfolgungsbedingter Gesundheitsschäden gegeben genüber. Anstatt nicht einlösbare Versprechungen zu hat. Aber wenn jetzt von der FDP der Vorschlag gemacht machen, ziehen wir es vor, die gegebenen weitreichen- wird, Vermutungstatbestände für eine pauschale Aner- den Möglichkeiten offensiv auszuschöpfen. kennung haftbedingter Gesundheitsschäden einzuführen, (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ muss man sagen: Die Rechtsvermutung impliziert auch DIE GRÜNEN – Hartmut Büttner [Schöne- schlichtweg die Widerlegbarkeit. beck] [CDU/CSU]: Offensiv, aber die Stiftun- Angesichts der Tatsache, dass die Fälle, um die es gen schließen! Ganz schwach! Aber er rudert hier geht, von den Landesverwaltungen bereits zweimal langsam zurück!) überprüft worden sind, wird es in dem einen oder ande- ren Fall wahrscheinlich sehr leicht fallen, bei einer Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Rechtsvermutung auch nachzuweisen, dass bei einer Ich schließe die Aussprache. dritten Prüfung anders entschieden werden könnte. Hier Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzent- werden bei den Betroffenen Hoffnungen geweckt, die wurf der Fraktion der CDU/CSU zur Bereinigung von letztendlich nicht erfüllt werden können. SED-Unrecht. Es liegt ein Änderungsantrag der Abge- Die vorgeschlagene Regelung würde im Übrigen auch ordneten Petra Pau und Dr. Gesine Lötzsch vor, über den keine Erleichterung für diejenigen bringen, die weniger wir zuerst abstimmen. Wer stimmt für diesen Ände- als sechs Monate inhaftiert waren; denn sie beinhaltet rungsantrag auf Drucksache 15/2433? – Wer stimmt da- keine Regelung für diejenigen, die weniger als fünf Mo- gegen? – Gibt es Enthaltungen? – Der Änderungsantrag nate in Haft waren, die im Untersuchungsgefängnis wa- ist abgelehnt worden mit den Stimmen des ganzen Hau- ren und vielleicht sogar noch mehr gepeinigt wurden, ses gegen die Stimme der Abgeordneten Pau. oder für diejenigen, die kurz inhaftiert waren, aber an- Der Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung schließend unter massivem Druck und unter Zerset- empfiehlt auf Drucksache 15/2412, den Gesetzentwurf zungsmaßnahmen und Aktivitäten der Stasi gelitten ha- der CDU/CSU abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem ben. Dieser Vorschlag erfasst also einerseits gar nicht Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. – (B) (D) alle möglichen Fälle und schert andererseits Einzel- Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf schicksale in Wirklichkeit über einen Kamm. ist in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitions- Auf die Frage, woher das Geld kommen soll – weit fraktionen gegen die Stimmen von CDU/CSU und FDP über 100 Millionen Euro; 150 bis 500 Euro monatlich –, bei einer Enthaltung abgelehnt worden. Damit entfällt lassen Ihre beiden Entwürfe die Antwort offen. nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung. (Maria Michalk [CDU/CSU]: Das habe ich Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktion doch gesagt!) der FDP zur Bereinigung von SED-Unrecht. Der Aus- schuss für Gesundheit und Soziale Sicherung empfiehlt Pauschalentschädigungen, wie sie im Gesetzent- auf Drucksache 15/2412, den Gesetzentwurf abzuleh- wurf in Form einer sogenannten Opferpension vorge- nen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustim- schlagen werden, können in den Rehabilitierungsgeset- men wollen, um das Handzeichen. – Gegenstimmen? – zen nicht geregelt werden. Das ist auch deshalb Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist in zweiter Bera- ausgeschlossen, weil die bundesdeutsche Entschädi- tung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen gungsgesetzgebung für die Verfolgung von Menschen die Stimmen der gesamten Opposition abgelehnt wor- unter der Nazigewaltherrschaft keine rentenrechtlichen den. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die Anwartschaften, sondern Leistungen nach dem Bundes- weitere Beratung. entschädigungsgesetz vorsieht. Es ist kein Ausspielen Ich rufe die Tagesordnungspunkte 7 a bis 7 e auf: beider Gruppen. Aber weil wir das Recht im Auge be- halten, müssen wir schlichtweg zu dem Ergebnis kom- a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Gabriele men: Eine zusätzliche Pauschalentschädigung für SED- Hiller-Ohm, Sören Bartol, Dr. Herta Däubler- Opfer würde zu einer Bevorzugung dieser Opfergruppe Gmelin, weiterer Abgeordneter und der Fraktion gegenüber NS-Verfolgten führen. Auch da gilt es, die der SPD sowie der Abgeordneten Ulrike Höfken, Maßstäbe der Gerechtigkeit im Auge zu behalten. Volker Beck (Köln), , weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNIS- Bei der Gesetzgebung für die SED-Opfer haben die SES 90/DIE GRÜNEN Aspekte Inflationsrate und gestiegene Leistungsfähigkeit des Staates zu einer Festsetzung der Kapitalentschädi- Lebensmittelüberwachung effizienter gestalten gung in Höhe von 600 DM für jeden angefangenen Haft- – Drucksache 15/2339 – monat geführt. Damit ist viel getan worden, um ein Überweisungsvorschlag: Stück Ausgleich für das erfahrene Leid und die Pein der Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Opfer zu schaffen. Landwirtschaft (f) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2004 7797

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer (A) Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Überweisungsvorschlag: (C) Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Haushaltsausschuss Landwirtschaft (f) Ausschuss für Bildung, Forschung und b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ursula Technikfolgenabschätzung Heinen, Peter H. Carstensen (Nordstrand), , weiterer Abgeordneter und der Frak- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die tion der CDU/CSU Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Wider- spruch höre ich nicht. Dann ist so beschlossen. Wirksamere und breitere Lebensmittelüber- Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst wachung und -kontrolle in Deutschland die Abgeordnete Gabriele Hiller-Ohm. – Drucksache 15/2386 – Überweisungsvorschlag: Gabriele Hiller-Ohm (SPD): Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich bin Landwirtschaft (f) froh darüber, dass wir heute im Bundestag über das so Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit wichtige Thema Lebensmittelsicherheit diskutieren kön- Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Haushaltsausschuss nen. Lebensmittelsicherheit geht uns alle an. Wir müssen uns auf die Qualität unserer Lebensmittel verlassen kön- c) Beratung des Berichts des Ausschusses für Bil- nen. Wir haben in Deutschland gute Standards in der Le- dung, Forschung und Technikfolgenabschätzung bensmittelsicherheit erreicht. Allerdings hapert es bei (17. Ausschuss) gemäß § 56 a der Geschäftsord- der Umsetzung dieser guten Standards noch erheblich. nung Deshalb haben wir unseren Antrag eingebracht. Technikfolgenabschätzung Warum müssen wir jetzt etwas tun? Gerade in den letzten Wochen und Monaten ist die Öffentlichkeit im- hier: TA-Projekt – „Potenziale zur Erhöhung mer wieder von Berichten über Lebensmittelskandale der Nahrungsmittelqualität – Entwicklungsten- aufgeschreckt worden. Ich nenne nur einige Beispiele: denzen bei Nahrungsmittelangebot und -nach- Acrylamid, Nitrofuran, Dioxin und jetzt schon wieder frage und ihre Folgen“ BSE. Die Zeitungen haben über Lücken im BSE-Kon- – Drucksache 15/1673 – trollsystem berichtet. Überweisungsvorschlag: Was ist hier in den letzten Wochen gelaufen? Wir alle Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und haben den BSE-Skandal Ende 1999 und vor allem die Landwirtschaft (f) zunächst ungeahnten Ausmaße dieses Skandals noch (B) Ausschuss für Bildung, Forschung und (D) Technikfolgenabschätzung sehr gut vor Augen. Der BSE-Skandal hat zu einer tiefen Verunsicherung in der Bevölkerung, bei den Verbrauche- d) Beratung des Berichts des Ausschusses für Bil- rinnen und Verbrauchern, geführt. Das Vertrauen konnte dung, Forschung und Technikfolgenabschätzung langsam wieder zurückgewonnen werden. Der Rind- (17. Ausschuss) gemäß § 56 a der Geschäftsord- fleischmarkt hat sich langsam wieder erholt. nung (Ursula Heinen [CDU/CSU]: Deshalb habt ihr Technikfolgenabschätzung doch nicht den Antrag eingebracht?) hier: TA-Projekt – „Potenziale zum Ausbau Jetzt hat uns das Thema BSE erneut eingeholt. Die öf- der regionalen Nahrungsmittelversorgung – fentliche BSE-Debatte wurde durch unseren Kollegen Entwicklungstendenzen bei Nahrungsmittel- von der FDP, Herrn Goldmann, zusätzlich angeheizt. angebot und -nachfrage und ihre Folgen“ (Zuruf von der FDP: Guter Mann!) – Drucksache 15/1674 – Sie, Herr Goldmann, haben für eine billige Schlagzeile Überweisungsvorschlag: in der „Bild“-Zeitung zusätzlich Ängste in der Bevölke- Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und rung geschürt, Landwirtschaft (f) Ausschuss für Bildung, Forschung und (Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Technikfolgenabschätzung NEN]: Pfui!) e) Beratung des Berichts des Ausschusses für Bil- Ängste, die unbegründet sind. dung, Forschung und Technikfolgenabschätzung (17. Ausschuss) gemäß § 56 a der Geschäftsord- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ nung DIE GRÜNEN) Technikfolgenabschätzung Sie haben der Ministerin Künast in der „Bild“-Zeitung vom 12. Januar 2004 Schlampereien unterstellt. hier: TA-Projekt – „Potenziale für eine verbes- (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Unglaubli- serte Verbraucherinformation – Entwick- che Schlamperei!) lungstendenzen bei Nahrungsmittelangebot und -nachfrage und ihre Folgen“ Hat es Schlampereien gegeben? – Drucksache 15/1675 – (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Ja!) 7798 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2004

Gabriele Hiller-Ohm (A) – Ja, Herr Goldmann, es hat Schlampereien gegeben. sen, was in den Gesetzen steht. Auch bezüglich BSE, (C) Herr Kollege Goldmann, haben wir ein vorbildliches (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Richtig!) Kontrollsystem aufgebaut. Dieses Kontrollsystem wird Aber nicht Ministerin Künast hat geschlampt, sondern jetzt um ein elektronisches Warnsystem erweitert, damit die Betriebe, die nicht getestet haben, haben geschlampt, die aufgetretenen Kontrolllücken endgültig geschlossen Herr Kollege Goldmann. werden können. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Wir haben also gute Standards in Deutschland. Trotz- DIE GRÜNEN) dem kommt es immer wieder zu Problemen. Warum ist das so, meine Damen und Herren? Die Durchführung Richtig ist: Die Ministerin hat die ihr vorliegenden Infor- und der Vollzug der Lebensmittelkontrolle liegen nicht mationen über Kontrolllücken unverzüglich an die Län- in Händen des Bundes. Durchführung und Vollzug der der weitergegeben, die für die BSE-Kontrolle zuständig Lebensmittelkontrolle gehören in den Verantwortungs- sind. bereich der Länder. Die Länder tragen hierfür Verant- Ich will eines ganz klar sagen: Wir sind für eine wortung. Diese Verteilung der Zuständigkeiten ist an lückenlose Aufdeckung der Kontrollpannen. Wir werden sich nicht schlecht. Es tun sich hier jedoch schwer wie- alles dafür tun, die schwarzen Schafe dahin zu stellen, gende Schwachstellen auf: Es fehlt ein länderübergrei- wohin sie gehören, nämlich an den Pranger. fendes Gesamtkonzept, es fehlen eine Vereinheitlichung der Kontrollen und eine Vernetzung, um bundesweit auf (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Ja!) Ergebnisse zugreifen zu können. Wir sind dafür, dass kriminelle Handlungen verfolgt und (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Aha!) auch schwer geahndet werden. Es fehlt eine Vernetzung zwischen den regionalen Prüf- (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Jawohl!) stellen. Diese Schwachstellen, meine Damen und Her- Sie, Herr Goldmann von der FDP-Fraktion, ren, dürfen wir uns nicht länger leisten. (Hans-Michael Goldmann [FDP]: (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Da haben Ich bin auch dafür!) Sie hundertprozentig Recht!) versuchen, den Eindruck zu vermitteln, Deutschland sei Wir fordern deshalb erstens bundeseinheitliche Rege- mit einer Bananenrepublik vergleichbar, in der krimi- lungen. Wir brauchen ein Gesamtkonzept, um die nelle Machenschaften das Geschehen bestimmen und die Überwachungspraxis in den Ländern effektiver und vor Regierung wegschauen würde. allen Dingen auch kostengünstiger zu gestalten. Gerade (B) in Zeiten knapper Ressourcen müssen wir unsere Kräfte (D) (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Das glaubst bündeln. du doch selbst nicht!) Zweitens fordern wir regelmäßige und auch vorsor- Das entspricht aber nicht der Realität, in der wir hier in gende Kontrollen. Deutschland leben. Das wissen Sie, Herr Goldmann, auch ganz genau. (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Gibt es doch schon lange!) ( [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Natürlich weiß er das! Panikma- Die Betriebe, die überwacht werden müssen, müssen che ist das!) auch überwacht werden, und zwar in den Abständen, die notwendig sind. Das ist in Deutschland leider noch nicht Wie sieht es bei uns in Deutschland aus, meine Da- überall der Fall und hier müssen wir Verbesserungen men und Herren? Die rot-grüne Bundesregierung hat die vornehmen. Lebensmittelüberwachung einen ganz entscheidenden Schritt nach vorne gebracht. Sie hat Versäumnisse der (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Ist schon Vorgängerregierung erfolgreich abgearbeitet. längst vereinbart!) (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Wo denn?) Drittens fordern wir ein zeitnahes Vorliegen der Er- gebnisse. Viele Prüflaboratorien sind nicht in der Lage, Das Bundeslandwirtschaftsministerium wurde grundle- die erforderlichen Untersuchungsaufgaben jederzeit in gend umgebaut. vollem Umfang wahrzunehmen. Probenuntersuchungen (Lachen des Abg. Hans-Michael Goldmann und die Erstellung von Gutachten dauern oft zu lange. [FDP]) Das können wir uns nicht leisten. Wir dürfen nicht so viel Zeit verstreichen lassen, bis das Problem im wahrs- Wir haben heute das Bundesinstitut für Risikobewertung ten Sinne des Wortes gegessen ist. und das Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebens- mittelsicherheit. Diese Aufteilung ist notwendig, denn Viertens fordern wir die Einrichtung und Vernetzung damit haben wir die Trennung von Risikomanagement von Qualitätsmanagementsystemen. Wir brauchen diese und Risikobewertung zum Schutz der Verbraucherinnen ganz dringend, um die nötige Transparenz für die Ver- und Verbraucher in Deutschland vollzogen. Die Grund- braucherinnen und Verbraucher herzustellen. Der Staat lagen für eine gute Lebensmittelüberwachung in muss nicht alles machen, auch die Produzenten sind Deutschland sind geschaffen. Wir haben die richtigen gefordert. Mit dem QS-Siegel hat sich die Lebensmittel- Gesetze und auch die Institutionen zur Umsetzung des- industrie zu Transparenz, Rückverfolgbarkeit und Do- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2004 7799

Gabriele Hiller-Ohm (A) kumentation der gesamten Nahrungsmittelkette ver- mit uns gemeinsam die finanzielle Situation der Städte (C) pflichtet. Dies ist ein richtiger und auch ganz wichtiger und Gemeinden zu verbessern. Schritt, um die Lebensmittelsicherheit in Deutschland (Peter Bleser [CDU/CSU]: Ihr habt uns ja weiter nach vorne zu bringen. nicht gelassen!) Doch auch hier gibt es Verbesserungspotenziale. Ich Sie haben diese Chance vertan. nenne ein Beispiel: Wie kann es sein, dass etwa in Ham- burg 90 Prozent der Rinder, die nicht auf BSE getestet (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ wurden, aus QS-zertifizierten Schlachthöfen stammen? DIE GRÜNEN) Das, meine Damen und Herren, darf eigentlich nicht Sie haben durch Ihre Blockadepolitik die Städte und Ge- sein. Dieser Widerspruch muss dringend aufgeklärt wer- meinden um mehrere Hundert Millionen Euro gebracht. den. Sich jetzt hier hinzustellen und am Haushalt vorbei Geld (Beifall des Abg. Friedrich Ostendorff für Länderaufgaben einzufordern ist unseriös. Es ist [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) mehr als scheinheilig und ein ganz klarer Beweis Ihrer Unglaubwürdigkeit. Beim Qualitätsmanagement müssen wir Schwachstel- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ len überwinden. Das ist ganz wichtig, um das Vertrauen DIE GRÜNEN – Widerspruch bei der CDU/ der Bürgerinnen und Bürger zurückzugewinnen. CSU) (Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: – Ja, da murmeln Sie mal nur! Richtig!) Aber regen Sie sich ab; Sie haben die Gelegenheit, Wir wollen eine effizientere Lebensmittelüberwa- Ihre Seriosität noch einmal unter Beweis zu stellen. chung in Deutschland. Deshalb brauchen wir ganz drin- Dann können Sie sich bewähren. Es wird nämlich im gend die Umsetzung der Allgemeinen Verwaltungsvor- Bundesrat in Kürze zum Schwur kommen. Dort müssen schrift über Grundsätze zur Durchführung der amtlichen Sie der Verwaltungsvorschrift des Bundes Ihre Zustim- Überwachung lebensmittelrechtlicher und weinrechtli- mung geben. Ich bin sehr gespannt, ob Ihre Kolleginnen cher Vorschriften. Die Bundesregierung hat diese Ver- und Kollegen dort Ernst machen und ihre Hand für die waltungsvorschrift auf den Weg gebracht. Wir brauchen Verwaltungsvorschrift des Bundes und damit für mehr sie ganz dringend, vor allen Dingen deshalb, weil uns die Lebensmittelsicherheit in Deutschland heben werden. EU bereits im Nacken sitzt. Die Europäische Kommis- sion hat gerade in der letzten Zeit immer wieder die (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) (B) mangelnde Kommunikation zwischen Bundes- und Län- (D) derebene in Deutschland bemängelt. Wir brauchen des- halb ganz dringend eine nationale Koordinierungs- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: stelle. Für diese Aufgabe wäre das Bundesamt für Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Ursula Heinen. Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit zustän- (Beifall bei der CDU/CSU) dig; es ist dafür ideal geeignet.

Sie, meine Damen und Herren von der CDU/CSU- Ursula Heinen (CDU/CSU): Fraktion, haben sich ebenfalls mit dem Thema Lebens- Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! mittelsicherheit befasst und einen Antrag vorgelegt. Mit Gar keine Frage: Die Lebensmittelkontrolle ist eines der der Überschrift Ihres Antrages stimmen wir überein. Sie entscheidenden Instrumente eines effizienten, umfassen- wollen eine wirksamere und breitere Lebensmittelüber- den, wirksamen Verbraucherschutzes. Ich glaube, da- wachung und -kontrolle in Deutschland. Das wollen rüber gibt es in diesem Hause überhaupt keinen Streit. auch wir. Ich bin erleichtert, dass wir es jetzt, nach fast zweijähri- ger Diskussion, geschafft haben, das Thema Lebensmit- (Zuruf von der CDU/CSU: Können wir ab- telüberwachung auf die Tagesordnung des Deutschen stimmen?) Bundestages zu setzen. Wie aber stellen Sie sich das vor? Sie fordern, der Bund Schon als wir in der letzten Legislaturperiode den ers- solle die verbesserte Lebensmittelüberwachung bezah- ten Entwurf des Verbraucherinformationsgesetzes debat- len. Da sagen wir: Stopp! Lebensmittelkontrolle ist Län- tiert haben, haben wir gesagt, dass erst die Lebensmittel- dersache. Wir sehen sehr wohl das Problem der schwie- überwachung in Deutschland richtig funktionieren muss, rigen Finanzausstattung der Länder und vor allem der bevor wir uns das Verbraucherinformationsgesetz vor- schwierigen Finanzausstattung der Kommunen. Wir ha- nehmen können; denn wenn wir die Verbraucher nicht ben deshalb mit viel Kraft eine weit reichende Gemein- seriös über Ergebnisse informieren können, ist jede In- definanzreform auf den Weg gebracht. formation nichts wert. (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Auf den (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Weg, ja!) Kern unseres Kontrollsystems ist die Arbeit der Kon- Wir haben das getan, um den Gemeinden und Städten trolleure vor Ort; was sie machen, hilft wirklich weiter. wieder auf die Beine zu helfen. Sie, meine Damen und Bei Ihrer Rede, Frau Hiller-Ohm, hatte ich den Ein- Herren von der CDU/CSU-Fraktion, hatten die Chance, druck, dass Sie sich mit dem Thema überhaupt nicht 7800 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2004

Ursula Heinen (A) befasst haben. Sie meinen, das Gesetz sei ein reines (Matthias Weisheit [SPD]: Das ist richtig!) (C) BSE-Verhinderungsgesetz. Aber es geht hier nicht allein endlich auf den Weg gebracht wird. Mit ihr haben wir um BSE. eine Chance, das Auseinanderdriften der einzelnen Län- (Gabriele Hiller-Ohm [SPD]: Sie haben nicht der in diesem Bereich zu verhindern und sie zusammen- zugehört!) zubringen. Wir brauchen einheitliche Verfahren, die ein gleichmäßig hohes Niveau gewährleisten. Ich nenne Ihnen einmal die entsprechenden Zahlen aus meiner Heimatstadt Köln: In Köln gibt es 15 städtische (Beifall bei der CDU/CSU) Kontrolleure, die tagtäglich unterwegs sind. Diese Allerdings ist nicht alles gut, was gut gemeint ist. Ei- 15 Kontrolleure müssen 12 200 Betriebe überwachen. nigen Punkten im Antrag der Koalitionsfraktionen kön- Hinzu kommt die Ahndung von Verstößen gegen die nen wir deshalb nicht zustimmen. Sie wollen einen star- Kennzeichnungspflicht, etwa das Haltbarkeitsdatum ren zweijährigen Kontrollrhythmus festlegen und oder Inhaltsstoffe betreffend. Dass die Arbeit notwendig bundesweite Überwachungsprogramme auflegen bzw. ist, belegen die Statistiken. Sie sprachen eben die Statis- den Ländern die Pflicht zur Erarbeitung von bestimmten tiken hinsichtlich BSE an. Da gab es gerade einmal Überwachungsprogrammen auferlegen. Das wird der 300 Fälle, in denen die Angaben nicht genau gestimmt Sache nicht zwangsläufig nutzen. Wir brauchen eher haben. Allein in Köln, Frau Hiller-Ohm, gab es im Jahr eine bedarfsgerechte Flexibilität, die gerade bei der stör- 2002 403 Strafverfahren, 754 Bußgeldverfahren, 65 Be- anfälligen und vielen Schwankungen unterworfenen Le- triebsschließungen und 566 Verstöße gegen die Kenn- bensmittelüberwachung erforderlich ist. Wenn wir in zeichnungspflicht. Die Kosten der Lebensmittelüber- Richtung eines starren Rasters gehen, bekommen wir wachung für die Stadt Köln lagen bei knapp noch mehr Bürokratie und Papier. Letztendlich wird das 6 Millionen Euro. Das ist die Dimension, über die wir der Kontrolle und der Überwachung nicht nutzen. hier sprechen. Wenn Sie – wie eben geschehen – lapidar sagen, mit der Gemeindefinanzreform helfen wir den (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Kommunen, dann kann ich nur sagen: Schauen Sie sich Hans-Michael Goldmann [FDP]) diese Zahlen aus Köln an! Sie werden dann sehen, dass das, was Sie auf den Weg gebracht haben, um eine bes- Zudem wird den Besonderheiten der Länderstruktu- sere finanzielle Ausstattung der Kommunen zu errei- ren in der Verwaltung nicht Rechnung getragen. Hier chen, bei weitem nicht ausreicht. sind offenere Regelungen erforderlich, die auch die un- terschiedlichen Strukturen in den einzelnen Bundeslän- (Beifall bei der CDU/CSU) dern berücksichtigen. Wir können den Ländern nicht auferlegen, ihre Verwaltungsstrukturen komplett über Deshalb haben wir unseren Antrag eingebracht. (B) den Haufen zu werfen. Man sollte schon zusehen, dass (D) Weil mit der staatlichen Kontrolle – auch das haben man im Rahmen der Verwaltungsvorschrift den Ländern die Zahlen gerade gezeigt – kaum alle in Verkehr ge- noch einen eigenen Spielraum gibt. brachten Waren untersucht werden können, muss dieses Hinzu kommt, dass die Bund-Länder-Koordination System durch private Eigenkontrollen und Meldepflich- erheblich verbessert werden muss. Das Bundesamt für ten abgerundet werden. Anders ist eine vernünftige Ar- Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit ist schon beit nicht möglich. angesprochen worden. Die Koordinierungsfunktion, ob- Wir müssen aber auch ehrlich sein. Schlagzeilen über gleich im Gesetz vorgesehen, ist überhaupt noch nicht den einen oder anderen Lebensmittelskandal rücken die richtig ausgeprägt. Es gibt Doppelzuständigkeiten zwi- Lebensmittelüberwachung insgesamt in ein negatives schen dem Bundesamt, dem Bundesinstitut für Risikobe- Licht. Das ist aber ein falscher Eindruck; denn insgesamt wertung und den Ländern. Sie sind unnötig und über- funktioniert sie ganz gut. Wir unterhalten uns hier da- flüssig. Wir könnten wesentlich besser arbeiten, wenn rüber, wie Verbesserungen in dem einen oder anderen wir die Personalstrukturen anders nutzen und diese Dop- Bereich erreicht werden können, vor allen Dingen was pelzuständigkeiten verhindern würden. das zügige Abwickeln der Lebensmittelkontrollen an- Schließlich brauchen wir – auch dieses Thema ist geht. schon angesprochen worden – ein besseres Finanzie- Der Bund hat auf die Lebensmittelkrisen der vergan- rungskonzept für den Bund und die Länder. Wir drü- genen Jahre nicht immer angemessen reagiert. Das hatte cken den Ländern immer mehr Aufgaben auf. Man meistens institutionelle Gründe. Es ist deshalb zum ei- denke nur daran, dass ab April auch das Vorhandensein nen erforderlich, die Zusammenarbeit zwischen Bund gentechnisch veränderter Bestandteile bzw. solcher Zu- und Ländern wesentlich besser und präziser zu regeln, taten kontrollierbar sein muss. Damit wird den Ländern als es heute der Fall ist. Zum anderen müssen in der Tat bzw. den Kommunen wieder eine neue Aufgabe übertra- – darin stimmen wir alle überein – die Verfahren zur Le- gen, ohne dass sie eine bessere Finanzausstattung erhal- bensmittelkontrolle der einzelnen Länder angeglichen ten. und untereinander entsprechend abgestimmt werden. In- (Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/ sofern begrüßen wir – das ist gar keine Frage –, dass die CSU]: Kosten für die Bundesregierung null! Allgemeine Verwaltungsvorschrift über die Grundsätze Erzählen, was das kostet, kann sie auch nicht!) zur Durchführung der amtlichen Überwachung lebens- mittel- und weinrechtlicher Vorschriften – das ist eine Lediglich das Land Niedersachsen ist vorbildlich. nur schwer verständliche Überschrift – Denn es unterstützt seine Kommunen bei der Lebensmit- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2004 7801

Ursula Heinen (A) telüberwachung und -kontrolle. Dort gibt es pro Jahr und Vor diesem Hintergrund bin ich sehr dankbar, dass (C) Einwohner 3 Euro zur Finanzierung der Lebensmittel- man sich in den beiden heute zur Debatte stehenden An- kontrolle. trägen in dieser Frage einig ist. Mehr Ressourcen und mehr Personal in der Lebensmittelüberwachung zu (Zuruf von der SPD: Seit wann?) schaffen ist Konsens in diesem Parlament. Ich finde, das Dies ist sicher ein sehr guter Schritt. sollte man bei allem Streit zunächst einmal festhalten. Last not least: Denken Sie in den weiteren Beratun- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gen darüber nach, sich unseren Vorschlägen anzuschlie- und bei der SPD) ßen! Wir haben demnächst im Ausschuss noch Zeit dazu. Wir haben insgesamt die Chance, zu einer besse- Darüber hinaus ist diese Bundestagsdebatte außeror- ren Lebensmittelüberwachung und auch zu Verhandlun- dentlich hilfreich. Denn die Gespräche mit dem Bun- gen über ein Verbraucherinformationsgesetz – ich habe desrat, die wir seit einiger Zeit führen, sind nicht nur das eingangs angesprochen – zu kommen. freudvoll. Die Frage, wann die Allgemeine Verwal- tungsvorschrift, um die es hier geht, im Bundesrat be- Recht herzlichen Dank. handelt werden soll, ist zum Beispiel schon der erste (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Streitpunkt. Ich bin sehr dankbar dafür, dass die Mehr- neten der FDP) heit der Länder nicht dem Antrag zugestimmt hat, die Behandlung dieses Themas auf den Sankt-Nimmer- leins-Tag zu verschieben. Ich glaube, dass die öffentli- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: che Diskussion über dieses Thema deshalb besonders Das Wort hat jetzt der Parlamentarische Staatssekretär wichtig ist, weil nur so Bewegung in die Sache kommt. Matthias Berninger. Hedda von Wedel hat, vom Bundeskanzler beauftragt, Matthias Berninger, Parl. Staatssekretär bei der eine Schwachstellenanalyse im Bereich der Lebensmit- Bundesministerin für Verbraucherschutz, Ernährung und telkontrolle in Deutschland erarbeitet und uns vorgelegt. Landwirtschaft: Sie hat uns ins Stammbuch geschrieben, dass wir auf Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Von Bundesebene erhebliche Verbesserungen beim Risiko- Walt Whitman stammt das Zitat: „Krisen meistert man management und bei den Verbraucherbehörden in Gang am besten, indem man ihnen zuvorkommt.“ Die amtli- setzen müssen. Ich kann nun, ungefähr zweieinhalb che Lebensmittelüberwachung in Deutschland ist eine Jahre nach Vorlage dieser Schwachstellenanalyse, sehr der ganz wesentlichen Einrichtungen, die dazu da sind, klar sagen, dass es der Bundesregierung gelungen ist, diesen Krisen zuvorzukommen. mehr Personal und mehr Ressourcen bereitzustellen und (B) die von Frau von Wedel vor allem gewünschten effizien- (D) Wir müssen von dieser Stelle aus eines klar sagen: teren Strukturen auf den Weg zu bringen. Wenn es, Frau Die Verantwortung dafür, dass sichere Lebensmittel über Heinen, noch an der einen oder anderen Stelle in der Ko- den Ladentresen gehen und dass Rückstände in Lebens- ordination hakt, dann bitte ich um Verständnis: Wir mitteln vermieden werden, hat weder die Bundesregie- mussten den Verbraucherschutz als Lehre aus der BSE- rung noch eine Landesregierung noch ein kommunaler Krise komplett neu aufbauen. Lebensmittelkontrolleur zum Beispiel in Köln. Die Ver- antwortung dafür hat die Lebensmittelwirtschaft in Entscheidend ist, dass wir im Deutschen Bundestag Deutschland. Wir brauchen die Lebensmittelkontrolle, quer über alle Fraktionen nahezu jedes Jahr in den Haus- um der Lebensmittelwirtschaft insgesamt, den Produ- haltsberatungen die dafür notwendigen finanziellen Mit- zenten und dem Handel, auf die Finger zu schauen. tel und Ressourcen bewilligt bekommen haben. Auch dafür allen Fraktionen einen besonderen Dank! (Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/ CSU]: Wo hat sie ihr Problem? Bei den Riesen Frau von Wedel hat auch gesagt: Bund und Länder so- oder bei den ganz Kleinen?) wie die Länder untereinander müssen besser zusammen- arbeiten. Die wissenschaftlichen Testmethoden bei der Nur wenn wir eine funktionierende Lebensmittelkon- Lebensmittelüberwachung sind zwischen den einzelnen trolle haben, wird die Wirtschaft ihrer Verantwortung ge- Ländern nicht koordiniert. Das eine Bundesland weiß recht werden. nicht, was das andere Bundesland überprüft. Die so ge- (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Aber die ha- nannten Hot Spots, die Problembereiche, sind fast gut ben wir doch schon jetzt!) gehütete Staatsgeheimnisse in jedem einzelnen Bundes- land. Das kann in einem Land, das die Gleichwertigkeit Denn die Erfahrung aus den vergangenen Jahren der Lebensverhältnisse über die Verfassung sicherstellen zeigt: Überall dort, wo nicht kontrolliert wird, ist, wenn möchte, nicht der richtige Weg sein. Deswegen ist es man genau hinsieht, die Zahl der Verstöße besonders Ziel der Bundesregierung, mit der Allgemeinen Verwal- hoch. Es ist nur allzu menschlich, dass sich dort, wo tungsvorschrift genau in diesem Punkt Fortschritte zu er- keine amtliche Lebensmittelkontrolle zu erwarten ist, zielen. Bund und Länder müssen besser zusammenarbei- schwarze Schafe ausbreiten und es zu vermehrten Ver- ten und die Länder müssen sich untereinander in die stößen kommt. Einer der wichtigen Gründe, weswegen Karten gucken lassen. wir mehr Lebensmittelkontrolle brauchen, ist, dass nur so die Rede vom vorsorgenden Verbraucherschutz mit Warum das so schwer ist, zeigt ein Blick auf die Zah- Leben gefüllt wird. len. Frau Heinen hat die Probleme in Köln beschrieben. 7802 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2004

Parl. Staatssekretär Matthias Berninger (A) Addiert man die vielen Kölns in Deutschland, kommt uns deutlich verschlechtert hat. Frau Hiller-Ohm, Sie ha- (C) man zu dem Ergebnis, dass in ganz Deutschland in ben gesagt, wir hätten ein vorbildliches Kontrollsystem Sachen Investitionen und Personalkosten nahezu aufgebaut. Es ist erstaunlich, dass Sie im selben Zusam- 100 Millionen Euro fehlen. Diese Zahl basiert auf Daten, menhang, unmittelbar daran anschließend, Vorschläge die die Länder im Rahmen der Beratung des Bundesrates machen, wie man dieses Kontrollsystem deutlich verbes- bekannt gegeben haben und die in einer Drucksache sern kann. schlummern. Das zeigt das Problem, vor dem wir ge- (Gabriele Hiller-Ohm [SPD]: Sie haben nicht meinsam stehen. zugehört!) Die CDU/CSU sagt in ihrem Antrag, der Bund solle Sie haben die Idee der Task Force genannt. Sie haben die das mal eben finanzieren. Das kann doch nicht die Lö- Idee der direkten Abgleiche genannt. sung sein; denn die Verfassung gibt uns überhaupt keine Möglichkeiten, die Lebensmittelkontrolle zu finanzie- ( [SPD]: Das Bessere ist der ren. Das Grundgesetz sagt: Das ist originäre Aufgabe der Feind des Guten!) Länder. Wir haben nicht, wie im Bereich des Strahlen- Das sind übrigens Ideen, die nicht aus dem Künast-Minis- schutzes, die Möglichkeit, im Auftragsverwaltungsver- terium kommen, sondern aus dem Freistaat Bayern. Der fahren die Kosten zu übernehmen. Wir können gerne im Freistaat Bayern hat diese Vorschläge schon vor längerer Rahmen der Föderalismuskommission darüber reden, Zeit gemacht. Ich bin sehr froh darüber, dass jetzt entspre- dem Bund mehr Kompetenzen für Verbraucherschutz zu chende Regelungen auf den Weg gebracht werden. geben; das ist auch eine Forderung des Bundesverbrau- cherschutzministeriums. Nichtsdestotrotz werden die Sie, Herr Berninger, haben gesagt, Krisen meistere Länder in diesem Bereich investieren müssen. man am besten, wenn man ihnen zuvorkommt. Genau das hätten Sie tun müssen. Das wird drei Vorteile für die Verbraucher haben. Ers- tens: Die Lebensmittel sind sicherer. Zweitens: Die (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Unternehmen investieren dann aus Angst vor diesen der CDU/CSU) Kontrollen mehr in die Lebensmittelsicherheit. Drittens: Die Krise bezüglich der Abgleiche von BSE-Tests ist Lebensmittelkrisen wie etwa im Falle von Paprika mit zu dem Haus seit 2003 bekannt. Der Umgang mit der BSE- hohen Rückständen, im Falle von BSE oder im Falle von Problematik ist auch nicht erst jetzt von mir kritisiert Futtermittelverseuchung werden zwar am Anfang auftre- worden, sondern ist schon in einem Bericht des Bundes- ten, in der Folgezeit aber nicht mehr. Der wichtigste Vor- rechnungshofes kritisiert worden. Was haben Sie zu dem teil ist aber: Deutschland kommt endlich in Europa an, Zeitpunkt, als bekannt wurde, dass es die Probleme gibt wenn wir die Reform durchsetzen. Bisher ist es so, dass (B) – nicht nur der Landkreis Emsland über das Land Nie- (D) alle Berichte, die wir nach Brüssel geben, voll von Pein- dersachsen, auch andere haben darüber informiert –, ge- lichkeiten sind. Wie anders kann man es nennen, wenn macht, um Ihrem Grundsatz, den Sie sich ja immer auf wir zum Beispiel für einige Länder konstatieren müssen, die Fahne schreiben, nämlich vorsorgenden Verbrau- dass dort nicht einmal ein Drittel aller Betriebe jährlich cherschutz zu betreiben, gerecht zu werden? Sie haben routinemäßig kontrolliert wird? Insofern ist die Rege- die Stellen, die nötig sind, um die BSE-Problematik zu lung, dass bestimmte Kontrollen nur alle zwei Jahre verhindern bzw. auszuschalten, gekürzt. stattfinden sollen, schon ein Zugeständnis an die Realität in Deutschland. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Man muss nicht länger darüber reden, sondern muss handeln und finanzielle Ressourcen zugunsten des Ver- Genau das sagt der Bericht des Bundesrechnungsho- braucherschutzes in den Ländern bereitstellen, so wie es fes. Er betont ausdrücklich: Im Zusammenhang mit BSE der Bund gemacht hat. und Fleischhygiene gab es erhebliche Unterlassungen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Ich möchte einen letzten Punkt ansprechen. Herr DIE GRÜNEN) Berninger, ich wiederhole Ihre Aussage, die ich hoch in- teressant finde, noch einmal: Krisen meistert man am besten, indem man ihnen zuvorkommt. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Es spricht jetzt der Abgeordnete Michael Goldmann. In der Ausschusssitzung am 14. Januar 2004 haben Sie die gesamte Verantwortung auf die Länder abgescho- Hans-Michael Goldmann (FDP): ben. Ich habe Sie damals gefragt: Warum haben Sie ei- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und gentlich nicht von dem Recht auf Erlass einer Allgemei- Kollegen! Wir sind uns sicherlich in einem Punkt frak- nen Verwaltungsvorschrift Gebrauch gemacht? Damals sind Sie die Antwort darauf schuldig geblieben. tionsübergreifend einig: Effiziente Lebensmittelüberwa- chung und gute Lebensmittelkontrolle sind die Grund- (Beifall bei der FDP) lage für sichere, qualitativ hochwertige Lebensmittel. Dazu sagen wir als FDP natürlich Ja. Heute, noch nicht einmal 14 Tage später, liegt die Allge- meine Verwaltungsvorschrift, die in diesem Bereich Ver- (Beifall bei der FDP) besserungen bringt, auf dem Tisch. Ich komme aber natürlich auch zu dem Punkt, der hier Herr Berninger, es bleibt dabei: Ihr Haus hat in der angesprochen worden ist und der das Klima zwischen Frage der Bekämpfung von BSE die Fahne unheimlich Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2004 7803

Hans-Michael Goldmann (A) hoch gezogen, hat aber in der Frage der Bewältigung der einander geworfen, weswegen ich vonseiten der Bundes- (C) BSE-Problematik wie auch anderer Problematiken in regierung hier eines klarstellen möchte: meinen Augen, um es politisch zu sagen, unglaublich – das heißt: es ist nicht zu glauben – geschlampt. Das ist Erstens. Wir sind seit längerem mit dem Bundesrat unser Vorwurf, der auch bestehen bleibt. über diese Allgemeine Verwaltungsvorschrift im Ge- spräch. Der hier erweckte Eindruck, diese Allgemeine (Beifall bei der FDP – Gabriele Hiller-Ohm Verwaltungsvorschrift sei eine Reaktion auf die jüngsten [SPD]: Unglaublich!) Vorkommnisse, auf die Unregelmäßigkeiten bei BSE- – Frau Hiller-Ohm, lesen Sie es nach. Wenn Sie eines Tests, entbehrt jeglicher Grundlage, wie ein Blick auf die der von mir genannten Fakten widerlegen können, kön- einzelnen Fristen und Daten der Diskussion zeigt. Im nen wir gerne so in eine Sachdiskussion einsteigen, wie Übrigen ist es so, dass – wie ich schon gesagt habe – wir jetzt natürlich in die Sachdiskussion darüber einstei- diese Allgemeine Verwaltungsvorschrift ein elementarer gen, Bestandteil der Umsetzung der Vorschläge von Frau von (Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Wedel ist, auf die sich alle verständigen konnten, als NEN]: Das ist alles großer Quatsch!) BSE noch ein großes Thema war. ob das, was Sie hier auf den Weg bringen, wirklich dem Zweitens. Der Abgeordnete Goldmann erweckt wie- Rechnung trägt, was Sie vorhin angesprochen haben. der den Eindruck, es hätte grobe Unregelmäßigkeiten Ich empfehle Ihnen: Schauen Sie schlicht und einfach und Schlampereien gegeben. Er hat in der Ausschusssit- einmal in schon lange bestehende Vereinbarungen. Es zung sogar einzelne Mitarbeiter im Abgeordnetenbüro gibt schon jede Menge Vereinbarungen zur Lebensmit- von Renate Künast dieser Unregelmäßigkeiten bezich- telkontrolle und zur Lebensmittelsicherheit. Wenn sie Ih- tigt. Es konnte im Ausschuss zweifelsfrei nachgewiesen nen fehlen, gebe ich Ihnen gerne die Vereinbarung, die werden, dass die Vorwürfe haltlos waren. Die FDP stand zum Beispiel der Freistaat Bayern und das Land Thürin- damit im Ausschuss auch alleine. Da der Abgeordnete gen unterschrieben haben. Dort sind tägliche bis monat- Goldmann nicht Manns genug ist, sich dafür zu ent- liche Kontrollen oder auch Kontrollen vier Mal im Jahr schuldigen, muss ich hier deutlich sagen, dass ich es be- vorgesehen. daure, dass er diese Vorwürfe weiterhin aufrechterhält. (Gabriele Hiller-Ohm [SPD]: Das brauchen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN wir nicht zu bekommen!) und bei der SPD) Die Grundlagen dafür gibt es sehr wohl. Drittens ist es so, dass für die Probleme im Bereich (B) Wenn der Bund den Ländern nicht auch ein Stück bei der BSE-Tests im Rahmen der Rinderdatenbank die Län- (D) der Ausstattung mit entsprechendem Personal für die Le- der originär zuständig sind. Die Bundesregierung hat im bensmittelkontrollen hilft, wenn Sie nicht bereit sind, Ausschuss erklärt, dass sie Hinweise auf einzelne Unre- auch private Anbieter mit einzubeziehen, werden wir gelmäßigkeiten bei einer Gesamtzahl von 2,5 Millionen auch hier ein Problem bekommen. BSE-Tests im Jahr bekommen und an die jeweils zustän- Mein Vorwurf bleibt: Bei der BSE-Aufklärung und digen Länder weitergegeben hat. Sie hat aber erst ver- der BSE-Bekämpfung ist schlampig gearbeitet worden. spätet davon Kunde bekommen, dass die Länder insge- Ich habe in diesem Punkt nichts zurückzunehmen. samt einen Abgleich gemacht haben. Erst als einzelne (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Bundesländer beim Bund nachgefragt haben, haben wir der CDU/CSU) festgestellt, dass es hier systematische Unregelmäßigkei- ten und Probleme gibt. Unmittelbar nachdem wir davon Kenntnis hatten, haben wir die Öffentlichkeit darüber in- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: formiert. Auch hier ist der Vorwurf der Schlamperei ab- Eine Kurzintervention des Abgeordneten Berninger. solut haltlos und nützt in der Debatte überhaupt nichts. (Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/ CSU]: Der ist von der Regierung und kann doch (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- sowieso immer reden! Warum macht er es so?) SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD) – Weil das sein Abgeordnetenrecht ist. Herr Kollege, ich Bei 2,5 Millionen BSE-Tests haben wir einige Hun- muss Sie als alten Hasen doch nicht über Parlamentarier- dert Unregelmäßigkeiten zu konstatieren. Das als große rechte aufklären. Schlamperei darzustellen unterläuft meiner Meinung (Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Sie können nach die Errungenschaften, die wir, Bund und Länder ihn als künftigen Ministerpräsidenten anspre- gemeinsam, mit den neuen Vorsorgemaßnahmen im chen!) BSE-Bereich erreicht haben. Es handelt sich um den durchsichtigen Versuch, ein Detailproblem, für das auch Bitte. noch die Länder zuständig sind, Frau Bundesministerin Künast vorzuwerfen. Das weise ich mit aller Entschie- Matthias Berninger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- denheit zurück. NEN): Frau Präsidentin! Der Abgeordnete Goldmann hat in (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN seiner Rede wieder einmal verschiedene Themen durch- und bei der SPD) 7804 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2004

(A) Hans-Michael Goldmann (FDP): der Bundesrepublik Deutschland ist immer auf eine (C) Herr Berninger, ich bin Ihnen dankbar, dass Sie mich Weise verfahren worden, dass man nie genau wusste, als Kollegen ansprechen. wann 24 Monate abgelaufen waren. Sie kannten das Pro- blem und haben erst Ende Dezember letzten Jahres da- (Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD) rauf reagiert. – Ja; denn im Moment agiert er ja nicht als Regierungs- Ebenso sind Frau von Wedels Anmerkungen zu Ver- vertreter, sondern als Abgeordneter, der meint, seine Mi- besserungen keine Erfindungen des Jahres 2004. Sie rei- nisterin ein bisschen in Schutz nehmen zu müssen. chen lange zurück. In der Ausschusssitzung habe ich sie (Zuruf von der SPD: Äußern Sie sich ganz konkret gefragt, ob sie von diesen Problemen ge- jetzt oder nicht?) wusst hat; sie muss davon gewusst haben. Sie selbst ha- ben gerade bestätigt, dass Sie schon lange an dem Pro- Herr Berninger, der Fall ist ganz simpel. Jeder, der blem arbeiten, die Lebensmittelkontrolle effizienter zu von dem HIT-System Ahnung hat – ich gehe davon aus, gestalten. Also haben Sie um die Schwächen dieses Sys- dass Sie davon Ahnung haben –, und jeder, der vom Ab- tems gewusst. Deswegen erhebe ich nach wie vor den gleich von BSE-Test- und Schlachtdaten Ahnung hat, Vorwurf, dass Sie in dieser Sache nicht auf den Punkt wusste, dass hier ein besonderes Problem besteht. Trotz hin gearbeitet haben. Ich sage es Ihnen ganz simpel: Es der Klasse, die dieses System ansonsten hat, wussten das war für mich nicht zu glauben, dass Sie in dieser Frage alle, die damit zu tun hatten. Dabei handelt es sich, ne- so schlampig vorgegangen sind. benbei gesagt, nicht um Ihre Erfindung. Im Prinzip ist dieses System von Bauern entwickelt worden, um in die- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten sem Bereich für mehr Sicherheit zu sorgen. der CDU/CSU) (Vorsitz: Vizepräsident Dr. Norbert Lammert) Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Alle, die von diesem System Kenntnis hatten, wuss- Letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt ist ten, dass es Probleme gab, dass es bei der Eingabe von die Kollegin Uda Heller, CDU/CSU-Fraktion. Ohrmarkendaten beispielsweise zu Zahlendrehern ge- kommen ist. Auch wussten sie, dass das eine oder andere Uda Carmen Freia Heller (CDU/CSU): Tier verschwindet. Lassen Sie uns nicht darüber streiten, Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her- wie viele Tiere es waren. Aber das Problem von ren! Ein Sprichwort sagt: Vertrauen ist gut, Kontrolle ist Schwarzschlachtungen ist keine Erfindung in einem besser. In diesem Sinne wollen wir eine wirksame Le- bestimmten Jahr. Es hat sie immer gegeben und jeder bensmittelüberwachung und -kontrolle. Der Bürger hat (B) weiß, dass es in diesem Zusammenhang Probleme gibt. einen Anspruch darauf, dass die Behörden ihn sowohl (D) Herr Berninger, auch Sie haben das gewusst; denn das bei Produkten aus dem eigenen Land wie auch bei Im- war Gegenstand von Erörterungen auf Landesebene. So porten vor gesundheitlichen Risiken und Gefahren haben zum Beispiel Vertreter des Landkreises Emsland schützen und aufklären. Eine Einfuhrkontrolle bei letz- in einem Schreiben darauf aufmerksam gemacht, dass teren Produkten ist deshalb sinnvoll und angebracht. Bei bei diesem System die Gefahr besteht, dass sich krimi- grenzüberschreitenden Märkten – auch im Lebensmittel- nelle Energie entfaltet. Genau dies hat Ihr Staatssekre- bereich – ist das ein schwieriges Unterfangen, wie wir tärskollege in einer Pressemitteilung bestätigt. alle wissen. Die gerade zu Ende gegangene Grüne Wo- che hat uns allen wieder die wunderbare Vielfalt, aber Darin hieß es, dass es Fälle krimineller Energie auszu- auch die Komplexität des Angebotes vor Augen geführt. merzen gibt. Also hat er doch gewusst, dass es in diesem Bereich Probleme gibt. Darauf haben Sie nicht zeitge- Staatliche Lebensmittelüberwachung und -kontrolle recht reagiert. kann aber nur gemeinsam mit verbindlicher Eigenkon- trolle der Unternehmen, entsprechenden Meldepflichten (Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- der Erzeuger und Produzenten sowie der Eigenverant- NEN]: Das ist doch nun wirklich totaler wortung der Verbraucher einen effizienten Verbraucher- Quatsch!) schutz garantieren. Das BSE-System ist zum 1. Januar 2003 eingeführt (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) worden. Aber Sie haben die Chancen dieses Systems nicht energisch genug genutzt. Sie haben nicht darauf So begrüßenswert der Föderalismus als solcher ist, so hingewirkt, dass es zu schnelleren Abgleichen kommt. hinderlich ist er in der Frage des vorbeugenden Verbrau- Nicht Sie, sondern die Verantwortlichen des Freistaates cherschutzes: Unterschiedliche Zuständigkeiten, unter- Bayern haben diese Idee entwickelt. Herr Berninger schiedliche Regelungen, unterschiedliche Prüfzyklen – Sie brauchen gar nicht abzuwinken –, gegen Ende des und unterschiedliche Ausstattungen der jeweiligen Jahres 2003 haben Sie erst noch einen anderen Sachver- Prüfinstitutionen führen natürlich auch zu unterschiedli- halt geklärt, nämlich die Frage, wann ein Tier 24 Monate chen Bewertungen und enormen Reibungsverlusten und alt ist. Abstimmungsschwierigkeiten, wie wir sie ja in der Ver- gangenheit auch öfters erlebt haben. (Heiterkeit bei der CDU/CSU) Deshalb kann und muss die Lösung für einen effizienten Auch Ihnen war bekannt, dass auf europäischer Ebene vorbeugenden Verbraucherschutz eine koordinierte und folgende Regelung gilt: 24 Monate plus ein Tag. Aber in abgestimmte Lebensmittelüberwachung und -kontrolle Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2004 7805

Uda Carmen Freia Heller (A) sein, die die Pflichten klar regelt, nämlich was wann und rechnet ist das natürlich eine große Zahl. Die vom Land (C) wie gemacht werden soll. Dies muss bundeseinheitlich festgelegte Häufigkeit der Kontrollen in diesem Bereich geschehen, denn es darf nicht sein, dass die Menschen in ist da wirklich nur schwer einzuhalten. dem einen Bundesland durch andere Prüfmethoden und -zy- klen einem höheren Gesundheitsrisiko ausgesetzt sind Eine sinnvolle Einsparmöglichkeit wäre nach meiner als in einem anderen Bundesland. Ansicht das gemeinsame Betreiben von Untersuchungs- labors durch mehrere Länder. Für die Realisierung, gibt Meine Damen und Herren, ich bin dankbar dafür, dass es schon Ansätze zwischen einzelnen Ländern. wir uns in diesem Hohen Hause über den dringenden Re- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) gelungsbedarf in dieser Sache in weiten Teilen einig sind. Was jedoch nicht geschehen darf, ist, dass wir Bun- desregelungen schaffen, mit denen wir den Ländern (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) nicht nur Pflichten auferlegen, sondern ihnen auch noch Der Bund muss Regelungen vorgeben, die bundesein- die Rechnung dafür präsentieren. Hier bin ich anderer heitlich gelten und einen flächendeckenden Verbraucher- Meinung. Sicherlich müssen wir uns über dieses Thema schutz garantieren. Die Lebensmittelkontrollen müssen noch unterhalten. sowohl personell als auch sachlich besser ausgestattet Wenn die einzelnen Länder darüber hinaus Hand- werden, damit sie den umfangreicher werdenden Aufga- lungsbedarf bei der Überwachung sehen, dann seien ih- ben auch gerecht werden können. Dazu zählt natürlich nen entsprechende Maßnahmen anheim gestellt. Hier auch eine verbesserte Aus- und Weiterbildung aller Mit- darf der Bund sie nicht einengen. arbeiter, die in diesem Bereich tätig sind. Ich denke, wenn wir die heute angesprochenen Auf- Damit sie präventiv wirken können, müssen die Prüf- gaben hier im Hause gemeinsam vom Tisch bekommen, zyklen engmaschig sein; dies setzt eine entsprechende dann haben wir zumindest eine Basis dafür geschaffen, Kontrolldichte voraus. Beim Verbraucherschutz darf die künftigen Herausforderungen im Bereich der Le- nicht am falschen Ende gespart werden. bensmittelsicherheit konsequent in den Griff zu bekom- men. Bei aller Sympathie für Privatisierung – bei der Le- bensmittelüberwachung muss die Autorität des Staates Vielen Dank, meine Damen und Herren. sichergestellt sein. Im Gegensatz zu vielen anderen Bun- desländern hat Sachsen-Anhalt zum Beispiel die Durch- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (B) führung der BSE-Tests nach wie vor einem eigenen Test- (D) labor unterstellt, während andere Bundesländer diese Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Aufgabe an private abgegeben haben, ohne deren Kon- Ich schließe die Aussprache. trolle sicherzustellen. Die damit verbundenen Unsicher- heiten sind uns allen noch gegenwärtig. Das darf nicht Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen auf wieder vorkommen! den Drucksachen 15/2339 und 15/2386 zur federführen- den Beratung an den Ausschuss für Verbraucherschutz, Mit dem Bundesamt für Verbraucherschutz und Ernährung und Landwirtschaft und zur Mitberatung an Lebensmittelsicherheit haben wir nun eine Institution den Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit, den Aus- geschaffen, die grundsätzlich für eine solche Koordinie- schuss für Gesundheit und Soziale Sicherung sowie an rungsaufgabe zuständig sein soll. In der konkreten Ausge- den Haushaltsausschuss zu überweisen. Weiterhin ist staltung besteht unseres Erachtens aber noch dringender vereinbart, die Vorlagen auf den Drucksachen 15/1673, Handlungsbedarf. Einheitliche Verwaltungsvorschriften, 15/1674 und 15/1675 an die in der Tagesordnung aufge- wie sie in dem Entwurf der Bundesregierung ansatz- führten Ausschüsse zu überweisen. Gibt es dazu ander- weise vorliegen, sollten die Zuständigkeiten und Verfah- weitige Vorschläge? – Das ist offensichtlich nicht der renswege klar festlegen, wobei die Bundesregierung die Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Kosten und die unterschiedlichen Verwaltungsstrukturen der Länder berücksichtigen sollte. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 8 a und 8 b auf: Wenn zum Beispiel die Kommunen die personelle a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Christoph Hartmann (Homburg), Ulrike Flach, Last der Lebensmittelüberwachung zu tragen haben, Cornelia Pieper, weiterer Abgeordneter und der wird es ihnen bei ihrer katastrophalen finanziellen Lage Fraktion der FDP und steigender Aufgabenfülle und Bürokratie nicht mög- lich sein, mehr Personal zur Verfügung zu stellen; auf Akkreditierte Masterabschlüsse von Fach- dieses Problem hat Frau Heinen vorhin schon sehr rich- hochschulen und Universitäten im öffentlichen tig hingewiesen. Dienst gleichstellen (Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/ – Drucksache 15/1710 – CSU]: Das ist auch vernünftig!) Überweisungsvorschlag: Innenausschuss (f) In meinem Landkreis etwa müssen zurzeit drei Personen Ausschuss für Bildung, Forschung und circa 800 Einrichtungen kontrollieren; auf die Fläche ge- Technikfolgenabschätzung 7806 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2004

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert (A) b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrike (Beifall bei Abgeordneten der FDP) (C) Flach, Cornelia Pieper, Horst Friedrich (Bayreuth), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Ein Land wie Nordrhein-Westfalen kann an besonders förderungswürdige Mitarbeiter Zulagen in Höhe von ge- Eckpunkte für einen Wissenschaftstarifvertrag rade einmal 300 Euro vergeben. Ich glaube, wir alle sind – Drucksache 15/1716 – uns einig, dass das eine Lachnummer und ganz bestimmt kein Anreiz für die besten Köpfe dieser Welt ist. Überweisungsvorschlag: Innenausschuss (f) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Rechtsausschuss der CDU/CSU) Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Wir brauchen einen wirklichen Tarifvertrag für die Damit greifen wir die Zwischenfragen des Kollegen Sparte Wissenschaft mit Öffnungsmöglichkeiten für be- Tauss von heute Morgen auf und machen sie, wie es sich triebliche Regelungen an Instituten und Hochschulen. gehört, zu einem ordentlichen Tagesordnungspunkt, was Dabei kann es nicht nur – darauf lege ich ausdrücklich hoffentlich nicht nur bei ihm große Befriedigung auslöst. Wert – um Professoren gehen, sondern es muss alle am Forschungsprozess wissenschaftlich und technisch betei- (Thomas Rachel [CDU/CSU]: Er ist ja gar ligten Mitarbeiter umfassen. Es muss eine flexible, mo- nicht da!) derne und entbürokratisierte Vergütung sein. Wissen- – Zumindest dieser Hinweis wird ihn in den Plenarsaal schaft soll Grenzen überschreiten. Sie muss kreativ, zurücktreiben. ideenreich und fantasievoll sein. Das passt nach Mei- nung der FDP nicht mit einem starren Beamten- und An- (Thomas Rachel [CDU/CSU]: Das ist zu be- gestelltentarifvertragsrecht, mit Reisekostenverordnun- fürchten!) gen und dreifachen Durchschlägen zusammen. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die (Beifall bei der FDP) FDP sechs Minuten erhalten soll. – Auch dazu höre ich Vor vier Jahren hat die Expertenkommission „Reform keinen Widerspruch. des Hochschuldienstrechts“ ihre Empfehlungen vorge- Ich eröffne hiermit die Aussprache und erteile zu- legt. Vier Jahre lang fordern wir jetzt die Umsetzung. nächst der Kollegin Ulrike Flach, FDP-Fraktion, das Aber trotz hochheiliger Versprechungen Ihrerseits und Wort. ziemlich großartig angelegter Koalitionsverträge zwi- schen Rot und Grün hat sich nichts bewegt. (B) Ulrike Flach (FDP): (Jörg Tauss [SPD]: Das ist falsch!) (D) Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sie haben Recht: Wir haben heute Morgen sehr ausführlich über – Lieber Herr Tauss, Sie und Ihre Ministerin sind ganz Innovationen gesprochen. Ich habe darauf verwiesen, offensichtlich in die Mühlen Ihres eigenen Innenminis- dass uns nicht Sprechblasen – apropos, Herr Tauss –, ters und natürlich in die der Innen- und Finanzminister sondern nur handfeste Reformvorschläge weiterhelfen. der Länder geraten: (Jörg Tauss [SPD]: Apropos, Frau Flach, da (Jörg Tauss [SPD]: Letzteres ist wahr!) bin ich einig mit Ihnen!) statt zügiger Innovation zähflüssige BAT-Debatten. Innovation darf keine Worthülse bleiben, sondern muss sich in konkreten Handlungen und nachprüfbaren (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Taten ausdrücken. Mit unseren beiden Anträgen geben der CDU/CSU) wir Ihnen heute eine sehr gute Gelegenheit dazu. Die Wir aber wollen nicht, dass der Wissenschaftstarif- Forderungen in unseren beiden Anträgen sind im Grund- vertrag bis zu einer allgemeinen Reform des Beamten- satz – da bin ich mir sehr sicher – nicht einmal streitig. Es geht heute wirklich nur darum, ob Sie den Mut haben, und Angestelltentarifvertragsrechtes verschoben wird, der Innovationsrhetorik der vergangenen Wochen end- von der wirklich niemand weiß, wann sie kommt. Wis- lich auch einmal innovative Taten folgen zu lassen. senschaft ist eine Sparte mit besonderen Anforderungen. Wir fordern die Bundesregierung auf, die Verhandlungen (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Thomas mit der Tarifgemeinschaft der Länder voranzutreiben Rachel [CDU/CSU] – Jörg Tauss [SPD]: Na, und nicht passiver Zuschauer zu bleiben. na!) In vielen Forschungszentren – das wissen wir alle – Wir alle wissen, dass das bestehende Tarif- und Beam- steht ein Generationenwechsel an. Das ist die Chance, tenrecht keine ausreichenden Leistungsanreize bietet, neue Formen der Vergütung durchzusetzen. Wenn Sie um wissenschaftliche Spitzenleistungen angemessen zu diese nicht nutzen, wird sich das ganze Gerede von Inno- honorieren. Das gilt für Forschungseinrichtungen ge- vation sehr schnell als Placebo entlarven. Denken Sie nauso wie für Hochschulen. Die im Haushalt des BMBF also bitte nicht daran, wie Sie mediengerecht Begriffe vorgesehene Möglichkeit, übertarifliche Zulagen für besetzen, sondern daran wie Deutschlands Forschung Wissenschaftler der HGF und der FhG in Höhe von ma- möglichst bald wieder Spitzenplätze besetzen kann. ximal 5 Prozent zu zahlen, ist nun wirklich eine Krücken- lösung. Ich glaube, darin sind wir alle uns einig. Hoch- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten leistungsforschung werden wir damit nicht bekommen. der CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2004 7807

Ulrike Flach (A) Ein weiterer Prüfstein für Innovationskraft ist die Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: (C) Gleichstellung von Masterabschlüssen von Universitä- Die ersten zehn Sekunden sind für diese Dankadresse ten und Fachhochschulen im öffentlichen Dienst. Master leider schon verbraucht. ist Master. (Beifall bei der FDP) Hans-Peter Kemper (SPD): Diese habe ich der Einleitung geopfert. Das war die Intention, mit der der Deutsche Bundestag die Einführung der Bachelor- und Masterstudiengänge Frau Flach, ich stimme Ihnen in dem zu, was Sie hier beschlossen hat. Es kann unserer Meinung nach nicht gesagt haben. Ihre Taten sehen allerdings ein bisschen angehen, dass für den Master, der von der Fachhoch- anders aus. Natürlich brauchen wir den Wettbewerb um schule kommt, ein besonderes Akkreditierungsverfahren die besten Köpfe. Natürlich müssen wir die besten für den Zugang zum höheren Dienst nachgeschaltet Leute in die Bundesrepublik holen. Natürlich müssen wird. wir den jungen Leuten die Möglichkeit geben, hier zu studieren und Wissen zu erwerben. (Jörg Tauss [SPD]: Schon wieder bei den FDP- Ländern!) Dazu haben Sie zwei Anträge eingebracht. Lassen Sie mich darauf eingehen. Ich kann mich des Eindrucks Wenn ein Masterstudiengang an einer Fachhoch- nicht erwehren, dass in Ihren beiden Anträgen eine ge- schule zugelassen wurde, dann sind seine Absolventen hörige Portion Populismus mitschwingt. berechtigt, sich für den höheren Dienst zu bewerben. Dazu braucht es kein zusätzliches Verfahren. Das bedeu- (Ulrike Flach [FDP]: Nein! Warum bei uns tet auch keine zusätzlichen Belastungen, wie unsere Fi- und nicht bei Ihnen?) nanzminister über alle Parteigrenzen hinweg immer wie- der behaupten. Dies wird die öffentlichen Kassen nicht – Doch. Wir haben die Bachelor- und Masterstudien- treffen. Durch diese Abschlüsse stehen mehr Menschen gänge 1998 zunächst probeweise eingeführt und 2002 zur Verfügung. Das ist nicht schlecht, sondern gut für ins Regelangebot übernommen. Das basiert auf einer den Staat. klaren Vereinbarung zwischen IMK und KMK. Sie ken- nen den Inhalt dieser Vereinbarung genau. Die Master- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten abschlüsse ermöglichen den Zugang zum höheren und der CDU/CSU) gehobenen Dienst. Dazu bedarf es eines Akkreditie- Zugangserschwernisse sind Innovationsbremsen für rungsverfahrens. Das ist richtig. Mit der Reform der die neuen Studienabschlüsse, die wir im Hinblick auf Professorenbesoldung in der letzten Legislaturperiode mehr Internationalität des deutschen Hochschulwesens haben wir eine Menge an Flexibilität in dieses System (B) (D) eingeführt haben. Liebe Kollegen von SPD und Grünen, gebracht. wenn Sie wirklich Innovation wollen, dann lösen Sie die (Jörg Tauss [SPD]: Nur nicht genutzt!) Bremsen und lassen den Wissenschaftszug endlich Fahrt aufnehmen. Wir brauchen junge Wissenschaftler, die in Wir haben flexible, leistungsbezogene Bezahlungssys- diesen Zug einsteigen und etwas leisten wollen. Dafür teme eingerichtet. Vieles von dem, was Sie jetzt fordern, verlangen sie aber eine entsprechende Anerkennung. Im steht in diesem Gesetz. Aber wenn mich mein Gedächt- Jahr der Technik und der Innovationen darf es nicht mit nis nicht ganz im Stich lässt, war es die FDP, die damals der Bimmelbahn vorangehen, sondern wir müssen uns sowohl im Ausschuss als auch hier im Plenum gegen mit Schallgeschwindigkeit fortbewegen. diese Änderung der Professorenbesoldung gestimmt hat. Sie haben also gegen das gestimmt, was Sie heute vehe- (Beifall bei der FDP – Cornelia Pieper [FDP]: ment fordern. Mit dem Transrapid!) (Ulrike Flach [FDP]: Aber aus völlig anderen Mit der Zustimmung zu unseren liberalen Anträgen kön- Gründen!) nen Sie heute hierzu einen Beitrag leisten. Ich kann Ihnen den Vorwurf des Populismus nicht erspa- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten ren. der CDU/CSU) (Beifall bei der SPD) Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: In diesem Gesetz sind variable Gehaltsbestandteile, ins- Das Wort hat der Kollege Hans-Peter Kemper, SPD- besondere für besondere Leistungen in Forschung und Fraktion. Innovation, für Professoren an Fachhochschulen und an- deren Einrichtungen vorgesehen. Hans-Peter Kemper (SPD): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Herr Präsident, dies ist nicht meine erste Rede im Bun- Herr Kollege Kemper, jetzt besteht die Chance, die destag, aber wenn ich es richtig in Erinnerung habe, zehn Sekunden über eine Zwischenfrage der Kollegin dann ist dies meine erste Rede unter Ihrer Regentschaft. Flach wieder einzuspielen. Vielleicht wirkt sich das günstig auf meine Redezeit aus. (Thomas Rachel [CDU/CSU]: Da würde ich Hans-Peter Kemper (SPD): mir nicht so große Hoffnung machen!) Sehr gerne. 7808 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2004

(A) Ulrike Flach (FDP): die Sie fordern. Deshalb wäre es wenig sinnvoll, jetzt ei- (C) Herr Kemper, ich bin Ihnen sehr dankbar, dass wir im nen kleinen Bereich herauszunehmen und in dem Son- Grunde genommen auf demselben Weg sind. Insofern derbereich der Hochschulen und Fachhochschulen vorab möchte ich Ihnen einfach nur die freundliche Frage stel- Regelungen zu treffen. len, ob Sie sich wirklich nicht erinnern, warum wir abge- (Ulrike Flach [FDP]: Aber außer Ihnen sieht lehnt haben. Wir haben abgelehnt, weil nicht genug Geld das jeder so in Deutschland!) zur Verfügung gestellt wurde und das Ganze damit ein Witz war. Ich empfehle Ihnen: Lassen Sie uns gemeinsam ab- warten. Ich bin guter Hoffnung, dass wir eine Verände- (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Thomas rung des BAT bis zum Sommer, spätestens jedoch bis Rachel [CDU/CSU]) zum Herbst erreichen. Wir sollten uns gemeinsam bemü- Ich bitte darum, ehrlich mit den historischen Tatsachen hen, diese Dinge in einer großen Reform des BAT umzu- umzugehen. setzen. Da sind wir völlig einer Meinung. Wir sind da auf einem guten Weg und sollten auf diesem auch voran- gehen. Hans-Peter Kemper (SPD): Mir sind die Ablehnungsgründe noch sehr gut be- Die angesprochene Vereinbarung der IMK und KMK kannt. Die Ablehnungsgründe der FDP gleichen sich beinhaltet nun einmal dieses Akkreditierungsverfahren. sehr oft. Es wird gesagt, es sei nicht genügend Geld im Ihre Anträge sind der Versuch, das zu unterlaufen. Topf, oder es wird gesagt, die Maßnahmen gingen nicht (Ulrike Flach [FDP]: Nein!) weit genug. Im Prinzip haben Sie diese Gesamtreform damals sowohl im Ausschuss als auch im Plenum abge- Ich glaube nicht, dass es sinnvoll ist, eine Vereinbarung, lehnt. die Mitte des Jahres 2002 getroffen worden ist, jetzt zu unterlaufen. Ich komme zu einem weiteren wichtigen Punkt, der mit Ihrer Frage im Zusammenhang steht. Schauen Sie (Thomas Rachel [CDU/CSU]: Es geht nicht sich einmal die Länder an, in denen Sie mitregieren. Sie um Unterlaufen! Es geht um Modernisierung, wissen genau wie ich, dass es zu einem erheblichen Teil Fortentwicklung!) in der Kompetenz der Länder liegt, ob diese Dinge um- Das ist eine mühsame Vereinbarung zwischen Bund und gesetzt werden oder nicht. Welche Länder haben bisher Ländern gewesen, die akzeptiert worden ist. Wir sollten die Reform, die wir beschlossen haben, umgesetzt? Wel- zunächst einmal die Wirkungen abwarten und nicht nach che Länder haben von dieser Möglichkeit Gebrauch ge- anderthalb Jahren das Gesetz nachbessern. Wir sollten (B) macht? Gesetze, die wir selbst auf den Weg gebracht haben, (D) (Jörg Tauss [SPD]: Blockiert haben sie!) nicht verändern, nachbessern oder gar verschlechtern, bevor wir ihre Wirkungen ausgelotet haben. Die Länder Niedersachsen, Rheinland-Pfalz und Bremen haben sich bewegt. Aber in den Ländern Baden- (Ulrike Flach [FDP]: Die Wirkungen sind Württemberg und Hamburg, in denen Sie mitregieren, klar!) hat sich bisher nicht allzu viel bewegt. Ich glaube, das ist ein sehr wichtiger Punkt. (Thomas Rachel [CDU/CSU]: Sie hätten Frau Wir streben in jedem Fall eine Regelung an, die von Schipanski zuhören sollen!) Bund und Ländern gleichermaßen akzeptiert und getra- Sie sollten die Chance nutzen, das, was Sie hier im Deut- gen wird. Bei einer einseitigen Veränderung gäbe es schen Bundestag fordern, in den Ländern, in denen unter ohne Frage Probleme zwischen der Bundes- und der anderem Sie das Sagen haben, umzusetzen. Das wäre Landesebene. Es gäbe Schwierigkeiten im Zusammen- eine ehrliche Geschichte. Damit würden Sie uns über- hang mit der Versetzung und – wegen der unterschiedli- zeugen. chen Einordnung – große Motivationsprobleme unter den Beamten. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Ulrike Flach [FDP]: Aber die sind jetzt noch größer, lieber Herr Kemper!) Natürlich muss das gesamte System der Bezahlung variabler und leistungsorientierter werden. Das ist gar Von daher ist es sinnvoll, eine Regelung im Gleich- keine Frage. Wir müssen uns die Frage stellen, ob die al- klang mit den Ländern anzustreben. Geben Sie Ihrem ten Zöpfe Lebensaltersstufen und Bewährungsaufstieg Herzen einen Stoß und bringen Sie die Regelung in den noch ihre Berechtigung haben. Wir müssen das Tarif- Ländern, in denen Sie daran mitwirken können, auf eine recht ändern. Das ist überhaupt nicht strittig. Diese vernünftige Grundlage! Punkte sind im Übrigen Gegenstand der Koalitionsver- Wir haben eine Regelung vorgesehen, die neben ei- handlungen gewesen. Sie sind nicht strittig und werden nem festen Grundgehalt starke leistungsbezogene Ele- umgesetzt. mente beinhaltet. Das ist der richtige Weg, den wir auch (Ulrike Flach [FDP]: Aber wann?) weiterhin beschreiten wollen. Ich kann Sie nur ermun- tern, mitzumachen. Machen Sie das aber nicht mit An- Wir sind dabei, das gesamte Tarifrecht zu reformieren trägen, wie Sie es bisher getan haben, sondern im Rah- und diese Punkte umzusetzen, unter anderem auch die, men eines Gesamtkonzepts. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2004 7809

Hans-Peter Kemper (A) Sie können sich nicht einfach die Punkte herausgrei- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (C) fen, die Ihnen genehm sind. Es geht auch nicht an, dass Es ist auch äußerst unglaubwürdig, wenn der bildungs- Sie sich auf Landesebene nicht bewegen, aber hier gegen politische Sprecher der SPD, Tauss, dem Hochschul- unseren Gesetzentwurf stimmen und dann noch so tun, lehrerbund die Gleichbehandlung ankündigt, während die als seien Sie die Retter des öffentlichen Dienstes und der Vertreter von SPD und Grünen im Petitionsausschuss des Studenten. Bundestags dies jedoch in den konkreten Fällen ableh- Schönen Dank. nen. Das ist keine stringente Politik. (Beifall bei der SPD – Ulrike Flach [FDP]: (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Unsere Länder bewegen sich schon, Herr Mit der Ankündigung von Eliteuniversitäten hat Bil- Kemper! Keine Angst!) dungsministerin Bulmahn zwar die Schlagzeilen gefüllt, aber in Wirklichkeit mit Nebelkerzen von den tatsäch- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: lich notwendigen Strukturreformen in der deutschen Herr Kollege Kemper, ich hätte Ihnen glatt eine wei- Hochschullandschaft abgelenkt. Das Problem von Frau tere Verlängerung der Redezeit durch eine Zwischen- Bulmahn ist, dass sie kein inhaltliches Strukturreform- frage des Kollegen Tauss ermöglicht. Aber Sie waren konzept hat. von den Zwischenrufen der Kollegin Flach so fasziniert, dass Sie diesen gut gemeinten Versuch offenkundig nicht Spitzenuniversitäten entstehen nicht allein durch einmal bemerkt haben. Wir nehmen das auf Wiedervor- mehr Geld und schon gar nicht durch Regierungsdekret, lage und versuchen es beim nächsten Mal erneut. sondern nur durch umfassende Strukturreformen. Dazu war die Ministerin bislang nicht fähig. Hans-Peter Kemper (SPD): (Beifall bei der CDU/CSU) Herr Präsident, ich habe das ständige Leuchten der Lampe mit der Aufschrift „Präsident“ als Mahnung ver- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: standen, aufzuhören. Ich habe das fehlgedeutet. Herr Kollege Rachel, der Kollege Tauss möchte Ihnen jetzt den Zeitvorteil einräumen, der dem Kollegen Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Kemper vorenthalten geblieben ist. Nicht immer ist das Aufblinken der „Präsidenten- Lampe“ eine Mahnung. Manchmal ist es auch der Hin- Thomas Rachel (CDU/CSU): weis darauf, dass eine Zwischenfrage gewünscht wird. Das ist mir eine besondere Freude. (B) Nun erteile ich dem Kollegen Thomas Rachel, CDU/ (D) CSU-Fraktion, das Wort. Jörg Tauss (SPD): Diese Freude teile ich natürlich, lieber Kollege Thomas Rachel (CDU/CSU): Rachel. – Würden Sie freundlicherweise – um jeder Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Ein- Form von Legendenbildung vorzubeugen – meiner Tat- führung der Universitätsabschlüsse Bachelor und Master sachenfeststellung zustimmen, dass das, was Sie hier kri- ist ein Verdienst des ehemaligen christdemokratischen tisieren, im Wesentlichen auf Forderungen der Länder Wissenschaftsministers Jürgen Rüttgers. Er nahm damit beruht? Können Sie sich so wie ich vorstellen, dass wir eine wichtige Weichenstellung zugunsten der Internatio- das Evaluierungsverfahren schneller durchführen als bis nalisierung der deutschen Hochschulen vor. Im Sinne zum Jahr 2007? Wissen Sie, dass wir, die Bundespoliti- des Bologna-Prozesses sind Bachelor- und Masterstudi- ker, über eine schnellere Umsetzung glücklich gewesen engänge mittlerweile weitgehend flächendeckend in wären und dass es die Länder waren – ich glaube, dies Deutschland eingeführt. geschah parteiübergreifend –, die um diesen langen Zeit- raum gebeten haben? Können Sie sich vorstellen, dass Gleichwohl gibt es aus der Sicht der Fachhochschulen wir gemeinsam den für das Verfahren vorhergesehenen Schwierigkeiten. Während die Masterabschlüsse an den Zeitraum bis 2007 möglicherweise verkürzen? Unis regelmäßig dem höheren Dienst zugeordnet wer- den, werden die Masterabschlüsse an Fachhochschulen Thomas Rachel (CDU/CSU): regelmäßig dem gehobenen Dienst zugeordnet. Nur aus- Ich bin generell der Meinung, dass wir, das Parla- nahmsweise kann ein FH-Abschluss dem höheren Dienst ment, in Sachfragen über Fraktionsgrenzen hinaus zu- zugeordnet werden, wenn ein gesondertes Akkreditie- sammenarbeiten sollten. Ich halte überhaupt nichts da- rungsverfahren durchlaufen wurde, in dem festgestellt von, dauernd einen parteipolitischen Schlagabtausch zu wird, dass ein FH-Masterabschluss einem Uniabschluss führen. gleichwertig sei. Diese zusätzliche Hürde wird von den Fachhochschulen im Interesse ihrer Absolventen kriti- (Jörg Tauss [SPD]: Okay!) siert. Deswegen möchte ich Folgendes ausdrücklich bestäti- Das Verfahren soll erst im Jahre 2007 überprüft wer- gen: Es gibt gemeinsame bildungspolitische Anliegen, den. Ich denke, diese Regelung kann zweifellos nicht be- die die Bildungspolitiker aller Fraktionen auch in diesem friedigen. Sie steht letztlich auch in einem Widerspruch Hause gemeinsam vertreten sollten. Allerdings wünsche zur Gleichbehandlung von Fachhochschulen und Uni- ich mir, dass – wie in diesem Fall geschehen – SPD und versitäten im Hochschulrahmengesetz. Grüne im Petitionsausschuss nicht das genaue Gegenteil 7810 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2004

Thomas Rachel (A) von dem entscheiden, was man dem Hochschullehrer- (Jörg Tauss [SPD]: Herr Rachel ist wieder auf- (C) bund in bildungspolitischer Hinsicht versprochen hat. geblasen bis zur Kuppel! Das ist ja nicht zu Das ist widersprüchlich. fassen!) Zurück zum eigentlichen Thema, zu den Strukturre- Anstatt sich als Ministerin für Bildung und Forschung formen. Wir brauchen endlich eine Autonomie der in diese Themen einzumischen, kümmert sich Frau Hochschulen, eine leistungsgerechtere Bezahlung der Bulmahn um Themen wie die Schulpolitik, für die sie Lehrenden, ein Recht der Hochschulen, die Studierenden überhaupt keine Kompetenz hat. Ich fordere sie auf, sich auszuwählen, und die Rücknahme des Studiengebühren- endlich um Ihre ureigenen Aufgaben als Wissenschafts- verbots. Sicherlich gehört zu den Reformen aber auch ministerin zu kümmern. Dazu gehört unzweifelhaft auch ein flexibles Vergütungs- und Entlohnungssystem für die Verbesserung der Beschäftigungs- und der Besol- die Hochschulen und die Forschungseinrichtungen in dungsbedingungen für das wissenschaftliche Personal. Deutschland. Das jetzige BAT-System ist ohne Zweifel (Beifall bei der CDU/CSU) für die guten Wissenschaftler in Deutschland nicht at- traktiv. Das ist eine ganz klare Sache. Hier ist der Bund gefor- dert. Schließlich geht es um die großen Forschungsein- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) richtungen, an denen der Bund die Mehrheit der Anteile Dieses BAT-Korsett muss abgeschafft werden, damit un- hat. sere Wissenschaftseinrichtungen in Konkurrenz mit den Die größte Schwäche des Wissenschaftsstandorts ausländischen Hochschulen und Forschungseinrichtun- Deutschland ist die politische Schwäche der zuständigen gen treten können. Das bestehende tarifliche Regelwerk Bildungsministerin. Hier muss dringend eine Änderung bietet keine ausreichenden Leistungsanreize, um zum erfolgen. Beispiel hervorragende Leistungen oder erfolgreiche Drittmitteleinwerbungen zu honorieren. Der Braindrain (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) aus Deutschland wird immer stärker. Schon die Exper- Nach der lückenhaften und in Teilen verfehlten Re- tenkommission „Reform des Hochschuldienstrechts“ hat form der Professorenbesoldung muss auf der Baustelle im April 2000 einen neuen Wissenschaftstarifvertrag ge- „neue tarifliche Bedingungen für die Wissenschaft“ end- fordert. Im rot-grünen Koalitionsvertrag vom Oktober lich mit dem Bau begonnen werden. Hier ist der Bund in 2002 heißt es: der Pflicht. Mit einem Wissenschaftstarifvertrag für Hochschu- (Jörg Tauss [SPD]: Was?) len und Forschungseinrichtungen wollen wir den besonderen Bedingungen in Wissenschaft und For- Frau Ministerin Bulmahn, ergreifen Sie die Initiative! (B) (D) schung Rechnung tragen und Mobilitätshemmnisse Tun Sie etwas entsprechend Ihrem Amtseid und Ihrer zwischen Wissenschaft und Wirtschaft abbauen. Dienstpflicht als Ministerin! Die zur Verfügung stehende Zeit ist sehr knapp bemessen. Derzeit findet in den Wis- So weit die Ankündigung. Die Realität ist aber: Die von senschaftseinrichtungen ein Generationenwechsel statt. Rot-Grün groß angekündigte Reform des Besoldungs- Dieser eröffnet Spielräume für eine Veränderung der systems für alle wissenschaftlich Tätigen findet nicht Arbeitsbedingungen, die wir jetzt nutzen müssen. Frau statt. Außer Spesen nichts gewesen! Das ist die Realität Bulmahn, andernfalls bleibt dank Ihrer rot-grünen Poli- der deutschen Bildungslandschaft. tik „Deutschland. Das von morgen.“ in Wirklichkeit (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- „Deutschland. Das von gestern.“ – Genau das hat der neten der FDP) Wissenschaftsstandort Deutschland nicht verdient. Woran liegt es? Ganz einfach, Bildungsministerin Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Bulmahn kann sich gegen Innenminister Schily nicht (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) durchsetzen. Das Problem kennen wir ja; denn Frau Bulmahn hat sich bereits bei der Grünen Gentechnik nicht gegen ihre grüne Ministerkollegin Künast durch- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: setzen können. Wenn das so weitergeht, verschläft Rot- Ich erteile der Kollegin Grietje Bettin, Bündnis 90/ Grün auch in diesem wichtigen Bereich längst überfäl- Die Grünen, das Wort. lige Reformen, die den Hochschulen größere Autono- mie und einen Anreiz für unternehmerisches Denken Grietje Bettin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): geben sollen. Anstatt selbst aktiv zu werden, wartet die Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle- Bildungsministerin – sie wohnt der heutigen Debatte lei- gen! Zunächst zum Antrag der FDP bezüglich der der nicht bei – auf die Entscheidungen des Bundesinnen- Gleichstellung akkreditierter Masterabschlüsse im öf- ministers und der Tarifgemeinschaft deutscher Länder. fentlichen Dienst: Die grundsätzliche Gleichwertigkeit Das ist keine politische Führung und zeugt von Konzept- von Fachhochschulen und Universitäten ist verfassungs- und Ideenlosigkeit. rechtlich und in § 1 HRG verankert. Diese Gleichwertig- keit findet sich leider – auch zu unserem Bedauern – (Beifall bei der CDU/CSU) nicht in allen notwendigen Bereichen wieder. Der vorlie- So wird die internationale Konkurrenzfähigkeit unseres gende Antrag greift einen – aber leider nur einen – dieser Wissenschaftsstandorts nicht gefördert, sondern torpe- Bereiche heraus: die Unterschiede innerhalb der lauf- diert. bahnrechtlichen Zuordnung von Masterabschlüssen. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2004 7811

Grietje Bettin (A) Wenn das Laufbahnrecht die Universitätsabsolven- wissenschaftlichen Einrichtungen. Hier muss und soll (C) ten dem höheren Dienst, die Fachhochschulabsolventen die begonnene Reform mit der Einführung der W-Be- hingegen dem gehobenen Dienst zuordnet – Herr Kol- soldung vollendet werden. Wir können es uns nicht leis- lege Rachel hat es bereits angesprochen –, dann ist das ten, dass hoch begabte Nachwuchswissenschaftlerinnen logischerweise eine Ungleichbehandlung der Hoch- und Nachwuchswissenschaftler ins Ausland gehen, weil schulabsolventen. Sieht man sich das Studium an Fach- dort die Arbeitsbedingungen attraktiver sind. Wir brau- hochschulen genauer an, dann erscheint eine solche Un- chen flexible und leistungsorientierte Arbeitsbedingun- gleichbehandlung als absolut nicht verständlich. Aus gen für Forschende und Lehrende. Dies wird auch im meiner Sicht entspricht das Fachhochschulstudium mit zweiten vorliegenden Antrag berücksichtigt. seiner Praxisorientierung gerade den Leistungsanforde- rungen der Laufbahn des höheren Dienstes. Ich sage hier Die eigentlich entscheidenden Fragen stellen sich je- ganz klar: Aus grüner Sicht darf es bei der Zulassung doch in Bezug auf die Umsetzung und Durchsetzung ei- zum höheren Dienst keine Vorauslese durch verschieden nes solchen Wissenschaftstarifvertrags. Herangehens- bewertete Masterabschlüsse geben. weisen für die Umsetzung Ihrer Vorschläge kann ich aus Ihrem Antrag leider nicht ersehen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, wie Sie richtig bemerken, haben die Innenminister und die Ebenso wenig kann ich ersehen, wie Sie sich die an die- Kultusminister die Ungleichbewertung von Fachhoch- ser Stelle – übrigens auch in Bezug auf die Masterab- schulen in ihren Vereinbarungen erneut hervorgehoben. schlüsse – notwendige Kommunikation mit den Ländern Diese Vereinbarungen müssen aufgehoben werden. vorstellen. Aber nicht nur die Länder müssen bei dieser Debatte mit einbezogen werden, auch die Gewerkschaf- (Jörg Tauss [SPD]: Gegen den Wunsch der ten und ganz besonders die Hochschulen selbst. Wir Kultusminister!) wollen, dass die Hochschulen eine entscheidende Rolle Es gilt jedoch, noch einige Schritte weiter zu gehen. bei den tariflichen Absprachen übernehmen. Es gibt bereits vonseiten der Wissenschaft veröffent- Wie Sie sehen, liebe Kolleginnen und Kollegen, ste- lichte Gesetzentwürfe, die einer flächendeckenden hen wir den Vorschlägen Ihrer Anträge sehr aufgeschlos- Gleichstellung von Fachhochschulen, wie wir sie be- sen gegenüber. Bei der Konkretisierung, gerade auch auf grüßen, Rechnung tragen. Alle politisch erforderlichen Länderebene, werden wir Sie an Ihre Worte hier erin- Schritte sind darin ganz konkret aufgezählt. nern. Ich hoffe, dass wir gemeinsam im Interesse der (B) Leider wurde es in der Ära Kohl – damit auch von der Wissenschaft in unserem Land hier sehr bald zu Ände- (D) FDP – versäumt, den Hochschulcharakter von Fach- rungen kommen werden. hochschulen in allen Bereichen konsequent anzuerken- Vielen Dank. nen. Indem der vorliegende Antrag nur eine Problematik herausgreift, reiht er sich jedoch in das übliche Verfah- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ren häppchenweiser Änderungen ein. und bei der SPD) (Ulrike Flach [FDP]: Üblich ist das nicht!) Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: In den letzten Tagen war viel von Deutschlands Wett- Nun hat das Wort die Kollegin Marion Seib, CDU/ bewerbsfähigkeit im Bildungssektor die Rede. Durch die CSU-Fraktion. Gleichwertigkeit von Fachhochschulen und Universitä- ten kann ein solcher Wettbewerb aus meiner Sicht auf (Werner Lensing [CDU/CSU]: Jetzt kommt nationaler und internationaler Ebene gefördert werden. der Höhepunkt!) Frau Ministerin Bulmahn hat diese Woche eine stärkere Vernetzung von Wissenschaft und Wirtschaft ange- Marion Seib (CDU/CSU): mahnt. Dafür sind Fachhochschulen doch geradezu prä- Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen destiniert. und Kollegen! Forschungseinrichtungen in Deutschland (Ulrike Flach [FDP]: Aber die sind nicht Teil stehen mit vergleichbaren Einrichtungen im Ausland im des Wettbewerbs!) Wettbewerb um die besten Wissenschaftler. Um in die- sem Wettstreit bestehen zu können, ist es für Hochschu- Jedoch wird bei dem Wort „Elite“ immer nur an Univer- len und außeruniversitäre Forschungseinrichtungen ab- sitäten gedacht. Das ist ein weiterer Beweis dafür, dass solut notwendig, attraktive Beschäftigungsbedingungen es mit der Umsetzung der Gleichwertigkeit von Fach- zu bieten und hoch qualifizierte Beschäftigte zu gewin- hochschulen nicht weit her ist. nen. (Jörg Tauss [SPD]: Bei der Forschung ist das (Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: So ist es!) wieder anders!) Trotz – verunglückter – Reform der Professorenbesol- Wie Sie alle wissen, werden Wissenschaftlerinnen dung steht bislang kein ausreichendes und flexibles Ver- und Wissenschaftler bislang nach dem BAT bezahlt. gütungs- und Entlohnungssystem zur Verfügung, Dies hat sich aus grüner Sicht nicht bewährt. Wir brau- chen einen eigenen, flexiblen Tarif für Angestellte in (Jörg Tauss [SPD]: Bayern!) 7812 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2004

Marion Seib (A) das unsere Forschungseinrichtungen in die Lage ver- Abordnung sowie verbesserte Möglichkeiten zur Befris- (C) setzt, erfolgreich in Konkurrenz mit ausländischen For- tung von Beschäftigungsverhältnissen. Heute ist eine schungseinrichtungen, aber auch mit der Wirtschaft tre- unbefristete Beschäftigung praktisch mit der Unkünd- ten zu können. Es ergeben sich zunehmend gravierende barkeit verbunden und Wissenschaftseinrichtungen stel- Probleme bei der Gewinnung und dem Halten von hoch len wissenschaftliche Mitarbeiter unter diesen Bedin- qualifizierten wissenschaftlichen Mitarbeitern und Tech- gungen nur sehr zurückhaltend ein. nikern, aber auch von professionellen Mitarbeitern im (Thomas Rachel [CDU/CSU]: So ist es!) Wissensmanagement. Ebenso problematisch ist das Signal an die Nach- Hochschule und Wissenschaft müssen strategisch wuchskräfte. Soweit es nicht gelingt, innerhalb von handeln, um die ihnen gesetzten Ziele zu erreichen. zwölf Jahren eine Professur zu erreichen, kann die Ent- Doch die geltenden Bestimmungen des Arbeits- und Ta- scheidung für eine wissenschaftliche Karriere in eine be- rifrechts bieten dafür nicht die richtigen Instrumente. rufliche Sackgasse führen. Diese Situation lässt sich Hochschulen und Wissenschaft müssen auch wirtschaft- nicht länger verantworten. Daran ändert auch die Junior- lich handeln. Doch auch hierzu geben die geltenden professur nichts. Regelungen zur Beschäftigung von Mitarbeitern kaum Hilfestellung. Allerdings stellten 2001 die Vertreter des Bundes, der Tarifgemeinschaft deutscher Länder und der Vereini- Wissenschaftsorganisationen und Hochschulen for- gung kommunaler Arbeitgeber fest, aufgrund unter- dern bereits seit Jahren einen Wissenschaftstarifvertrag, schiedlicher Ausgangssituationen im Bereich der der den besonderen Bedingungen Rechnung trägt und Hochschulen und außeruniversitären Forschungseinrich- die Realitäten des hoch dynamischen Arbeitsmarktes für tungen sei ein flächendeckender Ansatz für eine tarifli- Wissenschaftler berücksichtigt. che Sonderregelung in einem ersten Schritt eben nicht zu bewältigen. (Jörg Tauss [SPD]: Und was sagt Bayern dazu?) Bei den letzten Tarifverhandlungen für den öffentli- chen Dienst wurde auf Initiative der Arbeitgeber eine Ziel einer eigenständigen tariflichen Regelung muss Prozessvereinbarung zur Neugestaltung bis zum 31. Ja- es natürlich sein, erstens die Stärkung der Autonomie nuar 2005 abgeschlossen. Dabei hat man sich auf eine und Eigenverantwortlichkeit von Wissenschaftsein- zweistufige Vorgehensweise verständigt: Zunächst soll richtungen und zweitens die Attraktivität der Arbeit diskutiert werden, welche Veränderungen im allgemei- im Wissenschaftsbereich zu sichern. Drittens müssen wir nen Teil des BAT erfolgen sollen, und danach soll der die Wettbewerbsstrukturen der Wissenschaft sachgerecht Änderungsbedarf bei spartenspezifischen Regelungen (B) weiterentwickeln und viertens die Leistungsfähigkeit der ausgelotet werden. Solange die Beratungen über die Än- (D) Wissenschaftseinrichtungen steigern und deren Wirt- derungen im allgemeinen Teil nicht abgeschlossen sind, schaftlichkeit verbessern. ist es wenig aussichtsreich, erneut in Verhandlungen Was brauchen wir konkret? über einen Wissenschaftstarifvertrag einzutreten. Wenn die Beratung über diese Änderungen im Sommer abge- (Jörg Tauss [SPD]: Einen Antrag aus Bayern!) schlossen sein sollte, wie Sie verkündet haben, könnten wir erneut einen Vorstoß unternehmen, aber nur unter Erstens: eine stärkere Leistungsorientierung. Die traditi- Beachtung der Autonomie der Tarifparteien. onellen Laufbahnschranken müssen für Aufstiege durch- lässiger gemacht werden. Zweitens muss die Eingrup- Ich bedanke mich ganz herzlich für Ihre Aufmerk- pierung von Tätigkeiten umfassend vereinfacht werden. samkeit. Sie sollte primär aufgabenbezogen sein und nicht nach (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) formalen Qualifikationen erfolgen. Drittens muss das System der Entgeltbestimmung entschieden vereinfacht werden. Es muss eine attraktive und konkurrenzfähige Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Vergütung ermöglichen. Viertens brauchen wir die Ein- Das Wort hat nun die Kollegin Ute Berg, SPD-Frak- führung von Regelungen, die eine Ertragspartizipation tion. der Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen an eingeworbenen (Beifall bei der SPD) Drittmitteln ermöglichen. Fünftens brauchen wir die Ab- schaffung der Bewährungs- und Zeitaufstiege. Ute Berg (SPD): (Thomas Rachel [CDU/CSU]: Richtig!) Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Es ist Aufgabe der Regierung, den Menschen Mut zu ma- Sechstens brauchen wir eine Reduzierung der Lebensal- chen“, so Katherina Reiche heute Morgen in ihrer Rede. tersstufen und vor allem die Umwidmung in Berufser- Genau das tut diese Regierung. Wir als Regierungsfrak- fahrungsstufen. tion unterstützen sie dabei. Außerdem, meine sehr verehrten Damen und Herren, (Beifall bei der SPD) brauchen wir eine Verbesserung der Möglichkeiten, Be- schäftigungsverhältnisse zu beenden, insbesondere auch Ich möchte daher heute betonen: Wir sind auf einem durch Einführung von Abfindungszahlungen. Außer- guten Weg. Nach notwendigen Strukturveränderungen dem brauchen wir verbesserte Möglichkeiten zur Verän- der sozialen Sicherungssysteme wendet sich die Bundes- derung von Aufgabengebieten durch Umsetzung oder regierung nun verstärkt einem wichtigen anderen Be- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2004 7813

Ute Berg (A) standteil der Agenda 2010 zu, dem Bereich Innovationen Eine Tatsache darf man in diesem Zusammenhang (C) in Bildung und Forschung. nicht außer Acht lassen – darauf ist schon mehrfach hin- gewiesen worden; ich nenne das noch einmal –: Die Um- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) setzung der bereits beschlossenen Flexibilisierung der Die Debatte um eine gezielte Förderung der Spitzen- Professorenbesoldung geht nur sehr schleppend voran. forschung ist in vollem Gang. Ich bin natürlich hocher- freut darüber, dass die Bundesregierung dieses Thema, (Beifall bei Abgeordneten der SPD) das maßgeblich über die Zukunftsfähigkeit unseres Lan- Gerade mal drei Länder – Rheinland-Pfalz, Bremen und des entscheidet, ganz oben auf die Tagesordnung gesetzt Niedersachsen – haben die Dienstrechtsreform für hat. Professoren bis heute umgesetzt. Nun kann man aber – wir alle wissen das – Spitzen- (Jörg Tauss [SPD]: In Niedersachsen noch die leistung nicht staatlich verordnen. Sie wird durch Leis- SPD! – Gegenruf der Abg. Ulrike Flach tungsanreize und Wettbewerb erreicht bzw. unterstützt. [FDP]: Das liegt nur an den Liberalen, Herr Dem tragen wir Rechnung. Wir werden die Autonomie Tauss!) der Hochschulen stärken – das ist auch ihre Forderung –, und gezielt Leistungsorientierung und Anreize geben, Nur zur Erinnerung: Das Gesetz ist, wie gesagt, schon damit noch mehr Spitzenleistungen erzielt werden. seit zwei Jahren in Kraft. Uns allen wäre wirklich sehr geholfen, Frau Flach, wenn Sie Ihre Parteifreundinnen (Beifall bei Abgeordneten der SPD) und -freunde in den Ländern von Ihren eigenen Ideen Aber auch in der Vergangenheit waren wir nicht untä- überzeugen würden. tig. So haben wir bereits Anfang des Jahres 2002 eine stärkere Flexibilisierung der Professorenbesoldung (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Ulrike gesetzlich verankert und damit eine attraktive und kon- Flach [FDP]: Ich glaube, bei Ihnen sind es ein kurrenzfähige Entlohnung in Form von Grundgehalt und paar mehr!) Leistungszulage eingeführt. Dasselbe gilt für Ihren Vorschlag, den Masterabschluss Diese Entwicklung muss nun bei der Vergütung des an Fachhochschulen generell für den Zugang zum hö- Tarifpersonals an Hochschulen fortgesetzt werden. heren Dienst zuzulassen. Sie wollen die Vereinbarung Frau Schipanski hat diesbezüglich wiederholt und voll- der Kultusminister- und der Innenministerkonferenz mit mundig eine Initiative aus Thüringen angekündigt, dem eingängigen Titel „Zugang zu den Laufbahnen des öffentlichen Dienstes durch Masterabschluss an Fach- (Jörg Tauss [SPD]: Ja!) hochschulen“ aus der Welt schaffen. In dieser Vereinba- (B) auf die wir leider immer noch warten. rung steht – Herr Rachel hat es schon ausführlich darge- (D) stellt –, dass diejenigen, die einen Masterabschluss an (Beifall bei der SPD – Nicolette Kressl [SPD]: einer Fachhochschule gemacht haben, dem höheren Heute Morgen hat sie nichts mehr davon ge- Dienst zugeordnet werden können, aber vorher ein ge- sagt!) sondertes Prüfungsverfahren durchlaufen müssen. Auch Wie Sie alle wissen, laufen zurzeit Verhandlungen zwi- hier ist es so, dass die Vereinbarung auch von den Län- schen Experten des Bundesinnen- und des Bundesfi- dern, in denen Sie mitregieren, unterzeichnet wurde. nanzministeriums, der Tarifgemeinschaft deutscher Län- (Jörg Tauss [SPD]: Gefordert sogar!) der, der kommunalen Arbeitgeberverbände und von Verdi mit dem Ziel, den BAT zu flexibilisieren und zu Ich schlage also vor, dass Sie erst einmal Ihre eigenen modernisieren. Parallel dazu beschäftigt sich der Wis- Leute mit ins Boot nehmen und von Ihrem Kurs über- senschaftsrat mit der Frage der tariflichen Regelungen zeugen. im Wissenschaftsbereich. Ende der Woche werden die Empfehlungen dieses Expertengremiums veröffentlicht. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – (Ulrike Flach [FDP]: Das wird auch Zeit!) Ulrike Flach [FDP]: Haben Sie das denn bei Außerdem gibt es Kontakte zwischen dem Wissen- Ihren Leuten auch einmal probiert?) schaftsrat und den Tarifpartnern. Wir sind zuversichtlich, Es nützt nämlich nichts, wenn Sie von der Brücke „volle dass man hier zu guten, tragfähigen Vorschlägen kom- Kraft voraus“ rufen, während die Mannschaft den Anker men wird. nicht lichtet. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Aus unserer Sicht jedenfalls sind tarifliche Regelun- DIE GRÜNEN) gen für mehr Leistungsorientierung nötig, Die erwähnte Vereinbarung der Kultusminister- (Jörg Tauss [SPD]: Genau!) und der Innenministerkonferenz trägt in der Tat die unverkennbare Handschrift eines Kompromisses. Sie ist aber auch – in dieser Frage sind wir uns sicherlich einig – lediglich ein erster Schritt in die richtige Richtung. Aus der Abbau von bürokratischen Hemmnissen für Neben- bildungspolitischer Sicht hätten wir uns schon damals tätigkeiten, um die Zusammenarbeit von Wissenschaft weitere Schritte gewünscht, und Wirtschaft zu intensivieren und Ausgründungen aus der Hochschule zu erleichtern. (Beifall des Abg. Jörg Tauss [SPD]) 7814 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2004

Ute Berg (A) um Ernst zu machen mit der politisch gewollten Gleich- Johannes Pflug (SPD): (C) wertigkeit der Fachhochschulen. Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Durch den Bologna-Prozess und die damit verbun- Herren! Meine Fraktion begrüßt es sehr, dass es gelun- dene rasante Verbreitung der Bachelor- und Master-Stu- gen ist, einen fraktionsübergreifenden Antrag zu Korea diengänge hat in den letzten Monaten eine dynamische einzubringen. Das erhöht unsere Möglichkeiten, auf par- Entwicklung stattgefunden, der auch die Politik Rech- lamentarischer Ebene einen Beitrag zur Vertiefung der nung tragen muss. Die Vereinbarungen der Innen- und deutsch-koreanischen Beziehungen zu leisten. Es erhöht der Kultusminister der Länder sind gerade auch vor die- auch die Möglichkeiten, zur Annäherung der beiden Ko- sem Hintergrund nicht der Weisheit letzter Schluss. reas beizutragen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie der Die Parlamentarier Süd- und Nordkoreas haben schon Abg. Ulrike Flach [FDP]) vor zwei Jahren anlässlich des Besuchs der deutsch-ko- reanischen Parlamentariergruppe in Süd- und Nordkorea Sie können aber nicht, wie es sich die FDP vorstellt, ein- ihr Interesse an gemeinsamen Gesprächen und Kontak- fach mit einem Handstreich weggefegt oder vom Bund ten bekundet. Wir sollten, Herr Kollege Koschyk, bei ignoriert werden. unserem Besuch, der hoffentlich noch in diesem Jahr stattfindet, unsere Einladung nach Deutschland erneuern Aus bildungspolitischer Sicht betone ich abschlie- und betonen, dass wir als Gastgeber und Gesprächspart- ßend aber ganz klar: Auf eine sorgfältige Evaluation der ner zur Verfügung stehen. Vereinbarungen können und dürfen wir nicht mehr lange warten. Sie sollte zügig durchgeführt werden, damit wir (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ dann zu Entscheidungen kommen können, die sicherlich CSU und der FDP) im Sinne aller Bildungspolitiker sind. Es ist wichtig, gerade die bisherige Isolation der nord- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ koreanischen Repräsentanten zu mindern und für sie DIE GRÜNEN) Möglichkeiten zu schaffen, sich mit der Welt außerhalb Nordkoreas vertraut zu machen. Dabei geht es nicht um Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Vermittlung zwischen Nord und Süd, auch nicht um die Ich schließe die Aussprache. Regelung der Nuklear- und Sicherheitsfragen. Darum kümmern sich andere Staaten. Hier sollten wir uns und Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf auch die Möglichkeiten der Europäischen Union nicht den Drucksachen 15/1710 und 15/1716 an die in der Ta- überschätzen. Es handelt sich dabei auch eher um Fragen (B) gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen, der Exekutive als der Legislative. Aber deutsche Parla- (D) wobei die Vorlagen federführend im Innenausschuss be- mentarier können zur Verbesserung des politischen Kli- raten werden sollen. Sind Sie damit einverstanden? – mas beitragen und Bedingungen für einen offeneren Dia- Mit Ausnahme des Kollegen Tauss, der seinen Wider- log schaffen. spruch allerdings nur in Form eines Zwischenrufs artiku- lierte und nicht förmlich anmelden möchte, stelle ich das (Beifall bei der SPD und der FDP sowie des Einverständnis des Hauses fest. Damit sind die Überwei- Abg. Hartmut Koschyk [CDU/CSU]) sungen so beschlossen. Die frühere Teilung Deutschlands und unsere politi- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf: schen Entscheidungen zur Überwindung der Folgen die- ser Teilung sind in Korea aufmerksam verfolgt worden, Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- nicht als Modell, das importiert werden könnte, sondern richts des Auswärtigen Ausschusses (3. Aus- als Ermutigung, dass ein Land – wenn auch unter ande- schuss) zu dem Antrag der Fraktionen der SPD, ren Bedingungen – mit einer Entspannungspolitik posi- der CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE tive Erfahrungen hat machen können. GRÜNEN und der FDP Die Bedingungen für eine Entspannungspolitik, die Die deutsch-koreanischen Beziehungen dyna- in Südkorea eine Zeit lang unter dem Begriff „Sonnen- misch fortentwickeln scheinpolitik“ Unterstützung fand, sind in der Tat sehr – Drucksachen 15/2167, 15/2411 – viel anders, als sie es in Deutschland waren. Die Spal- tung reicht sehr viel tiefer; die Isolierung beider Länder Berichterstattung: war und ist nach wie vor viel umfassender als zwischen Abgeordnete Johannes Pflug den beiden Teilen Deutschlands. Die Auswirkungen er- Dr. Klaus Rose leben wir noch heute immer wieder. Der Fall des Profes- Dr. Ludger Volmer sors Song Du-Yul ist ein Beispiel dafür. Ohne den kon- Dr. Rainer Stinner kreten Sachverhalt der Anklage gegen Professor Song Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Du-Yul von dieser Stelle aus bewerten zu wollen und zu Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre können, bin ich der Meinung, dass Gesetze aus der ei- keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. sigsten Zeit des Kalten Krieges überprüft und aufgeho- ben werden sollten. Wir werden den Prozess weiterhin Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst sehr aufmerksam beobachten und unterstützen die Bun- der Kollege Johannes Pflug für die SPD-Fraktion. desregierung dabei, auf eine schnelle Lösung hinzuwir- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2004 7815

Johannes Pflug (A) ken, wie sie es auch bisher getan hat; denn schließlich ist echte Kooperation und ist keine Alibiteilnahme einiger (C) Professor Song Du-Yul deutscher Staatsbürger. weniger Personen an bestimmten Programmen. Aber es gibt den unübersehbaren Willen, den heuti- Natürlich darf man sich über das Ausmaß und das gen Zustand zu ändern. Wo immer wir als Deutsche et- Tempo der Annäherung keine Illusionen machen. Auch was dazu beitragen können – durch unsere Erfahrungen in Seoul ist die anfängliche Euphorie über den Sonnen- und durch unsere politische Praxis –, sollten wir es tun. scheinprozess einer nüchternen Betrachtungsweise ge- Nordkorea ist ein schwieriger Partner in der Region, wichen. Aber entscheidend ist, dass die Einsicht wächst, aber auch darüber hinaus. Nordkorea macht immer wie- dass es keine Alternative zur beiderseitigen Verständi- der von sich reden: als Lieferant von Raketen und gung gibt. Wo immer wir als Deutsche oder Europäer Waffentechnologien, als Staat mit nuklearen Ambitio- eine Gelegenheit haben, diese Einsicht zu fördern, soll- nen. ten wir sie nutzen. Wir unterstützen die internationalen Bemühungen zur Schönen Dank. Beendigung der nordkoreanischen Atomwaffenpro- (Beifall im ganzen Hause) gramme und fordern Nordkorea auf, sich dem Regime des Nichtverbreitungsvertrages wieder anzuschließen Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: (Beifall im ganzen Hause) Das Wort hat nun der Kollege Hartmut Koschyk, CDU/CSU-Fraktion. und sich dem Kontrollregime der IAEO wieder zu unter- stellen. Wir begrüßen es ausdrücklich, dass eine ameri- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) kanische Delegation die Gelegenheit hatte, die nuklearen Anlagen in Yongbyon zu besichtigen. Wir legen aber zu- Hartmut Koschyk (CDU/CSU): gleich Wert darauf, dass Nordkorea sich wieder der in- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit ternationalen Kontrolle unterstellt. dem heute zu verabschiedenden interfraktionellen Antrag (Beifall im ganzen Hause) unterstreicht der Deutsche Bundestag erneut, welch hohen Stellenwert er den deutsch-koreanischen Beziehungen Wir halten es zugleich für richtig, zu versuchen, einräumt. Bereits in der vergangenen Legislaturperiode Nordkorea auch politisch international einzubinden und hatten wir durch einen interfraktionellen Antrag mit dem seine Sicherheitsinteressen ernst zu nehmen mit dem Titel „Frieden, Stabilität und Einheit auf der koreanischen Ziel, nordkoreanischen Politikern zu verdeutlichen, dass Halbinsel“ unsere uneingeschränkte Unterstützung der so sie auch für ihre Sicherheitsbedürfnisse durch internati- genannten Sonnenscheinpolitik des damaligen südkorea- (B) onale Kooperation mehr gewinnen können als durch nischen Staatspräsidenten und Friedensnobelpreisträgers (D) Rüstungsprogramme und nukleare Drohoptionen. Wir Kim Dae Jung zum Ausdruck gebracht. sind sicher, dass dies auch im Interesse Südkoreas liegt. In dem heute zu verabschiedenden Antrag sprechen In diesem Geiste lässt sich sicherlich auch die diplo- wir uns dafür aus, die deutsch-koreanischen Beziehun- matische Schlacht um die Herausgabe einer japanischen gen dynamisch fortzuentwickeln. Anlass für diesen An- Briefmarke über die Insel Dokdo – wie sie auf Korea- trag – der Herr Kollege Pflug hat es bereits erwähnt – ist nisch heißt – oder Takeshima – wie sie auf Japanisch die Aufnahme diplomatischer Beziehungen vor 120 Jah- heißt – sehr schnell beenden. Der Streit um die Staatszu- ren durch den am 26. November 1883 unterzeichneten gehörigkeit dieses Felsstückes ist keinen Konflikt wert. ersten Handels-, Freundschafts- und Schifffahrtsvertrag. Aus den anfänglichen Handelsbeziehungen hat sich bis (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU heute ein alle Bereiche der Staatenzusammenarbeit um- und der FDP) fassendes Beziehungsgeflecht entwickelt, das erfreuli- Vor zwei Monaten, am 26. November letzten Jahres, cherweise auch zu einer Vertiefung der menschlichen haben wir den 120. Jahrestag der Aufnahme diplomati- Beziehungen führte. scher Beziehungen zwischen Deutschland und Korea Wenn man sich die Beziehungen zwischen Deutsch- begangen. Beide Länder unterzeichneten damals in Che- land und Korea in den letzten 120 Jahren ansieht, wird mulpo den ersten Handels-, Freundschafts- und Schiff- man feststellen, dass sie in den verschiedenen Phasen fahrtsvertrag. Dieser Jahrestag war der Anlass für unse- unterschiedlich intensiv waren. Sie waren aber immer ren fraktionsübergreifenden Antrag. Es ist wichtig, mit gänzlich frei von Spannungen. Die Teilung Deutsch- dieser Debatte deutlich zu machen, dass Deutschland lands und Europas, aber auch die Teilung Koreas nach schon sehr lange freundschaftliche Beziehungen zu Ko- dem Zweiten Weltkrieg, die durch den Koreakrieg ze- rea unterhält und dass daran auch die Spaltung des Lan- mentiert wurde, bewirkten, dass die Beziehungen beider des nichts grundlegend geändert hat. Staaten in Deutschland zu den beiden Staaten auf der ko- reanischen Halbinsel immer in den internationalen Ost- Deutschland bemüht sich heute darum, den Annähe- West-Beziehungen eingebettet waren, dass sie aber auch rungsprozess zwischen Nord- und Südkorea zu fördern. dadurch ihre Grenzen fanden. Das Goethe-Institut in Seoul leistet hierzu wichtige Ar- beit. Es ist das einzige Institut, das auch in Nordkorea Heute verfügt das wiedervereinigte Deutschland so- Projekte durchführt und von Pjöngjang zur Kooperation wohl über diplomatische und freundschaftliche Bezie- ermuntert wird. Wichtig ist: Es handelt sich hierbei um hungen zur Republik Korea als auch seit März 2001 über 7816 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2004

Hartmut Koschyk (A) diplomatische Beziehungen zur Demokratischen Volks- sche Union eine wesentlich aktivere Rolle als gegenwär- (C) republik Korea. Die deutsche Politik lässt sich sicher so tig spielen. beschreiben: Deutschland begleitet, eingedenk seiner eigenen Teilung und deren Überwindung, den innerkore- Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, es ist kein anischen Annäherungsprozess mit großer Anteilnahme. Zweifel: Das Fundament eines stärkeren deutschen Engage- Weil Deutschland und Europa ihre Teilung 1989/90 ments auf der koreanischen Halbinsel bilden die hervorra- friedlich überwinden konnten, unterstützen sie alle Be- genden Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutsch- mühungen zur Überwindung der Teilung Koreas. land und der Republik Korea. Wir können in allen Bereichen, vor allem aber was unsere Wirtschaftsbeziehungen anbe- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie langt, eine erfreuliche Entwicklung feststellen. Deutsche bei Abgeordneten der SPD) Unternehmen haben in Korea mehr als 5 Milliarden Euro vor allem in den Produktionssektor investiert. Aber Ich glaube, es ist wichtig, dass wir erkennen, dass die- auch koreanische Unternehmen haben zunehmend den ser aktive Beitrag Deutschlands und Europas für Frieden, Weg nach Deutschland und – dafür sind wir besonders Stabilität und Demokratie auf der koreanischen Halbinsel dankbar – gerade in die neuen Bundesländer gefunden. international erwünscht wird. Deshalb ist es richtig, dass Unser bilateraler Handel ist mit 10 Milliarden Euro hoch die Bundesrepublik Deutschland und die Europäische und fast ausgeglichen. Wir sollten all denen danken, die Union die gegenwärtigen Sechsergespräche, die durch zu diesen sehr erfolgreichen Wirtschaftsbeziehungen die Volksrepublik China angestoßen wurden, mit großer beigetragen haben. Ich nenne stellvertretend die Aufmerksamkeit verfolgen. In diesen Gesprächen su- Deutsch-Koreanische Handelskammer in Seoul, aber chen die beiden koreanischen Staaten, China, die USA, auch den Deutsch-Koreanischen Wirtschaftskreis in Japan und die Russische Föderation nach einer Lösung Deutschland. der Nuklearkrise auf der koreanischen Halbinsel. Dieser Prozess wird von Deutschland sehr intensiv unterstützt (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der und begleitet. SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie und der FDP) bei Abgeordneten der SPD) Es geht jedoch auch um die menschliche und die kul- In dem heute zu verabschiedenden Antrag spricht sich turelle Dimension unserer Beziehungen. In den 60er- der Deutsche Bundestag dafür aus, dass die Bundesre- Jahren prägten koreanische Bergleute und Kranken- gierung den Teilnehmern dieser Sechsparteiengespräche schwestern positiv das Bild Koreas in der damaligen die guten Erfahrungen des KSZE-Prozesses in Europa Bundesrepublik Deutschland. Heute sind es zahlreiche vermittelt. Wir meinen, dass zur Überwindung der ge- in Deutschland tätige koreanische Unternehmen mit ih- (B) (D) genwärtigen Spannungen auf der koreanischen Halbinsel ren Mitarbeitern, aber auch Tausende koreanische Stu- auch Deutschland und die Europäische Union einen Pro- denten. Im Hinblick auf die Beziehungen zur Demokra- zess unterstützen sollen, der eben nicht nur eindimensio- tischen Volksrepublik Korea leisten die Bürger nal auf die Lösung des Nuklearproblems abzielt, sondern Nordkoreas, die in der ehemaligen DDR eine berufliche auch vertrauensbildende Maßnahmen, Rüstungskontrolle, Aus- und Weiterbildung absolviert haben, einen wichti- Wirtschafts- und Energiethemen, innergesellschaftlichen gen menschlichen Anknüpfungspunkt. Wandel, die Lage der Menschenrechte und einen breiten Wir können feststellen, dass beiden koreanischen Staa- Dialog darüber sowie einen Interessenausgleich zwi- ten ein sehr großes Interesse an deutscher Sprache und schen Nordkorea und den benachbarten Staaten umfasst. Kultur gemeinsam ist, ein Interesse, dem leider von deut- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie scher Seite im Hinblick auf die koreanische Sprache bei Abgeordneten der SPD) und Kultur nicht in gleichem Umfang entsprochen wird. Wir meinen, dass Deutschland und die Europäische Union das regionale Bemühen um Sicherheit in Nord- (Dr. Friedbert Pflüger [CDU/CSU]: Leider!) ostasien dahin gehend unterstützen können, dass die De- Gleichwohl gibt es bedeutsame kulturelle Brücken- mokratische Volksrepublik Korea ihre Nuklearwaf- bauer in unseren Beziehungen. Der deutsche Koreanist fenambitionen aufgibt, internationale Kontrollen wieder Andre Eckardt, der in Deutschland wirkende Schriftstel- zulässt, dafür aber auch mittel- bis langfristig internatio- ler Mirok Li, aber auch der aus Nordkorea stammende nal eingebunden wird, Sicherheitsgarantien erhält und Musiker und spätere deutsche Staatsbürger Isang Yun effektive Hilfsmaßnahmen zur Energieversorgung, zur seien genannt. Gegenwärtig können wir in Berlin eine Verbesserung der humanitären Lage der Bevölkerung Ausstellung der sehr jungen koreanischen Künstlerin und zur wirtschaftlichen Entwicklung bekommt, die und Baselitz-Schülerin Soo-Kyoung Seo mit dem sehr dann langfristig auch in eine politische Öffnung des Lan- schönen Titel „Meine deutschen Träume“ sehen, in der des münden. in hervorragender Art und Weise eine koreanisch-deut- Ich meine, dass ein stärkeres deutsches und europäi- sche Kultursymbiose dokumentiert wird. sches Engagement in dieser Richtung auch in der Region (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der begrüßt und gewünscht wird. Dabei ist zum Beispiel SPD und der FDP) denkbar, dass sich bei einem erfolgreichen Verlauf aus den Sechsparteiengesprächen eine Art Nordostasien- Das Goethe-Institut mit seiner hervorragenden Arbeit KSZE entwickelt, in der Deutschland und die Europäi- in Süd- und Nordkorea, der Deutsche Akademische Aus- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2004 7817

Hartmut Koschyk (A) tauschdienst, die Alexander-von-Humboldt-Stiftung, po- gangenheit und Zukunft der deutsch-koreanischen Be- (C) litische Stiftungen, aber auch die deutsch-koreanischen ziehungen. Es ist sehr erfreulich, dass bereits im Dezem- Gesellschaften haben eine breite Basis kulturell-wissen- ber die Nationalversammlung der Republik Korea, schaftlicher Zusammenarbeit zwischen Deutschland und ebenfalls mit großer Mehrheit, einen Parlamentsantrag den beiden koreanischen Staaten geschaffen. Sie ergän- mit dem Titel „Anlässlich des 120-jährigen Bestehens zen so als dritte Säule in hervorragender Weise die deut- der koreanisch-deutschen Beziehungen die freundschaft- sche Außenpolitik, wobei wir unseren Diplomaten sowie liche Kooperation zwischen beiden Staaten ausbauen“ den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in den deutschen angenommen hat und dass sich die Nationalversamm- diplomatischen Vertretungen in Seoul und Pjöngjang lung der Republik Korea ihrerseits für eine Intensivie- große Anerkennung für ihre hervorragende Arbeit zollen rung unserer Beziehungen ausgesprochen hat. sollten. In diesem Sinne setzen wir hier in großer politischer (Beifall im ganzen Hause) Einigkeit ein gutes Signal, nämlich dass unsere Bezie- Für das Bild Deutschlands vor allem in Nordkorea ist je- hungen zu beiden Staaten auf der koreanischen Halbin- doch der Einsatz unserer humanitären Hilfsorganisationen sel weiter intensiviert werden können. Ich bitte Sie um entscheidend. Wir konnten bei mehreren Delegationsrei- Zustimmung zu diesem interfraktionellen Antrag. sen der deutsch-koreanischen Parlamentariergruppe, Herzlichen Dank. aber auch durch Reisen einzelner Kollegen spüren, wel- chen entscheidenden Beitrag die Deutsche Welthunger- (Beifall im ganzen Hause) hilfe und das Deutsche Rote Kreuz gemeinsam mit inter- nationalen humanitären Organisationen in hervorragender Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Weise zur Verbesserung der Versorgungslage der Men- schen in Nordkorea geleistet haben, was wir sehr aner- Ich erteile das Wort dem Kollegen Ludger Volmer, kennen und wofür wir herzlichen Dank sagen. Bündnis 90/Die Grünen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Dr. Ludger Volmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): neten der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP) Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Da ich den Ausführungen des Kollegen Pflug und des Kol- Das Jahr 2005 wird ein besonderes Jahr in unseren legen Koschyk vollständig zustimmen kann, insbeson- Beziehungen sein. Die Republik Korea wird Länder- dere was unsere Beziehungen zu Südkorea und unsere schwerpunkt der Frankfurter Buchmesse und der Asien- Haltung zum zwischenkoreanischen Annäherungspro- Pazifik-Wochen in Berlin sein. Es bleibt zu wünschen, zess angeht, möchte ich das Augenmerk auf die Sicher- (B) dass sich daraus wichtige Impulse für die Beziehungen heitsprobleme richten, die es im Zusammenhang mit (D) Deutschlands zu beiden koreanischen Staaten entwi- Nordkorea gibt. ckeln. Dank einer hervorragenden Initiative der Bot- schaft der Republik Korea hier in Berlin wurde von süd- Die Bundesregierung – und zusammen mit ihr fast koreanischer Seite das Jahr 2005 zum „Korea-Jahr“ alle anderen Staaten der Europäischen Union – hat vor deklariert, was durch zahlreiche Veranstaltungen über einigen Jahren die diplomatischen Beziehungen zu Korea und die deutsch-koreanischen Beziehungen zum Nordkorea aufgenommen. Dieser Schritt war wichtig, Ausdruck kommen wird. um Nordkorea überhaupt wieder in internationale Ge- sprächs- und Verhandlungsprozesse einzubeziehen. Wir sind sehr dankbar für das im Jahr 2002 unter Schirmherrschaft beider Staatsoberhäupter ins Leben ge- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) rufene Deutsch-Koreanische Forum, das seit seinem Be- stehen wichtige Impulse in den Bereichen Wirtschaft, Wir waren damals der Auffassung, dass der richtige An- Handel, Umweltpolitik sowie Kultur und Bildung ge- satz gegenüber Nordkorea nicht derjenige ist, dieses setzt hat. Land immer weiter in die Isolation zu treiben, sondern derjenige, dieses Land trotz aller Dialogprobleme im In dem heute zu verabschiedenden Antrag fordern wir Sinne einer integrativen Außenpolitik in die internatio- die Bundesregierung auf, auch geeignete Maßnahmen nale Staatengemeinschaft hineinzuholen. für einen deutsch-koreanischen Jugendaustausch un- ter Einbeziehung beider koreanischer Staaten zu entwi- Zum Glück konnten wir damals an die südkoreani- ckeln. Wir unterstreichen – darauf hat Herr Pflug hinge- schen Ambitionen anknüpfen, über die „Sonnenschein- wiesen – erneut unsere Bereitschaft, einmal in Berlin ein politik“ die Annäherung zwischen den beiden koreani- Treffen mit Parlamentariern aus Nord- und Südkorea schen Staaten zu betreiben. Diesen Prozess haben wir durchzuführen, um auch als Deutscher Bundestag einen mit sehr viel Hoffnung und Engagement begleitet. Beitrag zur weiteren Vertrauensbildung und Annäherung Leider hat sich seitdem auf der nordkoreanischen auf der koreanischen Halbinsel zu leisten. Seite ein Problem erneut zugespitzt, das wir eigentlich (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie für überwunden geglaubt haben, nämlich die Frage der bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE atomaren Rüstung. Auch dieses Thema sollten wir, so GRÜNEN und der FDP) meine ich, im Sinne einer integrativen Außenpolitik be- handeln. Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, nicht nur wir beschäftigen uns heute durch diesen Antrag mit Ver- (Lothar Mark [SPD]: Sehr richtig!) 7818 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2004

Dr. Ludger Volmer (A) Wir sollten uns die Frage stellen, wie wir Nordkorea – ja, Herr Pflüger, das sage ich ja –, sie über Druck in die (C) dazu bewegen können, auf nukleare Optionen zu ver- Ecke zu treiben und zum Einlenken zu bewegen. zichten und nicht als Gefährder des Weltfriedens aufzu- treten. In diesem Kontext kann Deutschland eine Rolle spie- len, denn beide Koreas schauen mit sehr viel Interesse Die Appelle an Nordkorea, das internationale Kon- auf den deutschen Weg zur Wiedervereinigung. Wir trollregime zu akzeptieren, sind völlig richtig. Ich kann wissen – wenn man beide Situationen vergleicht –, dass mich dem nur anschließen. Wir müssen uns aber auch die Situation Koreas ungleich schwieriger ist. Deshalb die Frage stellen, ob wir Nordkorea den Weg dorthin er- halten wir uns mit klugen Ratschlägen zurück, sind aber leichtern können. immer bereit, mit beiden Seiten zu reden, wenn unser Rat gefragt ist. Erinnern wir uns an die innere Lage Nordkoreas. Nordkorea war jahrzehntelang von Subventionen aus Auch ich kann hier nur betonen: Wir begrüßen, dass dem Ostblock abhängig. Es hing am Tropf Moskaus und Korea das Schwerpunktland der Asien-Pazifik-Wochen hat anders als andere Drittweltstaaten 1989/1990 den im nächsten Jahr sein wird. Wir freuen uns auf eine ver- richtigen Zeitpunkt verpasst, um sich vom kommunisti- tiefte Diskussion über diese beiden Länder, die uns kul- schen Staat zu einem reformorientierten und demokra- turell so viel zu bieten haben und von denen wir hoffen, tisch orientierten Staat zu entwickeln. Das ist zwar be- dass sie zueinander finden, um eine ähnlich gemeinsame dauerlich, aber Faktum. Zukunft zu haben, wie wir das heute im wiedervereinig- ten Deutschland erleben. Das Ergebnis dieser verpassten Chance ist, dass die Bevölkerung Nordkoreas heute hungert. Nordkorea Danke. glaubt zwar aufgrund seiner Juche-Ideologie, einen (Beifall im ganzen Hause) autochthonen Prozess, abgekoppelt von der Weltwirt- schaft, organisieren zu können. Aber im Ergebnis wird Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: das Volk strukturell verhungern. Eine unserer ersten Maßnahmen im Zusammenhang mit der Wiederauf- Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der nahme der diplomatischen Beziehungen war, die huma- Kollege Harald Leibrecht, FDP-Fraktion. nitäre Hilfe zu intensivieren. Der Preis, den wir von Nordkorea verlangten, war gering. Wir wollten, dass Harald Leibrecht (FDP): sich unsere humanitären Helfer frei bewegen können Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und und auch Journalisten Zugang haben, sodass wir mehr Herren! Wir von der FDP-Bundestagsfraktion freuen uns Informationen bekommen können. Die Informationslage ganz besonders, dass sich der Deutsche Bundestag end- (B) hat sich seitdem verbessert, die reale Lage im Lande lich mit der koreanischen Halbinsel befasst. Korea ge- (D) nicht. hört zu den schwierigsten und brennendsten Krisen- herden auf der Welt; und das nicht nur wegen des Ich befürchte, dass die atomare Option gar nicht in Atomwaffenprogramms Nordkoreas. erster Linie dazu gedacht ist, sich über militärisches Im- poniergehabe in der Region einen besonderen Status zu Die Befassung mit diesem Thema geht auf einen An- verschaffen, sondern dass es sich dabei um eine Export- trag der FDP-Fraktion zurück, den wir schon im Februar option handelt, mit der Devisen erwirtschaftet und damit letzten Jahres in den Deutschen Bundestag eingebracht die notwendigsten Dinge eingekauft werden können, die haben. Damals haben wir eine internationale Sicher- zum Überleben in diesem Lande notwendig sind. heitsinitiative für Nordostasien gefordert, um über einen multilateralen Zugang Auswege aus der verfahrenen Si- Daraus ergibt sich für uns die Aufgabe, Nordkorea tuation dort zu finden. den Weg in eine integrierte Weltwirtschaft zu ebnen, Nordkorea zu motivieren, die Grenzen zu öffnen und Inzwischen findet ein Dialog im Rahmen der so ge- von dieser kruden und antiquierten Ideologie der Selbst- nannten Sechsergespräche statt. An den Verhandlungen behauptung Abschied zu nehmen, und im Zuge der Wie- ist die EU nicht beteiligt. Daher möchte ich an dieser deraufnahme in die internationale Staatengemeinschaft Stelle unser Plädoyer für eine stärkere Beteiligung der und der Einbeziehung in den internationalen Handel Europäischen Union am Entspannungsprozess in Korea dazu zu bewegen, auf die atomaren Optionen zu verzich- wiederholen. ten. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Ich möchte deshalb ausdrücklich begrüßen, dass un- der SPD, der CDU/CSU und des BÜNDNIS- ser transatlantischer Partner, die Vereinigten Staaten, den SES 90/DIE GRÜNEN) Gesprächsfaden zu Nordkorea wieder aufgenommen hat, Wir haben darauf hingewiesen, dass in Europa mit dem vielleicht auch motiviert durch die guten Erfahrungen, KSZE-Prozess ein Modell entwickelt wurde, wie ein die wir gemacht haben, als wir mit dem Iran oder Kalter Krieg überwunden werden kann. Wir freuen uns, Libyen, Staaten, die in der Vergangenheit ebenfalls Be- dass sich dieser Ansatz in unserem interfraktionellen sorgnis auslösten, einen Verhandlungsweg gefunden ha- Antrag wiederfindet. ben. Das ist besser, als wenn man versucht, Die koreanische Halbinsel ist, wie einst Deutschland, (Dr. Friedbert Pflüger [CDU/CSU]: Hat auch geteilt. Wenn ich aber heute höre, dass junge Koreaner geholfen!) nach Deutschland kommen, um den Prozess der deut- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2004 7819

Harald Leibrecht (A) schen Wiedervereinigung zu studieren, dann stimmt Polens und Tschechiens zur Europäischen (C) mich das sehr zuversichtlich. Dies zeigt, dass Deutsch- Union 2004 land aufgrund geschichtlicher Parallelen Wege für eine Wiedervereinigung beider koreanischer Staaten aufzei- – Drucksachen 15/1379, 15/1623 – gen kann. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die So ging der deutschen Wiedervereinigung auch ein Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Dazu höre intensiver Kulturaustausch und dadurch eine zwischen- ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. menschliche Annäherung voraus. Diesen Ansatz unter- Ich eröffne die Aussprache und erteile zunächst der stützen deutsche Organisationen auf der koreanischen Kollegin Veronika Bellmann, CDU/CSU-Fraktion, das Halbinsel. Auch Sie, Herr Koschyk, haben das ja gerade Wort. angesprochen. Dabei handelt es sich beispielsweise um das Goethe-Institut, aber auch um die politischen Stif- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) tungen. Die Friedrich-Naumann-Stiftung war eine der ersten, die in Nordkorea aktiv wurden. Die deutschen Veronika Bellmann (CDU/CSU): Botschaften in Seoul oder Pjöngjang sind tagtäglich um Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her- eine Annäherung beider Staaten bemüht. Die Nichtregie- ren! Die Osterweiterung der Europäischen Union stellt rungsorganisationen, zum Beispiel die Welthungerhilfe, für die deutsche Zollverwaltung eine ihrer größten He- versorgen Hunderttausende von Menschen in Nordkorea rausforderungen dar, und dies, nachdem bereits im Zuge mit Lebensmitteln. der Wiedervereinigung ein enormer Umstrukturierungs- Trotzdem müssen wir heute eine Tickermeldung zur prozess vollzogen wurde bzw. vollzogen werden sollte. Kenntnis nehmen, die uns mit großer Sorge belastet. Da- Denn dieser Prozess ist leider noch nicht vollkommen rin wird auf die Verschlechterung der Ernährungslage abgeschlossen. Manchmal hat man den Eindruck, dass in Nordkorea hingewiesen, weil schlichtweg die Spen- das Wort „Reform“ an dieser Stelle nicht zutreffend ist. den ausbleiben. Hier muss an die westliche Welt appel- liert werden, ihren Selbstverpflichtungen nachzukom- Die Reformbemühungen des Bundesfinanzministe- men und das Welternährungsprogramm am Leben zu riums innerhalb der Zollverwaltung waren an mancher halten, dem im Moment schlichtweg die Nahrungsmittel Stelle wenig zukunftsweisend und nicht auf Dauer trag- ausgehen. fähig. Jetzt hat das Bundesfinanzministerium zur Sozial- verträglichkeit, zu Berufsperspektiven und zur heimat- Meine Damen und Herren, im August letzten Jahres nahen Verwendung Zusagen gegeben. Es dient nicht der stellten die Koreaner die internationale Studentenolym- Glaubwürdigkeit der Verwaltung, wenn die zugesagte (B) piade „Universiade“ unter das Motto „Dream for Unity“. Überführung des einfaches Zolldienstes in den mittleren (D) Was mir sehr gut gefallen hat, war, dass die deutsche De- Dienst noch nicht vorangekommen ist. Hier ist die Auf- legation auf eine Tafel geschrieben hat: „Unity is pos- forderung der Union an die Bundesregierung, diese Auf- sible“. Dieses Ziel müssen wir weiterverfolgen und gabe endlich zu lösen. Nord- und Südkorea auch weiterhin Unterstützung zu- kommen lassen. Dann wird auch dort endlich eine Verei- Der Aufgabenbereich der Zollverwaltung hat sich nigung im demokratischen Sinne möglich sein. vor allem in den letzten 20 Jahren, insbesondere durch das Schengener Abkommen – die Binnengrenzen der Besten Dank. Europäischen Union werden verschwinden – stark ver- (Beifall im ganzen Hause) ändert. Der große Unterschied zur Entwicklung der letz- ten Jahre und Jahrzehnte ist aber, dass wir für unsere Zöllner keine Folgeaufgaben mehr haben, jedenfalls Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: nicht im klassischen Sinne. Hinzu kommt, dass ein Ich schließe die Aussprache. Großteil der circa 6 000 von der Osterweiterung der Eu- Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Auswärti- ropäischen Union betroffenen Zöllner in strukturschwa- gen Ausschusses auf Drucksache 15/2411 zu dem inter- chen Regionen an der Ostgrenze Deutschlands beschäf- fraktionellen Antrag mit dem Titel „Die deutsch-koreani- tigt ist. Bis zu zwei Drittel von ihnen werden schen Beziehungen dynamisch fortentwickeln“. Der voraussichtlich ihre jetzige Arbeitsstelle verlieren. Eine Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 15/2167 beträchtliche Zahl derer, die keine ortsnahe Anschluss- in der Ausschussfassung anzunehmen. Wer stimmt für verwendung finden können, wird damit diesen Regionen diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – verloren gehen. Entsprechende Ausgleichsmaßnahmen Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist einstim- werden von der Bundesregierung allerdings nicht in Be- mig angenommen. tracht gezogen, wie in der Antwort zu Punkt 11 unserer Großen Anfrage zu lesen ist. Die Bundesregierung hat Ich rufe Tagesordnungspunkt 10 auf: zwar keine Erhebungen – so sagt sie –, aber sie geht da- Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten von aus, dass keine nennenswerte Auswirkung auf die Peter Hintze, Peter Altmaier, Veronika Bellmann, Kaufkraft der betroffenen Regionen eintreten werde. – weiterer Abgeordneter und der Fraktion der Man sieht daran auch, welche Wertigkeit der Osten für CDU/CSU die Bundesregierung hat. Strukturveränderungen der Bundeszollver- Doch die Bundesregierung schafft auch – durch ihre waltung sowie Auswirkungen der Beitritte ureigene Form der Arbeitsbeschaffung – neue Aufgaben 7820 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2004

Veronika Bellmann (A) für den Zoll: Zum Beispiel wird die weitere Erhöhung der sehr unvollkommenen – Mautsystems Hunderte (C) der Tabaksteuer für erheblichen Kontrollbedarf sorgen, neuer Mitarbeiter eingestellt, ohne dabei die bei den denn insbesondere zum Schmuggel werden besondere Grenzspediteuren frei werdenden Arbeitskräfte zu be- Anreize entstehen. Die Filterfunktion der Zigarette rücksichtigen. bleibt, die Filterfunktion des Grenzübertritts aber ent- fällt. Diesem Problem kann nicht durch unmittelbare und Auch die Bundesagentur für Arbeit hat ihre besondere statische zöllnerische Grenzkontrollen begegnet werden. Fürsorge für die aufgrund politischer Strukturverände- rungen freigesetzten Arbeitskräfte bisher nicht erkennen Die Gewerkschaft der Polizei, der Bundesgrenz- lassen. Man kann hier nur feststellen: Das ist bei den schutz, der Zoll, selbst der Generalstaatsanwalt sagen Turbulenzen und der Egomanie in den Führungsgremien dazu, dass die Neuordnung des Zollfahndungsdienstes kein Wunder. Bei den Mitarbeitern der Zolldienstleister die bisher erfolgreich praktizierte zeit- und ortsnahe Zu- handelt es sich vorwiegend um Quereinsteiger. Für diese sammenarbeit weitgehend zunichte machen würde. Das Zöllner brauchen wir also eine Fortbildung, um ihre zeigt sich am Umfang sichergestellter Schmuggelware Marktchancen deutlich zu erhöhen. Insofern ist die Bun- – da gibt es eine Halbierung –, aber auch an der Halbie- desagentur für Arbeit hier sehr gefragt. rung der Anzahl von Straf- und Bußgeldverfahren. All das führt zu einem Verlust von Zoll- und Steuermitteln. Das würde die Menschen genauso fit für die Zukunft machen, wie es auch die Zollverwaltung werden muss; (Beifall der Abg. [CDU/CSU]) denn es wird nicht nur der Wegfall der Außengrenze, Die Gewerkschaft der Polizei sagt weiter: Was tut Bun- sondern auch der technische Fortschritt auf uns zukom- desminister Eichel? Er schwächt die Zollverwaltung. – men. Das heißt, die Steuererklärung wird in Zukunft 2 300 Stellen sind anvisiert – so war der Großen Anfrage überwiegend online an die Finanzbehörde geschickt zu entnehmen –, gut 400 seien bisher unbesetzt, das Ist werden. Auch das wird dazu führen, dass die Zollver- liegt bei 1 293. Und das bei der Veränderung und den waltung nicht mehr in gleichem Maße wie vorher direkt vielfältigen Aufgaben! Wir brauchen also eine größere vor Ort sein muss. Kontrolldichte an den Grenzen. Die Arbeitsgruppe „Ost“, die im Bundesfinanzministerium dazu gebildet Diese Möglichkeiten der neuen Technologien zielen wurde, hat vorgeschlagen, 15 mobile Kontrollgruppen bei der Warenabfertigung nicht mehr auf die klassische zu bilden. Wir regen an, diese Zahl auf 21 zu erhöhen; Einheit von Anmeldung und Abfertigung. Vielmehr wird das entspricht in etwa der bisherigen Anzahl der Zoll- die Erhebung der Einfuhrabgaben und Verbrauchsteuern kommissariate. Lieber dem Bedarf entsprechend anfan- schon bald EDV-gestützt, papierlos und ohne Nähe zur gen und später gegebenenfalls reduzieren, als schon mit Ware erfolgen. Solche Tätigkeiten können prinzipiell (B) zu geringer Zahl anfangen und feststellen, dass man den auch zentral erledigt werden. Eine in der Fläche notwen- (D) Aufgaben nicht gerecht werden kann. dige Präsenz von Finanzbehörden als Steuererhebungs- und -verwaltungsbehörden ist aus diesen Gründen nicht Auch die vollständige Übernahme der Bekämpfung mehr erforderlich. von Schwarzarbeit und illegaler Beschäftigung und die dadurch notwendige Integration der bisher bei der Bun- Im Gegensatz dazu wird der Bereich der Zollverwal- desanstalt für Arbeit Beschäftigten bedeuten eine große tung, der die Maßnahmen der fiskalischen und polizeili- Herausforderung für die Zollverwaltung. Statt Putzfrau- chen Überwachung, Kontrolle und Verfolgung von enverfolgung brauchen wir eine spezielle Verfolgung der Zuwiderhandlungen gewährleistet, aufgrund der Not- organisierten Kriminalität. wendigkeit der körperlichen Nähe zur Ware, zum Her- Eine möglichst heimatnahe, sozialverträgliche stellerbetrieb, zur Tat oder zum Täter in der Fläche Anschlussverwendung muss angestrebt werden. Sollte immer präsent sein müssen. Betriebsüberwachung, letztlich aus Gründen der Funktionsfähigkeit keine An- Schmuggelbekämpfung, Strafverfolgung und Gefahren- schlussverwendung im eigenen Bezirk möglich sein, be- abwehr sind Aufgaben, die sich nicht von einem zentra- darf es deutlicher Mobilitätsanreize. Hier könnte man len Ort aus erledigen lassen. Dem Umstand, dass ver- nach dem Beispiel des Umzuges der Regierung von schiedene Behördenteile des Zolls in bestimmten Fällen Bonn nach Berlin vorgehen: wöchentliche Heimfahrten, vor Ort präsent sein müssen, wird die heutige Struktur finanzielle Unterstützung beim Wohnortwechsel – all der Zollverwaltung nicht gerecht. Keine der bisher ange- das, was dem Staatssekretär zugestanden hat oder für ihn dachten Strukturmaßnahmen lässt solche Überlegungen Recht und billig war, sollte auch für den kleinen Zoll- erkennen. sekretär gelten, der garantiert nicht so gut betucht ist wie Selbst die Gewerkschaft der Polizei stimmt uns zu ein Staatssekretär. und fordert eine zukunftsweisende Struktur für die Zurück zu den Arbeitsplätzen im Osten. Es gibt den Kollegen in der Zollverwaltung. Der Zoll soll im Voll- unmittelbaren Kaufkraftverlust in Ostdeutschland durch zug eben nicht nur eine Bundesfinanzverwaltung, son- eine Versetzung der Beschäftigten der Zollverwaltung. dern quasi eine Bundesfinanzpolizei sein. Genau darin Darüber hinaus sind weitere Arbeitsplätze durch den liegt die Zukunft. Wir brauchen also weitere tragfähige Wegfall der bisherigen EU-Ostgrenze gefährdet. So wer- Konzepte für die Zukunft der Zollverwaltung. Die Union den nach dem 1. Mai 2004 bis zu 400 Grenzspeditions- wird sich konsequent und konstruktiv an dem Entwurf mitarbeiter ohne Anstellung sein. Das Bundesamt für einer neuen Struktur der Zollverwaltung und des Voll- Güterverkehr hat in Erwartung des neuen – technisch lei- zugs beteiligen. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2004 7821

Veronika Bellmann (A) Ich komme zum Schluss: Dabei werden wir uns an verringert – auch dies ein Ausweis von modernem Staat (C) den Erfordernissen, die uns die Praktiker vor Ort schil- und schlanker Verwaltung. Die Zahl der Zollfahndungs- dern, und nicht an den fiskalischen Begründungen der ämter wurde auf acht und deren Außenstellen auf 24 re- Ministerien orientieren; denn wie sagt man so schön: duziert. Die Zahl der Zollämter wird von 388 auf 277 Nicht jeder, der aus dem Rahmen fällt – das kommt bei abgeschmolzen. Die Bekämpfung der Schwarzarbeit ge- den Ministerien der Bundesregierung ja häufig vor –, nießt hohe Priorität und wird durch verstärkten Personal- war vorher über die Sache auch im Bilde. einsatz intensiviert. Dabei geht es, Frau Kollegin Bellmann, nicht um die Jagd auf illegal beschäftigte Vielen Dank. Putzfrauen, sondern um die Bekämpfung der gewerbli- (Beifall bei der CDU/CSU) chen illegalen Beschäftigung. Der Grenzaufsichtsdienst an den Grenzen zu Polen Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: und Tschechien wird schrittweise umgebaut. Die für In- Ich erteile der Parlamentarischen Staatssekretärin tensivkontrollen zuständigen Sondergrenzaufsichtsstel- Barbara Hendricks das Wort. len werden verstärkt. Die Mobilen Kontrollgruppen für Kontrollen im Hinterland werden auf- und ausgebaut, Dr. Barbara Hendricks, Parl. Staatssekretärin beim also auch personell verstärkt. Jede Mobile Kontroll- Bundesminister der Finanzen: gruppe wird mit doppelt so viel Personal wie bisher aus- Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und gestattet, nämlich 36 statt bisher 18 Stellen umfassen. Herren! Ich war doch glatt der irrigen Annahme, man Auch dies soll man bitte beachten. könnte über ein solches Thema auch ohne irgendwelche Die Straffungsmaßnahmen auf der Ebene der polemischen Spitzen reden. Da habe ich mich getäuscht. Hauptzollämter und Zollfahndungsämter sind schon zum Dass die einführenden Worte der Kollegin Bellmann 1. Januar 2002 umgesetzt worden. Nach der EU-Ost- nicht ohne solche polemischen Spitzen auskamen, fand erweiterung kommt es bei der Aufgabenwahrnehmung ich vor allen Dingen vor dem Hintergrund dessen ver- natürlich zu erheblichen Veränderungen. Die übertrage- wunderlich, was die Bundesfinanzverwaltung schon ge- nen grenzpolizeilichen Aufgaben werden im Einverneh- tan hat und weiterhin in die Wege leitet, um genau die men mit dem Bundesministerium des Innern nicht mehr Probleme zu minimieren, die zulasten der Bediensteten durch die Zollverwaltung, sondern durch den Bundes- der Zollverwaltung zwangsläufig entstehen werden, grenzschutz wahrgenommen. Zudem entfallen alle wenn im Mai die Grenzen zu unseren östlichen Nach- grenzbezogenen zollrechtlichen Warenkontrollen, da barn geöffnet werden. Ich glaube, manchmal wäre es nach dem Gemeinschaftsrecht an allen EU-Binnengren- zen grundsätzlich freier Warenverkehr herrscht. (B) ganz gut, einfach einmal vorurteilsfrei zu schauen, was (D) schon geschehen ist und zur Kenntnis zu nehmen, was in Die Osterweiterung der Europäischen Union wird manchen Bundesländern der Bundesrepublik Deutsch- aufgrund dieser Aufgabenminderungen in den Bundes- land, die nicht an die bald zur EU und zum Binnenmarkt ländern Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg, Sach- gehörenden neuen Mitgliedsländer im Osten grenzen, sen und Bayern zu weit reichenden strukturellen Verän- geschehen ist. derungen im Bereich der Zollverwaltung führen. Im Die Anträge auf Vergütung der Mineralölsteuer, die Grenzabfertigungs- und im Grenzaufsichtsdienst an den so genannte Agrardieselvergütung, werden zum Beispiel Grenzen zu Polen und Tschechien wird Personal in einer zentral in den Hauptzollbezirken Cottbus und Löbau und Größenordnung von 3 900 Arbeitskräften freigesetzt, nicht mehr in Karlsruhe, Koblenz, Köln und Hannover und zwar wegen EU-rechtlich gebotener Aufgabenredu- bearbeitet. Sollte im Interesse der Zöllner, die es im zierung. Diese Beschäftigten sind, soweit sie bei den Bundesgebiet insgesamt gibt, nicht auch das einmal po- fortbestehenden grenznahen Dienststellen nicht weiter sitiv gewürdigt werden? Ein bisschen weniger Polemik eingesetzt werden können, für andere Aufgaben der wäre wirklich angemessen gewesen. Zollverwaltung, zum Beispiel für die verstärkte Be- kämpfung von illegaler Beschäftigung und auch des Zi- (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/ garettenschmuggels, vorgesehen. DIE GRÜNEN und der FDP) Eine Arbeitsgruppe im Bundesfinanzministerium hat Bundesfinanzminister hatte Mitte 1999 sich im ersten Halbjahr 2003 eingehend mit den perso- entschieden, die Strukturen der Bundesfinanzverwal- nalwirtschaftlichen Auswirkungen der EU-Osterwei- tung, insbesondere die der Zollverwaltung, zu moderni- terung befasst und eine Reihe von Vorschlägen zur sieren. Strukturanpassungen in der Zollverwaltung sind Aufgabenverlagerung bzw. für eine intensivierte Wahr- besonders mit Blick auf die Osterweiterung der Euro- nehmung bestimmter Zollaufgaben wie zum Beispiel bei päischen Union zum 1. Mai 2004 geboten. Wir werden den Mobilen Kontrollgruppen in den Grenzbereichen zu das Konzept zur umfassenden Neustrukturierung der Polen und Tschechien entwickelt, die eine sozialverträg- Zollverwaltung, welches wir schon damals beschlossen liche Weiterbeschäftigung der unter sozialen Aspekten haben, schrittweise realisieren und haben damit natürlich besonders betroffenen Beschäftigten gewährleisten. schon angefangen. Insgesamt ist es uns gelungen, für rund 2 570 Be- Bis zur EU-Osterweiterung werden wir die folgenden schäftigte der Zollverwaltung eine heimatnahe Verwen- Straffungsmaßnahmen im Wesentlichen vollziehen: Die dung vorzusehen. Für rund 1 000 Beschäftigte kommen Zahl der Hauptzollämter wurde bereits von 83 auf 54 überregionale Verwendungen in Betracht. Für sie gilt 7822 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2004

Parl. Staatssekretärin Dr. Barbara Hendricks (A) selbstverständlich, Frau Kollegin Bellmann, das Um- Strukturwandel in der den Beamten eigenen Weise fair, (C) zugskostenrecht des Bundes: Wenn sie denn wirklich staatsbezogen und verantwortlich eingelassen haben. umziehen müssen, was nicht sicher ist, werden sie ent- sprechend dem geltenden Umzugskostenrecht des Bun- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie des, welches auch bei der Verlagerung des Regierungs- bei Abgeordneten der SPD) sitzes von Bonn nach Berlin Anwendung gefunden hat, Gleichwohl möchte ich hier auf zwei Probleme auf- entschädigt und in ihren Kosten entlastet. Auch da war merksam machen, die mit der Zollverwaltung zu tun ha- Polemik nicht notwendig, Frau Kollegin Bellmann; da- ben. Das eine Problem, das wir aktuell zu diskutieren ha- rauf will ich noch einmal deutlich hinweisen. ben, ist die Übertragung der Zuständigkeit für die Aus den absehbaren weit reichenden Aufgabenverän- Bekämpfung der Schwarzarbeit von der Bundesagen- derungen müssen zwangsläufig die notwendigen aufbau- tur für Arbeit auf die Zollverwaltung. Man liest zumin- organisatorischen Konsequenzen gezogen werden, um dest in der Tagespresse, dass das noch nicht optimal er- eine effiziente Struktur der Zollverwaltung auch künf- folgt, um das sehr freundlich, Frau Staatssekretärin, zu tig sicherstellen zu können. Es ist vorgesehen, zehn formulieren. Ich wäre dankbar, wenn die Bundesregie- große Grenzzollämter an der deutsch-polnischen und rung zu diesen aktuellen Berichten vielleicht einmal im deutsch-tschechischen Grenze bis auf weiteres als Bin- Finanzausschuss oder an anderer Stelle Stellung nehmen nenzollämter mit einem Personaleinsatz von insgesamt könnte. zunächst rund 500 Arbeitskräften fortzuführen. Die Pla- nungen der deutschen Zollverwaltung sehen vor, die zu- Es gibt einen zweiten, viel grundsätzlicheren Aspekt künftigen Binnenzollämter durch ein umfangreiches Ser- im Zusammenhang mit der Übertragung der Zuständig- viceangebot für die Wirtschaftsbeteiligten besonders keit für die Bekämpfung der Schwarzarbeit. Wir haben attraktiv zu machen. Mit dem modernen elektronischen das wiederholt im Finanzausschuss diskutiert, einmal Abfertigungsverfahren ATLAS wurde übrigens neuer- auch im Kontext der Tabaksteuererhöhung. Wir müssen dings erstmals die Möglichkeit einer vollständigen elek- feststellen: Das Phänomen Schwarzarbeit hat wachsende tronischen Kommunikation zwischen Wirtschaft und Tendenz und sicherlich können Zollbeamte oder andere Zollverwaltung geschaffen. Beamte eingesetzt werden, um diese zu bekämpfen. Aber ist das wirklich die Lösung zur Bekämpfung der Der vorgestellte Umstrukturierungsprozess schafft Schwarzarbeit? Das ist es nicht. eine leistungsfähige Zollverwaltung, die den neuen He- rausforderungen in einem zusammenwachsenden Euro- Hier verweisen wir auf die Antwort der Bundesregie- pa voll gewachsen und effizient aufgebaut ist. Er ist üb- rung auf eine Anfrage der FDP aus dem vergangenen Jahr. Es ist immer gut, wenn man sich auf die Bundesre- (B) rigens selbstverständlich, Frau Kollegin Bellmann, auch (D) mit denjenigen, die vor Ort tätig sind, abgestimmt wor- gierung beziehen kann. Denn sie antwortet auf die Frage, den, und zwar über die Gremien örtlicher Personalrat, welches denn die Ursachen für die Schattenwirtschaft Bezirkspersonalrat und Hauptpersonalrat. Auch ich per- seien, wie folgt: sönlich bin vor Ort gewesen. Die Bediensteten, zum Bei- Als maßgebliche Determinanten des Umfangs der spiel die in Löbau, haben sich bei mir, stellvertretend für Schattenwirtschaft werden in einschlägigen Ab- den Bundesfinanzminister, dafür bedankt, dass wir an handlungen zum Thema die Steuer- und Abgaben- den bisherigen Ostgrenzen unsere Aufgaben weiter belastung, die Regulierungsdichte, das Niveau der wahrnehmen. Ich glaube nicht, dass die CDU uns dabei Lohnersatzleistungen … angeführt. helfen muss, alles neu anzufangen. Aber vielleicht haben Sie das auch gar nicht so gemeint. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der SPD – Veronika Bellmann der CDU/CSU) [CDU/CSU]: So oft habe ich meinen Namen Das sind die eigentlichen Probleme. Solange wir die noch nie gehört!) nicht angehen, können wir noch so viel kontrollieren. Wir werden nicht die notwendigen Wachstumskräfte ent- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: fachen, die wir gerade für die neuen Bundesländer brau- Das Wort hat der Kollege Professor Pinkwart, FDP- chen, damit es dort zu einer nachhaltigen Verbesserung Fraktion. der Lebensbedingungen kommt. Deswegen wollen wir alles tun, was hier, auch in der Zollverwaltung, notwen- Dr. Andreas Pinkwart (FDP): dig ist, um einen sozialverträglichen Umstrukturierungs- prozess zu begleiten. Aber bitte – diese Bitte richte ich Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und an die Bundesregierung, aber auch an die Oppositions- Herren! Zunächst ist positiv hervorzuheben, dass offen- fraktionen – lassen Sie uns alles tun, damit die Rahmen- sichtlich alle Bemühungen unternommen werden – das bedingungen so gesetzt werden, dass die Wirtschaft für ist eben ausgeführt worden –, für eine sozialverträgliche die notwendigen Arbeitsplätze in diesem Land sorgen Umstrukturierung zu sorgen. Darauf legen wir ausdrück- kann. Dann müssen wir uns auch nicht immer wieder lich Wert, genauso wie darauf, dass dabei die spezifi- neue Aufgaben für den öffentlichen Dienst erarbeiten. schen Strukturprobleme der neuen Bundesländer und der veränderte Kontrollbedarf im Zuge der EU-Osterweite- Herzlichen Dank. rung Berücksichtigung finden. Unser besonderer Dank gilt an dieser Stelle den Zollbeamten, die sich auf diesen (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2004 7823

(A) Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: hen wird. Diese Erhöhung ist angemessen und sinnvoll. (C) Das Wort hat nun die Kollegin Christine Scheel, Hierbei wird auf die Beschäftigten zurückgegriffen, die Bündnis 90/Die Grünen. bislang an den Grenzen eingesetzt waren. Auch das ist sinnvoll und es ermöglicht eine ortsnahe Verwendung, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) die die jeweilige Lebenssituation der Beschäftigen in der Zollverwaltung berücksichtigt. Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ich möchte einmal deutlich machen, welche Arbeit Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Die be- von den Beschäftigten geleistet wird. Ein Container mit vorstehenden Strukturveränderungen in der Bundeszoll- 10 Millionen Zigaretten, die auf den Schwarzmarkt ge- verwaltung stehen in direktem Zusammenhang mit dem bracht werden, bringt den Schwarzhändlern einen Ge- Beitritt von Polen und Tschechien zur EU. Der europäi- winn von ungefähr einer halben Million Euro, weil sie sche Binnenmarkt wird sich zum 1. Mai 2004, wie wir Steuern in Höhe von 1 Million Euro einsparen. Wenn alle wissen, um insgesamt zehn Länder vergrößern. Wir man diese Zahlen hochrechnet, kommen Gewinnvolu- begrüßen diesen wirtschaftlichen und politischen Inte- mina im Bereich von 1 Milliarde bis 2 Milliarden Euro grationsprozess sehr. zusammen. Insofern ist die Arbeit der Mobilen Kontroll- (Beifall des Abg. Gert Weisskirchen gruppen sehr wichtig. [Wiesloch] [SPD]) Auch bei der Bekämpfung der gewerbsmäßigen Als Ergebnis dieses Integrationsprozesses werden Schwarzarbeit besteht großer Handlungsbedarf, vor al- zum 30. April 2004 wesentliche Aufgaben der Zollämter lem im Sinne fairer Wettbewerbsbedingungen auf dem entfallen, vor allem an unseren Grenzen zu Polen und Bau und im Handel. Wir haben gestern im Finanzaus- Tschechien; die Frau Staatssekretärin hat bereits darauf schuss erfahren, dass der internationale Umsatzsteuerbe- hingewiesen. Denn innerhalb der Europäischen Union trug – beispielsweise durch Karussellgeschäfte – auf gibt es bekanntlich keine Zölle, sodass sich die Zoll- nationaler Ebene allein im Umsatzsteuerbereich zu Steu- außengrenzen der Europäischen Union in Richtung erausfällen in Höhe von schätzungsweise 16 Milliarden Ukraine verschieben. bis 18 Milliarden Euro führt. Die durch nicht abgeführte Sozialversicherungsbeiträge in der Bauwirtschaft entste- Es ist völlig logisch – das sage ich auch an die Kol- henden Verluste sind in dieser Summe noch nicht be- leginnen und Kollegen der CDU/CSU-Fraktion ge- rücksichtigt. wandt –, dass es infolgedessen zu umfangreichen Verän- derungen in den Strukturen der Bundeszollverwaltung (Dr. Andreas Pinkwart [FDP]: Aber das ist (B) kommen muss. Auf der einen Seite fallen Aufgaben er- nicht vom Zoll zu lösen!) (D) satzlos weg; auf der anderen Seite kommen neue Aufga- ben hinzu. Deswegen ist es wichtig, dass die Beschäftigten des Zolls und der Bundesagentur für Arbeit ihren Beitrag bei Insgesamt 4 310 Beschäftigte in der Zollverwaltung der Bekämpfung der Schwarzarbeit leisten, damit wir sind von den Veränderungen betroffen. Für die meisten der organisierten Wirtschaftskriminalität verstärkt entge- Zollbeamten und -beamtinnen ist eine so genannte gentreten können. heimatnahe Verwendung vorgesehen, die mit neuen Aufgaben verbunden ist. 2 570 Beschäftigte finden in Letzte Bemerkung: Die Personalaufstockungen unter den jeweiligen Regionen eine neue Aufgabe, rund dem neu strukturierten Dach „Finanzkontrolle Schwarz- 1 000 Beschäftigte sind für eine überregionale Verwen- arbeit“ an 113 Standorten in der Bundesrepublik unter dung vorgesehen. Hierfür liegt ein gemeinsam mit der der Regie der Oberfinanzdirektion Köln – die dortigen Verwaltung ausgearbeitetes sehr langfristiges Konzept Beschäftigten sind sehr qualifiziert ausgebildet, die Zu- vor, mit dem die durch den Beitritt entstehende Situation sammenarbeit ist überaus modern – werden einen we- auch sozialverträglich vorbereitet wurde. sentlichen Beitrag dazu leisten, dass wir der organisier- ten Schwarzarbeit insgesamt mit größerem Erfolg Wichtig für die Umsetzung der Strukturreform sind entgegentreten können. Deswegen sind die Verlagerun- die neuen Aufgaben, die auf die Beamtinnen und Beam- gen und die neuen Schwerpunktsetzungen durchaus zu- ten zukommen. Ich möchte nur zwei Aufgabenbereiche kunftsgerichtet, sorgen für mehr Steuereinnahmen und herausgreifen: die so genannten Mobilen Kontrollgrup- Wettbewerb und richten sich auch gegen wirtschaftspoli- pen und die Bekämpfung der organisierten gewerblichen tische Verzerrungen im Zusammenhang mit der Ost- Schwarzarbeit. erweiterung. Das Personal in den Mobilen Kontrollgruppen be- Vielen Dank. kommt eine gute Ausbildung, die effiziente Arbeitser- gebnisse gewährleisten soll. Denn dort wird man stärker (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN mit der Problematik des Schmuggels konfrontiert wer- und bei der SPD) den. Schätzungen zufolge wird beispielsweise der durch den Schwarzmarkt im Zigarettenhandel entstehende Schaden im Jahr 2005 1,4 Milliarden Euro betragen. Die Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Zollfahndung setzt Mobile Kontrollgruppen hinter den Ich erteile das Wort dem Kollegen Georg Fahrenschon, Grenzen ein, deren Zahl sie von derzeit 43 auf 48 erhö- CDU/CSU. 7824 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2004

(A) Georg Fahrenschon (CDU/CSU): Liebe Frau Staatssekretärin, unser Vorwurf ist nach- (C) Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Unwider- vollziehbar, was besonders bei der Antwort der Bundes- sprochen: In exakt 92 Tagen haben wir es mit einer der regierung auf die Frage 24 unserer Großen Anfrage deut- größten Umstrukturierungen bundesstaatlicher Organi- lich wird. Wir haben die Bundesregierung gefragt, ob es sationseinheiten zu tun. Die Frau Staatssekretärin hat die ein Personalkonzept für die Umstellung gibt. Von Zahlen, die die Hauptzollämter, die Zollämter und die 6 000 Zöllnerinnen und Zöllnern sind rund zwei Drittel Zollfahndungsämter angehen, schon genannt. Ich – laut Antwort der Bundesregierung 4 300 – betroffen. möchte ein anderes Beispiel wählen, um den Umfang Angesichts dessen ist es doch notwendig, der Umstel- der Veränderung darzustellen. Von den bislang 1 500 Ki- lung ein Personalkonzept zugrunde zu legen, aus dem lometern, die Deutschlands Drittlandsgrenzen umfass- hervorgeht, was ab dem 1. Mai dieses Jahres mit den be- ten, bleiben im Grunde nur noch die 407 Kilometer troffenen Beschäftigten geschieht. Drittlandsgrenze zur Schweiz übrig. Alles andere fällt (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- weg. Damit sind im Grunde alle unsere Zöllnerinnen und neten der FDP) Zöllner betroffen. Laut der Antwort der Bundesregierung auf die Frage 24 (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE unserer Großen Anfrage – lesen Sie das ruhig nach – gibt GRÜNEN]: Alle an die Schweizer Grenze!) es kein Personalkonzept. – Das ist keine Lösung, Herr Ströbele. Ich möchte he- (Elke Wülfing [CDU/CSU]: Das ist ja rausarbeiten, was die Union mit ihrer Großen Anfrage wie bei Struck!) erreichen will und wo das Problem liegt. Die Standorte und die Stellen sind zwar in etwa ausge- Es handelt sich um ein ernsthaftes Problem. Wir wol- wiesen, aber wann mit der Arbeit an den einzelnen len mit unserer Großen Anfrage endlich Klarheit da- Standorten begonnen werden soll, können Sie heute rüber erreichen, was mit den betroffenen zwei Dritteln noch nicht sagen. unserer Angestellten sowie Beamtinnen und Beamten in diesem Bereich geschehen wird. Noch auf der großen Sehr geehrte Frau Staatssekretärin, wir wollen doch, Tagung der Deutschen Zoll- und Finanzgewerkschaft dass der Zoll ordentlich arbeitet. Ich versuche – gestehen am 4./5. Dezember 2003 war dies nicht klar. Es gab Sie mir das als jungem Abgeordneten zu –, mir der Tat- 36 offene Fragen, angefangen bei der Frage, welche sache bewusst zu sein, dass wir hier in gewissem Sinne Einsatzmöglichkeiten der einfache Dienst bei den Mobi- auch als Arbeitgeber auftreten. Das ist zwar in erster Li- len Kontrollgruppen hat, über die Fragen, wann die zu- nie Ihr Job, aber wir, die Mitglieder des Bundestages, ha- (B) gesagten Kräfte von der Ostgrenze eigentlich an ihren ben auch eine gewisse Personalverantwortung. Wir wis- (D) neuen Standorten zu erwarten sind, wie der Sprechfunk sen, dass der Zoll es mit organisierter Kriminalität, mit funktioniert, wann der Digitalfunk beim Zoll eingeführt Schmuggel und wirklichem Bandentum zu tun hat. Da- wird, bis hin zu den Fragen, was mit den Binnendienst- her ist klarzustellen, dass dort eine wichtige Aufgabe er- leistungen nach der EU-Osterweiterung geschehen soll füllt wird. Wenn wir von den Mitarbeiterinnen und Mit- und wie sich die dafür zuständigen Dienststellen entwi- arbeitern des Zolls verlangen, dass sie ordentlich arbeiten, dann müssen wir ihnen Planungssicherheit ckeln werden. Frau Staatssekretärin, der Aufgabenbe- geben. Wir müssen sie motivieren, statt sie nicht zu in- reich Agrardieselvergütung ist zwar im Konzept aufge- formieren. Wir müssen auf Vertrauen statt auf Verunsi- führt. Aber am 1. Mai dieses Jahres wird man in diesem cherung setzen. Bereich noch nicht arbeitsfähig sein. Es ist außerdem nicht klar, wie mit den Arbeitern, also den einfachen An- (Elke Wülfing [CDU/CSU]: So ist das!) gestellten, verfahren werden soll, die zum Beispiel zur Bundesvermögensverwaltung abgeordnet sind. Was ge- Die Informationspolitik des Finanzministeriums als schieht mit den Beschäftigten an den Standorten, an de- Dienstherr ist zu kritisieren. Der bisherige Zustand hat nen der Bund noch nicht einmal im Besitz der notwendi- dazu geführt, dass der Vorsitzende der Deutschen Zoll- gen Liegenschaften ist? Es gibt also Fälle, in denen noch und Finanzgewerkschaft es im Dezember in Dortmund nicht einmal Büros vorhanden sind, damit der Zoll seine auf den Punkt gebracht hat, als er Hans Eichel ins Arbeit aufnehmen kann. Stammbuch geschrieben hat: Angesichts dessen ist es nicht in Ordnung, uns Pole- Noch funktioniert das deutsche Zollwesen. Herr mik vorzuwerfen. Sie wollen nur verschleiern, dass wir Minister Eichel, sorgen Sie dafür, dass es so bleibt. mit unserer Großen Anfrage den Menschen, die wir an- Dem ist nichts hinzuzufügen. gestellt haben und die für uns arbeiten, klar machen wol- len, was auf sie zukommt. Ich bedanke mich. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) neten der FDP) Nur eine Petitesse – man kann sich natürlich auch im Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Detail verlieren –: Auch die Zukunft der Zollboten ist Letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt ist nicht geklärt. Das muss ebenfalls gesagt werden. die Kollegin Lydia Westrich, SPD-Fraktion. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2004 7825

(A) Lydia Westrich (SPD): (Beifall der Abg. Christine Scheel [BÜND- (C) Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im NIS 90/DIE GRÜNEN]) Gegensatz zu Herrn Fahrenschon bin ich der CDU/CSU Es gibt dort viele hoch qualifizierte Spezialisten. Die für diese Große Anfrage außerordentlich dankbar, Möglichkeiten zum prüfungsfreien Aufstieg eröffnen vielen Mitarbeitern neue Chancen. Ob dieser Aufstieg so (Georg Fahrenschon [CDU/CSU]: Das bin ich funktioniert, wie er funktionieren soll, das können wir auch! Sie können davon ausgehen, dass ich ihr noch überprüfen. Die entsprechenden Aufstiegschancen dankbar bin!) sind jedenfalls vorhanden. Meine Damen und Herren weil sie dokumentiert, wie verantwortlich die rot-grüne von der Opposition, aus den Beratungen im Finanzaus- Bundesregierung sowohl mit den Interessen der Be- schuss wissen Sie genau, wie sorgfältig das Finanzmi- schäftigten als auch der betroffenen Regionen umgegan- nisterium diesen Umbau vorbereitet und begleitet hat. gen ist. Wir alle, die Mitglieder des Finanzausschusses, haben in vielen Sitzungen in den letzten Jahren darauf gedrun- Wir alle sind uns einig, dass der Anlass dieser Großen gen und geachtet, dass alle erdenklichen sozialverträgli- Anfrage ein sehr freudiges Ereignis ist. Erst vor zwei Ta- chen Maßnahmen ergriffen werden. Zumindest wir Ab- gen hat hier die Sonderveranstaltung des Deutschen geordnete der Koalitionsfraktionen haben im Laufe der Bundestages aus Anlass des Gedenktages für die Opfer letzten Jahre wiederholt Gespräche mit den Personal- des Nationalsozialismus stattgefunden. Gerade diese be- räten, den Verbänden und Gewerkschaften geführt. drückende Erinnerung muss uns die Osterweiterung der Europäischen Gemeinschaft, den Beitritt von Ländern Insgesamt ist die Riesenleistung der Umstrukturie- wie Tschechien und Polen wie ein Wunder erscheinen rung des Zolls nur durch die Mitarbeit der Zöllnerinnen lassen. Jetzt debattieren wir die praktischen Auswirkun- und Zöllner geschultert worden. Es sieht nicht so aus, gen der Entwicklung von Feind zu Freund, von Bewa- Frau Bellmann, als ob die Beschäftigten bei der jetzt not- chung von Grenzen bis zur – sicherlich auch für Sie, wendigen Umstrukturierung an der Ostgrenze die Mitar- Kollegin Bellmann – wünschenswerten Unsichtbarkeit beit verweigern, obwohl es schmerzhafte Einschnitte in dieser Mauern. das berufliche und persönliche Leben Tausender Be- schäftigter geben wird. Das letzte Jahrzehnt war wirklich eine Herausforderung für die Zollverwaltung. Wir haben das im Finanzaus- Wenn wir uns die Antworten auf die Große Anfrage schuss viele Jahre lang verfolgt. Da ich an der französi- genauer ansehen, stellen wir fest, dass die jetzige Um- schen Grenze wohne, kann ich mich noch an viele Ge- strukturierung mehr Chancen als Härten – es gibt sicher auch solche – aufweist, angefangen vom Bleiberecht für (B) spräche und Eingaben aus der Zeit der Öffnung des (D) Binnenmarktes erinnern. Wir Politiker haben damals Beschäftigte des einfachen Dienstes über die vereinfach- freudestrahlend Grenzschranken durchgesägt; aber die ten Aufstiegsmöglichkeiten in den verschiedenen Berei- Zöllner haben zur gleichen Zeit ihre Koffer gepackt, um chen bis hin zu hoch qualifizierten Arbeitsplätzen, die nach Frankfurt (Oder), Chemnitz oder Forst, also mehr gerade jungen motivierten Mitarbeitern beste Chancen in als 800 Kilometer von ihrem bisherigen Einsatzort ent- den wirtschaftlich schwachen Regionen bieten. fernt, zu fahren. Beim Ministerium hat – im Gegensatz zu dem, was Sie, Herr Fahrenschon, gesagt haben – die Arbeitsgruppe Jetzt sägen wir dort an den Grenzpfählen. Die Konse- „Arbeit für den Osten“ zusammen mit den Beschäftigten quenzen für die Zollverwaltung werden in der Antwort ein Konzept entwickelt, das grundsätzlich eine Weiter- der Bundesregierung beschrieben. Deshalb ist es – nicht beschäftigung in der Zollverwaltung sicherstellt. nur heute – angebracht, den Menschen, die diese Verwal- tung bilden und tragen, wirklich unseren Respekt auszu- (Georg Fahrenschon [CDU/CSU]: Es kommt drücken. Herr Pinkwart, Sie haben deutlich gesagt: Die darauf an, was Sie unter „grundsätzlich“ ver- Flexibilität, die diese Verwaltung an den Tag gelegt hat, stehen! Es geht jetzt um Konkretes! Wir haben können sich andere Behörden und Unternehmen nur zum noch 92 Tage!) Vorbild nehmen. Rund zwei Drittel der Beschäftigten werden in der Re- Die Aufgaben, die dieser Verwaltung im Laufe der gion weiterbeschäftigt, sie werden dort bleiben können. Jahre zugeflossen sind, haben sie in hohem Maße verän- Sie werden sich, wie ihre Kollegen in den anderen Bun- dert: von der Bekämpfung des international organisier- desländern auch, natürlich verstärkt den neuen Aufgaben ten Zigarettenschmuggels, Kontrollen an den Baustellen, des Zolls widmen müssen, wie zum Beispiel den Mobi- Bearbeitung von Agrardieselvergütungsanträgen bis hin len Kontrollgruppen. Wir haben Aufgaben von Behör- zu der jetzt beim Zoll konzentrierten wichtigen Aufgabe den aus anderen Regionen Deutschlands dorthin verlegt der Bekämpfung der Schwarzarbeit. Alles, was neu ist, und andere Länder mussten das schlucken. erfordert von den Beschäftigten die Bereitschaft zu Um-, Die sorgfältige und sehr transparente Planung des Fi- Fort- und Weiterbildung und insgesamt ein hohes Enga- nanzministeriums ist wirklich zu loben. In anderen Be- gement jedes Einzelnen. reichen haben wir ganz anderes erleben müssen. Auf das, was sie bei der Neustrukturierung und Wir, Herr Pinkwart und sicher auch Herr Modernisierung ihrer Behörde bisher geleistet haben, Fahrenschon, Frau Scheel sowieso, werden im Finanz- können alle Beschäftigten wirklich stolz sein. ausschuss diese neuen Strukturveränderungen im Zoll 7826 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2004

Lydia Westrich (A) sorgfältig begleiten. Ich bin der Überzeugung, dass die gerade in der Geschichte, in der Besetzung der West- (C) Zollverwaltung so, wie sie ist, eine interessante Zukunft sahara durch die Spanier im Jahre 1884, die Wurzeln mit neuen, für uns alle wichtigen Aufgaben vor sich hat. dieser Auseinandersetzung liegen. Ich bin sicher, dass sie diese Aufgaben meistern wird. In den 50er- und 60er-Jahren des 20. Jahrhunderts er- Vielen Dank. langten Marokko, Mauretanien und Algerien ihre Unab- hängigkeit und Spanien gab seine Kolonie in der Westsa- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: hara im Jahr 1974 auf. Der damalige marokkanische Ich schließe die Aussprache und rufe nun Tagesord- König beanspruchte aber das Gebiet und entsandte Trup- nungspunkt 11 auf: pen in die Westsahara. So ist es zum Krieg mit der Be- freiungsfront Frente POLISARIO gekommen. Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD, der CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE Es folgten viele Jahre des Krieges. Erst 1988 wurde GRÜNEN und der FDP zwischen Marokko und der POLISARIO ein Waffen- Eine politische Lösung für den Westsahara- stillstand vereinbart. Seit 1991 hilft die UNO-Mission konflikt voranbringen – Baker-Plan unterstüt- MINURSO, diesen Frieden zu halten. Seine Souveräni- zen tätsansprüche hat das marokkanische Königreich jedoch nie aufgegeben. Ein Verlust der Sahara würde in den Au- – Drucksache 15/2391 – gen der Marokkaner die Einheit aus König, Gott und Va- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die terland gefährden sowie die Legitimität des Königs und Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Dazu höre des politischen Systems infrage stellen. ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Dieser Konflikt zog weitere Probleme nach sich. Da- Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zu- mals haben etwa 70 000 Menschen die Region verlassen. nächst der Kollegin Jelena Hoffmann, SPD-Fraktion. Sie leben seit 1975 in der Wüste im Südwesten Algeri- ens, in Lager aufgeteilt, entsprechend ihren früheren Städten in der Westsahara. Im Sommer leben die Fami- Jelena Hoffmann (Chemnitz) (SPD): lien in Zelten und im Winter in ganz kleinen Lehmhäus- Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und chen, solange diese nicht durch Regen zerstört werden. Kollegen! Wir diskutieren heute gemeinsam den Antrag Man schätzt die Zahl der Sahraouis heute auf etwa zur politischen Lösung des Westsaharakonflikts und un- 155 000. terstützen damit den so genannten Baker-Plan. Mit der UNO zusammen treten alle Fraktionen im Bundestag für Zum Überleben sind diese Menschen vollständig auf (B) eine gerechte und dauerhafte Lösung des Konfliktes zwi- Hilfe von außen angewiesen. Es fehlen Lebensmittel, (D) schen Marokko und den Sahraouis ein. Medikamente und auch einfache medizinische Geräte. (Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer) Das Trinkwasser ist immer knapp. Ungefähr 30 Prozent der Kinder sind unterernährt. Für mich ist es aber auch ein etwas trauriges Wieder- sehen. Ich habe schon einmal zu diesem Thema im Bun- Ich habe die Lager im Jahre 1996 mit eigenen Augen destag gesprochen, und zwar im Jahre 1996, damals gesehen. Ich habe gesehen, wie dürftig die Lebensbedin- noch in Bonn. Ich glaube, das war sogar meine erste gungen dort sind. Doch war es erstaunlich, wie freund- Rede im Bundestag. lich die Menschen uns aus den Zelten entgegengekom- men sind und mit welcher Geduld sie das Zeltleben Damals haben wir auch über einen gemeinsamen An- ertragen haben. trag abgestimmt und die Bundesregierung gebeten, alles zu tun, um Frieden zwischen den Konfliktparteien zu er- Die Bundesregierung hat im Jahre 2002 mithilfe von reichen. Ich stand damals unter dem Eindruck einer deutschen NGOs Hilfsprojekte im Umfang von Reise in die Region des Konfliktes. Bei dieser Reise 355 000 Euro finanziert. Im letzten Jahr waren es hatte ich die Gelegenheit, das Wüstenvolk der Sahraouis 500 000 Euro. Aber für diese Menschen in den Zelten kennen zu lernen. Ich hatte starke Hoffnungen, dass die muss eine endgültige und stabile Lösung gefunden wer- damaligen Pläne schnell Realität werden. den. Diese Hoffnungen haben sich leider noch nicht er- (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE füllt. Es ist zwar gelungen, eine Eskalation des Konflik- GRÜNEN und der FDP sowie bei Abgeordne- tes mithilfe der UNO-Mission zu vermeiden, aber eine ten der CDU/CSU) richtige Lösung ist immer noch nicht gefunden worden und alle internationalen Bemühungen sind gescheitert. Wie in jedem Krieg gab es im POLISARIO-Krieg Gefangene auf beiden Seiten. Von marokkanischer Seite Nun liegt ein neuer Friedensplan vor, der Plan des wurden die letzten Häftlinge schon 1996 freigelassen. Sonderbeauftragten Baker, den wir unterstützen wollen. Hilfe kam dabei von der deutschen Seite. Nach Angaben Er gibt beiden Seiten die Möglichkeit, das Problem ge- des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz hält die meinsam zu lösen. Frente POLISARIO noch 613 Kriegsgefangene fest. Ich denke, dass sich meine Kolleginnen und Kolle- Mehrere Hundert davon sind schon seit über 20 Jahren in gen, die jetzt hier sitzen, mit der Geschichte des Kon- Gefangenschaft. Es kam auch zu Freilassungen. 300 Ge- fliktes etwas vertraut gemacht haben, weil, wie so oft, fangene konnten ihre Gefängnisse im November vergan- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2004 7827

Jelena Hoffmann (Chemnitz) (A) genen Jahres verlassen. Doch über 600 Gefangene war- Beispiel indem wir Militärbeobachter und Polizisten zur (C) ten noch auf ihre Freiheit. Verfügung stellen. Wenn sich die Konfliktparteien geei- nigt haben, muss auch ein Rückführungsprogramm für Über die Zukunft der Westsahara sollte schon einmal die Flüchtlinge auf den Weg gebracht werden, und die in einem Referendum entschieden werden, das für Juli POLISARIO muss sich so schnell wie möglich bereit er- 2000 geplant war. Dafür sollte ausgezählt werden, wie klären, die Gefangenen freizulassen. viele Menschen dem Volk der Sahraouis überhaupt ange- hören. Aufgrund von großen Schwierigkeiten bei der Ich weiß, dass sich nicht jeder von uns an Ort und Feststellung der Teilnahmeberechtigten kamen die Vor- Stelle von dem Westsaharakonflikt ein Bild machen bereitungen aber zum Stillstand. So blieb dem General- konnte. Doch wer die Augen der Kinder, die in Zelten sekretär der UNO nichts anderes übrig, als in seinem geboren sind und dort aufwachsen, gesehen hat, weiß, Bericht vom 19. Februar 2002 das Scheitern des Refe- dass es zum Baker-Plan keine friedliche Alternative gibt. rendums zu erklären. Ich bitte Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, sprechen Sie mit Vertretern der POLISARIO in Deutschland, Nun wird mit dem Baker-Plan II der Versuch unter- sprechen Sie aber auch und vor allem mit der marokka- nommen, den Konflikt endgültig zu lösen. Baker schlägt nischen und algerischen Seite. Unser Ziel ist es, die vor, der Sahara eine weitgehende Autonomie unter ma- UNO nach allen Kräften zu unterstützen. Ich bin über- rokkanischer Souveränität zuzugestehen. Diese Autono- zeugt, dass unser gemeinsamer Antrag diesem Ziel voll mie soll in mehreren Schritten verwirklicht werden. Im und ganz dient. ersten Schritt sollen, wenn das Abkommen unterschrie- ben wird, alle Verhafteten und Kriegsgefangenen freige- Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. lassen werden. Drei Monate später sollen die Streitkräfte (Beifall im ganzen Hause) auf beiden Seiten reduziert werden. Ein Jahr nachdem das Abkommen unterschrieben Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: worden ist, sollen ein Parlament und ein Oberhaupt der Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Siegfried Helias. Exekutive gewählt werden. Sie sollen für das territoriale Budget, die Steuereinnahmen und die Polizei zuständig Siegfried Helias (CDU/CSU): sein. Der marokkanische König – das ist sehr wichtig – bleibt der Souverän, weisungsbefugt in den Außenbezie- Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und hungen, in Verteidigungsfragen und bei der Kontrolle Herren! Die Kollegin Hoffmann hat ausreichend die Ge- der Waffen. schichte und die Umstände des Westsaharakonflikts ge- schildert und sie ist auch sehr eindringlich auf die Situa- (B) Vier oder fünf Jahre nach der Unterschrift wird ein tion der Menschen in dieser Region eingegangen. (D) Referendum durchgeführt, in dem die Wahlberechtigten Deswegen kann ich mich im Wesentlichen auf ergän- über drei Optionen abstimmen können. Sie können darü- zende Anmerkungen beschränken. ber abstimmen, ob die Westsahara einen Autonomiesta- Gleich zu Beginn, meine sehr verehrten Damen und tus innerhalb Marokkos erhält, ob ihre Unabhängigkeit Herren, möchte ich Lob und Tadel verteilen. Ein Lob oder die volle Integration in das marokkanische Staats- geht an die Bundesregierung, weil sie es im Jahr 2000 gebilde angestrebt werden soll. den Konfliktparteien ermöglichte, in Berlin unter Mit der Resolution 1495 hat sich der Sicherheitsrat Schirmherrschaft der UN zusammenzutreffen und hier schon im letzten Jahr für die Unterstützung des Baker- an neutraler Stelle zu verhandeln. Plans ausgesprochen. Jetzt müssen internationale An- Zu loben ist auch, dass sich SPD und Bündnis 90/Die strengungen auf diplomatischer Ebene zur Unterstützung Grünen mit der Opposition auf einen Allparteienantrag des Baker-Plans unternommen werden, damit die Region zum Thema Westsahara verständigt haben. Damit ist al- die Aussicht auf eine langfristig tragende Lösung erhält. lerdings gleichzeitig mein Tadel verbunden; denn das, Aus heutiger Sicht gibt es nämlich zu dem Baker-Vor- meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, schlag keine Alternative. Jetzt müssen sich alle Beteilig- hätten wir auch schon früher haben können. ten mit der UNO und unseren europäischen Partnern an einen Tisch setzen und mit der Umsetzung beginnen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Von den Konfliktparteien haben bisher die Frente Der heutige Antrag stimmt im Kern mit dem von der POLISARIO sowie die Beobachterländer Mauretanien FDP vor Jahresfrist eingebrachten Antrag zur Lösung und Algerien zugestimmt. Marokko tut sich bis jetzt des Westsaharakonflikts überein. schwer. Deshalb muss es auch und vor allem zu intensi- (Zuruf von der FDP: Wir sind immer früher ven Verhandlungen mit der marokkanischen Seite kom- dran!) men. Für die Dauer der Verhandlungen muss für stabilen Frieden gesorgt werden, das heißt, dass die MINURSO- Die CDU/CSU hatte die Liberalen damals auch aus dem Mission verlängert werden muss. Ich hoffe, dass das in Grund unterstützt, weil Deutschland den Vorsitz im UN- dieser Woche im Sicherheitsrat geschieht. Sicherheitsrat hatte und eine gemeinsame Resolution des deutschen Parlaments zum damaligen Zeitpunkt ein Wenn mit der Umsetzung begonnen wird und unsere noch größeres Gewicht gehabt hätte. Hilfe angefragt wird, sollten wir uns nicht verweigern und innerhalb unserer Möglichkeiten Hilfe leisten, zum (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) 7828 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2004

Siegfried Helias (A) Trotzdem begrüße ich es für meine Fraktion, dass wir dass die Westsahara in einer Interimsperiode unter ma- (C) heute einen gemeinsamen Nenner gefunden haben, auch rokkanischer Oberhoheit bleibt, aber eine begrenzte in- wenn wir festhalten müssen, dass wir bei unserem Vorha- nenpolitische Autonomie erhält. Wir begrüßen, dass Ma- ben, den Menschen in der Westsahara und im übrigen Ma- rokko in diesem Zeitraum vorrangig die Zuständigkeit rokko ein eindeutiges Signal zu geben, ein Jahr verloren für die Außen- und Sicherheitspolitik inne hat. Wir be- haben. Es geht aber nicht nur darum, ein Signal zu geben; grüßen ebenfalls, dass nach einer Übergangsfrist von es geht auch darum, einen schier endlosen Verhandlungs- längstens fünf Jahren eine Volksabstimmung über den marathon zu einem guten Abschluss zu bringen. endgültigen Status der Westsahara unter Aufsicht der Vereinten Nationen stattfinden soll. Seit 1991 schweigen in der umstrittenen Region die Waffen. Wir alle wollen, dass dies auch weiterhin so Die Zeichen für eine Einigung auf der Grundlage des bleibt. Immerhin kämpfen die Bewohner der Westsahara Baker-Plans sind nach allgemeiner Einschätzung günsti- seit 13 Jahren mit friedlichen Mitteln um ihre Selbstbe- ger als im Allgemeinen angenommen. Die POLISARIO stimmung. Es ist Zeit, dass die Menschen dafür auch die hat dem Plan bereits zugestimmt. Auch die Regierung in Friedensdividende erhalten. Hier meine ich vor allen Rabat signalisiert ein gewisses Entgegenkommen, wenn- Dingen das Recht auf Selbstbestimmung. gleich sie in ihrem jüngsten Gegenvorschlag noch auf einem dauerhaften Autonomiestatus beharrt. Die (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Möglichkeit einer Einigung mit der POLISARIO scheint Ein erfolgreicher Abschluss der Verhandlungen liegt auch in der marokkanischen Innenpolitik immer mehr an vor allem im Interesse der noch immer in der Gewalt der Bedeutung zu gewinnen. So hat Marokko mit Ali Befreiungsbewegung POLISARIO befindlichen marok- Lmrabet einen der schärfsten Kritiker der Westsaharapo- kanischen Kriegsgefangenen und der sahraouischen litik vorzeitig aus der Haft entlassen. Flüchtlinge in den Lagern im algerischen Tindouf. Da- Beiden Parteien, Marokko und den Sahraouis, könnte rauf wird mein Kollege Hermann Gröhe nachher in sei- eine Beilegung des Westsaharakonfliktes auf der Grund- nem Redebeitrag noch gesondert eingehen. lage des Baker-Plans neue Perspektiven eröffnen, nicht Kein Zweifel: Die Lösung der Westsaharaproblematik zuletzt auch im Hinblick auf die rund 200 000 Flücht- dient in erster Linie den Menschen in dem genannten linge, die unter menschenunwürdigen Bedingungen in Gebiet. Außerdem müssen wir aber alle Aktivitäten in algerischen Lagern leben. Das Gleiche gilt für die mehr dieser Frage im Zusammenhang mit der Friedenspolitik als 500 marokkanischen Kriegsgefangenen, die sich im- im angrenzenden Mittelmeerraum sehen. Die CDU/ mer noch in der Gewalt der POLISARIO befinden. CSU unterstützt auch deshalb die internationalen Ver- mittlungsbemühungen für die Westsahara nachdrücklich. Mit Lob und Tadel habe ich begonnen; mit einem (B) Wir erhoffen uns ähnliche Ergebnisse wie in anderen Dank möchte ich schließen. Wir sollten all denen unse- (D) Krisengebieten der Region. Ich denke da insbesondere ren Dank aussprechen, die auch von deutscher Seite an die Erfahrungen auf dem Balkan und an die derzeitige dazu beigetragen haben, dass über 500 marokkanische Entwicklung in Zypern. Die internationalen Bemühun- Kriegsgefangene aus den Gefängnissen freigelassen gen haben speziell im Nordteil der Insel Zypern einen wurden und nach Hause heimkehren konnten. Dies war neuen Prozess in Gang gesetzt. ein Erfolg zäher Verhandlungen. Darum setzen wir auch weiterhin auf die Kraft der Gespräche und der Diploma- Bei den eingangs erwähnten Verhandlungen in Berlin tie, um mit Geduld und Umsicht eine politische Lösung wurde erstmals ein dritter Weg ins Spiel gebracht, der für die Westsahara zu finden. auf eine Autonomie der Westsahara unter marokkani- scher Oberhoheit hinauslaufen könnte. An eine solche (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der Kompromisslösung versuchen die Vereinten Nationen FDP) anzuknüpfen, zumal das Mandat der Friedensmission MINURSO vom UN-Sicherheitsrat immer wieder ver- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: längert werden musste. Die Kollegin Hoffmann hat die Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Christian Resolution 1513 vom 28. Oktober 2003 angesprochen. Ströbele. Sie sieht einen Einsatz der Blauhelme bis zum 31. Januar 2004, also bis übermorgen, vor. Allerdings hat UN-Ge- Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE neralsekretär Kofi Annan eine Verlängerung des Man- GRÜNEN): dats bis Ende April in Aussicht gestellt. Er will damit Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle- Marokko eine weitere Verhandlungsfrist einräumen. gen! Ihr Lob nehme ich gerne entgegen, Herr Kollege Die Tatsache, dass die Vereinten Nationen einen so Helias. Ihre Kritik kann ich allerdings nicht akzeptieren. renommierten Diplomaten wie den ehemaligen US-Au- Im Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und ßenminister James Baker zum Sonderbeauftragten für Entwicklung – Sie waren nicht dabei – waren wir von die Westsahara ernannt haben, zeigt, welch hohen Stel- Anfang an mit Vertretern der FDP-Fraktion im Gespräch lenwert die Staatengemeinschaft der Lösung des Kon- und haben Neuformulierungen des Antrags immer wie- flikts beimisst. Seit 1997 verhandelt James Baker so- der abgestimmt. Das hatte sachliche Gründe. wohl mit der POLISARIO als auch mit der Regierung in (Siegfried Helias [CDU/CSU]: Natürlich!) Rabat. Der von ihm entwickelte Stufenplan scheint aus unserer Sicht ein gangbarer Weg zu sein. Deswegen wird – Natürlich hatte das sachliche Gründe. Deutschland er von meiner Fraktion unterstützt. Wir unterstützen, hatte zu der Zeit den Vorsitz im Weltsicherheitsrat, als Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2004 7829

Hans-Christian Ströbele (A) der Baker-Plan geboren war und angenommen werden (Beifall des Abg. Markus Löning [FDP]) (C) sollte. Wir wollten die entsprechenden Gespräche ab- warten, um entscheiden zu können, wie wir die Entwick- Das macht UNO-Resolutionen weltweit unglaubwürdig. lung unterstützen könnten. Wir müssen alles dafür tun, dass dieser Zustand beendet wird. (Beifall bei der SPD) Deshalb ist die neue UNO-Resolution, die wir jetzt Nachdem der Baker-Plan jetzt auf dem Tisch liegt, unterstützen, die hoffentlich auch von Marokko akzep- nachdem die Sahraouis, die POLISARIO und auch die tiert wird und die den Baker-Plan beinhaltet, der richtige UNO den Plan akzeptiert haben und Marokko signali- Weg, um aus diesem unerträglichen Zustand herauszu- siert hat, dass es trotz einiger kritischer Punkte dem kommen, damit die Vereinten Nationen zu stärken, die Grunde nach ähnlich denkt, ist es jetzt tatsächlich an der Region zu beruhigen und dort Sicherheit sowie Entwick- Zeit, der UNO und auch der Bundesregierung einen zu- lungsmöglichkeiten zu schaffen. Wir alle wissen, dass es sätzlichen Anstoß zu geben, möglichst viel zu tun, damit in dieser Region Bodenschätze gibt, dass es möglicher- dieser Plan umgesetzt und Wirklichkeit werden kann. weise vor der Küste oder auch im Land selber Erdölvor- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN kommen gibt. Das heißt, das Land hätte eine sehr gute und bei der SPD) Chance, sich auch ökonomisch gut zu entwickeln. Wir müssen vor allen Dingen für die dort betroffenen und Auch ich war – es ist noch nicht allzu lange her, es seit über 20 Jahren leidenden Menschen etwas tun. war im letzten Jahr – in der Westsahara, Frau Kollegin Hoffmann, und habe dort die gegenwärtige Situation er- Deshalb halte ich den Antrag, den wir Gott sei Dank lebt. Die Westsahara ist heute durch unendlich lange gemeinsam auf den Weg bringen, für einen richtigen An- Mauern, Wälle und durch Stacheldraht in mehrere Teile satz, indem wir die Bundesregierung zusätzlich motivie- geteilt. Um von einem Teil in den anderen zu kommen, ren, ihr Mandat im UNO-Sicherheitsrat zu nutzen, um kann man nicht durch irgendein Tor gehen, sondern man den Baker-Plan mit allen Mitteln zu fördern. Das heißt muss Tausende von Kilometern über Algerien oder über natürlich auch, unsere nächsten Nachbarn, beispiels- andere Nachbarstaaten zurücklegen und dann über den weise Frankreich und andere EU-Partner, anzuhalten, Atlantik oder über Marokko in den anderen Teil fahren. diesen Plan ebenfalls zu unterstützen. Ansonsten klappt Das sind Zustände, die uns Deutschen aus unserer eige- eine positive Entwicklung wieder nicht. nen Vergangenheit nicht ganz unbekannt sind. Diese Si- Ich hoffe im Interesse der Bevölkerung dort, dass wir tuation ist für die Menschen, die dort wohnen, unerträg- dieses Mal mehr Erfolg haben und dem sahraouischen lich. Volk nicht wieder nur Versprechungen geben, von denen (B) Unerträglich ist vor allen Dingen das Schicksal der wir in zehn oder zwölf Jahren wieder sagen, dass sie (D) über 150 000 Flüchtlinge, die noch in Lagern in Teilen nicht eingehalten worden sind. Es kann nicht sein, dass Algeriens, also noch nicht einmal in der Westsahara, le- man einen bewaffneten Kampf führen muss, um unseren ben, die praktisch am Tropf der internationalen Gemein- UNO-Resolutionen zur Wirksamkeit zu verhelfen. schaft hängen und überhaupt keine Perspektive haben. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Dieser Konfliktherd ist für die Menschen, die Region und bei der SPD) dort und auch für die Welt insgesamt völlig unerträglich. Deshalb müssen wir alles dafür tun, dieses Schicksal zu ändern. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Ulrich Heinrich. Ich gehöre zu denjenigen, die sich sehr früh in ihrem politischen Leben mit der POLISARIO – seinerzeit hat sie noch einen bewaffneten Kampf gegen Marokko ge- Ulrich Heinrich (FDP): führt – solidarisiert haben. Der Kampf ist damals einge- Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol- stellt worden, weil die UNO die Resolution 690 be- legen! In der Tat, es ist eine gute Meldung, dass sich die schlossen hatte, mit der der Westsahara garantiert Fraktionen zusammengefunden und einen gemeinsamen worden ist, im Februar 1992 ein Referendum durchzu- Antrag formuliert haben. Aber ich gebe dem Sprecher führen, in dem über das Schicksal des Landes entschie- der CDU/CSU, Herrn Helias, ganz besonders Recht. den werden sollte. Die Sahraouis warten jetzt zwölf Wenn Sie den Inhalt des Antrages, der heute vorliegt, Jahre auf die Umsetzung dieses Beschlusses des Weltsi- mit dem vergleichen, den Sie vor einem Jahr abgelehnt cherheitsrates der Vereinten Nationen. Es gab in der Fol- haben, dann werden Sie feststellen, dass überhaupt kein gezeit eine ganze Reihe weiterer Entschließungen und Grund besteht, warum man ein Jahr lang hat warten Beschlüsse. Sie sind also immer wieder vertröstet wor- müssen. den. Ich kann nur sagen: Ich bewundere ihre Langmut. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Es darf aber nicht sein, dass UNO-Resolutionen, Ein bisschen mehr Substanz, Herr Ströbele, sollten Sie wenn sie nicht eingehalten werden, in einem Teil der dem hinzufügen. Es ist in der Tat ein verlorenes Jahr. Welt zu Sanktionen führen und man gar den Bruch von Aber ich will jetzt nicht weinerlich sein. Wir sollten jetzt UNO-Resolutionen als Grund nimmt, um einen Krieg zu vielmehr vorangehen führen, und dass man im Hinblick auf die Westsahara über Jahrzehnte in Kauf nimmt, dass wichtige UNO-Re- (Siegfried Helias [CDU/CSU]: Aber anmerken solutionen einfach nicht beachtet werden. darf man es!) 7830 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2004

Ulrich Heinrich (A) und die Chancen und die Möglichkeiten nutzen, die der Muss dem noch eine weitere bewaffnete Auseinander- (C) zweite Baker-Plan bietet. setzung hinzugefügt werden, um dann endlich noch ein- mal die Völkergemeinschaft auf den Plan zu rufen und Frau Hoffmann hat bereits lobenswerterweise auf die Druck auszuüben? Ich meine, es ist allerhöchste Zeit, Geschichte Bezug genommen. Diesen gesamten Prozess dass die Verantwortung der Europäischen Union kann man nur richtig verstehen, wenn man die Ge- deutlicher zum Vorschein kommt. schichte kennt und weiß, dass dies ursprünglich franzö- sisches und dann spanisches Hoheitsgebiet war und dass (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) sich die Spanier 1975 zurückgezogen haben. Bereits 1975 ist eine Entscheidung des Haager Gerichtshofes ge- Es reicht nicht aus, in einem Verfassungsentwurf die fällt worden, wonach eindeutig zugunsten der Selbstbe- Zuständigkeit für die Europäische Union niederzuschrei- stimmung des Westsaharagebietes geurteilt wurde. Es ist ben und die Außen- sowie die Sicherheitspolitik zu jetzt 27 Jahre her, dass diese Grundsätze vom Haager wichtigen Bereichen unserer gemeinsamen Politik zu er- Gerichtshof postuliert worden sind, und wir sind immer klären. Wir müssen immer wieder feststellen, dass der noch nicht sehr viel weitergekommen. Druck auf die Länder, um die es hier geht – teilweise wurden sie schon angesprochen –, nicht erfolgt. Aus 1981 hat König Hassan II. die UN-Forderung, den völ- Rücksichtnahme auf Länderinteressen und durch Nicht- kerrechtlichen Status des Gebietes durch ein Referendum einmischung wird hier das Menschenrecht zu Grabe ge- festzulegen, angenommen. In der Zwischenzeit haben tragen. Das ist nicht in Ordnung und kann nicht in Ord- wir leider Gottes sehr viele negative Entwicklungen hin- nung sein. Hier muss Europa eine stärkere Sprache nehmen müssen. sprechen. 1997 wurde das erste Baker-Abkommen verabschie- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie det, in dem es darum ging, den Teilabzug marokkani- bei Abgeordneten der SPD und des BÜND- scher Truppen sicherzustellen, Gefangene auszutauschen NISSES 90/DIE GRÜNEN) und Flüchtlinge rückzuführen. Die Konfliktparteien konnten sich aber leider Gottes nicht einigen. Es sind jetzt wirklich die Europäer am Zug. Es geht nun So ging es immer weiter, bis dann letztendlich im Jahr nicht darum, dass wir einen afrikanischen Staat auffor- 2000 Kofi Annan das für dasselbe Jahr geplante Refe- dern müssen, einzulenken. rendum mehr oder weniger auf unbestimmte Zeit ver- Für uns als deutsches Parlament – das möchte ich hier schoben hat. ganz klar und deutlich sagen – ist natürlich die Bundes- In der Zwischenzeit hat sich etwas Entspannung erge- regierung der wichtigste Ansprechpartner. Es ist auch ben. Die POLISARIO hat einige hundert Flüchtlinge endlich der Antrag an die Bundesregierung gerichtet (B) (D) bzw. Kriegsgefangene entlassen. Nach Angaben des worden, Druck zu machen und diesen Druck voll und Roten Kreuzes sind aber nach wie vor auf beiden Seiten ganz auf die Waagschale zu bringen, damit wir voran- insgesamt fast noch 2 000 Menschen in Gefangenschaft. kommen. Es ist nicht zu verantworten, dass dieser Pro- Dazu kommen noch die 150 000 Flüchtlinge, die in zess noch weitere 25 oder 30 Jahre dauert. Camps auf algerischer Seite leben. Es ist bereits deutlich geworden, deshalb kann ich mich kurz fassen: Die Ver- Lassen Sie mich meine Rede mit einem kurzen Satz ab- hältnisse, die dort herrschen, sind absolut menschenun- schließen. Wir kennen die grüne Bewegung der Marok- würdig und nicht akzeptabel. Die Aufgabe, diese Men- kaner. schen in ihre Heimat zurückzuführen, verlangt unser volles Engagement. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: (Beifall im ganzen Hause) Das hört sich nicht nach einem kurzen Satz an. Seit 2003 liegt der neue Baker-Plan vor. In seiner Ulrich Heinrich (FDP): Resolution 1495 fordert der UN-Sicherheitsrat die Kon- fliktparteien auf, diesem Plan zuzustimmen. Wiederum Das ist ein Satz. – ist es Marokko, das allergrößte Bedenken hat. Die POLI- (Dr. Uwe Küster [SPD]: Eine Seite!) SARIO, Algerien und Mauretanien haben dem Plan im Wesentlichen zugestimmt. Es scheint so, als seien die Diese Bewegung hat zum Ziel, die dortige Bevölkerung Marokkaner ohne zusätzlichen Druck von außen nicht zu unterwandern. Wenn diese Strategie Erfolg hat, kann bereit, einzulenken. Sie sind nicht bereit, die Ungewiss- man absehen, dass irgendwann ein Referendum nicht heit über die Entwicklung der Zukunft, die in diesem mehr die Interessen der Saharauis widerspiegelt und da- Stufenplan liegt, heute zu akzeptieren. Wer dazu nicht mit nicht mehr dem eigentlichen Zwecke dient. bereit ist, hat von uns natürlich keine Lobeshymne zu er- warten, sondern muss von uns getadelt werden und muss In diesem Sinne hoffe ich, dass wir mit diesem ge- aufgefordert werden, eine andere Sicht der Dinge einzu- meinsamen Antrag ein Stück weit vorankommen und ein nehmen. Stück gute Politik machen. (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und dem Herzlichen Dank. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie Ich möchte darauf hinweisen: Es gibt derzeit in Afri- bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE ka zwölf bewaffnete Auseinandersetzungen und Kriege. GRÜNEN) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2004 7831

(A) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: gegen internationales humanitäres Völkerrecht. Nach (C) Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Hermann Gröhe. Art. 118 der III. Genfer Konvention müssen alle Kriegs- gefangenen „ohne Verzug“ nach Ende der Kampfhand- Hermann Gröhe (CDU/CSU): lungen freigelassen werden. Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen! Sehr geehrte (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der Herren! Mit diesem von allen Fraktionen dieses Hauses ge- SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- tragenen Antrag leisten wir gemeinsam einen Beitrag dazu, NEN) den Westsaharakonflikt dem Vergessen zu entreißen. Wir drängen auf eine politische Lösung. Das ist auch deshalb Die meisten Gefangenen sind jedoch seit mehr als erforderlich, weil dieser seit Jahrzehnten anhaltende Kon- 20 Jahren in Gefangenschaft. Das Internationale Komi- flikt auch nach dem Waffenstillstand von 1991 noch immer tee vom Roten Kreuz hat sich wiederholt besorgt über die Ursache für zahlreiche Menschenrechtsverletzungen den Gesundheitszustand dieser Gefangenen geäußert. und die humanitäre Notlage Tausender Flüchtlinge ist. Bisher können diese Gefangenen nur durch den vom In- ternationalen Komitee vom Roten Kreuz organisierten So berichtet Amnesty International, dass in Marokko Nachrichtenaustausch mit ihren Familien kommunizie- noch immer zahlreiche Menschenrechtsverteidiger, die ren. als Befürworter der Unabhängigkeit der Westsahara gel- Dagegen hat sich die Situation der Flüchtlinge in den ten, schikaniert und eingeschüchtert werden. algerischen Flüchtlingscamps insoweit geringfügig (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE verbessert, als sie seit dem 12. Januar dieses Jahres im- GRÜNEN]: Gefängnis!) merhin die Möglichkeit haben, kostenfreie Telefonge- spräche mit ihren Angehörigen in der Westsahara zu Auch wenn 1999 der begrüßenswerte Prozess der führen. Das ist ein Projekt, das der UNHCR im Zusam- Entschädigung von Opfern des so genannten Verschwin- menhang mit den laufenden vertrauensbildenden Maß- denlassens und von Opfern willkürlicher Festnahmen nahmen ermöglicht hat. begonnen hat, würden die marokkanischen Behörden noch immer nicht das Verschwinden von mehreren Hun- Trotzdem muss die Lage der über 150 000 Flüchtlinge dert Menschen aus der Westsahara aufklären, die bis in aus der Westsahara in den algerischen Flüchtlingscamps die 90er-Jahre hinein Opfer der Methode des Verschwin- weiterhin Anlass zur Sorge sein. Die Flüchtlinge leiden denlassens wurden. an chronischer Unterernährung, an Knappheit von Hilfs- gütern, wie es der Generalsekretär der Vereinten Natio- Gerade weil es in Marokko in anderen Bereichen der nen in seinem Bericht vom 19. Januar 2004 erneut festge- Menschenrechte so beachtliche Fortschritte gibt – ich stellt hat. Gerade aus diesem Grund ist die Aufforderung (B) (D) nenne nur das vor wenigen Tagen verabschiedete Gesetz an die Bundesregierung, einen Appell an die Geberkon- zur Gleichberechtigung von Frauen und Männern –, ferenz für das World Food Program zu richten, sowie auf (Dr. Friedbert Pflüger [CDU/CSU]: Das ist ein ECHO einzuwirken, für eine hinreichende Unterstützung bedeutender Fortschritt!) hinsichtlich der Ernährungslage dieser Flüchtlinge zu sorgen, besonders wichtig. ist es erforderlich, dass die Menschenrechtsverletzun- gen, die mit dem Westsaharakonflikt in Zusammenhang Angesichts dieser humanitären Notlage und der an- stehen, beendet, aufgeklärt und strafrechtlich verfolgt haltenden Menschenrechtsverletzungen im Zusammen- werden. hang mit dem Westsaharakonflikt ist es in der Tat gebo- ten, auf eine politische Lösung dieses Konflikts zu (Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause) drängen. Der Baker-Plan, der hier schon ausführlich dar- gestellt wurde, bietet hierfür eine Chance. Die Bundesre- Die Forderung unseres gemeinsamen Antrages, dass gierung, die diesen Plan unterstützt, muss auch darauf die Bundesregierung an Marokko appellieren soll, mit drängen, alle europäischen Partner dazu zu bewegen, dem Internationalen Komitee vom Roten Kreuz zusam- diesen Referendums- und Friedensprozess zu unterstüt- menzuarbeiten, um das Schicksal der seit Beginn des zen. Krieges vermissten Personen aufzuklären, ist daher be- sonders wichtig. Auch hierbei darf die Straflosigkeit der Eine solche politische Lösung des Westsaharakon- für die Menschenrechtsverletzungen Verantwortlichen flikts ist nicht nur eine Voraussetzung dafür, die Zusam- nicht hingenommen werden. menarbeit der Westsaharastaaten untereinander zu ver- bessern. Eine politische Lösung dieses Konflikts würde Jedoch sind in diesem Konflikt nicht nur Marokko Men- auch die Möglichkeiten verstärken, im Rahmen der Zu- schenrechtsverletzungen vorzuwerfen. Auch in den Flücht- sammenarbeit im Mittelmeerraum, also im Rahmen des lingslagern, die unter der Kontrolle der POLISARIO ste- so genannten Barcelona-Prozesses, zu deutlichen Fort- hen, werden das Recht auf freie Meinungsäußerung, die schritten zu kommen. Gerade die Maghreb-Staaten er- Versammlungs- und die Bewegungsfreiheit einge- hielten so eine deutlich verbesserte Entwicklungsper- schränkt. Die für die Menschenrechtsverletzungen in spektive. Daher ist es klug, dass wir heute gemeinsam diesen Lagern Verantwortlichen bleiben straffrei und diese Initiative starten. werden auch nicht an die algerischen Behörden über- stellt, damit sie dort vor Gericht gestellt werden können. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Die anhaltende Inhaftierung von über 600 marokkani- neten der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE schen Gefangenen durch die POLISARIO verstößt klar GRÜNEN und der FDP) 7832 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2004

(A) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Dnjestr unterschiedliche Traditionen gab. Transnistrien (C) Danke schön. Damit schließe ich die Aussprache. Wir auf der einen Seite ist historisch anders verwurzelt als kommen zur Abstimmung über den interfraktionellen das vor allen Dingen rumänisch geprägte Moldau auf Antrag auf Drucksache 15/2391 mit dem Titel „Eine po- der anderen Seite. litische Lösung für den Westsaharakonflikt voranbrin- Zu sowjetischer Zeit war Moldau aufgrund der dorti- gen – Baker-Plan unterstützen“. Wer stimmt für diesen gen Landwirtschaft vor allen Dingen der Garten der So- Antrag? – Gibt es Gegenstimmen oder Enthaltungen? – wjetunion, während im transnistrischen Teil vor allem Das ist nicht der Fall. Dann ist der Antrag einstimmig die Stahl- und Rüstungsindustrie angesiedelt wurde, die angenommen worden. dort bis heute eine wesentliche Bedeutung hat. 1991 Ich rufe Tagesordnungspunkt 12 auf: brach zwischen diesen beiden Teilen ein blutiger Kon- flikt aus. Man schätzt, dass er zwischen 800 und 900 Tote Beratung des Antrags der Abgeordneten Claudia zur Folge hatte. Dabei erhielt die transnistrische Seite Nolte, Dr. Friedbert Pflüger, Dr. Wolfgang Unterstützung von den sowjetischen und später von den Bötsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion russischen Truppen, die Teil der 14. Armee der Sowjet- der CDU/CSU union waren und dort stationiert waren. Im Übrigen sind Den Weg zur Einheit und Demokratisierung in sie dort immer noch mit Munition in erheblichem Um- Moldau unterstützen fang stationiert. – Drucksache 15/1987 – Das 1992 abgeschlossene Waffenstillstandsabkommen Überweisungsvorschlag: zwischen dem damaligen Moldauer Staatspräsidenten Auswärtiger Ausschuss (f) Snegur und dem damaligen russischen Präsidenten Jel- Innenausschuss zin führte dazu, dass Soldaten aus Russland, Moldau und Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe Transnistrien die Dnjestr-Grenze schützten und dies bis Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und heute tun. Das ist auch der Grund, warum wir von einem Entwicklung „frozen conflict“ sprechen. Niemand kann garantieren, Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union dass es nicht wieder zu neuen Auseinandersetzungen Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die kommt. Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Wider- Seit diesem Konflikt 1991 haben die in Moldau de- spruch höre ich nicht. Dann ist so beschlossen. mokratisch gewählten, legitimierten und international Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst anerkannten Regierungen praktisch keinen Einfluss auf die Abgeordnete Claudia Nolte. den transnistrischen Teil. (B) (D) Das selbst ernannte Regime in diesem Teil ist nach al- Claudia Nolte (CDU/CSU): lem, was wir erleben und hören, in höchstem Maße auto- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! ritär und korrupt. Das Hauptproblem ist die wachsende Gestatten Sie mir, zu Beginn – sicherlich auch in Ihrem organisierte Kriminalität, vor allem die Schmuggelge- Namen – erst einmal den Botschafter, Herrn Corman, in schäfte mit allem, was man so schmuggeln kann – mit unserer Debatte zu begrüßen. Waffen, mit Drogen und, was ich besonders verachtens- wert finde, mit Frauen. In beiden Teilen des Landes ist (Beifall) die Bevölkerung bitterarm: Wenn man nach den ILO- Es kommt ja häufiger vor, dass wir im Bundestag An- Standards misst, liegt die Arbeitslosigkeit in Moldau bei träge behandeln, die sich mit der Situation in anderen etwa 30 Prozent; viele leben von Subsistenzwirtschaft. Ländern – egal wie groß und wie weit entfernt sie sind – Der durchschnittliche Monatslohn von umgerechnet befassen. Insofern überrascht es nicht, dass wir dies auch 25 Euro reicht kaum zum Leben, vor allen Dingen die heute tun. Allerdings ist es ein Novum, dass wir diesmal Rentner sind betroffen. Man schätzt, dass etwa zwei über einen außenpolitischen Antrag zur Republik Mol- Drittel aller Moldauer mit weniger als 2 Dollar am Tag dau sprechen. Das überrascht schon. Schließlich ist das auskommen müssen, also in bitterster Armut leben müs- Land, das zwischen der Ukraine und Rumänien liegt, in sen. Infolge der sich verschlechternden Lebensbedin- Europa und es hat eine ganze Menge Probleme, die uns gungen sinkt die Lebenserwartung nahezu aller sozialen nicht kalt lassen dürfen. Als Länderbeauftragte des Gruppen in Moldau. Die berechenbaren Sozialfaktoren, Deutschen Bundestages für die Republik Moldau konnte die von der UNDP im Human-Development-Index dar- ich mich im letzten Jahr sehr intensiv mit den Gegeben- gestellt werden, machen die desolate Lage in Moldau ei- heiten in Moldau vertraut machen. Es ist in der Tat so, gentlich deutlich. Von den 173 ausgewerteten Staaten dass die dortige Situation besorgniserregend ist. Deswe- rangiert Moldau im Jahr 2002 auf Platz 105 und hat da- gen finde ich es auch wichtig, dass wir uns heute damit mit in Europa den hintersten Platz. befassen. Aber auch die politische Situation in der Republik Die Republik Moldau existierte in ihren heutigen Moldau muss uns zu denken geben. Im demokratischen Grenzen erstmals 1941, als sie als Teil der Sowjetunion Moldau, also in dem Teil Moldaus, in dem demokrati- zur Sozialistischen Sowjetrepublik Moldau wurde. Mit sche Wahlen stattfinden, gab es zwischen 1991 und 2001 dem Zusammenbruch der Sowjetunion wurde diese Repu- eigentlich eine positive Entwicklung: Politische Frei- blik unabhängig. Aber sie trat ein sehr schweres Erbe an. heiten wurden gewährt, es gab Pluralismus und eine Man merkte sehr deutlich, dass es auf beiden Seiten des Parteiendemokratie, die sich stetig verbesserten. Das Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2004 7833

Claudia Nolte (A) Problem war, dass die Regierungen es nicht schafften, mission zur Erarbeitung einer gemeinsamen Verfassung (C) mit den großen Herausforderungen der Transformation eingesetzt haben, auch wenn man nicht wirklich vom Er- fertig zu werden, das heißt, die wirtschaftliche Situation, folg dieser Arbeit sprechen kann. Das deutet aber darauf die soziale Lage für die Menschen dort zu verbessern. hin, wie viele Bemühungen unternommen worden sind. Das führte dazu, dass das Vertrauen in die Politik, in die Parteien, in das System schwankt, sodass wir im Ergeb- Ich persönlich glaube, dass wir eine Lösung dieses nis bei den Wahlen 2001 erleben konnten, dass eine Konflikts nur unter Einschluss von Russland erreichen kommunistische Regierung mit einer recht stattlichen werden. Wir brauchen die Unterstützung Russlands und Mehrheit gewählt worden ist. vor allen Dingen auch seinen Willen, dieses Problem zu lösen. Hierin steckt eine Ambivalenz. Wir alle wissen, Obwohl sich jetzt in Transnistrien und Moldau zwei Moldau ist in hohem Maße von Russland abhängig kommunistische Regierungen gegenüberstehen, be- – insbesondere im Bereich der Energielieferungen – und kämpfen sie sich auf öffentlichen Schauplätzen, wie es mit ihm wirtschaftlich verflochten. Im transnistrischen eben nur möglich ist. Seit der Übernahme der Herrschaft Teil gibt es inzwischen viele russische Firmen. Das 2001 stellt die kommunistische Partei in Moldau mit heißt, Russland hat Einfluss auf beide Seiten. Es könnte Herrn Woronin den Präsidenten. Dieser hat in den letzten diese beiden Seiten zusammenführen. zwei Jahren viele, wenn nicht fast alle wichtigen Posten mit Gefolgsleuten besetzt. Die Opposition wird zuneh- Ich habe aber in wachsendem Maße den Eindruck, mend bedrängt, politische Freiheiten und demokratische dass die Russen nur dann wirklich für eine Lösung sind, Spielregeln werden immer wieder missachtet. Rechte für wenn diese ihnen einen dauerhaften Einfluss in diesem die Opposition im Parlament gibt es de facto nicht. Land ermöglicht. Das kann wiederum nicht im Sinne Manchmal fragt man sich: Ist die Anwesenheit der Op- dieses Landes sein. Man muss es sich einmal anschauen: position im Parlament denn überhaupt noch nötig, wenn Trotz Zusagen hat Russland bis heute seine Armee nicht sie für Abstimmungen nicht mehr erforderlich ist? Lei- abgezogen und seine Munition nicht entfernt. Der Putin- der agiert auch die Opposition nicht immer glücklich Vertraute und stellvertretende Leiter der Präsidialadmi- und auch nicht immer geschlossen, was sich in der letz- nistration, Dimitri Kosak, hat ohne die Einbindung der ten Zeit aber etwas zu ändern scheint. OSZE, der EU, der USA und des Europarates Parallel- verhandlungen für eine gemeinsame Verfassung geführt. Liebe Kolleginnen und Kollegen, schon 2007 wird Dementsprechend sah auch das Konzept aus. Auch die die Republik Moldau eventuell – durch den Beitritt von jüngsten Versuche, Moldau für die Gasschulden Trans- Rumänien – an der Außengrenze der Europäischen nistriens in die Pflicht zu nehmen, zeigen in diese Rich- Union liegen. Meines Erachtens ist es nicht schwer zu tung. Auf der anderen Seite wissen wir aber auch ganz erkennen, welche Probleme sich für die EU und auch für (B) genau, dass die Mehrheit der Bevölkerung zumindest im (D) uns ergeben, wenn wir einen Staat als Nachbarn haben, moldauischen Teil nicht für eine Anbindung an Russland der zu verfallen droht. Schon heute gehen Schätzungen zu gewinnen sein wird. Ich halte es für unabdingbar, davon aus, dass von den 4,3 Millionen Moldauern etwa dass Russland die Unabhängigkeit und Integrität von 800 000 außerhalb Moldaus leben und arbeiten. Da es Moldau voll respektiert. historisch viele Verbindungen mit Rumänien gibt, ha- ben viele Moldauer auch rumänische Pässe, sodass zu (Beifall bei der CDU/CSU, dem BÜNDNIS 90/ befürchten ist, dass die Migration aus diesem Land, auch DIE GRÜNEN und der FDP) in die EU, entsprechend größer wird. Das ist nicht nur Herr Staatsminister, meines Erachtens ist es eben ein Problem für uns, sondern auch ein Problem für das auch an uns, zu versuchen, Russland auf diese Dinge Land selbst, denn wenn die Elite dort weggeht – die jun- hinzuweisen und anzusprechen. gen Leute; diejenigen, die gebildet sind –, dann wird die- ses Land den wirtschaftlichen Aufschwung nicht schaf- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) fen können. Schätzungen zufolge sind nämlich schon Wir müssen Russland in die Pflicht nehmen. Russland heute etwa 30 Prozent der Bevölkerung über 65 Jahre muss seinen Beitrag zur Konfliktlösung leisten, ohne die alt. Republik Moldau in dauerhafte Abhängigkeit zu brin- Was muss getan werden und was können wir tun? – gen. Moldau ist keine innere Angelegenheit Russlands, Das ist ja nicht immer dasselbe. Ich denke, es ist vor al- wie es in anderen Fällen gerne ins Felde geführt wird. lem nötig, die wirtschaftliche Situation zu verbessern Ich denke, das muss ein Thema sein, wenn der Bundes- und damit die Lebensbedingungen der Menschen dort zu kanzler oder der Außenminister auf ihre Kollegen tref- verbessern. Aber das wird uns nur gelingen – deswegen fen. Welchen Wert haben Freundschaften, wenn man ist das Folgende das Entscheidende –, wenn wir den nicht auch kritische Worte miteinander sprechen kann? Transnistrien-Konflikt gelöst bekommen. Um eine Wie- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – dervereinigung zu ermöglichen und die Demokratisie- Dr. Friedbert Pflüger [CDU/CSU]: Zumal das rung zu unterstützen, sind sowohl die OSZE als auch der in Richtung Amerika immer gut geht!) Europarat seit vielen Jahren aktiv. Die OSZE-Mission in Moldau besteht seit elf Jahren und leistet sehr gute Ar- Deutschland hat sehr wohl wichtige Beiträge geleis- beit. Gerade die niederländische Präsidentschaft, die im tet: Bereits im Dezember 1991 haben wir Moldau diplo- letzten Jahr zu Ende gegangen ist, hat große Anstrengun- matisch anerkannt. Seit 1992 haben wir offizielle Bezie- gen unternommen, um beide Seiten ins Gespräch zu hungen. Wir waren die ersten Westeuropäer und lange bringen. Ein Ergebnis war, dass beide Seiten eine Kom- Zeit auch die Einzigen mit einer voll funktionierenden 7834 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2004

Claudia Nolte (A) Botschaft in Chisinau. Inzwischen arbeitet sie unglaub- Vielen Dank. (C) lich professionell und gut und hat sich im Land eine (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) große Reputation erworben. Außerdem hat Deutschland interveniert, nachdem die Kommunisten die Partei der Christdemokraten willkürlich suspendiert hatten. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat jetzt der Kollege Gert Weisskirchen. Ich finde aber, wir könnten insbesondere im Hinblick auf die Verbesserung der humanitären und wirtschaftli- chen Situation mehr tun. Obwohl Moldau das ärmste Gert Weisskirchen (Wiesloch) (SPD): Land in Europa ist, erhält es die wenigsten internatio- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! nalen Hilfsgelder. In der Zeit von 1991 bis 2003 – das Frau Nolte, die Schärfe in Ihrer Schlusspassage war, wie sind zwölf Jahre – bekam Moldau Hilfsgelder der EU in Sie selber genau wissen, nicht angebracht, soweit sie Höhe von gerade einmal 66 Euro pro Kopf. Die Bundes- sich an die Bundesregierung richtete. Die Bundesrepu- regierung hatte sogar geplant, die Mittel für die Entwick- blik Deutschland war das erste Land lungszusammenarbeit in diesem Jahr ganz zu streichen. (Claudia Nolte [CDU/CSU]: Das habe ich Nur aufgrund von Interventionen ist dies nicht gesche- schon gesagt!) hen. Ich denke, dass die wirtschaftliche Hilfe für Moldau Sinn macht. – eben –, das eine Botschaft in Moldau aufgebaut hat. Sie ist lange Zeit auch das letzte Land geblieben. Allein von Allerdings – hier besteht eines der Probleme – muss daher leitet sich schon ab, dass sich die Bundesrepublik Moldau selbst zur Kooperation bereit sein. Deutschland – das wird auch in Moldau so gesehen – nicht im Geringsten verstecken muss. (Marianne Tritz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Genau! – Hartwig Fischer [Göttingen] (Claudia Nolte [CDU/CSU]: Auch das habe [CDU/CSU]: Sehr richtig!) ich anerkannt, Herr Kollege!) Das hat die Regierung dort lange nicht unter Beweis ge- – Sie haben es nur angedeutet. Deswegen will ich dies stellt. Ich denke hier an die Verbesserung der Investiti- ganz deutlich hervorheben. Die Bundesrepublik hat dort ons- und Rechtsbedingungen im Land und vor allen ein Zeichen gesetzt. Sie hat deutlich gemacht, dass wir Dingen auch an die Grundsatzfrage, die Moldau beant- alles daransetzen werden, dass Moldau eben nicht im worten muss: Wohin will Moldau gehören? Will es eine Schatten der Europäischen Union verschwindet. Anbindung an Russland? Will es eine Anbindung an Für uns ist wichtig, dass Moldau eine Chance be- Europa? Wir haben von dieser Regierung keine klare Po- kommt. Allerdings – darauf haben Sie zu Recht hinge- (B) litik erlebt. Sie muss sich entscheiden und darf nicht wie wiesen – liegt die Chance in Moldau selbst. Die Repu- (D) derzeit je nach politischer Großwetterlage hin- und her- blik Moldau muss selbst versuchen, sich zu europäisie- wanken. ren. Sie hat dazu die Chance. Der Aktionsplan wird in Ich sage aber auch ehrlich: Die EU hat auch nicht diesen Tagen in Brüssel gemeinsam mit den Kollegen allzu viel dazu beigetragen, den Moldauern diese Ent- aus der Regierung in Chisinau erarbeitet. Sie werden so scheidung einfacher zu machen. lange miteinander debattieren, bis sie einen ganz konkre- ten Plan erstellt haben werden. Wenn der vorgegebene (Dr. Friedbert Pflüger [CDU/CSU]: Aller- Zeitplan eingehalten wird, dann bedeutet das, dass der dings!) Aktionsplan bereits im Juni dieses Jahres verabschiedet Sie ist kaum präsent. Die Oppositionsfraktionen fordern werden wird. schon lange einen EU-Repräsentanten vor Ort. Wo sind Das ist ein gutes Zeichen für dieses kleine Land. Es die Vertretungen der anderen europäischen Staaten? Ge- ist allerdings größer als Slowenien, das jetzt Mitglied der rade weil wir in Deutschland auf diesem Gebiet einiges Europäischen Union wird. Es hat mehr Einwohner als getan haben, sollten wir auch andere Partner in der EU Estland, das ebenfalls bald Mitglied wird. um Mitwirkung bitten und für einen EU-Repräsentanten vor Ort werben. (Dr. Friedbert Pflüger [CDU/CSU]: Sie müs- sen sich eben darum kümmern!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Die 4,5 Millionen Einwohner Moldaus warten darauf, Derzeit werden von der EU-Kommission auf der dass wir mit ihnen gemeinsam eine Perspektive erarbei- Grundlage des Nachbarschaftskonzepts die Aktions- ten. Wer das Land zwischen Pruth und Dnjestr einmal pläne für die einzelnen Länder ausgearbeitet. Wenn es besucht hat, der wird erkennen – Sie haben es erwähnt, einen konkreten und substanziellen Aktionsplan gibt, das darf man hier lobend hervorheben –, wie schön diese dann ist das für die Republik Moldau sehr hilfreich. Ich Landschaft ist. Derjenige, der den Rot- oder Weißwein wünsche mir, dass sich die Bundesregierung dort ein- liebt, wird erkennen – ich kenne mich damit ein bisschen bringt, gerade aufgrund der guten Erfahrungen mit unse- aus –, dass dieser Wein von wunderbarer Qualität ist. rer Botschaft vor Ort. Für die Ausschussberatungen (Claudia Nolte [CDU/CSU]: Vor allem der wünsche ich mir, dass wir uns auf einen gemeinsamen Kognak!) Antrag verständigen können, damit wir die Bundesregie- rung mit einem Mandat für ihre Aktivitäten ausstatten Er ist leider bei uns noch nicht so bekannt, wie es ihm ei- können. gentlich zustünde. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2004 7835

Gert Weisskirchen (Wiesloch) (A) (Dr. Friedbert Pflüger [CDU/CSU]: Sie ist BMZ und dem Auswärtigen Amt gegeben hat – Sie ha- (C) eher für Kognak!) ben ihn erwähnt –, geklärt hat. Es ist jetzt dafür gesorgt, dass die Finanzmittel wieder in einer Weise fließen kön- – Davon verstehe ich wiederum nichts. Sie kennen sich nen, dass das, was Moldau selber tun kann, wirklich vo- da bestimmt besser aus als ich. rangebracht wird. Das muss mit dem sinnvollen Konzept Ganz ernsthaft. Was ich sagen will, ist: Dies ist ein und dem Aktionsplan der Europäischen Union verknüpft schönes Land. Es verdient unsere Zuneigung. Es ist ein werden. Land – Sie haben es erwähnt, Frau Nolte –, in dem viele Frau Nolte, Sie haben die Zahlen ein wenig dramati- arme Menschen leben, die aber gleichzeitig reich an siert. Es waren seit 1991 – da sollten wir fair sein – ins- Freundlichkeit, Offenheit und Zuneigung gegenüber gesamt 240 Millionen Euro, Deutschland sind. Wer einmal in diesem Land war und seine Menschen kennen gelernt hat, wird es nicht mehr (Claudia Nolte [CDU/CSU]: Von der EU!) vergessen. Es kommt in der Tat darauf an, dass wir eine die von der Europäischen Union für das Land bereitge- kluge und rationale Politik entwickeln. Ich glaube, dass stellt worden sind. Das ist schon eine ganze Menge. Wir die Europäische Union mit dem Nachbarschaftskon- sind durchaus bereit, unser Engagement aufrechtzuerhal- zept auf einem vernünftigen Weg ist. Ich weiß, dass dies ten. in der Republik Moldau zunächst nicht konstruktiv auf- genommen worden ist. Dort ist man – das ist völlig ver- Sie haben in einem weiteren Punkt Recht. Schauen ständlich – davon ausgegangen, dass man wie eine Reihe Sie sich einmal die politische Landschaft in Moldau an. anderer Länder eine direkte Mitgliedschaftsperspektive Sie, Frau Nolte, kennen sie sehr gut. Es gibt nicht nur für die Europäische Union erhalten wird. Wären wir dort Woronin und seine kommunistische Partei, die sehr bü- Politiker, wie sollten wir eine andere als jene Position rokratisch und zum Teil nicht sehr reformfreundlich ist, beziehen? Das ist völlig verständlich. sondern es gibt auch – das muss man leider erwähnen – innerhalb der demokratischen Opposition Blockaden. Ich glaube, dass sich die Verantwortlichen in der Der frühere Ministerpräsident Braghis, ein sehr kluger Republik Moldau umschauen sollten, wie etwa Kroatien und vernünftiger Mann, versucht jetzt, eine neue Ent- gegenwärtig mit der Mitgliedschaftsperspektive umgeht. wicklung im Land in Gang zu setzen. Wir hoffen alle ge- Kroatien hat bisher keine feste Perspektive, anders als meinsam, dass die demokratischen Gruppen und Par- Slowenien, das nördlich an Kroatien grenzt. Dennoch, teien in diesem Land eine Chance haben, sich gut zu wer einmal in Kroatien gewesen ist, der wird erkannt ha- entwickeln. ben, dass unabhängig davon, wer jetzt regiert – vorher war das die Sozialdemokratie, jetzt sind es Ihre Partei- Die Friedrich-Ebert-Stiftung ist dort und hilft dabei, (B) freunde –, die unterschiedlichen Gruppen in diesem zivilgesellschaftliche Strukturen zu schaffen. Ich möchte (D) Land bereit sind, die europäische Perspektive ernst zu Sie von der CDU/CSU und die Kollegen von der FDP nehmen. Sie fragen gar nicht lange, was Brüssel dazu bitten: Sorgen Sie auch dafür, dass die Konrad- beiträgt, dass Kroatien Mitglied der Europäischen Union Adenauer-Stiftung und andere politische Stiftungen dort wird. Diese Gruppen sehen vielmehr, dass der Weg nach arbeiten. Brüssel bei ihnen selber anfängt. Gerade weil dieses Land darauf wartet, dass man ihm Sie haben sich vor einer Woche an der dreitägigen hilft, und weil die jungen politischen Kräfte und Grup- Veranstaltung der Südosteuropa-Gesellschaft, deren Prä- pierungen versuchen, die demokratischen Institutionen sident unser Kollege ist, beteiligt. Dort zu festigen und zu stärken, sollten wir ihnen eine hel- wurde gesagt: Der Weg nach Brüssel beginnt nicht in fende Hand reichen. Sie werden in der Lage sein, dafür Brüssel, sondern er beginnt in Chisinau. Der richtige An- zu sorgen, dass aus diesem wunderbaren Land, dem satz ist, sich selbst zu modernisieren und sich selbst zu Obst- und Weingarten Moldau, ein vernünftiger Partner reformieren, ohne darauf zu warten, bis man von Brüssel für uns alle wird. Ich bin fest davon überzeugt, dass das als Partner, der eine Chance auf den Beitritt hat, betrach- gelingt. Wir sollten unseren Beitrag dazu leisten. tet wird. Wenn man sich selbst modernisiert, reformiert (Beifall bei der SPD) und europäisiert, dann wird man zwangsläufig eine Per- spektive haben. Wenn Rumänien und Bulgarien Mitglie- Ich möchte mit folgender Bemerkung schließen: Der der der Europäischen Union sein werden, dann wird sich Fluß Pruth, der die Grenze zwischen Rumänien und die Antwort auf die Frage nach dem Beitritt aus dem Re- Moldau bildet, entspringt am Howerla, dem höchsten formprozess heraus fast von alleine ergeben. Dann hat Berg der Ukraine. In dieser wunderbaren Region ist Moldau eine wirkliche Perspektive, auch Mitglied der Rose Ausländer geboren, die in sehr schönen lyrischen Europäischen Union zu werden. Selbstanstrengung ist Bildern ihre Kindheit beschrieben hat und dem Leser der richtige Weg. nahe bringt, wie sie versucht hat, mit der Beschreibung dieser versunkenen Welt ihre eigenen Emotionen und (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ ihre Hoffnung auf eine gute Zukunft zu verbinden. Lei- DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der der zerbrachen diese Bilder, als der Krieg mit deutschen CDU/CSU und der FDP) Uniformen ihre Heimat überfiel. Ich möchte die wunder- baren Zeilen zitieren: Die Republik Moldau ist ein Land, das seine Blicke jetzt auf uns richtet. Ich bin dankbar dafür, dass die Bun- Sie kamen mit giftblauem Feuer, versengten unsere desregierung diesen einen Disput, den es zwischen dem Kleider und Haut. 7836 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2004

Gert Weisskirchen (Wiesloch) (A) Sie beendet ihr Gedicht mit den Worten: Wir leisten wirtschaftliche und technische Hilfe. Das (C) ist keine Frage; die Zahlen sind bekannt. Aber ein Volu- Wir waren die Scheiterhaufen unserer Zeit. men von circa 8 Millionen bis zum Jahr 2000 ist nicht Rose Ausländer, die aus dieser Region stammt, war gerade viel. Eine politische Heranführung an Europa fin- eine jüdische Lyrikerin, die Bessarabien und Moldau det jedenfalls mit aktiver Unterstützung der Bundesre- sehr gut gekannt hat. Wer ihre Zeilen liest, wird wissen: gierung bisher nicht statt. Auch im Rahmen des von der Diese Region gehört zu Europa. Ich denke, wir alle soll- Bundesregierung so hoch gelobten Stabilitäts- und ten uns verpflichten, diesem schönen Land eine Chance Wachstumspaktes ist das Land Moldau links liegen ge- zu geben. Moldau ist nicht vergessen. lassen worden. Im Jahre 2002 sind im Rahmen des Stabi- litäts- und Wachstumpaktes 170 Projekte vom Auswärti- (Beifall im ganzen Hause – Dr. Friedbert gen Amt finanziert worden. Auf die Republik Moldau Pflüger [CDU/CSU]: Seid ihr denn nun für entfielen null. Das ist ja nun kein Ausdruck von großer den Antrag? – Gert Weisskirchen [Wiesloch] Hinwendung zu diesem Staat. Deshalb stelle ich die [SPD]: Wir überweisen ihn und machen es ge- Frage: Haben wir Moldau vergessen? Sie werden sicher- meinsam!) lich antworten, dass das nicht der Fall sei. Aber was tun wir aktiv dafür, um es an Europa heranzuführen? Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Moldau ist ein weiteres Beispiel der facettenrei- Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Dr. Rainer chen, negativen Deutschland-Russland-Politik, Herr Stinner. Weisskirchen. (Beifall bei der FDP) Dr. Rainer Stinner (FDP): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Denn Faktum ist, dass sich Russland in Moldau auf eine Wir erleben gerade eine Stunde der Harmonie, in der wir Art und Weise benimmt, die für uns nicht akzeptabel ist. uns in vielen Fragen inhaltlich einig sind. Das begrüße Russland hat 1999 auf der OSZE-Konferenz in Istanbul ich und das eint uns auch. Dennoch müssen wir auch in versprochen, bis Ende 2002 seine Truppen und Waffen dieser Debatte einzelne Details genauer betrachten. abzuziehen. Die Situation Moldaus als ärmstes Land Europas ist Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: bereits beschrieben worden. Die Situation ist ohne jeden Zweifel kritisch. Ein Großteil der Bevölkerung hat ru- Herr Kollege, achten Sie bitte auf Ihre Redezeit. mänische Pässe und daher ab 2007 Zugang zur Europäi- (B) schen Union. All das sind Fakten, mit denen wir fertig Dr. Rainer Stinner (FDP): (D) werden müssen. Eine Verlängerung ist bis 2003 gewährt worden. Aber bisher ist nichts geschehen. Moldau steht zurzeit am Scheideweg zwischen der Orientierung nach Russland oder Europa. Die Ent- (Gert Weisskirchen [Wiesloch] [SPD]: Wir scheidung, welcher Weg eingeschlagen wird, muss – Sie pochen darauf!) haben völlig Recht, Herr Weisskirchen – in Moldau ge- troffen werden. In der Tat erhalten wir aus dieser Region Daher müssen wir die Bundesregierung drängen, diese bisher unklare Signale. Aber wir müssen uns selbst fra- Dinge auch in Gesprächen mit Russland anzusprechen. gen, was wir tun können und tun sollten. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Gert Wir müssen uns fragen, inwiefern es in unserem Inte- Weisskirchen [Wiesloch] [SPD]: Das ge- resse liegt, dass wir in dieser Region aktiv werden. Ohne schieht!) jeden Zweifel haben Deutschland und Europa ein vitales – Wir hoffen das sehr. Aber das hat bisher jedenfalls Interesse daran, dass Moldau an diesem Scheideweg nicht zu Folgen geführt. Auch das ist Faktum, Herr nicht von Europa wegrückt, sondern – wie Sie es so Weisskirchen. schön ausgedrückt haben, Herr Weisskirchen – zu einem Teil Europas wird. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Es gibt seit einigen Monaten eine gemeinsame euro- Herr Kollege, achten Sie bitte darauf, dass Sie Ihre päische Sicherheitsstrategie, in der wir expressis verbis Redezeit bereits überschritten haben. Auch Ihr Kollege vereinbart haben, dass wir Europäer dafür sorgen wol- hat schon vorher sehr viel überzogen. len, dass um das Kerneuropa herum ein Kordon von Staaten entsteht, die demokratisch und gesellschaftlich stabil sind und auch in unserem eigenen wirtschaftlichen Dr. Rainer Stinner (FDP): Interesse und Sicherheitsinteresse demokratische Struk- Wir, die Europäer und insbesondere die Deutschen, turen aufweisen. Darin besteht – darin sind wir uns hof- haben ein Eigeninteresse, gemäß dem wir handeln soll- fentlich einig – unser Interesse. Aber wir müssen uns in ten. In diesem Sinne ist der Antrag der Union, den wir diesem Zusammenhang fragen, was die Bundesrepublik unterstützen, ein Schritt in die richtige Richtung. konkret macht. Das ist – in dieser Einschätzung ist die Ich danke Ihnen. Meinung in diesem Hause sicherlich geteilt – leider bis- her relativ wenig. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2004 7837

(A) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: die Transnistrienfrage immer wieder zum Thema und (C) Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Marianne Tritz. drängt auch auf Umsetzung der Verpflichtung Russ- lands, seine Truppen abzuziehen. Weiterhin setzt sich die Bundesregierung in der EU-Kommission für die Einrich- Marianne Tritz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): tung einer EU-Delegation in Chisinau ein. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die CDU/CSU fordert ein Konzept zur Unterstützung (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Moldaus auf dem Weg in die Demokratie. Dabei gibt es und bei der SPD) bereits eine Vielzahl von Abkommen und Vereinbarun- Seit 1993 wurden im Rahmen der bilateralen staatli- gen, die jetzt von der Regierung Moldaus umgesetzt chen Zusammenarbeit zwischen der Bundesrepublik werden müssen. Deutschland und der Republik Moldau mehr als In der Republik Moldau ist beim Aufbau rechtsstaatli- 20 Millionen Euro zur Verfügung gestellt. Aus den Rest- cher Strukturen eine Reihe von Rückschritten zu ver- mitteln der Jahre 1999 und 2000 in Höhe von zeichnen. Die Schaffung des öffentlich-rechtlichen 4,6 Millionen Euro wird vom BMZ ein Programm zur Rundfunkwesens geht nicht voran. Bei der Durchfüh- Verbesserung der kommunalen Infrastruktur finanziert. rung freier und demokratischer Wahlen sind schwere Zusätzlich fördert das BMZ eine moldauische NGO, die Defizite festzustellen. Es gibt unter anderem die Pro- den Frauen und Mädchen, die im Ausland zur Prostitu- bleme des Schmuggels und des Menschenhandels sowie tion gezwungen wurden, durch Ausbildung und Exis- den ungelösten Transnistrienkonflikt. tenzgründungsdarlehen neue Perspektiven eröffnet. Die Lage ist folgende: Seit Jahren bemühen sich die Die Konferenz der Südosteuropa-Gesellschaft, die die OSZE, die EU und der Europarat, die rechtsstaatlichen, Möglichkeiten einer weiteren Annäherung Moldaus an die politischen, die wirtschaftlichen und die gesellschaft- die EU beleuchtet hat, zeigt, dass Moldau nach wie vor lichen Strukturen in Moldau zu stärken. Die mol- im Fokus der EU ist. Alle Maßnahmen zielen darauf ab, dauische Regierung ist mit der Parlamentarischen Ver- Moldau stärker an die EU heranzuführen – wir teilen den sammlung des Europarates zahlreiche Verpflichtungen in Ihrem Antrag geäußerten Wunsch – und zu stabilisie- eingegangen. Dazu gehören die Einrichtung eines run- ren. Gleichwohl gibt es aufgrund der zahlreichen Defi- den Tisches, die Verbesserung der Mediengesetze, eine zite in Moldau momentan keine Beitrittsperspektive. Justizreform und ein anderer Umgang mit der Oppo- Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU, sition. Das Kooperationsprogramm mit dem Europarat lassen Sie uns das Thema Moldau in den Ausschüssen in den Bereichen Menschenrechte, Demokratieförde- sehr sorgfältig beraten. Wir prüfen dann gemeinsam die rung, Rechtsstaatlichkeit und Erziehungswesen wird in vorhandenen Konzepte und den Stand der Umsetzung. (B) ein Programm mit der EU-Kommission überführt. Ent- (D) sprechende Reformen im Innen- und Justizbereich der Wir müssen uns aber auch darüber im Klaren sein, dass Republik Moldau werden von der Bundesregierung un- alle Hilfestellungen, die die OSZE, die EU, der Europa- terstützt. rat und auch die Bundesrepublik Deutschland der Repu- blik Moldau zukommen lassen, nur dann greifen können, Weiterhin hat man sich im Transnistrienkonflikt auf wenn der Wille zur Veränderung bei den politisch Ver- einen Beobachterstatus der EU in der bilateralen Verfas- antwortlichen in Moldau vorhanden ist. Diesbezüglich sungskommission geeinigt. Die Europäische Union hat kommen manchmal erhebliche Zweifel auf. das Nachbarschaftskonzept vorgestellt. In Verbindung mit den Schlussfolgerungen des Europäischen Rates Danke. werden differenzierte Aktionspläne auch für die Repu- (Beifall im ganzen Hause) blik Moldau entwickelt. Ausführliche Vorschläge der Kommission zu den Bereichen Justiz und Inneres, Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Vertiefung der wirtschaftlichen Integration, Investitions- Ich schließe die Aussprache. förderung und gemeinsame Sicherheit sind vorgelegt worden. Die Bundesregierung wird sich an der Ausge- Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf staltung der Aktionspläne aktiv beteiligen. Drucksache 15/1987 an die in der Tagesordnung aufge- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN verstanden? – Das ist der Fall. Damit ist die Überwei- und bei der SPD) sung so beschlossen. Das Kooperationsabkommen zwischen der EU Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf: und Moldau soll die Rahmenbedingungen schaffen, da- mit Moldau in Zukunft am europäischen Binnenmarkt Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- teilnehmen kann. Zusätzlich enthält es Vereinbarungen gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände- zur Kooperation in der Industrie, beim Handel, in der rung der Bundesärzteordnung und anderer Wissenschaft und in der Verwaltung. Es ist eine Reihe Gesetze von bilateralen Institutionen auf Minister-, Parlaments- – Drucksache 15/2350 – und Beamtenebene eingesetzt worden. Im Februar dieses Jahres wird auf der Tagesordnung des EU-Moldau- Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung (f) Kooperationsrates die Bekämpfung der organisierten Innenausschuss Kriminalität, der Geldwäsche und des Menschenhandels Ausschuss für Bildung, Forschung und stehen. Deutschland macht in Gesprächen mit Russland Technikfolgenabschätzung 7838 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2004

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer (A) Die Kolleginnen Ober, Brüning, Selg und Caspers- großes Dankeschön geht an Staatssekretärin Gleicke für (C) Merk sowie der Kollege Parr haben gebeten, ihre Reden all die Bemühungen, von denen uns im Verkehrsaus- zu Protokoll geben zu dürfen. Sind Sie damit einverstan- schuss immer wieder berichtet wird. den? – Das ist der Fall. Dann verfahren wir so.1) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent- DIE GRÜNEN – Renate Blank [CDU/CSU]: wurfs auf Drucksache 15/2350 an die in der Tagesord- Habt ihr die Beweihräucherung nötig?) nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Zum Beispiel wurde im Oktober letzten Jahres eine Dann ist die Überweisung so beschlossen. Reihe von Maßnahmen, wie – ich möchte nur einige nennen – die Verschärfung von Sanktionen, wenn Bus- Wir kommen zu den Tagesordnungspunkten 14 a und fahrer oder Busunternehmer gegen wesentliche techni- 14 b: sche Vorschriften verstoßen, härtere Strafen bei Ge- a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- schwindigkeitsüberschreitungen usw., vorgestellt. richts des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Die Bund-Länder-Initiative „Reisebussicherheit“ Wohnungswesen (14. Ausschuss) zu dem Antrag wird weitergeführt. Einig sind wir uns ebenfalls, dass es der Abgeordneten Dirk Fischer (Hamburg), Klaus schon einen umfassenden rechtlichen Rahmen gibt, auch Brähmig, Ernst Hinsken, weiterer Abgeordneter europaweit, wie zum Beispiel einheitliche Lenk- und und der Fraktion der CDU/CSU Ruhezeiten, Gurtausrüstungspflicht der Reisebusse, Sicherheit im Busverkehr Gurtanlegepflicht usw. – Drucksachen 15/1528, 15/2023 – Minister Stolpe hat bereits im Mai vergangenen Jah- res mit den wichtigsten einschlägigen Verbänden wie Berichterstattung: dem BDO und dem VDA Gespräche mit dem Ziel ge- Abgeordneter Heinz Paula führt, zur Erhöhung der Bussicherheit beizutragen. Auch b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Gero bei allen Verbänden besteht Übereinstimmung, dass der Storjohann, Gerhard Wächter, Dirk Fischer geltende gesetzliche Rahmen bereits ausreicht. (Hamburg), weiterer Abgeordneter und der Frak- Kolleginnen und Kollegen, allerdings nützen die be- tion der CDU/CSU stehenden Vorschriften sehr wenig, wenn sie nicht wirk- Mehr Sicherheit an unbeschrankten Bahn- sam kontrolliert werden. übergängen (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Wohl (B) – Drucksache 15/1984 – wahr!) (D) Überweisungsvorschlag: Die Durchführung von Buskontrollen ist verfassungs- Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f) rechtlich schwerpunktmäßig Aufgabe der Länder. Dane- Rechtsausschuss ben ist auch das Bundesamt für Güterverkehr für Kontrol- Ausschuss für Tourismus len zuständig. Allerdings – jetzt kommt der wesentliche Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Punkt und ich bitte gerade die Kolleginnen und Kollegen Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Wie ich der CDU/CSU um große Aufmerksamkeit – kann nur sehe, gibt es dazu keinen Widerspruch. Dann ist auch so kontrolliert werden, wenn die Länder auch das Recht ein- beschlossen. räumen, Reisebusse zur Kontrolle anzuhalten. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst Kolleginnen und Kollegen aus Bayern, da fragt man der Abgeordnete Heinz Paula. sich natürlich zuerst: Was macht unser Haupttransitland, was macht Bayern in diesem Fall? Wie wir wissen, wird Heinz Paula (SPD): das Anhalterecht verweigert. Als neu gewählter Abge- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! ordneter schreibt man natürlich postwendend dem baye- Immer wieder erschrecken uns Meldungen über Unfälle rischen Ministerpräsidenten einen Brief und bittet, er mit Reisebussen. Angesichts der Häufung dieser Unfälle möge sich in dieser Frage bewegen. Und, siehe da, man stellt man sich zu Recht die Frage: Wie sicher sind Rei- bekommt nach einigen Monaten eine sehr interessante sebusse? Nebenbei bemerkt: Sie gehören zu den sichers- Antwort. ten Verkehrsmitteln, die es gibt. Vor allen Dingen muss Der Leiter der Bayerischen Staatskanzlei, Herr Huber, gefragt werden: Was muss getan werden, um das Bus- schreibt am 15. Januar – ich darf zitieren –, fahren noch sicherer zu machen? … dass aus fachlicher Sicht eine isolierte Kontroll- Das Bundesamt für Güterverkehr hat seine Überwa- möglichkeit des Bundesamtes für Güterverkehr chungen deutlich intensiviert. Allein im ersten Halbjahr nicht angezeigt ist. 2003 wurden durch den Kontrolldienst des Bundesamtes 4 600 Busse überprüft. Davon wurden 488 beanstandet. Weiter: Das entspricht einer Quote von 10,6 Prozent. Wir kön- Die Synergieeffekte gemeinsamer Kontrollen wür- nen feststellen: Unsere Bundesregierung handelt. Ein den verloren gehen, weil bei der zwangsläufig begrenzten Kapazität des Bundesamtes bei einer 1) Anlage 3 stärkeren Anzahl von Einzelkontrollen Gemein- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2004 7839

Heinz Paula (A) schaftsaktionen nicht mehr im bisherigen Umfang (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (C) möglich wären. DIE GRÜNEN – [CDU/ CSU]: Dieser Antrag spricht für sich!) (Renate Blank [CDU/CSU]: Die SPD wird ja schon im Bund nicht wahrgenommen! Wieso Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: soll sie denn in Bayern wahrgenommen wer- Das Wort hat jetzt der Abgeordnete . den?) Jetzt stellt sich wirklich die Frage: Wieso ist denn Volkmar Uwe Vogel (CDU/CSU): Bayern unbedingt gegen weitere zusätzliche Kontrollen? Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Vor allen Dingen fragt man sich, Kolleginnen und Kolle- Herren! Lieber Kollege Paula, es ist sicherlich richtig, gen: Wie wollen Sie denn den Punkt Ihres Antrages rea- dass eine Reihe von Maßnahmen eingeleitet worden lisieren, wonach mit mehr Kontrollen die schwarzen sind. Aber die Ereignisse in den letzten Wochen zeigen, Schafe tatsächlich zur Rechenschaft gezogen werden dass diese Maßnahmen noch nicht ausreichen und dass sollen? man über die Problematik auch nicht oft genug reden kann. Es ist auch schade, dass hier im Parlament zu so (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Sehr später Stunde darüber geredet wird. richtig!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Irgendwie müssen Sie uns schon erklären, wie das Der Bus ist dank hoher Sicherheitsstandards und vie- Ganze funktionieren soll. ler verantwortungsbewusster Busfahrer immer noch das (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ sicherste Verkehrsmittel, noch vor Bahn und Flugzeug. DIE GRÜNEN – Eduard Oswald [CDU/ Doch damit können wir uns angesichts der Nachrichten CSU]: Mir san mir! Den Antrag müsst ihr von Busunglücken aus Europa nicht zufrieden geben. schon unterstützen!) (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Das ist wahr!) Neben verschärften Kontrollen setzen wir natürlich Diese Unglücke – darin sind wir uns einig – bringen viel auch auf präventive Maßnahmen und Qualitätsförde- menschliches Leid. Jede Möglichkeit, die hilft, auch nur rung, und zwar – das ist entscheidend – in enger Zusam- ein Menschenleben zu retten, verdient unsere besondere menarbeit mit den Busunternehmen. Dabei geht es um Aufmerksamkeit. die Einführung eines obligatorischen Fahrsicherheitstrai- (Beifall im ganzen Hause) nings für Busfahrer, um ein Gütesiegel für Verkehrssi- (B) cherheit und um eine anerkannte Qualitätszertifizierung Ganz verhindern können wir Unglücke natürlich (D) von Busunternehmen. Mit diesem Maßnahmenbündel nicht. Ich sage das auch aus einem aktuellen Anlass. Erst aus gesetzlichen Verschärfungen, verstärkten Kontrol- am vergangenen Wochenende kam es in meiner Heimat len und Aufbau eines Qualitätsmanagements sind wir bei Bad Klosterlausnitz, nicht einmal 10 Kilometer von zweifelsohne auf dem richtigen Weg. meinem Heimatort entfernt, zu einem schrecklichen Bus- unglück mit drei Toten und über 40 Verletzten. Touristen Zu Ihrem Antrag ganz kurz, Kolleginnen und Kolle- aus Dänemark waren auf dem Weg zum Skiurlaub nach gen: In Anbetracht dessen, was bisher bereits in vorbild- Österreich, als eine norwegische Busfahrerin die Kon- licher Weise auf den Weg gebracht worden ist, kann er trolle über das Fahrzeug verlor. Liebe Kollegen, ich eigentlich nur abgelehnt werden. Ich möchte aber trotz- möchte an dieser Stelle den Einsatzkräften vor Ort noch- dem noch einmal zur Verdeutlichung, gerade an Sie ge- mals für ihre schnelle und professionelle Hilfe danken. richtet, die wesentlichen Punkte zusammenfassen: Ver- Sie haben noch mehr menschliches Leid verhindert. stärkung und Koordinierung der Kontrollen des Gleichzeitig möchte ich den Angehörigen der Opfer un- Bundesamtes für Güterverkehr auf europäischer Ebene. ser tiefes Mitgefühl aussprechen und den Verletzten alles Wie Sie wissen, ist Deutschland seit dem 5. April 2001 Gute für ihre Genesung wünschen. durch das Bundesamt für Güterverkehr Teilnehmer des Dieser letzte Busunfall zeigt uns auf erschreckende Euro-Controle-Route-Abkommens. Insoweit ist Ihrer Weise nicht nur die europäische Dimension des Pro- Forderung bereits voll Genüge getan. Darüber hinaus ist blems, sondern auch die Grenzen unserer Möglichkeiten laut EU-Beschluss festgelegt, dass alle relevanten recht deutlich. Der Unfall in Bad Klosterlausnitz ist Neufahrzeuge mit digitalen Fahrtenschreibern ausgerüs- wahrscheinlich auf menschliches Versagen zurückzufüh- tet werden müssen. Das obligatorische Busfahrertraining ren. Aber wir müssen auch bedenken: Die Arbeitsbedin- für Berufskraftfahrer ist ebenfalls seit dem 1. August gungen für die Busfahrer werden immer komplizierter. 2001 neu geregelt. Deutschland ist ein Transitland. Das heißt, wir werden Wenn wir es jetzt noch schaffen – mit Ihrer Unterstüt- im Hinblick auf die EU-Osterweiterung mit einem wei- teren Anstieg des Verkehrsaufkommens rechnen müs- zung, Kolleginnen und Kollegen gerade von der CSU –, sen. auch Bayern zu überzeugen, sodass in Zukunft verstärkt Buskontrollen durchgeführt werden können, ist eines Wir diskutieren in diesen Tagen im Verkehrsaus- festzustellen: Wir sind auf dem absolut richtigen Weg. schuss den Bundesverkehrswegeplan. Wir treffen unsere Von daher gesehen bitte ich um Verständnis, wenn ich Entscheidungen nach Verkehrsaufkommen, nach dem sage: Dieser Antrag kann nur abgelehnt werden. Kosten-Nutzen-Verhältnis und nach blanken Zahlen. Der 7840 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2004

Volkmar Uwe Vogel (A) Faktor Sicherheit kommt zu kurz. Dabei müssen wir Möglichkeiten zur Erhöhung der aktiven Sicherheit an (C) aber gerade den Sicherheitsaspekt viel stärker als Krite- Fahrzeugen vorantreiben und den gesetzlichen Rahmen rium in unsere Entscheidungen einfließen lassen, wenn dazu schaffen. Wir unterstützen die im Zuge der europäi- es beispielsweise um Umgehungsstraßen oder um Bahn- schen Harmonisierung vorgesehene Einführung von ak- übergänge – auch das ist heute Thema der Debatte – tiven elektronischen Warnsystemen in Bussen, die etwa geht. Es geht schließlich um die Sicherheit auf unseren den Sekundenschlaf anzeigen oder beim ungewollten Straßen und damit um die Sicherheit der Menschen. Wechsel der Fahrspur ein Warnsignal abgeben. Ich sagte es bereits: Der Bus gehört zu den sichersten Meine sehr verehrten Damen und Herren, meine Zeit Verkehrsmitteln. Zudem ist Busreisen eine umwelt- ist um. Ich komme deswegen zum Schluss: Wir sind der freundliche und kostengünstige Ergänzung zum Indivi- Auffassung, das Thema Sicherheit im Busverkehr eignet dualverkehr. In Deutschland wurden im vergangenen sich nicht für parteipolitische Auseinandersetzungen. Jahr über 100 Millionen Fahrgäste mit Bussen befördert. Darin sind wir uns einig. Es geht hier ja letztendlich um Doch gerade wegen der ungewöhnlichen Häufung von die Sicherheit auf unseren Straßen und Autobahnen und Unfällen in der letzten Zeit dürfen wir bei der Sicherheit damit um Menschenleben. Deshalb bitte ich Sie: Stim- nicht zurückstecken. Hierbei sollten wir auch auf eine men Sie unserem Antrag zu. europäische Harmonisierung achten. Unabhängig von allen Maßnahmen, die bisher getroffen worden sind, Danke schön. muss sich die Bundesregierung mit den bestehenden De- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – fiziten auseinander setzen und – der Meinung sind wir Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Blanker jedenfalls – spätestens bis zum Jahresende ein entspre- Aktionismus!) chendes Verkehrskonzept vorlegen. Hier darf es keiner- lei Tabus geben; denn es geht um die Sicherheit auf un- seren Straßen und das ist das höchste Gut. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Ich erteile jetzt dem Abgeordneten Peter Hettlich das (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wort und gratuliere ihm im Namen des ganzen Hauses Als Sofortmaßnahmen fordern wir in unserem Antrag zu seinem heutigen Geburtstag. von Verkehrsminister Stolpe nochmals nachdrücklich: Die Kontrollen durch das Bundesamt für Güterverkehr (Beifall) müssen im Zusammenwirken mit den Polizeien der Län- der verstärkt werden. Wenn die Polizei in Bayern in der Peter Hettlich (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Lage ist, diese Kontrollen effektiv durchzuführen – das Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und (B) kann ich auch für unsere Polizei in Thüringen sagen –, Kollegen! Auch ich freue mich, dass es mir gelungen ist, (D) dann können das die Polizeien machen und dann ist der meinen Geburtstag auf den heutigen Tag zu schieben, Einsatz des Bundesamts für Güterverkehr nicht unbe- und bedanke mich für die Gratulationen, die ich von vie- dingt erforderlich. Wichtig ist dabei: Das aufgedeckte len Leuten in schriftlicher oder in mündlicher Form be- Fehlverhalten darf nicht nur dem Kraftfahrt-Bundesamt kommen habe. Ich werde diesen Geburtstag also so gemeldet werden, sondern muss auch der für die Zulas- schnell nicht vergessen. sung des Unternehmens zuständigen Behörde vor Ort gemeldet werden. Nur dadurch kann man die schwarzen Das Jahr 2003 war für die deutschen Busunternehmen Schafe schnell erkennen und aussortieren. kein gutes Jahr. Man könnte sogar von einem sehr bitte- Zusätzlich müssen wir gemeinsam mit unseren euro- ren Jahr sprechen, denn die Bemühungen der Akteure päischen Partnern auf den wichtigsten Urlaubsstrecken um mehr Sicherheit im Busverkehr erlitten mehrere die bestehenden Kontrollsysteme verstärken, weil ge- herbe Rückschläge. Nach wie vor ist der Bus ein siche- rade auch im europäischen Ausland schlimme Unfälle res Verkehrsmittel. Aber wir dürfen unsere Augen nicht passiert sind und eines klar ist: Ungefähr ein Viertel aller vor der Tatsache verschließen, dass sich die Situation im Busunfälle beruht auf der Überschreitung der Lenkzei- vergangenen Jahr offensichtlich deutlich verschlechtert ten. hat. Dabei darf uns die allseits bekannte Statistik nicht beruhigen, die für die Bussicherheit einen Wert von nur Zugleich – auch darauf muss man noch einmal hin- 0,16 getöteten Insassen pro Milliarden Personenkilome- weisen und dieses mit Nachdruck einfordern – ist euro- ter für das Jahr 2002 ausweist. Damit wäre der Bus nach paweit die Verpflichtung zum Einbau eines digitalen wie vor das sicherste Verkehrsmittel deutlich vor der Fahrtenschreibers durchzusetzen, um so die Manipula- Bahn, dem Flugverkehr und dem motorisierten Individu- tionsmöglichkeiten an den Fahrtenschreibern zu mini- alverkehr. mieren. Ganz verhindern wird man sie wahrscheinlich nicht können. In diese Berechnung gehen allerdings nur die Busun- fälle in Deutschland ein. Wir müssen unser Augenmerk Schließlich fordern wir ein obligatorisches Fahrsi- aber leider auch auf die Unfälle richten, an denen deut- cherheitstraining für die Busfahrer, damit gerade typi- sche Busunternehmen im Ausland beteiligt waren. Ich sche Gefahrensituationen in der Praxis geübt werden erinnere in diesem Zusammenhang nochmals an die können und so auch eigenes Fehlverhalten abgestellt schrecklichen Unfälle von Lyon mit 28 Toten, von Sio- werden kann. fok mit 33 Toten oder an den Unfall am 20. Dezember Neben diesen Maßnahmen, die sofort Wirkung zei- letzten Jahres an der belgisch-französischen Grenze mit gen, sollten wir auch die Entwicklung technischer elf Toten. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2004 7841

Peter Hettlich (A) Nach unseren Recherchen waren 2003 bei zwölf Un- passiver Sicherheitspakete in der Fahrzeugtechnik, zum (C) fällen insgesamt 80 getötete Deutsche europaweit zu be- Beispiel Antiblockiersystem, elektronisches Bremssys- klagen; diese Unfälle müssen wir deutschen Busunter- tem, elektronischer Bremsassistent oder das elektroni- nehmen zuordnen. Sie entfallen beinahe ausschließlich sche Stabilitätsprogramm. auf den Gelegenheitsverkehr, das heißt den Fernreise- Diese Maßnahmen haben ein Ziel: Wir müssen alles verkehr. Im Linienverkehr kommt es dagegen nur selten tun, damit der Schwachpunkt in diesem Transportsys- zu Unfällen mit Todesfolgen, sodass hier für 2003 ei- tem, nämlich der Mensch, durch flankierende Maßnah- gentlich eine Null oder maximal eine Eins anzusetzen men weiter gestärkt und unterstützt wird. Eine breit ange- wäre. legte Fahrerschule, wie dies bdo und RDA favorisieren, Wenn wir jetzt berücksichtigen, dass auf den Gele- kann hier sicherlich einen Lösungsbeitrag liefern. genheitsverkehr circa 10 Prozent der beförderten Perso- Andererseits halte ich es auch für sehr wichtig – der nen entfallen, jedoch 28 Prozent der Personenkilometer, Kollege Vogel hat bereits darauf hingewiesen –, dass wir und wir die Zahl der getöteten Insassen diesen beiden durch die beschleunigte Entwicklung und Einführung Gruppen, Linien- und Gelegenheitsverkehr, zuordnen, so von technischen Innovationen wie zum Beispiel dem ergibt sich ein völlig anderes Bild. Für den Linienver- Spurassistenten oder dem intelligenten Tempomat den kehr ergibt sich jetzt nämlich ein Wert von 0,02 getöte- Busfahrern effektive Unterstützungsinstrumente an die ten Insassen je Milliarden Personenkilometer, für den Hand geben. Auch wenn diese Neuerungen nicht zum Gelegenheitsverkehr, also den Fernverkehr, dagegen von Nulltarif zu bekommen sind, die Sicherheit der Passa- 3,5 bis 4,0 getöteten Insassen je Milliarden Personenki- giere muss weiterhin oberste Priorität genießen. Daher lometer. Durch die Berücksichtigung der europaweiten sind auch die Verbände ausdrücklich aufgefordert, hier Zahlen ergibt sich für den Busverkehr sogar ein Gesamt- in ihren Bemühungen nicht nachzulassen. wert von größer als Eins. Damit ergibt sich eine völlig andere Rangfolge. Zunächst kommt der Linienverkehr Ich wünsche mir und uns allen, dass das Jahr 2004 ein per Bus mit 0,02 getöteten Insassen je Milliarden Perso- positives Jahr für die Busbranche wird, dass sie das ver- nenkilometern, dann die Bahn mit 0,56, dann der Bus- loren gegangene Vertrauen zurückgewinnen kann und verkehr insgesamt mit 1,08, dann der Flugverkehr und dass uns – Iris Gleicke möge es mir verzeihen – Unter- dann der Gelegenheitsverkehr, also der Busfernverkehr, richtungen über schwere Unfälle in unserem Ausschuss mit 3,77. Der Wert für den motorisierten Individualver- erspart bleiben. kehr liegt nach wie vor bei 7,3. Danke schön. Wir können also feststellen, dass der Bus nach wie (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (B) vor ein sicheres Transportmittel ist. Wir können an die- und bei der SPD) (D) ser Berechnung aber auch erkennen, dass es Handlungs- bedarf gibt. Wir müssen handeln, wenn wir nicht wollen, Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: dass das Vertrauen der Kunden in dieses Verkehrsmittel Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Horst Friedrich. nachhaltig erschüttert wird.

Daher hat die Politik zu Recht bereits eine Vielzahl Horst Friedrich (Bayreuth) (FDP): von Maßnahmen eingeleitet, von denen ich nur die we- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! sentlichsten nennen möchte: Einführung von Geschwin- Es ist schon ironisch gesagt worden: Das Thema Ver- digkeitsbegrenzern; scharfe und nochmals verschärfte kehrssicherheit zu telegener Zeit im fast vollen Plenum Sanktionen bei Verstößen gegen Geschwindigkeitsvor- des Deutschen Bundestages. Dabei sind die Probleme si- schriften; europaweit einheitliche Lenk- und Ruhezeiten; cherlich ernst zu nehmen, gerade im Busbereich. Der Gurtausrüstungspflicht; Gurtanlegepflicht; Neuregelung Unfall an der belgischen Grenze ist schon angesprochen der Berufskraftfahrerausbildung; Durchführung intensi- worden. Der Busunternehmer kommt aus der Fränki- ver Kontrollen – 400 Prozent über dem europäischen schen Schweiz, aus der Nähe meines Wahlkreises. Der Durchschnitt – in enger Zusammenarbeit mit den Län- Unfall hat deutlich gemacht, dass das ständige Rufen dern und dem BAG. Insofern halte ich den Antrag der nach neuen technischen Vorschriften, die gewissermaßen CDU/CSU für überzogen, was die Verschärfung und reflexhafte Reaktion auf einen Unfall, mit der Forde- Ausweitung der Kontrollen angeht. Ich kann nicht sehen, rung, weitere technische Geräte einzubauen, erkennbar dass dieser Antrag zielführend ist. Darüber hinaus wird nicht ausreicht; denn offensichtlich war der Faktor dieses Jahr – hoffentlich im August – für Neufahrzeuge Mensch, derjenige, der das Fahrzeug bedient, in den der digitale Fahrtenschreiber eingeführt. Alle diese Maß- meisten Fällen die Schwachstelle. nahmen werden sicher dazu führen, dass die Sicherheit im Busverkehr verstärkt wird. Deshalb muss überlegt werden: Muss man die Kon- trollen nicht vielleicht doch noch verschärfen? Aus mei- Auch die Omnibusunternehmen und ihre Verbände ner Sicht ist und bleibt eines der großen Probleme des sowie die Omnibushersteller sind sich ihrer Verantwor- GüKG, das am 1. Juli 1998 in Kraft getreten ist, dass die tung bewusst und arbeiten aktiv an einer Verbesserung Kontrollrechte des Bundesamtes für Güterverkehr der Sicherheit im Busverkehr mit, unter anderem durch im Bereich Bus nicht so ausreichend zur Verfügung ste- konzertiertes Vorgehen gegen schwarze Schafe in ihren hen, wie sie vom Bundestag zunächst vorgesehen waren, eigenen Reihen, durch erweitertes Sicherheitstraining und zwar aufgrund einer aus meiner Sicht nicht mehr für Omnibusfahrer und durch die Einführung aktiver und nachvollziehbaren Begründung der Länder. Diese ist 7842 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2004

Horst Friedrich (Bayreuth) (A) schon gar nicht mehr nachvollziehbar, wenn man weiß, Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: (C) dass das Bundesamt für Güterverkehr knapp 900 Mitar- Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Heidi Wright. beiter zusätzlich bekommt, die eigentlich die Maut kon- trollieren sollten, was sie nun – durch die kurzfristige Heidi Wright (SPD): Verzögerung der Maut – aber nicht können, und die des- Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Herr halb für andere Aufgaben zur Verfügung stehen, denn sie Friedrich hat schon vom ersten Antrag der CDU/CSU werden ja bezahlt. Deswegen, sehr verehrte Frau Staats- mit dem Titel „Sicherheit im Busverkehr“ zum zweiten sekretärin, wäre es aus liberaler Sicht, sicherlich ange- Antrag mit dem Titel „Mehr Sicherheit an unbeschrank- messener, der Herr Verkehrsminister würde sich nicht ten Bahnübergängen“ übergeleitet. um ein neues Qualitätssiegel für Busse kümmern, son- dern mit den Ländern reden, um vielleicht bei diesem Hintergrund des Antrages mit dem Titel „Mehr Si- Thema weiterzukommen. cherheit an unbeschrankten Bahnübergängen“, der heute eingebracht und dann im Fachausschuss beraten wird, Herr Kollege Paula, bei aller Akzeptanz: Ihr Brief an sind tragische Unfälle an unbeschrankten Bahnüber- den bayerischen Ministerpräsidenten löst das Problem gängen. Etwas zum Trost: Die Zahl der Unfälle an sicherlich nicht. Da muss man schon mehr Hintergrund Bahnübergängen in Deutschland ist insgesamt rückläu- bieten. fig. Dies ist uns Ansporn, die Zahl noch weiter zu sen- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – ken. Eduard Oswald [CDU/CSU]: Auch wenn es Zu den Tatsachen. Nur rund 12 000 der bundesweit der schreibt, wird es nicht mehr als 26 000 Bahnübergänge sind mit Schranken und besser!) Signallichtern ausgestattet. Die Mehrzahl – das sind Aufgrund Ihrer Haltung im Ausschuss und vor dem Hin- 14 000 – ist unbeschrankt. tergrund dessen, was Sie gesagt haben, wundert es mich, Vorrangiges Ziel der Verkehrspolitik der rot-grünen dass Sie den Antrag ablehnen. Koalition und jeder Verkehrspolitik – das haben wir Diese Position trifft sicherlich auch für den Antrag heute schon oft gehört – muss die Erhöhung der Ver- mit dem Titel „Mehr Sicherheit an unbeschrankten kehrssicherheit und damit der Schutz der Verkehrsteil- Bahnübergängen“ zu, in dem reflektierende Hinweis- nehmer sein. Aus diesem Grund begrüße ich die Inten- schilder an unbeschrankten Bahnübergängen gefor- tion des Antrages, wenngleich er einseitig ist und nicht dert werden und über den wir später im Ausschuss de- dem aktuellen Stand entspricht. battieren werden. Man muss hinsichtlich der Unfälle an Es hat mich erstaunt, dass keine Vorschläge zur Ver- unbeschrankten Bahnübergängen zur Kenntnis nehmen, (B) besserung der Sicherheit an Bahnübergängen mit Blink- (D) dass der eine oder andere Autofahrer bzw. die eine oder licht bzw. Lichtzeichen ohne Halbschranken gemacht andere Autofahrerin der Meinung ist, dass ihm bzw. ihr wurden. Eine Statistik der Deutschen Bahn AG aus dem nichts passieren kann, wenn der Zug noch nicht da ist. Jahre 2002 belegt, dass an Bahnübergängen mit Licht- Bei mir in der Region hat es in letzter Zeit sogar Unfälle zeichen ohne Halbschranken die Unfallhäufigkeit pro an Bahnübergängen mit Halbschranken gegeben. Es gibt Bahnübergang viermal so hoch ist wie an nicht technisch offensichtlich Todesmutige, die meinen, dass man noch gesicherten Bahnübergängen. zwischen den geschlossenen Halbschranken hindurch- fahren kann. (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Glaube keine Zahl der Bahn, wenn du sie nicht selber (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Das ist un- überprüft hast!) glaublich!) Sie wundern sich dann, dass sie auf dem Gleiskörper auf Das ist etwas schwierig zu begreifen. Aber diese Beob- den Zug treffen. achtung hat die Bahn gemacht. Man kann das nachlesen. Ich werde Ihnen die entsprechende Unterlage im Aus- Es gibt in Niederbayern einen Versuch auf freiwilliger schuss zeigen. Basis, bei dem die Bahnübergänge mit reflektierenden Andreaskreuzen ausgestattet worden sind. Siehe da: In An oberster Stelle des Maßnahmenkataloges müssten den Landkreisen ist die Zahl der Unfälle an unbe- daher technische Maßnahmen wie die Nachrüstung mit schrankten Bahnübergängen drastisch zurückgegangen. Voll- oder Halbschranken stehen. Ich weiß, das ist die Deswegen freue ich mich auf die Beratung und die rela- teuerste Anlage. Dennoch müsste diese Nachrüstung un- tiv gute Behandlung dieses Themas im Ausschuss in der ser Ziel sein, insbesondere bei Bahnübergängen, die häu- Hoffnung, dass Rot-Grün diesmal nicht Nein sagt. fig von Schul- und Linienbussen oder Touristenbussen überquert werden. Ansonsten glaube ich, dass wir das Thema Verkehrs- sicherheit noch des Öfteren in diesem Hause debattieren Ich begrüße auch die von der Bundesregierung vorge- werden. schlagene Maßnahme, die straßenbauliche Situation in den Zufahrtsbereichen von Bahnübergängen insgesamt Herzlichen Dank. zu verbessern. Das ist sicherlich richtig. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Ein Satz zu der Maßnahme, auf die Sie am meisten Eduard Oswald [CDU/CSU]: Das ist auch not- fokussieren, nämlich zu dem Andreaskreuz auf gelber wendig!) Hintergrundtafel. Vorliegende Ergebnisse eines Pilot- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2004 7843

Heidi Wright (A) versuches zeigen – anders als es der Kollege Friedrich Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: (C) dargestellt hat –, dass Verbesserungen im Fahrverhalten Als letztem Redner erteile ich jetzt dem Abgeordne- infolge der hohen Auffälligkeit der gelb-fluoreszieren- ten Gero Storjohann das Wort. den Hintergrundtafel wegen der sich dann einstellenden Gewöhnung nur von kurzer Dauer sind. Gero Storjohann (CDU/CSU): (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Woher Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und wollen Sie das wissen?) Herren! Wir diskutieren heute über einen Antrag meiner Fraktion, in dem wir fordern, dass es endlich zu mehr Gerade die Ergebnisse in Bayern zeigen – die entspre- Verkehrssicherheit an unbeschrankten Bahnüber- chenden Zahlen werden wir im Ausschuss beraten –, gängen kommt. Es gibt viel zu tun. Es wäre schön, wenn dass diese Maßnahme eben nicht zielführend ist. ein gemeinsames Signal dieses Parlaments an die Ver- antwortlichen gehen würde. Damit würden wir viel mehr (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Das Ge- erreichen. genteil haben sie vor Ort bewiesen!) (Beifall bei der CDU/CSU) Weiter greife ich aus dem Maßnahmenkatalog des Antrages die Kombination von Andreaskreuz und Es handelt sich bei unbeschrankten Bahnübergängen Stoppschild auf. Dazu eine Hintergrundinformation: um gefährliche Todesfallen. Das hat auch ein gewisser Eine Umfrage im Auftrag der Deutschen Bahn lässt ver- Herr Werner Kuhlmann aus Verl vor sechs Jahren erfah- muten, dass wahrscheinlich mehr als 20 Prozent der Be- ren müssen. Er hat nämlich persönlich beobachtet, wie fragten die Bedeutung des Andreaskreuzes als Warte- ein Güterzug an einem unbeschrankten Bahnübergang pflichtgebot nicht kennen. ein Auto rammte und wie dabei ein junges Mädchen di- rekt vor seinen Augen starb. Dieses schlimme Erlebnis (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Dann soll- hat ihn auf die Idee gebracht, uns Politikern eine neue ten sie die Führerscheinprüfung noch einmal Schilderkombination anzudienen, um an unbeschrankten machen!) Bahnübergängen eine Verbesserung herbeizuführen, die nicht besonders viel Geld kostet. – Das ist ein richtiger Vorschlag. – Trotz der laufenden Informations- und Aufklärungskampagne müssen dau- Sie wissen, wie viele unbeschrankte Bahnübergänge erhaft wirksame Maßnahmen zu einer Verdeutlichung es in Deutschland gibt und wie viele Unfälle dort passie- der Wartepflicht an Bahnübergängen ergriffen wer- ren; die Zahlen gehen aus unserem Antrag hervor. den. Naheliegend ist in der Tat, ein Verkehrsschild wie (B) Ich möchte auf einen Versuch in meiner schleswig- (D) das Stoppschild in Betracht zu ziehen, da dessen Be- holsteinischen Heimat eingehen. Im Bereich Eutin deutung allen Verkehrsteilnehmern bekannt sein dürfte. wurde ein Versuch mit einer besonderen Schilderkombi- Der zuständige Bund-Länder-Fachausschuss prüft zur- nation an unbeschrankten Bahnübergängen unternom- zeit gemeinsam mit dem Eisenbahn-Bundesamt und der men, und zwar rechtswidrig, wie sich im Nachhinein Deutschen Bahn AG, ob die Umsetzung dieser Maß- herausstellte. Diese Schilderkombination wurde dann nahme einen zusätzlichen Sicherheitsgewinn erwarten abgebaut. Kurze Zeit später stellten sich wieder Unfälle lässt. ein. Insofern widerspreche ich ausdrücklich der Behaup- tung, durch neue Schilderkombinationen könne eventu- Hier sind wir meines Erachtens an einem kritischen ell ein Gewöhnungseffekt hervorgerufen werden. Punkt: Es gibt zu viele Zuständigkeiten. Es reden zu viele mit. Es gibt zu viele Ebenen. Es gibt zu viele Mei- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- nungen und es passiert über Jahrzehnte zu wenig. Sie neten der FDP – Horst Friedrich [Bayreuth] kennen den einfachen Spruch: Gefahr erkannt, Gefahr [FDP]: Das ist der Unterschied zwischen Theo- gebannt. Bei kompetenz- und länderübergreifenden Re- rie und Praxis! – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] gelungen scheint dies nicht zuzutreffen. Alles dreht sich [SPD]: Jede Woche Schilder wechseln!) viele Male, ohne dass wirklich etwas zum Schutz der Kollege Friedrich hat auf Versuche in Bayern mit ei- Verkehrsbeteiligten und zur Verkehrssicherheit ge- nem gelb leuchtenden Schild unter dem Andreaskreuz schieht. Dies führt zu einem Fazit mit tragischen Folgen: hingewiesen. Auch hier gab es nur positive Rückmel- Man war nicht untätig; aber es ist nichts passiert, bis et- dungen. Deswegen lautet unser Appell an die Mehrheits- was passiert. fraktionen, sich gemeinsam für eine neue Schilderkom- Ich erkenne die Intention Ihres Antrages und freue bination einzusetzen. mich auf die Beratungen im Ausschuss. Es gibt viel zu Natürlich wäre es sinnvoller, in Technik mit Halb- tun; dies wurde mir von vielen Kolleginnen und Kolle- schranken oder Vollschranken zu investieren. Diese gen aus meiner Fraktion signalisiert. Ihr Antrag ist etwas Maßnahmen kosten aber in der Regel 300 000 Euro. Sie einseitig. Wir werden ihn miteinander beraten, uns die können sich leicht ausrechnen, wie weit wir bei 12 000 Zahlen noch einmal genauer ansehen, Herr Friedrich, unbeschrankten Bahnübergängen mit dem Geld kommen und zu einem guten Ende kommen. würden, das zur Verfügung steht. Deswegen sollten wir nicht nur reden. Wir brauchen endlich Erfolge. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) 7844 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2004

Gero Storjohann (A) Auch aus dem Ausland gibt es positive Erfahrungen Ausschuss für Tourismus (C) zu vermelden. Leuchtende Verkehrsschilder werden be- Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union reits in den Niederlanden, in Belgien, in Österreich, in Die Abgeordneten Krüger-Leißner, Hofbauer, Schulz Italien, in Spanien und in Großbritannien verwendet – (Berlin) und Winterstein haben darum gebeten, ihre Re- und das erfolgreich. Deswegen noch einmal der Appell den zu Protokoll geben zu dürfen. Sind Sie damit einver- an uns: Wir müssen jetzt handeln. Ich freue mich auf die standen? – Dann verfahren wir so.1) Beratungen im Ausschuss. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent- Ich fordere Sie deshalb auf: Stimmen Sie unserem wurfs auf Drucksache 15/2378 an die in der Tagesord- Antrag in den Beratungen zu. Es dient nicht nur der Ver- nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es kehrssicherheit, es dient unserem gemeinsamen Erleb- anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann nis, dass wir etwas für die Verkehrssicherheit getan ha- ist die Überweisung so beschlossen. ben. Ich rufe Tagesordnungspunkt 16 auf: Ich bin noch nicht lange im Parlament, aber ange- sichts der Busunfälle und der Unfälle an unbeschrankten Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Bahnübergängen, die ich in dieser Zeit schon erlebt Entwurfs eines Investitionszulagengesetzes habe, bin ich immer stärker der Auffassung, dass wir 2005 (InvZulG 2005) handeln müssen. Ich habe Ihnen auch ein Beispiel dafür – Drucksache 15/2249 – mitgebracht, wie ein entsprechendes Schild aussehen Überweisungsvorschlag: kann. Finanzausschuss (f) Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (Abg. Volkmar Uwe Vogel [CDU/CSU] hält Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ein Schild mit der Aufschrift „Mehr Sicherheit Haushaltsausschuss durch Sichtbarkeit“ hoch – Beifall bei der gemäß § 96 GO CDU/CSU – Heiterkeit bei der SPD ) Nach interfraktioneller Vereinbarung ist für die Aus- Da sieht man sogar in einem großen Parlament, in dem sprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Es gibt keinen gerade nicht viele Abgeordnete sitzen, wer die entspre- Widerspruch. Dann verfahren wir so. chende Kraft hat. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst Ich wünsche uns gute Beratungen. die Parlamentarische Staatssekretärin Dr. Barbara Hendricks. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (B) Dr. Barbara Hendricks, Parl. Staatssekretärin beim (D) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Bundesminister der Finanzen: Ich schließe damit die Aussprache. Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus- Herren! Im Osten Deutschlands hat in den 13 Jahren seit schusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen auf der deutschen Vereinigung ein umfassender Modernisie- Drucksache 15/2023 zu dem Antrag der Fraktion der rungsprozess stattgefunden. Trotz aller Anstrengungen, CDU/CSU mit dem Titel „Sicherheit im Busverkehr“. die ganz Deutschland unternommen hat, reicht diese Ba- Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache sis für eine selbsttragende wirtschaftliche Entwicklung 15/1528 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschluss- und ein ausreichendes Arbeitsplatzangebot leider noch empfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die nicht aus. Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koali- (Vorsitz: Vizepräsident Dr. Hermann Otto tionsfraktionen gegen die Stimmen der gesamten Oppo- Solms) sition angenommen. Die Zahl der Erwerbstätigen hat abgenommen. Die Be- Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf völkerungszahl in den neuen Ländern ist seit Mitte der Drucksache 15/1984 an die in der Tagesordnung aufge- 90er-Jahre geringer geworden. Die Arbeitslosenquote in führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- den neuen Ländern liegt weit über dem Bundesdurch- verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung schnitt. Arbeitslosigkeit und Abwanderung von jungen so beschlossen. und gut qualifizierten Arbeitsuchenden sind Ursachen vieler ostdeutscher Probleme. Trotz beachtlicher Anpas- Ich rufe Tagesordnungspunkt 15 auf: sungsfortschritte besteht noch immer ein Produktivitäts- Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- rückstand gegenüber dem Westen Deutschlands. Zu den gebrachten Entwurfs eines Gesetzes über den Defizitbereichen der ostdeutschen Wirtschaft gehören Arbeitsmarktzugang im Rahmen der EU-Er- die zu schwache Investitionsdynamik und – trotz einer weiterung ermutigenden Entwicklung – die immer noch zu schmale industrielle Basis. – Drucksache 15/2378 – Überweisungsvorschlag: Deswegen bleibt die Fortsetzung der Investitions- Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f) förderung in den neuen Ländern ein zentraler Baustein Innenausschuss Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft 1) Anlage 4 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2004 7845

Parl. Staatssekretärin Dr. Barbara Hendricks (A) der Wirtschaftspolitik der Bundesregierung. Investitio- wachstum im Osten. Die Wachstumsraten sind geringer (C) nen sind die Triebfeder jeder wirtschaftlichen Entwick- als im Westen. Die Zahl der Erwerbstätigen geht seit lung. Die Gemeinschaftsaufgabe der Verbesserung der 1998 konstant zurück, und zwar von 5,49 Millionen regionalen Wirtschaftsstruktur und die Investitionszu- 1998 auf nur noch 5,740 Millionen im Jahr 2002. Die lage bilden dabei die Eckpfeiler. Die Erfahrungen der Arbeitslosenquote war in den letzten fünf Jahren mit letzten Jahre haben bewiesen: Die Zulagenförderung hat 17 bis 18 Prozent zweieinhalbmal so hoch wie im Wes- vielfältige Investitionsanreize für die Ansiedlung und ten, wo sie bei 7 bis 8 Prozent liegt. Deutschland wächst das Wachstum von Betrieben des verarbeitenden Gewer- also nicht zusammen. Das ist der traurige Befund, den bes in den neuen Bundesländern geschaffen. Die Chan- wir alle konstatieren müssen. Die Schere geht in den cen der geförderten Regionen im Wettbewerb um Unter- letzten fünf bis sechs Jahren vielmehr wieder auseinan- nehmensansiedlungen konnten gestärkt und bestehende der. Standortnachteile abgebaut werden. Frau Hendricks, darüber, ob das zufällig oder nicht Die Bundesregierung ist daher der Auffassung, dass zufällig mit Ihrem Regierungsantritt zusammenfällt, das Ende 2004 auslaufende Investitionszulagengesetz kann man lange streiten. Einen Vorwurf kann man Ihnen von 1999 einer gleichwertigen Anschlussregelung be- aber nicht ersparen: Sie haben dieser negativen Entwick- darf. Sie begrüßt deshalb die Bundesratsinitiative für ein lung seit 1998 nicht entschieden genug gegengesteuert. Investitionszulagengesetz 2005 ausdrücklich. Die Bun- desregierung hat das Gesetzesvorhaben von Anfang an (Beifall bei der CDU/CSU) unterstützt. Die Weichenstellung hierfür haben der Bun- Diese Möglichkeit hätten Sie gehabt. deskanzler und die Regierungschefs der alten und neuen Länder bereits im Sommer 2003 vorgenommen. Besondere Sorge muss uns die seit 1998 wieder stark zunehmende Abwanderung machen, die wir alle im (Beifall bei der CDU/CSU) Deutschen Bundestag meines Erachtens viel zu wenig Wichtig ist, dass wir frühzeitig Planungssicherheit thematisieren. Der Osten droht auszubluten, weil Ar- für die Investoren schaffen. Deswegen ist es notwendig, beits- und Ausbildungsplätze fehlen. Seit 1991 haben im dass wir rechtzeitig vor Auslaufen der geltenden Zula- Saldo über 700 000 Menschen die östlichen Bundeslän- genförderung über die Nachfolgeregelung entscheiden. der verlassen. Es gehen – seit 1998 in steigendem Um- fang – insbesondere Jüngere, Frauen und gut Ausgebil- Durch das Investitionszulagengesetz 2005 sollen in dete. Dies muss uns allen Sorgen machen. den Jahren 2005 und 2006 getätigte Investitionen in Be- trieben des verarbeitenden Gewerbes und der produk- Wie ist dieser Entwicklung nun zu begegnen? Wie können wir dem Aufbau Ost neue Impulse verleihen? (B) tionsnahen Dienstleistungen in den neuen Ländern und (D) Berlin weiterhin gefördert werden. Mit diesem Gesetz Neben einem weiteren Ausbau der Infrastruktur und der und der damit verbundenen Verlängerung der Investi- Bewahrung der finanziellen Handlungsfähigkeit der tionszulage um weitere zwei Jahre schöpfen wir die, uns Kommunen müssen wir insbesondere die direkte Inves- mit den EU-Beihilferegelungen gegebenen Möglichkei- titionsförderung beibehalten, möglicherweise sogar re- ten voll aus und leisten einen deutlichen Beitrag, den vitalisieren. wirtschaftlichen Aufholprozess Ostdeutschlands weiter In diesem Zusammenhang müssen in den nächsten voranzutreiben. Monaten wichtige Entscheidungen gefällt werden, weil Herzlichen Dank. das Investitionszulagengesetz 1999 Ende dieses Jahres ausläuft, weil die Mittelausstattung der Investitionszu- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) schüsse nach der GA Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur degressiv ist und weil mit der EU- Vizepräsident Dr. : Osterweiterung Ungewissheit über die zukünftige Ziel- Das Wort hat jetzt der Kollege Manfred Kolbe von gebietszuordnung der östlichen Bundesländer besteht. der CDU/CSU-Fraktion. Es steht eine Reihe fundamentaler Entscheidungen an, die in unterschiedlichen Gremien und auf unterschiedli- chen Ebenen getroffen werden müssen, damit der Auf- Manfred Kolbe (CDU/CSU): bau Ost wieder in Gang kommt. Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Investitionszulagengesetz 1999 läuft zum Die direkte Investitionsförderung hat in den letzten Ende dieses Jahres aus. Der heute eingebrachte Gesetz- Jahren durchaus beachtliche Wachstumsimpulse ge- entwurf schafft eine Nachfolgeregelung für die Jahre setzt. Nach Untersuchungen der Universität Münster hat 2005 und 2006. Meine Fraktion begrüßt das ausdrück- allein die Investitionszulage seit 2000 Investitionen in lich, denn – ich zitiere den einstimmig beschlossenen Höhe von rund 13 Milliarden Euro angestoßen und da- Gesetzentwurf des Bundesrates –: Die Förderung von mit rund 170 000 Arbeitsplätze geschaffen oder gesi- betrieblichen Investitionen in den neuen Ländern durch chert. Von Anfang 2000 bis Ende 2002 wurden im Rah- eine Investitionszulage ist nach wie vor geboten.“ men der GA Investitionszuschüsse in Höhe von über 7,3 Milliarden Euro bewilligt. Damit wurde ein Investiti- Sie ist nach wie vor geboten, weil die wirtschaftliche onsvolumen von über 26 Milliarden Euro angestoßen. Entwicklung im Osten trotz unbestrittener Fortschritte in den letzten 13 Jahren im Ganzen seit 1998 doch eher ent- Daher sprechen sich die Verfasser des heute vorlie- täuschend verlief. Seit 1998 stagniert das Wirtschafts- genden Gesetzentwurfs, den wir alle begrüßen, für eine 7846 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2004

Manfred Kolbe (A) Fortführung der Investitionsförderung aus. Ich zitiere herigen Fördervolumens von 1,174 Millionen Euro auf (C) aus der Begründung: das neue Fördervolumen von 601,3 Millionen Euro in den Jahren 2005 und 2006. Durch diese Straffung wer- Die schwache wirtschaftliche Entwicklung in den den bisher mitunter vorkommende Mitnahmeeffekte neuen Ländern und der nach wie vor bestehende oder Fehlallokationen vermieden. Niveauunterschied der Wirtschaftskraft im Ver- gleich zu den alten Ländern lassen einen Verzicht Lassen Sie uns über diesen Gesetzentwurf, der, wie auf die ergänzenden Hilfen zur Ansiedlung und Er- gesagt, vom Bundesrat einstimmig beschlossen worden weiterung von Unternehmen und zur Förderung ist, auch im Deutschen Bundestag zügig beraten und ihn von Unternehmensgründungen nicht sinnvoll er- verabschieden, damit wir im Osten Deutschlands weitere scheinen. Investitionen anstoßen. Denn die brauchen wir im Inter- Es ist gut, dass der Bundesrat dies einstimmig beschlos- esse aller. sen hat; Danke. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP) neten der FDP) denn immer noch bestehen Standortnachteile durch Er- reichbarkeitsdefizite, eine schwächere Eigenkapitalaus- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: stattung und eine um 30 Prozent geringere Arbeitspro- Die Kollegin Franziska Eichstädt-Bohlig möchte ihre duktivität. Rede zu Protokoll geben, was wir mit Ihrer Zustimmung 1) Abschließend komme ich auf den Entwurf eines In- akzeptieren. vestitionszulagengesetzes 2005, über den wir in den (Beifall bei Abgeordneten der FDP – Wilhelm kommenden Wochen und Monaten beraten werden, im Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Sehr bedauerlich!) Einzelnen zu sprechen. Dieser Entwurf führt im Bereich der betrieblichen Investitionen in Betrieben des verarbei- Deswegen hat jetzt der Minister der Finanzen des Lan- tenden Gewerbes und der produktionsnahen Dienstleis- des Sachsen-Anhalt, Herr Professor Dr. Karl-Heinz tungen die Ende 2004 auslaufende Förderung durch das Paqué, das Wort. Investitionszulagengesetz 1999 bis Ende 2006 fort. (Beifall bei der FDP) Begünstigte Investitionen sind wie bisher die An- schaffung und die Herstellung von neuen abnutzbaren Dr. Karl-Heinz Paqué, Minister (Sachsen-Anhalt): beweglichen Wirtschaftsgütern des Anlagevermögens, (B) Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- (D) die mindestens fünf Jahre zum Anlagevermögen eines ren! Ihnen liegt der Entwurf eines Investitionszulagenge- Betriebes oder einer Betriebsstätte im Fördergebiet ge- setzes 2005 vor. Es ist mehrfach gesagt worden, dass es hören. Aufgrund von Vorgaben der EU fällt die Förde- sich hierbei um eine Anschlussregelung für das Investi- rung für Ersatzinvestitionen sowie für Investitionen des tionszulagengesetz 1999 handelt, das Ende dieses Jahres Handwerks und des innerstädtischen Handels weg und ausläuft. Dieser Entwurf ist das Ergebnis einer Arbeits- es gilt ein neuer, eingeschränkter Begriff für kleine und gruppe, die auf Bundesebene eingerichtet wurde. Damit mittlere Unternehmen. stellt er insbesondere einen Konsens zwischen den alten Die Investitionszulage beträgt wie bisher und den neuen Ländern dar. Er ist ja auch einstimmig 12,5 Prozent der Anschaffungs- und Herstellungskosten vom Bundesrat beschlossen worden. bzw. 25 Prozent bei kleinen und mittleren Unternehmen. (Beifall bei Abgeordneten der FDP) In so genannten Randgebieten, also zum Beispiel in Grenzregionen, kommen noch 2,5 Prozent hinzu. Die In- Inhaltlich – da kann ich mich ganz kurz fassen – unter- vestitionszulage ist wie bisher nach Ablauf des Wirt- scheidet sich dieser Entwurf vom geltenden Recht da- schafts- oder Kalenderjahres festzusetzen. durch, dass einerseits europarechtliche Änderungen berücksichtigt wurden, dass andererseits Ersatzinvesti- Anhand vieler Umfragen können wir konstatieren, tionen nicht mehr gefordert werden und dass schließlich dass die Wirtschaft die Investitionszulage schätzt, weil die Förderung des Mietwohnbereichs nicht mehr enthal- sie Rechtssicherheit gibt. Auf die Investitionszulage be- ten ist, was ja bei der Wohnungssituation in Ostdeutsch- steht ein Rechtsanspruch. Diese Planungssicherheit ist land nachvollziehbar ist. Im Ergebnis wird unter der Bei- für Investition in der Wirtschaft wichtig, behaltung der derzeit geltenden Fördersätze die (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Investitionszulage für das verarbeitende Gewerbe bis Cornelia Pieper [FDP]) Ende 2006 fortgeführt. Förderfähig sind hierbei auch die bis Ende 2006 angefallenen Anzahlungen und Teilher- auch wenn seitens der Wirtschaft mitunter die lange stellungskosten für diejenigen Wirtschaftsgüter, die nicht Zeitspanne zwischen Investition und Auszahlung der In- bis zu diesem Zeitpunkt fertiggestellt werden konnten. vestitionszulage beklagt wird. Der Grund hierfür liegt im Steuersystem; denn die Investitionszulage kann erst nach Meine sehr geehrten Damen und Herren, der vorlie- Ablauf des Veranlagungszeitraums beansprucht werden. gende Entwurf ist mehr als ein vernünftiger Kompromiss Die europarechtlichen Vorgaben, die ich schon er- wähnt habe, führen in etwa zu einer Halbierung des bis- 1) Anlage 5 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2004 7847

Dr. Karl-Heinz Paqué, Minister (Sachsen-Anhalt) (A) über Länder- und Parteigrenzen hinweg: Er ist ein Bei- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (C) trag zur wirtschaftlichen Einheit Deutschlands, der CDU/CSU) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir müssen bei Abgeordneten der SPD) in Mittel- und Ostdeutschland immer mehr dichte wirt- schaftliche Ballungszentren schaffen. Nur so wird es uns dies in einer Zeit, in der zu Recht jede Form einer staatli- gelingen, die jungen Menschen und die qualifizierten chen Förderung einer strengen Prüfung unterzogen wer- Facharbeiter in der Region zu halten. den muss. In unserem derzeitigen System der Besteue- rung ist die Investitionszulage für das verarbeitende (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Gewerbe und für produktionsnahe Dienstleistungen in der CDU/CSU) Ostdeutschland allerdings weiterhin an einem sehr wich- tigen Platz. Auch wenn es hier nur um eine Perspektive von zwei Jahren geht, haben wir mit dieser Verlängerung einen (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten wichtigen Schritt in Richtung der deutschen Einheit im der CDU/CSU) wirtschaftlichen Bereich vor uns. Diese hat sich als Die ökonomische Logik spricht für die Fortführung schwerer erwiesen, als wir alle lange Zeit dachten. der Investitionszulage. Es ist gesagt worden: Der Pro- (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Sie!) duktivitätsrückstand in den mittel- und ostdeutschen Ländern beträgt gegenüber dem Westen noch immer Jetzt haben wir die Chance, noch ein weiteres Stück da- 30 Prozent; die Produktivitätsschere hat sich in den letz- rauf zuzugehen. ten Jahren nicht weiter geschlossen. Die Arbeitslosen- Herzlichen Dank. quoten sind immer noch sehr hoch und wir leiden leider weiterhin unter einer starken Abwanderung junger und (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) gut qualifizierter Menschen. Volkswirtschaftliche Analysen dieses Rückstands Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: kommen immer wieder zu einem ganz eindeutigen Er- Das Wort hat jetzt die Kollegin Simone Violka von gebnis: Das Hauptproblem liegt in der noch immer viel der SPD-Fraktion. zu schwachen industriellen Basis. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Simone Violka (SPD): Es gibt zu wenige hoch qualifizierte Arbeitsplätze, es Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Bevor ich näher auf das Investitionszulagen- (B) gibt noch immer zu wenig Innovations- und Exportkraft (D) und es gibt zu wenig moderne Dienstleistungen. Gerade gesetz eingehe, möchte ich es nicht versäumen, an dieser moderne, produktionsbezogene Dienstleistungen entste- Stelle all den Menschen zu danken, die tatkräftig mitge- hen erst in der Verzahnung mit dem verarbeitenden Ge- holfen haben und immer noch mithelfen, die neuen Län- werbe. Jeder, der einmal die gesunden urbanen Zentren der nach vorn zu bringen. in Westdeutschland besucht und die wirtschaftliche Ver- (Beifall im ganzen Hause) flechtung mit den erst entstehenden moderneren Zentren des Ostens verglichen hat, der weiß, dass da noch ein ge- Hiermit meine ich ausdrücklich alle, egal, ob im Osten waltiger Unterschied besteht. Es ist genau die Investi- oder Westen. tionszulage, die uns hilft, diesen Rückstand wenigstens Dennoch ist die gegenwärtige Lage nicht befriedi- ein Stück weit auszugleichen. gend. Wir haben nach wie vor Defizite in der Kapital- (Beifall bei der FDP) und Infrastrukturausstattung, die zusammen mit der schwachen weltwirtschaftlichen Wachstumsdynamik den Die vergangenen Jahre haben gezeigt, dass die Inves- Aufholprozess in den neuen Ländern hemmen. Daher titionszulage ein außerordentlich wirksames Instrument ist es unumgänglich, dass der Aufholprozess unterstützt ist; dies ist auch gutachtlich bestätigt worden. Es ist des- wird, damit er weitergeht. Das haben wir übrigens auch halb ein wichtiger Beitrag zum wirtschaftlichen Wieder- schon in der Koalitionsvereinbarung festgeschrieben. aufstieg Mittel- und Ostdeutschlands, wenn wir die In- Darin haben wir festgestellt, dass Investitionen für die vestitionszulage zwei weitere Jahre gewähren; dies gilt weitere Verbesserung und Entwicklung der regionalen umso mehr, je früher die Entscheidung dafür fällt. Meine Wirtschaftsstruktur unerlässlich sind und wir deshalb die Damen und Herren, es wurde gesagt: Investoren brau- Investitionsförderung in Ostdeutschland auf hohem Ni- chen klare Signale, sie brauchen verlässliche Rahmen- veau beibehalten. bedingungen. Da die Geltungsdauer des Investitionszulagengeset- (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Planungssicher- zes von 1999 Ende 2004 ausläuft, ist eine Nachfolgere- heit!) gelung notwendig. Darüber besteht Konsens zwischen – Planungssicherheit, ganz richtig. den Bundesländern, der Bundesregierung und ich denke auch dem Parlament. Zumindest für die rot-grüne Koali- Deshalb müssen wir frühzeitig durch zügige Beratun- tion kann ich das hier zusichern. gen in den Ausschüssen – darum möchte ich Sie bitten – ein verlässliches Signal setzen, damit wir für den Aufbau (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Ost einen weiteren wichtigen Schritt tun können. DIE GRÜNEN) 7848 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2004

Simone Violka (A) Wir unterstützen die weitere Förderung von Erstin- Niveau fortzusetzen und das Investitionszulagengesetz (C) vestitionen in Betrieben des verarbeitenden Gewerbes fortzuschreiben. und der produktionsnahen Dienstleistungen ausdrück- lich. Ich möchte an dieser Stelle dafür werben, dass sich auch zukünftig weitere Unternehmen bewusst für den (Werner Kuhn [Zingst] [CDU/CSU]: Auch die Standort Ostdeutschland entscheiden. Wer seine Pro- Bestandssicherung und der -ausbau sind ge- dukte deutschlandweit verkaufen will, der muss seinen nauso wichtig!) Beitrag dazu leisten, dass die Menschen deutschlandweit in die Lage versetzt werden, sich diese leisten zu kön- Es ist wichtig, dass diese weitere Förderung auf der Ba- nen. Das können sie aber nur, wenn sie einen Arbeits- sis eines EU-konformen Konzeptes erstellt wurde. Das platz und persönliche Perspektiven haben. gibt nicht nur denjenigen, die diese Förderung in An- spruch nehmen, sondern auch für unsere Arbeit Rechts- Es gibt in den neuen Ländern nach wie vor viele moti- sicherheit. Ich bin froh, dass bereits im Vorfeld im gan- vierte Menschen aller Altersgruppen, die gern bereit zen Hause ein gewisser Konsens bei diesem Thema sind, dazu ihren Beitrag zu leisten. vorhanden war. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Herr Kolbe hat vorhin gesagt, dass die Bundesregie- DIE GRÜNEN) rung seit 1998 nicht genug getan hat. Dazu muss ich Ih- Wir unterstützen sie und ihr Engagement durch regio- nen leider sagen, dass die CDU/CSU-Fraktion im nale Förderung, um Standortnachteile weiter auszuglei- Jahre 2000 – das ist ja noch nicht so lange her – die Än- chen und die Chancen der Regionen im Wettbewerb um derung des Investitionszulagengesetzes abgelehnt hat. Unternehmensansiedlungen nachhaltig zu verbessern. Es Die FDP hat zugestimmt, die CDU/CSU hat dagegen ge- gibt in Ostdeutschland Anzeichen dafür, dass dies auch stimmt. gelingt. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Vor kurzem konnten wir in Stollberg eine hervorra- DIE GRÜNEN – Werner Kuhn [Zingst] gende Unternehmensansiedlung begrüßen. Ich denke, [CDU/CSU]: Da haben Sie etwas durcheinan- dass einige Standorte wie Leipzig auch in den umliegen- der gebracht!) den Regionen dafür sorgen werden, dass sich viele In- – Nein, Sie können das gerne nachlesen. Im Wirtschafts- dustrieunternehmen ansiedeln werden und sich auch ausschuss haben sich einige Ihrer Kollegen enthalten kleine Betriebe aus Ostdeutschland stabilisieren können, und im Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und um damit ihren Beitrag zur Wirtschaftlichkeit in den Forsten haben sie komplett dagegen gestimmt. neuen Ländern zu erbringen und den Standort der neuen (B) Länder weiter zu verbessern. (D) (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Histori- sche Kenntnisse sind ab und zu mal ganz inte- Daher ist es unerlässlich, die Investitionsförderung ressant! – Silke Stokar von Neuforn [BÜND- über das Jahr 2004 hinaus sicherzustellen. Wir Parla- NIS 90/DIE GRÜNEN]: Herr Kuhn, das mentarier können dies durch eine zügige Beratung wei- können Sie sich auch ruhig von einer Frau mal terhin unterstützen. sagen lassen!) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Auch Ihre Zustimmungsfreudigkeit zum notwendigen DIE GRÜNEN) Stadtumbauprogramm, das eindeutig ein hervorragendes Instrument zur Gestaltung der Infrastruktur in den neuen Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Ländern ist, war nicht unbedingt ausgeprägt. Vielleicht, Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat weil Sie in den neuen Ländern einmal nachgefragt ha- der Kollege Dr. Michael Luther von der CDU/CSU- ben, was man dort von diesen Programmen hält, haben Fraktion das Wort. Sie sich zum Glück mittlerweile offensichtlich eines Besseren belehren lassen. Wenn das so ist, dann ist das (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – gut so; denn das Investitionszulagengesetz hat sich bis- Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE her als sehr gutes und wirksames Instrument zum weite- GRÜNEN]: Wollten Sie Ihre Rede nicht auch ren wirtschaftlichen Aufbau Ostdeutschlands erwiesen. zu Protokoll geben?)

Viele haben den Standortvorteil, den dieses Gesetz Dr. Michael Luther (CDU/CSU): mit sich bringt, für sich bereits entdeckt. Es gibt genü- Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und gend Beispiele für gelungene Umsetzungen. Dabei sind Kollegen! Auch zu später Stunde sollte man die Gele- es nicht nur die großen und bekannten Namen, die sich genheit nutzen, miteinander zu reden. Es lohnt sich, über durch einen Unternehmensstandort bei uns in den neuen das Investitionszulagengesetz ein paar Sätze zu verlie- Ländern zu ihrer Mitverantwortung für den wirtschaftli- ren. chen Aufschwung bekennen, sondern es sind auch die vielen Männer und Frauen, deren unternehmerischer Wir sind uns darüber einig: Die Zulage ist für die Mut so wichtig für den Wirtschaftsstandort neue Länder neuen Bundesländer und Unternehmensansiedlungen ist. Darauf wollen und können wir auch in Zukunft nicht wichtig. Deshalb bin ich froh, dass in dieser Debatte alle verzichten. Ein Beitrag der Politik, dabei unterstützend signalisieren, dass dieses Instrument fortgeführt werden tätig zu sein, ist es, die Investitionsförderung auf hohem soll. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2004 7849

Dr. Michael Luther (A) (Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE Vorpommern, Brandenburg, Sachsen und natürlich auch (C) GRÜNEN]: Da haben Sie Recht!) von Bayern sind Höchstfördergebiete. Auch bei uns sollte es nach dem, was die EU-Kommission, hier Herr Nicht nur das Investitionszulagengesetz muss fortge- Banier, vorhat, ein Hochfördergebiet geben. schrieben werden. Wir brauchen auch weiterhin die Ge- meinschaftsaufgabe Ost, was ich an dieser Stelle nicht Wir dürfen aber nicht signalisieren, wir brauchten die unerwähnt lassen will. Investitionszulage nicht mehr, sie könne wegfallen. Wir dürfen auch nicht signalisieren, dass die Mittel für die (Beifall bei der CDU/CSU und dem BÜND- GA Ost eingeschränkt werden. Es kann nicht sein, dass NIS 90/DIE GRÜNEN) wir auf der einen Seite einen hohen Förderrahmen for- Diese Instrumente sind für den Aufholprozess sehr wich- dern, damit wir Investitionen fördern können, auf der an- tig. Sie sind aber auch – darauf will ich kurz eingehen – deren Seite aber kein Geld zur Verfügung stellen; denn vor dem Hintergrund der EU-Osterweiterung wichtig. wir würden damit das Signal aussenden, dass wir die Förderung nicht mehr brauchen. Staatssekretär Tilo Braune aus dem Wirtschaftsminis- terium hat am Montag dieser Woche in einem Artikel der Aus diesem Grunde ist der vorliegende Gesetzent- „FAZ“ sehr richtig erkennen lassen, wie die Situation in wurf, der vom Bundesrat eingebracht und mit der Bun- den neuen Bundesländern ist. Er hat festgestellt, dass wir desregierung abgestimmt worden ist, ein sehr wichtiges das Instrument der Investitionszulage brauchen. Er hat Signal. Damit zeigen wir, dass wir hinter dem Aufbau richtig analysiert, dass die Schere zwischen Ost und Ost stehen, dass wir nach wie vor eine Menge Mittel und West weiter auseinander geht. Gleichzeitig hat er aber die dazugehörige Förderkulisse brauchen. Deshalb unterstellt, dies läge daran, dass nach 1990 zu wenig für möchte ich an dieser Stelle die Bundesregierung noch den Aufholprozess gemacht worden sei. Dieser letzte einmal auffordern, sich dafür einzusetzen, dass wir nicht Punkt seiner Analyse ist falsch. Ich habe das Gefühl: durch einen statistischen Effekt aus dem Ziel-1-Gebiet Seitdem der Aufbau Ost zur Chefsache geworden ist herausfallen, sondern entsprechend den gemachten Vor- – ich kann mich an das Jahr 1998 sehr gut erinnern –, schlägen weiterhin einen hohen Förderrahmen erhalten. leidet der Aufbau Ost Not. Danke schön. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem neten der FDP) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Warum ist die Investitionszulage so wichtig? Ich will drei Gründe aufzeigen, um es noch einmal zu verdeutli- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: chen. Ich schließe die Aussprache. (B) (D) Erstens. Es hat sich gezeigt, dass dies ein wirksames Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent- Instrument ist. Ich komme aus Sachsen. In Dresden hat wurfs auf Drucksache 15/2249 an die in der Tagesord- sich jüngst das Chipwerk AMD angesiedelt. Ein anderes nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es Beispiel ist BMW in Leipzig. Diese Aufzählung könnte anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann man für andere Bundesländer fortsetzen. Ich denke, da- ist die Überweisung so beschlossen. rin sind wir alle einer Meinung. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf: Zweitens. Ich möchte auf einen Umstand hinweisen: Vor nicht allzu langer Zeit wurde der Solidarpakt II Beratung des Antrags der Abgeordneten Michael vereinbart. Beim Solidarpakt II, der erst 2005 in Kraft Kretschmer, Katherina Reiche, Dr. Maria treten soll, wurde festgestellt, dass ein dringender Nach- Böhmer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion holbedarf besteht und dafür Investitionsmittel bereitge- der CDU/CSU stellt werden müssen. Der darin enthaltene Korb II bein- haltet unter anderem die Gemeinschaftsaufgabe und die Konzeption zur Struktur und zur Finanzie- Investitionszulage. Das Volumen soll ungefähr 10 Milli- rung eines Osteuropazentrums für Wirtschaft arden DM jährlich umfassen. und Kultur jetzt vorlegen (Werner Kuhn [Zingst] [CDU/CSU]: Nein, – Drucksache 15/2162 – Euro!) Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f) – Damals wurden diese Vereinbarungen auf D-Mark-Ba- Auswärtiger Ausschuss sis getroffen. In Euro umgerechnet, sind es circa Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit 5 Milliarden Euro. Das bedeutet: Wenn man die Investi- Ausschuss für Bildung, Forschung und tionszulage kürzen und die Gemeinschaftsaufgabe Ost Technikfolgenabschätzung Ausschuss für Tourismus zurückführen würde, könnte man das gesteckte Ziel Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union nicht erreichen. Dann würde man den Pakt, den man mit- Ausschuss für Kultur und Medien einander vereinbart hat, verletzen. Haushaltsausschuss Drittens – das ist der letzte Punkt –: die europäische Es ist vereinbart, dass wir die Redebeiträge zu Proto- Osterweiterung. Am 1. Mai 2004 kommt eine Reihe koll nehmen. Ich gehe davon aus, dass Sie damit einver- von Ländern in die Europäische Union. Dann greifen standen sind. Es handelt sich um die Beiträge der Kolle- dort die Instrumentarien der Europäischen Union. Das gen Andrea Wicklein von der SPD, Michael Kretschmer heißt, die Gebiete an den Grenzen von Mecklenburg- und Werner Kuhn von der CDU/CSU, Peter Hettlich 7850 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2004

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms (A) vom Bündnis 90/Die Grünen, Cornelia Pieper von der damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist so be- (C) FDP und der Parlamentarischen Staatssekretärin Iris schlossen. Gleicke für die Bundesregierung.1) Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tages- Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf ordnung. Drucksache 15/2162 an die in der Tagesordnung aufge- Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Federführung destages auf morgen, Freitag, den 30. Januar 2004, soll abweichend von der Tagesordnung beim Ausschuss 9 Uhr, ein. für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen liegen. Sind Sie Die Sitzung ist geschlossen. 1) Anlage 6 (Schluss: 21.22 Uhr)

(B) (D) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2004 7851

(A) Anlagen zum Stenografischen Bericht (C) Anlage 1

Liste der entschuldigten Abgeordneten

entschuldigt bis entschuldigt bis Abgeordnete(r) einschließlich Abgeordnete(r) einschließlich

Andreae, Kerstin BÜNDNIS 90/ 29.01.2004 Röspel, René SPD 29.01.2004 DIE GRÜNEN Roth (Augsburg), BÜNDNIS 90/ 29.01.2004 Bindig, Rudolf SPD 29.01.2004* Claudia DIE GRÜNEN

Bonde, Alexander BÜNDNIS 90/ 29.01.2004 Rübenkönig, Gerhard SPD 29.01.2004 DIE GRÜNEN Sauer, Thomas SPD 29.01.2004 Büttner (Ingolstadt), SPD 29.01.2004 Hans Scharping, Rudolf SPD 29.01.2004

Caesar, Cajus CDU/CSU 29.01.2004 Dr. Scheer, Hermann SPD 29.01.2004*

Deittert, Hubert CDU/CSU 29.01.2004* Schmidbauer, Bernd CDU/CSU 29.01.2004

Göppel, Josef CDU/CSU 29.01.2004 Dr. Stadler, Max FDP 29.01.2004

Götz, Peter CDU/CSU 29.01.2004 Dr. Wissing, Volker FDP 29.01.2004

Hartnagel, Anke SPD 29.01.2004 Dr. Wodarg, Wolfgang SPD 29.01.2004*

Hermenau, Antje BÜNDNIS 90/ 29.01.2004 * DIE GRÜNEN für die Teilnahme an den Sitzungen der Parlamentarischen Ver- (B) sammlung des Europarates (D) Höfer, Gerd SPD 29.01.2004* ** für die Teilnahme an den Sitzungen der Parlamentarischen Ver- sammlung der NATO Hörster, Joachim CDU/CSU 29.01.2004*

Jäger, Renate SPD 29.01.2004* Anlage 2

Jonas, Klaus Werner SPD 29.01.2004* Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung der Anträge: Lehder, Christine SPD 29.01.2004 – Verbesserung der Welternährung und Ver- Letzgus, Peter CDU/CSU 29.01.2004* wirklichung des Rechts auf Nahrung Leutheusser- FDP 29.01.2004* – Verantwortung für die Sicherheit der Welt- Schnarrenberger, ernährung übernehmen – Chancen der Grü- Sabine nen Gentechnik nutzen

Lintner, Eduard CDU/CSU 29.01.2004* (Tagesordnungspunkt 5)

Mayer, Conny CDU/CSU 29.01.2004 Petra Pau (fraktionslos): Bei mir hinterlassen die vor- (Baiersbronn) liegenden Anträge und Reden den faden Beigeschmack einer Alibi-Veranstaltung, inszeniert zur Beruhigung des Müller (Köln), Kerstin BÜNDNIS 90/ 29.01.2004 schlechten Gewissens – in Anbetracht hunderttausendfa- DIE GRÜNEN chen Hungers und unzähliger Verhungerter, die keine Sta- tistik erfasst. Raidel, Hans CDU/CSU 29.01.2004** Auch ist der Debattenbegriff „Welternährung“ ein Rauber, Helmut CDU/CSU 29.01.2004* Abstraktum. Er dient mehr der Verschleierung als Erhel- lung. Das zu lösende Problem ist doch nicht die Welt- Rehbock-Zureich, Karin SPD 29.01.2004 ernährung. Die ist – statistisch gesehen – bereits heute gesichert. Nahrungsmittel werden ausreichend produ- Riester, Walter SPD 29.01.2004* ziert. Und trotzdem verhungern Menschen. 7852 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2004

(A) Die eigentliche Frage ist also eine ganz konkrete, die Zweitens. Importe agrarischer Billig-Rohstoffe, die (C) nach dem deutschen und EU-Beitrag zur Überwindung zu Lasten der Nahrungsproduktion in den Entwicklungs- des Hungers, dieser Geisel vieler Entwicklungsländer. ländern erzeugt werden, sind zu drosseln und durch Eigenprodukte zu ersetzen, Eiweißfutter, Edelhölzer. Weder der zur Annahme empfohlene Koalitionsantrag noch der CDU/CSU-Antrag geben darauf ausreichend Drittens. Erforderlich ist eine differenzierte Sonder- Antwort. Der Antrag der Koalition belässt es dabei, fest- und Vorzugsbehandlung der Entwicklungsländer. Unsere zustellen, dass die Zahl der Hungernden jährlich um Unterstützung hat deshalb die auch in Cancun erhobene durchschnittlich 2,5 Millionen abgenommen habe anstatt Forderung auf Einrichtung einer „Development-Box“ im um 24 Millionen, die notwendig wären, um bis 2015 die WTO-Regelwerk. Ohne Außenschutz sind keine Stär- vom Welternährungsgipfel 1996 beschlossene Halbie- kung lokaler und regionaler Wirtschaftskreisläufe und rung der Zahl der in dieser Welt hungernden Menschen die Sicherung der Eigenversorgung mit Grundnahrungs- zu erreichen. Hier macht die Koalition einen Punkt. Es mitteln möglich. gibt keine Wertung geschweige denn eine Schlussfolge- rung. Dabei ergibt sich aus diesen Zahlen, dass das Hal- Viertens. Deutschland sollte das von der FAO vorge- bierungsziel erst 2060 – also mit 45 Jahren Verspätung – schlagene Anti-Hungerprogramm kräftig unterstützen. erreicht würde. Mit Nahrungsmittelnothilfe für die Ärmsten, sowie In- Der Antrag der CDU/CSU beruhigt damit, dass – ich vestitionen in Landwirtschaft, natürliche Ressourcen, zitiere – „sich die Versorgung der Menschen in den letz- Infrastruktur und Ausbildung könnten die Lebensbedin- ten Jahrzehnten enorm verbessert hat“. Mit dieser For- gungen von Millionen armer Menschen in den ländli- mulierung wird einfach ausgeblendet, dass die Zahl der chen Gebieten der Dritten Welt entscheidend verbessert Hungernden seit Mitte der 90er-Jahre wieder angestie- und Hunger verringert werden. Das setzt voraus, dass gen ist. Dies besagt der Bericht zu Hunger und Unter- Deutschland endlich seiner Verpflichtung bei der Ent- ernährung 2003 der FAO. Darin steht wörtlich: „Die wicklungshilfe voll nachkommt. Immerhin haben die Bekämpfung des Hungers hat … einen Rückschlag erlit- EU-Mitgliedstaaten zugesagt, 0,7 Prozent ihres Brutto- ten.“ inlandprodukts für die Finanzierung von Entwicklungs- hilfe bereitzustellen. Aber elf von 15 Mitgliedstaaten ha- Besonders schlimm finde ich den Missbrauch dieses ben dieses Versprechen nicht erfüllt. Darunter ist nach ernsten Themas durch die CDU/CSU. Ihr Antrag ist ein wie vor auch Deutschland. reiner Pro-Gentechnik-Antrag im Interesse der Kapital- verwertungsinteressen der Industrie. Er geht glatt an den Es reicht also nicht, im Bundestag Betroffenheit zu Bedürfnissen und Bedingungen der Entwicklungsländer zelebrieren und anschließend den Tagesordnungspunkt (B) vorbei. Außer dem „Wundermittel“ Gentechnik wird da- abzuhaken. Die Koalition sollte handeln und nicht bloß (D) rin nichts zur Überwindung von Hunger und Unterernäh- reden. rung angeboten. Damit schließe ich nicht aus, dass die Grüne Gentechnik – sollten sich heutige Bedenken als gegenstandslos erweisen – früher oder später ein Mittel Anlage 3 zur Steigerung der Agrarproduktion sein kann. Zu Protokoll gegebene Reden Fakt ist, dass Deutschland, die EU, USA und andere Industrienationen durch ihre Politik der Agrarsubven- zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur tionen, des erschwerten Marktzugangs für landwirt- Änderung der Bundesärzteordnung und ande- schaftliche Produkte, der Waffenlieferungen, des Abbaus rer Gesetze (Tagesordnungspunkt 13) landwirtschaftlicher Entwicklungshilfe, des Verfalls von Weltmarktpreisen für landwirtschaftliche Exportpro- dukte der Länder der Dritten Welt zur weltweiten Aus- Dr. Erika Ober (SPD): Das AiP wurde Mitte der breitung von Hunger und zu den bisher unzureichenden 80er-Jahre eingeführt, um in Zeiten hoher Studierenden- Ergebnissen bei der Bekämpfung des Hungers beitragen. zahlen im Fach Humanmedizin die praktische Qualifika- tion junger Ärzte und Ärztinnen zu verbessern. Das Die Lösung der Ernährungsfrage ist deshalb untrenn- Manko an praktischer Erfahrung während des Studiums bar mit dem Kampf um eine gerechte Weltwirtschafts- sollte durch die dem dritten Examen nachgelagerte prak- ordnung verbunden. tische Ausbildung ausgeglichen werden. Für die PDS hat die Sicherung der Ernährung und der Mit der Änderung der Approbationsordnung im Früh- Erhalt ländlicher Wirtschaftskraft Vorrang vor handels- jahr 2003 hat der Bundestag mit Zustimmung des Bun- politischen Interessen. Sie vertritt deshalb folgende Posi- desrates die ärztliche Ausbildung reformiert und klini- tionen: schen Unterricht stärker in die medizinische Ausbildung Erstens. Die Exportsubventionen, die Millionen von einbezogen. Daraus ist zu folgern: Da die praktische Landwirten in den Ländern des Südens in den Ruin trei- Ausbildung junger Ärzte sich verbessert hat, geht es im ben, müssen abgeschafft werden. Anstatt die Entwick- nächsten Schritt darum, die Arbeitssituation insofern zu lungsländer mit europäischen Agrarprodukten zu Dum- verbessern, dass gleicher Qualifikationsstand auch glei- pingpreisen zu überschütten, muss die EU diesen che Verantwortung nach sich zieht. Der uns vorliegende Ländern helfen, gesunde Binnenmärkte aufzubauen und Gesetzentwurf dient diesem Ziel: Die „Arzt-im-Prak- regionale Wirtschaftskreisläufe herauszubilden. tikum“-Phase soll zum 1. Oktober 2004 entfallen. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2004 7853

(A) Ärztinnen und Ärzte, die nach diesem Stichtag ihr trag auf Erteilung einer Vollapprobation zu stellen. Da- (C) Medizinstudium mit dem dritten Staatsexamen beenden, mit wäre nicht nur die finanzielle, sondern auch die gehen nicht mehr in die AiP-Phase. Diejenigen, die nach rechtliche Gleichstellung von AiP möglich. Ob aller- diesem Stichtag noch einen AiP-Vertrag erfüllen, sollen dings eine solche Möglichkeit rechtlich umsetzbar ist, aber die gleiche Vergütung wie künftige Assistenzärzte muss noch geprüft werden. erhalten. Das ist vernünftig, weil auf diese Weise ver- mieden wird, dass denjenigen finanzielle Nachteile ent- Dennoch – es ist sinnvoll, den Ärzten und Ärztinnen stehen, die zufällig einen Prüfungstermin kurz vor und wegen unterschiedlicher haftungsrechtlich relevanter nicht nach dem Stichtag zugewiesen bekommen. Der Verantwortung von jungen Ärzten und Ärztinnen wäh- Entwurf der Bundesregierung setzt auch die EU-Richtli- rend der Übergangsphase zu erlauben, sich um eine Voll- nie, 2001/19/EG, zur Anerkennung beruflicher Befähi- approbation zu bemühen. Damit würde vermieden, dass gungsnachweise um und passt Gesetze und Verordnun- Ärzte und Ärztinnen mit gleichem praktischen wie theo- gen an die Neuerungen an. Er verbessert somit die retischem Ausbildungsstand nicht unterschiedlichen ar- Rechtsstellung von nicht deutschen Staatsangehörigen, beitsrechtlichen Bedingungen unterliegen. die hierzulande tätig werden wollen. Außerdem wird ein zweimonatiger Zeitraum für die Prüfungsvorbereitung Monika Brüning (CDU/CSU): Das Gesetz zur Än- geschaffen, in dem keine praktische Arbeit geleistet wer- derung der Bundesärzteordnung und anderer Gesetze, den soll. Das verbessert die Situation der Studierenden das wir heute in erster Lesung beraten, dient an erster vor einer abzuleistenden Prüfung. Stelle der Abschaffung der so genannten Arzt-im-Prakti- kum-Phase. Dies ist sinnvoll und auch notwendig! Aber Dieser Entwurf trägt notwendig gewordenen Anpas- die Veränderung muss mit Augenmaß durchgeführt wer- sungen und der Humanisierung der Arbeitszeiten Rech- den. Darauf werden CDU/CSU im Ausschuss dringen. nung. Er modernisiert die ärztliche Ausbildung und stellt Die Abschaffung darf vor allem nicht zulasten derjeni- eine bundesweit einheitliche Grundqualifikation sicher. gen gehen, die sich dann noch in der AiP-Phase befin- Der Arztberuf wird attraktiver, auch weil ärztliche Tätig- den. keiten in dieser Phase der Weiterbildung angemessen be- zahlt werden. Die Abschaffung des AiP sorgt dafür, dass Als diese zweijährige Praxisphase mit dem Vierten voll ausgebildete und mehrfach staatlich examinierte Gesetz zur Änderung der Bundesärzteordnung in der Ärzte und Ärztinnen nun auch angemessen entlohnt wer- zweiten Hälfte der 1980er-Jahre eingeführt wurde, gab den. Dies ist eine Forderung, die schon lange gestellt es dafür gute Gründe. Damals war man sich einig, dass wird und der mit diesem Gesetzentwurf nun nachgekom- das Studium die angehenden Ärzte nicht ausreichend auf men wird. die praktische Tätigkeit vorbereitet. Ärztevertreter und (B) Krankenkassen hielten eine Verbesserung der prakti- (D) Die Differenz der Bezahlung von AIP und Assistenz- schen Ausbildung für unbedingt erforderlich. Angesichts ärzten liegt bei 29 000 Euro pro Kopf im Jahr. Bei anzu- der hohen Studierendenzahlen erschien eine Verände- nehmenden 10 000 Studienabschlüssen ergibt sich ein rung des Studiums allein als nicht ausreichend. Das AiP Finanzbedarf von 300 Millionen Euro innerhalb eines erschien allen damals als gute Lösung. Die Medizinstu- Jahres. Circa 3 Millionen Euro, also 1 Prozent, davon denten sollten im Anschluss an das Studium praktische kommen auf den Bundeshaushalt zu. Sie resultieren aus Erfahrungen unter der Aufsicht erfahrener Ärzte sam- der Ausbildung von circa 200 Ärzten und Ärztinnen in meln. Erst danach wurde ihnen die Approbation erteilt, der Bundeswehr. Die anderen durch die Abschaffung des mit der sie den ärztlichen Beruf uneingeschränkt aus- AiP anfallenden Kosten werden durch das GKV-Moder- üben dürfen. nisierungsgesetz mit Änderungen zur Bundespflegesatz- verordnung und des Krankenhausentgeltgesetzes aufge- 1997 hat als damaliger Gesundheits- fangen. Nach dem Stichtag 1. Oktober 2004 wird es eine minister dem Bundesrat eine neue Approbationsordnung Übergangsphase geben. Die finanzielle Gleichgestellt- für Ärzte vorgelegt. Damals hat die SPD den Entwurf im heit von AiP und Assistenzärzten geht dann bis zum Bundesrat blockiert. Nun hat Gesundheitsministerin Auslaufen der letzten AiP-Verträge mit unterschiedli- Schmidt diesen Entwurf wieder zum Leben erweckt und chen arbeitsrechtlichen Bedingungen für beide Gruppen ohne wesentliche Änderungen übernommen. Wir freuen einher. uns ja, dass die SPD die Qualität der Arbeiten von Herrn Seehofer zu schätzen weiß. Allerdings sind sechs lange Assistenzärzte sind vollapprobiert. AiP erhalten eine Jahre vergangen, in denen diese wichtige Änderung blo- Teilapprobation. Das bedeutet in der Praxis, dass sie im ckiert wurde. Das bedeutet – bei einer Studiendauer von Gegensatz zu Assistenzärzten anderen Haftungsregeln knapp sechs Jahren –, dass eine ganze Studiengeneration unterliegen. Sie müssen stets unter Anleitung arbeiten. von der neuen Approbationsordnung hätte profitieren Die Verantwortung für ihr Handeln übernimmt ihr voll- können. Es ist wirklich bedauerlich, dass die neue Rege- approbierter Anleiter. lung erst jetzt umgesetzt wird. Aber besser spät als nie! Es gibt Ideen zur Behebung dieser unterschiedlichen Nach den jahrelangen Widerständen ist die neue Ap- Stellung von Ärzten und Ärztinnen, die grundsätzlich probationsordnung nun seit dem Wintersemester 2003/ über die gleiche Qualifikation verfügen. Zur Diskussion 2004 in Kraft und ermöglicht die Abschaffung der AiP- steht beispielsweise eine Optionslösung während der Phase. Denn ein integrierendes Studium und ein stärke- Übergangsphase. Sie ermöglicht es Ärzten und Ärztin- rer Praxisbezug machen die 18-monatige Praktikums- nen mit AiP-Verträgen nach dem 1. Oktober, einen An- phase überflüssig. Junge Mediziner sollten am Ende 7854 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2004

(A) ihres Studiums in der Lage sein, im ärztlichen Alltag zu gar nicht genügend Arbeit suchende Ärzte, um so viele (C) bestehen. Die neue Approbationsordnung schafft unter Stellen zu besetzen. Denn lediglich 6 300 Ärzte, davon anderem Erleichterungen für die Prüfungsvorbereitun- 1 700 Fachärzte, sind auf der Suche. gen, indem eine zweimonatige Vorbereitungsphase ein- Dass nun die zuständige Europäische Kommissarin geführt wird. angekündigt hat, möglicherweise den Mitgliedstaaten zu Bei der Einführung des AiP rechnete man mit einer überlassen, wie sie Bereitschaftsdienste bewerten, sorgt Ärzteschwemme. Heute, im Jahr 2004, ist das Gegenteil vollends für Verwirrung. Zwar gilt seit Anfang des Jah- der Fall. Dem deutschen Gesundheitswesen gehen die res mit einer Übergangsfrist bis 2006 das revidierte Ar- Ärzte aus! Insbesondere in der ambulanten Versorgung beitszeitgesetz, wonach Bereitschaftsdienste als Arbeits- in den östlichen Bundesländern ist ein Ärztemangel zu zeit einzustufen sind. Aber trotzdem müssen viele befürchten. Aufgrund der Altersstruktur dort ist mit ei- Krankenhausärzte weiterhin mehr als 48 Stunden pro nem verstärkten Ausscheiden von Hausärzten zu rech- Woche ohne Zeitausgleich arbeiten. Dies wäre nach dem nen. Lokale Versorgungsengpässe drohen. Das darf nicht Gesetz eigentlich nicht mehr möglich. Solche Arbeits- sein. Hier muss Abhilfe geschaffen werden. Alle Patien- zeiten tragen sicherlich nicht zur Attraktivität des Arzt- ten haben Anspruch auf eine qualitativ hochwertige Ge- berufes bei. Hier brauchen wir bald Klarheit. sundheitsversorgung, egal wo sie wohnen. Auch die möglichen finanziellen Auswirkungen der Wie kann dies gelingen? Die Antwort liegt auf der jüngsten Entscheidung des Bundessozialgerichtes, dass Hand: Der Arztberuf muss wieder attraktiver werden, Bereitschaftsdienst geringer vergütet werden kann als damit junge Menschen sich für das Studium und die normale Arbeitszeit, müssen wir einbeziehen. Keinen Arzttätigkeit entscheiden. Gerade zu Beginn der Berufs- dieser Punkte dürfen wir aus dem Blick verlieren, wenn tätigkeit muss die Attraktivität gesteigert werden. Eine wir über das Gesetz zur Änderung der Bundesärzteord- Abwanderung junger Ärzte in andere Berufszweige ver- nung und anderer Gesetze beraten. stärkt den Ärztemangel und muss verhindert werden. Lassen Sie mich hier auf ein wichtiges Detail bei der Die Abschaffung des AiP ist ein wichtiger Schritt. Abschaffung des AiP zu sprechen kommen: die Frage Denn die Bedingungen waren für die jungen AiPler viel- der Übergangsfrist. Zum jetzigen Zeitpunkt ist in Art. 7 fach ungenügend. Sie haben die Aufgaben eines Assis- des Entwurfs eine Stichtagsregelung vorgesehen. Das tenzarztes wahrgenommen, ohne entsprechend eigenver- heißt, ab dem 1. Oktober 2004 soll es keine AiPler mehr antwortlich zu sein. Hinzu kam die schlechte Bezahlung geben. Studenten, die vorher ihr Studium beenden, müs- und die extrem hohe Arbeitsbelastung. Ich kenne die sen das AiP ableisten. Diejenigen, die es danach ab- Worte von Betroffenen: „Wenn ich gewusst hätte, was schließen, erhalten ohne AiP die Vollapprobation als (B) nach dem Studium auf mich zukommt, hätte ich nicht Ärztin oder Arzt. (D) Medizin studiert.“ Dass junge Menschen, die mit viel Das führt zu der absurden Situation, dass beispiels- Enthusiasmus ins Studium gestartet sind, sich so demoti- weise die Berliner Ärztekammer Jungärzten empfiehlt, viert fühlen, müssen wir mit den richtigen Entscheidun- mit der Aufnahme der praktischen Tätigkeit bis zum Ok- gen verhindern. tober zu warten. Die Wahl ist schwierig: entweder je- Die vorliegenden Änderungen reichen aber nicht aus. mand tritt jetzt in die praktische Phase ein und muss be- Was also tun? Studienbedingungen, Vergütung, Arbeits- fürchten, noch die vollen 18 Monate des AiP bei zeiten und Berufsperspektiven sind die Stellschrauben, schlechter Bezahlung abzuleisten – aber er hat in dieser an denen wir drehen können, um die Attraktivität des Zeit immerhin eine Stelle – oder wartet bis Oktober, um Arztberufes zu erhöhen. als vollwertiger Assistenzarzt eingestellt zu werden, mit dem Risiko, dass er keine Stelle findet, weil die Kran- Die Gesundheitsreform, die wir im vergangenen Jahr kenhäuser aufgrund knapper Mittel in vielen Orten weni- verabschiedet haben, bietet jungen Ärzten neue Berufs- ger Stellen anbieten. chancen. Durch die Neuregelungen zur Integrierten Versorgung werden nämlich zunehmend neue Versor- Zu verlangen, dass Studentinnen und Studenten, die gungsformen entstehen – wie etwa Gesundheitszentren beispielsweise noch am 30. September 2004 ihre Prüfun- an Krankenhäusern. Solche Zentren sind für junge Ärzte gen ablegen, noch eine 18-monatige AiP-Phase ableis- und Ärztinnen sowohl ökonomisch als auch von der Ge- ten, während die anderen sofort ihre vollberufliche Tä- staltung der Arbeitszeiten her sicherlich attraktiv. tigkeit aufnehmen können, benachteiligt diese Personen. Nach Berechnungen des Hartmann-Bundes liegen die Wie wir wissen, liegt etwa bei den Arbeitszeiten eini- finanziellen Nachteile im Vergleich zu einem Assistenz- ges im Argen. Hier ist seit dem vergangenen Herbst vie- arzt mit der Vergütungsgruppe BAT II a bei gleichen per- les im Umbruch. Das Urteil des EuGH, wonach Bereit- sönlichen Verhältnissen bei knapp 40 000 Euro! Das schaftsdienste als Arbeitszeiten zu werten sind, stellt die Ministerium geht bei einer Einstellung aller Ärzte im Krankenhäuser vor große finanzielle Herausforderun- Praktikum als Assistenzärzte von nur 29 000 Euro aus. gen. Eigentlich müssten aufgrund der EuGH-Entschei- Ausgehend von circa 10 000 Anfängern für die AiP- dung in Deutschland nach Angaben der Deutschen Kran- Phase bzw. die Assistenzarzttätigkeit liegen die Mehr- kenhausgesellschaft 41 000 neue Klinikärzte eingestellt kosten nach Angaben des Ministeriums bei rund werden, was Personalmehrkosten in Höhe von 1,75 Mil- 300 Millionen Euro pro Jahr. Die Finanzierung dieser liarden Euro pro Jahr bedeuten würde. Vielen Kliniken Kosten soll durch die finanziellen Festlegungen des fehlt jedoch hierfür das Geld. Außerdem gibt es derzeit GKV-Modernisierungsgesetzes erfolgen. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2004 7855

(A) Nach Aussage der Regierung soll sichergestellt wer- mehr junge Ärztinnen die Arbeit im Krankenhaus (C) den, dass ab dem Stichtag auch die im AiP befindlichen scheuen. Ärzte die gleiche Vergütung erhalten können wie künf- tige Assistenzärzte. Es ist hier von einer Möglichkeit die Mit der in diesem Gesetz vorgesehenen Abschaffung Rede. Über die Ausgestaltung im Sinne aller Beteiligten des AiP machen wir die klassische ärztliche Tätigkeit im ebenso wie über die von der Regierung erwähnten Alter- Krankenhaus für Absolventen wieder attraktiver. Es ist nativen werden wir im Ausschuss reden müssen. nicht länger hinnehmbar, dass junge Ärztinnen als Billig- arbeitskräfte ausgebeutet werden. Das gilt umso mehr, Ebenfalls klären müssen wir das Nebeneinander von da im Frühjahr 2003 die Approbationsordnung geändert erfahrenen AiPlern und in der Praxis noch unerfahrenen wurde. Die universitäre Ausbildung wurde dadurch vollapprobierten Ärzten in der Übergangszeit. Denn es deutlich praxisnäher gestaltet. Deshalb werden Absol- kann passieren, dass ein AiPler, der schon zehn Monate venten künftig im Krankenhaus sofort als Assistenzärzte arbeitet, plötzlich Ärzten gegenüber weisungsgebunden eingestellt. Die für die Gegenfinanzierung notwendigen wäre, die frisch von der Uni kommen und keine prakti- rund 300 Millionen Euro haben wir bereits im Rahmen sche Erfahrung haben. Dabei war doch gerade der Sinn der Gesundheitsreform bereitgestellt, sodass die Kran- des Gesetzes, dass junge Ärzte Praxiserfahrung erwer- kenhäuser nicht zusätzlich belastet werden. ben sollten, bevor sie selbst größere Verantwortung übernehmen. Uns Grünen war wichtig, dass diese Neuregelung schnell greift. Stichtag ist jetzt der l. Oktober 2004. Es muss dafür Sorge getragen werden, dass eine Re- Noch schneller ging es nicht. Damit sendet die Bundes- gelung im Sinne der Betroffenen gefunden wird. Dafür regierung ein klares Signal an junge Menschen, die den werden wir uns im Ausschuss einsetzen. Arztberuf ergreifen wollen. Ich bin überzeugt, dass sich angesichts dieser Entwicklung wieder mehr Absolventen Petra Selg (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Nach wie für den Dienst am Patienten im Krankenhaus entschei- vor erfreut sich das Medizinstudium in Deutschland gro- den werden. ßer Beliebtheit. Regelmäßig gibt es mehr Bewerber als Mit diesem Gesetzentwurf geht Rot-Grün somit zum Studienplätze. Trotzdem berichten immer mehr Kran- einen die Frage der Nachwuchsgewinnung in unserem kenhäuser von Problemen, ihren Nachwuchs zu rekrutie- eigenen Land an. Zum anderen machen wir es aber auch ren. Immer häufiger wird vor einem bevorstehenden Ärztinnen aus anderen EU-Ländern leichter, in Deutsch- Ärztemangel in Deutschland gewarnt. Der Grund für land zu arbeiten. Durch die im Gesetzentwurf angelegte diesen scheinbaren Widerspruch: Zwar gibt es genug Umsetzung der EU-Richtlinie zur Harmonisierung der Studienanfänger. Aber immer weniger Studenten been- ärztlichen Berufe verbessern wir die Rechtsstellung von (B) den ihr Medizinstudium oder sie entscheiden sich nach nichtdeutschen Staatsangehörigen, die in Deutschland (D) dem Ende ihres Studiums gegen die klassische ärztliche ärztlich tätig werden wollen. Damit reagieren wir auf die Tätigkeit am Patienten im Krankenhaus und für gut be- absehbare demographische Entwicklung in unserem zahlte Positionen in der Pharmaindustrie, in Unterneh- Land und das Problem, dass immer weniger junge Men- mensberatungen etc. schen für den ärztlichen Nachwuchs zur Verfügung ste- Eine wesentliche Ursache für diese Entwicklung be- hen werden. seitigen wir mit dem vorliegenden Gesetzentwurf: die Dennoch ist klar, dass die Abschaffung des AiP nur AiP-Phase. Derzeit müssen alle Absolventen des Medi- ein Baustein in einer Gesamtstrategie zur Attraktivitäts- zinstudiums, die sich für die ärztliche Tätigkeit im Kran- steigerung des Arztberufs ist; denn nur, wenn die Ar- kenhaus entscheiden, im Anschluss an ihr Studium ein- beitsbedingungen im Krankenhaus insgesamt attraktiv einhalb Jahre als Arzt im Praktikum, arbeiten. Grund sind, werden Ärztinnen auch dauerhaft dort bleiben wol- dafür ist, dass sie nach ihrem Studium zunächst einmal len. Mit anderen Worten: Es geht nicht nur um die Be- praktische Erfahrung sammeln sollen, bevor sie als voll- rufsanfänger, es geht auch um die Ärztinnen, die über wertige Ärzte eingesetzt werden. In der Theorie heißt viele Jahre im Krankenhaus arbeiten wollen. das: Die angehenden Ärztinnen arbeiten unter Aufsicht, ohne selbst in größerem Umfang Verantwortung tragen Mit dem im Dezember beschlossenen Arbeitszeitge- zu müssen. So sollen sie von erfahreneren Kolleginnen setz zur Umsetzung des EuGH-Urteils zum Bereit- allmählich an die praktische Arbeit im Krankenhaus he- schaftsdienst haben wir in dieser Hinsicht viel erreicht. rangeführt werden. Künftig werden Ärztinnen humanere Arbeitszeiten ha- ben. Dienste bis zur vollständigen physischen und psy- Die Praxis sieht jedoch anders aus. Ich habe über chischen Erschöpfung gehören dann hoffentlich der Ver- 20 Jahre als Krankenschwester im Krankenhaus gearbei- gangenheit an. Gleichzeitig machen wir es Ärztinnen tet. In der Realität sind die AiPler mit ihren Sorgen und und natürlich auch Ärzten leichter, sich neben ihrem Be- Nöten häufig allein gelassen. Sie werden ins kalte Was- ruf auch für eine Familie zu entscheiden. ser geworfen. Ihre tägliche Arbeit unterscheidet sich praktisch nicht von der eines Assistenzarztes. Oft müs- In einem weiteren Schritt wird es darauf ankommen, sen sie selbstständig ohne Anleitung arbeiten. Entspre- die ärztliche Tätigkeit zu entbürokratisieren. Immer wie- chend hoch sind die Anforderungen und der Druck. der wird die hohe Belastung der Krankenhausärztinnen Gleichzeitig ist jedoch die Bezahlung miserabel. Außer- mit bürokratischen Tätigkeiten beklagt. Es heißt, dass zu dem sind die AiPler in der krankenhausinternen Hack- wenig Zeit für die Arbeit mit den Patientinnen bliebe ordnung ganz unten. Kein Wunder also, dass immer – und damit für das, was den Arztberuf ausmachen 7856 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2004

(A) sollte. Hier sind wir gemeinsam mit den Krankenhäusern nig, dass ein Instrument, das vor allem mit dem Stigma (C) gefragt, Lösungen zu entwickeln. Wir können es uns der Ausbeutung der Ärzte versehen ist, bald ausgedient nicht länger leisten, ärztliche Kompetenz durch unnöti- hat. Hoffen wir, dass so die Abwanderung dieser jungen gen bürokratischen Aufwand zu binden; denn dann Ärzte ins Ausland, wo sie bessere Bezahlung und bes- bleibt weniger Zeit für die Patientinnen und die Motiva- sere Arbeitsbedingungen vorfinden können, durch dieses tion der Ärztinnen sinkt. Allerdings fehlen bisher kon- Gesetz eingedämmt werden kann. Denn wertvolle, quali- krete Vorschläge seitens der Betroffenen, wo diesbezüg- fiziert ausgebildete Ärzte gehen dem deutschen Gesund- lich politische Eingriffe erforderlich sind. heitswesen seit Jahren zum Teil dauerhaft verloren. Doch ich bezweifle, dass diese Maßnahme ausreichen Insgesamt gesehen sind wir also auf einem guten wird, um dem Ärztemangel in Deutschland Herr zu wer- Weg, für Ärztinnen deutliche Verbesserungen ihrer Ar- den. Die lebenslange Perspektive fehlt den Ärzten! beitsbedingungen zu erreichen. Der vorliegende Gesetz- entwurf wird einen wichtigen Beitrag dazu leisten, dass Wie sieht es mit der Weiterbildung der Ärzte zukünf- sich in Zukunft in Deutschland genügend junge Men- tig aus? Werden Krankenhäuser nach Umstellung auf die schen für die Arbeit mit den Patientinnen entscheiden. diagnosebezogenen Fallpauschalen noch genauso bereit sein, Ärzte weiterzubilden wie heute? Weiterbildung Detlef Parr (FDP): Der Arzt im Praktikum wird ab- kostet Geld. Und einfacher ist es für ein Krankenhaus geschafft! Das ist lange geplant und von uns allen ge- allemal, auf ausgebildete Fachärzte zurückzugreifen. wollt. Hierzu möchte ich jedoch gerne aus dem Begrün- Dies müssen wir sorgfältig beobachten, um die jungen dungsteil des vorliegenden Gesetzentwurfs etwas Ärzte nicht gleich in die nächste Falle zu jagen. zitieren, was ich bemerkenswert fand: Was für Chancen haben die Ärzte nach ihrer Weiter- Aufgrund des prognostizierten Zuwachses von Stu- bildung? Unter den schwierigen Arbeitsbedingungen im dierenden, die ihr Studium nicht abschließen oder Krankenhaus bleiben? Oder den Weg in die Niederlas- nicht in die kurative Tätigkeit gehen, war infolge sung suchen? Auch dieser wird den Ärzten seit Jahren des in bestimmten Regionen zu erwartenden immer unattraktiver gemacht. Budgetbedingungen, Null- Ärztemangels ein möglichst schneller Wegfall der runden, Verdrängung des freiberuflich niedergelassenen „AiP“-Phase vorzusehen, um die Attraktivität der Arztes. Ganz zu schweigen das tiefe Mißtrauen, das die kurativen ärztlichen Berufsausübung gerade zu Be- Bundesregierung mit der letzten Gesundheitsreform ge- ginn, der praktischen ärztlichen Tätigkeit zu ver- genüber der Arbeit und den Leistungen der deutschen bessern. Ärzteschaft demonstriert hat: Wirtschaftlichkeitsprüfun- Es freut mich zu hören, dass auch die Bundesregie- gen, umfangreiche Verordnungskontrollen, Regressan- (B) rung endlich eingesehen hat, dass wir auf einen Ärzte- drohungen, Fortbildungskontrollen, der Korruptionsbe- (D) mangel in der kurativen Versorgung zulaufen und die auftragte. Ursache hierfür in den schwierigen Arbeitsbedingungen Die Abschaffung des AiPs alleine hilft nicht, den der Ärzte liegen. Bis heute wurde das Ihrerseits konse- Arztberuf wieder attraktiver zu machen. Dem drohenden quent ignoriert. Ärztemangel muss sicherlich noch stärker entgegenge- Sicherlich ist die Abschaffung des AiPs ein wichtiger wirkt werden. Als weiteren Schritt empfehlen wir Ihnen, erster Schritt. Darüber herrscht Einigkeit, und wir haben sich auch gemeinsam mit uns an das andere Ende des es daher hier und heute mit einem Gesetzentwurf zu tun, ärztlichen Lebenslaufs zu begeben und sich unserem An- der erfreulicherweise recht unstrittig ist. Mit der prinzi- trag zur Aufhebung der Altersgrenze für die Vertrags- piellen Zustimmung meiner Partei dürfen Sie jedenfalls grenze anzuschließen. Denn der Versorgungsengpass im rechnen. ambulanten, niedergelassenen Bereich besonders in den neuen Bundesländern ist schon längst da. Wenn man sich Ob einzelne Regelungen wie beispielsweise die der die Altersstruktur gerade der Hausärzte anschaut, dann Übergangsbestimmungen noch verbesserungsfähig sind, wird man feststellen, dass immer mehr Ärzte Praxen aus werden die voraussichtliche Anhörung sowie die Dis- Altersgründen verlassen müssen, für die es keine Nach- kussion im Ausschuss sicherlich noch klären. Auch er- folger gibt. Sicherlich muss die Lösung in der Frage lie- laube ich mir den Zweifel, dass die im GKV-Modernisie- gen, wie wir junge Ärzte in diese Gebiete locken, doch rungsgesetz GMG, gefundene Regelung, die Mehrkosten dem 68-jährigen Arzt, der noch willens und motiviert ist, aufzufangen, den Krankenhäusern tatsächlich eine finan- seine Patienten zu versorgen und zu behandeln, sollten zielle Erleichterung bringen wird. Das wird ebenfalls wir wieder die Chance dazu geben. noch zu prüfen sein. Denn auf keinen Fall darf passieren, dass Krankenhäuser zwei bis drei AiP-Stellen auf eine Lassen wir dies heute als einen ersten Schritt sehen, Assistenzarztstelle zusammenzuziehen. Damit wäre we- die Ärzte zurück in ihren Beruf zu holen, aber bitte nicht der den Ärzten noch den Patienten geholfen. als den letzten. Der Arzt im Praktikum war für die jungen angehen- den Ärzte ein wahrlich unerfreulicher Zustand. Marion Caspers-Merk, Parl. Staatssekretärin bei Schlechte Bezahlung, Überstunden über Überstunden der Bundesministerin für Gesundheit und Soziale Siche- und meist schon ein Arbeiten in höchster Verantwortung. rung: Mehr Qualität im Gesundheitswesen lautet das Von der Arbeit unter Aufsicht und Anleitung durch einen Ziel, das wir uns gesetzt haben. Dazu gehört auch, dass erfahrenen Arzt war wenig zu hören. So sind wir uns ei- die Bedingungen für Ärztinnen und Ärzte verbessert Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2004 7857

(A) werden und dass hohe Verantwortung und hohe Arbeits- Anlage 4 (C) belastung honoriert werden. Zu Protokoll gegebene Reden Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf wollen wir die zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes über Abschaffung des „Arztes im Praktikum“, kurz AiP, auf den Arbeitsmarktzugang im Rahmen der EU- den Weg bringen. Dies ist ein Anreiz für alle jungen Me- Erweiterung (Tagesordnungspunkt 15) diziner, den Beruf, für den sie sich mit dem Medizinstu- dium entschieden haben, auch wirklich auszuüben. Denn der AiP – und vor allem die vergleichsweise schlechte Angelika Krüger-Leißner (SPD): Der heute vorlie- Bezahlung in dieser Zeit – war einer der Gründe dafür, gende Entwurf eines Gesetzes über den Arbeitsmarktzu- dass immer mehr junge Ärztinnen und Ärzte nach Alter- gang im Rahmen der EU-Osterweiterung ist die Umset- nativen zum Arztberuf gesucht haben. Vor diesem Hin- zung einer wichtigen Regelung des Beitrittsvertrages. tergrund haben wir uns entschlossen, mit der Abschaf- Daher gehe ich davon aus, dass dieses Gesetz im Großen fung des Arztes im Praktikum nicht länger zu warten, und Ganzen unstrittig sein dürfte. sondern den erstmöglichen Zeitpunkt für die Abschaf- Fast alle Mitglieder dieses Hauses sind Anhänger der fung zu wählen, nämlich den 1. Oktober 2004. Mit europäischen Idee, und das über die Parteigrenzen hin- diesem Schritt tragen wir dem Strukturwandel von der weg. Wir alle wissen, dass Europa nicht an der Oder en- Ärzteschwemme zum Ärztemangel Rechnung, der sich det. Auch die EU darf dort nicht enden, wenn wir den insbesondere in den Krankenhäusern abzeichnet. europäischen Gedanken umsetzen wollen. Mit der auf mehr Praxisnähe ausgerichteten Reform Ich will an dieser Stelle nicht viele Worte über die der ärztlichen Ausbildung haben wir eine wichtige Vo- Ideale der europäischen Einigung und die sicherheits- raussetzung dafür geschaffen, dass der Arzt im Prakti- politische Relevanz der Osterweiterung verlieren. Wie kum entfallen kann. Für eine schnellstmögliche Ab- gesagt: Es herrscht Einigkeit im Deutschen Bundestag schaffung des AiP spricht auch die Tatsache, dass auf- darüber, dass eine größere EU den Bestand des Friedens grund von Rechtsänderungen im Sozialgesetzbuch V in Europa sichern hilft. junge Ärztinnen und Ärzte nur dann zugelassen werden, wenn sie eine Weiterbildung nachweisen können. Dies Wirtschaftspolitisch wird Deutschland vor allem pro- gibt den Patientinnen und Patienten die Sicherheit, dass fitieren. Qualifikation und Infrastruktur sind deutsche nur Ärztinnen und Ärzte mit einer mehrjährigen prakti- Wettbewerbsvorteile, die für einen offenen Markt spre- schen Erfahrung sich niederlassen können. chen. Auch in diesem Bereich spricht also mehr für eine Osterweiterung als dagegen. Was bedeutet nun die Neuregelung für die jungen Me- (B) diziner konkret? Alle jungen Mediziner, die ihr Studium Die Osterweiterung ist für beide Seiten wichtig. Die (D) nach dem Stichtag 1. Oktober 2004 abschließen, müssen Beitrittsländer und Deutschland können die Märkte nut- den Arzt im Praktikum nicht mehr ableisten. Damit wer- zen und davon profitieren. Das Gleiche gilt mittel- und den sie nach Abschluss des Studiums ihre Berufslauf- langfristig auch für die soziale Absicherung. Der Beitritt bahn als Assistenzarzt und mit der entsprechenden Be- zur EU wird dazu führen, dass die Standards in den ent- zahlung beginnen können. sprechenden Ländern gehoben werden. Wir werden alles dafür tun, um die Situation für die Etwas schwieriger verhält sich dies im Bereich der Ärzte im Praktikum in der Übergangszeit zu verbessern. Arbeitsmarktpolitik. Hier gibt es viele Ängste und Sor- Diejenigen, die ihren Arzt im Praktikum noch ganz oder gen. Bei den Bürgern der Beitrittsländer wie bei uns. teilweise ableisten müssen, erhalten ab dem 1. Oktober Aber diese Sorgen gab es früher auch. Beispielsweise 2004 die höhere Assistenzarztvergütung. Eine Verschie- bei der Aufnahme Spaniens und Portugals. Das befürch- bung des Abschlussexamens macht durch diese finan- tete Lohndumping und der Sozialabbau haben nicht zielle Gleichstellung keinen Sinn. stattgefunden. Noch ein kurzes Wort zur Finanzierung: Der Finanz- In der EU herrscht Freizügigkeit der Arbeitnehmerin- bedarf für die Abschaffung des Arztes im Praktikum nen und Arbeitnehmer. Von dieser Situation hat wird mit jährlich 300 Millionen Euro anzusetzen sein. Deutschland ebenfalls profitieren können. Gerade unsere Trotz schwieriger Finanzsituation und massiver Einspa- Gesetzeslage verhindert immer noch den Zuzug qualifi- rungen im gesamten Gesundheitsbereich ist es uns ge- zierter Arbeitskräfte. An dem Wettbewerb um die besten lungen, die erforderlichen Mittel zur Verfügung zu stel- Köpfe nimmt Deutschland praktisch nicht teil. len. Dennoch ist die Situation im Falle der meisten Bei- Zukünftig können junge Ärztinnen und Ärzte direkt trittsländer eine andere als bei den aktuellen Mitglied- nach ihrer Ausbildung an der Universität als approbierte staaten der EU. Zwischen Deutschland und den mittel- Ärzte mit der Weiterbildung zum Facharzt beginnen. Da- und osteuropäischen Staaten bestehen seit Anfang der durch werden der Arztberuf und der Arbeitsplatz Kran- 90er-Jahre starke Migrationsbeziehungen. Schon allein kenhaus wieder attraktiver. wegen seiner geographischen Lage kann davon ausge- gangen werden, dass Deutschland Hauptzielland der Junge, gut ausgebildete Ärztinnen und Ärzte wieder Einwohner der Beitrittsstaaten sein wird. Insbesondere für die Patientenversorgung zu gewinnen – das ist das Polen und Ungarn werden voraussichtlich die Länder Ziel dieses Gesetzentwurfes. mit den höchsten Zuzugszahlen nach Deutschland sein. 7858 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2004

(A) Angesichts der immer noch hohen Lohndifferenzen 85 000 Zuwanderer und 30 000 Einpendler sind hier zu (C) ist es also geboten, die Übergangsregelung, die die EU erwarten. Quantitativ kann also auch dieser Zustrom den vorgesehen hat, zu nutzen. Auch um den mittel- und ost- Rückgang an Arbeitskräften nicht ausgleichen. Und wir europäischen Ländern die Möglichkeit zu geben, ihre sprechen hier von einer Grenzregion, die von der Freizü- Sozialsysteme und Arbeitssicherung an die Standards gigkeit am ehesten betroffen wäre. der EU weiter anzupassen. Sicherlich werden die verschiedenen Sektoren unter- Nicht alle Beitrittsländer werden – was Deutschland schiedlich betroffen sein. Und es werden Anstrengungen betrifft – davon betroffen sein. Zypern und Malta erhal- unternommen werden müssen, das Arbeitskräftepoten- ten von Beginn an volle Freizügigkeit. Schon aufgrund zial besonders in den Grenzregionen weiter zu qualifi- der geringen Einwohnerzahl dieser beiden Länder wäre zieren, um eine Verdrängung inländischer Arbeitnehme- die Nutzung der Übergangsregelung hier absolut kontra- rinnen und Arbeitnehmer zu verhindern. produktiv. Dennoch empfiehlt das ifo-Institut eine frühzeitige Für die anderen acht Beitrittsstaaten wollen wir die Öffnung des Arbeitsmarktes, um das Nachwuchspro- Übergangsregelung hinsichtlich der Arbeitnehmerfreizü- blem zu lösen, das die demographische Entwicklung mit gigkeit nutzen. In groben Zügen bedeutet dies, dass wir sich bringt. in den nächsten sieben Jahren die Möglichkeit haben, die Freizügigkeit einzuschränken. Allerdings nicht in dem Hier kommen wir zum Kern des Problems. Wir brau- bisherigen Maße. chen in Deutschland dringend und zwingend Regelun- gen zur Zuwanderung. Die EU-Osterweiterung klärt Die Staatsbürger aus den Beitrittsländern müssen auf diese Problematik keinesfalls. jeden Fall Vorrang vor nicht EU-Ausländern haben, wenn es um die Erteilung einer Arbeitserlaubnis geht. Ich weiß, dass es momentan sehr populär ist, gegen Zudem beinhaltet die Übergangsregelung die Pflicht, Zuwanderung zu sein. Die aktuelle wirtschaftliche Situa- Bürgern dieser Staaten eine Arbeitsgenehmigung zu er- tion mit weiterhin vielen Arbeitslosen scheint jegliche teilen, wenn sie für einen ununterbrochenen Zeitraum Form der Arbeitsmigration zu verbieten. Aber auch Sie, von zwölf Monaten zum deutschen Arbeitsmarkt Zu- meine Damen und Herren von der Opposition, wissen gang hatten. Familienangehörigen muss ebenfalls eine nur zu gut, dass das nicht richtig ist. Zulassung erteilt werden. Im „Wettbewerb um die besten Köpfe“ – die qualifi- Hinzu kommt die Möglichkeit der Dienstleistungs- ziertesten Arbeitskräfte für unsere Unternehmen – haben freiheit. Die Bürger der Beitrittsstaaten werden zukünf- wir in Deutschland ein deutliches strukturelles Problem, tig die Möglichkeit haben, entsprechende Unternehmen das in der heutigen Gesetzgebung begründet ist. (B) (D) in Deutschland zu gründen. Hier ist eine sektorale Über- gangsregelung für die Baubranche angedacht. Wir haben keine Möglichkeit, die Menschen, die un- ser Wirtschaftssystem auf dem Arbeitsmarkt fordert, Die Regelung muss nach zwei und nach fünf Jahren auszusuchen. Wir haben keine Möglichkeit, Einwande- nochmals überprüft werden. Nach sieben Jahren erhalten rung in unser Land zu begrenzen und zu steuern. die Mitglieder der Beitrittsländer die volle Freizügigkeit wie andere EU-Bürger auch. Das ist umso bedauerlicher, als mit dem Zuwande- rungsgesetz der Bundesregierung ein entsprechendes Ich meine: Wir müssen diese Übergangsregelung Gesetz vorliegt. Ein Gesetz, das Sie, insbesondere was nutzen. Denn es ist dringend erforderlich, dass der wirt- die Arbeitsmigration betrifft, im Bundesrat blockieren. schaftliche und soziale Aufholprozess in den Beitritts- ländern weiter voranschreitet, bevor die volle Freizügig- Das tun sie, obwohl sie von allen Seiten aufs keit ermöglicht wird. Schärfste für Ihre populistische Politik in dieser Sache gerügt werden: Gewerkschaften, Wirtschaft, Kirchen Es sieht zurzeit so aus, dass die Lohnentwicklung in und Wirtschaftswissenschaftler erwarten, dass wir uns den betroffenen Staaten schneller voranschreitet als bei auch und gerade in diesem Punkt einigen. uns. Aber: Wir sollten uns darüber im Klaren sein, dass 2011 die Löhne und Gehälter auch in Deutschland höher Denn die heutige Gesetzeslage führt zu einem hohen sein werden. Daher gilt es besonders für die Regionen Zuzug an gering qualifizierten Arbeitnehmerinnen und Deutschlands, die im Grenzgebiet liegen, auf diese Si- Arbeitnehmern. Spitzenkräfte haben hingegen große tuation vorbereitet zu sein. Schwierigkeiten, Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt zu finden. Die zu erwartende Lohnentwicklung und die demo- graphische Entwicklung sprechen dafür, dass die Situa- Das wird unseren Erfordernissen aber in keiner Weise tion 2011 weniger dramatisch ausfallen wird, als sie es gerecht. Was sie veranstalten, ist wirklich der reine Po- jetzt bei voller Freizügigkeit täte. So hat das ifo-Institut pulismus auf Kosten der deutschen Wirtschaft und letzt- im Auftrag des Sächsischen Wirtschaftsministeriums er- lich auch auf Kosten der inländischen Arbeitnehmerin- rechnet, dass das Arbeitskräfteangebot im Freistaat bis nen und Arbeitnehmer. zum Ende dieser Dekade um 250 000 Personen zurück- Denn wenn man die demographische Entwicklung gehen wird. betrachtet, dann muss man zu dem Schluss kommen, Das Potenzial an Zuströmen aus Mittel- und Ost- dass unsere Sozialsysteme ohne weitere Zuwanderung europa liegt weit unter diesem Wert. Maximal nicht mehr lange funktionsfähig sein können. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2004 7859

(A) Hinzu kommt ein weiteres Problem: Sie tun ja gera- und Arbeitsmarktbereich machen können. Vor der Ost- (C) dezu so, als ob die deutschen Unternehmen eine Rege- erweiterung braucht keiner Angst zu haben. lung, wie wir sie beispielsweise mit dem Punktesystem vorgeschlagen haben, als Methode zum Lohndumping Aber ich fordere sie auf, auch die weiteren Folgen zu nutzen wollten. Das ist aber bei der von uns vorgeschla- beachten, die sich hieraus ergeben. genen Regelung gar nicht möglich und auch von der Dazu gehören Integration und Steuerung der Zuwan- Wirtschaft nicht gewollt. derung. Geben Sie sich einen Ruck, und unterstützen Sie diejenigen in Ihren Reihen, die die Zeichen der Zeit bei Es geht nicht um ungebremste, sondern eben um ge- diesem Thema erkannt haben. bremste und kontrollierte Zuwanderung. Und was für ein Standortvorteil soll es bitte sein, wenn Unternehmen zur Abwanderung gezwungen werden, weil sie die nötigen Klaus Hofbauer (CDU/CSU): Die Erweiterung Euro- Arbeitskräfte auf dem deutschen Markt nicht mehr fin- pas wird in nur mehr 93 Tagen in Kraft treten. Mit dem den können? Das wäre in der Tat ein verheerendes Si- Beitritt von zehn weiteren Ländern erfolgt ein gewaltiger gnal für den Standort Deutschland. Schritt, die Einigung Europas zu vollenden. Es steht fest: Damit sind Chancen und Risiken verbunden. Wir müssen Ich war erfreut zu hören, dass nicht nur die FDP diese auch auf die vielfachen Ängste der Menschen – ob be- Politik ablehnt. Auch aus ihren eigenen Reihen mehren rechtigt oder unberechtigt – reagieren und sie ernst neh- sich die Stimmen, das Punktesystem zu unterstützen. men. Es ist meine – und sicherlich auch unsere – feste Gerade erst hat der Hamburger Noch-Bürgermeister Ole Überzeugung, dass mittel- und langfristig die Chancen von Beust die CDU aufgefordert, einer Zuwanderung, überwiegen. Es gibt keine Alternative, in Europa Frie- wie sie der Regierungsentwurf vorsieht, zuzustimmen. den, Freiheit und Wohlstand zu sichern. Größtes Pro- Dem sollten Sie als CDU im Deutschen Bundestag fol- blem bei der jetzigen Erweiterung ist der erhebliche gen. Lohnunterschied und das Wohlstandsgefälle zwischen Heute mag es noch populär sein, das Gesetz zu blo- den Beitrittsländern und Deutschland. Selbst bei einem ckieren und Ängste zu schüren. Aber schon in wenigen Lohngefälle von l : 3 wird es insgesamt bei uns – vor al- Jahren, wenn der Druck durch die demographische Ent- lem in den Grenzregionen – zu Verwerfungen kommen. wicklung immer größer wird, werden auch die Rufe Im Interesse unserer Arbeitnehmerinnen und Arbeit- nach einer Regelung der Arbeitsmigration immer größer nehmer ist deshalb die im Rahmen der Beitrittsverhand- werden. lungen vereinbarte Übergangszeit notwendig. Es ist fest- gelegt, dass Übergangsregelungen von bis zu sieben Auch die CDU sollte in diesem Zusammenhang be- Jahren für die Herstellung des uneingeschränkten Rechts greifen, dass es keinen Sinn macht, Gesetze nur für kurz- (B) auf Freizügigkeit der Arbeitnehmer getroffen werden. (D) fristige Zeiträume zu schaffen. Nachhaltiges Denken ist Mit dem Gesetzentwurf über den Arbeitsmarktzugang gefragt. im Rahmen der Erweiterung muss dies nun rechtlich ab- Ein weiterer wichtiger Punkt im Zusammenhang mit gesichert werden. Solche Fristen dürfen nicht dazu füh- der Osterweiterung spricht für Fortschritte beim Zuwan- ren, dass ein Zusammenführen der Arbeitsmärkte behin- derungsgesetz: die Integration. dert oder sogar blockiert wird. Die jetzt vereinbarten Übergangsfristen müssen genutzt werden, das Zusam- Sie alle wissen, dass wir bei der Integration von Mi- menführen der Arbeitsmärkte zu gestalten. Wir sollten grantinnen und Migranten in Deutschland große Pro- auch offen mit dieser Frage umgehen. bleme haben. Gerade bei den Menschen aus Ost- und Mitteleuropa zeigt sich dies sehr deutlich. Durch die Die Übergangsregelungen sind für längstens sieben Aussiedler der vergangenen Jahrzehnte ist uns das klar Jahre möglich. Schon nach zwei Jahren könnte beantragt vor Augen geführt worden. Die späteren Generationen, werden, diese Regelung nicht mehr fortzuführen. Wir die oft gar kein Deutsch mehr sprechen, hatten große alle kennen den Druck aus Tschechien und Polen, aber Probleme sich hier einzuleben. auch aus der Wirtschaft, die solche Regelungen nicht wünschen oder darin Behinderungen sehen. Da nur we- Integrationsmaßnahmen gab es einfach viel zu we- nige Länder solche Fristen haben, müssen die Auswir- nige. Die hohe Kriminalitätsrate gerade bei dieser kungen insgesamt in Europa genau beobachtet und ge- Gruppe spricht hier Bände. würdigt werden. Jetzt werden wieder Menschen aus diesen Regionen Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion trägt den vorlie- kommen. Wenn wir deren Potenzial nutzen wollen, ohne genden Entwurf des Gesetzes über den Arbeitsmarktzu- Abgrenzung und Ausländerfeindlichkeit zu schaffen, gang im Rahmen der EU-Erweiterung mit. Es ist not- brauchen wir mehr vernünftige Integrationsmaßnah- wendig, im weiteren Verlauf der Beratungen noch men, wie sie in unserem Gesetz vorgeschlagen sind. verschiedene Fragen zu klären. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU, ich In dieser Woche hat die AG Wirtschaft und Arbeit der gehe davon aus, dass die Umsetzung der Richtlinien mit CDU/CSU-Bundestagsfraktion unter der Leitung der Ihrer Unterstützung erfolgen wird. Wir brauchen dieses Kollegin Dagmar Wöhrl und des Kollegen Karl-Josef größere Europa, um Zusammenarbeit, Zukunft und Frie- Laumann mittelständische Unternehmen in den Grenz- den zu sichern. Und wir brauchen die Übergangsfrist, regionen besucht. Wir haben eindrucksvoll erfahren, damit die Beitrittsländer weitere Fortschritte im Sozial- welche Chancen und Risiken die mittelständischen 7860 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2004

(A) Unternehmer bzw. das Handwerk konkret sehen. Einer Erstens. Aufgrund der beschriebenen Tatsachen wird (C) der Unternehmer stellte klar fest, dass er für seine Bran- die Übergangsregelung begrüßt. Dem Gesetzestext kann che durch die Osterweiterung keine Chance sieht. Ein nach der Beratung zugestimmt werden. anderer hat sich schon voll auf diese Situation einge- stellt. Der Unternehmer hat seinen Betrieb nur wenige Zweitens. Es ist eine aktive Gestaltung des Über- 100 Meter von der tschechischen Grenze entfernt. Durch gangsprozesses notwendig, um die Arbeitsmärkte zu- die vorbildliche Initiative der ARGE 28 unserer Grenz- sammenzuführen. Dazu soll die Bundesregierung ent- landkammern hat er im Nachbarland Tschechien Markt- sprechende Vorschläge unterbreiten. Wir bitten, die forschung betrieben und Kooperationspartner in aufgeworfenen Fragen im Rahmen des weiteren Bera- Tschechien gesucht. Er sieht für seine Produkte im tungsverfahrens zu beantworten. Nutzen wir auch dieses Nachbarland einen Absatzmarkt. Seine Bemühungen Gesetz als Chance, die Osterweiterung zu gestalten. könnten unterstützt werden, wenn er einen tschechischen Arbeitnehmer beschäftigen dürfte. Dieser würde die Werner Schulz (Berlin) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Sprachbarriere reduzieren, kennt den Markt in Tsche- NEN): Zum 1. Mai 2004 werden zehn weitere Mitglied- chien usw. Diesem zukunftsorientierten Unternehmen staaten der Europäischen Union beitreten. Mit dem Bei- kann mit diesem Gesetzentwurf nicht geholfen werden. Da ein Schreiner aus Prag oder Pilsen weder Grenzgän- trittsvertrag wurde festgelegt, dass das Recht von ger oder Saisonarbeiter ist, fällt er unter die Regelungen Arbeitnehmern auf Freizügigkeit innerhalb der Union der Werkvertragskontingente. Nach meiner Auffassung für die Beitrittsstaaten mit Ausnahme von Zypern und blockiert das deutsche Arbeitsmarktrecht die Vorberei- Malta für einen Übergangszeitraum eingeschränkt wer- tungsbemühungen eines Mittelständlers, die Chancen den kann. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf macht der Osterweiterung zu nutzen. die Bundesregierung von dieser Klausel Gebrauch. In den ersten beiden Jahren nach dem Beitritt wird Die grenzüberschreitende Zusammenarbeit wird seit Deutschland aufgrund der angespannten Arbeitsmarkt- Anfang der 90er-Jahre durch die Grenzgängerregelung lage die Arbeitnehmerfreizügigkeit für die neuen Mit- bereits praktiziert. Unter ganz bestimmten Voraussetzun- gliedstaaten beschränken. Inwieweit nach diesem Zeit- gen erhält ein tschechischer Arbeitnehmer aus der raum weitere Beschränkungen vorgenommen werden, Grenzregion die Möglichkeit, bei uns zu arbeiten. Dazu wird in Abhängigkeit von der Entwicklung des Arbeits- braucht er eine Aufenthaltsgenehmigung und eine Ar- marktes entschieden werden. beitserlaubnis. Der freie Personenverkehr ist eine der durch das Ge- Nun sieht der neue Gesetzesentwurf vor, dass ein Ar- meinschaftsrecht garantierten Grundfreiheiten. Es ist beitnehmer, der mindestens zwölf Monate ununterbro- (B) vielleicht das wichtigste Recht des Einzelnen in der (D) chen im Bundesgebiet gearbeitet hat, eine Arbeitserlaub- nis auf Dauer erhält. Es ist zu klären, ob die Grenzgänger Union. Dieses Recht besitzen nicht nur Arbeitnehmer, dann eine unbeschränkte Arbeitsgenehmigung für das sondern auch andere Personengruppen wie etwa Studen- gesamte Bundesgebiet erhalten. Bisher hatten diese Per- ten oder Rentner, im Grunde genommen alle EU-Bürger. sonen in der Regel eine befristete Arbeitserlaubnis, die Gerade weil es um eines der wesentlichsten Grundrechte auf den Grenzlandkreis oder ein bestimmtes Unterneh- geht, ist jegliche Einschränkung oder Beschränkung mit men beschränkt war. Daraus folgend stellt sich die großer Sensibilität vorzunehmen. Dies gilt auch für die Frage, ob der Familiennachzug mit dem unbeschränkten genannten Übergangsbestimmungen. Arbeitsmarktzugang auch für Grenzgänger gilt. Im Vertrag ist deshalb auch festgelegt, dass die EU- Nicht zuletzt ist auf einen weiteren wesentlichen Kommission zwei Jahre nach dem Beitritt, also im Jahre Punkt hinzuweisen: Bisher wurden Arbeitserlaubnisse in 2006, einen Bericht ausarbeiten wird, auf dessen Grund- der Regel befristet erteilt. Die Arbeitsämter hatten damit lage der Rat eine Überprüfung der bestehenden Über- die Möglichkeit, in bestimmten Zeitabschnitten die Ver- gangsregelungen vornimmt. Bis dahin wird auch in einbarkeit mit dem deutschen Arbeitsmarkt zu prüfen. Deutschland zu entscheiden sein, ob für weitere drei Diese Kompetenz der Arbeitsverwaltungen entfällt mit Jahre Beschränkungen beibehalten werden sollen. der unbefristeten Erteilung nach zwölf Monaten. Welche Auswirkungen dies auf die regionalen Arbeitsmärkte Die Übergangsregelungen sind kompliziert, was si- hat, muss in den Monaten nach dem Beitritt genau beob- cher auch daran lag, dass man sie möglichst flexibel ge- achtet werden. stalten wollte. Das hat aber auch zur Folge, dass es für Arbeitnehmer aus den Beitrittsstaaten ziemlich schwie- Mit der Grenzgängerregelung haben wir mehr als ein rig wird, die Übersicht über die jeweilige Rechtslage zu Jahrzehnt praktische Erfahrung. Es wäre sinnvoll und behalten, weil jeder einzelne der derzeitigen Mitglied- wünschenswert, wenn uns die Bundesregierung darüber staaten jeweils eigene Regelungsmöglichkeiten hat. berichten könnte, wie sich die Grenzgängerregelung in Und: Die Einschränkung der Freizügigkeit betrifft nur der Praxis ausgewirkt hat, welche Erfolge erzielt wur- Arbeitnehmer. Sie gilt nicht für Selbstständige, Studen- den, was an der Umsetzung dieser Regelung verbessert ten, Rentner oder Touristen. So können Selbstständige werden kann und ob vielleicht eine Ausweitung möglich aus den Beitrittsländern schon ab Mai dieses Jahres in ist. Deutschland einen Betrieb eröffnen. Auch aus diesen Zusammenfassend darf ich für die CDU/CSU-Frak- Gründen plädiere ich dafür, möglichst zügig auf diese tion feststellen: Übergangsregelungen zu verzichten. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2004 7861

(A) Lassen Sie mich zum Schluss noch auf eines hinwei- mal deutlich machen: Sieben Jahre sind auf jeden Fall zu (C) sen. Die Erweiterung der Europäischen Union ist auch lang! ein Signal an die mittel- und osteuropäischen Länder, dass die künstliche Grenze des Kalten Krieges endgültig Übergangsregelungen haben ihre Probleme. So sind überwunden ist. Die Erweiterung stabilisiert die enor- sie zum Beispiel alles andere als ein Beitrag zur Be- men wirtschaftlichen und politischen Anpassungspro- kämpfung der Schwarzarbeit, im Gegenteil. Außerdem zesse der Beitrittsstaaten, die sie teilweise unter erhebli- gilt die Beschränkung auf Gegenseitigkeit. Alle Ein- chen Belastungen ihrer Bürger durchgeführt haben. schränkungen, die wir den Beitrittsländern auferlegen, Freiheit und Freizügigkeit waren dafür Triebfedern. Ge- treffen umgekehrt auch uns selbst. Und es ist auch eine rade auch deshalb dürfen wir die Hoffnungen der Men- offene Frage, ob nicht die vorhandenen Umgehungs- möglichkeiten die gewollte Beschränkung letztlich ad schen nicht enttäuschen. Die Gemeinschaft wird erst absurdum führen. dann zu einer Gemeinschaft aller, wenn die Rechte und Pflichten für alle gleich sind. Der entscheidende Punkt ist: Eine Übergangsfrist setzt voraus, dass der Aufschub auch wirklich genutzt Dr. Claudia Winterstein (FDP): Prinzipiell haben wird, um Reformen durchzusetzen, damit der Arbeits- EU-Bürger in der Europäischen Union die freie Wahl markt in Deutschland flexibler auf die veränderten Wett- beim Ort des Arbeitsplatzes. Aber die alten Mitglied- bewerbsverhältnisse reagieren kann. Sonst stecken wir staaten können die Zuwanderung von Arbeitskräften aus letztendlich nur den Kopf in den Sand. den neuen Beitrittsländern für zwei, nach Überprüfung Auf eines müssen wir bei dem Gesetzentwurf hier im für fünf, insgesamt für maximal sieben Jahre begrenzen. Parlament auf jeden Fall hinwirken: Deutsche Unterneh- Das bedeutet, dass Bürger aus diesen Staaten in jedem men dürfen von diesen Einschränkungen nicht unnötig Fall eine Arbeitserlaubnis brauchen, die ihnen auch ver- behindert werden. In der Anwendung der Erlaubnisrege- wehrt werden kann. lung brauchen wir Flexibilität. Es muss also auch Aus- nahmen geben. Zum Beispiel müssen Unternehmen, die Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf will die Bun- grenzüberschreitend tätig sind, die Möglichkeit zum desregierung diese Möglichkeit nutzen. Die Beitrittsver- grenzüberschreitenden Arbeitnehmeraustausch haben, träge mit den neuen Mitgliedstaaten erlauben allen bis- also ihre ausländischen Arbeitskräfte eine Zeit lang auch herigen Mitgliedstaaten eine solche Beschränkung durch in Deutschland arbeiten lassen können. Ich glaube auch, Anwendung nationalen Rechts. Interessant ist aber, dass dass wir für die Bereiche Haushalt und Pflege Ausnah- längst nicht alle alten Mitgliedstaaten von dieser Mög- men brauchen, in denen in Deutschland Arbeitskräfte- lichkeit Gebrauch machen. In Großbritannien und Irland mangel herrscht. (B) beispielsweise wird die Freizügigkeit für Arbeitnehmer (D) sofort gelten, andere Mitgliedstaaten diskutieren die Wenn die Bundesregierung schon nicht den Mut hat, Frage noch. Festgelegt auf eine zweijährige Schließung auf Übergangsregelungen zu verzichten, dann müssen des Arbeitsmarktes haben sich nur Deutschland, Öster- sie zumindest flexibel und von kurzer Dauer sein. Angst- reich, Frankreich und Finnland. starre statt Flexibilität bringt Deutschland nicht weiter. Für diejenigen Staaten, die ihren Arbeitsmarkt öffnen, enthalten die Verträge eine Sicherheitsklausel, dass sie Anlage 5 die Beschränkung wieder einführen können, wenn es zu ernsthaften Störungen des Arbeitsmarktes kommt. Man Zu Protokoll gegebene Rede sieht also: Es geht auch anders. zur Beratung des Entwurfs eines Investitionszu- Die FDP hat sich immer, ob als Regierungspartei oder lagengesetzes 2005 (Tagesordnungspunkt 16) in der Opposition, für den Beitritt unserer osteuropäi- schen Nachbarn eingesetzt. Die Osterweiterung bietet Franziska Eichstädt-Bohlig (BÜNDNIS 90/DIE Chancen für Deutschland. Es ist Aufgabe der Politik, die GRÜNEN): Mit dem Investitionszulagengesetz 1999 vorhandenen Ängste in der Bevölkerung aufzugreifen. werden bis Ende 2004 in den ostdeutschen Ländern in Natürlich wird es wird zu Strukturveränderungen kom- besonderer Weise gefördert: erstens die Anschaffungs- men, und die sind auch mit Risiken verbunden. und Herstellungskosten von Gebäuden und Ausrüstun- gen von Betrieben und zweitens Modernisierungsmaß- Es wäre aber nicht richtig, die Ängste noch zu schü- nahmen und teilweise Neubauten von Mietwohnungen. ren. Ich verweise auf die Erfahrungen mit der Süderwei- terung der EU in den 80er-Jahren. Nach dem Beitritt Das neue Investitionszulagengesetz klammert den Griechenlands, Spaniens und Portugals wurde der deut- Mietwohnungsbau völlig aus und konzentriert im Ge- sche Arbeitsmarkt nicht überschwemmt. Im Gegenteil, werbebereich die Investitionszulagen auf Erstinvestitio- heute leben und arbeiten mehr Deutsche in Spanien als nen von Betrieben des verarbeitenden Gewerbes und von Spanier in Deutschland. produktionsnahen Dienstleistungen. Die Fördersätze sind differenziert nach der Lage der Betriebsstätten. För- Wichtig ist, dass wir bei jeder Art von Übergangsfris- derfähig sind 12,5 Prozent der Anschaffungs- und Her- ten unbedingt darauf achten, dass solche Regelungen fle- stellungskosten der begünstigten Investition der großen xibel genug gehandhabt werden und dass sie so schnell Betriebe – 15 Prozent im Förderrandgebiet – und 25 Pro- wie möglich auslaufen. Deshalb will ich hier schon ein- zent für kleine und mittlere Unternehmen – 27 Prozent 7862 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2004

(A) im Förderrandgebiet, 20 Prozent in der Arbeitsmarktre- ten und die ökologisch und energetisch optimierte Er- (C) gion Berlin. Außerdem werden Betriebsneubauten mit neuerung der Altbaubestände – in Ost und in West. 12,5 Prozent – 15 Prozent im Förderrandgebiet – geför- Dafür müssen wir die Diskussion um die bauliche Inves- dert. titionszulage in den nächsten Wochen nutzen. Prinzipiell geht es bei dem Gesetz um eine Fortfüh- rung der Investitionszulage um zwei Jahre, bis Ende Anlage 6 2006. Danach findet keine Förderung statt, das heißt, entweder müssen Investitionen in den Jahren 2005 und Zu Protokoll gegebene Reden 2006 vollständig abgewickelt werden, um förderfähig zu sein, oder es können nur Teilherstellungskosten geltend Zur Beratung des Antrags: Konzeption zur gemacht werden. Struktur und zur Finanzierung eines Osteuro- pazentrums für Wirtschaft und Kultur jetzt Ich unterstütze die Fortsetzung der gewerblichen In- vorlegen (Tagesordnungspunkt 17) vestitionszulage für zwei weitere Jahre. Allerdings werde ich mich dafür einsetzen, dass sich die Förderung der Gebäudeinvestitionen nicht nur auf Neubau bezieht, Andrea Wicklein (SPD): Der Aufbau eines Osteuro- sondern auch auf die Nutzbarmachung der vielen leer pazentrums für Wirtschaft und Kultur liegt in unser aller stehenden, teilweise denkmalwerten Bestandsgebäude Interesse. Ihr Antrag zeigt mir, dass wir inhaltlich nicht im Osten. Die Förderung von Eigentumswohnungen im weit auseinander liegen. Ich denke, wir sind uns darin ei- Rahmen der Betriebsförderung halte ich nicht für not- nig, dass wir mit dem geplanten Osteuropazentrum für wendig. Wirtschaft und Kultur eine Brücke schlagen wollen zwi- schen Ostdeutschland und den neuen mittel- und ost- Längerfristig halte ich für die betriebliche Investi- europäischen EU-Mitgliedstaaten. Wir wollen die ge- tionszulage Folgendes für notwendig: Nicht mehr Ost- meinsamen Interessen und Kräfte bündeln und so zu deutschland, sondern Regionen mit mehr als 15 Prozent einer vertieften Integration beitragen. Wir wollen eine Arbeitslosigkeit sollten besonders gefördert werden, stärkere kulturelle Zusammenarbeit pflegen und uns für egal ob Ost oder West. Investitionszulage und die Ge- ein besseres gegenseitiges Verständnis einsetzen. meinschaftsaufgabe zur Förderung der regionalen Wirt- schaftsstruktur sollten zu einem Instrument der direkten Wir haben uns in der Koalitionsvereinbarung vom Förderung zusammengeführt werden. Die Zulage oder 16. Oktober 2002 verpflichtet, den europäischen Eini- direkte Förderung muss stärker mit der Schaffung von gungsprozess weiter voranzutreiben und die Erweiterung Arbeitsplätzen verknüpft werden. Sie muss mit der künf- und Vertiefung der Europäischen Union in den Mittel- (B) tigen, ab 2007 wirksamen Strukturfondsförderung der punkt unserer Europapolitik zu stellen. Für Deutschland (D) EU harmonieren. bieten sich durch den Erweiterungsprozess große Chan- cen. Uns geht es vor allem darum, die politische und Lassen Sie mich aber noch etwas zur Investitionszu- wirtschaftliche Teilung Europas auf Dauer zu überwin- lage für Modernisierungsmaßnahmen bei Mietwohnun- den und stabile Rahmenbedingungen für Frieden und gen in Ostdeutschland sagen. Diese sind mit dem Stadt- Freiheit, Wohlstand und Solidarität zu schaffen. umbauprogramm ab 2002 für die Altbausanierung und die Denkmalsanierung in Kern-, Sanierungs- und Er- Insbesondere für die ostdeutschen Bundesländer wird haltungsgebieten auf 22 Prozent für Baukosten bis zu die Erweiterung der Europäischen Union zum 1. Mai 1200Euro/m2 erhöht worden. Derzeit lassen das Fi- 2004 tief greifende Veränderungen mit sich bringen. Die nanz- und das Bauministerium gemeinsam eine Wir- neuen Bundesländer werden aus ihrer europäischen kungsanalyse über die Effekte der baubezogenen Inves- Randlage in das Zentrum des großen europäischen Bin- titionszulage erstellen. Die Ergebnisse werden im April nenmarktes rücken. Daraus erwachsen enorme Chancen vorliegen. Ich sehe die Abkoppelung der rein gewerbli- für deren wirtschaftliche Entwicklung. Diese Chance chen) Zulage von der baulichen mit großer Sorge. Als müssen wir ergreifen, damit sich die Entwicklungsrück- Haushälterin weiß ich auch, dass wir jeden Euro umdre- stände Ostdeutschlands weiter verringern und eine selbst hen müssen. Im Interesse der Stärkung der Innenstädte tragende wirtschaftliche Entwicklung in Gang kommt. halte ich das Instrument aber auch in den nächsten Jah- Und das ist auch im Interesse ganz Deutschlands. ren für sehr wichtig. Die bauliche Investitionszulage ist Ostdeutschland hat das Potenzial, sich zu einer wett- wesentlich sinnvoller als die Eigenheimzulage in der bewerbsfähigen Wirtschaftsregion in Europa zu ent- Form, wie sie im Dezember im Vermittlungsausschuss wickeln. Diese Potenziale müssen wir konsequent nut- beschlossen wurde. zen und ausbauen. Nach der EU-Osterweiterung wird Die Eigenheimzulage stellt jetzt zwar Bestand und sich unser EU-Binnenmarkt nicht nur um 110 Millionen Neubau gleich. Sie enthält als Bestandsförderung aber neue Konsumenten erweitern, wir werden vor allem keine Investitionsbindung. Gefördert wird auch der reine auch kulturell dazugewinnen. Doch die Integration der Bestandserwerb, und das an jedem beliebigen Standort. neuen EU-Mitgliedsländer ist kein Automatismus. Wir sind aufgefordert, den interkulturellen Dialog der Bürge- Ich meine, hier müssen wir wieder ran. Es kann nicht rinnen und Bürger, der Unternehmer und der Wissen- das letzte Wort in Sachen Eigenheimzulage gesprochen schaftler tatkräftig zu fördern. Und sicherlich müssen worden sein. Die Bauinvestitionsförderung muss kon- wir auch dafür Sorge tragen, dass Vorurteile abgebaut zentriert werden auf die Eigenheimbildung in Innenstäd- werden. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2004 7863

(A) Deutschland ist schon heute einer der wichtigsten Es handelt sich also aus meiner Sicht um wirklich (C) Partner der mittel- und osteuropäischen Beitrittsländer, ausgezeichnete und kreative Konzeptionen. Und wir ob in wirtschaftlicher oder in kultureller Sicht. Und ge- sollten großen Wert darauf legen, dass die Verhandlun- rade die ostdeutschen Bundesländer werden durch ihre gen mit den Bewerberländern ernsthaft und fair geführt geographische Nähe in besonderem Maße von der Er- werden. Es ist wichtig, sorgfältig das Für und Wider ge- weiterung profitieren, wenn wir diese auch als Chance geneinander abzuwägen. Dieses offene Verfahren findet begreifen. im Übrigen auch die ausdrückliche Unterstützung mei- ner Fraktion, zumal es sich um sehr unterschiedliche Um die Entwicklung Ostdeutschlands hin zu einer Konzeptionen handelt. Es ist nachvollziehbar und rich- europäischen Verbindungsregion in besonderem Maße tig, diese Entscheidung nicht auf die leichte Schulter zu zu unterstützen, haben wir im Koalitionsvertrag den nehmen. Aufbau eines Osteuropazentrums für Wirtschaft und Kultur mit Sitz in einem der neuen Bundesländer verein- Das Ziel muss eine tragfähige und dauerhafte Lösung bart. Diese Entscheidung nehmen wir sehr ernst; denn sein. Das sage ich auch angesichts der umfangreichen wir wollen die bereits bestehenden Kompetenzen in den Finanzierung des Osteuropazentrums. Schließlich müs- Bereichen Wirtschaft, Kultur und Wissenschaft in einer sen für den Aufbau und die Arbeit des Osteuropa- solchen Einrichtung bündeln und damit „Ostdeutsch- zentrums auch die entsprechenden finanziellen Mittel land“ mit seiner besonderen Mittel- und Osteuropakom- zur Verfügung gestellt werden, vom Bund und dem Sitz- petenz stärken. Ich finde, die Entscheidung für den Sitz land. des Osteuropazentrums in den neuen Bundesländern ist Doch gleichzeitig möchte ich an dieser Stelle auch ein wichtiges Signal. mit Nachdruck deutlich machen, dass der Prozess jetzt Bereits heute gibt es zahlreiche Kooperationen zwi- zügig zum Abschluss gebracht werden muss. Die Zeit schen Kammern und Verbänden, Gebietskörperschaften drängt, denn der Termin der EU-Osterweiterung am und Kommunen, Hochschulen und Forschungseinrich- 1. Mai 2004 steht unmittelbar vor der Tür. Wir müssen tungen beiderseits von Oder und Neiße. Doch erst mit jetzt dafür sorgen, dass das Osteuropazentrum seine dem Osteuropazentrum als Kommunikations-, Informa- wichtige Arbeit bald aufnehmen kann. Dabei sind wir tions- und Koordinationsplattform können die vorhan- auf dem richtigen Weg. Intensive Gespräche zwischen denen Aktivitäten aufgegriffen, ausgebaut und weiter dem Bund und den Bewerberländern haben stattgefun- verstärkt werden. Das Osteuropazentrum soll eine An- den, die konzeptionelle Arbeit ist getan. Jetzt muss das laufstelle für all diejenigen sein, die Informationen dafür erforderliche Geld bereitgestellt werden, um die brauchen, ein Ort der Begegnung und des kulturellen Koalitionsvereinbarung mit Leben zu erfüllen. (B) Austauschs. Wir wollen mit dem Osteuropazentrum vor Wo Menschen grenzüberschreitend zusammenarbei- (D) allem Kooperationsformen und Netzwerke gezielt för- ten, da findet Begegnung statt, da werden Berüh- dern und dazu mit den bereits bestehenden Einrichtun- rungsängste abgebaut und da wird letztlich die Teilung gen eng kooperieren. Europas in Ost und West überwunden. Wenn es dem Gerade für die kleine und mittelständische Wirtschaft Osteuropazentrum gelingt, beispielsweise die Zusam- in Ostdeutschland ist die Kooperation mit Wissenschaft menarbeit der ostdeutschen Wissenschafts- und For- und Forschung auch in Richtung Osteuropa von existen- schungseinrichtungen zu unterstützen, wenn es gelingt, zieller Notwendigkeit, um ihre Innovationsfähigkeit zu junge Forscherinnen und Forscher aus Mittel- und Ost- erhöhen. Es ist daher auch eine wichtige Aufgabe des europa zusammenzubringen, dann wird von diesem Zen- Osteuropazentrums, solche Netzwerke und Initiativen zu trum ein wichtiger Impuls insbesondere für die ostdeut- unterstützen. sche Entwicklung ausgehen. Nun zum Sachstand: Vier ostdeutsche Bundesländer Die Osterweiterung der Europäischen Union steht für haben ihr Interesse als Sitzland für das Osteuropazen- die Überwindung der Teilung Europas. Den Ostdeut- trum bekundet und umfangreiche konzeptionelle Vor- schen kommt aufgrund ihrer besonderen Erfahrungen stellungen eingereicht. Im Rennen sind noch die beiden bei diesem Prozess eine Schlüsselstellung zu. Jetzt Standorte Leipzig – Sachsen – und Frankfurt/Oder, kommt es darauf an, die aus dem Prozess der europäi- Brandenburg. Beide Bewerbungen zeichnen sich da- schen Integration erwachsenden Chancen aktiv wahrzu- durch aus, dass die Anbindung an die bestehenden nehmen und sich den neuen Herausforderungen zu stel- Hochschulstrukturen gegeben ist. Leipzig kann bereits len. auf eine große Anzahl an Kooperationspartnern zurück- greifen. Das Sitzland Sachsen grenzt zudem sowohl an Michael Kretschmer (CDU/CSU): Mit großer Be- Polen als auch an Tschechien. Und Leipzig als Messe- geisterung habe ich seinerzeit die Idee zur Gründung ei- stadt hat bereits umfangreiche wirtschaftliche und kul- nes „Osteuropazentrums für Wirtschaft und Kultur“ in turelle Erfahrungen mit Partnern aus Mittel- und Ihrem Koalitionsvertrag gelesen. Die Initiative von Mi- Osteuropa. Aber auch Frankfurt/Oder hat ein sehr über- nister Stolpe habe ich damals als ganz hervorragenden zeugendes und schlüssiges Konzept vorgelegt, in dem Ansatz für ein konkretes Projekt verstanden, mit dem auf zahlreiche Partner und viel Kooperationserfahrung wir uns auf die Erweiterung der Europäischen Union mit den mittel- und osteuropäischen Staaten verwiesen vorbereiten und unseren Nachbarn zeigen, wie wichtig wird, insbesondere auf die historischen Beziehungen in uns die Verbindung mit ihnen ist. Ich war der Meinung, das polnische Nachbarland hinein. dass der Bundesverkehrsminister schon aufgrund seiner 7864 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2004

(A) Herkunft erkannt hat: Dieser Prozess wird kein Spazier- Am 20. August 2003 hieß es dann in einer Pressemit- (C) gang. Und so sehr wir uns über den Beitritt unserer teilung von Staatssekretär Braune: „Die vorbereitenden Nachbarn auch freuen, wir müssen uns noch stärker vor- Arbeiten der Bundesregierung zur Errichtung eines Ost- bereiten und die grenzüberschreitende Zusammenarbeit europazentrums für Wirtschaft und Kultur sind bereits von deutscher Seite intensivieren. weit vorangeschritten.“ Ziel sei es, durch den Aufbau dieses Zentrums die Entwicklung Ostdeutschlands zu ei- Seit einem Jahr verfolgen wir Ihre Arbeit an diesem ner europäischen Verbindungsregion zu unterstützen. Thema. Vier Städte hatten sich als Standort für das ge- Die Bundesregierung wolle die endgültige Entscheidung plante Zentrum beim Bundesverkehrsministerium be- über einen Standort noch im Herbst 2003 treffen. worben. Neben Berlin und Greifswald haben Frankfurt/ Oder sowie Leipzig gute Ideen und überzeugende Kon- Und Ende September, diesmal schrieb wieder Frau zepte eingereicht. Staatssekretärin Gleicke: „Mit Blick auf die anstehende Osterweiterung der Europäischen Union hat die Bundes- Doch unsere Neugier und Begeisterung sind längst regierung beschlossen, ein Osteuropazentrum für Wirt- gewichen, Ernüchterung ist eingekehrt. Berlin und schaft und Kultur einzurichten. Dieses soll als Schnitt- Greifswald sind bei einem Bewertungsverfahren ausge- stelle fungieren und als solche die Information, schieden – wieso, ist nicht nur den beiden Bewerbern Koordination und Kommunikation übernehmen und aus- unbekannt. bauen. Das Zentrum soll als Netzwerk in den Themen- feldern Wirtschaft, Kultur und Wissenschaft Motor und So bedenklich, wie sich das ganze Verfahren seit bei- Dienstleister zugleich sein.“ nahe einem Jahr hinzieht, war bereits die Ausschreibung, wenn man die überhaupt so nennen kann. Denn eine of- Die Vorstellungen der Bundesregierung sind seit Fe- fizielle Ausschreibung hat es nie gegeben. Am bruar 2003 kein bisschen konkreter geworden. Es geht 9. Januar 2003 erklärte der ehemalige Staatssekretär um „Vernetzung“, hören wir, um eine Verbindungs- Gerd Harms in der „Lausitzer Rundschau“, er erarbeite region Ost. Was sich aber genau hinter den Begriffen und koordiniere im Auftrag des Landes Brandenburg ein verbirgt, welche konkreten Aufgaben dieses Osteuropa- Konzept für ein „Osteuropazentrum für Wirtschaft und zentrum übernehmen soll, wie es sich von bereits beste- Kultur“. Erst nachdem auch andere Bundesländer Inte- henden Einrichtungen unterscheidet, das ist ganz offen- resse an der Ansiedlung eines solchen Zentrums geäu- bar dem Stolpe-Ministerium selbst nicht klar. ßert und sich dafür beworben hatten, wurden die vier So ist dann wohl auch zu erklären, warum eine Stand- Landesregierungen, aus denen zwischenzeitlich Interes- ortentscheidung für Herbst 2003 zwar angekündigt, aber senbekundungen vorlagen, im März aufgefordert, Kon- nicht eingehalten worden ist. Und so erklärt sich auch, (B) zepte einzureichen. warum eine Gründung zwar geplant, aber kein Titel im (D) Haushalt 2004 dafür vorgesehen ist. Doch statt klare Vorgaben zu machen, las sich die Aufforderung ungefähr so: Sagt mir mal, was so ein Die Bundesregierung hat kein Konzept und diesen Zentrum machen könnte, was das kosten würde und wie Mangel versteckt sie auch noch schlecht. Es wird staats- viel ihr als Bundesland dazuzugeben bereit seid. Wir tragend angekündigt, „die Bundesregierung will“, „die schauen dann mal, was sich dann daraus machen lässt. – Bundesregierung macht“. Aber was sie denn genau will, Das ist nicht unbedingt ein übliches Verfahren und vor wie sie es macht und von welchem Geld sie es bezahlt, allem keines, das Vertrauen schafft. ist ihr eben ganz und gar nicht klar. Klar ist hingegen, dass die Bundesregierung die Osteuropaforschung sträf- Außer Willensbekundungen ist in der Zwischenzeit lich vernachlässigt hat. Statt mit Blick auf die Osterwei- nicht viel passiert. „Die inhaltliche Aufgabenstellung terung mehr Mittel zur Verfügung zu stellen, hat die des Osteuropazentrums und seine Organisationsstruktur Bundesregierung seit 1998 die Ausgaben kontinuierlich bedingen einander. Die Bundesregierung befindet sich zurückgefahren: Flossen 1998 noch 11 Millionen Euro hierzu noch in der Abstimmungs- und Planungsphase, in die Osteuropaforschung, waren es 2002 hingegen nur sodass zum jetzigen Zeitpunkt noch keine Aussagen ge- noch 7 Millionen Euro. Eine Vernetzung der vielen Ak- troffen werden können. Eine Entscheidung über den teure, die in Deutschland um die Zusammenarbeit mit Standort wird erst zum Abschluss der Überlegungen ge- Mittel- und Osteuropa bemüht sind, ist ihr bis heute troffen werden“. Das war die Antwort von Frau Staatsse- nicht gelungen. Hinter dem, was die Bundesregierung kretärin Mertens aus dem Bundesverkehrsministerium vorbereitend auf die Osterweiterung hätte tun müssen, am 12. Februar 2003. ist sie weit zurückgeblieben. Daran ändert auch der Wille nichts, ein „Osteuropazentrum für Wirtschaft und Drei Monate später, im Mai, schrieb uns Frau Staats- Kultur“ zu errichten. Bereits der Planungsbeginn er- sekretärin Gleicke, das Zentrum solle in Kooperation mit folgte zu einem sehr späten Zeitpunkt. Doch in den ver- Einrichtungen der Wirtschaft, kulturellen Vereinigungen gangenen Monaten ist immer mehr die Frage zu stellen, und nicht zuletzt wissenschaftlichen Institutionen zur wie ernst es der Bundesregierung und Herrn Minister Stärkung der Beziehungen Deutschlands mit den mittel- Stolpe mit dem Osteuropazentrum ist. osteuropäischen Staaten beitragen. „Die Aufgabe des Zentrums liegt primär also in der Vernetzung und Ver- Aus meiner Sicht darf es vor allem angesichts der lee- mittlung bestehender Aktivitäten an Dritte, ohne diese ren Kassen keine Doppelung mit bestehenden Einrich- Aktivitäten zu doppeln oder dazu in Konkurrenz zu tre- tungen geben. Das Leistungsspektrum in diesem Bereich ten.“ ist reichhaltig. Es gibt thematisch nur wenige Lücken. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2004 7865

(A) Das Problem ist vielmehr das von der Regierung über birgt auch Ängste und Risiken für Deutschland in sich. (C) Jahre hinweg reduzierte Budget an Projektmitteln. Über Das ist keine revolutionäre Erkenntnis, das ist eine Tat- 1 000 Menschen arbeiten in der Osteuropaforschung. sache. Kammern und Verbände, kommerzielle Wirtschaftsbera- tungen und gemeinnützige Vereine organisieren einen Deutschland ist bereits jetzt innerhalb der EU der beispiellosen Informationsaustausch. Die bestehenden wichtigste Handelspartner für die Beitrittsländer. Zwi- Einrichtungen müssen in neue Konzepte eingebunden schen 1994 und 2001 nahm die Wareneinfuhr um werden, weil sich die Institute nicht gegenseitig Konkur- 178 Prozent zu, die Warenausfuhr um 171 Prozent. renz machen, sondern sich ergänzen und Lücken schlie- Haupthandelspartner sind Polen, Tschechien und Un- garn. Das heißt, dass sich ungeachtet der weltweiten ßen sollen. Wirtschaftsflaute die wirtschaftlichen Beziehungen mit Aus meiner Sicht ist deshalb im Hinblick auf die Neu- den mittel- und osteuropäischen Ländern äußerst dyna- gründung des „Osteuropazentrums für Wirtschaft und misch entwickeln. Somit hat hinsichtlich der Im- und Kultur“ vor allem eine Aufstockung der Projektmittel er- Exporte der Beitritt längst stattgefunden. forderlich. Die oft zitierte mangelnde Vernetzung der Problematisch ist das allerdings für viele ostdeutsche verschiedenen Institutionen wird meines Erachtens über- Firmen. Sie befinden sich zwar in räumlicher Nähe zu trieben. Allerdings existiert bis heute nicht eine einzige den Beitrittsländern, werden aber bereits jetzt aufgrund wissenschaftlich fundierte Bedarfsanalyse zu so einem ihres generellen Wettbewerbsrückstandes von der Kon- Zentrum! kurrenz aus den Altbundesländern abgedrängt. Zudem Die Notwendigkeit vorausgesetzt, macht eine Koordi- wird vielen Mittelständlern angesichts des verschärften nationsstelle ohne Projektmittel aus meiner Sicht keinen Wettbewerbs mit einem gewaltigen Lohngefälle sowie Sinn. Ihre Überlegungen, so ein Zentrum mit einem Jah- veränderten Absatz-, Beschaffungs- und Arbeitsmärkten resbudget von 1,5 Millionen Euro zu führen, wovon angst und bange. Gerade in den ostdeutschen Gegenden 1,2 Millionen allein für Personal- und Verwaltungsaus- wächst die Furcht vor der Billiglohnkonkurrenz aus Mit- gaben gebunden und lediglich 300 000 Euro für freie tel- und Osteuropa. So macht beispielsweise das polni- Projektmittel veranschlagt sind, kann doch nicht Ihr sche Durchschnittseinkommen nur etwa ein Drittel der ostdeutschen Löhne und Gehälter aus. Ernst sein! Damit konstruieren Sie allerhöchstens ein Callcenter, das nun wirklich niemand braucht. Um solche Fehlentwicklungen und Schwächen insbe- sondere für unsere ostdeutschen Bundesländer abzufedern Eine Relation „1 Million für Personal und 4 Millionen oder abzubauen, bedarf es vor allem einer zielgenauen Euro für Projekte“ wäre dagegen ein substanzieller Bei- und konsequenten Förderung von grenzüberschreitenden trag für die EU-Erweiterung und die Osteuropafor- (B) Kooperationen auf lokaler und regionaler Ebene sowie (D) schung in Deutschland. der Unterstützung entsprechender Institutionen und ge- Und es gibt in der Tat noch einige lohnende Aufga- meinsamer Lernprozesse. Denn unsere ostdeutschen Re- ben, deren sich eine solche Einrichtung annehmen gionen – betroffen sind besonders die Länder Mecklen- könnte. So gibt es beispielsweise erheblichen Bedarf an burg-Vorpommern, Brandenburg und Sachsen – sollen Lexika, an Handbüchern, Atlanten und Enzyklopädien in sich zu einer leistungsfähigen europäischen Verbin- der Osteuropaforschung. Ein Osteuropazentrum könnte dungsregion entwickeln. die Forschung und Publizierung anregen, koordinieren Dazu ist eine wissenschaftliche, qualitativ hochwer- und mit Projektmitteln finanzieren. Denkbar ist auch ein tige Beratung und Unterstützung notwendig. Dies ist nur Verzeichnis der kulturellen Leuchttürme in Ost- und durch eine Institution möglich, die selbst wissenschaft- Mitteleuropa. Für die neuen Bundesländer gibt so etwas lich arbeitet. Ziel muss sein, bestimmte grenzüberschrei- schon, ein Blaubuch, das nicht nur die kulturelle Bedeu- tende Handlungsfelder so konsequent zu koordinieren, tung etwa der Wörlitzer Gärten belegt, sondern auch dass eine gemeinsame Dienstleistungsgesellschaft – für Auskunft gibt über ihren Zustand und etwaigen Finanz- Unternehmen und Kultureinrichtungen – erreicht wird. bedarf. Handlungsfelder könnten sein: die Stärkung und Ein Novum wäre beispielsweise auch die Initiierung Erweiterung vorhandener deutschosteuropäischer Unter- eines europäischen Geschichtslexikons, in dem tatsäch- nehmensnetzwerke, der Aufbau von Kooperationsbezie- lich in den verschiedenen Sprachen zu ein- und demsel- hungen zwischen deutschen und osteuropäischen Messe- bem Sachverhalt identische Beschreibungen und Ein- standorten, die Entwicklung touristischer Themenrouten schätzungen vermerkt sind. Ein solches gemeinsames und die Intensivierung der Zusammenarbeit zwischen Lexikon wäre nicht nur eine lohnende Aufgabe für ein Akteuren auf dem Tourismussektor, ein Standortmarke- Osteuropazentrum. Es wäre auch ein Symbol für das ting und eine gemeinsame Vermarktung von Großvorha- neue Europa, das solche verbindenden Elemente drin- ben mit überregionaler Bedeutung, Hochschulkoopera- gend braucht. tionen und die Verknüpfung kultureller Angebote. Zudem könnte durch die Förderung der Zusammenarbeit regionaler Akteure die Innovationsfähigkeit und Wirt- Werner Kuhn (Zingst) (CDU/CSU): Mit der anste- schaftskraft der Grenzregionen gestärkt werden. henden Erweiterung der Europäischen Union bietet sich eine weitere Chance, die Teilung Europas zu überwinden Um den Unternehmen und Kultureinrichtungen den und gleichzeitig schrittweise das Wohlstandsgefälle zwi- aktuellen wissenschaftlichen Stand und eine qualifi- schen Ost und West zu verringern. Doch die Erweiterung zierte, hochwertige Beratung anbieten zu können, ist das 7866 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2004

(A) Vorhalten eigener wissenschaftlicher Kompetenz unaus- pas zugehörig gefühlt haben und dies hatte sich auch (C) weichlich. Daher ist es ausgesprochen zu begrüßen, dass während der Jahre 1945 bis 1989 nicht geändert. Daher es künftig nach dem Willen der Bundesregierung ein die halte ich die Verwendung der Bezeichnung „Mittelosteu- vielfältige Osteuropaforschung in Deutschland koordi- ropazentrum“ für angemessener und historisch korrekter. nierendes Osteuropainstitut für Wirtschaft und Kultur geben soll. Wir reden also heute über die geplante Einrichtung eines Mittelosteuropazentrums für Wirtschaft und Kul- Doch der Wille allein reicht nicht. Es fehlt an Umset- tur, das gemäß des Koalitionsvertrages in dieser Wahl- zung. Inzwischen muss man an der Ernsthaftigkeit periode eingerichtet werden sollte. Im vergangenen Jahr dieses Vorhabens wohl zweifeln, schaut man auf das traf sich hierzu mehrfach eine Arbeitsgruppe aus Vertre- halbherzige und inkonsequente Vorgehen der Bundesre- tern der Koalitionsfraktionen, um eine Konzeption zu er- gierung. arbeiten, die im September 2003 in ein gemeinsames Pa- Bis heute gibt es keine Standortentscheidung. Greifs- pier mündete. wald, Berlin, Frankfurt/Oder und Leipzig hatten sich be- Ich gebe zu, dass ich heute glücklicher wäre, wenn worben. Frankfurt und Leipzig kämen offenbar in die wir die Einrichtung des Mittelosteuropazentrums bereits engere Wahl, hieß es in einer Mitteilung des Dresdner in diesem Jahr feiern könnten, zumal wir am 1. Mai Wirtschaftsministeriums aus dem letzten Jahr. 2004 die neuen Mitgliedsstaaten in der EU begrüßen Das Profil eines solchen Zentrums ist nicht klar. werden. Zu meinem Bedauern ließ sich jedoch eine fi- nanzielle Absicherung im Haushalt 2004 nicht realisie- Finanzielle Mittel für ein Osteuropazentrum fehlen ren. Es scheint bis heute offensichtlich ein schwieriges im Bundeshaushalt 2004. Problem darzustellen, das „Mittelosteuropazentrum“ ei- Das ist bedauerlich. Damit hat die Bundesregierung nem eindeutigen Haushaltstitel zuordnen zu können. bereits jetzt ihre Chance vertan, die vielen um Zusam- So wandert es schon seit einiger Zeit als „ungeliebtes menarbeit mit Osteuropa bemühten Akteure zu vernet- Kind“ zwischen den Ressorts hin und her. Für mich ge- zen, um auf diese Weise einen entscheidenden Beitrag hört es als Querschnittsaufgabe weder zum Bundesmi- zur Vorbereitung Deutschlands sowie der Beitrittsländer nisterium für Wirtschaft und Arbeit noch zum Bundes- auf den Prozess der Osterweiterung zu leisten. ministerium für Bildung und Forschung, sondern in den Wir fordern die Bundesregierung auf, zu erklären, Verantwortungsbereich des Bundesministers für Ver- welche Aufgaben sie für eine nachhaltige Entwicklung kehr, Bau- und Wohnungswesen, wo auch die Unterab- der Osterweiterung als wesentlich erachtet und welchen teilung „Aufbau Ost“ angesiedelt ist. Beitrag das zu gründende Osteuropazentrum leisten soll. Auch die CDU/CSU war sich offensichtlich noch (B) (D) Weiterhin soll die Bundesregierung darlegen, wie dieses nicht einig, denn noch vorletzte Woche erklärte sie den Institut in das bestehende Netzwerk der Osteuropafor- Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen- schung einbezogen werden und welches Alleinstellungs- abschätzung als federführend. Jetzt ist das „Mittelosteu- merkmal es haben soll. Schließlich fordern wir, für eine ropazentrum“ wieder beim Ausschuss für Verkehr, Bau- solide Finanzierung zu sorgen. und Wohnungswesen angekommen und hier soll es nach Dazu gehört auch, der in Deutschland etablierten Ost- meiner Ansicht auch bleiben. europaforschung endlich den nötigen Respekt entgegen- Die EU-Osterweiterung stellt eine große Herausfor- zubringen. Doch auch hier – wie in allen anderen derung für unser Land und die neuen Bundesländer dar. Forschungsbereichen – zeichnen sich Auswirkungen der Denn ab dem 1. Mai 2004 sind wir schlagartig nicht finanziellen Kürzungen ab. Stellen werden gestrichen mehr Grenzregion, sondern eine entscheidende Verbin- oder nicht mehr besetzt, und Instituten droht die Schlie- dungsregion zu bedeutenden Wirtschafts- und Kultur- ßung. regionen. Dies wird zu erheblichen strukturellen Ände- Damit missachtet die Bundesregierung nicht nur die rungen führen, denen wir uns stellen müssen und wissenschaftliche Leistung ihrer Akteure. Viel verhee- werden. render ist, dass sie mit ihrer Vorgehensweise den Aufbau Ich betrachte die EU-Osterweiterung als eine Chance von Kooperationsbeziehungen, von Netzwerken und für die neuen Bundesländer, ihre vorhandenen langjähri- führenden Positionen im jeweiligen Fachgebiet gefähr- gen Kompetenzen und Kontakte zu aktivieren und aus- det oder gar nicht erst zulässt. zubauen und diese Vorteile in großem Umfang für sich In weniger als 100 Tagen ist die EU-Osterweiterung zu nutzen. Und um diesen Prozess der Kooperationen praktische Realität. Bringen wir das längst beschlossene und der Entwicklung von Netzwerken zu begleiten und Osteuropazentrum doch bis dahin zumindest endlich auf zu unterstützen, soll das „Mittelosteuropazentrum“ eta- den Weg! Wir sollten keine Zeit mehr verlieren. bliert werden. Das Zentrum soll in Zusammarbeit mit ökologisch Peter Hettlich (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Zu- verantwortungsbewusst handelnden Einrichtungen der nächst möchte ich eine Erweiterung des Namens „Osteu- Wirtschaft, mit kulturellen Vereinigungen und wissen- ropazentrum“ vorschlagen: Ich erinnere daran, dass sich schaftlichen Institutionen zur Stärkung der deutschen einige der Beitrittsstaaten, die ab dem 1. Mai 2004 zum Beziehungen zu den Staaten Mittel- und Osteuropas bei- Europa der 25 gehören werden, wie zum Beispiel Polen tragen. Damit wollen wir die Wissenschaftslandschaft oder die Tschechische Republik, immer der Mitte Euro- Ostdeutschland mit ihren Kompetenzen stärken und der Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2004 7867

(A) regionalen und lokalen Wirtschaft den Zugang zu den Verfahrens zu machen? Oder hatte der Bundeskanzler (C) Märkten des Erweiterungsraumes erleichtern. sich von vornherein darauf verlassen, dass auch dieses Vorhaben im sprichwörtlichen Sinn „in den märkischen Anderseits soll es auch den Beitrittsstaaten als eine Sand“ gesetzt werden sollte? Anlaufstelle dienen, in der die ostdeutschen Erfahrungen mit den europäischen Strukturen und Kompetenzen er- Aus meiner Sicht ist es jedoch an der Zeit, dass die fahren und weitergegeben werden können. Wir wollen, Bundesregierung Antworten auf die im vorliegenden dass das „Mittelosteuropazentrum“ die Entwicklung ei- Antrag formulierten Fragen gibt und vor allem diese nes gemeinsamen Wirtschafts- und Kulturraum fördert dann auch als Leitlinien ihres Handelns versteht. Es ist und in dessen Fortentwicklung begleitet. Dabei soll es unverantwortlich gegenüber allen, die in der Osteuropa- Aktivitäten und Informationen bestehender Institute und forschung tätig sind, und auch gegenüber allen, die von wissenschaftlicher Einrichtungen bündeln und als An- den Fragestellungen unmittelbar betroffen sind, in dieser lauf- und Austauschstelle allen Interessierten offen ste- Frage keine Stellung zu beziehen. hen. Wie stellt sich die Bundesregierung die Finanzierung Dass an der Einrichtung eines „Mittelosteuropazen- vor? Warum sind in den Haushaltsplan 2004 keine Mittel trums“ großes Interesse besteht, zeigen die kompetenten eingestellt? Soll das Osteuropazentrum vollständig vom Bewerbungen der Standorte Greifswald, Frankfurt/Oder, Bund getragen werden oder gibt es weitere Träger? Soll Berlin oder Leipzig. Die Überlegungen und Vorschläge sich das Sitzland mit an der Finanzierung beteiligen? sind von hoher Qualität und fließen mit in unsere Kon- Dies alles sind Fragen, die eigentlich schon in einer Aus- zeption ein, wie es zu einem attraktiven Anlauf- und schreibung – die es niemals gab – hätten geklärt werden Knotenpunkt entwickelt werden kann. müssen. Ich hatte das schon im Bildungs- und For- schungsausschuss kritisiert. Auch wenn es noch keine Entscheidungen bezüglich eines Standortes gibt, so möchte ich an dieser Stelle mei- Die FDP fordert, dass – nachdem wir heute über das nem Wunsch Ausdruck verleihen, dass die besondere Osteuropazentrum im Parlament sprechen – diese Fra- Kompetenz und die besonderen Verdienste der Stadt gen erneut im Ausschuss für Bildung, Forschung und Frankfurt/Oder bei der Verwirklichung europäischer Technikfolgenabschätzung auf die Tagesordnung gesetzt Ideale Berücksichtigung finden mögen. In dieser Stadt werden, spätestens dann, wenn die Antworten der Bun- ist nicht erst seit heute konkret erlebbar, wie eine frucht- desregierung vorliegen. Aber auch schon zuvor sollte bare Zusammenarbeit zwischen dem „alten“ Europa und der Ausschuss durch den Staatssekretär, Kollegen dem „neuen“ Europa der 25 aussehen kann. Matschie, über die aufgeworfenen Fragen unterrichtet werden. Was ist denn der aktuelle Stand des Auswahl- (B) Darauf freue ich mich und daher werde ich mich mit verfahrens? Ist es richtig, dass zwei der Bewerber aufge- (D) meinen Kolleginnen und Kollegen dafür einsetzen, dass fordert worden sind, ihre Konzepte zu überarbeiten? Wer das Kind „Mittelosteuropazentrum“ einerseits geliebt trifft die Entscheidung, welches das bessere ist? Ich und andererseits im Haushalt 2005 seinen festen Platz empfinde es als ungeheuerlich, wie intransparent und finden wird. fern ab jeder parlamentarischen Mitgestaltung die ange- kündigte Errichtung des Osteuropazentrums vor sich Cornelia Pieper (FDP): Die FDP stimmt dem vor- geht. liegenden Antrag zu. Wir unterstützen ausdrücklich die Absicht der Bundesregierung, ein Osteuropazentrum für Der Osteuropaforschung kommt mit der EU-Oster- Wirtschaft und Kultur aufzubauen und in einem der weiterung eine große Bedeutung zu. Deutschland und neuen Bundesländer anzusiedeln. insbesondere die ostdeutschen Bundesländer nehmen hierbei eine besondere Brückenfunktion ein, mit der wir Leider ist es jedoch nur die Absicht, die unterstüt- verantwortungsvoll umgehen müssen. Wir hoffen, dass zenswert ist, nicht aber die Umsetzung. Das bisherige wir demnächst inhaltlich darüber diskutieren können, Vorgehen der Bundesregierung in dieser Sache ist bei- welchen Beitrag ein Osteuropazentrum für Wissenschaft spielhaft für die Ankündigungspolitik von Rot-Grün. und Kultur bei dieser wichtigen Aufgabe leisten kann. Erst werden die großen – und manchmal ja auch richti- Es ist unerlässlich, dass dieser Prozess mit höchstmögli- gen und vernünftigen Ziele – verkündet und dann ge- cher Klarheit und Transparenz vor sich geht. schieht nichts. Oder die Verantwortlichkeit wird erst ein- mal an eine andere Stelle delegiert – in diesem Falle auf Iris Gleicke, Parl. Staatssekretärin beim Bundes- besonders unverständliche, ja fast schon kuriose Weise: ministerium für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen: Die Wer sich um das Osteuropazentrum bewerben wollte, Regierungsparteien haben im Koalitionsvertrag vom musste selber sagen, welche Aufgaben es erfüllen solle, Herbst 2002 die Bundesregierung mit dem Aufbau eines wie es zu finanzieren sei und welche Struktur es haben „Osteuropazentrums für Wirtschaft und Kultur“ beauf- könne. Mittlerweile liegen vier Bewerbungen vor und tragt. Diese Aufgabe wurde federführend beim Bundes- die Bundesregierung ist – entgegen Ihrer Ankündung in minister für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen als der Antwort auf die Kleine Anfrage der CDU/CSU von Beauftragter der Bundesregierung für die neuen Bundes- Mai 2003 – nicht einmal in der Lage, das Verfahren wei- länder angesiedelt. ter zu betreuen und die notwendigen Entscheidungen zu treffen. Ich frage mich: Ist es überhaupt richtig gewesen, Wir sind uns der Bedeutung dieser Aufgabe bewusst. Herrn Bundesminister zum Herrn des Die Bundesregierung misst der Zusammenarbeit mit den 7868 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2004

(A) Staaten Mittel- und Osteuropas einen besonderen Stel- Gestatten Sie mir, Sie über den Stand des Verfahrens (C) lenwert bei. Mit der Überwindung der Teilung Europas zu informieren. Bereits Ende 2002 wurde in meinem hat Deutschland eine geostrategische Position als mit- Ministerium eine Definition des Anforderungsprofils an teleuropäisches Brückenland wiedergewonnen. Die ein zukünftiges Osteuropazentrum gestellt. Zugleich Integration der mittel- und osteuropäischen Beitrittskan- gingen aufgrund der Festlegung im Koalitionsvertrag didaten in die Europäische Union wird von der Bundes- Initiativbewerbungen des Freistaates Sachsen sowie der regierung nicht nur begrüßt, sondern aktiv begleitet. Länder Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern Gleichwohl ist nicht zu verkennen, dass die EU-Ost- und Berlin ein. Daraufhin wurden die Staatskanzleien erweiterung eine große Herausforderung insbesondere dieser Länder gebeten, ihre Vorstellungen bis Mitte für die ostdeutschen Bundesländer darstellt. Ostdeutsch- April zu präzisieren. Als Kriterien wurden die Aufga- land hat die Chance, sich zu einer europäischen Verbin- benstellung des Zentrums, seine Einordnung in den Kon- dungsregion fortzuentwickeln. Diesen Prozess hat die text bestehender nationaler Institutionen im Bereich der Bundesregierung in den vergangenen Jahren durch er- Zusammenarbeit mit den mittel- und osteuropäischen hebliche Investitionen in die Wirtschaftsförderung und Staaten, die Verknüpfung mit wissenschaftlichen Ein- beim Infrastrukturausbau intensiv befördert. richtungen innerhalb und außerhalb des Landes, Aufbau und Struktur des Zentrums und Finanzierung, insbeson- Ein Osteuropazentrum für Wirtschaft und Kultur soll dere Angaben zum Leistungsanteil des Bundeslandes gemeinsam mit wissenschaftlichen Institutionen, Ein- und des Sitzortes genannt. richtungen der Wirtschaft und kulturellen Vereinigungen zur Stärkung der deutschen Beziehungen zu den Staaten Ende April 2003 hat das BMVBW eine interministe- Mittel- und Osteuropas beitragen. rielle Arbeitsgruppe aus Bundeskanzleramt, Bundesbe- auftragtem für Kultur und Medien, Auswärtigem Amt, Mit der Gründung des Zentrums soll der Netzwerkge- Bundesministerium für Finanzen, Bundesministerium danke zur Verknüpfung und Weiterentwicklung vorhan- für Wirtschaft und Arbeit und Bundesministerium für dener Aktivitäten aufgegriffen und unter den Stichwör- Bildung und Forschung zur Beratung der Länder-Präsen- tern Information, Kommunikation und Kooperation tationen eingeladen. Eine klare Präferenz wurde dabei umgesetzt werden. Die Aufgabenstellung setzt sich dem- noch nicht erkennbar. Daraufhin hat das BMVBW die zufolge aus der Vernetzung und Vermittlung bestehender Staatskanzleien Sachsen, Brandenburg, Mecklenburg- Aktivitäten an Dritte zusammen, ohne diese Aktivitäten Vorpommern sowie die Senatskanzlei Berlin um Nach- zu doppeln und in Konkurrenz zu treten. Das Osteuropa- besserung ihrer Konzepte gebeten. Zu diesen Vorschlä- zentrum soll als eigenständige Einrichtung etabliert wer- gen wurden ausgewählte Experten um Stellungnahme den. Die Finanzierung ist zwischen Bund, Land und gebeten. Diese waren die Leitungen der Deutschen Ge- (B) Sitzort anteilig zu vereinbaren. sellschaft für Osteuropakunde DGO, der Südosteuropa- (D) gesellschaft SOG, des Herder-Instituts Marburg, des Ost- Im Sinne der Information soll das Zentrum im Rah- West-Wissenschaftszentrums Kassel, des Instituts für men des auszuprägenden Netzwerkes über alle Informa- Regionalentwicklung und Strukturplanung Erkner, des tionen hinsichtlich der Kontakte zwischen Deutschland DIHK, des Bundesamts für Bauwesen und Raumpla- und den MOE-Staaten verfügen beziehungsweise diese nung, des Bundesinstituts für Kultur und Geschichte der vermitteln. Dazu bedarf es einer technischen Ausstat- Deutschen im östlichen Europa, der Bundesagentur für tung, die den Zugriff auf alle relevanten Datenbanken er- Außenwirtschaft und des Ostausschusses der deutschen möglicht und die Bereitschaft von deren Trägern, mit Wirtschaft. Durch Einbeziehung der genannten Institu- dem Zentrum zusammenzuarbeiten. Denkbar sind auch tionen haben wir deren Integration in Meinungsbildung vom Osteuropazentrum initiierte und koordinierte Infor- und Entscheidungsfindung sichergestellt. mationskampagnen beispielsweise zu den wirtschaftli- chen, sozialen und rechtlichen Folgen der EU-Osterwei- Das Ergebnis des 10-köpfigen Expertenkreises war terung. eine Priorisierung der Standorte Frankfurt/Oder und Leipzig. Eine zwischenzeitlich erfolgte interne Mei- Der Kommunikationsgedanke greift die Idee auf, das nungsbildung meines Hauses bestätigte die Priorisierung Osteuropazentrum als Zentrum der Begegnung zu eta- dieser beiden Standorte, ein Ergebnis, das in einer weite- blieren, um die im Bereich Mittel- und Osteuropa Tätigen ren Sitzung der interministeriellen Arbeitsgruppe weiter- aus dem In- und Ausland zusammenführen. Die Begeg- gegeben wurde. nung schließt Gedankenaustausch, Meinungsbildung, Projektarbeit sowie Politik- und Unternehmensberatung In einem Round-Table-Gespräch Anfang September in Form von Kolloquien, Seminaren, Workshops, Hea- 2003 wurde dieses Ergebnis mit den genannten Experten rings, Podiumsdiskussionen, wissenschaftlichen Arbei- vertieft. Daraufhin wurden die Staatskanzleien Branden- ten, Gutachten und Studien ein. burgs und Sachsens gebeten, Verhandlungspartner auf Arbeitsebene zu benennen. Zeitgleich wurde Berlin und Schließlich soll das Osteuropazentrum durch Koope- Mecklenburg-Vorpommern das Ergebnis der Vorauswahl ration Schnittstelle für Geschäftsanbahnungen und Kul- bekannt gegeben. In einer ersten getrennten Verhand- turaustausch sein. Dazu stellt es einen Kontaktraum für lungsrunde mit den Vertretern Brandenburgs und Sach- diejenigen dar, die einen oder mehrere Partner für Zu- sens wurden Konzept und Struktur des Zentrums erör- sammenarbeiten im wirtschaftlichen oder kulturellen tert, in einer weiteren Runde stand die Finanzierung im Bereich suchen. Mittelpunkt. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2004 7869

(A) Beide Länder wurden abermals zu einer schriftlichen Zur dringlichen Frage 2: (C) Präzisierung ihrer Vorstellungen aufgefordert. Hierzu ist Die Bundesregierung ist der Auffassung, dass Frau eventuell eine weitere Runde mit dem Expertenkreis ge- Dr. Engelen-Kefer ihre Aufgabe engagiert wahrnimmt plant. Das Ergebnis der Entscheidung wird dann veröf- und über ein hohes Maß an Sachkunde in arbeitsmarkt- fentlicht. In einem nächsten Schritt erfolgt die Berufung politischen Fragen verfügt. eines Gründungsbeauftragten. Das neue Zentrum wird in die bestehende Wissens- landschaft eingebunden. Mit Blick auf die Vielzahl und Anlage 8 thematische Breite der im Bereich Osteuropa tätigen Einrichtungen soll das Osteuropazentrum nicht als kon- Antwort kurrierende wissenschaftliche Einrichtung aufgestellt des Parl. Staatssekretärs Dr. Gerald Thalheim auf die werden. Vorhandene Kompetenzen bestehender Institute Fragen der Abgeordneten Ursula Heinen (CDU/CSU) sind für die Zusammenarbeit zu nutzen. Das Osteuropa- (Drucksache 15/2379, Fragen 1 und 2): zentrum ist explizit keine Forschungseinrichtung und Stimmen die Äußerungen im Artikel des „TAGESSPIE- soll auch nicht zu einem „Blaue-Liste-Institut“ ausge- GEL“ vom Dienstag, dem 20. Januar 2004 mit dem Titel baut werden. „Wirtschaft soll für dicke Kinder zahlen“, nach dem die Bun- desregierung die Einrichtung eines Fonds für dicke Kinder Es soll an der Schnittstelle zwischen Wirtschaft, Kul- plant? tur und Wissenschaft die Chancen der EU-Osterweite- Wenn ja, wer soll in diesen Fonds einzahlen, und wer soll rung für (Ost-)Deutschland aufspüren, Netzwerke mit über die Verwendung von Mitteln entscheiden? bestehenden Einrichtungen bilden und wirtschaftliche Zu Frage 1: und kulturelle Möglichkeiten der Kooperation ausloten. Es soll praktisch den Prozess der EU-Osterweiterung Übergewicht bei Kindern und Jugendlichen ist ein zu- konstruktiv begleiten, das bestehende Wissen und die nehmendes Problem in unserem Land. Inzwischen ist je- vorhandenen Kontakte bündeln und für die alltägliche des 5. Kind und jeder 3. Jugendliche übergewichtig, Arbeit der Praktiker aufbereiten. Es soll quasi als Ser- 7 bis 8 Prozent der Kinder sind sogar stark übergewich- viceeinrichtung für alle interessierten Ansprechpartner tig. Die WHO spricht in diesem Zusammenhang bereits bereitstehen. von einer Epidemie. Richtig ist, dass es Gespräche mit der Lebensmittel- Vorhandene Einrichtungen im wirtschaftlichen und wirtschaft und einer Vielzahl von Verbänden aus anderen kulturellen Bereich bilden wichtige Partner und ergän- (B) Bereichen zur Bekämpfung des Übergewichts bei Kin- (D) zen mit ihren Arbeiten den angestrebten Aufgabenbe- dern gibt. Sollte die Lebensmittelwirtschaft bereit sein, reich des Osteuropazentrums. Sie bereichern die Arbeit einen freiwilligen Fonds einzurichten, um Ernährungs- des Zentrums und sollen im Rahmen des Netzwerkes in- aufklärung zu unterstützen, ist dies eine von vielen denk- tensiv eingebunden werden. baren gemeinsamen Aktionen.

Zu Frage 2: In den Gesprächen mit Wirtschaft und Verbänden Anlage 7 wurden noch keine Entscheidungen gefällt. Antwort des Parl. Staatssekretärs Gerd Andres auf die dringlichen Fragen des Abgeordneten Eckart von Klaeden (CDU/ Anlage 9 CSU) (Drucksache 15/2384, Fragen 1 und 2): Antwort Ist Florian Gerster nach Meinung der Bundesregierung der Parl. Staatssekretärin Simone Probst auf die Frage Opfer einer Kampagne gegen ihn geworden, und wenn ja, der Abgeordneten Tanja Gönner (CDU/CSU) (Druck- welche Rückschlüsse zieht die Bundesregierung daraus? sache 15/2379, Frage 3): Wie beurteilt die Bundesregierung in diesem Zusammen- Welche quantitativen Angaben liegen der Bundesregie- hang die Rolle der Vorsitzenden des Verwaltungsrates der rung zum Export von werthaltigen Plastikabfällen nach China Bundesagentur für Arbeit und stellvertretenden Vorsitzenden vor, und wie werden hier Kontrollen durchgeführt, ob eine des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB), Dr. Ursula ordnungsgemäße Verwertung im Sinne des Kreislaufwirt- Engelen-Kefer? schafts- und Abfallgesetzes dieser Abfälle in China vollzogen wird? Zur dringlichen Frage 1: Bei den in Rede stehenden Kunststoffabfällen han- delt es sich um ungefährliche Abfälle, die entsprechend Der Verwaltungsrat der Bundesagentur für Arbeit hat den Regelungen des Basler Übereinkommens der Ver- in seiner Sitzung vom 24. Januar 2004 festgestellt, dass einten Nationen und der Entscheidung des Rates der sein Vertrauensverhältnis zum Vorsitzenden des Vor- OECD C(2001)107/FINAL in der europäischen Abfall- stands, Florian Gerster, gestört ist. Die Bundesregierung verbringungsverordnung im Anhang E (Grüne Liste) nimmt zu dem Meinungsbildungsprozess des Verwal- aufgeführt sind. Sie unterliegen damit grundsätzlich tungsrates nicht Stellung. keinen besonderen abfallrechtlichen Einschränkungen, 7870 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2004

(A) Überwachungen oder Kontrollen; die Pflicht zur Durch- geleistet worden ist, grundsätzlich zur Rückzahlung der (C) führung eines Notifizierungsverfahrens wie für Abfälle entstandenen Kosten verpflichtet. Auch eine Geisel- zur Beseitigung oder gefährliche Abfälle zur Verwer- nahme kann eine solche Notlage darstellen. tung besteht deshalb nicht. Alle Abfallexporte werden im Rahmen der allgemeinen abfallrechtlichen Überwa- Zu Frage 7: chung stichprobenartig von den zuständigen Behör- den der Länder und des Bundes kontrolliert. Darüber Eine Pflichtversicherung gegen terroristische Risiken hinaus ist nach chinesischem Recht eine so genannte im Ausland würde strengen rechtlichen, insbesondere Pre-Inspektion erforderlich, die von einer in Bremen verfassungsrechtlichen Anforderungen unterliegen. ansässigen Firma im Auftrag Chinas vor Abgang der Diese sind aus Sicht der Bundesregierung nicht erfüllt. Lieferung durchgeführt werden muss. Im Übrigen werden am Markt bereits Versicherungs- Für nicht grün-gelistete Abfälle, also gefährliche und produkte angeboten, die einen erheblichen Teil der als andere notifizierungspflichtige Abfälle, besteht gemäß Folge terroristischer Gewalt auf den Einzelnen zukom- Art. 16 der EG-Abfallverbringungsverordnung seit Ja- menden Kosten, wie zum Beispiel Kosten für medizini- nuar 1998 ein Exportverbot in Nicht-OECD-Staaten; der sche Behandlung und den Rücktransport, abdecken. Es Export solcher Abfälle nach China ist mithin verboten. muss jedem Einzelnen überlassen bleiben, ob er sich ge- Die Bestimmungen des Kreislaufwirtschafts- und Ab- gen diese Kosten versichert oder – wenn er dies nicht fällgesetzes gelten für die Entsorgung von Abfällen in tut – gegebenenfalls selbst für sie aufkommen muss. China nicht; für den Export gilt die EU-Abfallverbrin- gungsverordnung. Für gebrauchte Verkaufsverpackun- gen, die zur Verwertung exportiert werden, gelten die selben hohen Anforderungen an die Verwertung und den Anlage 11 Nachweis der Verwertung, einschließlich der stofflichen Verwertung, wie für Verpackungen, die in Deutschland Antwort verwertet werden. Unter anderem verlangen die für den des Parl. Staatssekretärs Alfred Hartenbach auf die Fra- Vollzug der Verpackungsverordnung zuständigen Länder gen des Abgeordneten Hartwig Fischer (Göttingen) den Nachweis der Eignung der Verwertungsanlage. (CDU/CSU) (Drucksache 15/2379, Fragen 8 und 9): Da grün-gelistete Abfälle nicht der abfallrechtlichen Welche Erkenntnisse hat die Bundesregierung darüber, ob Überwachung unterliegen, kann zur Quantifizierung der es sich bei den Exponaten der Ausstellung „Körperwelten“ (B) Exportmengen nach China nur auf die Zollstatistik zu- von Gunther von Hagens unter anderem um Leichenteile von (D) rückgegriffen werden. Danach wurden im Jahr 2002 ins- Hingerichteten aus der Volksrepublik China handelt (verglei- gesamt 51 422,5 Tonnen im Wert von 9 637 000 Euro che „“ vom 19. Januar 2004)? nach China exportiert PET-Abfälle sind dem Zoll-Code Sieht die Bundesregierung ausfüllungsbedürftige Rege- 3915 90 XX zuzuordnen; für sie ergibt sich für 2002 eine lungslücken im Strafgesetzbuch hinsichtlich des Schutzes von Exportmenge nach China von 1 700,3 Tonnen im Wert Leichenteilen? von 655 000 Euro. Für das Jahr 2003 liegen noch keine Zahlen vor, deshalb sind über die aktuellen Entwicklun- Zu Frage 8: gen der Exporte keine statistischen Aussagen möglich. Der Bundesregierung liegen Erkenntnisse über die Herkunft der in der Ausstellung „Körperwelten“ gezeig- ten Leichen beziehungsweise Leichenteile nicht vor. Anlage 10 Auch die deutsche Botschaft in Peking hat hierzu keine Erkenntnisse. Antwort des Parl. Staatssekretärs Dr. Klaus Scharioth auf die Fra- Zu Frage 9: gen des Abgeordneten Dr. Peter Jahr (CDU/CSU) Nein, derartige Regelungslücken sehe ich nicht. Ei- (Drucksache 15/2379, Fragen 6 und 7): nem menschenunwürdigen nicht mehr tragbaren Um- Welche Möglichkeiten hat die Bundesregierung, um bei gang mit dem Körper eines verstorbenen Menschen be- einer Geiselnahme von deutschen Staatsbürgern im Ausland gegnet bereits das geltende Recht. In erster Linie ist hier die Betroffenen selbst angemessen an den entstehenden Fol- § 168 des Strafgesetzbuches (Störung der Totenruhe) zu gekosten zu beteiligen? nennen. Die Strafe ist Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren Beabsichtigt die Bundesregierung, zum Beispiel im Rah- oder Geldstrafe. Außerdem ist auf § 189 des Strafgesetz- men einer Pflichtversicherung, deutsche Staatsbürger bei Aus- buches hinzuweisen, der die Verunglimpfung des An- landsreisen gegen Folgekosten terroristischer Aktivitäten ab- zusichern? denkens Verstorbener mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jah- ren oder mit Geldstrafe bestraft. Schutzgut dieser Zu Frage 6: Vorschrift sind das allgemeine Pietätempfinden und der über den Tod hinaus andauernde Achtungsanspruch ei- Nach dem Konsulargesetz und dem Auslandskosten- nes jeden Menschen. Für eine Absenkung der Strafbar- gesetz ist jeder, dem im Ausland in einer Notlage Hilfe keitsschwelle besteht keine Veranlassung. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2004 7871

(A) Anlage 12 kenversichertenkarte erforderlich wird, müssen die (C) Beteiligten (Spitzenverbände der Krankenkassen und Antwort Spitzenorganisationen der Sozialhilfeträger) praktikable der Parl. Staatssekretärin Marion Caspers-Merk auf die Lösungswege zum Austausch der Karten entwickeln. Fragen des Abgeordneten Matthäus Strebl (CDU/CSU) Schätzungen über den möglichen Verwaltungsmehrauf- (Drucksache 15/2379, Fragen 10 und 11): wand aufgrund einer gegebenenfalls erforderlichen Um- stellung der Krankenversichertenkarten zum Januar Trifft es zu, dass, wie mehrere Zeitungen am 30. Dezem- 2005 sind derzeit nicht möglich. ber 2003 berichtet haben, die Bundesregierung plant, die Pfle- gestufen 1 und 2 bei stationärer Versorgung folgendermaßen zu kürzen: Pflegestufe 1 von bisher 1 023 Euro auf 500 Euro und Pflegestufe 2 von bisher 1279 Euro auf 1000 Euro? Anlage 14 Ist es weiterhin richtig, dass die Bundesregierung gleich- zeitig die Pflegestufe 3 in diesem Bereich von 1 432 Euro auf Antwort 1 500 Euro anheben wird? Die Harmonisierung der Sachleistungsbeträge für der Parl. Staatssekretärin Marion Caspers-Merk auf die häusliche und stationäre Pflege ist Teil der Überlegun- Fragen der Abgeordneten Gesine Lötzsch (fraktionslos) gen der Regierungskoalition für ein Gesamtkonzept zur (Drucksache 15/2379, Fragen 13 und 14): Weiterentwicklung der Pflegeversicherung. Die meisten Wie viele Krankenkassen haben im Jahre 2004 ihre Bei- Pflegebedürftigen wünschen, so lange wie möglich zu tragssätze um welche Prozentsätze gesenkt? Hause versorgt und betreut zu werden. Um dies zu er- Wie viele Krankenkassen haben im Jahre 2004 ihre Bei- reichen, sind Maßnahmen zur weiteren Stärkung der tragssätze um welche Prozentsätze erhöht? häuslichen Pflege erforderlich. Die Überlegungen der Die Beitragssätze der Krankenkassen für den Monat Bundesregierung, welche Veränderungen in der Pflege- Januar 2004 aus der amtlichen Statistik liegen erst An- versicherung notwendig und angemessen sind, sind bis- fang Februar vor. Aus anderen öffentlichen Quellen er- her nicht abgeschlossen. Daher entbehren alle Spekula- geben sich die folgenden, vorläufigen Tendenzen: Zur tionen, die über Veränderungen in den Zahlbeträgen für Jahreswende 2003/2004 haben die größten, bundesweit die Pflegestufen 1 bis 3 angestellt werden, einer realen geöffneten Kassen Beitragssatzsenkungen durchgeführt Entscheidungsgrundlage. oder beschlossen. Bis zum Frühjahr werden die Bei- tragssätze bei fast allen Ersatzkassen niedriger liegen als im vergangenen Jahr. Gleiches gilt für die Bundesknapp- (B) Anlage 13 schaft. Bei den Allgemeinen Ortskrankenkassen sind im (D) Wesentlichen aktuell stabile Beitragssätze auf dem Ni- Antwort veau des Jahres 2003 zu verzeichnen. Es liegen zwei Beitragssatzsenkungsbeschlüsse zum 1. Januar und zum der Parl. Staatssekretärin Marion Caspers-Merk auf die 1. April 2004 von (einer mittleren und einer großen) Frage der Abgeordneten Hannelore Roedel (CDU/ Ortskrankenkassen vor. Bei den Betriebskrankenkassen CSU) (Drucksache 15/2379, Frage 12): ist die Lage sehr heterogen. Insgesamt haben zum 1. Ja- Trifft es zu, dass im Rahmen der Gesundheitsreform durch nuar 2004 Kassen mit rund 7 bis 9 Millionen Mit- die Gleichstellung der Sozialhilfeempfänger mit den gesetz- gliedern (bzw. 9 bis 11 Millionen Versicherten) ihre lich Krankenversicherten rund 17 000 Sozialhilfeempfänger Beitragssätze gesenkt. Zum 1. April/1. Mai sind bei wei- im Januar eine Chipkarte für ihre Krankenbehandlung erhal- teren Kassen mit etwa 9 bis 11 Millionen Mitgliedern ten müssen und diese im Rahmen der Ersetzung der Sozial- hilfe durch das Arbeitslosengeld II Anfang 2005 durch die So- (bzw. 13 bis 14 Millionen Versicherten) Beitragssatzsen- zialämter wieder eingezogen werden müssen, und wenn ja, kungen vorgesehen. Nahezu alle mitgliederstarken Kran- wie hoch ist der finanzielle Mehraufwand, der den öffentli- kenkassen haben öffentlich angekündigt, Beitragssatz- chen Kassen hierdurch entsteht? senkungen im weiteren Jahresverlauf durchzuführen § 264 des Fünften Buches Sozialgesetzbuch (SGB V) bzw. zu prüfen. Die zuständigen Aufsichtsbehörden ha- in der Fassung des GKV-Modernisierungsgesetzes ben zugesagt, die entsprechenden Vereinbarungen zur (GMG) sieht vor, dass die Krankenkassen die Kranken- Kontrolle der Umsetzung der im GKV-Modernisierungs- behandlung für den dort näher beschriebenen Personen- gesetz vorgesehenen Einsparvolumina mit Nachdruck zu kreis übernehmen. Die Betroffenen erhalten eine Kran- beachten. kenversichertenkarte, die sicherstellt, dass sie die gleichen Leistungen in Anspruch nehmen können, wie die Mitglieder der gesetzlichen Krankenversicherung, Anlage 15 ohne dass sie selbst Mitglied werden. Um die Über- nahme der Krankenbehandlung ab 1. Januar 2004 sicher- Antwort zustellen, war die Ausgabe entsprechender Krankenver- sichertenkarten erforderlich. Soweit ab Januar 2005 ein der Parl. Staatssekretärin Marion Caspers-Merk auf die Teil des von § 264 SGB V betroffenen Personenkreises Frage der Abgeordneten Petra Pau (fraktionslos) durch den Bezug von Arbeitslosengeld II Mitglied in der (Drucksache 15/2379, Frage 15): gesetzlichen Krankenversicherung wird und hierdurch Wie viele Einzelpersonen und Verbände haben nach eine Änderung der Statusbezeichnung auf der Kran- Kenntnis der Bundesregierung bisher aus welchen Gründen 7872 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2004

(A) im Hinblick auf das Gesetz zur Modernisierung der gesetzli- rechtlichen Situation von Fahrgästen gegenüber Verkehrs- (C) chen Krankenversicherung die Gerichte angerufen? unternehmen bei mangelhafter Leistung fordert, umzusetzen? Der Bundesregierung liegen keine Informationen da- Zu Frage 18: rüber vor, ob und gegebenenfalls wie viele Einzelperso- nen und Verbände Gerichte angerufen haben. Statistische Diskussionen im politischen Raum haben gezeigt, Erhebungen hierüber gibt es nicht. dass allein die Unterstellung einer möglichen Abhängig- keit des Auftragnehmers zu dem Arbeitgeber die Ergeb- nisse des Gutachtens diskreditieren bzw. infrage stellen können. Das Bundesministerium für Verkehr, Bau- und Anlage 16 Wohnungswesen konnte diese Bedenken, auch um die Antwort fachliche Reputation des Auftragnehmers zu wahren und die Ergebnisse des Gutachtens nicht zu gefährden, nicht der Parl. Staatssekretärin Iris Gleicke auf die Fragen der ignorieren. Es musste davon ausgegangen werden, dass Abgeordneten Renate Blank (CDU/CSU) (Drucksache es auch bei weiteren Arbeitsschritten zu Diskussionen 15/2379, Fragen 16 und 17): kommt, die dem mit dem Gutachten verfolgten Zweck Wie bewertet die Bundesregierung aktuelle Berichte im abträglich sind. Vor diesem Hintergrund war kaum noch „FOCUS“ vom 12. Januar 2004 sowie in der „Süddeutschen vermittelbar, dass das Gutachten im Wesentlichen als Zeitung“ vom 10. Januar 2004, dass bereits begonnene Schie- Faktensammlung lediglich eine Entscheidungshilfe des neninfrastrukturprojekte eingestellt bzw. geschoben werden Bundesministeriums für Verkehr, Bau- und Wohnungs- sollen, und um welche konkreten Projekte handelt es sich hierbei? wesen sein soll und die notwendigen Schlussfolgerungen in dem Bericht der Bundesregierung zu treffen sind. Wie geht die Bundesregierung mit der Tatsache um, dass bei der Bahnreform 1994 die Auflösung der Holdinggesell- schaften sowie die Bildung völlig voneinander getrennter Ak- Zu Frage 19: tiengesellschaften für Fahrweg, Personennahverkehr, Perso- nenfernverkehr und Güterverkehr als zu prüfende Option Wegen des in der Antwort zur ersten Frage dargeleg- vorbehalten worden ist? ten Zusammenhangs wird das Forschungsvorhaben neu ausgeschrieben. Das Forschungsvorhaben wird durch ei- Zu Frage 16: nen Beirat begleitet werden. Auf Grundlage der For- Aussagen zu den verfügbaren Bundesmitteln für schungsergebnisse wird die Bestandsaufnahme mit dem Schienenwegeinvestitionen im Jahr 2004 sind erst mit Ziel eines einheitlichen Verbraucherrechts im öffentli- der Verabschiedung des Haushaltsgesetzes möglich. Im chen Personenverkehr erarbeitet werden. (B) Bereich der Bedarfsplanvorhaben ist eine Priorisierung (D) hinsichtlich deren Realisierung vorzunehmen. Diese zwischen der Deutschen Bahn AG und Bund abzustim- Anlage 18 mende Priorisierung ist bisher noch nicht abgeschlossen. Antwort Zu Frage 17: der Parl. Staatssekretärin Iris Gleicke auf die Frage des Die Bundesregierung beabsichtigt nicht, von der Abgeordneten Ernst Hinsken (CDU/CSU) (Druck- möglichen Option einer Holdingauflösung nach § 2 sache 15/2379, Frage 20): Deutsche Bahn Gründungsgesetz Gebrauch zu machen. Beabsichtigt die Bundesregierung – ähnlich wie in der Sie wird die Ergebnisse der von der Task Force „Zukunft Schweiz – eine Liste zu veröffentlichen, in der die Airlines der Schiene“ durchgeführten Prüfung umsetzen. bekannt gemacht werden, die häufiger oder durch besonders grobe Sicherheitsmängel aufgefallen sind, und wenn nein, wa- rum nicht? Die Bundesregierung hat bisher – wie die meisten Anlage 17 EU-Staaten auch – keine Listen veröffentlicht, in der Luftfahrtunternehmen bekannt gemacht werden, die Antwort häufiger oder durch besonders grobe Sicherheitsmängel der Parl. Staatssekretärin Iris Gleicke auf die Fragen der aufgefallen sind. Die Veröffentlichung einer entspre- Abgeordneten Gitta Connemann (CDU/CSU) (Druck- chenden Liste verbessert nach Meinung der Bundesre- sache 15/2379, Fragen 18 und 19): gierung nicht die Sicherheit im Luftverkehr und ist kein Aus welchen Gründen wurde die Vergabe des Forschungs- geeigneter Weg, die Öffentlichkeit über die Zuverlässig- und Entwicklungsvorhabens „Qualitätsoffensive im öffentli- keit von Luftfahrtunternehmen zu informieren. Sie birgt chen Personenverkehr – Verbraucherschutz und Kundenrechte die Gefahr von Missverständnissen oder Fehlinterpreta- stärken“, das das Bundesministerium für Verkehr, Bau- und tionen. Wohnungswesen auf der Grundlage des Beschlusses des Deutschen Bundestages vom 4. Juli 2002 (Bundestagsdruck- Auf EU-Ebene steht die Verabschiedung einer Richt- sache 14/9671) ausgeschrieben und bereits vergeben hatte, zu- linie über die verbindliche Einführung technischer Kon- rückgezogen? trollen an ausländischen Flugzeugen kurz vor dem Wie gedenkt die Bundesregierung vor diesem Hintergrund Abschluss. In diesem Zusammenhang ist auch eine Re- den Beschluss des Deutschen Bundestages vom 4. Juli 2002 (Bundestagsdrucksache 14/9671), der eine Bestandsaufnahme gelung über Veröffentlichungsmodalitäten und -inhalte unter anderem mit dem Ziel einer Verbesserung der haftungs- zu Fragen der Luftverkehrssicherheit ausländischer Luft- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2004 7873

(A) fahrtunternehmen vorgesehen, wobei ein Ausgleich so- ten die Regierungsvertreter über die Situation in ihren (C) wohl der Interessen der Öffentlichkeit als auch der be- Ländern. troffenen Luftfahrtunternehmen angestrebt werden soll. Von den deutschen Vertretern wurde die Situation der Darüber hinaus ist der Bundesregierung nicht be- Neutronenquellen in Deutschland geschildert. Die Ent- kannt, dass die Schweiz Listen mit auffälligen Luftfahrt- scheidung der Bundesregierung vom Februar 2003 zu unternehmen veröffentlicht. Die im Zusammenhang mit neuen Großgeräten, zu denen eine Europäische Spalla- dem Unfall des Luftfahrtunternehmens „Flash Air“ von tions-Neutronenquelle nicht gehört, wurde erläutert. der Schweiz im Nachhinein veröffentlichten Untersu- Grundlage dieser Entscheidung waren die Empfehlun- chungsberichte bezogen sich auf einen Einzelfall, der ein gen des Wissenschaftsrates vom November 2002, in de- Jahr zurücklag. nen er die KSS nicht zur Förderung empfohlen hatte.

Zu Frage 23: Anlage 19 Die ESS-Organisation hat sich im Jahre 2003 aufge- löst. Der Vorsitzende hat eine Initiative ergriffen, um Antwort eine neue Organisation zu bilden, die Next European der Parl. Staatssekretärin Iris Gleicke auf die Frage des Spallation Source Initiative (N-ESS-I). Er hat vorge- Abgeordneten Hans Michelbach (CDU/CSU) (Druck- schlagen, das Büro dieser Organisation am Institut Laue- sache 15/2379, Frage 21): Langevin (ILL) in Grenoble einzurichten. Der Bundesre- Wann gedenkt die Bundesregierung nach der Entschei- gierung ist diese Initiative bekannt. Es ist nicht bekannt, dung des Bundesverwaltungsgerichts, Az. 4 A 11.02 vom welche Einrichtungen konkret hinter dieser Initiative ste- 15. Januar 2004, wonach der Bau der Bundesautobahn A 73 hen und die Organisation finanzieren werden. Es ist in (Suhl–Lichtenfels) im Abschnitt Ebersdorf bei Coburg bis jedem Fall sicherzustellen, dass die Verantwortlichkeiten Lichtenfels freigegeben wurde, den Bau des vorbenannten Autobahnabschnitts zu beginnen, und sind hierfür ausrei- des ILL und der Initiative N-ESS-I klar abgegrenzt sind. chende Finanzmittel vorhanden? Über konkrete Baudispositionen kann erst nach In- Kraft-Treten des Haushaltsgesetzes 2004 und in Abstim- Anlage 21 mung mit dem Land Bayern entschieden werden. Antwort

des Parl. Staatssekretärs Christoph Matschie auf die Fra- (B) Anlage 20 gen des Abgeordneten Michael Kretzschmer (CDU/ (D) Antwort CSU) (Drucksache 15/2379, Fragen 24 und 25): Welche finanziellen Auswirkungen haben die von der des Parl. Staatssekretärs Christoph Matschie auf die Fra- Bundesregierung vorgeschlagenen Neuordnungen im Bereich gen des Abgeordneten Dr. Christoph Bergner (CDU/ Hochschulbau und Finanzierung der Forschungsorganisatio- CSU) (Drucksache 15/2379, Fragen 22 und 23): nen für den Bund und die einzelnen Bundesländer? Welche Position vertrat die Bundesregierung auf dem Wie wird der Ausschluss von grundfinanzierten Einrichtun- Treffen der Vertreter der großen EU-Länder am 8. Januar gen aus der Projektförderung des Bundesministeriums für Bil- 2004, zu der der britische Wissenschaftsminister Lord David dung und Forschung – BMBF – (zusätzliche Projektförderung Sainsbury seine Amtskolleginnen und Kollegen sowie Wis- des BMBF an institutionell geförderten Forschungseinrichtun- senschaftler auf dem Gebiet der Neutronenforschung eingela- gen) im Vergleich der verschiedenen Forschungsorganisationen den hatte, um über das Projekt einer Europäischen Neutronen- umgesetzt (vergleiche Schreiben des Staatssekretärs im Bun- spallationsquelle (ESS, European Spallation Source) zu desministerium für Bildung und Forschung, Dr. Wolf-Dieter beraten? Dudenhausen, vom 6. November 2003 an den Präsidenten der Wissenschaftsgemeinschaft Gottfried Wilhelm Leibniz, Wie bewertet die Bundesregierung den Umstand, dass sich Prof. Dr.-Ing. E. h. Hans-Olaf Henkel)? mit Sitz in Grenoble eine Folgeeinrichtung des „ESS-Coun- cil“ gründet, um den Bau einer Europäischen Neutronenspal- lationsquelle vorzubereiten? Zu Frage 24: In der Antwort vom 4. Juni 2003 auf Ihre damalige Zu Frage 22: gleich lautende Frage hat der Parlamentarische Staatsse- Der britische Forschungsrat CCLRC (Council for the kretär Herr Christoph Matschie bereits ausgeführt, dass Central Laboratory of thc Research Councils) hatte im die einzelnen von der Bundesregierung vorgeschlagenen Auftrag von Lord Sainsbury für den 8. Januar 2004 zu Maßnahmen zur Modernisierung der bundesstaatlichen einem internationalen Forum über Zukunftspläne für Ordnung im Bereich von Bildung und Forschung im Zu- künftige Neutronenquellen in Europa eingeladen, Vertre- sammenhang mit allen zur Föderalismusreform vorgese- ter der Regierungen bzw. Forschungsräte aus Frankreich, henen Maßnahmen gesehen werden müssen. Dabei geht Italien, Spanien, Großbritannien und Deutschland nah- die Bundesregierung davon aus, dass in der vom Deut- men an dieser Sitzung teil. Der Stand der Projekte zum schen Bundestag und vom Bundesrat im Oktober 2003 Bau von Spallations-Neutronenquellen in den USA und eingesetzten gemeinsamen Kommission zur Modernisie- in Japan sowie zum Ausbau der Spallations-Neutronen- rung der bundesstaatlichen Ordnung eine Gesamtlösung quelle ISIS in Großbritannien wurde ausführlich von den der Aufgaben- und Finanzierungskompetenzen erreicht jeweiligen Projektleitern dargelegt. Außerdem berichte- wird, die den Interessen sowohl des Bundes als auch der 7874 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2004

(A) Länder Rechnung trägt. Insofern lassen sich beim gegen- mit verbundenen rechtlichen Probleme jedoch noch in (C) wärtigen Stand der Verhandlungen die finanziellen Aus- einem frühen Stadium. Im weiteren Verfahren wird in- wirkungen für den Bund einerseits und die Länder ande- nerhalb der Bundesregierung das Abstimmungsverfah- rerseits nicht bestimmen. ren eingeleitet, um eine Klärung noch offener Rechts- und Sachfragen zu erreichen. Zu Frage 25: Zu Frage 27: In dem von Ihnen genannten Schreiben von Herrn Staatssekretär Dr. Dudenhausen werden institutionell ge- Zu den in der Frage angesprochenen Themen Verwal- förderte Forschungseinrichtungen nicht von einer Pro- tungsaufwand und Kosten kann derzeit noch keine An- jektförderung des Bundesministeriums für Bildung und gabe erfolgen, da die Erarbeitung der zur Umsetzung der Forschung (BMBF) ausgeschlossen. Hier wird vielmehr Eckpunkte der Koalitionsfraktionen erforderlichen mate- klargestellt, dass zusätzliche Projektförderung an Helm- riellen und verfahrensmäßigen Regelungen noch nicht holtz-Zentren, die Max-Planck-Gesellschaft und Blaue- abgeschlossen ist. Da die Bundesregierung lediglich eine Liste-Einrichtungen weiterhin nur in besonders definier- Formulierungshilfe erarbeitet, kann die Frage im Übri- ten Einzelfällen gewährt wird. Um klare Leitlinien für gen erst abschließend beantwortet werden, wenn der Ge- die Bewilligungspraxis zu schaffen, wurde im Einzelnen setzentwurf der Koalitionsfraktionen vorliegt. definiert, wann eine BMBF-Projektförderung an diese Einrichtungen begründet sein kann. Danach kann grund- sätzlich Projektförderung an die genannten institutionell geförderten Forschungseinrichtungcn in folgenden Fäl- Anlage 23 len bewilligt werden: Verbundprojekte mit Unternehmen Antwort der gewerblichen Wirtschaft zur Erschließung der Res- sourcen der Forschungseinrichtungen, wenn sie eine des Parl. Staatssekretärs Karl Diller auf die Frage des erhebliche Bedeutung für den Wirtschaftsstandort Abgeordneten Johannes Singhammer (CDU/CSU) Deutschland haben; Beteiligung an Programmthemen in (Drucksache 15/2379, Frage 28): Forschungsfeldern mit hoher Aktualität und Priorität; in Beabsichtigt die Bundesregierung in größerem Umfang den Bereichen der Innovations- und Gründungsförde- bundeseigene Wohnungen zu veräußern, und wenn ja, kann rung. sie ausschließen, dass es zu Verkäufen von bundeseigenen Wohnanlagen, Teilstücken von bundeseigenen Wohnanlagen Die Projektförderung bei der Fraunhofer-Gesellschaft oder auch einzelnen bundeseigenen Wohnungen im Bereich wird als Teil des dortigen Finanzierungsmix im bisheri- der Landeshauptstadt München kommen wird? (B) gen Umfang weitergeführt. Die Bundesvermögensverwaltung wird die Veräuße- (D) rung von bundeseigenen Mietwohnungen – auch in der Landeshauptstadt München – fortsetzen. Anlage 22 Den Interessen der Mieter trägt die Bundesregierung durch folgendes Verfahren Rechnung: Eigentumsbildung Antwort für die Mieter hat in geeigneten Fällen Vorrang. Dies gilt des Parl. Staatssekretärs Christoph Matschie auf die Fra- insbesondere für den Verkauf von Einfamilienhäusern, gen des Abgeordneten Werner Lensing (CDU/CSU) aber auch für geeignete Mehrfamilienhäuser. Den Mie- (Drucksache 15/2379, Fragen 26 und 27): terinteressen wird durch die mieterschützenden Regelun- Wie ist der derzeitige Stand der Planungen der Bundesre- gen des sozialen Mietrechts Rechnung getragen. Da- gierung zur Einführung einer so genannten Ausbildungsplatz- rüber hinaus werden mit dem Käufer einzelfallabhängige abgabe? Übergangsregelungen zum Schutz der Mieter vereinbart. Wie hoch schätzt die Bundesregierung unter Berücksichti- Sie können einen zusätzlichen Kündigungsschutz sowie gung der derzeitigen Sachlage den personellen Aufwand bzw. einen Schutz vor Luxusmodernisierungen beeinhalten. die Kosten für die Verwaltung einer derartigen Ausbildungs- platzabgabe ein?

Zu Frage 26: Anlage 24 Die Fraktionsvorsitzenden der SPD und des BÜND- Antwort NISSES 90/DIE GRÜNEN, Franz Müntefering und Krista Sager, haben mit Schreiben vom 19. Dezember des Parl. Staatssekretärs Karl Diller auf die Frage des 2003 die Bundesministerin für Bildung und Forschung Abgeordneten Johannes Singhammer (CDU/CSU) gebeten, eine Formulierungshilfe für ein Gesetz über (Drucksache 15/2379, Frage 29): eine Ausbildungsplatzabgabe zu erstellen, das sich an Was hat die Bundesregierung veranlasst, im Februar 1999 mit diesem Schreiben übersandten Eckpunkten orientie- die Verwaltungsvorschrift aus der Vorschriftensammlung ren soll. Ein ähnlich lautendes Schreiben mit der Bitte Bundesfinanzverwaltung Abschnitt VV 1032, wonach sich die Mieten in bundeseigenen Wohnungen an der unteren um Unterstützung ging mit gleichem Datum an den Bun- Grenze der ortsüblichen Vergleichsmiete zu orientieren haben, desminister für Wirtschaft und Arbeit. aufzuheben? Der Entwurf einer Formulierungshilfe wird zurzeit im Die angesprochene Verwaltungsvorschrift sah eine BMBF erarbeitet. Die Bearbeitung ist angesichts der da- Heranführung der Mieten der bundeseigenen Wohnun- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2004 7875

(A) gen bis zur unteren Grenze der ortsüblichen Vergleichs- 17. Juni 1953“ nach Kenntnis der Bundesregierung empfan- (C) miete vor. Diese Grenze wurde mit dem Erlass des Bun- gen? desministeriums der Finanzen vom 26. Februar 1999 aus folgenden Gründen aufgehoben: Der weitaus größte Teil Zu Frage 31: der Bundesbediensteten muss sich, da der Bestand von Bis zum 31. Dezember 2003 wurde durch den Ver- bundeseigenen oder von Bundesdarlehenswohnungen kauf der Zuschlagsmarke „50. Jahrestag des Volksauf- nicht ausreicht, auf dem freien Wohnungsmarkt mit zum standes am 17. Juni 1953“ ein Spendenaufkommen in Teil erheblich teurerem Wohnraum versorgen. Für mit Höhe von 918 175,55 Euro erzielt. Für das Jahr 2004 Bundesdarlehen geförderte Wohnungsfürsorgewohnun- sind keine nennenswerten Einnahmen zu erwarten, da gen wurden mittlerweile überwiegend höhere Mieten der Großteil der Zuschlagsmarke bereits verkauft ist. verlangt als für Bundesmietwohnungen. Mit dem Über- gang zur ortsüblichen Vergleichsmiete wurde im Übri- Zu Frage 32: gen eine schon von der früheren Bundesregierung getroffene Entscheidung umgesetzt. Der Bundesrech- Die Bundesregierung hat im Einvernehmen mit dem nungshof sowie der Rechnungsprüfungsausschuss des Bundespräsidialamt entschieden, dass die Zuschlagser- Haushaltsauschusses des Deutschen Bundestages haben löse aus dem Verkauf der Sonderbriefmarke „50. Jahres- diese Entscheidung begrüßt. tag des Volksaufstandes am 17. Juni 1953“ für die Bera- tung und Unterstützung von Opfern der SED-Diktatur eingesetzt werden sollen. Die Mittel werden daher der Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur als zweck- Anlage 25 gebundene Spende zugewiesen, damit diese sie – zum kleineren Teil – für ihr Programm zur Förderung der Op- Antwort ferberatung einsetzt, zum größeren Teil mit dem Zweck des Parl. Staatssekretärs Karl Diller auf die Frage der der Beratung und Unterstützung von Diktaturopfern an Abgeordneten Hannelore Roedel (CDU/CSU) (Druck- entsprechende Vereine weiterreicht. Die Stiftung zur sache 15/2379, Frage 30): Aufarbeitung der SED-Diktatur wird rund 65 Prozent der Mittel an den Dachverband „Union der Opferver- Wird die Bundesregierung die Verwaltungsvorschrift bände Kommunistischer Gewaltherrschaft“ (UOKG) aus der Vorschriftensammlung Bundesfinanzverwaltung Abschnitt VV 1032 für Ballungsräume mit extrem hohem weiterreichen mit der Maßgabe, diese Mittel insbeson- Mietniveau vor dem Hintergrund der bereits erfolgten dere über die entsprechenden der UOKG angehörenden Mietpreissteigerungen wie zum Beispiel in München wie- Vereine für die Beratung und Unterstützung von Opfern der in Kraft setzen, oder welche anderen Maßnahmen plant der SED-Diktatur einsetzen zu lassen. Die Weiterver- (B) die Bundesregierung zur Entlastung der betroffenen Mie- (D) ter? gabe an die einzelnen Vereine von Diktaturopfern ob- liegt dann der UOKG. Eine gesonderte Verwaltungsvorschrift des Bundes für die Durchführung von Mietbildung und Mietanhebung im Bestand der bundeseigenen Wohnungen in Ballungs- räumen gibt es nicht Der angesprochene Abschnitt Anlage 27 VV 1032 der Vorschriftensammlung Bundesfinanzver- Antwort waltung hat allgemeine Gültigkeit für die Verwaltung al- ler Mietwohnungen des Bundes. Die Bundesregierung des Parl. Staatssekretärs Karl Diller auf die Fragen des plant keine Maßnahmen zur Entlastung der Mieter, deren Abgeordneten Jochen-Konrad Fromme (CDU/CSU) derzeitige Grundmiete des ortsübliche Niveau durch die (Drucksache 15/2379, Fragen 33 und 34): aktuelle Mietanhebung erreicht oder noch nicht erreicht Welche Institutionen haben nach Kenntnis der Bundesregie- hat. rung beantragt, Zuwendungen aus den Zuschlagserlösen des Verkaufs der Zuschlagsmarke „50. Jahrestag des Volksauf- standes am 17. Juni 1953“ zu erhalten, und nach welchen Kri- terien hat bzw. wird die Bundesregierung über die Verwen- dung der Zuschlagerlöse entscheiden? Anlage 26 Welche Institutionen bzw. Personen waren außerhalb der Antwort Bundesregierung an der Beratung über den Empfängerkreis und die Verwendung der erwarteten Zuschlagserlöse aus dem des Parl. Staatssekretärs Karl Diller auf die Fragen des Verkauf der Zuschlagsmarke „50. Jahrestag des Volksaufstan- des am 17. Juni 1953“ beteiligt? Abgeordneten Dr. Jürgen Gehb (CDU/CSU) (Drucksa- che 15/2379, Fragen 31 und 32): Zu Frage 33: Welches Spendenaufkommen wurde nach Kenntnis der Bundesregierung durch den Verkauf der Zuschlagsmarke Nach Kenntnis der Bundesregierung haben folgende „50. Jahrestag des Volksaufstandes am 17. Juni 1953“ bis zum Institutionen Zuwendungen aus den Zuschlagserlösen 31. Dezember 2003 erzielt, und mit welchem Spendenauf- des Verkaufs der Zuschlagsmarke „50. Jahrestag des kommen wird im Jahr 2004 noch durch den Verkauf der Zu- schlagsmarke gerechnet? Volksaufstandes am 17. Juni 1953“ beantragt: Vereini- gung der Opfer des Stalinismus e. V. (VOS), Hilfsorga- Welche Institutionen werden in welcher Höhe Finanz- mittel aus den erwarteten Zuschlagserlösen aus dem Verkauf nisation für die Opfer politischer Gewalt in Europa e. V. der Zuschlagsmarke „50. Jahrestag des Volksaufstandes am (HELP). 7876 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2004

(A) Die Bundesregierung hat im Einvernehmen mit dem zeitig werden Mindestbeträge erhoben, die sicherstellen (C) Bundespräsidialamt entschieden, dass die Zuschlagser- sollen, dass sowohl der Verursachergerechtigkeit als löse aus dem Verkauf der Sonderbriefmarke „50. Jahres- auch der Leistungsfähigkeit der Institute Rechnung ge- tag des Volksaufstandes am 17. Juni 1953“ für die Bera- tragen wird. Die Mindestumlage der Finanzdienstleis- tung und Unterstützung von Opfern der SED-Diktatur tungsinstitute richtet sich zunächst nach der Art ihrer Er- eingesetzt werden sollen. Die Mittel werden daher der laubnis (3 500 Euro, 2 500 Euro bzw. 1 300 Euro gemäß Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur als zweck- § 6 Abs. 4 FinDAGKostV). Dieser Betrag wird bei sehr gebundene Spende zugewiesen, damit diese sie – zum kleinen Unternehmen mit einer Bilanzsumme unter kleineren Teil – für ihr Programm zur Förderung der Op- 100 000 Euro auf die Hälfte reduziert (§ 6 Abs. 4 Buch- ferberatung einsetzt, zum größeren Teil mit dem Zweck stabe e FinDAGKostV). Ab einer Bilanzsumme von der Beratung und Unterstützung von Diktaturopfern an 750 000 Euro erhöhen sich diese Beiträge in Abhängig- entsprechende Vereine weiterreicht. Die Stiftung zur keit von der Höhe der Bilanzsumme des Finanzdienst- Aufarbeitung der SED-Diktatur wird rund 65 Prozent leistungsinstitutes (§ 6 Abs. 5 FinDAGKostV). der Mittel an den Dachverband „Union der Opferver- bände Kommunistischer Gewaltherrschaft“ (UOKG) Dieses Regelungssystem wurde nach Anhörung der weiterreichen mit der Maßgabe, diese Mittel insbeson- Verbände und des Verwaltungsrates der BaFin bereits dere über die entsprechenden der UOKG angehörenden mit der Zweiten Verordnung zur Änderung der Verord- Vereine für die Beratung und Unterstützung von Opfern nung über die Erhebung von Gebühren und die Umle- der SED-Diktatur einsetzen zu lassen. Die Weiterver- gung von Kosten nach dem Finanzdienstleistungs- gabe an die einzelnen Vereine von Diktaturopfern ob- aufsichtsgesetz vom 4. Juli 2003 (BGBl. I S. 1105) liegt dann der UOKG. eingeführt. Mit der Dritten Verordnung zur Änderung der Verordnung über die Erhebung von Gebühren und Zu Frage 34: die Umlegung von Kosten nach dem Finanzdienstleis- tungsaufsichtsgesetz vom 17. Dezember 2003 (BGBl. I Außerhalb der Bundesregierung war an der Beratung S. 2745) wurden die Regelungen zwecks Vermeidung über die Vergabe der Mittel das Bundespräsidialamt be- von Härten bei kleinen Finanzdienstleistern dahin ge- teiligt, das sich für die Herausgabe dieser Sonderbrief- hend modifiziert, dass die Halbierung der Mindestbei- marke als Zuschlagsmarke besonders eingesetzt hat. Da- neben wurde die Stiftung zur Aufarbeitung der SED- träge bei einer Bilanzsumme unter 100 000 Euro neu Diktatur beratend herangezogen. und weitere gestaffelte Mindestbeträge in Abhängigkeit von der Bilanzsumme eingeführt wurden. Die neuen Zwischenstufen greifen jetzt bei Bilanzsummen in Höhe (B) von 750 000 Euro bzw. 1 Million Euro. (D) Anlage 28 Die BaFin hat die Vorauszahlungsbeträge für die Um- Antwort lage des Haushaltsjahres 2004 erstmals auf dieser Grundlage angefordert. Hierbei wurden auf 205 von des Parl. Staatssekretärs Karl Diller auf die Fragen des 701 Finanzdienstleistungsinstituten die niedrigsten Min- Abgeordneten Dietrich Austermann (CDU/CSU) destbeiträge angewendet. Die Beiträge sind somit abhän- (Drucksache 15/2379, Fragen 35 und 36): gig von der Größe des Unternehmens. Trifft es zu, dass Finanzdienstleister nach der neuen Ver- gabeordnung über die Erhebung der Gebühren nach dem Zu Frage 36: Finanzdienstleistungsauffsichtsgesetz vom 17. Dezember 2003 eine jährliche Gebühr praktisch unabhängig von der Größe eines Betriebes und des Umsatzes leisten müssen? Wie bereits ausgeführt, ist die Umlage der Finanz- dienstleistungsinstitute abhängig von der Größe des Un- Wenn ja, wie rechtfertigt sich die Gebührensteigerung in- nerhalb von 1,5 Jahren? ternehmens, weil diese an deren Bilanzsumme anknüpft. Unbeschadet dessen möchte ich Folgendes anmerken: Zu Frage 35: Vor der Neuregelung wurden die Kosten im Aufsichtsbe- reich Kredit- und Finanzdienstleistungswesen im Ver- Die nicht durch Gebühren oder gesonderte Erstattung hältnis 91 zu 9 Prozent auf die Kredit- und die Finanz- gedeckten Kosten der Bundesanstalt für Finanzdienst- dienstleistungsinstitute aufgeteilt. Der Mindestbetrag leistungsaufsicht (BaFin) werden gemäß § 16 Finanz- belief sich auf 250 Euro. Diese in der Verordnung vorge- dienstleistungsaufsichtsgesetz (FinDAG) in Verbindung gebene Kostenaufteilung zwischen Finanzdienstleis- mit § 5 ff. der Verordnung über die Erhebung von Ge- tungs- und Kreditinstituten wurde unter anderem bühren und Umlegung von Kosten nach dem Finanz- aufgegeben, da sie sich weder für die größeren Finanz- dienstleistungsaufsichtsgesetz (FinDAGKostV) auf die dienstleistungsinstitute noch bei kleineren Finanzdienst- Aufsichtspflichtigen der drei Aufsichtsbereiche Versi- leistungsinstituten im Hinblick auf den verursachten cherungswesen, Kredit- und Finanzdienstleistungswesen Aufsichtsaufwand als angemessen erwiesen hatte. sowie Wertpapierhandel umgelegt. Für den Bereich Kre- dit- und Finanzdienstleistungswesen erfolgt die Umlage Durch die jetzige Anpassung der Mindestbeiträge soll auf das einzelne Institut grundsätzlich nach dem Verhält- gewährleistet werden, dass die Finanzdienstleistungs- nis zwischen seiner Bilanzsumme und der Summe aller institute möglichst ihren Anteil an den ihnen zuzuschrei- Bilanzsummen (§ 8 Abs. l Nr. l FinDAGKostV). Gleich- benden Aufsichtskosten tragen. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2004 7877

(A) Anlage 29 Anlage 31 (C) Antwort Antwort des Parl. Staatssekretärs Karl Diller auf die Frage des des Parl. Staatssekretärs Karl Diller auf die Fragen des Abgeordneten Hans Michelbach (CDU/CSU) (Druck- Abgeordneten Albert Rupprecht (Weiden) (CDU/CSU) sache 15/2379, Frage 37): (Drucksache 15/2379, Fragen 39 und 40): Gedenkt die Bundesregierung in diesem Frühjahr einen Mit welcher Argumentation vertritt die Bundesregierung Gesetzentwurf für eine große Steuerreform mit radikaler Steu- gegenüber der EU-Kommission ihre Position, die EU-Erwei- ervereinfachung vorzulegen? terung stringent vorantreiben zu wollen und zugleich das EU- Ausgabenvolumen auf 1 Prozent der Wirtschaftsleistungen Nein. (BNE) zu beschränken? Wie gedenkt die Bundesregierung angesichts des mehrfa- chen Verfehlens der EU-Stabililtätskriterien hintereinander und angesichts der diesbezüglich wiederholten Fehleinschät- zungen, nun für die Folgejahre Einschätzungen fundierter Anlage 30 treffen zu können? Antwort Zu Frage 39: des Parl. Staatssekretärs Karl Diller auf die Frage des Die Bundesregierung sieht bei den Verhandlungen Abgeordneten Ernst Hinsken (CDU/CSU) (Druck- über den künftigen Finanzrahmen der erweiterten Union sache 15/2379, Frage 38): ab 2007 die Notwendigkeit, eine Kohärenz zwischen den Lehnt die Bundesregierung weiterhin die Einführung eines finanzpolitischen Spielräumen auf nationaler Ebene und reduzierten Mehrwertsteuersatzes für die von starken Umsatz- einbrüchen betroffene deutsche Gastronomie ab, obwohl die einer verantwortungsvollen Ausgabenpolitik auf Ge- Europäische Kommission empfohlen hat, den Mitgliedstaaten meinschaftsebene herzustellen. die Möglichkeit einzuräumen, den reduzierten Mehrwertsteu- ersatz für die Gastronomie anwenden zu können, andere Mit- Der Stabilitäts- und Wachstumspakt erfordert von den gliedstaaten, wie zum Beispiel Frankreich, dies vehement be- Mitgliedstaaten auf nationaler Ebene weitreichende fürworten und im Hinblick auf die EU-Osterweiterung eine Konsolidierungsrnaßnahmen und ist mit erheblichen weitere Verschärfung der Wettbewerbssituation zu erwarten Einschnitten verbunden. ist, und wenn ja, warum? Vor diesem Hintergrund ist es aus Sicht der Bundesre- Ja. Die Bundesregierung sieht sich in ihrer Haltung gierung unabdingbar, dass der künftige Finanzrahmen durch den Bericht der Europäischen Kommission zu der Union nicht vom Konsolidierungsprozess in den (B) dem Experiment „Ermäßigter Mehrwertsteuersatz auf (D) arbeitsintensive Dienstleistungen“ bestätigt, aus dem Mitgliedstaaten ausgenommen werden kann. Vielmehr sich eindeutig ergibt, dass durch die Einführung ermä- muss sich das künftige Ausgabevolumen der EU ver- ßigter Umsatzsteuersätze weder positive Effekte im Hin- stärkt an der Leistungsfähigkeit ihrer Mitgliedstaaten blick auf die Schaffung neuer Arbeitsplätze noch auf die ausrichten. Eindämmung der Schwarzarbeit erzielt werden können. Mit einem Finanzrahmen von nicht mehr als l Prozent Vielmehr wird deutlich, dass der ermäßigte Umsatzsteu- der Wirtschaftsleistung der erweiterten Union (Bruttona- ersatz eine Steuersubvention ist. Die Bundesregierung tionaleinkommen – BNE) stehen aus Sicht der Bundesre- lehnt deshalb die Einführung eines ermäßigten Umsatz- gierung ausreichend Finanzmittel für eine zukunftsfähige steuersatzes für Restaurationsumsätze auch weiterhin ab. neue Politikausrichtung in der Union zur Verfügung. Bei Einführung des ermäßigten Steuersatzes in diesem Bereich ergäbe sich im Übrigen ein Steuerausfall in Die Begrenzung auf 1 Prozent der Wirtschaftsleistung Höhe von 1,9 Milliarden Euro, der haushaltsmäßig nicht bedeutet nämlich kein Einfrieren des Finanzvolumens, zu verkraften wäre. sondern einen Anstieg gegenüber einem EU-Haushalt von heute rund 100 Milliarden Euro auf rund 150 Mil- Das Umsatzsteuerrecht ist innerhalb der EU insbeson- liarden Euro im Jahr 2013. Künftige EU-Haushalte neh- dere durch die Regelungen der 6. EG-Richtlinie weitest- men damit in vollem Urnfang am wirtschaftlichen gehend harmonisiert. Umsätze im Gaststättengewerbe Wachstum der erweiterten Union teil. (Abgabe von Speisen und Getränken zum Verzehr an Ort und Stelle) unterliegen EU-weit nach den derzeit gelten- Selbst bei einer Begrenzung auf l Prozent des EU- den Regelungen grundsätzlich dem allgemeinen Um- BNE würden die deutschen Abführungen an den EU- satzsteuersatz. Allerdings können einige Mitgliedstaa- Haushalt von derzeit rund 22 Milliarden Euro auf rund ten – nicht aber Deutschland – und einige der zum 33 Milliarden Euro im Jahr 2013 steigen. Dies verdeut- 1. Mai 2004 der EU beitretenden zukünftigen Mitglied- licht die Bereitschaft der Bundesregierung, ihren Beitrag staaten übergangsweise für die Umsätze im Gaststätten- zu einer zukunfts- und wachstumsorientierten Union zu gewerbe einen ermäßigten Umsatzsteuersatz anwenden. leisten.

Die Bundesregierung sieht – ebenso wie die ehema- Zu Frage 40: lige Regierung aus CDU/CSU und FDP – durch die un- terschiedlichen Umsatzsteuersätze innerhalb der EU Den Projektionen für die Entwicklung der Referenz- keine Wettbewerbsnachteile zulasten der einheimischen werte nach dem Europäischen Stabilitäts- und Wachs- Gastronomiewirtschaft. tumspakt liegt die jeweils aktuelle Projektion der 7878 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2004

(A) Bundesregierung über die gesamtwirtschaftliche Ent- Zu Frage 41: (C) wicklung zugrunde. Die Bundesregierung begrüßt generell die Bereit- Die Schätzung der Bundesregierung ist im Kontext schaft von Regionen, sich als Innovationsregion zu be- mit den Prognosen der führenden Wirtschaftsfor- werben. Das gilt auch für die nördliche Oberfalz. schungsinstitute und des Sachverständigenrates und in- ternationaler Organisationen zu sehen. Die Projektionen Zu Frage 42: liegen im Allgemeinen nahe beieinander und unterstel- Die Kriterien für die Teilnahme werden derzeit erar- len eine ähnliche konjunkturelle Entwicklung. beitet. Sie werden mit der Aufforderung zur Teilnahme Für die jüngste Vergangenheit gilt dabei generell: Die veröffentlicht werden. Das Projekt „Innovationsregio- nen“ ist von anderen Programmen gesondert zu beach- Abweichungen bei der Schätzung des realen Bruttoin- ten, insbesondere auch von den ergriffenen Maßnahmen landsprodukts waren relativ gering. Für die Haushalts- zur regionalpolitischen Flankierung der EU-Osterweite- aufstellung ist aber die Entwicklung des nominalen In- rung. landsprodukts wichtiger. Alle Prognostiker haben dabei die Stabilität der Preise unterschätzt, also die Inflation überschätzt. Die Bundesregierung bewegt sich mit ihren Projektionen üblicherweise innerhalb des Prognose- spektrums der anderen Institutionen. Die größten Abwei- Anlage 33 chungen zwischen Schätz- und Ist-Ergebnis zeigen sich Antwort vor allem in Rezessionsjahren. Hier zeigt sich, dass alle Institutionen Rezessionen und anhaltende Stagnations- des Parl. Staatssekretärs Gerd Andres auf die Frage des phasen im Allgemeinen nicht oder nicht in vollem Aus- Abgeordneten Uwe Schummer (CDU/CSU) (Drucksa- maß vorhersehen. Insofern stehen auch die Projektionen che 15/2379, Frage 43): zur Entwicklung des Maastricht-Defizits immer unter Gedenkt die Bundesregierung die wirtschaftlichen Bezie- Konjunkturvorbehalt. Die gesamtwirtschaftliche Voraus- hungen zu China auszuweiten, und welchen Stellenwert haben dabei die grundlegenden Menschenrechte wie das Verbot von schätzung liefert auch die entscheidende Basis für die Kinderarbeit und Zwangsarbeit? Projektionen des Arbeitskreises Steuerschätzungen. Da- mit sind – neben der Bundesregierung – alle wesentli- Deutschland und China verbinden lange und tradi- chen Institutionen vertreten, die fachlich fundierte Vor- tionsreiche Wirtschaftsbeziehungen. Dabei genießt die hersagen zur Entwicklung des Steueraufkommens deutsche Wirtschaft in China einen besonders guten Ruf erstellen können: Vertreter aller führenden Wirtschafts- als kompetenter Partner in wichtigen Technologie-, (B) forschungsmstitute, des Sachverständigenrates, der Bun- Umwelt- und Infrastrukturbereichen. Die dynamische (D) Entwicklung des deutschen Exports in den letzten Jah- desbank, aller Bundesländer und der kommunalen Spit- ren mit zweistelligen Steigerungsraten (zum Beispiel zenverbände. Die im Konsens der Mitglieder erzielten 2002 mit + 19,6 Prozent, 1. Halbjahr 2003 mit Ergebnisse beeinflussen die Schätzung zum Maastricht- + 29,9 Prozent) hat dazu geführt, dass China unser Defizit wesentlich; die Schätzung erfolgt somit auf einer größter Handelspartner im asiatisch-pazifischen Raum abgestimmten und fundierten Basis. noch vor Japan geworden ist. Andererseits ist Deutsch- Die Bundesregierung wird ihre Projektionen auch in land mit Abstand Chinas wichtigster Handelspartner in Europa und im Technologie- und Investitionsgüterbe- Zukunft auf fachlich fundierte Voraussagen über die reich zugleich eine strategische Alternative zu Chinas konjunkturelle Entwicklung stützen. Haupthandelspartnern Japan und USA. Die Bundesre- gierung gedenkt, die deutsche Wirtschaft bei ihren Akti- vitäten auf dem dynamischen und stark wachsenden chinesischen Markt weiter und verstärkt zu unterstüt- Anlage 32 zen. Dabei geht die Bundesregierung von der Prämisse Antwort aus, dass weltweiter Handel und grenzüberschreitende Investitionen zu den wichtigsten Voraussetzungen für des Parl. Staatssekretärs Gerd Andres auf die Fragen Wachstum, Beschäftigung und Wohlstand in Deutsch- des Abgeordneten Georg Girisch (CDU/CSU) (Druck- land gehören. Unsere strategischen Überlegungen kon- sache 15/2379, Fragen 41 und 42): zentrieren sich dabei auf folgende Prioritäten: Erhal- tung und Ausbau des ersten Ranges Deutschlands als Wie ist die Haltung der Bundesregierung dazu, die nördli- che Oberpfalz (Stadt Weiden, Landkreise Neustadt/WN und europäischer Wirtschaftspartner Chinas; Verbesserung Tirschenreuth) als eine „Innovationsregion“ zu benennen, der Rahmenbedingungen für deutsche Unternehmensak- nachdem die Bayerische Staatsregierung (zum Beispiel in den tivitäten in China; Förderung marktwirtschaftlicher Re- Oberpfälzer Nachrichten vom 19. Januar 2004) öffentlich an- formen in China; Unterstützung der Tendenzen zu wirt- gekündigt hat, die Bewerbung dieses Gebietes als Modellre- schaftlicher Integration in Ostasien. Auf diesem gion gegenüber der Bundesregierung zu unterstützen? Hintergrund verfolgt die Bundesregierung – kurz-, mit- Nach welchen Kriterien soll die Festlegung der „Innova- tel- und langfristig – fünf Ziele. 1. Wir wollen in China tionsregionen“ erfolgen, und welches Gewicht hat in diesem neue Partner finden und dadurch unsere Wirtschafts- Zusammenhang die Zusicherung des Bundeskanzlers Gerhard Schröder vom Dezember 2000 in Weiden, ein Grenzgürtelpro- beziehungen auf eine breitere Grundlage stellen. Des- gramm für die bayerischen Gebiete entlang der EU-Erweite- halb messen wir der Entstehung eines wettbewerbsfähi- rungsgrenze aufzulegen? gen Privatsektors große Bedeutung bei. 2. Deutsche Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2004 7879

(A) Unternehmen sind bereit, an der nach dem WTO-Bei- Anlage 34 (C) tritt Chinas notwendigen Modernisierung der chinesi- schen Industrie mitzuwirken. 3. Die deutsche Wirt- Antwort schaft ist daran interessiert, in China am Aufbau eines des Parl. Staatssekretärs Gerd Andres auf die Fragen des leistungsfähigen Dienstleistungswesens teilzunehmen, Abgeordneten Klaus Hofbauer (CDU/CSU) (Drucksa- insbesondere in den Bereichen Handel, Banken, Versi- che 15/2379, Fragen 44 und 45): cherungen, Telekommunikation, Logistik. 4. Die deut- Welche Auswirkungen der EU-Osterweiterung sieht die sche Wirtschaft ist ein kompetenter Partner für die Ent- Bundesregierung auf die Chancen deutscher Busunternehmen, wicklung der Infrastruktur, des Umweltschutzes und insbesondere des Mittelstandes, bei öffentlichen Ausschrei- kommunaler Versorgungsleistungen. 5. Ein bedeuten- bungen auf europäischer Ebene? des Potenzial für die Entwicklung unserer bilateralen In welchem Umfang werden nach Auffassung der Bundes- Wirtschaftsbeziehungen eröffnen moderne Hochtechno- regierung deutsche Busunternehmen nach der EU-Osterweite- logien. Diese Strategie und Ziele der deutsch-chinesi- rung durch die Tätigkeit von Busunternehmen aus den EU- schen Wirtschaftsbeziehungen sind durch die Reise des Beitrittsländern in Deutschland vom Markt verdrängt werden? Bundeskanzlers nach China vom Dezember 2003 bestä- tigt worden. Zu Frage 44: Die Achtung der Menschenrechte in der VR China Die EU-Osterweiterung ist für die gesamte deutsche ist für die Bundesregierung in ihren Beziehungen zu Wirtschaft mit Chancen und Risiken verbunden. Chancen China von großer Bedeutung. Sie misst der Ächtung ergeben sich für Busunternehmen insbesondere des Mit- der Kinderarbeit sowie der Abschaffung der Adminis- telstandes durch den ungehinderten Zugang zu den Märk- trativhaft hohen Stellenwert bei. Eine Form dieser Ad- ten der erweiterten Gemeinschaft. Ab 1. Mai 2004 werden ministrativhaft – „Umerziehung durch Arbeit“ – sieht die Unternehmen noch stärker als bisher, zum Beispiel explizit vor, dass politische Dissidenten als „antisozia- nach der Dienstleistungsrichtlinie, die keine Übergangs- listische“ und „parteifeindliche“ Elemente bis zu vier fristen kennt, sich an öffentlichen Ausschreibungen betei- Jahre in ein Arbeitslager geschickt werden können, ligen können, so wie dies bislang auch schon in den bishe- ohne dass ein Gericht die Vorwürfe geprüft hat, Die rigen Mitgliedstaaten der Fall war. Dass die deutsche andauernd schwierige Lage der Menschenrechte in der Wirtschaft ihre Vorteile auf diesen neuen Märkten zu nut- VR China ist Gegenstand genauer Beobachtung der zen weiß, zeigt das stetige Exportwachstum im Handel Bundesregierung. Trotz feststellbarer Fortschritte wer- mit den MOEL. Zu berücksichtigen ist dabei, dass das den die Menschenrechte nicht hinreichend beachtet. Wachstum in den Beitrittsländern sich im Zuge der An- Hier setzt die Bundesregierung mit ihrem Menschen- gleichung der Lebensbedingungen stärker entwickeln und rechtsdialog im bilateralen und ebenso im EU-Rah- sich dadurch auch im Verkehrssektor zusätzliche Nach- (B) (D) men an. Auch der 1999 initiierte Rechtsstaatsdialog frage ergeben wird, die allen Betrieben zugute kommen trägt dazu bei, rechtsstaatliche Strukturen zu stärken kann. In der Übergangsphase bestehen die Risiken insbe- und damit Defizite im Bereich der Menschenrechte sondere in dem Lohnkostengefälle zwischen den derzeiti- abzubauen. Darüber hinaus nutzt die Bundesregierung gen mitteleuropäischen EU-Mitgliedstaaten und den alle Foren, um ihre Menschenrechts-Positionen chine- Beitrittsländern. Hier kommt es insbesondere für die mit- sischen Gesprächspartnern gegenüber deutlich zu ma- telständische Wirtschaft darauf an, ihre Kostenvorteile chen. und ihre Flexibilität gegenüber Großunternehmen zur Geltung zu bringen. Eine Kooperation mit Betrieben aus Kinderarbeit ist in der VR China seit dem Jahr den Beitrittsländern kann insbesondere bei öffentlichen 1991 offiziell verboten. Ab dem 1. Dezember 2002 Ausschreibungen helfen, die auf den jeweiligen Seiten be- wurden in einem Erlass des chinesischen Staatsrates stehenden Vorteile (Kosten, Marktkenntnis, Management- die Tatbestände sowie das Strafmaß bei Verstößen ge- kompetenz, Kapitalsausstattung etcetera) zu einem wett- gen das Kinderarbeitsverbot deutlicher beschrieben bewerbsfähigen Gesamtpaket zusammenzuführen. und verschärft. Im Jahre 2003 erließ der Oberste Volksgerichtshof die für nachgeordnete Justizbehör- Zu Frage 45: den bindenden neuen juristischen Auslegungen des Tatbestandes von „gefährlicher Kinderarbeit“. Arbeit- Die EU-Osterweiterung eröffnet den Betrieben der geber, die Jugendliche unter 16 Jahren für schwere Beitrittsländer die gleichen Chancen in Deutschland wie körperliche Arbeit oder Tätigkeiten heranziehen, wer- den oben angeführten Chancen deutscher Unternehmen den künftig mit bis zu sieben Jahren Gefängnis be- in den Beitrittsländern. Konkurrenz wird den deutschen straft. Die VR China hat die ILO-Konvention 138, die Busunternehmen in den Bereichen erwachsen, in denen das Mindestalter von 16 Jahren vorschreibt, und die ein Marktzugang rechtlich und faktisch möglich ist. Dies ILO-Konvention 182, die die schlimmsten Formen der ist insbesondere beim Gelegenheitsverkehr und bei der Kinderarbeit verbietet, ratifiziert. Der Erfolg der Um- Erbringung von Subunternehmerleistungen im öffentli- setzung hängt allerdings von den Arbeitsbehörden und chen Nahverkehr der Fall. Die Bundesregierung ist aber deren Kontrollen zur Einhaltung der Bestimmungen nicht der Auffassung, dass mit der EU-Osterweiterung ab. Die Beschäftigung von Kindern unter 16 Jahren ist eine Verdrängung der deutschen Busunternehmen ein- in China verboten, jedoch ist es in ländlichen Provin- hergehen muss. Es kommt darauf an, dass die deutschen zen zulässig, Kinder ab dem Alter von 13 Jahren le- Unternehmen die durch die EU-Osterweiterung sich bie- gal zu beschäftigen, wenn für diese keine Möglichkeit tenden Chancen nutzen. Auf die Antwort zu Frage 44 des Schulbesuches gegeben ist. wird im Übrigen verwiesen. 7880 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 88. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Januar 2004

(A) Anlage 35 Zu Frage 47: (C) Antwort Die Zugriffszahlen auf den Virtuellen Arbeitsmarkt (VAM) waren in den ersten drei Tagen seit seiner Ein- des Parl. Staatssekretärs Gerd Andres auf die Frage führung am 1. Dezember 2003 sehr hoch. Bis zu einer der Abgeordneten Petra Pau (fraktionslos) (Drucksache Million Nutzer griffen in der Anfangszeit parallel auf die 15/2379, Frage 46): Seiten arbeitsagentur.de zu. Aufgrund der hohen Zu- Welche Projekte im Ausland sind der Bundesregierung be- griffszahlen kam es in den ersten Tagen in der Tat zu kannt, für die die Westdeutsche Landesbank (WestLB) eine Verzögerungen. Inzwischen hat sich die Nachfrage stabi- Hermes-Bürgschaft beantragt hat, und inwieweit unterstützen diese Projekte die Grundsätze und Interessen der Bundesrepu- lisiert. In den letzten fünf Wochen lag die Systemverfüg- blik Deutschland? barkeit laut Auskunft der Bundesagentur für Arbeit (BA) zwischen 99 und 100 Prozent. Ein Vergleich der Vermitt- Die WestLB – wie andere Banken auch – stellt als ex- lungsergebnisse zwischen dem VAM und dem „System portfinanzierende Bank bei vielen Projekten bzw. Ge- Wimmi“ kann nicht gezogen werden. Beim VAM han- schäften Anträge auf die Übernahme einer Exportkredit- delt es sich um eine Datenbank, in der alle der BA ge- garantie. Aus Gründen des Schutzes von Betriebs- und meldeten Stellen und Bewerberangebote originär gespei- Geschäftsgeheimnissen können keine Angaben über die chert sind und in die Interessierte ihre Bewerber- und laufenden Deckungsanträge der WestLB gemacht werden. Stellenangebote frei eingeben und verwalten können. Die Bundesregierung übernimmt Exportkreditgarantien Ein so genanntes Matchingsystem ermöglicht einen Ab- nur, wenn neben der risikomäßigen Vertretbarkeit auch gleich von vorhandenen Stellenangeboten und potenziel- die Förderungswürdigkeit eines Exportgeschäfts gegeben len Bewerbern; über ein internes Mailsystem kann die ist. Ein wichtiger Gesichtspunkt ist die Sicherung von Ar- direkte Kontaktaufnahme erfolgen. Bei dem „System beitsplätzen in Deutschland. Zudem wird ein Projekt ent- Wimmi“ handelt es sich dagegen um einen Job-Roboter, sprechend der „Leitlinien für die Berücksichtigung von der Stellenausschreibungen im Internet sucht und dann ökologischen, sozialen und entwicklungspolitischen Ge- auf die Homepage des Anbieters verweist. Der Job-Ro- sichtspunkten bei der Vergabe von Exportkreditgarantien“ boter Wimmi wurde von der BA zwar erprobt, jedoch geprüft. nicht weiter eingesetzt, weil sie sich für die Einführung eines technisch überlegenen und zugleich kostengünsti- geren anderen Job-Roboter entschieden hat, der eben- falls ab dem 1. Dezember 2003 in Ergänzung des VAM Anlage 36 flächendeckend eingeführt wurde. Grundsätzlich ist die Antwort Messung von Vermittlungsergebnissen weder bei einer (B) Selbstbedienungsplattform wie dem VAM noch bei (D) des Parl. Staatssekretärs Gerd Andres auf die Fragen des einem Job-Roboter wie „Wimmi“ möglich. Abgeordneten Hartmut Schauerte (CDU/CSU) (Druck- sache 15/2379, Fragen 47 und 48): Zu Frage 48: Trifft es zu, dass der Virtuelle Arbeitsmarkt (VAM) techni- sche Probleme hat, die den Betrieb und die im Dezember Die Erkenntnisse der Bundesregierung über die Ver- 2003 der Öffentlichkeit vorgestellten Funktionalitäten massiv gabe von externen Beratungsleistungen im Zusammen- beeinträchtigen (vergleiche DIE WELT vom 23. Januar 2004, hang mit dem VAM beruhen auf Stellungnahmen der Handelsblatt vom 21. Januar 2004), und trifft es zu, dass die BA. Die BA handelt bei der Vergabe von diesen Bera- Vermittlungsergebnisse des VAM schlechter sind, als bei dem tungsleistungen als bundesunmittelbare Körperschaft von der Bundesagentur für Arbeit geförderten System Wimmi? des öffentlichen Rechts eigenverantwortlich. Im Übrigen prüft der BRH seit Augsut 2003 das Projekt VAM um- Welche Erkenntnisse liegen der Bundesregierung über die Vergabe von externen Beratungsleistungen im Zusammen- fänglich. Ergebnisse dieser Prüfung liegen nach Aus- hang mit dem VAM vor, und gibt es hier Auffälligkeiten? kunft der BA derzeit noch nicht vor.

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