Wirtschaft DEUTSCHES HISTORISCHES MUSEUM BERLIN HISTORISCHES DEUTSCHES Arbeitslose während der Weltwirtschaftskrise (1932): Tiefere Ursachen der Misere Jobsuchende (2002): Vorsorge jenseits von Abschied vonREFORMEN Bismarck Mit seinem Abgabenwahn treibt der deutsche Sozialstaat Millionen Menschen in Arbeitslosigkeit und Schattenwirtschaft. Ein DIW-Gutachten im Auftrag des SPIEGEL zeigt: Wenn die Lohnnebenkosten massiv sinken würden, könnten bis zu eine Million neue Jobs entstehen. ür Florian Gerster, den obersten Ar- Wirtschaftsprofessor Paul Welfens. Ähnli- zwischen Brutto- und Nettogehalt muss beitsvermittler der Republik, ist es che Szenarien kursieren auch bei der Bun- kleiner werden.“ Fein trauriges Ritual: Alle vier Wo- desvereinigung der Deutschen Arbeitge- Denn in kaum einem anderen Industrie- chen betritt er einen schlichten Saal im berverbände. land der Welt sind die Sozialabgaben in Hochhaus der Nürnberger Bundesanstalt, Gründe dafür gibt es viele: die miese den vergangenen Jahrzehnten derart ra- um mit vielen Worten eine nüchterne Weltkonjunktur. Die ängstliche Zurück- sant gestiegen wie in Deutschland: Ende Statistik zu erklären, die Zahl der Arbeits- haltung der Verbraucher. Das schlech- der fünfziger Jahre lagen die gesamten So- losen in Deutschland. te Wetter. „Der Februar“, Und so hatte der Mann, der einst als sagt Gerster, „war kalt und Sozialminister in Rheinland-Pfalz Karriere schneereich.“ Deshalb ging machte, ehe Gerhard Schröder ihn nach es den wetterabhängigen Nürnberg schickte, auch am Donnerstag Branchen schlecht. voriger Woche wieder trübe Nachrichten Doch die Ursachen der zu verkünden: 4,706 Millionen Menschen Misere, das weiß auch ohne Job. Über 410000 mehr als vor ei- der Arbeitsamtschef aus nem Jahr. Ein neuer Negativrekord für Nürnberg, sitzen in Wahr- Rot-Grün. heit tiefer: Das eigentliche Noch nie seit dem Amtsantritt von Ger- Problem sei die Belastung hard Schröder hatten derart viele Deut- des Faktors Arbeit mit den sche keine Arbeit, nur zweimal in der hohen Lohnnebenkosten, Geschichte der Bundesrepublik lag die denn die „wirken wie eine Arbeitslosenzahl überhaupt höher, im Win- Strafsteuer auf Arbeit“. ter 1998. Damals waren es im Januar und Seit Monaten fordert Februar über 4,8 Millionen. Dann folgte Gerster, der Abgabensatz der Aufschwung, den Schröder flugs als müsse runter – und zwar seinen Aufschwung verkaufte. deutlich. Nur dann komme Doch diesmal ist nach Ansicht aller Ex- der Job-Motor wieder in perten eine schnelle Wende nicht in Sicht. Gang, nur dann lasse sich „Wenn die Konjunktur noch einen Schlag die „German Disease“,

erhält, werden wir ruck, zuck bei fünf Mil- die deutsche Krankheit, AKG lionen sein“, befürchtet der Potsdamer überwinden: „Die Lücke Sozialreformer Bismarck, Kanzler Schröder: Die Abgabenspirale

80 der spiegel 11/2003 • Gleichzeitig fliehen immer mehr Deut- nicht retten. Nötig ist ein weit reichender sche in die Schattenwirtschaft. Schon Umbau des gesamten Abgabensystems – jetzt produzieren sie mit Schwarzarbeit eine Revolution. Denn nur wenn die So- Güter und Dienstleistungen im Wert von zialkassen wirklich vom Faktor Arbeit ent- 370 Milliarden Euro, ohne dass darauf koppelt werden, lässt sich das dramatische Abgaben oder Steuern erhoben werden. Wechselspiel von explodierenden Beiträ- Den Sozialversicherungen wird so nach gen und steigender Arbeitslosigkeit durch- und nach die Basis entzogen, auf der sie brechen. einst errichtet wurden: je höher die Beiträ- Wie solch eine Reform aussehen könn- ge, umso höher die Arbeitslosenrate. Und te, hat der SPIEGEL vom Deutschen Insti- je weniger Menschen einen Job haben, tut für Wirtschaftsforschung Berlin (DIW) desto kräftiger steigen die Beiträge. in einem 38-seitigen Gutachten durch- Auch unter Rot-Grün dreht sich diese rechnen lassen – im Original zu finden un- irrwitzige Abgabenspirale weiter. Die Kran- ter www.spiegel.de. kenkassen erhöhten zum Jahreswechsel Entstanden ist ein Modell mit dem Titel ihre Beiträge um durchschnittlich drei „Arbeit für viele“. Es könnte, ähnlich wie zehntel Prozentpunkt; die Rentenversi- 1996 die radikalen Steuerpläne des CDU- cherung fordert vier zehntel mehr; gleich- Wirtschaftsexperten , die Re- zeitig hat Sozialministerin die formdebatte beschleunigen und den Weg Lohngrenzen, bis zu denen Beiträge fällig für neue, unkonventionelle Lösungen auf- sind, massiv angehoben – weil andernfalls zeigen. Denn die Lohnnebenkosten, und noch immer Milliardenlöcher verbleiben. damit ihr negativer Einfluss auf die Be- THEO HEIMANN / DDP THEO HEIMANN Werkhalle und Büro

zialabgaben, die auf dem Lohn lasteten, Das Konzept bei nur 24 Prozent. Mittlerweile ist der Satz auf 42 Prozent emporgeschnellt. Tendenz: Bis zu eine Million neue Jobs und die Senkung der Lohn- weiter steigend. Die Folgen für Jobs, Wachstum und In- nebenkosten von durchschnittlich 42 Prozent auf 5,5 Prozent vestitionen sind verheerend: könnten durch den Umbau der Sozialkassen erreicht werden. Hierzu • Weil Lohnarbeit sich immer mehr ver- teuert, wird der Faktor Mensch von müssten die bisherigen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerbeiträge den Firmen einfach wegrationalisiert – zum größten Teil aus Steuern und lohnunabhängigen Prämien und durch Computer und Maschinen ersetzt. Ein Prozentpunkt mehr Sozial- finanziert werden. Dies zeigen Berechnungen des Deutschen Instituts für abgaben bedeutet 100000 Arbeitsplät- Wirtschaftsforschung Berlin (DIW). ze weniger. • Besonders für Geringverdiener rechnen sich viele Jobs nicht mehr. Die „Straf- steuer“ beträgt unabhängig vom Gehalt Ökonomisch sei dies genau „das Ge- schäftigung in Deutschland, würden fast 42 Prozent. Ganze Lohngruppen blei- genteil dessen“, was geboten ist, monier- völlig verschwinden. ben unbesetzt, viele Service-Stellen ent- ten schon im Herbst die sechs führenden In diesem neuen Modell wird der Faktor stehen gar nicht erst – weil sie den So- Wirtschaftsinstitute. Ein Teil der SPD- Arbeit nur noch mit jenen Sozialbeiträgen zialaufschlag nicht erwirtschaften. Schlappe bei den Landtagswahlen am 2. direkt belastet, die wirklich mit dem Job zu Februar und den Kommunalwahlen in tun haben, weil sie der Absicherung für Schleswig-Holstein sei auf den Abgaben- Berufsunfälle, längere Krankheit und Ar- wahn zurückzuführen, analysierten die beitslosigkeit dienen. Alle anderen Vor- Meinungsforscher. sorgeaufwendungen – von der Rente bis Der Kanzler sagt, er habe verstanden. zur Gesundheit – werden hingegen durch Die Renovierung der sozialen Sicherungs- private Prämien und Steuern finanziert. systeme sei von nun an „die wichtigste in- Diese neue Form der Finanzierung wür- nenpolitische Aufgabe dieser Legislatur- de die Sozialabgaben massiv senken, statt periode“. rund 370 Milliarden Euro wären nur noch 18 Monate verbleiben Schröder, ehe die rund 52 Milliarden fällig. Der Beitragssatz wichtigen Wahlen in Brandenburg, Saar- läge am Ende nicht mehr bei 42, sondern land, Sachsen und Thüringen anstehen. In bei 5,5 Prozent – ein Befreiungsschlag für seiner Rede zur Lage der Nation diese Wo- alle Beschäftigten und Betriebe. che im will er die Richtung vor- Anders als bei allen gängigen Nied- geben, die Rürup-Kommission und Sozial- riglohnmodellen werden nicht nur die Jobs ministerin Schmidt sollen später die De- am unteren Ende der Einkommensskala tails nachliefern. begünstigt. Vielmehr profitieren auch An- Doch wie mutig ist der Kanzler wirk- gestellte und Arbeiter mit mittleren und lich? Wie viel Veränderungsbereitschaft höheren Einkommen vom drastischen Ab- traut er den Menschen im Land zu? Und bau der Lohnnebenkosten – während hin- wie viel Reformwillen der SPD? gegen Vermögens- und Kapitalbesitzer Mit ein paar Korrekturen hier und da, da mehr bezahlen müssen als heute.

MICHAEL KAPPELER / DDP MICHAEL KAPPELER sind sich alle Fachleute einig, lässt sich das Komplizierte Detailregelungen, wie etwa dreht sich weiter deutsche Modell der Sozialversicherungen das Dienstmädchen-Privileg oder die Mini-

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Jobs, erübrigen sich, die ökonomische Wir- Die Menschen mussten arbeiten, bis sie Kriegen und Naturkatastrophen zu ver- kung ist ungleich größer: Nach Berech- 70 waren, ein Alter, das kaum jemand er- zeichnen ist. 1949 betrug es 20 Prozent, nungen des DIW könnten eine halbe Mil- reichte: 1871, als Bismarck Reichskanzler Mitte der fünfziger Jahre immer noch rund lion, im besten Fall sogar bis zu eine Mil- wurde, betrug die Lebenserwartung der 10 Prozent, dann erst pendelte es sich bei lion neue Stellen entstehen. Deutschen 37 Jahre, bis 1910 stieg sie auf 47 5 Prozent ein. Einher geht dieser Systemwechsel mit Jahre. Die Beiträge für das Sozialsystem Die Sozialkassen quollen in dieser dem Abschied von jenem althergebrach- waren daher minimal. Für die Rente lagen Boomphase über. Sie basierten darauf, dass ten Versicherungssystem, das Otto von Bis- sie anfangs bei durchschnittlich 1,7 Pro- nahezu alle Beschäftigten klassische Ar- marck vor 120 Jahren erschaffen hat. Da- zent, in der Krankenversicherung zwischen beitnehmer sind und deren Produktivität mals, im Gefolge der industriellen Revolu- 1,5 und 6 Prozent. Den Faktor Arbeit hat stetig wächst. So wuchs der Anteil der ab- tion, entstanden Renten-, Unfall- und das kaum verteuert, die Industriegesell- hängig Beschäftigten zwischen 1950 und Krankenversicherung, später kamen Ar- schaft konnte sich ungebremst entfalten. 1979 von 65 auf 87 Prozent. Entsprechend beitslosen- und Pflegeversicherung. Was unter Bismarck entstand, wurde in erhöhte sich die Zahl der Beitragszahler, Bismarcks Sozialsystem, das gemein- den folgenden 110 Jahren nach Kräften aus- man konnte alle Lücken des solidarischen sam von Arbeitgebern und Arbeitneh- gebaut. 1927 kam die Arbeitslosenversi- Systems schließen. mern finanziert wurde, diente als Vor- cherung hinzu; 1995 schufen Doch Ende der sechziger Jahre, als die bild für viele Länder in Europa. Doch und Norbert Blüm die Pflegeversicherung. Zeit der ungestümen Expansion vorbei heute, im Zeitalter flexibler Erwerbsbio- Aus der Hilfe für Arme und Bedürftige war, bekam das System der Sozialversi- grafien und einer deutlich ge- cherungen erste Risse. Der Öl- stiegenen Lebenserwartung, ist preisschock sorgte dafür, dass dieses Modell nicht mehr zeit- Strafe für Beschäftigung die Arbeitslosigkeit sprunghaft gemäß. anstieg; der Pillenknick führte Bismarcks Weltbild war noch Wie Arbeitsplätze mehr und mehr belastet werden ... dazu, dass die Zahl der Neuge- geprägt von der feudalen Agrar- borenen – und damit der künf- Lohnsteuer und Sozialabgaben gesellschaft, in der die Arbeit- 50% tigen Beitragszahler – zurück- geber, Patriarchen gleich, für in Prozent der Bruttolöhne und -gehälter ging; Roboter und Computer 45% (einschließlich Arbeitgeber- ihre Mitarbeiter sorgten. Der Sozialbeiträge) sorgten dafür, dass Jobs in der Eiserne Kanzler erwartete von 40% klassischen Industrie wegratio- den Arbeitern klaglose Loyalität Gewinn- und Kapital- nalisiert wurden. und verbot die Sozialistische Ar- 35% einkommensteuern Gleichzeitig traf auch der me- in Prozent des Bruttoeinkommens beiterpartei. Im Gegenzug spen- 30% aus Unternehmertätigkeit dizinische Fortschritt in mehr- dierte er ab 1881 die Sozialver- und Vermögen facher Hinsicht die Sozialkas- sicherungen. 25% sen. Vom hochwirksamen Me- „Mein Gedanke war“, wie er 20% dikament bis zur aufwendigen später einräumte, „die arbeiten- Operation – die Krankenkassen den Klassen zu gewinnen, oder 15% zahlen. Zudem werden die soll ich sagen: zu bestechen, den 10% nur Lohnsteuer Menschen immer älter – Ren- Staat als soziale Einrichtung in Prozent der Brutto- ten- und Pflegeversicherung ste- anzusehen, die ihretwegen be- 5% löhne und -gehälter Quelle: DIW hen bereit. steht und für ihr Wohl sorgen Und so begannen die Lohn- möchte.“ 1960 65 70 75 80 85 90 95 2000 02 nebenkosten zu steigen: Im Ge- Als Erstes legte Bismarck 1881 4,06 folge der Wirtschaftskrise, die das Gesetz zur Unfallversiche- auch Kanzler Ludwig Erhard rung vor. Weil die Betriebe in ... und die Folgen für den Arbeitsmarkt das Amt kostete, stieg der Bei- manchen Branchen schon vor- Arbeitslose in Millionen, tragssatz in der Rente dreimal her für Arbeitsunfälle haften Jahresdurchschnitte nacheinander um je einen Pro- mussten, zahlten nur sie in die 0,27 ab 1991 zentpunkt auf 17 Prozent im neue Kasse ein, und so ist es ge- Gesamtdeutschland Jahr 1970; drei Jahre später wa- blieben: Als einzige der fünf ge- ren es dann sogar 18 Prozent. setzlichen Sozialversicherungen kassiert wurde ein Anspruchssystem, das alle und Auch die Krankenversicherung wurde sie heute allein bei den Arbeitgebern. Vier jeden erreicht: Angestellte und Facharbei- teurer: 1970, kurz nach dem Amtsantritt Jahre brauchte das Gesetz, bis es 1885 in ter, chronisch Kranke und Pflegebedürfti- der sozial-liberalen Koalition von Willy Kraft trat. ge, Schwangere, Mittelschichtfamilien und Brandt, waren es 8,2 Prozent. Zwölf Jahre Schon im Jahr zuvor wurden die Ar- vermögende Singles. später, als die unionsgeführte Regierung beiter an Rhein und Elbe gegen Krankhei- Selbst die beiden Weltkriege konnten von Helmut Kohl die Macht in Bonn über- ten versichert, 1891 folgte die Rente. Das dem Bismarckschen Modell nicht viel an- nahm, lag der Satz schon bei 12 Prozent. Prinzip dieser beiden Zweige ist ebenfalls haben. Die Rentenkassen, die 1917 und Der folgende rasche Wandel von der In- noch immer gültig: Der Arbeitgeber und 1939 ein Vermögen angehäuft hatten, ver- dustrie- zur Dienstleistungsgesellschaft ging seine Leute kommen gemeinsam für die loren ihr Geld. Man startete wieder bei zudem mit dem Trend zu immer flexible- Beiträge auf. null – doch das war, da anschließend die ren Jobs einher. Vorbei waren die Zeiten, Ursprünglich boten die Kassen lediglich Wirtschaft brummte, kein allzu großes in denen man ein Leben lang „beim Daim- eine Notversorgung, sie waren allein auf Problem. ler“ oder bei Krupp schuftete. Gerade die die Arbeiter zugeschnitten. Nur 40 Pro- So brachte Ludwig Erhard binnen weni- neuen Service-Jobs fielen aus dem bishe- zent der Arbeitnehmer genossen zu Bis- ger Jahre ein ganzes Volk von Arbeits- und rigen Raster – weil die Menschen mal hier, marcks Zeit den Schutz der Krankenversi- Obdachlosen in Lohn und Brot – und dies, mal dort anheuern. Lebenslange Festan- cherung. Auch die Rente kam anfangs nur obwohl der Durchschnittslohn zwischen stellung ist heute eher die Ausnahme. einer kleinen Gruppe zugute: den Invali- 1948 und 1953 um sagenhafte 80 Prozent Gleichzeitig sind im Niedriglohnsektor den. Sie betrug nur rund 12 Prozent des stieg. Erhards „Wohlstand für alle“ basier- viele Jobs einfach entfallen, weil sie von letzten Einkommens. te vor allem auf Wachstum, wie es nur nach den Firmen wegrationalisiert wurden oder

82 der spiegel 11/2003 HANS-GÜNTHER OED / ACTION PRESS HANS-GÜNTHER OED / ACTION SÜDDEUTSCHER VERLAG SÜDDEUTSCHER Karosseriebau (1934), Mercedes-Fließband (2002): „Weil Lohnarbeit sich verteuert, wird der Faktor Mensch wegrationalisiert“ sich für die Beschäftigten nicht mehr rech- bereits überlebte Modell der Sozialversi- hat Rot-Grün zwar versucht, den Trend neten. Denn der Beitragssatz beträgt, un- cherungen wurde ohne Abstriche auf den umzukehren, doch die Lohnnebenkosten abhängig von der Gehaltsklasse, stolze Osten der Republik übertragen. Und wie- gingen nur vorübergehend um wenig mehr 42 Prozent. der mussten die Sozialkassen zahlreiche als einen Prozentpunkt zurück. Kein Wunder also, dass immer mehr „versicherungsfremde Leistungen“ schul- Mal stampfte die Regierung ein Gesetz Menschen in die Schwarzarbeit fliehen. tern, die eigentlich nicht zu ihren Aufgaben gegen „Scheinselbständigkeit“ aus dem Binnen zweieinhalb Jahrzehnten ist der gehörten. Boden, um die Sozialkassen mit neuen Anteil der Schattenwirtschaft, gemessen an Der Beitrag für die Arbeitslosenversi- Beiträgen zu füllen. Mal bastelte sie an den der gesamten Wirtschaftsleistung, von cherung etwa stieg 1991 von 4,3 Prozent damaligen 620-Mark-Jobs herum – um nun knapp 6 auf über 16 Prozent angestiegen. auf deftige 6,8 Prozent, weil die Ar- kurz vor Weihnachten die Reform der Re- In keinem Bereich boomt die deutsche beitsämter und Kommunen in der ehema- form zu beschließen. Volkswirtschaft derart stark. ligen DDR riesige Beschäftigungsgesell- Auch der rot-grüne Versuch, die Ren- Putzfrauen, Kindermädchen, Handwer- schaften gründeten und die Regierung tenkasse durch fünf Trippelschritte bei der ker, Musiklehrer oder Sporttrainer – sie durch teure Umschulungsprogramme den Ökosteuer aufzufüllen, brachte wenig. Die alle haben sich in der Grauzone eingerich- Absturz Ost zu verhindern suchte. Auch Rentenbeiträge sind inzwischen wieder tet. Der Linzer Ökonom Friedrich Schnei- die Rentenbeiträge stiegen, weil die einst dort angelangt, wo sie schon Mitte der der, spezialisiert auf das Thema Schwarz- Volkseigenen Betriebe zusammenbrachen neunziger Jahre waren: auf Rekordniveau. arbeit, hat ausgerechnet, dass die Leistung und plötzlich ein Heer von ehemaligen Selbst der erste, kleine Schritt, den Wal- dieser virtuellen Volkswirtschaft neun Mil- DDR-Bürgern in die Frühverrentung ge- ter Riester in die private Altersvorsorge lionen regulären Vollzeitstellen entspräche. schickt wurde. wagte, droht ins Leere zu laufen. Zwar hat Das Problem der hohen Beiträge wird Schon damals kritisierte die SPD, die Riester das längst überholte Vertrauen in durch die Politik noch verschärft: Sie hat Einheit sei falsch finanziert worden: über die staatliche Altersvorsorge erschüttert. den Versicherungen zahlreiche Sonderlas- die Sozialkassen, also über eine direkte Doch kaum jemand zog daraus Konse- ten aufgebürdet. Die gesetzlichen Kran- Belastung des Faktors Arbeit – und nicht quenzen. Nur zehn Prozent der Berech- kenkassen müssen Hausfrauen und Kin- allein über Steuern. Nicht zuletzt deswe- tigten haben bislang eine zusätzliche der kostenlos mitversorgen, weil der Staat gen standen am Ende der Ära Kohl 1998 Privatrente abgeschlossen – die hohe die Familien fördern will. Auch die Pflege- weit über vier Millionen Menschen ohne Belastung mit den bisherigen Sozialabga- versicherung muss demnächst Menschen Job da. ben lässt zu wenig Spielraum. mit Kindern Nachlass gewähren, weil sie Doch auch nach über vier Jahren Ger- Doch was machen die Verantwortlichen die Beitragszahler von morgen aufziehen. hard Schröder hat sich daran – trotz zeit- in Berlin? Sie verharren in genau jener Im Zuge der deutschen Einheit ver- weiligen New-Economy-Booms – wenig „Schreckstarre“, die Florian Gerster seit schärfte sich das Dilemma. Das im Westen geändert. Mit hektischer Betriebsamkeit langem beklagt: Mutige Ideen aus dem

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Kreis der Rürup-Kommission werden, men, die Personal benötigen. Vom Brut- In eine ganz ähnliche Richtung weist kaum publik, sofort kassiert. tolohn muss netto mehr übrig bleiben. auch das Konzept „Arbeit für viele“. Auch Kopfprämien in der Krankenkasse? • Das neue System soll sozial gerecht sein. in Deutschland würden demnach nur noch Nicht mit Gerhard Schröder. 900 Euro Übermäßige Härten für einzelne Bevöl- jene Vorsorgekosten direkt vom Lohn ab- Selbstbeteiligung für jeden Patienten? kerungsgruppen müssen trotz des Um- gezogen, die wirklich etwas mit dem Job zu Nicht mit Ulla Schmidt. Mehr Wettbewerb baus vermieden werden. tun haben. Diese neue „Lohnausfallprä- zwischen den Ärzten? Nicht mit der Uni- • Deutschland muss wettbewerbsfähig mie“ würde sicherstellen, dass jeder Be- on. Die soziale Sicherheit gilt den Politi- bleiben. Alle Steuersätze müssen auch schäftigte ein Ersatzentgelt bekommt, kern in Berlin noch immer als unantast- nach der Reform unterhalb der interna- wenn er den Job verloren haben sollte oder bar. „Wer daran rührt, wird abgestraft“, tionalen Spitzenwerte liegen. über Wochen hinweg krank ist. sagt Meinhard Miegel, Chef des Bonner Das Konzept „Arbeit für viele“ orien- Alle anderen Sozialversicherungen hin- Instituts für Wirtschaft und Gesellschaft. tiert sich dabei an Ländern wie der Schweiz gegen, von der Rente über die Pflege bis Und so verheddert sich die Debatte über und Dänemark, die vorgemacht haben, hin zur Krankenversicherung, werden vom das, was zu tun ist, wieder im Klein-Klein dass die soziale Sicherung nicht allein an Faktor Arbeit komplett entkoppelt. Denn des politischen Betriebs. Es geht um Teil- der Erwerbsarbeit anknüpfen muss, son- das Risiko, zum Kranken- oder Pflegefall aspekte des Problems, um Zuzahlungen dern dass es durchaus alternative Wege der zu werden, hat wenig damit zu tun, ob je- und Zusatzversicherungen, um Effizienz- Finanzierung gibt. mand arbeitet oder nicht: Es kann alle 82 reserven oder eine Deckelung der Arbeitgeberbeiträge, um ein paar Beitragszehntel mehr oder weni- ger, aber niemand wagt sich an die Tabus – an die Abkehr von Bismarcks lohnabhängigem Ver- sicherungsmodell. Das Konzept „Arbeit für vie- le“ versucht genau dieses. Es for- muliert – ohne den Anspruch, gleich alle Details zu regeln – die grundlegende Idee für einen küh- nen Neuanfang. An die Stelle des alten Modells der Sozialversiche- rungen, das sich aus lohnabhängi- gen Beiträgen speist, könnte dem- nach ein neues System treten, das sich aus Prämien und Steuerein- nahmen ernährt: ein Vorsorge- modell jenseits von Werkhalle und Büro, das Luft schafft für mehr Jobs, mehr Wachstum und mehr wirtschaftliche Dynamik. Der dazu erforderliche Umbau des Wohlfahrtsstaats ist gewaltig: Allein 155 Milliarden Euro an Beiträgen fließen in die Renten-

versicherung, nochmals 154 Mil- BILDERDIENST AXENTIS.DE / ULLSTEIN liarden in die Kranken- und Pfle- Razzia gegen Schwarzarbeit: Die Schattenwirtschaft boomt geversicherung, weitere 50 Mil- liarden in die Arbeitslosenversicherung – In Dänemark etwa führen die Beschäf- Millionen Menschen in Deutschland tref- alles in allem rund 370 Milliarden Euro. tigten nur acht Prozent ihres Verdiens- fen, nicht bloß die 28 Millionen sozialver- Das Volumen, das weg vom Faktor Arbeit tes als Sozialbeitrag ab – für den Fall, dass sicherungspflichtig Beschäftigten. bewegt werden muss, entspricht dem ad- sie arbeitslos oder zum Invaliden werden. Und genauso gilt, dass jeder eine staat- dierten Umsatz von DaimlerChrysler, VW, Der Beitrag fließt in einen Sozialfonds, liche Mindestrente benötigt, ergänzt bei Siemens und E.on, den vier größten Indu- den „Arbejdsmarkedsfonden“. Dement- Bedarf durch eine private Altersrente. Des- striekonzernen des Landes. Noch nie wur- sprechend liegen die Sozialbeiträge bei halb ist es nur logisch, diese Kosten der de ein derart umfassendes Modell durch- gerade 2,2 Prozent des Bruttoinlandspro- sozialen Sicherung nicht allein den Lohn- gerechnet, wie es das DIW nun im Auftrag dukts. empfängern aufzubürden, sondern nach des SPIEGEL getan hat. Fast alles, was der dänische Wohlfahrts- Alternativen zu suchen, die das System auf Schritt für Schritt wurden dazu die Bau- staat leistet, wird über Steuern finanziert: eine breitere, stabilere Basis stellen. steine des Sozialstaats auseinander ge- die Grundrente im Alter ebenso wie die Der ideale Weg dafür sind allgemeine nommen und anschließend neu aufgebaut. Pflege von Senioren oder ein großer Teil Steuern und private Prämien, ein Weg, der Vier Leitbilder gaben die Richtung vor: der Krankenversorgung. Natürlich ist die bei der gesetzlichen Rentenversicherung • Die sozialen Sicherungssysteme sollen Steuerlast deswegen höher als in anderen ohnehin schon beschritten wird. So stützt auf eine breitere Basis gestellt werden – EU-Staaten. Doch der Jobdynamik hat das sich die Rente bereits heute zu einem Drit- und nicht nur von einem Teil der Be- wenig geschadet: Die Arbeitslosenrate liegt tel auf staatliche Zuschüsse, nicht zuletzt völkerung getragen werden. Auch Rei- bei gerade 4,7 Prozent, rund halb so hoch aus der Ökosteuer. che, Beamte und Unternehmer sollen wie in Deutschland. Auch die Beschäfti- Die verdeckte Subvention aus der Steu- mithelfen. gungsquote ist höher: 76 Prozent aller Dä- erkasse ist in den vergangen fünf Jahren • Arbeit soll sich für alle wieder lohnen, nen haben einen Job – 11 Prozentpunkte von 51,4 auf 77,2 Milliarden Euro gestiegen. für die Jobsuchenden, aber auch für Fir- mehr als in Deutschland. Ohne diesen Bundeszuschuss läge der Ren-

84 der spiegel 11/2003 tensatz nicht mehr bei 19,5 Prozent, son- die staatlichen Behörden künftig die Höhe durch private oder betriebliche Vorsorge dern bei rund 28 Prozent. der Altersbezüge bemessen. Oder aber: decken – ein Konzept, das die Grünen für Das Modell „Arbeit für viele“ sieht Die Politik geht noch weiter – und wagt beispielhaft halten. Auch Gerhard Schrö- vor, auch die übrigen zwei Drittel des den Übergang zu einer Grundrente, die der sympathisierte in der Vergangenheit Rentenetats aus allgemeinen Steuermit- sich am Schweizer Vorbild orientiert. immer wieder mit einer solchen „Garan- teln zu speisen. Weil zugleich die Renten- Das kleine Alpenland setzt bereits seit tierente“, wie er sie nennt. beiträge wegfallen, wird der Faktor Arbeit 1948 auf ein solches Modell. Alle Eidge- Ähnlich radikal wie das Rentenkonzept auf einen Schlag um 155 Milliarden ent- nossen, egal ob Beamte oder Angestellte, ist auch das neue Modell für die Kranken- lastet. ob Geringverdiener oder Unternehmer, und Pflegeversicherung: An die Stelle der Eine Durchschnittsfamilie mit zwei Kin- müssen in die AHV, die Alters- und Hin- Kassenbeiträge, die sich am Erwerbsein- dern hat rund 3000 Euro jährlich mehr zur terlassenenversicherung einzahlen. Wer kommen anlehnen, tritt ein neues Zwei- Verfügung und kann frei entscheiden, viel verdient, zahlt auch viel ein – ohne Säulen-Modell, wie es auch der Darmstäd- wofür sie dieses Geld ausgibt, etwa für ein dass sein Rentenanspruch eine bestimmte ter Wirtschaftsforscher Bert Rürup, Vor- Auto, einen Bausparvertrag oder eine zu- Höhe übersteigt. sitzender der Reform-Kommission des sätzliche private Altersvorsorge. Die Schweizer erhalten im Gegenzug Kanzlers, favorisiert. Natürlich müsste die Regierung eine eine Rente von maximal 1400 Euro. Dar- Die erste Säule besteht aus einer „Ge- neue Rentenformel entwickeln, nach der über hinausgehende Ansprüche muss jeder sundheitsprämie“. Dahinter verbirgt sich

Die neue Wohlfahrtswelt Arbeit könnte durch die Trennung von Vorschlag für ein neues Finanzierungsmodell der Sozialversicherung Sozialversicherung und Lohn attraktiver werden. Bisherige Beiträge in Höhe von Verteilung in Milliarden Euro 201,1 Milliarden werden künftig durch Steuern finanziert... Beiträge 64,7 17,0 Arbeitgeber Steuermehraufkommen durch Arbeitnehmer 99,4 höhere Unternehmensgewinne: 48,4 Mrd. Selbständige, Rentner, ALT NEU Vermögensbesteuerung: 46,4 Mrd. Sozialleistungsempfänger 160,2 144,9 201,1 Mrd. Euro Einkommens- und über Steuern Gewinnbesteuerung: 40,0 Mrd. finanziert 52,4 eingesparte Rentenbeiträge für Gesundheitsprämien: Empfänger sozialer Leistungen: 12,4 Mrd. neue einheitliche Beiträge, die jeder Erwachsene zu zahlen hat Summe aller Mehrwertsteuererhöhung * um 4 Prozentpunkte: 33,6 Mrd. Entlastung durch Sozialbeiträge 2002 Einsparungen eingesparte Beiträge 369,9 Mrd. Euro: für staatliche Arbeitnehmer: 17,4 Mrd. sonstige Einnahmen: 2,9 Mrd. Rentenversicherung 155,3 Milliarden Euro Die Rentenkasse soll nicht mehr über Sozialbeiträge auf den Faktor 72,0 155,3 Arbeit, sondern nur noch über ALT NEU eine Art Kfz-Versicherung für Patienten. Steuern finanziert werden. 68,6 Genauso wie sich jeder Autofahrer gegen 14,7 die Folgen eines Unfalls absichert, würde künftig jeder Bürger eine Versicherungs- Kranken- und police erwerben, die alle grundlegenden Pflegeversicherung 154,4 Milliarden Euro Medizin- und Arztkosten abdeckt. Die Bis auf das Krankengeld werden die 7,7 Prämie läge bei 180 Euro im Monat und Beiträge durch pauschale, gehaltsun- 52,2 müsste auch von Ehepartnern bezahlt wer- abhängige Gesundheitsprämien er- 99,4 den, die selbst keinen Job haben. Nur Kin- setzt. Ergänzt wird dies durch staat- 52,7 ALT NEU der und Jugendliche wären, genauso wie liche Beihilfen für sozial Schwache. 49,4 31,8 bisher, kostenlos mitversichert. Durch mehr Wettbewerb im Gesund- 15,4 Die exakte Höhe der Gesundheits- heitswesen werden zudem 10 Prozent prämie würde dabei von den Kosten- der bisherigen Beiträge eingespart. strukturen und vom Leistungskatalog der gewählten Kasse abhängen: Wer eine Arbeitslosenversicherung 49,3 Milliarden Euro effiziente Versicherung wählt, zahlt weni- Nur noch die Vorsorge für Arbeits- ger; wer bessere Leistungen will, zahlt losigkeit wird über Sozialbeiträge 25,1 33,8 finanziert. Die aktive Arbeitsmarkt- ALT NEU mehr. Dabei könnten die Versicherten künftig politik (ABM, Fortbildung) wird hin- 23,6 14,0 gegen aus Steuermitteln bezahlt frei zwischen sämtlichen Krankenkassen und zum Teil gekürzt. 0,6 1,6 wählen, und zwar nicht nur zwischen den Orts- und Betriebskrankenkassen. Auch der Wechsel in eine private Kasse wäre, Milliarden Euro Unfallversicherung 10,8 anders als bisher, für jeden möglich – un- wird weiter durch Beiträge der Unternehmen finanziert. 10,8 10,8 abhängig von der Gehaltshöhe. ALT NEU Solch ein Prämienmodell würde für *geschätzt; Summenabweichung erheblich mehr Wettbewerb zwischen al- rundungsbedingt; Quelle: DIW len Kassen sorgen, also zwischen Orts- und

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Betriebskrankenkassen sowie den pri- Die Grund- und Erbschaftsteuer etwa, Anhalt, Wolfgang Böhmer (CDU), in den vaten. die in Deutschland so niedrig ist wie in vergangenen Wochen angestellt haben. Der Der Zwang, unnütze Ausgaben zu strei- kaum einem anderen Industrieland, würde Satz läge dann bei 20 Prozent und damit chen und die Verwaltungen zu straffen, um rund 370 Prozent steigen. Doch das Ni- im europäischen Mittelfeld. Erhoffte Mehr- würde wachsen. Nach Ansicht von Ge- veau der Steuern auf Vermögen wäre einnahmen: rund 34 Milliarden Euro. sundheitsökonomen ließen sich mindestens anschließend niedriger als in Großbritan- Weitere 20 Milliarden Euro kommen zu- zehn Prozent der derzeitigen Kosten ein- nien oder Kanada und entspräche dem der dem durch eine neue, knapp zehnprozen- sparen – und dementsprechend kräftig USA. Allein hierdurch ließen sich 46,4 Mil- tige „Sozialprämie“ zu Stande, die ähnlich könnte auch das Prämienniveau sinken. liarden Euro mobilisieren. wie der Solidarbeitrag für den Aufbau Ost Die zweite Säule des neuen Systems dient Gleichzeitig müsste der Finanzminister auf die Steuerschuld von Unternehmen dem sozialen Ausgleich: Ein „Gesundheits- das Steuerrecht durchforsten – und die gra- und Bürgern aufgeschlagen wird. Dadurch bonus“ soll sicherstellen, dass trotz der vierendsten Lücken bei der Einkommen- liegt der Einkommensteuer-Tarif im Jahr lohnunabhängigen Prämie kein Haushalt und Gewinnbesteuerung schließen. So 2005 de facto nicht, wie derzeit im Rahmen mehr als 15 Prozent seines Einkommens könnten etwa die Abschreibungsmöglich- der rot-grünen Steuerreform vorgesehen, für die Vorsorge aufbringen muss. 30 Mil- bei 15 bis 42 Prozent – sondern bei 16,4 bis liarden Euro müssten dafür nach Berech- Ohne die „Strafsteuer“ auf 46 Prozent. Auch damit läge Deutschland nungen des DIW mindestens aufgebracht Arbeit könnte sich immer noch deutlich unterhalb der eu- werden – und an Familien mit Beschäftig- ropäischen Spitzenwerte. ten mit geringen Einkommen verteilt wer- die Wirtschaft frei entfalten. Hinzu kommen weitere 48,4 Milliarden den. Denkbar wäre ein einfaches System Euro, die sich quasi von selbst finanzieren: aus Zuschüssen, die sich an Einkommens- keiten für Immobilien eingeschränkt oder Denn weil die Unternehmen – bis auf den höhe und Kinderzahl orientieren. die Rückstellungen für Unternehmen er- Restposten Lohnausfallprämie und die Un- Am Prinzip sozialer Ausgewogenheit schwert werden. Auch der Verkauf von Fir- fallversicherung – praktisch keine Sozial- orientiert sich auch der zweite Teil des Re- menbeteiligungen könnte wieder besteu- beiträge mehr abführen, steigen auch ihre formmodells: die Erschließung alternativer ert werden. Insgesamt könnten so rund 20 Gewinne und damit wiederum die Steuer- Geldquellen. So wurde darauf geachtet, Milliarden Euro zusammenkommen. einnahmen des Fiskus. dass jene Steuerarten, die die breite Mas- Die Mehrwertsteuer dagegen, mit der Unterm Strich ist also gewährleistet, dass se der Bevölkerung treffen, nur maßvoll sich besonders leicht sehr viel Geld mobi- alle Gruppen der Gesellschaft einen ange- steigen – während vor allem Besserverdie- lisieren ließe, wird nur maßvoll angeho- messenen Beitrag leisten – entsprechend ner und Kapitalbesitzer über eine höhere ben: um vier Prozentpunkte. In eine ähn- ihrer Leistungsfähigkeit. So werden die Ar- Vermögensbesteuerung stärker als bisher liche Richtung zielten bereits Überlegun- beitgeber zwar um rund 33 Milliarden Euro zur Finanzierung des Wohlfahrtsstaats her- gen, wie sie DGB-Chef Michael Sommer entlastet. Gleichzeitig müssen jedoch Top- angezogen werden. oder der Ministerpräsident von Sachsen- Verdiener einen zusätzlichen Beitrag in Insgesamt aber überwiegen die Vorteile. Steuern auf Vermögen Sozialbeiträge Die Wirtschaft könnte sich ohne die bishe- rige „Strafsteuer“ auf Arbeit endlich freier in Prozent des BIP* 2000 in Prozent des BIP* 2000 entfalten. Ein ganz neues Denken bei Un- Großbritannien 4,4 Deutschland 18,0 ternehmern und Beschäftigten würde sich Bahn brechen. Auch Schwarzarbeit wäre Frankreich 3,1 Frankreich 18,0 nicht mehr so attraktiv. Und wenn der Job- USA 3,0 Niederlande 15,8 motor erst mal in Gang kommt, könnten die Sozialkassen weiter entlastet und die Ab- Japan 2,8 Österreich 15,1 gaben noch mehr gesenkt werden – was Niederlande 2,2 Schweden 14,0 wieder dem Arbeitsmarkt hilft. Natürlich ließe sich eine solche Reform Schweden 1,9 Japan 11,0 nicht einfach von heute auf morgen um- setzen. Natürlich wäre es zudem erforder- Deutschland 0,9 Vermögensteuer, Großbritannien 7,5 Grundsteuer, *Bruttoinlandsprodukt; lich, nicht nur die Finanzströme neu zu Österreich 0,6 Erbschaftsteuer, u. ä. USA 7,2 Quelle: DIW; OECD ordnen, sondern auch den Leistungskata- log der Sozialkassen zu durchforsten. Öko- nomen kritisieren zu Recht unsinnige Pro- ähnlicher Größe leisten, vor allem über die stehen, weil die Lohnnebenkosten der Un- gramme für Kuren, ABM-Maßnahmen Erbschaft- und Grundsteuer, aber auch ternehmen kräftig sinken. Weitere bis zu oder Weiterbildungsprogramme – und for- durch die Sozialprämie. De facto bleibt der 500000 Jobs könnten geschaffen werden, dern Einschnitte auf der Ausgabenseite. Beitrag der Kapitalseite also gleich. wenn die Gewerkschaften gleichzeitig dazu Doch an einer Debatte, die sich an das Die privaten Haushalte stehen, sofern es bewegt würden, die Entlastung der Ar- Beitragspostulat von Bismarcks Versiche- sich um untere und mittlere Schichten beitnehmer auch bei künftigen Tarifver- rungsmodell heranwagt, führt kein Weg handelt, besser da als zuvor: Sie profi- handlungen zu berücksichtigen – und ent- vorbei. Für Superminister Wolfgang Cle- tieren von den gesunkenen Lohnneben- sprechend weniger zu fordern. ment jedenfalls ist angesichts der dramati- kosten, außerdem vom Gesundheitsbonus. Natürlich sind vorübergehend auch ge- schen Arbeitsmarktzahlen längst klar, dass Alles in allem werden die Arbeitsein- genläufige Effekte denkbar, etwa weil die nun ein „nationaler Kraftakt“ vonnöten kommen um rund 40 Milliarden Euro höhere Mehrwertsteuer den Konsum ist: „Was wir brauchen, ist jetzt eine große entlastet. bremst, die Grundsteuer auf das allgemei- gemeinsame Anstrengung, um die Proble- Deswegen dürfte die Reform auch einen ne Mietniveau durchschlägt oder die er- me in unserem Land zu lösen.“ kräftigen Beschäftigungsschub auslösen. höhten Kapitalsteuern zu einem Rückgang Ulrike Meyer-Timpe, Ulrich Schäfer, Allein 470000 Jobs könnten demnach ent- der Investitionen führen. Gabor Steingart