Abschied Von Bismarck

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Abschied Von Bismarck Wirtschaft DEUTSCHES HISTORISCHES MUSEUM BERLIN HISTORISCHES DEUTSCHES Arbeitslose während der Weltwirtschaftskrise (1932): Tiefere Ursachen der Misere Jobsuchende (2002): Vorsorge jenseits von Abschied vonREFORMEN Bismarck Mit seinem Abgabenwahn treibt der deutsche Sozialstaat Millionen Menschen in Arbeitslosigkeit und Schattenwirtschaft. Ein DIW-Gutachten im Auftrag des SPIEGEL zeigt: Wenn die Lohnnebenkosten massiv sinken würden, könnten bis zu eine Million neue Jobs entstehen. ür Florian Gerster, den obersten Ar- Wirtschaftsprofessor Paul Welfens. Ähnli- zwischen Brutto- und Nettogehalt muss beitsvermittler der Republik, ist es che Szenarien kursieren auch bei der Bun- kleiner werden.“ Fein trauriges Ritual: Alle vier Wo- desvereinigung der Deutschen Arbeitge- Denn in kaum einem anderen Industrie- chen betritt er einen schlichten Saal im berverbände. land der Welt sind die Sozialabgaben in Hochhaus der Nürnberger Bundesanstalt, Gründe dafür gibt es viele: die miese den vergangenen Jahrzehnten derart ra- um mit vielen Worten eine nüchterne Weltkonjunktur. Die ängstliche Zurück- sant gestiegen wie in Deutschland: Ende Statistik zu erklären, die Zahl der Arbeits- haltung der Verbraucher. Das schlech- der fünfziger Jahre lagen die gesamten So- losen in Deutschland. te Wetter. „Der Februar“, Und so hatte der Mann, der einst als sagt Gerster, „war kalt und Sozialminister in Rheinland-Pfalz Karriere schneereich.“ Deshalb ging machte, ehe Gerhard Schröder ihn nach es den wetterabhängigen Nürnberg schickte, auch am Donnerstag Branchen schlecht. voriger Woche wieder trübe Nachrichten Doch die Ursachen der zu verkünden: 4,706 Millionen Menschen Misere, das weiß auch ohne Job. Über 410000 mehr als vor ei- der Arbeitsamtschef aus nem Jahr. Ein neuer Negativrekord für Nürnberg, sitzen in Wahr- Rot-Grün. heit tiefer: Das eigentliche Noch nie seit dem Amtsantritt von Ger- Problem sei die Belastung hard Schröder hatten derart viele Deut- des Faktors Arbeit mit den sche keine Arbeit, nur zweimal in der hohen Lohnnebenkosten, Geschichte der Bundesrepublik lag die denn die „wirken wie eine Arbeitslosenzahl überhaupt höher, im Win- Strafsteuer auf Arbeit“. ter 1998. Damals waren es im Januar und Seit Monaten fordert Februar über 4,8 Millionen. Dann folgte Gerster, der Abgabensatz der Aufschwung, den Schröder flugs als müsse runter – und zwar seinen Aufschwung verkaufte. deutlich. Nur dann komme Doch diesmal ist nach Ansicht aller Ex- der Job-Motor wieder in perten eine schnelle Wende nicht in Sicht. Gang, nur dann lasse sich „Wenn die Konjunktur noch einen Schlag die „German Disease“, erhält, werden wir ruck, zuck bei fünf Mil- die deutsche Krankheit, AKG lionen sein“, befürchtet der Potsdamer überwinden: „Die Lücke Sozialreformer Bismarck, Kanzler Schröder: Die Abgabenspirale 80 der spiegel 11/2003 • Gleichzeitig fliehen immer mehr Deut- nicht retten. Nötig ist ein weit reichender sche in die Schattenwirtschaft. Schon Umbau des gesamten Abgabensystems – jetzt produzieren sie mit Schwarzarbeit eine Revolution. Denn nur wenn die So- Güter und Dienstleistungen im Wert von zialkassen wirklich vom Faktor Arbeit ent- 370 Milliarden Euro, ohne dass darauf koppelt werden, lässt sich das dramatische Abgaben oder Steuern erhoben werden. Wechselspiel von explodierenden Beiträ- Den Sozialversicherungen wird so nach gen und steigender Arbeitslosigkeit durch- und nach die Basis entzogen, auf der sie brechen. einst errichtet wurden: je höher die Beiträ- Wie solch eine Reform aussehen könn- ge, umso höher die Arbeitslosenrate. Und te, hat der SPIEGEL vom Deutschen Insti- je weniger Menschen einen Job haben, tut für Wirtschaftsforschung Berlin (DIW) desto kräftiger steigen die Beiträge. in einem 38-seitigen Gutachten durch- Auch unter Rot-Grün dreht sich diese rechnen lassen – im Original zu finden un- irrwitzige Abgabenspirale weiter. Die Kran- ter www.spiegel.de. kenkassen erhöhten zum Jahreswechsel Entstanden ist ein Modell mit dem Titel ihre Beiträge um durchschnittlich drei „Arbeit für viele“. Es könnte, ähnlich wie zehntel Prozentpunkt; die Rentenversi- 1996 die radikalen Steuerpläne des CDU- cherung fordert vier zehntel mehr; gleich- Wirtschaftsexperten Gunnar Uldall, die Re- zeitig hat Sozialministerin Ulla Schmidt die formdebatte beschleunigen und den Weg Lohngrenzen, bis zu denen Beiträge fällig für neue, unkonventionelle Lösungen auf- sind, massiv angehoben – weil andernfalls zeigen. Denn die Lohnnebenkosten, und noch immer Milliardenlöcher verbleiben. damit ihr negativer Einfluss auf die Be- THEO HEIMANN / DDP THEO HEIMANN Werkhalle und Büro zialabgaben, die auf dem Lohn lasteten, Das Konzept bei nur 24 Prozent. Mittlerweile ist der Satz auf 42 Prozent emporgeschnellt. Tendenz: Bis zu eine Million neue Jobs und die Senkung der Lohn- weiter steigend. Die Folgen für Jobs, Wachstum und In- nebenkosten von durchschnittlich 42 Prozent auf 5,5 Prozent vestitionen sind verheerend: könnten durch den Umbau der Sozialkassen erreicht werden. Hierzu • Weil Lohnarbeit sich immer mehr ver- teuert, wird der Faktor Mensch von müssten die bisherigen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerbeiträge den Firmen einfach wegrationalisiert – zum größten Teil aus Steuern und lohnunabhängigen Prämien und durch Computer und Maschinen ersetzt. Ein Prozentpunkt mehr Sozial- finanziert werden. Dies zeigen Berechnungen des Deutschen Instituts für abgaben bedeutet 100000 Arbeitsplät- Wirtschaftsforschung Berlin (DIW). ze weniger. • Besonders für Geringverdiener rechnen sich viele Jobs nicht mehr. Die „Straf- steuer“ beträgt unabhängig vom Gehalt Ökonomisch sei dies genau „das Ge- schäftigung in Deutschland, würden fast 42 Prozent. Ganze Lohngruppen blei- genteil dessen“, was geboten ist, monier- völlig verschwinden. ben unbesetzt, viele Service-Stellen ent- ten schon im Herbst die sechs führenden In diesem neuen Modell wird der Faktor stehen gar nicht erst – weil sie den So- Wirtschaftsinstitute. Ein Teil der SPD- Arbeit nur noch mit jenen Sozialbeiträgen zialaufschlag nicht erwirtschaften. Schlappe bei den Landtagswahlen am 2. direkt belastet, die wirklich mit dem Job zu Februar und den Kommunalwahlen in tun haben, weil sie der Absicherung für Schleswig-Holstein sei auf den Abgaben- Berufsunfälle, längere Krankheit und Ar- wahn zurückzuführen, analysierten die beitslosigkeit dienen. Alle anderen Vor- Meinungsforscher. sorgeaufwendungen – von der Rente bis Der Kanzler sagt, er habe verstanden. zur Gesundheit – werden hingegen durch Die Renovierung der sozialen Sicherungs- private Prämien und Steuern finanziert. systeme sei von nun an „die wichtigste in- Diese neue Form der Finanzierung wür- nenpolitische Aufgabe dieser Legislatur- de die Sozialabgaben massiv senken, statt periode“. rund 370 Milliarden Euro wären nur noch 18 Monate verbleiben Schröder, ehe die rund 52 Milliarden fällig. Der Beitragssatz wichtigen Wahlen in Brandenburg, Saar- läge am Ende nicht mehr bei 42, sondern land, Sachsen und Thüringen anstehen. In bei 5,5 Prozent – ein Befreiungsschlag für seiner Rede zur Lage der Nation diese Wo- alle Beschäftigten und Betriebe. che im Bundestag will er die Richtung vor- Anders als bei allen gängigen Nied- geben, die Rürup-Kommission und Sozial- riglohnmodellen werden nicht nur die Jobs ministerin Schmidt sollen später die De- am unteren Ende der Einkommensskala tails nachliefern. begünstigt. Vielmehr profitieren auch An- Doch wie mutig ist der Kanzler wirk- gestellte und Arbeiter mit mittleren und lich? Wie viel Veränderungsbereitschaft höheren Einkommen vom drastischen Ab- traut er den Menschen im Land zu? Und bau der Lohnnebenkosten – während hin- wie viel Reformwillen der SPD? gegen Vermögens- und Kapitalbesitzer Mit ein paar Korrekturen hier und da, da mehr bezahlen müssen als heute. MICHAEL KAPPELER / DDP MICHAEL KAPPELER sind sich alle Fachleute einig, lässt sich das Komplizierte Detailregelungen, wie etwa dreht sich weiter deutsche Modell der Sozialversicherungen das Dienstmädchen-Privileg oder die Mini- der spiegel 11/2003 81 Wirtschaft Jobs, erübrigen sich, die ökonomische Wir- Die Menschen mussten arbeiten, bis sie Kriegen und Naturkatastrophen zu ver- kung ist ungleich größer: Nach Berech- 70 waren, ein Alter, das kaum jemand er- zeichnen ist. 1949 betrug es 20 Prozent, nungen des DIW könnten eine halbe Mil- reichte: 1871, als Bismarck Reichskanzler Mitte der fünfziger Jahre immer noch rund lion, im besten Fall sogar bis zu eine Mil- wurde, betrug die Lebenserwartung der 10 Prozent, dann erst pendelte es sich bei lion neue Stellen entstehen. Deutschen 37 Jahre, bis 1910 stieg sie auf 47 5 Prozent ein. Einher geht dieser Systemwechsel mit Jahre. Die Beiträge für das Sozialsystem Die Sozialkassen quollen in dieser dem Abschied von jenem althergebrach- waren daher minimal. Für die Rente lagen Boomphase über. Sie basierten darauf, dass ten Versicherungssystem, das Otto von Bis- sie anfangs bei durchschnittlich 1,7 Pro- nahezu alle Beschäftigten klassische Ar- marck vor 120 Jahren erschaffen hat. Da- zent, in der Krankenversicherung zwischen beitnehmer sind und deren Produktivität mals, im Gefolge der industriellen Revolu- 1,5 und 6 Prozent. Den Faktor Arbeit hat stetig wächst. So wuchs der Anteil der ab- tion, entstanden Renten-, Unfall- und das kaum verteuert, die Industriegesell- hängig Beschäftigten zwischen 1950 und Krankenversicherung, später kamen Ar- schaft konnte sich ungebremst entfalten. 1979 von 65 auf 87 Prozent. Entsprechend beitslosen- und Pflegeversicherung. Was unter Bismarck entstand, wurde in erhöhte sich die Zahl der Beitragszahler, Bismarcks Sozialsystem,
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